Utopia

By Saint Thomas More

The Project Gutenberg EBook of Utopia, by Thomas Morus

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Title: Utopia

Author: Thomas Morus

Release Date: October 20, 2008 [EBook #26971]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UTOPIA ***




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                              THOMAS MORUS

                                 UTOPIA


                 Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig




                       LIBELLUS VERE AUREUS NEC
             minus salutaris quam festivus de optimo reip.
           statu, deque nova Insula Utopia autore clarissimo
                  viro Thoma Moro inclutae civitatis
              Londinensis cive & vicecomite cura M. Petri
               Aegidii Antverpiensis, & arte Theodorici
                 Martini Alustensis, Typographi almae
                      Lovaniensium Academiae nunc
                         primum accuratissime
                                editus.


                       Cum gratia & privilegio.


               Titel der Erstausgabe aus dem Jahre 1516




VORREDE

zu dem Werke über den besten Zustand des Staates


Thomas Morus grüßt seinen Peter Ägid aufs herzlichste.

Fast schäme ich mich, mein liebster Peter Ägid, daß ich Dir dies
Büchlein über den Staat von Utopien erst nach beinahe einem Jahre
schicke. Hast Du es doch ohne Zweifel innerhalb von anderthalb Monaten
erwartet, da mir ja, wie Du wußtest, bei diesem Werke die Mühe der
Erfindung des Stoffes abgenommen war und ich mir auch in betreff der
Gliederung nichts auszudenken brauchte. Denn ich hatte nur das
wiederzugeben, was ich mit Dir zusammen Raphael gerade so hatte erzählen
hören. Deshalb lag auch kein Anlaß vor, mich hinsichtlich des Stiles
abzumühen. Raphael konnte sich ja gar nicht gesucht ausdrücken; denn
erstens sprach er, ohne daß er es vorher wußte und sich vorbereiten
konnte, sodann ist er, wie Du weißt, im Lateinischen nicht so zu Hause
wie im Griechischen, und schließlich kommt meine Rede der Wahrheit um so
näher, je mehr sie sich seiner nachlässigen und schlichten
Ausdrucksweise nähert, und um die Wahrheit allein muß und will ich mich
bei dieser Sache kümmern.

Ich gebe denn auch zu, mein Peter, das, was ich vorfand, hatte mir so
viel Arbeit abgenommen, daß fast nichts mehr zu tun übrigblieb.
Andernfalls hätte ja auch Erfindung oder Gliederung des Stoffes nicht
wenig Zeit und Studium eines nicht unbedeutenden und recht gelehrten
Geistes erfordert. Würde man nun nicht bloß eine der Wahrheit
entsprechende, sondern auch geschmackvolle Darstellung verlangen, so
hätte ich das nicht leisten können, auch wenn ich all meine Zeit und all
meinen Eifer aufgewendet hätte. So aber, da diese Schwierigkeiten
wegfielen, die zu bewältigen viel Schweiß gekostet hätte, blieb einzig
und allein die einfache Aufzeichnung dessen übrig, was ich gehört hatte,
und das war wirklich keine Arbeit mehr. Aber selbst zur Erledigung
dieser so unbedeutenden Arbeit ließen mir meine übrigen Geschäfte fast
noch weniger als keine Zeit. Nehmen mich doch dauernd meine
Gerichtssachen in Anspruch. Bald führe ich einen Prozeß, bald bin ich
Beisitzer, bald schlichte ich einen Handel als Schiedsrichter, bald
entscheide ich einen anderen als Richter, bald besuche ich diesen in
einer amtlichen, bald jenen in einer geschäftlichen Angelegenheit.
Während ich so fast den ganzen Tag außerhalb meines Hauses fremden
Leuten und nur den Rest meinen Angehörigen widme, kann ich für mich,
d. h. für meine Studien, nichts erübrigen. Denn komme ich nach Hause, so
muß ich mit meiner Frau plaudern, mit den Kindern schwatzen und mit dem
Gesinde sprechen. Alles das rechne ich zu meinen Pflichten, weil es
erledigt werden muß. Es muß aber erledigt werden, wenn man nicht in
seinem eigenen Hause ein Fremdling sein will. Man muß sich überhaupt
Mühe geben, so liebenswürdig wie möglich zu denen zu sein, die einem die
Natur als Begleiter auf dem Lebenswege vorgesehen oder die der Zufall
oder eigene Wahl dazu gemacht hat. Nur darf man sie nicht durch
Leutseligkeit verderben und die Diener nicht durch Nachsicht zu seinen
Herren werden lassen. Über dem, was ich angeführt habe, geht ein Tag,
geht ein Monat, geht ein Jahr hin. Wann also komme ich da zum Schreiben?
Und dabei habe ich noch gar nicht vom Schlafen gesprochen und auch noch
nicht einmal vom Essen, das bei vielen Leuten nicht weniger Zeit in
Anspruch nimmt als der Schlaf, der fast die Hälfte der Lebenszeit für
sich beansprucht. Aber für mich gewinne ich nur so viel Zeit, wie ich
mir vom Schlafen und Essen abstehle. Weil das nur wenig ist, so habe ich
die Utopia auch nur langsam fertiggebracht; weil es aber immerhin etwas
ist, so ist sie doch nun endlich fertig geworden, und ich schicke sie
Dir zu, damit Du sie liest und mich darauf aufmerksam machst, falls mir
etwas entgangen sein sollte. Nun habe ich freilich in dieser Beziehung
ziemlich viel Zutrauen zu mir -- ich wollte, mit meinem Geiste und mit
meinem Wissen stünde es ebenso wie mit meinem Gedächtnis, das mich nur
manchmal im Stiche läßt --, doch ist mein Zutrauen nicht so groß, daß
ich annehmen dürfte, mir könnte nichts entfallen sein. Denn auch mein
Famulus, Johannes Clemens, hat mich sehr bedenklich gestimmt. Wie Du ja
wohl weißt, war er damals dabei, und ich lasse ihn an jeder Unterhaltung
teilnehmen, aus der er etwas lernen kann; denn von diesem Schößling, der
im Lateinischen wie im Griechischen zu grünen begonnen hat, erhoffe ich
dereinst einen guten Ertrag. Soviel ich mich nämlich erinnere, hat
Hythlodeus erzählt, jene Brücke von Amaurotum über den Fluß Anydrus sei
500 Doppelschritte lang. Mein Johannes aber meinte, man müsse 200
abziehen; der Fluß sei dort nicht breiter als 300 Doppelschritte.
Besinne Dich doch bitte noch einmal darauf! Wenn Du nämlich der gleichen
Meinung bist wie Johannes, so will auch ich zustimmen und einen Irrtum
meinerseits annehmen. Solltest Du aber selbst Dich nicht mehr besinnen
können, so bleibt stehen, worauf ich mich selbst zu besinnen glaube.
Wenn ich mich nämlich auch vor jeder falschen Angabe in dem Buche streng
hüten will, so ziehe ich doch in Zweifelsfällen die Unwahrheit der Lüge
vor, weil ich Tugend höher schätze als Klugheit. Freilich wäre dieser
Schaden leicht zu heilen, wenn Du Raphael selbst mündlich oder
schriftlich fragen wolltest. Das mußt Du sowieso tun wegen eines anderen
Bedenkens, das uns gekommen ist, ich weiß nicht, ob mehr durch meine
oder Deine oder Raphaels eigene Schuld. Denn weder ist es uns in den
Sinn gekommen, danach zu fragen, noch ihm, es uns zu sagen, in welcher
Gegend jenes neuen Erdteils Utopia liegt. Wahrhaftig, wie gern würde ich
mit etwas Geld von mir diese Unterlassung ungeschehen machen! Denn
erstens schäme ich mich ein wenig, nicht zu wissen, in welchem Meere die
Insel liegt, von der ich so viel zu berichten weiß; sodann aber gibt es
bei uns den einen und den anderen, vor allem aber einen frommen
Theologen von Beruf, der darauf brennt, Utopia zu besuchen, nicht aus
eitlem und neugierigem Verlangen, Neues zu sehen, sondern um die
verheißungsvollen Keime unserer Religion dort zu pflegen und noch zu
vermehren. Um dabei ordnungsgemäß zu verfahren, hat er beschlossen, sich
vorher einen Missionsauftrag vom Papste zu verschaffen und sich von den
Utopiern sogar zum Bischof wählen zu lassen. Dabei stört es ihn durchaus
nicht, daß er sich um dieses Vorsteheramt erst bewerben müßte.
Allerdings ist sein Ehrgeiz, wie er meint, deshalb gottgefällig, weil er
nicht durch Rücksicht auf Ehre oder Gewinn, sondern durch Rücksicht auf
die Religion bedingt ist.

Deshalb wende Dich, mein Peter, ich bitte Dich darum, entweder mündlich,
wenn es Dir ohne Umstände möglich ist, oder brieflich an Hythlodeus und
sorge dafür, daß in diesem meinen Werke nichts Falsches steht oder
nichts Wahres vermißt wird. Und vielleicht ist es besser, ihm das Buch
selbst zu zeigen. Einerseits nämlich ist niemand anders ebenso imstande,
einen etwaigen Irrtum zu berichtigen, anderseits kann er das selbst auch
nur, wenn er durchliest, was ich geschrieben habe. Außerdem wirst Du auf
diese Weise merken, ob er damit einverstanden ist, daß ich dieses Buch
schreibe, oder ob er ärgerlich darüber ist. Falls er sich nämlich
vorgenommen hat, seine Abenteuer selbst aufzuzeichnen, so möchte er
vielleicht nicht -- und ich bestimmt auch nicht --, daß ich ihm Duft und
Reiz seiner Erzählung im voraus wegnehme, indem ich den Staat Utopia
allgemein bekanntwerden lasse. Allerdings bin ich, wenn ich ganz offen
sein soll, auch mir selber noch nicht recht im klaren, ob ich das Buch
überhaupt erscheinen lasse. Denn der Geschmack der Menschen ist so
verschieden, und manche sind so eigensinnig, so undankbar und so
unsinnig in ihrem Urteil, daß offenbar die Leute viel glücklicher sind,
die in Freude und Frohsinn ihr eigenes Ich befriedigen, als diejenigen,
die sich zermürben in dem Bestreben, etwas zu veröffentlichen, was für
andere, die wählerisch oder undankbar sind, ein Nutzen oder ein
Vergnügen sein könnte. Die meisten haben keinen Sinn für literarische
Dinge; viele verachten sie; ein Barbar lehnt alles als schwer ab, was
nicht gänzlich barbarisch ist; gelehrte Pedanten verschmähen alles als
abgegriffen, was nicht von veralteten Ausdrücken strotzt; manchen
gefällt nur das Alte, den meisten nur das eigene Wissen. Dieser ist so
mürrisch, daß er von Scherzen nichts wissen will, dieser wieder so fade,
daß er keine Witze verträgt; manche sind so plattnasig, daß sie jedes
Naserümpfen scheuen wie ein von einem tollen Hund Gebissener das Wasser,
andere wieder sind so wetterwendisch, daß sie im Sitzen etwas anderes
gelten lassen als im Stehen. Manche sitzen in den Kneipen, urteilen am
Biertisch über die Talente der Schriftsteller und verurteilen sie mit
großem Nachdruck, ganz wie es ihnen beliebt, indem sie einen jeden in
seinen Schriften gleichsam beim Schopfe nehmen und ihn zausen, wobei sie
selbst aber vor der Hand in Sicherheit und, wie man so sagt, weit vom
Schuß sind. Denn rundum sind sie so glatt und kahlgeschoren, daß sie
auch nicht ein Härchen eines guten Mannes an sich haben, an dem man sie
fassen könnte. Ferner gibt es Leute, die so undankbar sind, daß sie sich
zwar ausgiebig an einem Werke ergötzen, dem Verfasser aber trotzdem
keine größere Liebe entgegenbringen. Sie ähneln den unhöflichen Gästen,
die sich mit einem üppigen Mahle bewirten lassen und dann gesättigt
heimgehen, ohne dem, der sie eingeladen hat, ein Wort des Dankes zu
sagen. Nun geh hin und richte für Leute mit so verwöhntem Gaumen, von so
verschiedenem Geschmack und noch dazu von so dankbarer und lieber
Gesinnung auf Deine eigenen Kosten ein Mahl her!

Aber gleichwohl, mein Peter, besprich, was ich Dir gesagt habe, mit
Hythlodeus! Später aber kann man sich ja diese Frage der
Veröffentlichung noch einmal überlegen. Sollte er indessen nichts
dagegen haben, so will ich bei dem, was die Herausgabe noch erfordert,
dem Rate meiner Freunde folgen und vor allem Deinem, da ich nun einmal
die Mühe des Schreibens hinter mir habe und jetzt erst verspätet zur
Einsicht komme. Lebe wohl, mein liebster Peter Ägid, nebst Deiner guten
Frau und behalte mich auch weiterhin lieb, da ja auch ich Dich noch
lieber habe, als es sonst meine Gewohnheit ist!




ERSTES BUCH

Rede des trefflichen Raphael Hythlodeus über den besten Zustand des
Staates, veröffentlicht von dem erlauchten Thomas Morus, Bürger und
Vicecomes der rühmlich bekannten britischen Hauptstadt London.


Kürzlich hatte der siegreiche König von England Heinrich, der achte
dieses Namens, ein mit allen Tugenden eines hervorragenden Fürsten
gezierter Herrscher, einige nicht belanglose Meinungsverschiedenheiten
mit Karl, dem erhabenen König von Kastilien. Zu den Verhandlungen
darüber und zur Beilegung dieser Streitigkeiten schickte mich König
Heinrich als Abgesandten nach Flandern, und zwar zusammen mit dem
unvergleichlichen Cuthbert Tunstall, den der König erst kürzlich unter
überaus starkem und allgemeinem Beifall mit dem Amte des Archivars
betraut hat. Über seine Vorzüge will ich nichts sagen, nicht als ob ich
fürchtete, infolge unserer Freundschaft könnte mein Urteil zu wenig den
Tatsachen entsprechen, sondern weil seine Tüchtigkeit und Gelehrsamkeit
größer ist, als ich sie rühmen könnte, und außerdem überall bekannter
und berühmter, als daß sie noch gerühmt zu werden brauchte, ich müßte
denn, wie man sagt, die Sonne mit der Laterne zeigen wollen. In Brügge
trafen wir -- so war es verabredet -- die Beauftragten des Königs Karl,
alles treffliche Männer. Unter ihnen befand sich der Präfekt von Brügge,
ein hochangesehener Mann, der Führer und das Haupt der Abordnung; ihr
Sprecher und ihre Seele jedoch war Georg Temsicius, der Propst von
Cassel, ein Redner von einer nicht nur erworbenen, sondern auch
angeborenen Beredsamkeit, außerdem ein überaus erfahrener Jurist und im
Verhandeln ein vortrefflicher Meister durch seine Begabung und
beständige Praxis. Ein und das andere Mal kamen wir zusammen, ohne in
gewissen Fragen eine rechte Einigung zu erzielen. Da verabschiedeten
sich die anderen für einige Tage von uns und reisten nach Brüssel, um
sich bei ihrem Fürsten Bescheid zu holen. Inzwischen begab ich mich --
die Geschäfte brachten es so mit sich -- nach Antwerpen. Während meines
Aufenthaltes dort kam häufig außer anderen, aber immer als liebster
Besucher, Peter Ägid aus Antwerpen zu mir. Er genießt großes Vertrauen
bei seinen Landsleuten und nimmt eine angesehene Stellung ein, verdient
aber die angesehenste. Man weiß nämlich nicht, wodurch sich der junge
Mann mehr auszeichnet, ob durch seine Bildung oder seinen Charakter; ist
er doch ein sehr guter Mensch und zugleich ein großer Gelehrter,
außerdem ein Mann von lauterer Gesinnung gegen alle, seinen Freunden
gegenüber aber von solcher Herzlichkeit, Liebe, Treue und aufrichtigen
Neigung, daß man kaum einen oder den anderen irgendwo findet, den man
als einen ihm in jeder Beziehung gleichwertigen Freund bezeichnen
möchte. Er besitzt eine seltene Bescheidenheit; niemandem liegt
Verstellung so fern wie ihm; niemand ist schlichter und zugleich
klüger. Ferner kann er sich so gefällig und harmlos-witzig unterhalten,
daß der so angenehme Umgang und die so liebe Plauderei mit ihm zu einem
großen Teile mich die Sehnsucht nach der Heimat und dem heimischen Herd,
nach meiner Frau und meinen Kindern leichter ertragen ließ; denn schon
damals war ich über vier Monate von daheim fort, und in überaus
beängstigender Weise quälte mich das Verlangen, sie wiederzusehen.

Eines Tages hatte ich in der wunderschönen und vielbesuchten
Liebfrauenkirche am Gottesdienst teilgenommen und schickte mich an, nach
Beendigung der Feier von dort in meine Herberge zurückzukehren, da sehe
ich Peter zufällig sich mit einem Fremden unterhalten, einem älteren
Manne mit sonnverbranntem Gesicht und langem Bart. Der Mantel hing ihm
nachlässig von der Schulter herab, und seinem Aussehen und seiner
Kleidung nach war er ein Seemann. Sobald mich Peter erblickte, kam er
auf mich zu und grüßte. Als ich antworten wollte, nahm er mich ein wenig
beiseite und fragte: »Siehst du den da?« Dabei zeigte er auf den, mit
dem ich ihn hatte sprechen sehen. »Den wollte ich gerade jetzt zu dir
bringen.« -- »Er wäre mir sehr willkommen gewesen«, antwortete ich, »und
zwar deinetwegen.« -- »Nein«, sagte er, »vielmehr seinetwegen, wenn du
den Mann nur schon kenntest. Denn niemand in der ganzen Welt kann dir
heutzutage so viel von unbekannten Menschen und Ländern erzählen, und,
wie ich weiß, bist du ja ganz versessen darauf, so etwas zu hören.« --
»Also war meine Vermutung«, sagte ich, »gar nicht so falsch. Denn gleich
auf den ersten Blick habe ich ihn als Seemann erkannt.« -- »Und doch
hast du dich stark geirrt; er fährt wenigstens nicht als Palinurus,
sondern als Odysseus oder vielmehr als Plato. Denn dieser Raphael -- so
heißt er nämlich, und sein Familienname ist Hythlodeus -- ist nicht
wenig bewandert im Lateinischen und sehr bewandert im Griechischen, und
zwar hat er die griechische Sprache deshalb mehr getrieben als die der
Römer, weil er sich ganz der Philosophie gewidmet und erkannt hatte, daß
auf dem Gebiete der Philosophie im Lateinischen nichts von irgendwelcher
Bedeutung vorhanden ist außer einigem von Seneca und Cicero. Dann
überließ er sein vom Vater ererbtes Gut, in dem er wohnte, seinen
Brüdern, schloß sich -- er ist nämlich Portugiese -- dem Amerigo
Vespucci an, um sich die Welt anzusehen, und war dessen ständiger
Begleiter auf den drei letzten seiner vier Seereisen, die man schon hier
und da gedruckt lesen kann. Von der letzten jedoch kehrte er nicht mit
ihm zurück. Er bemühte sich vielmehr darum und erpreßte von Amerigo die
Erlaubnis, zu jenen vierundzwanzig zu gehören, die am Ende der letzten
Seereise in einem Kastell zurückgelassen wurden. So blieb er denn dort
zurück, entsprechend seiner Sinnesart, die mehr nach einem Aufenthalte
in fremdem Lande als nach einem Grabmale verlangt. Führt er doch dauernd
solche Sprüche im Munde wie 'Unter dem Himmelsgewölbe ruht, wer keine
Urne hat' und 'Zum Himmel ist es von überall her gleich weit'. Dieser
Wagemut wäre ihm ohne Gottes gnädigen Beistand nur allzu teuer zu stehen
gekommen. Nach Vespuccis Abreise durchstreifte er dann zusammen mit fünf
Kameraden aus dem Kastell zahlreiche Länder und gelangte schließlich
durch einen wunderbaren Zufall nach Taprobane und von dort nach
Caliquit. Hier hatte er das Glück, portugiesische Schiffe anzutreffen,
auf denen er schließlich wider Erwarten heimkehrte.«

Als Peter mit seiner Erzählung fertig war, dankte ich ihm für seine
Gefälligkeit und seine Bemühungen, mir die Unterhaltung mit einem Manne
zu ermöglichen, die mir seiner Meinung nach willkommen war, und wandte
mich Raphael zu. Wir begrüßten einander, wechselten jene bei der ersten
Begegnung mit Fremden allgemein üblichen Redensarten und gingen dann in
meine Wohnung. Hier setzten wir uns im Garten auf eine Rasenbank und
fingen an, miteinander zu plaudern.

Da erzählte uns denn Raphael, wie er es zusammen mit seinen im Kastell
zurückgebliebenen Kameraden nach Vespuccis Abreise angestellt habe,
durch Freundlichkeiten und Schmeicheleien allmählich die Zuneigung der
Eingeborenen zu gewinnen, nicht nur ohne Gefahr, sondern auch in
Freundschaft unter ihnen zu leben und damit auch noch die Gunst und
Wertschätzung eines Fürsten -- sein und seines Landes Name sei ihm
entfallen -- zu erlangen. In seiner Freigebigkeit -- so erzählte er
weiter -- versah dieser ihn und fünf seiner Kameraden reichlich mit
Lebensmitteln und Geld für eine Expedition, die sie dann zu Wasser mit
Fahrzeugen und zu Lande mit Wagen unternahmen und auf der sie ein höchst
zuverlässiger Führer zu anderen Fürsten geleitete, an die sie warme
Empfehlungsschreiben mithatten. Dann gelangten sie nach einer Reise von
vielen Tagen zu festen Plätzen, Städten und gar nicht schlecht
eingerichteten volkreichen Staaten. Zwar liegen unter dem Äquator, wie
Raphael erzählte, und von da aus auf beiden Seiten etwa bis zur Grenze
der Sonnenbahn wüste und der dörrenden Sonnenglut dauernd ausgesetzte
Einöden: Unwirtlichkeit ringsum und ein trostloser Anblick, abschreckend
alles und unkultiviert, Schlupfwinkel von wilden Tieren und Schlangen
oder schließlich auch von Menschen, die Bestien weder an Wildheit noch
an Gefährlichkeit nachstehen. Fährt man aber weiter, so wird alles
allmählich milder: das Klima weniger rauh, die Erde von einladendem Grün
schimmernd, zahmer die Natur der Lebewesen. Endlich bekommt man
Menschen, Städte und feste Plätze zu Gesicht, und unter ihnen herrscht
ein ununterbrochener Handelsverkehr, nicht nur untereinander und mit den
Nachbarn, sondern auch mit fernen Völkern, und zwar zu Wasser und zu
Lande.

Dadurch bot sich für Raphael die Gelegenheit, viele Länder diesseits und
jenseits des Meeres zu besuchen; denn jedes Schiff, das ausgerüstet
wurde, nahm ihn und seine Begleiter sehr gern mit. Wie er erzählte,
hatten die Schiffe, die sie in den ersten Ländern zu sehen bekamen,
flache Kiele und Segel aus zusammengenähten Papyrusblättern oder aus
Weidengeflecht, anderswo auch aus Häuten. Auf der Weiterfahrt begegneten
sie Schiffen mit spitzgeschnäbelten Kielen und Segeln aus Hanf; am Ende
war alles so wie bei uns. Die Seeleute waren nicht unerfahren in Meeres-
und Himmelskunde. Aber einen außerordentlichen Dank erntete Raphael
dafür, daß er sie im Gebrauch des Kompasses unterwies, den sie bis dahin
überhaupt noch nicht kannten. Deshalb hatten sie sich auch nur zaghaft
ans Meer gewöhnt und vertrauten sich ihm nicht ohne Grund nur im Sommer
an. Jetzt aber achten die Seeleute im Vertrauen auf den Magnetstein die
Gefahren des Winters gering, allerdings mehr sorglos als gefahrlos.
Daher besteht die Gefahr, diese Erfindung, die ihnen, wie man glaubte,
großen Vorteil bringen werde, könne infolge ihrer Unvorsichtigkeit große
Schäden verursachen.

Was Raphael an den einzelnen Orten, wie er erzählte, gesehen hat, das
alles hier mitzuteilen, würde zu weit führen und ist auch nicht der
Zweck dieses Buches. Vielleicht werde ich es einmal an anderer Stelle
erzählen, besonders alles das, dessen Kenntnis von Nutzen ist, wie z. B.
in erster Linie die richtigen und klugen politischen Maßnahmen, die er
bei gesitteten Völkern wahrgenommen hat. In betreff dieser Dinge
befragten wir ihn nämlich am meisten, und über sie sprach er auch am
liebsten, während wir es vorläufig unterließen, uns nach Ungeheuern zu
erkundigen, dem Langweiligsten, das es gibt. Denn Scyllen und
räuberische Celänonen, menschenfressende Lästrygonen und dergleichen
abscheuliche Ungeheuer sind fast überall zu finden, aber Bürger, die in
einem vernünftig und weise geleiteten Staate leben, wohl nirgends. Wenn
er nun aber auch bei jenen unbekannten Völkern viele verkehrte
Einrichtungen wahrgenommen hat, so hat er doch auch nicht weniges
aufgezählt, was als Beispiel dienen kann, die Fehler unserer Städte,
Nationen, Völker und Herrschaften zu verbessern, und worüber ich, wie
gesagt, an anderer Stelle einmal sprechen muß. Jetzt will ich nur seinen
Bericht über Sitten und Einrichtungen der Utopier wiedergeben, wobei
ich jedoch das Gespräch vorausschicke, in dessen Verlauf ihn eine
Wendung dazu veranlaßte, diesen Staat zu erwähnen.

Mit großer Klugheit hatte Raphael aufgezählt, was hier und dort falsch
war -- sicherlich war es sehr viel auf beiden Seiten des Ozeans --, dann
aber auch, welche Maßnahmen bei uns und ebenso bei jenen anderen
verständiger sind. Er hatte nämlich Sitten und Einrichtungen eines jeden
Volkes so fest im Gedächtnis, als hätte er an jedem von ihm besuchten
Orte sein ganzes Leben zugebracht. Da staunte Peter und meinte: »Ich muß
mich in der Tat wundern, mein Raphael, daß du nicht in die Dienste eines
Königs trittst; denn das weiß ich zur Genüge: es gibt keinen, dem du
nicht sehr willkommen wärest, da du es mit diesem deinen Wissen und
dieser deiner Kenntnis von Gegenden und Menschen verstehst, ihn nicht
bloß zu unterhalten, sondern auch durch Beispiele zu belehren und ihm
mit deinem Rat zu helfen. Auf diese Weise könntest du für dich selbst
ausgezeichnet sorgen und zugleich allen deinen Angehörigen sehr nützen.«

»Was meine Angehörigen betrifft«, erwiderte Raphael, »so kümmern die
mich wenig; ihnen gegenüber habe ich nämlich, wie ich glaube, meine
Pflicht so ziemlich erfüllt. Denn was andere erst, wenn sie alt und
krank sind, abtreten, ja sogar auch dann nur ungern, wenn sie es nicht
länger behalten können, das habe ich unter meine Verwandten und Freunde
verteilt, und zwar zu einer Zeit, da ich nicht mehr bloß gesund und
frisch war, sondern sogar schon in jungen Tagen. Sie müßten also, meine
ich, mit meiner Freigebigkeit eigentlich zufrieden sein und dürften
nicht außerdem noch verlangen und erwarten, daß ich mich ihretwegen
einem König als Knecht verdinge.«

»Halt!« sagte da Peter. »Ich meinte, du solltest nicht ein Knecht,
sondern ein Diener von Königen werden.«

»Das ist nur ein ganz kleiner Unterschied«, antwortete Raphael.

»Wie du die Sache auch nennen magst«, sagte da Peter, »ich bin
jedenfalls der Ansicht, daß das der Weg ist, nicht nur anderen in
persönlichem und öffentlichem Interesse zu nützen, sondern auch deine
eigene Lage glücklicher zu gestalten.«

»Glücklicher? auf einem Wege, vor dem mir graut?« fragte Raphael. »Jetzt
lebe ich, ganz wie es mir beliebt, und das ist, wie ich sicher vermute,
bei den wenigsten Fürstendienern der Fall. Es gibt ja auch genug Leute,
die sich um die Freundschaft der Mächtigen bemühen. Da sollte man es
nicht für einen großen Verlust halten, wenn diese auf mich und den einen
oder den anderen meinesgleichen verzichten müssen.«

»Es ist klar, mein Raphael«, erwiderte ich, »daß du weder nach Reichtum
noch nach Macht verlangst. Und fürwahr, einen Mann von dieser deiner
Gesinnung verehre und achte ich nicht weniger als irgendeinen der
Mächtigsten. Indessen wirst du, wie mir scheint, durchaus deiner selbst
und deiner edlen Gesinnung, ja eines wahren Philosophen würdig handeln,
wenn du es fertig brächtest, selbst unter Verzicht auf etwas persönliche
Bequemlichkeit, deine Begabung und deinen Eifer dem Wohle des
Gemeinwesens zu widmen. Das könntest du aber niemals mit so großem
Erfolge tun, als wenn du zum Rate eines großen Fürsten gehörtest und ihm
richtige und gute Ratschläge erteiltest, und das würdest du ja, wie ich
sicher weiß, tun. Denn ein Fürst ist gleichsam ein nie versiegender
Quell, von dem sich ein Sturzbach alles Guten und Bösen auf das ganze
Volk ergießt. Dein theoretisches Wissen aber ist so vollkommen, daß du
gar keine große praktische Erfahrung nötig hast, und deine
Lebenserfahrung anderseits so groß, daß du gar kein theoretisches Wissen
brauchst, um einen ausgezeichneten Ratgeber jedes beliebigen Königs
abzugeben.«

»Da befindest du dich in einem doppelten Irrtum, mein lieber Morus«,
erwiderte Raphael, »einmal hinsichtlich meiner und sodann hinsichtlich
der Sache selbst. Ich besitze nämlich gar nicht die Fähigkeit, die du
mir zuschreibst, und auch wenn ich sie im höchsten Grade besäße, würde
ich doch selbst durch den Verzicht auf meine Muße den Interessen des
Staates in keinerlei Weise dienen. Erstens nämlich beschäftigen sich die
Fürsten selbst alle zumeist lieber mit militärischen Dingen, von denen
ich nichts verstehe und auch nichts verstehen möchte, als mit den
segensreichen Künsten des Friedens, und weit größer ist ihr Eifer, sich
durch Recht oder Unrecht neue Reiche zu erwerben als die schon
erworbenen gut zu verwalten. Ferner ist von allen Ratgebern der Könige
jeder entweder in Wahrheit so weise, daß er den Rat eines anderen nicht
braucht, oder er dünkt sich so weise, daß er ihn nicht gutheißen mag.
Dabei pflichten sie unter schmarotzerischen Schmeicheleien den
ungereimtesten Äußerungen derer bei, die bei dem Fürsten in höchster
Gunst stehen und die sie sich deshalb durch ihre Zustimmung
verpflichten wollen. Und gewiß ist es ganz natürlich, daß einem jeden
seine eigenen Einfälle zusagen. So findet der Rabe ebenso wie der Affe
am eigenen Jungen seinen Gefallen. Wenn aber jemand im Kreise jener
Leute, die auf fremde Meinungen eifersüchtig sind oder die eigenen
vorziehen, etwas vorbringen sollte, das, wie er gelesen hat, zu anderer
Zeit vorgekommen ist oder das er anderswo gesehen hat, so benehmen sich
die Zuhörer gerade so, als ob der ganze Ruf ihrer Weisheit gefährdet
wäre und als ob man sie danach für Narren halten müßte, wenn sie nicht
imstande sind, etwas zu finden, was sie an dem von den anderen
Gefundenen schlecht machen können. Wenn sie keinen anderen Ausweg
wissen, so nehmen sie ihre Zuflucht zu Redensarten wie: So hat es
unseren Vorfahren gefallen; wären wir doch ebenso klug wie sie! Und nach
einem solchen Ausspruch setzen sie sich hin, als hätten sie damit die
Sache völlig und trefflich erledigt. Gerade als ob es eine große Gefahr
bedeutete, wenn sich jemand dabei ertappen läßt, in irgend etwas
gescheiter zu sein als seine Vorfahren! Und doch lassen wir alle ihre
guten Einrichtungen mit großem Gleichmut gelten; wenn sie aber bei
irgend etwas hätten klüger zu Werke gehen können, so ergreifen wir
sofort gierig diese Gelegenheit und halten hartnäckig daran fest. Das
ist auch die Quelle dieser hochmütigen, sinnlosen und eigensinnigen
Urteile, auf die ich schon oft gestoßen bin, besonders aber auch einmal
in England.«

»Hör einmal!« rief ich da, »du bist auch bei uns gewesen?«

»Allerdings«, antwortete er, »und zwar habe ich mich dort einige Monate
aufgehalten, nicht lange nach jener Niederlage, die den Bürgerkrieg
Westenglands gegen den König durch eine beklagenswerte Niedermetzelung
der Aufständischen gewaltsam beendete. In jener Zeit hatte ich dem
ehrwürdigen Vater Johannes Morton, dem Erzbischof von Canterbury,
Kardinal und damals auch noch Lordkanzler von England, viel zu danken,
einem Manne, lieber Peter -- dem Morus erzähle ich damit nichts
Neues --, den man nicht weniger wegen seiner Klugheit und Tüchtigkeit
als wegen seines Ansehens verehren muß. Er war von mittlerer Statur,
sein Rücken war von seinem, wenn auch hohen Alter noch nicht gebeugt;
seine Miene flößte Ehrfurcht, nicht Scheu ein. Im Verkehr war er nicht
unzugänglich, aber doch ernst und würdevoll. Er fand ein Vergnügen
daran, Bittsteller bisweilen etwas schroffer anzureden, aber nicht etwa
in böser Absicht, sondern um die Sinnesart und Geistesgegenwart eines
jeden auf die Probe zu stellen. Über letztere Eigenschaft, die ihm ja
selber gleichsam angeboren war, freute er sich stets, wofern keine
Unverschämtheit damit verbunden war, und sie schätzte er als geeignet zu
der Führung der Geschäfte. Seine Rede zeugte von feiner Bildung und
Energie; seine Rechtserfahrung war groß, seine Begabung unvergleichlich,
sein Gedächtnis geradezu fabelhaft stark. Diese ausgezeichneten
Naturanlagen vervollkommnete er noch durch Studium und Übung. Seinen
Ratschlägen schenkte der König, wie es schien, während meiner
Anwesenheit das größte Vertrauen, und sie waren eine starke Stütze für
den Staat. Denn in frühester Jugend und gleich von der Schule weg an
den Hof gebracht, war er sein ganzes Leben lang in den wichtigsten
Geschäften tätig gewesen und von mannigfachen Schicksalsstürmen
beständig hin und her geworfen worden, und dadurch hatte er sich unter
vielen großen Gefahren eine Lebensklugheit erworben, die nur schwer
wieder verlorengeht, wenn sie auf diese Weise gewonnen wird.

Als ich eines Tages an seiner Tafel saß, wollte es der Zufall, daß einer
von euren Laienjuristen zugegen war. Dieser begann -- ich weiß nicht,
wie er darauf kam --, eifrig jene strenge Justiz zu loben, die man
damals in England Dieben gegenüber übte. Wie er erzählte, wurden
allenthalben bisweilen zwanzig an _einem_ Galgen aufgehängt. Da nur sehr
wenige der Todesstrafe entgingen, wundere er sich, so meinte er, um so
mehr, welch widriges Geschick daran schuld sei, daß sich trotzdem noch
überall so viele herumtrieben. Da sagte ich -- vor dem Kardinal wagte
ich es nämlich, offen meine Meinung zu äußern --: »Da brauchst du dich
gar nicht zu wundern; denn diese Bestrafung der Diebe geht über das, was
gerecht ist, hinaus und liegt nicht im Interesse des Staates.

Als Sühne für Diebstähle ist die Todesstrafe nämlich zu grausam, und, um
vom Stehlen abzuschrecken, ist sie trotzdem unzureichend. Denn
einerseits ist einfacher Diebstahl doch kein so schlimmes Verbrechen,
daß es mit dem Tode gebüßt werden müßte, anderseits aber gibt es keine
so harte Strafe, diejenigen von Räubereien abzuhalten, die kein anderes
Gewerbe haben, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Wie mir daher
scheint, folgt ihr in dieser Sache -- wie ein guter Teil der Menschheit
übrigens auch -- dem Beispiel der schlechten Lehrer, die ihre Schüler
lieber prügeln als belehren. So verhängt man harte und entsetzliche
Strafen über Diebe, während man viel eher dafür hätte sorgen sollen, daß
sie ihren Unterhalt haben, damit sich niemand der grausigen
Notwendigkeit ausgesetzt sieht, erst zu stehlen und dann zu sterben.«

»Dafür ist ja doch zur Genüge gesorgt«, erwiderte er. »Wir haben ja das
Handwerk und den Ackerbau. Beides würde sie ernähren, wenn sie nicht aus
freien Stücken lieber Gauner sein _wollten_.«

»Halt, so entschlüpfst du mir nicht!« antwortete ich. »Zunächst wollen
wir nicht von denen reden, die, wie es häufig vorkommt, aus inneren oder
auswärtigen Kriegen als Krüppel heimkehren wie vor einer Reihe von
Jahren aus der Schlacht gegen die Cornwaller und unlängst aus dem Kriege
mit Frankreich. Für den Staat oder für den König opfern sie ihre
gesunden Glieder und sind nun zu gebrechlich, um ihren alten Beruf
wieder auszuüben, und zu alt, um sich für einen neuen auszubilden. Diese
Leute wollen wir also, wie gesagt, beiseite lassen, da es nur von Zeit
zu Zeit zu einem Kriege kommt, und betrachten wir nur das, was
tagtäglich geschieht!

Da ist zunächst die so große Zahl der Edelleute. Selber müßig, leben sie
wie die Drohnen von der Arbeit anderer, nämlich von der der Bauern auf
ihren Gütern, die sie bis aufs Blut aussaugen, um ihre persönlichen
Einkünfte zu erhöhen. Das ist nämlich die einzige Art von
Wirtschaftlichkeit, die jene Menschen kennen; im übrigen sind sie
Verschwender, und sollten sie auch bettelarm dadurch werden. Außerdem
aber scharen sie einen gewaltigen Schwarm von Tagedieben um sich, die
niemals ein Handwerk gelernt haben, mit dem sie sich ihr Brot verdienen
könnten. Diese Leute wirft man sofort auf die Straße, sobald der
Hausherr stirbt oder sie selbst krank werden; denn lieber füttert man
Faulenzer durch als Kranke, und oft ist auch der Erbe gar nicht in der
Lage, die väterliche Dienerschaft weiter zu halten. Inzwischen leiden
jene Menschen tapfer Hunger oder treiben tapfer Straßenraub. Was sollten
sie denn sonst auch tun? Haben nämlich erst einmal ihre Kleider und ihre
Gesundheit durch das Herumstrolchen auch nur ein wenig gelitten, so mag
sie, die infolge ihrer Krankheit von Schmutz starren und in Lumpen
gehüllt sind, kein Edelmann mehr in Dienst nehmen. Aber auch die Bauern
getrauen es sich nicht; denn sie wissen ganz genau: einer, der in
Nichtstun und genießerischem Leben groß geworden und gewohnt ist, mit
Schwert und Schild einherzustolzieren, mit von Eitelkeit umnebelter
Miene auf seine gesamte Umgebung herabzublicken und jedermann im
Vergleich mit sich zu verachten, eignet sich keineswegs dazu, einem
armen Manne mit Hacke und Spaten für geringen Lohn und karge Kost treu
zu dienen.«

»Und doch müssen wir gerade diese Menschenklasse ganz besonders hegen
und pflegen«, erwiderte der Rechtsgelehrte. »Denn gerade auf diesen
Männern, die mehr Mut und Edelsinn besitzen als Handwerker und
Landleute, beruht die Kraft und Stärke unseres Heeres, wenn es einmal
nötig ist, sich im Felde zu schlagen.«

»In der Tat«, antwortete ich, »ebenso gut könntest du sagen, um des
Krieges willen müsse man die Diebe hegen und pflegen; denn an ihnen wird
es euch ganz gewiß nie fehlen, solange ihr diese Menschenklasse noch
habt. Und gewiß, Räuber sind keine feigen Soldaten und die Soldaten
nicht die feigsten unter den Räubern: so gut passen diese Berufe
zueinander. Indessen ist diese weitverbreitete Plage keine
Eigentümlichkeit eures Volkes; sie ist nämlich fast allen Völkern
gemeinsam. Frankreich z. B. sucht eine noch andere, verderblichere Pest
heim: das ganze Land ist auch im Frieden -- wenn jener Zustand überhaupt
Frieden ist -- von Söldnern überschwemmt und bedrängt. Sie sind aus
demselben Grunde da, der euch bestimmt hat, die faulen Dienstleute
hierzulande durchzufüttern, weil nämlich närrische Weise der Ansicht
gewesen sind, das Staatswohl erfordere die ständige Bereitschaft einer
starken und zuverlässigen Schutztruppe besonders altgedienter Soldaten;
denn zu Rekruten hat man kein Vertrauen. Daher müssen sie schon deshalb
auf einen Krieg bedacht sein, um geübte Soldaten zur Hand zu haben, und
sie müssen sich nach Menschen umsehen, die kostenlos abgeschlachtet
werden können, damit nicht, wie Sallust so fein sagt, Hand und Herz
durch Untätigkeit zu erschlaffen beginnen.

Wie verderblich es aber ist, derartige Bestien zu füttern, hat nicht
bloß Frankreich zu seinem eigenen Schaden erfahren; auch das Beispiel
der Römer, Karthager, Syrer und vieler anderer Völker beweist es. Bei
diesen allen haben die stehenden Heere bald bei dieser und bald bei
jener Gelegenheit nicht bloß die Regierung gestürzt, sondern auch das
flache Land und sogar die festen Städte zugrunde gerichtet. Aber wie
unnötig ist solch ein stehendes Heer! Das kann man schon daraus ersehen,
daß auch die französischen Söldner, die doch durch und durch geübte
Soldaten sind, sich nicht rühmen können, im Kampfe mit euren Aufgeboten
sehr oft den Sieg davongetragen zu haben. Ich will jetzt nichts weiter
sagen; es könnte sonst den Anschein erwecken, als wollte ich euch, die
ihr hier zugegen seid, schmeicheln. Aber man kann gar nicht glauben, daß
sich eure Handwerker in der Stadt und eure ungeschlachten Bauern auf dem
Lande vor dem faulen Troß der Edelleute sehr fürchten außer denjenigen,
denen es infolge ihrer körperlichen Schwäche an Kraft und Kühnheit fehlt
oder deren Energie durch häusliche Not geschwächt wird. So wenig ist
also zu befürchten, daß diese Leute etwa verweichlicht werden könnten,
wenn sie für einen nützlichen Lebensberuf ausgebildet und in
Männerarbeit geübt werden. Vielmehr erschlaffen jetzt ihre gesunden und
kräftigen Körper -- die Edelleute geruhen nämlich, nur ausgesuchte Leute
zugrunde zu richten -- durch Nichtstun, oder sie werden durch fast
weibische Beschäftigung verweichlicht. Auf keinen Fall liegt es, will
mir scheinen, -- wie es sich auch sonst mit dieser Sache verhalten mag
-- im Interesse des Staates, nur für den Kriegsfall, den ihr doch nur
habt, wenn ihr ihn haben wollt, eine unermeßliche Schar von Menschen
dieser Sorte durchzufüttern, die den Frieden so gefährden, auf den man
doch um so viel mehr bedacht sein sollte als auf den Krieg.

Und doch ist das nicht der einzige Zwang zum Stehlen. Es gibt noch
einen anderen, der euch, wie ich meine, in höherem Grade eigentümlich
ist.«

»Welcher ist das?« fragte der Kardinal.

»Eure Schafe«, sagte ich. »Sie, die gewöhnlich so zahm und genügsam
sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, daß sie sogar
Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und
entvölkern. In all den Gegenden eures Reiches nämlich, wo die feinere
und deshalb teurere Wolle gewonnen wird, genügen dem Adel und den
Edelleuten und sogar bisweilen Äbten, heiligen Männern, die jährlichen
Einkünfte und Erträgnisse nicht mehr, die ihre Vorgänger aus ihren
Gütern erzielten. Nicht zufrieden damit, daß sie mit ihrem faulen und
üppigen Leben der Allgemeinheit nichts nützen, sondern eher schaden,
lassen sie kein Ackerland übrig, zäunen alles als Viehweiden ein, reißen
die Häuser nieder, zerstören die Städte, lassen nur die Kirchen als
Schafställe stehen und, gerade als ob bei euch die Wildgehege und
Parkanlagen nicht schon genug Grund und Boden der Nutzbarmachung
entzögen, verwandeln diese braven Leute alle bewohnten Plätze und alles
sonst irgendwo angebaute Land in Einöden.

Damit also ein einziger Verschwender, unersättlich und eine grausige
Pest seines Vaterlandes, einige tausend Morgen zusammenhängenden
Ackerlandes mit einem einzigen Zaun umgeben kann, vertreibt man Pächter
von Haus und Hof. Entweder umgarnt man sie durch Lug und Trug oder
überwältigt sie mit Gewalt; man plündert sie aus oder treibt sie, durch
Gewalttätigkeiten bis zur Erschöpfung gequält, zum Verkauf ihrer Habe.
So oder so wandern die Unglücklichen aus, Männer und Weiber, Ehemänner
und Ehefrauen, Waisen, Witwen, Eltern mit kleinen Kindern oder mit einer
Familie, weniger reich an Besitz als an Zahl der Personen, wie ja die
Landwirtschaft vieler Hände bedarf. Sie wandern aus, sage ich, aus ihren
vertrauten und gewohnten Heimstätten und finden keinen Zufluchtsort.
Ihren gesamten Hausrat, der ohnehin keinen großen Erlös bringen würde,
auch wenn er auf einen Käufer warten könnte, verkaufen sie um ein
Spottgeld, wenn sie ihn sich vom Halse schaffen müssen. Ist dann der
geringe Erlös in kurzer Zeit auf der Wanderschaft verbraucht, was bleibt
ihnen dann schließlich anderes übrig, als zu stehlen und am Galgen zu
hängen -- nach Recht und Gesetz natürlich -- oder sich herumzutreiben
und zu betteln, obgleich sie auch dann als Vagabunden eingesperrt
werden, weil sie herumlaufen, ohne zu arbeiten? Und doch will sie
niemand als Arbeiter in Dienst nehmen, so eifrig sie sich auch anbieten.
Denn mit der Landarbeit, an die sie gewöhnt sind, ist es vorbei, wo
nicht gesät wird; genügt doch ein einziger Schaf- oder Rinderhirt als
Aufsicht, um von seinen Herden ein Stück Land abweiden zu lassen, zu
dessen Bestellung als Saatfeld viele Hände notwendig waren.

So kommt es auch, daß an vielen Orten die Lebensmittel wesentlich teurer
geworden sind. Ja, auch die Wolle ist so im Preis gestiegen, daß eure
weniger bemittelten Tuchmacher sie überhaupt nicht mehr kaufen können
und dadurch in der Mehrzahl arbeitslos werden. Nachdem man nämlich die
Weideflächen so vergrößert hatte, raffte eine Seuche eine unzählige
Menge Schafe hinweg, gleich als ob Gott die Habgier der Besitzer hätte
bestrafen wollen mit der Seuche, die er unter ihre Schafe sandte und die
-- so wäre es gerechter gewesen -- die Eigentümer selbst hätte treffen
müssen. Mag aber auch die Zahl der Schafe noch so sehr zunehmen, der
Preis der Wolle fällt nicht, weil der Handel damit, wenn man ihn auch
nicht Monopol nennen darf, da ja nicht bloß einer verkauft, sicher doch
ein Oligopol ist. Die Schafe befinden sich nämlich fast sämtlich in den
Händen einiger weniger, und zwar eben der reichen Leute, die keine
Notwendigkeit dazu drängt, eher zu verkaufen, als es ihnen beliebt, und
es beliebt ihnen nicht eher, als bis sie beliebig teuer verkaufen
können. Wenn ferner auch die übrigen Viehsorten in gleicher Weise im
Preise gestiegen sind, so ist dafür derselbe Grund maßgebend, und zwar
hierfür erst recht, weil sich nämlich nach Zerstörung der Bauernhöfe und
nach Vernichtung der Landwirtschaft niemand mehr mit der Aufzucht von
Jungvieh abgibt. Jene Reichen treiben nämlich nur Schafzucht, ziehen
aber kein Rindvieh mehr auf. Sie kaufen vielmehr anderswo Magervieh
billig auf, mästen es auf ihren Weiden und verkaufen es dann für viel
Geld weiter. Und nur deshalb empfindet man, meine ich, den ganzen
Schaden dieses Verfahrens noch nicht in vollem Umfange, weil jene bis
jetzt die Preise nur dort hochgetrieben haben, wo sie verkaufen.
Schaffen sie aber erst einmal eine Zeitlang das Vieh schneller fort, als
es nachwachsen kann, so nimmt dann schließlich auch dort, wo es
aufgekauft wird, der Bestand allmählich ab, und es entsteht dann durch
starken Mangel notwendigerweise eine Notlage. So hat die ruchlose
Habgier einiger weniger das, was das ganz besondere Glück dieser eurer
Insel zu sein schien, gerade euer Verderben werden lassen. Denn diese
Verteuerung der Lebensmittel ist für einen jeden der Anlaß, soviel
Dienerschaft wie möglich zu entlassen: wohin, so frage ich, wenn nicht
zur Bettelei oder, wozu man ritterliche Gemüter leichter überreden kann,
zur Räuberei?

Was soll man aber dazu sagen, daß sich zu dieser elenden Verarmung und
Not noch lästige Verschwendungssucht gesellt? Denn sowohl die
Dienerschaft des Adels wie die Handwerker und fast ebenso die Bauern
selbst, ja, alle Stände überhaupt, treiben viel übermäßigen Aufwand in
Kleidung und zu großen Luxus im Essen. Denke ferner an die Kneipen,
Bordelle und an die andere Art von Bordellen, ich meine die Weinschenken
und die Bierhäuser, schließlich an die so zahlreichen nichtsnutzigen
Spiele, wie Würfelspiel, Karten, Würfelbecher, Ball-, Kugel- und
Scheibenspiel! Treibt nicht alles dies seine Anbeter geradeswegs zum
Raube auf die Straße, sobald sie ihr Geld vertan haben?

Bekämpft diese verderblichen Seuchen! Trefft die Bestimmung, daß
diejenigen, die die Gehöfte und ländlichen Siedlungen zerstört haben,
sie wieder aufbauen oder denen abtreten, die zum Wiederaufbau bereit
sind und bauen _wollen_! Schränkt jene üblen Aufkäufe der Reichen und
die Freiheit ihres Handels ein, der einem Monopol gleichkommt! Die Zahl
derer, die vom Müßiggang leben, soll kleiner werden; der Ackerbau soll
wieder aufleben; die Wollspinnerei soll wieder in Gang kommen, damit es
eine ehrbare Beschäftigung gibt, durch die jene Schar von Tagedieben
einen nutzbringenden Erwerb findet, sie, die die Not bisher zu Dieben
gemacht hat oder die jetzt Landstreicher oder müßige Dienstmannen sind
und ohne Zweifel dereinst Diebe sein werden! Soviel steht fest: wenn ihr
diesen Übelständen nicht abhelft, so mögt ihr euch umsonst eurer
Gerechtigkeit bei der Bestrafung von Diebstählen rühmen! Eure Justiz
blendet wohl durch den Schein, aber gerecht oder nützlich ist sie nicht.
Wenn ihr den Menschen eine klägliche Erziehung zuteil werden und ihren
Charakter von zarter Jugend an allmählich verderben laßt, um sie
offenbar erst dann zu bestrafen, wenn sie als Erwachsene die Schandtaten
begehen, die man von Kindheit an bei ihnen dauernd erwartet hat, was tut
ihr da anderes, ich bitte euch, als daß ihr sie erst zu Dieben macht und
dann bestraft?«

Schon während ich so sprach, hatte sich jener Rechtsgelehrte zum Reden
fertig gemacht und sich entschlossen, jene übliche Methode der
Schuldisputanten anzuwenden, die sorgfältiger wiederholen als antworten;
in dem Grade macht für sie ihr Gedächtnis einen guten Teil ihres Ruhmes
aus. »Was du da sagst, klingt in der Tat recht hübsch«, erwiderte er.
»Freilich darf man nicht vergessen, daß du als Fremder über diese Dinge
mehr nur etwas hast hören als genau erforschen können, was ich mit
wenigen Worten beweisen werde. Und zwar will ich zuerst deine
Ausführungen der Reihe nach durchgehen; sodann will ich zeigen, worin du
dich infolge von Unkenntnis unserer Verhältnisse getäuscht hast; zum
Schluß will ich alle deine Thesen entkräften und widerlegen.

Um also mit dem ersten Teile meines Versprechens zu beginnen, so hast
du, wie mir scheint, ...«

»Still!« rief da der Kardinal. »Da du nämlich so anfängst, wirst du, wie
mir scheint, nicht mit einigen wenigen Worten nur antworten wollen.
Deshalb soll dir für den Augenblick die Mühe zu antworten erspart
bleiben. Wir wollen dir jedoch diese Verpflichtung uneingeschränkt für
eure nächste Zusammenkunft aufheben, die ich schon morgen stattfinden
lassen möchte, falls ihr, du und Raphael, nichts anderes vorhaben
solltet. Inzwischen aber hätte ich von dir, mein Raphael, sehr gern
gehört, warum du der Ansicht bist, Diebstahl sei nicht mit dem Tode zu
bestrafen, und welche andere Strafe du selbst vorschlägst, die mehr dem
öffentlichen Interesse entspricht; denn dafür, den Diebstahl einfach zu
dulden, bist du doch gewiß auch nicht. Wenn man aber jetzt sogar trotz
der Lebensgefahr das Stehlen nicht läßt, welche Gewalt oder welche
Befürchtung könnte dann die Verbrecher abschrecken, nachdem ihnen erst
einmal ihr Leben gesichert ist? Würden sie es nicht so auffassen, als ob
die Milderung der Strafe sie gewissermaßen durch eine Prämie zum
Verbrechen geradezu ermuntere?«

»Ich bin durchaus der Ansicht, gütiger Vater«, erwiderte ich, »daß es
ganz ungerecht ist, einem Menschen das Leben zu nehmen, weil er Geld
gestohlen hat; denn auch sämtliche Glücksgüter können meiner Meinung
nach ein Menschenleben nicht aufwiegen. Wollte man nun aber sagen, diese
Strafe solle die Rechtsverletzung oder die Übertretung der Gesetze,
nicht das gestohlene Geld aufwiegen, müßte man dann nicht erst recht
jenes strengste Recht als größtes Unrecht bezeichnen? Denn weder darf
man Gesetze nach Art eines Manlius billigen, so daß bei einer
Gehorsamsverweigerung auch in den leichtesten Fällen sofort das Schwert
zum Todesstreiche gezückt wird, noch so stoische Grundsätze, daß man die
Vergehen alle als gleich beurteilt und der Ansicht ist, es sei kein
Unterschied, ob einer einen Menschen tötet oder ihm nur Geld raubt,
Vergehen, zwischen denen überhaupt keine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft
besteht, wenn Recht und Billigkeit überhaupt noch etwas gelten. Gott hat
es verboten, jemanden zu töten, und wir töten so leichten Herzens um
eines gestohlenen Sümmchens willen? Sollte es aber jemand so auffassen
wollen, als ob jenes göttliche Gebot die Tötung eines Menschen nur
insoweit verbiete, als sie nicht ein menschliches Gesetz gebietet, was
steht dann dem im Wege, daß die Menschen auf dieselbe Weise unter sich
festsetzen, inwieweit Unzucht zu dulden sei und Ehebruch und Meineid?
Gott hat einem jeden die Verfügung nicht nur über ein fremdes, sondern
sogar über das eigene Leben genommen; wenn aber menschliches
Übereinkommen, sich unter gewissen Voraussetzungen gegenseitig töten zu
dürfen, so viel gelten soll, daß es seine dienstbaren Geister von den
Bindungen jenes Gebotes befreit und diese dann ohne jede göttliche
Strafe Menschen ums Leben bringen dürfen, die Menschensatzung zu töten
befiehlt, bleibt dann nicht jenes Gottesgebot nur insoweit in Geltung,
als Menschenrecht es erlaubt? Und so wird es in der Tat dahin kommen,
daß auf dieselbe Weise die Menschen festsetzen, inwieweit Gottes Gebote
beachtet werden sollen! Und schließlich hat sogar das mosaische Gesetz,
obwohl erbarmungslos und hart, da es für Sklavenseelen, und zwar für
verstockte, erlassen war, den Diebstahl trotzdem nur mit Geld und nicht
mit dem Tode bestraft. Wir wollen doch nicht glauben, daß Gott mit dem
neuen Gesetz der Gnade, durch das er als Vater seinen Kindern gebietet,
uns größere Freiheit gewährt hat, gegeneinander zu wüten!

Das sind die Gründe, die ich gegen die Todesstrafe vorzubringen habe. In
welchem Grade aber widersinnig und sogar verderblich für den Staat eine
gleichmäßige Bestrafung des Diebes und des Mörders ist, das weiß, meine
ich, jeder. Wenn nämlich der Räuber sieht, daß einem, der wegen bloßen
Diebstahls verurteilt ist, keine geringere Strafe droht, als wenn der
Betreffende außerdem noch des Mordes überführt wird, so veranlaßt ihn
schon diese eine Überlegung zur Ermordung desjenigen, den er andernfalls
nur beraubt hätte. Denn abgesehen davon, daß für einen, der ertappt
wird, die Gefahr nicht größer ist, gewährt ihm der Mord sogar noch
größere Sicherheit und mehr Aussicht, daß die Tat unentdeckt bleibt, da
ja der, der sie anzeigen könnte, beseitigt ist. Während wir uns also
bemühen, den Dieben durch allzu große Strenge Schrecken einzujagen,
spornen wir sie dazu an, gute Menschen umzubringen.

Was ferner die übliche Frage nach einer besseren Art der Bestrafung
anlangt, so ist diese viel leichter zu finden als eine noch weniger
gute. Warum sollten wir denn eigentlich an der Nützlichkeit jener
Methode der Bestrafung von Verbrechen zweifeln, die, wie wir wissen, in
alten Zeiten so lange den Römern zugesagt hat, die doch so große
Erfahrung in der Staatsverwaltung besaßen? Diese pflegten nämlich
überführte Schwerverbrecher zur Arbeit in den Steinbrüchen und
Bergwerken zu verurteilen, wo sie dauernd Fesseln tragen mußten. Jedoch
habe ich in dieser Beziehung auf meinen Reisen bei keinem Volke eine
bessere Einrichtung gefunden als in Persien bei den sogenannten
Polyleriten, einem ansehnlichen Volke mit einer recht verständigen
Verfassung, das dem Perserkönig nur einen jährlichen Tribut zahlt, im
übrigen aber unabhängig ist und nach eigenen Gesetzen lebt. Sie wohnen
weitab vom Meere, sind fast ganz von Bergen eingeschlossen, begnügen
sich in jeder Beziehung durchaus mit den Erträgnissen ihres Landes und
pflegen mit anderen Völkern wenig Verkehr. Infolgedessen sind sie auch,
einem alten Herkommen ihres Volkes entsprechend, nicht auf Erweiterung
ihres Gebietes bedacht. Innerhalb dieses selbst aber bieten ihnen ihre
Berge sowie das Geld, das sie dem Eroberer zahlen, mühelos Schutz vor
jeder Gewalttat. Völlig frei vom Kriegsdienst, führen sie ein nicht
ebenso glänzendes wie bequemes Leben in mehr Glück als Vornehmheit und
Berühmtheit, ja nicht einmal dem Namen nach, meine ich, hinreichend
bekannt außer in der Nachbarschaft. Wer nun bei den Polyleriten wegen
Diebstahls verurteilt wird, gibt das Gestohlene dem Eigentümer zurück,
nicht, wie es anderswo Brauch ist, dem Landesherrn, weil dieser nach
ihrer Meinung auf das gestohlene Gut ebenso wenig Anspruch hat wie der
Dieb selbst. Ist es aber abhanden gekommen, so ersetzt und bezahlt man
seinen Wert aus dem Besitz der Diebe, den Rest behalten ihre Frauen und
Kinder unverkürzt, und die Diebe selbst verurteilt man zu Zwangsarbeit.
Nur wenn schwerer Diebstahl vorliegt, sperrt man sie ins Arbeitshaus, wo
sie Fußfesseln tragen müssen; sonst behalten sie ihre Freiheit und
verrichten ungefesselt öffentliche Arbeiten. Zeigen sie sich
widerspenstig und zu träge, so legt man sie zur Strafe nicht in Fesseln,
sondern treibt sie durch Prügel zur Arbeit an; Fleißige dagegen bleiben
von Gewalttätigkeiten verschont; nur des Nachts schließt man sie in
Schlafräume ein, nachdem man sie durch Namensaufruf kontrolliert hat.
Die dauernde Arbeit ist die einzige Unannehmlichkeit in ihrem Leben.
Ihre Verpflegung ist nämlich nicht kärglich. Für diejenigen, die
öffentliche Arbeiten verrichten, wird sie aus öffentlichen Mitteln
bestritten, und zwar in den einzelnen Gegenden auf verschiedene Weise.
Hier und da nämlich deckt man den Aufwand für sie aus Almosen; wenn
diese Methode auch unsicher ist, so bringt doch bei der mildtätigen
Gesinnung jenes Volkes keine andere einen reicheren Ertrag. Anderswo
wieder sind gewisse öffentliche Einkünfte für diesen Zweck bestimmt. In
manchen Gegenden findet dafür auch eine feste Kopfsteuer Verwendung. Ja,
an einigen Orten verrichten die Sträflinge keine Arbeit für die
Öffentlichkeit, sondern, wenn ein Privatmann Lohnarbeiter braucht, so
mietet er die Arbeitskraft eines beliebigen von ihnen auf dem Markte für
den betreffenden Tag und zahlt dafür einen festgesetzten Lohn, nur etwas
weniger, als er für freie Lohnarbeit würde zahlen müssen. Außerdem steht
ihm das Recht zu, faule Sklaven zu peitschen. Auf diese Weise haben sie
niemals Mangel an Arbeit, und außer seinem Lebensunterhalt verdient
jeder täglich noch etwas, was er an die Staatskasse abführt. Sie allein
sind alle in eine bestimmte Farbe gekleidet und tragen das Haar nicht
vollständig geschoren, sondern nur ein Stück über den Ohren
verschnitten, und das eine Ohr ist etwas gestutzt. Speise, Trank und
Kleidung von seiner Farbe darf sich jeder von seinen Freunden geben
lassen; wer dagegen ein Geldgeschenk gibt oder annimmt, wird mit dem
Tode bestraft; und nicht weniger gefährlich ist es auch für einen
Freien, aus irgendeinem Grunde von einem Sträfling Geld anzunehmen, und
ebenso für die Sklaven -- so nennt man nämlich die Sträflinge --, Waffen
anzurühren. Jede Landschaft macht ihre Sklaven durch ein eigenes,
unterscheidendes Zeichen kenntlich, das abzulegen bei Todesstrafe
verboten ist. Dieselbe Strafe trifft auch den, der sich außerhalb seines
Bezirks sehen läßt oder mit einem Sklaven eines anderen Bezirks ein Wort
spricht. Die Planung einer Flucht ist ebenso gefährlich wie ihre
Ausführung; schon von einem solchen Plane gewußt zu haben, bedeutet für
den Sklaven den Tod und für den Freien Knechtschaft. Dagegen sind auf
Anzeigen Preise ausgesetzt, und zwar erhält ein Freier Geld, ein Sklave
dagegen die Freiheit; beiden aber gewährt man Verzeihung und
Straflosigkeit, auch wenn sie von der Sache gewußt haben. Dadurch will
man verhüten, daß es mehr Sicherheit bietet, auf einem schlimmen Plane
zu beharren als ihn zu bereuen.

So also ist diese Angelegenheit gesetzlich geregelt, wie ich es
beschrieben habe. Wie menschlich und zweckmäßig dieses Verfahren ist,
kann man leicht einsehen. Übt es doch nur insoweit Strenge aus, als die
Verbrechen beseitigt werden; dabei kostet es kein Menschenleben, und die
Übeltäter werden so behandelt, daß sie gar nicht anders können, als gut
zu sein und den Schaden, den sie vorher angerichtet haben, durch ihr
weiteres Leben wieder gutzumachen.

Daß ferner Sträflinge in ihre alte Lebensweise verfallen könnten, ist
durchaus nicht zu befürchten. Infolgedessen halten sich auch Fremde, die
irgendwohin reisen müssen, unter keiner anderen Führung für sicherer als
unter der jener Sklaven, die dann von einer Gegend zur anderen
unmittelbar wechseln. Denn sie besitzen nichts, was sie zu einem
Raubüberfall reizen könnte: in der Hand haben sie keine Waffe, Geld
würde ihre verbrecherische Tat nur verraten, und der Ertappte müßte mit
Bestrafung und völliger Aussichtslosigkeit, irgendwohin fliehen zu
können, rechnen. Wie sollte es nämlich jemand auch fertig bringen,
völlig unbemerkt zu fliehen, wenn sich seine Kleidung in jedem Stück von
der seiner Landsleute unterscheidet? Er müßte sich denn gerade nackend
entfernen. Ja, auch in dem Falle würde den Ausreißer das Ohr verraten.
Aber könnten die Sträflinge nicht vielleicht an eine Verschwörung gegen
den Staat denken? Wäre das nicht doch eine Gefahr? Als ob irgendeine
Gruppe solch eine Hoffnung hegen dürfte, ehe nicht die Sklaven
zahlreicher Landschaften unruhig geworden und aufgewiegelt sind, denen
es nicht einmal erlaubt ist zusammenzukommen, miteinander zu sprechen
oder sich gegenseitig zu grüßen, die also noch viel weniger eine
Verschwörung anzetteln könnten! Sollte man ferner annehmen dürfen, sie
würden diesen Plan inzwischen unbesorgt ihren Anhängern anvertrauen,
während sie doch wissen, daß Verschweigen gefährlich, Verrat aber höchst
vorteilhaft ist? Und dabei hat niemand so gänzlich die Hoffnung
aufgegeben, doch irgendwann einmal die Freiheit wieder zu erlangen, wenn
er sich gehorsam zeigt und eine Besserung in der Zukunft zuversichtlich
erwarten läßt. Wird doch in jedem Jahre ein paar Sklaven zum Lohn für
geduldiges Ausharren die Freiheit wieder geschenkt.«

So sprach ich. Als ich dann noch hinzufügte, es liege meiner Meinung
nach gar kein Grund vor, dieses Verfahren nicht auch in England
anzuwenden, und zwar mit viel größerem Erfolg als jenen Rechtsbrauch,
den der Jurist so sehr gelobt hatte, da erwiderte mir dieser sofort:
»Niemals ließe sich dieser Brauch in England einführen, ohne daß der
Staat dadurch in die größte Gefahr geriete!« Und bei diesen Worten
schüttelte er den Kopf, verzog den Mund und schwieg dann, und alle
Anwesenden stimmten ihm zu. Da meinte der Kardinal: »Man kann nicht so
leicht voraussagen, ob die Sache günstig oder ungünstig ausgeht, solange
man sie überhaupt noch nicht erprobt hat. Aber nach Verkündigung eines
Todesurteils könnte ja der Landesherr einen Aufschub der Vollstreckung
anordnen und unter Einschränkung der Privilegien der Asylstätten dieses
neue Verfahren erproben. Sollte es sich durch den Erfolg als zweckmäßig
bewähren, so wäre es wohl richtig, es zur dauernden Einrichtung zu
machen. Andernfalls könnte man ja die vorher Verurteilten auch dann noch
hinrichten, und das wäre von nicht geringem Vorteil für den Staat und
nicht ungerechter, als wenn es gleich geschähe, und auch in der Zeit
des Aufschubs könnte keine Gefahr daraus erwachsen. Ja, wie mir sicher
scheint, würde dieselbe Behandlung auch den Landstreichern gegenüber
sehr angebracht sein; denn gegen sie haben wir zwar bis jetzt eine Menge
Gesetze erlassen, aber trotzdem noch nichts erreicht.«

Sobald der Kardinal das gesagt hatte -- dasselbe, worüber sich alle
verächtlich geäußert hatten, als sie es von mir hörten --, wetteiferte
jeder, ihm das höchste Lob zu spenden, besonders jedoch seinem Vorschlag
in betreff der Landstreicher, weil er den von sich aus hinzugefügt
hatte.

Vielleicht wäre es besser, das, was jetzt folgte, gar nicht zu erwähnen
-- es war nämlich lächerlich --, aber ich will es doch erzählen; denn es
war nicht übel und gehörte in gewissem Sinne zu unserer Sache. Es stand
zufällig ein Schmarotzer dabei, der offenbar den Narren spielen wollte,
sich aber so schlecht verstellte, daß er mehr einem wirklichen Narren
glich, indem er mit so faden Äußerungen nach Gelächter haschte, daß man
häufiger über seine Person als über seine Worte lachte. Zuweilen jedoch
äußerte der Mensch auch etwas, was nicht ganz so albern war, so daß er
das Sprichwort bestätigte: »Wer viel würfelt, hat auch einmal Glück.« Da
meinte einer von den Tischgenossen, ich hätte mit meiner Rede gut für
die Diebe gesorgt und der Kardinal auch noch für die Landstreicher; nun
bleibe nur noch übrig, von Staats wegen auch noch die zu versorgen, die
durch Krankheit oder Alter in Not geraten und arbeitsunfähig geworden
seien. »Laß mich das machen!« rief da der Spaßvogel. »Ich will auch das
in Ordnung bringen! Denn es ist mein sehnlicher Wunsch, mich vom Anblick
dieser Sorte Menschen irgendwie zu befreien. Mehr als einmal sind sie
mir schwer zur Last gefallen, wenn sie mich mit ihrem Klagegeheul um
Geld anbettelten. Niemals jedoch konnten sie das schön genug anstimmen,
um auch nur einen Pfennig von mir zu erpressen. Es ist bei mir nämlich
immer das eine von beiden der Fall: entweder habe ich keine Lust, etwas
zu geben, oder ich habe nicht die Möglichkeit dazu, weil ich nichts zu
geben habe. Infolgedessen werden die Bettler jetzt allmählich
vernünftig. Um sich nämlich nicht unnötig anzustrengen, reden sie mich
gar nicht mehr an, wenn sie mich vorübergehen sehen. So wenig erhoffen
sie von mir noch etwas, in der Tat nicht mehr, als wenn ich ein Priester
wäre. Aber jetzt befehle ich, ein Gesetz zu erlassen, dem zufolge alle
jene Bettler ohne Ausnahme auf die Benediktinerklöster verteilt und zu
sogenannten Laienbrüdern gemacht werden; die Weiber aber, ordne ich an,
sollen Nonnen werden.«

Da lächelte der Kardinal und stimmte im Scherz zu, die anderen dann auch
im Ernst. Indessen heiterte dieser Witz über die Priester und Mönche
einen Theologen, einen Klosterbruder, so auf, daß er, sonst ein ernster,
ja beinahe finsterer Mann, jetzt gleichfalls anfing, Spaß zu machen.
»Aber auch so«, rief er, »wirst du die Bettler nicht loswerden, wenn du
nicht auch für uns Klosterbrüder sorgst!«

»Aber das ist doch schon geschehen«, erwiderte der Parasit. »Der
Kardinal hat ja vortrefflich für euch gesorgt, indem er für die
Tagediebe Zwangsarbeit festsetzte; denn ihr seid doch die größten
Tagediebe.«

Da blickten alle auf den Kardinal. Als sie aber sahen, daß er auch diese
Bemerkung nicht zurückwies, fingen sie alle an, sie mit großem Vergnügen
aufzunehmen; nur der Klosterbruder machte eine Ausnahme. Der nämlich,
mit solchem Essig übergossen, geriet dermaßen in Zorn und Hitze --
worüber ich mich auch gar nicht wundere --, daß er sich nicht mehr
beherrschen konnte und zu schimpfen anfing. Er nannte den Menschen einen
Taugenichts, einen Verleumder, einen Ohrenbläser und ein Kind der
Verdammnis und führte zwischendurch schreckliche Drohungen aus der
Heiligen Schrift an. Jetzt aber begann der Witzbold ernsthaft zu spaßen,
und da war er ganz in seinem Element. »Zürne nicht, lieber Bruder!«
sagte er. »Es steht geschrieben: 'Durch standhaftes Ausharren sollt ihr
euch das Leben gewinnen.'« Darauf erwiderte der Klosterbruder -- ich
will nämlich seine eigenen Worte wiedergeben --: »Ich zürne nicht, du
Galgenstrick, oder ich sündige wenigstens nicht damit. Denn der Psalmist
sagt: 'Zürnt und sündigt nicht!'« Darauf ermahnte der Kardinal den
Klosterbruder in sanftem Tone, sich zu mäßigen. Doch der antwortete:
»Herr, ich spreche nur in redlichem Eifer, wie ich es tun muß. Denn auch
heilige Männer haben einen redlichen Eifer bewiesen, weswegen es heißt:
'Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt'. Und in den Kirchen singt
man:

    'Die Spötter Elisas,
    Während er hinaufsteigt zum Hause Gottes,
    Bekommen den Eifer des Kahlkopfs zu spüren',

wie ihn vielleicht auch dieser Spötter da, dieser Possenreißer, dieser
Bruder Liederlich noch zu spüren bekommen wird.«

»Du handelst vielleicht in ehrlicher Erregung«, sagte der Kardinal,
»aber mir will scheinen, es würde möglicherweise frömmer, bestimmt aber
klüger von dir sein, wenn du nicht mit einem törichten und lächerlichen
Menschen einen lächerlichen Streit beginnen wolltest.«

»Nein, Herr, das würde nicht klüger von mir sein«, erwiderte er. »Sagt
doch selbst der weise Salomo: 'Antworte dem Narren gemäß seiner
Narrheit!', wie ich es jetzt tue und ihm die Grube zeige, in die er
fallen wird, wenn er nicht recht auf der Hut ist. Wenn nämlich die
vielen Spötter Elisas, der doch nur _ein_ Kahlkopf war, den Eifer des
Kahlkopfes zu spüren bekommen haben, um wieviel mehr wird ein einziger
Spötter den Eifer der vielen Klosterbrüder zu spüren bekommen, unter
denen sich doch viele Kahlköpfe befinden! Und außerdem haben wir ja noch
eine päpstliche Bulle, auf Grund deren alle, die sich über uns lustig
machen, der Kirchenbann trifft.«

Sobald der Kardinal sah, daß der Streit kein Ende nehmen wollte, gab er
dem Schmarotzer einen Wink, sich zu entfernen, und brachte die Rede auf
ein anderes Thema, das auch Anklang fand. Bald darauf stand er von der
Tafel auf, entließ uns und widmete sich seinen Lehnsleuten, deren
Anliegen er sich anhörte.

»Sieh da, mein lieber Morus, wie lang ist doch die Geschichte geworden,
mit der ich dich belästigt habe! Ich hätte mich entschieden geschämt, so
ausführlich zu werden, wenn du es nicht dringend zu wissen verlangt
hättest und wenn es mir nicht den Eindruck gemacht hätte, als wolltest
du auch nicht _ein_ Wort von jenem Gespräch ausgelassen wissen; mit
solcher Aufmerksamkeit hörtest du mir zu. Ich mußte dies jedoch alles
erzählen -- freilich hätte es wesentlich kürzer geschehen können --, um
die Urteilsfähigkeit dieser Leute ins rechte Licht zu rücken: wovon sie
nämlich nichts wissen wollten, als sie es aus _meinem_ Munde hörten,
eben das billigten sie auf der Stelle, als es der Kardinal billigte, und
zwar gingen sie in ihrer Lobhudelei so weit, daß sie sich sogar die
Einfälle seines Schmarotzers, die sein Herr im Scherz nicht zurückwies,
in schmeichlerischer Weise gefallen ließen und sie beinahe für Ernst
nahmen. Daraus kannst du ermessen, wie hoch die Höflinge mich mit meinen
Ratschlägen einschätzen würden.«

»In der Tat, mein lieber Raphael«, erwiderte ich, »deine Erzählung war
ein großer Genuß für mich; so klug und treffend zugleich hast du alles
gesagt. Außerdem war es mir währenddem so, als befände ich mich wieder
in meiner Heimat, und nicht bloß dies, sondern als erlebte ich
gewissermaßen noch einmal meine Kindheit, bei der angenehmen Erinnerung
an jenen Kardinal, an dessen Hofe ich als Knabe erzogen worden bin. Lieb
und wert warst du mir ja auch sonst schon, mein Raphael, aber um wieviel
teurer du mir durch die so hohe Ehrung des Andenkens an jenen Mann
geworden bist, kannst du dir kaum vorstellen. Im übrigen kann ich bis
jetzt meine Ansicht in keinerlei Weise ändern; ich bin vielmehr
entschieden der Meinung, wenn du dich entschließen könntest, deine
Abneigung gegen die Fürstenhöfe aufzugeben, so könntest du mit deinen
Ratschlägen der Öffentlichkeit den größten Nutzen stiften. Deshalb ist
dies deine höchste Pflicht, die Pflicht eines braven Mannes. Und wenn
vollends dein Plato der Ansicht ist, die Staaten würden erst dann
glücklich sein, wenn entweder die Philosophen Könige seien oder die
Könige sich mit Philosophie befaßten, wie fern wird da das Glück noch
sein, wenn es die Philosophen sogar für unter ihrer Würde halten, den
Königen ihren guten Rat zuteil werden zu lassen.«

»Sie sind nicht so ungefällig«, antwortete er, »daß sie das nicht gern
tun würden -- sie haben es ja auch schon durch die Veröffentlichung
zahlreicher Bücher getan --, wenn nur die Machthaber bereit wären, die
guten Ratschläge auch zu befolgen. Aber ohne Zweifel hat Plato richtig
vorausgesehen, daß die Könige nur dann die Ratschläge philosophierender
Männer gutheißen werden, wenn sie sich selbst mit Philosophie
beschäftigen. Sind sie doch von Kindheit an mit verkehrten Meinungen
getränkt und von ihnen angesteckt, was Plato in eigener Person am Hofe
des Dionysius erfahren mußte. Oder meinst du nicht, ich würde auf der
Stelle fortgejagt oder verspottet werden, wenn ich am Hofe irgendeines
Königs gesunde Maßnahmen vorschlüge und verderbliche Saaten schlechter
Ratgeber auszureißen versuchte?

Wohlan, stelle dir vor, ich lebte am Hofe des Königs von Frankreich und
säße mit in seinem Rate, während man in geheimster Zurückgezogenheit
unter dem Vorsitze des Königs selbst in einem Kreise der klügsten
Männer mit großem Eifer darüber verhandelt, mit welchen Ränken und
Machenschaften der König es fertig bringen kann, Mailand zu behaupten,
jenes immer aufs neue abfallende Neapel wiederzugewinnen, ferner Venedig
zu vernichten und sich ganz Italien zu unterwerfen, sodann Flandern,
Brabant und schließlich ganz Burgund seinem Reiche einzuverleiben und
außerdem noch andere Völker, in deren Land der König schon längst im
Geiste eingefallen ist. Hier rät der eine, mit den Venetianern ein
Bündnis zu schließen, aber nur für so lange, als es den Franzosen Nutzen
bringt; mit ihnen gemeinschaftliche Sache zu machen, ja auch einen Teil
der Beute ihnen anzuvertrauen und dann wieder zurückzuverlangen, wenn
alles nach Wunsch gegangen ist; ein anderer wieder schlägt vor, deutsche
Landsknechte anzuwerben; ein dritter, Schweizer mit Geld kirre zu
machen; ein vierter, sich die Gunst der kaiserlichen Majestät durch Gold
wie durch ein Weihgeschenk zu erkaufen. Ein anderer wieder rät dem
Fürsten, sich mit dem König von Aragonien gütlich zu einigen und ihm
gleichsam als Unterpfand des Friedens das Königreich Navarra abzutreten,
das ihm aber gar nicht gehört. Unterdessen will ein anderer den Prinzen
von Kastilien durch eine Aussicht auf eine Verschwägerung ins Garn
locken und einige Granden seines Hofes durch eine bestimmte Barzahlung
auf die Seite Frankreichs ziehen. Nun aber stößt man auf die allergrößte
Schwierigkeit, was man nämlich bei alledem in betreff Englands
beschließen soll: immerhin müsse man mit ihm doch wenigstens
Friedensverhandlungen anknüpfen und das immer unsicher bleibende Bündnis
durch recht starke Bande befestigen; die Engländer solle man zwar
Freunde nennen, ihnen aber wie Feinden mißtrauen und deshalb die
Schotten für jeden Fall schlagfertig, gleichsam auf Posten, in
Bereitschaft halten und sie sofort auf die Engländer loslassen, sobald
sich diese irgendwie rührten. Außerdem müsse man einen hohen, in der
Verbannung lebenden Adligen unterstützen, und zwar im geheimen -- eine
offene Protektion lassen nämlich die Verträge nicht zu --, der den
englischen Thron für sich beanspruche. Das solle für den König von
Frankreich eine Handhabe sein, den König von England im Zaume zu halten,
dem er nicht trauen dürfe.

Und nun denke dir, hier, bei einem solchen Drange der Geschäfte, wenn so
viele ausgezeichnete Männer um die Wette Ratschläge für den Krieg
erteilen, stünde ich armseliges Menschenkind auf und hieße plötzlich den
Kurs ändern, schlüge vor, Italien aufzugeben, und behauptete, man müsse
im Lande bleiben; das eine Königreich Frankreich sei schon fast zu groß,
als daß es ein einziger gut verwalten könne; der König solle doch nicht
glauben, er dürfe noch an die Einverleibung anderer Reiche denken; und
ich riete ihnen dann weiter, dem Beispiele der Achorier zu folgen, eines
Volkes, das der Insel Utopia im Südosten gegenüberliegt. In alten Zeiten
hatten sie einmal einen Krieg geführt, um ihrem König den Besitz eines
zweiten Reiches zu sichern, das er auf Grund einer alten Verwandtschaft
als sein Erbe beanspruchte. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten,
mußten sie jedoch einsehen, daß die Behauptung des Landes keineswegs
leichter war als seine Eroberung, daß vielmehr ohne Unterlaß
Auflehnungen im Inneren oder Überfälle auf die Unterworfenen von außen
daraus entstanden, daß sie so dauernd entweder für oder gegen jene
kämpfen mußten, daß sich niemals die Möglichkeit bot, das Heer zu
entlassen, daß sie selber inzwischen ausgebeutet wurden, daß ihr Geld
ins Ausland ging, daß sie ihr Blut für ein wenig Ruhm eines Fremden
vergossen, daß der Friede im Inneren durchaus nicht gesicherter war, daß
der Krieg die Moral verdarb, daß die Raubsucht den Menschen gleichsam in
Fleisch und Blut überging, daß die Rauflust infolge der Metzeleien
zunahm und daß man die Gesetze nicht mehr achtete. Und das alles, weil
der König sein Interesse, das durch die Sorge für zwei Reiche
zersplittert wurde, jedem einzelnen nicht nachdrücklich genug zuwenden
konnte. Da nun die Achorier sahen, diese so schlimmen Zustände würden
auf andere Weise kein Ende nehmen, faßten sie endlich einen Entschluß
und ließen ihrem Fürsten in überaus höflicher Form die Wahl, welches
Reich von beiden er behalten wolle; beide könne er nämlich nicht länger
behalten; sie seien ein zu großes Volk, um von einem 'halbierten' König
regiert zu werden, wie sich ja auch niemand gern mit einem anderen
seinen Maultiertreiber würde teilen wollen. So sah sich denn jener brave
Fürst gezwungen, sein neues Reich einem seiner Freunde zu überlassen --
der übrigens bald darauf gleichfalls verjagt wurde -- und sich mit dem
alten zu begnügen. Ferner würde ich darauf hinweisen, daß alle diese
kriegerischen Versuche, die um des Königs willen so viele Völker in
Unruhe versetzen würden, durch irgendein Mißgeschick schließlich doch
ohne Erfolg enden könnten, nachdem seine Geldmittel erschöpft und sein
Volk ruiniert seien. Ich würde ihm deshalb raten, sein ererbtes Reich
nach Möglichkeit zu pflegen und zu fördern und es zu höchster Blüte zu
bringen, seine Untertanen zu lieben und sich von ihnen lieben zu lassen,
mit ihnen zusammen zu leben, sie mit Milde zu regieren und andere Reiche
in Frieden zu lassen, da ihm ja schon genug und übergenug zugefallen
sei. Mit was für Ohren, meinst du, mein Morus, müßte man da wohl meine
Rede aufnehmen?«

»Wahrhaftig, nicht mit sehr geneigten«, erwiderte ich.

»Fahren wir also fort!« sagte er. »Die Ratgeber irgendeines Königs
debattieren und klügeln mit ihm aus, mit welchen Schelmenstreichen sie
Gelder für ihn aufhäufen können. Einer rät dazu, den Geldwert zu
erhöhen, wenn der König selber eine Zahlung zu leisten hat, ihn aber
anderseits unter das rechte Maß zu senken, wenn ihm eine Zahlung zu
leisten ist. Auf diese Weise bezahlt er eine große Schuld mit wenig Geld
und erhält für eine kleine ausstehende Forderung viel. Ein anderer
wieder schlägt vor, eine Kriegsgefahr vorzutäuschen, unter diesem
Vorwand Geld aufzubringen und dann zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt
Frieden zu schließen, und zwar unter feierlichen Zeremonien; dadurch
solle der breiten Masse des dummen Volkes vorgegaukelt werden, der
fromme Fürst habe offenbar aus Mitleid kein Menschenblut vergießen
wollen. Ein dritter ruft ihm gewisse alte, von Motten angefressene und
längst nicht mehr angewendete Gesetze ins Gedächtnis, nach denen sich
kein Mensch mehr richte, weil sich niemand besinnen könne, daß sie
überhaupt jemals erlassen worden seien, und er fordert ihn auf,
Strafgelder für diese Nichtbefolgung einzuziehen: kein Ertrag sei
ergiebiger und zugleich ehrenhafter, da er ja die Maske der
Gerechtigkeit zur Schau trage. Ein vierter wieder fordert den König auf,
unter Androhung hoher Geldstrafen eine Menge Verbote zu erlassen,
zumeist von Handlungen, die nicht den Interessen des Volkes dienen,
gegen Geld aber Leuten Dispens zu erteilen, deren Privatinteressen ein
Verbot im Wege steht. Auf diese Weise ernte er den Dank des Volkes und
habe doppelten Gewinn, einmal aus der Bestrafung der Leute, die ihre
Erwerbsgier ins Netz lockt, und sodann aus dem Verkauf der Vorrechte an
andere, für um so mehr Geld natürlich, je gewissenhafter der Fürst ist;
denn ein guter Herrscher begünstigt nur ungern einen Privatmann zum
Nachteile seines Volkes und deshalb nur für viel Geld. Wieder ein
anderer sucht den König zu überreden, Richter anzustellen, die in jeder
beliebigen Sache zu seinen Gunsten entscheiden; außerdem solle er sie
einladen, in seinem Palaste und in seiner Gegenwart über seine
Angelegenheiten zu verhandeln; dann werde keiner seiner Prozesse so
offensichtlich faul sein, daß nicht einer der Richter, sei es aus Lust
am Widerspruch oder aus Scheu vor Wiederholung von schon Gesagtem oder
im Haschen nach der königlichen Gunst irgendeinen Ritz entdecken würde,
in den man eine Rechtsverdrehung einklemmen könne. Wenn dann erst einmal
bei Meinungsverschiedenheit der Richter über die an sich völlig klare
Sache debattiert und die Wahrheit in Frage gestellt werde, so biete sich
dem König die günstige Gelegenheit, das Recht zu seinem eigenen Vorteil
auszulegen, und die anderen würden sich aus Hochachtung oder aus Furcht
seiner Meinung anschließen. Und in diesem Sinne fällt dann später der
Gerichtshof unbedenklich das Urteil; denn es kann ja niemandem an einem
Vorwand fehlen, sich zugunsten des Fürsten zu entscheiden. Genügt es ihm
doch, daß entweder die Billigkeit für ihn spricht oder der Wortlaut des
Gesetzes oder die gewaltsam verdrehte Auslegung des Sinnes eines
Schriftstückes oder, was gewissenhaften Richtern schließlich mehr gilt
als alle Gesetze, des Fürsten unbestreitbares Recht der obersten
Entscheidung. Kurz, alle Ratgeber sind der gleichen Ansicht und wirken
zusammen im Sinne jenes Wortes des Crassus, keine Menge Gold sei groß
genug für einen Fürsten, der ein Heer unterhalten müsse. Außerdem kann
nach ihrer Meinung ein König gar kein Unrecht tun, mag er es auch noch
so sehr wünschen; denn der gesamte Besitz aller seiner Untertanen wie
auch diese selbst sind, so glauben sie, sein Eigentum, und jedem
einzelnen gehört nur so viel, wie ihm seines Königs Gnade noch läßt. Der
aber muß großen Wert darauf legen, daß dieser Rest möglichst gering ist;
denn seine Sicherheit beruht darauf, daß sein Volk nicht durch Reichtum
oder Freiheit übermütig wird, weil beides eine harte und ungerechte
Herrschaft weniger geduldig ertragen läßt, während anderseits Armut und
Not abstumpfen, geduldig machen und den Untertanen in ihrer Bedrängnis
den großzügigen Geistesschwung der Empörung nehmen.

Nun stelle dir wieder vor, ich stünde jetzt noch einmal auf und
behauptete, alle diese Pläne seien für den König unehrenhaft und
verderblich; denn nicht nur seine Ehre, sondern auch seine Sicherheit
beruhe weniger auf seinem eigenen Reichtum als auf dem seiner
Untertanen. Ich würde dann weiter ausführen, daß sich diese einen König
nicht in dessen, sondern in ihrem eigenen Interesse wählen, um nämlich,
dank seiner eifrigen Bemühung, selber in Ruhe und Sicherheit vor
Gewalttaten zu leben. Deshalb hat der Fürst, so würde ich weiter sagen,
die Pflicht, mehr auf seines Volkes Wohlergehen als auf sein eigenes
bedacht zu sein, genau so wie es die Pflicht eines Hirten ist, mehr für
die Ernährung seiner Schafe als für seine eigene zu sorgen, wenigstens
in seiner Eigenschaft als Schafhirt. Denn in der Armut des Volkes einen
Schutz zu sehen, ist, wie schon die Erfahrung lehrt, ein gewaltiger
Irrtum. Wo könnte man nämlich mehr Zank und Streit finden als unter
Bettlern? Und wer ist eifriger auf Umsturz bedacht als der, dem seine
augenblickliche Lage so gar nicht gefallen will? Oder wen beseelt
schließlich ein kühneres Verlangen nach einem allgemeinen Durcheinander,
in der Hoffnung auf irgend welchen Gewinn, als den, der nichts mehr zu
verlieren hat? Sollte nun aber wirklich ein König von seinen Untertanen
so sehr verachtet oder gehaßt werden, daß er sie nicht anders im Zaume
halten kann, als indem er mit Mißhandlungen, Ausplünderung und
Güterparzellierung gegen sie vorgeht und sie an den Bettelstab bringt,
dann wäre es wirklich besser für ihn, er legte seine Herrschaft nieder,
als daß er sie mit Hilfe solcher Künste behauptet; sie retten ihm wohl
den Namen seiner Herrschaft, aber ihrer Erhabenheit geht er bestimmt
verlustig. Denn es ist eines Königs nicht würdig, über Bettler zu
herrschen, sondern vielmehr über reiche und glückliche Menschen. Eben
das meint sicherlich der hochgemute und geistig überlegene Fabricius mit
der Antwort, er wolle lieber Reichen gebieten als selber reich sein. Und
in der Tat! Als einzelner in Vergnügen und Genüssen schwimmen, während
ringsherum andere seufzen und jammern, das heißt nicht Hüter eines
Thrones, sondern eines Kerkers sein. Kurzum: wie es demjenigen Arzte an
jeder Erfahrung fehlt, der eine Krankheit nur durch eine andere zu
heilen versteht, so mag der seine völlige Unfähigkeit zur Herrschaft
über Freie ruhig eingestehen, der das Leben der Staatsbürger nur dadurch
zu bessern weiß, daß er ihnen nimmt, was das Leben lebenswert macht. Ja
wahrhaftig, er soll doch lieber seine Trägheit oder seinen Stolz
aufgeben; denn diese Laster ziehen ihm in der Regel die Verachtung oder
den Haß seines Volkes zu. Er soll rechtschaffen von seinen Mitteln leben
und seine Ausgaben den Einnahmen anpassen. Er soll ferner die Missetaten
einschränken und lieber durch richtige Belehrung seiner Untertanen
verhüten, als sie erst anwachsen zu lassen und dann zu bestrafen.
Gesetze, die gewohnheitsmäßig aus der Übung gekommen sind, soll er nicht
aufs Geratewohl erneuern, zumal wenn sie schon lange nicht mehr
angewendet und niemals vermißt worden sind. Er soll auch niemals für ein
derartiges Vergehen eine Geldstrafe einziehen, was der Richter auch
einem Privatmanne als unbillig und unlauter untersagen würde. Ferner
würde ich jenen Ratgebern ein Gesetz der Macarenser mitteilen, die
gleichfalls nicht eben weit von Utopia entfernt wohnen. An dem Tage
seiner Regierungsübernahme verpflichtet sich nämlich ihr König unter
Darbringung feierlicher Opfer eidlich, nie auf einmal mehr als tausend
Pfund Gold oder den entsprechenden Wert in Silber in seinen Kassen zu
haben. Diese Bestimmung soll ein vortrefflicher König getroffen haben,
dem das Wohl seines Landes mehr als sein persönlicher Reichtum am Herzen
lag. Mit dieser Maßnahme wollte er in seinem Volke einer Geldknappheit
infolge Anhäufung einer zu großen Geldsumme vorbeugen. Er sah nämlich
ein, dieser Betrag werde für den Monarchen groß genug sein zum Kampfe
gegen die Rebellen und groß genug für die Monarchie zur Abwehr
feindlicher Angriffe; dagegen sei er nicht groß genug, um zu Einfällen
in fremdes Gebiet Lust zu machen. Das war der hauptsächlichste Grund für
den Erlaß des genannten Gesetzes. Der nächste Grund aber war, daß jener
König glaubte, auf diese Weise einen Mangel an den Zahlungsmitteln
verhütet zu haben, die täglich im Handelsverkehr der Bürger im Umlauf
waren. Auch war er der Ansicht, ein König werde bei allen
unvermeidlichen Ausgaben, die den Staatsschatz über das gesetzliche Maß
hinaus belasten, keine Möglichkeiten zu einer gewaltsamen Maßnahme
suchen. Einen solchen König werden die Bösen fürchten und die Guten
lieben. Würde ich also dies und noch mehr dergleichen bei Leuten
vorbringen, die leidenschaftlich den entgegengesetzten Grundsätzen
huldigen, was für tauben Ohren würde ich da wohl predigen?«

»Stocktauben, ohne Zweifel«, erwiderte ich. »Und in der Tat, darüber
wundere ich mich auch gar nicht. Auch will es mir, um die Wahrheit zu
sagen, nicht angebracht erscheinen, derartige Reden zu halten und solche
Ratschläge zu erteilen, die, wie man sicher weiß, niemals befolgt
werden. Was könnte denn auch der Nutzen einer so ungewöhnlichen Rede
sein, oder wie sollte sie überhaupt eine Wirkung ausüben auf Leute, die
von einer ganz anderen Überzeugung voreingenommen und tief durchdrungen
sind? Unter lieben Freunden, im vertraulichen Gespräch, ist solches
theoretisches Philosophieren nicht ohne Reiz, aber in einem Rate von
Fürsten, wo mit gewichtiger Autorität über Fragen von Bedeutung
verhandelt wird, ist für so etwas kein Platz.«

»Da haben wir ja«, rief er, »was ich immer sagte: An Fürstenhöfen will
man eben von Philosophie nichts wissen.«

»Gewiß«, erwiderte ich, »es ist wahr: nichts von dieser rein
theoretischen Philosophie, die da meint, jeder beliebige Satz sei
überall am Platze. Aber es gibt ja noch eine andere Art von Philosophie,
die die besonderen Bedingungen ihres Landes und ihrer Zeit besser kennt.
Ihr ist die Bühne, auf der sie zu spielen hat, bekannt, sie paßt sich
ihr an und führt ihre Rolle in dem Stück, das gerade gegeben wird,
gefällig und mit Anstand durch. Das ist die Philosophie, die für dich in
Betracht kommt. Wie wäre es übrigens, wenn du bei der Aufführung einer
Komödie des Plautus, gerade während die Haussklaven untereinander Possen
treiben, in der Tracht eines Philosophen auf der Bühne erschienest und
aus der Octavia die Stelle hersagtest, in der Seneca mit Nero
disputiert? Wäre es da nicht besser, du trätest nur als Statist auf,
anstatt Unpassendes zu deklamieren und dadurch eine solche Tragikomödie
vorzuführen? Du würdest ja das Stück, das man gerade spielt, verderben
und über den Haufen werfen, indem du so ganz Verschiedenartiges
durcheinandermengst, selbst wenn das, was du bringst, der wertvollere
Beitrag wäre. Was für ein Stück gerade aufgeführt wird, darin mußt du so
gut wie möglich mitspielen, und du darfst das ganze Stück nicht deshalb
in Unordnung bringen, weil dir ein hübscheres von einem anderen
Verfasser in den Sinn gekommen ist.

So ist es im Staate, so bei den Beratungen der Fürsten. Kann man
verkehrte Meinungen nicht mit der Wurzel ausrotten und kann man Übeln,
die sich durch lange Gewohnheit eingenistet haben, nicht nach seiner
innersten Überzeugung abhelfen, so darf man deshalb doch nicht gleich
den Staat im Stiche lassen und im Sturme das Schiff nicht deshalb
preisgeben, weil man den Winden nicht Einhalt gebieten kann. Man darf
auch nicht den Menschen eine ungewöhnliche und lästige Rede aufdrängen,
die, wie man weiß, auf Leute, die entgegengesetzter Meinung sind, gar
keinen Eindruck machen wird. Man muß es lieber auf einem Umwege
versuchen und sich bemühen, an seinem Teile alles geschickt zu behandeln
und, was man nicht zum Guten wenden kann, wenigstens zu einem möglichst
kleinen Übel werden zu lassen. Denn unmöglich können alle Verhältnisse
gut sein, solange nicht alle Menschen gut sind. Darauf aber werde ich
wohl noch manches Jahr warten müssen.«

»Dieses Verhalten«, meinte er, »hätte nichts anderes zur Folge, als daß
ich, in dem Bestreben, die Raserei anderer zu heilen, selber mit ihnen
zu rasen anfinge. Denn wenn ich die Wahrheit sagen will, so muß ich so
reden; ob es dagegen eines Philosophen würdig ist, die Unwahrheit zu
sagen, weiß ich nicht. Mir wenigstens widerstrebt es. Es mag schon sein,
daß meine Rede jenen Leuten vielleicht unwillkommen und lästig ist.
Trotzdem aber sehe ich nicht ein, warum sie ihnen bis zur
Unschicklichkeit ungewöhnlich erscheinen sollte. Wenn ich nun entweder
das anführte, was Plato in seinem Staate fingiert, oder das, was die
Utopier in ihrem Staate tun, so könnte das, obgleich es an sich das
Bessere wäre -- und das ist es auch wirklich --, doch unpassend
erscheinen, weil es hier Privatbesitz der einzelnen gibt, dort aber
alles gemeinsamer Besitz aller ist.

Wie ist es denn nun aber eigentlich mit _meiner_ Rede? Abgesehen davon,
daß den Leuten, die auf einem anderen Wege kopfüber vorwärtsstürzen
wollen, ein Mann nicht lieb sein kann, der sie zurückruft und auf
Gefahren aufmerksam macht, was enthielt sie denn sonst, das nicht
überall gesagt werden dürfte oder sogar gesagt werden sollte? Müßte man
freilich alles als unerhört und widersinnig beiseite lassen, was
verkehrter menschlicher Anschauung zufolge als seltsam erscheint, dann
müßten wir unter den Christen das meiste von allem geheimhalten, was
Christus gelehrt und uns so streng zu verleugnen verboten hat, daß er
uns sogar geboten hat, auch das, was er seinen Jüngern nur ins Ohr
geflüstert hatte, öffentlich auf den Dächern zu verkünden. Steht doch
diese Lehre zum größten Teile weit weniger im Einklang mit unseren
heutigen Sitten als meine Rede, nur daß die Volksredner in ihrer
Schlauheit, wie mir scheint, deinen Rat befolgt haben. Als sie nämlich
sahen, daß die Menschen nur ungern ihr Verhalten der Vorschrift Christi
anpaßten, paßten sie umgekehrt seine Lehre, als wäre sie biegsam wie ein
Richtmaß aus Blei, den herrschenden Sitten an, damit beides einigermaßen
wenigstens in Übereinstimmung miteinander gebracht würde. Ich kann aber
nicht einsehen, welchen Nutzen sie damit gestiftet haben, außer daß die
Bosheit größere Sicherheit genießt, und ich selbst würde in der Tat in
dem Rate eines Fürsten ebensowenig Nutzen stiften. Entweder nämlich
würde ich eine abweichende Meinung äußern -- das wäre dann genau so, als
wenn ich gar nichts sagte --, oder eine zustimmende, und damit würde ich
zum Helfershelfer ihres Wahnsinns, wie Micio bei Terenz sagt. Denn was
jenen von dir erwähnten Umweg anlangt, so kann ich nicht einsehen, was
für eine Bewandtnis es damit haben soll. Du meinst, man müsse auf ihm zu
erreichen suchen, daß die Verhältnisse, wenn man sie nun einmal nicht
gründlich bessern kann, wenigstens geschickt behandelt werden und sich,
soweit das geht, möglichst wenig schlecht gestalten. Denn von Vertuschen
kann hier keine Rede sein, und die Augen darf man nicht zudrücken. Die
schlechtesten Ratschläge sollen offen gebilligt und die verderblichsten
Verfügungen unterschrieben werden. Ein Schurke, ja fast ein Hochverräter
würde sein, wer unheilvolle Beschlüsse in arglistiger Weise doch
guthieße.

Ferner bietet sich einem gar keine Gelegenheit, sich irgendwie nützlich
zu machen, wenn man unter solche Amtsgenossen gerät, die auch den
besten Mann verderben, anstatt sich selbst durch ihn bessern zu lassen.
Der Umgang mit diesen verdorbenen Menschen wird dich entweder auch
verderben, oder, wenn du auch selbst unbescholten und ohne Schuld
bleibst, so wirst du doch fremder Bosheit und Torheit zum Deckmantel
dienen. So viel fehlt also daran, daß du mit jenem deinen Umwege etwas
zum Besseren wenden könntest.

Deshalb erklärt auch Plato mit einem wunderschönen Gleichnis, warum sich
die Weisen mit Fug und Recht von politischer Betätigung fernhalten
sollen. Sie sehen nämlich, wie das Volk auf die Straßen strömt und
ununterbrochen von Regengüssen durchnäßt wird, können es aber nicht dazu
bewegen, sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen und in die Häuser
zu gehen. Weil sie aber wissen, daß sie, wenn sie auch auf die Straße
gehen, nichts weiter erreichen, als daß sie selbst mit einregnen, so
bleiben sie im Hause und sind damit zufrieden, wenigstens selber in
Sicherheit zu sein, wenn sie schon fremder Torheit nicht steuern können.

Wenn ich freilich ganz offen meine Meinung kundgeben soll, mein lieber
Morus, so muß ich sagen: ich bin in der Tat der Ansicht, überall, wo es
noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen,
wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es
sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste
immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz
wenige verteilt wird und wo es auch diesen nicht in jeder Beziehung gut
geht, der Rest aber ein elendes Dasein führt.

So erwäge ich denn oft die so klugen und ehrwürdigen Einrichtungen der
Utopier, die so wenig Gesetze und trotzdem eine so ausgezeichnete
Verfassung haben, daß das Verdienst belohnt wird und trotz gleichmäßiger
Verteilung des Besitzes allen alles reichlich zur Verfügung steht. Und
dann vergleiche ich im Gegensatz dazu mit ihren Gebräuchen die so vieler
anderer Nationen, die nicht aufhören zu ordnen, von denen allen aber
auch nicht eine jemals so richtig in Ordnung ist. Bei ihnen bezeichnet
jeder, was er erwirbt, als sein Privateigentum; aber ihre so zahlreichen
Gesetze, die sie tagtäglich erlassen, reichen nicht aus, jemandem den
Erwerb dessen, was er sein Privateigentum nennt, oder seine Erhaltung
oder seine Unterscheidung von fremdem Besitz zu sichern, was jene
zahllosen Prozesse deutlich beweisen, die ebenso ununterbrochen
entstehen, wie sie niemals aufhören. Wenn ich mir das so überlege, werde
ich Plato doch besser gerecht und wundere mich weniger darüber, daß er
es verschmäht hat, für jene Leute irgendwelche Gesetze zu erlassen, die
eine auf Gesetzen beruhende gleichmäßige Verteilung aller Güter unter
alle ablehnen. In seiner großen Klugheit erkannte er offensichtlich ohne
weiteres, daß es nur einen einzigen Weg zum Wohle des Staates gibt: die
Einführung der Gleichheit des Besitzes. Diese ist aber wohl niemals dort
möglich, wo die einzelnen ihr Hab und Gut noch als Privateigentum
besitzen. Denn, wo jeder auf Grund gewisser Rechtsansprüche an sich
bringt, soviel er nur kann, teilen nur einige wenige die gesamte Menge
der Güter unter sich, mag sie auch noch so groß sein, und lassen den
anderen nur Mangel und Not übrig. Und in der Regel ist es so, daß die
einen in höchstem Grade das Los der anderen verdienen; denn die Reichen
sind habgierige, betrügerische und nichtsnutzige Menschen, die Armen
dagegen bescheidene und schlichte Männer, die durch ihre tägliche Arbeit
dem Gemeinwesen mehr als sich selbst nützen. Ich bin daher der festen
Überzeugung, das einzige Mittel, auf irgendeine gleichmäßige und
gerechte Weise den Besitz zu verteilen und die Sterblichen glücklich zu
machen, ist die gänzliche Aufhebung des Privateigentums. Solange es das
noch gibt, wird der weitaus größte und beste Teil der Menschheit die
beängstigende und unvermeidliche Last der Armut und der Kümmernisse
dauernd weiterzutragen haben. Sie kann wohl ein wenig erleichtert
werden, das gebe ich zu; aber sie völlig zu beseitigen, das ist, so
behaupte ich, unmöglich. Man könnte ja für den Besitz des einzelnen an
Grund und Boden ein bestimmtes Höchstmaß festsetzen und ebenso eine
bestimmte Grenze für das Barvermögen; man könnte auch durch Gesetze
einer zu großen Macht des Fürsten und einer zu großen Anmaßung des
Volkes vorbeugen. Ferner könnte man die Erlangung von Ämtern durch
allerlei Schliche oder durch Bestechung und die Forderung von Aufwand
während der Amtstätigkeit unterbinden. Andernfalls nämlich bietet sich
Gelegenheit, sich das verausgabte Geld durch Betrug und Raub wieder zu
verschaffen, und man sieht sich gezwungen, reichen Leuten _die_ Ämter zu
geben, die man lieber Fähigen hätte geben sollen. Durch solche Gesetze
kann man die erwähnten Übelstände wohl mildern und abschwächen, ebenso
wie man kranke Körper in hoffnungslosem Zustande durch unablässige warme
Umschläge zu stärken pflegt. Aber auf eine vollständige Behebung der
Übelstände und auf den Eintritt eines erfreulichen Zustandes darf man
ganz und gar nicht hoffen, solange jeder noch Privateigentum besitzt.
Ja, während man an der einen Stelle zu heilen sucht, verschlimmert man
die Wunde an anderen Stellen. So entsteht abwechselnd aus der Heilung
des einen die Krankheit des anderen; denn niemandem kann man etwas
zulegen, was man einem anderen nicht erst weggenommen hat.«

»Aber ich bin gerade der entgegengesetzten Meinung«, erwiderte ich, »daß
man sich nämlich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft
herrscht. Denn wie könnte die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder
sich um die Arbeit drückt, weil ihn ja keine Rücksicht auf Erwerb zur
Arbeit anspornt und weil ihn die Möglichkeit, sich auf den Fleiß anderer
zu verlassen, träge werden läßt? Aber wenn auch die Not die Menschen zur
Arbeit anstacheln sollte, würde man da nicht dauernd durch Mord und
Aufruhr in Gefahr schweben, falls niemand auf Grund irgendeines Gesetzes
das, was er erwirbt, als sein Eigentum schützen könnte? Zumal wenn die
Autorität der Behörden und die Achtung vor ihnen geschwunden ist, wie
könnte dann für beides Platz sein bei Menschen, zwischen denen keinerlei
Unterschied besteht? Das kann ich mir nicht einmal vorstellen.«

»Über diese deine Ansichten wundere ich mich gar nicht«, erwiderte
Raphael; »denn von einem solchen Staate hast du entweder gar keine
Anschauung oder nur eine falsche. Wärest du jedoch mit mir in Utopien
gewesen und hättest du dort mit eigenen Augen die Sitten und
Einrichtungen kennengelernt, wie ich es getan habe, der ich über fünf
Jahre dort gelebt habe und gar nicht wieder hätte fortgehen mögen, außer
um die Kenntnis von dieser neuen Welt zu verbreiten, so würdest du
entschieden zugeben, du habest nirgends anderswo ein Volk mit einer
guten Verfassung gesehen außer dort.«

»Und doch«, sagte Peter Ägid, »wirst du mich in der Tat nur schwer davon
überzeugen können, daß es in jener neuen Welt ein Volk mit besserer
Verfassung gibt als in dieser uns bekannten. Haben wir doch hier ebenso
kluge Köpfe, und die Staatswesen sind, meine ich, älter als dort; auch
verdanken unsere Kulturgüter ihre Entstehung zum größten Teile langer
Erfahrung, wobei ich nicht unerwähnt lassen will, daß bei uns manches
durch Zufall entdeckt worden ist, was zu erdenken kein Scharfsinn
ausgereicht hätte.«

»Über das Alter der Staaten würdest du richtiger urteilen können«,
erwiderte jener, »wenn du die Geschichtswerke über jene Welt genau
gelesen hättest. Darf man ihnen glauben, so hat es dort früher Städte
gegeben als bei uns Menschen. Alles aber, was bis heute der Scharfsinn
erfunden oder der Zufall entdeckt hat, konnte hier wie dort vorhanden
sein. Im übrigen ist es meine feste Überzeugung: Mögen wir jenen Leuten
auch an Gaben des Geistes voraussein, an Eifer und Fleiß bleiben wir
trotzdem weit hinter ihnen zurück. Wie nämlich aus ihren Chroniken
hervorgeht, hatten sie vor unserer Landung dort niemals etwas von
unserer Welt gehört -- sie nennen uns Ultraäquinoktialen --, außer daß
in alten Zeiten, vor nunmehr 1200 Jahren, in der Nähe der Insel Utopia
ein vom Sturm dorthin verschlagenes Schiff durch Schiffbruch unterging.
Dabei warfen die Wellen etliche Römer und Ägypter an den Strand, die
dann nie wieder fortgingen.

Und nun sieh, wie die Utopier in ihrem Fleiße diese in ihrer Art einzige
Gelegenheit ausnutzten! Es gab im ganzen römischen Reiche keine
irgendwie nützliche Kunstfertigkeit, die sie nicht von den gestrandeten
Fremdlingen erlernt oder die sie nicht, im Besitze der Keime ihrer
Kenntnis, weiter ausgebildet hätten. Von solchem Vorteil war es für sie,
daß auch nur ein einziges Mal ein paar Leute von hier dorthin
verschlagen wurden. Sollte aber ein ähnlicher glücklicher Zufall früher
einmal jemanden von dort hierher gebracht haben, so ist das heute ebenso
gänzlich vergessen, wie sich vielleicht spätere Geschlechter auch meines
Aufenthaltes dort nicht mehr erinnern werden. Und während sich die
Utopier schon bei der ersten Berührung mit uns alle unsere nützlichen
Erfindungen aneigneten, wird es dagegen lange dauern, bis _wir_
irgendeine Einrichtung übernehmen, die bei ihnen besser ist als bei uns.
Dies halte ich auch für den Hauptgrund dafür, daß trotz unserer
geistigen und materiellen Überlegenheit ihr Staat dennoch klüger
verwaltet wird und glücklicher aufblüht.«

»Also, mein lieber Raphael«, sagte ich, »so bitte ich dich dringend, gib
uns eine Beschreibung der Insel und fasse dich nicht zu kurz, sondern
erläutere uns der Reihe nach Landschaft, Flüsse, Städte, Menschen,
Sitten, Einrichtungen, Gesetze, kurz alles, was wir, wie du meinst,
gern kennenlernen wollen! Du kannst aber annehmen, daß wir alles wissen
möchten, was wir bis jetzt nicht wissen.«

»Nichts werde ich lieber tun«, erwiderte er; »denn das habe ich noch
frisch im Gedächtnis. Aber die Sache erfordert Zeit.«

»So wollen wir denn hineingehen«, sagte ich, »und frühstücken; dann
nehmen wir uns Zeit, ganz wie es uns beliebt!«

»Einverstanden!« erwiderte er.

Und so gingen wir ins Haus und frühstückten. Danach kehrten wir an den
alten Platz zurück und nahmen auf derselben Bank Platz. Den Dienern
sagte ich, wir wollten von niemandem gestört werden. Dann erinnerten
Peter Ägid und ich den Raphael an sein Versprechen. Als er uns nun in
solcher Spannung und Erwartung sah, saß er erst eine Weile schweigend
und nachdenklich da, dann begann er folgendermaßen.

(Ende des ersten Buches. Es folgt das zweite.)




ZWEITES BUCH

Des Raphael Hythlodeus Rede über den besten Zustand des Staates

Von Thomas Morus


Die Insel der Utopier hat in der Mitte -- da ist sie nämlich am
breitesten -- eine Ausdehnung von 200 Meilen, ist über eine große
Strecke hin nicht viel schmäler und nimmt nach den beiden Enden zu
allmählich ab. Diese runden die ganze Insel zu einem Halbkreise von 500
Meilen Umfang ab und geben ihr die Gestalt des zunehmenden Mondes.
Zwischen den beiden Hörnern befindet sich eine Meeresbucht von etwa elf
Meilen Breite. Land umgibt diese gewaltige Wasserfläche auf allen Seiten
und schützt sie vor Winden. Sie ist weniger stürmisch bewegt und gleicht
mehr einem ruhigen See von ungeheurer Ausdehnung, macht fast die ganze
Ausbuchtung des Landes zu einem Hafen und ermöglicht den Schiffsverkehr
nach allen Richtungen.

Die Einfahrt in den Hafen gefährden auf der einen Seite Untiefen und auf
der anderen Klippen. Etwa in der Mitte ragt ein einzelner Felsen empor,
der aber ungefährlich ist. Auf ihm steht ein Turm, in den die Utopier
eine Besatzung gelegt haben. Die übrigen Klippen sind unsichtbar und
deshalb gefährlich. Die Fahrstraßen kennen nur die Eingeborenen, und so
kann ein Ausländer ohne einen Lotsen aus Utopien nur schwer in diese
Bucht eindringen; könnten doch die Utopier selber kaum ohne Gefahr dort
einlaufen, wenn nicht gewisse Seezeichen vom Strande aus die Richtung
angäben, und durch ihre Umsetzung wären sie imstande, jeder auch noch so
großen feindlichen Flotte den Untergang zu bereiten.

Auf der anderen Seite liegen gut besuchte Häfen. Aber überall ist der
Zugang zum Lande so stark durch Natur oder Kunst befestigt, daß auch nur
eine Handvoll Verteidiger selbst gewaltige Truppenmassen abwehren
könnte. Übrigens war dieses Land, wie man berichtet und wie der
Augenschein deutlich zeigt, vor Zeiten noch keine Insel. Vielmehr hat
erst Utopus, der als Eroberer die Insel nach sich benannt hat -- bis
dahin hieß sie Abraxa -- und der den rohen und unkultivierten Volksstamm
in Kultur und Gesittung auf eine solche Höhe gebracht hat, daß er die
übrigen Völker übertrifft, das Land zur Insel gemacht. Kaum war er
nämlich dort gelandet und Herr des Landes geworden, so ließ er eine
Strecke von 15 Meilen auf der Seite, wo die Halbinsel mit dem Festlande
zusammenhing, ausstechen und führte so das Meer ringsherum. Da er zu
dieser Arbeit, um sie nicht als Schmach empfinden zu lassen, nicht nur
die Eingeborenen zwang, sondern außerdem alle seine Soldaten hinzuzog,
verteilte sie sich auf eine gewaltige Menge Menschen, und so wurde das
Werk mit unglaublicher Schnelligkeit vollendet. Bei den Nachbarvölkern
aber, die es anfangs als ein aussichtsloses Beginnen ins Lächerliche
gezogen hatten, erregte der Erfolg Staunen und Schrecken.

Die Insel hat 54 Städte, alle geräumig und prächtig, in Sprache, Sitten,
Einrichtungen und Gesetzen einander völlig gleich. Sie sind alle in
derselben Weise angelegt und haben, soweit das bei der Verschiedenheit
des Geländes möglich ist, dasselbe Aussehen. Die geringste Entfernung
zwischen ihnen beträgt 24 Meilen; anderseits wieder ist keine so
abgelegen, daß man nicht von ihr aus eine andere an _einem_ Tage zu Fuß
erreichen könnte.

Aus jeder Stadt kommen alljährlich drei erfahrene Greise in Amaurotum
zusammen, um sich über gemeinsame Angelegenheiten der Insel zu beraten.
Diese Stadt wird nämlich als erste und als Hauptstadt betrachtet, weil
sie gleichsam im Herzen des Landes und somit für die Abgeordneten aller
Landesteile bequem liegt.

Ackerland ist den Städten planmäßig zugeteilt, und zwar so, daß einer
jeden nach jeder Richtung hin mindestens 12 Meilen Anbaufläche zur
Verfügung stehen, nach manchen Richtungen hin jedoch noch viel mehr,
nämlich dort, wo die Städte weiter auseinanderliegen. Keine Stadt ist
auf Erweiterung ihres Gebietes bedacht; denn die Einwohner betrachten
sich mehr als seine Bebauer denn als seine Besitzer.

Auf dem flachen Lande haben die Utopier Höfe, die zweckmäßig über die
ganze Anbaufläche verteilt und mit landwirtschaftlichen Geräten versehen
sind; in ihnen wohnen Bürger, die abwechselnd dorthin ziehen. Jeder
ländliche Haushalt zählt an Männern und Frauen mindestens 40 Köpfe, wozu
noch zwei zur Scholle gehörige Knechte kommen. Einem Haushalte stehen
ein Hausvater und eine Hausmutter vor, gesetzte und an Erfahrung reiche
Personen, und an der Spitze von je 30 Familien steht ein Phylarch.

Aus jeder Familie wandern jährlich 20 Personen in die Stadt zurück,
nachdem sie zwei ganze Jahre auf dem Lande zugebracht haben, und werden
durch ebensoviel neue aus der Stadt ersetzt. Diese werden dann von
denen, die schon ein Jahr dort gewesen sind und deshalb größere
Erfahrung in der Landwirtschaft besitzen, angelernt, um ihrerseits
wiederum im folgenden Jahre andere zu unterweisen. Dadurch will man
Fehler in der Getreideversorgung verhüten, die infolge Mangels an
Erfahrung gemacht werden könnten, wenn alle dort zu gleicher Zeit
unerfahrene Neulinge wären. Diese Sitte, mit den Bebauern zu wechseln,
ist zwar die gewöhnliche, weil niemand gegen seinen Willen und nur unter
Zwang das mühsamere Leben auf dem Lande länger ohne Unterbrechung
zubringen soll; viele jedoch, denen die Landwirtschaft von Natur Freude
macht, erwirken sich einen Aufenthalt von mehr Jahren.

Die Ackerbauer bestellen das Land, treiben Viehzucht, beschaffen Holz
und fahren es bei Gelegenheit zu Wasser oder zu Lande nach der Stadt.
Kücken ziehen sie in gewaltiger Menge auf, und zwar mit Hilfe einer
wunderbaren Vorrichtung. Sie lassen nämlich die Hühnereier nicht von den
Hennen ausbrüten, sondern setzen sie in großer Zahl einer gleichmäßigen
Wärme aus, erwecken sie dadurch zum Leben und ziehen dann die Kücken
groß. Kaum sind diese ausgeschlüpft, so laufen sie den Menschen wie
ihren Müttern nach und erkennen sie immer wieder. Pferde ziehen die
Utopier in ganz geringer Zahl auf, und zwar nur sehr feurige Tiere; sie
sind einzig und allein für Übungen der Jugend in der Reitkunst bestimmt.
Denn alle Arbeit bei der Feldbestellung oder beim Transport verrichten
Ochsen. Sie sind zwar, wie die Utopier offen zugeben, nicht so feurig
wie die Pferde, besitzen aber dafür ihrer Meinung nach mehr Ausdauer und
eine größere Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten. Außerdem erfordert
ihr Unterhalt weniger Aufwand an Mühe und Kosten, und zuletzt sind sie,
wenn sie ausgedient haben, doch noch für die Ernährung zu gebrauchen.

Getreide verwenden die Utopier nur zur Brotbereitung; denn als Getränk
dient ihnen Wein von Trauben oder Äpfeln oder Birnen oder schließlich
auch Wasser, das sie bisweilen unvermischt trinken, oft aber auch mit
Honig oder Süßholz verkocht, das es bei ihnen in nicht geringer Menge
gibt. Den Verbrauch von Lebensmitteln durch die Stadt und ihre Umgebung
haben sie zwar ermittelt und kennen ihn ganz genau, trotzdem bauen sie
viel mehr Getreide an und ziehen auch viel mehr Vieh auf, als für den
Eigenbedarf nötig ist, um dann den Überschuß an ihre Nachbarn abzugeben.
Alles, was sie an Hausrat brauchen, den es auf dem Lande nicht gibt,
verlangen sie von der Stadt und erhalten es auch ohne jede Gegenleistung
bereitwillig von den Behörden; denn die meisten von ihnen kommen sowieso
in jedem Monat an einem Feiertage in der Stadt zusammen. Wenn die
Erntezeit naht, melden die Phylarchen der Ackerbauer den städtischen
Behörden, wieviel Bürger sie ihnen schicken sollen. Diese Schar
Erntearbeiter trifft am festgesetzten Tage rechtzeitig ein, und bei
gutem Wetter erledigt man dann so ziemlich an einem einzigen Tage die
gesamte Erntearbeit.


Die Städte, namentlich Amaurotum

Wer _eine_ Stadt kennt, kennt _alle_: so völlig ähnlich sind sie
einander, soweit nicht die Beschaffenheit des Geländes dem
entgegensteht. Ich will deshalb irgendeine beschreiben; es kommt nämlich
wirklich nicht viel darauf an, welche. Aber welche lieber als Amaurotum?
Denn keine verdient es mehr, da dieser Stadt die übrigen die Würde als
Sitz des Senats übertragen haben und da ich sie infolge meines
ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthaltes dort besser als jede andere
kenne.

Amaurotum also liegt am flachen Abhange eines Berges und ist fast
quadratisch angelegt. Denn in voller Breite beginnt die Stadt ein wenig
unterhalb des Gipfels und erstreckt sich etwa zwei Meilen weit bis zum
Flusse Anydrus, wobei sie sich längs des Ufers beträchtlich länger
hinzieht. Der Anydrus entspringt aus einer schwachen Quelle 80 Meilen
oberhalb Amaurotums, wird dann durch den Zufluß anderer Wasserläufe,
darunter zweier von mittlerer Größe, wasserreicher und breiter und ist
vor der Stadt selbst eine halbe Meile breit. Bald darauf nimmt er an
Breite noch mehr zu und mündet dann 60 Meilen weiter in den Ozean. Auf
dieser ganzen Strecke zwischen der Stadt und dem Meere sowie noch ein
paar Meilen oberhalb der Stadt hemmen Ebbe und Flut in ihrem
sechsstündigen Wechsel den schnellen Lauf des Flusses. Wenn die
Meeresflut 30 Meilen tief eindringt, drängt sie das Wasser des Flusses
zurück und füllt sein Bett vollständig mit ihren Wellen. Das Flußwasser
nimmt dann noch ein ganzes Stück weiter stromaufwärts den Salzgeschmack
des Meeres an; von da ab wird es allmählich wieder süß, fließt klar
durch die Stadt und drängt der bei Ebbe zurückströmenden Flut fast bis
zur Mündung rein und unvermischt nach.

Die Brücke, die Amaurotum mit dem gegenüberliegenden Ufer verbindet,
besteht nicht aus hölzernen Pfeilern und Balken, sondern ist ein
Steinbau mit einem wunderschönen Brückenbogen. Sie befindet sich an der
Stelle, die vom Meere am weitesten entfernt ist, damit die Schiffe an
dieser ganzen Seite der Stadt ungehindert entlangfahren können.

Es gibt dort noch einen anderen Wasserlauf, der zwar nur klein, aber
recht ruhig und erfreulich ist. Er entspringt auf demselben Berge, auf
dem die Stadt liegt, fließt mitten durch sie und mündet in den Anydrus.
Weil seine Quelle ein Stück außerhalb der Stadt liegt, haben sie die
Amaurotaner ringsum mit Befestigungen umgeben, die bis zur Stadt
reichen. So gehört die Quelle zur Stadt, und beim Einbruch einer
feindlichen Macht kann das Wasser nicht abgefangen und abgelenkt oder
verdorben werden. Von dort aus leitet man es in Röhren aus gebranntem
Stein in verschiedenen Richtungen zu den unteren Stadtteilen. Läßt das
irgendwo die Beschaffenheit des Geländes nicht zu, so sammelt man in
geräumigen Zisternen das Regenwasser, das dann den gleichen Dienst
leistet.

Eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Türmen und Schutzwehren
umgibt die Stadt auf allen Seiten; ein trockener, aber tiefer, breiter
und durch Dorngestrüpp unwegsamer Graben umzieht die Stadtmauer auf drei
Seiten; auf der vierten dient der Fluß selbst als Wehrgraben.

Die Straßen sind ebenso zweckmäßig für den Wagenverkehr wie für den
Windschutz angelegt. Die Häuser sind keineswegs unansehnlich; man
übersieht ihre lange und längs der ganzen Straße ununterbrochene Reihe
von der gegenüberliegenden Häuserfront aus. Der Weg zwischen diesen
beiden Fronten ist 30 Fuß breit. An der Rückseite der Häuser zieht sich
die ganze Straße entlang eine breite Gartenanlage hin, die von der
Rückseite anderer Häuserreihen eingezäunt ist.

Jedes Haus hat einen Eingang von der Straße her und eine Hintertür, die
in den Garten führt. Die Türen haben zwei Flügel, lassen sich durch
einen leisen Druck mit der Hand öffnen und schließen sich dann von
selbst wieder, so daß ein jeder ins Haus hinein kann: so wenig ist
irgendwo etwas Eigentum eines einzelnen; denn sogar die Häuser wechselt
man alle zehn Jahre, und zwar verlost man sie.

Auf die erwähnten Gärten halten die Utopier große Stücke. In ihnen haben
sie Wein, Obst, Gemüse und Blumen in solcher Pracht und Pflege, daß es
alles übertrifft, was ich irgendwo an Fruchtbarkeit und gutem Geschmack
gesehen habe. Ihren Eifer dabei spornt nicht bloß ihr Vergnügen an der
Gartenarbeit an, sondern auch der Wettstreit der Straßenzüge in der
Pflege der einzelnen Gärten. Und sicherlich wird man nicht leicht in der
ganzen Stadt etwas finden, was für die Bürger nützlicher oder
unterhaltsamer wäre, und, wie es scheint, hat deshalb auch der Gründer
des Reiches auf nichts größere Sorgfalt verwendet als auf derartige
Gärten.

Wie es nämlich heißt, hat Utopus selber gleich von Anfang an diesen
ganzen Plan der Stadt festgelegt. Die Ausschmückung jedoch und den
weiteren Ausbau überließ er den Nachkommen in der Erkenntnis, daß _ein_
Menschenalter dazu nicht ausreichen werde. Daher steht in den
Geschichtsbüchern der Utopier, die die Geschichte von 1760 Jahren seit
Eroberung der Insel umfassen, fleißig und gewissenhaft geschrieben sind
und von ihnen aufbewahrt werden, die Häuser seien im Anfang niedrig
gewesen, eine Art Baracken und Hütten, ohne Sorgfalt aus irgendwelchem
Holz errichtet, die Wände mit Lehm verschmiert, mit spitzen Giebeln und
Strohdächern. Aber heutzutage ist jedes Haus ein stattlicher Bau von
drei Stockwerken; die Außenseite der Wände besteht aus Granit oder einer
anderen harten oder auch gebrannten Steinmasse, die inwendig mit Schutt
ausgefüllt wird. Die Dächer sind flach und mit einer gewissen Stuckmasse
belegt, die nicht teuer, aber so zusammengesetzt ist, daß sie nicht
brennt und noch wetterfester als Blei ist. Vor den Winden schützen sich
die Utopier durch Fenster aus Glas, das dort sehr viel verwendet wird;
bisweilen benutzen sie auch an dessen Stelle dünne Leinwand, die sie mit
durchsichtigem Öl oder einer Bernsteinmasse bestreichen. Das hat den
doppelten Vorteil, daß mehr Licht und weniger Wind durchgelassen wird.


Die Obrigkeiten

Je dreißig Familien wählen sich alljährlich einen Vorsteher; in der
alten Landessprache heißt er Syphogrant, in der jüngeren Phylarch. Zehn
Syphogranten mit ihren Familien unterstehen einem Vorgesetzten, der
jetzt Protophylarch genannt wird, in alten Zeiten aber Tranibore hieß.
Schließlich ernennen die Syphogranten in ihrer Gesamtheit, zweihundert
an der Zahl, auch den Bürgermeister. Nachdem sie sich eidlich
verpflichtet haben, den nach ihrer Ansicht Tüchtigsten zu wählen,
ernennen sie auf Grund geheimer Abstimmung einen der vier Bürger, die
ihnen das Volk namhaft macht, zum Bürgermeister; jedes Stadtviertel
wählt nämlich einen und schlägt ihn dem Senat vor. Das Amt wird auf
Lebenszeit verliehen, wenn dem nicht der Verdacht entgegensteht, es
gelüste den Inhaber nach Alleinherrschaft. Die Traniboren wählt man
jährlich, doch wechselt man mit ihnen nicht ohne triftige Gründe. Die
übrigen Beamten werden alle auf ein Jahr gewählt. Alle drei Tage, im
Bedarfsfalle bisweilen auch öfter, kommen die Traniboren mit dem
Bürgermeister zu einer Beratung zusammen, besprechen Stadtangelegenheiten
und entscheiden rasch etwa vorliegende Privatstreitigkeiten, die
übrigens ganz selten sind. Zu den Senatssitzungen werden regelmäßig zwei
Syphogranten hinzugezogen, die jeden Tag wechseln; dabei ist vorgesehen,
daß keine städtische Angelegenheit entschieden wird, über die nicht drei
Tage vor der Beschlußfassung im Senat verhandelt worden ist. Außerhalb
des Senats oder der Volksversammlungen über allgemeine Angelegenheiten
zu beraten, ist bei Todesstrafe verboten. Diese Bestimmung soll eine
tyrannische Unterdrückung des Volkes und eine Änderung der Verfassung
durch eine Verschwörung des Bürgermeisters und der Traniboren
erschweren. Und eben deshalb wird auch jede wichtige Angelegenheit vor
die Versammlungen der Syphogranten gebracht; diese besprechen sie mit
den Familien, beraten dann unter sich und teilen ihre Entscheidung dem
Senat mit. Zuweilen kommt die Sache vor den Rat der ganzen Insel. Auch
ist es eine Gewohnheit des Senats, über einen Antrag nicht gleich an dem
Tage zu beraten, an dem er zum ersten Male eingebracht wird, sondern die
Verhandlung auf die nächste Sitzung zu verschieben. Es soll nämlich
niemand unbedachtsam mit dem herausplatzen, was ihm zuerst auf die Zunge
kommt, und dann mehr auf die Verteidigung seiner Ansicht als auf das
Interesse der Stadt bedacht sein. Auch soll niemand das Gemeinwohl der
Erhaltung der guten Meinung von seiner Person opfern, in einer Art
sinnloser und verkehrter Scham, weil er sich nicht merken lassen will,
daß er es im Anfang an der nötigen Voraussicht hat fehlen lassen,
während er doch von vornherein darauf hätte bedacht sein müssen, lieber
überlegt als rasch zu sprechen.


Die Handwerke

_Ein_ Gewerbe betreiben alle, Männer und Frauen ohne Unterschied: den
Ackerbau, und auf ihn versteht sich jedermann. Von Jugend auf werden sie
darin unterwiesen, zum Teil durch Unterricht in den Schulen, zum Teil
auch auf den Feldern in der Nähe der Stadt, wohin man sie wie zu einem
Spiele führt. Hier sehen sie der Arbeit nicht bloß zu, sondern üben sie
auch aus und stärken bei dieser Gelegenheit zugleich ihre Körperkräfte.

Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, alle betreiben, erlernt jeder
noch irgendein Handwerk als seinen besonderen Beruf. Das ist in der
Regel entweder die Tuchmacherei oder die Leineweberei oder das Maurer-
oder das Zimmermanns- oder das Schmiedehandwerk. In keinem anderen
Berufe nämlich ist dort eine nennenswerte Anzahl Menschen beschäftigt.
Denn der Schnitt der Kleidung ist, abgesehen davon, daß sich die
Geschlechter sowie die Ledigen und die Verheirateten in der Tracht
voneinander unterscheiden, auf der ganzen Insel einheitlich und stets
der gleiche in jedem Lebensalter, wohlgefällig fürs Auge, bequem für die
Körperbewegung und vor allem für Kälte und Hitze berechnet. Diese
Kleidung fertigt sich jede Familie selber an. Von den obenerwähnten
anderen Gewerben aber erlernt jeder eins, und zwar nicht nur die Männer,
sondern auch die Frauen. Letztere jedoch, als die körperlich
Schwächeren, üben nur die leichteren Gewerbe aus; in der Regel
verarbeiten sie Wolle und Flachs; den Männern weist man die übrigen,
mühsameren Beschäftigungen zu. Meistenteils erlernt jeder das väterliche
Handwerk; denn dazu neigen die meisten von Natur. Hat aber jemand zu
einem anderen Berufe Neigung, so nimmt ihn durch Adoption eine Familie
auf, die dasjenige Gewerbe betreibt, zu dem er Lust hat. Dabei sorgen
nicht nur sein Vater, sondern auch die Behörden dafür, daß er zu einem
würdigen und ehrbaren Familienvater kommt. Ja, wenn jemand _ein_
Handwerk gründlich erlernt hat und noch ein anderes dazu erlernen will,
so ist ihm das auf demselben Wege möglich. Versteht er dann beide, so
übt er aus, welches er will, es sei denn, daß die Stadt eins von beiden
nötiger braucht.

Die besondere und beinahe einzige Aufgabe der Syphogranten ist es, sich
angelegentlich darum zu kümmern, daß niemand untätig herumsitzt, sondern
daß jeder sein Gewerbe mit Fleiß betreibt, ohne sich jedoch, gleich
einem Lasttiere, in ununterbrochener Arbeit vom frühesten Morgen an bis
in die tiefe Nacht abzumühen; denn das wäre eine mehr als sklavische
Plackerei. Und doch ist das fast überall das Los der Arbeiter, außer bei
den Utopiern. Diese teilen nämlich den Tag mitsamt der Nacht in
vierundzwanzig gleiche Stunden ein und kennen eine Arbeitszeit von nur
sechs Stunden. Drei Stunden arbeiten sie am Vormittag; danach essen sie
zu Mittag und halten eine Rast von zwei Stunden. Dann arbeiten sie
wieder drei Stunden und beschließen den Tag mit dem Abendessen. Da sie
die erste Stunde von Mittag an rechnen, gehen sie gegen acht Uhr zu
Bett; acht Stunden brauchen sie zum Schlafen.

Über all die Zeit zwischen den Stunden der Arbeit, des Schlafes und des
Essens darf ein jeder nach seinem Belieben verfügen, nicht etwa um sie
durch Schwelgerei und Trägheit schlecht auszunützen, sondern um die
arbeitsfreie Zeit nach Herzenslust auf irgendeine andere Beschäftigung
nutzbringend zu verwenden. Die meisten treiben in diesen Pausen
literarische Studien. Es herrscht nämlich der Brauch, täglich in den
frühen Morgenstunden öffentliche Vorlesungen zu halten; zu ihrem Besuche
sind diejenigen verpflichtet, die zu wissenschaftlicher Arbeit
namentlich ausgewählt sind. Aus jedem Stande aber strömt eine gewaltige
Menge Hörer, Männer wie Frauen, zu den Vorlesungen, die einen zu diesen,
die anderen zu jenen, je nach ihren persönlichen Neigungen. Wenn jedoch
einer auch diese Zeit lieber auf seine berufliche Tätigkeit verwenden
will, was bei vielen der Fall ist, deren Geist sich nicht zur Höhe
wissenschaftlicher Betrachtung erhebt, so hindert man ihn nicht daran;
er erntet vielmehr sogar noch Lob, weil er sich dem Staate nützlich
macht.

Nach dem Abendessen verbringen die Utopier noch eine Stunde mit Spielen,
während des Sommers in ihren Gärten, während des Winters aber in jenen
Sälen, in denen sie gemeinsam essen. Entweder treiben sie dort Musik,
oder sie erholen sich in der Unterhaltung. Das Würfeln und andere solche
ungehörige und verderbliche Spiele sind ihnen nicht einmal bekannt;
üblich jedoch sind bei ihnen zwei dem Schach nicht unähnliche Spiele.
Das eine ist der Zahlenkampf, bei dem die Zahlen einander stechen; bei
dem anderen kämpfen, in Schlachtreihe aufgestellt, die Tugenden mit den
Lastern. In diesem Spiele zeigt sich sehr hübsch der Streit der Laster
untereinander und ihre einmütige Verbundenheit gegen die Tugenden,
ebenso welche Laster und Tugenden einander entgegengesetzt sind, mit
welchen Kräften ferner die Laster offen gegen die Tugenden kämpfen und
mit welchen Ränken und Listen sie versteckt angreifen, mit welchen
Hilfsmitteln anderseits die Tugenden die Kräfte des Lasters brechen, mit
welchen Künsten sie ihre Versuchungen vereiteln und auf welche Weise
endlich die eine oder die andere Partei den Sieg davonträgt.

Um aber einer irrtümlichen Auffassung eurerseits vorzubeugen, müssen wir
an dieser Stelle einen Punkt genauer betrachten. Wenn die Utopier
nämlich nur sechs Stunden arbeiten, könnte man vielleicht meinen, es
müsse das einen Mangel an den notwendigen Gütern zur Folge haben. Aber
gerade das Gegenteil ist der Fall. Diese Arbeitszeit genügt nicht nur,
sondern wird nicht einmal ganz gebraucht zur Produktion eines Vorrats an
allem, was zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehört.
Das werdet auch ihr einsehen, wenn ihr euch überlegt, ein wie großer
Teil des Volkes in anderen Ländern untätig dahinlebt: erstens fast alle
Frauen, also die Hälfte der Gesamtheit, oder wenn irgendwo die Frauen
arbeiten, schnarchen dort meistens an ihrer Stelle die Männer; außerdem
dann die Priester und die sogenannten frommen Männer, was für eine
große und faule Schar ist das! Nimm noch all die Reichen und besonders
die Grundbesitzer dazu, die man allgemein als Standespersonen und
Edelleute bezeichnet! Zu ihnen rechne noch ihre Dienerschaft, jenen
ganzen zusammengespülten Haufen von Raufbolden und Windbeuteln! Vergiß
schließlich auch die kräftigen und gesunden Bettler nicht, die ihren
Müßiggang mit irgendeinem Gebrechen bemänteln, und die Zahl der Leute,
die durch ihre Tätigkeit für die gesamten Bedürfnisse der Sterblichen
sorgen, wirst du dann viel geringer finden, als du angenommen hast. Und
nun überlege dir, wie wenige von diesen selbst mit wirklich notwendigen
Arbeiten beschäftigt sind! Da nämlich bei uns das Geld der Maßstab für
alles ist, müssen wir viele völlig unnütze und überflüssige Gewerbe
betreiben, die bloß der Verschwendung und der Genußsucht dienen. Würde
man nämlich diese ganze Masse, die jetzt im Arbeitsprozeß steht, nur auf
die so wenigen Gewerbe verteilen, die ein angemessener natürlicher
Bedarf erfordert, so würde ein großer Überfluß an Waren entstehen, und
die Preise würden notwendigerweise zu tief sinken, als daß die
Handwerker ihren Lebensunterhalt davon bestreiten könnten. Aber wenn
alle die, die jetzt ihre Kräfte in nutzloser Tätigkeit verzetteln, und
wenn noch dazu der ganze Schwarm derer, die jetzt in Nichtstun und
Trägheit erschlaffen und von denen jeder einzelne so viel von den
Produkten verbraucht, die die Arbeitskraft anderer liefert, wie zwei der
Arbeiter, wenn man also alle diese zu Arbeiten, und zwar zu nützlichen,
verwendete, so würde, wie leicht einzusehen ist, ungemein wenig Zeit
mehr als reichlich genügen, um alles zu beschaffen, was zum Leben
notwendig oder nützlich ist; du kannst auch noch hinzusetzen, zum
Vergnügen, soweit es echt und natürlich ist. Und das bestätigen in
Utopien die Tatsachen selber. Denn dort sind in einer ganzen Stadt
einschließlich ihrer nächsten Umgebung aus der Gesamtzahl der nach Alter
und Kräften zur Arbeit tauglichen Männer und Frauen kaum fünfhundert von
ihr befreit. Unter ihnen sind die Syphogranten zwar nach dem Gesetz zur
Arbeit nicht verpflichtet, sie machen aber von dieser Bestimmung keinen
Gebrauch, um die anderen durch ihr Beispiel um so leichter zur Arbeit
anzuspornen. Dieselbe Vergünstigung genießen diejenigen, denen das Volk
auf Vorschlag der Priester und auf Grund geheimer Abstimmung der
Syphogranten dauernde Arbeitsbefreiung zur Durchführung ihrer Studien
bewilligt. Erfüllt einer von ihnen die auf ihn gesetzte Hoffnung nicht,
so stößt man ihn wieder unter die Handarbeiter zurück. Nicht selten
tritt aber auch das Gegenteil ein, daß nämlich ein Handwerker jene
freien Stunden so eifrig auf das Studium verwendet und durch seinen
Fleiß so große Fortschritte macht, daß man ihn von der Handarbeit
befreit und in die Klasse der Gebildeten aufrücken läßt. Aus deren
Stande nimmt man die Gesandten, Priester, Traniboren und schließlich den
Bürgermeister selber, den die Utopier in ihrer alten Sprache Barzanes
und in ihrer jüngeren Ademus nennen. Da nun fast die ganze übrige Masse
des Volkes weder untätig noch mit unnützen Gewerben beschäftigt ist,
kann man leicht ermessen, in wie wenigen Stunden viel nützliche Arbeit
geleistet wird.

Zu dem von mir Erwähnten kommt für die Utopier noch die Erleichterung
hinzu, daß bei ihnen die meisten unentbehrlichen Gewerbe weniger Arbeit
als bei anderen Völkern erfordern. Erstens nämlich ist bei diesen zum
Bau oder zur Ausbesserung von Gebäuden deshalb so vieler Hände Arbeit
dauernd notwendig, weil der zu wenig wirtschaftliche Erbe das Haus, das
sein Vater erbaut bat, allmählich verfallen läßt. Was er mit ganz
geringen Kosten hätte erhalten können, muß sein Nachfolger mit großen
Kosten erneuern. Ja, häufig sagt auch ein Haus, das dem einen ungeheuer
viel Geld gekostet hat, dem verwöhnten Geschmack des anderen nicht zu.
Da sich dieser nicht darum kümmert, verfällt es in kurzer Zeit, und sein
Besitzer baut sich an anderer Stelle ein neues Haus für nicht weniger
Geld. Aber bei den Utopiern kommt es, dank der allgemeinen Ordnung und
dank ihrer Verfassung, nur ganz selten vor, daß man einen neuen Platz
für den Bau eines Hauses sucht. Und sie beheben nicht nur rasch die
vorhandenen Schäden, sondern beugen auch drohenden vor. Infolgedessen
bleiben ihre Gebäude bei ganz geringem Aufwand an Arbeit überaus lange
erhalten, und die Bauhandwerker haben bisweilen kaum etwas zu tun, außer
daß sie angewiesen werden, daheim Bauholz zu bearbeiten und bisweilen
Steine quadratisch zu behauen und fertigzumachen, damit gegebenenfalls
ein Haus schneller hochkommt.

Beachte ferner, wie wenig Arbeit zur Anfertigung der Kleidung der
Utopier erforderlich ist! Zunächst tragen sie bei der Arbeit einfach
Leder oder Felle, die bis zu sieben Jahren halten. Beim Ausgehen ziehen
sie einen mantelähnlichem Rock über, der jene gröberen Unterkleider
verdeckt. Diese Röcke haben auf der ganzen Insel die gleiche Farbe, und
zwar die Naturfarbe des Stoffes. Die Utopier verbrauchen also nicht bloß
viel weniger wollenes Tuch, als das anderswo der Fall ist, sondern der
Stoff kostet ihnen auch viel weniger. Aber noch weniger Arbeit macht die
Herstellung von Leinwand, und deshalb trägt man sie auch noch mehr. Beim
Leinen sieht man nur auf Weiße, bei der Wolle nur auf Sauberkeit;
feinere Webart wird gar nicht bezahlt. Und während sonst nirgends
_einer_ Person vier oder fünf wollene Oberkleider von verschiedener
Farbe und ebenso viele Untersachen aus Seide genügen -- etwas
eleganteren Leuten nicht einmal zehn --, begnügt sich hier in Utopien
ein jeder mit nur einem Anzug, und zwar zumeist für zwei Jahre. Warum
sollte sich dort jemand auch mehr Kleidung wünschen? Wenn er sie nämlich
bekäme, wäre er weder besser vor der Kälte geschützt, noch würde er in
seiner Kleidung auch nur um ein Haar hübscher aussehen.

Da die Utopier also alle in nützlichen Gewerben beschäftigt sind und
diese selbst auch eine geringere Arbeitszeit erfordern, braucht man sich
nicht zu wundern, daß bisweilen alle Erzeugnisse im Überfluß vorhanden
sind. Dann führt man eine ungeheure Menge Arbeiter zur Ausbesserung
öffentlicher Straßen, die schadhaft geworden sind, aus der Stadt hinaus;
sehr oft setzt man aber auch, wenn sich keinerlei Arbeit der Art nötig
macht, die Arbeitszeit von Staats wegen herab. Die Behörden zwingen
nämlich die Bürger nicht zu unnötiger Arbeit; denn die Einrichtung
dieses Staates hat das eine Hauptziel im Auge, soweit es die dringenden
Bedürfnisse des Staates erlauben, den Sklavendienst des Körpers nach
Möglichkeit einzuschränken, damit die dadurch gewonnene Zeit auf die
freie Ausbildung des Geistes verwendet werden kann. Darin liegt nämlich
nach ihrer Ansicht das Glück das Lebens.


Der Verkehr der Utopier miteinander

Doch glaube ich nunmehr darlegen zu müssen, auf welche Weise die Bürger
miteinander verkehren, welche inneren wirtschaftlichen Beziehungen
bestehen und wie die Verteilung der Güter vor sich geht.

Die Bürgerschaft besteht also aus Familien, die zumeist aus Verwandten
zusammengesetzt sind. Denn sobald die Frauen körperlich reif sind,
werden sie verheiratet und ziehen dann in die Wohnungen ihrer Männer.
Dagegen verbleiben die Söhne und deren männliche Nachkommen in ihren
Familien und unterstehen der Gewalt des Familienältesten, soweit dieser
nicht infolge seines Alters kindisch geworden ist; dann tritt der
Nächstälteste an seine Stelle. Um aber eine zu starke Abnahme oder eine
übermäßig große Zunahme der Bevölkerung zu verhindern, darf keine
Familie, deren es in jeder Stadt -- die in dem zugehörigen Landbezirk
nicht mitgerechnet -- 6000 gibt, weniger als zehn und mehr als sechzehn
Erwachsene haben; die Zahl der Kinder kann man ja nicht im voraus
festsetzen. Diese Bestimmung läßt sich mit Leichtigkeit
aufrechterhalten, indem man die überzähligen Mitglieder der übergroßen
Familien in zu kleine versetzt.

Sollte aber einmal eine ganze Stadt mehr Einwohner haben, als sie haben
darf, so füllt man mit dem Überschuß die Einwohnerzahl geringer
bevölkerter Städte des Landes auf. Wenn aber etwa die Menschenmasse der
ganzen Insel mehr als billig anschwellen sollte, so bestimmt man aus
jeder Stadt ohne Ausnahme Bürger, die auf dem nächstgelegenen Festlande
überall da, wo viel überflüssiges Ackerland der Eingeborenen brachliegt,
eine Kolonie nach ihren heimischen Gesetzen einrichten unter
Hinzuziehung der Einwohner des Landes, falls sie mit ihnen zusammenleben
wollen. Mit diesen zu gleicher Lebensweise und zu gleichen Sitten
vereint, verwachsen sie dann leicht miteinander, und das ist für beide
Völker von Vorteil. Sie erreichen es nämlich durch ihre Einrichtungen,
daß ein Land, das vorher dem einen Volke zu klein und unergiebig
erschien, jetzt für beide Völker mehr als genug hervorbringt. Diejenigen
Eingeborenen aber, die es ablehnen, nach den Gesetzen der Kolonisten zu
leben, vertreiben diese aus dem Gebiet, das sie selber für sich in
Anspruch nehmen, und gegen die, die Widerstand leisten, greifen sie zu
den Waffen. Denn das ist nach Ansicht der Utopier der gerechteste
Kriegsgrund, wenn irgendein Volk die Nutznießung und den Besitz eines
Stückes Land, das es selbst nicht nutzt, sondern gleichsam zwecklos und
unbebaut in Besitz hat, anderen untersagt, denen es nach dem Willen der
Natur ihren Lebensunterhalt liefern soll. Wenn aber einmal infolge eines
Unglücksfalles die Einwohnerzahl einiger ihrer Städte so sehr sinken
sollte, daß sie aus anderen Teilen der Insel unter Wahrung der Größe
einer jeden Stadt nicht wieder ergänzt werden kann -- wie es heißt, ist
das seit Menschengedenken nur zweimal infolge einer heftig wütenden
Seuche der Fall gewesen --, so läßt man die Bürger aus der Kolonie
zurückkommen und füllt mit ihnen die Einwohnerzahl der Städte wieder
auf. Die Utopier sehen es nämlich lieber, daß ihre Kolonien eingehen,
als daß die Einwohnerzahl einer der Städte ihrer Insel zurückgeht.

Doch ich komme auf das Zusammenleben der Bürger zurück. Der Älteste ist,
wie gesagt, das Oberhaupt der Familie. Die Frauen dienen ihren Männern,
die Kinder ihren Eltern und so überhaupt die Jüngeren den Älteren.

Jede Stadt zerfällt in vier gleiche Teile. In der Mitte eines jeden
befindet sich ein Markt für alle Arten von Waren. Dorthin schafft man
die Arbeitserzeugnisse einer jeden Familie in bestimmte Häuser, und die
einzelnen Warengattungen sind gesondert auf Speicher verteilt. Jeder
Familienvater verlangt dort, was er selbst und die Seinen brauchen, und
nimmt alles, was er haben will, mit, und zwar ohne Bezahlung und
überhaupt ohne jede Gegenleistung. Warum sollte man ihm nämlich auch
etwas verweigern? Alles ist ja im Überfluß vorhanden, und man braucht
nicht zu befürchten, daß jemand die Absicht hat, mehr zu verlangen, als
er braucht. Denn warum sollte man annehmen, es werde jemand über seinen
Bedarf hinaus fordern, wenn er sicher ist, daß es ihm niemals an etwas
fehlen wird? Werden doch bei jedem Lebewesen Habsucht und Raubgier durch
die Furcht vor Mangel hervorgerufen und beim Menschen allein außerdem
noch durch Stolz, da er es sich zum Ruhme anrechnet, durch ein Prahlen
mit überflüssigen Dingen die anderen zu übertreffen; für diese Art
Fehler ist in den Einrichtungen der Utopier überhaupt kein Platz.

Mit den erwähnten Märkten sind andere für Lebensmittel verbunden; auf
diese bringt man außer Gemüse, Obst und Brot auch Fische und Fleisch.
Die Tiere sind außerhalb der Stadt auf geeigneten Plätzen, wo man Blut
und Schmutz in fließendem Wasser abwaschen kann, von Sklaven getötet und
gereinigt worden. Die Bürger sollen sich nämlich nicht an das Schlachten
von Tieren gewöhnen, weil man der Ansicht ist, die Gewöhnung an diese
Tätigkeit ertöte allmählich das Mitleid, den edelsten Zug unseres
Wesens. Auch soll nichts Schmutziges und Unreines in die Stadt gebracht
werden, dessen Fäulnis die Luft verpesten und eine Krankheit
einschleppen könnte.

Außerdem stehen in jeder Straße, gleichweit voneinander entfernt, einige
geräumige Hallen, von denen jede ihren eigenen Namen hat. Hier wohnen
die Syphogranten, und jeder dieser Hallen sind dreißig Familien
zugeteilt, auf jeder Seite fünfzehn, die dort ihre Mahlzeiten
einzunehmen haben. Die Kücheneinkäufer einer jeden Halle finden sich zu
einer bestimmten Stunde auf dem Markte ein, melden die Zahl der Esser
und fordern die Lebensmittel an. In erster Linie berücksichtigt man bei
dieser Verteilung die Kranken, die in den öffentlichen Krankenhäusern
gepflegt werden. Im Stadtbezirk gibt es nämlich vier, ein Stück von der
Stadt entfernt; sie sind so geräumig, daß man sie für ebenso viele
kleine Städte halten könnte. Dadurch ist es möglich, eine auch noch so
große Zahl Kranker ohne Mangel an Raum und deshalb bequem unterzubringen
sowie die an ansteckenden Krankheiten Leidenden von den anderen recht
weit zu entfernen. Diese Krankenhäuser sind so eingerichtet und mit
allem, was zur Gesundheitspflege gehört, so reichlich ausgestattet, die
Pflege ist so rücksichtsvoll und gewissenhaft, und die erfahrensten
Ärzte sind so unermüdlich tätig, daß, wenn auch niemand gegen seinen
Willen dort Aufnahme findet, doch wohl jeder in der Stadt im
Krankheitsfalle lieber im Krankenhaus als daheim liegt.

Nachdem der Einkäufer für die Kranken die Lebensmittel nach ärztlicher
Vorschrift empfangen hat, verteilt man weiterhin das Beste gleichmäßig
auf die Hallen je nach deren Kopfzahl. Nur auf den Bürgermeister, den
Oberpriester und die Traniboren nimmt man besondere Rücksicht sowie auf
Gesandte und alle etwa anwesenden Ausländer. Doch sind letztere nur
vereinzelt und selten zu sehen; aber auch für sie stehen, wenn sie sich
im Lande aufhalten, bestimmte Wohnungen eingerichtet bereit.

In den erwähnten Hallen findet sich die gesamte Syphograntie, durch den
Klang einer ehernen Trompete aufgefordert, zu den festgesetzten Stunden
des Mittags- und Abendessens ein, mit Ausnahme der in den Hospitälern
oder daheim liegenden Kranken. Indes darf sich jedermann, wenn der
Bedarf der Hallen gedeckt ist, Lebensmittel vom Markt mit nach Hause
geben lassen; man weiß nämlich, daß das niemand ohne Grund tun wird.
Denn wenn es auch keinem verwehrt ist, zu Hause zu essen, so tut das
doch niemand gern, da es für unanständig gilt und töricht wäre, sich
mühsam ein schlechtes Mahl zuzubereiten, während in der Halle ganz in
der Nähe ein reichliches und ausgezeichnetes Essen zu haben ist. In
einer solchen Halle verrichten Sklaven alle schmutzigeren und mühsameren
Arbeiten, dagegen besorgen das Kochen und Zubereiten der Speisen sowie
die Vorbereitung des ganzen Mahles ausschließlich die Frauen der
einzelnen Familien, und zwar abwechselnd.

Je nach der Zahl der Esser speist man an drei oder mehr Tischen. Die
Männer haben ihre Plätze an der Wand, die Frauen dagegen an der
Außenseite der Tische. So können sie, wenn es ihnen plötzlich übel wird,
was bei Schwangeren bisweilen vorkommt, ohne Störung der Tischordnung
aufstehen und zu den stillenden Müttern gehen. Diese sitzen nämlich mit
ihren Säuglingen für sich in einem besonders zu diesem Zweck bestimmten
Speiseraum, wo es nie an Feuer und reinem Wasser fehlt; auch sind dort
Wiegen vorhanden, so daß die Mütter ihre Kleinen niederlegen oder, wenn
sie wollen, am Feuer aus den Windeln nehmen, sich frei bewegen lassen
und mit ihnen spielen können, damit sie wieder frisch und munter werden.
Jede Mutter stillt ihr Kind selber, soweit das nicht Tod oder Krankheit
unmöglich macht. Tritt dieser Fall ein, so besorgen die Frauen der
Syphogranten rasch eine Amme; und das ist bald geschehen; denn die
Frauen, die dazu imstande sind, bieten sich zu keiner Verrichtung lieber
an, da solches Mitleid allgemeines Lob findet und der Säugling später in
der Amme seine Mutter sieht.

In der Ammenstube sitzen auch alle Kinder unter fünf Jahren; die übrigen
Unmündigen -- dazu rechnet man die noch nicht Heiratsfähigen beiderlei
Geschlechts -- bedienen entweder bei Tisch oder, soweit sie noch zu jung
dazu sind, stehen sie doch dabei, und zwar in tiefstem Schweigen. Sie
essen, was ihnen die am Tische Sitzenden reichen, und haben keine
besondere Tischzeit. Am ersten Tisch in der Mitte sitzen der Syphogrant
und seine Frau. Das ist der oberste Platz, von dem aus man die gesamte
Gesellschaft übersieht; denn dieser Tisch steht im obersten Teile des
Speisesaales quer. An den Syphogranten und seine Frau schließen sich
zwei der Ältesten an; an allen Tischen sitzt man nämlich zu viert. Falls
aber ein Tempel in der betreffenden Syphograntie liegt, sitzen der
Priester und seine Frau so mit dem Syphogranten zusammen, daß sie den
Vorsitz führen. Auf beiden Seiten folgen dann Jüngere, danach wieder
Greise; auf diese Weise sitzen im ganzen Saale die Gleichaltrigen
nebeneinander und doch auch mit anderen Altersstufen zusammen. Wie es
heißt, hat man diese Einrichtung deshalb getroffen, damit die Würde der
Alten und die Ehrfurcht vor ihnen die Jüngeren von ungehöriger
Ausgelassenheit in Rede und Benehmen abhält; denn nichts, was bei Tische
gesprochen oder getan wird, kann den Nachbarn ringsum entgehen. Die
einzelnen Gänge werden nicht vom ersten Platze aus der Reihe nach
gereicht, sondern die besten Gerichte werden immer zuerst allen Älteren
vorgesetzt, deren Plätze besonders kenntlich sind; danach bedient man
die übrigen ohne Unterschied. Jedoch geben die Greise von ihren
Leckerbissen ganz nach Belieben den Umsitzenden ab; um sie nämlich im
ganzen Saale in genügender Menge zu verteilen, sind es nicht genug. Auf
diese Weise bleibt den Älteren die ihnen zukommende Ehre gewahrt, und
trotzdem wird der Allgemeinheit die gleiche Bevorzugung zuteil.

Zu Beginn einer jeden Mittags- und Abendmahlzeit wird ein Text
moralischen Inhalts vorgelesen, der jedoch nur kurz ist, damit man der
Sache nicht überdrüssig wird. Im Anschluß daran führen die Älteren
ehrbare Gespräche, die weder trocken noch ohne Witz sind. Indessen
halten sie nicht etwa während des ganzen Essens lange Reden; sie hören
vielmehr auch den jungen Leuten gern zu. Ja, sie veranlassen sie
absichtlich zum Reden, um von dem Charakter und Geist eines jeden einen
Begriff zu bekommen, wenn er sich in der bei einem Mahle herrschenden
Ungebundenheit offenbart. Die Mittagsmahlzeiten sind ziemlich schlicht,
die Abendmahlzeiten dagegen reichlicher; denn auf jene folgt Arbeit, auf
diese Schlaf und nächtliche Ruhe, und diese hilft nach Ansicht der
Utopier besser verdauen. Bei keinem Abendessen fehlt es an Musik, und
bei jedem Nachtisch gibt es allerlei Leckereien. Auch verbrennt man
Räucherwerk, verspritzt wohlriechendes Salböl und bietet alles auf, um
die Tischgenossen zu erheitern. Die Utopier neigen nämlich viel zu sehr
zu solcher Fröhlichkeit, um ein Vergnügen, das keinen Schaden anrichtet,
für verboten zu halten.

Derart also ist das gesellige Leben in der Stadt; auf dem Lande dagegen,
wo man weiter auseinander wohnt, ißt jeder für sich zu Hause. Dort fehlt
es nämlich keiner Familie an irgend etwas zum Leben; denn die Leute auf
dem Lande sind es ja, die alles das liefern, wovon die Städter leben.


Die Reisen der Utopier

Wer das Verlangen haben sollte, seine Freunde in einer anderen Stadt zu
besuchen oder sich auch nur den Ort selbst anzusehen, erhält von seinem
Syphogranten und Traniboren mit Leichtigkeit die Erlaubnis dazu, wenn er
irgendwie abkömmlich ist. Man schickt dann eine gewisse Anzahl Urlauber
zusammen ab und gibt ihnen ein Schreiben des Bürgermeisters mit, in dem
die Reisegenehmigung bestätigt und der Tag der Rückkehr vorgeschrieben
ist. Die Reisenden bekommen einen Wagen mit einem staatlichen Sklaven
gestellt, der das Ochsengespann führen und besorgen muß; wenn sie aber
nicht gerade Frauen bei sich haben, weisen sie den Wagen als lästig und
hinderlich zurück. Obgleich sie auf der ganzen Reise nichts mit sich
führen, fehlt es ihnen doch an nichts; sie sind ja überall zu Hause.
Sollten sie sich irgendwo länger als einen Tag aufhalten, so übt jeder
daselbst sein Gewerbe aus und wird von seinen Handwerksgenossen aufs
freundlichste behandelt.

Wenn sich aber jemand außerhalb seines Wohnbezirks eigenmächtig
herumtreiben und ohne amtlichen Urlaubsschein aufgegriffen werden
sollte, so betrachtet man ihn als Ausreißer, bringt ihn mit Schimpf und
Schande in die Stadt zurück und züchtigt ihn streng; im
Wiederholungsfalle büßt er mit dem Verlust seiner Freiheit. Wenn aber
jemanden die Lust anwandeln sollte, auf seinen heimatlichen Fluren
spazierenzugehen, so hindert ihn niemand daran, vorausgesetzt, daß er
die Erlaubnis seines Hausvaters und die Einwilligung seiner Frau hat.
Wohin er aber auch aufs Land kommt, nirgends gibt man ihm etwas zu
essen, ehe er nicht das dort vor dem Mittags- oder Abendessen übliche
Arbeitspensum erledigt hat; unter dieser Bedingung kann er ganz nach
Belieben innerhalb des Gebietes seiner Stadt spazierengehen. Wird er
sich doch auf diese Weise der Stadt ebenso nützlich machen, als wenn er
sich in ihr selber aufhielte.

Ihr seht schon, in Utopien gibt es nirgends eine Möglichkeit zum
Müßiggang oder einen Vorwand zur Trägheit. Keine Weinschenken, keine
Bierhäuser, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung,
keine Schlupfwinkel, keine Stätten der Liederlichkeit; jeder ist
vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur
gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet.

Diese Lebensführung des Volkes hat notwendig einen Überfluß an jeglichem
Lebensbedarf zur Folge, und da alle gleichmäßig daran teilhaben, ist es
ganz natürlich, daß es Arme oder gar Bettler überhaupt nicht geben kann.
Im Senat von Mentiranum, wo sich, wie erwähnt, alljährlich drei
Abgeordnete aus jeder Stadt einfinden, stellt man zunächst fest, wovon
es in den einzelnen Bezirken einen Überschuß gibt und worin irgendwo der
Ertrag zu gering gewesen ist. Dann gleicht man alsbald den Mangel der
einen Bezirke durch den Überfluß der anderen aus, und zwar geschieht
das unentgeltlich, ohne daß die Geber von den Empfängern eine
Entschädigung erhalten. Dafür aber, daß eine Stadt irgendeiner anderen
aus ihren Beständen ohne Gegenforderung liefert, erhält sie auch wieder,
was sie braucht, von einer Stadt, der sie nichts gegeben hat. So bildet
die ganze Insel gleichsam eine einzige Familie.

Nachdem aber die Utopier sich selbst zur Genüge mit Vorräten versorgt
haben, was nach ihrer Ansicht erst dann der Fall ist, wenn sie wegen der
Unsicherheit des Ertrags im darauffolgenden Jahre für einen Zeitraum von
zwei Jahren vorgesorgt haben, führen sie aus dem Überschuß eine große
Menge Getreide, Honig, Wolle, Leinen, Holz, Scharlach- und Purpurfarben,
Felle, Wachs, Seife, Leder sowie außerdem Vieh in andere Länder aus. Von
dem allen schenken sie ein Siebentel den Armen des betreffenden Landes,
den Rest aber verkaufen sie zu mäßigem Preise. Dieser Handel bringt
ihnen nicht nur diejenigen Waren ins Land, an denen es ihnen fehlt --
das ist aber fast nichts weiter als Eisen --, sondern außerdem eine
große Menge Silber und Gold. Weil sie das schon lange so halten, haben
sie an diesen Metallen überall einen unglaublich großen Überfluß. Daher
legen sie jetzt auch nicht sonderlich viel Gewicht darauf, ob sie gegen
bar oder auf Kredit verkaufen und den bei weitem größten Teil ihrer
Forderungen als Außenstände haben. Doch lehnen sie bei der Ausstellung
von Schuldscheinen die Bürgschaft von Privatpersonen regelmäßig ab und
verlangen immer auf Grund formell ausgestellter Scheine die Bürgschaft
der Stadt. Diese zieht dann am Zahltage den Betrag von den
Privatschuldnern ein, legt ihn in die Stadtkasse und hat bis zu seiner
Anforderung durch die Utopier den Zinsgenuß. Diese verlangen aber
niemals den größten Teil zurück; nach ihrer Ansicht ist es nämlich eine
Ungerechtigkeit, anderen etwas wegzunehmen, was für sie von Nutzen ist,
ihnen selbst aber keinen Nutzen bringt. Wenn sie dagegen
erforderlichenfalls einen Teil des betreffenden Geldes einem anderen
Volke leihen wollen, so verlangen sie es dann erst zurück oder auch,
wenn sie selbst Krieg führen müssen. Für diesen einen Zweck nämlich
heben sie jenen gesamten Schatz, den sie im Lande haben, auf, um an ihm
in äußerster oder plötzlicher Gefahr einen Rückhalt zu haben, vor allem
aber, um damit für unmäßig hohen Sold ausländische Soldaten anzuwerben;
denn diese setzen sie lieber der Gefahr aus als ihre eigenen Bürger.
Außerdem wissen sie, daß in der Regel die Feinde selber mit viel Geld
sich kaufen und gegeneinander hetzen lassen, sei es durch Verrat oder
auch durch Entzweiung. Aus diesem Grunde sorgen die Utopier für einen
Staatsschatz von unermeßlichem Werte. Er ist aber in ihren Augen kein
eigentlicher Schatz; sie halten es damit vielmehr so, daß ich mich in
der Tat schäme, es zu erzählen, weil ich fürchten muß, man wird meinen
Worten nicht glauben. Und meine Befürchtung ist um so berechtigter, je
mehr ich mir bewußt bin, wie schwer man mich selbst dazu hätte bringen
können, es einem anderen zu glauben, wenn ich es nicht persönlich erlebt
hätte. Es kann ja gar nicht anders sein, als daß etwas um so weniger
Glauben findet, je mehr es von den Bräuchen der Zuhörer abweicht. Da
freilich auch die übrigen Einrichtungen der Utopier so wesentlich
anders als die unsrigen sind, wird sich ein kluger Beurteiler der Dinge
vielleicht weniger wundern, wenn sie auch Gold und Silber auf eine Weise
benutzen, die mehr ihrem eigenen als unserem Brauche entspricht. Da die
Utopier nämlich selber kein Geld verwenden, sondern es nur für einen
Fall aufsparen, der ebensogut eintreten wie nicht eintreten kann, so
schätzt niemand von ihnen Gold und Silber, woraus das Geld gemacht wird,
höher, als es ihrem natürlichen Werte angemessen ist. Wer sieht da
nicht, wie weit dort Gold und Silber unter dem Eisen stehen! Und in der
Tat ist Eisen für die Menschheit ebenso lebensnotwendig wie Wasser und
Feuer, während weder Gold noch Silber von Natur einen Vorzug besitzt,
den wir nicht mit Leichtigkeit entbehren könnten; nur halten es die
Menschen in ihrer Torheit wegen seines seltenen Vorkommens für so
besonders wertvoll. Und dabei hat doch im Gegenteil die Natur, wie eine
überaus gütige Mutter, uns gerade ihre besten Gaben offen und frei vor
Augen gestellt, wie die Luft, das Wasser und die Erde selbst, das
Nichtige und Unnütze dagegen sehr weit entrückt. Würde nun Gold und
Silber bei den Utopiern in irgendeinem Turme versteckt, so könnte der
törichte Argwohn der großen Masse den Bürgermeister und den Senat
verdächtigen, sie wollten das Volk auf hinterlistige Weise betrügen, um
selber irgendwelchen Vorteil daraus zu ziehen. Wenn sie ferner Schalen
und andere derartige Schmiedearbeiten aus Gold und Silber herstellen
ließen, so könnte einmal der Fall eintreten, daß man sie wieder
einschmelzen und zur Soldzahlung an die Truppen verwenden müßte, und
natürlich würden dann die Besitzer der Gegenstände, das sehen sie ein,
sich nur ungern wieder entreißen lassen, woran sie allmählich Freude
gefunden haben. Um es zu alledem nicht kommen zu lassen, haben sich die
Utopier ein Mittel ausgedacht, das mit ihren übrigen Einrichtungen
ebenso übereinstimmt, wie es von den unsrigen stark abweicht, da ja bei
uns Gold so hoch geschätzt und so sorgfältig aufbewahrt wird, und das
deshalb nur denen, die es aus Erfahrung kennen, glaubhaft erscheint.
Während sie nämlich zum Essen und Trinken nur Gefäße aus Ton und Glas
benutzen, die zwar sehr hübsch aussehen, aber trotzdem billig sind,
fertigen sie aus Gold und Silber nicht bloß für die Gemeinschaftshallen,
sondern auch für die Privathäuser allenthalben Nachtgeschirre und
sonstige zu ganz gewöhnlichem Gebrauch bestimmte Gefäße an. Außerdem
stellen sie aus denselben Metallen Ketten und starke Fußfesseln zur
Bestrafung der Sklaven her, und schließlich hängen von den Ohren derer,
die durch irgendein Verbrechen ihre Ehre verloren haben, goldene Ringe
herab; man steckt ihnen goldene Ringe an die Finger, hängt ihnen eine
goldene Halskette um und legt einen goldenen Reif um ihren Kopf. So
sorgen die Utopier mit allen Mitteln dafür, daß Gold und Silber bei
ihnen in Verruf kommt, und so erklärt es sich auch, daß in Utopien bei
einer sich etwa nötig machenden Ablieferung alles Goldes und Silbers,
dessen gewaltsame Wegnahme den anderen Völkern fast ebensolche Schmerzen
bereitet, als wenn man ihnen die Eingeweide auseinanderrisse, niemand
glauben würde, auch nur einen Heller einzubüßen.

Außerdem sammeln die Utopier an den Küsten Perlen, in gewissen Felsen
sogar Diamanten und Karfunkel. Doch suchen sie nicht danach, sondern
nur, was sie zufällig finden, schleifen sie. Damit putzen sie ihre
kleinen Kinder. In ihren ersten Lebensjahren prahlen diese gern mit
solchem Schmuck und sind stolz darauf; sobald sie aber ein wenig älter
werden und merken, daß sich nur Kinder mit derartigem Tand abgeben,
legen sie diesen Schmuck ab, und zwar ohne besondere Ermahnung von
seiten ihrer Eltern, sondern einfach, weil sie sich seiner schämen,
genau so wie bei uns die Kinder, wenn sie erst größer werden, von ihren
Nüssen, Knöpfen und Puppen nichts mehr wissen wollen.

Wie stark aber diese Lebensgewohnheiten der Utopier, die von denen der
übrigen Völker so sehr abweichen, ihr ganzes Empfinden verändern, ist
mir niemals so klar zum Bewußtsein gekommen wie bei einer Gesandtschaft
der Anemolier. Diese kam nach Amaurotum, als ich gerade dort war, und da
wichtige Fragen zur Verhandlung standen, waren schon vor ihr jene früher
erwähnten drei Abgeordneten aus jeder Stadt eingetroffen. Nun waren
allen Gesandten der Nachbarvölker, die schon früher dorthin gekommen
waren, die Sitten der Utopier bekannt. Sie wußten, daß prunkvolle
Kleidung dort durchaus nicht angesehen war, daß man Seide geradezu
verachtete und daß Goldschmuck sogar in üblen Ruf brachte. Deshalb
hatten sie sich daran gewöhnt, in möglichst bescheidener Kleidung zu
erscheinen. Die Anemolier aber wohnten weiter entfernt von den Utopiern
und hatten deshalb weniger Verkehr mit ihnen unterhalten. Als sie nun
hörten, die Utopier trügen alle die gleiche grobe Tracht, waren sie
überzeugt, sie trieben deshalb keinen Aufwand, weil es ihnen an den
nötigen Mitteln dazu fehle, und beschlossen daher, mehr eitel als klug,
prächtig wie Götter herausgeputzt aufzutreten und die Augen der
armseligen Utopier durch den Glanz ihrer prunkvollen Kleidung zu
blenden. So zogen denn die drei Gesandten an der Spitze eines Gefolges
von dreihundert Mann in die Stadt ein, alle in bunter, die meisten in
seidener Kleidung, die Gesandten selbst -- sie gehörten nämlich daheim
zum Adel -- in golddurchwirkten Gewändern, mit großen Halsketten und
Ohrringen aus Gold, an den Fingern goldene Ringe, die Filzkappen mit
Bändern geschmückt, die von Perlen und Edelsteinen funkelten, kurz, mit
all den Dingen geputzt, die bei den Utopiern Strafen für Sklaven oder
Schandmale Ehrloser oder Spielzeug kleiner Kinder sind. Und so lohnte es
sich der Mühe zu sehen, wie den Anemoliern der Kamm schwoll, als sie
ihren Prunk mit der Kleidung der Utopier verglichen; die Bevölkerung war
nämlich in Menge auf die Straßen geströmt. Anderseits aber machte es
nicht weniger Spaß zu beobachten, wie gründlich sie sich in ihrer
Hoffnung und Erwartung getäuscht sahen und wie wenig sie den Eindruck
machten, mit dem sie gerechnet hatten. Denn in den Augen aller Utopier,
nur einige ganz wenige ausgenommen, die bei irgendeiner passenden
Gelegenheit ins Ausland gekommen waren, war jener ganze glänzende
Aufwand eine Schmach. Sie grüßten gerade die Niedrigsten an Stelle ihrer
Herren mit Ehrerbietung, die Gesandten selbst aber hielten sie wegen
ihrer goldenen Ketten für Sklaven und ließen sie vorübergehen, ohne
ihnen überhaupt eine Ehrenbezeigung zu erweisen. Ja, auch die Knaben
hättest du sehen sollen, die ihre Edelsteine und Perlen schon längst
weggeworfen hatten. Beim Anblick der Edelsteine an den Filzkappen der
Gesandten riefen und stießen sie ihre Mütter an und sagten: »Sieh doch,
Mutter, was für ein großer Schelm da noch die Perlen und Edelsteinchen
trägt, als wenn er ein kleines Kind wäre!« Und die Mutter erwiderte
gleichfalls ganz ernsthaft: »Sei still, mein Junge! Das wird einer von
den Narren der Gesandten sein.« Andere wieder bemängelten die goldenen
Ketten: sie seien zu nichts zu brauchen, weil sie so dünn seien, daß der
Sklave sie mit Leichtigkeit zerbrechen könne; anderseits wieder seien
sie so locker, daß er sie, wenn er Lust habe, abschütteln und
ungehindert und frei ausreißen könne, wohin er wolle.

Die Gesandten hatten sich erst ein paar Tage in Amaurotum aufgehalten
und schon eine Unmenge Gold in niedrigster Verwendung gesehen; auch
hatten sie gemerkt, daß das Gold hier ebenso gering wie bei ihnen daheim
hochgeschätzt wurde; außerdem sahen sie in den Ketten und Fußfesseln
eines einzigen Sklaven, der flüchtig geworden war, mehr Gold und Silber
zusammen verarbeitet, als die gesamte Ausstattung der drei Gesandten
wert war. Da ließen sie die Flügel hängen und legten beschämt jenen
ganzen Aufputz ab, mit dem sie sich in so anmaßender Weise gebrüstet
hatten, vor allem aber, nachdem sie durch vertrautere Unterhaltung mit
den Utopiern ihre Sitten und Anschauungen kennengelernt hatten. Sind
doch diese ganz verwundert darüber, wie einem Menschen das unsichere
Gefunkel eines dürftigen Juwels oder Edelsteinchens überhaupt Freude
machen kann, während er irgendeinen Stern und schließlich die Sonne
selbst anschauen darf, und wie jemand so albern sein kann, daß er sich
selber wegen eines Gewebes aus feinerer Wolle vornehmer dünkt, wenn
diese Wolle selbst, mag der Faden auch noch so fein sein, früher einmal
auf dem Rücken eines Schafes gesessen hat und inzwischen doch auch
nichts anderes als Wolle gewesen ist. Ebenso wundern sich die Utopier
darüber, daß das Gold, das seiner Natur nach so unnütz ist, jetzt
überall in der Welt so hoch geschätzt wird, daß der Mensch selbst, durch
den und vor allem zu dessen Nutzen es diesen Wert erlangt hat, viel
weniger gilt als das Gold selber, und zwar so viel weniger, daß
irgendein Dämlack, geistlos wie ein Holzklotz und ebenso schlecht wie
dumm, trotzdem eine Menge kluger und braver Diener hat, allein deshalb,
weil er zufällig einen großen Haufen Goldstücke sein eigen nennt. Wenn
nun irgendeine Fügung des Geschicks oder ein Trick der Gesetze, der,
ebenso wie das Schicksal, das Unterste zu oberst kehrt, dieses Gold dem
Herrn des Hauses nimmt und es dem allerschlimmsten Taugenichts seines
Gesindes zukommen läßt, so würde jener ohne Zweifel bald darauf wie ein
Anhängsel und eine Zugabe seiner Münzen unter die Dienerschaft seines
ehemaligen Dieners geraten. Und noch mehr ist man erstaunt, ja geradezu
empört über das unsinnige Gebaren der Leute, die jene Reichen, denen sie
nichts schuldig und denen sie nicht verpflichtet sind, aus keinem
anderen Grunde, als weil sie reich sind, wie Götter anbeten, und zwar
auch dann, wenn sie ihren schmutzigen Geiz zu genau kennen, um nicht mit
tödlicher Sicherheit zu wissen, daß sie bei deren Lebzeiten von dem
großen Geldhaufen auch nicht einen roten Heller bekommen.

Diese und andere derartige Ansichten der Utopier sind das Ergebnis teils
ihrer Erziehung in einem Staate, dessen Einrichtungen von den Torheiten
der geschilderten Art weit entfernt sind, teils ihrer Beschäftigung mit
Wissenschaft und Literatur. Allerdings sind in jeder Stadt nur wenige
von den anderen Arbeiten befreit, um sich ausschließlich der Ausbildung
ihres Geistes zu widmen, nämlich diejenigen, bei denen man von Kind auf
hervorragende Anlagen, ausgezeichnete Begabung und Neigung zu
wissenschaftlicher Beschäftigung beobachtet hat. Trotzdem aber genießen
alle Kinder Unterricht, und ein guter Teil des Volkes, Männer und
Frauen, beschäftigt sich das ganze Leben hindurch in den erwähnten
arbeitsfreien Stunden mit den Wissenschaften.

Der Unterricht wird in der Landessprache erteilt; sie verfügt nämlich
über einen reichen Wortschatz, zeichnet sich durch Wohllaut aus und ist
wie keine andere zur Wiedergabe von Gedanken geeignet. In annähernd
derselben Art, jedoch überall auf verschiedene Weise etwas zu ihrem
Nachteil verändert, ist sie über einen großen Strich jenes Erdteils
verbreitet.

Von allen unseren Philosophen, deren Namen in dieser uns bekannten Welt
berühmt sind, war den Utopiern vor unserer Ankunft auch nicht ein
einziger, nicht einmal gerüchtweise, bekannt geworden; und doch haben
sie in Musik, Dialektik, Arithmetik und Geometrie etwa dieselben
Entdeckungen gemacht wie unsere alten Meister. Wenn sie aber auch die
Alten beinahe in allem erreicht haben, so sind sie allerdings hinter den
Erfindungen der modernen Dialektiker weit zurückgeblieben; sie haben
nämlich auch nicht eine einzige der in der »Kleinen Logik« so
scharfsinnig ausgedachten Regeln über Restriktion, Amplifikation und
Supposition erfunden, die hierzulande allenthalben schon die Kinder
auswendig lernen. Wie sie ferner keineswegs den »zweiten Intentionen«
nachzuforschen vermochten, so war auch nicht einer von ihnen imstande,
den sogenannten »Menschen überhaupt« zu sehen, der doch, wie ihr wißt,
ein wahrer Koloß und größer als jeder Riese ist und auf den wir damals
auch noch mit den Fingern gezeigt haben.

Dagegen kennen sie ganz genau den Lauf der Gestirne und die Bewegung der
Himmelskreise. Ja, sie haben sich auch Instrumente von verschiedener
Gestalt mit Kunst und Geschick ausgedacht, mit deren Hilfe sie die
Bewegungen und Stellungen der Sonne, des Mondes und ebenso der übrigen
bei ihnen sichtbaren Gestirne aufs genaueste erfaßt haben. Aber von
Gunst und Mißgunst der Planeten und von jenem ganzen Schwindel der
Prophezeiung aus den Sternen lassen sie sich nicht einmal etwas träumen.
Regen, Wind und die übrigen Wetterveränderungen sagen sie aus gewissen
Anzeichen voraus, die sie aus langer Erfahrung kennen. Über die Ursachen
all dieser Erscheinungen aber, über Ebbe und Flut sowie über den
Salzgehalt des Meeres und schließlich über den Ursprung und die Natur
des Himmels und der Erde lehren sie zum Teil dasselbe wie unsere alten
Philosophen. Wie diese aber schon untereinander verschiedener Meinung
sind, so stimmen auch die Utopier mit ihren neuen Erklärungen für die
Naturerscheinungen mit ihnen allen zum Teil nicht überein, sind aber
auch untereinander nicht in jeder Beziehung derselben Ansicht.

In der Moralphilosophie behandeln die Utopier dieselben Fragen wie wir.
Sie stellen Erörterungen an über die Güter des Geistes und des Körpers
sowie über die äußeren Güter, ferner ob diese alle oder nur die Gaben
des Geistes als Güter bezeichnet werden dürfen; auch untersuchen sie das
Wesen der Tugend und der Lust. Aber die erste und wichtigste aller
Streitfragen ist die, worin wohl die Glückseligkeit des Menschen
besteht, ob in _einem_ Dinge oder in mehreren. In diesem Punkte aber
neigen sie, wie es scheint, mehr als billig zu der Ansicht derer, die
für das Vergnügen eintreten, worin sie entweder das menschliche Glück
überhaupt oder doch wenigstens seinen wesentlichsten Bestandteil
erblicken. Und worüber man sich noch mehr wundern muß, sie stützen ihre
so sinnenfreudige Ansicht auch mit Beweisgründen, die sie ihrer Religion
entnehmen, einer ernsten und strengen, ja fast düsteren und harten
Lehre. Wenn sie nämlich über die Glückseligkeit verhandeln, so verbinden
sie stets gewisse Grundsätze ihrer Religion mit der Philosophie, die mit
Vernunftgründen arbeitet; denn ohne diese Grundsätze ist die Vernunft
nach Ansicht der Utopier zu ungenügend und zu schwach, um für sich
allein die wahre Glückseligkeit zu erforschen.

Diese Grundsätze sind folgende: Die Seele ist unsterblich und durch die
Güte Gottes zur Glückseligkeit geschaffen; für unsere Tugenden und
guten Werke erwarten uns nach diesem Leben Belohnungen, für unsere
Missetaten aber Strafen. Diese Anschauungen sind zwar religiöser Natur,
aber nach Ansicht der Utopier führt schon die Vernunft dazu, an sie zu
glauben und sie zu billigen. Nach Beseitigung dieser Grundsätze, so
erklären sie ohne jedes Bedenken, wird niemand so töricht sein zu
meinen, er dürfe dem Vergnügen nicht auf jede Weise, auf rechte und
unrechte, nachjagen. Nur müsse man sich, so erklären sie weiter, davor
hüten, ein größeres Vergnügen durch ein kleineres beeinträchtigen zu
lassen oder einem Vergnügen mit schmerzhaften Rückwirkungen nachzugehen.
Denn den dornenvollen und beschwerlichen Pfad der Tugend zu wandeln und
dabei nicht bloß auf des Lebens Annehmlichkeiten zu verzichten, sondern
auch den Schmerz freiwillig zu ertragen, und zwar ohne Aussicht auf
irgendwelchen Gewinn -- was könnte nämlich wohl auch der Gewinn sein,
wenn man nach dem Tode nichts erreichen soll, nachdem man dieses ganze
Leben freudlos, also jämmerlich, zugebracht hat? -- das ist in den Augen
der Utopier das Sinnloseste, was es geben kann. Nun liegt aber nach
ihrer Meinung das Glück nicht in jeder Art von Vergnügen, sondern nur in
einem rechtschaffenen und ehrbaren; zu diesem nämlich, als zu dem
höchsten Gut, zieht, so sagen sie, die Tugend selbst unsere Natur hin,
während nach Ansicht der Gegenpartei einzig und allein die Tugend unser
Glück bedingt. Die Tugend besteht nämlich, wie die Utopier meinen, in
einem naturgemäßen Leben, sofern uns Gott dazu geschaffen hat;
naturgemäß aber lebt der, der in allem, was er begehrt und meidet, den
Geboten der Vernunft gehorcht. Die Vernunft entfacht ferner im Menschen
vor allem anderen die ehrfurchtsvolle Liebe zur göttlichen Majestät, und
dieser verdanken wir es ja, daß wir sind und an der Glückseligkeit
teilnehmen dürfen. Sodann mahnt uns die Tugend und regt uns dazu an, ein
möglichst sorgenfreies und frohes Leben zu führen und allen unseren
Mitmenschen, entsprechend unserer natürlichen Gemeinschaft mit ihnen,
zur Erreichung des gleichen Zieles zu verhelfen. Denn noch nie ist
jemand ein so finsterer und strenger Anhänger der Tugend und
entschiedener Feind des Vergnügens gewesen, daß er von dir
Anstrengungen, Nachtwachen und Kasteiungen verlangte, ohne nicht
gleichzeitig dir aufzugeben, die Not und das Ungemach anderer nach
Kräften zu lindern, und ohne es nicht im Namen der Menschlichkeit für
lobenswert zu halten, daß ein Mensch dem anderen Heil und Trost spendet.
Wenn nun die höchste Menschlichkeit darin besteht -- und keine Tugend
ist dem Menschen eigentümlicher --, den Kummer der Mitmenschen zu
lindern, ihre Traurigkeit zu beheben und in ihr Leben wieder die Freude,
das heißt das Vergnügen, zu bringen, wie sollte da nicht die Natur einen
jeden anspornen, die gleiche Wohltat auch sich selber zuteil werden zu
lassen? Denn entweder ist ein angenehmes, das heißt dem Vergnügen
gewidmetes Leben verwerflich, dann darfst du nicht bloß niemandem zu
einem Vergnügen verhelfen, sondern mußt es sogar von allen nach
Möglichkeit fernhalten, da es ihnen ja schädlich ist und den Tod bringt.
Oder aber, wenn du anderen ein Vergnügen als etwas Gutes nicht bloß
verschaffen darfst, sondern sogar verschaffen sollst, warum dann nicht
vor allem dir selbst, dem du doch nicht weniger als anderen gewogen sein
solltest? Denn wenn die Natur dich zur Güte gegen andere mahnt, verlangt
sie doch nicht gleichzeitig von dir schonungslose Strenge gegen dich
selbst.

Ein angenehmes Leben also, das heißt eben das Vergnügen, sagen die
Utopier, stellt uns die Natur selbst gleichsam als Ziel aller unserer
Handlungen hin, und ein Leben nach ihrer Vorschrift ist in ihren Augen
Tugend. Die Natur aber ruft auch die Menschen auf, sich gegenseitig zu
einem Leben in größter Fröhlichkeit zu verhelfen. Und das tut sie
sicherlich mit Fug und Recht; denn keiner ist so erhaben über das
allgemeine Menschenschicksal, daß die Natur für ihn allein sorgen müßte,
sie, die alle, die sie durch die Gleichheit der Gestalt zu einer
Gemeinschaft zusammenfaßt, in gleicher Weise hegt und pflegt. Und eben
darum heißt sie dich auch immer wieder darauf achten, auf deinen eigenen
Vorteil nicht so bedacht zu sein, daß du anderen dabei schadest.

Deshalb dürfen auch nach Ansicht der Utopier nicht bloß die Verträge
zwischen Privatpersonen nicht verletzt werden, sondern auch die
öffentlichen Bestimmungen über die Teilung der Lebensgüter, das heißt
der materiellen Grundlage des Vergnügens, Bestimmungen, die entweder ein
guter Fürst auf gesetzlichem Wege erlassen oder die ein Volk auf Grund
einer allgemeinen Übereinkunft getroffen hat, ohne durch Tyrannei in
seiner Willensäußerung beschränkt oder durch Betrug umgarnt zu sein.
Ohne Verletzung dieser Gesetze für dein persönliches Wohlergehen zu
sorgen, erfordert die Klugheit, außerdem das allgemeine Wohl im Auge zu
haben, das Pflichtgefühl; aber darauf auszugehen, einem anderen sein
Vergnügen zu rauben, wofern man nur sein eigenes erjagt, das ist in der
Tat Unrecht. Sich selber dagegen etwas zu nehmen, um es anderen zu dem,
was sie haben, noch dazuzugeben, das eben ist eine Pflicht der
Menschlichkeit und Güte und bringt einem stets mehr Glück wieder ein,
als es einem nimmt. Denn die Wohltaten anderer vergelten als
Gegenleistung das gute Werk, und das bloße Bewußtsein, etwas Gutes getan
zu haben, sowie die Erinnerung an die wohlwollende Liebe derer, denen
man Gutes getan hat, bereiten dem Herzen eine Freude, die größer ist,
als es jenes Vergnügen des Körpers gewesen wäre, auf das man verzichtet
hat. Und endlich vergilt Gott, wovon sich ein gläubiges Gemüt mit
Leichtigkeit aus der Religion überzeugt, ein kurzes und geringes
Vergnügen dereinst mit unermeßlicher und ewig währender Freude. So sind
denn die Utopier nach sorgfältiger Untersuchung und genauer Erwägung der
Sache zu der Ansicht gekommen, daß alle unsere Handlungen, und darunter
auch die tugendhaften selbst, letzten Endes auf das Vergnügen und damit
auf die Glückseligkeit abzielen.

Vergnügen nennen die Utopier jede Bewegung und jeden Zustand des Körpers
und des Geistes, worin wir unter Anleitung der Natur mit Behagen
verweilen. Nicht ohne Grund fügen sie hinzu, daß die Natur es so haben
will. Denn von Natur bereitet alles das Wohlbehagen, was man nicht auf
dem Wege des Unrechts begehrt oder wodurch nichts anderes Angenehmeres
verlorengeht oder was keine Mühe und Arbeit im Gefolge hat; und danach
verlangt nicht bloß das sinnliche Begehren, sondern auch die gesunde
Vernunft. Anderseits aber gibt es Dinge, die die Menschen gegen die
Ordnung der Natur fälschlich als angenehm bezeichnen, und zwar auf Grund
eines ganz törichten Sprachgebrauchs, gerade als ob wir es in der Hand
hätten, mit den Worten auch die Dinge zu ändern. Alle diese Dinge sind
nach Ansicht der Utopier wertlos für die Glückseligkeit, ja sogar ihr im
höchsten Grade hinderlich, und zwar deshalb, weil sie die ganze Seele
des Menschen, in der sie sich einmal festgesetzt haben, mit einer
verkehrten Meinung über das Vergnügen im voraus erfüllen, um für wahre
und reine Freuden nirgends Platz zu lassen. Es gibt nämlich sehr viele
Dinge, die zwar ihrer eigentlichen Natur nach durchaus nicht anziehend,
sondern im Gegenteil sogar meist recht unangenehm sind, die aber
trotzdem infolge der törichten Lockung ruchloser Begierden nicht bloß
für die höchsten Genüsse gehalten, sondern auch sogar zu den wichtigsten
Angelegenheiten des Lebens gerechnet werden.

Zu denen, die den falschen Vergnügen dieser Art nachgehen, zählen die
Utopier diejenigen, die sich selber, wie früher erwähnt, um so besser
dünken, je besser sie angezogen sind; dabei irren sie sich in diesem
einen Punkte zweifach. Denn sie sind nicht weniger im Irrtum, wenn sie
ihren Anzug, als wenn sie sich selbst für etwas Besseres halten. Warum
sollte nämlich im Hinblick auf die Brauchbarkeit der Kleidung ein Tuch
aus feinerem Gewebe besser sein als eins aus gröberem? Und doch ist
jenen Leuten der Kamm geschwollen, als ob sie von Natur und nicht durch
einen bloßen Irrtum etwas Besseres wären, und sie meinen, sie gewännen
auch dadurch etwas an Wert. Deshalb beanspruchen sie auch, gleich als
sei das ihr gutes Recht, für ihren eleganteren Anzug eine
Ehrenbezeigung, auf die sie in einfacherer Kleidung gar nicht wagen
würden zu hoffen, und sind unwillig, wenn sie beim Vorübergehen nicht
weiter beachtet werden. Aber ist nicht gerade auch dieses Verlangen nach
eitlen und nutzlosen Ehrenbezeigungen ebenso unvernünftig? Denn wie kann
wohl der entblößte Scheitel oder das gebeugte Knie eines anderen ein
natürliches und wahres Vergnügen bereiten? Wird das vielleicht einen
Schmerz in deinen eigenen Knien heilen? Oder wird es das hitzige Fieber
in deinem eigenen Kopfe lindern? In der Vorstellung eines solchen
Scheinvergnügens schmeicheln sie sich und klatschen sie sich Beifall,
weil sie zufällig von Vorfahren abstammen, von denen eine lange Reihe
für reich gegolten hat -- einen anderen Adel gibt es ja heutzutage
nicht --, für reich besonders an Landgütern, und sie dünken sich nicht
um ein Haar weniger vornehm, wenn ihnen auch ihre Vorfahren von ihrem
Reichtum nichts hinterlassen oder wenn sie ihr Erbe selber verpraßt
haben.

Zu den Leuten dieser Art rechnen die Utopier auch die schon erwähnten
Liebhaber von Gemmen und Edelsteinen, und sie kommen sich gewissermaßen
wie Götter vor, wenn sie einmal einen ausnehmend wertvollen Stein
erwerben, zumal wenn er von der zu ihrer Zeit und in ihrem Lande
besonders geschätzten Art ist; denn nicht überall und nicht zu jeder
Zeit behalten die gleichen Arten ihren Wert. Sie kaufen aber einen
Edelstein nur ohne Goldfassung und Umhüllung, und auch dann nur, wenn
der Verkäufer einen Eid und Bürgschaft dafür leistet, daß die Gemme und
der Juwel echt sind; solche Angst haben sie, daß der Augenschein sie
täuschen könnte. Warum aber sollte dir, der du den Edelstein nur
betrachten willst, ein künstlicher weniger Vergnügen machen, den dein
Auge von einem echten nicht zu unterscheiden vermag? Beide müßten
eigentlich den gleichen Wert haben, für dich, bei Gott, genau so wie für
einen Blinden.

Was soll man ferner von denen sagen, die überflüssige Schätze
aufbewahren, nicht um sich über die Verwendung des Haufens Geld, sondern
nur über seinen Anblick zu freuen? Genießen sie etwa eine echte Freude,
oder narrt sie nicht vielmehr nur ein Scheinvergnügen? Oder wie steht es
mit denen, die den entgegengesetzten Fehler begehen und das Gold, das
sie niemals verwenden, ja vielleicht auch niemals wieder zu Gesicht
bekommen werden, vergraben und aus Angst vor seinem Verlust es wirklich
verlieren? Denn verlierst du dein Gold nicht, wenn du es der Verwendung
durch dich selbst und vielleicht durch die Menschen überhaupt entziehst
und der Erde zurückgibst? Und doch bist du ausgelassen froh darüber, daß
du deinen Schatz versteckt hast, als brauchtest du nun keine Sorge mehr
zu haben. Sollte dir aber jemand den Schatz stehlen, ohne daß du etwas
von diesem Diebstahl merkst, und solltest du zehn Jahre danach sterben,
was macht es dir da in dem ganzen Zeitraum von zehn Jahren, um den du
den Verlust deines Geldes überlebt hast, aus, ob es gestohlen oder noch
vorhanden war? Sicherlich hast du in beiden Fällen den gleichen Nutzen
davon gehabt.

Zu diesen so unpassenden Freuden rechnen die Utopier auch die der
Glücksspieler, deren unsinniges Gebaren ihnen nur vom Hörensagen, nicht
aus Erfahrung bekannt ist, und außerdem die der Jäger und Vogelsteller.
Denn was ist das für ein Vergnügen, so sagen sie, die Würfel auf das
Spielbrett zu werfen? Und dabei tut man das so oft, daß schon aus der
häufigen Wiederholung ein Überdruß entstehen könnte, wenn wirklich ein
Vergnügen damit verbunden wäre. Oder wie könnte es angenehm sein und
nicht vielmehr Widerwillen erregen, das Gebell und Geheul der Hunde zu
hören? Oder inwiefern macht es mehr Vergnügen, wenn ein Hund einem Hasen
als wenn er einem anderen Hunde nachjagt? Denn in beiden Fällen handelt
es sich doch um den gleichen Vorgang: es wird gelaufen -- wenn dir das
Laufen Freude machen sollte. Wenn dich aber die Aussicht auf Mord
fesselt oder wenn du auf die Zerfleischung wartest, die sich vor deinen
Augen abspielen soll, so müßte es doch eher dein Mitleid erregen, wenn
du mit ansehen mußt, wie das arme Häslein von dem Hunde zerrissen wird,
der Schwache von dem Stärkeren, der Scheue und Furchtsame von dem
Wilden, der Harmlose schließlich von dem Grausamen. Die Utopier haben
deshalb dieses ganze Geschäft des Jagens als eine der Freien unwürdige
Beschäftigung den Metzgern zugewiesen, deren Handwerk sie, wie oben
erwähnt, von Sklaven ausüben lassen. Ihrer Anschauung nach ist nämlich
die Jagd die niedrigste Verrichtung dieses Handwerks, die übrigen sind
in ihren Augen nützlicher und ehrbarer, weil sie die Tiere weit mehr
schonen und nur aus Notwendigkeit töten, während der Jäger einzig und
allein im Morden und Zerfleischen des armen Tieres sein Vergnügen sucht.
Dieses Lustgefühl beim Anblick des Mordens hat nach Ansicht der Utopier
sogar beim Morden der Tiere seinen Ursprung in einer grausamen
Gemütsstimmung oder artet schließlich infolge ständiger Wiederholung des
so rohen Vergnügens in Grausamkeit aus. Diese und alle sonstigen Genüsse
derart -- es gibt nämlich deren unzählige -- hält zwar die große Masse
der Menschen für Vergnügen, die Utopier dagegen erklären rund heraus,
mit dem wahren Vergnügen habe das alles gar nichts zu tun, da ihm von
Natur alles Erfreuliche fehle. Denn wenn es auch für gewöhnlich den Sinn
mit Wohlbehagen erfüllt, was ja die Aufgabe des Vergnügens zu sein
scheint, so gehen die Utopier doch nicht von ihrer Meinung ab. Der Grund
dafür ist nämlich nicht die Natur der Sache selbst, sondern die üble
Gewohnheit der Menschen. Sie ist schuld daran, daß man Bitteres als süß
hinnimmt, genau so wie schwangere Frauen, deren Geschmack gestört ist,
Pech und Talg für süßer als Honig halten. Aber das Urteil eines
einzelnen, das durch Krankheit oder Gewöhnung getrübt ist, kann die
Natur nicht ändern, die des Vergnügens ebensowenig wie die anderer
Dinge.

Von den nach ihrer Ansicht echten Vergnügen unterscheiden die Utopier
verschiedene Arten, und zwar weisen sie die einen der Seele und die
anderen dem Leibe zu. Zu den Vergnügen der Seele zählen sie die geistige
Betätigung sowie das Wohlbehagen, das die Betrachtung der Wahrheit
hervorruft. Dazu kommt das angenehme Bewußtsein eines untadeligen
Lebenswandels und die sichere Hoffnung auf die Glückseligkeit nach dem
Tode. Die körperliche Lust zerfällt in zwei Arten. Die erste ist die,
die unsere Sinne mit einem deutlichen Wohlbehagen erfüllt. Das geschieht
zum Teil durch die Erneuerung derjenigen Bestandteile unseres Körpers,
die durch die Wärmeerzeugung in unserem Inneren verbraucht sind -- diese
führt uns nämlich Essen und Trinken wieder zu --, zum Teil auch durch
Ausscheidung der in unserem Körper überflüssigen Stoffe. Das wird
erreicht durch Reinigung der Eingeweide von den Exkrementen oder durch
Zeugung von Kindern oder wenn das Jucken eines Körperteils durch Reiben
oder Kratzen gelindert wird. Bisweilen aber entsteht auch ein Vergnügen,
das unserem Körper weder etwas zuführt, wonach die Organe verlangen,
noch diese von etwas Lästigem befreit. Es ist aber eine Lustempfindung,
die unsere Sinne trotzdem mit einer Art geheimer Gewalt, aber in einer
deutlich sichtbaren Erregung zu kitzeln, anzuregen und an sich zu ziehen
vermag; ein solches Vergnügen bereitet die Musik. Die zweite Art des
körperlichen Vergnügens erblicken die Utopier in einem ruhigen und
gleichmäßigen Zustand des Körpers, das heißt also in der durch keinerlei
Unbehagen gestörten Gesundheit des einzelnen. Diese ruft ja, falls kein
Schmerz sie beeinträchtigt, schon an und für sich Wohlbehagen hervor,
selbst wenn keine von außen kommende Lust auf den Körper einwirken
sollte. Zwar tritt sie weniger hervor und reizt die Sinne weniger als
jene ungestüme Lust an Essen und Trinken; nichtsdestoweniger jedoch
gilt sie vielen in Utopien als das größte, fast allen aber als ein
großes Vergnügen und gleichsam als die Grundlage und der Grundstein
aller Vergnügen. Denn sie allein macht unser Leben ruhig und lebenswert,
und ohne sie ist bei keinem und nirgends noch Raum für irgendein
Vergnügen. Denn auch wenn man gar keine Schmerzen hat, dabei aber nicht
gesund ist, so ist doch dieser Zustand in den Augen der Utopier kein
Vergnügen, sondern Stumpfheit. Schon längst gilt bei ihnen die Lehre der
Philosophen nicht mehr, die da meinten, man dürfe eine beständige und
ungestörte Gesundheit deshalb nicht für ein Vergnügen halten, weil das
Vorhandensein eines solchen nur infolge einer Erregung von außen her zu
merken sei; auch diese Frage ist nämlich eifrig bei den Utopiern
erörtert worden. Vielmehr sind sie jetzt im Gegenteil fast alle darin
einig, daß die Gesundheit sogar ganz besonders als ein Vergnügen
anzusehen ist. Da nämlich mit der Krankheit, so sagen sie, der Schmerz
verbunden ist, der der unversöhnliche Feind des Vergnügens ist, ebenso
wie die Krankheit der Feind der Gesundheit, warum sollte dann nicht
anderseits mit einer ungestörten Gesundheit das Vergnügen verbunden
sein? Dabei ist es nach ihrer Ansicht ohne Belang, ob man die Krankheit
selber als Schmerz oder den Schmerz nur als Begleiterscheinung der
Krankheit bezeichnet; die Wirkung sei ja in beiden Fällen gleich stark.
Mag nun die Gesundheit entweder ein Vergnügen an und für sich oder nur
seine notwendige Ursache sein, wie das Feuer die Ursache der Hitze ist,
ohne Zweifel ist die Wirkung in beiden Fällen die, daß ein Mensch, der
sich einer eisernen Gesundheit erfreut, ein Vergnügen empfinden muß.
Außerdem, so sagen sie, wenn wir essen, was geschieht da anderes, als
daß die Gesundheit, die allmählich erschüttert worden war, im Bunde mit
der Speise gegen den Hunger ankämpft? Während der betreffende Mensch
selbst dabei wieder erstarkt und seine gewohnte Kraft wiedererlangt,
bereitet ihm die Gesundheit jenes Vergnügen, das uns so erquickt. Wird
nun aber die Gesundheit, die sich schon während des Kampfes freut, nicht
erst recht froh sein, wenn sie den Sieg errungen hat? Ist sie endlich
wieder glücklich im Besitze ihrer alten Stärke, um die allein sie den
ganzen Kampf geführt hat, wird sie dann etwa gefühllos werden und ihr
Glück nicht erkennen und keinen großen Wert darauf legen? Daß man
nämlich sagt, man könne die Gesundheit nicht empfinden, ist nach Meinung
der Utopier ganz falsch. Wer empfindet denn nicht, so sagen sie, wenn er
nicht gerade schläft, daß er gesund ist, außer dem, der es eben nicht
ist? Wer liegt in so festen Banden des Stumpfsinns oder der Lethargie,
daß er nicht zugeben sollte, die Gesundheit bereite ihm Freude und
Genuß? Was ist aber Genuß anderes als eine andere Bezeichnung für
Vergnügen?

Nach alledem schätzen die Utopier besonders die geistigen Vergnügen; sie
halten sie nämlich für die ersten und wesentlichsten von allen, und in
der Hauptsache entstehen sie nach ihrer Meinung aus der Übung der Tugend
und dem Bewußtsein eines rechtschaffenen Lebenswandels. Unter den
körperlichen Vergnügen stellen sie die Gesundheit an erste Stelle; denn
die Annehmlichkeit des Essens und Trinkens und alle anderen
Ergötzlichkeiten der Art betrachten sie zwar als erstrebenswert, aber
nur um der Gesundheit willen. Solcherlei nämlich sei nicht an und für
sich erfreulich, sondern nur insofern, als es einer sich heimlich
einschleichenden Krankheit entgegenwirke. Wie deshalb der Verständige
eher Krankheiten vorbeugen als nach Arznei verlangen und lieber die
Schmerzen beseitigen als zu Trostmitteln greifen müsse, so sei es
besser, man habe diese Art Vergnügen gar nicht nötig, als daß man darin
ein Linderungsmittel erblicke. Sollte wirklich jemand in dieser Art
Vergnügen sein Glück sehen, so müsse er notwendig zugeben, er werde dann
erst am glücklichsten sein, wenn ihm ein Leben in beständigem Hunger,
Durst, Jucken, Essen, Trinken, Kratzen und Reiben beschieden sei. Daß
ein solches Leben aber nicht bloß häßlich, sondern auch jämmerlich wäre,
sieht jeder ein. Diese Genüsse sind in der Tat die niedrigsten, weil sie
keineswegs reiner Natur sind; denn immer sind sie von den
entgegengesetzten Schmerzen begleitet. So ist mit dem Genuß des Essens
der Hunger verbunden, und zwar in einem recht ungleichen Verhältnis.
Denn der Schmerz ist nicht nur heftiger, sondern hält auch länger an, da
er ja eher als das Vergnügen entsteht und erst zusammen mit ihm vergeht.

Vergnügen dieser Art also sind nach Ansicht der Utopier nicht zu
schätzen, soweit sie nicht zum Leben notwendig sind. Doch haben sie auch
an ihnen ihre Freude und erkennen dankbar die Liebe der Mutter Natur an,
die ihre Kinder mit den verlockendsten Lustgefühlen zu den für sie immer
wieder lebensnotwendigen Verrichtungen anspornt. Wie würde uns nämlich
unser Leben anekeln, wenn wir ebenso wie die übrigen Krankheiten, die
uns seltener befallen, auch diese täglichen Erkrankungen an Hunger und
Durst durch Gifte und bittere Arzneien bekämpfen müßten! Was dagegen
Schönheit, Stärke und Gewandtheit anlangt, so hegen und pflegen die
Utopier sie mit Vorliebe als eigentliche und willkommene Gaben der
Natur. Als eine Art angenehme Würze des Lebens schätzen sie auch
diejenigen Genüsse, die uns Auge, Ohr und Nase vermitteln und die die
Natur ausschließlich für den Menschen, und zwar in besonderer Weise,
geschaffen hat; denn keine andere Gattung von Lebewesen hat ein Auge für
die Schönheit des Weltgebäudes oder wird irgendwie von Wohlgerüchen
angenehm berührt, soweit sie nicht ihre Nahrung danach unterscheiden,
oder hat ein Gehör für die verschiedenen Abstände harmonischer und
dissonierender Töne. Bei allen diesen Genüssen aber sehen die Utopier
darauf, daß nicht ein kleinerer einem größeren im Wege ist und daß
niemals ein Vergnügen den Schmerz im Gefolge hat, was, wie sie meinen,
notwendig bei einem nicht ehrbaren Vergnügen der Fall ist. Den Reiz der
Schönheit dagegen zu verachten, die Kräfte zu schwächen, die
Beweglichkeit zu Trägheit werden zu lassen, seinen Körper durch Fasten
zu erschöpfen, seiner Gesundheit Gewalt anzutun und auch sonst von den
Lockungen der Natur nichts wissen zu wollen, es sei denn, daß man sein
Glück nur deshalb nicht wahrnimmt, um desto eifriger für das Wohl seiner
Mitmenschen oder für das des Staates besorgt zu sein -- eine Mühe, für
die man als Entschädigung eine größere Freude von Gott erwartet --,
aber sich zu kasteien, ohne jemandem zu nützen, sondern lediglich um
eines nichtigen Schattens von Tugend willen oder um Mißgeschick, das
einem aber vielleicht niemals widerfährt, leichter zu ertragen: das ist,
so meinen die Utopier, ganz widersinnig, eine Grausamkeit gegen sich
selbst und der bitterste Undank gegen die Natur; denn dadurch verzichtet
man auf alle ihre Wohltaten, gleich als ob man es verschmähte, ihr
irgendwie zu Dank verpflichtet zu sein.

Das ist die Ansicht der Utopier über die Tugend und das Vergnügen, und,
wie sie glauben, kann man keine finden, mit der menschliche Vernunft der
Wahrheit näher kommt, es müßte denn sein, daß eine vom Himmel gesandte
Religion einem Menschen noch frömmere Gedanken eingibt. Ob sie damit
recht oder unrecht haben, können wir aus Mangel an Zeit nicht genau
untersuchen, auch ist das gar nicht nötig; denn wir haben es ja nur
unternommen, von ihren Einrichtungen zu erzählen, nicht aber diese in
Schutz zu nehmen. Wie es sich aber auch mit den angeführten Grundsätzen
der Utopier verhalten mag, davon bin ich fest überzeugt: nirgends ist
das Volk tüchtiger, und nirgends ist der Staat glücklicher als in
Utopien.

Die Utopier sind körperlich gewandt und rüstig; auch besitzen sie mehr
Kräfte, als ihre Statur erwarten läßt; doch ist diese nicht
unansehnlich. Der Boden ist zwar nicht überall fruchtbar und das Klima
nicht besonders gesund, aber sie härten sich gegen die Witterung durch
eine mäßige Lebensweise so sehr ab und verbessern die Beschaffenheit des
zu bestellenden Landes mit solchem Eifer, daß nirgends in der Welt der
Ertrag an Feldfrucht und Vieh reicher ist und nirgends die Menschen
langlebiger und widerstandsfähiger gegen Krankheiten sind. Deshalb kann
man in Utopien die Landleute nicht nur die üblichen Arbeiten verrichten
sehen, wie sie die von Natur geringere Fruchtbarkeit des Bodens durch
Kunst und Fleiß steigern, sondern man kann auch beobachten, wie irgendwo
ein Wald vollständig ausgerodet und anderswo wieder angepflanzt wird.
Dabei gibt nicht die Rücksicht auf den Ertrag, sondern auf den Transport
den Ausschlag; das Holz soll sich nämlich in größerer Nähe des Meeres
oder der Flüsse oder der Städte selbst befinden, weil sein Transport von
weither auf dem Landwege beschwerlicher ist als der des Getreides. Die
Utopier sind ein gewandtes, witziges und kunstfertiges Volk. Es genießt
gern seine Muße, besitzt aber auch nötigenfalls genügend Ausdauer in
körperlicher Arbeit. Sonst ist es in der Tat keineswegs arbeitswütig,
doch kennt es keine Ermüdung, wenn es sich um geistige Interessen
handelt.

Als wir den Utopiern von der griechischen Literatur und Wissenschaft
erzählten -- über die Lateiner sprachen wir nicht, weil von ihnen, wie
wir meinten, höchstens die Historiker und Dichter ihren lebhaften
Beifall finden würden --, staunten wir, mit welchem Eifer sie darauf
bestanden, unter unserer Anleitung Griechisch gründlich lernen zu
dürfen. So begannen wir denn mit dem Unterricht, anfangs mehr deshalb,
um nicht den Anschein zu erwecken, als wollten wir uns nicht der Mühe
unterziehen, als weil wir mit irgendeinem Erfolg gerechnet hätten.
Sobald wir aber ein kleines Stück vorangekommen waren, ließ uns ihr
Fleiß erkennen, daß wir unseren Eifer nicht umsonst aufwenden würden;
denn die Utopier begannen, die Buchstaben so mühelos nachzuschreiben,
die Worte so geläufig auszusprechen, so schnell sich einzuprägen und so
getreu zu wiederholen, daß es uns wie ein Wunder vorkam. Allerdings
gehörten die Leute, die nicht bloß aus freien Stücken und aus
Begeisterung, sondern auch auf Grund einer Verfügung des Senats das
Studium des Griechischen begannen, zu den erlesensten Geistern der
Gebildeten und standen in reifem Alter. Und so hatten sie denn noch vor
Ablauf von drei Jahren in ihrer sprachlichen Ausbildung keine Lücken
mehr und konnten gute Schriftsteller, abgesehen von Schwierigkeiten
infolge einer fehlerhaften Textstelle, ohne Anstoß lesen und verstehen.
Wie ich wenigstens vermute, eigneten sie sich die Kenntnis der
griechischen Sprache auch wegen ihrer teilweisen Verwandtschaft mit der
Landessprache leichter an. Ich nehme nämlich an, die Utopier stammen von
den Griechen ab; denn in ihrer fast persisch klingenden Sprache haben
sich noch in den Orts- und Amtsnamen Spuren des Griechischen erhalten.

Im Begriff, meine vierte Seereise nach Utopien anzutreten, nahm ich an
Stelle von Waren einen ziemlich großen Packen Bücher mit an Bord, weil
ich fest entschlossen war, lieber gar nicht statt nach kurzer Zeit schon
heimzukehren. So besitzen denn die Utopier folgendes von mir: die
meisten Werke Platos, mehrere Schriften des Aristoteles, sodann
Theophrasts Buch über die Pflanzen, das aber leider an mehreren Stellen
lückenhaft ist. Während der Seefahrt hatte ich nämlich auf das Buch
weniger Obacht gegeben, und so hatte sich eine Meerkatze seiner
bemächtigt und, ausgelassen und spielig, hier und da ein paar Blätter
herausgerissen und zerfetzt. Von den Grammatikern haben sie nur den
Lascaris; den Theodorus habe ich nämlich gar nicht mitgenommen, ebenso
kein Wörterbuch, außer Hesych und Dioscorides. Plutarchs kleine
Schriften haben sie sehr gern, und auch Lucians Witz und Anmut fesseln
sie. Von den Dichtern besitzen sie Aristophanes, Homer und Euripides,
ferner Sophocles in den kleinen Typen des Aldus, von den Historikern
Thucydides, Herodot sowie Herodian. Sogar aus dem Gebiet der Medizin
hatte mein Reisegefährte Tricius Apinatus etwas mitgebracht, nämlich
einige kleine Schriften des Hippocrates und die Mikrotechne Galens.
Gerade auf diese beiden Bücher legen die Utopier großen Wert; denn wenn
sie die Heilkunde auch wohl weniger als alle anderen Völker brauchen, so
steht sie doch nirgends in größerer Achtung, und zwar schon deshalb,
weil man in Utopien ihre Kenntnis zu den schönsten und nützlichsten
Teilen der Philosophie rechnet. Mit ihrer Hilfe erforscht man nämlich
die Geheimnisse der Natur, und man glaubt, nicht bloß einen wunderbaren
Genuß davon zu haben, sondern auch die höchste Gunst des Schöpfers und
Werkmeisters der Natur zu gewinnen. Man ist ja der Meinung, er habe nach
Art der übrigen Künstler den sehenswerten Mechanismus dieser Welt für
den Menschen zur Betrachtung ausgestellt und ihn allein in seinem
Inneren für eine so gewaltige Schöpfung aufnahmefähig gemacht, und
deshalb sei ihm ein wißbegieriger und achtsamer Betrachter und
Bewunderer seines Werkes lieber als einer, der ein so erhabenes und
wundervolles Schauspiel stumpf und unerschüttert nicht beachtet.

So sind denn die Utopier infolge ihrer wissenschaftlichen Ausbildung
erstaunlich begabt für technische Erfindungen, die etwas dazu beitragen,
das Leben angenehm und bequem zu machen. Zwei Erfindungen jedoch
verdanken sie uns, die Buchdruckerkunst und die Herstellung des Papiers,
aber doch nicht uns allein, sondern zu einem guten Teile auch sich
selber. Als wir ihnen nämlich die Bücher zeigten, die Aldus auf Papier
gedruckt hatte, und ihnen von dem zur Papierfabrikation notwendigen
Material und von den Druckverfahren mehr bloß etwas erzählten, statt
ihnen die Sache zu erklären -- keiner von uns besaß nämlich in einer der
beiden Künste praktische Erfahrung --, errieten sie sogleich äußerst
scharfsinnig das Verfahren, und, während sie bis dahin nur auf Häuten,
Rinde und Papyrusbast schrieben, versuchten sie nunmehr sofort, Papier
herzustellen und zu drucken. Im Anfang wollte es ihnen nicht so recht
gelingen, aber durch häufigere Versuche kamen sie bald dahinter und
brachten es dann in beiden Künsten so weit, daß es keinen Mangel an
Exemplaren griechischer Autoren geben könnte, wenn anders Handschriften
vorhanden wären. Zur Zeit aber steht den Utopiern nichts weiter zur
Verfügung, als was ich erwähnt habe; das aber haben sie bereits in
vielen tausend Exemplaren durch den Druck vervielfältigt.

Wer aus Schaulust nach Utopien kommt, wird mit offenen Armen
aufgenommen, wenn er sich durch eine besondere Begabung oder durch
Kenntnis vieler Länder auszeichnet, die er sich auf langen Reisen im
Ausland erworben hat, und wenn sich seine Aufnahme dadurch empfiehlt.
Aus diesem Grunde war den Utopiern auch unsere Landung willkommen; denn
sie hören gern von dem Geschehen überall in der Welt. Zu Handelszwecken
dagegen kommen Fremde nicht gerade häufig hin. Was sollte man denn auch
dort einführen außer Eisen oder Gold und Silber, das aber jeder doch
lieber mit heimbringen möchte? Was sie aber aus ihrem eigenen Lande
auszuführen haben, das verschiffen sie auf Grund reiflicher Überlegung
lieber selber, als daß sie es von anderen holen lassen, einmal, um die
Völker des Auslands ringsum genauer kennenzulernen, und sodann, um nicht
ihrer nautischen Übung und Erfahrung verlustig zu gehen.


Die Sklaven

Als Sklaven verwenden die Utopier weder Kriegsgefangene, außer wenn sie
selber den Krieg geführt haben, noch Söhne von Sklaven noch schließlich
jemanden, den sie bei anderen Völkern als Sklaven kaufen können. Ihre
Sklaven sind vielmehr Mitbürger, die wegen eines Verbrechens zu Sklaven
gemacht, oder, was weit häufiger der Fall ist, Leute, die in Städten des
Auslands wegen irgendeiner Missetat zum Tode verurteilt wurden. Von
letzteren holen sich die Utopier einen großen Teil ins Land; bisweilen
zahlen sie für sie nur einen geringen Preis, noch öfter auch gar nichts.
Diese beiden Arten von Sklaven müssen nicht nur dauernd arbeiten,
sondern auch Fesseln tragen. Ihre eigenen Landsleute aber behandeln die
Utopier noch härter; denn sie sind in ihren Augen deshalb noch
verworfener und verdienen deshalb noch schwerere Strafen, weil sie sich
trotz der vortrefflichen Anleitung zur Tugend, die sie durch eine
ausgezeichnete Erziehung gehabt haben, dennoch nicht von einem
Verbrechen haben abhalten lassen.

Eine andere Klasse von Sklaven bilden diejenigen, die es als arbeitsame
und arme Tagelöhner eines fremden Volkes vorziehen, aus freien Stücken
bei den Utopiern Sklavendienste zu leisten. Diese behandeln sie
anständig und nicht viel weniger gut als ihre Mitbürger; nur haben sie
ein klein wenig mehr Arbeit zu leisten, da sie ja daran gewöhnt sind.
Will einer von ihnen wieder fort, was aber nur selten der Fall ist, so
hält man ihn weder wider seinen Willen zurück, noch läßt man ihn ohne
irgendein Geschenk ziehen.

Die Kranken pflegt man, wie erwähnt, mit großer Liebe, und man tut
unbedingt alles, um sie durch eine gewissenhafte Behandlung mit Arznei
oder Diät wieder gesund zu machen. Sogar die, die an unheilbaren
Krankheiten leiden, sucht man zu trösten, indem man sich zu ihnen setzt,
sich mit ihnen unterhält und ihnen schließlich alle möglichen
Erleichterungen schafft. Ist jedoch die Krankheit nicht bloß unheilbar,
sondern quält und martert sie den Patienten auch noch dauernd, dann
stellen ihm die Priester und obrigkeitlichen Personen vor, er sei allen
Ansprüchen, die das Leben an ihn stelle, nicht mehr gewachsen, falle
anderen nur zur Last und überlebe, sich selber zur Qual, bereits seinen
eigenen Tod. Er solle deshalb nicht darauf bestehen, seiner Krankheit
noch länger Gelegenheit zu geben, ihn zu verzehren; er möge vielmehr
ohne Zögern seinem Leben ein Ende machen, da es ja für ihn nur noch eine
Qual sei, und sich in Zuversicht und guten Mutes von diesem traurigen
Leben wie von einem Kerker oder einer quälenden Sorge entweder selbst
frei machen oder sich mit seinem Einverständnis von anderen seiner Pein
entreißen lassen. Das werde klug sein, da er durch seinen Tod nicht das
Glück, sondern nur die Qual seines Lebens vorzeitig beende; zugleich
aber werde er ein frommes und heiliges Werk vollbringen, da er ja in
diesem Falle nur den Rat der Priester, der Deuter des göttlichen
Willens, befolge. Wer sich nun dadurch überreden läßt, stirbt entweder
freiwillig den Hungertod oder läßt sich betäuben und wird so ohne eine
Todesempfindung erlöst. Gegen seinen Willen aber bringen die Utopier
niemanden ums Leben; auch lassen sie es keinem trotz seiner Weigerung,
freiwillig aus dem Leben zu scheiden, an irgendeinem Liebesdienst
fehlen. Sich überreden zu lassen und so zu sterben, gilt als ehrenvoll.
Wer sich aber das Leben nimmt aus einem Grunde, den Priester und Senat
nicht billigen, den hält man weder der Beerdigung noch der Verbrennung
für würdig; zu seiner Schande läßt man ihn unbestattet und wirft ihn in
irgendeinen Sumpf.

Das Weib heiratet nicht vor dem 18., der Mann aber erst nach erfülltem
22. Lebensjahre. Wenn ein Mann oder ein Weib vor der Ehe geheimen
Geschlechtsverkehrs überführt wird, so trifft ihn oder sie strenge
Strafe, und beide dürfen überhaupt nicht heiraten, es sei denn, daß der
Bürgermeister Gnade für Recht ergehen läßt. Aber auch der Hausvater und
die Hausmutter, in deren Hause die Schandtat begangen wurde, sind in
hohem Maße übler Nachrede ausgesetzt, da sie, wie man meint, ihre
Pflicht nicht gewissenhaft genug erfüllt haben. Die Utopier ahnden
dieses Vergehen deshalb so streng, weil sich, wie sie voraussehen, nur
selten zwei Leute zu ehelicher Gemeinschaft vereinigen würden, wenn man
den zügellosen Geschlechtsverkehr nicht energisch unterbände; denn in
der Ehe muß man sein ganzes Leben mit nur einer Person zusammen
verbringen und außerdem so mancherlei Beschwernis geduldig mit in Kauf
nehmen.

Ferner beobachten sie bei der Auswahl der Ehegatten mit Ernst und
Strenge einen Brauch, der uns jedoch höchst unschicklich und überaus
lächerlich vorkam. Eine gesetzte, ehrbare Matrone zeigt nämlich dem
Freier das Weib, sei es ein Mädchen oder eine Witwe, nackt; und ebenso
zeigt anderseits ein sittsamer Mann den Freier nackt dem Mädchen. Diese
Sitte fanden wir lächerlich, und wir tadelten sie als anstößig; die
Utopier dagegen konnten sich nicht genug über die auffallende Torheit
all der anderen Völker wundern. Wenn dort, so sagten sie, jemand ein
Füllen kauft, wobei es sich nur um einige wenige Geldstücke handelt, ist
er so vorsichtig, daß er sich trotz der fast völligen Nacktheit des
Tieres nicht eher zum Kaufe entschließt, als bis der Sattel und alle
Reitdecken abgenommen sind; denn unter diesen Hüllen könnte ja
irgendeine schadhafte Stelle verborgen sein. Gilt es aber, eine Ehefrau
auszuwählen, eine Angelegenheit, die Genuß oder Ekel fürs ganze Leben
zur Folge hat, so geht man mit solcher Nachlässigkeit zu Werke, daß man
das ganze Weib kaum nach einer Handbreit seines Körpers beurteilt. Man
sieht sich nichts weiter als das Gesicht an -- der übrige Körper ist ja
von der Kleidung verhüllt --, und so bindet man sich an die Frau und
setzt sich dabei der großen Gefahr aus, daß der Ehebund keinen rechten
Halt hat, wenn später etwas Anstoß erregen sollte. Denn einerseits sind
nicht alle Männer so klug, nur auf den Charakter zu sehen, anderseits
aber ist auch in den Ehen kluger Männer Schönheit des Körpers eine nicht
unwesentliche Zugabe zu den Vorzügen des Geistes. Auf jeden Fall aber
können jene Kleiderhüllen eine Häßlichkeit verbergen, die so abstoßend
wirkt, daß sie imstande ist, Herz und Sinn eines Mannes seiner Frau
völlig zu entfremden, da eine körperliche Trennung nicht mehr möglich
ist. Wenn nun solch ein häßliches Aussehen die Folge irgendeines
Unglücksfalles erst nach der Heirat ist, so muß sich jedes in sein
Schicksal fügen; dagegen ist durch gesetzliche Bestimmungen zu verhüten,
daß jemand vor der Eheschließung einer Täuschung zum Opfer fällt. Die
Utopier mußten das um so angelegentlicher ihre Sorge sein lassen, weil
sie allein von den Völkern jener Himmelstriche sich mit nur einer Gattin
begnügen und weil eine Ehe dort nur selten anders als durch den Tod
gelöst wird, wenn nicht gerade Ehebruch oder unerträglich schlechte
Aufführung die Scheidung veranlassen. Wird nämlich einer von beiden
Teilen auf diese Weise beleidigt, so erhält er vom Senat die Erlaubnis
zu einer neuen Ehe; der schuldige Teil dagegen lebt ehrlos bis an sein
Ende und darf keine neue Ehe eingehen. Daß aber jemand seine Frau, die
nichts verbrochen hat, wider ihren Willen nur deshalb verstößt, weil sie
einen körperlichen Unfall erlitten hat, duldet man allerdings auf keinen
Fall; denn man hält es für eine Grausamkeit, jemanden gerade dann im
Stiche zu lassen, wenn er des Trostes am meisten bedarf, und man ist der
Meinung, der alternde Gatte werde dann nicht mehr sicher und fest darauf
vertrauen können, daß ihm die eheliche Treue gehalten wird, da das Alter
Krankheiten mit sich bringt und schon an und für sich eine Krankheit
ist. Zuweilen jedoch kommt es vor, daß die Ehegatten charakterlich nicht
recht miteinander harmonieren. Wenn dann beide jemand anders finden, mit
dem sie glücklicher zu leben hoffen, so trennen sie sich in gütlicher
Vereinbarung und gehen eine neue Ehe ein, allerdings nicht ohne
Genehmigung des Senats, der Scheidungen erst nach sorgfältiger
Untersuchung der Sache durch seine Mitglieder und deren Ehefrauen
zuläßt. Aber auch dann machen die Senatoren die Scheidung nicht leicht,
weil sie wissen, daß die Aussicht, ohne Schwierigkeit eine neue Ehe
eingehen zu können, keineswegs dazu dient, die Liebe der Ehegatten zu
festigen.

Ehebrecher bestraft man mit äußerst harter Sklaverei. Waren beide Teile
verheiratet, so können die Gatten, denen das Unrecht widerfährt, ihre
schuldigen Ehepartner verstoßen und, wenn sie Lust haben, sich
gegenseitig oder, wen sie sonst wollen, heiraten. Wenn dagegen der eine
beleidigte Teil den anderen noch weiter liebt, obgleich er es so wenig
verdient, so kann die Ehe gesetzlich fortbestehen, falls der beleidigte
Teil gewillt ist, dem zur Zwangsarbeit verurteilten in die Sklaverei zu
folgen. Bisweilen erregen auch die Reue des einen und die pflichteifrige
Zuneigung des anderen Teiles das Mitleid des Bürgermeisters, so daß er
dem schuldigen Gatten wieder die Freiheit erwirkt. Wer aber dann
rückfällig wird, muß mit dem Leben büßen.

Für die übrigen Verbrechen sieht das Gesetz keine bestimmten Strafen
vor, sondern der Senat setzt in jedem Falle, je nachdem ihm das Vergehen
schwer erscheint oder nicht, die Strafe fest. Die Männer züchtigen ihre
Frauen und die Eltern ihre Kinder, wenn die Missetat nicht so schlimm
ist, daß das Interesse der Moral eine öffentliche Bestrafung verlangt.
In der Regel ahndet man die schwersten Verbrechen mit Zwangsarbeit; denn
man ist der Meinung, das sei für die Verbrecher nicht weniger hart und
zugleich für den Staat nicht weniger vorteilhaft, als wenn man die
Schuldigen schleunigst abschlachte und stracks aus dem Wege schaffe.
Einmal nämlich bringt ihre Arbeit mehr Nutzen als ihre Hinrichtung, und
sodann schrecken sie durch ihr warnendes Beispiel für längere Zeit
andere von ähnlicher Untat ab. Sollten sie sich aber in solcher Lage
widersetzlich und aufsässig benehmen, so schlägt man sie schließlich tot
wie wilde Tiere, die weder Kerker noch Ketten bändigen können. Denen
aber, die sich geduldig fügen, nimmt man nicht gänzlich jede Hoffnung.
Wenn nämlich eine lange Leidenszeit ihren Widerstand gebrochen hat und
wenn sie eine Reue zur Schau tragen, die bekundet, daß sie ihre Schuld
mehr drückt als ihre Strafe, so wird ihre Zwangsarbeit bisweilen durch
ein Wort des Bürgermeisters, bisweilen aber auch durch Volksbeschluß
entweder erleichtert oder erlassen.

Wer zur Unzucht verleitet, setzt sich ebenso großer Gefahr aus wie der,
der sie begeht. Bei jeder Schandtat kommt nämlich in den Augen der
Utopier der bestimmte und wohlüberlegte Versuch der Tat selbst gleich;
denn, so meinen sie, was den Versuch nicht zur Tat werden ließ, darf dem
nicht zum Vorteil gereichen, an dem es gar nicht gelegen hat, daß der
Versuch nicht zur Tat wurde. -- Possenreißer machen den Utopiern viel
Spaß. Sie zu beleidigen ist in ihren Augen eine große Ungehörigkeit.
Doch finden sie nichts dabei, wenn man sich mit ihrer Torheit einen Spaß
macht; denn das ist nach ihrer Meinung für die Possenreißer selber von
größtem Vorteil. Ist aber jemand so ernst und finster, daß er über
nichts, was ein Narr tut oder spricht, lacht, so darf man ihrer Ansicht
nach einen Narren seiner Obhut nicht anvertrauen; sie fürchten nämlich,
er werde ihn nicht nachsichtig genug behandeln, weil er von ihm nicht
nur keinen Nutzen, sondern nicht einmal Erheiterung haben werde, und
diese Begabung ist ja seine einzige Stärke.

Einen Mißgestalteten und Krüppel zu verlachen, ist nach Meinung der
Utopier schimpflich und häßlich, und zwar nicht für den, der verspottet
wird, sondern für den Spötter; denn dieser ist so töricht, jemandem
etwas als Fehler zum Vorwurf zu machen, was zu vermeiden gar nicht in
seiner Macht lag. Wie es nämlich in den Augen der Utopier einerseits
eine Nachlässigkeit und Trägheit ist, sich seine körperliche Schönheit
nicht zu erhalten, so ist es anderseits eine Schande und
Unverschämtheit, die Schminke zu Hilfe zu nehmen. Wissen sie doch aus
persönlicher Erfahrung, daß eine Frau die Achtung und Liebe ihres Mannes
durch keinerlei Aufputz des Äußeren in gleicher Weise wie durch
Sittsamkeit und Ehrerbietung gewinnt. Wenn sich nämlich auch manche
Männer durch bloße Schönheit fangen lassen, so ist doch keiner ohne
Tugend und Gehorsam auf die Dauer festzuhalten.

Die Utopier schrecken nicht bloß durch Strafen von Schandtaten ab,
sondern geben auch durch die Aussicht auf Ehrungen einen Anreiz zur
Tugendhaftigkeit. Zu diesem Zweck errichten sie berühmten und um den
Staat besonders verdienten Männern auf dem Markte Standbilder zur
Erinnerung an ihre Taten; zugleich aber soll der Ruhm der Vorfahren ihre
Nachkommen mit Nachdruck zur Tugend anspornen.

Wer sich ein Amt zu erschleichen sucht, geht der Aussicht verlustig,
überhaupt ein Amt zu erlangen.

Die Utopier verkehren in liebevoller Weise miteinander, und auch die
obrigkeitlichen Personen sind weder anmaßend noch schroff. Sie heißen
Väter, und als solche zeigen sie sich auch. Aus freien Stücken erweist
man ihnen die gebührende Ehre, und man läßt sich nicht dazu zwingen.
Nicht einmal den Bürgermeister macht eine besondere Tracht oder ein
Diadem kenntlich, sondern nur ein Büschel Ähren, das er trägt, wie das
Kennzeichen des Oberpriesters eine Wachskerze ist, die ihm vorangetragen
wird.

Gesetze haben die Utopier in ganz geringer Zahl; für Leute von solcher
Disziplin genügen ja auch überaus wenige. Ja, das mißbilligen sie vor
allem anderen bei fremden Völkern, daß dort nicht einmal eine Flut von
Gesetzbüchern und Kommentaren ausreicht. Ihnen selbst aber kommt es
höchst unbillig vor, wenn sich jemand durch Gesetze verpflichten soll,
die entweder zu zahlreich sind, als daß er sie durchlesen könnte, oder
zu dunkel, als daß sie jedermann verständlich wären. Ferner wollen sie
von Advokaten überhaupt nichts wissen, weil diese die Prozesse so
gerissen führen und über die Gesetze so spitzfindig disputieren. Nach
Ansicht der Utopier ist es nämlich von Vorteil, wenn jeder seine Sache
selber vertritt und das, was er seinem Anwalt erzählen würde, dem
Richter mitteilt; auf diese Weise werde es, so sagen sie, weniger
Winkelzüge geben und die Wahrheit komme eher ans Licht. Wenn nämlich
jemand spricht, den kein Anwalt Falschheit gelehrt hat, so wägt der
Richter das einzelne, was er vorbringt, geschickt und klug ab und steht
Leuten von harmloserem Charakter gegen die Verleumdungen verschlagener
Gegner bei. Das läßt sich bei anderen Völkern wegen der Riesenmenge
höchst verwickelter Gesetze nur schwer durchführen, bei den Utopiern
dagegen ist jeder einzelne gesetzeskundig. Einmal nämlich ist die Zahl
ihrer Gesetze, wie gesagt, sehr gering, und sodann halten sie die am
wenigsten gekünstelte Auslegung für die gegebenste. Denn wenn alle
Gesetze, so sagen sie, nur dazu erlassen werden, jedermann an seine
Pflicht zu erinnern, so wird dieser Zweck durch eine feinere Auslegung,
die nur wenige verstehen, auch nur bei sehr wenigen erreicht; dagegen
ist eine einfachere und näherliegende Erklärung der Gesetze einem jeden
verständlich. Was aber nun die große Masse anlangt, die an Zahl stärkste
Klasse, die der Ermahnung am meisten bedarf, was macht es der aus, ob
man überhaupt kein Gesetz gibt oder ob man ein schon bestehendes Gesetz
in einem Sinne auslegt, den jemand nur mit viel Geist und in langer
Erörterung herausfinden kann? Damit kann sich weder der hausbackene
Verstand des gemeinen Mannes befassen, noch läßt ihm sein Leben, das von
der Beschaffung des Unterhaltes ausgefüllt ist, die Zeit dazu.

Diese Vorzüge der Utopier veranlassen ihre Nachbarn, obwohl sie frei und
selbständig sind -- viele von ihnen sind durch die Utopier schon vor
alters von der Tyrannei befreit worden --, sich von ihnen ihre
obrigkeitlichen Personen, teils auf je ein Jahr, teils auf fünf Jahre,
zu erbitten. Nach Ablauf ihrer Amtszeit geleiten die Fremden sie mit
Ehre und Lob nach Utopien zurück und nehmen wieder neue Leute in die
Heimat mit. Und diese Völker sorgen in der Tat aufs beste für das
Wohlergehen ihres Staates. Da nämlich dessen Heil und Verderben von der
Führung der Beamten abhängt, hätten sie keine klügere Wahl treffen
können. Denn einerseits sind diese Fremden durch keinerlei Bestechung
vom Wege der Tugend abzubringen, da sie ja bei ihrer bald wieder
erfolgenden Heimkehr nicht lange Nutzen von dem Gelde haben würden;
anderseits sind ihnen die fremden Bürger unbekannt, und so lassen sie
sich nicht von unangebrachter Zuneigung oder Abneigung gegen irgend
jemand leiten. Wo aber diese beiden Übel, Parteilichkeit und Geldgier,
die Urteile beeinflussen, da ertöten sie sogleich alle Gerechtigkeit,
den Lebensnerv des staatlichen Lebens. Diese Völker, die sich von den
Utopiern ihre Obrigkeiten erbitten, werden von ihnen Genossen genannt,
die übrigen aber, denen sie Wohltaten erwiesen haben, Freunde.

Bündnisse, wie sie die übrigen Völker so oft untereinander abschließen,
brechen und wieder erneuern, gehen die Utopier mit keinem Volke ein.
Wozu denn ein Bündnis? sagen sie. Genügen nicht die natürlichen Bande
der Menschen untereinander? Wer diese nicht achtet, sollte der sich etwa
durch Worte gebunden fühlen? Zu dieser Ansicht kommen die Utopier wohl
besonders dadurch, daß in jenen Ländern Bündnisse und Verträge der
Fürsten in der Regel zu wenig gewissenhaft gehalten werden. Und in der
Tat ist in Europa, und zwar vor allem in den Teilen, wo christlicher
Glaube und christliche Religion herrschen, die Majestät der Verträge
überall heilig und unverletzlich, teils infolge der Gerechtigkeit und
Redlichkeit der Fürsten selbst, teils infolge der Ehrerbietung und Scheu
der Geistlichkeit gegenüber, die selber keine Verpflichtung auf sich
nimmt, ohne sie aufs gewissenhafteste einzuhalten, die aber auch
sämtlichen übrigen Fürsten befiehlt, ihre Versprechen auf alle Weise zu
erfüllen, dagegen diejenigen, die sich weigern, mit strenger
Kirchenstrafe dazu zwingt. Mit Recht fürwahr meinen sie, es müßte höchst
schimpflich erscheinen, wenn die Bündnisse jener Männer Treu und Glauben
vermissen ließen, die in besonderem Sinne »Gläubige« heißen. In jener
neuen Welt dagegen, die von der unsrigen fast weniger noch durch den
Äquator als durch Lebensweise und Sitten geschieden ist, kann man sich
auf Verträge überhaupt nicht verlassen. Je zahlreicher und feierlicher
die Formalitäten sind, mit denen ein Vertrag gleichsam verknotet ist, um
so schneller wird er gebrochen, weil es keine Mühe macht, seinen
Wortlaut zu verdrehen. Die Leute dort setzen nämlich einen Vertrag
bisweilen ganz verzwickt auf. Infolgedessen sind sie auch niemals auf
Grund so fester Bindungen zu fassen, daß sie nicht durch irgendeine
Masche entschlüpfen und in gleicher Weise mit der Vertragstreue Spott
und Hohn treiben könnten. Wenn sie solch eine hinterlistige Gesinnung,
ja solch einen Lug und Trug in einem Vertrag von Privatleuten fänden, so
würden sie unter starkem Stirnrunzeln laut schreien, das sei ein
Verbrechen, das den Galgen verdiene, und natürlich gerade die Leute, die
sich rühmen, ihren Fürsten selber dazu geraten zu haben. Die Folge davon
ist, daß entweder die gesamte Gerechtigkeit nur als eine niedrige Tugend
des gemeinen Mannes erscheint, die sich tief unter den Thron des Königs
duckt, oder daß es zum mindesten zwei Arten von Gerechtigkeit gibt. Die
eine kommt dem gemeinen Manne zu, geht zu Fuß, kriecht am Boden und ist
ringsum von zahlreichen Fesseln gehemmt, um nirgends eine Umzäunung
überspringen zu können. Die andere ist die Tugend der Fürsten, erhabener
als die des Volkes, aber in ebenso weitem Abstand auch freier, die sich
alles erlauben darf, was ihr gefällt.

Diese Treulosigkeit der Fürsten in jenen Ländern, die ihre Verträge so
schlecht halten, ist meiner Meinung nach auch der Grund, daß die Utopier
grundsätzlich keine abschließen; möglicherweise aber würden sie ihre
Ansicht ändern, wenn sie hier lebten. Freilich erscheint es ihnen
überhaupt als ein unheilvoller Brauch, ein Bündnis einzugehen, mag es
auch noch so gewissenhaft gehalten werden. Denn es veranlaßt die Völker
zu der Annahme, daß sie zu gegenseitiger Feindschaft im öffentlichen wie
im privaten Leben geschaffen seien und daß sie mit Fug und Recht
gegeneinander wüten, falls nicht Bündnisse dem im Wege stehen, gerade
als ob keinerlei natürliche Gemeinschaft zwei Völker miteinander
verbände, die nur ein winziger Zwischenraum, sei es ein Hügel oder ein
Bach, trennt. Ja, selbst wenn Verträge abgeschlossen sind, so erwächst
daraus nach ihrer Ansicht noch keine Freundschaft; es bleibt vielmehr
immer noch die Möglichkeit, den anderen zu übervorteilen, soweit man es
aus Unbedachtsamkeit bei der Festsetzung des Wortlauts unterlassen hat,
mit genügender Vorsicht eine Bestimmung mit aufzunehmen, die jene
Möglichkeit ausschließt. Die Utopier aber sind im Gegenteil der Meinung,
man dürfe niemanden als Feind betrachten, der einem kein Unrecht getan
hat. In ihren Augen ist die Gemeinschaft der Natur so gut wie ein
Bündnis und bindet die Menschen durch gegenseitiges Wohlwollen stärker
und fester aneinander als durch Verträge, durch die Gesinnung stärker
und fester als durch Worte.


Das Kriegswesen

Den Krieg verabscheuen die Utopier als etwas ganz Bestialisches mehr als
alles andere, und doch gibt sich mit ihm keine Art von Bestien so
dauernd ab wie der Mensch. Der Anschauung fast aller Völker zuwider
halten die Utopier nichts für so unrühmlich wie den Ruhm, den man im
Kriege gewinnt. Mögen sie sich nun auch beständig an dafür festgesetzten
Tagen in der Kriegskunst üben, und zwar nicht bloß die Männer, sondern
auch die Frauen, um im Bedarfsfalle kriegstüchtig zu sein, so beginnen
sie einen Krieg doch nicht ohne weiteres, sondern nur zum Schutze ihrer
eigenen Grenzen oder zur Vertreibung der ins Land ihrer Freunde
eingedrungenen Feinde oder aus Mitleid mit irgendeinem Volk, das unter
dem Drucke der Tyrannei leidet, um es mit ihrer eigenen Macht vom
Sklavenjoch des Tyrannen zu befreien, und das tun sie lediglich aus
Menschenliebe. Ihren Freunden indessen leisten sie ihre Hilfe nicht
immer nur zur Verteidigung, sondern bisweilen auch, damit diese ein
Unrecht, das man ihnen zugefügt hat, vergelten und rächen können. Jedoch
greifen die Utopier erst dann ein, wenn man sie noch vor Beginn der
Feindseligkeiten um Rat fragt, wenn sie den Kriegsgrund billigen, wenn
das, worum der Streit geht, zwar zurückgefordert, aber noch nicht
zurückgegeben ist, und wenn auf ihre Veranlassung hin der Krieg begonnen
wird. Dazu entschließen sie sich nicht nur dann, wenn ihren Freunden bei
einem feindlichen Einfall Beute geraubt wird, sondern auch dann, und
zwar mit noch weit größerer Erbitterung, wenn sich deren Kaufleute
irgendwo in der Welt unter dem Scheine des Rechts eine Rechtsverdrehung
gefallen lassen müssen indem man entweder unbillige Gesetze zum Vorwand
nimmt oder gute verkehrt auslegt. Und so kam es auch zu dem Kriege, den
die Utopier kurz vor unserer Zeit für die Nephelogeten gegen die
Alaopoliten führten, aus keinem anderen Grunde, als weil den Kaufleuten
der Nephelogeten im Lande der Alaopoliten unter dem Scheine des Rechts
Unrecht getan worden war, wenigstens wie es den Utopiern schien. Mochte
es sich nun in diesem Falle um Recht oder Unrecht handeln, jedenfalls
kam es zu einem Rachekrieg, in dem sich zu den Streitkräften und dem Haß
beider Parteien auch noch die Leidenschaften und Hilfsmittel der
Nachbarvölker gesellten und der dadurch so blutig wurde, daß die
blühendsten Völker zum Teil stark erschüttert, zum Teil schwer
heimgesucht wurden und immer ein Übel aus dem anderen entstand. Das
Unglück endete schließlich mit der Versklavung und Unterwerfung der
Alaopoliten, die so unter die Herrschaft der Nephelogeten kamen -- die
Utopier kämpften nämlich nicht für ihre eigenen Interessen --, die
Nephelogeten aber waren in der Blütezeit der Alaopoliten keineswegs mit
diesen zu vergleichen gewesen.

Mit solchem Nachdruck rächen die Utopier ein ihren Freunden zugefügtes
Unrecht, auch wenn es sich dabei nur um Geld handelt; in ihren eigenen
Angelegenheiten dagegen zeigen sie nicht den gleichen Eifer. Wenn sie
nämlich einmal irgendwo betrogen werden und eine Einbuße an Geld und Gut
dabei erleiden, so gehen sie in ihrem Zorn, vorausgesetzt, daß mit dem
Verlust kein Schaden an Leib und Seele verbunden ist, nur so weit, daß
sie bis zur Leistung von Genugtuung mit dem betreffenden Volke keinen
Handel mehr treiben. Dabei liegen ihnen die Interessen ihrer Mitbürger
nicht etwa weniger am Herzen als die ihrer Genossen; über deren
Geldverlust aber sind sie trotzdem deshalb aufgebrachter, weil die
Kaufleute ihrer Freunde unter der Einbuße schwer zu leiden haben, da
diese etwas von ihrem Privatbesitz verlieren, ihren Mitbürgern dagegen
nur etwas auf Rechnung des Staates verlorengeht, überdies nur von daheim
reichlich vorhandenem und in gewissem Sinne überflüssigem Gut -- sonst
könnte man es ja nicht ins Ausland ausführen --, so daß der einzelne den
Verlust gar nicht so empfindet. Deshalb ist es in den Augen der Utopier
auch eine zu große Grausamkeit, durch den Tod vieler einen Schaden zu
rächen, dessen nachteilige Folgen keiner von ihnen weder am Leben noch
am Lebensbedarf deutlich zu spüren bekommt. Wird jedoch einer ihrer
Landsleute irgendwo auf ungerechte Weise mißhandelt oder gar getötet, so
lassen die Utopier den Tatbestand durch ihre Gesandten ermitteln, ganz
gleich, ob der Anschlag vom Staat oder von einer Privatperson
ausgegangen ist, und sind nur durch Auslieferung der Schuldigen von
einer sofortigen Kriegserklärung abzuhalten. Die Ausgelieferten
bestrafen sie für ihr Vergehen entweder mit dem Tode oder mit
Sklavenarbeit.

Ein blutiger Sieg bereitet den Utopiern nicht nur Verdruß, sondern sie
schämen sich sogar seiner, weil sie sich sagen, es sei eine Torheit,
auch noch so kostbare Waren zu teuer zu kaufen. Haben sie aber durch
Geschick und List den Sieg errungen und den Feind bezwungen, so prahlen
sie laut damit, feiern aus diesem Anlaß von Staats wegen einen Triumph
und errichten ein Siegesdenkmal, als hätten sie eine Heldentat
vollbracht. Ihrer Mannhaftigkeit und Tapferkeit rühmen sie sich nämlich
immer erst dann, wenn sie so gesiegt haben, wie es kein Lebewesen außer
dem Menschen vermocht hätte, das heißt mit den Kräften des Geistes. Denn
mit den Kräften des Körpers, so sagen sie, führen Bären, Löwen, Eber,
Wölfe, Hunde und die übrigen wilden Tiere den Kampf; die meisten von
ihnen sind uns zwar an Kraft und Wildheit überlegen, aber alle zusammen
übertreffen wir an Geist und Vernunft.

Nur das eine haben die Utopier bei einem Kriege im Auge: das zu
erreichen, was sie schon früher hätten erreichen müssen, um sich den
Krieg zu ersparen; oder wenn das sachlich unmöglich ist, so nehmen sie
an denen, die sie für schuldig halten, eine so grimmige Rache, daß der
Schrecken Leute, die dasselbe wagen wollten, in Zukunft davon abhält.
Das sind die Ziele, die sie sich für ihr Vorhaben stecken und die sie
rasch zu erreichen suchen, aber so, daß sie mehr darauf bedacht sind,
die Gefahr zu vermeiden, als Lob und Ruhm zu ernten. Deshalb lassen sie
sogleich nach der Kriegserklärung heimlich und zu gleicher Zeit an den
Punkten des feindlichen Landes, die am besten zu sehen sind,
Proklamationen, die das Siegel ihres Staates tragen, in großer Zahl
anschlagen. In ihnen versprechen sie dem, der den gegnerischen Fürsten
umbringt, riesige Belohnungen; sodann setzen sie geringere, aber
gleichwohl noch recht ansehnliche Preise auf die Köpfe einzelner
Personen, die sie in denselben Anschlägen namentlich anführen. Das sind
die Männer, die sie nächst dem Fürsten selber für die Urheber des Planes
halten, den man gegen sie geschmiedet hat. Welchen Betrag sie aber auch
für den Mörder aussetzen, sie zahlen ihn in doppelter Höhe dem, der
ihnen einen von den Geächteten lebend bringt, und ebenso suchen sie die
Geächteten selbst durch die gleichen Belohnungen und außerdem durch die
Zusicherung von Straflosigkeiten gegen ihre Genossen aufzuhetzen. So
kommt es schnell dahin, daß jene auch die anderen Menschen mit Argwohn
betrachten, sich einander selbst kein rechtes Vertrauen mehr schenken
und auch keine rechte Treue mehr halten und daher in größter Furcht und
nicht geringerer Gefahr leben. Denn, wie bekannt, ist es schon mehr als
einmal vorgekommen, daß die Geächteten zu einem großen Teil und vor
allem der Fürst selber von denen verraten wurden, auf die sie die größte
Hoffnung setzten. So leicht verleiten Belohnungen zu jedem beliebigen
Verbrechen. Für diese Prämien setzen die Utopier auch keine bestimmte
Höhe fest. Indem sie vielmehr die Größe der Gefahr bedenken, zu der sie
verleiten, bemühen sie sich, sie durch die Höhe der Belohnungen
aufzuwiegen, und aus diesem Grunde stellen sie nicht nur eine
unermeßliche Menge Gold in Aussicht, sondern auch recht ertragreiche
Landgüter an ganz sicheren Orten in den Ländern ihrer Freunde, und zwar
als dauernden Besitz, und halten ihr Versprechen mit gewissenhafter
Treue. Dieser Brauch, den Feind gegen Gebot zu kaufen, den andere Völker
als Beweis einer entarteten Gesinnung und als grausame Untat verwerfen,
ist in den Augen der Utopier ein hohes Lob. Ja, sie dünken sich auch
klug, weil sie auf diese Weise die größten Kriege ohne jeden Kampf
völlig zu Ende bringen, und sogar human und mitleidsvoll, weil sie mit
dem Tode einiger weniger Schuldiger das Leben zahlreicher Unschuldiger
erkaufen, die sonst im Kampfe gefallen wären, teils aus den Reihen der
Ihrigen, teils aus denen der Feinde, deren Menge und Masse sie fast
ebenso bedauern wie ihre eigenen Landsleute; wissen sie doch recht wohl,
daß jene einen Krieg nicht aus freien Stücken anfangen, sondern weil die
blinde Leidenschaft ihrer Fürsten sie dazu treibt. Kommen sie auf diese
Weise nicht weiter, so säen und nähren sie Zwietracht, indem sie dem
Bruder des Fürsten oder sonst einem aus dem Adel Hoffnung auf den Thron
machen. Wenn die Parteien im Inneren versagen, so wiegeln die Utopier
die Nachbarvölker des Feindes auf und verwickeln sie in einen Krieg mit
ihm, indem sie irgendeinen alten Vorwand hervorsuchen, woran es ja
Königen niemals fehlt.

Haben sie diesen Völkern ihren Beistand im Kriege versprochen, so
stellen sie ihnen reichlich Geld zur Verfügung, Hilfskräfte aus den
Reihen ihrer Bürger jedoch nur ganz spärlich; denn diese sind ihnen so
außerordentlich lieb und wert, und sie schätzen sich gegenseitig so
hoch, daß sie einen ihrer Landsleute nur ungern gegen den feindlichen
Fürsten austauschen würden. Gold und Silber dagegen, dessen gesamte
Menge sie einzig und allein für diesen Zweck aufbewahren, geben sie von
Herzen gern hin; sie könnten ja ebenso bequem leben, auch wenn sie es
vollständig aufbrauchten. Denn außer dem Reichtum im Inland besitzen sie
ja noch, wie früher erwähnt, bei den meisten Völkern des Auslands einen
unermeßlichen Schatz von Guthaben. So werben sie denn überall Söldner
an, vornehmlich aus dem Volk der Zapoleten, und lassen sie in den Krieg
ziehen.

Diese wohnen 500 Meilen östlich von Utopien. Unkultiviert, roh und wild,
wie sie sind, lassen sie deutlich merken, daß sie inmitten von Wäldern
und rauhen Bergen aufgewachsen sind. Sie sind ein kräftiger Volksstamm,
unempfindlich gegen Hitze, Kälte und Anstrengung, unbekannt mit allen
Annehmlichkeiten des Lebens, nicht begeistert für den Ackerbau,
nachlässig in Wohnung und Kleidung und nur für die Viehzucht
interessiert. Zu einem großen Teile leben sie von Jagd und Raub. Einzig
und allein zum Krieg geboren, suchen die Zapoleten eifrig nach einer
Gelegenheit zur Teilnahme an einem solchen, und finden sie eine, so
ergreifen sie sie mit Leidenschaft, ziehen in großer Zahl außer Landes
und bieten sich für wenig Geld dem ersten besten an, der Soldaten sucht.
Dies Handwerk, den Tod zu suchen, ist das einzige ihres Lebens, das sie
verstehen. Für ihren Dienstherrn schlagen sie sich mit Hingebung und
unbestechlicher Treue. Doch verpflichten sie sich nicht bis zu einem
bestimmten Termin, sondern wenn sie Partei ergreifen, so tun sie das nur
unter der Bedingung, daß sie am nächsten Tage auf seiten des Feindes
stehen dürfen, falls dieser ihnen höheren Sold bietet; ebenso kehren sie
dann am übernächsten Tage, durch eine Kleinigkeit Geld mehr verlockt,
wieder zurück. Nur selten kommt es zu einem Kriege, in dem sie nicht zu
einem großen Teile auf beiden Seiten kämpfen. So werden täglich
Blutsverwandte, bisher Söldner der gleichen Partei und einander die
besten Kameraden, bald darauf auseinandergerissen, geraten in
feindliche Heere, treffen als Gegner aufeinander und metzeln sich
gegenseitig nieder wie erbitterte Feinde, die ihre Abstammung vergessen
haben und nicht mehr an ihre frühere Freundschaft denken. Dabei
veranlaßt sie kein anderer Grund zur gegenseitigen Vernichtung, als daß
zwei feindliche Fürsten sie für ein paar lumpige Geldstücke gemietet
haben. Dieses Geld berechnen sie sich so genau, daß sie sich durch die
Erhöhung des täglichen Soldes um nur einen Heller zu einem Wechsel der
Partei verleiten lassen. So hat sich in ihren Herzen rasch die Habgier
eingenistet, von der sie jedoch keinen Vorteil haben; was sie nämlich
mit ihrem Blute gewinnen, verbrauchen sie alsbald wieder mit einer
Verschwendung, die gleichwohl armselig ist.

Dieses Volk kämpft für die Utopier gegen alle Welt, weil niemand
anderswo seine Dienstleistung so gut bezahlt wie diese. Wie sich nämlich
die Utopier nach guten Menschen umsehen, um sie in ihrem Dienst nützlich
zu verwenden, so werben sie auch diese Schurken an, um sie zu
mißbrauchen. Nötigenfalls machen sie ihnen lockende Versprechungen und
setzen sie an den gefährlichsten Punkten ein. Meist kommt dann ein
großer Teil von ihnen niemals wieder zurück und kann die versprochenen
Belohnungen gar nicht anfordern. Den Überlebenden aber zahlen die
Utopier gewissenhaft aus, was sie versprochen haben, um sie zu ähnlichen
Wagnissen anzuspornen. Sie fragen nämlich nicht danach, wie viele von
ihnen durch ihre Schuld ums Leben kommen, weil sie sich, wie sie meinen,
das größte Verdienst um die Menschheit erwerben würden, wenn sie den
Erdkreis von jenem Abschaum eines so greulichen und ruchlosen Volkes
gründlich säubern könnten.

Nächst den Zapoleten verwenden die Utopier auch die Streitkräfte
desjenigen Volkes, für das sie zu den Waffen greifen, und die
Hilfsscharen ihrer anderen Freunde; an letzter Stelle erst ziehen sie
ihre Mitbürger heran. Aus deren Mitte nehmen sie einen Mann von
erprobter Tapferkeit und stellen ihn an die Spitze des gesamten Heeres.
Ihm ordnen sie zwei Mann unter in der Art, daß beide nur als Privatleute
gelten, solange der Oberbefehlshaber dienstfähig ist; wird er jedoch
gefangengenommen oder fällt er, so tritt der eine von jenen beiden
gleichsam sein Erbe an, und ihn ersetzt gegebenenfalls der andere, damit
nicht in den bunten Wechselfällen der Kriege infolge einer Gefährdung
des Führers das ganze Heer in Unordnung gerät. In jeder Stadt hebt man
Freiwillige aus; man preßt nämlich niemanden wider seinen Willen zum
Kriegsdienst außerhalb der Grenzen seiner Heimat, weil man der
Überzeugung ist, daß einer, der von Natur etwas furchtsam ist, nicht nur
selbst sich nicht tapfer zeigen, sondern auch seine Kameraden mit seiner
Angst anstecken wird. Bricht aber der Feind ins Land ein, so steckt man
die Feiglinge dieser Art im Falle körperlicher Tauglichkeit auf die
Schiffe unter bessere Soldaten oder verteilt sie auf die einzelnen
Festungen, von wo sie nicht ausreißen können. Sie müssen sich vor ihren
Kameraden schämen, haben den Feind unmittelbar vor sich und sehen keine
Möglichkeit zur Flucht: so vergessen sie ihre Furcht und werden oft
durch höchste Not zu mutigen Männern. So wenig aber einerseits ein
Utopier wider seinen Willen zu einem auswärtigen Kriege fortgeschleppt
wird, so wenig hindert man anderseits die Frauen, mit ihren Männern ins
Feld zu ziehen; ja, man fordert sie dazu noch auf und spornt sie dazu
an, indem man sie lobt. Die Frauen, die mitausrücken, stellt man an der
Front mit ihren Männern in eine Reihe; außerdem hat ein jeder Kämpfer
seine Kinder, Verwandten und Angehörigen um sich, damit sich diejenigen
einander aus nächster Nähe beistehen können, die die Natur am stärksten
zu gegenseitiger Hilfe anspornt. Die höchste Schmach ist es für einen
Gatten, ohne den anderen heimzukommen, oder für einen Sohn, seinen Vater
zu überleben. Infolgedessen kämpft man, wenn es zum Handgemenge kommt
und die Feinde standhalten, in einem langen und unheilvollen Ringen bis
zur Vernichtung. Zwar suchen die Utopier mit allen Mitteln zu verhüten,
in eigener Person kämpfen zu müssen, wofern sie nur den Krieg mit Hilfe
einer Schar gemieteter Stellvertreter zu Ende bringen können; wenn es
sich jedoch nicht vermeiden läßt, daß sie selber mitkämpfen, so nehmen
sie den Kampf ebenso unerschrocken auf, wie sie sich vorher klug
zurückgehalten haben, solange es möglich war. Und beim ersten Angriff
gehen sie nicht mit wildem Ungestüm vor; vielmehr wächst ihre Stärke
langsam und allmählich und je länger der Kampf dauert. Dabei sind sie so
unbeugsamen Sinnes, daß sie sich eher niedermetzeln als in die Flucht
schlagen lassen; denn das beruhigende Bewußtsein, daß ein jeder daheim
zu leben hat, sowie die Befreiung von der quälenden Sorge um das Los
ihrer Nachkommen -- eine Besorgnis, die sonst überall einen tapferen
Sinn lähmt, -- machen die Kämpfer hochgemut, so daß sie den Gedanken,
sich besiegen zu lassen, als unwürdig von sich weisen. Außerdem flößt
ihnen ihre militärische Erfahrung Zuversicht ein, und schließlich spornt
sie die gute Erziehung, die sie in der Schule und durch die trefflichen
Einrichtungen ihres Staates von Kind auf genossen haben, noch mehr zur
Tapferkeit an. Infolgedessen ist in ihren Augen das Leben weder so
wertlos, daß sie es blindlings vergeuden, noch so übertrieben wertvoll,
daß sie damit geizen und sich in schimpflicher Weise daran klammern,
wenn die Ehre dazu rät, es hinzugeben. Wenn der Kampf allerorten am
wildesten tobt, nehmen sich die auserlesensten Jünglinge, die sich dazu
verschworen und geweiht haben, den feindlichen Führer zum Gegner; auf
ihn dringen sie offen ein, ihn greifen sie aus dem Hinterhalt an, und
aus der Ferne wie aus der Nähe gehen sie auf ihn los, und in einem
langen und lückenlosen Keil -- denn die wegen Ermüdung ausfallenden
Kämpfer werden beständig durch frische ersetzt -- stürmen sie gegen ihn
an. Nur selten kommt es vor, daß er nicht niedergestochen wird oder daß
er nicht lebendig in die Gewalt seiner Feinde gerät, es sei denn, daß er
sich durch die Flucht rettet.

Ist der Sieg auf seiten der Utopier, so metzeln sie nicht wild darauf
los; statt die Geschlagenen umzubringen, nehmen sie sie lieber gefangen.
Auch verfolgen sie die Fliehenden niemals so blindlings, daß sie bei
alledem nicht wenigstens noch eine geordnete und kampfbereite Schar
zurückbehielten. Wenn daher ihre übrigen Verbände geschlagen sind und
sie erst mit dem letzten den Sieg errungen haben, so lassen sie die
Feinde lieber ganz und gar entfliehen, als daß sie sich dazu
entschließen, die Fliehenden mit ungeordneten Verbänden ihrer Truppen zu
verfolgen. Sie vergessen nämlich nicht, was ihnen selbst mehr als einmal
widerfahren ist. Die Masse ihres gesamten Heeres war völlig besiegt; die
Feinde jubelten über ihren Sieg und zerstreuten sich hier und da auf der
Verfolgung. Die Utopier dagegen hatten einige wenige ihrer Leute im
Hinterhalt aufgestellt, die auf günstige Gelegenheiten lauerten. Sie
griffen die Feinde, die vereinzelt umherschwärmten und es in voreiliger
Sorglosigkeit an der nötigen Vorsicht fehlen ließen, plötzlich an und
veränderten das Ergebnis der ganzen Schlacht. Sie wanden den Feinden den
Sieg, der ihnen schon sicher war und an dem sie nicht mehr gezweifelt
hatten, aus den Händen und besiegten als Besiegte wiederum die Sieger.

Es ist schwer zu sagen, ob die Utopier einen Hinterhalt mit größerer
Schlauheit zu legen oder mit größerer Vorsicht zu vermeiden wissen. Man
könnte meinen, sie träfen Vorbereitungen zur Flucht, wenn sie alles
andere eher im Sinne haben, und umgekehrt, wenn sie die Absicht haben zu
fliehen, könnte man meinen, sie dächten an nichts weniger. Fühlen sie
sich nämlich hinsichtlich ihrer Zahl oder Stellung zu sehr im Nachteil,
so ziehen sie bei Nacht in aller Stille ab oder täuschen den Feind durch
irgendeine Kriegslist, oder sie gehen bei Tage so allmählich und in so
guter Ordnung zurück, daß es ebenso gefährlich ist, sie während des
Abrückens anzugreifen wie während des Anstürmens. Ihr Lager befestigen
sie überaus sorgfältig mit einem sehr tiefen und breiten Graben, wobei
sie die ausgehobene Erde nach innen werfen. Dazu verwenden sie keine
Tagelöhner, sondern die Soldaten selbst besorgen die Arbeit, und das
gesamte Heer hilft dabei mit, ausgenommen die Posten, die bewaffnet vor
dem Wall Wache halten, um plötzliche Überfälle abzuwehren. Und so legen
die Utopier bei so zahlreicher Mitarbeit starke und weitausgedehnte
Befestigungen wider alles Erwarten in kurzer Zeit an.

Die Waffen, die die Utopier verwenden, sind stark genug zur Abwehr von
Angriffen, ohne jedoch jede Art von Bewegung oder Haltung zu hindern; ja
nicht einmal beim Schwimmen empfindet man sie als lästig. Denn in voller
Ausrüstung schwimmen zu lernen, gehört zu den Anfangsgründen der
militärischen Ausbildung der Utopier. Im Kampf aus der Ferne benutzen
sie Pfeile, die sie mit großer Kraft und zugleich mit bester
Treffsicherheit abschießen, und zwar nicht bloß zu Fuß, sondern sogar
vom Pferde aus. Im Nahkampf aber führen sie keine Schwerter, sondern
Äxte, die durch ihre Schärfe oder Schwere tödlich verwunden, je nachdem
man sie zum Hieb oder Stich verwendet. In der Erfindung von
Kriegsmaschinen beweisen die Utopier ganz besonderen Scharfsinn; die
fertigen Maschinen halten sie mit größter Sorgfalt geheim, damit sie
nicht bekannt werden, ehe man sie braucht, und nicht mehr Spott und Hohn
erregen als Nutzen stiften. Bei ihrer Herstellung achtet man besonders
darauf, daß sie leicht zu fahren und bequem zu lenken sind. Einen
Waffenstillstand, den die Utopier mit dem Feind abschließen, halten sie
so gewissenhaft, daß sie ihn nicht einmal dann verletzen, wenn sie
gereizt werden. Im Feindesland richten sie keine Verwüstungen an; auch
brennen sie die Saaten nicht nieder. Ja, sie sorgen sogar dafür, daß
nach Möglichkeit weder Menschen noch Pferde die Saaten zertreten, weil
sie der Ansicht sind, daß sie zu ihrem eigenen Vorteil wachsen. Einem
Wehrlosen tun sie nichts zuleide, wenn er nicht gerade ein Spion ist.
Städte, die sich ihnen ergeben, schonen sie; aber auch solche, die sie
erst erobern müssen, plündern sie nicht; wohl aber lassen sie diejenigen
Bürger, die die Übergabe zu verhindern gesucht haben, erwürgen, während
sie die anderen Verteidiger zu Sklaven machen. Der gesamten Bevölkerung,
die nicht mitgekämpft hat, wird kein Haar gekrümmt. Wenn die Utopier
erfahren, daß einige Bürger zur Übergabe geraten haben, so machen sie
ihnen einen Teil von dem Hab und Gut der Verurteilten zum Geschenk; den
Rest geben sie ihren Hilfstruppen: denn von ihnen selbst begehrt niemand
einen Anteil an der Beute. Nach Beendigung des Krieges aber legen sie
die Kosten nicht ihren Freunden auf, für die sie sie aufgewendet haben,
sondern den Besiegten und fordern auf Grund dessen zum Teil bares Geld,
das sie dann für ähnliche Kriegszwecke aufsparen, zum Teil Grund und
Boden, der ihnen im Lande der Besiegten dauernd gehört und einen nicht
geringen Ertrag bringt.

Derartige Einkünfte haben die Utopier jetzt bei vielen Völkern; sie sind
aus verschiedenen Ursachen im Laufe der Zeit entstanden und bis auf mehr
als 700000 Dukaten im Jahr angewachsen. Zu ihrer Erhebung entsenden sie
einige von ihren Mitbürgern als sogenannte Quästoren, die in dem fremden
Lande prächtig leben und in der Art großer Herren auftreten. Aber
trotzdem bleibt noch viel Geld übrig, das in die Staatskasse fließt,
soweit es die Quästoren nicht lieber dem betreffenden Volke leihen
wollen, was sie häufig so lange tun, bis sie es notwendig brauchen. Und
kaum jemals kommt es vor, daß sie den ganzen Betrag zurückverlangen. Von
dem erwähnten Grund und Boden übereignen die Utopier einen Teil
denjenigen, die sich auf ihre Veranlassung einer so großen Gefahr
aussetzten, wie ich sie weiter oben geschildert habe.

Greift irgendein Fürst zu den Waffen gegen die Utopier und schickt er
sich an, in ihr Gebiet einzufallen, so treten sie ihm sogleich mit
starken Kräften außerhalb ihres Landes entgegen; denn weder führen sie
ohne Not im eigenen Lande Krieg, noch ist irgendeine Not jemals so
schlimm, daß sie die Utopier zwingen könnte, fremde Hilfstruppen auf
ihre Insel zu lassen.


Die Religion der Utopier

Die religiösen Vorstellungen sind nicht nur in den einzelnen Teilen der
Insel, sondern auch in den einzelnen Städten verschieden, indem die
einen die Sonne, die andern den Mond und wieder andere diesen oder jenen
Planeten als Gottheit anbeten. Einige verehren auch einen beliebigen
Menschen, der vor alters durch Tugend oder Ruhm geglänzt hat, nicht bloß
als Gott, sondern sogar als höchsten Gott. Aber der weit größte und
zugleich weitaus klügere Teil glaubt an nichts von alledem, sondern nur
an ein einziges, unerkanntes, ewiges, unendliches und unerforschliches
göttliches Wesen, das über menschliches Begriffsvermögen erhaben ist und
dieses ganze Weltall erfüllt, und zwar als tätige Kraft, nicht als
körperliche Masse; man nennt es Vater. Ihm schreibt man Ursprung,
Wachstum, Fortschritt, Wandel und Ende aller Dinge zu, und ihm allein
erweist man göttliche Ehren. Mit den Anhängern dieser Lehre stimmen auch
alle anderen trotz aller Glaubensunterschiede in diesem einen Punkte
überein, daß sie an _ein_ höchstes Wesen glauben, dem die Erschaffung
der Welt und die Vorsehung zu verdanken ist, und dieses göttliche Wesen
nennen sie alle ohne Unterschied in ihrer heimischen Sprache Mythras.
Aber insofern sind sie verschiedener Ansicht, daß die einzelnen ihn
verschieden auffassen. Dabei glaubt aber jeder, was es auch sein möge,
das er persönlich für das Höchste hält, es sei doch durchaus dasselbe
Wesen, dessen göttliche Macht und Majestät allein nach der
übereinstimmenden Überzeugung aller Völker der Inbegriff aller Dinge
ist. Indessen machen sie sich alle im Laufe der Zeit von der
Mannigfaltigkeit abergläubischer Vorstellungen frei und lassen ihre
Anschauungen zu jener einen Religion verschmelzen, die, wie es scheint,
vernünftiger ist als die anderen. Und ohne Zweifel wären die übrigen
religiösen Vorstellungen schon längst nicht mehr vorhanden, wenn nicht
alles Ungemach, das jemandem bei dem Vorhaben, seine Religion zu
wechseln, zufällig widerfährt, von ihm aus Furcht als eine Schickung des
Himmels aufgefaßt würde, gleich als ob die Gottheit, deren Verehrung
aufgegeben werden sollte, den gottlosen und gegen sie gerichteten Plan
ahnden wolle. Nachdem die Utopier jedoch durch uns von Christi Namen,
Lehre, Art und Wundern gehört hatten und ebenso von der
staunenerregenden Standhaftigkeit der zahlreichen Märtyrer, deren
freiwillig vergossenes Blut so zahlreiche Völker weit und breit zu
Christus bekehrt hat, da nahmen auch sie mit einem kaum glaublichen
Verlangen seine Lehre an, sei es nun, weil es Gott ihnen mehr im
geheimen eingab, oder sei es, weil das Christentum, wie es schien, der
bei ihnen selbst am weitesten verbreiteten Lehre am nächsten kam.
Gleichwohl möchte ich auch dem Umstand nicht wenig Gewicht beimessen,
daß sie gehört hatten, Christus habe an der gemeinschaftlichen
Lebensweise seiner Jünger Gefallen gefunden und sie sei bei den
Zusammenkünften der echten Christen noch heutigestags üblich. Von
welcher Bedeutung das nun auch gewesen sein mag, jedenfalls traten nicht
wenige zu unserem Glauben über und ließen sich mit dem geweihten Wasser
taufen. Leider war unter uns vieren -- nur so viele waren wir noch, da
zwei gestorben waren -- kein Priester. Infolgedessen müssen die Utopier,
wenn sie auch im übrigen eingeweiht sind, dennoch bis heute auf den
Genuß der Sakramente verzichten, da diese bei uns nur die Priester
spenden dürfen. Doch sind sie sich über deren Wert und Bedeutung klar
und haben keinen sehnlicheren Wunsch; ja, sie erörtern bereits lebhaft
die Frage, ob nicht auch ohne Auftrag des Papstes der Christenheit einer
aus ihren Reihen gewählt und zum Priester ernannt werden kann. Und es
schien so, als hätten sie die Absicht, einen zu wählen, aber bei meiner
Abreise war das noch nicht geschehen.

Auch die, die vom Christentum nichts wissen wollen, machen trotzdem
niemanden abspenstig und lassen jeden, der dazu übertritt, unbehelligt.
Nur einer aus unserer Gemeinschaft wurde während meiner Anwesenheit
verhaftet. Als Neugetaufter redete er, obgleich wir ihm davon abrieten,
öffentlich über die Verehrung Christi mit mehr Eifer als Klugheit. Dabei
geriet er allmählich so in Hitze, daß er sich bald nicht mehr damit
begnügte, das, was nur uns heilig ist, über alles andere zu stellen. Er
verurteilte vielmehr ohne weiteres alle anderen Lehren, nannte sie
unheilig und bezeichnete ihre Anhänger als ruchlose Gotteslästerer, die
es verdienten, in die Hölle zu kommen. Wenn einer lange öffentlich so
redet, nehmen ihn die Utopier fest und stellen ihn vor Gericht, aber
nicht wegen Religionsverletzung, sondern wegen Volksverhetzung, und,
wenn er für schuldig befunden wird, bestrafen sie ihn mit Verbannung;
denn unter ihre ältesten Bestimmungen rechnen sie die, daß niemand von
seiner Religion Schaden haben darf. Utopus hatte nämlich gleich anfangs
erfahren, daß die Eingeborenen vor seiner Ankunft beständig
Religionskämpfe miteinander geführt hatten; er hatte auch beobachtet,
daß bei der allgemeinen Uneinigkeit die Sekten einzeln für das Vaterland
kämpften und daß ihm dieser Umstand Gelegenheit bot, sie insgesamt zu
besiegen. Als er dann den Sieg errungen hatte, setzte er
Religionsfreiheit für jedermann fest und bestimmte außerdem, wenn jemand
auch andere zu seinem Glauben bekehren wolle, so dürfe er es nur in der
Weise betreiben, daß er seine Ansicht ruhig und bescheiden auf
Vernunftgründen aufbaue, die anderen aber nicht mit bitteren Worten
zerpflücke. Gelinge es ihm nicht, durch Zureden zu überzeugen, so solle
er keinerlei Gewalt anwenden und sich nicht zu Schimpfworten hinreißen
lassen. Geht aber jemand in dieser Sache zu ungestüm vor, so bestrafen
ihn die Utopier mit Verbannung oder Sklavendienst. Diese Bestimmung traf
Utopus nicht bloß im Interesse des Friedens, den, wie er sah,
beständiger Kampf und unversöhnlicher Haß von Grund aus zerstörten,
sondern weil er der Ansicht war, damit sei auch der Religion gedient. Er
wagte es auch nicht, über die Religion so ohne weiteres eine
Entscheidung zu treffen, gleichsam in Ungewißheit darüber, ob Gott nicht
doch einen mannigfaltigen und vielseitigen Kult haben wolle und deshalb
die einzelnen auf verschiedene Weise inspiriere. Jedenfalls hielt er es
für eine Anmaßung und Torheit, wenn jemand mit Gewalt und Drohungen
verlangte, daß alle seine persönliche Ansicht über die Wahrheit teilten.
Sollte aber wirklich nur einer Religion die meiste Wahrheit zukommen und
sollten alle anderen wertlos sein, so würde sich dann schließlich
einmal, das sah Utopus sicher voraus, die Macht der Wahrheit schon von
selbst Bahn brechen und sich deutlich offenbaren, wenn man ihre Sache
nur mit Vernunft und Mäßigung betreibe. Kämpfe man aber mit Waffen und
Aufruhr um die Religion, so werde die beste und erhabenste zwischen den
nichtigsten Wahnvorstellungen der Streitenden erstickt werden wie die
Saaten zwischen Dornen und Gestrüpp, da gerade die schlechtesten
Menschen am hartnäckigsten seien. Daher ließ Utopus diese ganze Frage
unentschieden und stellte es einem jeden anheim, was er glauben wollte.
Nur sollte niemand, das gebot er feierlich und streng, die Würde der
menschlichen Natur so weit vergessen, daß er annehme, die Seele gehe
zugleich mit dem Körper zugrunde oder im Laufe der Welt walte der blinde
Zufall und nicht die göttliche Vorsehung. Und deshalb erwarten den
Menschen, wie die Utopier glauben, nach diesem Leben Strafen für seine
Missetaten und Belohnungen für seine Tugenden. Wer das Gegenteil
annimmt, ist in ihren Augen nicht einmal ein Mensch, weil er die
menschliche Seele in ihrer Erhabenheit in den niedrigen Zustand
tierischer Körperlichkeit herunterdrückt; weit weniger noch rechnen sie
ihn zu ihren Mitbürgern. Denn um all ihre Einrichtungen und Sitten würde
er sich nicht im geringsten kümmern, wenn ihn nicht die Furcht davon
abhielte. Wer sollte nämlich daran zweifeln, daß ein solcher Mensch
danach trachten würde, die Staatsgesetze seines Landes entweder im
geheimen mit List zu umgehen oder mit Gewalt zu verletzen, sofern er
dadurch seine persönlichen Wünsche befriedigen kann, da er ja über die
Gesetze hinaus nichts mehr fürchtet und über den Tod hinaus nichts mehr
erhofft? Deshalb erweist man einem, der so gesinnt ist, keine Ehre und
überträgt ihm auch kein öffentliches Amt. So wird er allenthalben als
ein unbrauchbarer Mensch von niedrigem Charakter verachtet. Aber eine
wirkliche Strafe erleidet er nicht, weil es die Überzeugung der Utopier
ist, daß es nicht im Belieben des Menschen steht zu glauben, was er
will. Sie zwingen ihn auch weder mit irgendwelchen Drohungen, seine
wahre Gesinnung zu verheimlichen, noch lassen sie Heuchelei und Lügen
zu, die in ihren Augen an Betrug grenzen und ihnen deshalb überaus
verhaßt sind. Wohl aber verbieten sie ihm, seine Meinung zu verteidigen,
jedoch nur vor der großen Masse. Sonst nämlich, in einem geschlossenen
Kreise von Priestern und ernsten Männern, lassen sie es nicht bloß zu,
sondern fordern auch noch dazu auf, weil sie zuversichtlich damit
rechnen, sein Wahnsinn werde doch noch endlich einmal der Vernunft
weichen.

Andere, und zwar gar nicht wenige, begehen den gerade entgegengesetzten
Fehler -- man macht ihnen keine Schwierigkeiten, da ihre Ansicht nicht
ganz unbegründet ist und sie selbst nicht bösartig sind -- und meinen,
auch die Tierseelen seien unsterblich, jedoch nicht vergleichbar an
Würde mit unseren Menschenseelen und auch nicht zu gleicher
Glückseligkeit geschaffen. Die Utopier sind nämlich fast alle fest davon
überzeugt, daß den Menschen eine unbegrenzte Glückseligkeit bevorsteht.
Infolgedessen wehklagen sie stets, wenn jemand krank ist, niemals aber,
wenn jemand stirbt; sie müßten denn gerade sehen, wie sich der Sterbende
nur mit Angst und Widerwillen vom Leben losreißt. Das halten sie nämlich
für ein ganz schlimmes Vorzeichen, gleich als ob die Seele ohne Hoffnung
und mit schlechtem Gewissen in irgendeiner dunklen Ahnung drohender
Strafe vor dem Ende zurückschaudere. Außerdem wird sich nach ihrer
Meinung Gott nicht über die Ankunft eines Menschen freuen, der auf
seinen Ruf nicht bereitwillig herbeieilt, sondern sich nur ungern und
widerstrebend hinschleppen läßt. Vor einem solchen Sterben entsetzen
sich denn auch die, die es mit ansehen, und wer so stirbt, wird in
Trauer und aller Stille aus der Stadt getragen; dann betet man zu dem
den Seelen der Verstorbenen gnädigen Gott, er möge dem Heimgegangenen
seine Sünden aus Gnaden vergeben, und setzt die Leiche bei. Wer dagegen
freudig und voll Zuversicht stirbt, wird von niemandem betrauert,
sondern unter Gesang gibt man ihm das letzte Geleit und empfiehlt seine
Seele liebevoll dem großen Gott. Schließlich verbrennt man den Leichnam
mehr in Ehrfurcht als in Trauer und errichtet an Ort und Stelle eine
Denksäule, in die die Ehrentitel des Toten eingemeißelt sind. Nach der
Rückkehr von der Beisetzung unterhält man sich über Lebenswandel und
Taten des Heimgegangenen, und kein Abschnitt seines Lebens wird dabei
häufiger oder lieber besprochen als sein seliges Ende.

Dieses ehrende Gedenken rechtschaffener Menschen ist in den Augen der
Utopier für die Lebenden ein überaus wirksamer Anreiz zur Tugend und
zugleich für die Verstorbenen eine höchst willkommene Verehrung. Sie
denken sich nämlich, daß die Heimgegangenen bei den Gesprächen über sie
zugegen sind, wenn auch unsichtbar für das schwache Auge der
Sterblichen. Einerseits nämlich würde es gar nicht mit ihrer
Glückseligkeit vereinbar sein, wenn sie in ihrer Bewegungsfreiheit
beschränkt wären, und anderseits wäre es undankbar von ihnen, wenn sie
überhaupt keine Sehnsucht mehr empfänden, ihre Lieben wiederzusehen, mit
denen sie bei Lebzeiten durch gegenseitige Liebe und Hochschätzung
verbunden waren, Neigungen, die bei guten Menschen, so vermutet man, wie
die übrigen trefflichen Eigenschaften nach dem Tode eher noch zu- als
abnehmen. Die Utopier glauben demnach, daß die Toten unter den Lebenden
weilen als Ohren- und Augenzeugen ihrer Worte und Taten, und
infolgedessen gehen sie mit größerer Zuversicht an ihre Geschäfte,
gleichsam im Vertrauen auf solchen Schutz; auch lassen sie sich durch
den Glauben an die Anwesenheit ihrer Vorfahren von geheimer Schandtat
abschrecken.

Auf Weissagungen und die sonstigen Prophezeiungen eines hohlen
Aberglaubens, die andere Völker gewissenhaft beachten, legen die Utopier
gar keinen Wert, ja sie machen sich sogar darüber lustig. Wunder
dagegen, soweit sie ohne jede natürliche Veranlassung geschehen,
verehren sie als Taten und Zeugnisse der anwesenden Gottheit. Solche
Wunder kommen in Utopien, wie es heißt, häufig vor, und in wichtigen und
zweifelhaften Fragen flehen sie bisweilen darum mit großer Zuversicht
und unter Veranstaltung eines großen Betfestes und erwirken auch ein
Wunder.

Für eine Gott wohlgefällige Verehrung halten die Utopier die Betrachtung
der Natur sowie das Lob, das man Gott als ihrem Schöpfer spendet. Doch
gibt es auch Leute, und zwar keineswegs wenige, die unter Berufung auf
ihren Glauben von den Wissenschaften nichts wissen wollen, sich um
keinerlei Erkenntnis der Natur bemühen und Muße überhaupt nicht kennen:
nur durch Betätigung und gute Dienste, die man den Mitmenschen erweist,
erwirbt man sich nach ihrer Meinung Anspruch auf die Glückseligkeit nach
dem Tode. Daher widmen sich die einen der Krankenpflege, die anderen
bessern Wege aus, reinigen Gräben, bringen Brücken in Ordnung, stechen
Rasen aus, schaufeln Sand und graben Steine aus, fällen und zersägen
Bäume, fahren auf Zweigespannen Holz, Feldfrüchte und andere Dinge in
die Städte und benehmen sich nicht nur in der Tätigkeit für die
Allgemeinheit, sondern auch in der für Privatleute wie Diener und sind
noch arbeitsamer als Sklaven. Denn jede mühsame, schwierige und
schmutzige Arbeit, die es irgendwo gibt und von der Anstrengung,
Widerwille und Verzweiflung die meisten zurückschrecken, nehmen sie
willig und fröhlich ganz auf sich. Den anderen verschaffen sie Muße, sie
selber aber arbeiten und plagen sich ohne Unterlaß, ohne jedoch Dank
dafür zu beanspruchen; auch tadeln sie die Lebensweise anderer nicht, um
ihre eigene dafür zu rühmen. Je mehr sich die Leute als Sklaven zeigen,
desto größere Ehre erweist ihnen jedermann. Unter ihnen gibt es nun zwei
Sekten. Die eine ist die der Ledigen. Diese enthalten sich völlig des
Geschlechtsverkehrs; auch essen sie kein Fleisch, einige sogar, ohne mit
irgendeinem Tier eine Ausnahme zu machen. Alle Freuden dieses Lebens
verwerfen sie als schädlich, und in der Hoffnung auf einen baldigen Tod
trachten sie leidenschaftlich danach, durch Nachtwachen und mühselige
Arbeit nur die Freuden des künftigen Lebens zu erlangen. Die Anhänger
der anderen Sekte sind nicht weniger auf Arbeit erpicht, ziehen es aber
dabei vor, zu heiraten; denn sie verschmähen die Kräfte nicht, die von
der Ehe ausgehen, und glauben der Natur ihren Zoll entrichten zu müssen
und dem Vaterlande Kinder schuldig zu sein. Jedes Vergnügen, das sie in
keiner Beziehung von der Arbeit abhält, ist ihnen willkommen. Das
Fleisch vierfüßiger Tiere schätzen sie schon aus dem Grunde, weil sie
von einer solchen Nahrung eine bessere Kräftigung zu jeder Arbeit
erwarten. Die Anhänger dieser Sekte sind in den Augen der Utopier
klüger, die der anderen dagegen frömmer. Die letzteren würde man
auslachen, wenn sie sich bei der Bevorzugung der Ehelosigkeit und eines
beschwerlichen Lebens auf Gründe der Vernunft stützen wollten; so aber
betrachtet man sie wegen ihrer religiösen Beweggründe mit Ehrfurcht und
Hochachtung. Vor nichts scheuen sie sich nämlich ängstlicher als vor
irgendeiner unbedachten Äußerung über die Religion. Derart also sind die
Leute, die die Utopier mit einem besonderen Namen in ihrer Landessprache
als »Buthresken« bezeichnen, was etwa unserem Worte »Mönche« entspricht.

Die Priester der Utopier sind außerordentlich fromm und deshalb sehr
gering an Zahl. Es gibt nämlich in jeder Stadt nicht mehr als dreizehn,
entsprechend der Zahl der Gotteshäuser, außer in Kriegszeiten. Dann aber
ziehen sieben von ihnen mit dem Heere ins Feld und werden in der
Zwischenzeit durch eine gleiche Anzahl ersetzt. Kommen dann die anderen
zurück, so nimmt jeder von ihnen wieder seine alte Stelle ein. Die
Überzähligen treten der Reihe nach an die Stelle der mit Tod Abgehenden;
bis dahin sind sie Gehilfen des Oberpriesters, und einer wird an ihre
Spitze gestellt. Die Priester werden vom Volke gewählt, und zwar wie die
übrigen Beamten in geheimer Abstimmung, wodurch man Begünstigungen
vermeiden will; die Weihe der Gewählten vollzieht dann ihr eigenes
Kollegium. Die Priester leiten den Gottesdienst, besorgen die
Angelegenheiten des Kultus und sind eine Art Sittenrichter, und es gilt
als eine große Schande, wenn jemand von ihnen wegen seines schlechten
Lebenswandels vorgeladen und zur Rede gestellt wird. Wenn auch die
Priester das Recht haben zu ermahnen und zu warnen, so steht doch die
Befugnis zu einer Maßregelung und Bestrafung von Übeltätern nur dem
Bürgermeister und den übrigen Amtspersonen zu, nur daß die Priester
ihrerseits diejenigen, die sie als schlimme Sünder kennenlernen, vom
Gottesdienst ausschließen. Und es gibt kaum eine Strafe, die man mehr
fürchtet; denn sie macht völlig ehrlos und erweckt eine geheime
religiöse Furcht, die den Sinn zerrüttet, da die so Bestraften auch
nicht hinsichtlich ihres Körpers lange ohne Sorge sein können. Wenn sie
nämlich die Priester nicht schnell von ihrer Reue überzeugen, werden sie
festgenommen und vom Senat wegen Gottlosigkeit bestraft.

Der Unterricht der Kinder und Jugendlichen liegt in den Händen der
Priester, und diese lassen sich mehr die Erziehung zu Sitte und Tugend
als die wissenschaftliche Ausbildung angelegen sein. Sie verwenden
nämlich den größten Fleiß darauf, den noch zarten und empfänglichen
Kinderherzen von Anfang an gesunde und der Erhaltung ihres Staates
dienliche Anschauungen einzupflanzen. Wenn diese erst einmal im Kinde
festsitzen, begleiten sie den Erwachsenen durchs ganze Leben und sind
von großem Nutzen für die Erhaltung des Staates; denn was einen Staat
zerfallen läßt, sind einzig und allein die Laster, die ihrerseits wieder
aus verkehrten Anschauungen entstehen.

Die Priester sind mit den erlesensten Frauen ihres Volkes verheiratet,
soweit sie nicht selbst Frauen sind; denn auch die Frauen sind vom
Priestertum nicht ausgeschlossen; aber eine Frau wird seltener gewählt
und auch dann nur, wenn sie verwitwet und betagt ist. Keine Behörde
genießt nämlich bei den Utopiern größere Ehre, und zwar in dem Ausmaße,
daß ein Priester, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen, keinem
öffentlichen Gericht untersteht: Gott allein und sich selbst ist er
überlassen. Die Utopier halten es nämlich für Sünde, den mit
Menschenhand zu berühren, und wäre er auch ein noch so schlimmer
Verbrecher, der Gott auf eine so einzigartige Weise gleichsam als Opfer
geweiht ist. Diesen Brauch können sie leichter einhalten, weil ihre
Priester so gering an Zahl sind und mit so großer Sorgfalt ausgewählt
werden. Kommt es doch nur selten vor, daß ein Mann, der, aus der Zahl
der Guten als Bester ausgesucht, allein wegen seiner Tüchtigkeit zu so
hoher Würde erhoben wird, zu Verderbtheit und Lasterhaftigkeit entartet.
Sollte es aber bei der Unbeständigkeit der menschlichen Natur immerhin
einmal vorkommen, so braucht man davon für die Allgemeinheit durchaus
keinen Schaden von großer Bedeutung zu befürchten, da die Zahl der
Priester nur gering ist und sie außer ihrem Ansehen keinerlei Macht
besitzen. Die Utopier beschränken aber die Zahl ihrer Priester deshalb
so stark, weil das Ansehen des Standes, dem sie jetzt so große Verehrung
erweisen, nicht dadurch an Bedeutung verlieren soll, daß sie seine Ehre
vielen zuteil werden lassen, zumal da sie es für schwierig halten, viele
Leute zu finden, die tugendhaft genug zur Bekleidung eines Amtes sind,
für dessen Würde eine nur mittelmäßige Tugendhaftigkeit nicht ausreicht.

Die Wertschätzung der Priester ist bei den auswärtigen Völkern nicht
geringer als bei ihren Landsleuten. Das geht deutlich aus einem Brauche
hervor, den ich auch für den Ursprung dieser Wertschätzung halte.
Während nämlich die Truppen in der Schlacht um die Entscheidung kämpfen,
halten sich die Priester abseits, aber nicht weit entfernt, und liegen
in ihren geweihten Gewändern auf den Knien. Die Hände zum Himmel
erhoben, beten sie zu allererst um Frieden, sodann um Sieg für ihr Volk,
aber um einen Sieg, der für beide Teile nicht blutig ist. Im Falle des
Sieges ihres Volkes eilen sie in den Kampf und gebieten dem Wüten gegen
die Geschlagenen Einhalt. Wer sie nur sieht und anruft, wenn sie da
sind, sichert sich sein Leben; wer ihre wallenden Gewänder berührt,
schützt auch, was ihm sonst noch gehört, vor jeder kriegerischen
Gewalttat. Infolgedessen genießen die Priester bei allen Völkern ringsum
eine so große Verehrung und so viel wirklich majestätisches Ansehen, daß
die Schonung, die sie vom Feinde für ihre Mitbürger erwirkten, oft nicht
geringer war als die, die sie bei diesen für den Feind erreicht hatten.
So viel steht jedenfalls fest: schon manchmal, wenn die Front ihrer
Landsleute ins Wanken geraten war, wenn diese in ihrer verzweifelten
Lage zu fliehen begannen und der Feind zu Gemetzel und Plünderung
heranstürmte, traten die Priester dazwischen, unterbrachen das
Blutvergießen, trennten die Truppen voneinander, brachten unter
gerechten Bedingungen einen Frieden zustande und schlossen ihn ab. Denn
noch niemals ist ein Volk so wild, so grausam und so barbarisch gewesen,
daß es ihre Person nicht für heilig und unverletzlich gehalten hätte.

Als Festtage begehen die Utopier den ersten und letzten Tag eines jeden
Monats und Jahres. Dieses teilen sie in Monate ein, die der Umlauf des
Mondes abgrenzt, wie der Kreislauf der Sonne das Jahr rundet. Alle
Anfangstage heißen auf utopisch »Cynemerner« und die Schlußtage
»Trapemerner«, was etwa soviel wie Anfangs- und Schlußfeste bedeutet.

Man sieht in Utopien prachtvolle Tempel, die nicht bloß mit großer Kunst
gebaut sind, sondern auch eine gewaltige Menschenmenge fassen, was ja
bei ihrer geringen Anzahl auch unbedingt notwendig ist. Gleichwohl sind
sie alle halbdunkel, und zwar soll das nicht auf mangelhafte Kenntnis in
der Baukunst zurückgehen, sondern auf einen Rat der Priester. Nach deren
Meinung nämlich lenkt zuviel Licht die Gedanken ab, sparsameres und
gleichsam unsicheres Licht dagegen trägt zur Sammlung des Geistes und
zur Vertiefung der Andacht bei. Zwar ist in Utopien die Religion nicht
überall die gleiche, aber all ihre, wenn auch verschiedenen und
vielfältigen Formen kommen trotz Verschiedenheit der Wege in einem
einheitlichen Ziele zusammen, in der Verehrung eines göttlichen Wesens.
Infolgedessen ist in den Tempeln nichts zu sehen oder zu hören, was
nicht für alle Religionsformen ohne Unterschied passend erschiene. Einen
seiner Sekte etwa eigentümlichen Brauch vollzieht ein jeder innerhalb
seiner vier Wände; den öffentlichen Kult dagegen führt man in einer Form
durch, die keiner Religion etwas von ihren Besonderheiten nimmt. Daher
ist auch kein Götterbild im Tempel zu sehen, so daß es jedem freisteht,
unter welcher Gestalt er sich die Gottheit seinem persönlichen Glauben
gemäß vorstellen will. Sie rufen Gott unter keinem besonderen Namen an,
sondern nur als Mythras, ein Wort, mit dem sie alle übereinstimmend das
eine Wesen göttlicher Majestät bezeichnen, welcher Art es auch sein mag.
Die Gebete, die in Utopien abgefaßt werden, sind auch alle derart, daß
sich jeder ihrer bedienen kann, ohne gegen seinen persönlichen Glauben
zu verstoßen.

Im Tempel kommen die Utopier an den Schlußfesttagen abends zusammen,
ohne noch etwas zu sich genommen zu haben, um Gott für den Segen zu
danken, den er in dem Jahre oder Monat, dessen letzter Tag dieser
Festtag ist, gespendet hat. In der Frühe des nächsten Tages -- denn das
ist dann ein Anfangsfesttag -- strömt das Volk in den Tempeln zusammen,
um für das folgende Jahr oder den folgenden Monat, den sie mit dieser
Feier beginnen wollen, Glück und Segen zu erbitten. Ehe man aber an den
Schlußfesttagen in den Tempel geht, werfen sich daheim die Frauen ihren
Männern und die Kinder ihren Eltern zu Füßen und bekennen ihnen ihre
Verfehlungen, mag es sich nun um eine Missetat oder um eine mangelhafte
Pflichterfüllung handeln, und bitten um Vergebung ihrer Schuld. So wird
jedes Wölkchen häuslicher Zwietracht, das etwa aufsteigt, durch solche
Abbitte verscheucht, und man nimmt reinen Herzens und unbeschwerten
Sinnes am Gottesdienst teil. Man scheut sich nämlich, mit verstörtem
Sinn dem Gottesdienst beizuwohnen. Ist man sich deshalb bewußt, Haß oder
Zorn gegen jemand zu hegen, so geht man erst dann wieder zum
Gottesdienst, wenn man sich versöhnt und von den Leidenschaften
gereinigt hat, weil man sonst eine schnelle und schwere Strafe
fürchtet. Im Tempel angekommen, gehen die Männer auf die rechte und die
Frauen gesondert auf die linke Seite. Dann nehmen sie in der Weise
Platz, daß die männlichen Mitglieder eines jeden Hauses vor dem
Familienvater sitzen, die Familienmutter aber die Reihe der weiblichen
Mitglieder schließt. Auf diese Weise können sämtliche Bewegungen aller
Hausgenossen außerhalb des Hauses von denen beobachtet werden, deren
Autorität und Zucht sie auch innerhalb des Hauses unterstehen. Ja, die
Utopier sehen auch gewissenhaft darauf, daß im Tempel immer ein Jüngerer
mit einem Älteren zusammensitzt, damit nicht die Kinder sich selbst
überlassen bleiben und sich nicht während des Gottesdienstes kindisch
und albern benehmen. Denn gerade in dieser Zeit sollten sie es lernen,
fromme Scheu vor den Himmlischen zu hegen, die ja der stärkste und
beinahe der einzige Ansporn zur Tugend ist. Wenn die Utopier opfern, so
schlachten sie kein Tier, und sie können nicht glauben, daß sich Gott in
seiner Güte über Blutvergießen und Morden freut; hat er doch den
Lebewesen das Leben zu dem Zwecke geschenkt, daß sie leben. Sie
verbrennen Weihrauch und ebenso anderes Räucherwerk; auch stecken sie
zahlreiche Wachskerzen auf, nicht als ob sie nicht wüßten, daß das Wesen
Gottes dieser Dinge nicht bedarf, ebensowenig wie ja auch der Gebete der
Menschen, aber sie finden Gefallen an dieser harmlosen Art
Gottesverehrung, und die Menschen fühlen, daß diese Düfte, Lichter und
sonstigen Feierlichkeiten sie irgendwie innerlich aufrichten und zur
Verehrung Gottes freudiger stimmen. Im Tempel trägt das Volk weiße
Gewänder, der Priester dagegen buntfarbige, die nach Arbeit und Form
Bewunderung verdienen; nur ist der Stoff nicht ebenso wertvoll. Die
Gewänder sind nämlich nicht mit Gold gestickt oder mit seltenen Steinen
besetzt, sondern aus einzelnen Vogelfedern so geschickt und kunstvoll
gearbeitet, daß auch der kostbarste Stoff dieser Arbeit an Wert nicht
gleichkommen würde. Wie es außerdem heißt, sind in jenen Schwung- und
Flaumfedern sowie in ihrer bestimmten Anordnung, durch die sie auf dem
Priestergewande unterschieden werden, gewisse geheime Mysterien
verborgen. Ihre Auslegung ist den Priestern bekannt und wird von ihnen
gewissenhaft weiter überliefert; die Menschen sollen dadurch an die
Wohltaten erinnert werden, die ihnen Gott erweist, an den Dank, den sie
ihm dafür schulden, und an die Pflichten, die sie gegenseitig zu
erfüllen haben.

Sobald sich der Priester in diesem Ornat vor dem Allerheiligsten zeigt,
werfen sich alle sofort voll Ehrfurcht zu Boden unter so allgemeinem und
tiefen Schweigen, daß schon der bloße Anblick dieses Vorgangs eine Art
Schauer einflößt, als wenn eine Gottheit zugegen wäre. Sie bleiben eine
Weile liegen und erheben sich erst, wenn ihnen der Priester ein Zeichen
gibt. Dann singen sie Gott zu Ehren Hymnen, wozu sie zwischendurch auf
Musikinstrumenten spielen. Diese haben zu einem großen Teile eine andere
Gestalt als die, die man in unserem Erdteil zu sehen bekommt. Die
meisten von ihnen übertreffen zwar die bei uns gebräuchlichen wesentlich
an Wohlklang, doch sind einige mit den unsrigen nicht einmal zu
vergleichen. In einer Beziehung jedoch sind uns die Utopier
unzweifelhaft weit voraus, darin nämlich, daß all ihre Musik, und zwar
die Instrumentalmusik ebenso wie die Vokalmusik, die natürlichen
Seelenzustände deutlich nachahmt und widerspiegelt, daß der Klang sich
dem Inhalt des Musikstückes treffend anpaßt, mag es sich um Worte eines
Betenden oder um den Ausdruck der Freude, der Sanftmut, der Aufregung,
der Trauer oder des Zornes handeln, und daß die Art der Melodie den Sinn
eines jeden Textes so lebendig veranschaulicht, daß sie die Herzen der
Zuhörer in wunderbarer Weise ergreift, erschüttert und entflammt.
Zuletzt sprechen Priester und Volk zusammen feierliche Gebete in
bestimmten Fassungen, die so gehalten sind, daß jeder einzelne auf sich
beziehen kann, was alle zusammen hersagen. In diesen Gebeten ruft sich
jeder Gott als den Schöpfer und Lenker des Weltalls und als den Geber
all der anderen Güter wieder ins Gedächtnis, dankt ihm für die zahllosen
Wohltaten, die er empfangen hat, besonders aber dafür, daß ihn Gottes
Güte und Gnade im glücklichsten Staat leben und an einer Religion
teilnehmen läßt, die, wie er hofft, der Wahrheit am nächsten kommt.
Sollte er sich darin irren oder sollte es einen besseren Staat oder eine
bessere Religion geben, die auch Gott genehmer wäre, so bitte er darum,
seine Güte möge es ihn erkennen lassen; er wolle ihm bereitwillig
folgen, wohin er ihn auch führe. Sollte aber diese Staatsform die beste
und seine Religionsauffassung die richtigste sein, so möge ihm Gott
Beständigkeit verleihen und die anderen Menschen alle zu denselben
Lebensgrundsätzen und zu derselben Vorstellung von Gott bekehren, falls
er nicht in seinem unerforschlichen Willen auch an dieser
Mannigfaltigkeit der Bekenntnisse Gefallen finde. Endlich bittet er noch
darum, Gott möge ihn nach einem leichten Tode in sein Reich aufnehmen;
wie bald oder wie spät, das wage er nicht im voraus zu bestimmen.
Immerhin werde es ihm, soweit es ohne Verletzung der göttlichen Majestät
möglich sei, viel lieber sein, auch den schwersten Tod zu erleiden, um
eher zu Gott zu kommen, als durch das glücklichste Leben länger von ihm
ferngehalten zu werden. Nach diesem Gebet werfen sich alle abermals zu
Boden und erheben sich bald darauf wieder, um zum Essen zu gehen; den
Rest des Tages verbringen sie mit Spielen und militärischer Ausbildung.

                   *       *       *       *       *

Ich habe euch so wahrheitsgemäß wie möglich die Form dieses Staates
beschrieben, den ich bestimmt nicht nur für den besten, sondern auch für
den einzigen halte, der mit vollem Recht die Bezeichnung »Gemeinwesen«
für sich beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl
spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in
Utopien, dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich
ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit, und beide Male
geschieht es mit Fug und Recht. Denn wie wenige in anderen Ländern
wissen nicht, daß sie trotz noch so großer Blüte ihres Staates Hungers
sterben würden, wenn sie nicht auf einen Sondernutzen bedacht wären! Und
deshalb zwingt sie die Not, eher an sich als an ihr Volk, das heißt an
andere, zu denken. Dagegen hier, in Utopien, wo alles allen gehört, ist
jeder ohne Zweifel fest davon überzeugt, daß niemand etwas für seinen
Privatbedarf vermissen wird, wofern nur dafür gesorgt wird, daß die
staatlichen Speicher gefüllt sind. Denn hier werden die Güter reichlich
verteilt, und es gibt keine Armen und keine Bettler, und obgleich
niemand etwas besitzt, sind doch alle reich. Könnte es nämlich einen
größeren Reichtum geben, als völlig frei von jeder Sorge, heiteren
Sinnes und ruhigen Herzens zu leben, nicht um seinen eigenen
Lebensunterhalt ängstlich besorgt, nicht gequält von der Geldforderung
der jammernden Gattin, ohne Furcht, der Sohn könne in Not geraten, ohne
Angst und Bange um die Mitgift der Tochter, sondern unbesorgt um den
eigenen Lebensunterhalt und um den der Seinen, der Gattin, der Söhne,
der Enkel, Urenkel und Ururenkel und der ganzen Reihe von Nachkommen, so
lang, wie sie ein Ehrenmann erwartet? Ja, diese Fürsorge erstreckt sich
sogar in demselben Umfange auf die, die früher gearbeitet haben, jetzt
aber nicht mehr dazu imstande sind, wie auf die, die jetzt noch
arbeiten. Da wünschte ich, es wagte jemand, mit dieser Billigkeit die
Gerechtigkeit anderer Völker zu vergleichen, und ich will des Todes
sein, wenn ich bei ihnen auch nur die geringste Spur von Gerechtigkeit
und Billigkeit finde! Oder ist das etwa Gerechtigkeit, wenn jeder
beliebige Edelmann oder Goldschmied oder Wucherer oder schließlich
irgendein anderer von denen, die entweder überhaupt nichts tun oder
deren Tätigkeit für den Staat nicht dringend notwendig ist, ein
prächtiges und glänzendes Leben führen darf auf Grund eines Verdienstes,
den ihm sein Nichtstun oder seine überflüssige Tätigkeit einbringt,
während zu gleicher Zeit der Tagelöhner, der Fuhrmann, der Schmied und
der Bauer mit seiner harten und ununterbrochenen Arbeit, wie sie kaum
ein Zugtier aushalten würde, die aber so unentbehrlich ist, daß ohne sie
kein Gemeinwesen auch nicht ein Jahr bloß auskommen könnte, einen nur so
geringen Lebensunterhalt verdient und ein so elendes Leben führt, daß
einem die Lage der Zugochsen weit besser vorkommen könnte, weil sie
nicht so dauernd arbeiten müssen, weil ihre Nahrung nicht viel
schlechter ist und ihnen sogar besser schmeckt und weil sie bei alledem
wegen der Zukunft keine Angst zu haben brauchen? Aber diese Menschen
quält eine erfolglose und undankbare Arbeit in der Gegenwart, auch
peinigt sie der Gedanke an ein hilfloses Alter. Denn wenn ihr täglicher
Verdienst zu kärglich ist, um auch nur für denselben Tag auszureichen,
kann auf keinen Fall etwas herausspringen und übrigbleiben, um täglich
für die Verwendung im Alter zurückgelegt zu werden. Ist das nicht eine
ungerechte und undankbare Gemeinschaft, die den sogenannten Edelleuten,
den Goldschmieden und den übrigen Leuten dieser Art, die weiter nichts
als Müßiggänger oder Schmarotzer sind und nur unnütze Luxusdinge
herstellen, in so verschwenderischer Weise ihre Gunst bezeugt, die
dagegen für die Bauern, Köhler, Tagelöhner, Fuhrleute und Schmiede, ohne
die überhaupt kein Staat bestehen könnte, in keinerlei Weise sorgt? Sie
nutzt die Arbeitskraft ihrer besten Lebensjahre aus und vergilt ihnen
dann, wenn sie schließlich, von Alter und Krankheit beschwert, an allem
Mangel leiden, auf höchst undankbare Weise, indem sie sie, uneingedenk
so vieler Nächte, die sie durchwacht, und so vieler und wichtiger
Dienste, die sie geleistet haben, auf ganz elende Weise sterben läßt.
Was soll man gar noch dazu sagen, daß die Reichen Tag für Tag von dem
täglichen Verdienst der Armen nicht nur durch privaten Betrug, sondern
sogar auf Grund staatlicher Gesetze etwas abzwacken? So haben diese
Menschen das, was früher als ungerecht galt: die höchsten Verdienste um
den Staat mit dem schnödesten Undank zu lohnen, in seiner Geltung
entstellt und sogar noch in Gerechtigkeit verwandelt, indem sie es durch
Gesetze sanktionierten. Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute
irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte und über sie nachdenke, so
stoße ich, so wahr mir Gott helfe, einzig und allein auf eine Art
Verschwörung der Reichen, die unter Mißbrauch des Namens- und
Rechtstitels eines Staates nur auf ihre persönlichen Interessen bedacht
sind. Sie ersinnen und denken sich alle möglichen Mittel und Ränke aus,
zunächst, um ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz zu behalten, ohne
fürchten zu müssen, ihn zu verlieren, und sodann, um sich die
angestrengte Arbeit aller Armen so billig wie möglich zu erkaufen und zu
ihrem Vorteil zu mißbrauchen. Sobald nun die Reichen erst einmal im
Namen des Staates, also auch im Namen der Armen, beschlossen haben,
diese Machenschaften durchzuführen, erhalten sie sofort Gesetzeskraft.
Aber selbst wenn diese so schlechten Menschen alle diese Güter, die für
alle gereicht hätten, in unersättlicher Habgier untereinander aufteilen,
wieviel fehlt ihnen trotzdem noch an dem Glück des utopischen Staates!
Hier ist mit dem Gebrauch des Geldes selbst zugleich jede Geldgier aus
der Welt geschafft. Welch schwere Last von Verdrießlichkeiten ist
dadurch abgewälzt, welch reiche Saat von Verbrechen mitsamt der Wurzel
ausgerissen! Wer weiß nämlich nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub,
Streit, Unruhe, Zank, Aufstand, Mord, Verrat und Giftmischerei, die
jetzt durch tägliche Bestrafungen mehr geahndet als eingeschränkt
werden, mit der Beseitigung des Geldes absterben müssen und daß außerdem
Furcht, Unruhe, Sorgen, Anstrengungen und durchwachte Nächte in
demselben Augenblick wie das Geld verschwinden werden? Ja, die Armut
selbst, der einzige Zustand, wie es scheint, in dem Geld gebraucht wird,
würde augenblicklich abnehmen, wenn man das Geld überall völlig
abschaffte. Wenn du dir das noch deutlicher machen willst, mußt du dir
einmal ein dürres und unfruchtbares Jahr vorstellen, in dem der Hunger
viele Tausende von Menschen dahingerafft hat. Nun behaupte ich ganz
bestimmt: hätte man am Ende dieser Hungersnot die Speicher der Reichen
durchsucht, so wäre so viel Getreide zu finden gewesen, daß überhaupt
niemand jene Ungunst des Wetters und jenen geringen Ertrag des Bodens
hätte zu spüren brauchen, wenn man die Vorräte unter die verteilt hätte,
die in der Tat Opfer der Abmagerung und Auszehrung geworden sind. So
leicht könnte man beschaffen, was man zum Leben braucht, wenn nicht
jenes herrliche Geld, ganz offenbar dazu erfunden, den Zugang zum
Lebensunterhalt zu erschließen, allein es wäre, das ihn uns verschließt.
Das merken ohne Zweifel auch die Reichen, und sie wissen ganz genau,
wieviel besser jener Zustand wäre, nichts Notwendiges zu entbehren als
an vielerlei Überflüssigem Überfluß zu haben, und wieviel besser es
wäre, von so zahlreichen Übeln befreit als von so großem Reichtum
beschwert zu sein. Ich mag auch gar nicht daran zweifeln, daß die Sorge
für das persönliche Wohl jedes einzelnen oder die Autorität Christi,
unseres Heilands, der bei seiner so großen Weisheit wissen mußte, was
das Beste sei, und bei seiner so großen Güte nur zu dem raten konnte,
was er als das Beste erkannt hatte, die ganze Welt ohne Mühe schon
längst für die Gesetze des utopischen Staates gewonnen hätte, wenn nicht
eine einzige Bestie, das Haupt und der Ursprung alles Unheils, die
Hoffart, dagegen ankämpfte. Sie mißt ihr Glück nicht am eigenen Nutzen,
sondern am fremden Unglück. Sie möchte nicht einmal Göttin werden, wenn
dann keine Unglücklichen mehr übrigblieben, über die sie herrschen und
die sie verhöhnen könnte, im Vergleich zu deren Elend ihr eigenes Glück
in besonderem Glanze erstrahlen soll und die sie in ihrer Not durch
Entfaltung ihres eigenen Reichtums quälen und aufbringen möchte. Die
Hoffart, eine Schlange der Hölle, nistet sich in die Herzen der Menschen
ein, hält sie wie ein Hemmschuh zurück und hindert sie, einen besseren
Lebensweg einzuschlagen. Dieses Gewürm hat sich zu tief ins Menschenherz
eingefressen, als daß es sich ohne Mühe wieder herausreißen ließe. Und
deshalb freue ich mich, daß wenigstens den Utopiern diese Staatsform
zuteil geworden ist, die ich von Herzen gern überall sehen möchte. Sie
haben sich Lebenseinrichtungen geschaffen, mit denen sie das Fundament
eines Staates legten, dem nicht nur das höchste Glück, sondern, nach
menschlicher Voraussicht wenigstens, auch ewige Dauer beschieden ist.
Seitdem sie nämlich im Inneren Ehrgeiz und Parteisucht ebenso wie die
anderen Laster mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben, droht keine
Gefahr mehr, daß sie unter innerem Zwist zu leiden haben, der schon
vielfach die alleinige Ursache des Unterganges von Städten gewesen ist,
deren Macht und Wohlstand trefflich gesichert war. Solange jedoch die
Eintracht im Inneren und die gesunde Verfassung erhalten bleiben, ist
der Neid auch aller benachbarten Fürsten nicht imstande, das Reich zu
zerrütten oder zu erschüttern, was er vor langer Zeit zwar schon zu
wiederholten Malen, aber immer ohne Erfolg versucht hat.«

Als Raphael mit seinem Bericht zu Ende war, fiel mir gar mancherlei ein,
was mir an den Sitten und Gesetzen jenes Volkes überaus sonderbar
vorkam, nicht nur an der Art und Weise seiner Kriegführung, an seinem
Gottesdienst und seiner Religion und an noch anderen seiner
Einrichtungen, sondern auch ganz besonders an dem eigentlichen Fundament
seiner ganzen Verfassung, nämlich an seinem gemeinschaftlichen Leben und
der gemeinschaftlichen Beschaffung des Lebensunterhalts, und zwar unter
Ausschaltung jedes Geldverkehrs. Beseitigt doch schon diese letzte
Bestimmung für sich allein von Grund aus jeden Adel, jede Pracht, jeden
Glanz, jede Würde, also den der öffentlichen Meinung nach wahren Glanz
und Schmuck eines Staates. Ich wußte jedoch, daß Raphael vom Erzählen
müde war, und ich war nicht ganz sicher, ob er einen Widerspruch gegen
seine Meinung vertragen würde, zumal da ich daran dachte, wie er gewisse
Leute deshalb getadelt hatte, weil sie nach seiner Ansicht Angst
hatten, nicht für klug genug zu gelten, wenn sie nicht an den Einfällen
anderer Leute etwas fänden, woran sie herumzausen könnten. Deshalb lobte
ich nur die Verfassung jenes Volkes und die Erzählung Raphaels, nahm ihn
bei der Hand und führte ihn ins Haus zum Essen; doch sagte ich vorher
noch, wir würden wohl noch ein anderes Mal Zeit finden, über die
gleichen Dinge tiefer nachzudenken und uns ausführlicher mit ihm zu
unterhalten. Ich wollte nur, es käme noch einmal dazu! Bis dahin kann
ich zwar nicht allem zustimmen, was dieser übrigens unbestritten
hochgelehrte Mann von reifer Lebenserfahrung gesagt hat, doch gestehe
ich ohne weiteres, daß ich sehr vieles von der Verfassung der Utopier in
unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Allerdings muß ich das wohl
mehr wünschen, als daß ich es hoffen dürfte.

Ende.

Ende der Nachmittagserzählung des Raphael Hythlodeus über die Gesetze
und Einrichtungen der bisher nur wenigen bekannten Insel Utopia, durch
den hochberühmten und hochgelehrten Herrn Thomas Morus, Bürger und
Vicecomes von London, bekanntgegeben.

[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
  jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
  steht.

unserer Welt gegehört -- sie nennen uns Ultraäquinoktialen --, außer daß
unserer Welt gehört -- sie nennen uns Ultraäquinoktialen --, außer daß

regiert zu werden, wie sich ja auch niemand gern mit einem anderen in
regiert zu werden, wie sich ja auch niemand gern mit einem anderen

Qual sei, und sich in Zuversicht und gutes Mutes von diesem traurigen
Qual sei, und sich in Zuversicht und guten Mutes von diesem traurigen

]





End of the Project Gutenberg EBook of Utopia, by Thomas Morus

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UTOPIA ***

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law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     https://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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