The Project Gutenberg eBook of Du Schwert an meiner Linken
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Title: Du Schwert an meiner Linken
Ein Roman aus der deutschen Armee
Author: Rudolph Stratz
Release date: May 6, 2025 [eBook #76032]
Language: German
Original publication: Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1912
Credits: Peter Becker, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DU SCHWERT AN MEINER LINKEN ***
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Anmerkungen zur Transkription.
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Du Schwert
an meiner Linken
Ein Roman aus der deutschen Armee
von
Rudolph Stratz
59.-68. Tausend
[Illustration]
Stuttgart und Berlin
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
1923
Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten
Für die Vereinigten Staaten von Amerika:
Copyright, 1912, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin
1
Viel Worte machte der Oberst von Ottersleben nicht, als er aufstand,
um an der Festtafel im Kasino seines Regiments das Hoch zu Kaisers
Geburtstag auszubringen. Was hätte er auch sagen sollen, was nicht
heute, am 27. Januar, in der Armee, vom Bodensee bis zur Weichsel,
selbstverständlich war? Er hielt das Sektglas in der Hand und
überschaute den langen, hufeisenförmigen Tisch, der heute, wo alle
Verheirateten mitspeisten, wo die Ärzte, wo die Zahlmeister, die man
sonst hier nie sah, gekommen waren, den ganzen Saal bis an die Türen
hin füllte. Dort drüben saß, unter der palmeneingerahmten Büste des
Kaisers, zum Einsatz bereit, die Musik. Der Stabshoboist Schickedorn,
der mit seinen Backenbartstreifen und dem rötlich jovialen Gesicht
wie ein Potsdamer General aussah, hielt den Taktstock in der Rechten
und schaute erwartungsvoll hinüber nach dem Regimentskommandeur.
Alle Offiziere hatten sich erhoben. Sie standen in langen Reihen,
mit gesammelten, dienstlich ernsten Gesichtern. Sechzigfach und
öfter wiederholte sich der Namenszug des Infanterieregiments
Burggraf Friedrich von Nürnberg auf den Stabsoffiziersraupen, den
Leutnantsepauletten, den Achselklappen der Junker unten am Tisch. Es
war tiefe Stille. Durch die klang kurz und scharf die Stimme des
Obersten: »Seine Majestät der Kaiser und König, unser allergnädigster
Kriegsherr, hurra!«
»Hurra!«
»Und abermals: Hurra!«
»Hurra!«
»Und immerdar: Hurra!«
»Hurra!«
Es dröhnte wie ein einziger donnernder Ruf. Dann standen sämtliche
Herren andächtig, das Glas in der Hand. Die Musik spielte einen Tusch,
daß die Scheiben klirrten, und ging dann feierlich in das »Heil dir im
Siegerkranz« über. Als das endete, wurden sechzig, siebzig Sektkelche
bis auf die Nagelprobe leer. Dann setzte man sich wieder. Lachen,
Leben, Lärmen flackerte rasch da und dort auf und sprang wie ein
Lauffeuer die Tafel entlang. Je weiter nach unten an ihr, desto röter
waren schon die Gesichter, desto lauter das Gespräch. Dem Fähnrich
von Baldring, der dicht vor dem Leutnant stand, hatten sie zu viel
vorgetrunken. Er nickte schlaftrunken nach vornüber, erschrak dann
und saß eine Weile mit aufgerissenen Augen stramm aufrecht. Neben
ihm lächelte der Zahlmeister Brauske feucht und gerührt vor sich
hin. Ihn hatte niemand zum Trinken gezwungen. Er tat es von selber.
Weiter aufwärts war die ›scharfe Ecke‹. Dort gab der Assistenzarzt
Doktor Taubmann, ein alter, mit Schmissen übersäter Korpsstudent,
das Beispiel und legte seinen Nachbarn, den Leutnants Gollenius und
von Solkowski, ein mörderisches Tempo in der Sektvertilgung vor und
sprach zu seinem Gegenüber, dem Oberleutnant von Logow, mit einem
Kopfschütteln tiefster Mißbilligung: »Ich weiß nicht, Herr von Logow
... Sie sind doch sonst so ein hervorragender Zeitgenosse ... Daß Sie,
wie ich einwandfrei diagnostiziert habe, von der Suppe ab Ihren Wein
zu Dreiviertel mit Selters mischen, das ist, verzeihen Sie das harte
Wort: schnöde! Es erzeugt beim unbefangenen Beobachter Magensäure ...
Es ist ...«
»Logow trinkt doch sonst überhaupt nichts!« sagte Gollenius.
Erich von Logow zuckte nur die Achseln. Er sprach nie viel. Er ging
nicht leicht aus sich heraus. Er war kein Mann für Kasino-Ulk. Er
war zu selbstbewußt dafür und zudem der älteste Oberleutnant des
Regiments, schon zu Anfang der Dreißig. Nach seinem ganzen Wesen hätte
er mehr an das obere Ende der Tafel gehört, dahin, wo die dicken
Epauletten saßen, die Flaschen spärlicher standen, die Unterhaltung
gemessener geführt wurde und der Oberst von Ottersleben, immer halb im
Dienst, zu seinem Nachbarn, dem Oberstleutnant Wahrmund, sagte: »Ich
will dieser Tage mal raus mit dem Regiment ... in den Schnee. General
von Glümke murmelte gestern schon was von Winterspeck ... Motten im
Pelz ... Na ... Sie kennen ihn ja ...«
Der Oberstleutnant bejahte diplomatisch. Er wußte: Der
Brigadekommandeur von Glümke, der unbekümmerte Frontsoldat,
Junggeselle und Jagdreiter, und Oberst von Ottersleben, diese
Autorität in Gewehrkunde und Schießausbildung, paßten nicht recht
zueinander. Herr von Ottersleben hatte in seinem Äußeren durchaus
nichts Unmilitärisches. Das uralte Soldatengeschlecht, aus dem er
stammte, verleugnete er in Sprache und Haltung nicht. Aber seine
Züge waren, bei aller dienstlichen Schärfe, fein, von kleinen
Fältchen und Äderchen durchzogen, der kurze Schnurrbart und das
Haar an den Schläfen leicht angegraut, in den klugen Augen manchmal
ein mehr sinnender als befehlender Ausdruck, wie er jetzt über die
lange Tischreihe seiner Herren hinblickte, diese sechzig, siebzig
so verschiedenen Menschen, die ihm alle, vom Stabsoffizier bis zum
Fahnenjunker, mit ihrem Wohl und Wehe anvertraut waren, für die
er verantwortlich war, ohne doch immer in ihr Inneres dringen zu
können, und immer in der Hand des Zufalls, der ihm diese oder jene
Überraschung durch einen Untergebenen bringen konnte.
An der Tafel war der Lärm und das Gelächter immer lauter geworden. Die
Musik schmetterte dazwischen. Der Oberstleutnant mußte seine Stimme
verstärken.
»Dies Jahr haben wir die drittbesten Schießresultate der Armee, Herr
Oberst! Voriges Jahr die zweitbesten! ... Ein Regiment, das so steht,
das braucht wirklich nichts zu fürchten!«
Der Oberst von Ottersleben nickte.
»Ja.'s ist komisch, lieber Wahrmund ... Wenn ich 'nen Truppenteil
unter mir hatte, so konnt' er auf einmal schießen. So ging es mir als
Kompaniechef, als Bataillonskommandeur, und jetzt mit dem Regiment.
Aber freilich ...«
Er verstummte und nahm einen Schluck. Es war, als liefe eine
Wolke über seine Züge. Aber es war nur der Schatten der großen
schwarz-weiß-roten Fahne, die sich draußen vor dem Fenster im
Winterwind hin und her blähte. Dann versetzte er: »Das ist nun das
fünfunddreißigste Mal, daß ich Kaisers Geburtstag in der Armee feiere!
Wie oft nun noch, das steht beim lieben Gott und dem Militärkabinett
...«
»Aber Herr Oberst ...« Drei Majore riefen es zu gleicher Zeit. Sie
lachten dabei. Der Regimentskommandeur stimmte mit ein. Die trübe
Anwandlung war vorüber, die so gar nicht zum Festjubel des heutigen
Tages paßte. Der dicke Oberstabsarzt Doktor Sand aber brummte halblaut
zu seinem Nachbarn: »Es ist ein Jammer, daß so ein Mann sich auf dem
Pferd so in acht nehmen muß!«
Der andere nickte. Es war kein Geheimnis: Der Oberst von Ottersleben
hatte einen Knacks in der Gesundheit, der sich im Sattel fühlbar
machte. Und von drüben murmelte jemand, aus denselben Gedanken heraus:
»Olaf reitet freilich wie der Teufel!«
Olaf -- das war der Vorname des Generalmajors von Glümke, unter dem
er seit vierzig Jahren in der ganzen Armee bekannt war. Von den
verrückten Streichen seiner Leutnants- und Hauptmannszeit in der Garde
bis jetzt hinauf in Rang und Würden, die ihn keineswegs hinderten, der
Alte zu sein.
Der Oberst von Ottersleben hatte nichts von dem Gespräch vernommen. Er
hatte sich halb erhoben und rief in das allgemeine Stimmengeschwirr:
»Gesegnete Mahlzeit, meine Herren!«
Das war das Zeichen für die Zigarre. Der Saal hüllte sich in blauen
Rauch. Stühle wurden gerückt. Man setzte sich in Gruppen zusammen,
beim Dampfen des Kaffees zwischen dem Perlen der Sektgläser. Andere
traten in die Nebenräume, ein paar mit bloßem Kopf hinaus in den
Kasinogarten in den Schnee, um die erhitzten Stirnen abzukühlen.
Drinnen spielte die Musik den Pariser Einzugsmarsch. Der dicke kleine
Hauptmann Neugereuth war auf das Podium geklettert und hatte einige
Hoboisten verdrängt, um seiner Leidenschaft, die große Pauke zu
schlagen, zu frönen. Er zählte krampfhaft mit und wirbelte dann doch
zwei Takte zu früh los. Aber es schadete nichts. Denn an Stelle des
Kapellmeisters Schickedorn dirigierte der musikalisch veranlagte lange
Regimentsadjutant, schwenkte mit verklärtem Gesicht den Taktstock,
und die Musikanten folgten ihm dienstlich entschlossen durch dick und
dünn. Im Lesezimmer lag der Benjamin des Regiments, der Fahnenjunker
Reiffenscheidt, noch ein halbes Kind, erschöpft auf dem Kanapee,
mit dem Kopf auf der Kreuzzeitung und den Lackstiefeln in der Luft.
Der Leutnant Griller, der Kraftmensch des Kasinos, zeigte sein
Renommierstück und hob einen Stuhl samt einem darauf sitzenden Herrn
mit dem linken Arm frei in die Höhe. Im großen Saal trieb der Leutnant
und Bataillonsadjutant Hase die Ordonnanzen, rascher aufzuräumen, denn
es zuckte ihm in den Tanzbeinen. Es war alles so, wie in Hunderten
anderer Kasinos, in allen Teilen des Deutschen Reiches, in denen
dreißigtausend Offiziere jetzt um dieselbe Zeit den höchsten Festtag
der Armee begingen.
Der Oberleutnant Erich von Logow war auf seinem Platze sitzen
geblieben. Er rauchte eine Zigarre, was er sonst selten tat, und
schaute vor sich hin. Da hörte er neben sich die Stimme einer zu ihm
gesandten Ordonnanz: »Der Herr Oberst möchten dem Herrn Oberleutnant
zutrinken!«
Er schnellte empor, tat, dienstlich stramm stehend, seinem
Regimentskommandeur Bescheid, hob das geleerte Glas und setzte sich
wieder.
Oben am Tisch sagte der Major Rumpach, ein blondbärtiger Riese, mit
seiner Grabesstimme: »Auffallend tüchtiger Mensch, der Logow!«
Der Major war eben erst von einem Urlaub zurückgekehrt, auf dem er
sich von einem tüchtigen Rumpler mit dem Pferde erholt hatte. Er
sollte eigentlich erst vom ersten Februar ab wieder Dienst tun, und
war nur heute, zur Feier des Tages, schon in Uniform erschienen.
Logow stand in seinem Bataillon. Er blickte nach dem jungen Offizier
hinüber. Der saß da, ohne darauf zu achten. Er hatte ein preußisches
Militärgesicht. Kurzer dunkler Schnurrbart, feste dunkle Augen, um den
Mund ein Zug von Zurückhaltung. Seine Gestalt war über Mittelgröße,
straff und elastisch. Es haftete ihm etwas In-sich-Versunkenes an. Er
redete nicht, sondern hörte den anderen zu, die um ihn Witze rissen
und lachten, und schien mit seinen Gedanken irgendwo in der Ferne
zu sein. Es war Strenge und Reife in seinem ganzen Wesen. Der Major
Rumpach dachte sich: Wenn es bei uns in der Armee Generale von dreißig
Jahren gäbe, dann müßten sie so aussehen! Neben ihm sagte der Oberst:
»Der Logow? ... Ja, ich wollte, ich hätte mehr von der Sorte im
Regiment! ... Wir legen mit ihm noch Ehre ein!«
»Herr Oberst haben ihn ja auch besonders zu sich herangezogen!«
»Ja. Er verkehrt viel in meinem Hause!«
Der andere frug nicht weiter. Es hätte indiskret aussehen können.
Oberst von Ottersleben besaß drei erwachsene Töchter ... Zwei
von ihnen kamen nur in Frage. Die dritte, die jüngste, war schon
glückliche Braut. Der Major wandte sich an den Regimentskommandeur und
forschte mit seinem tiefen Baß: »Wann heiratet denn Fräulein Dora,
Herr Oberst?«
Herr von Ottersleben lachte.
»Im Frühjahr! Bei mir ist's die verkehrte Welt, lieber Rumpach. Ich
brech' mein Vierteldutzend von hinten an! Na, wie Gott will! Wenn man
drei Mädels unter die Haube zu bringen hat, darf man nicht pedantisch
sein. Ich hätt's ja auch nicht gedacht, daß eine von meinen Mariellen
gerade zu den Pionieren verschlagen würde ...«
Er hatte sein ganzes Leben in bevorzugten Truppenteilen verbracht. Es
gab ihm immer einen gewissen inneren Ruck, wenn er sich vorstellte,
daß sein Dorle, das Nesthäkchen der Familie, künftighin schlicht
und recht Frau Grotjan heißen würde, so wenig er an sich gegen den
Leutnant Grotjan von dem dreißigsten Pionierbataillon einzuwenden
hatte. Er besaß nun einmal eine Schwäche für alte Namen wie
Ottersleben oder Logow, in denen es gleich Trompetenfanfaren von
Fehrbellin und Roßbach nachklang. Mit unwillkürlichem Wohlwollen
streifte sein Auge wieder den Oberleutnant Erich von Logow drüben
an der schon halb verlassenen Tafel, der eben mit zusammengepreßten
Lippen, in einer seltsamen Ungeduld, auf die Uhr sah, als ob er in
nächster Zeit etwas Besonderes erwartete. Neben ihm erkundigte sich
der Major: »Na ... und der älteste filius ... der Artillerist?«
»Mein Sohn?« sagte der Oberst. »Gott ... er macht sich! Er ist vom
ersten April ab nach Berlin kommandiert ... zur militärtechnischen
Akademie! ... Ich hätt' ihn ja lieber noch hier unter der Fuchtel,
in der gleichen Garnison behalten. Sein Oberst und ich sind alte
Kriegsschulkameraden. Da macht er mir keine Wippchen vor. Aber
da draußen in Berlin ... das ist heutzutage ein heißer Boden für
einen, der an sich schon Rosinen im Kopf hat, wie der Otto! Das weiß
ich: meinen Jüngeren, den Lichterfelder Kadetten, geb' ich lieber
seinerzeit auch für ein schönes Regiment in der Provinz ein. Na --
vorläufig soll er mir mal erst die Selekta absolvieren! ...«
Der Oberst hatte laut zu seinem Nachbarn sprechen müssen, so rauschend
schmetterte die Musik den Radetzkymarsch durch den raucherfüllten
Saal. Einer der jüngeren Herren war auf einen Anrichtetisch an der
Seite geklettert und tanzte da oben, wie er es in Österreich gesehen,
zwischen abgeräumten Tellern und leeren Gläsern im Takt, der Hauptmann
Neugereuth schlug begeistert die Pauke, der lange Regimentsadjutant
dirigierte, mit hocherhobenem Arm wie ein Feldherr. Dann plötzlich
brach der k. k. Marsch in einem wirren Durcheinander ab, der
Oberleutnant Rudicke hatte jählings den Taktstock hingelegt. Er hatte
eine Ordonnanz bemerkt, die mit einer Depesche auf einem Teller quer
durch den Saal auf ihn zusteuerte, und sprang mit einem Hechtsatz vom
Podium und ihr entgegen.
»Telegramm aus Berlin? ... An das Regiment? ... Herr Oberst ... das
Militärwochenblatt ist heraus!«
Das Militärwochenblatt! ... Das große Ereignis zu Kaisers Geburtstag!
Die endlose Reihe von Beförderungen, Ordensverleihungen, Adelungen,
Gnadenbeweisen aller Art, die heute Spalten um Spalten und Seiten um
Seiten der dickleibigen Extraausgabe füllten, während da drüben, fern
in Berlin, wo jetzt eben die dreiundzwanzig kommandierenden Generale
dem Kriegsherrn die Glückwünsche der Armee überbrachten, Tausende von
Offizieren sich zur Ausgabe der Parole: ›Es lebe Seine Majestät‹ im
Zeughaus um ihn scharten, schwarzwimmelnde Menschenmassen die Linden
füllten. Das Militärwochenblatt! Im Augenblick lief das Wort durch
die Räume des Kasinos. Man drängte sich durch die Türen herein. Der
Saal war voll von Uniformen -- von Stimmengewirr -- Erwartung -- dann
Schweigen. In ihm die trockenen Worte des Obersten: »Na -- lesen Sie
mal, Rudicke!«
Der Regimentsadjutant riß das Telegramm auf und räusperte sich:
»Regiment Burggraf von Nürnberg ... Gratuliere gehorsamst, Herr Oberst
... Roter Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife ...«
Oberst von Ottersleben nahm gelassen die Händedrücke von allen Seiten
entgegen. Es war keine große Überraschung. Die Auszeichnung kam ihm
nach seinem Dienstalter zu. Er winkte: »Na -- nu weiter ...«
»Major Rumpach unter Versetzung in das Infanterieregiment 209 zum
Oberstleutnant befördert.«
Ein neues Hallo! Der blondbärtige Riese war im Regiment sehr beliebt.
»Uff!« sagte er, sichtlich erleichtert, mit seiner Bärenstimme. »Bis
hierhin hat uns Gott gebracht in seiner großen Güte! Danke gehorsamst,
meine Herren! Danke Ihnen allen! Tut mir herzlich leid, dies schöne
Regiment zu verlassen! Behalten Sie mich in freundlicher Erinnerung,
wie ich Sie alle! Grob -- aber 'n guter Kerl -- nicht wahr? ... Na --
Hände her!«
Er war sichtlich ergriffen, während er mit seiner Riesenfaust eine
Rechte nach der anderen drückte. Der Oberst hatte inzwischen für sich
weiter gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sprach, kopfnickend und
halb andächtig: »Donnerwetter!«
»Was ist denn? ... Was ist?«
»Logow ... kommen Sie mal her!«
Erich von Logow trat ein paar Schritte näher heran. Er hatte sein
gewohntes, unbewegtes Gesicht. Aber er war auffallend blaß geworden.
Der Adjutant hielt die Depesche in der Hand und las, in der tiefen
Stille jedes Wort betonend: »Oberleutnant von Logow unter Beförderung
zum Hauptmann in den Großen Generalstab versetzt!«
Es war kein Lärmen und Gelächter wie bisher. Es verbreitete sich jene
Stimmung, der der Oberst selber mit dem Worte »Donnerwetter« Ausdruck
gegeben. Aufrichtiges Händeschütteln, ernste Glückwünsche. Da stand
nun einer der Auserwählten der Armee. Er hatte das Höchste erreicht,
was ihm nach seinem Dienstalter möglich war. Er war vor Tausenden
bevorzugt. Er trug von nun ab die breiten Karmoisinstreifen des Großen
Generalstabs, zu dem er schon einmal, nach der Kriegsakademie, ein
Jahr zur Dienstleistung kommandiert gewesen. Er beherrschte sich. Er
nahm ruhig die Händedrücke der Vorgesetzten und Kameraden entgegen.
Nur eine Sekunde hatte es in seinen dunklen Augen vom Triumph eines
unbezähmbaren Ehrgeizes aufgeleuchtet. Dann war das wieder in sich
erloschen. Der Oberst von Ottersleben hielt seine Rechte fest und
sprach laut und herzlich: »Alles Gute auf den Weg, mein lieber Logow!
Wir werden Sie hier recht vermissen! Aber es ist eine Ehre für einen
Truppenteil, seine Herren an die große Bude am Königsplatz abzugeben!
Darum betrauern wir Ihr Scheiden nicht. Sie waren eine Zierde des
Regiments -- ein Vorbild für die jüngeren Herren! ... Na -- Gott mit
Ihnen!«
Ein neuer Lärm brach hinter seinen Worten los. Der Fähnrich Freiherr
von Baldring war Offizier geworden. Er hatte Wein im Kopf, aber
nicht so viel, daß er nicht dem großen Augenblick gewachsen gewesen
wäre. Strahlend und beinahe ungläubig über die eigene Wandlung stand
er, zum erstenmal unter seinesgleichen, bei allen Glückwünschen
unwillkürlich stramm, sich immer noch als Untergebener fühlend, und
die neuen Kameraden, die jüngsten Offiziere, die ihm das Du anboten,
mit »Herr Leutnant« anredend. Mit seinen Epauletten, die daheim in
seiner Kasernenstube schon samt Waffenrock und Schärpe seit Tagen, des
großen Augenblicks harrend, bereit lagen, war das Militärwochenblatt,
soweit es das Infanterieregiment Burggraf betraf, erschöpft. Der
lange Adjutant hatte sich wieder auf die Musikestrade geschwungen.
Er kommandierte einen Tusch. Dreimal rauschte es auf. Ein Hurra
hinterher. Zehn, zwölf Leutnantsarme hatten den Major Rumpach erfaßt,
auf die Schultern gehoben und trugen ihn im Triumph durch den Saal.
Der Riese saß da oben etwas ungemütlich, aber er machte gute Miene
zum bösen Spiel und strampelte nur einmal, mit seinem Kellerbaß die
Musik übertönend: »Donnerwetter, Kinder ... ihr zwickt mich ja in den
Hintern!«
Der Leutnant Freiherr von Baldring trank inzwischen immer noch, etwas
unsicher auf den Beinen, mit verschlungenem Arm aus Sektkelchen
Brüderschaft. Im Saal flammte das elektrische Licht auf. Denn draußen
brach schon in leichtem Schneegestöber der frühe trübe Winterabend
herein. Die Stühle wurden zur Seite gerückt. Man wollte walzen. Der
Leutnant von Solkowski chassierte schon für sich, mit den Fingern wie
mit Kastagnetten schnippend, über das glatte, an einzelnen Stellen
vom Wasser aus den Eiskübeln dunkle Parkett. Ein paar der jüngsten
Leutnants und die Junker banden sich weiße Taschentücher um den Arm,
als Zeichen, daß sie als Damen tanzten. Oben auf der Estrade gab
der Stabshoboist Schickedorn, dienstlich ernst, mit wichtiger Miene
das Zeichen zur »Schönen blauen Donau«. Ein kalter Luftzug traf
dabei seinen Nacken. Die Glastür, die zur Sommerveranda des Kasinos
und hinaus in den verschneiten Garten führte, hatte sich für einen
Augenblick geöffnet. Der Hauptmann von Logow war durch sie in das
Freie getreten. Er stand draußen in der kalten Dämmerung, barhaupt, im
knappen Waffenrock, die Hände in den Taschen, und schaute stumpf vor
sich hin ins Weite, in die unbestimmte ferne Lichterhelle der großen
Provinzgarnisonsstadt, deren verworrenes Geräusch bis in die Stille
des Gartens klang. Sein strenges und ernstes Profil zeichnete sich
scharf vom Zwielicht ab. Der Oberst von Ottersleben sah es durch die
Fenster des Vorraums, wo er sich eben von dem Oberleutnant Rudicke in
den Mantel helfen ließ, um auf einen Sprung nach Hause zu gehen, und
meinte kopfschüttelnd zu seinem Adjutanten: »Ein sonderbarer Mensch,
der Logow! Da steht er nun wieder! Finden Sie nicht auch, daß er ein
bißchen zu reserviert ist, Rudicke?«
Der Adjutant hatte sich seinem Kommandeur angeschlossen und schritt zu
seiner Linken die Straße entlang.
»Sehr zurückhaltend, gewiß!« erwiderte er. »Aber trotzdem im Regiment
sehr beliebt. Man weiß eben, was in ihm steckt. Na -- nun hat er ja
das Ziel seines Ehrgeizes erreicht!«
»Ja -- das hat er!« wiederholte Herr von Ottersleben sinnend.
Dann ging er eine Weile schweigend dahin. Sie waren jetzt in
dem belebtesten Stadtteil. Festliches Menschengewimmel um sie,
illuminierte Schauläden, die Häuser bunt von Fahnen, die Straßen
farbig von Uniformen aller Truppenteile, Dragoner, Feldartilleristen,
Pioniere, Trainsoldaten der großen Garnison. Der Oberst von
Ottersleben hatte fortwährend den weißbehandschuhten Zeigefinger
an den Helm zu legen. Von den vorbeikommenden Infanteristen machte
jeder zweite als Angehöriger des Infanterieregiments Burggraf von
Nürnberg Nummer 188 in jähem Zusammenfahren vor ihm Front. Im großen
Festsaal des Hotels zum ›König von Preußen‹ auf dem Marktplatz waren
die Fenster glänzend hell. Innen sah es aus wie im Kasino. Sechzig,
siebzig Offiziere saßen da in Wehr und Waffen an langer Tafel. Aber
es waren die Uniformen aller möglichen Regimenter durcheinander.
Die Herren des Beurlaubtenstandes feierten da unter dem Vorsitz des
Bezirkskommandeurs Kaisers Geburtstag, und auf der anderen Seite des
Gebäudes, in einem Nebensaal, verrieten dicht vorgezogene Vorhänge,
würdevolle Ruhe, ein Schwarm von Kellnern und Ordonnanzen den Raum, in
dem die Generalität, nur wenige Köpfe stark, tafelte.
Während so die ganze Garnison den höchsten Festtag der Armee beging,
hatte Frau Oberst von Ottersleben ihrerseits die Damen des Regiments
Burggraf um sich versammelt, nicht, wie es früher ausschließlicher
Brauch, nur zu einem großen Nachmittagstee, sondern zu einem richtigen
Festessen, einem Diner, bei dem das männliche Element lediglich durch
die aufwartenden Burschen vertreten war. Die Räume ihrer Dienstwohnung
waren groß genug für die Erschienenen -- die Majorinnen, fast ein
Dutzend Hauptmanns-, ein gutes Dutzend Leutnantsfrauen, die drei
Töchter des Hauses und ein paar andere junge Mädchen. Den Damen hatte
das Ungewohnte eines Diners ohne Herren Spaß gemacht und als Ausnahme
die Stimmung angeregt. Sie hatten in langen Reihen gesessen und
gelacht und getafelt, ganz wie ihre Herren drüben im Kasino, und auch
wie jene für ihre Verhältnisse ganz munter Sekt getrunken. Zum Schluß
war noch eine besondere Überraschung erschienen: eine große Eisbombe,
auf der in rosafarbener Masse ein Miniaturstandbild des Kaisers
prangte. Frau von Ottersleben war aufgestanden. Mit ihr alle ihre
Gäste. Sie hob das Glas und sagte mit lauter Stimme: »Meine Damen!
Seine Majestät der Kaiser und König -- er lebe hoch!«
»Hoch! ... Hoch! ... Hoch!« Es folgte kein Orchestertusch hinterher.
Aber im Innern der Bombe begann plötzlich eine dort verborgene
Musikuhr zu spielen:
»Heil Dir im Siegerkranz ...«
und klang in feinen silbernen Tönen weiter, während das Eis die Runde
um den Tisch machte, und die blonde Frau Leutnant Griller, die einen
hübschen Sopran besaß, sang hellauf mit und die anderen schlossen sich
an:
»Heil Dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands --
Heil Kaiser Dir!«
Nun wurde der Kaffee eingenommen. Die Damen saßen in den Zimmern
verteilt. Im Salon, um das Sofaarrangement herum, Frau von Ottersleben
in ihrem schwarzen Spitzenkleid mit den Stabsoffiziersgattinnen und
den anderen gesetzteren Gästen, trotz ihrer Mitte der Vierzig schlank
und straff wie ihre hochgewachsenen beiden ältesten Töchter -- die
Jüngste, die Braut, war im Emporschießen stecken geblieben und kleiner
und rundlicher geraten -- die Hände im Schoß zusammengelegt, ein müdes
und leidendes, aber verbindliches Lächeln auf den etwas spitzen,
distinguierten Zügen. Die Leutnantsfrauen waren da und dort in Gruppen
beisammen und plauderten.
Im letzten Zimmer hatten sich die jungen Mädchen zusammengehockt und
schwatzten und kicherten durcheinander. Ein feiner Zigarettendampf
schwebte über den blonden, braunen, dunklen Köpfen. Die farbigen
Kleider raschelten. Es war zu komisch -- eine Gesellschaft ohne
Leutnants. Man konnte sich die Welt schwer ohne Leutnants vorstellen.
Wie von selbst bildete Ulla, die älteste der drei Töchter des
Hauses, den Mittelpunkt. Sie war es immer, in jeder Gesellschaft,
als die anerkannte Schönheit der Garnison. Schon seit drei Wintern
oder vier, wenn man den einen dazwischen nicht rechnete, den
sie, ihrer angegriffenen Brust wegen, in einem Höhenkurort des
Schwarzwalds verlebt hatte. Sie besaß jetzt noch, im Verhältnis zu
ihrer hohen, weißgekleideten Gestalt, sehr schmale Schultern und
hielt sich nicht ganz aufrecht. Sie war brünetter als die anderen.
Ihr klassisch schönes, ovales Gesicht mit den großen, dunklen Augen
zeigte ein eigentümliches alabasternes Weiß, wie die Blutleere einer
griechischen Statue. Auch in ihren Bewegungen war eine plastische
Ruhe -- eine monumentale Gleichgültigkeit -- halb bewußt das Gefühl
der Überlegenheit über die anderen -- halb das Abgetanztsein einer
Ballkönigin. Sie sprach nicht viel und sah leer vor sich hin. Sie
langweilte sich unter den jungen Mädchen. Sie hatte sich mit denen
wenig zu sagen. Sie wurde erst lebendig, wenn Herren da waren --
Leutnants in ihre Nähe kamen.
In einer Ecke dieses Zimmers war das Telephon und klingelte plötzlich
los. Von den dienstbaren Geistern war niemand in der Nähe. Dorle, die
Jüngste, lief selbst an den Apparat. Sie war ein resoluter kleiner
Kerl -- rund, blond und mollig, in ihrem rosa Fähnchen, einer Art
Kimono mit viereckigem Halsausschnitt und kurzen Ärmeln. Sie horchte
und schrie dann plötzlich: »Hurra ... Mama, komm mal her -- sie
telephonieren aus dem Kasino ...: Papa hat den Roten Adler dritter
Güte gekriegt!«
»Dorle ... was ist das wieder für ein burschikoser Ausdruck ... Du
bist doch Braut ...« Ihre Mutter kam nicht weiter. Sie mußte die
Glückwünsche der Damen in Empfang nehmen. Die Kleine kümmerte sich
auch nicht viel um den Wischer. Sie lauschte wieder am Hörrohr und
sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Du ... Maxe ...! ... Das betrifft
dich! Wie? Bitte? ... Ich hab' nicht recht verstanden ...«
Dabei drückte sie ihrer mittleren Schwester Maximiliane halb mit
Gewalt die Hörmuschel gegen das Ohr und stellte sich lauernd
seitwärts. Gleich darauf trat jene stumm, unwillig den Kopf in den
Nacken werfend, fast erschrocken einen Schritt zurück und hängte das
Rohr an den Haken, und Dorle Ottersleben verkündete triumphierend den
anderen: »Logow ist nämlich Hauptmann im Großen Generalstab geworden!
Höllendusel ... Was?«
Einige der jungen Mädchen lachten vielsagend. Ein paar, die der
Familie fremder waren, machten harmlose Gesichter, als wüßten sie von
nichts. Alle Blicke waren auf Maximiliane von Ottersleben gerichtet,
die anscheinend gleichgültig dastand. Sie war hoch und schlank wie
ihre älteste Schwester, die Schönheit. Sie ähnelte ihr auch. Sie war
ihr Gegenstück in Hellblond und mit blauen Augen. Aber neben deren
reifer, beinahe frauenhafter Blüte kam sie nicht recht zur Geltung.
Sie verblaßte, weil sie noch nicht voll entwickelt war. Sie war noch
zu mager aufgeschossen, in den plissierten Fältchen ihres hellblauen
Kleides. Ihr schmales Gesicht zeigte einen herben, unregelmäßigen
Reiz, so als hatten sich ihre Züge noch nicht zu ihrem eigentlichen
Ausdruck zusammengefunden und belebt. Sie war zweiundzwanzig. Aber
sie sah jünger aus als Dorle, die Kleinste, die in ihrer Art schon
ganz mit dem Leben und für das Leben fertig war. Sie blickte auf die
lachenden, rotbäckigen Mädchengesichter um sie her, und ihre Wangen
zeigten keine Spur einer verräterischen Färbung, während sie frostig
sagte: »Was wollt ihr denn eigentlich? Was geht denn das bloß mich an,
möcht' ich nur wissen!«
Dabei zuckte sie verächtlich die Achseln in einer instinktiven Scheu,
daß man ihr zu nahe treten könne. Die Mädchen schwiegen und tauschten
vielsagende Blicke, und Dorle rang die Hände.
»Nun tut sie doch, weiß Gott, als ob sie aus dem Mond käme!«
Dann verstummte auch sie, auf einen strengen Blick ihrer Mutter,
die sich eilig nach dem Salon zuwandte. Die älteren Damen wollten
sich verabschieden. Die übrigen folgten ihrem Beispiel. Es gab ein
Stimmengewirr auf Flur und Treppe, ein Mäntelsuchen und Wagenholen.
Dienstmädchen und Burschen liefen auf und ab. Das ganze Haus war in
Bewegung.
Und unterdessen lag Maxe von Ottersleben einsam in ihrem stillen
dunklen Mädchenstübchen vor ihrem Bett auf den Knien und preßte die
Stirne in das kühle Leinen. Das Fenster ihres Kämmerchens stand trotz
der Kälte offen. Es ging auf eine kleine Hintergasse hinaus. Die lag
leer und schwarz. Über ihr flimmerten durch die vom Schneetreiben
geklärte Luft winterhell die Sterne. Unten schlürften Soldaten
vorbei. Zwei, drei. Sie hielten sich bierselig untergefaßt und sangen
halblaut, klagend, langgezogen:
»Was nützet mi--i--ich ein schöner Ga--a--arten,
Wenn Andre drin spazieren gehen?
Und pflücken mir die Blümlein ab ...«
Sie bogen um die Ecke. Es verhallte in der Ferne:
»... und pflücken mir die Blümlein ab ...«
Maximiliane hatte sich erhoben. Sie trat an das Fenster. Sie hielt die
Hände verschlungen. Ihr blasses Antlitz trug einen andächtigen Schein.
Sie blickte zu der schweigenden Sternenpracht hinauf. Sie betete stumm
im Herzen. »Er kommt weg von hier! Jetzt muß es sich entscheiden ...
Das Warten hat ein Ende! Vater im Himmel! Gib mir den Mann, den ich
liebe! Laß ihn nicht von mir gehen! Führ' ihn zu mir! Er wird nie
wieder eine Frau finden, die ihn so liebt wie ich. Ich lieb' ihn, seit
ich ihn gesehen hab'! ... Ich werde nie einen anderen lieben! ... Mein
Leben ist er! ... Gib, daß auch ich sein Leben werde ... Ich bitte
dich, Vater im Himmel ...«
Es klopfte an ihre verriegelte Tür. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter:
»Maxe ... wo steckst du denn?«
Sie öffnete und stand ruhig im Licht des Flurs auf der Schwelle. So
sagte sie in der schroffen und launischen Art, die sie oft den Ihrigen
gegenüber hatte: »Herrgott, Mama ... kann man denn keinen Augenblick
allein sein?«
»Papa ist eben gekommen! ... Wir freuen uns alle so über den Orden! Du
allein bist wieder Gott weiß wo!«
»Ich komm' gleich hinüber!« sagte das junge Mädchen und schloß die
Tür. Und Frau von Ottersleben kehrte zu ihrem Mann zurück.
Der hatte es sich im Salon in einem Fauteuil bequem gemacht und
behaglich die Beine ausgestreckt. Es war niemand außer ihm und seiner
Frau da. Er gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. Er war
ein bißchen müde. Kaisers Geburtstag war ein anstrengender Tag.
Gottesdienst, Regimentsappell, Mannschaftsessen in der Kaserne mit
Schweinebraten, Klößen und Backpflaumen und leutseligen Fragen des
Regimentskommandeurs auf seinem Rundgang von Stube zu Stube, dann das
Liebesmahl im Kasino, nun noch abends die Kompaniefeste, in die er als
gewissenhafter Vorgesetzter auch noch im Vorübergehen hineinschauen
wollte -- er hatte trotz des Roten Adlerordens auf einmal wieder die
Stimmung: Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter! und fing sein
altes Thema an: ein, zwei Jahre ginge es noch mit dem Reiten, aber
dann ... vor der Brigade ... Frau von Ottersleben unterbrach ihn. Sie
saß ihm aufrecht gegenüber und sah ihn prüfend an.
»Thilo ...«
»Ja, Mallchen?«
»Wie denkst du dir denn nun, daß das mit Logow wird?«
Ihr Gatte machte eine ungeduldige Bewegung.
»Meine Beste ... ich stecke nicht in seiner Haut! Der Mensch ist
zugeknöpft bis unters Kinn! Ich weiß nicht, was er vorhat!«
»Aber nachdem er nun die längste Zeit wie das Kind im Hause hier
verkehrt hat ...«
Der Oberst erhob sich und schloß die vier mittleren Knöpfe seines
Waffenrocks, die er der Behaglichkeit halber geöffnet hatte. Er sah
auf die Uhr.
»Ich habe hier kein Heiratsvermittlungsinstitut!« versetzte er
ärgerlich. »Ich hab' den Logow in meine Nähe gezogen, weil er weitaus
der befähigtste Offizier des Regiments ist -- überhaupt einer der
befähigtsten Menschen, die mir in meiner fünfunddreißigjährigen
Dienstzeit vorgekommen sind. Solche Elemente zu fördern, ist meine
verdammte Pflicht und Schuldigkeit als Oberst!«
»Thilo ... du bist nicht nur Oberst! ...« sagte Frau von Ottersleben
in ihrer leidenden Bestimmtheit. »Du bist auch Vater und weißt so
gut wie ich, daß es ein Geschenk des Himmels ist, daß unsere Töchter
heiratsfähig sind, solange wir gerade das Regiment haben. Aber diese
Zeit muß man nutzen!«
Ihr Mann zuckte die Achseln. Er war allerdings zu sehr Familienhaupt,
mit wenig Vermögen und fünf Kindern, um sich dieser Erwägung zu
verschließen. Dann wurde er gereizt: »Ich kann den Logow doch nicht am
Kragen heranholen! Ich denke mir ja natürlich mein Teil und ich nehme
an, er auch. Aber verpflichtet ist er zu nichts! Daß die Maxe bis über
die Ohren in ihn verschossen ist ... das scheint ja klar, soweit man
aus ihrer Verschlossenheit klug wird. Von da bis zu einer Aussprache
ist es noch ein weiter Schritt. Den kann nur er tun. Und hat ihn,
glaub' ich, noch nicht getan!«
»Nein. Ganz gewiß nicht! Das würde ich bei der Maxe gemerkt haben. Er
hält sich merkwürdig zurück.«
»Weil er bisher nur seinen Generalstab im Kopf hatte -- ehrgeizig wie
er ist! ... Jetzt werden wir ja sehen. Das müssen wir alles ruhig den
nächsten Tagen und dem lieben Herrgott überlassen! ... Mische nur du
dich nicht hinein. Damit verdirbst du alles! Und nun komm -- gib mir
'nen Kuß! Wir wollen uns zu Kaisers Geburtstag nicht zanken! ... Ach
... da sind Sie ja, lieber Rudicke! Zu Hause alles wohl gefunden? Na
-- dann kommen Sie! ... Vorwärts ins Vergnügen! ... Ich bring' heut
Flöhe mit nach Hause, Mallchen! Das geht nicht anders!«
Die Kompaniefeste wurden an verschiedenen Stellen der Stadt
in Wirtschaften und Brauereien gefeiert. Der Oberst und sein
Adjutant betraten zuerst durch einen halbdunklen, schmutzigen, mit
Schneewasserpfützen erfüllten Hof den Saal zur ›Krone‹. Drinnen
war es gedrängt voll -- Musketiere, Dienstmädchen, Ladnerinnen,
Unteroffiziere, Bürgertöchter durcheinander, ein Gelächter und
Gekreisch, rote Gesichter, Menschengeruch, Bierdunst, Tabakqualm.
Am anderen Ende das Gefiedel der Musik, hinten das Podium für die
große Gala-Elite-Vorstellung der dritten Kompanie, die der jüngste
Leutnant seit Wochen eingeübt: Erst ein lebendes Bild -- die Büste
des Kaisers, davor der Einjährige Korn in einem weißen Frisiermantel
seiner Schwester, in Blechrüstzeug aus der Büchsenmacherwerkstatt
und in einer strohblonden Perücke als Germania, dann ein Schwank der
anderen Einjährigen: ›Ein Viertelstündchen auf der Wache‹ -- weiter
dann das Auftreten des Kompaniekomikers, eines Berliner Jungen, als
Coupletsänger. Jetzt eben die große Produktion der Akrobatengruppe
Hopserini, neun Mann hoch, in etwas verschwitzten, von einem
Athletenklub ausgeborgten Trikots. In drei Gliedern übereinander
stehend bildeten sie eine Pyramide -- tosender Jubel scholl unten --
zwischendurch eine schneidende hohe Kommandostimme: »Famos, Jungens!
Das müßt ihr uns noch mal vormachen! ... Ganz famos!«
Ein hochgewachsener, überschlanker Offizier stand da, die Hände in
den Paletottaschen, die Mütze ein bißchen schief auf dem linken Ohr,
darunter kurzes, hellblondes Haar. Man hätte ihn von hinten für einen
Leutnant halten können. Aber als er sich jetzt umwandte, leuchteten
die breiten, scharlachroten Klappen des Generals auf seinem Mantel,
und aus dem mit goldenem Lorbeer und Eichenlaub gestickten Halskragen
hingen die hohen Orden zweiter Klasse eines Würdenträgers der Armee.
Er lachte verwegen unter seinem kurzgeschnittenen blonden Schnurrbart,
seine feurigen blauen Augen, die ein kaum merklicher Kranz ganz feiner
Fältchen umrahmte, lachten mit. Er wies auf die Truppe: »Schauen Sie
sich mal Ihre Jungens an, Herr Oberst! ... Fix wie die Deibels! ...
Kinder, ihr könnt euch noch im Zirkus Renz euer Brot verdienen! Bravo!
Bravo!«
Er klatschte lebhaft in die Hände und schenkte den atemlos mit dem
kleinen Finger an der Trikotnaht vor ihm stillstehenden Künstlern
erst jedem eine Zigarre, dann allen zusammen ein Zehnmarkstück. Die
Akrobaten strahlten, die Kompanie strahlte, die Dienstmädchen und
Ladenfräulein strahlten mit. Der Generalmajor Olaf von Glümke war
überall in seiner Dienstzeit der Abgott der Mannschaft gewesen,
in Berlin, wo er einen großen Teil seiner Laufbahn in der Garde
verbracht, wie jetzt als Brigadekommandeur in der Provinz, obwohl er
als solcher kaum mit den Leuten in Berührung kam. Aber er gehörte zu
ihnen. Es ging ein Fluidum von ihm aus. Er stand so selbstverständlich
da, zwischen den Musketieren und ihren Schätzen, als könnte das Fest
der dritten Kompanie ohne ihn gar nicht stattfinden.
»Da ist doch noch Leben!« sagte er befriedigt zu dem Oberst, seinem
Untergebenen. »Leben gehört in die Bude! ... Das andere findet sich
dann von selbst.«
»Es freut mich, daß Herr General mit dem Geist der Leute zufrieden
sind!« erwiderte Herr von Ottersleben, halb dienstlich. ~Sein~
Grundsatz war: Schießen -- schießen und wieder schießen! Sie waren
beide ausgezeichnete Soldaten, jeder in seiner Art. Sie zogen an zwei
verschiedenen Strängen. Herr von Glümke lachte.
»Hier hör' ich doch wenigstens nichts mehr vom Zukunftskrieg mit
Rußland!« sagte er vertraulich. »Den halben Abend hat die Generalität
im ›König von Preußen‹ das Problem gelöst. Aber an Kaisers Geburtstag
ist mir's wurscht, wann die Rokitnosümpfe zufrieren! Da will ich
Mensch sein! ... Puh ... stinkt das hier! ... Adieu, Kinder! ...
Tanzt feste! ... Adieu! Adieu!«
Er wandte sich an den Regimentskommandeur, der ihn bis zum Saalausgang
begleitete: »Sie haben's gut, lieber Ottersleben! Sie kehren von dem
Volksfest hier heim zu Weib und Kind! Ich armer Junggeselle muß mir
nu eigenhändig im Stall meinen Gaul satteln und noch ein Stündchen
spazieren traben!«
General von Glümke stammte aus der Infanterie. Aber er war immer
Adjutant und leidenschaftlich im Sattel gewesen. Er ritt stets nur
fünf- und sechsjährige Pferde, ausgezeichnet, aber mehr noch keck als
kunstvoll. Solch ein Galopp im Mondschein über den Schnee war bei ihm
nichts Ungewöhnliches. Es war immer, als hätte er eine Sprungfeder im
Leib -- so elastisch eilte er auch jetzt mit langen Schritten wie ein
ganz junger Offizier die Straße hinab. Oberst von Ottersleben sah ihm
schweigend nach. Fast mit einem leisen Neid. Der dort drüben jagte auf
halbrohen Gäulen über Stock und Stein. Und er ... ja, er hatte nun
einmal seinen Knacks beim Reiten ...
»Kommen Sie, Rudicke!« sagte er halb seufzend zu seinem Begleiter.
»Wir wollen nun auch weiter!«
Es war immer dasselbe Bild -- drei-, viermal hintereinander. Als sie
in den Saal der fünften Kompanie traten, hatte man eben angefangen
zu tanzen. Der kleine stämmige Hauptmann Neugereuth eröffnete die
Ehrenrunde mit der Feldwebelin, Frau Neugereuth mit deren Mann, der
streng dienstlich und ernst, der hohen Auszeichnung sich bewußt,
seinen blütenweißen Handschuh Nummer achteinhalb um ihre schlanke
Taille legte, die Leutnants walzten, mit wem es ihnen gerade gefiel.
Die Musketiere, die untereinander eifersüchtig waren wie die Tiger,
strahlten vor Genugtuung, wenn einer der Herren ihre errötende
Sonntagnachmittagbekanntschaft zum Tanz aufforderte. Auch Erich von
Logow war da und tanzte mit seiner gewohnten gelassenen Ruhe, erst
mit der Frau des Vizefeldwebels, dann mit der eines Sergeanten, und
schwatzte dabei mit ihnen Unsinn, daß sie beide laut lachen mußten.
Ihm war das heute Dienst und Pflicht, wie morgen irgend etwas anderes.
Sein Oberst hatte ihn beobachtet und scherzte, als jener glücklich
die rundliche Sergeantengattin wieder vor ihrem Stuhl gelandet: »Na
-- noch so eifrig, Hauptmann von Logow? Sie hätten es eigentlich gar
nicht mehr nötig! Sie gehören ja nicht mehr zu uns!«
»So rasch fühle ich mich dem Regiment nicht fremd, Herr Oberst!«
»Das wollen wir hoffen! ... Am ersten Februar melden Sie sich wohl in
Berlin?«
»Zu Befehl, Herr Oberst!«
»Grüßen Sie mir dort, wen Sie an Bekannten sehen! ... Und ...« Herr
von Ottersleben wollte fortfahren: ›Lassen Sie einmal etwas von
sich hören!‹ aber er brachte es nicht heraus. Er dachte an das, was
er vorhin seiner Frau gesagt. Er wollte um keinen Preis dem jungen
Mann da vor ihm irgendeinen Wink zukommen lassen, daß er ihm als
Schwiegersohn willkommen war. Er vergab seiner Würde nichts.
Aber sonderbar: Erich von Logow wurde plötzlich rot. Man sah es ganz
deutlich -- unter den Schläfenhaaren -- auf den Wangen. Er stockte
und sagte dann unsicher: »Ich möchte Herrn Oberst gern etwas fragen
...«
»Bitte!«
»Nein. Nicht hier!« Der junge Hauptmann hatte etwas in der Kehle.
Er schluckte es hinunter und fuhr entschlossener fort: »Würden Herr
Oberst die Güte haben, mir eine Stunde zu bestimmen, wo ich Herrn
Oberst in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit -- ich darf wohl
sagen, der wichtigsten, die es für mich gibt -- in seiner Wohnung
sprechen kann?«
Das entscheidende Wort war gefallen. Das war die Ankündigung der
Werbung. Die beiden Männer blickten sich einen Augenblick stumm an.
Dem Oberst von Ottersleben fiel ein Stein vom Herzen. Aber er ließ
sich nichts merken.
»Ich stehe gern zur Verfügung, lieber Logow!« versetzte er. »Also ...
Dienst haben Sie ja nicht mehr ... Paßt es Ihnen morgen um zwölf?«
»Zu Befehl!«
»Na -- dann auf Wiedersehen!«
»Gute Nacht, Herr Oberst! Bitte gehorsamst, mich den Damen zu
empfehlen!«
Es war ein eigener kräftiger Händedruck, mit dem sie sich trennten.
Erich von Logow konnte genug daraus entnehmen, um seiner Sache sicher
zu sein. Oberst von Ottersleben war sehr zerstreut, während er seinen
Rundgang durch den Rest der Kompanien fortsetzte. Er gab ein paarmal
ganz verkehrte Antworten auf Bemerkungen seines Adjutanten und eilte
sich, zu Ende zu kommen. In die zwölfte Kompanie schaute er nur eben
noch hinein, um die kleinen Füsiliere nicht zu kränken. Es drängte
ihn nach Hause, damit er dort seine Frau noch wach finden und ihr die
Neuigkeit noch mitteilen konnte. Und im Eintreten schon sagte er rasch
zu ihr: »Also -- die Geschichte ist in Ordnung! Morgen mittag kommt
Logow und hält an! Punktum! ... Schluß! ... Streusand drauf! Ich bin
doch recht froh, Mallchen!«
Um dieselbe Zeit verließ Erich von Logow das Kompaniefest. Langsam
schritt er die Straße entlang. Das Schrillen der Tanzmusik, das
Stampfen der Kommißstiefel auf den Dielen, das Gequieke der Mädchen
klang ihm noch im Ohr. Er atmete tief die kalte Nachtluft ein. Es
war ihm noch wie ein Traum, und kam ihm erst jetzt wieder recht zum
Bewußtsein, was ihm drinnen, in Staub, Hitze, Schweiß und Tabakdunst
wie durch einen Nebel in die Ferne gerückt erschienen: daß er, der
da ging, nun Hauptmann im Großen Generalstab war. Er kam sich selber
fremd vor. Er hatte eine ungläubige Achtung vor sich. Er war mit sich
zufrieden. Er hielt die Lippen zusammengepreßt und sah vor sich hin,
starr in die Nacht hinaus. Das Heute war nur der Anfang. Die erste
Sprosse der Leiter. Nun vorwärts! Immer höher empor ... immer höher ...
Er war zu erregt, um schon schlafen zu gehen. Er stand auf dem
großen Marktplatz. Überall waren noch Leute, lachten unter den
Laternen, sangen, lärmten auf dem Heimweg. Heute war Freinacht. Die
Schutzleute sahen und hörten keine Ruhestörung. Zur Linken schimmerten
hohe helle Scheiben. Im Bierhaus zur ›Klause‹, in das der junge
Hauptmann eintrat, saß alles gedrängt voll von den Honoratioren der
Kaisergeburtstagsfeier, wie sie nach Schluß ihrer offiziellen Feste
hier wahllos durcheinandergeraten waren: Herren von der Regierung in
Dreispitz, Frack und Degen, ein Tisch voll Landadel aus der Umgegend
in Attila, Koller und Litewka der Reserve, mit Schmissen bedeckte,
bändergeschmückte alte Herren des hohen Kösener S. C., rote
Infanterie-, schwarze Artilleriekragen, blaue Dragonerröcke der
Garnison. Heute stellte man sich einander nicht vor. Es gab keine
preußische Förmlichkeit. Man redete sich einfach an. Man rückte
zusammen. Es war wie auf einem Volksfest. Logow ging, einen Platz
suchend, durch die Tabakwolken des Mittelgangs. Da rief ihn von einem
Seitentisch der lange trübe Oberleutnant Eiser an: »Logow ... Logow
... zum Donnerwetter ... Hören Sie denn nicht? ... Setzen Sie sich mal
daher ...«
Dann besann er sich, daß der bisherige Kamerad jetzt Vorgesetzter war,
und verbesserte sich: »Verzeihung: wollen Herr Hauptmann vielleicht
hier Platz nehmen?«
Logow lachte und zog sich einen Stuhl heran. Der gute Eiser litt an
der Oberleutnantsmelancholie. Er saß wie eine Trauerweide da, die
Stirne auf die Hand gestützt, in menschenfeindlicher Alkoholstimmung,
und fing sofort an zu klagen. Vierzehn Jahre war man nun bei dem
Krempel. Und immer dieselbe Geschichte! Und wenn man nun glücklich
seine Kompanie bekam -- was hieß das: wieder zehn Jahre Kommiß! Denn
er, der Oberleutnant Eiser, war nun einmal ein armer Frontproletarier
und blieb es ...
Und während Erich von Logow die Klagen des guten Kerls anhörte, der
alles, nur kein Kirchenlicht war, der keine glänzende Erscheinung
besaß, der keinen alten Namen sein Eigen nannte und nicht genug
Vermögen, um zu heiraten, der seine Laufbahn aller menschlichen
Voraussicht nach an der Majorsecke beschloß, um dann still in das
Dunkel des a. D. hinüberzugleiten, da fühlte er, so grausam es ihm
selbst vorkam, in sich einen stählernen Stolz, ein Machtbewußtsein
vor dem Schicksal, das ihm, vor tausend anderen, so viel gegeben:
den sehnigen Körper, den uralten Adel, genügend Geld für häusliches
Glück und vor sich Laufbahn im großen Stil. Und in ihm brannte eine
Ungeduld, alles zu fassen ... alles zu erraffen ... sich alles
untertan zu machen im Leben ...
Sie hatten gezahlt und waren auf den Platz hinausgetreten. Im
Scheine einer Laterne saß da der Zahlmeister Brauske mitten auf
dem Bürgersteig, lächelte selig und zufrieden und antwortete dem
Oberstleutnant Wahrmund, der sich, auf seinen Säbel gestützt, über ihn
beugte: »Ich habe mich hier niedergelassen, Herr Oberstleutnant!«
Der Stabsoffizier stellte den dürftigen kleinen Mann mit Logows Hilfe
auf die Beine und klopfte ihm den Schnee von der Sitzfläche und sagte
dann im Fortgehen zu dem frischgebackenen Hauptmann: »Na, Sie Moltke
der Jüngere ... Werden Sie nur nicht zu gescheit in Berlin!«
Es war Scherz. Aber die Hochachtung klang doch durch -- das, was Erich
von Logow vor sich selber und in sich selber wie einen Höhenrausch
verspürte. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! Er
überquerte mit seinem Gefährten den Platz. Auf der anderen Seite
waren in dem Riesensaal der Aktienbrauerei, dem größten der Stadt,
die Fenster geöffnet, um den Tabakwolken Abzug zu verschaffen. In
bläulichem Rauch, vor schäumendem Bier, saßen da die Kriegervereine,
Hunderte und Aberhunderte von Männern aller Stände, an langen Tischen,
hohe Generale z. D., Reihen von befrackten, ordengeschmückten
Würdenträgern an der Ehrentafel zwischen Handwerkern und Bürgern, und
brausend tönte es aus diesen Massen von Männerkehlen hinaus auf den
Markt:
»Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt,
Deutschland, Deutschland über Alles,
Über Alles in der Welt ...«
und draußen im Freien rang der hagere elegante Landrat Doktor
Graf Harffen in seiner knappen Husarenuniform der Reserve, das
Monokel im Auge, förmlich verzweifelt die Hände: »Hören Sie's,
Herr von Logow! Da singen sie nun, als könnten sie kein Wässerchen
trüben! Und dann bei der Reichstagswahl, hier in der Stadt,
siebentausendvierhunderteinundachtzig Stimmen für Schulze von der
Sozialdemokratie« -- er hatte die Zahl auswendig im Kopf -- »und dann
kommt erst der Liberale, und dann, 'ne Postkutsche später, erst wir.
Ja nu -- wann verstellen sich denn die Leute -- jetzt oder damals?
Oder kriegen sie in ihrer göttlichen Unschuld beides zusammen fertig?
Mir ist's zu hoch!«
Er schüttelte bekümmert das scharfe Rassehaupt und zog mit ein paar
sporenklirrenden Granden der Provinz und einem Johanniterritter
weiter. Logow war mit dem Oberleutnant Eiser stehen geblieben. Um sie
war niemand mehr.
Der andere frug plötzlich: »Logow ... wissen Sie auch, wie gut Sie's
im Leben haben?«
Der junge Hauptmann war zuerst erstaunt. Dann nickte er: »Ich sag'
mir: wenn's einem gut geht, so ist das nicht nur Glück, sondern auch
Pflicht. Dann muß man auch was aus sich machen!«
Und in einer plötzlichen Offenheit, die seiner Natur sonst
widersprach, setzte er hinzu: »Heute hab' ich so die Idee, es muß mir
alles glücken! Was ich will, das kommt zu mir. Man hat so seine große
Zeit. Die eine Hälfte hab' ich schon erreicht ...«
»Was wollen Sie denn noch?« meinte der Melancholikus trübe.
Erich von Logow warf den Kopf in den Nacken.
»Morgen krieg' ich's! Man muß nicht immer bescheiden sein! ...
Ich geh' jetzt mal aufs Ganze! ... Und nun verzeihen Sie mir mein
Gequatsch! Es kam mir nur so über die Lippen! ... Mir ist heut immer,
als hätt' ich 'ne Pulle Sekt zu viel getrunken! ... Na ... gute Nacht,
lieber Eiser!«
»Nacht, Sie oller Glückspilz! ... Pardon: Gute Nacht, Herr Hauptmann!«
Immer ruhiger wurden die Straßen, die der Hauptmann von Logow heute
-- zum letztenmal ohne Sporenklirren -- durchschritt. Die Lichter in
den Wirtschaften erloschen allmählich. Die Nachtschwärmer fanden nach
Hause. Gassenweit regte sich nichts mehr als das Spiel des Ostwinds
in leise geblähten Fahnen. Die wallten immer noch feierlich wie ein
Nachhall des Festes durch das sternenhelle Dämmern. Drüben, am
anderen Ende der Stadt, lehnte Maximiliane von Ottersleben in ihrem
Stübchen am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Ihre Mutter hatte
sich nicht enthalten können, noch einmal bei ihr anzuklopfen und ihr
durch die Tür zuzurufen: »Kind ... eben ist Papa gekommen! ... Logow
hat ihn für morgen mittag um eine ganz wichtige Unterredung gebeten.
So. Nun weißt du's! Gute Nacht!«
Sie hatte nichts darauf erwidert. Sie brachte kein Wort heraus. Das
Übermaß des Glückes machte sie stumm. Sie stand in ihrem weißen
Gewand, mit gefalteten Händen, mit gläubigen Augen, andächtig wie eine
Braut -- harrend auf das Glück, dem diese Nacht sie leise entgegentrug
wie im Traum. Es war so ruhig um sie, daß sie das schwere, freudebange
Hämmern ihres Herzens hörte. Nichts rührte sich mehr, in den Straßen
unten, über den Dächern und Fernen. Kaisers Geburtstag war verrauscht.
Still schien der Mond über der schlafenden Stadt.
2
Trüb brach der nächste Morgen an. In allgemeiner Unlust, aufzustehen,
soweit es die königlich preußische Armee betraf. Es war ein Gähnen in
den Kasernen, ein Sich-Recken in den Leutnantsbetten. Übernächtigkeit,
Katerstimmung. Alltag. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Freilich
nur wenig Dienst. Ein bißchen Griffekloppen. Viel konnte man mit
den Herren Offizieren und der Mannschaft heute vormittag doch nicht
anfangen.
Erich von Logow war zeitig auf, nach seiner Gewohnheit schon vom
Kadettenkorps her, in dem er als Waise, nach dem frühen Tod seiner
Eltern, aufgewachsen war. Sein Kopf war klar. Er fühlte sich
morgenfrisch und straff wie immer, aber voll einer Unruhe, die er
kaum beherrschen konnte und die von Stunde zu Stunde stieg. Die Zeit
kroch unerträglich langsam dahin. Ungeduldig schritt er in seiner
Wohnung auf und nieder, ein paar spartanisch einfachen Räumen. Er
hätte sich mit seinem Gelde üppiger einrichten können. Aber er legte
keinen Wert darauf. Er verachtete jede Art von Verweichlichung.
Er war auch nie lange hintereinander in seiner Garnison seßhaft
gewesen. Militärturnanstalt, Kriegsakademie, ein Jahr lang schon
einmal zur Dienstleistung beim Generalstab kommandiert, dann die
Brigadeadjutantur -- das Infanterieregiment Burggraf war immer nur der
Ausgangspunkt und Stützpunkt seiner militärischen Laufbahn gewesen.
Nun sagte er ihm ganz Lebewohl.
Es war erst zehn Uhr vormittags. Er wußte nicht, was tun. Er
blieb vor dem einzigen Luxus seines Lebens stehen, dem Schrank
mit seiner kriegswissenschaftlichen Bibliothek, langen Reihen in
Halbfranz gebundener, abgegriffener, innen von Randstrichen und
Tinteneintragungen erfüllter deutscher, französischer, russischer
Bände, obenauf die Büsten der beiden Kriegsgötter, Napoleons und
Friedrichs des Großen. Er dachte sich, wie er es zuweilen tat: ›Wenn
die beiden gleichzeitig gelebt hätten und aneinandergeraten wären --
Donnerwetter ja!‹ Er nahm ein Buch heraus. Es schien ein Heft der
Einzelschriften des Großen Generalstabs zu sein. Ganz klar wurde es
ihm nicht. Er stellte es auf seinen Platz und nahm seine Wanderung
durch die Zimmer wieder auf. Der Bursche trat ein. Er brachte ihm
Überrock und Mantel und grinste. Der Militärschneider hatte heute früh
in aller Eile auf den Achselstücken den zweiten Stern, das Zeichen
der Hauptmannswürde, befestigt. Erich von Logow fuhr in den Paletot,
schnallte den Säbel um und setzte den Helm auf. Er hatte immer noch
eine Stunde Zeit. Er wollte lieber solange noch draußen ein wenig
auf den Straßen herumgehen. Er schritt an der Kaserne vorbei. Auf
Leitern standen Musketiere und nahmen die Tannengirlanden von Kaisers
Geburtstag ab. Auf dem kleinen freien Platz davor übte seine alte
Kompanie, in Glieder auseinandergezogen. Der kleine dicke Hauptmann
Neugereuth leitete den Dienst persönlich.
»Dazu hat man nun drei Herren!« sagte er erbost zu Logow. »Der eine
versetzt, der andere auf Jagdurlaub, der dritte so höllenverkatert,
daß er nich aus dem Bett findet! Na, der gute Solkowski wird noch ein
unangenehmes Viertelstündchen erleben, wenn er wieder so weit Mensch
ist.«
Erich von Logow lächelte zerstreut und ging weiter. Er hatte jetzt die
Richtung nach dem Otterslebenschen Hause eingeschlagen. Seine Schritte
verlangsamten sich unwillkürlich, je näher er kam. So konnte ihn ein
junger Artillerieoffizier, der von einer Seitengasse einbog, mit
wenigen Sprüngen einholen und schlug ihm von hinten auf die Schulter:
»Logow ... Sind Sie auf dem Weg zu uns?«
»Ach ... Sie sind's, Ottersleben ...«
Der junge Hauptmann, dessen neue Gradabzeichen der andere nicht
beachtete, schüttelte dem Feldartilleristen kameradschaftlich die
Hand. Otto von Ottersleben, der ältere Sohn des Obersten, war ein
auffallend hübscher Mensch von dem schlanken, hohen Wuchs seiner
Schwestern. Er hatte weiche dunkle Augen. Etwas Einschmeichelndes und
Liebenswürdiges in Stimme und Bewegungen. Um das rechte Handgelenk
trug er ein silbernes Armband, seine Lackstiefel glänzten im Schnee.
Ein feiner Hauch von Kölnischwasser, als Gegenmittel wider den
Dunst der Pferdeställe, umwitterte ihn. Er meinte, sich mit der vom
Handschuh befreiten Rechten, an deren kleinem Finger der Nagel einen
halben Zoll lang gepflegt war, über die Stirne fahrend: »Ich hab' ein
bißchen 'nen Brummschädel! ... Aber ich muß anstandshalber mal bei
meinem alten Herrn antreten! ... Der Grotjan, der kennt den Weg als
Bräutigam ja nu schon auswendig ...«
Sein Begleiter, der Pionierleutnant Hans Grotjan, der nun auch
herangetreten war, trug behutsam den allmorgendlichen, in Seidenpapier
geschlagenen Blumenstrauß für Dorle Ottersleben, seine Verlobte, in
der Hand. Seine freundlichen und treuherzigen Züge leuchteten vor
stiller Zufriedenheit. Er war glücklich, die Dorle zu kriegen. Er war
mit Dienst und Vorgesetzten einverstanden. Er stand sich gut mit den
Kameraden. Er hatte mit niemandem Streit. Seine hellblauen, klaren
Augen entdeckten sofort den zweiten Stern auf Logows Achselstücken.
Die beiden Leutnants gratulierten dem Hauptmann. Dann setzten alle
drei, den neuen Vorgesetzten in die Mitte nehmend, ihren Weg fort,
und der Artillerist gähnte: »Na ... ich bin nur froh, wenn ich nun
bald hier 'rauskomme! ... mal keine Roßäpfel morgens rieche ...
Herrschaften ... Berlin! ... Laßt mich nur erst mal dort sein! Ihr
werdet euch wundern! ...«
»Das fürchtet dein Vater auch!«
»Ach, Papa hat ja keinen Schimmer!« meinte der Leutnant von
Ottersleben mitleidig.
Logow achtete kaum auf das Gespräch. Er war blaß, als sie jetzt
vor der Haustür standen. Aber das fiel heute, an dieser Art von
Aschermittwochstag, keinem auf.
Dorle Ottersleben, die oben schon im Flur auf der Lauer gelegen,
schleppte auf der Stelle ihren Bräutigam mit sich fort. Sie hatten
im Salon ihre eigene ungestörte Verlobungsecke. In der tuschelten und
raunten sie stundenlang.
Logow und der Sohn des Hauses begrüßten inzwischen im Wohnzimmer
Frau von Ottersleben und ihre älteste Tochter. Maximiliane war nur
zum Frühstück für einen Augenblick erschienen, blaß, verträumt, mit
einem verlorenen Lächeln, hatte viel weicher und inniger als sonst den
Eltern den Morgenkuß gegeben und sich gleich wieder in ihr Stübchen
zurückgezogen. Ulla saß, als die beiden eintraten, am Fenster und
beugte still den klassischen brünetten Kopf über eine Stickerei. Es
war kein Leben in ihr, außer dem regelmäßigen Sticheln der weißen
Finger und zuweilen einem leisen Aufhusten. Denn sie hatte sich wieder
einmal erkältet und sah angegriffen aus. Dies Blutlose, Statuenhafte
hatte sie meist, wenn sie mit sich und den Ihren allein war. Jetzt,
bei dem Rasseln der Säbel, dem Klirren der Sporen draußen kam Ausdruck
in ihren Blick, Wärme in ihre Wangen, während sie langsam das Haupt
hob. Und wenn auch nur ihr Bruder und ein Freund des Hauses eintraten
-- sie brauchte Männer, auf die sie Eindruck machte. Einen ganz
unpersönlichen nur, ganz ohne Nebengedanken. Sie mußte den Reiz ihrer
Erscheinung an sich fühlen, um ganz zu werden, was sie war. Dann
blühte sie auf einmal auf, wie sie sich jetzt leise lächelnd halb
umwandte und den beiden vertraulich zunickte, begriff man, daß sie als
das schönste Mädchen galt, das die Garnison seit vielen Jahren gesehen.
Erich von Logow war steif und förmlich vor Aufregung. Er verbeugte
sich stumm gegen Frau von Ottersleben, die ihm freundlich die Hand
drückte.
»Meinen Glückwunsch zum Hauptmann, Herr von Logow! Mein Mann erwartet
Sie! Sie wissen ja den Weg in sein Arbeitszimmer!«
Sich auf der Schwelle von ihm verabschiedend, meinte sie zu ihrem
Sohn: »Weißt du, Ottochen ... Eigentlich bist du gerade jetzt hier
recht überflüssig. Du wirst später erfahren, warum. Wie wäre es, wenn
du noch ein bißchen spazieren gingst?«
»Ich bin schon draußen, Mama!«
Der Leutnant schloß behutsam die Tür hinter sich. Er pfiff dabei durch
die Zähne. Er begriff, was vorging. Er hatte es schon lange erwartet.
Er mußte lachen, während er die Treppe hinabstieg. Es machte ihm Spaß,
daß die Schwestern so abgingen wie warme Semmeln. Es schmeichelte
seiner brüderlichen Würde. Komisch nur, daß nun ausgerechnet gerade
die Ulla noch übrig blieb, die Älteste, die Schönheit der Familie ...
Zwischen der und ihrer Mutter herrschte, als sie wieder zusammen
allein im Zimmer saßen, ein langes Schweigen. Endlich ließ Ulla die
Hand mit der Nadel sinken und seufzte vor sich hin: »Ach ja ...«
Es war die Mattheit einer Ballkönigin im fünfundzwanzigsten
Lebensjahr. Dann, als Frau von Ottersleben aufstand und sich ihr
näherte, machte sie eine ungebärdige, abwehrende Bewegung.
»Ich bitte dich, Mama, laß mich in Ruhe! Ich weiß alles, was du sagen
willst!«
Nach einer Pause, in der sie sich mit ihren eigenen Gedanken
beschäftigt hatte, fügte sie hinzu und nahm dabei ihre Arbeit
wieder auf: »Ihr habt immer viel zu viel aus mir gemacht, Mama! Mich
herausgeputzt und zur Schau gestellt, als wäre ich Gott weiß was! Nun
rächt sich das! Das ist, wie wenn was zu teuer im Ladenfenster steht.
Schließlich will's keiner. Die große Partie, die jahrelang in der Luft
gelegen hat, ist nichts geworden! Ich bin nicht Gräfin geworden! Er
ist fort! Und die anderen trauen sich nicht heran. Alle fürchten sich
vor meinen Ansprüchen! Schließlich bleib' ich euch auf dem Hals!«
»Ulla ... sei doch nicht so verbittert!«
»Ja, ein Vergnügen ist's doch nicht, Mama, wenn die jüngeren
Schwestern vor einem heiraten! Dadurch wird man viel älter, als man
ist! Man gehört bald ganz zum alten Eisen!«
»Gönn doch der Maxe ihr Glück!«
»Ich tu's ja! Ich gönn' ihr ja, was sie mag! Ich will nur auch was für
mich haben! Ich wollt', ich wär' so ein kleiner fideler Stöpsel wie 's
Dorle! Die finden gleich ihr Publikum. Da wär' ich längst versorgt und
aufgehoben, und ihr wärt mich los!«
»Kind -- das ist doch nicht dein Ernst!«
Das schöne Mädchen erhob sich und dehnte müde die Arme. Die hohe
Gestalt vom weißen Morgenkleid umflossen, stand sie mitten in dem
Zimmer.
»Gott ... zum Lachen ist's jedenfalls auch nicht, Mama! Wenn man so
denkt: die Maxe, die noch kaum fertig ist -- die immer noch Augen
macht, als wäre sie gestern auf die Welt gekommen, die kriegt also,
was sie will! Und ich ...«
Sie brach ab und sah sich vor dem großen Stehspiegel an und sagte
langsam, im Anblick ihrer dunklen, tannenschlanken Schönheit: »Und
ich ... ich ... schau mich mal an, Mama ... ich werd' also 'ne alte
Jungfer! ... ich hab' so Angst davor ... so gräßlich Angst! Lieber
alles als das!«
»Ulla -- nun sei doch ruhig!«
»Lieber Gott! Ich bin's ja!« Sie ließ sich wieder an ihrem
Fensterplatz nieder und griff nach der Stickerei. Ihre Hände
zitterten, trotz der äußerlichen Teilnahmslosigkeit, die über sie
gekommen war. Sie stach sich in den Finger, führte ihn an den Mund und
sog mit zusammengepreßten Lippen das Blut. Dabei blickte sie düster
vor sich hin, unter der Last einer Schicksalswendung, die sich an ihr
vollzog, ohne daß sie sie recht begriff. Frau von Ottersleben sprach
auch nicht mehr. Es war still in dem Raum. Aber ferne, über den Gang
her, vernahm man aus dem Gemach des Obersten undeutlich den gedämpften
Klang von Männerstimmen.
Maximiliane von Ottersleben hatte es in ihrem Stübchen gehört, als
Logow draußen auf dem Flur vorbeiging, um sich zu ihrem Vater zu
begeben. Sie kannte seinen raschen, gleichmäßigen Schritt. Nun war die
Entscheidung da: die große Stunde. Sie fühlte eine Weihe über sich.
Sie stand mitten in ihrem Zimmer, das auf die stille, verschneite
Hintergasse hinausging, und tat vor sich selber ein Gelübde, den
herben Reiz ihrer Züge von einem heiligen Ernst verklärt: »Ich will
seiner würdig werden. Er soll es nie bereuen, daß er gekommen ist.
Ich geb' ihm Liebe um Liebe! Mehr Liebe, als er ahnen kann. Denn er
hat ja noch nie offen mit mir gesprochen. Mehr Liebe, als ich selbst
begreife. Ich hätte es nie geglaubt und niemand außer mir weiß es, daß
man einen Menschen so lieben kann ...«
Von der Wand ihres Mädchenzimmers lächelte die Sixtina aus weißem
Rahmen auf sie hinab. Sie schlang die Hände ineinander. Sie hatte
feuchte Augen. Sie fühlte sich wie auf einer Insel voll hellem
Sonnenschein, geborgen in Licht und Liebe, und draußen die graue Welt.
Plötzlich faßte sie ein Schrecken. Die Angst vor dem Glück. Sie dachte
sich, während ihr der Herzschlag stillstand: »Es ist zu viel für mich!
Kann denn ein Mensch das tragen?« Dann erfüllte sie eine erlösende
Bejahung. Sie hob tapfer lächelnd den Kopf: ›Die Liebe kann's! Die
grenzenlose Liebe ...‹
Sie versank in Träumen, in Staunen: ›Woher hat er's nur gemerkt?
Ich hab' gedacht, ich hätte mich nie verraten, in der ganzen langen
schweren Zeit! Ich hab' meinen Stolz so ängstlich gewahrt. Aber es
gibt ein Hellsehen der Herzen. Das ging von mir zu ihm, ohne daß ich
es wollte und wußte, und kommt zu mir zurück.‹
Sie fühlte sich fromm und voll Dank und Demut. Sie sagte sich:
›Ich will von jetzt ab gut zu allen Menschen sein und meine Eltern
und meine Geschwister noch mehr lieben. Ich will alle meine Fehler
ablegen. Ich will das Beste aus mir machen, was ich kann, um seiner
wert zu sein ... ich hab' ihn so lieb ... ich hab' ihn so unendlich
lieb ... ich weiß nicht, was ich in der Welt anfangen würde ohne ihn
... da wär' ich lieber tot ...‹
Sie ließ sich auf einem Sessel nieder und saß still. Sie hörte die
Uhr ticken, manchmal draußen eine Tür gehen, eine Stimme. Sonst war
kein Laut im Hause. Niemand kam und störte sie. Ihr war, als hielte
alles umher, so wie sie selber, den Atem an, bis dort drüben im
Arbeitszimmer des Vaters die Unterredung zwischen ihm und dem Freier
zu Ende war.
Dort saß Erich von Logow, straff aufgerichtet, den Säbel zwischen
den Knien, den Helm neben sich am Boden, seinem Regimentskommandeur
gegenüber. Erst ein paar freundliche Einleitungsworte des Obersten:
»Na -- gut bekommen, gestern ... lieber Logow?«
»Danke gehorsamst, Herr Oberst!«
»Wann werden wir Sie denn nun abessen? Der Kasinovorstand frug schon
bei mir an. Ist's Ihnen recht: übermorgen abend?«
»Wie Herr Oberst befehlen!«
Eine kurze Pause. Dann begann der junge Hauptmann entschlossen, seinem
Vorgesetzten dabei fest in die Augen schauend, so als erstatte er
einen dienstlichen Bericht: »Herr Oberst hatten die Güte, mich ständig
hier im Hause verkehren zu lassen. Ich war Herrn Oberst immer für
diese Auszeichnung tief dankbar. Ich hätte es mir nie erlaubt, mir sie
in so vollem Maße zu Nutzen zu machen, wie ich es getan hab', wenn
dabei nicht noch für mich besondere Umstände mitgesprochen hätten ...«
Er brach einen Augenblick ab, um Atem zu holen, und fuhr fort: »Ich
habe es bisher nicht gewagt, mich hierin zu erklären. Man hat sich
darüber gewundert. Ich weiß. Ich bin im Kasino damit aufgezogen
worden. Ich hab' sogar spaßhafte anonyme Briefe gekriegt. Aber ich
hielt meine Zeit noch nicht für gekommen. Ich sagte mir ...«
Plötzlich verließ ihn wieder der Fluß der Rede. Er mußte anhalten
und seine Gedanken sammeln. Der Oberst wartete ernst und freundlich
und dachte sich dabei ganz verwundert: Herrgott, warum ist der
Mensch so aufgeregt! Er weiß doch wahrhaftig, daß er keinen Korb
riskiert. Und doch färbte jetzt eine leichte Röte der Befangenheit die
wettergebräunten Wangen seines Gegenüber.
»Nämlich, Herr Oberst! Unter meinen vielen Fehlern ist auch der: Ich
hab' eine viel zu große Meinung von mir. Ich hab' immer die Idee, mir
müßte alles glücken. Der Gedanke an eine Niederlage ist mir gräßlich.
Der möchte ich mich auch jetzt nicht aussetzen. Ich möchte -- frei
gesprochen -- nicht einen glatten Korb riskieren. Und deswegen komme
ich zuerst, ganz privatim, zu Herrn Oberst! ...«
Herr von Ottersleben lächelte für sich. Eigentlich überschätzte
sich der gute Logow wirklich nicht so sehr, wie er sagte. Eher im
Gegenteil. Der junge Offizier war jetzt wieder blaß vor Spannung. Er
hing an den Lippen seines Kommandeurs, der langsam meinte: »Na --
inwieweit Sie Ihrer Sache sicher sind, Herr von Logow, das müssen Sie
doch eigentlich besser wissen als ich!«
Der Hauptmann schüttelte hastig den Kopf. Er beugte sich etwas vor und
fuhr lebhaft fort, in einem beinahe ängstlichen Vertrauen zu seinem
Vorgesetzten.
»Nein, Herr Oberst ... ich weiß es nicht! Ich sage mir selbst, daß
Ihr Fräulein Tochter hohe Ansprüche zu stellen vermag, höhere als
irgend jemand sonst. Und wieweit ich denen gewachsen bin ... Herr
Oberst sagten mir einmal auf dem Heimritt von einer Felddienstübung,
Sie würden sich freuen, wenn Ihre Töchter auch einmal alle Offiziere
heiraten würden. Herr Oberst haben bei anderen Gelegenheiten
gesprächsweise Ihre Freude an so alten preußischen Namen ausgedrückt,
wie sie Herr Oberst und ich tragen. Diese Voraussetzungen kann ich
also erfüllen. Ich habe auch genug Vermögen, mehr als verlangt wird.
Ich würde Herrn Oberst hierüber meinen Bankauszug vorlegen ... Aber
das alles will ja noch wenig besagen ...«
»Na -- was denn noch?« dachte sich Herr von Ottersleben verblüfft. Der
Freier wurde ihm schon beinahe ein Rätsel.
Erich von Logow hub wieder an: »Ich gab mir selbst zu: Wenn ich so als
simpler Leutnant eines Linienregiments in der Provinz antrete ... Ihr
Fräulein Tochter kann wirklich mehr vom Leben erwarten. Das war, neben
meinem dienstlichen Ehrgeiz, der Grund, weswegen ich so hartnäckig
auf den Generalstab losarbeitete und bis dahin nicht rechts und nicht
links schaute. Seit gestern abend hab' ich es nun erreicht. Ich bin
Hauptmann und ich bin im Generalstab und werde alles daransetzen, mich
dauernd in der Generalstabskarriere zu halten. Dadurch eröffne ich
auch meiner künftigen Frau die Aussicht auf einen ganz anderen äußeren
Verlauf ihres Lebens -- Berlin und sonstige ganz große Garnisonen,
der ständige Verkehr mit hohen Vorgesetzten, die reiche Geselligkeit
überhaupt ... die Möglichkeit, seiner Frau einmal hohen Rang und
Titel zu verschaffen ... Verzeihen Herr Oberst, wenn ich da im Eifer
unbescheiden von mir rede ...«
»Na, das weiß ich doch alles selber, lieber Logow ...«
»Und glauben Herr Oberst, daß ich ... daß ich daraus mir das Recht
herleiten darf, die Frage zu stellen, die ...«
Der Hauptmann von Logow war jetzt so aufgeregt, daß er, gegen seine
sonstige selbstbeherrschte Art, stotterte und stockte.
Der Oberst nickte ihm begütigend zu. »Na -- nun schon mal 'raus mit
der Sprache, Logow! Herrgott ja -- wir sind doch hier unter uns
Männern ...«
»Ich darf reden, Herr Oberst?«
»Gewiß!«
Erich von Logow gab sich einen Ruck und sagte schweratmend: »Dann
möchte ich hiermit Herrn Oberst ganz gehorsamst um die Hand Ihrer
Fräulein Tochter Ulla bitten!«
Herr von Ottersleben traute seinen Ohren nicht. Er hätte beinahe in
seiner Überraschung gefragt: ›Wie? Haben Sie sich nicht versprochen?‹
Aber er biß sich noch im rechten Augenblick auf den Schnurrbart
und wiederholte, ohne daß man seinem feinen und klugen, ein wenig
kränklichen Gesicht etwas anmerkte: »Um die Hand meiner Tochter Ulla?«
»Zu Befehl!«
Erich von Logow schien verwundert, daß man den Namen noch erst
zu nennen brauchte. Das mußte, nach seiner Meinung, längst ein
offenkundiges Familiengeheimnis sein, wem seine Werbung galt,
wenn er auch sich nie mit einem Wort verraten hatte, das ihm
bis gestern gegenüber dem schönsten Mädchen der Garnison, der
verwöhnten, vielgefeierten Ballkönigin, der überall in der Provinz,
im ganzen Armeekorps bekannten Ulla Ottersleben als Vermessenheit
erschienen wäre. Er war froh, daß es nun glücklich heraus war. Sein
Gesichtsausdruck war dienstlich steinern, während er dasaß und auf
Antwort wartete. Der Oberst erhob sich. Er war noch immer wie vor den
Kopf geschlagen.
»Schön, Herr von Logow! Ich danke für Ihr Vertrauen! Und nun verzeihen
Sie, bitte, einen Augenblick. Sie begreifen: Ich will vor allem jetzt
einmal mit meiner Frau reden!«
Er ging rasch über den Flur. Unterwegs wurde er zornig. Als er in das
Wohnzimmer trat, in dem Frau von Ottersleben allein saß, polterte er
los: »Das kommt davon, wenn man vier Frauenzimmer im Haus hat! Ganz
verrückt macht ihr einen mit eurem Geschwatz! Weißt du, wen der Logow
will: die Ulla!«
»Was?«
»Die Ul--la!« wiederholte der Oberst mit scharfer Betonung. »Was sagst
du nun?«
Frau von Ottersleben legte die Hände im Schoß zusammen.
»Thilo ... ich glaube, du träumst!«
»Nee, meine Liebe, ihr habt geträumt! ... Ihr habt mir das in den Kopf
gesetzt ... Ihr habt womöglich auch der Maxe das eingeredet ...«
»Thilo ... Maxe etwas einreden! ... Du weißt doch, wie verschlossen
sie ist! Man ist bei ihr immer nur auf Mutmaßungen angewiesen. Wenn
ich mich da getäuscht haben sollte ...«
»Aber gründlich, mein bestes Mallchen! Das Mädel kommt gar nicht in
Frage! Macht sich wahrscheinlich auch gar nichts aus dem Logow! Sonst
müßte er doch was gemerkt haben! Das war alles eitel Hirngespinst!«
Die beiden Gatten schwiegen. Frau von Ottersleben schüttelte ratlos
den Kopf. Ihr Mann hub an.
»Das ist wieder ein Beweis, daß wir Eltern alle von unseren Töchtern
ungefähr so viel wissen, wie ich vom Kaiser in China! Die haben ihre
Geheimnisse für sich. Die beißen sich lieber die Zunge ab, ehe sie uns
was verraten! Ich bin mir eben förmlich dumm vorgekommen gegenüber
dem Logow. Drüben lauert er nun! Zu lange können wir ihn nicht warten
lassen! Sonst dämmert's ihm doch, daß hier etwas nicht ganz in Ordnung
ist!«
»Bitte ihn, nachmittags wiederzukommen, Thilo! Das ist das beste! Wir
müssen doch jedenfalls jetzt erst ein paar Stunden für uns haben!«
Erich von Logow war auch gar nicht überrascht, als ihn sein Oberst, in
das Zimmer zurückkehrend, auf drei Uhr wieder herbat.
»Ich denke, es ist in Ihrem Sinn, lieber Logow! Wir sprechen
unterdessen mit unserer Tochter Ulla! Sie finden sie vorbereitet ...
wenn das noch nötig sein sollte. Sie sagen ja, Sie hätten sich ihr
selbst gegenüber noch in keiner Weise eröffnet ...«
»Nein, Herr Oberst! Aber ich bin trotzdem überzeugt, daß Fräulein Ulla
seit langem über meine Gefühle nicht im unklaren ist. Es kommt ihr
gewiß nicht überraschend!«
»So ... so!« versetzte Herr von Ottersleben. Er machte ein
zweifelndes Gesicht, während er seinen Besucher hinausgeleitete.
Mochte sich der Kuckuck auskennen mit den drei Mariellen! Er furchte
gedankenvoll die Stirne, fuhr sich mit der Rechten an den Kragen, um
sich Luft zu machen, und schritt energisch und sporenklirrend hinüber
in den Wohnraum.
Dort war jetzt auch Ulla. Ihre Mutter hatte sie gerufen. Sie hatte
ihr bereits gesagt, um was es sich handelte. Es war unmöglich, zu
erkennen, welchen Eindruck das auf sie machte. Sie stand schweigend,
in ihrer statuenhaften Schönheit, mitten im Zimmer. Ihr Vater sah das
blasse, an eine griechische Gemme erinnernde Profil mit den langen
Wimpern und dem schweren, unbekümmert um die Mode, nach antiker Art im
Nacken lastenden Haarknoten, den edlen Linien ihrer hohen Gestalt, und
dachte sich: Ein Wunder ist's ja schließlich nicht, daß die dem guten
Logow in die Augen gestochen hat. Die Maxe kommt ja nicht gegen sie
auf! ...
Er wartete und wunderte sich über ihre Ruhe. Endlich meinte er nur:
»Na ... nu sag mal ...«
Ulla Ottersleben erwiderte nichts. Sie zuckte nur die Schultern, mit
einer eigentümlichen, etwas gereizten Bewegung, aus der man allerhand
entnehmen konnte.
Der Oberst forschte gedämpft: »Hast du dir denn das ahnen lassen?«
Die dunkle Schönheit ihm gegenüber hielt gleichmütig seinen Blick aus.
Sie legte das Haupt leicht in den Nacken.
»Komisch, daß ihr euch so darüber wundert!« sagte sie endlich. »Warum
soll denn nicht schließlich auch jemand zu mir kommen? Er ist doch
wahrhaftig der erste nicht. Aber ihr denkt immer, ich sei schon ganz
passée! ... Bloß, weil Mama mich immer aufgestachelt hat, für
nichts und wieder nichts auf eine Riesenpartie zu warten ...«
»Also hast du's gewußt?«
»Gott ... gewußt ... Gedacht hab' ich mir schon im stillen oft mein
Teil ... aber ihr habt einen ja ganz konfus gemacht ... immer die Maxe
... ewig die Maxe ... Schließlich wurd' ich selber an mir irre und
wußt' nicht mehr, woran ich war ...«
»Aber gesprochen hat er zu dir nie?«
»Nie 'ne Silbe! ... Man fühlt nur so was! Man merkt auf einmal, daß
man irgendwo Eindruck macht! Mir war's übrigens ganz egal! Ich hab'
mir weiß Gott keine Mühe gegeben! Ich bin der Maxe nicht ins Gehege
gekommen. Ich hab' ihm mit keinem Blick und mit keinem Ton Andeutungen
gemacht. Das muß mir der Neid lassen ...«
Und mit trotzigen Querfältchen auf der weißen Stirne, in einer
plötzlichen Aufwallung, die ihrem sonstigen Phlegma fremd war, fügte
sie hinzu: »Überhaupt ... ich brauch' mich doch schließlich nicht zu
verteidigen, wenn ich jemandem gefalle! Das ist doch mein gutes Recht
und doch auch kein Wunder, wenn man vierundzwanzig und nicht gerade
'ne Meerkatze ist. Und ich kann ja auch gar nichts dafür!«
»Das behauptet ja auch niemand!«
»Warum macht ihr denn dann Gesichter, als sei Gott weiß was für ein
Unglück passiert!«
»Auch darin täuschst du dich, liebe Ulla! Mama und ich sind nur
verblüfft. Die Frage ist: was nu?« Herr von Ottersleben wurde
plötzlich wieder zornig. »Das kommt davon, wenn man mir die ganze
Zeit solchen Hokuspokus vormacht. ~Ich~ kann's doch nicht
wissen! ~Ich~ hab' doch noch andere Sachen im Kopf, als eure
Liebeshändel. ~Ich~ ...«
»Thilo ...« mahnte seine Frau in leiser Strenge.
»Jawohl, Mutter! Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich erfahre ja
doch alles erst hinterher! ... Du auch! ... Also gut! ... Dann macht
ihr, was ihr wollt! Ich sag' nicht ja und nicht nein, so willkommen
mir auch der Logow als Schwiegersohn ist. Aber ich will so aus
heiterem Himmel die Verantwortung nicht übernehmen. Ich überlasse es
dir! Bring du deine Sache selbst zu Ende ...«
Ulla Ottersleben erwiderte nichts, sondern schritt nach dem Ausgang.
»Wohin denn, Kind?«
»Zu Maxe, Mama!« sagte sie, einen Augenblick auf der Schwelle
innehaltend, mit gelassener Stimme und ging dann den Flur entlang.
Dort flog bei ihrem Nahen eine Tür auf. Maximiliane stand da, mühsam
ihre Angst beherrschend.
»Du ... Ulla ...«
»Da bin ich!«
»Eben hört' ich doch Schritte ... Ulla ... Er ist doch nicht weg?«
»Ja.«
»Um Gottes willen ...«
»Erschrick nicht ... Er kommt wieder ... Heute nachmittag ... da holt
er sich Bescheid ...«
»Ach so ...« Ihre blonde Schwester holte erlöst Atem. Sie lehnte auf
der Schwelle, so, daß die andere nicht an ihr vorbei in das Zimmer
treten konnte. »Ulla ... ich möchte jetzt lieber noch einen Moment
allein sein!« sagte sie.
»Aber ich muß mit dir sprechen, Maxe!«
Die beiden großen schlanken jungen Mädchen standen sich in der
schmalen einfenstrigen Stube gegenüber. Ulla setzte sich auf das Bett
der anderen, glättete mechanisch mit der Hand den Kissenüberzug,
senkte den dunkelglänzenden Scheitel und hub an: »Du, hör mal ... Maxe
... Also Logow hat richtig angehalten ...«
»...ja ...«
»Aber um mich! ... Er will mich ... Komisch ... nicht? ... Was meinst
du dazu? Was rätst du mir ...«
Sie machte eine Pause und hob dann langsam die langen schwarzen
Wimpern zu der Jüngeren empor. In ihren großen mandelförmigen Augen
war eine leise Angst vor dem, was nun kommen würde. Aber zu ihrem
maßlosen Erstaunen zeigte Maximiliane keine Spur von Bewegung auf
den Zügen. Sie war nur wie versteinert. Aber sie lächelte. Es
war ein Zucken um die Mundwinkel -- dann ein Schein freundlicher
schwesterlicher Teilnahme ... Sie sagte wie im Traume: »So ... dich
will er ...?«
»Ja.«
»Nun -- dann wünsch' ich dir Glück!«
»Ja aber, Maxe ... so schnell geht das nicht ...« Ulla Ottersleben war
verwirrt vor dieser unheimlichen übernatürlichen Ruhe. »Erst muß ich
doch wissen, was du darüber denkst!«
Maximilianens große blaue Augen wurden weit vor Staunen.
»~Ich?~« sagte sie verwundert, als bekäme sie eine Botschaft vom
Monde. »Was geht denn das ums Himmels willen ~mich~ an?«
»Aber du interessierst dich doch für ihn ... Wir hatten wenigstens
alle den Eindruck ...«
Das blonde junge Mädchen lachte leichthin und drehte sich halb zur
Seite.
»Ach, das war nicht so schlimm. Das war vielleicht mal so 'ne
Spielerei mit einem Gedanken. Das passiert einem ja manchmal ... dir
ja auch ... das ist bis morgen vorüber, wenn man sieht, daß nichts
daraus wird! Das muß man nicht zu tragisch nehmen! Ich tu's wenigstens
nicht. Du siehst ja, ich bin ganz ruhig. Also lasse du dich dadurch
beileibe nicht stören, Ulla!«
»Also du meinst wirklich ...«
»Nimm ihn doch, wenn er dir gefällt! Meinen Segen hast du ...«
Ulla zögerte.
»Weißt du ...« sagte sie ... »ich bin ja nicht so leidenschaftlich
versessen auf ihn ... Was hast du denn? ... Du wirst auf einmal ganz
weiß ...«
»Nichts ... nichts!« versetzte Maximiliane und lachte. Dann legte sie
wie in der Zerstreutheit die Hand auf eine Stuhllehne, um sich vor
dem forschenden Blick der Schwester unauffällig aufrecht zu erhalten.
Sie fühlte: die glaubte ihr nicht. Die wußte, daß das alles Lüge war,
verzweifelter, beleidigter Stolz. Aber sie fühlte auch: es paßte Ulla,
es nach außen hin zu glauben. Es stimmte zu ihren Plänen. Darum gab
sich die Schwester den Anschein, als nähme sie die Worte der Jüngeren
für bare Münze. Sie meinte: »Wenn ich's tue, Maxe, dann ist's bei mir
mehr Vernunftsache ... Sieh mal ... Es ist nachgerade für mich Zeit.
Ich hab' ein paar Jahre verplempert ... damals ... du weißt, um wen
-- schließlich hat doch eine andere ihn und ist Gräfin geworden und
hat die Riesengüter ... da sag' ich mir: Es kommt da jemand, der mir
immerhin noch etwas sehr Annehmbares bietet -- der mich gern hat --
der es noch einmal sehr weit bringen kann ... wer weiß denn, wann die
Gelegenheit wiederkehrt ...«
»Wenn du diese Ruhe in dir hast,« versetzte Maximiliane, »... wenn du
dir das zutraust, einen zu heiraten, ohne daß du in dir fühlst: ›Den
oder keinen ... und lieber tot‹ ... ich könnt' es nicht ... Aber die
Menschen sind ja Gott sei Dank verschieden ...«
»Also du redest mir selber zu, Maxe?«
»Ich wünsch' dir viel Glück!« versetzte das junge Mädchen mit
unbewegtem Gesicht.
Ihre schöne dunkelhaarige Schwester sprang auf und küßte sie auf die
blassen Lippen. Sie ließ es schweigend geschehen. Die andere spielte
ihre Komödie weiter.
»Ich danke dir von Herzen,« sagte sie lebhafter als sonst. »Nun ist
mir ein Stein von der Seele, da du mich so über deine Gefühle beruhigt
hast. Nun kann ich erst mit den Eltern sprechen. Die haben ja doch von
nichts eine Ahnung!«
Sie umarmte die Jüngere noch einmal, nickte ihr zu und schlüpfte
aus dem Zimmer. Sie war jetzt ganz mit sich beschäftigt. Sie merkte
es nicht mehr, daß, noch während sie die Tür in das Schloß drückte,
Maximiliane mit einem leisen, todwunden Stöhnen schwankte, unsicher
in der Luft nach einem Halt griff, ein paar Schritte nach ihrem Bett
zu machte und schwer darauf niederstürzte. Da blieb sie liegen,
ohne sich zu rühren, mit geschlossenen Augen, wächsernen Wangen und
strengem, leidendem Mund, gleich einer Toten.
Ulla war inzwischen wieder zu ihren Eltern ins Zimmer getreten.
Sie sah jetzt belebter und fröhlicher aus. Der Vater empfing sie
ungeduldig, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Gott ... die Maxe ist ja ganz vernünftig!« sagte sie. »Sie faßt's mit
der größten Seelenruhe auf. Es war bei ihr gar nicht so schlimm, wie
man dachte! ... Wahrscheinlich war überhaupt nichts. Man wird ja nie
aus ihr klug ...«
»Bist du dessen auch ganz sicher?«
»Ja, ja ... Mama!«
»Gott sei Dank!« sprach Frau von Ottersleben.
Ihr Mann räusperte sich: »Na schön! ... Also nun hab' die Güte, liebes
Kind, und erkläre dich!«
»Wieso, Papa?«
»Ja ... sieh mal -- bloß um sich einen Korb zu holen, bestell' ich mir
den Logow nicht erst nachmittags extra ins Haus! Das mute ich einem
Mann von seinem Selbstgefühl nicht unnütz zu! Das vergißt er mir nie!
Da schreib' ich ihm lieber ein paar schonende Zeilen und schick' sie
ihm vorher ...«
Ulla von Ottersleben überlegte nicht lange. Sie sagte ruhig, nur noch,
in diesem Augenblick der Entscheidung über ihr Leben, um einen Ton
blässer werdend: »Du brauchst ihm nicht zu schreiben, Papa!«
»Also willst du ihn nehmen?«
»Ja.«
3
Im Hause Ottersleben saß man beim Abschiedsfrühstück. In einer Stunde
sollte Erich von Logow nach Berlin abreisen. Er trug schon die Uniform
des Generalstabs. Er hatte seine Braut zu seiner Rechten. Ulla war
ganz verwandelt. Ihre sonstige Teilnahmlosigkeit und Schweigsamkeit
war geschwunden. Ihre Augen glänzten. Sie lachte. Sie schwatzte.
Sie sprang vom Stuhl auf, um Vergessenes herbeizuholen, und lief
geschäftig und sorgte für ihren Verlobten, und er lächelte ihr
verzückt zu und folgte in stummer Andacht jeder ihrer Bewegungen. Er
war so blind verliebt, wie nur ein Mann sein konnte. Jetzt, wo die
Schranke der Zurückhaltung für ihn gefallen war, äußerte sich das bei
seiner strengen Natur in einem naiven, beinahe kindlichen Glück.
In den Kelchgläsern perlte Sekt. Der Oberst von Ottersleben trank
seinem künftigen Schwiegersohn mit einem väterlichen und gütigen
Kopfnicken zu. »Dein Wohl, mein lieber Erich!« Dann rauschte plötzlich
von unten, von der Straße her, Musik. Es war eine Aufmerksamkeit
des Adjutanten Rudicke, der die Regimentskapelle zu einem
Abschiedsständchen geschickt hatte. Die Hoboisten standen im Kreis,
mit im Winde flatternden Mänteln, mitten auf dem Pflaster und spielten
das lustig-wehmütige:
»Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus,
und du, mein Schatz, bleibst hier ...«
und oben schaute der Hauptmann von Logow seiner Braut in das schöne,
weich lächelnde, von dunklem Seidenhaar umsponnene Antlitz und meinte
glückselig: »Nein, mein Schatz ... du bleibst nicht hier!! Zum
Frühjahr hol' ich dich zu mir, nach Berlin ...«
Die Kapelle schloß unten ihr Konzert unter Trommelwirbel und
Paukendonner mit dem zündenden alten Avanciermarsch des Regiments aus
den Freiheitskriegen, unter dessen Klängen es sich bei Lützen und
Bautzen gegen Napoleon die Feuertaufe geholt hatte und jetzt noch
in der Parade vor dem Kriegsherrn vorbeirückte. Der Stabshoboist
Schickedorn wurde heraufgerufen, um stramm stehend das ihm angebotene
Glas Wein zu trinken. Dann war es Zeit zum Aufbruch. Logow trat
mit seiner Verlobten in das Nebenzimmer, um ihr ungestört Lebewohl
zu sagen. Sie küßten sich lang und innig, ohne viele Worte. Dann
versetzte er sorglos und halb lachend: »Du, Schatzi -- was du mir da
aber gesteckt hast, gestern ... die Maxe hätte was für mich übrig
gehabt ...«
»Etwas, Erich -- nicht viel -- nur ein ganz klein bißchen! Werde nur
nicht eitel!«
»... also -- das ist Unsinn, Maus! Das habt ihr euch eingebildet! Ich
hab' sie doch jetzt beobachtet! Sie ist ja die Ruhe und Unbefangenheit
selber! Wie käme sie denn auch darauf! Ein Blinder hätte ja doch von
Anfang an sehen müssen, daß ich dich im Auge gehabt hab'! ... Aber
nun los! Sonst versäume ich noch den Zug ... Adieu, Schwiegerpapa ...
Adieu, Maxe! ... Adieu, Otto! ... Adieu, Hans! Auf Wiedersehen, Mama
und Dorle -- in ein paar Tagen in Berlin!«
Es war beschlossen, daß die Aussteuer für die beiden Bräute in der
Reichshauptstadt besorgt werden sollte. Solange es sich nur um die
Jüngste handelte, hätte man nicht so viel Umstände gemacht. Da fand
sich auch hier in der Provinz das Nötige. Aber für Ulla mußte man
sich anstrengen. Sie verlangte das selbst am meisten. So reiste Frau
von Ottersleben in der folgenden Woche mit ihr und Dorle nach Berlin.
Sie war sehr aufgeregt, voll der festlichen Unruhe einer zweifachen
Brautmutter. Sie war auch gar nicht gewohnt, ihren Mann allein zu
lassen. Sie zog ihre mittlere Tochter vor der Abfahrt auf die Seite.
»Maxe: ich binde dir Papa auf die Seele! Sorge ja dafür, daß er nichts
Gewohntes vermißt! Morgens zwei Eier zum Kaffee. Um halb elf das Glas
Wein und ...«
»Ich weiß ja, Mama!« sagte Maximiliane ruhig. »Du kannst dich auf mich
verlassen! Ich hüte schon das Haus!«
Aber sie kam nicht dazu, am nächsten Morgen für den Vater zu sorgen.
Früh um fünf, noch in schneeheller Nacht, war ein Trompetenblasen auf
den Straßen, ein Rennen von schlaftrunkenen Leutnants und atemlosen
Einjährigen, ein Galoppieren von Hauptleuten und Majoren auf dem
glitscherigen Pflaster, ein Poltern und Stürmen der Ordonnanzen zur
Wohnung des Obersten hinauf, vor der der Stallbursche mit fertig
gesatteltem Handpferd vortrabte. Der Generalmajor Olaf von Glümke
machte einen seiner kleinen Scherze und alarmierte die Garnison. Das
brachte Zug in die Bude! Springlebendig mußte eine Truppe sein wie
'ne Hand voll Flöhe! Von irgend woher hörte man auf dem Exerzierplatz
-- sehen konnte man ihn nur schattenhaft auf seinem mächtigen Gaul
-- seine schneidige fröhliche Stimme: »Famoser Morgen, Kinder ... da
wollen wir uns mal recht ordentlich lüften!« Und damit führte er die
Seinen wie eine lange schwarze Schlange durch die dämmernde Stadt, zum
Tor hinaus, in den weiten weißen Schnee.
In der Wohnung des Obersten von Ottersleben war nun alles still. Das
fahle Morgenlicht des Februar lugte durch die Fenster und erfüllte
sie allmählich mit einem trüben Grau. Maximiliane ging übernächtig
durch die Zimmer hin und her. Sie empfand mit einem leisen Frösteln
diese traumhafte, beinahe unheimliche Ruhe -- dies Ausgestorbensein
der Räume, in denen sonst die Ihren lebten und lachten und kamen und
gingen. Der Vater weg, die Mutter weg, die Schwestern weg, die Brüder
-- es war, als seien die alle, alle tot und sie allein noch am Leben.
Oder besser umgekehrt: sie war fort und die anderen blieben. Die
hatten noch was vom Sein. Sie nicht. Es war ja alles vorüber ...
Das war nicht ein plötzlicher Gedanke, der sie durchzuckte -- das
war eine ständige Stimmung. Die hatte schon die ganzen Tage in ihr
gewohnt. Nun, in der Einsamkeit, kam ihre Stunde. Das stieg grau in
ihr empor, ballte sich, umwölkte sie, mit einem unfaßbaren Zwang der
Notwendigkeit, unter dem sie sich ganz kühl und ruhig sagte: Ich
werde jetzt meine Halifax nehmen und Schlittschuhlaufen gehen! Es
ist ja noch eigentlich zu früh. Aber warum soll ich mich denn hier
langweilen? Es vermißt mich ja hier niemand. Überhaupt keiner auf der
Welt. Ich bin das fünfte Rad am Wagen. Ich weiß nicht, wozu ich da bin
...
In einem jähen Trotz, als hätte ihr jemand widersprochen, wiederholte
sie sich: Warum soll ich denn nicht Schlittschuhlaufen gehen? Ich
kann's doch! Sogar gut! Die Eltern haben nichts dagegen. Die haben
mir's immer erlaubt -- auch damals, vor zwei Wintern, nachdem die
arme Herta Harff dort eingebrochen und ertrunken war. Denn es sind ja
freilich Löcher dort im Eis -- tiefe schwarze Löcher -- man kommt aus
Versehen mal hinein ...
Auf der Straße pfiff ein eiskalter Wind. Es waren jetzt
zwischen sieben und acht Uhr morgens da nur Arbeiter unterwegs,
Ladenverkäuferinnen, Schulkinder. Neugierige Blicke folgten dem großen
schlanken eleganten jungen Mädchen, das, die Schlittschuhe am Arm,
in seinem Pelzjäckchen gleichmäßig dahinschritt, die breiten Straßen
entlang, in denen die Rolläden der Schaufenster sich allmählich
knarrend lüfteten und die vollbepackten Straßenbahnwagen klingelten
und sausten, dann in die Ruhe der Villenvorstadt hinaus, in der
noch kein Mensch wach war und ihr Schritt sonderbar im Schweigen
widerhallte, als wäre es noch tiefe Nacht -- so dunkel wie die Löcher
da draußen im Eise.
Sie dachte sich mit einer, ihr selbst unverständlichen Ruhe: Wenn mir
heute etwas passiert, dann war ich eben unvorsichtig. Ich hab' die
Warnungszeichen nicht beachtet. Das kann jedem geschehen. Nachher
ist's zu spät. Es wird natürlich ein großes Geschrei geben ... Aber
ich hör' es ja nicht mehr ...
Und eine neue Bitterkeit: Was liegt denn an mir? Es will ja keiner was
von mir wissen? Da dräng' ich mich auch nicht auf, wenn mich niemand
mag. Ich geh' jetzt Schlittschuhlaufen. Und ob ich wiederkomm' ...?
Ihr schmales, trotz der Winterluft unter dem Schleier blasses Antlitz
war unbewegt, während sie weiterschritt und sich vorstellte: Nur, daß
es in den Zeitungen stehen wird, das ist schrecklich! Aber alle werden
sagen: Das ist ein Unglücksfall! Ein bodenloser Leichtsinn! Was es
war, weiß keiner. Auch er nicht! Er vor allem nicht! Er soll sich nie
einbilden, daß ich an ihn gedacht hab' ... auf diesem Weg ...
Zwei Freundinnen kamen ihr entgegen: die Töchter des Divisionspfarrers
Nicholt. Sie hatte die beiden seit Kaisers Geburtstag nicht mehr
gesehen. Berta Nicholt, die immer aufgeregt war, stürzte mit
ausgestreckten Händen auf sie zu.
»Du, Maxe ... das ist ja großartig! ... Ich war ja ganz paff: Die Ulla
ist glückliche Braut?«
»Sogar sehr glückliche!« sagte das junge Mädchen lächelnd und stehen
bleibend.
»Ja, wie kam denn das so plötzlich?«
»Gar nicht plötzlich! Das ist eine alte Geschichte!«
Maximiliane von Otterslebens Stimme klang sehr unbefangen, wie
sie dastand, lang, schlank und blond, in dem Ostwind, der mit den
krausen Härchen in ihrem Nacken spielte. Die beiden anderen sahen sie
unsicher an. Man hatte sich doch immer eingebildet, daß sie und Logow
... Aber sie lachte nur: »Die Ulla ist im siebten Himmel!« sagte sie.
»Na, das könnt ihr euch vorstellen! ... Und er erst! ... Wir sind alle
so froh! Ich denke, da haben sich gerade die beiden Rechten gekriegt!«
Sie hatte dabei nur die Angst, daß die Freundinnen sich ihr
anschließen könnten, aber die dachten nicht daran. Jetzt da draußen
auf der Eisbahn, ohne Leutnants, ohne Musik ... pah ... sie begriffen
Maxe Ottersleben nicht und schauten ihr noch ein paarmal nach, wie sie
ihren Weg nach dem Stadtpark fortsetzte. Aber die hatte ja immer so
komische Ideen! Das war nichts Neues ...
Im Forst war tiefes Weiß. Der Wind stürmte von hinten und blies
Maximiliane in schneidendem Pfeifen um die Ohren. Sie hörte kaum mehr
das Knirschen des Schnees unter den Füßen, so stark war das Brausen
in dem kahlen Geäst. Im Sommer kam man oft von der Stadt aus hierher,
trank drüben im Jägerhaus Kaffee, lagerte im Grünen. Jetzt war das
große Schweigen. Kein Mensch weit und breit. Nur ferne etwas Dumpfes,
wie Schläge der Holzaxt. Oder war es das Hämmern ihres Herzens?
Eine Erwartung ... ein Rückwärtsschauen: es war ja alles ganz schön
gewesen. Die Eltern waren gut zu mir. Die Geschwister freundlich. Kein
Mensch hat mir Böses getan. Ich war auch ganz froh. Ich hab' ja ganz
gern gelebt und gedacht, das Eigentliche kommt erst ...
Und statt dessen nun dies sonderbare, ihrem Willen entzogene Muß,
dies: Vorwärts! -- Die Löcher im Eise sind tief ... darin versank
man still, nach dem Sturz aus allen Himmeln ... Es war eine traurige
Gewißheit, daß das so sein sollte. Aber sie konnte nichts dafür ...
sie wahrlich nicht ...
Sie dachte sich: ›Jetzt küßt er sie eben in Berlin! ... Manche könnte
sich ja nun vornehmen: Gut -- dann heirate ich eben niemals einen
anderen! Aber was ist das für ein Leben -- vielleicht noch fünfzig
Jahre lang? Das halt' ich nicht aus! Lieber so!‹
Vor ihr, am Waldrand, lärmten die Krähen. Dahinter die stundenweite,
undeutliche, verschneite Fläche, das war der Liesensee. Jetzt, um
diese Morgenstunde, war gewiß kein Mensch dort. Das Musiktempelchen
stand öde. Die Bude für Punsch und Pfannkuchen war geschlossen. Man
streifte den Reif von einer Bank und setzte sich und schnallte sich
selbst die Schlittschuhe an und fuhr los. Kein Wächter rief hinter
einem her, wenn man den gebahnten Pfad verließ -- ins Weite hinaus
-- nur den Wind hatte man hinter sich. Der schob einen. Eine fremde
Gewalt trug einen dahin. Es war ein Flimmern vor den Augen ... Hinaus
... Hinaus ...
Sie senkte den Kopf und ging eilig im Schnee weiter. Merkwürdig:
was sie bisher für Axtschläge gehalten, klang jetzt immer lauter
und näher. Es war mehr ein Böllern, ein häufiger dumpfer Knall. Sie
machte noch ein paar Schritte und hemmte dann erschrocken den Fuß.
Da, auf den Hügeln am See stand ein einzelnes Feldgeschütz, die
Mannschaft darum herum und feuerte. Eine große gelbe Flagge wehte
daneben. Und etwa hundert Schritte weiter war eine zweite Kanone und
eine zweite Fahne -- eine dritte und vierte -- eine lange markierte
Artillerieaufstellung. So viel militärische Schulung besaß sie als
Offizierstochter wohl, um das auf den ersten Blick zu erkennen.
Sie seufzte in tiefem Kummer auf, in Angst und Ungeduld. Es durfte
jetzt nichts dazwischen kommen. Ihr war, als habe sie eine Pflicht zu
erfüllen. Von den Kanonieren bemerkte sie niemand. Die schauten alle
nach vorne, luden und zielten. Sie bog rasch nach rechts ab, um so die
waldumbuschte, einsame Seitenbuchtung des Sees zu gewinnen. Aber als
sie dort in dem Weidendickicht stand, schimmerte es vor ihr himmelblau
im Weiß des Schnees. Ein Trupp Dragoner hielt da versteckt mit einer
farbigen, ein Kavallerieregiment darstellenden Flagge und lauerte
blutdürstig auf etwas hinter den Anhöhen -- aus deren Ferne man nur
ein unbestimmtes Plackern vernahm.
Trostlos machte sie kehrt, gehetzt, als seien ihr Feinde auf den
Fersen, eilte sie wieder durch den Wald zurück, hinter den Geschützen
vorbei, nach der anderen Seite -- voll stummer, verbissener
Leidenschaft, sich nicht hemmen zu lassen, ihr Schicksal zu erzwingen
... Aber da drüben in der freien Ebene, auf der weißen Fläche, längs
der Ufer, bildeten dunkle Punkte und rote Flaggen eine lange, dünne,
langsam vorschreitende Linie. Es war Infanterie vom Regiment ihres
Vaters. Sie erkannte die Achselklappen. Sie sah das Aufblitzen der
Schüsse. Auch von rechts, wo die Dragoner gewesen, knatterte jetzt das
Kleingewehrfeuer, und weiterhin, jenseits des Sees, war alles schwarz
von Soldaten. Sie war mitten in die Felddienstübung des Generals von
Glümke hineingeraten.
Sie blieb ratlos, in sich zusammenfröstelnd, im Schnee stehen. Der
Weg zum See war ihr mit Waffengewalt versperrt. Das Gefecht näherte
sich mehr und mehr. Es schien, daß Papa mit seinem Regiment eine
weitausgreifende Umfassung vorbereitete. Sie glaubte ihn fern unter
einem einzelnen Baum an seinem Pferd, der guten alten Rappstute Bella,
zu erkennen, die so phlegmatisch im Kugelregen stand. Sie wandte sich
um und ging langsam, wie vor den Kopf geschlagen, längs des Waldsaums
dahin. In ihr war immer noch der verzweifelte, nachtwandelnde Drang:
›Ich kann mir nicht helfen. Ich muß jetzt Schlittschuhlaufen. Weit
weg. Ganz weit ... Wer weiß, wann ich wieder die Kraft dazu habe.‹
In einer Aussichtshütte, die am Wege stand, ließ sie sich nieder und
saß da, ohne sich zu rühren. Hier störte sie keiner. Sie hatte die
Hände zusammengelegt und den Kopf geneigt. Sie war unendlich traurig.
Über ihr war in der Holzwand von sommerlichen Ausflüglern ein Herz
eingeschnitten. ›Paul -- Emma. 1900.‹ stand darin. Das machte sie auf
einmal beinahe weinen. Alle Menschen liebten sich, jedes fand den
Seinen oder die Seine. Nur sie war verlassen. An ihr ging man achtlos
vorbei. Es war so grausam -- so demütigend. Sie ertrug es vor sich
selber nicht. Sie seufzte schwer, mit düsterem Gesicht. Sie dachte
sich: Es muß ja nicht heute sein! Der Winter ist ja noch lang. Es
kommen noch mehr solche Tage ... Das gab ihr einen trüben Trost. Sie
fühlte sich ruhiger. Sie erhob sich und drehte nun endgültig dem
Gefechtsfeld den Rücken und schlug die Richtung nach Hause ein.
Hinter ihr klang es, fern im Wind, aus vielen Hörnern: ›Gewehr in
Ruh'!‹ Es wurde plötzlich ganz still. Die Übung war doch früher zu
Ende, als sie geglaubt. Hoffentlich hatte Papa gut abgeschnitten.
Er machte es ja dem General von Glümke nie zu Dank. Nun rückten die
Regimenter bald in die Quartiere. Aber für sie, Maxe Ottersleben, war
es heute zu spät: die große Stunde und Stimmung verflogen.
Ein andermal ... Traumverloren wanderte sie weiter -- eine Viertel-,
eine halbe Stunde. Sie brauchte doppelt so viel Zeit als auf dem
Hinweg -- so matt war sie -- so schwer trugen sie die Füße. Am
liebsten hätte sie sich lang in den Schnee hingeworfen und wäre
liegen geblieben, mochte daraus werden, was wollte. Dann gab sie
sich einen erschrockenen Ruck und schritt anscheinend gleichgültig
dahin. Sie hatte hinter sich Hufgetrappel gehört. Da kam jemand, im
schlanken Trab, ohne sich um Schneelöcher und Baumwurzeln zu kümmern,
so elastisch wie ein junger Leutnant im Sattel, trotz der weithin
leuchtenden, scharlachroten Generalsaufschläge. Als er sich dem jungen
Mädchen näherte, richtete er sich in den Bügeln empor, die -- das
Zeichen eines tadellosen Reiters -- so lang geschnallt waren, daß er
eben noch mit der Fußspitze Anlehnung fand, und rief lachend: »Na, Sie
Schlachtenbummler ... hab' ich Sie noch glücklich erwischt ...?«
Sie machte halt, einen Schatten des Unmuts auf dem hübschen, blassen,
unregelmäßigen Gesicht. Der General von Glümke ... der fehlte ihr noch
gerade! ... Papas Vorgesetzter und Widerpart! Sie schaute kühl zu
ihm empor, in der Erwartung, daß er an ihr vorbeireiten würde. Er sah
etwas verändert aus, weil der Reif seinen sonst blonden Schnurrbart
silbergrau überzogen hatte. Aber das machte ihn nicht älter. Es
war eher, als ob er sich gepudert hätte, wie ein Offizier aus
friderizianischen Zeiten. Mit seinen geröteten Wangen, den blitzenden
blauen Augen war er ein Bild der Unternehmungslust. Man mußte schon
genau hinblicken, um die vielen feinen Fältchen auf seinen verwegenen
Zügen zu erkennen. Er ritt ein riesiges, blutjunges Pferd, das noch so
hochbeinig war wie ein halbes Fohlen. Es arbeitete an der Kandare, daß
die weißen Schaumflocken flogen. Sein dickes Winterhaar rauchte von
Schweiß und war struppig wie bei einem Ackergaul. Beim unvermuteten
Anblick einer Dame machte es mit allen vieren eine Lançade in die Luft
hinauf, daß sie schon einen Sturz befürchtete. Aber Olaf ließ sich
durch solche kleine Späße nicht im Sitz stören. Er klopfte dem Tier
beruhigend auf den Hals, schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel
und ging, es am Zügel nach sich ziehend, so als ob sich das von selbst
verstände, links neben Maximiliane her.
»Nu sagen Sie mal um Gottes willen, was haben Sie denn eigentlich den
ganzen Morgen da draußen gemacht?«
»Ich?« sagte sie erstaunt. Es konnte sie doch niemand gesehen haben.
Es war doch zu weit gewesen.
»Na -- ich beobachte Sie doch seit zwei Stunden und trau' meinen Augen
nicht! Stiefelt mir da auf einmal eine junge Dame in der Schützenlinie
herum! Ich hatt' schon Angst, Sie würden schließlich noch die Führung
des markierten Feindes übernehmen ... Na -- da hätt' ich schön Senge
besehen! Gegen Damen bin ich wehrlos!«
»Ich bin nur hinaus, um Schlittschuh zu laufen, und wie das nicht
ging, gleich wieder umgekehrt.«
Er lachte schallend und schlug mit der Hand auf den Krimstecher, den
er in einem Lederfutteral umgeschnallt trug: »Und mein Zeiß? Ich hab'
doch als Feldherr das Gelände überschaut. Ich hab' mich immer beim
Befehlerteilen gefragt: Jesus -- was macht sie nur? ... In dem zugigen
Aussichtstempelchen, in dem Sie eine Stunde gesessen haben, könnt' ja
unsereiner 'nen Schnupfen kriegen! ... Aber warten Sie nur: ich steck'
es dem Papa!«
Er drohte ihr gutmütig wie einem Kind mit dem Finger und setzte
amüsiert hinzu: »Schade, daß Sie nicht zum Schluß zur Kritik gekommen
sind! Ich hätte Ihnen gerne die Brigade im Parademarsch vorgeführt!«
Sie biß sich auf die Lippen, erwiderte nichts. Endlich versetzte sie
schroff: »Ich kann doch spazieren gehen, wo ich will.«
»Aber unbedingt!« sagte Olaf von Glümke. Im Augenblick, wo er merkte,
daß sie auf seine Neckereien nicht einging, änderte er den Ton.
»Ich hatt' nämlich wirklich Angst, es wäre Ihnen nicht wohl!« gestand
er. »Oder Sie hätten gestern was beim Schlittschuhlaufen verloren und
suchten es. Da hab' ich Adjutanten, Ordonnanzen und Gäule auf der
Chaussee vorausgeschickt und bin Ihnen durch den Wald nachgeritten,
um zu sehen, ob ich Ihnen nicht behilflich sein kann.«
»Sie sind sehr gütig, Herr General!«
Sie gingen eine kurze Strecke stumm nebeneinander her. Leise klirrten
ihre Schlittschuhe, seine Sporen im Takte ihrer Schritte. Hinter ihnen
schnaufte das Pferd. Man fühlte seinen heißen Atem im Genick. Sie
dachte sich: Warum steigt er denn nicht endlich auf und reitet weiter?
Sie sagte es schließlich direkt in ihrem Unmut: »Aber ich möchte Ihnen
nicht Ihre Zeit wegnehmen, Herr General!«
Er verneinte.
»I wo! Ich vertret' mir mit Wonne 'n bißchen die Beine! Ich bin
verfroren. Ich kann mir doch nicht Stroh um die Steigbügel wickeln
lassen wie ein Großpapa ... Aber die Brigade mußte mal 'raus und ihre
Sünden abschwitzen. Ihr Herr Vater, der ist nur fürs Zielen! Aber ich
bin nicht so gelehrt. Ich bin kein Bücherhengst. Es ist ja jetzt Mode.
Die Herren sind's alle. Ihr künftiger Schwager Logow auch. Na -- wann
heiratet denn die schone Ulla?«
»Anfang Mai.«
»Und das Dorle?«
»Am selben Tag.«
»Und die blonde Maxe?«
»Ich?«
Sie war ganz empört, daß er sie im Scherz mit ihrem Garnisonspitznamen
»blonde Maxe« nannte! Woher wußte er denn überhaupt?
Er bestätigte unbefangen: »Ja ... Sie!«
Sie wurde nicht rot, sie kicherte nicht und sah nicht zur Seite, wie
er es als alter Schwerenöter sonst bei jungen Mädchen kannte, sondern
warf den Kopf etwas zurück und sagte sehr kühl und von oben herab:
»Ich hab' noch lang' Zeit, Herr General!«
»Nanu?«
Sie ärgerte sich über seine belustigt hochgezogenen Brauen und
setzte hochmütig hinzu: »Wenn es nach mir geht, heirate ich am
liebsten überhaupt gar nicht! Ich finde die Männer nicht so furchtbar
verlockend!«
Der General von Glümke schüttelte sich vor Lachen.
»Sie haben sehr recht, Fräulein Maxe ... Sehr recht! ... Ich kenne die
Gesellschaft! Ich warne Sie! Aber Sie müssen mich trotzdem zu Ihrer
Hochzeit einladen! Versprechen Sie es mir?«
»Lassen Sie doch endlich die Witze, Herr General! Die sind wirklich
nicht neu! Wenn Sie bloß deswegen von Ihren Soldaten weggeritten sind,
um mir das zu erzählen ...«
»Der Dienst ist zu Ende!« versetzte Olaf von Glümke. »Jetzt bin ich
Mensch! Hol' der Deubel den Dienst in den Freistunden! ... Na ...
Kopf hoch, Fräulein von Ottersleben! ... Was machen Sie nur immer für
ein Armsündergesicht? Tut's Ihnen so leid, daß die Schwestern aus dem
Hause gehen? ... Na -- warten Sie nur: Sie werden auch bald ... Ach so
... Ich bin schon still ... Sie müssen es nicht so ernst nehmen, was
ich rede!«
Ihre Züge waren unter dem schwarzgetupften Schleier blaß und trotzig.
Sie antwortete wenig höflich: »Das tu' ich auch nicht, Herr General!«
»Danke gehorsamst!«
Er legte zwei Finger an den Helmrand, lachte, und es fuhr ihm dabei
blitzschnell durch den Kopf: Donnerwetter ja! ... Die hat schon
scheint's ihre Erfahrungen hinter sich! Die hat sich schon irgendwo
verbrannt! Dann forschte er wohlwollend: »Sind Sie eigentlich immer so
kratzbürstig, Fräulein von Ottersleben?«
Sie antwortete nicht und ging rascher. Er hielt elastisch mit ihr
gleichen Schritt. Er sah sie dabei vergnügt aus seinen strahlenden,
von feinen Krähenfüßen umrahmten blauen Augen an. Er behandelte sie
wie ein Kind, mit dem man sich im Spiel herumneckte. Er war grausamer
bei ihrer jetzigen Seelenverfassung, als er ahnte. Und doch belebte
sie seine unbekümmerte frische Art. Er nickte befriedigt.
»Sehen Sie ... Jetzt schauen Sie schon wieder viel blanker aus den
Augen! Lachen Sie! ... Lachen Sie, Fräulein Maxe! ... Wollen Sie
gleich lachen ... Donnerwetter ja! So! Na ... das war wenigstens ein
Anfang ... Sie möchten nämlich ganz gerne fidel sein, Kind ... Sie
genieren sich bloß ... Sie denken: Blässe ist interessant! ... Ach
wo! ... Kinder ... wenn schon die jungen Mädchen Trübsal blasen, was
sollen denn dann wir alten Knackstiebel erst anfangen? Ich hab' doch
so was Väterliches an mir, nicht?«
»Nein -- gar nicht, Herr General!«
Er wiegte betrübt den blonden Kopf.
»Ach ... und ich dachte ... na ... nichts für ungut! Kommen Sie: wir
wollen uns wieder vertragen! ... Ich muß jetzt da links ab ... Sind
Sie mir noch böse?«
Sie waren am Stadtrand. Vor ihnen schimmerten schneebedeckt die
ersten Villen. Sie dachte sich: ›Böse -- Warum? ... Lieber Gott ... Er
ist nun mal so ...‹
»Adieu, Herr General!« sagte sie freundlicher, froh, von ihm
loszukommen. »Au -- Sie tun mir ja weh ...«
Er hatte ihre Rechte kameradschaftlich derb geschüttelt, hielt sie
einen Moment fest und schaute ihr ins Gesicht.
»Ich mein's nämlich wirklich nicht so schlimm!« sagte er. »Ich hab'
Sie doch noch als Backfisch gekannt! ... Wissen Sie, Fräulein von
Ottersleben ... Sie gefallen mir eigentlich! Sie sind ein apartes
Mädel! Anders wie die anderen! ...«
»Herr General ... nun möcht' ich aber wirklich bitten ...«
Olaf von Glümke ließ ihre Hand los und schwang seine hagere, straffe
Gestalt mit einem Sprung in den Sattel. Der Gaul schnarchte nervös,
bockte und stieg, drehte sich mit dem Reiter im Kreis.
»Passen Sie auf ... das Biest keilt ...« schrie er oben, im Kampf mit
dem Tier, zu dem jungen Mädchen, das, an Pferde gewöhnt, nur langsam
zurücktrat. »So ... alter Sohn ... Nu hab' ich dich ... 'n Morgen,
Fräulein von Ottersleben! Besuchen Sie uns bald wieder draußen beim
Exerzieren! Ist uns immer eine Ehre!«
Er war mit Zügeln und Schenkelschluß in Ordnung, ein Sporengekitzel:
Roß und Reiter flogen im Rechtsgalopp dahin. Er drehte sich noch
einmal um. Er winkte mit der Rechten.
»Ich tanz' doch noch auf Ihrer Hochzeit!« schrie er durch den Wind.
Dann bog er über den Chausseegraben auf das flache Feld zur Linken
ein. Da waren Heckenreihen. Er übersprang sie, eine nach der anderen,
in elegantem Jagdsitz. Es war ein schneidiger Anblick. Seine Gestalt
wurde rasch kleiner und kleiner und verschwand. Sie sah ihm nach
und dachte sich: Drollig. Da zeigt er sich nun vor mir mit seinen
Reiterkunststücken ... Er -- ein General in Rang und Würden. Er hat es
doch wirklich nicht mehr nötig, auf mich Eindruck zu machen. Er ist
ein komischer Mensch ... Aber immerhin ... Wo er war, war Leben: es
lag jetzt noch, wie sie in die Stadt hineinschritt, ein vergessenes
halbes Lächeln von vorhin auf ihren Zügen. Dann wurde sie seiner
bewußt, und es schwand. Die traurige Grundstimmung ihrer Seele nahm
wieder von ihr Besitz. Aber nicht mehr mit dem alten lähmenden Zwang.
Der war durch den General von Glümke unterbrochen worden. Er hatte
sie wachgerüttelt. Etwas von seiner Frische -- das, wodurch er die
Mannschaft elektrisierte -- hatte sich ihr mitgeteilt.
Eigentlich mußte sie ihm dafür dankbar sein. Er war der erste und
einzige, der ihr ein bißchen Trost gegeben hatte. Nein, nicht Trost --
eher Trotz. Sie sah sich jetzt in ihrer Stimmung von heute früh wie
eine Fremde. Sie fühlte, die Anwandlung kam in dieser Stärke nicht
wieder. Darüber war sie nun hinaus ...
4
Von dem Hotel zum ›König von Preußen‹ wallte eine mächtige
schwarz-weiß-rote Fahne nieder. An der Tür zum Festsaal hielten zwei
Flügelleute des Regiments in dessen Uniform aus den Freiheitskriegen,
in hohem Tschako und Schwalbenschwanz, Wache. Die ganze Straße
hinunter standen die Menschen und schauten sich die Hochzeitskutschen
an, Offiziere darin und Offiziersdamen in zarten Frühlingsfarben, und
immer wieder Offiziere. Warmer Maisonnenschein war in der Luft --
tiefes Glockenläuten, fern von der Garnisonkirche her, als Zeichen,
daß die Doppeltrauung zu Ende war.
Ein ›Ah‹ der Neugier unter den Gaffern, ein
Sich-auf-die-Fußspitzen-Erheben der hinteren Reihen: da kamen die
Brautwagen. Die beiden Neuvermählten, Frau Ulla von Logow und Frau
Dora Grotjan, schlüpften tief verschleiert heraus und am Arme ihrer
Männer, mit niedergeschlagenen Augen, ins Haus. Beide waren blaß.
Das fließende Weiß mit dem grünen Myrtenkranz ließ sie noch bleicher
erscheinen: Ulla, mit ihrem von Natur schon blutlosen Teint, sah aus
wie eine Marmorbraut. Es war, als sei ein Bild ohne Gnade aus seinem
Rahmen herniedergestiegen.
»Ich hatt' sie mir eigentlich noch großartiger gedacht!« meinte
der Festordner, der Regimentsadjutant Rudicke, zu dem Hauptmann
Neugereuth. »So eigentlich noch niederschmetternder ... strahlender
... Na, das macht die Aufregung ... Ich muß jetzt nur schauen, daß wir
die ganze Gesellschaft glücklich in den Garten lotsen. Der Photograph
tanzt schon vor Ungeduld. Er hat gerade noch gutes Licht ...«
Vor Beginn der Festtafel sollte ein Gruppenbild der Teilnehmer
aufgenommen werden. Es war ein Gerufe und Gelaufe, bis endlich
alles beisammen und in aufsteigenden Reihen auf den zum Hotelgarten
niederführenden Stufen geordnet war. In der Mitte vorn die beiden
jungen Paare, rechts und links die Eltern, neben dem Brautvater
seine beiden Brüder: der Oberstleutnant Bruno von Ottersleben,
Chef des Generalstabs des XXV. Armeekorps, der Stolz der Familie,
hochgewachsen, breitschultrig, mit etwas grob geschnittenen Zügen, die
klug, energisch und voll Wohlwollen waren, und der Major z. D. und
Bezirkskommandeur Kaspar von Ottersleben, dessen militärische Laufbahn
sich schon dem Abend zuneigte. Er war ein etwas vor seinen Jahren
gealterter, nervöser Mann. Er konnte nicht lange still stehen. Er trat
ungeduldig während der Vorbereitungen zum Photographieren von einem
Fuß auf den anderen. Seine Frau hielt ihn begütigend am Arm. Neben
ihr stand Otto, der Sohn des Hauses, der von seinem Berliner Kommando
herübergekommen war. Seinen jüngeren Bruder Peter, den Lichterfelder
Selektaner, hatte man mit gekreuzten Beinen auf den Boden vor
den Brautpaaren hingesetzt, zwischen seinen beiden noch jüngeren
Kadettenvettern Günter und Busso, den Söhnen des Oberstleutnants.
Dessen frische, große blonde Frau saß auf der anderen Seite neben
den Grotjanschen Eltern, zu ihrer Linken der Bruder der Brautmutter,
Major Freiherr von Koninck, ein wuchtiger, breit geratener blauer
Husar. In den oberen Reihen drängte sich eine Musterkarte der Armee,
das Dunkelblau und Hellrot der Infanterie, das dunkle Schwarz der
dreißigsten Pioniere, die Samtkragen der Feldartillerie, helles
Dragonerblau, Scharlach und Karmoisin der Generale und Generalstäbler,
goldener und silberner Gardeglanz, hohe und niedere Regimentsnummern,
die aus allen Teilen Preußens herbeigereisten Verwandten. Davor
das schneeige Weiß der Bräute, das Rosa, Himmelblau, Violett der
Damenkleider -- das Grün der Bäume umher -- das Strömen der Sonne über
das ganze bunte, flüsternde, lachende, leise wie vom Frühlingswind
bewegte Bild.
Ganz zuletzt kam noch Maximiliane von Ottersleben vom Saal her. Es war
da noch etwas an der Tischordnung zu ändern gewesen, wegen plötzlicher
Unpäßlichkeit des Divisionskommandeurs. Sie trat vorne an den linken
Flügel. Der Divisionspfarrer Nicholt wollte sie an sich vorbei lassen.
Aber sie meinte: »Ach wo, ich steh' hier ganz gut!« und blieb wo
sie war und schaute, die Hände auf dem Rücken zusammenlegend, in
lässiger Haltung hinüber nach dem Apparat. Ihre Augen waren glänzend
und lebhaft, ihre Lippen halb offen, ihre Wangen leicht gerötet. Ihre
Brust hob und senkte sich rasch von dem Treppenlaufen im Hause. Sie
lächelte heiter. Sie hatte sich in der Gewalt. Sie hatte Zeit gehabt,
sich auf diesen Tag vorzubereiten.
»Donnerwetter!« sagte neben ihr eine lachende Stimme. Sie wandte
den Kopf. Da stand der Generalmajor von Glümke, straff, jugendlich
schlank, im Glanz seiner vielen Orden, auf feinen Säbel gestützt, und
musterte sie aus seinen großen blauen Augen, in denen der Übermut
brütete, mit unverhohlener Billigung. »Donnerwetter!« wiederholte er.
»Famos sehen Sie aus, Fräulein Maxe!«
Sie trug ein rosafarbenes Kleid, über dem blonden Scheitel einen
vollen Kranz von rosa Rosen. Im Sonnenglanz, unter dem blauen Himmel,
war das, im Verein mit der Wärme auf ihren Wangen, wie ein Bild
des Frühlings, im Gegensatz zu dem Weiß der vor Aufregung blassen,
verschleierten Bräute. Alle hatten Maxe heute reizend gefunden.
Ihr war es gleich. Sie hatte sich willenlos von ihrer Mutter so
herausmustern lassen. Sie machte auch jetzt nur eine kurze abwehrende
Schulterbewegung, während ihr Nachbar ihr geheimnisvoll zuraunte:
»Ihre Schwestern können sich gegen Sie verstecken! Wissen Sie das?«
»Bitte, Herr General ... Hier ist noch Platz!«
Man wollte Olaf als Ehrengast einen Stuhl in der Mitte einräumen. Aber
er winkte mit der weißbehandschuhten Rechten ab.
»Nee, danke ... danke gehorsamst! Ich bin hier vorzüglich aufgehoben!
Fräulein Maxe behandelt mich zwar schlecht, aber das bin ich bei ihr
schon gewohnt! Wir sind doch gute Freunde -- was?«
Seit er sie damals, vor einem Vierteljahr, im Schnee im Stadtpark
getroffen, stand er mit ihr auf dem Neckfuß. Er war seitdem öfters
in das Otterslebensche Haus gekommen, ein-, zweimal sogar spät
abends nach dem Tee, zu einem Plauderstündchen als armer, von Gott
und der Welt verlassener Junggeselle, wie er sagte. Meist hatte er
dann mit dem Oberst in dessen Rauchzimmer gesessen und debattiert.
Die Beziehungen zwischen den beiden Herren hatten sich dadurch auch
dienstlich sehr gebessert. Maximiliane wußte: das war für Papas
Stellung ein großer Vorteil. Schon deswegen mußte man Olaf nehmen, wie
er nun einmal war. Übrigens hatte sie auch weiter nichts gegen ihn und
seine Dummheiten. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er
flüsterte, nachdem die erste photographische Aufnahme mißlungen war,
vertraulich: »Na ... Hand aufs Herz, Fräulein Maxe ... Wie sieht er
denn aus?«
»Gar nicht, Herr General!«
»Ist er hier unter uns?«
»Nirgends!«
»Ich muß doch mal schauen, ob Sie dabei rot werden!« Er blickte
ihr scharf wie einem seiner Soldaten in das schmale, hübsche,
unregelmäßige Gesicht und schüttelte den Kopf. »Keine Spur!
Merkwürdig, wie Sie sich verstellen können! Wo kriegen Sie nur die
unschuldigen Augen her? Aber Sie haben sich doch verraten, Fräulein
Maxe!«
»Wieso?«
»Sie haben sich instinktiv dicht neben unseren Kommißbonzen gestellt!
Sie denken, ~den~ Mann muß man sich auf alle Fälle warm halten!«
Er verstärkte seine Stimme und rief vergnügt zu dem Divisionspfarrer
hinüber, der vorhin Maxens Schwestern getraut hatte: »Na ... Herr
Pfarrer ... sehen Sie mal, wen wir da zwischen uns haben! Da gibt's
bald mehr für Sie zu tun -- nicht?«
»Ach, lassen wir doch Fräulein von Ottersleben damit in Ruh'!« meinte
der Geistliche gutmütig. »Die hört diese Späße nun schon den ganzen
Tag!«
»Ja, weiß Gott!« sagte Maximiliane ergeben und rückte sich im Stehen
zurecht. Es wurde wieder photographiert.
Olaf von Glümke mußte schweigen. Aber er war unverbesserlich. In
der ersten Pause hub er wieder an: »Wenn man uns nur nicht auf dem
Bild für ein heimliches Brautpaar hält, Fräulein Maxe, weil wir so
verträglich beisammen stehen ...«
Und nun wurde sie wirklich ärgerlich und versetzte, unwillkürlich ein
wenig mit dem Fuß aufstampfend: »Jetzt hören Sie aber, bitte, endlich
einmal auf, Herr von Glümke! Sonst sag' ich's mal Papa!«
Ihr Vater schaute nicht herüber und achtete nicht auf sie. Er hatte,
während die Gesellschaft sich auflöste und in Gruppen nach dem
Festsaal schritt, eine plötzliche andere Sorge. Er drängte sich an
seinen jüngeren Bruder, den Major z. D., heran und mahnte verstohlen:
»Kaspar, ich bitte dich, daß du mir heute keinen Mißklang in das Fest
bringst! Du sitzt zwischen lauter noch aktiven Herren, die deine
Verbitterung nicht teilen ...«
Über das kluge, nervöse Gesicht des zur Disposition gestellten Bruders
flog ein Schatten von Erstaunen: »Ich verbittert? ... Ich nehme nur
kein Blatt vor den Mund.... Es gibt Mißstände in der Armee, Thilo! ...
Und die zur Sprache bringen ...«
»Mißvergnügte Leute sehen überall Mißstände, mein Lieber!«
»Ja, soll ich etwa tanzen und springen, weil man mich in der Vollkraft
meiner Jahre kaltgestellt hat? Dann hab' ich wenigstens das Recht zur
Kritik!«
»Ruhe ... Ruhe ...« versetzte von hinten der Husarenmajor Freiherr
Wilderich von Koninck in einem Ton, als spräche er zu einem
störrischen Schwadronsgaul, faßte den aufgeregten Mann am Arm und
führte ihn zur Seite. Zugleich wandte sich der Oberst von Ottersleben
an Olaf von Glümke.
»Wenn ich bitten darf, Herr General -- Seine Exzellenz hat leider
vorhin abgesagt -- meine Frau zu führen!«
»Nichts angenehmer als das!« sagte Olaf in seinem verbindlichsten
Leutnantston. Er hätte lieber neben der Tochter gesessen. Er schaute
während der Tafel immer wieder verstohlen zu Maximiliane hinüber,
die weit unten am Tisch saß. Er konnte zwischen zwei Blumenaufsätzen
gerade ihren blonden Kopf erkennen. Ein Pionierhauptmann führte
sie. Ein kleiner Dragoner war auf ihrer anderen Seite. Es war da
unten am Tisch schon ein Gelache und Gekicher zwischen den jungen
Mädchen und den Leutnants. Der Sekt rötete die Backen. Man bewarf
sich mit Veilchensträußchen, zog vor der Zeit aus den Konfektschalen
Knallbonbons und fuhr schuldbewußt, mit einem Blick auf die älteren
Herrschaften oben, bei dem Krach zusammen -- mitten darin saß
Maximiliane von Ottersleben mit einem lächelnden, aber ganz leeren
Gesicht, als ob sie das alles nichts anginge, und der General von
Glümke dachte sich: ›Komisch! Sie dalbert nicht mit! ... Sie ist
älter als ihre Jahre! Sie hat was hinter sich. Sie hat sich schon mal
verbrannt. Aber gründlich!‹
»Nun, gnädige Frau!« sagte er zu seiner Nachbarin. »Wie ist Ihnen denn
nun so zumute! ... Ein nasses und ein heiteres Auge! ... Hart, seine
lieben Mädels so auf einmal alle wegzugeben! Nicht?«
»Eine haben wir ja noch!«
»Aber wie lange?«
Frau von Ottersleben warf einen Blick auf ihre mittlere Tochter.
»Die Maxe wird nicht leicht unterzubringen sein, Herr von Glümke!«
sagte sie.
Er riß seine blauen Augen auf. »Die? ... Na -- da muß ich doch lachen!«
»Denken Sie nur: Wie schwer hatte sie's bisher neben Ulla ... Wenn
eine gewisse Ähnlichkeit zwischen zwei Schwestern vorhanden ist und
die eine ist dabei eine ausgesprochene Schönheit ...«
»Schönheit in Ehren ...« Der General ließ den Blick nicht von dem
schweigsamen, kühlen Mädchenkopf da unten. »Aber Schönheit allein ist
langweilig. Es gehört doch noch was dazu ... Rasse! ... Sehen gnädige
Frau doch nur: Eigentlich ist sie doch einfach reizend!«
»Ja, ich finde es heute ja auch!« gestand Frau von Ottersleben. »Es
haben's mir auch schon andere gesagt ...«
»... und wird noch viel reizender! ... Dafür hab' ich doch Augen! ...«
Er schaute träumerisch zwischen den beiden Blumenaufsätzen hindurch.
Maxes Mutter seufzte. »Und trotzdem ... ich wäre ja froh ... aber das
Mädchen ist so sonderbar! Sie macht sich gar nichts aus den jungen
Leuten. Das erschwert es so! ... Beobachten Sie sie einmal: Sie ist
direkt unliebenswürdig zu ihrem Tischherrn. Das sind so ihre Mucken.
Sie kann unausstehlich gegen Herren sein, wenn sie will ...«
Und wieder dachte sich der General von Glümke voll Unruhe: Jawohl. Die
hat schon ihren Knacks im Herzen weg. Die weiß: Es geht nicht alles so
mit Lenz und Liebe! Die ist bereits auf dem Weg zur Vernunft ...
»Sie bekommen ja auf einmal einen ganz roten Kopf, Herr von Glümke
...« sagte neben ihm die Dame des Hauses.
Er fuhr zusammen und lachte: »Wissen Sie, warum? ... Ich war
heilsfroh, daß unserem tüchtigen Divisionskommandeur die ehrenvolle
Aufgabe der Festrede zufiel. Nun kriegt der aus heiterem Himmel wieder
mal sein Podagra, und ich muß hier aus dem Stegreif einen Speech
loslassen ...«
»Es wird schon gehen!«
»Na, es ~muß~ gehen!« sagte Olaf unbekümmert, klopfte an sein
Glas und erhob sich.
Es war still geworden. Seine helle Kommandostimme hallte durch den
weiten Saal.
»Ja ... meine verehrten Herrschaften ... das wußt' ich ja ... ich seh'
aller Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet. Die Damen scheinen mich
sämtlich mit ihren Blicken zu durchbohren: Was haben denn Sie elender
alter Junggeselle einen Toast auf Neuvermählte auszubringen? Was
verstehen denn Sie davon? ... Stimmt! ... Ich habe einen unterdrückten
Neid gegen meine beiden glücklichen jungen Kameraden da vor mir, Herrn
von Logow und Herrn Grotjan. Ich hab', wie ich in deren Alter war,
leider den Anschluß verpaßt. Aber warum? Sehr einfach! Es wollt'
mich keine haben! ... Jetzt darf ich's ja sagen! Nee -- lachen Sie
nicht: das ist eine sehr traurige Geschichte ... und ich finde es
eigentlich furchtbar nett von mir, daß ich mich trotzdem hier zum
Sprecher aufgeschwungen habe, um unser aller Empfindungen Ausdruck zu
verleihen, den Glück- und Segenswünschen für das Haus Ottersleben! ...«
»Meine Damen und Herren ... im Ernst gesprochen: Ich hab' immer einen
Riesenrespekt vor diesem Hause gehabt, meine unbegrenzte Verehrung
für dies schöne vorbildliche Familienleben, gerade weil es mir selber
versagt geblieben ist -- für Sie, mein lieber Herr Oberst, und Sie,
meine verehrte gnädige Frau! ... Und ich hab' mich immer gefreut, wenn
ich mit den Truppen unten vorbeigekommen bin und an den Fenstern drei
Köpfe gesehen hab' -- einen schwarzen, 'nen blonden und einen noch
blonderen ...«
Er machte eine Pause und fuhr dann gelassen fort: »Anderen Leuten
haben die auch gefallen! Sehr begreiflich! Und zwei von ihnen ziert
nun heute der Myrtenkranz. Mein lieber Logow ... dumm sind Sie nicht,
nach dem allgemeinen Urteil Ihrer Vorgesetzten -- heute dürfen die
Ihnen ja ausnahmsweise auch einmal etwas Schmeichelhaftes sagen -- Sie
sind -- nehmen Sie mir's nicht übel -- sogar ein verflucht gescheiter
Kerl. Aber das Gescheiteste in Ihrem Leben haben Sie heute getan.
Und Sie, mein lieber Herr Leutnant Grotjan ... ich habe ja nicht das
Vergnügen, Sie so gut zu kennen wie Ihren nunmehrigen Schwager -- aber
ich bin überzeugt: Sie auch! ...«
Er wandte sich an die jungen Frauen.
»Und Sie, meine verehrte Frau von Logow, und meine verehrte Frau
Grotjan -- ich weiß, Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen! Wir Männer
sind ja durch die Bank ein mangelhaftes Stück Schöpfung. Man muß uns
nun mal nehmen, wie wir sind. Aber die beiden da sind, wie ich schon
sagte, relativ gelungen. Ihnen hat sicher Ihr Gefühl das Richtige
eingegeben, als Sie sich sagten: Für den und keinen anderen verlasse
ich mein Elternhaus ...«
Der General von Glümke schwieg einen Moment und ließ das Auge über die
Tischgesellschaft gleiten. Er zögerte. Maximiliane hatte die Lippen
zusammengepreßt und die Augen gesenkt. Sie wußte: nun kam wieder die
unvermeidliche Anspielung auf sie -- der heute schon zehnmal gehörte
Vergleich mit ihren Schwestern: ›Ich sei, gewährt mir die Bitte --
in eurem Bunde die Dritte!‹ -- Aber nein: Olaf warf seinen Kopf
zurück. Seine Stimme wurde markig und ernst: »Meine Herrschaften ...
der Sekt wird warm, der Braten kalt ... ich will Ihre Geduld nicht
überspannen! Ich hebe mein Glas, und hinter mir steht im Geist die
Armee, stehen all die Menschen, die Sie kennen und schätzen, und
hundert und tausend Stimmen rufen Ihnen, den jungen Paaren, durch mich
zu: ›Alles Gute! Alles Schöne! Glück und Segen auf dem neuen Weg!‹
Ich bin kein Bibelheld und hab' daheim nicht mehr nachschlagen können
-- aber irgendwo steht's geschrieben, womit ich meine Rede schließen
möchte und die ich, wie Sie inzwischen leider bemerkt haben werden,
unvorbereitet begonnen hab': Fürchtet Gott! Ehret den König! ... Habt
einander lieb! Mehr kann das Leben uns nicht geben! ... Meine Damen
und Herren: Wir leeren unser Glas: Herr und Frau Hauptmann von Logow,
Herr und Frau Leutnant Grotjan ... Hurra! Hurra! Hurra!«
»Uff!« sagte er dann lachend, sich in dem allgemeinen Tumult und
Gläserklirren setzend, und sonderbar: zu gleicher Zeit sah er einen
Blick Maximilianes von drüben auf sich gerichtet. Den ersten. Es war
wie ein Dank. Dann schaute sie wieder weg und gleichgültig vor sich
hin, während an der Tafel allmählich Ruhe eintrat.
Sie dachte auch gar nicht mehr an den General von Glümke, sondern nur:
›Gott sei Dank ... nun ist bald alles vorbei! Er ist fort ... Dann
hab' ich Ruhe! Ich werde ihn mir aus dem Kopf schlagen, so wie er sich
nie um mich gekümmert hat. Ich werde vergessen, was er mir war. Er ist
nur noch mein Schwager, den ich alle Jubeljahre mal irgendwo auf kurze
Zeit sehe. Weiter nichts ...‹
Ihr Tischherr gab sich Mühe, sie zu unterhalten. Er erzählte ihr von
der beabsichtigten Verlegung des dreißigsten Pionierbataillons nach
Thorn, wo schon die Siebzehner standen. Da würde die Frau Schwester
bis an die Weichsel verschlagen, bis an die russische Grenze.
Und sie erwiderte zerstreut: »Ach ... die Dorle ist eine fidele Haut!
Die fühlt sich überall wohl!«
Sie sah von ihrem Platz aus Logows scharfes schnurrbärtiges Profil.
Er wandte sich gegen seine Frau. Er lächelte und flüsterte ihr etwas
zu. Einen Augenblick waren seine Züge sonnenhell. Dann legte sich
wieder die gewohnte Ruhe darüber. Ein ehernes Selbstbewußtsein, das
heute etwas Feierliches an sich hatte und noch gehoben war durch
die Generalstabsuniform, die außer ihm im Saal nur noch sein Onkel
Bruno trug. Wieder fuhr es ihr durch den Kopf: ›Bald ist er fort!‹ Es
war so unwahrscheinlich: dies Gefühl der räumlichen Entfernung. Alle
diese Jahre hatte sie ihn neben sich in derselben Stadt gewußt, ihn
in Gedanken über die paar Gassen und Plätze hinweg in ihre Nähe rufen
können. Er war erreichbar ... sichtbar gewesen. Auch als Bräutigam
war er im letzten Vierteljahr noch jeden zweiten Sonntag von Berlin
herübergekommen. Nun wurde er für sie eine Erinnerung ... Und die
blieb ...
Es wurden die eingelaufenen Glückwunschdepeschen verlesen. Otto von
Ottersleben hatte den ganzen Stoß vor sich liegen und verkündete
sie der Reihe nach: lange und kurze, in Vers und Prosa, ernste
und heitere. Ein paarmal lachte Logow herzlich zu irgendwelchen
Anspielungen der Kameraden. Sie hörte nicht zu. Seine gute Laune tat
ihr im tiefsten Herzen weh. Sie sagte sich: ›Ich muß etwas tun. Ich
muß mich gegen ihn wappnen. Gegen mich. Ich kann doch nicht ewig an
ihm kranken. Es ist ja schrecklich, welche Macht er über mich hat --
jetzt noch mehr -- wo ich weiß, daß ich ihn verloren hab' -- jetzt
gerade -- aus purer Verzweiflung ...‹
Sie fröstelte bei der Vorstellung der Öde, die von morgen ab kam:
Die Schwestern aus dem Hause, Papa im Dienst, Mama in der Stadt auf
Besorgungen -- da saß man nun, die Hände im Schoß. Wozu war man
eigentlich auf der Welt? Wie füllte man seine Tage aus? Und die
dehnten sich ohne Ende vor einem, in schnurgerader Linie, wie die
Kilometersteine an der Chaussee ... Sie hatte ihren Zorn gegen sich,
daß sie von dieser Furcht vor dem Nichts nicht loskam. Sie hatte
sich so gewünscht, daß die Prüfung vorüber sein möge. Aber nun stand
dahinter erst, noch viel schlimmer, das Morgen.
Diakonissin? Im Gelächter und Stimmengewirr um sie her, dem Schmettern
der Musik, dem Duft der Blumen, sah sie einen stillen, dämmerigen
Saal vor sich, Kranke in den Betten, durch den Mittelgang schreitend,
unhörbar, in dunkler Tracht jemanden -- das war sie -- nein -- das
war nicht sie ... der Trotz bäumte sich in ihr auf ... Selbstgefühl
... Daseinslust trotz alledem ... sie wollte nicht ihr Leben lang
Trauer tragen für einen, dem sie nie etwas gewesen war ... das war
ein unnützes Opfer. Sie stand hastig mit den anderen auf -- denn nun
endlich, endlich wurde die Tafel aufgehoben -- und nahm den Arm ihres
Tischnachbarn, der sie in die Nebenräume führte.
Dort trank man den Kaffee. Unter dem großen Kronleuchter stand das
junge Ehepaar Logow und hielt eine Art Cour ab. Von allen Seiten
wurden sie umdrängt. Um die Grotjans kümmerte man sich weniger. Ulla
erschien jetzt, wo sie allmählich ihre Farbe zurückgewonnen hatte,
wieder viel reizvoller. Sie strahlte in ihrer tannenschlanken,
tiefdunklen, schwermütigen Schönheit. Ihr Mann wurde hinausgerufen und
kam lachend, einen mächtigen Blumenstrauß in der Hand, zurück.
»Die Unteroffiziere meiner alten Kompanie lassen schönstens Glück
wünschen!« sagte er. »Eben war eine Deputation mit dem Feldwebel an
der Spitze da. Heute in aller Gottesfrühe ist schon mein verflossener
Bursche im Hotelzimmer bei mir angetreten. Auch mit 'nem Bukettchen
in der Faust, der biedere Kerl! ... Anhängliche Leute -- nicht,
Neugereuth?«
»Ja -- die Mannschaft hatte Sie furchtbar gern in der Kompanie
...« bestätigte sein ehemaliger Hauptmann. Eine Stimme rief:
»Silentium!« Eine Depesche vom Sitz des Generalkommandos war, etwas
verspätet, eingetroffen. Der Allgewaltige des Armeekorps sandte seine
Glückwünsche zur Otterslebenschen Hochzeit, und Erich von Logow
verbeugte sich beim Anhören leicht, mit einem ehrerbietigen Lächeln,
als stände die Exzellenz selber vor ihm.
Und Maximiliane dachte sich in ihrer Ecke: ›Er ist doch schon so
glücklich! Was braucht man es ihm noch aufzudrängen, um ihn herum zu
wetteifern, vom Kommandierenden bis zum Musketier? Warum verwöhnen ihn
alle Menschen so? Und warum nimmt er das so hin, als ob sich das von
selbst verstände, und zertritt dabei gerade mich? Warum büße ich für
alle, die hier fröhlich und zufrieden sind?‹
Sie wandte sich zur Seite, um ihr leeres Mokkatäßchen wegzustellen,
und erblickte den Generalmajor von Glümke, der neben sie getreten
war. Er schüttelte das Haupt, sah auf sie hinunter -- er überragte
sie trotz ihres hohen Wuchses noch um einen guten Kopf -- und meinte
halblaut: »Na ... Sie armes Aschenbrödel ...«
Es war, als wollte er sie absichtlich reizen. Ihr Stolz flackerte auf.
Sie furchte die Stirne und blickte ihn feindselig an: »Herr von Glümke
... was heißt denn das? ... Warum seckieren Sie mich denn fortwährend?
Ich hab's jetzt satt!«
Er wurde noch leidenschaftlicher als sie. Er zog die Augenbrauen hoch,
eine Bewegung, auf die im Dienste ein furchtbares Donnerwetter folgte,
schaute sich um, ob niemand in der Nähe sei, beugte sich ein wenig zu
ihrem Ohr und versetzte mit unterdrücktem Grimm: »Ja ... ist's denn
nicht wirklich toll? Die verkehrte Welt! Sie ... Sie ... Sie stehen da
in der Ecke, und da drüben springen sie und tanzen ... Und alles hat
nur Augen für Ihre Schwestern, statt daß man sich um Sie reißt? Ja,
sind die Leute denn alle blind? ... Rein von Gott verlassen ist ja die
ganze Gesellschaft ...«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Herr von Glümke ... jetzt hab' ich aber genug gehört ...«
Er stellte sich vor sie. Er, der abgebrühte alte Junggeselle und
Damenheld, war plötzlich blaß geworden. Er drängte -- er befahl
förmlich: »Nee -- bleiben Sie mal, Kind! Ich muß Ihnen einen Vorschlag
machen! Etwas sehr Wichtiges!«
Dabei lachte er verwegen unter seinem kurzen, blonden, kaum merklich
angegrauten Schnurrbart. Dieser Gesichtsausdruck war so recht Olaf,
der Mann der tausend Streiche, den man trotz Rang und Würde außer
Dienst nie ganz ernst nahm. Sie mußte unwillkürlich mitlachen.
»Das wird wieder was Rares sein, Herr General!«
Er machte eine geheimnisvolle und aufgeregte Miene. Er schien ihr mit
einemmal verändert, obwohl er immer noch lächelte.
»Also, hören Sie mal, Fräulein Maxe ... Es liegt in Ihrer Hand,
diese blinden Hessen hier alle zu strafen -- die ganze Blase einfach
niederzuschmettern ... Ein Trompetentusch ... ein Hallo ... Und der
ganze Zauber da vor uns ist wie weggeblasen! ... Sie sprengen das
alles in die Luft. Sie steigen -- wie heißt das Fabelwesen doch
gleich? -- wie der Phönix aus der Asche! ... Sie sind mit einem Schlag
der Mittelpunkt! Sie sind die Königin ...«
Sie schaute ihn mißtrauisch an. Hatte er doch am Ende ein Gläschen zu
viel erwischt? Aber den Eindruck machte er eigentlich nicht. Er sah,
trotz seiner Erregtheit und überhasteten Sprechweise, merkwürdig ernst
aus. Sie erwiderte kühl: »Ich versteh' kein Wort, Herr General, was
Sie da ...«
Olaf von Glümke ließ sie nicht weiterreden. Er hob die Rechte: »Nee
-- nee ich sag' Ihnen ja ... Es liegt in Ihrer Hand -- weil ich Ihnen
die Hand dazu biete ... Sie bitten möchte ...« Es war ein plötzliches
werbendes Flackern in seinen blauen Augen, seine Stimme flüsterte
eindringlich: »... weil ich Sie inständig bitten möchte ... Fräulein
Maxe ... verstehen Sie mich? ... Ich kann nicht so viel Worte machen
... Es sind zu viel Leute hier im Saal ... Fräulein Maxe ... ich
mache Sie zur ersten Dame hier im Saal ... in der ganzen Stadt ...
der Divisionär ist ja Witwer -- weit und breit sind Sie die Erste ...
In 'nem Jahr sind Sie Exzellenz, wenn's unserem Herrgott und Seiner
Majestät gefällt ...«
»Um Gottes willen -- hören Sie auf, Herr von Glümke!«
»Nee ... ich fang' erst an! ... Denken Sie: so mit einem Schlag über
Ihre Schwestern -- Ihre Freundinnen -- ganz oben! Denken Sie, wie sich
Ihre Eltern freuen würden! ... Ach, was red' ich da! Was liegt an den
ollen Herrschaften -- an dem ganzen Klimbim hier? Auf Sie kommt's an
...« Er sprach leidenschaftlich und gedämpft. Beide standen mit leerem
Lächeln, eine Maske vor dem Gesicht, um kein Aufsehen zu erregen. »Sie
sind das Mädchen danach! Ich würd' es keiner anderen sagen. Aber Sie
sind anders als die anderen. Das hab' ich Ihnen auch schon gesagt!
Wissen Sie -- damals im Wald! ... Das war die entscheidende Stunde.
Seitdem hab' ich kein Auge von Ihnen gelassen, seitdem hab' ich immer
mehr ... Kommen Sie, Fräulein Maxe ... Ich bitt' Sie ... Kommen Sie
...«
»Wohin?«
»Zu Ihren Eltern! ... Denken Sie: wenn wir auf einmal dastehen ...
mitten im Saal ... und der Jubel losbricht ...«
Maximiliane antwortete nicht. Sie war völlig betäubt. In willenloser
Angst folgten ihre Augen seinem Blick, der kriegerisch ihre Eltern
suchte. Da war Mama. Sie kam gerade auf sie beide zu, wie durch ihn
gerufen. Er lachte. Ein Schein von Triumph glitt über seine Züge. Nun
war er des Erfolges seines Husarenritts schon halb sicher. Er raunte:
»Darf ich reden, Maxe?«
»Nein ... nein ...«
»Aber warum noch warten ... es ist gerade der Moment ...«
»Sie müssen mir doch Zeit lassen ... Sie überrumpeln mich da auf
einmal ... Ich bin ja wie aus den Wolken gefallen ... Ich weiß gar
nicht, ob ich wache oder träume ... ob Ihnen das überhaupt ernst ist
...«
»Aber ... Maxe ...« Er sah sie vorwurfsvoll und zugleich aufmunternd
an. Er nannte sie einfach beim Vornamen. Es fehlte wenig, so nannte er
sie schon Du. Er betrachtete sie schon halb als sein Eigen. Wenn sie
auch noch nicht ›ja‹ gesagt hatte, eines ›Nein‹ war sie nicht fähig.
Das merkte er. Dazu war sie zu erschrocken. Oder geblendet von der
Zukunft, deren Vorhang er mit einem Griff vor ihr weggerissen. Sie
schwieg und zitterte. Über ihre Wangen jagte eine fliegende Röte und
machte tiefer Blässe Platz. Frau von Ottersleben kam an sie heran.
»Ach ... verzeihen Sie einen Augenblick, Herr von Glümke! Du hör
mal, Maxe ... die Dorle ist in allen Zuständen. Sie zieht sich eben
oben im Hotel um, und nun fehlt die kleine goldene Brillantuhr, das
Geschenk von Onkel Bruno. Zum Brautkleid hat sie sie natürlich nicht
angehabt, und in dem Korb mit den Sachen aus der Wohnung ist sie nicht
mitgekommen. Sie schwört, die Uhr müsse dort noch irgendwo liegen! ...
Geh! ... Sei lieb und fahr rasch hin und hol sie!«
»Aber das kann doch auch einer von den jungen Leuten besorgen!« sagte
der General. Er hatte einen roten Kopf bekommen und trat vor Ungeduld
von einem Fuß auf den anderen.
»Ach, die finden doch nichts! ... Nein ... es ist schon besser ... Du
bist ja in fünf Minuten wieder da, Kind ...«
Maximiliane ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie lief förmlich davon.
Sie dankte ihrem Schöpfer, daß sie Zeit gewonnen hatte. Sie schlüpfte
atemlos in einen der geschlossenen Wagen draußen. Der rasselte mit
ihr dahin. Sie saß aufrecht und still, die Hände zwischen den Knieen
zusammengepreßt, den Rosenkranz auf dem blonden Scheitel. Ihr Herz
hämmerte. Auf der Straße gingen die Leute. Die Läden waren offen. Die
Kinder kamen aus der Schule. Es war ein Werktag wie sonst. Und in ihr
eine Empfindung, als sollte die Welt untergehen. Sie war nahe daran,
in ihrer Ratlosigkeit und Hilflosigkeit in Weinen auszubrechen. Sie
fühlte sich so schwach. Gerade heute. Glümke hatte sich den Tag gut
gewählt. Dann unterdrückte sie ihre Tränen. Sie nötigte sich zur Ruhe,
zur Überlegung. Sie sagte sich immer wieder: Ich lasse mich nicht
zwingen. Ich hab' mein Schicksal in der Hand ...
Die Droschke hielt vor dem Elternhaus. Sie stieg die Treppen hinauf
und öffnete mit dem Drücker die totenstille Wohnung, in der alles in
der Unordnung der Festvorbereitungen durcheinander stand und lag.
Mitten auf dem Tisch natürlich Dorles Uhr. Sie steckte sie zu sich.
Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und versank in Sinnen. Es war
kein Mensch in den Räumen. Niemand störte sie. Sie war mit sich allein
...
Eine fremde Stimme von irgendwoher frug sie: Wie lange willst du
eigentlich allein bleiben? Doch nicht dein ganzes Leben hindurch?
Die Eltern werden eines Tages von dir weggehen. Sie hinterlassen dir
nicht einmal genug Geld. Du wirst in die Welt hinausgestoßen, um dir
dein Brot zu verdienen als alte Jungfer -- wegen eines Mannes, der
von deinem Opfer nichts ahnt, dem du so gleichgültig bist, wie dir
die Spatzen da vor dem Fenster. Nein. Lieben kannst du freilich nie
mehr. Aber heiraten wirst du doch -- rein aus Vernunft, gerade wie die
Ulla ... Und auf wen anderen willst du dann noch warten? ... So etwas
bietet einem das Schicksal nur einmal. Gerade er, der da drüben, denkt
in seinen Jahren nicht mehr daran, daß du dich noch über die Ohren
in ihn verlieben könntest. Dazu ist er viel zu erfahren. Er schlägt
dir einen ehrlichen Handel vor. An ihm begehst du kein Unrecht ... im
Gegenteil: du versündigst dich an dir und deiner Zukunft und deinen
Eltern, wenn du ~diesen~ Antrag nicht annimmst ...
Schon aus Trotz! Schon aus einer Art Rache! Sie erhob sich. Jetzt
wurde auch das in ihr lebendig. Dann glaubte kein Mensch mehr, daß sie
je an einen Hauptmann von Logow gedacht -- sie, die Generalin -- über
ihre Schwestern, ihre Freundinnen -- über Mama selber. Man würde sie
bewundern ... beneiden ... sie hatte ihre Netze gut ausgeworfen, in
aller Stille ... Erich von Logow mußte sich dann selbst gestehen: sie
hätte ihn nie genommen -- auch wenn er je um sie geworben hätte ...
Das alles war kein Trost. Aber es erzeugte in ihr immer wieder dies
dumpfe, nicht abzuschüttelnde Bewußtsein: Du mußt! Du mußt ›ja‹ sagen.
Und dadurch kommst du wirklich und endgültig von jenem anderen los,
von dem Mann deiner Schwester -- wenn du selber einen Mann hast, der
dich beschirmt und auf den du dich stützest ... Sie seufzte schwer
auf. Es mußte sein. Was sie sich nicht hätte träumen lassen, das
erfüllte sich: ehe die Sonne heute über den Dächern da gegenüber sank,
war sie auch Braut ...
Sie sah auf die Uhr und erschrak. Fast eine halbe Stunde hatte sie
hier gesessen und gesonnen. Sie mußte sich eilen und stieg doch
langsam, mit gesenktem Haupt, in ihrem rauschenden Festkleid, die
Treppe hinunter, wie zu einem schweren Gang, und fuhr in einer
eigenen, eiskalten Ruhe, in der sie das Herz in sich tot und ihren
Kopf klar und lebend fühlte, in das Hotel zurück.
Ihre Mutter empfing sie mit Vorwürfen, wo sie denn nur um Gottes
willen gesteckt habe? Grotjans seien schon auf dem Bahnhof. Dabei gab
sie die Uhr einem der Kadetten. Er solle rennen und sie ihnen noch an
den Zug bringen. Maximiliane hatte kaum zugehört. Sie trat mit einem
leeren, zerstreuten Lächeln auf den Lippen in den Saal. Da wurde jetzt
getanzt. Die Regimentskapelle spielte. Die Paare flogen vorbei. Immer
irgendeine Uniform und ein Flattern von Rosa oder Blau oder Weiß. Sie
sah es geistesabwesend. Dann packte sie plötzlich jemand und walzte
lachend mit ihr los. Es war ihr Bruder Otto, der schon einen kleinen
Hieb hatte. Er wirbelte sie wie rasend einmal rundherum, bis sie sich
von ihm befreien konnte. Sie blieb schweratmend stehen. Es drehte sich
ihr alles vor den Augen. Und da -- in diesem Nebel -- war auf einmal
der General von Glümke da und sagte zu ihr, mit einer Stimme, die wie
aus weiter Ferne zu klingen schien: »Kommen Sie, Maxe ... Wir wollen
ein bißchen da hinaus.«
Er nahm ihren Arm und führte sie in den Garten hinter dem Hotel, da,
wo zuvor die Gruppenaufnahme stattgefunden hatte. Es war ganz still
zwischen den grünen Büschen. Die Sonne schien heiß auf die Kieswege.
Über ihnen blaute die Himmelswölbung. Er sprach gedämpft, herzlich,
bittend ihren Arm an sich drückend: »Maxe ... liebe Maxe ... nun sagen
Sie ›ja‹.«
Sie rang danach. Sie brachte es noch nicht heraus. Sie gingen die
paar Schritte weiter bis zur rückwärtigen Gitterpforte, vor der eine
leere Droschke hielt, und kehrten wieder um.
»Maxe ... nur das eine kleine Wort ...«
Sie wollte es aussprechen und blieb stehen. Es kam ihnen da jemand
vom Hotel her auf dem Weg entgegen, nach dem Wagen zu. Ein Paar. Ihre
Schwester Ulla, in grauem Reisekleid und Hut und Schleier, und neben
ihr in Zivil ihr Mann. Sie wählten den Hinterausgang, um unauffällig
zu verschwinden. Der General trat diskret seitlich, in einen
umbuschten Rundpfad zurück.
Ulla von Logow küßte hastig ihre Schwester: »Herrgott -- da sehen wir
uns doch noch! Mama sagte vorhin, du seist in der Wohnung! Adieu,
Schatz! Adieu! Adieu!«
Dann reichte ihr der Hauptmann von Logow heiter und eilig die Hand.
»Adieu, Maxe! ... Laß dir's gut gehen! Mach's bald nach, so wie die
Ulla und 's Dorle! Und besuch uns recht oft in Berlin, wenn wir zurück
sind ... hörst du? ...«
Sie hatte ihn noch nie anders als in Uniform erblickt. In dem lichten
Sommeranzug, den weichen grauen Filzhut auf dem Kopf, sah er verändert
aus. Und doch -- das war er. Immer er. Er blieb, was er war. Für sie
blieb er's ... Sie stand und schaute den beiden nach und nickte ihnen
noch einmal mechanisch zu. Dann rasselte der Wagen um die Ecke, und
in demselben Moment zog ihr eine blinde, alles verachtende, alles
mit Füßen tretende, alles gleichgültig in die Ecke schleudernde
Verzweiflung das Herz zusammen.
Der General von Glümke hatte sich ihr genähert. Er murmelte: »Maxe ...«
Da schüttelte sie starr den Kopf, ohne ihn nach ihm zu wenden.
»Ich kann nicht.«
»Aber, um Gottes willen ... Maxe ...«
»Ich kann nicht!«
Er rang die Hände ineinander: »Was haben Sie denn gegen mich?«
»Nichts. Gar nichts, Herr von Glümke.«
»Warum wollen Sie denn dann sich und mir das Leid antun?«
Sie rang mit sich. Sie rang nach Luft.
»Ich möcht' ja gern! Ich tät' es ja gern! ... Aber ich kann nicht ...«
»Auch nicht, wenn Sie es sich noch einmal überlegen, Fräulein Maxe?«
»Ich hab's mir ja überlegt! Nein ... Auch dann nicht! ... Bitte, gehen
Sie ... Quälen Sie mich nicht mehr ... Und seien Sie mir nicht böse
... Ich kann nicht ...«
Sie hatte es kaum mehr hörbar zwischen ihren blassen,
zusammengepreßten Lippen gemurmelt. Er stand noch ein paar Sekunden
und wartete. Dann, da sie schwieg, war es auch für ihn entschieden.
Er machte eine leichte, höfliche Verbeugung, wandte sich auf dem
Absatz um und trat in das Haus. Von dort tönte die Tanzmusik.
Um sie wiegten sich leise die grünenden Knospen im Maiwind. Ein
feiner, süßer Frühlingsduft stieg vom Hyazinthenbeet am Boden.
Schmetterlingsgegaukel wiegte sich darüber im Sonnenschein. Sie stand
still und schloß die Augen. Es war alles wie ein Traum ...
5
Vom Königlichen Schlosse zu Berlin kommend, schritt der Oberst
Bruno von Ottersleben über die Spreebrücke nach den Linden zu. Er
war in großer Paradeuniform, mit Helm und Schärpe, eine glitzernde
Ordensreihe auf der Brust, die der trotz der Februarkälte nur lose
über die Epauletten geworfene hechtgraue Mantel freiließ. Er ging
langsam, fast ein wenig schwerfällig, in seiner breitschultrigen,
würdevollen Stattlichkeit. Sein kluges, derb geschnittenes Gesicht,
mit den aufmerksamen Augen, trug einen wohlwollenden Ausdruck. Ein
anderer älterer Militär mit silbergesticktem Kragen und Gardesternen
kam ihm entgegen. Er winkte schon von weitem: »'Morgen, Ottersleben!
... Na -- auch mal wieder in Berlin! Famos! ... Wie -- nur auf
vierundzwanzig Stunden? ... Ach nee ... machen Sie keine Späße ... Wo
haben Sie denn Ihre Generalstabstreifen gelassen? Nicht mehr bei den
Halbgöttern? -- Was?«
»Augenblicklich nicht! Ich hab' ein Regiment gekriegt. Die
Zweihundertvierundvierziger in Straßburg! Eben hab' ich mich bei
Majestät gemeldet!«
»Gnädig?«
»Sehr.«
»Famos! ... So ... so ... Straßburg ... na -- grüßen Sie dort die
Müritzens von mir -- und was ich sonst noch von der Blase kenne
... und bitte mich gehorsamst der Gattin zu Füßen zu legen ... Auf
Wiedersehen!«
Oberst von Ottersleben setzte seinen Weg fort. Er stieß hier in
Berlin, wo er viele Jahre in der Garde und im Generalstab gestanden,
auf Schritt und Tritt auf Bekannte. Seine Mienen erhellten sich
plötzlich. Zwei hochaufgeschossene junge Lichterfelder Kadetten
schritten da eilig und gleichmäßig die Linden hinauf. Seine Söhne. Er
hatte, in der Zeit gedrängt, gebeten, sie ihm auf eine Stunde nach
Berlin hereinzuschicken, damit er sie wenigstens zu Gesicht bekäme.
Vor dem historischen Eckfenster Unter den Linden trafen sie sich.
Er freute sich über die Jungen und ging mit ihnen in die Habelsche
Weinstube zu ihrer Linken frühstücken, wo er als junger Gardeleutnant
schon vor Jahrzehnten gesessen, noch zur Zeit des großen Kaisers, und
den Scherzen und Späßen der alten Flügeladjutanten und Generale an
ihrem berühmten runden Stammtisch nebenan zugehört hatte, damals, als
1870 noch beinahe wie ein Traum von gestern war. Er fütterte seine
Sprößlinge und schmunzelte, wie sie gleich jungen Wölfen einhieben. So
hatte er es in seiner Kadettenzeit auch gehalten, wenn er, noch ein
halbes Kind, am Sonntag zu Großpapa Exzellenz durfte, dem uralten,
hoch in den Achtzigern stehenden Herrn, der noch Napoleon mit eigenen
Augen gesehen und unter Blücher gefochten hatte und nach Tisch davon
erzählte, wie sie, die Ostpreußen voran, am Abend des zweiten Tages
der Völkerschlacht das Grimmasche Tor in Leipzig erstürmt hatten.
Und wie der Oberst von Ottersleben daran zurückdachte, erschien ihm
diese ganze Folge von Generationen als eine aus Erz geschmiedete
Kette -- endlos, sich immer wieder aus sich erneuernd, wie die Armee
selbst, und er war nur ein einzelnes, zufälliges und hoffentlich ein
nützliches Glied in dieser langen Reihe und wollte seine Söhne eben
dazu erziehen.
»Ich hab' hier ein bißchen auf den Busch geklopft!« sagte er beim
Aufbruch, nachdem ihm Günter und Busso immer abwechselnd das Frühstück
hindurch, der eine kauend, der andere sprechend, alles Neue von ihrem
Leben im Korps, den Erziehern, den Kameraden, den Zivillehrern, der
Tanzstunde und dem Ball in voriger Woche erzählt hatten. »Es ist
Aussicht, daß ihr beide seinerzeit in mein altes Regiment hier kommt,
das ja euer Großvater auch schon geführt hat ... Aber nun haltet auch
die Ohren steif und macht mir keine Dummheiten, sonst ist's Essig mit
der Gardeinfanterie!«
Die beiden lachten. Sie wußten: Ihnen war die Garde sicher! Sie gingen
rechts und links von ihrem Vater die Linden hinunter, lang und dünn
wie die Heringe, neben seiner breiten, ordensbedeckten Brust. Es war
ein Bild des Nachwuchses der Armee. Vorüberkommende sahen beifällig
auf den Oberst und seine Söhne. Am Brandenburger Tor präsentierte der
Posten das Gewehr vor ihm. Er winkte ab und verabschiedete sich von
den jungen Kriegern. Die mußten zum Potsdamer Bahnhof und von da nach
Großlichterfelde zurück. Er selber schlug den Weg zur Rechten nach dem
Königsplatz ein.
Alle Straßen trugen hier die Namen preußischer Siege, preußischer
Feldherren. Die schweren Goldmassen der Viktoria schimmerten auf der
vom Erz eroberter Geschütze umgürteten Siegessäule. In der trüben
Luft ragten drüben die Denkmäler Moltkes und Roons. Gerade hinter
der Statue des großen Kriegsministers erhob sich ein nüchternes,
vielfenstriges Backsteingebäude: der Sitz des Generalstabs.
Der Oberst von Ottersleben war in diesen hellen, schmucklosen
Korridoren, diesen Reihen von einfachen Schreibstuben, die
ebensogut irgendeiner beliebigen preußischen Behörde hätten dienen
können, seit langem zu Hause. Er wußte, wo er einen jeden fand,
den er suchte. Er meldete sich bei einem der Oberquartiermeister,
der seit langem sein Gönner war, er schaute zu alten Kameraden
in den Nachrichtenabteilungen in die Stuben, er traf in der
Eisenbahnabteilung einen dort über der Mobilmachung brütenden
Oberleutnant seines neuen Regiments, der noch dessen Uniform trug,
und ebenso ein paar Vettern in der trigonometrischen und der
kartographischen Abteilung der Landesaufnahme. Und überall fand er
dasselbe: straffe, schweigende, unermüdliche Arbeit ... Nun betrat
er, mit den sonstigen Zwecken seines Kommens zu Ende, das Zimmer des
Hauptmanns von Logow. Der drinnen war so in seine Tätigkeit vertieft,
daß er das Klopfen und Öffnen der Tür überhörte. Er saß an einem
großen, mit Papieren und Haufen von ausländischen Zeitungen bedeckten
Tisch und schrieb. Beim Klang einer fremden Stimme schob er mechanisch
vor allem das sekrete Schriftstück, das er unter den Händen hatte,
zwischen zwei Löschblätter, um es vor unberufenen Augen zu verdecken.
Dann erhob er sich.
»Ach -- du bist's, Onkel Bruno,« sagte er lachend. »Na -- da hätt'
ich's nicht nötig gehabt! Du kennst ja den Zauber ... das ist ja nett
... komm ... setz dich!«
Der Oberst von Ottersleben war stehen geblieben.
»Ich werd' mich hüten und dir die Zeit stehlen. Du hast hier mehr zu
tun! Ich wollt' nur im Vorübergehen fragen: wann trifft man dich denn
zu Hause?«
»Abends immer!«
»Schön! Da komm' ich heute auf ein Butterbrot. Wie geht's denn deiner
Frau?«
»Ausgezeichnet!«
»Und dir?«
»Mir dito! ... Warum?«
»Na -- du schaust ein bißchen elend aus!«
Erich von Logow stand am Fenster, hell vom Grau des Wintermittags
beschienen. Es lag noch die alte Festigkeit und Spannkraft auf
seinen Zügen. Aber in seinen Augen war etwas, das seinem Oheim nicht
gefiel. Sie blickten nicht mehr mit dem früheren, gleichgültigen,
unerschütterlichen Selbstbewußtsein in die Welt. Eine leichte Unruhe
oder Müde spiegelte sich darin. Der junge Hauptmann zuckte die Achseln
und schob eine Nummer des ›Russischen Invaliden‹, die vor ihm lag,
über die Tischplatte.
»Ja, Gott -- was Nerven sind, das lernt doch fast jeder hier kennen,
Onkel ... Ich bin doch nun -- wart mal ... laß mich rechnen ... also
's sind nun auf den Kopf zwei Jahre, daß ich im Generalstab bin ...
Man gewöhnt sich hinein ... schließlich ist das hier auch reines
Training! Nee -- nee -- Onkel, mir geht's ganz ausgezeichnet ...«
»Na, um so besser!« sagte der Oberst. »Also auf Wiedersehen heute
abend! Grüße Ulla!«
»Danke!« Sein Neffe geleitete ihn zur Tür und wiederholte dort
hartnäckig und eigentlich ohne Not: »Ich steh' hier schon meinen Mann.
Ich denke, man ist mit mir so weit zufrieden ...«
Als der Ältere wieder auf den Königsplatz hinaustrat, klang ihm im
Ohr, was er heute in dem großen Haus da innen an verschiedenen Stellen
über Erich von Logow gehört: Zufrieden? ... O ja -- gewiß. Es ist
nichts zu sagen. Eine außerordentliche Arbeitskraft. Ein kluger Kopf.
Ein ernster, tadelloser Charakter. Nur eben ...
Ja -- dies ›nur‹, in dem sie einig waren: nur -- wir haben den
Eindruck: er gibt nicht sein Bestes! Sein Letztes! Er lebt unter einem
gewissen Druck. Was es ist, wissen wir nicht ...
Herr von Ottersleben schüttelte etwas sorgenvoll den Kopf, während
er eine Droschke heranwinkte. In der Gegend der Hardenbergstraße
in Charlottenburg stieg er aus und klopfte in einem der großen
Miethäuser an eine Treppentür, an der außen die Visitenkarte: ›Otto
von Ottersleben, Leutnant im Feldartillerieregiment Nummer 86,
kommandiert zur militärtechnischen Akademie‹ angenagelt war. Sein
Neffe war daheim. Bei ihm zwei Freunde, die mit ihm Zigaretten
geraucht und Schnäpse getrunken hatten. Er stellte sie vor: den einen,
den kleinen blauen Husaren mit dem Monokel, als Leutnant von Wrobel,
den anderen, den glattrasierten Zivilisten in Trauerweidenhaltung
und streng englischem Klubschnitt, als Baron Lohgrewe -- auch früher
aktiv bei den neunundzwanzigsten Ulanen. Und noch dort in Reserve,
wie er schnell hinzusetzte. Denn er merkte, daß das nicht recht eine
Erscheinung nach dem altpreußischen Herzen seines Onkels war, und der
frug auch, kaum daß sich die beiden Herren empfohlen, unbehaglich:
»Wer ist denn das? Was treibt er denn?«
»Gott ... er geht so in Berlin herum.«
»Hat er denn Geld genug dazu?«
»Es scheint doch.«
»Und der andere, der Husar?«
»Der kommt immer mal so aus seiner Garnison herüber!«
Oberst von Ottersleben schaute dem hübschen, dunkeläugigen Offizier
scharf ins Gesicht und forschte gedämpft: »Junge -- du bist doch nicht
unter die Spieler geraten?«
Der andere lachte. »So dumm bin ich nicht, Onkel!«
»Aber warum verkehrst du nicht lieber mit deinen Kameraden?«
»Tu' ich auch. Aber die sitzen des Abends im Bräu. Das ist
stumpfsinnig. Ich will unter Menschen. Leute wie der kleine Wrobel und
Lohgrewe kennen ganz Berlin. Die haben mich überall eingeführt!«
Sein Oheim musterte eine mit Visitenkarten und Einladungen gefüllte
Schale auf der Kommode. Es waren lauter bürgerliche Namen aus Berlin
W. Er kannte keinen einzigen davon. Es schien sich um reiche
Leute zu handeln. Man las häufig den Titel: Generalkonsul -- Geheimer
Kommerzienrat -- Generaldirektor. Ganz zuoberst lag eine Karte: »Herr
und Frau John Bannersen bitten Herrn Leutnant von Ottersleben auf
Sonnabend, den 4. Februar, zum Ball.«
Sein Neffe erläuterte: »Da steckt ein klotziges Geld, Onkel Bruno! ...
In Baumwolle zusammengeschuftet! Nun hat sich's der Alte in Berlin
bequem gemacht. Eigentlich ist er Bremenser.«
»Sag mal: sind da auch Töchter im Haus?«
Der junge Ottersleben mußte über die Naivität dieser Frage beinahe
lachen.
»Eine! Mehr haben sie nicht!«
»Ach so!«
Der Oberst setzte sich und fuhr fort: »Weißt du, ich an deiner Stelle
würde den Verkehr in den Häusern dieser Millionäre aufstecken! Das ist
nichts für uns, Otto -- glaub es mir!«
»So? Und übers Jahr sitz' ich wieder in der Provinz!« sagte der
junge Leutnant, nervös vor Ungeduld. »Dann ist's mit allem vorbei!
... Mir hat man überhaupt unrecht getan, Onkel! ... Du warst in der
Garde. Den Günter und den Busso steckst du in die Garde. Papa war in
der Garde. Meinen jüngeren Bruder, den Peter, hat er jetzt bei den
dreizehnten Grenadieren untergebracht -- dem bildschönen schlesischen
Feudalregiment! Ich, der älteste, mußte seinerzeit da draußen in die
Linienartillerie ... warum? Da hieß es: sparen ... sparen ... wir
haben die drei Mädels auf dem Hals! Nun, wo zwei davon versorgt sind
und nur noch die Maxe übrig ist, da ist's für mich zu spät. Und wenn
ich mich dann aus eigener Kraft ein bißchen aufrappeln will und nicht
gerade ein Unmensch bin, wenn sich mir hier in Berlin W. etwas
bieten sollte, ist's auch nicht recht!«
Er brach ab und setzte dann trotzig, seine letzten Ziele verratend,
hinzu: »Ich will doch nicht den Abschied nehmen und faulenzen! Ich
will doch bloß zur Kavallerie ...«
Es war eine Pause. Dann hub der Oberst an: »Und was sagt denn dein
Vater dazu?«
»Papa? ... Mit dem hab' ich darüber nicht gesprochen. Ich war schon
ein halbes Jahr nicht mehr daheim. Ich muß wirklich mal nächstens
hinüber. Unter uns: es geht Papa gar nicht gut mit der Gesundheit ...«
»Ja, leider. Ich hab's gehört!«
Der ältere Ottersleben schwieg. Ihm gefiel das alles nicht. Er zündete
sich eine Zigarre seines Neffen an und meinte nach den ersten blauen
Wolken beiläufig: »Kommst du oft zu Logows, Otto?«
»Nee!«
»Warum denn nicht?«
»Es ist zu langweilig! Entweder sie zanken sich, oder haben sich
gerade gezankt, oder werden sich nächstens zanken! Dann hockt
er finster da, und die Ulla mault. Und du machst als Gast ein
geistreiches Gesicht. Nee -- gemütlich ist's bei den Logows nicht! Das
kannst du mir glauben, Onkel!«
»Hm -- hm ... also du meinst wirklich, es ist da nicht alles, wie es
sein sollte? Ich frage nicht bloß aus verwandtschaftlichem Interesse,
mir liegt wirklich auch viel an Erichs Karriere!«
»Ja, Gott! Er hat eben bis über die Ohren zu tun, und sie mopst sich
unterdessen, und wenn sie dann beisammen sind, haben sie sich nichts
zu sagen.«
»Das ist aber recht traurig!«
»Ja, ich weiß auch nicht, was sich Logow von der Ulla eigentlich
versprochen hat! Ich, als Bruder, hab' sie ja immer mordend
langstielig gefunden, und die Kameraden auch! Sie sitzt eben da und
ist schön. Viel mehr kann man mit ihr nicht anfangen. Sie gehört
mitten in einen Ballsaal und hundert Menschen um sie 'rum! Dann ist
sie in ihrem Element ... Ja -- das kann er als Generalstäbler nicht,
und sie haben's auch nicht dazu. Sie hat sich gedacht: Berlin -- das
ist so das große Leben! Aber in den kleinen Garnisonen amüsieren sich
die Leute oft viel besser! Na: die Ulla ist apathisch von Natur. Die
findet sich schließlich in alles! Es ist nicht so schlimm.«
»Hoffen wir's!« sagte der Oberst von Ottersleben sehr ernst und
verabschiedete sich.
Als er einige Stunden später des Abends bei den Logows saß, war er
eigentlich angenehm enttäuscht. Es machte alles einen ganz netten
Eindruck. Seine Nichte und ihr Mann kamen nicht nur ihm freundlich
entgegen, sie waren es auch untereinander, kein Ehepaar voll eines
überströmenden Glücks, aber eines, das sich schließlich ineinander
gefunden zu haben schien, wie tausend andere. Er beobachtete im
stillen Ulla, während sie mit ihren ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen
am Teekessel hantierte. Sie hatte in ihrer Erscheinung als Frau
nicht ganz das gehalten, was sie als Mädchen versprach. Sie war auf
jener Entwicklungsstufe eines schönen lebenden Bildes oder leblosen
Bildes stehen geblieben, das er von früher her kannte. Die Reife der
Durchgeistigung fehlte. Im Dunkel ihrer großen, mandelförmigen Augen
lag zuweilen eine bleierne, leer in sich verträumte Teilnahmlosigkeit,
namentlich wenn Erich von Logow sich einmal aus seiner gewohnten
Schweigsamkeit aufraffte und jedesmal auch gleich vom Dienst sprach.
Dann hörte sie sofort nicht zu und ließ, die Hände im Schoß, ihre
Blicke müde durch das Zimmer schweifen. Er schien das schon gewohnt,
und der Oberst sagte sich: So sitzen sie wahrscheinlich des Abends
beisammen, wenn kein Gast da ist, und haben einander absolut nichts
mehr mitzuteilen ... Er wollte diese Stimmung nicht aufkommen lassen
und frug: »Na -- und und was hört ihr von zu Hause, Kinder ... Euer
guter Papa macht euch leider Sorgen -- nicht wahr?«
Die junge Frau nickte und holte einen Brief ihrer Mutter hervor. Die
Nachrichten waren schlimm. Papa hatte Schwindelanfälle. Neulich war er
gerade auf der Treppe gestürzt. Es kostete ihn immer mehr Mühe, sich
in den Sattel zu schwingen. Aber als der Bursche einmal den Gaul an
einen Prellstein im Hofe geführt hatte, war er wütend geworden. Er sei
noch kein Spitalbruder! Warum man ihm nicht lieber gleich eine Leiter
brächte? Er verbäte sich diesen Unfug!
Es war eine sorgenvolle Pause. Dann forschte der Regimentskommandeur
in seiner frischen unmittelbaren Art: »Na -- und was macht denn
eigentlich die Maxe? Seht ihr sie oft? Kommt sie mal zu euch 'rüber?«
»Wir sind jetzt fast zwei Jahre verheiratet!« sagte Logow. »Aber seit
meinem Hochzeitstag hab' ich die Maxe nicht mehr gesehen!«
»Nanu?«
»Jawohl! Die beiden Male, wo wir inzwischen drüben zu Besuch bei ihren
Eltern waren, war sie jedesmal gerade in Thorn, bei Grotjans. Bei
denen ist sie oft. Die liebt sie! Aber von uns will sie nichts wissen.«
»Komisch! Man sollte doch meinen, ein junges Mädel müßte froh sein,
wenn sie Berlin so bequem vor der Nase hat. Übrigens: so ganz jung
ist sie ja auch eigentlich nicht mehr ... Sie wird doch mit Gottes
Hilfe dies Jahr fünfundzwanzig ... Hört mal: warum heiratet sie denn
eigentlich nicht?«
Er wandte sich dabei an Ulla. Sie goß ihm Tee ein und erwiderte kühl:
»Das frägst du mich auch zu viel, Onkel Bruno! Ich weiß es nicht!«
Sie mußte plötzlich husten. Es dauerte ziemliche Zeit. Ihr Mann sah
sie dabei schweigend und eigentümlich besorgt an. Dann meinte sie,
noch mit geröteten Wangen und feuchten Augen, zu ihrem Onkel: »Das ist
nun mein üblicher Winterkatarrh. Den krieg' ich im Oktober und werde
ihn vor Mai nicht los. Das war voriges Jahr gerade so. Du, Erich ...«
»Ja ...«
»Mir ist mit Papa so ein bißchen bang! Am liebsten führe ich morgen
mal hinüber ...«
»Ja, tu das nur!« versetzte ihr Mann gleichgültig.
Der Oberst von Ottersleben merkte aus den paar Worten: Die beiden
stritten sich nicht mehr, wie es sein Neffe, der Artillerist, von
früher her behauptet. Sie waren aneinander müde geworden. Sie ließen
einander gehen, wie sie wollten. Er wartete, bis die junge Frau das
Zimmer verlassen hatte. Dann wandte er sich an Logow, der in seinem
schweigenden Brüten, abgespannt von der Arbeit des Tages, dasaß: »Na,
Erich -- nun sind wir unter uns! Nun können wir vom Kommiß reden, ohne
deine bessere Hälfte zu langweilen ... Nu sag mal: was machst du für
Geschäfte in Berlin?«
Im Augenblick hatte Erich von Logow sich gesammelt und seine Nerven
und seinen Willen in der Hand.
»Ich hab's dir ja heute mittag schon gesagt. Ich bin schon auf dem
rechten Weg. Die Karre läuft schon, wie sie soll!«
»Es fehlt dir gar nichts?«
»Was sollte mir wohl fehlen?«
Der junge Hauptmann sprach es sehr kühl und fügte hinzu: »Sei nur
unbesorgt! Es ist alles in schönster Ordnung!«
»Ich hab' ja auch nie das Gegenteil behauptet, mein Sohn!« versetzte
der Oberst gelassen. »Nimm mir mein Interesse, als älterer
Generalstäbler für einen jüngeren, nur nicht gleich übel!«
»Ich bin dir dankbar dafür, Onkel ... Nur ... ich spreche ungern
viel von mir selber! ... Sag mal: ist dir das Teegesöff da nicht zu
labberig? Möchtest du nicht lieber ein Glas Bier? ... Warte -- ich
hol's dir rasch ...«
Er stand auf. Draußen schrillte die Flurklingel.
»Nanu?« murmelte er. »Was ist denn das? Noch um neun Uhr abends?«
Fast zugleich klang im Korridor ein Aufschrei Ullas.
»Papa ... um Gottes willen ... Papa ...!«
Und dann die völlig ruhige Stimme ihres Vaters, zugleich mit dem
Klirren eines an den Haken gehängten Säbels.
»Nun ja, Mieze! ... Tu doch nicht so, als wär' es mein Geist! Ich
bin's wirklich!«
Der Oberst Thilo von Ottersleben stand auf der Schwelle, im
Interimsrock seines Infanterieregiments Burggraf Friedrich von
Nürnberg. Er sah ganz wie gewöhnlich aus, höchstens daß die
hellbraunen Augen etwas leidend blickten. Er war im letzten Jahr sehr
gealtert. Er hatte noch mehr Fältchen auf den feinen und klugen, an
einen Gelehrten erinnernden Zügen bekommen und mußte sich Mühe geben,
um sich in den Schultern straff aufrecht zu halten. Er begrüßte Bruno
und Schwiegersohn, als wäre gar nichts Besonderes geschehen, und
setzte sich. Er war von dem kurzen Treppensteigen sehr außer Atem.
»Warum ich auf einmal hier bin, Kinder?« sagte er. »Na, das will ich
euch verraten: also -- es ging auf einmal nicht mehr! ... mitten
auf dem Exerzierplatz ging mir heute morgen die Puste aus ... es
war ein Schwindel ... schwarz vor den Augen ... ich hab' mich vor
der Mannschaft geschämt, aber es half nichts ... ich mußte 'runter
vom Pferd -- sie haben mich fast gehoben -- und mich auf den Arm
vom Adjutanten stützen und nach Hause gehen ... Nun frag' ich euch:
kann ich's in der Verfassung noch vor Seiner Majestät verantworten,
ein Regiment zu kommandieren? ... Ich sage: nein! ... Du hast eben
die Zweihundertvierundvierziger gekriegt, Bruno, und ich gebe die
Hundertachtundachtziger ab! Das wird das Ende vom Lied sein!«
»Ich will nicht warten, bis man höheren Orts meldet: Der Kerl kann
nicht mehr kriechen!« fuhr er fort. »Unser guter Stabsarzt versteht
vom Whistspielen mehr als von so 'nem inneren Knacks ...« Er lachte
plötzlich leise und geheimnisvoll in sich hinein. Sein Antlitz zeigte
eine geisterhafte Blässe. Er schien denen um ihn auf einmal verändert.
»Ich bin nämlich schon seit heute mittag in Berlin, Kinder! Und um
halb sechs bin ich zu 'ner Autorität in die Sprechstunde gestiefelt
... Wollte mal Gewißheit haben. Der berühmte Mann hat die längste Zeit
an mir 'rumgeklopft und 'rumgehorcht. Und das Ergebnis: Du mußt mir
nachher einen Bogen Papier geben, Erich! Ich schreibe heute noch mein
Abschiedsgesuch.«
»Und du mußt mich für heute nacht hier aufnehmen, Mieze!« sagte er
beinahe bittend, in dem tiefen allgemeinen Schweigen zu Ulla. »Ich
hab' heute so einen merkwürdigen Widerwillen gegen ein Hotel. Ich weiß
lieber jemand wie Erich in der Nähe! Der Professor wollt' es auch.
Ich kann ja auch auf dem Kanapee da schlafen. Da stör' ich euch dann
nicht!«
»Das fehlte noch, Papa!« Erich von Logow legte selbst mit Hand an und
trug gemeinsam mit dem Burschen eines der schweren Betten aus dem
Schlafzimmer hinüber in den Salon. Ulla und das Mädchen machten dem
Hausherrn unterdessen an der leeren Stelle ein Notlager auf dem Boden
zurecht. Ihr Vater saß in dem Getriebe still und freundlich, müde da,
als ob es ihn eigentlich gar nichts anginge. Sein Bruder reichte ihm
die Hand.
»Ich geh' jetzt, Thilo! ... Wir sehen uns noch morgen früh! Laß es dir
gut gehen!«
Der andere hatte sich erhoben. Die beiden Brüder und
Regimentskommandeure standen einander gegenüber.
»Lasse ~du~ es dir gut gehen!« sprach er laut. »Bringe ~du~
unseren Namen weiter zu Ehren! Du bist der Mann dazu! Du kommst noch
hoch hinauf in der Armee. Das wünscht dir niemand mehr von Herzen als
ich! Gute Nacht, mein guter Bruno! Und nun komm einmal her, Erich! ...
Ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen, solange deine Frau noch
draußen herumkramt! Die Frauenzimmer brauchen nicht alles zu wissen,
die machen nur ein unnützes Geschrei. Wir sind Männer. Also: der
Professor heute hat mir reinen Wein eingeschenkt. Wer weiß, wielange
ich noch leb' ...«
»Aber Papa ...«
»Pscht! ... Es ist ein Klaps am Herzen! ... Vom Ärger im Dienst
stammt der nicht, seit der Glümke seit 'nem Jahr seine Division im
Elsaß hat und mich schon vorher in Ruhe gelassen und auch nicht mehr
zu uns ins Haus gekommen ist. Mit seinem Nachfolger hab' ich mich
vorzüglich vertragen. Und Mama mit ihr auch. Alle Vorgesetzten haben
mir das Leben leicht gemacht. Aber der Mensch wird eben alt, mein
Sohn. Er nutzt sich ab. Nachtwächter kann man in der Armee nicht
brauchen! Ob man hinterher noch ein bißchen länger oder kürzer in
Berlin oder Wiesbaden spazieren kraucht -- als alter Soldat muß man
auf den Tod gefaßt sein. Nur schade, daß man in die Grube fährt, ohne
einmal wirklich Pulver gerochen zu haben -- nach siebenunddreißig
Jahren Dienstzeit -- das ist der lange Frieden. Wenn ich denke: drei
Ottersleben sind allein bei Zorndorf gefallen -- andere bei Hochkirch
-- einer schon bei Fehrbellin ...«
Seine Gedanken verloren sich eine Sekunde in die Weite. Über seinen
Zügen, die das Lampenlicht hell beschien, war ein seltsamer,
vergeistigter Schimmer. Dann war er wieder ganz der Alte, nahm einen
Schluck Bier und fuhr fort: »Gott sei Dank, ich kann ja ohne Sorgen
gehen! Mein Haus ist geordnet. Mama hat ihre Pension. Die Ulla ist
bei dir gut aufgehoben, das Dorle bei ihrem Mann ebenso. Meine beiden
Jungen tragen den bunten Rock. Alles ist schön ... Bis auf das
eine ... Bis auf die Maxe! Und da hab' ich nun eine Bitte an dich,
mein lieber Erich! Sieh: du bist nach meinem Tode quasi das Haupt
der Familie, denn die andern ... der Otto ist ein Windhund, sein
Bruder noch das reine Kind -- der Grotjan ein guter Kerl, aber kein
Kirchenlicht ... Also, da muß ich mich schon auf dich verlassen ...«
»Unbedingt, Papa -- wenn je einmal der Fall ...«
»... und da binde ich dir die Maxe auf die Seele! Schau, daß noch was
Vernünftiges aus dem Mädel wird. Nimm sie möglichst mal zu euch ins
Haus. Und sorge, daß sie noch ein bißchen unter Menschen kommt und
'nen ordentlichen Mann kriegt. Es ist ja furchtbar schwer mit ihr, ich
weiß. Sie ist ja verdreht. Diesen Winter wollte sie überhaupt kaum
mehr ausgehen. Dabei hat sie es weiß Gott nicht nötig, die Flinte ins
Korn zu werfen. Im Gegenteil: du wirst dich wundern, wie hübsch sie
geworden ist. Sie hat sich merkwürdig herausgemacht in den letzten
Jahren!«
»Ja, es ist nur das eine, Papa!« sagte der Hauptmann von Logow. »Ich
hab' sie die ganze Zeit nicht gesehen. Sie besucht uns ja nie. Sie hat
etwas gegen uns ...«
»Ach -- höchstens gegen die Ulla!« meinte der Oberst treuherzig. »Das
sind so Nücken. Das gibt sich von selber, wenn sie auf einmal kein
Elternhaus mehr hat. Dann wird sie froh sein, wenn sich noch jemand um
sie kümmert. Seid dann recht freundlich zu ihr! Versprich mir das!«
»Mein Wort, Papa! ... Aber gottlob hat es ja noch keine Not!«
Herr von Ottersleben hatte die Hand seines Schwiegersohns gedrückt und
sich mühsam erhoben. Er gähnte leise und müde.
»Nun kann ich ruhig schlafen gehen,« sagte er. »Vorher schreib' ich
noch das Gesuch. Oder schließlich: es hat ja noch bis morgen früh
Zeit. Jetzt flimmert es mir so komisch vor den Augen. Da mach' ich
heilig noch 'nen Fehler, und radieren darf man in so 'nem Dings doch
nicht ...«
Er küßte seine Tochter, die in das Zimmer getreten war, und begab sich
zur Ruhe. Das Ehepaar Logow sah sich, allein geblieben, stumm und
besorgt an. Dann gab Ulla ihrer beider Gedanken Ausdruck und sagte:
»Ein Glück, daß unter uns im Hause ein Arzt wohnt, falls Papa in der
Nacht etwas brauchen sollte.«
Wirklich wurde der Doktor nach kaum einer Stunde heraufgeholt. Herr
von Ottersleben war im Bett von einer schweren Ohnmacht befallen
worden, die erst nach geraumer Zeit den belebenden Mitteln wich.
Nun war er wieder bei sich und versicherte freundlich mit seiner
stoischen Ruhe aus den Kissen: »Es ist nichts, Kinder, geht doch
schlafen!« Aber der Arzt machte im Nebenzimmer eine bedenkliche Miene.
Er meinte, als man ihn frug, es sei doch vielleicht angezeigt, die
nächsten anderen Angehörigen bald zu benachrichtigen, und Erich von
Logow sagte zu seiner Frau: »Ich fahre am besten jetzt gleich in die
Französische Straße und telegraphiere an Mama und Maxe! Es ist jetzt
dreiviertel elf. Da können sie noch den Nachtschnellzug benützen und
sind morgen früh kurz vor sieben hier. Ich hole sie dann auf dem
Bahnhof ab.«
Die Nacht, in der das Ehepaar Logow wenig Schlaf gefunden, und immer
abwechselnd, auf den Fußspitzen schleichend, nach dem Vater gesehen
hatte, verlief ohne Zwischenfälle. Das erste Morgengrauen dämmerte
fahl über dem Häusermeer des Ostens, als der Hauptmann von Logow,
den roten Kragen seines Mantels hochgeschlagen, in der bitteren
Winterkälte harrend auf dem Bahnhof auf und ab ging, auf dem die
farblosen Massen der mit den Vorortzügen kommenden Arbeiter seine
leuchtende Uniform umströmten. Mißgünstig, mit Blicken finsterer
Neugier, Menschen einer anderen Welt, schoben sie sich an dem
Generalstabsoffizier vorbei. Er beachtete sie nicht. Er stand, die
Hände in den Taschen, und schaute ungeduldig in das trübe Zwielicht
hinein, in dem rot, grün und gelb, von fließenden Nebelkreisen
umrahmt, die Hunderte von Lichtern des Bahnhofes funkelten. Und dann
in der Ferne ein paar behutsam nähergleitende runde Feueraugen --
eine Dampfwolke -- der Zug hielt. Er erkannte an einem Fenster Frau
von Otterslebens bleiches und übernächtiges Gesicht und half ihr
heraus und hinter ihr Maximiliane, und selbst in diesem Augenblick
der Aufregung und Sorge, während er, die eiskalte Hand seiner
Schwägerin stützend in seiner behandschuhten Rechten hielt, und sie
mit wirrem Haar, blaß von der Nachtfahrt, schweigend vom Trittbrett
auf ihn niederschaute, selbst da mußte er an die Worte ihres Vaters
denken, wie hübsch sie geworden sei. Das war nicht mehr der scheue
unregelmäßige Reiz eines Mädchengesichts. Ihre Züge hatten sich
ausgeglichen und veredelt. Sie ähnelte jetzt in ihrem hohen, schlanken
Wuchs der klassischen Schönheit der Schwester -- nur daß sie ein
lebender Mensch war und nicht eine müde Statue.
Sie sprachen wenig, in ihrer Unruhe, bis sie die Wohnung erreichten.
Dort kam ihnen Ulla leise auf dem Flur entgegen.
»Gottlob -- es geht besser!« flüsterte sie.
»Schläft Papa noch?«
»Nein. Denkt euch nur: vorhin -- ich glaubte, mich rührt der Schlag,
kommt er in Uniform ins Zimmer, als ob gar nichts wäre! Er ist
heimlich in aller Frühe aufgestanden und war auch nicht dazu zu
bringen, sich wieder hinzulegen. Er habe jetzt zu tun, sagte er. Er
hat sich aus Erichs Schublade Papier geholt. Er sitzt drüben und
schreibt ...«
Vorsichtig näherten sie sich der Tür und öffneten sie, da auf ihr
Klopfen kein ›Herein‹ erklang, und Ulla raunte: »Nun ist Papa
glücklich wieder eingeschlafen! Ich dacht' es mir doch!«
Der Oberst von Ottersleben saß in voller Uniform in den Stuhl
zurückgelehnt vor dem Tisch. Das Morgenlicht umspielte sein feines,
müde nach vorn gesunkenes Haupt. Er rührte sich nicht, auch als sie in
die Nähe kamen, ihn leise anriefen. Sie sahen sich erschrocken an. Der
Arzt von unten war ihnen gefolgt. Er drängte sich an ihnen vorbei und
beugte sich zu dem Schlummernden nieder. Eine bange Minute verstrich.
Dann richtete er sich empor und sagte sehr ernst: »Seien Sie gefaßt:
der Herr Oberst wacht nicht mehr auf!«
Es war ein tiefes Schweigen. Der Oberst von Ottersleben saß
ruhig in seiner Uniform. Vor ihm, auf dem Tisch, lag das fertige
Abschiedsgesuch an seinen Kriegsherrn.
6
Zwei lange Trauerflore wehten im Wind. Von dem trüben, noch ganz
winterlichen Märzhimmel Berlins sanken vereinzelte Schneeflocken auf
sie nieder, umspielten die beiden schwarzgekleideten Frauengestalten,
übersilberten den etwas eingesunkenen, mit vergilbten Kränzen
überhäuften, vorläufigen Grabhügel. Frau von Ottersleben hielt ihr
Tuch vor dem Gesicht und weinte leise. Maximiliane stand neben
ihr. Auch sie hatte feuchte Augen. Stumm schaute sie während des
Schluchzens der Mutter vor sich hin -- auf die kahlen Bäume, die
bereisten Leichensteine, die aufgeweichten Kieswege. Drei Wochen waren
nun schon vergangen, seit man Papa hier zur Ruhe gebettet. Ringsumher
war alles voll gewesen von Uniformen -- das halbe Offizierkorps der
Hundertachtundachtziger -- Generalstäbler, Grenadier-, Artillerie- und
Pionieradjutanten mit Kränzen, aus den Truppenteilen der Söhne und des
Schwiegersohns -- die Husaren des Schwagers -- Lichterfelder Kadetten
-- draußen die Bataillone der Leichenparade -- Massen von Neugierigen
-- nun war das alles schon verweht und halb vergessen, die Welt ging
ihren Gang -- vor den Gittern des Friedhofs hörte man den dumpf
brausenden, millionenfachen Atem von Berlin. Fern in der Provinzstadt
führte ein anderer das Infanterieregiment Burggraf Friedrich von
Nürnberg. Die Witwe seufzte und schob sich den vom Wind zerzausten
Schleier zurecht.
»Wir wollen gehen, Maxe!« sagte sie. »Es zieht hier furchtbar. Da hat
sich auch Ulla die Erkältung geholt, neulich ...«
Ulla von Logow hatte sich am Tage nach dem Begräbnis ihres Vaters mit
einer schweren Grippe legen müssen. Jetzt war keine Besorgnis mehr.
Aber sie hustete immer noch, und der Arzt ließ sie nicht aus dem
Zimmer. Die beiden Damen, Mutter und Tochter, gingen lange schweigend
durch die freudlosen Straßen des Berliner Nordens in der Richtung nach
der Spree. Frau von Ottersleben verschluckte wieder Tränen.
»Ach, Kind ... Mir ist's immer noch wie ein Traum ... Wie wir jetzt
wieder daheim waren in der leeren Wohnung, wenn sich was rührte,
lag es mir auf den Lippen, zu rufen: ›Thilo ...‹ Ich dachte, es
~müßte~ Papa sein! ... Sonst sieht man doch ein Unglück kommen.
Man hat Zeit, sich vorzubereiten. Aber so auf einmal, über Nacht ...
Papa hat mir kaum ordentlich adieu gesagt, wie er nach Berlin fuhr.
Und es war das letzte Mal ...«
Ihre Augen waren naß. Sie nickte trübe.
»Ich bin froh, daß wir nun drüben in der Garnison mit allem fertig
sind und nie wieder hinkommen. Ich hab' es gestern kaum mehr erwarten
können bis zur Abfahrt. Mir war die Wohnung schrecklich, ohne Papa ...
mit all den Erinnerungen ...«
»Es war immerhin ein Glück, Mama, daß wir die Wohnung haben gleich an
den neuen Oberst weiter vermieten können und die Pferde gut verkaufen
und alles ...«
»Ja. Das schon!« sagte die Witwe, während sie beide die weite,
windüberpfiffene, unwirtliche Fläche vor dem Lehrter Bahnhof
durchquerten. »Aber was nun? ... Jetzt sitzen wir hier in Berlin
wie Schiffbrüchige auf einer Insel. Ewig können wir in dem
Charlottenburger Hospiz nicht bleiben. Es ist auch zu teuer, Kind!«
»Ja, Mama -- da mußt du dich nun entscheiden!«
Frau von Ottersleben schüttelte mutlos den Kopf.
»Ach ... ich kann nichts entscheiden, Maxe! Quält mich nicht. Immer
hat dein guter Papa für uns vorgesorgt. Ich muß mich erst daran
gewöhnen, daß ich auf einmal allein stehe und mir selber sagen muß:
›Tu das und tu jenes!‹ Ich glaub', ich ziehe schließlich doch nach
Darmstadt! Was meinst du?«
»Mir ist alles recht, Mama!«
»Aber jetzt noch nicht, Maxe! ... Ich muß erst zu mir kommen. Der
Gedanke an einen Umzug mit Möbeln, Wohnungmieten, fremde Gesichter
-- das ist mir jetzt schrecklich. Ich brauche vor allem Ruhe und
Pflege und ein bißchen Liebe. Ich möchte am liebsten vorläufig zu den
Grotjans nach Thorn. Dorle und ihr Mann schreiben mir immer so nett
und herzlich ...«
»Und ich, Mama? Für mich haben sie nicht auch noch Platz.«
»Ich dachte mir, du bleibst inzwischen hier, bei den Logows, bis wir
uns endgültig zu etwas entschlossen haben. Da hast du doch auch ein
bißchen Ablenkung in Berlin und ...«
»Nein!«
Es klang so schroff, daß Frau von Ottersleben ihre Tochter verwundert
ansah.
Die wiederholte: »Nein, Mama!«
Sie hatten die Alsenbrücke überschritten. Hinter ihnen ragte das
Generalstabsgebäude. Die Witwe meinte: »Gerade wo er den ganzen Tag da
über seinen Schreibereien sitzt und sie bis Mittag im Bett liegen muß,
kannst du dich auch im Haushalt ein wenig nützlich machen, Kind!«
»Ich will nicht, Mama!«
»Ja ... ›ich will nicht‹ ... das ist leicht gesagt. Vergiß nur nicht:
du bist Waise, und ich bin Witwe. Es ist nicht mehr wie früher, Maxe!
Wir müssen uns nach der Decke strecken. Wir haben gerade knapp zu
leben. Wir werden jeden Groschen umdrehen müssen. Was hast du denn
gegen die Logows?«
»Gar nichts!«
»Nun also!«
Die beiden Damen schwiegen eine Weile, im Gehen. Dann versetzte Frau
von Ottersleben aus ihren Gedanken heraus: »Du hättest heiraten
sollen, Kind!«
»Das hast du mir schon oft erzählt, Mama!«
»Du hättest heiraten sollen, eh' dein guter Papa abberufen wurde. Da
hätt' es sich leicht gemacht, gerade wie bei deinen Schwestern --
besonders, wo du in den letzten Jahren so auffallend hübsch geworden
bist. Nun ist's viel schwerer.«
»Ich will auch gar nicht!«
»Ja, worauf wartest du denn nur? ... Wenn ich so denke ...: es waren
doch wirklich in den beiden letzten Jahren so nette Leute da -- du
hast dich rein an dir versündigt, Maxe! ... Noch diesen Herbst ... der
Hauptmann von den Jägern ... So ein frischer, flotter Mensch! ... Der
schöne alte Name! Da könntest du jetzt schon Majorin sein!«
Maximiliane von Ottersleben erwiderte nichts. Sie dachte sich: ›Wenn
ich ~das~ gewollt hätte, dann wär' ich heute schon Exzellenz
-- aktive Exzellenz -- hochgebietend und umschwärmt, da unten in
Lothringen, wo der Generalleutnant von Glümke seine fünfundvierzigste
Division führt, statt daß ich hier trübe in Schnee und Nebel gehe und
mich schließlich noch nach einer Stellung als Gesellschafterin oder
Reisebegleiterin umschau'!‹ In einer plötzlichen Aufwallung, einem
Nachzittern dieser unfreiwilligen Opfertat, sagte sie unvermittelt und
heftig: »Also ich geh' ~nicht~ zu den Logows, Mama!«
Sie waren vor deren Haus im Hansaviertel stehen geblieben. Frau von
Ottersleben zuckte hoffnungslos die Achseln. Sie kannte den Dickkopf
der Tochter.
»Schau wenigstens einmal auf einen Sprung hinauf, wie's steht!« bat
sie. »Mir sind die drei Treppen zu viel! Ich bin so matt. Da fällt mir
die Ulla so auf die Nerven. Ich geh' unterdessen voraus ins Hospiz!
Auf Wiedersehen!«
Maximiliane von Ottersleben stieg leichtfüßig die vielen Stufen empor
und trat in das Zimmer der Schwester. Die bleiche, brünette junge Frau
lag auf einem Diwan, trotz der Hitze der Warmwasserheizung noch in ein
Plaid gewickelt, ein weißes Kissen unter dem Kopf.
»Gott, Maxe!« sagte sie, ohne ein Zeichen von Freud oder Leid und
reichte ihr im Liegen die Rechte. »Seid ihr wieder zurück nach Berlin?«
Das junge Mädchen nahm Platz.
»Ist's dir auch recht, daß ich da bin?«
»Gewiß!«
»Oder soll ich lieber gehen?«
»Wie du willst!«
»Ulla -- sei doch nicht so stumpfsinnig! Und was du für kalte Hände
hast ...«
»Ich friere! Ich frier' immer, wenn ich mich langweile! ... Ich
langweil' mich gräßlich!«
Die Jüngere zog ihr Jäckchen aus und hängte es über den Stuhl.
»Ein Hundewetter ist draußen!« sagte sie dabei.
»Das ist recht. Es soll nur tüchtig regnen. Ich bin auch nicht
vergnügt!«
»Ulla, du bist wirklich in einer greulichen Verfassung!«
»Lieg du mal so den ganzen Tag! Und schau dir die Stuckdecke da oben
an. Ich ärgere mich schon seit heute früh über das dumme Füllhorn in
der Mitte!«
Maxe beugte sich vor und legte ihr die schmale Mädchenhand auf die
Schulter.
»Nimm dich doch zusammen, alte Heulsuse! Schäm dich! Nächste Woche
gehst du doch wieder aus und bist gesund! Da würd' ich mich doch
freuen, an deiner Stelle!«
Aber Ulla blieb eigensinnig.
»Ach -- es ist ja ganz gleich,« sagte sie müde, »ob ich auf oder im
Bett bin!«
Die Tür hatte sich geöffnet. Ihr Mann war, vom Dienst kommend,
eingetreten. Er nickte Frau und Schwägerin zu, während er seine
Aktenmappe mit Geheimdokumenten, die kein anderes Auge als das eines
deutschen Offiziers sehen durfte, vor sich auf den Tisch legte. Das
Antlitz Ullas belebte sich bei seinem Anblick nicht. Es war blutleer,
von der Krankheit angegriffen. Tiefe blaue Schatten, die sie viel
älter erscheinen ließen, unter den dunklen Augen. Und doch ging von
ihrem Lager ein Hauch von Frische, von kalter Luft und Gesundheit
aus. Maxe Ottersleben hatte ihn mitgebracht. Er haftete noch an
ihren Kleidern, an ihrem Blondhaar, wie sie jung und elastisch, mit
vom Gehen leichtgeröteten Wangen vor ihrer Schwester stand, die ihr
altes Klagelied weiter spann, ohne sich viel um die Anwesenheit des
Hausherrn zu kümmern.
»Es ist ja ganz gleich, ob ich gesund oder krank bin. Und ob ich so
bin oder so. Es ist überhaupt alles gleich! Mir wenigstens!«
»Na, du bist ja wieder in einer netten Laune!« versetzte ihr Mann.
»Siehst du, Maxe, so wird man nun empfangen, wenn man kaput vom Dienst
heimkommt!«
Ulla achtete nicht darauf. »Das beste ist, wenn man schläft!« sagte
sie zu ihrer Schwester. »Ich wollt', ich könnte den ganzen Tag
schlafen. Und die Nacht auch!«
»Ach, du Faultier!«
»Es ist nicht Faulheit. Es ist nur, wenn man so gar nicht weiß, was
man anfangen soll. Rat mir doch! Mir fällt nichts mehr ein!«
»Gräßlich!« sagte der Hauptmann und ging in das Nebenzimmer, um seine
Papiere zu verschließen. Maxe gab ihrer Schwester die Hand.
»Na, Kopf hoch, Ullchen! ... Ich muß jetzt zu Mama. Adieu!«
Als sie sich im Flur vor dem Spiegel den Schleier umband, stand
plötzlich Erich von Logow neben ihr, zog seinen Mantel an und sagte:
»Ich bring' dich hinüber zum Hospiz, Maxe! Es wird bald schummerig. Da
darfst du nicht allein durch den Tiergarten!«
Rasch kam in ihre Augen ein feindseliger Glanz.
»Ach, mich wird schon keiner stehlen!«
»Ich geh' aber doch lieber mit.«
»Es ist wirklich nicht nötig!«
Er wurde nervös.
»Gönn mir doch das bißchen frische Luft! Es ist ja nicht zum Aushalten
da drinnen, mit dem ewigen Gejammer! ... Ich weiß nicht, was du
eigentlich immer gegen mich hast, Maxe! ... Ich beiß' dich doch nicht!«
Sie schwieg. Sie hatte Angst, irgend etwas zu verraten, wenn sie noch
weiter widersprach. Als sie miteinander die Treppen hinabstiegen,
versetzte sie: »Du mußt Ulla nicht unrecht tun! Sie ist krank. Sie hat
vor drei Wochen ihren Vater verloren ... Sie ist doch nicht immer so
wie jetzt.«
»Ungefähr doch!« sagte er, und machte eine sonderbare Bewegung mit
Kopf und Schultern, als wollte er sich eine unsichtbare Last von der
Seele schütteln. Dann wechselten sie nur gleichgültige Worte im Gehen.
Er blickte sie von der Seite an. Er sah die schlanke Neigung ihres
Nackens im Kampf gegen den Wind, das Gekräusel der blonden Strähnen
unter dem Schatten des dunklen Hutes, den herben Jugendreiz ihres
Profils mit dem eigenwilligen Kinn hinter dem Trauerflor. Es fiel ihm
ein, was ihm sein Schwiegervater wenige Stunden vor seinem Tod von
ihr gesagt: Sie war wirklich ein schönes Mädchen. In Erinnerung an
dies Gespräch hub er an: »Ich möchte mal ein vernünftiges Wort mit
dir reden, Maxe ... Ich komm' ja sonst nie dazu! Du bist ja nicht
festzukriegen. Also hör mal: Was sind denn nun so eigentlich deine
Zukunftspläne?«
»Gar keine!«
»Du mußt dir aber doch irgendeine Vorstellung gemacht haben, was ...«
»Ach, sorg dich nur nicht um mich! Ich bin nicht wie die Ulla, daß ich
mich hinsetz' und heule. Ich schlag' mich schon durch!«
»Aber etwas Bestimmtes hast du nicht im Sinn?«
»Nein!«
»Nun -- dann, liebe Schwägerin -- da du doch irgendwo bleiben mußt,
bitte ich dich dringend und lade dich ein: komm vorläufig zu uns! Es
ist ja nicht sehr amüsant. Aber doch besser als nichts!«
Sie warf gereizt den Kopf in den Nacken.
»Aha! Du hast wohl mit Mama gesprochen?«
Erich von Logow verneinte erstaunt.
»Ich habe mit deiner Mutter keine Silbe darüber gewechselt, Maxe! Sei
so gut und lächle nicht so ungläubig. Ich bitte, daß man mein Wort
respektiert, wie ich das deines Vaters. Denn darum handelt es sich.
Seine letzte Bitte an mich war: daß wir, Ulla und ich, dir zur Seite
stehen möchten. Das hab' ich ihm in die Hand versprochen!«
Sie schwieg.
Er fuhr fort: »Ich dränge mich dir nicht auf, Maxe ... Aber sag
selbst: was willst du denn in irgendeinem Nest in der Provinz
verkümmern? Hier bist du doch wenigstens unter Menschen, in Berlin,
kannst dein Leben genießen, und bist bei uns willkommen! ... Herzlich
willkommen! Ich mache keine Redensarten!«
»Ich auch nicht! Ich danke schön! Ich will euch nicht stören!«
»Von Stören ist gar keine Rede! Im Gegenteil: du würdest mir damit
eine wahre Wohltat erweisen, Maxe!«
Sie sah ihn betroffen an.
Er nickte mit umwölkten Zügen und wiederholte: »Eine Wohltat, Maxe ...«
»Ja, aber wieso denn?«
Sie gingen weiter. Er versetzte: »Wenn ich dir anbiete, mein Haus
mit uns zu teilen, muß ich auch offenherzig sein. Du würdest es auch
bald selber merken. Es ist in dem Hause nicht alles so, wie es sein
sollte. Es ist da ein Geist des Unmuts -- der Leere -- ich weiß nicht
... ich hab' ja nie recht ein Elternhaus gekannt. Aber ich habe euer
Familienleben gesehen. Ich habe gehofft, ich würde es einmal gerade so
haben. Ja, und nun? ... Da liegt die Ulla! ... Du warst ja eben bei
ihr ... es muß da etwas geschehen! So geht das nicht weiter ... Das
hält kein Mensch auf die Dauer aus. Sie nicht und ich nicht!«
»Ich bin sechzehn Stunden täglich im Dienst!« hub er nach einer Weile
wieder an. »Ich kann mich nicht immer um sie kümmern. Und sie selber
macht nichts aus sich. Es ist ihr nicht gegeben! Und komm' ich dann
heim, ja, du lieber Gott ... Wenn ich nur an diese stumpfsinnigen,
schweigsamen Mahlzeiten denke ...«
»Ja, warum redet ihr denn nichts zusammen?«
»Über was denn?«
»Zum Beispiel über deinen Dienst! Papa tat's doch auch oft mit Mama!«
Er lachte erbittert auf. Er brach los. Sie merkte ihm an, daß er,
der sich sonst nie gehen ließ, jetzt seiner Bewegung nicht mehr Herr
werden konnte.
»Ja, liebe Maxe: wenn das der Ulla nicht so völlig wurst wäre! Wann
hat sie je ein bißchen Verständnis für mich -- Rücksicht für mich --
ich möchte sagen, in dem Punkte Liebe für mich? Sie denkt nur an sich.
Ich verlange ja eigentlich gar nichts für mich als Menschen, nur für
den Königsplatz da drüben, der mir Zeit und Nerven nimmt. Dafür bin
ich Offizier. Sie ist doch selbst Offizierstochter. Sie weiß, was ein
Generalstäbler zu tun hat. Sie hat mich schon vor dem Generalstab
jahrelang gekannt. Sie hat gesehen, daß ich ein ernster Mensch bin und
kein Salonfatzke -- keiner von der Sorte, mit der sie sich so und so
viel Ballwinter um die Ohren geschlagen hat -- ein Mensch, der sich
nicht leicht anschmiegen kann, der streng gegen sich ist und von sich
und anderen viel verlangt -- so war ich doch -- nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun schön! Du siehst's! Jeder sieht's: ihr ist's ganz egal.« Er
redete sich in steigende Heftigkeit hinein. Er sprach schneller und
schneller. »Ihr wär's lieber, ich wäre der dümmste Kerl und wir liefen
jeden Abend irgendwohin, um uns zu amüsieren, statt daß ich jetzt bis
nach Mitternacht in meinem Arbeitszimmer sitz'. Und wenn sie mich mal
dort aufsucht, so geschieht's nur, um mich zu stören. Dann werd' ich
heftig und sie übler Laune, und so wird das schlimmer Tag für Tag.
Meine Laufbahn geht dabei noch vor die Hunde. Ich hab' eine wahre
Angst. Maxe -- komm doch zu uns -- nur kurze Zeit ... Du siehst, es
tut not, daß jemand da ist ...«
Er bat jetzt förmlich.
»Maxe ... zu dir hab' ich so Zutrauen! ... Du mußt ihr andere
Anschauungen über mich und über ihre Pflicht und über das Leben
beibringen. Du bist ein vernünftiger Mensch! Du nimmst das Leben nicht
leicht. Man sieht's dir an. Du wirst solch einen guten Einfluß auf
sie haben! Es mildert sich von selbst alles durch die Gegenwart eines
Dritten! Traurig, wenn man das von einer Ehe sagen muß. Ich hab's auch
so unverhohlen noch niemandem gesagt wie dir! ... Ich kann's auch nur
einer Schwester meiner Frau sagen. Denn zu meiner Schwiegermutter hab'
ich kein Zutrauen. Und die Dorle ist doch ein Schaf! Die kommt nicht
in Frage. So fällt's eben auf dich ...«
»Ich danke dir für dein Vertrauen!« sagte Maximiliane von Ottersleben.
»Aber ich fürchte, wenn ich auch wollte, ich fände Ullas Vertrauen
nicht. Wir sind zwei zu verschiedene Menschen. Wir haben uns schon
als Mädchen nie sehr nahe gestanden. Ich bin die Jüngere. Ich bin
unverheiratet. Ich hab' von jeher eine Nebenrolle neben ihr gespielt.
Sie wird von mir nichts annehmen. Das weiß ich von vornherein!«
Er biß sich auf die Lippen.
»Maxe, du darfst mich jetzt nicht so abspeisen, nachdem ich dir das
alles gesagt hab'! Du ahnst nicht, wie mir zumut ist. Was glaubst
du, was mich das kostet, jemanden um so etwas zu bitten, weil ich
keinen anderen Ausweg sehe? Du mußt mir doch als meine Schwägerin
zum mindesten deinen guten Willen zeigen, mir zu helfen! Sprich doch
wenigstens einmal mit ihr!«
Sie zögerte.
Er murmelte finster: »Glaub mir, ich bin schon halb entzwei durch
die Geschichte! ... Ich bin nicht mehr der Alte! ... Ich fürchte,
andere merken's auch schon! ... Die Vorgesetzten machen manchmal so
Gesichter. Es ~muß~ anders werden!«
Seine Stimme zitterte. Auf seinem Gesicht lag, soweit sie es in der
Dämmerung noch erkennen konnte, eine Angst, die es ganz fremdartig
erscheinen ließ. Sie kämpfte mit sich. Dann sagte sie mit Überwindung:
»In Gottes Namen: ich will's probieren und mit ihr reden ... Aber nun
möcht' ich nach Hause. Mama wartet!«
Ein paar Tage darauf war heller Frühling über Berlin gekommen. Ulla
von Logow saß zum erstenmal seit ihrer Erkältung in ihrem Heim am
offenen Fenster, am Nachmittagsteetisch, ihrer Schwester gegenüber,
in der wohltuenden Müdigkeit der Genesenden. Die frische Luft belebte
sie. Der feine Duft der von Maxe mitgebrachten Veilchen erfüllte das
Zimmer.
»Ach ja -- meine alte Maxe ...« sagte sie zu der blonden Jüngeren,
zog sie zu sich heran und küßte sie. Sie war heute besonders zärtlich
zu ihr, schwesterlich weich. Dann ruhte sie still, die Hände
verschlungen, und schaute hinaus in den Sonnenschein. Sie seufzte
und strich sich die Haare aus der Stirn. »Gott ja ... Maxe ...«
wiederholte sie träumerisch. Ein leises Husten kam über ihre Lippen.
»Ullchen, du wirst dir wieder was holen in dem Zugwind am offenen
Fenster!«
»Ach -- laß schon!«
»Warte nur, was Erich dazu sagen wird. Wann kommt er denn?«
Sofort flog ein Schatten über die blassen Züge der anderen. Die wurden
plötzlich wieder starr. Sie hob die schmalen, abfallenden Schultern.
»Weiß ich's? Da mußt du am Königsplatz fragen! Dort wohnt er doch!
Hier erscheint er doch nur zum Essen und Schlafen!«
»Ulla -- sei doch nicht so bitter!«
»Ich bin ja schon wieder still!« sagte die junge Frau und hob das
dunkle Haupt gegen eine laue Luftwelle, die der Märzwind durch das
Fenster trieb. »Ach ... der Frühling ... himmlisch ... nicht? ... Aber
was hat man davon hier in Berlin? ... Was hat man überhaupt ...?«
Sie schaute die Schwester an. Ein sonderbares, leidvolles Lächeln
verzog ihre Mundwinkel.
»Du hast schon das beste Teil erwählt, Maxe ... möchtest du noch Tee,
Schatz? ... Nein? ... Du warst schon die Klügere! ... Das heißt: du
wirst ja freilich auch heiraten. Natürlich. Man muß. Was soll man
sonst? Ich wünsch' dir Glück! Es ist reine Glückssache -- weißt du!
... Man tappt mit verbundenen Augen hinein, und dann wird's mal so,
mal so!«
»Man kann doch auch etwas dazu tun.«
»Was denn?«
Maxe Ottersleben rückte sich zurecht.
»Ja -- ich red' ja von der Ehe wie der Blinde von der Farbe ... Ich
meine nur ... Im allgemeinen: die Männer -- wenigstens in unseren
Kreisen, und unter ihnen gerade die Männer, die uns gefallen -- die
haben doch alle was Hartes, Steifnackiges -- die können sich nicht
leicht anpassen ...«
»Untereinander passen sie sich schon an, wenn einer der Vorgesetzte
ist!« sagte die junge Frau phlegmatisch.
»Ja eben! Das sind doch alles Offiziere! Sie haben nicht nur eine
Frau, sondern auch einen Beruf. Dein Mann weiß ja manchmal wirklich
nicht mehr, wo ihm der Kopf steht vor Arbeit ...«
»Ja ... und?«
»Und ... soll ich weiterreden, Ulla?«
»Sprich nur ungeniert!«
»Und ... wenn er nun nach Hause kommt ... er braucht doch Rücksicht
... Er braucht doch Entgegenkommen ... Ulla ... du als Frau mußt das
doch besser wissen ... fühlt man nicht in sich die Pflicht, einen
Mann, wenn man ihn schon genommen hat, auch glücklich zu machen, so
weit man kann?«
»Ja -- wenn ich's nur könnte ...« sagte Ulla von Logow und schob ihre
Tasse weit von sich über den Tisch.
Plötzlich begann sie zu schluchzen. Sie weinte hellauf in den Armen
der Schwester.
»Wenn ich's nur könnte, Maxe! ... Aber ich kann's nicht! Ich bin doch
nicht böse! Ich bin doch ein Mensch wie andere. Ich bin, wie ich bin!
Ich kann mich nicht anders machen. Ich möcht' mich ja gern anders
machen. Ich weiß nur nicht, wie. Man soll es mir nur sagen. Aber er
sagt es mir nicht!«
Die Tränen erstickten ihre Stimme. Sie stammelte in einem halb
kindischen Weinen: »Er steht da und schaut mich an und erwartet Wunder
was von mir! Ich bin doch kein Wundertier. Ich kann nicht hexen. Da
wird man ganz irr. So mutlos. So müde. Und wenn ich mir auch Mühe gebe
-- man macht ihm ja nie etwas zu Dank! Immer hat er sich's anders
vorgestellt, als es dann wird. Da läßt man lieber schon alles, wie's
ist!«
Dann hob sie heftig das Haupt: »Ich langweile ihn! Was ich rede, ist
unter seiner Würde! Er geht weg und läßt mich allein. Daß ich nicht
so bin wie er, begreift er nicht! Glaubst du, der hohe Herr gibt sich
je die Mühe, in ~meine~ Welt hinunterzusteigen? Er denkt nicht
dran! ... Ich sitz' ihm hier lange gut und blase Trübsal! Er hat doch
gewußt, daß ich nicht zu solch einer Hausmutter erzogen worden bin.
Immer wurd' ich daheim auf Bälle geschleppt und ausgestellt! Ich war
das Prunkstück der Familie. Der Mittelpunkt ... das ist doch wahr --
nicht?«
»Ja, gewiß, Ulla!«
»Ja -- und nun? ... Da hock' ich! Manchmal kommt 'ne Woche lang kein
Mensch! Ihn stört's nicht! Er hat ja bis über die Ohren zu tun! Und
ich? Pah -- was kommt's denn auf mich an? Ich kann ja hier gähnen!
... Und ich hab' doch auch Ansprüche ans Leben, Maxe -- so gut wie er
...!«
»Das freilich!«
»Aber das übersieht er eben ganz. Da ist man nun in Berlin! Man ist
jung. Man ist hübsch. Man möchte sich ein bißchen amüsieren. Um einen
sind die Masse Menschen, Geselligkeit -- Feste -- Theater -- Konzerte
-- Basare -- Tees -- was weiß ich ... man kann's mit Händen greifen
... ich hab' gedacht: da komm' ich nun als Frau mitten hinein! -- und
alle Türen stehen einem ja auch wirklich offen -- aber ich kann doch
nicht immer allein hin ... Und er geht eben nicht mit! Ein anderer
hätte doch den Ehrgeiz, eine Frau wie mich zu zeigen! Er wäre stolz
auf mich! Ihm ist's gleich. Er kennt nur seinen Ehrgeiz im Dienst! Ich
bin ihm gerade gut genug, daß die Suppe warm ist, wenn er heimkommt.
Weiter nichts! ... Ich möchte nur wissen, warum er mich eigentlich
geheiratet hat ...«
Sie knirschte es zwischen den zusammengebissenen Zähnen. Sie war
atemlos vom langen Sprechen. Ihre Tränen waren versiegt. Das junge
Mädchen, das neben ihr kniete, strich ihr stumm, beruhigend mit der
schmalen Hand über den Scheitel. In ihr gab etwas der Schwester recht.
Aber sie sprach es nicht aus. Sie wollte nicht noch Öl ins Feuer
gießen. Sie stand auf.
»Ulla! So schroff mußt du nicht sein! Er liebt dich doch! ... Sonst
hätt' er dich doch nicht haben wollen! Schau: du mußt sein Leben mit
ihm teilen -- nicht er deines mit dir. So mußt du das auffassen! ...
Jetzt mache ich aber das Fenster zu ... Es wird kalt!«
Ulla hustete.
»Ich kann doch nicht mit ihm in den Generalstab gehen!« sagte sie
erbittert. »Alle seine Mobilmachungen und Akten und Pläne sind mir
ein Greuel, weil er sich denen widmet und nicht mir! Mit mir kann er
sich nicht unterhalten! Mit seinen Kameraden bis tief in die Nacht! Da
schieben sie ihre Bleiklötzchen auf den Landkarten hin und her. Der
große Eßtisch drinnen wird immer abgeräumt, für das Kriegsspiel. Da
wird er nicht müde! ...«
Maximiliane von Ottersleben wurde wider Willen eifrig: »Du mußt dich
eben auch für diese Dinge interessieren, Ulla! Für alles, was ihn
freut! ... Du mußt versuchen, auf seine Höhe zu kommen. Er hilft dir
gern! Und wenn man nur erst den Schlüssel zu ihm hat, dann kann er
einem doch gewiß so viel geben!«
»Ja, singe du nur sein Lob!«
»Ich sage nur, was alle sagen: Er ist doch ein bedeutender Mensch. Als
solcher hat er natürlich auch seine Fehler. Aber er gleicht sie durch
große Eigenschaften wieder aus. Vielleicht kommt er noch einmal in die
höchsten Stellungen in der Armee -- Papa meinte es immer. Da muß es
dann doch ein glücklichmachendes Gefühl sein, ihn auf solch einem Weg
begleitet zu haben. Darauf kann man dann stolz sein! Dem Gedanken muß
man Opfer bringen, Ulla!«
Das junge Mädchen hatte sich in Eifer geredet. Da fing sie einen ganz
veränderten mißtrauischen Blick ihrer Schwester auf, ein Lächeln: »Du
legst dich ja kolossal für meinen Mann ins Zeug!«
»Ich rede nur, wie ich's meine!«
»Du ... Maxe ...«
»Ja ...«
»Schau mich mal an ... so ... ins Gesicht ...«
»Warum?«
»Sag mal: du hast wohl immer noch was für ihn übrig?«
»Ulla!«
»Von damals her, mein' ich ... Aber was hast du denn? Warum nimmst du
denn deine Jacke? ... Warum willst du denn auf einmal weg?«
Maxe Ottersleben stand blaß, sich zur Ruhe zwingend, vor ihr.
»Natürlich muß ich gehen! ... nachdem du mir ~das~ gesagt hast!«
»Aber Maxe ... liebe Maxe ... Du weißt doch, wie ich bin! ... Ich bin
so nervös! ... so gereizt! ... so ganz auseinander! Maxe ... sei nicht
böse!«
»Nein! Nur traurig! Adieu!«
»Bitte -- bleib! ... Maxchen ... es war doch nur ein Scherz!«
»Mit so was spaßt man nicht, Ulla!« Das junge Mädchen knöpfte sich mit
zitternden Fingern die Jacke zu. »Ich weiß nicht, ob es dir bekannt
ist: Dein Mann hat mir dringend angeboten, ich möchte auf eine Zeit zu
euch ziehen ...«
Ulla hob flehend die Hände.
»Ach ja ... bitte ... bitte ... tu das! Ich wär' so froh! Ich danke
meinem Schöpfer, wenn ich jemand Lieben um mich hab'!«
»Ich hab' gleich ~nein~ gesagt! ~Wie~ recht ich hatte, das
seh' ich erst jetzt! ... Also -- weiter gute Besserung, Ulla!«
Sie eilte aus dem Zimmer. Die junge Frau blieb hilflos sitzen und
brach nach einer Weile von neuem in Tränen aus. Sie weinte noch,
als der Hauptmann von Logow eintrat und, durch die Gewohnheit schon
abgestumpft, nur mit einem schweren Seufzer frug: »Na -- ist die
Wassermühle wieder in Gang? ... Was hat's denn gegeben?«
Da schluchzte sie auf: »Siehst du -- nun hab' ich auch wieder die Maxe
vor den Kopf gestoßen! Sie ist ganz gekränkt weggerannt -- das arme
Schaf! Und dabei war sie so gut und lieb zu mir! Ich bin wirklich eine
unglückselige Person ...«
Den ganzen Abend war sie müde und angegriffen. In der Nacht bekam
sie starkes Fieber. Der aus dem Bett herbeigeholte Arzt machte
ein bedenkliches Gesicht. Er wollte wissen, ob sie irgendeine
Unvorsichtigkeit begangen habe, und erfuhr, daß sie bis in den Abend
hinein am offenen Fenster gesessen.
»Ja -- davon haben wir nun glücklich den Rückfall!« sagte er. »Mit
unserer feuchten Märzluft ist nicht zu spaßen! Wir müssen nun
abwarten, was daraus wird.«
Gegen Ende der Woche saß Maximiliane allein in dem düsteren Hofzimmer
des Hospizes, in dem sie mit ihrer Mutter in Charlottenburg wohnte.
Der Abend dämmerte. Draußen war das Kommen und Gehen einer Pension.
Türenschlagen. Stimmen. Es war viel Landadel im Hause, Pastoren,
ältere Junggesellen. In jedem Zimmer lag eine Bibel. An der Wand
hing ein frommer Spruch. Sie buchstabierte mechanisch: »Volk! Volk!
Höre des Herren Wort!« Da klopfte es. Ein Offiziersbursche stand
auf der Schwelle. Er brachte einen Brief, machte linksum kehrt und
verschwand. Sie hielt das Schreiben in der Hand. Sie erkannte die
Schrift Erich von Logows. Sie trat ans Fenster, öffnete und las:
»Liebe gute Schwägerin Maxe!
»Du weißt schon von dem neuen Pech! Ulla liegt! Wie lange, wissen
die Götter! Sie ist unglücklich, und ich quäle mich mit bei ihren
Klagen, sie sei von früh bis spät mutterseelenallein und fühle sich
verlassen, einer bezahlten Pflegerin anvertraut, und niemand sonst
kümmere sich um sie! ...
»Wer soll da kommen und helfen? Mama ist selbst viel zu angegriffen
und bedarf der Ruhe und Erholung. Hier brauchen wir jemand
Resoluten, der den Kopf oben behält! ... Maxe, kannst Du's denn
wirklich verantworten, uns da im Stich zu lassen? Ist es nicht Deine
Menschen- und Schwesterpflicht, unserer Bitte zu folgen?
»Ulla macht sich Vorwürfe, Du hättest ihr ein unbedachtes Wort
übel genommen. Was es war, will sie mir ums Totschlagen nicht
eingestehen! Es wird schon eine Dummheit gewesen sein. Aber Du
kennst sie doch. Du hast neulich selbst gemeint, sie sei krank
und man dürfe ihr Gerede nicht auf die Goldwage legen. Ich finde,
daß schon Deine kurze Unterhaltung mit ihr neulich sie zu ihrem
Vorteil verändert hat. Sie ist, trotz ihrer Schwäche, seitdem viel
geduldiger und liebevoller gegen mich. Du könntest solch guten
Einfluß auf sie ausüben, mit der Ruhe und Ausgeglichenheit Deines
Wesens, die über Deine Jahre hinausgeht ...
»Setz Dich in meine Lage! ... Heute nacht muß ich wieder abwechselnd
ein Geheimdokument abschreiben, den Eisbeutel füllen und auf dem
Gaskocher Tee machen. Denn die Diakonissin muß doch auch einmal
schlafen! ... An irgendeiner der drei Stellen begeh' ich sicher eine
Dummheit. Und Du hast doch gar nichts vor. Bist ganz frei. Ich bitte
Dich inständig: Hilf mir! ... Komm! Nur auf ein paar Wochen, bis
das Gröbste vorbei ist! ... Ich wäre Dir so dankbar! Ich drücke Dir
schon im voraus von Herzen die Hand als Dein getreuer und ohne Dich
ganz ratloser Schwager
Erich.«
Maximiliane zerdrückte langsam das Blatt in der Hand. Ihre erste
Regung war: Nein! -- Nein ... Es geht über meine Kraft. Es schmerzt zu
sehr.
Sie erhob sich. Sie kämpfte mit sich. Sie schritt auf und nieder.
Sie setzte sich wieder hin, vor ihre Briefmappe, und sann: Welchen
Vorwand kann ich nur finden, um ›nein‹ zu sagen? Es fiel ihr nichts
ein. Und allmählich änderte sich ihre Stimmung. Sie wurde weich. Sie
sah ihn im Geist in seinen Sorgen am Bett der kranken Frau, erschöpft
von Tagesarbeit und Nachtwachen. Er hatte es wirklich nicht leicht im
Leben. Man mußte es ihm nicht noch schwerer machen. Man mußte nicht an
sich denken, sondern an ihn.
Sie kam, wie sie da still mit verschlungenen Händen in der Dämmerung
kauerte, in eine Barmherzige-Schwester-Schwermut hinein, voll
Opferwilligkeit und Entsagung. Voll Schmerz und Lächeln. Voll
Losgelöstsein von sich selber. Voll Erkenntnis, daß es auch eine Lust
im Leiden gibt. Sie erschien sich rein. Sie fand einen Trost darin,
unglücklich zu sein, aber hilfreich und gut. Zu schweigen und zu
dienen. Und die beiden nicht entgelten zu lassen, was sie ihr getan ...
Sie war entschlossen, den Dornenweg zu gehen. Und fand doch immer
noch nicht die Kraft dazu. Sie stand mitten im Zimmer und träumte und
schrak zusammen. Ihre Mutter trat aufgeregt, vom Krankenbesuch bei
Ulla kommend, ein.
»Das sind dort unmögliche Zustände, Maxe ...!« versetzte sie, noch
atemlos vom Treppensteigen. »Alles geht drunter und drüber. Die reine
polnische Wirtschaft. Und du legst hier die Hände in den Schoß. Papa
hätte dich schon lange hinspediert!«
»Ich glaube, Papa hätte das meinem eigenen Pflichtgefühl überlassen,
Mama!«
»Und was sagt dir das?«
Maximiliane zögerte eine Sekunde. Dann versetzte sie ruhig: »Natürlich
muß ich hin! Ich seh's ja ein!«
Ihre Mutter küßte sie. Sie ließ es stumm geschehen. Sie hörte, wie
Frau von Ottersleben dann draußen telephonierte und ihre Ankunft
meldete. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie sagte sich: Ich lieb'
ihn -- ich lieb' ihn wirklich -- aus ganzer Seele und aus reinem
Gemüt, sonst würde ich nicht das eine wünschen, daß er nur glücklich
ist -- auch ohne mich -- aber durch mich -- mit ihr. Ich will mich zum
Opfer bringen. Ich will auf Ulla einwirken. Ich will versuchen, ihn
glücklich zu machen mit seiner Frau und durch seine Frau, so gut ich's
vermag ...
7
Der Leutnant Otto von Ottersleben benutzte den Sonntagvormittag zu
einem Spazierritt in den Tiergarten. Er trabte schweigend zwischen
seinen Freunden, dem in seiner blauen Attila weithin leuchtenden
Leutnant von Wrobel und dem Baron Lohgrewe. Hinter ihren Hufen
klatschten die Kotbrocken auf den morastigen Weg. Die Sonne schien
schon warm. Es war Anfang April. Sie kamen am Zoologischen Garten
vorbei zum Hippodrom, galoppierten über die Hindernisse und zurück zum
Wasserturm, alles in stummem Ernst. Dann verfielen sie in Schritt.
Der Baron warf seiner Stute die Zügel über den Hals und wollte sich
oben im Sattel eine Zigarre anzünden. Da fuhren die beiden Offiziere
und er mit zusammen wie beim unvermuteten Anblick eines Vorgesetzten.
Und doch war weit und breit auf der Tiergartenstraße keine Uniform
zu sehen. Nur eine Familie kam ihnen da entgegen, Vater, Mutter
und Tochter, die beiden Damen mit schwarzen kleinen Gesangbüchern
in den Händen, auf dem Rückweg vom Gottesdienst im Dom nach ihrer
Villa am Kurfürstendamm. Kirchlichkeit war vornehm in Berlin, hieß
Respektabilität, und Herr Bannersen, der ein Vierteljahrhundert sich
über See der Baumwollbranche gewidmet hatte, und Frau Bannersen,
Deutsch-Amerikanerin von Herkunft, waren kirchlich. Ihre Tochter war
ein niedliches, kaum mittelgroßes, dunkelblondes Persönchen. Sie
zeigte freundlich lächelnd den drei Reitern die weißen Zähne, und ihr
Vater, ein stämmiger, bebrillter Herr, rief wohlwollend dem viel bei
ihm verkehrenden Kleeblatt in seinem hanseatischen Tonfall nach: »Nun
-- ein S--pazierritt, meine Herren? Viel Vergnügen!«
Ja. Das war nun Bannersen. John Bannersen. Der Millionen-Bannersen.
Der Mann mit der einzigen Tochter. Die drei jungen Leute ritten
so tiefsinnig weiter, als hätten sie das Welträtsel zu lösen. Sie
sprachen nicht. Sie waren jetzt wie drei Füchse, die gemeinsam
jagten, aber sich dabei nicht über den Weg trauten. Besonders Otto
von Ottersleben waren die beiden anderen ein Dorn im Auge. Der
kleine Wrobel bestach von vornherein im Bannersenschen Hause durch
seine Husarenpracht. Lohgrewe hatte sich dort noch kürzlich im roten
Frack und der schwarzen Samtkappe auf dem Weg zur Parforcejagd in
Döberitz gezeigt. Er, der Feldartillerist, konnte dagegen nur seine
schlichte dunkle Linienuniform ins Treffen führen. Und das Schlimmste:
die Familientrauer, in der er sich befand, hinderte ihn, sich in
Gesellschaft zu zeigen. So kam er kaum mehr zu den Bannersens, die
ein großes Haus machten und, wenn sie fünfzehn Leute zum Diner
bei sich sahen, sicher hinterher noch fünfzig zum Tanz eingeladen
hatten. Höchstens am Jour, des Nachmittags, trank er da eine Tasse
Tee, eingekeilt zwischen alten Damen. Und dabei rückte die Zeit mit
Riesenschritten vor. Im Lauf des Mai verließen die Bannersens für den
ganzen Sommer Berlin. Dann hieß es alle Hoffnungen bis auf den Herbst
vertagen, wenn es bis dahin nicht schon zu spät war ...
Da, wo der Reitweg am Platz vor dem Brandenburger Tor endete, standen
harrend die Burschen mit den Decken für die Pferde und den Mänteln
für ihre Herren. Der Baron prüfte, nachdem er abgestiegen, die Beine
der Gäule, für die er im Tattersal die Pension zahlte, ohne daß man
eigentlich wußte, ob sie ihm oder wem sonst gehörten. Unterdessen
stand Otto von Ottersleben mit dem Husaren seitwärts und frug
gedämpft: »Sagen Sie mal, Wrobel ... glauben Sie, daß Lohgrewe schon
einmal energisch vorgegangen ist -- da drüben ...?«
Er winkte dabei mit dem hübschen dunklen Kopf nach Südwesten, nach der
Richtung, wo fern die Bannersensche Villa lag.
Der andere war ein bißchen erstaunt, daß man dies zarte Thema
überhaupt zwischen ihnen berührte. Er erwiderte diplomatisch: »Keine
Ahnung! ... Gott ... der hat Zeit ... der ist frei ... der kann im
Sommer überall hin, wo die sind, aber unsereiner mit dem ollen Dienst
... na ... morgen!«
Er schritt sporenklirrend davon. Der Leutnant und der Baron entfernten
sich nach der anderen Seite. Herr von Lohgrewe war mit allen Hunden
gehetzt. Er hatte immer die Hand in Roßhändeln und auf Rennpferden auf
Halbpart. Man konnte durch ihn sich an englischen und französischen
Turfwetten beteiligen und bei Gelegenheit neue Automobile mit
Preisnachlaß direkt von der Fabrik beziehen. Er vermittelte, rein
aus Gefälligkeit, den Abschuß von Sechserböcken auf schlesischen
Gütern und die Aufnahme in Berliner Klubs. Eigentlich ein langweiliger
Mensch, mit einem länglichen, nüchternen Gesicht. Sie sprachen über
einen irischen Hunter, den er zu verkaufen hatte. Als sie sich
trennten, meinte er: »Nee -- nee -- der kleine Wrobel wird schon mit
dem Schinder fertig! Springen tut das Aas ja tadellos! Ich denke, er
nimmt ihn! Er braucht ihn doch in Hannover!«
»In Hannover?«
»Er ist doch zur Reitschule kommandiert! Mitten im Kursus. Zum Ersatz.
Es sind ein paar dankend zurückgeschickt worden! -- Doppelter Turkel,
was?«
»Doppelt? Wieso?«
»Na -- von Hannover bis Bremen ist doch nur ein Katzensprung, und
den ganzen Sommer über ist doch der alte Bannersen in Bremen. Oder
wenigstens in der Nähe. Auf seiner Besitzung!«
»Ach so!«
Der Leutnant von Ottersleben betrat in sehr gedrückter Stimmung
sein möbliertes Zimmer in Charlottenburg. Er war nervös geworden.
Die beiden Kerle gewannen entschieden einen Vorsprung vor ihm. Er
endete schließlich noch im geschlagenen Felde. Er stand am Fenster
und nagte unschlüssig an der Unterlippe. Schließlich: mehr wie
abblitzen konnte man nicht! Einmal mußte man das Risiko laufen, und
wenn die anderen ihm nicht gute Chancen zutrauten, wären sie doch
schon längst selber zum Angriff vorgegangen! Eine fiebernde Angst
ergriff ihn, hinterher der Dumme gewesen zu sein -- als Gast an der
Hochzeitstafel zu sitzen, statt als Bräutigam! Es wurde ihm plötzlich
rücksichtslos durchgängerisch zumute. Er hatte das Gefühl: Jetzt oder
nie! Er sah auf die Uhr. Es war eins. Die richtige Besuchsstunde.
Er nahm blindlings den Helm und eilte den kurzen Weg hinüber nach
dem Kurfürstendamm. Er wollte wenigstens dort einmal den Kopf
hineinstecken. Dann konnte man ja sehen, was einem der Augenblick
eingab.
Aber die Familie Bannersen war gerade bei Tisch. Der Lakai lispelte
es diskret. Natürlich ... in Berlin war man immer bei Tisch, von halb
eins bis halb sieben -- die eine Hälfte der Leute aß, die andere
war unterwegs, um sie darin zu stören. Der Artillerist war schon im
Vorgarten, da hörte er hinter sich Schritte, der Diener holte ihn
atemlos ein. Die Herrschaften ließen doch bitten!
Und Frau Bannersen streckte ihm bei seinem Eintritt in das reiche
Speisezimmer, in dem sonst nur noch ihr Mann und ihre Tochter waren,
verbindlich die Hand zum Kuß entgegen.
»Man sieht Sie jetzt in Ihrer Trauer so selten, lieber Herr von
Ottersleben ... Man muß die Gelegenheit wahrnehmen! Haben Sie schon
gefrühstückt? Nein! Nun -- das trifft sich ja gut!«
So liebenswürdig war sie noch nie gewesen. Auch ihr Mann schob
freigebig dem Gast die Kiebitzeier über den Tisch zu und goß ihm
Sherry ein.
»Wir haben uns ja heute schon im Tiergarten gesehen!« meinte er dabei
wohlwollend. »Sie steigen wohl leidenschaftlich zu Pferde, Herr
Leutnant!«
»Ja. Die Ottersleben standen früher immer bei der Kavallerie.
Meist bei den Kürassieren, bis wir in der Franzosenzeit unsere
Güter verloren. Hätten wir die noch, so könnte ich jetzt noch jeden
Augenblick übertreten. Man nähme mich gleich ...«
»Oh!« sagte Fräulein Bannersen mit sichtlichem Interesse.
Er betonte: »Meine Mutter stammt doch auch aus der Kavallerie. Mein
Onkel Koninck ist Husar.«
»Wohl auch eine sehr alte Familie?« erkundigte sich Frau Bannersen.
»Rheinisch-niederländischer Uradel, gnädige Frau! Schon auf dem
Turnier zu Mainz unter Barbarossa!«
Es war ein Augenblick Schweigen bei diesem Blitzlicht in die
Jahrhunderte zurück. Otto von Ottersleben hatte das sonderbare Gefühl,
als sei er hier erwartet worden. In ihm wuchs der Wagemut. Sein Puls
schlug unruhig. Er nahm seinen Vorteil wahr. Er lief Sturm mit dem
Gothaer Almanach.
»Wir Ottersleben waren natürlich auch vor den Hohenzollern in der
Mark,« sagte er in einem Ton, als sei bei jedem besseren Menschen
dieser Vorzug selbstverständlich. »Nun sind wir ja klein geworden. Das
heißt: an Zahl nicht! Wir sind augenblicklich einundzwanzig in der
Armee!«
»Und die kennen sich alle untereinander?«
»Wir haben jedes Jahr hier in Berlin Familientag, gnädiges Fräulein,
da kommen immer eine Masse. Die Damen benutzen die Gelegenheit und
lassen sich bei Hofe vorstellen.«
»Darf denn jede Ottersleben zum Kaiser?«
»Jede.«
In dem niedlichen Puppengesicht des jungen Mädchens vor ihm belebten
sich die Augen eine Sekunde in träumerischem Glanz. Während man nach
Tisch im Palmengarten Kaffee trank, tauschten sie und die Mutter
einen Blick. Der Vater unterdrückte ein Gähnen. Er war ein kurzes
Mittagschläfchen gewohnt. Er zog sich geräuschlos zurück. Und der
sonderbare Zufall wollte es: Frau Bannersen mußte draußen einen Besuch
empfangen. Nur auf einen Sprung. Dieser Gast war gar nicht vorhanden.
Statt dessen trat sie zu ihrem Gatten in das Rauchkabinett. Sie
brauchte ihn nicht zu wecken. Er fand heute, trotz seines Phlegmas,
keinen Schlummer, sondern ging, mit den Händen in den Hosentaschen, im
Zimmer herum.
»Sie sind allein drüben im Wintergarten!« sagte sie aufgeregt.
John Bannersen nickte nur. Und vertiefte sich in die wählerische
Untersuchung einer Havannakiste. Sie schwiegen beide. Was sollte man
sich noch viel erzählen? Die Sache war in der Familie ja schon lange
spruchreif. Wohl eine Viertelstunde saßen sie stumm beisammen. Dann
hörte man drüben vom anderen Ende der Zimmerflucht Stimmen. Rasch sich
nähernde Mädchenschritte. Die Portiere flog zurück.
»Papa ... Mama ... bitte, seid mir nicht böse: ich hab' mich eben
verlobt! Da ist Otto!«
Die Mutter schloß die Kleine weinend in die Arme. Der Alte erhob sich,
legte seine Upmann weg und dachte sich philosophisch: Nun soll ich
auch noch so tun, als ob ich mich wunderte! Vor ihm stand der Leutnant
von Ottersleben, hochrot im Gesicht, ganz verwirrt, und stammelte:
»Verlobt darf ich es wohl noch nicht nennen ... Ich mochte nur ganz
gehorsamst um die Hand Ihres Fräulein Tochter ...«
»Kommen Sie mal bitte da herein, Herr von Ottersleben!« sagte John
Bannersen mit geschäftlicher Gelassenheit und führte ihn in ein
Seitenkabinett. Sie blieben darin eine geraume Zeit, in einem Gespräch
unter Männern. Als sie wieder herauskamen und der junge Ottersleben
stürmisch in die Arme seiner Braut flog, sagte sein künftiger
Schwiegervater gedämpft und mit hochgezogenen Brauen zu seiner Frau:
»Ein merkwürdiger junger Mensch! Er hat keine Schulden! Er hat mir
sein Ehrenwort darauf gegeben.«
»Das ist ja reizend, Johny!«
Aber der alte Bannersen war klüger als seine Frau. Er schüttelte
bedächtig das graue Kaufmannshaupt und meinte: »Ein Leutnant ohne
Schulden! ... Der wird mich ein schönes S--tück Geld kosten!«
Es war schon gegen acht Uhr abends, als Otto von Ottersleben das Haus
seiner Braut verließ. Er hatte den ganzen Tag dort zugebracht. Man
hatte alles besprochen: die Verlobung sollte jetzt gleich bekannt
gegeben, die Hochzeit nach dem Manöver gefeiert werden. Er lief
wie berauscht durch die dämmernden, frühlingswarmen Straßen dahin,
er glaubte noch kaum an sein Glück. Er hätte jeden Vorübergehenden
umarmen mögen. Er mußte unter Menschen. Zu seinen Nächsten. Er rannte
durch den Tiergarten in das Hansaviertel, zu den Schwestern und dem
Schwager.
Die saßen gerade beim Abendbrot. Ulla in der Mitte, in einem
Lehnstuhl, ein Kissen hinter sich, noch schwach von der überstandenen
Krankheit, aber mit einem sanften und freundlichen Ausdruck auf den
klassischen Zügen. Neben ihr Maxes lachende, blauäugige Jugend. Und
zwischen dem blonden und dem schwarzen Kopf der Schwestern Erich von
Logows streng geschnittenes, aber jetzt auch lächelndes Profil mit
dem kurzen dunklen Schnurrbart. Die Lampe goß von oben ihr gedämpftes
Licht über die gemütliche kleine Tafelrunde.
»Hurra, Kinder ... ich hab' mich verlobt!«
Es platzte wie eine Bombe in diesen Frieden von Tee und kaltem
Aufschnitt. Es war ein Aufspringen, ein Gedränge, ein Gefrage. Der
junge Leutnant schüttelte Hände, lachte, sah triumphierend um sich,
setzte sich, aß, trank, erzählte in einem Atem, sich an seinen eigenen
Worten begeisternd.
»Na -- wie steh' ich jetzt da? Großartige Geschichte -- nicht? ...
Also ... wißt ihr ... die Adda ist überhaupt süß! Das wird 'ne famose
kleine Frau! Sie läßt euch grüßen. Sie läßt dir, Ulla, und der Maxe
sagen, sie hätt' euch jetzt schon so lieb. Na -- wenn ihr sie nun erst
kennen lernt ... Mir ist ganz schwindlig zumut! Das ging heut wie
Ziethen aus dem Busch! Drauf und hat ihm schon!«
»Ja -- wie ist denn das so rasch gekommen?«
Der Leutnant lächelte geringschätzig.
»Na also ... Die Adda und ich ... wir lieben uns ... Wir lieben uns
also einfach ... das ist die ganze Chose ... das heißt: wir lieben
uns kolossal ... eigentlich ist's natürlich von Haus aus 'ne reine
Herzenssache! Maxe, sei so gut und lach nicht so dumm ... Hast du
dich schon mal verlobt? Nee -- also! Da sei du mal still! ... Gib
mir lieber den Schinken ... Ich hab' seit heute früh nichts mehr
gegessen vor Aufregung ... Danke ... Ja, die Adda mag mich, und das
Schwiegermamachen leckt sich alle zehn Finger nach mir ... Und mit dem
beau-père läßt sich's brillant reden! ... Der alte Herr hat so
vernünftige Vorstellungen vom Leben! Wißt ihr -- was er uns für den
Anfang gibt? -- Na -- ihr erratet's ja doch nicht -- dreißig Mille ...
Da möcht' man vom Stuhl fallen ... nicht?«
»Ach, du lieber Gott! Nicht mehr?«
»Was?«
»Da kannst du ja noch gar nicht heiraten! Das ist ja noch nicht die
Hälfte vom Kommißvermögen!«
Otto von Ottersleben legte seiner Schwester beinahe feierlich die Hand
auf den blonden Scheitel.
»Gott erhalte dir deine Einfachheit, Maxe!« sprach er. »Wie kann man
nur so hübsch sein wie du und dabei so dumm! Die Dreißigtausend sind
doch die Zulage jährlich ... die Zu--la--ge! Der alte Bannersen ist
ein merkwürdiger Mensch! Mir gefällt er! Und die Adda ist ein süßes
Deubelchen! Du bist feierlich zu uns eingeladen, Maxe, wenn wir mal
verheiratet sind! Du wirst dich wundern, mein Kind!«
Seine schlanke blonde Schwester lachte, und goß den deutschen Sekt
in die Gläser. Sie hatte ihn selbst aus dem Keller geholt. Sie war
ein wenig atemlos, ihre Wangen rot vom Treppenlaufen. Die Hängelampe
vergoldete ihr blondes Haar, während sie dastand und behutsam, mit
ernsthaft zusammengepreßten Lippen den weißen Schaum in die Kelche
fließen ließ. Ihr Bruder Otto fand sie in seiner rosigen Stimmung in
diesem Augenblick wirklich reizend. Ihm schien, die anderen auch. Er
fiel ihr um den Hals und gab ihr einen stürmischen Kuß.
»Na -- du alter Pascha!« meinte er, nachdem man angestoßen und sich
wieder gesetzt hatte, vergnüglich zu seinem Schwager. »Wie fühlst
du dich denn so zwischen den beiden Schönheiten? Das ist doch was
anderes, als so 'n klateriger Junggeselle sein! Zu nett ist's hier! Es
hat mir hier noch nie so gefallen wie heute.«
Wieder ließ er den Blick durch die Räume schweifen. Eigentlich hatte
sich nichts verändert, und doch war alles anheimelnder geworden.
Frühlingsblüten und Palmkätzchen standen umher, Blumentöpfe am
Fenster. Den Tisch deckte ein gestickter Läufer. Kleine, mattgelbe
Seidenhüllen milderten das grelle elektrische Licht. Es gab nette
Zutaten zum Essen. Drollige Kissen waren bequem für Ulla auf dem
Diwan aufgestapelt. Nebenan, im Rauchzimmer, waren die Möbel ein
wenig gerückt, so daß der Stuhl für den Hausherrn bequemer stand.
Die Abendzeitung lag davor. Auf dem Tischchen brannte die Kerze zum
Anzünden der Verdauungszigarre. Es war überall mollig. Der Leutnant
von Ottersleben nickte befriedigt seiner älteren Schwester zu.
»Na -- Ullimaus -- wie geht's? Drei Wochen war der Frosch sehr krank
-- jetzt lacht er wieder, Gott sei Dank! ... Fabelhaft hast du dich
'rausgemausert, seit ich das letztemal hier war.«
»Sie pflegen mich ja auch so gut!« sagte die blasse junge Frau. Ein
freundlicher Blick streifte dabei ihren Mann. Der erwiderte ihn.
Sie lächelten sich in stillem Einverständnis zu. Der Leutnant traute
seinen Augen nicht.
»Kinder -- das ist ja zu nett, wie ihr euch da so anplinkert ... ich
will meine Frau auch immer riesig gern haben! ... Kann sie verlangen!
... Na ... Prost, ihr lieben Leute! ... Und auf deinen unbekannten
Zukünftigen auch, Maxe! ... Weißt du übrigens, Erich, daß du auch viel
besser aussiehst, gegen früher? ... So noch vor vier Wochen konnte man
wirklich in Angst um deine Gesundheit sein. Nun ist wohl die tollste
Arbeit im Generalstab vorüber?«
»Ach wo -- rasend hat er zu tun!« rief Maxe eifrig über den Tisch.
»Bei den Eisenbahnleuten stoppt's jetzt vielleicht!« sagte Logow.
»In meiner Abteilung ist die Tretmühle immer gleich. Aber die Nerven
gewöhnen sich allmählich daran. Besonders, wenn man sonst seine Ruhe
hat ...«
Maxe kam eben geschäftig aus dem Nebenzimmer.
»Du, Erich: ich hab' deine Schreibereien doch lieber in die Schublade
getan. Eure Minna versteht zwar nicht Russisch, aber immerhin ...
Vorhin hat auch eine Ordonnanz etwas gebracht. Es liegt unter deinem
Briefbeschwerer rechts. Ich hab' hineingeschaut. Es ist wegen der
Generalstabsreise ...«
»Danke schön!« sagte Erich von Logow in einem Ton, der verriet, daß er
an diese kleinen Hilfeleistungen schon gewöhnt war.
Als er wieder allein mit seinem Schwager bei der Zigarre zusammen saß,
meinte der erstaunt: »Also dafür interessiert sich die Maxe bei euch
auch? Komisch: zu Hause hat sie doch nie viel getan!«
»Hier macht sie einfach alles!« sagte Erich von Logow, »sie ist
unermüdlich! Ich weiß nicht, wie ich ihr danken soll für das, was
sie in diesen Wochen geleistet hat. Sie war uns wirklich ein treuer
Kamerad in der schweren Zeit ...«
Sein Schwager bejahte.
»Ich will dir's ehrlich gestehen: früher war's bei euch ungemütlich.
So etwas Kaltes. Woran es lag, weiß der Kuckuck. Aber man fühlte so:
es hatte niemand so rechte Freude daran ...« er erhob sich und rief
ins Nebenzimmer: »Du, Maxe ... klingen dir nicht die Ohren? ... Hier
wird eben auf dich geschimpft ... nach Noten ...«
»Stör' mich jetzt nicht ...« Maximilianes helle Stimme antwortete es
von drinnen. »Ich muß Ulla ihre Tropfen geben!«
Sie beugte sich über die andere und flößte ihr vorsichtig mit einem
Teelöffel die Arznei ein, nicht wie eine wirkliche, sondern wie eine
barmherzige Schwester. Von nebenan sah ihr Erich von Logow zu. Dann
wandte er sich zu seinem Schwager.
»Das Pflichtbewußtsein hätt' ich der Maxe allenfalls zugetraut. Aber
daß man dabei merkt: sie tut's freiwillig! ... gern! ... Nie sieht man
bei ihr eine saure Miene -- auch wenn Ulla einmal unausstehlich ist --
was übrigens bei ihr kaum mehr vorkommt! ... Die Maxe ist wirklich ein
ganzer Kerl! Wer die mal kriegt, kann sich gratulieren!«
»Aber Zeit wär's nachgerade!« meinte der Leutnant nachdenklich
und rüstete sich zum Gehen. »Wißt ihr eigentlich, warum sie ums
Totschlagen nicht heiratet?«
»Nein. Von sich spricht sie nie. Sie ist darin merkwürdig
verschlossen, trotz ihrer Heiterkeit. Na, gute Nacht, Otto!«
»Gute Nacht! ... Ja ... mein alter Erich, nun tret' ich in deine
Fußtapfen ...«, Otto von Ottersleben küßte galant Ulla die Hand, »...
und hoffentlich mit demselben Glück! Und dich, Maxe, bringen wir jetzt
auch unter die Haube! Wart nur, Schwesterchen! Ist ja schade um dich!
Adieu!«
Sein Schwager geleitete ihn selbst hinunter, um ihm die Haustür
aufzuschließen. Als er zurückkam, fand er Ulla allein im Zimmer.
Maximiliane war drüben beschäftigt, den Tisch abzudecken und das
Geschirr fortzustellen. Denn das Mädchen hatte heute, am Sonntag,
Ausgang, und der Bursche zerschlug ihr zu viel. Erich von Logow
schaute sich behaglich in seinen vier Wänden um. Die paar Gläser
Sekt hatten ihn, der oft die ganze Zeit hindurch keinen Alkohol
trank, angenehm angeregt. Er war gesprächiger als sonst. Er ging, die
Zigarre in der Hand, auf und ab und plauderte mit seiner Frau. Zuerst
natürlich von der Verlobung. Im Grunde seines Herzens billigte er ja
diese für einen Offizier zu reiche Partie nicht, aber schließlich: der
Otto war großjährig. Der mußte selber wissen, was er tat.
»Jedenfalls hat's mich gefreut, daß er heut hier alles so nett
gefunden hat!« meinte er. »Gut, wenn man's auch mal aus anderem Munde
hört! Ich hab' mir schon manchmal gedacht, es ist bei mir bloß
Einbildung, wenn ich mich jetzt daheim so pudelwohl fühle, bei euch
... die ganze verfluchte Mietwohnung hat ein anderes Ansehen! ... Und
wenn's zehnmal alles nur Kleinigkeiten sind -- Herrgott ... aus denen
setzt sich das Leben zusammen. Die großen Tage sind rar!«
»Ja! die Maxe versteht's ...« sagte Ulla. Sie blickte mit einem
eigenen, träumerischen, aber ganz freundlichen Lächeln in das
verschleierte Lampenlicht, in dessen Dämmerung ihr schöner Kopf matt
wie Marmor schimmerte. Er beugte sich zu ihr nieder und gab ihr einen
Kuß.
»Du verstehst's auch, Schatz!« versetzte er.
»Ich? ... Was kann denn ich tun? ... Ich bin ja krank ... Ich sitz'
nur da und lege die Hände in den Schoß ...«
»Aber innerlich hast du dich ganz umgekrempelt!«
Er blickte ihr ermutigend in die schwermütigen Augen. »Fühlst du das
nicht selber, wie dich die Maxe mit ihrem Gewirtschafte und Gesinge
und ihrem Frohsinn allmählich angesteckt hat? Komisch, wie so was
unbewußt in einem vor sich geht! ... Du bist ja wie ausgetauscht,
Herz!«
»Merkst du das wirklich?«
Sie sprach das leise und hob langsam die dunkeln Wimpern zu ihm empor.
Er ließ seine Rechte auf ihrer Schulter ruhen. Er bejahte eifrig und
freundlich
»Na -- du lachst doch seitdem wieder! ... Du schaust einen mal lieb
an! Du hast ein gutes Wort für mich ... Kind ... Dafür ist man doch so
dankbar ... das vermißt man doch so ... Was hat man denn sonst vom
Leben, außer der ewigen Schinderei im Dienst? ... Ich seh's doch sogar
daran, wie du dir die Frisur machst ... und wie du dich anziehst, daß
du wieder ein bißchen Freude an dir hast und mir durch dich Freude
machen willst! In Worte läßt sich das nicht so fassen ... es ist so
etwas Unbestimmtes ... So wie es eben sein soll und leider Gottes
zwischen uns nicht mehr war.«
Er setzte sich neben sie und faßte ihre Hände.
»Große Worte wie eben kann man ja nicht immer machen! ... Aber die
hundert alltäglichen kleinen Geschichten, die reden auch ihre Sprache.
Die sind wie ein Gleichnis dafür, daß man sich gern hat. Glaub mir:
man ist dafür empfänglich, auch wenn man es nicht sagt, es kaum zu
bemerken scheint!«
»Ach -- du bemerkst es wohl. Alles, was sich die Maxe so ausdenkt! ...
Sie ist ja auch kolossal erfinderisch darin, es dir bequem zu machen
...«
Die junge Frau lächelte müde. Er sah sie befremdet, etwas ernüchtert
und aus seiner gehobenen Stimmung gerissen, an und sagte dann
nachdrücklich: »Ich rede jetzt gar nicht von mir! Bei dir bemerke ich
die segensreiche Veränderung! ... Die kann ich nicht mir zuschreiben,
sondern deiner Schwester. Wir alten Eheleute können wirklich von
ihr lernen, wie man das Leben von der rechten Seite nimmt! Sie gibt
uns das gute Beispiel, weil sie den guten Willen hat! Darauf kommt
schließlich alles an, Ulla!«
»Ja. Lob sie nur ...«
»Aber Ulla -- was ist denn das für eine Empfindlichkeit?«
»Sie ist eben gesund, und ich bin krank!«
»Und ich danke meinem Schöpfer, daß ich sie, wie du krank warst,
gebeten hab', zu kommen und dich wieder gesund zu machen. Sie wird
auch einmal wieder gehen. Aber wir wollen für uns die Lehren aus der
Zeit ziehen, liebste Ulla ...«
Sie erwiderte nichts, sondern blickte still und leer, mit einem
Anflug ihrer früheren Teilnahmlosigkeit vor sich hin. Er erhob sich
achselzuckend und nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf.
In der Ferne hörte man durch die geschlossenen Türen Tellergeklapper
und Maxes leichte, geschäftige Schritte im Flur. Ihre Schwester wandte
einen Moment aufhorchend, unruhig den Kopf und ließ ihn dann müde
wieder sinken.
»Lehren aus der Zeit?« wiederholte sie, halb geistesabwesend. »Wie
soll ich denn das machen?«
Er unterdrückte eine Ungeduld, daß er gerade jetzt, in dieser seltenen
Feiertagstunde zwischen ihnen, wieder an ihrem Ohr vorbeisprach. Sie
verstand auch nie, den rechten Augenblick bei ihm wahrzunehmen. Er
trat näher zu ihr heran.
»Einfach dir sagen: was die Maxe gekonnt hat ...«
»Du machst mich schon ganz nervös mit der ewigen Maxe ...«
»Bitte, laß mich ausreden: was die Maxe gekonnt hat, das kann ich
auch! In Zukunft hier im Hause frisch und frei und fröhlich sein,
dich auch ein bißchen um meinen Beruf kümmern -- meine dienstlichen
Interessen teilen, wie es die Maxe tut -- ein gemeinsames Leben mit
mir führen!«
»Das Leben ist so schwer!«
»Aber wir haben uns nun einmal gelobt, es Hand in Hand zu gehen!
Schau, Ulla: du hast in diesen letzten Wochen so einen guten Anfang
gemacht, zum erstenmal in unserer Ehe -- ich hab' wohl gefühlt, wie du
dich manchmal, trotz deiner Schwäche, zusammengenommen hast ... Ich
bitte dich, bleib so ... bleib auf dem Weg, auf den dich schließlich
eben doch die Maxe gebracht hat -- bleib nicht wieder stehen, wenn sie
uns mal verläßt ... Mir ist schrecklich zumut bei dem Gedanken, daß
dann das alte Elend wieder anfangen könnte ...«
Sie sagte langsam, mit einem forschenden Blick von unten: »Möchtest du
denn, daß sie fort wäre?«
»Einmal wird sie's natürlich tun! Je länger sie bleibt, desto lieber
ist mir's ...«
»Das glaub' ich ...« Sie murmelte es vor sich hin.
Er überhörte es. Er fuhr fort: »Denn desto mehr befestigt sich der
gute Geist, der durch sie in unser Haus gekommen ist! ... Paß nur mal
auf, Ulli -- nun wird alles gut!«
Er zog ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuß darauf. Sie ließ
es geschehen. Sie stak mit der Hartnäckigkeit der Kranken in ihren
eigenen Gedanken fest.
»Ich hoff' es ja auch, Erich! Aber wenn du mit mir zufrieden bist --
warum du mir da eigentlich immer und immer wieder die Maxe als Vorbild
vor Augen stellst ...«
»Ich spreche gar nicht von der Maxe! Du fängst immer an!«
»Nein. Du!«
Er beherrschte seinen Unmut.
»Von Vorbild ist gar nicht die Rede! Ich meine nur: wenn sie das hier
spielend, im Handumdrehen fertig bringt -- das ist doch ein Beweis,
daß du als meine Frau in unseren vier Pfählen erst recht Sonnenschein
verbreiten kannst, wenn du nur willst. Ich hab' mir schon manchmal
gedacht: es fehlt dir nur an Mut! Du traust dir nicht so viel zu! Aber
du kannst mir so unendlich viel sein! Ich muß es dir in dieser Stunde
sagen. Es gibt Stunden -- in denen muß man reden!«
»Nun -- hauptsächlich redest du ja von der Maxe.«
»Aber ... Ulla ...«
»Sie kann wirklich stolz darauf sein, wie du sie bewunderst!«
Er zog unmutig die Brauen hoch.
»Ich begreife dich nicht! Ich hab' ihr selber nie ein Wort darüber
gesagt! Du auch nicht! Aber wenn wir hier unter uns sind, müssen wir
es uns doch eingestehen: mit solchem Pflichtgefühl wie sie hat man
doch vollen Anspruch auf unsern Dank!«
»Schau mal her!«
»Wieso?«
»Ach -- laß mal! ...«
»Was soll denn das nun wieder heißen, Ulla?«
»Nichts!«
»Du bist wirklich komisch!«
»Du auch!« sagte die junge Frau mit einem gepreßten Seufzer. Und nach
einer Weile seltsamen Schweigens setzte sie hinzu: »Jedenfalls hab'
ich jetzt genug von der Maxe und ihrem Pflichtgefühl gehört.«
»Warum betonst du denn das Wort ›Pflichtgefühl‹ so ironisch?«
»Gott -- ich denk' mir mein Teil!«
»Findest du denn nicht, daß sie ihre Pflicht in vollem Umfang tut?«
»Oh -- noch viel mehr als das!«
»Nun also! Das muß man doch auch anerkennen.«
»Mir tut sie leid ...« Ulla lächelte sonderbar vor sich auf den Boden
nieder.
»Das braucht sie gar nicht! Sie fühlt sich ganz wohl in ihrer Haut.
Ich hab' alle Hochachtung vor dem Mädel! Ulla ... verzeih ... aber du
hast wirklich auf einmal einen Gesichtsausdruck an dir ... Ich weiß
nicht, wie ich den deuten soll.«
Es zuckte fiebrig um ihre Mundwinkel. Die bewahrten dabei immer noch
das rätselhafte Lächeln.
»Ach, komm, wir wollen schlafen gehen!« sagte sie aufstehend und
unterdrückte ein Gähnen. »Ich bin müde. Und du bist ein blinder Hesse
... Also gut!«
Sie schritt nach der Tür. Er stellte sich mit gerunzelter Stirn vor
sie hin. Seine Stimme klang unangenehm fest.
»Nee -- bitte gehorsamst ... Mit diesen undeutlichen Anspielungen
sagen wir uns nicht gute Nacht! Nun gefälligst heraus mit der Sprache!
Was meinst du eigentlich?«
Da warf sie den Kopf zurück und lachte gereizt auf.
»Bildest du dir wirklich ein, die Maxe drängte sich überall so zur
Hilfeleistung wie hier? Ach, du lieber Gott! Ich kenne sie doch!
Länger als du! Besser als du! Sie ist so wenig ein Engel wie wir
andern! Sie ist auch nur ein Mensch! Sie weiß schon, warum sie sich
dir so aufopfert! Und ich weiß es auch!«
Er trat einen Schritt zurück.
»Ulla -- um Gottes willen ... Überlege, was du da sagst.«
Sie erwiderte nichts. Sie nagte nervös an der Unterlippe, als bereute
sie schon ihre im Zorn herausgestoßenen Worte.
»Ulla -- ich weiß nicht, ob ich dich recht verstehe? Was meinst du
damit?«
»Nichts! Gar nichts! Ich hätt' überhaupt still sein sollen! Es wäre
besser gewesen! Ich hab' auch gar nichts gegen die Maxe! Sie ist ja
wirklich so gut und nett. Aber du ärgerst mich nun schon seit einer
geschlagenen Stunde mit ihr ...«
»Bitte, jetzt keine Umschweife! Was war der Sinn deiner Antwort
vorhin?«
»Gott ... ich hab' es dir ja schon seinerzeit einmal gesagt -- gleich
am Tag nach unserer Verlobung -- sie hätte was für dich übrig!«
»Ja, damals hast du diesen Unsinn behauptet!«
»Und sie hat's noch! Sehr sogar! Mehr als mir lieb ist!«
»Ulla!«
»Wenn ich in so was bösartig wär', hätt' ich längst Lärm geschlagen.
Aber ich bin nicht so ...«
»Ulla ... wenn du das dir einbildetest, hättest du es mir beizeiten
sagen müssen!«
»Habt ihr mich denn gefragt? Ich war ja krank, wie sie kam!«
Weicher, die Hände bittend gefaltet, setzte sie hinzu: »Und ich kenn'
dich doch: Erich! Ich weiß ja: ich kann ruhig sein! ... Schau mich nur
nicht so an! Gott ... hätt' ich doch nicht geredet!«
Die Tür ging auf. Eine helle Mädchenstimme rief: »Du, Erich ... da ist
noch viel Bier in der Flasche! Willst du's nicht austrinken?«
Maxe stand auf der Schwelle. Sie hatte sich die Tür mit dem Ellbogen
aufgeklinkt. In den Händen hielt sie ein Tablett. Ihr fröhliches
Gesicht veränderte sich. Sie sah die beiden, wartete umsonst auf
Antwort, merkte, daß man von ihr gesprochen. Sie verfärbte sich
langsam. Er gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen.
»Danke schön!« sagte er mit ruhiger Stimme und goß sich ein. Während
er trank, schaute er über das Glas hinweg auf sie. Ihre Blicke trafen
sich und irrten blitzschnell auseinander. Es war ein Schweigen ...
8
Der Hauptmann von Logow hatte länger als gewöhnlich im Dienst zu tun
gehabt. Die Uhr zeigte Mitternacht, als er sein Haus im Hansaviertel
betrat. Oben im Flur war es totenstill. Alles schlief schon. Auf den
Fußspitzen, um niemanden zu wecken, durchmaß er den dämmerigen Salon,
in den von nebenan, aus seinem Arbeitszimmer ein Lichtschimmer fiel.
Denn auf seinem Tisch brannte ein für allemal jeden Abend in Erwartung
seiner Rückkehr die Lampe und harrte seiner das Schreibwerk in der
großen, festverschlossenen ledernen Mappe.
Aber heute war der Stuhl davor nicht leer. Auf der Schwelle stehend,
sah er über dessen Lehne einen blonden Mädchenkopf, der sich emsig
über ein Blatt Papier auf der Tischplatte beugte. Ein Aktenstück war
davor, schräg gegen die Lampe gestellt. Sie schrieb es ab, ruhig,
gleichmäßig, ohne einmal anderswohin als nach dem militärischen
Dokument vor ihr aufzublicken. Unter der grünen Glocke her umwob
das elektrische Licht ihr Haupt mit einem goldenen Schimmer, in dem
einzelne verirrte Haarsträhnchen durchsichtig wie gesponnene Seide
schimmerten. Ihr schmales, hübsches Gesicht, von dem er nur das
Halbprofil sah, trug einen aufmerksamen Ausdruck. Sie war mit tiefem
Ernst bei der Sache, um nichts zu verfehlen. Zuweilen wiederholten
ihre Lippen murmelnd ein schwieriges Wort und prägten es sich so
besser für das Abschreiben ein. Ihre weiße Hand glitt regelmäßig auf
dem schimmernden Blatt hin und her. Das leise Knirschen der Feder war
der einzige Laut in der Stille der Mitternacht, in der sie dasaß und
für ihn wachte und für ihn tätig war.
Und wie er so stand und sie schweigend, unbemerkt betrachtete, da
zog sich ihm das Herz plötzlich in einem wilden Weh zusammen. Er
hätte auflachen können über sich, über das Schicksal, über Gott und
die Welt. Nein. Nein. Über sich nur. Er allein war schuld. Er hörte
ein leises Blättern. Maxe Ottersleben schlug eine Seite um und fing,
immer mit derselben Pflichttreue, die nächste an. Es war bei ihr keine
Spielerei einer müßigen Stunde. Sie war offenbar entschlossen, das
Schriftstück heute nacht noch zu Ende zu bringen. Der hinter ihr, am
Eingang, legte die Hände ineinander. Seine Züge waren düster. Er sagte
sich: Dich hätte ich haben können! Du hast auf mich gewartet! Denn
du hast gewußt, daß du die Rechte für mich warst, für einen Mann wie
mich. Du hättest mich verstanden. Du hättest meine Arbeit geteilt, wie
du sie jetzt freiwillig teilst. Du wärst mein Kamerad geworden. Alles
wäre anders geworden in meinem Leben durch dich ...
Das junge Mädchen war so in ihre Tätigkeit versunken, daß sie
sein schweres Atmen, das leise Klirren eines Sporns bei einer
unwillkürlichen Bewegung nicht hörte. Sie schrieb unermüdlich, und
sein Auge hing an ihr, in hoffnungsloser Bitternis und Reue: Ich wär'
ein anderer Mensch geworden, der, der ich zu werden hoffte. Stark und
in mir einig und geschlossen, tüchtig zum Leben und zum Dienst. Was
mir fehlte, hättest du in mir ergänzt. Ich aber war blind. Und bin an
dir vorbeigegangen und habe das Geheimnis deiner scheuen blauen Augen
nicht begriffen. Hätte ich damals gewußt, was ich jetzt weiß ...
Maxe Ottersleben schüttelte, ihm den Rücken zudrehend, den Kopf, um
eine zudringlich summende Fliege zu verscheuchen. Es war wie eine
Abwehr == eine Bewegung des Entsagens: Zu spät! Zu spät! Nebenan
schläft deine Frau. Sie weiß nichts von dir. Sie weiß nichts von
deinem Dienst. Sie gähnt, wenn du nur davon sprichst. Sie ahnt nichts
von deinem Wesen und Streben, über sie hinaus. Es erschreckt sie nur
-- macht sie mutlos -- müde -- krank. Aber es ist deine Frau. Du hast
sie gewählt. Du bist an sie gebunden auf Lebenszeit ...
Er preßte die Hände ineinander, um einen Anfall von Verzweiflung
beim Gedanken an die Zukunft zu bemeistern. Seit jener Aussprache
vor vierzehn Tagen, in der ihm Ulla das Geheimnis ihrer Schwester
verraten, war sie wieder ganz in sich zusammengesunken, stumpf
geworden. Sie gab sich keine Mühe mehr. Es ging alles seinen
alten Gang. Und da drüben am Tisch saß ein junger, lebensstarker,
tatenfroher Mensch, dürstend danach, zu helfen, zu dienen, zu lieben,
und verblühte ... Erich von Logow schaute sie an und sagte sich
wieder: ~Du~ bist Geist von meinem Geist. In dir erkenn' ich
mich! Du hättest mich ergänzt. Und ... deine Schwester war schön ...
aber du bist es auch ...
Vorsichtig, als müsse dies blonde lebende Bild vor ihm am Tisch bei
seinem Nahen wie ein Traum der Nacht zergehen, trat er heran. Sie
drehte sich um und fuhr hastig empor. Sie legte die Linke ans Herz,
während die Rechte noch die Feder hielt.
»Herrgott ... hast du mich erschreckt ...«
Das schöne, in seinem Reiz immer noch ein wenig unregelmäßige
Mädchengesicht vor ihm war wirklich blaß geworden. Sie war nervös
durch die stundenlange, anstrengende Arbeit, mit der sie, wie ihm
ein Blick auf die angefangene Seite zeigte, beinahe zu Ende war. Er
gab ihr die Hand und frug gedämpft -- seltsam, wie die Stimme in der
Stille des Hauses, der Ruhe des nächtlichen Berlins vor den Fenstern,
widerhallte: »Maxe -- was machst du denn da?«
Sie warf bei seinen fast strafend klingenden Worten trotzig den Kopf
zurück, mit jener Bewegung verschlossenen Willens, die ihr von jeher
eigen war. Seitdem sie neulich in das Zimmer getreten war und das
Ehepaar in dem Gespräch über sie getroffen hatte, war sie gegen ihn
herbe und scheu, manchmal beinahe feindselig, so als ahnte sie, daß er
etwas wußte ...
»Friß mich nur nicht gleich!« sagte sie schroff zu ihrem Schwager. »Du
hast doch heute mittag geklagt, daß du zu der vielen Eisenbahnarbeit,
die sie dir in Vertretung aufgehalst haben, noch diese rückständige
Abschrift auf der Seele hättest. Na -- da hab' ich mich eben flugs
hingesetzt! Das ist doch weiter kein Verbrechen!«
»Doch! Es ist eigentlich verboten!« Er hielt die Blätter in der Hand
und ließ sie durch die Finger gleiten. »Da darfst du als Zivilist von
Rechts wegen nicht die Nase hineinstecken!«
Das junge Mädchen zuckte die Achseln und lächelte zu ihm in befangenem
Spott: »So? Na -- da nimm dich nur in acht: ich steck's morgen noch
der französischen Regierung! Ich hab' schon meine Verbindungen in
Paris ... Schad' nur, daß ich die Geschichte nicht ganz kapiere ...«
Dann wurde sie plötzlich ernst und heftig.
»Du sollst jetzt schlafen, Erich! Du brauchst deine Nerven besser als
für so 'ne Tretmühle von Abschrift! Da bin ich gut genug dazu!«
»Und deine eigene Nachtruhe?«
»Was kommt's denn auf mich an? Ich kann morgen bis zehn in den Federn
bleiben, wenn ich mag! Ich hab' ja auf Gottes weiter Welt nichts zu
tun. Ich will mich doch ein wenig nützlich machen, wo ich euch nun
schon einmal im Hause das Brot wegess'! ... Und nun störe mich bitte
nicht! Sonst verschreibe ich mich gerade noch zu guter Letzt!«
Sie setzte sich und vollendete die Schlußseite. Er stand schweigend
daneben und sah ihr zu. Nach kurzem erhob sie sich mit einem Seufzer
der Erleichterung und dehnte sich in den schmächtigen Schultern.
»Da!« sagte sie wenig liebenswürdig, ihm die Arbeit hinschiebend.
»Gute Nacht! Du mußt mir versprechen, daß du auch schlafen gehst!«
»Erst muß ich noch die Abschrift vergleichen! Sie ~muß~ morgen
früh weg!«
»Ich wußt's doch! ...«
Maxe Ottersleben machte eine ungeduldige Bewegung und meinte dann
nach einer Pause: »Ich hab' auf alle Fälle Kaffee warm gestellt ... Du
kannst ja nicht mehr aus den Augen schauen ... Wart, ... ich bringe
dir ...«
Sie lief davon und kam nach kurzem mit der dampfenden Kanne und zwei
Tassen zurück. Sie goß ihm im Stehen ein. Ihre Hände berührten sich,
als er den Schalenrand ergriff, und zuckten so rasch auseinander, daß
der Löffel klirrte. Auch ihre Blicke mieden sich. Sie waren wie zwei
gute Freunde, die Angst voreinander hatten, ohne einander zu verraten,
warum. Und um sie das feierliche, fast geheimnisvolle Schweigen. Man
hörte förmlich die Stille in diesen Stunden zwischen Mitternacht und
Morgen.
Er setzte sich in einen Lehnstuhl, zog die Brauen hoch und begann,
Maximilianes Werk nachzuprüfen.
Sie stand am Tisch. Sie meinte gleichgültig, geschäftsmäßig: »Du --
gib mir unterdessen doch ein paar von den Tabellen ...«
»Jetzt noch? Bist du verrückt? Nee -- Kind: jetzt heißt's marsch in
die Baba!«
Aber sie beharrte: »Ich muß erst wissen, ob die Abschrift ordentlich
geworden ist! Inzwischen kann ich schon noch Kästchen machen!«
Und mit einem halben, nicht ganz freien Lachen fügte sie hinzu: »Ich
krieg' doch von dir zehn Pfennig für jede Seite. Zusammen ist das für
mich 'ne Masse! Ich spar' schon auf einen Sommerhut in 'nem Laden in
der Potsdamer Straße. Den hab' ich mir dann ums Vaterland verdient!«
Er tat ihr den Willen und reichte ihr die Bogen. Sie nickte
verständnisvoll und saß neben ihm wie sein Adjutant und begann, was
sie ›Kästchenmachen‹ nannte: sie umrahmte mit geübter Hand gewisse
Vierecke in den Listen einer Mobilmachungsänderung. Er hatte sich in
den umfangreichen Bericht vertieft. Beide waren stumm. Zwischen ihnen
braute der Kaffeedampf. Die Uhr tickte. Fern verkündeten Schläge von
einem Turm schwer dröhnend die zweite Stunde. Alles schlief. Nur sie
-- der Mann und das Mädchen -- wachten, für die Sicherheit des Reiches
...
Endlich sprang er auf, klappte den Aktendeckel zu und verschloß alles
im Schreibtisch.
»Gut so!« sagte er laut und befriedigt. »Du machst das wirklich wie
ein Alter! Da ist mir wirklich eine Last von der Seele! ... Mir hat
vor dieser Büffelei geradezu gegraut! Ich danke dir!«
Er drückte ihr die Hand.
»Gute Nacht!« sagte er hastig. »Gute Nacht, liebe Maxe!«
Er vermied es dabei, ihrem Blick zu begegnen. Er wandte sich so rasch
ab, daß er ihr leises ›Gute Nacht‹ kaum mehr hörte, und ging mit
langen Schritten aus dem Zimmer und im Dunkeln auf den Fußspitzen
weiter über den Flur. Sie stand und schaute ihm nach. Ein banges
Frösteln überlief ihre schlanke Gestalt. Sie atmete schwer auf. Dann
löschte sie das Licht, das er in seiner Eile, seiner förmlichen
Flucht, auszudrehen vergessen, und schritt langsam, mit gesenktem
Haupt hinüber in ihre Stube.
Am übernächsten Mittag kam Peter Ottersleben, ihr jüngster Bruder,
von den dreizehnten schlesischen Grenadieren, der für ein paar Tage
in Berlin auf Urlaub war, zu Tisch. Er erzählte als neugebackener
Leutnant eifrig von seiner Garnison und seinem Regiment. In dem waren
zwei Herren, die der Hauptmann von Logow von früher, vom gleichen
Cötus in der Kriegsakademie her, kannte. Sie ließen ihn grüßen. Erich
von Logow fuhr aus seinen Gedanken auf und sagte hastig: »Ja ... ja
... natürlich ... da hast du recht!«
Der junge Schwager lachte.
»Du hast ja gar nicht zugehört!«
»Ja ... verzeih ...«
»Du bist überhaupt so geistesabwesend diesmal! Was hast du denn im
Kopf?«
»Er ist müde!« sagte Maxe. »Laß ihn doch!«
Fast zugleich versetzte Ulla, die die ganze Zeit über wie gewöhnlich
geschwiegen, über ihren Suppenlöffel hinweg: »Ja -- verteidige du ihn
nur immer ...«
Es waren an sich belanglose Worte. Nur eine sonderbare kalte Betonung.
Einen Augenblick flog ein Engel durch das Zimmer. Der kleine Leutnant
merkte nichts. Er meinte harmlos: »Du, Erich! Was machst du nur, wenn
die Maxe mal weggeht?«
Logow zog die Augenbrauen hoch und goß ihm Wein ein.
»Wieso?« frug er dabei schroff.
»Na -- du bist doch so an sie gewöhnt! Sie ist doch deine rechte Hand
...«
»Wer behauptet denn das?«
»Ja. Das merkt man doch! ... Vorhin hättest du sehen sollen, wie sie
auf deinem Schreibtisch abgestaubt hat, so behutsam, als ob jedes
Blättchen von Gold wäre! ... Ich weiß nicht, Maxe -- früher warst du
doch nicht so furchtbar ordentlich ... Ist das erst so, seit du im
Großen Generalstab bist?«
Seine blonde Schwester fuhr ihm mit der Hand über den Kopf wie einem
Kind.
»Ich denk' immer, du spielst noch mit Bleisoldaten, Peterchen ... Und
dabei macht der kleine Mann schon Witze! Na -- sie sind auch danach!
Sei lieber still!«
Sie redeten von anderen Dingen. Aber beim Kaffee fing der junge Bruder
wieder an: »Gestern war ich bei Ottos Schwiegereltern! Du, Maxe --
bei denen hast du den Vogel abgeschossen! Die finden dich reizend!
Besonders der Alte! Der meinte, sie hätten dich zu gern mal bei sich
in Bremen auf Besuch. Aber ich hab' gleich gesagt: Nee! Die darf
nicht! Die hat mein Schwager zu nötig. Die gibt er nicht her!«
Er lachte unbefangen und fuhr dann verblüfft zurück und setzte sich
aufrecht. Der Hauptmann von Logow hatte auf den Tisch geschlagen, daß
die Tassen klirrten.
»Zum Donnerwetter, Peter ... was ist denn das für eine dumme Art? Sei
so gut und hör jetzt mal auf!«
Solch ein Zornausbruch war bei seiner eisernen Selbstbeherrschung
etwas ganz Unerhörtes. Ulla und Maxe schauten schweigend vor sich hin.
Der Kleine saß still wie ein begossener Pudel. Erst als sein Schwager
zu einer Ordonnanz in den Flur gerufen war, forschte er kleinlaut:
»Was ist denn nur mit dem Erich? So kenn' ich ihn ja gar nicht ...«
Ulla stand auf und ging in das Nebenzimmer. Maxe, die sitzen
geblieben war, versetzte ruhig: »Warum ärgerst du ihn aber auch
unnütz, Peterchen?«
»Ich mein' es doch nicht bös! ... Wenn ich ein paar harmlose Späße
darüber mach', daß ihr so ein Herz und eine Seele seid -- wie's alle
tun ...«
»Wieso -- wie's alle tun?«
»Herrgott ... du erschrickst einen ja, Maxe! Sieh einen doch nicht so
an!«
»Du hast eben gesagt: ›Wie's alle tun!‹ ... Also hast du's auch von
anderen gehört?«
»Vielleicht mal ... Aber da ist doch nichts weiter dabei!«
»Nein! Ich wollt' es auch nur wissen!« sagte Maximiliane von
Ottersleben. Sie hatte schon wieder ganz ihre gelassene und hier im
Hause immer dienstwillige Art. Sie wandte den hübschen Kopf zur Tür.
»Gut, daß du kommst, Erich! Der arme Peter sitzt da und hat keinen
Kognak und hat nichts zu rauchen!«
Es war wieder eine Woche später, da trat sie eines Abends gegen zehn
Uhr in das Arbeitszimmer ihres Schwagers. Sie wußte nicht, ob er darin
war. Niemand hatte auf ihr zögerndes Klopfen geantwortet. Innen blieb
sie mit großen, bangen Augen stehen. Erich von Logow saß an seinem
Tisch, im hellen Schein der Lampe. Aber er schrieb nicht. Er hatte
die Arme auf die grünüberspannte Platte gelegt und die Stirne, mit
vornübergesunkenem Haupt, darauf gepreßt. Es war, als ob er schlafe
... oder Schmerzen habe ... oder irgendwie mit sich ringe ... Bei
ihrem Eintritt drehte er sich um und stand langsam auf. Sein dunkles
Haar war verwildert, sein Blick unstet.
»Was willst du denn?« frug er kurz und rauh.
»Erich,« sagte sie leise. »Warum bist du denn so unwirsch mit mir?«
»Verzeih!« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie um da
etwas zu verscheuchen, und ging auf sie zu. Nun sah sie deutlich
die Verwüstung auf seinen Zügen. Er lächelte. Er zwang sich zur
Freundlichkeit. »Was möchtest du denn gern, Maxe?«
»Dir helfen -- wie gewöhnlich ...«
»Heute gerade ist nichts zu tun, Kind ...«
»Aber dein ganzer Tisch liegt ja voll ...«
»Das sind leider alles Sachen, an die sogar du nicht heran darfst! Ich
allein! ... Ich dank' dir schön ... Gute Nacht!«
Er gab ihr die Hand. Ihre Finger legten sich ineinander. Die seinen
waren eiskalt. Sie glaubte zu fühlen, wie sie zitterten. Sie ging
nicht. Sie machte noch einen letzten Versuch.
»Es ist aber schon seit einer Woche nichts mehr für mich zu tun,
Erich!«
»Ja. Die gröbste Arbeit ist jetzt Gott sei Dank vorbei!«
»Ach wo! Du warst gestern nacht wieder bis um drei Uhr auf. Ich hör'
dich doch! ... Ich schlaf' ja oft die halbe Nacht nicht ...«
Er erwiderte nichts.
Sie fügte hinzu: »... und ich könnte so gut in den Stunden, wenn alles
so hübsch still ist, sitzen und für dich schreiben. Ich hatte so
Freude daran. Ich war so stolz darauf. Du kränkst mich, wenn du mir
das entziehst ...«
»Es ist besser, wir lassen's!«
Er sprach es kurz. Sie wandte sich um. Beide schwiegen. Sie hörte aus
seinen Worten das nachklingen, was er eigentlich meinte: ›die Leute
reden schon darüber. Die Unbefangenheit zwischen uns ist weg! ...‹ Sie
stand, von ihm abgekehrt, und spielte mechanisch mit der Quaste des
Kanapees neben ihr. Sie fühlte: jetzt schaut er mich wieder von der
Seite an -- lange -- seltsam -- nicht so, wie ein Mann die Schwester
seiner Frau ansehen sollte -- nein -- das ist mehr -- das ist das
andere ...! Eine unermeßliche, grenzenlose Angst hob sich in ihr, hob
sie selbst über sich hier empor, immer höher -- bis zur Betäubung, daß
sie wie in einem Schwindel schwebte, alle Dinge unter sich, in Rausch
und Todesangst vor dem Sturze in die Tiefen. Ein Schauer überlief
sie. Unwillkürlich schloß sie die Augen. Dann vernahm sie hinter sich
eine leise Bewegung. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie wandte sich um.
Das Zimmer war leer. Er hatte es schweigend verlassen. Aber in der
Stille der Luft lag es noch wie ein unheimliches Zittern ... Und sie
stand da, das Haupt gesenkt, die Hände gefaltet, mit starren Augen und
halboffenen Lippen, ein Entsetzen vor dem Wunder ...
Als bald darauf ihr Bruder Otto bei ihnen war, frug sie: »Du, sag
mal: ich hatte dich doch gebeten ... hast du nicht auch einmal an
Mama geschrieben, was nun eigentlich mit ihr wird? Sie soll sich doch
einmal über ihre Zukunftspläne entscheiden! Ich krieg' nichts aus ihr
heraus ...«
Der hübsche Artillerist bejahte. Die Mutter erachtete sich vorläufig
noch in Thorn, wo man bei Grotjans Familienzuwachs erwartete, für
unentbehrlich. Sie wollte bis in den Herbst hinein dort bleiben und
dann weiter sehen. Er las den Schluß ihres Briefes vor:
»Maxe ist ja in Berlin so gut aufgehoben, daß ich mich wegen ihr nicht
zu beunruhigen brauche. Sie hat sich wohl jetzt dort ganz eingelebt,
und ich gönne ihr von Herzen die vielen Anregungen und Zerstreuungen.
Sie wird gar keine so große Lust haben, die glänzende Reichshauptstadt
zu verlassen, und nach Ablauf des Trauerjahres mit mir in irgendein
stilles Pensionopolis zu ziehen, wie etwa, woran ich immer mehr denke:
Darmstadt. Was meint Ihr Kinder dazu? Herzliche Grüße an Euch alle!
Eure alte Mutter.«
Maxe senkte den Kopf. Die Hoffnung, anderswo als hier ein Heim zu
finden, war wieder weit hinausgerückt. Ihr Bruder lachte. Er war in
rosiger Laune, wie jetzt immer als Bräutigam. Er wollte jedem etwas
Angenehmes sagen. Erst machte er Ulla Komplimente über ihr Aussehen.
Dann wandte er sich an die jüngere Schwester: »Du, Maxe -- weißt du,
daß du anfängst, in Berlin aufzufallen? Ich bin schon ein paarmal
gefragt worden: wer ist denn die reizende junge Dame in Trauer, die
man jetzt immer mit den Logows sieht?«
»Ach, kümmere du dich um deine Braut.«
Er befühlte den schwarzen Stoff ihres Kleides.
»Ist das das berühmte Kostüm, Maxe?« neckte er.
»Ich weiß nicht, welches du meinst!«
»Erich erzählte mir neulich, wie ich ihn vom Generalstab abholte, ein
Langes und Breites, du hättest eine Toilette -- in der sähst du ganz
besonders gut aus ...«
»Erich fand ein halsfreies Kleid bei Maxe so nett!« versetzte Ulla.
»Seitdem trägt sie alles halsfrei. Heute auch!«
Maximiliane von Ottersleben saß ein paar Sekunden in dem allgemeinen
Schweigen hilflos still. Dann überfiel sie ein Zittern. Sie wurde
plötzlich blutrot. »Das ist nicht wahr!« sagte sie hart und gepreßt,
stand auf und verließ das Zimmer.
Eine Stunde später, nachdem Otto gegangen, suchte sie ihre Schwester
auf. Sie fand sie allein.
»Ich muß mit dir sprechen, Ulla!« begann sie ohne Einleitung. »Was
habt ihr gegen mich? Ihr seid verändert -- in letzter Zeit. Und
täglich mehr. Immer unfreundlicher. Es ist eine Unruhe im Haus.
Ich kann nichts dafür. Und doch ist es für mich wie ein Vorwurf.
Fortwährend. Seit heute kommt nun die offene Kränkung! Von dir aus!
... Und deine Ungerechtigkeit dazu: ich bin nicht kokett. Das weißt
du. Und am wenigsten gegenüber deinem Mann! Aber was heißt das,
jemanden so verletzen, der auf euren Schutz angewiesen ist und unter
eurem Dach wohnt? Ihr braucht mir nur ein Wort zu sagen, so geh' ich.
Wenn ich auch noch nicht weiß, wohin. Ich werd' schon ein Plätzchen
finden! Ich will euch wirklich nicht zur Last fallen, Ulla!«
Die bleiche junge Frau ihr gegenüber war schon wieder dem Weinen nahe.
Sie hatte einen trostlosen Ausdruck in den großen dunklen Augen. Sie
streckte flehend im Sitzen beide Hände nach dem jungen Mädchen aus und
zog sie zu sich heran.
»Es war ja nur wieder eine unbedachte Redensart von mir, Schatz!
Verzeih!«
Ihre Schwester blieb vor ihr stehen und schaute ernst auf sie nieder.
»Ich will hier nicht anklagen und nicht verzeihen! Ich will nur
wissen, wie du auf so was kommst ... Du mußt doch einen Grund haben,
mich kränken zu wollen ...«
Ulla von Logow brach plötzlich in verzweifelte Tränen aus. Sie ballte
die Fäuste, warf sich in den Sessel zurück, zerwühlte, von einem
Weinkrampf geschüttelt, in den Kissen ihr Haar, stieß leidenschaftlich
mit den Füßen gegen den Teppich. Ihre Lippen zitterten, ihr Leib
bebte. Maxe konnte ihr Stöhnen kaum verstehen.
»Ach ... ich ... ich ...«
»Was denn, Ulla?«
»Ich war so dumm! ... So wahnsinnig dumm ...«
»Was heißt das?«
»So dumm kann nur ich sein ... Jetzt büß' ich's ... es geschieht mir
recht ...«
»Ich begreife dich nicht ...«
»Das fehlte auch noch! ... Ach ... Ich Unglücksmensch bin an allem
schuld! Immer mach' ich's falsch ...«
»Was hast du denn falsch gemacht?«
Ulla hörte sie nicht.
»Ach ... hätt' ich nur damals geschwiegen!« murmelte sie verstört
vor sich hin, die Hände ineinandergepreßt. Sie wagte nicht, die
Schwester anzusehen, die sich, die Hand auf ihrer Schulter, forschend,
mit schreckensbangen Augen über sie beugte. Und plötzlich wurde es
Maxe klar: Das war es, wovon sie neulich über mich mit ihrem Mann
gesprochen hat! ... Sie hat in ihrer Eifersucht mein Letztes und
Heiligstes preisgegeben ... Da stieß sie einen halb unterdrückten Laut
des Schmerzes aus. Sie hörte nicht, was ihr Ulla nachrief. Sie floh
aus dem Gemach.
In ihrem Zimmer verriegelte sie die Tür hinter sich, warf sich
erschöpft auf einen Stuhl, stützte den Kopf auf die Hand und sann.
Und was sie auch an Möglichkeiten der Reihe nach an ihrem Geist
vorüberziehen ließ: es blieb schließlich immer nur die eine übrig,
die sie in letzter Zeit schon oft bei sich erwogen. Sie kümmerte sich
nicht darum, daß es bei ihr außen klopfte. Sie erkannte Ullas Stimme.
Sie bat, man möge sie in Ruhe lassen. Als die Schritte im Flur wieder
verhallt waren, faßte sie ihre Kraft zusammen. Sie rückte ihren Sessel
nach dem Ecktisch herum, nahm entschlossen die Feder zur Hand und
schrieb zuerst, militärisch genau als Soldatentochter, die Adresse auf
dem Umschlag.
»An den Königlichen Oberst und Kommandeur des 9. Unterelsässischen
Infanterieregiments Nr. 244, Ritter hoher Orden,
Herrn von Ottersleben
Hochwohlgeboren
Straßburg i. Elsaß.«
Dann den Brief selbst -- so, wie ihn Onkel Bruno in seiner nüchternen,
klaren und bestimmten Generalstabsart liebte, ohne viel Umschweife.
Gleich zur Sache.
»Lieber Onkel!
Seit Papas Tod habe ich kein Heim, sondern muß vorläufig bei den
Verwandten hospitieren. Erichs hier sind sehr lieb gegen mich. Aber
ich war nun lange genug hier. Ich möchte einmal anderswohin. Darf
ich Euch ein bißchen in Straßburg zur Last fallen? Bitte, sag es mir
offen, wenn ich Euch zu viel bin. Ich scheue keine Tätigkeit, vom
Staubwischen bis zum Abschreiben für den Großen Generalstab. Nicht
wahr, Du gibst mir bald Bescheid? Mit herzlichen Grüßen an Dich und
Tante
Deine getreue Nichte
Maxe.«
Sie ging die beiden nächsten Tage wenig aus ihrem Zimmer. Bei Tisch
saß sie still und aß nichts. Des Abends, wenn man beisammen war,
sprach sie kein Wort. Und da Erich von Logow von Natur einsilbig
war und seine Frau sich in die schweigende Teilnahmlosigkeit ihrer
Ehe hineingewöhnt und hineingedämmert hatte, so merkte man jetzt
recht, wie sehr dies stumme Haus bisher durch Maxes gute Laune und
Arbeitsfrische belebt worden war. Die waren nun dahin. Beide, Schwager
wie Schwester, bemühten sich, sie wieder zu erwecken. Sie waren
freundlich zu Maxe, voll einer beinahe ängstlichen Rücksichtnahme, sie
lächelten ihr zu, schlugen ihr Vergnügungen vor, aber sie wich ihnen
scheu aus. Sie war nicht mehr zu fassen. Sie war froh, wenn sie wieder
allein war, und atmete auf, als sie endlich die postwendend pünktliche
Antwort des Onkels in Händen hielt:
»Meine liebe Maxe!
Das war ja eine überraschende und erfreuliche Neuigkeit! Wenn Du
wirklich dem Sündenbabel an der Spree den Rücken kehren willst und
Dich vor uns zwei gesetzten Leuten und der Straßburger Hitze und
den Rheinschnaken nicht fürchtest, wir hängen Dir ein Schild an die
Tür: ›Herzlich willkommen!‹ Seit meine beiden Jungen im Korps sind,
ist unser Haus leer. Wir freuen uns auf ein bißchen Jugend darin und
ernennen Dich feierlich zu unserer Vizetochter! Zu nett von Dir! Wir
danken Dir dafür! Komm bald!
Dein Dich liebender Onkel.«
Und darunter in kräftiger Damenhandschrift: »Und dito Tante!«
Maximiliane von Ottersleben verschloß den Brief sorgfältig und ging
hinüber zum zweiten Frühstück. Das war ein zeitlich schwankendes
Ereignis, je nachdem ihr Schwager vom Dienst kam oder zum Dienst
mußte. Meist wartete man lange auf ihn. Auch heute erschien er
abgearbeitet, schon die Mappe für den Nachmittag in der Hand, und aß
zerstreut und hastig, alle paar Minuten nach der Uhr sehend. Am Schluß
der schweigsamen und ungemütlichen Mahlzeit sagte das junge Mädchen
plötzlich: »Bitte -- versprecht mir, daß ihr jetzt keine Geschichten
macht. Ich dank' euch herzlich für eure Gastfreundschaft. Aber alles
auf der Welt muß ja leider einmal ein Ende haben ...«
»Wieso denn?«
Die Wanduhr schlug dreiviertel Zwei. Erich von Logow sprang mit dem
letzten Bissen im Munde auf und griff nach seinen Akten.
»Wieso denn?« wiederholte er, halb schon im Geiste beim Dienst. »Was
ist denn geschehen?«
»Nichts! Ich fahre nur heute nachmittag nach Straßburg zu Onkel Bruno.
Ich packe jetzt gleich meine Sachen. Geld hab' ich.«
Ulla saß sprachlos da. Ihr Mann riß seine dunklen Augen auf, in
maßloser Verblüffung und Ungeduld zugleich. Er mußte zum Dienst! Er
kam zu spät! Konnte diese Bombe nicht zu einer anderen Zeit platzen?
Und dabei war es doch nur ein Schreckschuß! Er nahm ihn nicht ernst!
So aus heiler Haut reiste man doch nicht plötzlich in die Weite! Das
war nur, um ihm dies alles hier noch schwerer zu machen! Er runzelte
die Stirne.
»Na -- darüber reden wir noch!« sagte er, seinen Überrock zuknöpfend
und den Säbel umschnallend. »Das ist ja heller, lichter Unsinn! Das
weißt du ja selbst!«
»Da gibt's nicht mehr viel zu reden, Erich!«
»So? ... Na -- heute abend wasch' ich dir den Kopf! Aber gehörig --
Jesus nein ... ist das eine Idee ...«
»Heute abend bin ich nicht mehr hier!«
»Natürlich bist du's!« Er raffte Mappe, Mütze, Handschuhe zusammen.
»Herrgott ... ich versäum' den Vortrag! Der General ...« Plötzlich
wurde er zornig und fuhr seine Frau an. »Und du sitzt natürlich wieder
da und döst, als ginge dich das gar nichts an! Wann wirst du mir je im
Leben ein bißchen helfen! ... Schau, daß sie keine Dummheiten macht,
bis ich heimkomm'! Auf Wiedersehen, Maxe! Bitte ... werde unterdessen
vernünftig! Ich muß jetzt fort!«
Er stürzte davon. Er kürzte heute seine Arbeit am Königsplatz
möglichst ab. Aber es wurde doch Abend, bis das Nötigste erledigt war.
Er hatte, obwohl er sich selbst über seine grundlose Unruhe ärgerte,
doch ein sonderbares Gefühl der Beklemmung, als er seine Wohnung
wieder betrat. Die lag im Dämmern des Frühlingsabends. Seine Frau saß
allein am Fenster, die Hände im Schoß, den Blick ins Leere. Er trat
auf sie zu.
»Wo ist Maxe?«
»Abgereist!«
Sie sagte es müde, ohne ihre Stellung zu verändern. Er glaubte es im
ersten Moment nicht. Er fuhr vor Schrecken zurück.
»Und du hast sie fortgelassen?«
»Wie kann man einen erwachsenen Menschen halten, wenn er gehen will?«
Nun kam der Zorn über ihn. Eine heiße Blutwelle färbte sein
scharfgeschnittenes Gesicht.
»Als ob man so da durchs Fenster wegflöge! Man muß doch 'ne Droschke
holen, Koffer 'runterschleppen -- was weiß ich! ... In der Zeit
hättest du mir doch zehnmal telephonieren können, oder den Burschen
mit einem Zettel schicken! ... Dann wär' ich gekommen und hätt' es
verhindert ...«
Die junge Frau rührte sich immer noch nicht. Ihr blasses Gesicht war
steinern. Sie sagte langsam und dumpf: »Vielleicht war es besser so!«
Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Es war eine Stille.
Dann setzte sie hinzu: »Du wirft sie freilich sehr vermissen ... Zu
sehr ...«
Er wandte sich ab. Er gab ihr keine Antwort. In dem schweren Schweigen
zwischen den beiden Gatten klang plötzlich als einziger Laut ihr
leises, helles, verzweifeltes Weinen.
9
Die bleierne Schwüle der Hundstage brütete über der Rheinebene.
Die Sonne stand schon tief am Horizont, jenseits des fernen,
blauflimmernden Walls der Vogesen, hinter dem Frankreich lag --
Frankreich und ihm gegenüber, hier, als des Reiches Trutzwehr,
das letzte der mächtigen, waffenstarrenden Bollwerke am deutschen
Strom von Holland bis zur Schweizer Grenze, turmüberragt, das alte
Straßburg. Der Himmel im Westen war flammend rot, wie vom Widerschein
des vielen Blutes, das seit Jahrhunderten Deutsche und Welsche
um die Vorherrschaft am Rheinufer vergossen. Von drüben, aus dem
hochgiebeligen Häusermeer der einstigen Reichsstadt, klangen die
Abendglocken. Da, wo früher die inneren, nun niedergelegten Wälle die
engen Gassen und Laubengänge umschlossen hatten, stand jetzt, auf dem
freien Platze, wuchtig, massig gebietend, die Kaiserpfalz als Sinnbild
der neuen Zeit.
Die beiden jungen Mädchen schritten daran vorbei, der Stadt zu. Sie
hielten die Schirme schief nach rechts gegen die schräg stehende
Sonne, die lange Schatten über den Staub der Stadt warf. Der hob sich
zuweilen und tanzte in kleinen Wirbeln, von einer Brise hochgefegt.
Man atmete bei dem schwachen Luftzug auf. Jetzt, im Hochsommer, kühlte
es sich sogar in den Nächten nicht ab, aber man mußte doch hinaus,
ins Freie. Innen, in den Wohnungen der Altstadt, war es noch heißer.
»Ja -- daran mußt du dich gewöhnen, Maxe!« sagte Fräulein von Müritz.
»Ich kenn's! Das geht so bis in den September hinein!«
Sie war die Nichte eines Majors bei den Zweihundertvierundvierzigern,
auch eines Herrn von Müritz, eines alten Junggesellen, dem sie, eine
Doppelwaise, die Wirtschaft führte. Maximiliane von Ottersleben
hatte sich ihr, bald nach ihrer Ankunft in Straßburg, angeschlossen.
Sie verkehrten nun schon seit einem Vierteljahr freundschaftlich
miteinander, obwohl jene ein gutes Stück älter war. Aber Maximiliane
kam sich selber auch älter vor als ihre Jahre. Sie fand sich nicht
mehr in das Gekicher und Geflirte der Regimentstöchter. Und zudem war
sie immer noch in Trauer um den Vater.
Die beiden schlenderten langsam die Straßen entlang. Um sie war der
Lärm der großen, unter der neuen Herrschaft mächtig aufgeblühten
Stadt. Es wimmelte von Uniformen. Von deutschen Beamten, Studenten,
Damen. Wer noch Französisch hören wollte, mußte in die Vororte gehen.
Hier klang umher nur noch Elsässerdütsch und scharfes Preußisch,
zuweilen gemütliches Schwäbisch und Bayerisch der süddeutschen
Besatzungstruppenteile. Die Inschrift auf allen Läden war deutsch.
Vor manchen blieben die beiden Damen stehen und musterten die
Auslagen. Thekla von Müritz wies auf ein Diamantenkreuz in einem
Juweliergeschäft und meinte im Spaß: »Das kannst du mir zum
Geburtstag schenken, Maxe! Nächsten Monat ...«
Sie gingen des Wegs. Die andere frug: »Du -- wie alt wirst du da
eigentlich?«
»Fünfunddreißig! ... Aber sag's nicht weiter ...«
Dann nach einer Weile: »Oder sag's doch! ... Es ist ja ganz egal ...«
Dabei beschleunigte das späte Mädchen seine Schritte.
»Ich muß nach Hause! ... Sonst schimpft der Onkel. Er meint's nicht
bös. Aber er ist gräßlich knurrig!«
»Du bist schon lange bei ihm?«
»Seit meine Eltern tot sind ... seit neun Jahren ...«
»Und wenn er mal stirbt ... Hat er denn was? Hinterläßt er dir was?«
»Keinen Groschen!«
»Aber was machst du denn dann mal nach seinem Tod?«
»Ich weiß nicht. Ich denk' nicht darüber nach. Es hilft ja doch
nichts.«
Eine stumpfe Ergebung war in ihren Worten. An der Straßenecke blieb
sie stehen, gab der Freundin die Hand und sagte: »Ja, so ist das Leben
an einem vorbeigegangen! Heirate du nur, solange du noch so jung und
hübsch bist! Na ... Adieu, Maxchen ... Schöne Grüße zu Hause ...«
Maximiliane setzte allein ihren Weg fort. Sie neigte mechanisch auf
die Grüße begegnender Offiziere den blonden Kopf. Ein tiefer Ernst lag
auf ihren schönen, jugendlich strengen Zügen. Immer wieder mußte sie
an die Freundin denken: Ja, so ist das Leben an einem vorbeigegangen
... es klang so rätselhaft. So schrecklich. Alles vorüber mit
fünfunddreißig Jahren ... Es war unwahrscheinlich und doch wahr. Was
hatte Thekla Müritz noch vom Dasein zu erwarten? Essen, Trinken,
Schlafen! Das freilich noch ein Menschenalter oder länger. Aber war
solch Sein der Mühe wert? Lohnte es die Enttäuschungen?
Fünfunddreißig ... Maxe Ottersleben sagte sich: wie alt bin ich
selber? Fünfundzwanzig. In zehn Jahren bin ich gerade so weit.
Plötzlich schien ihr diese Zeit unheimlich nahe gerückt. Sie stand
wie ein Schreckgespenst vor ihr, als wachte man im Handumdrehen eines
schönen Morgens als alte Jungfer auf. Du lieber Gott: zehn Jahre waren
rasch verseufzt und verträumt und vergähnt. Und dann? Sie sah förmlich
in der heißen Augustluft die weißen Fäden des Altweibersommers
fliegen. Ein Grauen vor dem fernen Herbst überlief sie. Sie schritt
mit gesenktem Kopfe weiter. Sie sagte sich, heute, in der allmählich
gewonnenen Straßburger Ruhe, zum erstenmal ganz klar und deutlich:
So geht das nicht mit mir in alle Ewigkeit! ... Ich verhunze mir ja
mutwillig selbst mein bißchen Leben ... Von Glück will ich schon gar
nicht reden. Aber ich muß doch irgend etwas aus mir machen. Ich darf
nicht so hindämmern. Ich muß mich frei machen. Innerlich frei von ihm
... Wenn ich nur könnte ...
Sie hatte den Broglieplatz erreicht. Das war der Mittelpunkt der
Stadt. Rechts war ein Kommen und Gehen von Infanterieuniformen am
Eingang der großen Offizierspeiseanstalt, dahinter bildeten die
Leute im Abenddämmer schon Kette am Theater, wo eine französische
Operettentruppe gastierte. Auf einmal blinkte da, mitten im
Deutschtum, ein Stück französische Unterwelt auf -- Knebelbärte
-- westlich-lebhafte Augen und Hände, das schnelle Pariserisch
eingeborener Notabeln. Links waren die beiden Kaffeehäuser mit
ihren Stühlen im Freien unter schattigen Bäumen -- das eine für die
Elsässer, das andere für die Altdeutschen.
An einem der Tischchen saß ein straffer, jugendlich schlanker General
vor seinem Glase Bock. Sein blonder Schnurrbart war aufgedreht, sein
helles Haar kaum merklich angegraut. Wer vorbeikam, war erstaunt, wenn
er die feierlich leuchtenden scharlachroten Klappen des Überrocks
und auf dessen goldenen Achselstücken den Stern, das Zeichen der
Exzellenz, sah. Man kannte den Würdenträger hier nicht. Er mußte von
auswärts gekommen sein. Er rauchte seine Zigarre, hatte ein Bein über
das andere geschlagen und legte unaufhörlich, bald verbindlich die
ganze rechte Hand, bald nachlässig den Zeigefinger an den Mützenrand,
je nachdem es Offiziere oder Mannschaften waren, die grüßend an ihm
vorübergingen. Dann hob er das gebräunte, von fast unmerklichen
feinen Fältchen durchzogene Antlitz, auf dem trotz der dienstlichen
Strenge eine jugendliche Verwegenheit schlief. Seine feurigen blauen
Augen hatten drüben, auf dem Bürgersteig, etwas entdeckt. Noch ganz
hinten. Er sah scharf wie ein Luchs. Er stand langsam, unauffällig
auf, zahlte, ging über den Platz und schlenderte die Häuser entlang.
Nach etwa hundert Schritten blieb er scheinbar nachsinnend vor der ihm
begegnenden jungen Dame stehen.
»Ist's denn die Möglichkeit! Guten Abend, Fräulein von Ottersleben!«
Maximiliane hatte, in ihren Gedanken versunken, auf nichts geachtet.
Sie schrak zusammen. Die Stimme kannte sie, dies übermütige Lächeln.
Der General von Glümke hatte sich in den zwei Jahren nicht im
geringsten verändert. Er war aus zähem Holz geschnitzt. Er blieb,
wie er war. Er tat, als sei nie etwas zwischen ihnen vorgefallen. Er
reichte ihr die Hand. Sie nahm sie und sagte stockend, blaß geworden:
»Guten Abend, Exzellenz!«
Sie fühlte seinen prüfenden Blick auf sich ruhen. Sie dachte sich mit
Herzklopfen: Was braucht er mich nur um Gottes willen anzusprechen,
statt mir aus dem Weg zu gehen, wie es jeder sonst täte? Aber er
macht ja immer alles anders als andere Leute. Dann hörte sie seine
gleichmütigen Worte: »Na ... sehen Sie, Fräulein von Ottersleben: die
Welt ist klein! ... Nu hat uns der liebe Gott glücklich beide in die
Reichslande verschlagen. Sie nach Straßburg und mich nach Metz. Ich
hab' nämlich dort 'ne Division. Die fünfundvierzigste.«
»Ja. Ich weiß, Exzellenz!«
»Da bin ich heute mal auf einen Sprung herübergerutscht. Dienstliche
Geschichten ...« Er brach ab und wartete, ob sie auch etwas sagen
würde. Aber sie schwieg. So fuhr er fort. Er wurde schon lebhafter.
Sein Naturell brach durch: »Na -- wie gefällt's Ihnen denn hier unten
bei den Wackes, gnädiges Fräulein?«
»O, ganz gut, Exzellenz!«
Sie antwortete einsilbig. Sie war beklommen. Sie hatte förmlich
Angst vor Olaf von Glümke. Es war ihr so sonderbar, daß dieser Mann
plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.
Er lächelte. »Und wie geht's dem Onkel Bruno? Zieht er seinen
Zweihundertvierundvierzigern tüchtig die Hammelbeine lang? Tut not.
Unter uns: Sein Vorgänger war ein bißchen 'n Susemiehl! ... Drum haben
sie ihm gerade das Regiment gegeben! Tantchen auch wohl -- ja?«
Woher wußte er nur, daß sie hier bei ihren Verwandten war? So wichtig
war das doch nicht, daß man bis nach Metz hin davon sprach! Sie dachte
sich: Wenn er mich nur schon gehen ließe! Aber von sich aus konnte
sie, ein junges Mädchen, einen Würdenträger wie den Generalleutnant
von Glümke nicht auf der Straße stehen lassen. Sie mußte warten, bis
er sich selbst von ihr verabschiedete.
Er schien ihre Ungeduld zu merken. Er schüttelte ihr wieder unbefangen
die Rechte: »Na -- hat mich sehr gefreut! ... Wir sind doch zwei alte
Freunde, Fräulein von Ottersleben -- nicht wahr?«
Sie zögerte. Aber was sollte sie denn machen? Sie antwortete scheu:
»Jawohl, Exzellenz!«
»... Also schöne Grüße daheim! ... Und auf Wiedersehen!«
Auch noch auf Wiedersehen ... das quälte sie auf dem kurzen Weg bis
zu ihrer Wohnung am »Eisernen Mann«. Sie hatte den General von Glümke
doch damals derart vor den Kopf gestoßen ... Ein anderer würde es ihr
nie verziehen haben ... Er stellte sich jetzt an, als wäre das nur ein
Spaß zwischen ihnen gewesen. Vielleicht hatte er es nachträglich auch
so aufgefaßt. Er war ja unberechenbar ...
Aber dann wußte sie doch: Es hätte sie damals nur ein Wort gekostet
und alles war entschieden ... Sie dachte sich in einer wilden
Bitterkeit, die sie plötzlich überfiel: Ich hätte ihn haben können
-- eine Partie, um die mich jede in der Provinz beneidet hätte! Oder
es brauchte gar nicht ein General, ein großes Tier zu sein. Nur
irgendeiner. Ein Mann, der mich liebt und ich ihn! Und ich wäre jetzt
eine glückliche Frau und nicht ein einsames, verwaistes, in der Welt
herumgestoßenes Mädchen, das nicht weiß, was es mit sich und seinen
Tagen beginnen soll. Ich wäre so zufrieden wie tausend andere, wenn
~er~ mir nicht in den Weg gekommen wäre! Immer ~er~! Er hat
mich an allem gehindert! Er steht ewig zwischen mir und dem Sein ...
Sie machte halt, in einer hilflosen, verzweifelten Erbitterung gegen
den Hauptmann Erich von Logow, der um die gleiche Zeit, fern von hier,
im Generalstabsgebäude zu Berlin vor seinen Akten saß und schrieb
und schrieb. Neben ihr, auf dem Platz in Straßburg, schimmerte das
Himmelblau bayerischer Uniformen von der Hauptwache. Der Marschall
Kleber sah von seinem Sockel hernieder auf verwehte ›gloire‹
und wiedererstandene deutsche Kraft. Hinten hob sich das Rote Haus,
noch von den Blutschatten der großen Revolution umweht. Maximiliane
Ottersleben sah erstaunt um sich. Sie war in ihrer Geistesabwesenheit
einen falschen Weg gegangen und drehte jetzt um, und in ihr brannte
etwas, während sie zurückschritt -- schwelte unheimlich wie
unterirdisches Feuer: Er war dein Schicksal. Aber seit er es weiß,
bist du auch seines geworden. Hast dieselbe geheimnisvolle Macht über
ihn gewonnen wie er seit Jahren über dich. Es hat sich an ihm gerächt,
ohne dein Wissen und Wollen ...
Zu Hause saß ihre Tante, Frau von Ottersleben. Sie war zu Anfang
der Vierzig, groß, blond, stark -- mit rosigen vollen Wangen,
wirtschaftlichem Blick, arbeitsfrohen, großen weißen Händen, die Haare
schlicht in der Mitte gescheitelt, glich sie mehr einer pommerschen
Pastorenfrau als einer Kommandeuse. Das junge Mädchen setzte sich
still zu ihr. Eine Weile häkelte die eine und stickte die andere. Dann
hob Maxe Ottersleben den Kopf und versetzte unvermittelt: »Du, Tante
... ich bin nun mit Gottes Hilfe fünfundzwanzig ...«
»Na ja ... Maxe ... das weiß ich ...«
»Es wird doch Zeit ... Es muß einmal etwas mit mir geschehen ... Ich
muß mich irgendwie im Leben nützlich machen!«
»Mach du dich nur deinem Mann nützlich! Das ist vollauf genug!«
Das junge Mädchen mußte lachen: »Ich hab' doch keinen ...«
»Sollst aber einen kriegen! ...«
»Ich mag gar keinen ...«
»So hab' ich auch geredet!« sagte die Kommandeuse gleichmütig. »Das
macht auf mich gar keinen Eindruck. Laß du mich nur sorgen! ... Wenn
erst dein Trauerjahr vorbei ist ...«
»Du denkst doch nicht, daß ich euch hier auf Jahr und Tag zur Last
fallen will ...«
»Na natürlich gehst du bei uns hier aus, wo wir ohnehin ein Haus
machen müssen ... Das hätt' ich mir nicht träumen lassen, daß ich, mit
meinen zwei Jungens, noch mal auf meine alten Tage Ballmutter würde!
...«
»Ich mag aber nicht wieder auf dem Heiratsmarkt ausgestellt werden,
Tante! Es hat keinen Zweck, ich heirate doch nicht!«
»Was willst du denn sonst?«
»Diakonissin werden!« sagte Maximiliane Ottersleben kurz und trotzig.
Sie hatte sich das schon seit einiger Zeit überlegt. Aber es prallte
an Frau von Otterslebens Ruhe ziemlich ab. Die schlug nur gutmütig die
starken Hände ineinander.
»Maxe ... du und Diakonissin! Das gäbe 'ne schöne Bescherung! ... Du
verdrehst ja allen Doktoren den Kopf und machst die Patienten dazu
rappelig! Ich glaube manchmal wirklich, du weißt selber nicht, wie
hübsch du bist! Nein, Kind: Des Lebens Mai blüht einmal und nicht
wieder. Bei dir steht er noch vor der Tür. Da verlaß dich auf mich.
Und nun nimm mal den Kopf hoch ... so ... da kommt der Onkel! Der
kann's nicht leiden, daß man ihn daheim mit 'ner Leichenbittermiene
empfängt. Er nimmt sich auch zusammen, wenn er Ärger im Dienst gehabt
hat ...«
An solchem Verdruß fehlte es dem Oberst Bruno von Ottersleben nicht.
Er widmete sich seinem Regiment mit dem Feuereifer des Generalstäblers
und der Freude am praktischen Dienst nach der Stubenhockerei. Aber
er bewahrte dabei seinen vollen Gleichmut. Er hatte gute Nerven.
Es lag ein stetes ruhiges Wohlwollen auf seinen klugen, etwas
grobgeschnittenen Zügen. Groß, breitschultrig, bedächtigen Ganges trat
er ein, begrüßte seine Frau, mit der er, wie er selbst sagte, in einer
lächerlich glücklichen Ehe lebte, klopfte der hübschen Nichte auf die
Schulter und sagte, sich setzend, behaglich: »Wißt ihr, wer mir eben
über den Weg gelaufen ist? Olaf selbst! Der Glümke! Bummelt hier in
Straßburg herum! Merkwürdig, wie stürmisch er mich begrüßt hat!«
»Kennt er dich denn, Onkel Bruno?«
»Ich war mal, wie er Major war, vor vielen Jahren ganz kurze Zeit
mit ihm im selben Regiment!« sagte der Oberst, der als Springer
des Generalstabs viele Truppenteile kennen gelernt hatte. »Sehr
schmeichelhaft, daß er sich meiner noch erinnert! ... Er scheint
übrigens nicht mehr ganz so toll wie früher. Er kriegt allmählich
etwas Gesetztes! ... Na ... Zeit wird's!«
Er lachte und ging auf andere Dinge über. Er hatte immer viel mit
seiner Frau zu bereden. Er nahm seine Stellung als Regimentskommandeur
auch außerdienstlich ernst. Er wollte erzieherisch wirken. Er
haßte jeden Luxus. Er verachtete ihn als eine Verweichlichung. Die
altpreußische Einfachheit war bei ihm kein leerer Wahn. Es gab
wirklich noch des Abends ein Glas Bier und ein Butterbrot für seine
Gäste und ernste Worte an die Leutnants dazu: »Mit der Sektflasche
ist unsere Armee nicht großgezogen worden. Von Scharnhorst bis Roon
...! Nein -- wahrhaftig nicht, meine Herren! -- Ich erinnere mich
noch an die Zeit, wo wir als junge Leute in der Garde mit zehn
Talern monatlich auskamen!« Man hörte ihm respektvoll zu. Mancher
jugendliche Offizier fühlte wirklich den Hauch Kaiser Wilhelms des
Ersten und seiner Paladine, der von den Worten seines Obersten
ausging. Andere machten dienstlich stumme Gesichter und blickten
dabei verstohlen nach der hübschen Nichte des Hauses. Das war immer
vergeblich. Die tiefe Gleichgültigkeit, mit der Maxe von Ottersleben
jedem sich ihr nahenden Leutnant oder Hauptmann begegnete, entwaffnete
von vornherein. Es machte sie ungeduldig, daß die Tante immer wieder
geräuschlos wie im Vorpostenkrieg bald diesen, bald jenen Freier
in ihren Gesichtskreis vorschob und wieder verschwinden ließ und
durch einen neuen ersetzte, immer in der Hoffnung: Einmal kommt
doch der Rechte! Das war eine fortwährende Unruhe, eine Abwehr
wie vor den lästigen Stechfliegen, die einem bei Tag und Nacht um
die Ohren summten und immer blutdürstiger und zahlreicher wurden,
je mehr der Sommer sich seinem Ende zuneigte und die Zeit der
Manöver nahte. Nun warf die schon ihre Schatten voraus: Die dritte
Garnitur Reserveleutnants hatte sich zum Dienst gemeldet, auf dem
Schreibtisch des Obersten lagen Karten und Pläne der Westgrenze mit
rot eingezeichneten Hieroglyphen, er selbst war noch öfter als sonst
im Stall, kniete in der Streu neben seinen Schlachtgäulen nieder, hob
die Hufe, um den Strahl zu sehen, und fuhr auf der Suche nach Gallen
prüfend mit Daumen und Zeigefinger die Sehnen der Hinterbeine hinab
zu den Fesseln. Dann nickte er zufrieden. Seine Pferde waren wie ihr
Herr: ›Verläßlich bis zum letzten!‹
»Nu -- endlich mal ein Lebenszeichen von den Logows!« sagte er gegen
Ende August, am Frühstückstisch einen Brief aus Berlin entfaltend.
»Ich fand es eigentlich nicht nett, daß sie sich den ganzen Sommer
so gar nicht nach dir erkundigt haben, Maxe! Aber die Ulla ist 'ne
Schlafmütze ... Da schreibt er nun selber!« Er räusperte sich und
las die knappen Zeilen des Hauptmanns von Logow vor: sachliche
Dienstneuigkeiten und Personalnachrichten vom Königsplatz und aus
der Behrenstraße, wie sie die beiden, den jüngeren und den älteren
Generalstäbler, interessieren. Zum Schluß noch ein paar trockene
Worte: »Uns geht es soweit wohl. Ulla hustet leider wieder ein
bißchen. Sie läßt Euch Alle herzlich grüßen und ich schließe mich an.
Hoffentlich hat sich Maxe bei Euch gut eingelebt. Dein treuer Neffe
Erich.«
Am Nachmittag desselben Tages ging Maximiliane Ottersleben
mutterseelenallein weit draußen vor Straßburg in dem Grünen und Blühen
der Orangerie spazieren. Eigentlich hatte sie eine Verabredung mit
Freundinnen gehabt. Ein paar Leutnants waren natürlich auch bei der
Partie. Man wollte mit der Bahn bis zur Kehler Brücke fahren und
da im Rhein schwimmen, oder zu dem Schleusenwirtshaus am Illkanal
hinausradeln, um dort Matelotte zu essen -- sie wußte es selbst
nicht mehr recht. Sie hatte keine Lust gehabt. Sie war einfach
ferngeblieben. Sie mochte in ihrer heutigen Stimmung, die durch
den Brief aus Berlin in ihr wieder wach geworden war, niemanden um
sich sehen -- eine Stimmung -- sie hatte vorhin wieder in einem
dunkelschnurrbärtigen, straffen Offizier, der rasch die Straße
herunterkam, aus der Ferne Erich von Logow zu erblicken geglaubt ...
sie war vor atemlosem Schrecken stehen geblieben.. sie hätte jetzt
noch, nachträglich, hellauf weinen mögen vor Hilflosigkeit ... er war
immer da ... er kehrte immer wieder ... er ließ sie nicht ...
Um sie war kein Mensch. Es war noch viel zu heiß für die Besucher
der Gartenwirtschaft. Eine lähmende Schwüle lag in der Luft. Drüben
am Bergrand, gerade über St. Odilien, verfärbte sich der Horizont
bleigrau. Dort brütete ein Gewitter. Es blitzte und donnerte jetzt
täglich in der breiten Ebene zwischen Vogesen und Schwarzwald. Man sah
jeden Nachmittag die dunkle Wand aus stundenweiter Ferne aufziehen.
Das junge Mädchen warf einen prüfenden Blick nach dem Himmel und ging
dann langsam weiter. In ihrem weißen, schwarzgarnierten Sommerkleid
hob sie sich, schmal und schlank, den blonden Kopf vom weißen Schirm
überschattet, von den zopfig regelmäßigen Reihen der Orangen- und
Zitronenbäume des altfranzösischen Parkes ab, die sich in ihren Kübeln
vor den Glashäusern sonnten. Ihre Halbschuhe knirschten leise in
flüchtigem Schreiten auf dem Kies des Weges. Das und das eintönige
Summen der Mücken war der einzige Laut umher. Und dann etwas anderes
... hinter ihr: ein Sporenklirren, das rasch und energisch näher kam.
Sie dachte sich noch: ›Ich möchte wohl wissen, wer von der Garnison
jetzt da draußen bei der Hitze spazieren läuft!‹ Und fast zugleich
hörte sie an ihrem linken Ohr eine helle, vergnügte Stimme: »Na -- so
menschenscheu, Fräulein Maxe ...«
»Oh ... Exzellenz ... Sie ...«
Olaf von Glümke nickte, gab ihr die Hand und ging neben ihr hin, als
ob sich das von selbst verstünde.
»Ja! Ich! Ich mußte nämlich mal wieder nach Straßburg ... Dumme
Geschichten ... In meiner Eigenschaft als Gerichtsherr ...«
Es fuhr ihr, dem Soldatenkind, durch den Kopf: Seine Division ist ja
in einem anderen Armeekorps! Er hat bei unserem Kommandierenden gar
nichts zu suchen. Das stimmt doch nicht!
Er sprach unbekümmert weiter: »Na ... und da ich erst mit dem
Abendzuge heimfahre und vorher ein bißchen frische Luft schnappen
wollte ...« Er lachte plötzlich, angesichts des tiefen Mißtrauens in
ihren Zügen. Er war nicht im geringsten verlegen. Der alte Schalk
blitzte in seinen großen, blauen, übermütigen Augen. »Nee -- also --
wir wollen mal lieber hübsch bei der Wahrheit bleiben! Ist netter
-- nicht? Also ich saß vorhin wieder im Café am Broglie und sah Sie
vorübergehen, in der Richtung hier heraus! Da dacht' ich mir: Wozu hat
der Mensch die Straßenbahn? ... Vielleicht hab' ich Glück und hol' sie
irgendwo ein ... Und so bin ich nun mit Gottes Hilfe hier!«
»Hatten Sie wirklich nichts Wichtigeres zu tun, Exzellenz?«
»Nein!« sagte er mit verblüffender Offenheit. »Es kam mir wie gerufen.
Ich wollt' schon lange mal vernünftig mit Ihnen reden, Fräulein Maxe
-- wegen damals -- Sie wissen schon ... Ein anderer an meiner Stelle,
der wäre ja wütend, nach dem, was ihm passiert ist ... der sähe Sie
gar nicht mehr an ...«
»Das verlange ich ja auch gar nicht, Exzellenz!«
»Ach -- seien Sie doch nicht so schnippisch, Kind! ... Lassen Sie das
doch den kleinen Mädchen! Es steht Ihnen gar nicht. Sie haben den
großen Stil ... Sie sind die geborene große Dame! Ja -- was ich sagen
wollte ... Ich hab's mir nachträglich überlegt ... Es war natürlich
eine Dummheit von mir. Ich hätte Sie nicht so überrumpeln dürfen. Ich
hätte mir sagen sollen, daß man damit bei einem Dickkopf wie Ihnen
nur das Gegenteil erreicht. Na -- es hat eben nicht sein sollen. Ich
hab's jetzt verwunden. Es war ja ein recht kräftiger Stoß gegen meine
Eigenliebe. Aber ich denke jetzt ruhiger darüber. Ich bin Ihnen nicht
mehr böse ...«
»Das freut mich von Herzen, Exzellenz!«
»Lassen Sie doch die ewige ›Exzellenz‹! Das ist ja gräßlich. Das ist,
wie wenn ich mit einem von meinen Leutnants spreche. Ihnen gegenüber
komme ich mir nicht so würdevoll vor. Sagen Sie wenigstens: Herr von
Glümke!«
»Wenn Ihnen das lieber ist ...«
»Ja! Wir wollen doch wieder gute Freunde werden, wie früher! ...
Wir wollen die Geschichte wegwischen aus dem Gedächtnis, nicht wahr
...? Kommen Sie ... geben Sie mir mal die Hand, Fräulein Maxe ...
fürchten Sie sich doch nicht, Kind ... ich tue Ihnen doch nichts ...
So ... ganz kameradschaftlich ... Und nun bilden wir uns ein, es
wäre überhaupt nie etwas anderes gewesen! ... Ich hab's schon total
vergessen! Sie nicht?«
Maxe Ottersleben mußte lachen.
»Ja!« sagte sie.
Sie gingen weiter. Eigentlich war jetzt auch ihr wieder leichter
zumut. Nun hatte sie Olaf wieder ganz gern, wo er nicht mehr ihr Mann
werden wollte. Er war doch immer der alte verrückte Kerl. Es ging
Feuer und Leben von ihm aus. Sogar jetzt, wo er merklich hinkte,
schritt er immer noch rascher und elastischer als im Durchschnitt
einer seiner Stabsoffiziere.
»Warum ich rechts schone?« meinte er auf ihre Frage. »Einer
meiner Gäule ist mit mir abgeschrammt ... heidi ins Unterholz ...
Kniekaltschale an den Bäumen ... na ... ich danke ...«
»Reiten Sie denn immer noch so junge Pferde, Exzellenz?«
»Kind: wenn Sie noch mal Exzellenz sagen, kriegen Sie einen Klaps auf
die Hand! Was freut Sie denn so an der Exzellenz? Sie haben's ja nicht
werden wollen! Meine Pferde? ... Schade, daß ich sie Ihnen nicht mal
zeigen kann! Famos! ... Woran soll ich mich denn sonst noch freuen --
so 'n armer oller Kriegsknecht wie ich.«
Er schirmte die scharfen Augen mit der Rechten und blickte hinüber
nach Westen in den fahlen Glanz der untergehenden, von Wetterdunst
blutig verschleierten Sonne. Grau und ehrwürdig stand, weiter nach
links, der mächtige Turm des Münsters, wie ein dräuendes Bollwerk und
Wahrzeichen des Reiches im bleichen Abendlicht. Es war unheimlich
still umher. Selbst die Vögel schwiegen.
»Ich wollte, die Rothosen kämen mal wieder 'rüber!« sagte Olaf von
Glümke. »Haben sich noch eigens seinerzeit das schöne Loch in den
Vogesen bei Belfort frei gelassen und benutzen es nun nicht! ... Da
wüßte man doch mal, wozu man eigentlich auf der Welt ist und seinem
Herrgott die Tage stiehlt. So wird man schließlich mal eingebuddelt
und hat zeitlebens kein Pulver gerochen!«
Er wurde ernster.
»Mein Vater ist bei Mars-la-Tour gefallen!« versetzte er nach einer
Pause. »Damals war ich ein Bengel von dreizehn Jahren. Seine letzten
Worte waren: ›Grüßen Sie meine Frau und meinen Jungen! ... Er soll an
mich denken und ein tüchtiger Offizier werden, an dem der König seine
Freude hat! ...‹ Na ... ich hab' mir ja Mühe gegeben! Es ist ja ganz
nett gegangen. Ich bin ja so weit oben! Und ich hab' so ein freches
Gottvertrauen in mir: Vielleicht wird es auch noch mehr!«
»Da seien Sie doch froh, Herr von Glümke!«
»Jawohl: im Dienst, gutes Kind! ... Aber außer Dienst: Essen Sie mal
jeden Tag allein zu Haus, ein Mensch wie ich, um den 'rum ewig was los
sein muß! ... Ich kann doch nicht stillsitzen ... das wissen Sie doch!
... Und ins Kasino, zu den jungen Dächsen, kann ich doch nicht! ...
Und des Abends: die ganze hohe Generalität ist natürlich ordnungsgemäß
verheiratet! ... Will ich 'ne Menschenseele sehen, so muß ich mich zu
Gast ansagen und die Beine unter einen fremden Tisch strecken, und
sie machen noch Umstände ... äh pfui ... Mir kribbelt's manchmal in
den Fingerspitzen vor Ungeduld. Sagen Sie mal: Wie lange bleiben Sie
eigentlich noch in Straßburg, Fräulein Maxe?«
»Ich weiß noch nicht.«
»Mir scheint, Sie wissen überhaupt nicht recht, was aus Ihnen werden
soll!«
Maxe Ottersleben antwortete nichts. Er wiederholte nach einer Weile
die Frage.
»Oder haben Sie eine Ahnung, wo der liebe Gott schließlich mit Ihnen
hinaus will ...?«
»Zerbrechen Sie sich doch nicht meinen Kopf, Herr von Glümke.«
Er nickte nachdenklich.
»Freilich!« sagte er. »Mich geht's nichts an ...!« Dann lachte er vor
sich hin. »Erinnern Sie sich, wie Sie damals im Wald, im Winter nach
der Felddienstübung, böse waren, wie ich Sie frug, wann die blonde
Maxe heiraten würde? Ach ... ich fürchte, die blonde Maxe heiratet
überhaupt nicht!«
»Ich glaub's auch!« sagte das junge Mädchen.
»Ja, aber erlauben Sie mal ... das ist doch ...«
»Was denn, Exzellenz?«
»Nichts ... nichts ... Wenn Sie ›Exzellenz‹ sagen, bin ich schon still
... ich rede keinen Ton mehr ... ich denke mir für mich mein Teil ...«
»Das kann ich nicht verhindern! Aber lassen Sie mir jetzt bitte meine
Ruhe ...«
Er schwieg. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: »Irgend
etwas ist da nicht in Ordnung!« Sie hatten den Ausgang der Orangerie
erreicht. Er blieb stehen und blickte sie von der Seite an: »Mein Gott
ja ...« sprach er förmlich andächtig. »Wie sehen Sie aus ... Schon
jetzt da in dem schlichten Hundstagfähnchen. Wie haben Sie sich in den
zwei Jahren herausgemacht! ... Wer hätte geahnt, daß Sie ~so~
schön werden würden ...«
»Exzellenz ... nun aber bitte ...«
Er beachtete es nicht. Er ließ das Auge verloren auf ihr ruhen.
»Ich bin der einzige gewesen, der's gewußt hat, Fräulein Maxe ...«
sagte er langsam. »Immer ... Sie wären wie geschaffen gewesen zu ...
na ... lassen wir's! ... Es hilft ja nichts!«
Stumm gingen sie nebeneinander weiter, den breiten Weg hinab, den
Blick auf das Häusermeer Straßburgs in der Ferne, über dessen Giebeln
schon scheinbar greifbar noch das Unwetter lastete. Aus dieser Stille
vor dem Sturm, der Verfinsterung umher, dem Verschwimmen von Licht
und Schatten in einer sonderbaren schwefelgelben Dämmerung ward in
ihnen, zwischen ihnen eine Beklommenheit wach. Sie mußten sich eilen,
um dem Regen zu entfliehen. Sie machten lange Schritte. Einmal frug
er: »Geht's zu schnell?« Sie verneinte und fuhr nervös bei einem roten
Blitzgeschlängel in der schwarzen Wolkenwand vor ihnen zusammen.
Wieder war das Schweigen. In ihm ihre gleichmäßigen Tritte, ein
schwerer Windstoß, der heulend Staubwolken aufpeitschte und drüben
die uralten Baumkronen des Contades zauste und schüttelte, die
ersten Tropfen -- in Maxe Ottersleben eine eigene Empfindung: Es ist
doch manchmal gut, sich unter Schutz und Schirm zu wissen. Manchmal
fürchtet man sich doch allein ...
Aber nun hatten sie schon die Stadt erreicht. Olaf von Glümke blieb
stehen.
»Ich will Sie lieber hier von meiner Gegenwart befreien!« sagte er.
»Es ist besser, wir marschieren nicht so nebeneinander durch alle
Straßen! Gruß zu Hause! Adieu, Fräulein Maxe ...!«
»Adieu!«
Sie reichte ihm rasch, mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Er
merkte, daß sie wie erlöst war bei dem Gedanken, von ihm wegzukommen.
Er schaute ihr nach, wie sie den Bürgersteig hinabeilte und mit
gesenktem Haupt gegen die Windstöße ankämpfte. Ihre mädchenhafte
Gestalt bog sich in einer schlanken Linie nach vorne, ihr weißes Kleid
flatterte und flog. Nun war sie um die Ecke ... Da seufzte er und
setzte seinen Weg einsam fort.
Maxe von Ottersleben stand unterdessen schon daheim am Fenster und
sah in das Rauschen des Wolkenbruchs hinaus. Die Begegnung in der
Orangerie war ihr schon wieder wie im Winde draußen verflogen, ihr
Eindruck auf sie wie weggewaschen durch diese strömenden Fluten. Sie
mußte immer an etwas anderes denken: an den flüchtigen Satz in dem
Briefe Logows von heute früh: ›Hoffentlich hat sich Maxe bei Euch
gut eingelebt.‹ Es waren kurze Worte. Ganz er selbst. Hart. Kalt.
Willensbewußt. Es gab für ihn eine Grenze. Die war aufgerichtet. Die
blieb. Und sie hob trotzig den blonden Kopf. Was er konnte, konnte sie
auch! Erst recht! Aus eigener Kraft!
»Na, Maxe!« sagte an einem der nächsten Tage Frau von Ottersleben mit
einem mütterlichen Lächeln. »Nun wird's Zeit, daß wir uns nach einem
hübschen Kleid für dich umtun!«
Sie zeigte ihrer Nichte einen heute gekommenen Brief des Bruders Otto,
des Feldartilleristen und glücklichen Bräutigams, mit der Einladung an
sie alle drei zur Hochzeit nach Berlin. Der Tag war nun festgesetzt:
der erste Oktober. Natürlich, der Trauer wegen, nur eine kleine
Feier, lediglich im Kreise der beiderseitigen Verwandten. Aber ein
bißchen Freude und Frohsinn sollte doch herrschen. Das hätte der gute
Papa, wenn er es hätte voraussehen können, gewiß selbst am meisten
gewünscht. Deswegen sollte, nach allgemeinem Familienübereinkommen,
für diesen Tag die Halbtrauer abgelegt und etwas Buntes getragen
werden.
»Ich meine, wir wählen für dich Hellgrün!« schlug die Tante vor, »es
steht dir gewiß ganz apart!«
»Ja. Ich werde Grün nehmen!« sagte Maxe Ottersleben. Ihr Herz schlug
ruhig. Sie war gefaßt auf dies Wiedersehen mit Erich von Logow. Sie
hatte den Zeitpunkt ja unerbittlich heranrücken sehen, den ganzen
Sommer lang, durch Wochen und Monate. Es gab keinen möglichen Grund,
abzusagen und als Schwester nicht zur Hochzeit zu fahren. Es mußte
eben überstanden werden. Zum Glück ließ Onkel Bruno -- das wußte sie
-- sein neues Regiment nicht eine Minute länger als unbedingt nötig im
Stich. Sie war also nur kurze Zeit mit dem Oberst von Ottersleben und
seiner Frau dort drüben in Berlin. Es war vielleicht nicht mehr als
ein einziger schwerer Tag ...
10
Der Standesbeamte, ein würdiger älterer Militär a. D. in schwarzem
Leibrock, räusperte sich, nachdem die beiden »Ja« verklungen, machte
hinter seinem grünen Tisch eine feierliche Kunstpause und sagte dann
in gewöhnlichem Ton: »So erkläre ich Sie hiermit nach den Vorschriften
des Bürgerlichen Gesetzbuches für ehelich verbunden.«
Damit waren der Leutnant von Ottersleben und Fräulein Adda Bannersen
Mann und Frau. Es war alles so freudlos umher, der kahle Raum, die
Unterschrift unter das Protokoll, das unfestliche Äußere der paar
Trauzeugen: die trockene Nüchternheit des auf Verstandesbegriffen
aufgebauten Staates legte sich ihnen unbewußt auf die jungen Seelen.
Sie hatten Mühe, sich vorzustellen, daß jetzt schon drüben in der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Hain von Palmen ihrer harrte und
die Orgel schon feierlich Probe summte und in wenigen Stunden die
mächtigen Glocken über den Berliner Westen hallen würden, ihnen zu
Ehren. Vorläufig war da draußen auf der Straße noch der Alltag im
Gang, die Herbstsonne schien hell auf den reinlichen Asphalt, ein
Schutzmann stritt sich mit einem heiser schimpfenden Bierkutscher --
sie beide, das Ehepaar, waren förmlich erschrocken, wie wenig sie
und ihr bißchen Schicksal doch eigentlich in der Welt bedeuteten.
Halb glücklich, halb betäubt fuhren sie zusammen heim, nach dem
Gesetz verheiratet, nach Sitte und Herkommen noch nicht ganz, in der
seltsamen Übergangsstimmung zwischen Standesamt und Altar.
In dem Hause der Brauteltern am Kurfürstendamm war der junge Ehemann
jetzt eigentlich das fünfte Rad am Wagen. Es ging alles über seinen
Kopf weg. Adda war ihm sofort von einem Haufen Brautjungfern,
Schneiderinnen und Zofen entrissen worden, um für die Kirche fertig
hergerichtet zu werden. Er selbst hatte inzwischen nichts weiter zu
tun, als mit Hilfe seines Burschen in einem der Fremdenzimmer seinen
Interimsrock mit der Paradeuniform zu vertauschen.
Dabei geriet er, nachdem er das drückende Gefühl seiner allgemeinen
Entbehrlichkeit überwunden hatte, wieder in die rosigste Stimmung. Er
pfiff leise beim Umziehen vor sich hin, er sang schließlich halblaut,
er war glücklich. Der Himmel hing ihm voll Geigen. Er sah eine
prunkvolle Wohnung vor sich, hell von Licht, voll von Gästen, in der
Mitte, unter dem Kronleuchter, seine süße kleine Frau. Der Herr, der
mit ihr sprach, trug den Stern eines Hausordens. Es war ein Fürst.
Solche Leute empfing man bei Otterslebens. Unten hatte man das eigene
Automobil. Einen Pferdestall mit englischem Trainer. Dienerschaft
... Das einzige, was ihn in seinem Höhenrausch wieder ernüchterte,
war ein Blick auf das schlichte Dunkelblau und Samtschwarz seiner
Linienfeldartillerieuniform im Spiegel. Nein, das ging nicht. Dienen
mußte man natürlich, ob mit einer Million in der Tasche oder mit
Kaisers Zulage. Man war doch ein Ottersleben! Aber standesgemäß mußte
man von jetzt ab dienen! Das war auch klar. Darauf hatte man ein
Anrecht.
Es war langweilig da oben. Er stieg hinunter in das Erdgeschoß. Dort
war alles voll Blumen. Depeschenboten liefen, Stubenmädchen huschten.
Halbfrisierte Köpfe schauten aus Türspalten. Er war wieder überall
im Wege. Eigentlich der unnützeste Mensch unter Gottes Sonne. Und
ohne ihn ging es doch nicht. Nur im Rauchzimmer war noch ein Rest von
Vernunft. Da saßen die männlichen Verwandten beisammen, deren Frauen
sich da drinnen um das zarte, in Spitzen und weiße Seide gehüllte
verschleierte Gebilde scharten, das nun schon Adda von Ottersleben
hieß: seine Onkel Bruno und Kaspar, Freiherr von Koninck, der Bruder
seiner Mutter, seine Schwäger Logow und Grotjan, der kleine Bruder
Peter von den schlesischen Grenadieren.
Der Husarenmajor Wilderich von Koninck lachte breit beim Eintritt des
Neffen. Er war noch dicker geworden in diesen Jahren -- viel zu dick
für einen Ziethen aus dem Busch. Ein Monokel schimmerte in seinem
roten Bonvivantgesicht. Er klopfte dem hübschen, vor Aufregung blassen
jungen Mann auf die Schultern.
»Na -- du frischgebackener Ehekrüppel ... Wie fühlst du dich nun so,
mein Sohn -- he?«
Otto von Ottersleben antwortete nur mit einem schwachen Lächeln
und stellte sich in die Ecke des Zimmers, das ganz bunt war vom
Schwarz und Rot der Krägen, dem Himmelblau des Attila, dem Karmoisin
des Generalstabs, den breiten Ordensreihen auf der Brust der
Stabsoffiziere. Man schonte seine Empfindungen. Das Gespräch lenkte
sich von ihm ab. Dann öffnete sich die Tür. Dorle Grotjan, geborene
von Ottersleben, die Frau des Pioniers, schaute herein. Sie war in
der Ehe noch rundlicher und molliger geworden. Ein appetitliches
Hausmütterchen mit pausbackigem, von blonden Wuschelsträhnen umrahmten
Kindergesicht.
»Also: Adda ist ein Traum!« meldete sie aufgeregt und verschwand
sofort wieder. Die Herren lachten. Der junge Gatte nicht. Er war stolz
auf seine Frau. Ihm fiel das alles hier wie Geschenke vom Himmel in
den Schoß. Mitten in dieser Feststimmung beschlich ihn hier die Unruhe
von vorhin: ich muß doch auch etwas dazu tun!
Im selben Moment sagte, als habe er seine Gedanken erraten, der
Freiherr Wilderich von Koninck mit wohlwollend schlauem Augenblinzeln:
»Na -- du angehender junger Knallprotz: wenn du künftig anständige
Gäule brauchst, dann kommste dreist zu mir! Wirst reell bedient. Dein
alter Onkel ist kein Pferdeschmeißer!«
Otto von Ottersleben ergriff hastig die Gelegenheit. Er zuckte beinahe
bitter die Achseln.
»Was tu' ich bei der Feldartillerie mit Vollblut? Ich werde da
überhaupt viel Schwierigkeiten haben! Ich kann nichts dafür, daß ich
in Zukunft aus dem Rahmen des Regiments falle!«
Das war ein Lieblingsausdruck, den er sich in letzter Zeit eingeprägt
hatte. Er fügte hinzu: »Es ist mir nicht wegen mir, sondern wegen
meiner Frau! Die kann doch Ansprüche stellen! Der bin ich Rücksichten
schuldig. Es könnte jetzt, wo ich ein Vierteljahr auf Urlaub gehe, so
viel vermittelt werden, durch euch ...«
»Der Bengel will nun mal zur Kavallerie!« sagte der Husar, und sein
Neffe ergänzte flehend: »Vorläufig nur ein Jahr zur Dienstleistung --
natürlich ... nachher kann man ja weitersehen!«
Es war eine kurze Pause. Dann versetzte der Oberst von Ottersleben:
»Bleib du bei deinem Geschütz! ... Es ist eine schöne Waffe, mein
Junge! Napoleon war auch Artillerieleutnant und hat auch 'ne reiche
Frau geheiratet und es mit beiden ganz nett weit gebracht!«
Auch Erich von Logow erhob den Kopf. »Und wenn du meine Meinung hören
willst: Ob du reich oder arm heiratest, ist deine Sache! Aber auf den
Dienst darf das nicht abfärben! Wem das geschieht, der denkt nicht so
soldatisch, wie er soll!«
Der hübsche junge Artillerist biß sich auf die Lippen und wandte sich
wieder bittend und halblaut an Herrn von Koninck: »Du bist doch ein
vernünftiger Mensch, Onkel! Nicht so 'n lederner Kommißhengst, wie der
Erich dort drüben ... Du bist doch selbst Kavallerist! Großpapa war
Kürassier! Du wirst begreifen, daß ich zu der alten Waffe zurück will!«
Der dicke blaue Husar hatte auf dem Rauchtisch eine Kognakkaraffe
entdeckt. Er goß sich ein Gläschen ein, wischte sich den grauen
Schnurrbart und sagte gutmütig: »Ja -- das sind nun so Sachen, mein
filius! Im Militärkabinett sind sie bei solchen Gelegenheiten
höchst säuerlich. Sie lieben's nun nicht! Mit Recht! Ich könnte mich
höchstens an den ollen Hundsfeldt wenden! Mit dem bin ich durch einen
Scheffel Erbsen verwandt. Er hat die Holsteinschen Kürassiere! Die
Zwölfer! ... Au ... Donnerwetter ... Zerquetsch mir nicht so die Hand!«
Der alte Herr Bannersen war eingetreten, schon feierlich im Frack und
weißer Binde des Brautvaters. Er war betroffen.
»Nun -- was s--pringst du so herum, mein Sohn? Um Gottes willen -- er
verliert den Vers--tand! ... Was hast du denn?«
»Hurra! wir haben Aussicht ... Wir werden Kürassiere ... Adda und ich
...«
»Das ist ja ers--taunlich!« sagte der Baumwollmann trocken. Er erfaßte
nicht ganz die Größe der Situation. Für ihn waren Soldaten eben
Soldaten. »Geh lieber und erzähl es der Adda! Sie wartet drüben auf
dich!«
Das ließ sich der Leutnant von Ottersleben nicht zweimal sagen und
verschwand. Onkel Emil, der Schwager des Hausherrn, ein Bankdirektor
aus Westfalen, blickte ihm nach. Er war ein silberhaariger, kleiner
Herr. Auf seinem Frack hing das Eiserne Kreuz. Er meinte: »Na ...
ich hab' mir meine Chassepotkugel Anno siebzig als ganz gemeiner
Sandhase geholt! Und nachher war es ganz gleich, neben wem man auf
dem Verbandplatz auf dem blutigen Stroh lag. Da hielt sich keiner für
besser als der andere. Aber jetzt geht's wieder nach Gardelitzen und
Haarbüschen. Das macht der lange Frieden!«
»Ja ja! Wir kennen dein S--prüchlein!« versetzte der alte Herr
Bannersen. »Aber bitte, sei jetzt s--till!«
Er wandte sich lebhaft an Erich von Logow. »Nun sagen Sie mal, mein
bester Hauptmann, wo haben Sie denn die Maxe gelassen, das liebe
Mädel? Warum ist sie denn nicht mit Ihnen gekommen, gnädige Frau?«
Ulla von Logow war mit ihrer Schwester Dorle Grotjan eingetreten,
schon fertig, frisiert und ganz in matter, weißer Seide, als Umrahmung
ihrer bleichen, dunkeln Schönheit. An ihrer Stelle antwortete Oberst
von Ottersleben: »Maxe wohnt mit uns im Hotel. Sie wartet dort mit
meiner Frau auf meine beiden Jungen aus Lichterfelde. Sie fahren dann
alle zusammen direkt in die Kirche.«
»Ach!« sagte Herr Bannersen erstaunt. »Ich dachte, Fräulein Maxe wäre
wieder bei Ihnen abges--tiegen, Herr von Logow! Im Frühjahr war sie
doch so lange Ihr Gast!«
Erich von Logow schüttelte den Kopf.
»Aber diesmal nicht! Ich hab' sie noch gar nicht gesehen, seit sie
hier ist!«
»Wie komisch!« Seine Schwägerin Dorle, die kleine Pioniersfrau, riß
ihre runden blauen Augen auf. »Bei uns war sie gestern gleich! ... Und
da -- wart mal -- natürlich ... ich erinnere mich doch ... da wollte
sie noch extra an euch telephonieren und des Abends auf ein paar
Stunden zu euch kommen!«
»Sie hat beides nicht getan!« versetzte der Hauptmann.
Zugleich sagte seine Frau gleichgültig, in ihrem nachschleppenden,
müden Ton: »Doch! Telephoniert hat sie schon! Ich hab' selbst mit ihr
gesprochen!«
»Ja, nun ... und, Ulla ...?«
»Es machte sich nicht recht mit der Zeit. Da hat sich's eben
zerschlagen!«
Ein allgemeines »Ah!« der Bewunderung ertönte im Kreis. Die junge Frau
Adda von Ottersleben erschien am Arme ihres Mannes, blaß und weiß,
im Myrtenkranz und Schleier und langer Schleppe, Brautjungfern um
sie, Brautführer mit Buketts, kleine, trippelnde Mädchen, ein ganzer
Hofstaat. In dem Getümmel des allgemeinen Aufbruchs zog Erich von
Logow seine Frau zur Seite. Seine Stimme zitterte.
»Was heißt das, Ulla? Maxe hat zu uns kommen wollen?«
»Ja.«
»Und was hast du ihr geantwortet?«
»Es ginge nicht! Du hättest Dienst, und ich sei nicht wohl!«
»Und dann?«
»Sie hat's schon verstanden! Sie ist vom Telephon weg. Sie hat nichts
weiter gesagt!«
»Und das hast du gewagt -- sie von uns fern zu halten -- einen Gast,
der zu uns kommt ... meine eigene Schwägerin?«
»Als meine Schwester steht sie mir wohl noch näher!«
»Und trotzdem beleidigst du sie ...«
Um sie war niemand mehr. Die Wagen rollten draußen vor der Rampe. Man
fing an, einzusteigen. Es war ein Hin- und Herlaufen und Rufen auf
Gängen und Treppen. Ulla schaute aus ihren großen dunklen Augen um
sich. Sich unbelauscht wissend, fuhr sie plötzlich leidenschaftlich
auf.
»Sie soll nicht zu uns kommen! Ich will nicht!«
»Ulla!«
»Ich will nicht! Sie hat schon genug Unheil bei uns angestiftet! Ich
wehr' mich gegen sie! Sie soll sich hüten!«
»Sei nicht so laut! Nimm dich doch wenigstens zusammen!«
»Ach -- mir ist's gleich! Mir ist überhaupt alles gleich. Aber die
Maxe will ich nicht mehr sehen!...« Sie stampfte mit dem Fuß. Ein
Aufflammen von Zorn, wie es ihr Mann noch nie an ihr erlebt und nie
für möglich gehalten, veränderte ihr regelmäßiges, wie aus Marmor
gemeißeltes Gesicht und ließ es in seiner jähen Vermenschlichung
beinahe unheimlich schön erscheinen. »Ich hasse sie! Ich hasse die
Maxe! Ich wollte, sie wäre tot und läge in Straßburg begraben und käme
nie wieder!«
»Um Gottes willen ...«
»Ja, dir wäre das freilich nicht recht! Aber mir! Dann hätt' sie's!...
Sie hat das letzte bißchen Glück aus unserm Haus mit sich genommen!
Das bleibt sie mir schuldig! Das verzeih' ich ihr nie ...«
»Komm jetzt zu dir! Mach hier keine Szene!«
Die junge Frau wehrte sich gegen seinen Arm. Sie stieß ihm
leidenschaftlich die Worte ins Gesicht: »Ein schöner Dank: ich nehm'
sie auf, um Gottes Barmherzigkeit, nach Papas Tod, weil kein Mensch
wußte, wohin mit dem Unglückswurm ... Ich lieg' krank und elend zu
Bett, und die Zeit benutzt sie, um ... um ... ich spreche es nicht aus
... du verstehst mich schon ...«
»Nein! Ich versteh' dich nicht. Nie ist etwas vorgekommen, solang'
sie da war, und seit beinahe einem halben Jahr hat sie unser Haus
verlassen!«
Ulla von Logow lachte wild auf.
»Und du? ... Wo bist du denn seitdem? ... Bist du bei mir? ... Hab'
ich dich? Nein! ... Glaubst du denn, ich sei taub? ... Glaubst du, ich
sei blind, daß ich das nicht merke? ... Bist du nicht ganz verändert?
Mit allen deinen Gedanken in Straßburg statt in Berlin? ... Nein
-- laß mich ausreden! ... Ißt und trinkst du denn überhaupt noch?
Schläfst du noch? ... Nichts! Wie ein Nachtwandler läufst du umher!
... Jeder schüttelt den Kopf. Deine Vorgesetzten. Deine Verwandten.
Deine Freunde. Keiner weiß was! Nur ich, deine Frau! Ich kenne deine
Krankheit. Vorhin hab' ich sie mit sehenden Augen erkannt. Verliebt
bist du! Aber nicht, wie es sich von Gottes und Rechts wegen gehörte,
in mich, deine Frau, sondern in deine Schwägerin! Und das bis über die
Ohren!«
»Hör auf ... um Gottes willen ... Berufe das nicht ...«
»Nein. Ich rede ...«
»Still ... still ... Ulla ... du steckst ja unser Haus in Brand!«
»~Sie~ tut's ... die Maxe ...« Die Leidenschaft erstickte die
Stimme der jungen Frau. »Und ich will Herr in meinem Hause bleiben!
Sie kommt mir nicht über die Schwelle! Ich lasse sie dir nicht! Ich
wehr' mich! Ihr beide sollt mich noch kennen lernen ...«
Sie brach atemlos ab. Ein Hustenanfall schüttelte sie und warf eine
flüchtige Röte über ihre bleichen Wangen. Erich von Logow blickte sie
entsetzt an. In die plötzliche Stille zwischen ihnen tönten rasch
näherkommende Schritte. Onkel Emil, der Festordner, erschien. Seine
Frackschöße flatterten in der Eile.
»Schönste Frau, Sie müssen Ihre Gardinenpredigt vertagen!« rief er
lachend. »Es ist allerhöchste Zeit! Sie kommen sonst zu spät zur
Trauung!« Und während Ulla schweigend sich zur Abfahrt fertig machte,
stieß er draußen vor dem Haus den Hauptmann vertraulich in die Seite.
»Ich gratuliere, Verehrtester!«
»Wieso?« sagte Erich von Logow geistesabwesend.
»Na -- wenn eine Frau ihrem Herrn und Gebieter noch ~die~ Augen
bei einem kleinen ehelichen Zwist macht, dann -- verzeihen Sie einem
alten Greis und Praktikus die Randbemerkung -- hat sie noch viel für
ihn übrig! ... Zu viel! Besser als zu wenig, nicht wahr? ... Hä ... hä
... ich an Ihrer Stelle fühlte mich geschmeichelt durch so viel Verve!
... Bitte ... Kommen Sie, gnädige Frau!«
Er geleitete Ulla an den Wagen und verabschiedete sich. Das Ehepaar
fuhr allein zur Kirche. Sie wechselten unterwegs kein Wort. Erich von
Logow saß, ohne sich zu rühren. Ihm war, als ob er träumte. Es war
eine Erkenntnis, ein Schrecken ... er sagte es sich und glaubte es
selbst noch nicht: das Unerwartete ... das Unerhörte ist geschehen!
Meine Frau ist auf einmal zum Leben erwacht! Sie fühlt und leidet wie
andere Menschen. Ich bin ihr etwas! Die Eifersucht spricht aus ihr.
Jetzt will sie besitzen, was sie verloren hat ... Jetzt, wo es zu spät
ist, kommt bei ihr die Liebe ...
Sie traten eben noch vor Beginn der Trauung ein. Gerade vor ihnen war
der Altar. Dort oben saß das Brautpaar, rechts und links von ihm im
Halbkreis je drei Brautführer und -führerinnen. Und unter ihnen --
Erich von Logow zuckte zusammen -- da zur Rechten die vorderste -- das
war seine Schwägerin Maxe ...
Sie hielt sich ruhig und aufrecht und hatte einen großen, weißen
Rosenstrauß im Schoß. Lichtgrüner Seidenflor, unter dem ein weißes
Unterkleid schimmerte, überrieselte sie in durchsichtigen, an das
Plätschern eines Bergbachs erinnernden Wellen. In dem blonden Haar
trug sie einen dicken Kranz von weißen Rosen. Sie sahen wie Seerosen
aus. Sie gaben ihr etwas Nixenhaftes, Geheimnisvolles. Sie war
weitaus die Schönste. Er verschlang sie mit den Augen. Er fühlte
einen brennenden Neid gegen den neben ihr sitzenden, ihm unbekannten
Brautführer, einen Herrn im Frack, ohne Orden, also jedenfalls von der
anderen Seite, aus dem Lager der Bannersen.
Die Orgel spielte. Die kirchliche Handlung begann. Er faltete
mechanisch die Hände. Er sah vor sich, oben auf den Stufen, Maxe von
Otterslebens gesenktes Profil. Er mußte es sehen. Er konnte den Kopf
nicht nach rechts oder links wenden und angesichts aller derer, die
hinter ihm die Bänke erfüllten, unaufmerksam erscheinen. Er prägte
sich andächtig dies Bild ein, das er seit einem halben Jahr und mehr
im Traum geschaut: diese eigenwillig geschwungenen, kühnen Züge
von der niederen Stirn bis zu dem etwas vorspringenden Kinn -- den
herben Reiz der Linie, in der ihre schlanke Gestalt sich etwas nach
vorne bog. Er trank es stumm mit seinen fiebernden dunklen Augen
in sich ein. Seine Frau saß mit starrem Gesichtsausdruck neben
ihm. Einmal entfiel ihr ihr Tuch. Er bückte sich und hob es auf.
Sie dankte mechanisch. Dabei trafen sich ihre Blicke. Unheimlich,
halb voll Angst, halb im Aufkeimen einer verzweifelten Feindschaft
zwischen ihnen, im Kampfe um die dritte ... Der Pfarrer oben predigte
mit wohltönender, starker Stimme vom Segen der Ehe. Von der Braut
vor ihm sah man eigentlich nur Schleppe und Schleier. Jetzt erhob
sie sich. Eine zarte Wolke von Weiß. Mit ihr ihr Mann. Es war
feierliche Stille. Der Ringewechsel. Das laute und das leise Ja!
Maxe von Ottersleben hatte eine rasche Bewegung nach vorne gemacht
und ihrer Schwägerin Strauß und Spitzentaschentuch abgenommen. Sie
stand dicht neben ihr. Nun sah Logow ihre ganze hohe, biegsame
Erscheinung -- ein Widerschein von Blond und Grün auf weißem Grund.
Verklärender, gedämpfter Lichtschein fiel von oben durch die gotischen
Fensterwölbungen auf sie nieder -- märchenhaft stand sie vor seinen
Augen -- ein Wunder -- ein Traumbild, das ihm nicht von dieser Welt
schien -- streng, jungfräulich, unnahbar wie eine Göttin, ohne sich
um die Versammlung unten zu kümmern, den Blick nur hilfsbereit auf
der Braut, ein schwaches, schwesterliches Lächeln um die halboffenen
Lippen. Die junge Frau von Ottersleben kniete mit ihrem Gatten nieder.
Der Geistliche hob die Hände zum Segen ... Vorne in der ersten Reihe
weinten die älteren Damen. Die Orgel setzte brausend ein. Die Trauung
war zu Ende. Draußen in der Sonnenhelle des Herbsttages standen
Hunderte von Menschen und waren enttäuscht, daß es sich nur um eine
so kleine Hochzeit handelte. Denn es waren keine vierzig Gäste, die
sich im Festsaal des Hotels wieder zur Tafel zusammenfanden, und unter
ihnen herrschte eine gedämpfte, mehr höfliche als fröhliche Stimmung.
Das machte nicht nur die Halbtrauer, sondern auch die ungleichartige
Zusammensetzung der Tischrunde. Die Bannersen und die Ottersleben
mit ihrem Anhang verhielten sich zueinander wie Öl und Wasser. Sie
vertrugen sich gegenseitig, aber sie mischten sich nicht.
Während Erich von Logow eine ihm unbekannte Bremenserin zur Tafel
führte, glitt sein Auge hastig über den Tisch, an dem sie entlang
gingen. Er hatte eine zähe Hoffnung, der Zufall würde Maxe in seine
Nähe bringen. Nein! Da saß sie bereits. Sie zog sich eben die langen
Handschuhe aus und plauderte, ohne ihn zu sehen. Er kam dicht an ihr
vorbei. In ihm war eine Verzweiflung: Ich muß sie sprechen! Dann die
Stimme der Vernunft: Was willst du ihr denn sagen? Das, was du auf
dem Herzen hast, doch nicht! Und trotzdem -- die quälende Sehnsucht
blieb. Vor ihm schritt, breit und groß, sein Oheim, der Oberst von
Ottersleben, mit einer älteren Dame. Er konnte sich nicht halten.
Er raunte ihm von hinten zu: »Du, Onkel -- wie lange bleibst du
eigentlich in Berlin?«
Und der Straßburger Regimentskommandeur wandte den Kopf. »Nur bis
morgen mittag!«
»Und deine Damen reisen mit dir?«
»Na, meine Frau auf alle Fälle! Ohne die kann ich alter Ehekrüppel
mich nicht behelfen. Aber was unsere Vizetochter betrifft ...« Er
blieb vor dem Stuhl des jungen Mädchens stehen. »Du, Mäxchen ... hast
du Lust, noch ein bißchen in Berlin zu bleiben? Da ist gerade der
Erich! Den kannst du um Freiquartier bitten!«
Maximiliane von Ottersleben drehte sich um und reichte unbefangen
ihrem Schwager im Sitzen über die Stuhllehne die Hand. »Tag, Erich!
... Sieht man dich endlich einmal!« Und dann zu dem Oberst: »Nein,
danke schon, Onkel! Ich hab' hier nichts verloren! Ich geh' wieder mit
euch!«
Erich von Logow mußte weiter. Sein Herz zitterte. Er hatte ihre
Stimme gehört, dies schöne, ruhige Mädchenantlitz gesehen, und auf
ihm -- nur ihm bemerkbar, wie ihm schien -- eine plötzliche Blässe,
die ihre heiteren Worte Lügen strafte. Er nahm Platz, ganz am anderen
Ende der Tafel, weit von ihr entfernt. Sie schwatzte da drüben und
lachte ein paarmal hellauf. Ihr Tischnachbar, der Mann mit dem
Kaufmannsgesicht, mußte einen eigenen, trockenen und drolligen Humor
besitzen. Sie unterhielt sich offenbar sehr gut mit ihm. Er war der
einzige Sohn eines Bremer Millionärs. Seine Nachbarin verriet es ihm.
Sie lächelte dabei verstohlen. Natürlich: ohne Grund setzte man solch
schönes Mädchen nicht mit solch reichem, jungem Mann zusammen. Die
Brautmütter hatten da schon ihre stillen Absichten und mischten die
Karten. Brütende Eifersucht gegen diesen Unbekannten bemächtigte sich
Logows. Dies schien ihm selber lächerlich. Er fing an, Angst vor sich
selber zu empfinden und vor dem, was nachgerade aus ihm wurde. Er fuhr
sich mit der Hand über die Stirne. Er trank rasch ein Glas Wein. Er
bemühte sich, eine Unterhaltung mit seiner Tischdame anzuknüpfen.
Sie war ganz lebhaft und empfänglich, aber das Gespräch schlief doch
immer wieder ein, und die Hanseatin wandte sich schließlich resolut zu
ihrem Nachbar zur Rechten. Auf Logows anderer Seite saß ein junger,
stumm und unermüdlich kauender Kadett, um den er sich nicht zu kümmern
brauchte. So konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen und
blickte immer wieder flüchtig auf Maxes blondes Haupt mit den weißen
Rosen dort drüben. Auf seiner eigenen Hochzeit hatte sie auch einen
solchen Kranz auf dem Scheitel getragen. Der war rosafarben gewesen
und ebenso ihr Kleid. Er erinnerte sich wohl. Das war nun Jahre her
und Jahre. Und neben ihm, auf dem Ehrenplatz, hatte damals seine junge
Frau gesessen. Zum erstenmal heute suchte sein Auge Ulla an der Tafel.
Sie saß Maxe schräg gegenüber, gleichgültig und stumm. Ihr Tischherr
gähnte eben verstohlen. Natürlich. Es war kein Vergnügen, dies Bild
von Stein statt eines Wesens von Fleisch und Blut neben sich zu haben.
Das wußte niemand besser als er selber, ihr Mann! Aber heute -- heute
hatte sich etwas in ihr enthüllt -- ein Mensch hatte plötzlich aus
ihr aufgeschrieen in seiner Not -- in Angst -- in Eifersucht auf
die eigene Schwester ... Wieder verwirrten sich seine Gedanken und
hefteten sich an Maxe. In einem Zittern: Morgen reiste sie ab. Und
kehrte dann überhaupt nicht wieder. Diesmal hatte sie gezwungen kommen
müssen. Aber er kannte sie zu gut. Freiwillig fand sie nicht mehr den
Weg in eine Stadt, in der er war ...
Die Tafel war schon vorgerückt, die Trinksprüche zu Ende, die
Stimmung belebter geworden. In der Heiterkeit und dem Gläserklingen um
ihn her bemühte sich Logow noch einmal, zum letztenmal, einen Blick
von Maxe zu erhaschen. Es war umsonst. Er bildete sich ein, daß ihr
Auge absichtlich das seine mied. Und schon stand man auf, und seine
Tischdame meinte mit einem Aufseufzen der Erleichterung: »Sie haben
wohl schrecklich viel zu tun, Herr Hauptmann!«
»Warum, gnädiges Fräulein?«
»Na -- weil Sie so einsilbig sind!«
»Bitte, seien Sie mir nicht böse!« sagte er, und sie lachte.
»Ach wo! ... Ich denk' nicht dran! Und jetzt wird getanzt!«
Erich von Logow stand, unruhig suchend, im Nebenraum, wo man Kaffee
nahm. Dort in der Ecke war Maxe. Sie saß an einem Tischchen, das nur
für zwei Platz bot, ihr gegenüber ihr jüngster Bruder Peter. Die
Geschwister hatten sich lange nicht gesehen. Es schien, daß ihr der
kleine rotwangige Grenadier in Kürze einen Überblick über seinen
bisherigen Lebenslauf im Regiment gab. Logow hörte beim langsamen,
scheinbar unabsichtlichen Nähertreten, wie jener eifrig, immer noch
mit seinen runden, erstaunten Kinderaugen, berichtete.
»Also der Oberst ist kolossal nett! Na -- und mit dem Hauptmann
geht's! Er kolkt immer davon, ich sei so schwach im Felddienst! Ja,
woher soll ich's denn haben -- frisch von der Selekta ins Regiment?
... Nächsten Sommer wird's schon besser! Da hab' ich keine Sorge! Und
was den Major betrifft ...«
Zwei lange, aufgeschossene Kadetten, die Söhne des Obersten Bruno
von Ottersleben, drängten sich heran, um den Vetter zu begrüßen, mit
dem sie im Korps in Lichterfelde zusammengewesen waren. Der Leutnant
erhob sich und empfing sie mit gönnerhafter Herzlichkeit. Sie zogen
sich zusammen zurück. Logow atmete auf. Er hätte den kleinen Mann am
liebsten mit Gewalt von seinem Platz neben Maxe verjagt. Jetzt ließ
er sich hastig da nieder, ehe sie ihm noch entfliehen konnte, und
seltsam: im Augenblick, wo er nun am Ziele war, legte sich eine tiefe
Ruhe über ihn, wie Stille nach dem Sturm. Oder vor dem Sturm. Er wußte
es nicht ... Er fühlte sich willenlos ... Irgend etwas war in ihm
... Irgend etwas trieb ihn ... Er rückte ein wenig seinen Stuhl. Nun
konnte sie überhaupt nicht mehr aus ihrer Ecke an ihm vorbei. Sie war
seine Gefangene. Sie schien nicht darauf zu achten. Sie hob den Kopf
und sah ihn freundlich ruhig an. Es war wie eine Frage: Was willst du
hier? Beide lächelten. Menschen waren in Menge um sie und sahen sie.
Es war eine Pause. Dann versetzte er: »Guten Tag, Maxe!«
»Guten Tag!«
»Wie geht's dir denn?«
»Danke!«
»Gefällt dir Straßburg?«
»O, ganz gut!«
»Und Onkel und Tante sind nett zu dir?«
»Wie zu einem eigenen Kind.«
»Da wirst du wohl da bleiben?«
»Ich weiß noch nicht ...«
Nach einem neuen Schweigen fügte sie hinzu: »Wenn Mama wirklich am
ersten Januar nach Darmstadt zieht, wie sie mir eben gesagt hat, dann
muß ich ja wohl zu ihr!«
»Ist dir das lieber?«
»Es ist doch jedenfalls meine Pflicht!«
Vom Nebensaal hörte man das Stimmen der Instrumente. Er beugte sich
vor und sagte leise: »Maxe ... du bist damals ohne Abschied von mir
fort ...«
Sie erwiderte ihm nichts.
»Maxe ... möchtest du nicht wieder zu uns?«
Es kam keine Antwort.
»Maxe ... nur ein bißchen ... nur für ein paar Wochen ... Du ahnst
nicht, was das für mich heißt ...«
Nun sagte sie ruhig: »Du weißt so gut wie ich, daß das ganz unmöglich
ist!«
»Wieso?«
»Schon nach der Art, wie Ulla mich ansieht oder vielmehr nicht
ansieht, seit ich heute hier bin ... Wenn es noch überhaupt eines
Gegengrundes für mich bedürfte! Aber das tut nicht einmal not!«
»Gestern wolltest du doch zu uns kommen?«
»Ich muß doch höflichkeitshalber. Wo ich so lange euer Gast war. Aber
ihr wart verhindert ...«
»Das hat Ulla gelogen. Wir waren wohl zu Hause!«
Eine Sekunde wurde Maxe Ottersleben bleich. Dann sagte sie, ohne daß
der Ausdruck ihrer Züge sich veränderte: »Nun -- da siehst du ja
wieder, daß das eine wahnsinnige Idee ist ... von dir ... Also laß
mich! Und bitte, laß mich jetzt überhaupt ...«
Sie wollte aufstehen, um zu gehen. Er machte ihr nicht Platz. Sie
konnte sich nicht vorüberdrängen, ohne Aufsehen zu erregen. Sie mußte
sich in Geduld fassen und blieb seufzend sitzen. Er frug nach einer
Weile leise: »Bist du auch so traurig auf einer Hochzeit, Maxe?«
»Warum?«
»Auf meiner warst du traurig ... Ich weiß es ... Ich weiß es ... Ulla
hat es mir gesagt ...«
»Ach ... immer Ulla ...«
Sie preßte finster die Lippen zusammen.
Er fuhr fort: »Aber freilich: Du hast nichts zu bereuen, so wie ich
... Mein Leben lang! Ich war ein blinder Narr, Maxe ... Ich hab' es
dir ja schon einmal gesagt, dieses Frühjahr ...«
»Weil du es mir gesagt hast, deswegen bin ich ja fort!«
Es schien, als ob Erich von Logow das überhörte. Sein dunkles, heißes
Auge irrte durch den Saal.
»Ja, solch eine Hochzeit!« sagte er. »Da wird nun wieder ein
Menschenschicksal geschmiedet! Für immer! Man denkt hinterher über so
vieles nach! ... Man möchte so vieles ungeschehen machen! Du kannst
dich besser als ich verstellen, Maxe!«
»Was heißt das? Ich geb' mich, wie ich bin ...«
Er sah sie so durchdringend an, daß sie die Augen niederschlug.
»Das ist nicht wahr, Maxe! ... Ich weiß es besser! Du hast keine
Geheimnisse vor mir. Und ich nicht vor dir, wenn wir's uns auch nie
gesagt haben!«
»Ich denke, wir hören jetzt auf, Erich!«
Er achtete nicht darauf. Er fuhr langsam fort: »Ich hab' gezittert
und gebebt vor Glück, bis ich jetzt endlich in deine Nähe gekommen
bin. Und jetzt bin ich schon wieder traurig, daß ich dich in ein paar
Minuten wieder hergeben muß ...«
»Ja. Das mußt du! Geh jetzt! Dort steht deine Frau!«
»Ach, meine Frau!« Er machte eine Bewegung der Ungeduld. »Aber
ich will nicht ungerecht sein: eigentlich macht sie mich nicht
unglücklich, sondern ich hab's selbst getan! Ich hab's selbst gewollt.
Ich hätte sie ja nicht zu nehmen brauchen, sondern ... weißt du, was
die einzige glückliche Zeit in meiner Ehe war, Maxe?«
»Laß mich jetzt und geh zu deiner Frau!«
»Das war die Zeit, wo du bei uns warst, als mein lieber, blonder
Kamerad! ... Ach, die paar armen Wochen! ... Die goldene Zeit ...
Das bißchen Sonnenschein .. das bißchen Lebensfreude ... Ich bin ein
harter Mensch. Damals hab' ich mein Herz gefunden, Maxe! Es tut weh.
Furchtbar weh! Das weißt du auch, das weißt du Ärmste viel, viel
länger als ich. Wir sind zwei unglückselige Schicksalsgenossen.«
»Soll es denn durchaus hier ein Aufsehen geben, Erich? Ich erzwinge
mir jetzt den Ausweg, wenn du nicht ...«
»Nein! Bleib! Bleib! Ich hab' dir noch so viel zu sagen!«
»Wir haben uns gar nichts zu sagen! Dort ist deine Frau! Sie sieht
uns!«
»Maxe! Ich kann's nicht ändern! Meine Spannkraft ist zu Ende. Meine
Karriere ruiniert. Ich komme nicht mehr vorwärts. Ich kann mich
nicht mehr zusammenraffen. Der Mühlstein um den Hals zieht mich in
die Tiefe. Es hat sich furchtbar an ihr und mir gerächt, Maxe! ...
Sie hat mich ohne Liebe genommen, obwohl sie gewußt hat, daß du ...
gleich am ersten Tag unserer Verlobung hat sie mir's mitgeteilt ...
Ja, schrick nur zusammen, mein armes Herz ... Es wäre besser gewesen,
ich hätt' es nie erfahren! Und dann bist du dies Frühjahr gekommen und
hast mir das letzte genommen, was mir aus dem großen Schiffbruch noch
übriggeblieben war!«
Maxe Ottersleben warf heftig das Haupt zurück.
»Nun soll auch ich noch schuld sein!« sagte sie. »Das ist zu viel! Ich
bin mir keines Unrechts bewußt. Du allein spielst fortwährend mit dem
Feuer! Und nun mach ein Ende! Sei ein Mann! Gib mir den Weg frei!«
»Nein!«
»Ja, was willst du denn noch?«
Sie frug es halb verzweifelt.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht,« murmelte er.
Auf einmal erfaßte sie die Angst. »So komm doch zu dir! ... Du hast ja
ganz irre Augen ... Um Gottes willen ...«
Da fuhr er zu ihr herum. Er raunte es zwischen den Zähnen: »Ich will
nur hier sitzen und dich anschauen und dir sagen, daß ...«
»Sei still!«
»Ich will dir's sagen ... Weißt du, Maxe ... eigentlich müßte ich mich
umbringen für meine Dummheit damals ...«
»So hör doch endlich auf! Quäle mich doch nicht so entsetzlich! Ich
bin doch auch nur ein Mensch! Ich kann ja bald nicht mehr an mich
halten! Ich fang' an zu weinen ...«
Er musterte sie mit fiebrigglänzenden Augen wie ein Verzückter. Seine
Stimme war leise.
»Damals hast du rote Rosen getragen und warst schön! Jetzt hast du
weiße und bist viel schöner! Die Schönste von allen!«
»Hör auf ... Was soll denn das um Jesu willen werden?«
»Verrückt werd' ich! Oder bin's schon! Verrückt ... Aus Liebe zu dir
...«
Sie fuhr empor. Er erhob sich auch. Sie standen sich gegenüber.
»Ich lieb' dich, Maxe ... Ich lieb' dich ... Ich sag's tausendmal: ...
Ich lieb' dich ... Ich möchte dich küssen vor all den Leuten ... dich
auf den Arm nehmen und mit mir forttragen ... Ich lieb' dich ... Ich
lieb' dich!«
Das Tischchen zwischen ihnen schwankte. Eine Tasse klirrte. Maxe
Ottersleben hatte sich gewaltsam frei gemacht. Es hatte niemand darauf
geachtet. Man tanzte schon. Im Saal drehten sich die Paare.
Eine fremde Dame rang die Hände: »Ach Gott ... das schöne Kleid ...
über und über ...« Sie wies auf die Kaffeeflecken in der grünen Seide.
Zugleich sagte Frau von Ottersleben, die eben über die Schwelle
getreten war, erschrocken: »Komm nur rasch! Wir waschen es gleich aus!«
Sie führte Maxe nach hinten. Als sie nach geraumer Zeit zu ihrem Mann
zurückkehrte, war sie ganz erregt.
»Du, Bruno ... das hätt' ich doch nie geglaubt ... Die Maxe ist doch
sonst so vernünftig ... Daß sich die über ein verdorbenes Kleid so
aufregen könnte ...«
»Was ist denn geschehen?«
»Denk dir: sie ist direkt draußen in Ohnmacht gefallen! ... Ich hab'
sie gerade noch aufgefangen! Jetzt eben erst kommt sie wieder zu
sich!«
11
Die Esplanade von Metz war an dem schönen Sonnabendnachmittag farbig
von Uniformen, Offizieren und ihren Damen des Waffenplatzes an der
Westgrenze, in dem jeder dritte Mensch Soldat war. Es war schon in der
zweiten Hälfte Oktober, aber in dieser Gartengegend Lothringens schien
die Herbstsonne noch mild und golden über dem tief eingeschnittenen
Tal der Mosel, die dort unten strömte. Blaßblau spannte sich der
Himmel über dem mittelalterlichen Gassengewirr der grauen Grenzfeste.
Trotzig ragte drüben der St. Quentin, das festeste der festen Werke,
zu ihm empor. Der leise Rauch einer Militärbäckerei kräuselte sich auf
ihm hoch oben aus dem Fort Friedrich Karl.
Es war eine Bewegung unter dem bunten Tuch. Ein Grüßen von rechts
und links. Der Generalleutnant und Kommandeur der fünfundvierzigsten
Infanteriedivision Exzellenz Olaf von Glümke kam, die Hände in den
Paletottaschen, von der Innenstadt aus quer über den Platz. Er hatte
im Gegensatz zu anderen Herren seines Ranges etwas Nonchalantes in
seiner Haltung. Er ging wie ein eben aus dem Sattel gestiegener
Kavallerist und dankte auf die Honneurs der dunkelblauen preußischen
und der himmelblauen bayerischen Infanterie, der hellblauen Dragoner
und hechtgrauen Maschinengewehrmannschaften, der dunkeln sächsischen,
preußischen, bayerischen Fußartilleristen, der Pioniere und Kanoniere
von der Feldartillerie und der Fähnriche der Kriegsschule, die alle
Uniformen der preußischen Armee durcheinander trugen.
Eine Abteilung der Metzer Garde, des Königsinfanterieregiments,
marschierte vorbei. Augen rechts! Die Beine flogen im Parademarsch. Er
dankte den Hundertfünfundvierzigern, winkte ab und dann lebhaft nach
vorn. Er hatte da jemanden entdeckt, der ihn höchlichst interessierte,
einen großen, breitschultrigen, ruhig, beinahe etwas schwerfällig
gehenden Obersten von der Infanterie. Er beschleunigte jugendlich
lebhaft seinen Schritt.
»Ottersleben!« schrie er. »Ottersleben! Kriegt man Sie endlich mal zu
Gesicht?«
Der Oberst Bruno von Ottersleben wandte sich um und stand militärisch
stramm vor dem General, der ihm lachend die Hand drückte.
»Ist das nun nett? Seit fünf Tagen krauchen Sie in Metz und Umgebung
herum und lassen sich bei mir nicht sehen?«
»Exzellenz ... Ich mache mit einer Anzahl meiner Herren aus Straßburg
eine kleine taktische Übungsreise über die Schlachtfelder ...«
»Weiß! Weiß! Keine Zeit. Natürlich. Na -- und wie steht's denn sonst
bei Ihnen? Gattin munter? Bitte, mich zu Füßen zu legen! Fräulein Maxe
auch wohl?«
»Eben hol' ich die auf dem Bahnhof ab!«
Olaf von Glümke riß seine feurigen blauen Augen auf.
»Nanu! Was tut denn die schöne Nichte hier?«
»Sie begleitet auf meinen Wunsch eine Dame, die wir in Straßburg
zu Besuch haben, eine Frau Oberstleutnant Torwart. Die mochte gern
die Stelle sehen, wo ihr Vater 1870 bei St. Privat fiel. Morgen ist
Sonntag. Da fahr' ich dann mit ihnen heim!«
»So ... so ...« meinte der andere, anscheinend zerstreut. Aber die
paar Worte staken ihm merkwürdig in der Kehle. »Na -- famos! ...
Wo sind Sie denn da morgen früh? ... Am üblichen Standort ... beim
heiligen Michael? ... Aha! ... Aber lassen Sie sich nicht aufhalten,
lieber Oberst! Sie versäumen sonst noch den Zug!«
Olaf von Glümke setzte langsamer als bisher seinen Weg nach Hause
fort. Er bewohnte mit seiner Dienerschaft und seinen Pferden eine
eigene Villa draußen in Montigny. Es war ein geräumiges Gebäude, noch
aus Fachwerk wie die meisten, hier im ehemaligen Festungsbereich
gelegenen Häuser. Das hohe Gehölz eines Parks überschattete das Dach
mit seinem herbstlichen Laub. In der tiefen Stille klirrten die Sporen
des Generals weithin auf dem Kies des Weges. Das Haus schwieg wie
ausgestorben. Es schien ihm feucht in den Zimmern. Der französische
Kamin rauchte. Der Diener Joseph, ein früherer Bursche, war dümmer
als je. Die Mappe voll Schriftstücken auf dem Tisch barg eine Masse
dienstlichen Ärgers. Im Stall hustete Diana, die Fuchsstute. Das
Wasser im Saufeimer war zu kalt. In dem Hafer, den er aus der hohlen
Hand blies, fanden sich weiß Gott schwarze Wicken. Schweinerei
überall! Es schien Olaf von Glümke, als ginge gerade heute alles gegen
den Strich. Und er hatte niemanden, mit dem er über solch kleines
Ungemach lachen konnte. Er speiste allein zu Abend. Es schmeckte ihm
nicht. Er sah über die Tafel hinweg drüben im Leeren immer noch ein
zweites Antlitz, ein schmales, unregelmäßig reizvolles Mädchengesicht,
mit blonden Haaren -- nein -- kein Mädchen -- eine Frau. Eine junge
Frau. Maximiliane von Glümke ... Es klang ihm gut. Eine junge
Exzellenz. Kaum sechsundzwanzig. Und eine schöne ...
Nachdenken war die Sache Olaf von Glümkes nicht. Bei ihm setzte sich
der Impuls in Taten um. Zuweilen ging es damit auch schief. Das hatte
er vor zweieinhalb Jahren erfahren. Leider. Er wollte sich nicht
wieder die Finger verbrennen. Und so tat er in seiner Unruhe, was er
sonst nie tat: er zündete sich eine Zigarre an, ging in der Stille des
Herbstabends in seinem Zimmer auf und ab und überlegte.
Und sagte sich: Sie ist doch scheu und spröde. Sie hält sich doch
ängstlich vor mir zurück. Vor den Männern überhaupt. Sie hat da
irgendwo schlimme Erfahrungen gemacht. Sie traut uns nicht mehr. Wenn
sie nun doch nach Metz kommt, auf die Gefahr hin, mir morgen, am
Sonntag, wo alles unterwegs ist, zwischen Montigny und ihrem Hotel in
der Priesterstraße zu begegnen, so fürchtet sie doch diese Möglichkeit
nicht, wenn sie sie auch nicht sucht. Es ist, als wollte sie dem
Schicksal ein Hintertürchen offen lassen ...
Und sagte sich weiter: Ich kann nicht ewig hinüber nach Straßburg!
Es fällt schließlich auf. Im Winter ist auch die Hoffnung, sie auf
der Straße zu sehen, gering. Und ich stehe nicht so mit Ottersleben,
daß ich ihm ohne besonderen Grund einfach ins Haus fallen kann. Vor
vierzehn Tagen war sie schon zur Hochzeit ihres Bruders in Berlin,
über kurz oder lang geht sie ganz aus Straßburg weg. Und ich steh' da
...
Diese Ungewißheit quälte ihn die ganze Nacht. Gegen seine Gewohnheit
fand er kaum Schlaf. Um vier Uhr früh stand er auf, machte Licht,
kleidete sich an und ging durch das tiefe Dunkel hinüber in den
Stall. Den erhellte der matte Schimmer einer Laterne. Fünf von dem
halben Dutzend Gäulen standen. Contessa, sein Liebling, lag, lang
hingerekelt. Das freute ihn. Dann war der gute Kerl heute besonders
frisch. Er trat auf den Fußspitzen in die Box, um die Stute nicht zu
erschrecken, half ihr in die Höhe und sattelte sie, ohne den nebenan
schnarchenden Burschen zu wecken, stieg auf und ritt davon.
Allmählich wurde es morgenhell. Dampfende, weiße Nebel hingen über der
Moselniederung. Herbstlicher Tau glitzerte auf den schon halb kahlen
Bäumen und Büschen. Durch die stille Luft klangen die Frühglocken der
Dörfer. Es war jetzt am Sonntag kaum ein Mensch unterwegs. Der General
von Glümke ließ seinen Gaul ausgreifen. Er trabte die Pappelallee
von Amanweiler her gegen Norden. Dabei schirmte er die Augen mit
der Hand und blickte ungeduldig nach vorne. Vor ihm lag ein kleines
lothringisches Dorf. Nicht anders wie hundert andere, höchstens die
Kirche neu, die Häuser alle wie vor wenigen Jahrzehnten neu gebaut
und gedeckt. Es sah nach nichts aus und hieß doch St. Privat. Und
war einmal für acht heiße Stunden der Brennpunkt der Weltgeschichte
gewesen.
Vor dem Dorf, wo sich eine mächtige Ebene sanft gegen Westen hin
abböschte, hielt, von des Kaisers Hand entworfen, der heilige
Michael mit flammendem Schwerte auf hohem Denkmal Wacht. Ein
junger Infanterieoffizier stand unter ihm, den Blick geradeaus,
in die Betrachtung des Schlachtgeländes versunken. Man konnte aus
seinen Zügen die Empfindung lesen, die jeden Militär an diesem Ort
übermannte: ›Welch eine furchtbare Stellung -- die der Franzosen am
18. August ...‹
Außer ihm war niemand da. Die Züge des Generals von Glümke
verdüsterten sich. Er galoppierte ungestüm heran. Zum Glück hatte er
wenigstens auf den Achselstücken des Leutnants die Nummer 244 erkannt.
Er hob leutselig die Hand zur Mütze.
»Morgen, Herr Kamerad! Haben Sie vielleicht hier irgendwo Ihren
verehrten Oberst gelassen?«
»Zu Befehl, Exzellenz! Der Herr Oberst kommt dort eben!«
Der Offizier trat an das Pferd heran und stand dienstlich da.
»Gestatten Euer Exzellenz, daß ich mich ganz gehorsamst vorstelle: von
Gesierowski, Regimentsadjutant.«
»Danke sehr! ... Glümke!« Der Generalleutnant verbeugte sich leicht
und ritterlich im Sattel. Und schaute dann vor sich, über die weiten
Felder hin. Er kannte längst dies Bild. Und doch ergriff es auch ihn
immer wieder aufs neue. Hier, über diese völlig kahle, schutzlose
Fläche war die Garde zum Sturm auf St. Privat vorgegangen. Es war
nicht nötig, daß man das Generalstabswerk im Kopf hatte. Man brauchte
nur seine Augen aufzumachen, so sah man die Angriffsrichtung all
der Regimenter: denn jeder Truppenteil hatte seine Grabmale auf der
Spur seines Vorwärtsdringens zurückgelassen. Die ganze Ebene war mit
Denksteinen, Marmorkreuzen, bronzenen Adlern, Erdhügeln übersät,
und all diese Linien liefen, von fernher im Halbkreis angesetzt,
unerbittlich, wie von einem unsichtbaren, todesmutigen Willen
getrieben, auf die paar Häusergruppen des ärmlichen lothringischen
Grenzdorfs hier oben zusammen.
Nichts rührte sich auf dieser blutgetränkten Erde, durch die schon
längst wieder der Landmann friedlich seine Pflugschar lenkte und die
Schafherden auf den Stoppeln weideten. Nur ein paar Gestalten bewegten
sich langsam auf St. Privat zu. Olaf von Glümke erkannte den Oberst
von Ottersleben. Er führte Frau Torwart, die vom Grabe ihres Vaters
kam. Hinter ihnen schritt, den Rock wegen des Taues gerafft, sich
ernst nach rechts und links umschauend, ein großes, schlankes, blondes
Mädchen. Wie das Bild des Lebens selbst ging sie, in ihrer Jugend,
im Sonnenschein, in der Frühe des Morgens, zwischen den Gräbern. Sie
lachte, als sie den General sah, der vom Pferd gesprungen war, den
Oberst begrüßte und sich seiner Begleiterin vorstellen ließ, und
sagte, ihm die Hand schüttelnd, ehrlich: »Gott ... Exzellenz ... Sie
sieht man aber doch auch überall!«
Er scherzte ebenso.
»Morgenstunde hat Gold im Munde, Fräulein Maxe! ... Sonst hätt' sie
mich nicht heute durch Zufall gerade hierhergeführt!«
Sie erwiderte nichts. Er ahnte, was sie sich dachte: ›Als ob du nicht
gewußt hättest, daß wir heute hier heraus wollten und wann der erste
Morgenzug von Metz nach Pagny geht. Da war's kein Kunststück, uns hier
beinahe auf die Minute zu treffen!‹ ... Sie schaute zur Seite und
klopfte zerstreut den Hals seines Rappen, der von Schweiß metallisch
glänzte, und hörte neben sich die erläuternde Stimme ihres Onkels:
»Sehen Sie -- drüben, gnädige Frau, gegen den äußersten rechten Flügel
der Franzosen, kam des Abends der Kronprinz von Sachsen und entschied
durch seine Umgehung die Schlacht. Gottlob, wir hatten den Tag über
keine rechten Geschäfte gemacht! Zugleich mit ihm erschienen dort auf
der anderen Seite in letzter Stunde auch noch die Pommern!«
»Nun, haben Sie auch was profitiert, Fräulein Maxe?« forschte der
General von Glümke. Sie nickte nur. Sie war jetzt ganz befangen. Das
plötzliche Ahnen einer nahenden Entscheidung legte sich ihr auf die
Seele. Er stand dicht neben ihr. Er erklärte ihr in seiner frischen,
lebhaften Art: »Da bei den Pappeln, Fräulein Maxe, gar nicht weit von
hier, ist die französische Grenze. Ein paar Jahre nach dem Krieg war
hier Manöver. Da ritt unser alter Kaiser Wilhelm von dort herüber quer
über feindliches Terrain! Er erfuhr erst hinterher, daß das Stück Land
drüben im Frieden wieder an Frankreich gekommen war.«
Es war eine Pause. Maxe Ottersleben las mechanisch auf dem Sockel
des heiligen Michael vor ihr die Inschrift: »Hier verlor das erste
Garderegiment zu Fuß seinen Kommandeur, 38 Offiziere und 1066 Mann.«
Die Zahlen sagten ihr nichts Neues. All die Familien, wie die ihre,
die aus der Garde stammten, hatten hier Väter, Gatten, Brüder, Vettern
liegen. Sie wandte den Kopf nach der von Glümke gewiesenen Richtung
und sagte: »Also von dort kommen die Franzosen?«
»Ach -- wenn sie nur kämen!«
Es lag so viel ehrliche Ungeduld eines Kriegsmannes in diesem
Stoßseufzer, daß sie lachen mußte. Er gefiel ihr in diesem Augenblick
in seiner jugendlichen Kampflust. Er machte ein paar Schritte und zog
den Rappen am Zügel hinter sich her.
»Ich muß dem Gaul ein bißchen Bewegung geben!« erklärte er. »Sonst
erkältet er sich. Der Morgen ist frisch!«
Sie gingen beide langsam längs des Randes von St. Privat hin. Hinter
ihnen trappelte und pustete das Pferd. Olaf von Glümke wies auf das
Dorf.
»Das ist ja nun alles neu!« sagte er. »Sie können sich denken:
das ganze unselige Nest war zuletzt bis auf die Grundmauern
zusammengeschossen und niedergebrannt. Stellen Sie sich vor, daß
abends gegen sieben Uhr über hunderttausend Menschen mit vierhundert
Geschützen um die paar elenden Häuser rangen ... Deubel ja -- wurde
hier gekämpft! ... Mein älterer Bruder war dabei. Mein Vater war zwei
Tage vorher bei Mars-la-Tour gefallen. Mir Unglücksbengel fehlten
daheim noch ein paar Jahre! ... Darüber könnt' ich mir jetzt noch die
Haare ausraufen! Denn seitdem ist die Welt ja blödsinnig friedlich
geworden!«
Sie hatten das Ende der Gehöfte erreicht. Er blieb stehen, ziemlich
weit von den anderen entfernt.
»Aber schließlich müssen wir eben sehen, Fräulein Maxe ... wie wir uns
in dem faulen Frieden einrichten! ... Ich bin so froh, daß ich Sie mal
wiederseh'! ... Ich denk' oft an Sie!«
Das junge Mädchen wurde etwas blaß.
Er fuhr fort: »Wissen Sie, daß ich manchmal ganz plötzlich über meinen
Akten, als Divisionskommandeur und Gerichtsherr und was weiß ich,
mir an die Stirne fasse und mich frag': Herrgott -- was wird denn nu
schließlich mit ihr?«
Sie legte das Haupt in den Nacken.
»Warum zerbrechen Sie sich denn meinen Kopf, Exzellenz?«
»Da haben wir wieder die Exzellenz!« sagte er gottergeben. »Es ist
furchtbar! Das ist Ihre letzte Waffe, daß Sie mir die Exzellenz zu
Gemüte führen! ... Nee, aber im Ernst ...« Er wurde heftig. »Kind ...
wo soll denn das hinaus? ... Haben Sie's denn nicht schon selber dick,
so in der Welt herumgeschubst zu werden wie ein Postpaket -- mal in
Berlin beim Schwager, mal in Straßburg beim Onkel, mal in Darmstadt
bei Muttern -- so als ob niemand Sie recht brauchen könnte. Und aus
Ihnen läßt sich doch so viel machen ... gerade aus Ihnen ...!«
Maxe Ottersleben stand mit festgeschlossenen Lippen. Es war jetzt
schon morgenwarm um sie geworden. Die Sonne schien heiß. Tiefblau
spannte sich der wolkenlose Herbsthimmel. Olaf von Glümke rang, die
Zügel über dem Ellbogen, in seiner Aufregung die Hände.
»Maxe ... ist Ihnen dies Zigeunerleben nicht gräßlich? Ist Ihnen das
nicht zu viel, immer nur zu Gast zu sein bei anderen Menschen? Möchten
Sie denn nicht lieber die Füße unter den eigenen Tisch strecken?«
»Das möchte jeder ... wenn er's eben kann!«
»Ja, warum heiraten Sie eigentlich nicht? ... Verzeihen Sie die
Frage! ... Sie brauchen nicht so ein frostiges Gesicht zu machen! Ich
hab' natürlich nicht das Recht dazu! ... Aber alle Welt wundert sich
darüber!«
»Wenn die Leute nichts Gescheiteres zu tun haben ...«
Neben ihnen begann die Stute friedlich auf dem immer noch nassen Boden
zu grasen. Olaf von Glümke bemerkte das mit Mißfallen und riß sie an
der Trense in die Höhe. Dann fuhr er gedämpft fort: »Sie haben doch
natürlich schon Anträge genug gehabt, Fräulein Maxe ... nicht wahr?«
»Ich! ... Ich hab' doch kein Geld ...«
»Ach ... reden Sie doch nicht! Jemand wie Sie ... das weiß ich besser!
Sie haben also Ihre Gründe gehabt, weswegen Sie nicht ... Gut! ... Ich
ehre das alles! Ich forsche nicht nach! Es ist mir heilig! ... Aber
sehen Sie, Maxe: Sie müssen doch auch an Ihre Zukunft denken und nicht
nur an Ihre gegenwärtige oder vergangene Stimmung ...«
Maxe von Ottersleben schwieg. Aber sie hörte doch zu. Hörte geduldiger
zu, als er gehofft hatte. Er war auf mehr Herbheit und Trotz gefaßt
gewesen. Nun schien sie ihm eher weich, beinahe ängstlich. Seine
Zuversicht stieg. Er wurde eindringlich.
»Von solch einer Stimmung können Sie nicht leben, wenn's mal zu spät
geworden ist! ... Sich der so hinzugeben, ist ein Luxus, den Sie teuer
bezahlen! ... Den Sie einmal bereuen müssen! ... Vielleicht haben Sie
sich in ruhigeren Stunden das alles schon selbst gesagt! ... Nein:
Antworten Sie mir jetzt nichts! Ich bitte darum! ... Ich will Sie
nicht noch einmal überfallen! Ich hab' von damals gerade genug ... Der
heutige Tag ist noch lang ... Ich werde Sie am Abend etwas fragen ...
Sie haben vollauf Zeit, es sich zu überlegen, Fräulein Maxe ... Jetzt
können wir doch nicht weiter reden. Da kommen Ihre Leute ...«
Er ging wohlgelaunt dem Oberst von Ottersleben entgegen und seiner
Begleitung und küßte Frau Oberstleutnant Torwart, einer schmächtigen
kleinen Dame, die noch in Gedanken an ihren Vater Tränen in den Augen
hatte, die Hand.
»Ich bitte, mich jetzt beurlauben zu dürfen, gnädige Frau! Aber nur
mit einer Bitte an die Herrschaften alle ... Ihr Zug nach Straßburg
geht doch erst gegen Abend! Seien Sie, bitte, vorher zu Tisch meine
Gäste ...«
»Ich weiß aber wirklich nicht, Exzellenz ...« begann Herr von
Ottersleben.
General von Glümke legte ihm, schon im Sattel, die Hand auf die
Schulter: »Nee -- nee, mein bester Oberst! Das ist abgemacht! ...
Nicht wahr, gnädige Frau? Fräulein Maxe hat auch nichts dagegen! ...
Also auf Wiedersehen um fünf!«
Er wartete keine Antwort ab, jagte im Galopp davon. Er saß prachtvoll
im Sattel, hochaufgerichtet, ungezwungen, mit langen Bügeln.
Oberst von Ottersleben schüttelte den Kopf.
»Ja, Herrschaften, so 'ne Einladung ist ein halber Befehl. Das hilft
nu nichts!«
Neben ihm stand Maxe und sah stumm dem Reiter nach, der in der
Entfernung zwischen den zerstreuten Gräbern des Totenfeldes immer
kleiner und kleiner wurde und schließlich in einer Talsenkung gegen
den Bois de la Cusse hin verschwand.
Er jagte blind dahin, eine Weile so dicht längs der Grenze, daß er
jenseits auf dem Feldweg den Dreispitz eines französischen Gendarmen
auf kaum hundert Schritt Entfernung sah, durch ein Dorf, rechts
der rot-weiß-blaue, links der schwarz-weiß-rote Pfahl, schwarze
Elsässer Flügelhauben, grüne Zolluniformen, preußische Pickelhauben
in der sonnenflimmernden Weite und da sein Haus in Montigny. In dem
angekommen, schickte er ein paar Zeilen an seinen Generalstabsoffizier
und dessen Frau und an seinen Divisionsadjutanten mit der Einladung,
heute nachmittag auch seine Gäste zu sein, zündete sich eine Zigarre
an und atmete auf. Uff! Nun war der Stein im Rollen. Wenn man nur eine
Ahnung hätte, ob er die rechte Richtung einschlug. Olaf von Glümke
setzte sich, streckte die bespornten Beine weit von sich und nagte
tiefsinnig an dem blonden, leise angegrauten Schnurrbart. Im Spiegel
drüben sah er sein verwegenes, vom Ritt gerötetes Gesicht. Aber auch
die vielen kleinen Fältchen in dessen gesunder Frische. Nun -- er
war kein Jüngling mehr -- und sie wurde sechsundzwanzig. Frage: was
war bei ihr heute stärker: Kopf oder Herz? Das mochte der Kuckuck im
voraus wissen! ... Er stand wieder auf und fuhr sich mit der Hand
zwischen Hals und Kragen. Er war doch wahrhaftig ein Kerl, der den
Deubel selber am Schwanz zupfte, wenn es gewünscht wurde, aber jetzt
hatte er Angst -- lächerliche Angst, vor einem neuen Korb. Und dann
sein altes Gottvertrauen: diesmal wird's schon werden ...
Als die Gäste kamen, hatte Exzellenz von Glümke wieder ganz seine
weltmännisch sorglose Haltung. Er zeigte ihnen, ehe es dunkel wurde,
Haus und Hof, Stall und Park. Da waren die Köter: Bob, der Foxterrier,
Pluto, der sanftäugige Vorstehhund, Herr Meier, der Hanswurst und
Teckel, mit seinem griesgrämigen Spitzbubengesicht. Und da die
Hühner! Sie waren schon schlafen gegangen. Aber er lockte sie durch
eine Handvoll Körner, die er sich im Stall aus der Haferkiste holte,
wieder von der Leiter. Maxe Ottersleben mußte lachen: ein preußischer
General, der Hühner fütterte! Aber er tat es so unbefangen, mit
sachlichem Ernst, er erinnerte hier in Hof und Feld, zwischen seinem
Getier, so sehr, nicht an einen Würdenträger, sondern an einen
einfachen frischen Landedelmann, daß er ihr dadurch menschlich
näherrückte, ihr geradezu gefiel. Und er selber hob den Kopf von der
Spielerei mit dem Geflügel und nickte ihr zu: »Sie sehen, Fräulein
Maxe: ich hab' schon alle häuslichen Tugenden. Ich bin ein Mensch wie
ein Kind ...«
Dann führte er die Herren zu seinem kleinen Pistolenschießstand. Es
gab etwas ganz Besonderes zu sehen: eine neue Art von Aufsatzspiegel
für eine Birschbüchse, die alles Bisherige übertraf. Gerade jetzt,
im Zwielicht, ließen sich die Vorzüge des Apparats erkennen. Die
Offiziere, alle leidenschaftliche Jäger, umdrängten ihn. Sie stritten
und zielten mit ungeladenem Gewehr in die Dämmerung hinein ...
Den Damen war es zu kalt geworden. Sie suchten das Haus auf. Nur
Maxe Ottersleben stand noch für sich allein, etwas abseits, in dem
kleinen Park. Das feuchte Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen. Ein
schwerer, würziger Hauch stieg aus ihm empor. Vor ihr ging die Sonne
unter, dort drüben, im nahen Frankreich. Als glühende Purpurscheibe
leuchtete sie, blutige lange Schatten werfend, zwischen den Stämmen.
Die erschienen dagegen tiefschwarz. Weiße Nebel umspannen sie,
rieselten in leisem Tropfenfall -- es war ein Herbstabend wie andere
und doch für sie eine unheimliche, atembeklemmende Stimmung und
Stille. Sie wußte: nun kam die Entscheidung ...
In einem neuen Anfall der Hilflosigkeit, die sie seit vierzehn Tagen,
seit der Rückreise von Berlin, gelähmt hielt, dachte sie sich: Ich bin
so einsam. Ich bin so schwach. Viel schwächer, als ich mir einbildete.
Das Zusammentreffen mit Logow hat es mich gelehrt. Seit er es gesagt
hat, daß er mich ... Das ausgesprochene Wort hat solch eine furchtbare
Macht! Es wird zum Herrn, nicht nur des Mundes und Menschen, der es
sprach -- nein -- auch des anderen, der es hörte, wider Willen hören
mußte, wie ich! Jetzt ist mir, als gehörte ich zu ihm. Und darf
doch nicht. Und will doch nicht! ... Und sträube mich dagegen mit
allen Fibern meiner Seele und fürchte mich doch jetzt schon vor der
Macht der Stunde, die uns einmal wieder zusammenbringen kann und
zusammenbringen muß. Ich brauche eine starke Hand, die mir hilft --
die mich hält ...
Sie trat noch weiter in das vom Abendrot purpurschwarz flimmernde
Gehölz hinein, blieb wieder stehen und sagte sich: Ich brauche einen
Boden unter den Füßen, eine Pflicht vor den Augen, einen Zweck im
Leben. Wenn ich den habe, dann kann ich vielleicht auch wieder froh
werden! Ich war's seit Jahren nicht. Ich möcht' es so gern. Ich möchte
mein Dasein genießen wie die anderen. Und wenn es auch nicht das Glück
ist -- du lieber Gott, wo ist überhaupt das Glück? ... mein Glück? ...
Ihr Herz stand still. Sie sah vom Haus aus durch das Abendgrauen
den General von Glümke auf sich zukommen. Er hatte die Herren
hineingebracht und ging, um sie zu suchen. Sein scharfer Blick hatte
sie schon erkannt. Er näherte sich ihr rasch und elastisch, hoch
aufgerichtet, mit bloßem Kopf. Es war Freudigkeit, Werben in seinem
Wesen. Selbstbewußtsein. Er erschien ihr in diesem Augenblick, wo man
trotz der Dämmerung den leisen Silberglanz auf seinem blonden Scheitel
sah, älter als sonst. Aber gerade das gab ihr ein unerklärliches
Zutrauen.
Er blieb vor ihr stehen und sagte: »Ich hab' die Gesellschaft drinnen
verstaut! Ein paar Minuten haben wir Zeit. Aber lange nicht ...«
Dann nach kurzem Schweigen: »Fräulein Maxe! Sie wissen natürlich
genau, was ich Sie fragen will! Haben Sie es sich überlegt, den Tag
über?«
Sie fing heftig an zu zittern.
Er fuhr fort: »Sonst ... noch einmal dränge ich Sie nicht! Ich will
gern warten, bis Sie mit sich ins reine gekommen sind!«
Er harrte, ob sie sich Bedenkzeit ausbitten würde. Als sie stumm
blieb, meinte er: »Fräulein Maxe ... Sie sind inzwischen doch auch
ein paar Jahre älter geworden! Sie haben Ihren Vater verloren. Sie
haben kein Elternhaus mehr. Sie haben den Ernst des Lebens erkannt.
Sie haben gewiß in dieser Zeit doch auch mehr als einmal gefühlt,
wie einsam man sein kann! ... Sie haben sich gewiß manchmal nach
irgendeinem Menschen gesehnt, der es gut mit Ihnen meint. Sie brauchen
doch Schutz und Schirm ...«
Es war beinahe dasselbe in seinen Worten, was ihr vorhin die eigenen
Gedanken gesagt hatten: das Sich-Flüchten zu einem, bei dem man
geborgen war. Sie konnte sich nicht helfen: sie brach plötzlich in
Weinen aus. Da merkte er, daß er sein Spiel gewonnen hatte. Er faßte
im Halbdunkel ihre Hände und zog sie zu sich heran und sagte: »Und Sie
haben doch Ruhe und Frieden und Liebe so nah, Maxe! ... Wenn Sie nur
wollen ...«
Drinnen in dem Hause, dessen Fenster hell in die Nacht
hinausschimmerten, stockte allmählich das Gespräch zwischen den
Gästen. Der Oberst von Ottersleben in seiner Ahnungslosigkeit
wurde unruhig. Er stand auf. »Ich muß doch mal sehen, wo unser
verehrter Festgeber eigentlich steckt!« sagte er, »und meine Nichte
auch!« Zugleich lachte die am Fenster sitzende junge Frau des
Generalstabshauptmanns.
»Sie marschieren ja schon die ganze Zeit vor dem Haus auf und ab und
erzählen sich was! Arm in Arm!«
»Wer?«
»Exzellenz und Fräulein von Ottersleben! Da sind sie ja!«
Die Tür ging auf. General von Glümke stand triumphierend, mit
blitzenden Augen auf der Schwelle.
»Meine Herrschaften! Gestatten Sie: Meine Braut!«
Einen Augenblick war alles sprachlos. Dann entstand ein Durcheinander.
In ihm die Stimme des Obersten: »Na, das ist allerdings eine
Überraschung!«
General von Glümke schlug ihn auf die Schulter: »Aber 'ne famose! Was?
Ich bin so glücklich! Ich möcht' gleich in die Luft springen!«
Er strahlte und wandte sich an Maxe: »Und gefackelt wird nicht? ...
Nicht wahr? Wir heiraten gleich. In acht Wochen bist du Exzellenz!«
12
Aus der Ferne hätte man glauben können, es bellte nur ein einziger,
atemloser, riesengroßer Hund durch das herbstliche Schweigen des
Waldes. Jetzt, als die Meute in den Anfang der langen Schneise
einbog, sah man: es war ein Dutzend Koppeln, vierundzwanzig schwarze
Nasen streiften im Dahinschießen das betaute Gras mit der Spur des
hindurchgeschleiften Fleischsackes, vierundzwanzig Kehlen wiesen
kläffend dem roten Jagdfeld hinter ihnen den Weg, an dessen Spitze
der Master galoppierte, mit langer sausender Holzpeitsche das Rudel
zusammenhaltend und darüber wachend, daß nicht Roß noch Reiter an
ihm vorbeizog und ein achtloser Pferdehuf das kostbare Hundsgebein
schädigte.
Der Waldweg, durch den es dahinging, war schmal, zu beiden Seiten
von Tannendickicht eingesäumt. Quer über ihn liefen in regelmäßigen
Abständen die kunstvoll aufgebauten Hindernisse: eine Hürde nach
der anderen. Die Hunde wälzten sich wie eine weiße, schwarz und
braun gefleckte Welle darüber hin. In ihr Gejanke klang von hinten
der dumpfe Hufschlag. Gaul auf Gaul schnaufte und flog. Und der
Generalleutnant von Glümke, der ganz vorn, dicht hinter dem Master,
neben dem Onkel seiner Frau, dem Husarenmajor Freiherr von Koninck,
ritt, schrie dem lachend durch den Wind zu: »Heute muß die
Gesellschaft Farbe bekennen! Sonst mach' ich's immer so, daß die
schwächeren Elemente um die Hindernisse herumreiten können. Aber am
Hubertustag gibt's kein Pardon!«
Sie waren aus dem Wald hinaus. Die Fährte bog jäh nach rechts, über
freies Stoppelfeld. Ein Graben war davor am Wege: beide nahmen ihn,
und im gemächlichen Weiterkantern frug der Husar: »Wie lange besteht
euer Schleppjagdverein?«
»Das war mit mein erstes, ihn zu gründen, wie ich vor anderthalb
Jahren meine Division wechselte und die vierundfünfzigste hier bekam!«
sagte Olaf von Glümke. »Drunten im Reichsland ... da ist's ja nichts
damit, überall Tabak, Spargel, Hopfen, Wein ... Da könnte man jede
Minute stoppen und mit den Wackes den Flurschaden berechnen. Hier, auf
unseren ollen ehrlichen Kartoffeläckern hat man doch im Herbst die
Ellbogen frei!«
Er streifte sich im Dahinreiten einen Erdbrocken von der Backe, den
ihm der Huf vom Gaul des Masters vor ihm ins Gesicht geschleudert. Der
Generalleutnant Olaf von Glümke war in den zwei Jahren seiner Ehe nun
doch ergraut. Aber es stand ihm vortrefflich: zu dem rosigen Hauch
des Gesichts, dem feurigen Blau der Augen dieser silberne Schein. Er
verband jetzt Schneidigkeit mit Würde. Wie er da mit seiner straffen
Rassegestalt, im roten Frack und hohen Hut, zu Pferde saß, wirkte er
wie ein vornehmer Herr, ein Großer des Landes, der vor seinen Gästen
meilenweit über eigenen Grund und Boden dahinjagte.
Der Freiherr Wilderich von Koninck war nur zu Besuch von seiner
Garnison herübergekommen. Er wischte sich, die Zügel in der Linken,
den Schweiß von dem rötlichen, vom Monokel überglitzerten Weingesicht.
»Also bist du mit deinem Garnisonstausch zufrieden?« rief er durch den
Heidenlärm der Hunde.
Olaf von Glümke nickte. »Erstens hab' ich da nicht zu fragen, sondern
geh dahin, wo's der Allerhöchste Herr befiehlt. Und zweitens: wenn ich
meine Frau hab', meine Pferde und meine Division, dann kann mir der
Rest der Welt überhaupt gestohlen werden!«
Sie mußten stoppen. Das Gelände war auf eine Strecke hin zu miserabel.
Hinter ihnen kam die Jagd heran. Das weite Ackerfeld war rot von
Fräcken und bunt von Uniformen. Rappen und Füchse, Braune und Schimmel
stürmten um die Wette. Es waren an die vierzig Reiter, zwischen
ihnen auch einige Damen. Der General strahlte plötzlich. Er wies auf
Maximiliane, die auf einem hochbeinigen, kastanienfarbenen irischen
Hunter unter den vordersten Herren die sanft abfallende Fläche
heraufgaloppierte, die schlanke Gestalt elastisch im Sattel gebogen,
den blonden Kopf gegen den Wind geneigt, die Wangen unter dem Schleier
von der Herbstluft gerötet.
»Nu sieh dir mal die Maxe an! Hand aufs Herz, alter Schwede: ist sie
nicht einfach famos?«
Wilderich von Koninck, der graue Junggeselle, mußte über den
verliebten Ehemann lachen. Aber innerlich gab er ihm recht: die
junge, blonde, rotbefrackte Exzellenz im Sattel da hinten war eine
entzückende Frau.
Olaf von Glümke ließ das Auge nicht von ihr, voll Stolz: »Und wie
sie reitet! ... Furcht kennt sie nicht! Vor zwei Jahren, wie wir
heirateten, da hatte sie noch nie im Sattel gesessen. Du weißt: ihr
Vater, der olle Ottersleben, war nicht sehr für die Gäule! Der hielt's
nur mit dem Schießen! Aber sie hat's spielend nachgelernt.«
Sie konnten jetzt schon wieder traben. Die Hunde waren unsichtbar. Man
hörte sie nur hinter einem dicken Buschwald. Die ganze Gegend war voll
Hecken und eingeschnittene Bäche.
»So ungefähr sah das Vergnügen in Lothringen aus!« sagte Olaf von
Glümke zu dem Husaren. »An sich ist's ja eine Ehre, in Metz auf
Vorposten zu stehen! ... Aber 's war für mich auch noch ein besonderer
Grund, der mir das Scheiden erleichterte: mein Schwager Logow! Du
weißt: den haben sie bald nach meiner Heirat doch als Hauptmann und
Kompaniechef in so ein verfluchtes lothringisches Grenznest versetzt!
... Da sitzt der Mann nun -- in einer Gegend, in der sich tatsächlich
Fuchs und Wolf gute Nacht sagen!«
»Ein verfluchter Sprung -- vom Generalstab in Berlin!«
»Na ... sollte sich lüften! ... Macht auch nichts! ... Eine Weile
Frontdienst tut immer gut. Ich bin auch Frontsoldat. Ich möchte jetzt
noch beinahe heulen, wenn ich mich hinsetzen und Berichte schreiben
muß. Aber glaubst du, der Logow oder seine Frau hätten je in den vier
Monaten, die ich nach unserer Hochzeitsreise noch in Metz war, den Weg
zu uns gefunden? Oder sonst was von sich hören lassen?«
»Nanu?«
»Schnitten uns! Schnitten uns nach allen Regeln der Kunst! Was wir
ihnen getan haben, wissen die Götter. Schließlich: er war ja nicht in
meiner Division. Aber ich bin General und er Hauptmann. Man kam sich
schon ganz dumm vor, wenn man nach den sonderbaren Leuten gefragt
wurde!«
Olaf von Glümke schüttelte sich, mit einer flotten Kopfbewegung, die
ganze Geschichte aus dem Sinn. Wozu auch Grillen fangen? Über einem
war der Himmel blau, die Mittagsonne vergoldete heiß die Heide, dort
bellten die Hunde, da war seine Frau, das Leben war so schön! Er
drückte sich die Hutkrempe fester in die Stirne und sprengte wieder
zum Galopp an.
»Nu kommt der Hauptspaß! Das Hubertushindernis! Da: beim Försterhaus!«
Das Gebäude lag einsam im Walde. Ein umfriedeter Obstgarten davor.
Die Meute sprang mit den Vorderpfoten an den Rand der Steinmauer,
arbeitete sich hinüber und verschwand. Hinterher die ersten Pferde.
Freiherr von Koninck sah sich ratlos zwischen den Bäumen.
»Gerechter Strohsack -- wo geht's denn weiter?«
»Da, mitten durchs Haus!« Der Generalleutnant strahlte. Das hatte er
sich so ausgedacht und dem Förster dafür hundert Mark gegeben. Er hob
warnend die Hand. »Achtung! ... Bücken! ... Nicht oben anstoßen!« Die
Hufe der Pferde donnerten auf den Backsteinen des Flurs, als wäre man
mitten in einer feuernden Batterie. Schattenhaft flogen Dinge vorbei
-- Hausgerät -- ein paar Kindergesichter hinter dem verschlossenen
Küchenfenster. Dann führte es auf der anderen Seite durch das breite
Tannentor wieder ins Freie. Der Obstgarten hinten war rot von
Reitern. Immer neue flogen herüber. Die Backsteinsplitter der Mauer
deckten weithin das Gras. Jenseits von ihr war Geschrei und Gelächter.
Helle Damenstimmen dazwischen. Ein paar Rosse waren abgeschrammt und
wollten nicht über das Hindernis. Ein dicker Herr saß auf dem Boden
und hielt krampfhaft an langen Zügeln sein Roß fest, das sich um ihn
drehte, als wollte er's longieren. Ein Fähnrich stand neben seinem
Rappen und rieb sich mit schmerzlicher Heiterkeit das Schlüsselbein,
das seinen ersten Knacks in seiner Kavalleristenlaufbahn abbekommen
hatte. Über das Feld hin lief eilig ein reiterloser Gaul in der
Richtung auf die Stadt, als habe er dort dringend im Stall zu tun. Vor
dem Engpaß des Hausflurs staute es sich in einem Gedränge, daß man
nur noch im Schritt hindurchreiten konnte. Von drüben hörte man die
dumpfen Hufschläge des Angaloppierens. Es galt, den niederen, schon
vielfach zersplitterten Staketenzaun am Weg zu nehmen. Der General
von Glümke war schon drüben. Da sah er seine Frau, im Begriff, das
Hindernis zu überspringen, und machte eine plötzliche abwehrende
Bewegung.
»Nein -- du nicht ... Reite lieber ganz langsam hier durch die Lücke!«
Einen Augenblick zuckte es in ihr von Reiterlust. Dann gehorchte sie
ohne Besinnen. Man sah: sie war es gewöhnt, sich ihm vertrauensvoll
unterzuordnen.
»Du -- warum soll ich denn auf einmal den Drückeberger spielen?« frug
sie lachend im Herankommen.
Sein scharfes Auge haftete prüfend an den Beinen ihres Braunen.
»Die ›Griseldis‹ lahmt! ... Da ... jetzt sieht man's. Ganz deutlich!
Du kannst nicht weiter reiten, Kind! Das Biest gehört schleunigst in
den Stall. Hilft nichts! ... Marsch! Wir müssen heim!«
Sie sah die Betrübnis auf seinen Mienen. Es tat ihr leid, daß er seine
geliebte Hubertusjagd, auf die er sich seit Wochen gefreut hatte,
nicht zu Ende reiten sollte.
»Schau, daß du den anderen nachkommst!« sagte sie. »Die haben schon
einen mächtigen Vorsprung! Da ... Herr Gutgesell begleitet mich gewiß
gern nach Hause!«
»Selbstverständlich, Exzellenz!«
Der Divisionsadjutant, Major Gutgesell, verbeugte sich im Sattel. Olaf
von Glümke ließ sich das nicht zweimal sagen. Der Jagdeifer zitterte
in ihm und seinem Gaul. Er gab dem mächtigen Wallach den Kopf frei und
schoß, gleich einem roten Blitz, durch das krachende Unterholz hinter
dem Felde her, das gottlob gerade eben vor einer jähen Bodensenkung
den Galopp verlangsamte.
»Gruß an Mama!« schrie er noch zurück und dann lachend zu dem Major
von Koninck, der bis dahin auch bei seiner Nichte geblieben war:
»Komisch: so ein alter Kerl wie ich und noch 'ne Schwiegermutter! ...
Aber ich komm' ganz gut mit deiner Schwester aus! Wir haben sie schon
vier Wochen zu Besuch!«
»Na -- natürlich hat sie vor dir einen Heidenrespekt!«
»Vor mir nicht den geringsten!« sagte der General von Glümke
kaltblütig. »Aber die Maxe ... die imponiert ihr! Denk mal: drei
Töchter -- die eine 'ne kleene Hauptmannsfrau, die andere 'ne kleene
Leutnantsfrau, und nun die mittelste, dies vermeintliche Entenküken,
Exzellenz! ... Nee -- sie ist wie Zucker! Ich kann nicht klagen!«
Sie kamen eben noch bei dem Abstoppen zurecht und mischten sich unter
die Rotröcke. Dann verlor sich das ganze Hussa und Hallo über den Kamm
abwärts, und es wurde totenstill, während Maximiliane von Glümke und
ihr Begleiter im Schritt den Rückweg antraten. Eine halbe Stunde ging
es. Da hielt sie an und ließ sich von ihm aus dem Sattel helfen.
»Die ›Griseldis‹ quält sich zu sehr! Am besten ist's, Sie reiten
voraus und holen für mich einen Wagen. Ich warte unterdessen hier!«
Der Divisionsadjutant gehorchte und sprengte davon. Maximiliane
ließ sich auf einem durchsonnten Baumstumpf am Rande einer Lichtung
nieder. Das Pferd stand friedlich neben ihr, mit langen Zügeln an
einer Wurzel am Boden befestigt, und graste. Es war eine tiefe,
feierliche Ruhe umher. Ganz in der Ferne lärmte und krächzte ein
Flug Holzhäher in alten Eichen. Dann verlor sich auch das. Manchmal
ein leises Schnauben des Gaules und wieder die traumhafte Stille, so
unwahrscheinlich für die Ohren, in denen immer noch Hufschlag und
Hundegebell nachzitterten, um die immer noch der Wind zu fegen schien,
während doch da draußen in der lauen, unbewegten Luft die weißen
Sommerfäden kaum merklich dahintrieben und höchstens einmal ein leises
Zittern durch die braunen und bunten Blätter ging. Silbern spannte
sich der Himmel. Die Sonne schien, nicht mehr mit sengender Glut, nur
milde und wärmend. Und die Seele der jungen Frau, die ruhig, den
blonden Kopf gesenkt, in ihrem leuchtendroten Frack und dunkeln Kleid,
die Hände im Schoß verschlungen, auf dem Baumstumpf saß, war wie ein
Widerschein dieses Herbsttags, klar und heiter. Es war ihr neu, diese
plötzliche Einsamkeit. Sie konnte sich kaum erinnern, seit langem je
so mit sich allein gewesen zu sein, immer waren in diesen zwei Jahren
ihrer Ehe Menschen um sie gewesen, immer etwas los, immer schlang sich
das Morgen an das Heute, in ewiger glitzernder Kette. Zum Besinnen war
eigentlich nie Zeit an der Seite eines so ungestüm lebenden Mannes
wie Olaf von Glümke. Der riß einen mit sich fort. Man mußte die Augen
zumachen und lachen und sich dahintragen lassen. Es war wie eine
einzige wilde Jagd. Es war auch gut so. Zum Kopfhängen war da kein
Platz. Und kein Grund. Und gar keine Lust ... Sie hatte ihren Mann. Er
war immer da. Sie hätte ihn hier an ihrer Seite haben können, wenn sie
gewollt hätte. Und so würde es bleiben, so lange er lebte. Man war so
geborgen bei ihm. Man stand neben ihm hoch über der Menge. Man hatte
Grund, dem Schicksal dankbar zu sein.
Der Gaul erschrak über etwas und machte einen Sprung am Zügel. Sie
hob ärgerlich den Kopf und rief: »Steh still, du alte Rammsnase!« Sie
war böse auf das Tier, daß es ihr das Jagdvergnügen gestört hatte,
und gestand sich gleich darauf selber: wenn einem so was noch Kummer
bereitet, dann hat man wirklich keine großen Sorgen im Leben! -- Ihre
Züge wurden dabei ernster. Sie saß mit halbgeschlossenen Lidern und
träumte. Es war so wundersam, dieser Frieden, diese Einkehr, dies
Schweigen im Walde. Es war wie eine verwunschene Welt. Die Gegenwart
weg. Man schaute hellsehend auf sich und sein bißchen armen krausen
Lebenslauf zurück und konnte die Hände falten und sich in der Stille
sagen: ›Gottlob -- ich hab' mich nicht in mir verzehrt! Ich hab' die
Kraft gefunden, über mich und meinen Schmerz hinauszukommen. Das
Irren und Sehnen liegt hinter mir. Ich hab' begraben, was mir nicht
beschieden war. Mein Mann ist mir nah. Ich steh' mit beiden Füßen fest
im Leben, und meine Augen sind klar.‹
Aus der Ferne tönte, rasch näherkommend, das Rollen eines Jagdwagens.
Der Major Gutgesell lenkte ihn selbst. Ein Bursche mit einer
Stalldecke saß hinten. Maximiliane von Glümke fuhr sich mit der Hand
über die Wimpern und wurde wach. Und während sie sich elastisch erhob,
atmete sie tief auf und sagte sich noch einmal: »Ja. Es war besser so.
Tausendmal besser!«
Zu Hause eilte sie, so wie sie war, das kurze Reitkleid raffend,
in hohen Stiefeln und Sporen, den Hut schief auf den zerzausten
blonden Haaren, aus denen die Hälfte der Nadeln beim Galoppieren
herausgeflogen war, den dünnen Reitstock in der Hand, hinüber in das
Gastzimmer zu ihrer Mutter und rief schon beim Eintreten: »Was hör'
ich denn da, Mama? Die Leute sagen, du packst? Was ist denn passiert?«
Frau Oberst von Ottersleben war in den Jahren nach dem Tode ihres
Mannes, seitdem nicht mehr die Sorgen des großen Hausstandes auf
ihr lasteten und die Kinder alle untergebracht waren, eher jünger
geworden. Sie hatte noch die hohe, schlanke Gestalt ihrer Tochter und
sah mit ihren verwitterten, aber vornehmen Zügen so aus, als sei sie
in ihrer Jugend ebenso schön gewesen wie jene. Sie nickte, neben einem
offenen Koffer stehend, der jungen Exzellenz zu. »Ich bin zu besorgt,
Maxe ... Vorhin ist ein Brief von Ulla gekommen. Sie schreibt, es gehe
ihr seit ein paar Tagen ganz elend! Oder vielmehr -- sie schreibt
nicht selbst. Es ist eine fremde Hand. Nicht die Erichs. Sie diktiert
offenbar einer Pflegerin. Das ängstigt mich zu sehr! Wenn sie dort
schon so weit sind ...«
»Mama ... Ulla fehlt doch immer etwas!«
»Ja, aber das klingt diesmal anders, Maxe! Ich kann mir nicht helfen
... Ich fahr' mal hin!«
Frau von Ottersleben packte weiter.
»Ihr Mann klagt doch immer, daß sie mit ihrer Gesundheit so dumme
Streiche macht!« meinte sie dabei. »Es ist ja überhaupt eine unselige
Ehe! ... Wenn ich an die stillen, zufriedenen Grotjans denke ...
Oder nun gar an dich ... Man muß nur nicht unfreundlich gegen seine
Geschwister sein, wenn man so hoch gestiegen ist wie du. Dann gerade
nicht!«
»Das liegt auch wirklich nicht in meiner Art, Mama! Sag mir nur, wo
ich helfen kann!«
»Ach ... helfen ... Kind ... nur ein gutes Wort mal an rechter Stelle
... Ein wenig freundliches Entgegenkommen ... Sieh mal ... Den Logows
geht es wirklich nicht gerade gut. Sie sitzen da in einer Garnison,
die schauerlich ist -- und vielleicht auf lange Jahre ... Denn wer
weiß, ob Erich je wieder in den Generalstab zurückkommt? Mir scheint,
seine Aktien stehen nicht sehr günstig ...«
»Auf das alles kann ich doch keinen Einfluß nehmen, Mama ...«
»Nein ... ich meine nur ... Wenn ich jetzt hinkomme, könnte ich
vermitteln ... Du könntest den ersten Schritt tun ... ihnen die
Hand hinhalten ... denn es ist doch irgend etwas vorgekommen ... Es
~muß~ etwas gewesen sein zwischen euch ...«
»Nicht das Geringste!«
»Aber ihr habt euch doch seit zwei Jahren, seit Ottos Hochzeit, nicht
mehr gesehen ...«
»Kann ich dafür? Von ihrer Garnison nach Metz waren es zwei Stunden
Eisenbahnfahrt. Sie sind nie gekommen. Ich hab' im Lauf der Zeit
dreimal an Ulla geschrieben. Sie hat nie geantwortet. Ja, ich kann
ihnen doch nicht nachlaufen!«
»Freilich nicht!« pflichtete Frau von Ottersleben bei. Sie war
schließlich immer der Meinung der Tochter, die sie jetzt als das
eigentliche Familienhaupt betrachtete. Sorgenvoll fuhr sie mit ihr zum
Zug und freute sich doch in ihrem Mutterstolz über die ehrerbietigen
Blicke, die sich von überallher auf die blonde Exzellenz richteten.
Die stand auf dem Bahnsteig und winkte ihr nach. Und mit dem rasch
kleiner werdenden, in die Dämmerung hinausrollenden Wagen flogen
auch Maximilianes Gedanken noch einmal hinüber in das Reichsland.
Aber das war so fern. Die Vergangenheit dort in der Weite schlief.
Die Maxe Ottersleben von einst war tot. Um sie war die Gegenwart.
Und die Gegenwart hatte recht. Die schöne junge Generalin von
Glümke hatte ihren Wagen vorausgeschickt und schritt zu Fuß durch
das Menschengewimmel der Straßen nach Hause. Die Damen, die ihr
begegneten, neigten eilig zuerst den Kopf, die Offiziere grüßten in
jähem, beinahe dienstlichem Zusammenfahren, die Herren vom Zivil
mit tiefem Hüteabnehmen. Die Geschäftsinhaber verbeugten sich in
ihren Ladentüren, Stadträte machten im Vorbeigehen ihren Bückling,
Dienstmänner und Droschkenkutscher lüfteten ihre roten Kappen und
weißen Zylinder -- sie war die erste Dame nicht nur der Garnison,
sondern der ganzen großen Stadt. Denn der Regierungspräsident, der dem
Divisionskommandeur im Range gleichstand, war Witwer.
Ein Krümperwagen mit einem Dragoner auf dem Bock rasselte vorbei.
Innen saßen, dicht aneinandergeduckt, ein paar der Rotröcke in dicken
Mänteln, mit hochgeschlagenen Kragen, und eine kleine, in einen
Automobilpelz eingemummelte Blondine. Die Jagd war zu Ende. Frau
von Glümke blieb stehen und rief mit ihrer hellen Stimme: »Liebste
Mensingen ... Ist mein Mann schon zurück?«
»Eben ist er in Ihr Haus, Exzellenz!« klang es aus dem Pelzgewirr.
Maximiliane eilte sich, heimzukommen. Oben auf der Treppe traf sie
den General und fiel ihm lachend um den Hals. Er küßte sie zärtlich.
Er war in rosigster Laune. Die Hubertusjagd war herrlich verlaufen.
An Akzidents nur ein angeknicktes Schlüsselbein und ein gequetschter
Knöchel. So fiel kein Schatten auf den Ball heute abend.
»Da wirst du die Schönste sein,« sagte er strahlend. »Immer bist du
die Schönste! ... Was? Mama ist abgereist? So -- so? Na ... Das ist nu
ja recht schade!«
Er heuchelte Kummer über die fehlende Schwiegermama. Er baute als
Militär dem fliehenden Feind goldene Brücken. Innerlich dankte er
seinem Schöpfer, daß er mit Maxe wieder allein war. Er faltete
vor Entzücken die Hände, als er sie ein paar Stunden später in
ihrem Ballstaat vor sich sah, in einem ausgeschnittenen schwarzen
Seidenkleid, das, mit einem zarten Rankengeflecht weißer Rosen bemalt,
ihre blonde Schönheit umschloß.
Maximiliane hatte ein paar fast gleichaltrige Freundinnen unter
den höheren Chargen der Garnison. Der Zufall wollte es, daß Frau
Generalmajor Klober erst zu Mitte der Dreißig stand, und Frau Oberst
von Mensingen sogar noch ein paar Jahre weniger zählte. Die jungen
Spitzen der Gesellschaft bildeten auf dem Ball eine Ecke, Hauptmanns-
und Leutnantsfrauen um sie herum. Und in dem Gefächel und Geschwatze
eine ewige Reihe von Anliegen, Bitten, kleinen und großen Sorgen und
Noten, die sich an Maximiliane drängten. Eine grauhaarige Matrone
hielt ihre Hände fest und dankte herzlich: »Es ist wirklich zu gütig,
Exzellenz, wenn Sie meine Tochter mit zum Ball des Kommandierenden
nehmen! Das wird das arme Kind ein bißchen aufheitern! Exzellenz
wissen ja ...«
»... daß man den nicht immer kriegt, den man haben möchte!« sagte
Maxe leise. »... Ja ... leider ... das ist der Lauf der Welt.«
Sie wandte sich zu einer anderen. »Ja -- natürlich komm' ich zur
Einsegnung Ihrer Grete -- das fehlte noch! ...« und nickte dann
einem jungen ernsten Offizier zu, der sie schweigend, fast ängstlich
ansah. »Ich denke, wenn Sie durchaus auf acht Wochen nach England
zu Studienzwecken müssen, wird man höheren Orts wohl nichts dagegen
haben!« Und noch im Weggehen fügte sie lachend und leise hinzu: »Aber
zu Ihrer Hochzeit mit Miß Jones laden Sie mich dann ein, Herr von
Petersheim! Das bitt' ich mir aus!«
»Maxe ... du mußt das Protektorat über den Basar am Fünfundzwanzigsten
übernehmen!« rief Frau Klober ihr entgegen, als sie zu den Damen
zurückkehrte, und die Generalin von Glümke seufzte: »Kinder ...
ich glaub', es ist dies Jahr schon der elfte! Und drei Tage später
drüben der Ball beim Oberpräsidenten! Da gehen immer zwei Tage drauf,
mit der Eisenbahnfahrt und dem Übernachten! Der Divisionsball dort
steht auch noch aus. Ich kann mich doch bald auf mein Zimmer Nummer
Fünfundvierzig im ›Deutschen Kaiser‹ abonnieren.« Sie setzte sich
und strich sich die rosenbemalten Seidenfalten ihres Rockes glatt.
»Wißt ihr, wieviel Leute ich den Winter einladen muß? Nicht will,
sondern muß? Ratet mal: Vierhundertelf! Angenehm? Nicht? ... Nächste
Woche hab' ich die Regierung bei uns ... Herrenessen ...« Sie drehte
das blonde Haupt zu einer Dame, die hinter ihr stand. »Ja natürlich,
Liebste, geb' ich den großen Saal in unserer Dienstwohnung zur
Tanzstunde! Schickt nur eure Lämmer! ... Aber nachgerade wird's mir
schon ein bißchen schwubblig!«
»Wart nur, bis du erst Kommandierende bist!« meinte die Generalin
Klober, und Maxe lachte und spitzte die Lippen.
»Tü -- tü ... um Gottes willen, beruf's nicht! Wenn das mein Mann hört
... Der ist darin abergläubisch wie ein Türke ... vorläufig bin ich
auch so zufrieden!«
»Das glaub' ich!« sagte Frau von Mensingen zu ihrer Nachbarin. »Noch
nicht achtundzwanzig und schon zwei Jahre Exzellenz ...«
Die Nacht war weit vorgerückt. Ein feiner Hauch von Staub, ein
Zittern von Hitze, eine helle Flut von Licht lag über dem Wiegen der
Walzertakte, dem Wirbeln und Schleppenfegen der Paare. Maximiliane von
Glümke tanzte, von der Jagd noch müde, weniger als ihr Mann. Sie sah
seinen ritterlichen Graukopf drüben im vollen Trubel.
Eigentlich war das Fest schon zu Ende, der Schlußgalopp getanzt, die
meisten brachen auf. Aber Olaf von Glümke hatte noch lange nicht
genug. Er etablierte mit seiner Frau, deren Freundinnen und der
jungen Welt eine Kaffeeecke. Aus dem Kaffee wurde unter seinen Händen
Sekt. Immer neue Flaschen! ›Herrgott, Kinder -- nu mal los! Nur keine
Müdigkeit vorgeschützt! ...‹ Seine Augen blitzten. Er lachte. Er trank
den Damen zu. Er schwatzte Unsinn. Der Morgen graute schon, als man
endlich nach dem Bahnhof schickte, um Nachtdroschken zu holen. Denn
ehe er die eigenen Pferde im Winter stundenlang warten ließ, wäre der
General lieber mit seiner Frau zu Fuß im Schnee heimgegangen.
Im ersten Dämmern fuhren sie durch die menschenleeren Straßen nach
Hause. Er sprach unterwegs in einem fort. Er war unermüdet. Der
anstrengende Tageslauf -- gerade jetzt vor vierundzwanzig Stunden
heraus -- ein Morgenritt über die Exerzierplätze der verschiedenen
Waffen, Aktenarbeit mit dem Adjutanten, die Hubertusjagd, wieder
nachmittags Schreibwerk mit dem Generalstabshauptmann und nun der Ball
-- das alles war beinahe spurlos an seiner Elastizität vorübergegangen.
Sie hatten ihre Dienstwohnung erreicht. In der Vorhalle lag eine
uneröffnete Depesche. Exzellenz von Glümke hauchte den verschlafenen
Burschen an.
»Warum hab' ich die nicht gleich nachgebracht gekriegt -- he? Du
möchtest wohl abgelöst werden, mein Sohn? ... Du sehnst dich wohl
danach, draußen mal wieder so recht nach Herzenslust Griffe zu kloppen
-- was?«
»Nein, Exzellenz!«
»Na -- dann ab!« Der General öffnete das Telegramm. Sein Gesicht wurde
ernst. Er reichte das Blatt seiner Frau.
Sie las: »Bin soeben hier angekommen. Finde Ulla zwischen Tod und
Leben. Plötzliche schwere Lungenentzündung. Mama.«
Die beiden Gatten sahen sich stumm an. Dann sagte er: »Ja -- da hilft
nichts! Wie sich die Logows sonst zu uns gestellt haben, das ist in so
'nem Moment ganz egal! Du mußt hin ... Schon, um deine Mutter in einer
so schweren Stunde nicht allein zu lassen! ... Ich kann dich beim
besten Willen nicht begleiten, mit der Rekrutenvereidigung morgen ...
Ich komme, so bald ich kann, nach ...«
Er sah seine Frau forschend an. Es wunderte ihn, daß er ohne Antwort
blieb. Aber da versetzte sie schon ruhig: »Du hast recht! Da gibt's
keine Wahl. Ich fahre mit dem nächsten Zug.«
13
Spät am Nachmittag hielt der Eilzug zum Wagenwechsel an einer
winzigen elsässischen Station. Von hier führte eine kleine Stichbahn
in das Vogesental hinein. Langsam rollten die Wagen dahin. Durch
die vom Regen blinden Scheiben glitt vor Maximiliane von Glümke
schattenhaft draußen das graue Land vorbei, auch jetzt noch, im
trüben Herbstdämmern, südlicher als sonst das Deutsche Reich. Kahle
Rebengelände, entblätterte Edelkastanien, Fabrikschlote, auf den
Bahnhöfen deutsche und welsche Leute durcheinander -- man war hier
kaum weiter als eine Stunde von Frankreich entfernt. Es troff immer
dichter vom Himmel. Es war kalt. Die junge Frau schloß ermüdet die
Lider und fuhr aus dem Halbschlaf wieder empor und schaute um sich und
frug: »Herrgott -- wo bin ich denn?« Und dann wußte sie es wieder:
dieser weltverlassene Flecken da vor ihr im nebligen Talkessel, dem
sich die Lokomotive in fortwährendem, aufgeregtem Pfeifen näherte, mit
seinen mächtigen, funkelnagelneuen, ziegelroten Kasernen und den paar
Offiziersvillen dicht dabei und der weiten, kahlen, pappelumstandenen
Fläche des Exerzierplatzes da drüben, das war die Garnison der Logows
in den Vogesen.
Sie hatte ihnen ihre Ankunft nicht gemeldet. Niemand empfing sie.
Auch kein Wagen war zu finden. Sie ließ ihr Gepäck auf der Bahn und
schritt zu Fuß im Regengeriesel den kotigen Weg über die Felder zur
Stadt.
Ein Gendarm kam ihr entgegen, lang, mager, schnauzbärtig, wie die
Verkörperung preußischer Zucht in diesem Lande. Sie frug ihn nach der
Wohnung des Hauptmanns von Logow. Er wies ihr die zweite der vier
oder fünf Villen am Wege. Regenverwaschen, mit offenem Gittertor und
herbstlich ödem Vorgarten lag dieses kleine Haus freudlos da. Zwei
Damen traten aus der Tür, offenbar Offiziersfrauen, die sich nach dem
Befinden der Patientin erkundigt hatten, und warfen den neugierigen
Blick von Kleinstädterinnen, die plötzlich ein fremdes Gesicht sehen,
auf Maximilianes elegante Erscheinung. Sie schritt an ihnen vorbei in
den Flur. Ihre Mutter hatte sie vom Fenster aus gesehen und kam ihr
entgegen.
»Wie geht's, Mama?«
»Immer gleich! Vor morgen, sagt der Stabsarzt, kann man nichts wissen!
...«
»Ist Erich da?«
»Nein. Im Dienst! Was soll er auch hier? Wir können nichts tun als
warten. Aber leg doch ab, Kind.«
Es dämmerte in den niederen Wohnräumen. Die junge Generalin setzte
sich ermüdet hin. Ihre Mutter ging ab und zu, um Kaffee für sie zu
besorgen. Inzwischen sah sie sich stumm in Erich von Logows vier
Wänden um. Sie kannte alle diese Dinge: die Rehgehörne und Waffen, das
altväterische Schreibpult, die Büsten Napoleons und Friedrichs des
Großen, die Briefbeschwerer und Granatsplitter wurden lebendig. Sie
flüsterten von der Vergangenheit. Die Lampe auf dem Tisch erzählte von
stillen Mitternachtstunden in Berlin. Das war schon so endlos lange
her -- scheinbar ein halbes Menschenleben und mehr. Es war alles so
anders geworden -- so seltsam. Maximiliane dachte sich: Was machen die
beiden nur, Erich und seine Frau, hier, ganz aufeinander angewiesen?
Ulla hat keine geistigen Interessen. Sie ist nicht musikalisch.
Sie treibt keinen Sport. Sie ist nur schön. Und dazu braucht sie
einen anderen Hintergrund als diesen weltfernen Vogesenwinkel. Um
den herum schweigen die Wälder, der Wind pfeift, der Regen rauscht,
auf dem Exerzierplatz blasen und trommeln die Spielleute, von den
Schießständen kommt ein ferner Knall nach dem anderen -- sonst dringt
kein Laut von außen in diese Herbsteinsamkeit. Hier müssen zwei
einander schon sehr, sehr lieb haben, damit ihnen die Tage nicht lang
werden. Erich hat ja noch seinen Dienst, seine Kompanie. Aber trotzdem
... auch seine militärische Laufbahn hat er sich anders, ganz anders
gedacht ...
Womit beschäftigte er sich wohl, wenn er nicht seine Leute drillte
oder auf die Jagd ging? Sie trat an den Schreibtisch. Auf dem lag
eine aufgeschlagene spanische Grammatik. Wie kam er gerade auf diese
Sprache, die für die deutsche Armee doch völlig belanglos war?
Nebenan am Boden lehnte der große Andrésche Handatlas. Er war bei der
politischen Karte von Südamerika aufgeklappt. Sonderbar. Sie wandte
sich ab und schaute durch das Fenster. Weit drüben bogen sich die
Zypressen des Kirchhofs im Sturm. Es fiel ihr ein, daß die Logows
dort vor dreiviertel Jahren ihr einziges Kind begraben hatten. Es
hatte nur vierzehn Tage gelebt. Es war schon wahr: sie fanden hier
nicht Glück noch Stern! Und wer mochte wissen, wie lange sie hier
noch bleiben mußten und ob man ihn je wieder in den Generalstab
oder die Adjutantur berief. Das hier, das war so recht ein Ort zum
Vergessenwerden ...
Nebenan lag still die kranke Frau. Maximiliane hatte ein paarmal
behutsam durch die Türspalte hineingeblickt. Sie hatte das schlafende,
schöne Antlitz geschaut, das jetzt in der Fieberröte so unheimlich
verändert und belebt aussah. Sie drückte leise wieder die Klinke zu
und begann sich nützlich zu machen. Sie schrieb einen Stoß Depeschen
und Briefe an die Verwandten und trug sie selbst in das Städtchen
hinein, auf die Post. Dann kehrte sie auf demselben Weg zurück.
Dabei erschrak sie plötzlich. Sie ging über das freie Feld, der
Exerzierplatz lag weitab zur Linken. Ein Fußpfad führte von ihm
herüber. Auf ihm näherte sich ein Offizier. Sie erkannte den Hauptmann
von Logow. Er schritt rasch und gleichmäßig dahin, den Blick am
Boden, dessen lehmige Wasserlachen seine hohen Stiefel bis zum Knie
bespritzten. Der Regen schlug ihm gerade in das strenggeschnittene,
finstere, schnurrbärtige Gesicht. Er achtete nicht darauf. Er sah
auch, in seine Gedanken versunken, Maximiliane noch nicht. Sie hätte
noch umdrehen können. Aber sie sagte sich entschlossen: ›Wozu? Einmal
müssen wir uns doch begegnen!‹ und setzte ruhig ihren Weg fort.
Da riß er plötzlich die Augen auf, machte halt und starrte sie an
wie einen Geist, der im Zwielicht aus Nebel und Regengrau vor ihm
aufgestiegen war. Er stand da. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
Sie gab ihm die Hand.
»Guten Tag, Erich! Ich bin lieber gleich einmal herübergekommen!
Gottlob ist es ja nicht schlimmer geworden ...«
»Nein! ... Bis jetzt nicht ...«
Sie gingen zusammen weiter. Sie schwiegen beide. Ein stöhnender
Windstoß glitt über sie. Nässe umsprühte sie. Am Himmel flogen
die Regenwolken, hingen schwer zu Tal. Ein altes Schloßgemäuer
schimmerte grau und zerfallen hoch oben am Berghang. Es war schon halb
verschwommen. Alle Dinge umher schattenhaft, unwirklich im Nahen der
Nacht ...
Er erzählte von Ulla und ihrer Krankheit in einer kalten,
trocken-sachlichen Art. Dann brach er plötzlich geistesabwesend ab und
schaute von Maximiliane weg ins Leere, so müde, wie sie es an ihm nie
gesehen. Eine Hauptmannsfrau seines Regiments kam ihnen entgegen. Er
sprach mit ihr beiseite. Seine Schwägerin hörte seine Bitte, ihm doch
eine Matratze oder so etwas zu schicken, daß er sich für die Nacht
irgendwo auf dem Boden ein Lager machen könne. Sie hätten das ganze
Haus voll -- Schwiegermutter, Schwägerin, die Barmherzige Schwester --
er wisse nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe ...
Er tat ihr so leid, mit diesen Lasten des Alltags, die ihm wohl auch
in Ullas gesunden Zeiten niemand abnahm. Da vor dem Hause stand schon
wartend der Feldwebel mit seiner Brieftasche. Eine Sekunde war Erich
von Logow bei seinem Anblick nervös. Dann sagte er mit dienstlicher
Ruhe: »... Abend, Krause! ... Morgen ist Sonntag ... Also nur nach dem
Kirchgang Appell im Ausgehanzug. Dazu Herr Oberleutnant Kupper. Ich
für meine Person möchte gern morgen etwas Ruhe. Ist die Schießkladde
drinnen? Der Strafrapport für den Monat auch? ... Schön! ...«
Der Feldwebel machte linksum kehrt und verschwand schweren Schrittes
im Dunkel der Nacht, die nun schon alles umhüllte. Nur vor dem Eingang
der Villa zitterte das Licht einer Laterne. An der schritten sie
beide vorbei und wieder zurück, ein-, zweimal. Er konnte sich nicht
entschließen, mit ihr einzutreten. Er kämpfte mit sich. Plötzlich
blieb er stehen und versetzte hastig: »Bevor du mein Haus betrittst,
Maxe ... und mir damit einen Vertrauensbeweis gibst, den ich
eigentlich nicht um dich verdient hab' ... Ich hab' nicht gedacht,
daß du dich je so weit überwinden könntest, noch einmal zu uns zu
kommen ... Also vorher bin ich dir etwas schuldig: Ich bitte dich um
Verzeihung ... Wegen damals ... Ich war wie verrückt ... Ich versteh'
es jetzt selbst nicht mehr ...«
Er hielt inne und setzte dann stockend, aber entschlossen hinzu:
»Jetzt hab' ich mich besser in der Gewalt! Man lernt manches! Das
Leben macht einen mürbe! Ich gebe dir mein Wort: es kommt nicht wieder
vor! ... Mit keinem Blick und mit keinem Ton. Du kannst ruhig mein
Gast sein. Verzeih mir!«
Maximiliane von Glümke erwiderte nichts. Sie ging einfach vor ihm
ins Haus. Unter der Laterne sah sie auf der Türschwelle, daß er ganz
rot geworden war. Da färbten sich plötzlich auch ihre Wangen. Sie
blickten einander nicht mehr an. Stumm traten sie in den Flur und
von da auf den Fußspitzen in das Krankenzimmer. Ulla lag noch immer
apathisch, mit fieberheißem Kopf da. Ihre großen dunklen Augen waren
offen. Sie ruhten mit einem schläfrigen, undurchdringlichen Glanz auf
dem Paar am Bettende. Niemand konnte sagen, ob sie die beiden erkannte
oder nicht. Es schien doch nicht der Fall. Sie seufzte plötzlich
tief auf, wie von Schmerzen geplagt, und wurde unruhig. Die Wärterin
huschte wie ein Schatten aus dem Dämmerlicht hinzu, und die zwei,
Erich von Logow und Maximiliane, zogen sich geräuschlos zurück. Und
selbst dies leise Zumachen der Tür, dies Flüstern beklemmte sie. Es
war, als hätten sie etwas miteinander vor andern zu verbergen.
Stumm saßen sie mit Frau von Ottersleben beim Abendbrot. Draußen
heulte der Sturm und goß der Regen. Man ahnte durch die Nacht die
unwirtlichen Grenzgebirge ringsumher. Es war einem zumut wie am Ende
der Welt. Erich von Logow hatte etwas Finsteres, Verächtliches in
seinen Zügen. Er aß fast nichts, langte aber, gegen seine frühere
Gewohnheit, ziemlich häufig nach der Flasche mit rotem Elsässer Wein.
Er war froh, als seine Schwiegermutter gleich nach Tisch gute Nacht
sagte. Maxe wollte ihr folgen. Er stellte sich neben sie und bat
halblaut: »Bleib doch noch ein bißchen!«
Sie zögerte.
Er setzte hinzu: »Du bist doch gekommen, um uns zu helfen. Ulla kannst
du's vorderhand nicht! Aber mir!«
Er trat mit ihr in sein Arbeitszimmer. Dort zündete er sich eine
Zigarre an und stand düster da, ihren Blick vermeidend. Sie
wollte dies gefährliche, so vielsagende, an so viel erinnernde
Schweigen zwischen ihnen nicht aufkommen lassen. Sie griff nach dem
Nächstliegenden und frug, auf die Grammatik auf dem Tische weisend:
»Erich, warum lernst du denn um Gottes willen Spanisch? Lohnt sich
denn das der Mühe?«
Er drehte ihr sein energisches, wettergebräuntes Antlitz zu.
»Für mich schon!«
»Willst du denn einmal nach Spanien fahren?«
»Weiter!«
Er ging durch das Zimmer, blieb vor ihr stehen und versetzte,
plötzlich in einen raschen, gleichgültigen Gesprächston verfallend:
»In Chile wird Spanisch gesprochen. Und es sind doch immer eine ganze
Reihe von deutschen Offizieren in die chilenische Armee kommandiert.
Diese Armee ist ganz nach unserem Muster gebildet. Ihr höchster
General ist -- das weißt du vielleicht -- seit vielen Jahren ein
preußischer Leutnant. Das ist also ein Land, wo man sich nützlich
machen kann ...«
»Und da ...«
Sie vollendete die Frage nicht. Er beantwortete sie selbst.
»Ich weiß es noch nicht!« versetzte er. »Ich trag' mich nur mit dem
Gedanken. Ich bereite mich wenigstens auf alle Fälle vor. Stände ich
allein -- ja, dann wüßt' ich wirklich nichts, was mich zurückhielte,
auf Jahre hinaus das Meer zwischen mich und ... und das alles hier zu
legen. Das begreift wohl kein Mensch besser wie du, nicht wahr?«
Er nahm seine Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Er sprach vor
sich hin, wie in Gedanken mit sich selber kämpfend.
»Aber da ich doch einmal mit deiner Schwester Ulla verheiratet bin,
ach Gott, Maxe ... Ich weiß ja ... Ich sollte über das alles nicht
reden, am wenigsten zu dir ... Und kann doch nicht anders und danke
meinem Schöpfer, daß ich endlich einmal reden darf, statt mich immer
nur einsam zu quälen ... Denn wer versteht mich denn ... Wer kennt
mich denn ... außer dir? ... Nein ... Bleib nur ruhig sitzen, Maxe! Du
hast doch mein Wort! Du sollst nichts hören, was du nicht hören darfst
...«
Er atmete auf und streifte seine Zigarrenasche ab.
»Darf ich übers Meer in fremde Dienste und meine Frau hier lassen?
Das ist die Frage, über die ich schon seit einem halben Jahr nicht
wegkomme! Mitnehmen kann ich sie nicht. Da schlepp' ich nur unser
ewiges Elend von den Vogesen nach den Kordilleren, damit ist nichts
geholfen. Da bleib' ich lieber gleich hier: und hier bleiben kann ich
nicht ... Die Aussicht, acht Jahre noch in diesem Nest zu hocken,
allen Ehrgeiz zu begraben, den man noch vor kurzem und mit Recht
gehabt hat ... es ginge ja noch -- es ließe sich ertragen, wenn man
in seinen vier Wänden als Ersatz dafür das Glück fände! ... Aber da
fehlt es eben, und weil es fehlt, darum habe ich auch dienstlich den
Erwartungen nicht entsprochen. Das hängt alles zusammen -- eines
bedingt das andere -- und für mich gibt es nur eine Rettung, so wie
ich hier gestrandet bin -- heraus aus allem! ... Aus allem ... aus
allem ... Ich muß vergessen lernen, Maxe -- das vergessen, wovon ich
eben gesprochen habe, und noch mehr das, wovon ich dir nicht sprechen
darf! ... Und wenn man ins Weite will, hat man die Kette am Bein. Man
kann nicht fort!«
Von drüben über dem Flur her hörte man das schwere Aufhusten der
Kranken. Erich von Logow ging leise hinüber, öffnete den Türspalt und
überzeugte sich durch einen Blick, daß alles beim Alten war. Dann
kehrte er zurück und lachte bitter auf.
»Ja -- du hast's gut, Maxe! Du sitzest da und legst die Hände in den
Schoß und siehst mich seelenruhig an und hörst zu, was ich dir da
vorheule! ... Du warst tapfer und hast aus deinem Leben alles gemacht,
was zu machen war. Aber unsereiner ... Man sollte natürlich eigentlich
die Zähne zusammenbeißen und das Maul halten und seinen Dienst tun
und seine kranke Frau pflegen, die in gesunden Tagen viel, viel
unausstehlicher ist wie jetzt, wo sie still daliegt ... Aber manchmal
drückt es einem die Seele ab ... Da ist man Mitte der Dreißig, hat
noch ein langes Leben vor sich ... und in dem Leben nichts, nichts ...
Nichts von alledem hat sich erfüllt, was ich vor zwei, drei Jahren
noch mir als absolut sicher gedacht hab'. Ich bin in der Ulla ihre
Schönheit hineingeflattert wie die Motte ins Licht ... und nicht nur
aus Liebe -- nein -- auch aus Eitelkeit und Selbstgefälligkeit -- ich
dachte, für jemandem wie mich sei die Schönste im Lande gerade gut
genug, um mit ihr Staat zu machen. Das muß ich nun büßen ... Man
versauert hier in dem Hundenest, man wird als Major abgehalftert,
man trägt sein Hauskreuz bis an sein seliges Ende ... Ach ... es ist
gräßlich ...«
Er hielt inne, holte sich aus dem Nebenzimmer den roten Elsässer und
trank wieder hastig ein Glas. Es war nicht der Wein, der ihm zu Kopf
stieg. Die innere Erregung glänzte fiebrig aus seinen dunkeln Augen.
Dabei waren seine Wangen blaß. Er schwieg. Maximiliane auch. Sie wußte
nicht, was sie ihm hätte erwidern sollen. Sie konnte nur hier sitzen
und seine Beichte mitanhören. Mehr wollte er auch nicht. Er hub wieder
an.
»Ist das nicht schrecklich ... Maxe ... solch eine Ehe, wo beide Teile
manchmal denken müssen, es wäre besser, einer von ihnen wäre nicht
mehr? ... Und der andere wäre frei ...?« Er merkte eine erschrockene
Bewegung der jungen Generalin. »Mißversteh mich nicht ... Ich brauche
ja nicht der zu sein, der frei wird ... Ich könnte ja auch der sein,
der frei macht ... Mir wär's gleich ... Mir liegt gar nichts am Leben
... Wenn mich in Chile der Teufel holte, wär's mir auch recht! ...
Aber ist man nicht schon rein mit sich und allem zu Ende, wenn man
überhaupt so etwas denken kann? Sage ehrlich ...«
Maximiliane von Glümke schüttelte bang das blonde Haupt.
Er murmelte zwischen den Zähnen weiter: »Es ist doch solch ein
Widersinn: zwei Menschen sind auf Lebenszeit zusammengekoppelt, machen
sich bloß gegenseitig das Leben schwer, machen einander für das Leben
untauglich und können nicht auseinander ... Und ziehen immer weiter
an dem verfluchten Karren ... Immer weiter, bis er schließlich ganz
im Dreck festsitzt ... Entschuldige ... Ich verbauere hier schon so
sachte ... Ich spreche ja eigentlich nur noch auf dem Exerzierplatz
zu meinen Kerlen -- sonst mit keiner Menschenseele ... Ulla schweigt
ja. Sie schweigt immer. Sie sitzt am Fenster und starrt in den Regen
hinaus. Stundenlang. Es ist zum Haarausraufen.«
Nun entschloß sich Maximiliane zum erstenmal zu reden.
»Eines versteh' ich dabei aber nicht, Erich! Wenn eure Ehe so
unglücklich ist, warum laßt ihr euch denn dann nicht lieber in Gottes
Namen scheiden?«
Der Hauptmann von Logow zuckte die Achseln und lehnte sich
aufseufzend an das Fenster. Vor dem war kein Laden. Man sah draußen
die unbestimmten Umrisse der Nacht -- die Ballen von Regenwolken am
Himmel, die Schattenkronen kahler, vom Sturm schief gewehter Bäume.
Weit und breit kein Lichtpunkt auf Erden, kein Stern da oben.
»Das ist nicht so leicht, Maxe!« versetzte er. »Im Gegenteil ... das
ist furchtbar schwer! Finde du einmal bei zwei Menschen, die an sich
anständig sind, und anständig leben und eben nur das Unglück haben,
daß sie absolut nicht zueinander passen -- finde du da einmal einen
genügenden Grund, daß ich vor Gericht gehen kann und sagen: so, jetzt
will ich meine Freiheit wieder! ... Solch einen Grund gibt mir Ulla
nie und wird sie mir Gott sei Dank nie geben, und ich selber werde
ebensowenig je der Schuldige sein!«
Die junge Generalin war erstaunt.
»Ich hab' aber doch immer gehört, daß zum Beispiel, wenn ein Teil aus
dem Hause weggeht und der andere läßt sich das nicht gefallen und
klagt, daß dann ...«
»Ja. Dazu gehören eben zwei.«
»Ihr seid doch zwei! Und seid doch beide, wenn auch nicht in anderen
Dingen, so doch darin einig, daß ...«
»Nein. Das sind wir nicht!« Erich von Logow holte tief Atem und
streckte die Arme aus, als wollte er eine unsichtbare Kette zerreißen.
»Nein! Das ist eben das Letzte und Tollste: Ulla gibt mich niemals
freiwillig los. Niemals! Sie will lieber unglücklich sein und mich
unglücklich machen, als mich gar nicht haben!«
»Mein Gott ... was sind das alles für Sachen!« sagte Maximiliane von
Glümke bang und stand auf.
Er nickte. »Wie ich Ulla heiratete, Maxe -- da war ich verliebt!
Blindlings, wahnsinnig ... und sie hat sich weiter nicht viel aus mir
gemacht. Ich wußt' es auch! ... Dann hat sich das Blatt gewendet. Ich
bin allmählich erkaltet, an ihrer Gleichgültigkeit. Sie blieb, wie
sie war. Sie war ja meiner sicher. Und dann eines Tages ... da sah
sie, daß sie im Begriff war, mich zu verlieren -- nein -- daß sie mich
verloren hatte ... auf immer! ... Ich kann es nicht ändern. Und sie
-- sie kann es nicht fassen. Jetzt will sie das Versäumte nachholen.
Seitdem kämpft sie um mich. Seitdem klammert sie sich an mich --
verzehrt sich.... nicht eigentlich in Liebe -- wenn sie mich liebte,
ließe sie mich frei -- nein -- in Eifersucht! ... Sie will nicht
hergeben, was ihr gehört ... Sie pocht auf ihr gutes Recht. Innerlich
gibt sie sich gar keine Mühe, mich zu gewinnen! Sie hat mich ja ...
auf Lebenszeit! ... Das ist ihrer Selbstsucht genug ... So ... Maxe
... da hast du die ganze Tragik meines Lebens ...«
»Ich weiß ja: sie ist krank!« fing er nach einer langen Pause an, in
der wieder der Husten von drüben durch die Stille der Nacht geklungen
war. »Ich sag' es mir ja auch immer zum letzten Trost: es ist alles
krankhaft, ihre Teilnahmlosigkeit -- ihr Trübsinn -- diese blinde
Zähigkeit, mit der sie mein Leben aussaugt, aushöhlt, von innen heraus
ganz zunichte macht. Sieh mal, Maxe: wenn einer aus Liebe alles
opfert, und alles hinschmeißt, daß die Scherben fliegen, und sagt:
›Hol's der Deubel ... Ich kann nicht anders!‹ -- Na schön ... das ist
groß! ... Das verstehe ich ... Aber die Ulla und ich -- wir gehen
zugrunde ohne Liebe! Das ist's, worüber man verrückt werden könnte!«
»Und doch hätten wir all diese Kälte und Freudlosigkeit noch
miteinander ertragen,« sagte er endlich, »wenn nicht von einer anderen
Seite her die Liebe in unser Leben gekommen wäre, Maxe! ... In
~mein~ Leben! ... Sei unbesorgt ... du hast mein Wort ... Es gibt
Dinge, die braucht man nicht auszusprechen ... Aber das war der Stoß
ins Herz für mich und unsere Ehe -- die Strafe, weil ich blind gewesen
war. Wir verbluten uns hier, in den Vogesen, fern von der Welt, still
an einer, die nichts dafür kann -- die das Glück hatte, stärker zu
sein als wir -- die über uns ihren Weg weitergegangen ist, zu Glanz
und Ehren -- der ich allen Segen und alles Gute für ihren Lebensweg
vom Himmel wünsche -- obwohl sie mein Schicksal war und weiß Gott kein
gnädiges ... Verzeih mir, Maxe ... und hab' Dank, daß du mich das
hast aussprechen lassen! ... Du warst so oft in meinen Gedanken mein
lebendes Gewissen ... Nun hab' ich dir das endlich einmal sagen dürfen
... So ... nun ist's vorbei ...«
Sie senkte den Kopf, damit er den feuchten Schimmer in ihren Augen
nicht sähe. Sie wagte nicht zu sprechen. Er trat auf sie zu und gab
ihr die Hand.
»Gute Nacht, Maxe!« sagte er leise. »Es ist bald Mitternacht. Du wirst
schlafen wollen!«
Er sah sie nicht an. So zog er sich zurück. Sie hörte, wie er langsam
hinüber in das Krankenzimmer ging. Dort schickte er die Wärterin zur
Ruhe, rückte einen Stuhl an das Bett, setzte sich nieder und bewachte,
das Kinn in die Hand und den Arm auf das Knie gestützt, still bis zum
Morgengrauen den Fieberschlaf seiner Frau.
Frühmorgens kam der Stabsarzt. Er machte ein ernstes Gesicht. Die
Krisis war da. Nun frug es sich, wieweit die Kräfte der Kranken
standhielten. Den ganzen Vormittag herrschte im Hause die gedämpfte,
gequälte Unruhe des Abwartens. Schleichende Schritte, flüsternde
Worte. Draußen, auf der gepflasterten Landstraße, lag Stroh. Es
wäre kaum nötig gewesen. Heute, am Sonntag, rührte sich nichts in
dem stillen Vogesennest. Der Himmel war novembergrau, die Wolken
hingen an den Bergflanken tief zu Tal, unten im Grunde brummte und
summte vom Städtchen her eine Kirchenglocke durch den weißen Dunst
... sie verstummte -- wieder das Schweigen -- ein Aufhusten aus dem
Krankenzimmer -- ein Windstoß, der vereinzelte Strohhalme von der
Villa weg über die Felder trieb -- unheimlich -- gerade nach dem fern
unter Zypressen dämmernden Kirchhof zu -- dann wieder die Stimme des
Doktors, der alle zwei, drei Stunden nachsah.
»Ich bleibe jetzt vorläufig hier! Herr von Logow -- tun Sie mir den
einzigen Gefallen und gehen Sie inzwischen wenigstens auf eine halbe
Stunde an die frische Luft und erholen Sie sich -- Sie halten mir das
sonst nicht mehr aus -- nach dem Dienst am Tag und der Nachtwache
hinterher ... Ich bitte gehorsamst: Helfen Sie mir, Exzellenz! ...
Oder noch besser ... nehmen Sie ihn einfach mit! Exzellenz sind ja
seine Vorgesetzte! Ihnen muß er gehorchen!«
Erich von Logow half seiner Schwägerin schweigend in die Jacke. Und
warf sich den Mantel um die Schultern. Sie gingen aus dem Hause, über
Wiesen, den Berg hinauf, durch Rebhalden. Keine Seele war weit und
breit. Der Boden dampfte feucht. Der Nebel braute um das kahle Geäst
der Nußbäume. Er bildete eine weiße, zähe zurückweichende Wand, in die
man hineintauchte, die hinter einem zusammenschlug. Man konnte kaum
auf zehn, zwanzig Schritte vor sich sehen.
»Wird es dir zu viel mit dem Steigen?« frug er. Sie verneinte stumm.
Der Wald nahm sie auf. Sie wanderten den schmalen Pfad dahin: Aus dem
Dämmern tauchten zwischen den kahlen Stämmen Trümmerwerk und Gemäuer
auf. Eine der unzähligen Burgruinen des Elsaß. An einem klaren Tag
hatte man hier wohl einen weiten Rundblick über die Tiefe. Jetzt
war da nur ein grauer Schein. Der Hauptmann von Logow schaute,
schwindelfrei, hart am Abgrund stehend, gleichgültig hinunter und
sagte zwischen den Zähnen: »Bis morgen oder übermorgen weiß ich
wenigstens, ob ich ein Witwer werden soll oder nicht ...«
Ein Wort des Trostes lag ihr auf den Lippen. Aber dann fiel ihr etwas
Schreckliches ein, wovon er gestern gesprochen, in der Stille der
Nacht: Der Tod im Hintergrund ... als Erlöser einer unglücklichen Ehe
... Gewiß: Er hatte nicht seine Frau gemeint ... sondern viel eher
sich selbst ... Aber trotzdem ... es überlief sie kalt ... bei dem
Gedanken, was alles in einer Menschenbrust möglich war -- was am Ende
gar in ihr auch schlummerte und erwacht wäre, wenn es das Schicksal
mit ihr nicht so gnädig gemeint hätte. Sie blickte zu Boden, auf den
steinigen Steg, und schwieg. Er hatte die Mütze abgenommen und gab,
während sie den Rückweg antraten, seinen dunklen, wettergebräunten
Kopf dem Herbstwind preis. Nach einer Weile begann er: »Ich hab' dir
alles erzählt, Maxe! Und du mir nichts!«
»Was willst du denn von mir wissen?«
»Ich bin ein recht unglücklicher Mensch geworden! ... Ich möchte von
dir hören, wie's dir geht.«
»Gut, Erich!«
»Bist du zufrieden?«
»Ja. Die Wünsche, die ich überhaupt noch ans Leben hatte, die haben
sich erfüllt. Sogar hundertmal reichlicher und größer, als ich es
erwarten durfte und als ich es verdiene.«
»Freilich ... du bist Exzellenz ...«
»Nicht nur dies Äußerliche, Erich! ... Mehr: Ich liebe meinen Mann. Er
ist es wert. Er trägt mich auf den Händen. Es ist um mich herum klar
und heiter ... Und ich selber bin's auch ...«
Er senkte das Haupt und lächelte bitter. Und sprach kein Wort mehr.
Sie kämpfte mit sich und sagte: »Ich weiß wohl, was du dir jetzt
denkst, Erich! ... Aber es ist nicht richtig! Ich hab' dich nicht
vergessen ...«
Er schaute rasch auf und beinahe ängstlich in ihr schönes Gesicht, das
seine Ruhe bewahrte.
»Vielleicht hab' ich die Pflicht, Erich, gegen dich auch ganz offen zu
sein, und weiß, du wirst es nicht mißverstehen ... Am Anfang meines
Lebens hast du gestanden. Und wirst für mich in der Erinnerung immer
da stehen und, im letzten Sinn, das Bestimmende, das Schicksal für
mich gewesen sein. Aber dies Schicksal hat sich eben erfüllt, ohne
meine Schuld und ohne mein Zutun. Es liegt hinter mir.«
Sie suchte, während sie durch das stille Nebelland weitergingen, nach
den richtigen Worten und schloß: »Was es mich gekostet hat, das ist
ein Ding für sich. Das gehört nur mir. Das ändert sich nicht mehr. Es
ist mir ein Heiligtum der Vergangenheit. Es hat nichts mehr mit dir
jetzt und mit der Gegenwart gemein. Es war mir die höchste Weihe des
Lebens -- es war ~mein~ Wunder -- ~mein~ Erlebnis, das nie
wiederkehrt. Ich bereue die Schmerzen nicht! ... Durch die bin ich
erst ganz Mensch geworden und reif für das, was ich jetzt bin. Aber
ich brauche diese Schmerzen und diese Erinnerung mit niemandem zu
teilen -- am wenigsten gerade mit dir! ... So -- und nun wollen wir's
für immer begraben sein lassen, Erich ...«
Als sie beide wieder im Abendgrauen die Villa erreichten, empfing
sie der Stabsarzt. Gottlob, es ging besser. Die Hoffnung stieg. Die
Patientin war bei Besinnung. Sie hatte schon nach den Ihren verlangt.
»Schauen Exzellenz doch einmal zu ihr hinein,« flüsterte er. »Aber
nicht viel sprechen! ... Nur einen Augenblick! Nicht wahr?«
Maximiliane von Glümke trat geräuschlos in das verdunkelte
Krankenzimmer. Im Schein des Lämpchens sah sie die blassen Züge ihrer
Schwester. Die großen dunklen Augen sahen sie erstaunt und ungläubig
an. Dann hörte sie Ullas traumbefangene Stimme:
»Bist du das, Maxe?«
»Ja, Ulli!«
»Du bist hier?«
»Seit gestern schon!«
»Warum bist du hier?«
»Um ein bißchen zu helfen. Wir wollen dich doch recht bald wieder
gesund pflegen!«
Ein Schatten von Unruhe und Angst glitt über das Antlitz der
Leidenden. Ihre Pupillen belebten sich in einem feindseligen Glanz.
»Erich pflegt mich! ... Erich ist gut zu mir! ... Du brauchst mich
nicht zu pflegen!«
Sie flüsterte es mit Anstrengung und versuchte sich aufzurichten: »Du
brauchst hier nicht zu sein, Maxe ... Ich will nicht, daß du hier im
Haus bist! ... Geh ...«
Ein Hustenanfall schüttelte sie. Sie sank erschöpft, von der
herbeigeeilten Pflegerin unterstützt, in die Kissen zurück. Von der
Tür her mahnte der eingetretene Arzt: »Nur ja keine Aufregung für die
Patientin! ... Kommen Sie rasch, Exzellenz ... Kommen Sie! ... Das
hab' ich natürlich nicht gewußt, daß Ihr Anblick solch eine Wirkung
haben würde!«
Am anderen Morgen packte Maximiliane von Glümke ihren Koffer.
»Das einzig Richtige ist, ich fahre mit dem nächsten Zug!« sagte sie
zu ihrer Mutter. »Ulla frägt ja fortwährend, ob ich noch da sei ...
Und es geht ihr ja auch viel besser!«
»Außer Gefahr ist sie immer noch nicht ganz!«
»Eben darum muß alles weg, was ihren Zustand wieder verschlimmern
könnte. Also auch ich!«
Frau von Ottersleben rang die Hände.
»Ja, was hat sie denn nur gegen dich um Himmels willen?«
»Laß das nur gut sein, Mama!« Die junge Generalin schloß ihr kostbares
Necessaire aus Krokodilleder. »Sie ist krank! Weiter nichts!«
Ein paar Stunden darauf reiste sie ab. Erich von Logow brachte sie
an die Bahn. Er half ihr in das Abteil erster Klasse und schaute,
untenstehend, mit einem schwermütig sehnsüchtigen Lächeln, das
plötzlich sein düsteres Antlitz erhellte, zu ihr empor, während sie
sich aus dem Fenster herauslehnte und der Zug sich langsam in Bewegung
setzte.
»Ach ja ... du mein altes blondes Mädel ...« sagte er. »Du lieber
Kamerad von einst ... Weißt du noch? In Berlin? ... Jetzt bist
du Exzellenz und eine große Dame! Fahr nur wieder heim in deine
Herrlichkeit! Denk nicht mehr an uns hier in dem Nebelloch. Es ist das
beste!«
Die Wagen rollten rascher dahin. Maximiliane von Glümke sah zurück.
Dort hinten auf dem Bahnsteig war noch ihres Schwagers Gestalt, im
roten Mützenrand und hellgrauen Mantel. Er stand und blickte ihr
nach und wurde immer kleiner und undeutlicher in der trüben Luft und
verschwand.
14
»Nein, mein Lieber, du warst das Karnickel!« sagte der Generalmajor
Bruno von Ottersleben in seiner Wohnung im Westen Berlins zu seinem
Gegenschwager, dem Freiherrn von Koninck. »Du hast seinerzeit den Otto
bei den Kürassieren untergebracht!«
Er legte die Depesche, die er in der Hand hielt, auf den Tisch.
Der ruhige, klug und wohlwollend blickende Mann, dessen stattliche
Schwerfälligkeit überhaupt nicht zu altern schien, trug in seinem
beinahe maschinenmäßig schnellen Aufrücken auf der Stufenleiter der
Armee jetzt schon die Scharlachbeinstreifen der Generalität. Er
kommandierte die siebente Gardeinfanteriebrigade. Herr von Koninck
ihm gegenüber prangte immer noch im Blau des Attila, der seinen
stattlichen Korpus viel zu eng umspannt hielt und hinten eine
beträchtliche, wie ausgepolstert wirkende Rückseite den Blicken
preisgab. Er war inzwischen auch um einen Stern in den Achselstücken
-- bis zum Oberstleutnant vorgerückt. Aber nur zum Oberstleutnant zur
Disposition. Sein Frontdienst war zu Ende. Er gehörte dem Heer nur
noch als Pferdevormusterungskommissar an. Er schüttelte nachdenklich
das weinrote Gesicht und überlas murmelnd das Telegramm: »Kommt
womöglich hierher und helft. Otto hat schon wieder Krach. Bin in
tausend Ängsten. Adda Ottersleben.«
»Ja -- da müssen wir wohl fahren!« meinte der Husar.
Auf dem Bahnhof des kleinen holsteinschen Fleckens, in dem nur eine
einzige Schwadron der zwölften Kürassiere lag, erwartete sein Neffe
Otto die Ankunft der beiden Oheime. Der hübsche junge Mensch, der
immer noch mit seinem schwarzen Haar, seinen großen dunklen Augen,
seinem hohen, schlanken Wuchs an die Schönheit seiner ältesten
Schwester Ulla erinnerte, war sehr erregt. Er sprach hastig im Gehen.
»Zwei Jahre und länger sind wir nun Kürassiere!« sagte er. »Und vom
ersten Tag ab hatten wir die Geschichten! Das ist nun schon die dritte
Schwadron, die mir blüht! Schön sind doch diese kleinen Lausenester
von Schwadronen nicht! ... Mit den Spießern im Städtchen kann man
nicht umgehen. Landadel gibt's nicht in der Nähe -- nur dickköpfige
Großbauern. Man ist also ganz auf den Verkehr im Regiment angewiesen
... Die Adda und ich haben uns solche Mühe gegeben, nett zu sein ...
Aber ich weiß nicht ... wir mögen tun, was wir wollen -- wir machen es
nun einmal nicht recht!«
»Und was ist denn nun jetzt passiert?«
»Eine dumme Affäre ...« Otto von Ottersleben hatte mit seinem
Rittmeister Baron Ostrach im Dienst einen Zusammenstoß gehabt. Es
schien, daß er dem Eskadronchef öfter und nachlässiger geantwortet
hatte, als nötig. Jedenfalls hatte ihn der dem Regiment gemeldet.
Da lag die Sache nun. An sich eine Kleinigkeit. Aber es war schon
das dritte oder vierte Mal. Der Kommandeur, Graf Hundsfeldt, hatte
schon früher Äußerungen fallen lassen von Versetzung, wenn derlei
sich noch einmal wiederholen würde. Und wo man dann hinkam ... Sie,
die Otterslebens, verzehrten sich vor Sorge, in ein minderes Regiment
verschlagen zu werden! ... Womöglich wieder aus der Kavallerie heraus!
... Da konnte nur der Onkel nutzen! Wenn der ein gutes Wort einlegte,
renkte sich die Geschichte noch einmal ein ...
»Deswegen hättet ihr mich wirklich nicht aus Berlin herzusprengen
brauchen!« versetzte der Generalmajor mißmutig und trat mit seinem
Neffen in dessen Haus am Marktplatz. Es war das größte des ganzen
Fleckens, hochgiebelig, aber doch ein alter Kasten, zu dessen
Äußerem der verschwenderische Luxus der ganz modernen Berliner
Inneneinrichtung wie die Faust aufs Auge paßte. Ein glattrasierter
Diener öffnete mit einer tiefen Verbeugung die Tür. Man schritt durch
eine ganze Flucht von Gemächern. Ölgemälde, Palmen, Marmorwerke
füllten das dämmerige, gelangweilte Schweigen, in dem sich Herr von
Ottersleben mit seiner spartanischen Nüchternheit kopfschüttelnd
umsah. Ihm ahnte nun schon, wo eigentlich das ganze Übel steckte. In
dem letzten der Gemächer, einem blauseidenen Boudoir, saß die kleine
Frau Adda und empfing schluchzend die Verwandten.
»Papa hat mir nichts gesagt ... Mama hat mir nichts gesagt ... der
Otto hat mir nichts gesagt ... huhu ... Ich hab' nicht wissen können,
daß ich bei den Damen hier das fünfte Rad am Wagen sein würde ... es
sind lauter Adelige im Regiment ...«
»Nun -- du bist doch auch eine Frau von Ottersleben!«
»Das hilft nichts ... huhu ... das rechnen sie nicht für voll ... ich
soll eine geborene ›von‹ sein ... huhu ... sie sind's alle, schon seit
dem fünfzehnten Jahrhundert ... und ich kann doch nichts dafür, daß
der Papa mit Baumwolle ... huhuhu ...«
»Das ist ja auch nichts Schlimmes, Kind ...«
»Doch! Doch, Onkel! Hier wohl ... Huhu ... immer lassen sie mich's
fühlen ... und sagen Sachen, die mich ärgern ... und halten zusammen
wie die Kletten ... huhu ... und der Otto hilft mir auch nicht,
sondern reizt nur die Vorgesetzten und macht's noch schlimmer ...
huhuhu ...«
Der Generalmajor mußte wider Willen lachen.
»Bleib du mal hier bei den unseligen Leutchen!« sagte er zu seinem
Schwager. »Ich fahre jetzt gleich ins Stabsquartier und sehe, was der
Kommandeur zu der welterschütternden Geschichte meint.«
Eine Stunde darauf saß er dem grauköpfigen hageren Grafen Hundsfeldt
gegenüber. Der zog die Schultern hoch und meinte in seiner trockenen
Art: »Ganz richtig: an sich ist die Sache ja ohne Bedeutung, Herr
General! Der Rittmeister von Ostrach ist ein guter Kerl. Man muß ihn
nur kennen. Er ist ein Bullrian! ... Er geht drauf los ... Er meint
es nicht bös. Niemand hier. Ich will nur das Beste mit Ihrem Neffen.
Wir alle. Ich hab' ihn mit Absicht in das ganz miteinander vervetterte
und verschwägerte Regiment genommen, um ein bißchen frisches Blut
hineinzubringen. Ich hatte mich auf unseren gemeinsamen Verwandten
Koninck verlassen. Der Wilderich ist gut im Sattel und hinter der
Pulle und sieht 'nem Pferd Mauke und Spat auf hundert Schritte an,
aber zu so was hat er eben nicht den Grips!«
»Woran läßt es denn nun mein Neffe fehlen?«
»Sehen Sie, Herr General, ich hab' vier Söhne in der Armee. Da langt
es bei mir zu Tisch nur zu saurem Mosel. Wir sind alle hier im
Regiment mit Glücksgütern nicht übermäßig gesegnet. Anständig zum
Leben -- ja. Aber dann Schluß. Nu kommt Herr von Ottersleben ... Daß
er Geld hatte, wußt' ich ja ... Aber dieser Train ... Automobil ...
Kammerdiener ... Wohnung von zwanzig Zimmern ... Diners von zehn
Gängen ... die Gattin für drei Rittergüter Schmuck am Leibe ... ja,
wir kennen doch die Luxuserlasse Seiner Majestät! Wie soll ich denn
das verantworten? Und wie sollen denn die anderen Familien im Regiment
solch eine Geselligkeit erwidern? Sie vermögen's nicht! Also zogen
sie sich zurück. Nun hielten sich die Otterslebens für isoliert und
merkten nicht, daß sie nur selber daran schuld waren!«
Der alte Kürassier bot seinem Besucher eine neue Zigarre an und fuhr
fort: »Rennurlaub? ... Kriegt bei mir jeder von den Herren! ...
Jagdurlaub? ... Soweit möglich, mit großem Vergnügen! ... Urlaub auf
die Güter? ... Auch ganz gerne! ... Aber Urlaub nach Berlin, wie
ihn sich Herr und Frau von Ottersleben in ihrer Vereinsamung nun
allmählich so wöchentlich angewöhnten -- dort 'rumbummeln ... im
Esplanade oder bei Adlon schlampampen -- nee ... da schob ich 'nen
Riegel vor und hab' ihn zu dem Ostrach in meine strammste Schwadron
gesteckt. Und hilft das nicht, so zieh' ich noch ganz andere Saiten
auf. Ich lasse mir den Geist meines Regiments nicht verderben! Ich
hoffe, Sie werden mir das nicht verargen, Herr General, ob es sich nun
um Ihren Neffen handelt oder wen sonst!«
»Im Dienst habe ich keine Söhne und keine Neffen! Sie haben völlig
recht, Herr Graf!« sagte der Brigadekommandeur, und die beiden
drückten sich, als sie sich nach einem längeren Gespräch trennten,
kräftig die Hand. Herr von Ottersleben begab sich wieder in die
Garnison seines Neffen. Dort hatte er mit ihm eine ernste Unterredung.
»Ich fahre jetzt gleich nach Berlin zurück!« schloß er. »Ich kann dir
hier nicht helfen! Nur du dir selber! Du bist auf dem Holzweg, mein
lieber Otto! Glaub mir! Gerade wie der Logow! ... Euch beiden sitzt
der Hochmutsteufel zu sehr im Genick. Dir der gesellschaftliche,
überall die erste Rolle zu spielen, deinem Schwager Logow, der mehr
taugt als du, der militärische Ehrgeiz, um jeden Preis Karriere zu
machen! Ja ... und nun? Er sitzt in den Vogesen -- du hier ... Beide
seid ihr nicht zufrieden ... Eure Frauen auch nicht ... Die Ulla heult
und deine baut daneben scheint's auch schon wieder ans Wasser ...
Komm, Schwager! Wir sind hier überflüssig!«
Otto von Ottersleben kehrte in gedrückter Stimmung vom Bahnhof heim.
Er war überzeugt, daß ihm bitteres Unrecht geschah. Seine Frau weinte
immer noch und klagte: Was hatte man hier vom Leben? Sie war doch
stets in Berlin gewesen als Mädchen, oder in Bremen. Unter Menschen.
Sie hatte sich nicht träumen lassen, daß sie als Frau würde in der
Einsamkeit verkümmern müssen. Dort in den Schränken hingen die
schönsten Toiletten, zum Teil noch von der Aussteuer her. Sie waren
unmodern geworden, ohne daß sie je recht Gelegenheit gefunden, sie
zu tragen. Ihre Hüte auch! Was sollte man hier, am Ende der Welt,
mit Reihern und Federn? ... Da hatte sie ihren Schmuck! Wenn sie den
anlegte, freute das keinen Menschen, sondern sie kriegte noch eins auf
den Kopf. Mitten in ihren Jeremiaden erschien der Diener und meldete
lispelnd: »Herr Leutnant von Le Simonnier de St. Jean!«
Das war der Regimentsadjutant. Trotz seines Refugiénamens baumlang,
weißblond, mit schmalen Schultern, vom pommerisch-schwedischen
Typus. Er trug Dienstuniform. Der Hausherr empfing ihn allein mit
umwölkter Stirne. Er wußte schon, woran er war: Acht Tage Stubenarrest
vom Regiment, wegen ungehörigen Verhaltens im Dienst gegen einen
Vorgesetzten! Er wartete das: »Darf ich um Ihren Degen bitten?« des
Adjutanten nicht erst ab, sondern reichte ihn ihm und sah finster
zu, wie jener ihn unter seinen Mantel nahm und draußen damit in
den harrenden Krümperwagen stieg. Dann ging er finster in Litewka
und Hausschuhen, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im
Mundwinkel, die lange Flucht der Wohnzimmer auf und ab. Eine zu dumme
Situation! Er konnte sich doch nicht ins Bett legen und krank stellen
vor den Dienstboten! Und tat man das nicht, so merkte der Bursche
natürlich, was los war. Er erzählte es den anderen. Es sprach sich
herum, daß man eingesperrt war. Man wurde zum Kinderspott im ganzen
Städtchen. Der Käsekrämer und die Fischweiber grinsten hinter einem
her, wenn man sich endlich wieder im Helm im Freien zeigte, um sich
wie ein armer Sünder bei den Vorgesetzten zu melden. Es war doch solch
ein demokratischer Geist hier im Volke. Kein Respekt vor dem Höheren!
Und die arme Adda mopste sich erst recht. Zu der einzigen Dame am
Ort, Frau von Ostrach, konnte sie doch nicht gehen. Man verkehrte
mit Rittmeisters nur noch dienstlich. Und der zweite Leutnant war
unverheiratet. Da unten schmetterten eben die Trompeten um die Ecke
und klapperten die Hufe auf dem Markt und flogen die weiß-schwarzen
Fähnchen. Die Schwadron rückte aus. Voran Baron Ostrach --
breitschultrig und riesenhaft, auf ebenso mächtigem Gaul. Der junge
Kürassier durchmaß mit langen Schritten seine Räume. Zu lächerlich!
Er wollte Dienst tun und schwitzen und Staub schlucken -- und durfte
nicht ... Andere dankten ihrem Schöpfer, wenn sie nicht krank waren.
Er mußte hier Hexenschuß oder Influenza heucheln. Er redete sich
immer mehr in eine stille Wut hinein: Was tat er eigentlich in dem
Nest hier, in dem sich höchstens die Flundern wohlfühlten? Wozu hatte
er's nötig, sich schlecht behandeln zu lassen -- er, ein Ottersleben
und mit dem Einkommen eines Millionärs? Weshalb sollte er sich denn
aufdrängen, wenn man ihn nicht haben wollte? Schön. Da konnte er ja
gehen! Tränen weinten sie ihm hier nicht nach. Das wußte er.
Er stand gerade vor einem großen Wandspiegel. Er erschien sich in
seiner dunklen, schmucklosen Litewka wie ein Strafgefangener. Draußen
blinzelte sacht die Sonne über Land und See. Es war ein erster
ahnender Vorfrühlingstag. Er riß das Fenster auf. Lauer Märzwind wehte
herein, gleich einem Gruß vom Süden. Er brachte einen Hauch von Leben
mit sich ... vom großen Leben draußen ... der bunten, lockenden Welt
... die stand einem offen ... man rutschte im eigenen Auto nach Rom
-- man fuhr mit seiner kleinen Frau nach Paris ... man badete sich im
Winter im neuberlinisch-amerikanischen Gesellschaftsleben, man ritt im
Sommer als Großgrundbesitzer über seine eigene Scholle irgendwo drüben
in der Ostmark -- war ein ganz anderer Kerl als hier der kleine, in
Stubenarrest gesteckte Leutnant Ottersleben! ...
Eigentlich war man doch ein Esel, wenn man es nicht tat! ... Adieu
Küraß und Koller -- Pallasch und Helm! ... Die Armee hielt keinen, der
gehen wollte. Im Gegenteil, sie schickte alljährlich Hunderte in das
Schattenreich des Zivils, die um ihr Leben gern noch weiter gedient
hätten ... Otto von Ottersleben preßte die Lippen zusammen. Er dachte:
Wenn mein Vater noch da wäre, dürfte ich es nicht. Der würde es mir
nie verzeihen! Onkel Bruno auch nicht. Keiner von den anderen. Aber
schließlich ist sich jeder selbst der Nächste. Diesen verfluchten
Stubenarrest hier sitzt auch kein Fremder für mich ab. So stand er und
sann und sann, ohne zu einem Entschluß zu kommen, und die Dämmerung
senkte sich hernieder.
Eine Woche später riß gegen Abend auf der Friedrichstraße zu Berlin
der kleine Leutnant Peter von Ottersleben, der zurzeit aus seiner
schlesischen Grenadiergarnison zur Zentralturnanstalt kommandiert
war, erstaunt die Augen auf. Er erkannte seinen Bruder Otto, der da
in modischem englischem Frühjahrszivil flanierte, einen spiegelnden
Zylinderhut auf dem Kopf, Gamaschen über den Lackstiefeln, auf die die
Bügelfalte fiel.
»Wo ich herkomm', Peter?« sagte er nachlässig. »Das werd' ich dir
gleich erzählen! Wo gehst du denn hin? Ins Pschorr! ... Schön!«
Im Hintersaal des Pschorrbräu, wo die einzelnen Regimenter ihre
langen, hölzernen Stammtische besaßen, hatte sich der Grenadier mit
seinen beiden Vettern, den Söhnen des Generals von Ottersleben,
verabredet. Die zwei waren nun auch schon aus Lichterfelde heraus und
Offiziere in der Garde-Infanterie -- zwei schlanke, gut aussehende,
trotz ihrer bartlosen Gesichter ernste junge Leute. Otto, der Ehemann
und Weltmann in Zivil, kam sich unter diesen drei Dächsen sehr groß
und gönnerhaft vor.
»Also erschreckt nicht, Kinder -- ich hab' meinen Abschied
eingereicht!« sagte er kaltblütig. »Übertritt zur Reserve natürlich.
Bis das Gesuch bewilligt ist, hab' ich Urlaub! ... Wir werden uns
ankaufen. Mit einer erstklassigen Jagd. Ihr dürft jeder bei mir, wenn
ihr kommt, einen Sechserbock schießen. Im Winter sind wir hier in
Berlin!«
»Aber wie verfällst du denn auf die Kateridee, den Dienst zu
quittieren?«
»Mein Gott, mir war's nachgerade zu bunt! Ich will einmal mein eigener
Herr sein! Und nicht immer nach fremder Pfeife tanzen. Wir leben doch
nicht mehr zur Zeit Albrechts des Bären! Heutzutage ist der Mensch
doch nicht mehr bloß ein Kommißknüppel, sondern eine Persönlichkeit
und hat sein Recht ...«
Zu seinem Erstaunen hob sein Vetter Busso, der blutjunge Fant, den
Kopf: »Pardon, Otto! Da bin ich ganz anderer Ansicht. Gerade heute
soll man dienen ... Leute wie wir ...«
»Warum denn?«
»Ja, wenn jeder so dächte wie du, was machen wir denn dann, wenn es
mal losgeht? Einmal kommen die Franzosen oder sonst wer doch wieder!
... Da würden wir was Schönes erleben!«
Und sein Bruder Günter fügte hinzu: »Dazu sind wir da. Die Ottersleben
haben immer gedient. Die werden doch alle auch gewußt haben, warum?
Ich bilde mir nicht ein, gescheiter zu sein als unsere Vorfahren ...«
»Na ja, ihr seid Musterknaben!« meinte der hübsche Exkürassier
mitleidig. »Euer Oberst ist sicher stolz auf euch. Aber kleine
Philister seid ihr doch.«
»Nee, gar nicht! Wir amüsieren uns schon! Bloß nicht den ganzen Tag!«
»Und du, Otto, hast jetzt gar nichts mehr zu tun!« fügte Busso, der
schroffer als sein Bruder veranlagt war, hinzu. »Und das mißfällt mir!«
»Still, du Dachs!«
»Ich kann gerade so gut reden wie du! ... Mag einer Sekt aus Kübeln
saufen und Automobil fahren, so viel er will, das geht mich nichts
an. Aber wenn er dann kommt und will mir damit imponieren ...«
»Zum Donnerwetter -- das verbitt' ich mir ...«
»... und protzt damit, daß der Schwiegerpapa Geld hat -- nee, das kann
jeder!«
»Das find' ich auch!« ... versetzte der kleine Grenadier Peter, der
bisher geschwiegen, mit plötzlicher Entschlossenheit. Auch seine
Bewunderung für den älteren Bruder hatte einen Stoß erhalten.
»Kellner, zahlen!«
Otto von Ottersleben stand auf, fuhr in seinen großkarrierten Ulster
und drückte sich die Zylinderkrempe in die Stirne.
»Ihr seid altmodische Kerlchen!« sagte er. »Ihr habt ja ganz recht: es
muß ja auch Leute wie euch geben! ... Bloß heute abend seid ihr mir
ein bißchen zu langstielig. Nehmt mir's nicht krumm! Gute Nacht!«
Er gab ihnen die Hand und ging. Draußen war das Gewimmel der
Friedrichstraße. Wie er sich in dem verlor und an das uniformierte
Kleeblatt drinnen im Pschorr dachte, kam etwas über ihn -- es war
nicht Reue -- kein Drang zur Umkehr -- aber ein eigenes Gefühl der
Verlassenheit zwischen den Massen -- der Trennung von der Armee -- der
Einsamkeit, und er eilte sich, um in das Hotel und zu seiner Frau zu
kommen.
Auch die drei jungen Leute verließen bald darauf das Lokal. Sie
hatten sich entschlossen, noch auf ein Stündchen bei ihrem Vater, dem
General, im Berliner Westen, vorzusprechen und noch ein Glas Bier bei
ihm zu trinken, nachdem das Beisammensein im Pschorr verdorben worden
war. Er liebte es, wenn sich die Söhne recht oft freiwillig bei ihm
sehen ließen und auch den Vetter von der Turnanstalt mitbrachten. Er
saß dann mit ihnen zusammen, rauchte und plauderte, wie ein älterer
Kamerad.
Er goß selbst den jungen Leuten Bier ein, ließ sich von ihnen die
Geschichte von Ottos Dienstüberdruß und Abschiedsgesuch erzählen,
und sagte dann in seiner langsamen und schweren, unerschütterlichen
Art: »Der Otto war immer ein Windhund. Der hat nie begriffen, worauf
es bei uns ankommt. Wißt ihr, Jungens ... so wie bei St. Privat --
in Reih und Glied ... mit wehenden Fahnen, alle Vorgesetzten vor der
Front, die Feldgeistlichen mit dem Kruzifix voraus -- sich für König
und Vaterland totschießen lassen, das ist kein Kunststück. Das kann
jeder. Das muß jeder. Aber wenn du an 'nem Wintermorgen faul in der
Kaserne im Bett liegst, mein Sohn, und weißt, der Hauptmann kommt doch
nicht, und die Unteroffiziere fangen unten die Instruktionsstunde
auch ohne dich an und bläuen den Rekruten die einzelnen Gewehrteile
in die Mostschädel ein -- und du hältst es doch nicht aus und bist
Punkt sieben unten in der Mannschaftsstube unter der Petroleumfunzel
in dem Gestank -- dann stehst du auf dem richtigen Boden. Das ist
die Grundlage der Armee. Das ganze Geheimnis. Das machen sie uns
nicht nach: Pflichterfüllung, die keiner sieht! Wenn uns das nicht in
Fleisch und Blut übergegangen wäre, dann hätten Moltke und Roon und
der alte Herr weiß Gott umsonst gelebt!«
»Und wenn jemand sich vor euch mit seinem Geld aufspielt,« schloß er,
»dann schaut nur auf euer Portepee und denkt euch: der Kerl kann alles
in Berlin zusammenkaufen, was gut und teuer ist. Aber für alle Schätze
der Welt ist das kleine silberne Ding in keinem Laden zu haben! Er
kriegt's nicht, und wenn er sich auf den Kopf stellt! Es wird nur
verdient und verdient! Und wenn ihr das so auffaßt, Jungens, dann
könnt ihr euch getrost reicher vorkommen als irgendeiner.«
15
Um den Platz vor dem Bahnhof staute sich das Volk, von der
Schutzmannschaft zurückgedrängt, so daß in der Mitte ein weites
Viereck frei blieb. Auf dem hielten seitlings die Wagen. Am Portal
war in der Maiensonne alles bunt von Uniformen und Damenkleidern,
Roßschweife und Federbüsche wehten im Wind zwischen den farbigen
Sonnenschirmen, Leibjäger liefen mit Mänteln, auf dem Bahnsteig stand
die Ehrenkompanie unter präsentiertem Gewehr. Die Musik spielte. Die
Degen der eingetretenen Offiziere hatten sich gesenkt. Am rechten
Flügel hoben die kotoyierenden Vorgesetzten, Generalleutnant von
Glümke bis zum Bataillonskommandeur hinab, die Rechte an den Helm. Die
Prinzessin, die heute hier ihr Regiment, dessen Inhaberin sie war,
besucht hatte, schritt lächelnd die Front ab. Sie war jung und hübsch
und trug einen riesigen Federhut schräg auf dem Kopf. Neben ihr ging
ihr Mann in Generalsuniform, den großen Hausstern auf der Herzgegend,
dann das Gefolge. Alles strömte zu dem an den fälligen Schnellzug
angehängten Salonwagen, bis zu dessen Stufen sich ein Teppichläufer
unter einem Baldachin erstreckte. Hier harrten die Damen des Regiments
und der höheren Chargen. Die junge Hoheit schüttelte liebenswürdig und
ununterbrochen Hände. Sie dankte der Kommandeuse, der kleinen Frau
von Mensingen, für den freundlichen Empfang. Es war einfach reizend
... die Parade ... das Frühstück ... wirklich alles reizend. Im
nächsten Jahr kam sie wieder! ... Dann wandte sie sich noch einmal an
die große schlanke blonde Dame, die ganz vorne stand, und hielt heiter
deren beide Hände fest: »Adieu, meine liebe Exzellenz von Glümke!
Also, ich hab' Ihr Versprechen: Sie besuchen mich den Sommer einmal
auf unserem Waldschlößchen! ... Der Herr Gemahl wird Ihnen schon
Urlaub bewilligen -- nicht wahr?«
»Wie Hoheit befehlen!« versetzte Olaf von Glümke dienstlich. Er sah,
wie er sich dabei leicht und ritterlich in seiner goldgestickten
Generalspracht verbeugte, jugendlich schlanker aus als alle seine
Brigade- und Regimentskommandeure um ihn herum. Die Prinzessin sprach
weiter mit seiner Frau. Sie hatte Maximiliane in ihr Herz geschlossen.
Wenn das auch die erste Dame der Garnison war -- sie zeichnete sie
doch auffallend aus. Die Abfahrtszeit war schon überschritten, ohne
daß sie darauf achtete. Der Prinz selbst drängte sie mit einem Blick
auf den unruhig strammstehenden, ordengeschmückten Stationsvorsteher
zum Einsteigen. Aus dem Fenster winkte die hübsche junge Hoheit noch
einmal vergnüglich der schönen jungen Exzellenz und den anderen Damen
zu. Die sanken in einer letzten tiefen Verbeugung zusammen. Der Zug
fuhr ab. Das große Ereignis war vorüber und löste sich in ein Gewimmel
aufgeregter, plaudernder, ordensfroher Menschheit auf.
Während der Abschiedsfeierlichkeit waren die Türen des inzwischen
in entgegengesetzter Richtung eingelaufenen Schnellzugs geschlossen
geblieben. Niemand konnte ihn vorläufig verlassen. Die Reisenden
standen neugierig, zum Teil ironisch lächelnd, an den Scheiben und
beobachteten die kleine höfisch-militärische Idylle. In einem Abteil
zweiter Klasse war ein Herr allein. Er trug graues Reisezivil,
einen weichen grauen Filz auf dem vom Felddienst gebräunten Kopf.
Er hielt sich halb in dem Schatten des Fenstervorhangs, so daß
Maximiliane von Glümke, selbst wenn ihr Blick in dem angeregten
Gespräch mit der Hoheit durch Zufall hier herübergeglitten wäre, ihn
nicht hätte bemerken können. Aber seine Augen hingen unverändert an
ihr. Ein trübes, bitteres Lächeln lag unter dem dunklen Schnurrbart
um seine Lippen: Die da drüben, die Exzellenz an der Spitze ihres
halbhundertköpfigen Stabs von Offiziersdamen, die Generalin, mit der
die Prinzessin vertraulich wie mit ihresgleichen plaudert -- die hatte
in ihrem Leben nur die eine große, unerfüllt gebliebene Sehnsucht
gehabt, eine einfache Frau Leutnant oder Frau Hauptmann zu werden ...
seine Frau ...
Erich von Logow wartete, bis das Getümmel auf dem Bahnhof sich
verlaufen hatte. Dann erst verließ auch er die Halle. Draußen
erinnerte nur noch der Fahnenschmuck der Straßen an den fürstlichen
Besuch. Die Wagen waren abgefahren, die Ehrenkompanie mit klingendem
Spiel heimmarschiert -- es war wieder ein Maitag wie sonst. Er
schritt durch die sonnenheißen Straßen dahin und ließ sich von
einer ihm begegnenden Ordonnanz den Weg nach der Wohnung des
Divisionskommandeurs weisen. Das große Gebäude war nicht zu verfehlen.
Ein Schilderhaus stand davor. Der Posten schlenderte mit Gewehr über
auf und ab und sah in müßigem Erstaunen dem Zivilisten nach, der
die breiten Steinstufen emporstieg, oben schellte und seine Karte
hineinschickte.
»Herrjeses!« tönte gleich darauf von innen langgezogen die Stimme des
Generals von Glümke. Er kam selbst mit ein paar Laufsprüngen auf den
Flur, packte den Schwager an den Schultern, rückte ihn ins Licht und
blitzte ihn halb lachend, halb zweifelnd aus seinen feurigen blauen,
von feinen Krähenfüßen umrahmten Augen ins Gesicht. »Na -- nu hört
die Weltgeschichte auf! ... Erich ... bist du das wirklich oder dein
Geist? ... Maxe! ... Maxe! ...« Er verstärkte seine stählerne Stimme,
als kommandierte er eine Divisionsschwenkung. Es schmetterte durch die
ganze weite Wohnung bis in die letzten Ecken. »Maxe! ... Es geschehen
Zeichen und Wunder! ... Der Logow hat auf einmal den Weg zu uns
gefunden! ... Famos! ... Na ... tritt mal ein! Meine Frau pellt sich
offenbar gerade aus ihrer Staatsrobe ... Durchläuchtings waren hier
... eben erst abgegessen und in Gottes Namen expediert ... Wird gleich
kommen! ... Setze dich, mein Sohn! ... Rauche!«
In Olaf von Glümkes stürmischem Temperament hafteten Erinnerungen
unter dem Einfluß eines neuen Eindrucks nicht lange. Er trug nichts
nach. Mochte sich der Schwager damals im Elsaß auch komisch benommen
haben, indem er gar nicht zum Vorschein kam -- na -- da saß er nun --
reuig wie der verlorene Sohn -- und es war gut. Und da erschien auch
die Maxe! ... Famos ... sie tat auch, als sei nichts geschehen! ...
Sie war eben eine Frau, wie man sie sich nur wünschen konnte ... wie
die Prinzessin vorher zu ihm gesagt hatte: Auf Ihre Heirat, Herr von
Glümke, trifft wirklich das Sprichwort zu: Was lange währt, wird gut!
... Sie lachte und reichte Erich von Logow so unbefangen die Hand, als
hätten sie den hereingeschneiten Gast schon lange erwartet. Der selber
war der einzige von den dreien, der ernst, fast gedrückt blieb.
»Wie's Ulla geht?« sagte er. »O, danke! ... Ganz gut! ... Es macht
sich wenigstens! ... Und wo ich selber herkomm'? ... Aus Berlin! ...
Da dacht' ich, ich überspringe hier auf der Rückfahrt einmal einen
Zug, um euch zu sehen. Um sechs Uhr siebzehn muß ich weiter ...«
»Du wirst den Abend hübsch bei uns bleiben!« erklärte Olaf von Glümke
mit großer Bestimmtheit. »Ich lade noch ein paar Leute ein! Für Damen
bist du nicht, du oller Kopfhänger! ... Also ein Männertrunk! ... Aber
der gehörig! Still! ... Abgemacht! ... Keine Widerrede! ... Was hast
du denn in Berlin vorgehabt? ... Dich mal wieder ein bißchen beim
Großen Generalstab in Erinnerung gebracht? ... Sehr recht!«
»Nein. Das hab' ich nicht!«
»Du warst bei keinem von den Herren? ... Auch nicht bei Onkel
Bruno? ... Der kennt doch den Königsplatz wie der Fuchs seinen Bau!
... Erich ... nimm mir's nicht übel: du bist verrückt! Glaubst du
denn, sie werden dich auf den Händen aus deinem Vogesennest dorthin
zurücktragen?«
»Sie haben mich aus dem Generalstab 'rausgesetzt,« sagte Erich von
Logow leidenschaftslos und hart. »Aber sie haben recht gehabt.«
Der General von Glümke warf seiner Frau einen ratlosen Blick zu. Was
war nur mit dem Logow los? Freute sich der noch, daß er eigentlich ein
wenig Schiffbruch gelitten hatte?
Da fuhr der fort, so unparteiisch, als spräche er nicht von sich,
sondern von einem beliebigen Dritten: »Ich bin mit mir ins Gericht
gegangen ... Was hilft es, sich Schwachheiten einbilden? Die
trüben nur den Blick. Und da hab' ich gefunden: Ja. Ich hab' den
Anforderungen nicht entsprochen, die man an mich stellen konnte, und
die ich unter anderen Umständen auch erfüllt hätte. Also mußte ich
fort und einem Besseren Platz machen. Da bin ich viel zu sehr Soldat,
um das nicht einzusehen! Da beklage ich mich mit keinem Wort darüber
...«
»Na -- das macht dir ja alle Ehre ...« meinte der General zweifelnd.
Er wußte nicht: sollte er weiter fragen, was das eigentlich für
hemmende Einflüsse gewesen? Nee -- lieber nicht! Hand von so
Geschichten! Ein Kind konnte sich ja auch sagen, was der einzige
und alleinige Grund war: die unglückliche Ehe mit der Ulla, der
unseligen Schlafmütze! Herr von Glümke lächelte zufrieden und dankbar:
Gottlob! Seine Maxe war anders! ... Die brach nicht ihren Mann! ...
Im Gegenteil: die gab einem Halt. Die hob einen. Gab Zuversicht und
Lebensfreude! Vorwärts -- nur immer vorwärts! ... Deubel ja ... was
machte im Gegensatz dazu der junge Hauptmann vor ihm für ein ernstes
und resigniertes Gesicht! Klug wurde man aus ihm nicht ...
Der Divisionsadjutant hatte sich melden lassen. Olaf von Glümke
stellte die Herren einander vor und erhob sich.
»Du mußt mich eine Stunde entschuldigen, Erich! Hier der Major
Gutgesell, mein chronischer Tyrann, mahnt an die Pflicht. Wir haben
ein paar Herren aus Berlin und vom Generalkommando hier. Besprechung
wegen der Kaisermanöver. Du weißt, sie werden dies Jahr besonders
großartig. Eine ganze Armeeabteilung operiert zwischen Neckar
und Main. Alles, was in Südwestdeutschland Beine hat, kommt mit.
Ihr Elsässer auch. Und wir natürlich erst recht! ... Na ... ich
werde sehen, daß ich es möglichst kurz mache! ... Maxe leistet dir
unterdessen Gesellschaft! ... Schau zu, Schatz, daß er bei uns ein
bißchen fideler wird ... auf Wiedersehen!«
Er eilte elastisch hinaus. Die beiden hörten, wie er im Flur seinen
Generalstabshauptmann begrüßte: »Tag, mein Teuerster! ... Haben Sie
den ganzen Schwamm beisammen in Ihrer Mappe? Schön! ... Dann man
dalli! ...« Das Sporenklirren verlor sich gegen die Treppe hin.
Maximiliane drückte in dem Schweigen, das zwischen ihr und Logow
eingetreten war, auf den Knopf der elektrischen Klingel und beorderte
den eintretenden Diener.
»Ich bin jetzt nicht zu Hause!«
Dann wandte sie sich an ihren Gast: »Sonst werden wir nämlich alle
Fingerlang gestört. Das geht hier zu wie in einem Taubenschlag!«
Sie fühlte, daß Erich von Logow einen besonderen Grund haben müsse,
um so plötzlich bei ihnen zu erscheinen. Aus seinem Gesicht ließ
sich nichts erraten. Das war wie gewöhnlich, undurchdringlich in
seinem harten Ernst. Und auch, was er sprach, waren zunächst keine
großen Neuigkeiten. Er erzählte, daß er in Darmstadt gewesen und die
verwitwete Frau von Ottersleben besucht hatte.
»Mama freut sich schon sehr auf dich! Sie sagt, du kämst im Herbst
während des Manövers zu ihr ...«
»Ja. Es gibt ja einen Riesenrummel! ... In Darmstadt noch nicht so
sehr. Der Kaiser wohnt in Mainz und dann in Frankfurt. Wo mein Mann
mit seiner Division hingerät, wissen wir nicht! ... Es wird alles ganz
kriegsmäßig. Es entscheidet sich immer nur von einem Tag zum anderen.
Aber jedenfalls bin ich dann in seiner Nähe ...«
Der Hauptmann von Logow nickte zerstreut.
»Bei meiner Schwester in Kassel war ich auch!« versetzte er. »Deinen
Bruder Otto hab' ich zufällig in Berlin auf der Straße getroffen.
Schon als angehenden Agrarier. Er will jetzt im Frühjahr ernstlich auf
die Gütersuche.«
»Da hast du ja die reinste Vetternreise im Lande gemacht?«
»Gott ... ich hab' eben überall Abschied genommen!«
Seine Stimme klang gleichgültig. Er wollte nach seiner Art um keinen
Preis, auch nicht mit dem Zucken der Wimper, irgendeine Erregung
zeigen. Maximiliane von Glümke zog erstaunt die blonden Brauen hoch.
»Abschied?«
Und nun sagte er, immer in derselben fast geringschätzigen Ruhe:
»Deswegen war ich in Berlin. Die Geschichte ist von langer Hand
vorbereitet und hat sich nun ganz plötzlich entschieden. Unter den
Militärinstruktoren, die wir nach Chile geschickt haben, ist eine
Stelle frei geworden. Die Wahl ist auf mich gefallen. Ich hab'
mich schon dem chilenischen Gesandten in Berlin vorgestellt. Die
Sache selbst geht telegraphisch durch das Auswärtige Amt und das
Militärkabinett. Ich muß sofort hinaus. Heute über acht Tage schwimm'
ich schon!«
Er sprach von der Fahrt über das Weltmeer so gelassen und obenhin, wie
sie vorher von ihrer Spritztour als Manöverwitwe in die Rheinebene.
Eine Sekunde war tiefe Stille zwischen ihnen. Dann frug die junge Frau
mit leise zitternder Stimme: »Wie lange bleibst du denn da draußen?«
»Vorläufig drei Jahre! Es kann aber nach deren Ablauf auch verlängert
werden. Gefällt's mir da drüben -- finde ich den Wirkungskreis, den
ich suche, so bleib' ich vielleicht dauernd dort und komme wenigstens
endlich zur Ruhe!«
Er wurde lebhafter. Er hob den energischen dunkeln Kopf.
»Hier hab' ich die Ruhe nicht, Maxe, und werde sie nie haben! ...
Der Karren ist nun einmal verfahren ... Ich fühl' es zu deutlich ...
Gründlich verfahren ... Nach jeder Richtung. Ich hab' früher gedacht,
es müsse, wenn ein Mensch nur ordentlich wollte, ihm alles im Leben
nach Wunsch gehen! ... Jetzt hab' ich erkannt: das hängt alles von
Dingen ab, über die wir zum guten Teil gar keine Macht haben ... Von
Entschlüssen, die wir plötzlich fassen und hinterher gar nicht mehr
verstehen ... Von Stimmungen ... die schwinden ... Aber ihre Wirkung
bleibt ... es ist eine Macht über einem ... na ... kurz ... ich bin
bescheiden geworden, Maxe ... Ich will mich gerade nur noch bei den
Chilenen nützlich machen ..., weil es hier bei den Preußen nicht mehr
recht geht ...«
Die Unruhe übermannte ihn. Er stand auf und schritt im Zimmer auf und
nieder.
»Wenn einer von Haus aus ein Esel ist,« sagte er, »und hat nichts dazu
gelernt -- na gut -- verbraucht muß der Kerl werden -- er verschwindet
eben schließlich geräuschlos in der Versenkung. Aber denk nur, was man
von mir erwartet hat! Und mit Recht. Ich kann es leisten. Ich könnte
es jetzt noch ... Ohne die Bleigewichte, die an einem hängen ... Ach
... das drückt einen nieder, das macht alles Mühen vergeblich ... Ich
muß heraus aus allem ... ich muß fort ...«
»Ja, und was sagt denn Ulla dazu?«
»Ulla ...«
Er zuckte die Achseln und setzte sich wieder. Er wurde mit einem
Schlage müde.
»Ulla weiß noch von gar nichts!« versetzte er. »Heute nacht bin ich
daheim. Morgen vormittag sage ich es ihr ...«
»Später als mir und den anderen?«
»Ja, es ist vielleicht nicht recht von mir! ... Aber es ist der
Instinkt der Selbsterhaltung. Einmal wenigstens im Leben wollte
ich mir die Kraft zum Handeln nicht durch ihre Mattigkeit und ihre
Teilnahmlosigkeit lähmen lassen ...«
»Du mußt denken, sie ist krank ... oder wenigstens nie ganz gesund,
Erich!«
Er überhörte es. Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen.
»Sie hätte es schon lange merken können -- wenn sie eben nicht sie
wäre! Schau mal: du warst im vorigen November noch nicht zwei Stunden
bei uns im Haus, da frugst du mich: ›Was sollen denn die spanischen
Vokabeln auf deinem Schreibtisch?‹ Ulla sieht sie seit Jahr und Tag
daliegen! ... Glaubst du, das wäre ihr je aufgefallen? Sie hätte sich
je mit einer Silbe erkundigt, wozu ich die brauche? ... Es ist ihr
total gleichgültig! Alles ist ihr gleichgültig ... Nee ... Maxe ...
Ich kann nicht mehr ... Ich ersticke einfach ... Ich muß ein Ende
machen ...«
»Und was wird aus ihr?«
»Deswegen war ich ja bei deiner Mutter in Darmstadt. Mama wohnt da
sehr nett -- im Grünen, wie eigentlich die ganze Stadt liegt -- gegen
die Rosenhöhe hin ... in einer Villa ... Ulla ist bei ihr sehr gut
aufgehoben. Beide sind dann nicht mehr allein ...«
Er lachte kurz und gezwungen.
»Ich weiß wohl, was du denkst, Maxe: Man schiebt nicht seine Frau so
in einen Winkel und geht heidi über alle Berge. Ja -- wenn es bei mir
Leichtsinn wäre oder Abenteurerlust -- aber es ist Notwehr ... blanke
Notwehr ...«
»Ich sorge ja für sie, so gut ich kann!« setzte er halblaut hinzu,
sich wie hilfesuchend gegen die junge Generalin vorbeugend. »Ich lasse
ihr selbstverständlich die Zinsen meines ganzen Vermögens. Ich schicke
ihr regelmäßig meinen Gehaltsüberschuß aus Chile herüber. Ich habe
mir eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten erwirkt. Was auch kommt,
sie ist reichlich vor jeder materiellen Sorge geschützt. Sie hat ihre
Mutter um sich, ihren Verkehr. Sie findet sich ja nach ihrer passiven
Art in alles. Sie wird sich dort viel wohler fühlen als jetzt, wo wir
uns direkt aneinander aufreiben. Und ich bin frei! ... Frei ... Ich
kann dir nicht sagen, Maxe, was für eine Erlösung in dem Wort für mich
liegt!«
»... Du denkst eben nur an dich ...«
»... Wenn ich's tue, geschieht es nur, weil man noch von mir etwas
verlangt ... Weil ich selber die Verpflichtung in mir fühle, noch
etwas zu leisten! Herrgott ... ich bin doch eben erst über die Mitte
der Dreißig! Das Leben ist doch noch so lang. Ich will es mir doch
nicht ganz zwischen den Fingern klein krümeln lassen. Aber deswegen
muß ich einen Strich unter alles machen! ... Unter alles ... unter
alles!«
Es klopfte. Der Diener trat ein. Maximiliane furchte die Stirne.
»Ich hab' doch befohlen, nicht zu stören!«
»Verzeihen Exzellenz! Es ist eine Nachricht von Exzellenz!«
Sie nickte, entließ den Mann und überflog das Blatt.
»Mein Mann wird länger aufgehalten, als er dachte. Er schreibt: ›Halt
mir ja den Erich bis zum Abend fest, da wir ihn einmal haben, damit er
uns nicht entwischt!‹«
Sie zerriß den Zettel, warf ihn in den Papierkorb und sagte ernst:
»Wenn du meine Meinung hören willst -- die darf ich doch aussprechen,
nachdem du mir das alles erzählt hast -- du hast kein Recht, deine
Frau zu verlassen! Ob deine Ehe glücklich oder unglücklich ist -- ob
Ulla gesund ist oder krank -- es ist deine Frau! Du hast ihr vor dem
Altar die Lebensgemeinschaft zugeschworen, und sie hat dir geschworen,
dir zu folgen. Wenn du sie mit hinübernähmst, das wäre etwas anderes
...«
»Nein ... um Gottes willen ...«
»Aber sich einfach von ihr loszusagen, weil nicht alles so gekommen
ist, wie man dachte ... ja ... das muß man eben tragen, Erich ...
ich bin doch auch damit fertig geworden ... Und du bist ein Mann ...
Gehört sich's denn für einen Mann, vor dem Schicksal zu fliehen und
gerade, wenn dies Schicksal seine eigene Frau heißt? Gesteh es dir
einmal selber ... Kannst. du das verantworten?«
Der Hauptmann von Logow stand auf und griff, um sich zu verabschieden,
nach seinen Handschuhen, die neben ihm auf dem Stuhl lagen. Plötzlich
kam ein unterdrücktes, leidenschaftliches Beben in seine Sprache.
»Ich hab' mir schon mehr gestanden, als ich dir gesagt hab', Maxe! ...
Und ich darf dir auch nicht mehr sagen. Denke dir den Rest. Ich geh'
jetzt. Ich kann nicht warten, bis dein Mann zurückkommt! Grüß ihn,
bitte, von mir und entschuldige mich bei ihm! ... Wir sehen uns jetzt
in diesem Augenblick zum letztenmal, Maxe, auf lange, lange Zeit.
Vielleicht für immer. Wer kann's wissen? Und da, zwischen Tür und
Angel, darf ich's doch sagen: du hast ganz recht! Mit dem Schicksal,
das meine Frau mir bereitet, wär' ich schließlich irgendwie fertig
geworden! Das hätt' ich getragen und mir gesagt: Man ist nicht zum
Vergnügen auf der Welt! ... Aber was ich nicht ertragen kann, was
mich verzehrt, was mir das Hierbleiben unmöglich macht -- das ist der
Gedanke an dich ... das bist du ... das ist deine Nähe ...«
Er legte die Hand auf die Klinke. Er stand schon halb in der Tür.
»Du, Maxe, treibst mich übers Meer! ... Gott helfe mir: ich kann
wirklich nicht mehr anders! Ich muß. Laß es dir gut gehen! Bleib so
glücklich, wie du bist! Ich bin froh, daß du wenigstens nicht in die
Irre gegangen bist! Leb wohl!« --
Es war am anderen Mittag, drunten im Elsaß. In der kleinen Garnison.
Frühlingsblau lugte der Himmel durch die weißen Fenstervorhänge,
maigrün der Wasgenwald, ein schräger Sonnenstreif ließ die Stäubchen
in der Luft flimmern und vergoldete das Gelb des Kanarienvogels im
Käfig. Der schmetterte drauflos. Sonst war kein Laut im Hause. Ulla
von Logow saß am Fenster und stickte. Draußen klirrte ein Säbel. Sie
wunderte sich, daß ihr Mann so früh vom Dienst zurückkam. Eigentlich
wollte sie ihn, als er eintrat, danach fragen. Aber schließlich war es
ja gleich. Sie senkte das dunkle Haupt wieder über die Handarbeit. Er
sah ihr gleichgültiges, klassisch-lebloses Profil. Er ging ein paarmal
unruhig und unschlüssig im Zimmer auf und ab, ohne daß sie irgendwie
darauf achtete, und frug dann, stehen bleibend: »Sind Briefe für mich
gekommen?«
»Ich weiß nicht.«
Er zuckte die Achseln und trat nebenan an seinen Schreibtisch.
Da lag ein ganzer Stoß -- wohl zehnmal so viel als sonst --
eine Depesche aus Berlin -- ein Schreiben mit dem Aufdruck der
chilenischen Gesandtschaft, Drucksachen von Firmen, Kataloge von
Ausrüstungsgegenständen -- seine Frau hatte wieder gar nicht beachtet,
was der Bursche, wahrscheinlich vor ihren Augen, dahin gelegt. Sie
träumte wirklich nur noch ihr Sein. Er seufzte. Dann kehrte er
entschlossen zu ihr in das Wohnzimmer zurück. Die Sonne umgab ihr
Haupt mit einem goldenen Strahlenschein. Es war schön wie immer. Aber
ihm, vor dessen Augen noch Maxes blühendes blondes Leben stand, schien
es älter geworden, wie von herbstlichen Schatten übertönt, krankhaft
in seiner Blässe. Er räusperte sich.
»Da draußen exerzieren sie noch, Ulla!« sagte er. Und wies in der
Richtung nach dem Exerzierplatz.
»So?«
»Aber ich bin vor der Zeit weg. Ich hab' meine Kompanie abgegeben. Ich
bin beurlaubt.«
»Schon wieder?«
Er unterdrückte einen Verzweiflungsanfall angesichts ihrer Stumpfheit.
»Ja ... schon wieder ...,« versetzte er. »Und diesmal auf längere
Zeit. Auf drei Jahre.«
Das fiel selbst seiner Frau auf. Sie hob die schwarzen mandelförmigen
Augen und sah ihn fragend an.
Er fuhr fort: »Und diese Zeit verbringe ich nicht hier und nicht bei
dir. Erschrick nicht, Ulla! Wir müssen nun einmal offen miteinander
reden und ruhig und herzlich ... Komm ... Gib mir einmal deine beiden
Hände ... So ...«
Er hatte sich ihr gegenüber gesetzt und sah ihr ernst in das unbewegte
Gesicht.
»Wir müssen uns wie zwei Kameraden betrachten, Ulla, denen es bisher
leider Gottes auf ihrer Lebensreise zusammen nicht recht gut gegangen
ist. Daraus soll keiner dem anderen einen Vorwurf machen. Es kommt
alles, wie es muß. Die Reue hinterher ändert nichts. Sicher ist nur:
das Glück hat in unserem Hause nicht gewohnt. Du bist kränklich,
meine Karriere ist entzwei, unser Kind haben wir begraben, wir beide
verstehen uns nicht und finden keinen Trost ineinander ... So geht das
nicht weiter. Man sagt immer: Das Allheilmittel ist die Zeit! ... Ich
glaube, das sollten auch wir zwei miteinander versuchen.«
»Du willst weg?« frug sie langsam, wie aus einem Traum erwachend.
»Ich will auf drei Jahre als Instruktor in chilenische Dienste, Ulla!
... Bitte ... höre mich an ... Das soll der Prüfstein sein! Besonders
für mich. Vielleicht bin ich allein an allem schuld. Vielleicht weiß
ich dich nicht recht zu nehmen. Vielleicht läutert mich das Leben
draußen, und ich kehre als ein anderer Mensch zurück, und wir werden
doch noch glücklich miteinander. Ich will es am heiligsten Eifer nicht
fehlen lassen. Ich habe den besten Willen. Nur Zeit mußt du mir
lassen, Ulla! Geduld mußt du haben! ... Und auch selber ein bißchen
tapfer sein und die Prüfungszeit überwinden ...«
»Wo denn?«
Er beachtete ihre Frage nicht. Er hielt immer noch ihre wächsernen
Hände in den seinen und sprach einfach und eindringlich und herzlich.
»Wir wollen uns recht oft schreiben, Ulla!... Vielleicht klärt das
manches in uns -- bringt uns aus der Ferne einander näher. Und wir
wollen recht oft aneinander denken ... Und nicht mit Bitterkeit und
nicht mit Trotz ... Sondern wir wollen in unseren Gedanken einander
verzeihen und Mitleid miteinander haben -- wir sind doch alle arme,
schwache, sündige Menschen -- und aus dem Mitleid heraus ein wenig
Hoffnung -- ein wenig Liebe! ... Die wollen wir hegen und pflegen! ...
Wir wollen das alles groß auffassen ... als ein schweres Schicksal, in
dem man sich aber über sich erhebt -- nichts Alltägliches dazwischen
-- nichts Niedriges ... Nicht wahr, Ulla -- du versprichst mir, daß du
das auch so auffaßt?«
»Wo?«
Er schüttelte den Kopf zu ihrer beharrlichen Frage.
»Das ist ja gleich, wo jeder von uns wieder mit sich ins reine und
innerlich mit dem anderen zurechtzukommen sucht. Das steht bei dir! Am
besten wohl in Darmstadt bei deiner Mutter ...«
Er kam nicht weiter. Ulla entwand sich seinen Händen. Sie sprang empor
und er erschrocken mit ihr. Sie lachte auf. Sie warf den Kopf zurück.
Sie war ganz verändert.
»So mußte es kommen!« sagte sie mit funkelnden Augen. »Ich hab's ja
gewußt ... das ist das Ende ... Das ist das letzte, was du mir noch
antun konntest ...«
»Was hab' ich dir denn getan?«
Sie fuhr auf ihn los. Sie keuchte ihm ins Gesicht.
»... das ist der Schluß ... man wird einfach bei der Mutter abgestellt
wie ein alter Koffer ... da kann man verschimmeln ... Und du amüsierst
dich irgendwo da draußen ... Dort braucht ja niemand zu wissen,
daß du eine Frau in Deutschland hast ... Deswegen hab' ich dich
wohl geheiratet, he? ... Ich möchte wohl wissen, weswegen ich dich
geheiratet hab'! Es war so dumm von mir ... So dumm! ... Aus Liebe
nicht! ... Das bilde dir nicht ein ...«
»Sei still, Ulla!«
»... sondern ich hab's mir damals lange überlegt ... sogar mit der
Maxe zusammen ... dem blonden Schaf ... und hab' mir gesagt: der
bringt mich wenigstens unter die Menschen, ins Leben hinaus ... ich
bin doch schön! Da soll man's auch sehen! Jawohl ... wie die Eulen
haben wir gelebt in Berlin ... Kein Mensch bei uns als die Maxe ...«
»Hör endlich mit der Maxe auf!«
»... dann hierher ... in dies Jammernest ... weil du die Maxe im Kopfe
hattest und nicht deinen Dienst ... Das mußt' ~ich~ büßen ... und
wieder als Besuch die Maxe, bis ich sie aus dem Haus geschickt hab'
...«
»Laß das jetzt ...«
»Und nun, zu guter Letzt völlig in die Rumpelkammer ... Zu Mama nach
Darmstadt ... Und du fährst mit deiner geliebten Maxe im Herzen nach
Afrika oder Asien übers Meer ...«
»Hör auf! Rühre mir nicht daran! Oder 's gibt ein Unglück!«
»Und sie rauscht in Darmstadt bei uns herein -- großartig ... als
Exzellenz ... zwanzig Menschen hinter ihr ... und du bist der Dumme
... Und ich bin die Dumme ... Und sitze als elende Strohwitwe daneben
und werd' noch ausgelacht hinter meinem Rücken, daß mein Mann mir
ausgekniffen ist ... Großer Gott ... Wodurch hab' ich das nur
verdient? Warum geht's nur der Maxe so gut? Und warum müssen wir beide
ewig für sie leiden? ... Ich bin immer der Sündenbock ... Und hab'
doch niemandem was getan!«
Ihre Aufwallung war verflogen. Die Tränen kamen wie der Platzregen
nach Blitz und Donner. Sie warf sich auf den nächsten Stuhl. Ein
Weinkrampf schüttelte sie. Ihr wildes Schluchzen übertönte das
unbekümmerte Schmettern des Kanarienvogels. Sie stampfte mit den Füßen
auf die Erde. Sie stieß ihren Mann, der sich über sie beugte, mit dem
Ellbogen zurück.
»Laß mich!« murmelte sie zwischen den Zähnen und verstärkte ihre
Tränen. Es waren seltsame, kindische, ihr sonst ganz fremde
Klagelaute, die sich ihren Lippen entrangen. Sie preßte beide Hände
an die Ohren, um Erich von Logows Worte nicht zu hören. Sie machte
die Augen zu, um ihn nicht sehen zu müssen. Endlich hörte sie auf
zu weinen. Sie war erschöpft. Sie wurde ruhiger. Er hatte solange
gewartet und in düsteren Gedanken dagestanden. Nun hob er den Kopf
und sagte: »Es tut mir leid, daß ich dir solchen Schmerz zufügen muß.
Ich habe nicht gedacht, daß es dich so treffen würde ...«
Sie lachte wieder, mit nassen Wangen und feuchten Augen.
»Das glaub' ich! Wann denkst du denn je an mich? Du denkst ja nur an
die Maxe ... An die denkst du bei Tag und Nacht ... Wo du gehst und
stehst ... Meinst du, ich wüßte das nicht? Da müßtest du dich besser
verstellen können ...«
»Ulla ... laß endlich den Namen ... hab' doch ein bißchen Erbarmen mit
dir und mir ...«
»Und dann wirfst du mir vor, ich zerstörte unsere Ehe! ... Haha! ...
Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre ...«
»Ich hab' das nie behauptet, Ulla! ... Ich hab' mit dir nicht
gerechtet! Ich hab' mich nicht in Schutz genommen! ... Ich weiß, daß
ich schuldig bin -- nicht in Werken, aber in Gedanken. Das will ich ja
eben sühnen ... Da drüben ...«
Er überlegte und setzte nach kurzem Kampf hinzu: »Zurück kann ich
nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Es ist alles schon abgemacht! ...
Ich bin gebunden. Ende der Woche muß ich schon in Hamburg aufs Schiff
...«
»Ja ... beeile dich nur, von mir wegzukommen! ... Jeder Tag ist da zu
viel!«
Der Hauptmann von Logow unterdrückte eine Bewegung des Zornes. Er
fuhr mit unveränderter Stimme fort: »Aber vielleicht hast du recht
mit dem, was du vorhin sagtest: ich hab' kein Recht, dich hier allein
zu lassen. Ich will nicht schuld sein, daß du dich unglücklich und
verraten fühlst! ... Also komm in Gottes Namen mit mir, Ulla! ...
Oder noch besser ... folg mir in ein paar Monaten nach, wenn ich mich
drüben ein bißchen eingerichtet habe!«
»Wo?«
»In Chile. Weißt du nicht, wo Chile liegt?«
»Irgendwo da drüben ...« Sie zuckte die Achseln. Ganz klar war es
ihr nicht. »Es ist ja auch gleich, wohin wir zusammen vor der Maxe
davonlaufen ...«
»Ja ... wenn du's nicht anders auffassen kannst ...«
Er ging finster in dem Zimmer auf und ab. Nach einer Weile wandte er
den Kopf zu ihr und frug kurz: »Also du fährst mit?«
»Ist's denn weit von hier?«
»Natürlich ist's weit.«
»Und wo wohnen wir denn da?«
»Das weiß ich nicht!«
»Vielleicht auch wieder in einer ganz wilden, einsamen Gegend?«
»Es kann sein!«
»Und du bist auch wieder den ganzen Tag außer Hause?«
»Freilich hab' ich Dienst! Dort erst recht ...«
»Was sprechen denn da die Leute für eine Sprache?«
»Spanisch!«
»Davon versteh' ich doch kein Wort! ... Da hab' ich ja keine
Menschenseele, mit der ich reden kann!... Da bin ich ja erst recht
verraten und verkauft ... Wie fange ich's da mit den Dienstboten an?
Hier bleiben sie mir ja schon nicht ...«
»Herrgott, sei doch nicht so schlapp!«
»Und was mach' ich denn da, wenn ich wieder krank werde? Vielleicht
ist da gar kein Arzt in der Nähe! Da sterb' ich und werd' im Urwald
begraben! Dann seid ihr mich los!«
Er bemühte sich immer wieder, geduldig zu bleiben.
»Ich kann die Lebensbedingungen drüben nicht ändern!« sagte er. »Ich
kenne sie nicht, aber natürlich werden sie nicht ein Viertel so
schlimm sein, wie du dir das einbildest! ... Du mußt nur ein bißchen
mehr Mut und Selbstvertrauen haben!«
»Nein. Ich fürchte mich davor!«
»Ulla!«
»Ich fürchte mich vor der Seefahrt ... Und ich fürchte mich vor den
Leuten drüben! Ich fürchte mich vor allem auch vor dem Alleinsein mit
dir! ... Ich bin ja dort ganz hilflos in deiner Hand! An mir läßt du
dann alles aus ...«
»Nein, Ulla -- das versprech' ich dir ...«
»Und dann wird's schlimmer wie je! Und die Maxe ist ja doch immer da!«
»Wenn du das Wort noch einmal aussprichst, verlass' ich das Zimmer!«
»... und ich seh' nicht ein, warum ich mich von der Maxe bis ans Ende
der Welt jagen lassen soll, während sie hier herrlich und in Freuden
lebt! ... Den Gefallen tu' ich ihr nicht! ... Hier ist's immer noch
besser! Hier hab' ich wenigstens Menschen ... Die Mama ... Ich bleibe
...«
Es war eine Pause. Dann sagte er: »Wie du willst! ... Überleg es dir!«
»Nein. Ich bleibe!«
Eigentlich fiel ihm ein Stein vom Herzen. Ihm graute nachträglich bei
dem Gedanken, daß sie gemeinsam ihr Elend hätten übers Meer schleppen
sollen. Er wartete die nächsten Tage hindurch auf eine Gelegenheit zu
einer neuen Aussprache mit seiner Frau. Er hoffte, sie würde ihm von
sich aus einen Anlaß dazu geben. Aber Ulla tat nichts dergleichen. Sie
war etwas lebhafter als sonst und wirtschaftete mehr im Hause herum.
Auf ihren Zügen lag dabei eine kalte Abwehr. Wenn sie mit ihm zusammen
war, redete sie hartnäckig kein Wort, sondern starrte an ihm vorbei
ins Leere. An einem Morgen hielt er's nicht mehr aus.
»Ulla -- so können wir nicht auseinandergehen ... Wir müssen noch
zusammen über die Zukunft einig werden! ... Ich schreibe dir
vielleicht am besten von drüben, wie alles ist, und du kannst dir dann
immer noch überlegen, was du tust!«
Sie erwiderte nichts. Nach einer Weile erhob sie sich und verließ
das Zimmer. Nun gab er es auch auf. Den Rest des Tages verbrachten
beide stumm in der kleinen Villa, in der schon überall halbgepackte
Koffer, geöffnete Schubladen, gähnende Schränke die nahe Auflösung des
Haushalts verrieten.
Am Abend war Abschiedsessen im Kasino. Erich von Logow war im Regiment
nie so recht warm geworden. Er hatte, in der trüben Unruhe, die ihn
seit Jahr und Tag erfüllte, nicht viel Verkehr mit den Kameraden
gesucht, und in diesem Grenztruppenteil wieder, der hier wie ein
Vorposten die Wacht am Ende des Reiches hielt, hatte man nie erwartet,
daß er lange bleiben würde. Er stammte aus dem Generalstab. Er
war ein Springer. Er kam und ging. So hatte die Feier nicht das
Herzliche wie sonst in der großen Familie eines Regiments, wo man den
Scheidenden seit so und so viel Sommern und Wintern als Kameraden
kannte. Aber sie war trotzdem würdig und nett verlaufen. Der Oberst
hatte gesprochen und den neuen Militärinstruktor ermahnt, auch da
drüben in Südamerika den preußischen Waffenruhm in Ehren zu halten und
die Chilenen auf die Höhe des alten Landsknechtsspruchs zu bringen:
»Wer im Krieg will Unglück ha'n,
Der fang' ihn mit den Deutschen an!«
und der Hauptmann von Logow hatte gedankt und gelobt, sein Bestes zu
tun, und sein Glas bis auf die Nagelprobe auf das Wohl des Regiments
geleert.
Sonst hatte er, nach seiner Gewohnheit, nur ganz wenig getrunken. Sein
Kopf war frei, während er von dem Liebesmahl durch die stockdunkle
Nacht nach seinem Hause vor der Stadt schritt. Der Wind pfiff über das
weite Feld, die Pappeln rauschten rechts und links am Wege. Man mußte
den genau kennen, um ihn nicht in der Finsternis zu verfehlen. Ein
schwacher Lichtschein da drüben wies die Richtung. Dort brannte eine
Kerze im Flur. Erich von Logow trat ein, legte Helm, Säbel und Mantel
ab, und öffnete leise die Tür zum Schlafgemach. Es war schon spät.
Er wollte Ulla nicht wecken. Aber das Zimmer war leer! Sollte sie
aufgeblieben sein, um ihn zu erwarten? Das war doch sonst nicht ihre
Art. Er ging hinüber in den Wohnraum. Auch da niemand. Aber nebenan,
auf seinem Schreibtisch, lag im hellen, gelben Strahlenkreis der
Lampe ein geschlossener Brief. Ohne Aufschrift. Offenbar von ihr. Er
riß ihn auf. Es waren die Schriftzüge seiner Frau. Er las:
»Wenn wir uns schon trennen sollen, weil es Dir so beliebt, so will
ich wenigstens nicht die sein, die zu Schimpf und Spott in dem leeren
Haus sitzen gelassen wird. Dann will ich es wenigstens sein, die Dich
verläßt und die zuerst das Haus verläßt, und Du magst dann selber den
Schlüssel abziehen. Gib ihn bitte an Frau Hauptmann von Japorski. Sie
hebt ihn schon auf und sieht in der Wohnung nach dem Rechten. Sie soll
so gut sein und tüchtig lüften, damit die Nordseite nicht muffelt!
Sonst habe ich mit dem Hauswirt Ärger, wenn ich zum Umzug zurückkomme.
Vorläufig gehe ich zu Mama nach Darmstadt und bleibe, bis Du unterwegs
bist. Ich fahre jetzt, während Du im Kasino bist, zum Abendzug auf den
Bahnhof. Das habe ich mir schon seit Tagen überlegt. Weiter habe ich
Dir jetzt nichts zu sagen. Du willst ja auch von mir nichts wissen.
Also leb vorläufig wohl!
Ulla.«
Der Hauptmann von Logow faltete langsam den Brief zusammen. Das
Frösteln der Einsamkeit überlief ihn. Draußen schwieg die Nacht.
Das Haus lag still und verlassen und blieb es, bis er am nächsten
Abend mit einem schweren Aufatmen das Flurtor hinter sich ins Schloß
drückte. Am Vormittag hatte er sich überall abgemeldet. Eigentlich
sollte er erst am kommenden Morgen fahren. Aber er wollte nicht die
Kameraden an der Bahn haben, kein lärmendes Abschiednehmen vor allen,
keine erstaunten und neugierigen Fragen nach seiner Frau, deren Fehlen
verriet dann im letzten Augenblick manches, was sonst hier allen für
immer ein Geheimnis blieb. So hatte er eben an den Regimentsadjutanten
ein paar flüchtige Zeilen mit der Bitte um Entschuldigung gesandt,
daß er so plötzlich ohne Abschied abreise, um sich mit seiner schon
vorausgefahrenen besseren Hälfte bei deren Mutter zu treffen. Er stand
vor dem Hause mit den geschlossenen Fensterläden, aus dem seine Frau
schon vor ihm gegangen war; er blickte hinüber nach dem Kirchhof, wo
sein Kind begraben lag -- alles hier war eine große Trümmerstätte
von Hoffnung und Glück. Er drehte ihr den Rücken und schritt dem
Bahnhof zu. Die Abendsonne sank hinter den Vogesen und wies ihm in
geheimnisvollem Leuchten den Weg gen Westen, übers Meer, in das neue
Land.
Achtundvierzig Stunden später stand er an Bord des großen gelben
Hamburger Dampfers, der langsam die Elbe hinabfuhr. Der Hafen lag
schon hinter ihnen. Rechts glitten die Höhenzüge vorbei, die Parks und
Schlösser, Flottbeck, die Teufelsbrücke, Blankenese mit seinem hohen
Wartturm. Links ragte aus der weiten Ebene der Fischermastenwald,
die niederen Dächer von Finkenwerder. Und breiter und breiter ward
der Strom. Er weitete sich zum Haff. Dort, schon in der Ferne, über
der unruhig gewordenen See, lag Cuxhaven. Ein paar Ozeanriesen der
Hamburg-Amerika-Linie davor.
»Das ist die alte Liebe!« sagte jemand neben ihm und erklärte,
so heiße dort der Pier -- der äußerste des Festlandes -- die
Abfahrtsstelle über das große Wasser. In Erich von Logow klang das
Wort nach: Alte Liebe ... ja ... das war der letzte Ruf aus der Ferne
-- das war es, was ihn in die Weite trieb. Darin war alles beschlossen
-- des Lebens Rätsel und des Lebens Qual. Er schaute zurück, und es
lag stumm auf seinen Lippen: Du alte Liebe ... du ewig neue ...
Nun war der Küstenstreifen schon beinahe ganz verdämmert. Europa
versank. Der Wind pfiff stärker und knarrte im Takelwerk. Die Möwen
kreisten und schrieen. Das Schiff schwankte, und so weit das Auge
reichte, rauschte grauzerpflügt das Meer ...
16
»Morgen marschieren wir,
Ade -- ade -- ade -- ade!
Morgen marschieren wir --
Ade -- ade -- ade ...
Wie schön schlug heut' die Nachtigall
Vor meiner Liebsten Haus ...«
Hunderte von rauhen Kehlen sangen, die Gewehre starrten kreuz und
quer über den regennassen Helmen, es ging ohne Tritt mitten durch die
Straßen von Darmstadt. Kriegsgemäß. Es war Manöver. Kaisermanöver.
Dort im Süden, gegen den Neckar zu, stand der Feind.
In grauen Strähnen strömte der Herbstregen herunter. Der Boden
war ein zäher Brei, aufgeweicht von Nagelstiefeln, Rossehufen und
Kanonenrädern der endlos von Frankfurt her durchrückenden Kolonnen,
die Bürgersteige, die Fenster und Balkons schwarz von Menschen.
Undurchdringliche Schilddächer von Regenschirmen säumten die
Wegkreuzungen ein. Über ihnen sah man nur die Pferdeköpfe und die
Oberkörper der berittenen Offiziere vorbeigleiten. Maximiliane von
Glümke versuchte, vom Darmstädter Bahnhof kommend, seit zehn Minuten
vergeblich, den Schnittpunkt der Rhein- und der Neckarstraße am
Zivilkasino zu überschreiten, nachdem ihr Suchen nach einem Wagen
heute vergeblich gewesen war. Sie stak, das Reisetäschchen in der
Hand, ihre Jungfer neben sich, mitten in der Masse. Vor ihr zog
es immer weiter vorüber: Generale mit ihrem Stab -- Lanzenwälder,
Pausen, in denen nur das dumpfe Poltern auf dem Pflaster verriet,
daß Artillerie durchpassierte, und wieder schwere, schulternde
Infanteriemassen. Es war ohne Anfang, ohne Ende. Es schien das
achtzehnte Armeekorps zu sein. Maximiliane erkannte durch die
Lücken der Menschenmauern zuweilen die Uniformen der nassauischen
und kurhessischen Regimenter -- das Artillerieregiment Oranien
-- die Wiesbadener und Homburger Füsiliere. Jetzt eben entstand
im Vorbeimarsch der Einundachtziger, der Frankfurter, ein Halt.
Sie benutzte die Gelegenheit und ging mit der Sicherheit einer
Soldatenfrau zwischen den Sektionen hindurch. Auf der anderen Seite
der breiten Rheinstraße war auch noch alles voll von Menschen,
die ganze Stadt in festlich verregneter Stimmung, aber man kam
doch vorwärts. Beim weißen Turm trat die junge Generalin in einen
Blumenladen ein und kaufte einen Strauß zur Begrüßung für ihre Mutter,
zu der sie heute für einige Zeit auf Manöverbesuch kam. Während sie
auf das Binden wartete, schaute sie durch die regenblinden Scheiben
ins Freie hinaus. Soldaten ... immer wieder Soldaten ... auch hier
... nicht die gewohnten Truppenteile, die man im Frieden sah, sondern
ganz sonderbare Formationen aus der probeweisen Mobilmachung eines
Armeekorps mit kriegsstarkem Train -- lange ernste Munitionskolonnen,
rauchende Feldbäckereien auf Rädern, Reservehufschmieden, Ambulanzen
mit dem roten Genfer Kreuz, fauchende Lastautomobile, dann, von
Pionieren bewacht, eine Karrenreihe mit großen, darauf verpackten
Trögen, ein Pontonbrückentrain, rechts, um die grauen Massen des
Schlosses herum, am Theater vorbei bis in die Altstadt hinein,
Hunderte von stillhaltenden Leiterwagen mit Heu und Stroh, von
Odenwälder Bauern mit Vorspannpferden geführt -- ein Bild wie aus dem
Dreißigjährigen Krieg. Die junge Frau riß plötzlich die Glastür auf
und rief: »Dorle ... Dorle ...!«
Eine kleine rundliche Dame und ein zwei Köpfe größerer, knochiger Herr
in Zivil drehten sich um. Jawohl: sie waren es ...! Dorle Grotjan
stieß einen Schrei des Entzückens aus und flog ihrer schönen Schwester
entgegen. Ihr Gatte, der nun schon Hauptmann bei seinen dreißigsten
Pionieren in Thorn war, küßte ihr, der Exzellenz, respektvoll die Hand.
»Ja ... unsere Festungsübungen an der Weichsel waren vorgestern zu
Ende. Da sind wir rasch mal hier zu Muttern 'rüber!« sagte er ganz
aufgeregt auf ihre Frage. »So was sieht unsereins nicht alle Tage ...
Schau nur die Brückentrains ... der Neckar wird morgen an fünf Stellen
zugleich von fünfzigtausend Mann überschritten! Großartig! ... was?«
»Ach, das ist noch nichts!« rief Dorle dazwischen. »Von der Rosenhöhe
aus solltest du einmal sehen! ... Die ganze Rheinebene, bis Frankfurt
hin -- alle Straßen schwarz!«
Und ihr Mann ergänzte begeistert: »Das ist das elfte Korps. Und heute
nacht ist das ganze bayerische Armeekorps mit Sack und Pack, Pferden
... allem ... in achtzig Zügen von München hier herüber. Sie schiffen
sich eben zwischen Aschaffenburg und Frankfurt aus ...«
Das Ehepaar war wie berauscht. Die junge Exzellenz blieb kühler, an
kriegerischen Trubel im großen Stil gewöhnt. Sie frug: »Wo ist denn
der Kaiser?«
»Der Kaiser ist noch in Mainz! Das Hauptquartier geht morgen von
dort direkt gegen den Neckar, in die Gegend von Ladenburg ...
Der Großherzog von Hessen ist auch drüben in Mainz. Eine Menge
Fürstlichkeiten! Wir waren gestern in Mainz ... Ich sage dir: die
Stadt steht auf dem Kopf! Ein Menschengewühl ... ein Leben ... alles
voll Fahnen ...«
»Dabei nichts mehr zu essen und zu trinken!« lachte Frau Dorle. »Die
Leute übernachten im Freien!«
»Und wir kommen hier auch nicht von der Stelle,« sagte die Generalin
etwas ungeduldig. Im selben Augenblick hatte ein höherer Offizier zu
Pferde, ein früherer Untergebener ihres Mannes, sie erkannt. Er grüßte
Maximiliane ehrerbietig und wetterte dann den nächsten Ulanenleutnant
an, der, das Reservekreuz auf der Tschapka, sehr mißvergnügt, weil er
und viele Leidensgefährten, statt vor der Front querfeldeinzusprengen,
hier Fuhrknechte und Karren bewachen mußte und teilnahmslos von seinem
durchnäßten Gaul über diese vierräderige Trübsal hinweg ins Graue
blickte.
»Zum Donnerwetter, Herr ... wozu hat Sie denn der liebe Gott
erschaffen und hierher gestellt, wenn Sie sich um nischt kümmern? ...
Da steht Ihre Exzellenz womöglich schon seit einer Stunde und wartet
auf Durchlaß ...«
»Oh ... Pardon ...«
Der Reserveleutnant riß, zu plötzlichem Eifer erwacht, höchst
eigenhändig den nächsten Karrengaul zur Seite. »Platz für Ihre
Exzellenz!« befahl er. Hinter dem Wagen schrie ein Unteroffizier:
»Platz für Exzellenz!« Andere Stimmen wiederholten es: »Platz für
Exzellenz!« Niemand wußte mehr, wer die Exzellenz war. Aber es bildete
sich eine Gasse, durch die hindurch die drei in ruhigere Straßen und
zum Hause der verwitweten Frau von Ottersleben gelangen konnten.
Maximilianes Mutter wohnte mit ihrer ältesten Tochter außerhalb der
eigentlichen Stadt gegen die Bessunger Kasernen zu. Es waren helle,
freundliche Zimmer. Im vordersten stand, im eleganten Zivil, Otto
von Ottersleben mit seiner Frau, und schaute tiefsinnig auf den
Heereszug hinunter. Die Scheiben klirrten von dem dröhnenden Schritt
der Bataillone, die Fensterrahmen zitterten unter dem Gerümpel der
Geschützräder -- jetzt setzte die Musik ein -- ein Reitermarsch
schmetterte durch Grau und Regen ... lieber Gott ja -- so war man
früher auch mit hinausgezogen, hatte sich den Landstraßendreck ins
Gesicht spritzen lassen und die Flöhe im Bauernbett gezählt und im
Stall drauflos gedonnert, weil der Einjährige Meier die Roßäppel
nicht mit seinen eigenen verehrlichen Pfoten zusammenkratzen wollte.
Jetzt war man ein freier Mann -- konnte tun und lassen, was man
mochte. Besaß sein eigenes Rittergut in der Ostmark. Aber auf Otto von
Otterslebens hübschem Gesicht lag ein Schatten, während er sich von
den Soldaten unten ab- und den Seinen im Zimmer zuwandte.
Dort hatte Maximiliane inzwischen lachend die Mutter umarmt. Frau von
Ottersleben erwiderte ihre Küsse. Dann entschuldigte sie die Älteste:
»Ulla kommt gleich! Sie hat eben einen langen Brief gekriegt von ihrem
Mann, aus Südamerika.«
»Wie geht's ihm denn?«
»Es scheint ganz gut, Maxe! ... Aber 's ist doch recht traurig! ...
Da sitzt die arme Ulla nun hier ... Ich bin ja froh! Ich habe dadurch
Gesellschaft! Ihr andern kommt ja doch nur alle Jubeljahre mal! ...
Sogar du, Maxe!«
»Ja, eben wegen der Ulla, Mama!« sagte die junge Exzellenz, ernst
geworden. »Ich bin ihr doch ein Dorn im Auge!«
»Warum denn nur, Kind?«
»Ich weiß nicht! ... Ich geh' ihr aus dem Weg, wo ich kann. Aber heute
ist's mir gleich. Ich muß dabei sein, wenn mein Mann ... o Gott ...
was werden die Leute draußen naß!... Er natürlich auch!... Er schont
sich ja nie ...«
Schallend dröhnte es unten aus der grauen Flut von Helmen,
Gewehrläufen und gerollten Mänteln:
»Der Hauptmann, der führt uns,
Er geht uns kühn voran.
Wir folgen ihm mutig
Auf blutiger Siegesbahn ...«
Und während die eine Kompanie da vorn im Regen verschwand, hallte
schon der Chor der nächsten:
»Er führt uns jetzt
Zu Kampf und Sieg hinaus,
Er führt uns deutsche Brüder
Ins Vaterhaus!«
Und der gestrenge Kompaniechef, der in seinem nassen Mantel vor den
Seinen ritt, wandte wohlwollend den Kopf im Sattel zurück, zufrieden,
daß seine Kerls trotz des Schweinewetters fidel waren, und die jungen
Leutnants, die leichtfüßig, mit ihrem kleinen Tornister auf dem
Rücken, neben ihren Sektionen schritten, sangen aus Langeweile mit,
während es sich weit, weit in der Ferne in tausendstimmigem Chor
verlor:
»Und wer den Tod
Im heilgen Kriege fand, ja fand,
Ruht auch in fremder Erde
Im Vaterland! ..«
Dann plötzlich Stille unten. In der Menschenmenge ein beinahe
ehrfürchtiges Schweigen. Ein Generalkommando kam vorbei. Vorne der
Kommandierende im Auto mit dem Chef und den Herren seines Stabes.
Ein hellblauer, blondbärtiger, von Aschaffenburg herübergekommener
Bayer ritt nebenbei und stenographierte sich im Gespräch mit einem
der Adjutanten im Sattel Notizen in sein Taschenbuch. Dahinter die
Ordonnanzoffiziere, die Stabsordonnanzen in schimmerndem Stahlhelm,
berittene Burschen mit Handpferden, und weiter, zu Roß und zu Wagen,
all das Gefolge: Militärintendanten, Stabsärzte, Kriegsgerichtsräte,
Feldgeistlichkeit, Stabsveterinäre, Aktenfuhrwerk, eine Abteilung
eines Telegraphenbataillons mit Sack und Pack -- es dauerte lange, bis
der Zug des Allgewaltigen vorbei war, und eben sagte Dorle Grotjan,
die kleine Hauptmannsfrau, mit einem Anflug von Neid und Bewunderung
zu ihrer Schwester: »So weit werdet ihr nun auch bald sein, Maxe!«
»Oder wir gehn in Wiesbaden unterm Regenschirm spazieren!« lachte die
junge Exzellenz. »Wir sind auf alles gefaßt!«
Neben ihr versetzte ihr Bruder Otto: »Und ich hab' manchmal umgekehrt
förmlich wieder Lust, ein bißchen mitzumachen!«
Durch die Hülle des Millionärs und Dandys hindurch regte sich in ihm
beim Anblick des Waffentreibens da unten das kriegerische Blut seines
Stammes. Die Tür zum Nebenzimmer ging auf. Ulla von Logow kam herein,
den Brief ihres Mannes in der Rechten. Sie ging auf Maxe zu und
reichte ihr gleichmütig die Hand in einer Art von geistesabwesender
Ruhe, die nichts Feindseliges an sich hatte. Sie erzählte ganz
unbefangen von dem, was Erich von Logow ihr schrieb. Jeden Monat
einmal kam ein Brief von ihm. Es stand ungefähr immer dasselbe drin,
wie heute: Viel Dienst -- viel Ärger -- viel Strapazen -- etwas Erfolg
-- annähernd so eben das, was er sich gewünscht und erwartet hatte.
Ihr, seiner Frau, schien es mit der Gesundheit besser zu gehen. Sie
sah wohler aus, sie war etwas lebhafter als früher und schlug selbst
nach Tisch, als der Himmel sich aufzuhellen begann, ihrer Schwester
Maximiliane, die sie seit fast einem Jahre, seit ihrer schweren
Krankheit, nicht mehr gesehen, einen Spaziergang vor. Es war dabei
etwas in ihren dunklen, ruhigen Augen, das hieß: Ich habe mit dir zu
sprechen. Die beiden jungen Frauen machten sich fertig und traten
vorsichtig, die Röcke zwischen den Regenpfützen raffend, hinaus in das
Straßengewühl.
Ringsum war heller Jubel. Ein Lärm wie noch nie. Die einheimischen
Truppen marschierten durch, die Regimenter der fünfundzwanzigsten
Division, die bisher in Oberhessen im Manöver gewesen. Zwar die
Kavalleriebrigade, die russischgrünen Dragoner mit ihren roten und
weißen Krägen, war schon längst voraus in der Rheinebene, wo der
Vortrab der Reiterschwärme seit dem Morgen mit dem Gegner plänkelte
und seinen Vorpostenschleier zu zerreißen suchte, aber die ganze
Straße hinunter war alles voll von den Hundertfünfzehnern und ihren
weißen Gardelitzen und ihrem klingenden Spiel. Auf Hunderten und
aber Hunderten von Helmen schimmerte unter dem hessischen Löwen die
Jahreszahl »1621« des zweitältesten Regiments der Armee, das noch
den Beginn des Dreißigjährigen Krieges gesehen, die langen Kerle
der Leibkompanie grinsten und nickten in die Menschenmauern, Zurufe
und Scherze flogen, Gejohle, Mädchengekreisch -- die Babettchen und
Sannchen am Küchenfenster winkten ihren Gardisten und Gardefüsilieren
zu. Und hinterdrein fluteten die weißen Achselklappen der Gießener,
die blauen Mainzer, die gelben Offenbacher -- ferne Musik kündete
das Nahen immer neuer Truppenteile -- es hatte den Anschein, als
höre das nun überhaupt nicht mehr auf, als würde, so wie ein Strom
tagaus tagein durch sein Bett fließt, die deutsche Armee ohne
Ende ihre bunten Fluten hier vorüberwälzen. Die beiden, Frau von
Glümke und Frau von Logow, hatten eine Weile mit unwillkürlichem
Sachverständnis dem Vorbeimarsch zugeschaut. Dann wandten sie sich
ruhigeren Gassen zu nach der Altstadt und, an der verlassenen Kaserne
des Leibgarderegiments vorbei, durch die Dieburger Straße hinaus
ins Freie. Hier war es mit einem Schlag einsam und still: schwach
violett, sanftgestreckt, zum Greifen nah, lagen in der klaren Luft
die Odenwaldberge. Ein Sergeant in blauer Feldlitewka kam mit
einer Meldung von dort, von Osten her, in rasender Eile auf einem
knatternden Motorzweirad, heran und flitzte wie ein Schatten vorbei
-- dann zwei, drei Militärradfahrer -- Es war hier wie ein Verklingen
des großen kriegerischen Schauspiels in der Ferne -- Nun rührte sich
wieder nichts. Noch prangte das bunte Laub an den Bäumen und zeigten
im Geäst auf den Feldern die Äpfel ihre roten Backen. Aber mehr als
ein welkes Blatt kreiste bei jedem Luftzug zu Boden, deckte die Erde,
daß man beim Gehen das herbstliche Rauschen unter den Füßen hörte,
wie eine Mahnung: die grauen Tage sind nah. In dies leise, müde
Knistern klangen jetzt von ferne her dumpfe, hallende Schläge. Sie
waren viele Stunden weit entfernt. Man hörte sie nur, wenn gerade der
Wind aus Südwesten kam. Dann war es, als grollte dort drüben über der
Rheinebene ein Gewitter: die beiden Schwestern waren stehen geblieben
und horchten, und Maxe sagte: »... Kanonen! ... Jetzt geraten sie
schon ordentlich aneinander ...«
Und dann im Weitergehen: »Möchte nur mein Mann so recht tüchtig nach
vorn 'rankommen! ... Unter den Augen von Majestät!«
»Er wird schon!« meinte Ulla phlegmatisch.
»Ja -- wenn alle Leute die Dinge so pomadig ansähen wie du! ... Glück
muß der Mensch haben! ... Gottlob ... Olaf hat's eigentlich immer!
... Er ist so veranlagt! ... Er zwingt sich's herbei ...«
Die blasse brünette Frau neben ihr nickte. Sie sagte gepreßt, in einem
Ton, der ihre eigene Schicksalslast verriet: »Freilich ... du bist zu
beneiden, Maxe ...«
Nach einer Weile setzte sie schleppend und traurig hinzu: »Du weißt ja
gar nicht, wie gut du es hast!«
Sie waren dicht vor dem Waldrand der Fasanerie. Aus dem schoß jäh
ein Automobil, stutzte an der Wegkreuzung und stand still. Ein
älterer, vornehmer Herr in der Uniform des Freiwilligen Automobilkorps
führte es. Neben ihm und hinter ihm im Wagen saßen gedrängt
Generalstabsoffiziere mit umgeschnallten Feldstechern und Landkarten
auf den Knieen. Er lüftete seine Kappe: »Bitte, meine Damen! Ist das
der nächste Weg nach Darmstadt? ... Ja? ... Danke gehorsamst! Danke!«
Und schon war alles wieder in Rattern und Benzindampf um die Ecke.
Ulla von Logow ließ im Weitergehen den Kopf hängen. Ihre dunklen,
schwermütigen Augen hafteten am Boden. Sie sah ihre Schwester nicht an.
»Wenn man so zurückdenkt, wie das alles so gekommen ist, Maxe,« sagte
sie. »Und wenn man sich mit dir vergleicht ... ich bin doch in einer
recht elenden Lage -- nicht? In einer lächerlichen: wenn ich Witwe
wäre, so wär' ich frei. Wenn ich geschieden wäre, so wär' ich frei!
... Wenn ich du wäre oder die Dorle, so hätt' ich meinen Mann. So aber
hab' ich keinen Mann und bin doch nicht frei! Ich hab' nur das Elend
von beidem. Und weiter nichts! ... Das ist doch eine Lage, in der
sonst niemand ist ... Ich kann mir das gar nicht erklären ... Ich hab'
immer das Gefühl, daß irgendwie ein großes Unrecht an mir begangen
worden ist!«
Sie kämpfte mit sich und setzte mit Überwindung hinzu, während es vor
Bitternis um ihre Lippen zuckte.
»Siehst du, Maxe -- so weit bin ich schon gekommen -- so verlassen und
überflüssig fühle ich mich ... daß ich mich schon an dich klammere ...
An dich! ... Ich muß mir selber immer klar machen, was das heißt! ...
Denn du bist doch meine natürliche Feindin im Leben ...«
»Ich bin deine Schwester, Ulla ...«
»Ach Gott ja ... deswegen gehen wir doch an dir zugrunde, er und
ich -- und es drückt mir das Herz ab, und ich kann es niemandem
ausschütten als dir ... ausgerechnet dir ... ich muß ... wenn ich
dich seh', muß ich von ihm sprechen! ... Ich hab' gar keinen Stolz --
nicht?«
Sie lachte verzweifelt auf und fuhr fort: »Ja. Es war damals eine
Vernunftpartie. Aber du hast nachher doch auch eine gemacht --
sogar noch viel offenbarer -- warum ist's nun bei dir damit so gut
ausgegangen und bei mir so jammervoll? Das möcht' ich bloß wissen!«
»Vielleicht, weil ich vorher mein Herz hab' zum Schweigen bringen
müssen!« sagte Maximiliane. »Das ist dir erspart geblieben! ... Du
hast ja nie in deinem Leben wirklich geliebt -- höchstens dich lieben
lassen ... Du weißt nicht, was man da durchmacht ...«
Die beiden jungen Frauen schwiegen. Sie schritten unter den hohen
Buchen des Waldes dahin. Hier merkte man nichts mehr von dem Krieg im
Frieden draußen. Kein Mensch war zu sehen. Ulla schaute noch immer vor
sich, auf die knorrigen Wurzeln, die quer über den Pfad liefen und den
Fuß hemmten. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sagte: »Du meinst,
ich hätte nie geliebt! Weißt du, daß das ein schreckliches Wort ist,
wenn's wahr ist?«
»Ja.«
»Aber es ist nicht wahr!«
Sie holte tief Atem.
»Weißt du, Maxe ... wie du damals anfingst, auf ihn Eindruck zu
machen, da kam's über mich! Da fing ich an und wollt' ihn selber
haben. Da war's schon zu spät. Da entglitt er mir. Es war ein
verzweifelter, aussichtsloser Kampf all die Jahre -- eigentlich nicht
gegen ihn, sondern gegen dich. Du warst mein Verhängnis ... Sei nicht
böse ... Ich mein' es auch nicht böse. Du kannst ja nichts dafür.
Ich hab' es wohl auch nicht richtig angepackt. Ich hatte Zeiten der
Mutlosigkeit und Verbitterung ... Da hab' ich die Hände in den Schoß
gelegt und die Dinge laufen lassen, wie sie wollten, und ihn durch
meine Gleichgültigkeit erst recht wieder abgestoßen, zu dir hin ...
immer zu dir ... ach Gott, Maxe -- was hab' ich gelitten durch dich
... Und du warst unterdessen in Glück und Glanz!«
»Komm, wir wollen umdrehen, Ulla,« sagte die Generalin. »Es wird zu
spät. Ich versäume sonst noch in der Stadt meinen Mann!«
Die beiden Schwestern schlugen den Rückweg ein. Nach kurzer Pause hob
Frau von Logow wieder an: »Ja, dein Mann ... du hast einen Mann! Aber
ich ... meiner ist fern ... und seit er fern ist, weiß ich erst ganz,
was ich an ihm hab'! Glaub mir, Maxe -- diese Zeit unserer Trennung
-- die hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Ich bin so weich
geworden -- so voll Sehnsucht ... ich fühle mich so verlassen ... ich
lieb' ihn so ... ich hab' ihn schon die Jahre geliebt -- aber nie so
wie jetzt ... jetzt ist das alles erst ganz in mir wach geworden ...
ich weiß jetzt, daß ich im Leben nie mehr etwas ohne ihn anfangen
kann, nie mehr froh werden ohne ihn ... Ich denke nur an ihn ... ich
zähle die Tage, bis die Post aus Südamerika kommt ... Gottlob ...
seine Briefe sind immer lang und freundlich ... er ist gut zu mir
übers Meer ... ich bin so glücklich, wenn ich sitzen und ihm schreiben
kann ... ich rechne mir jetzt schon immer aus: In zweieinhalb Jahren
ist's überstanden. Dann kommt er zurück. Dann hab' ich ihn wieder ...«
»Aber warum fährst du denn nicht jetzt gleich zu ihm hinüber? Es hält
dich hier doch nichts?«
Ein tiefer Kummer legte sich über Ullas bleiche Züge.
»Ich hab' zwei, drei Ärzte gefragt! Immer dasselbe: Mit meiner Lunge
geh' ich in dem Klima da drüben in kurzem drauf. Oder wenn nicht ganz,
so doch halb! Darunter hat er schon hier genug gelitten. Was macht er
erst dort mit einer siechen Frau, ohne rechte Pflege? Das darf ich ihm
nicht aufpacken! Da verliert er wieder seine Spannkraft. Daran will
ich nicht schuld sein. Ich muß schon hier bleiben und warten. Ich
entziehe ihm ja dadurch nichts. Er braucht mich ja nicht. Nur ich ihn
...«
Ein warmer Schimmer durchleuchtete ihre großen dunklen Augen. Um ihre
blassen Lippen spielte ein hoffnungsvolles Lächeln.
»Wenn er dann wieder daheim ist, dann kommt meine Zeit! Dann will ich
alles daran setzen, um alles wieder gutzumachen. Dann muß er mein sein
und bleiben. Ich möchte bloß leben bleiben, um das Glück zu erleben!«
Sie blieb stehen und faßte die Hand der Jüngeren.
»Und das, Maxe -- das ist der Segen für mich, daß ich mich auf dich
verlassen kann. Du hast ja alles in der Hand. Aber du hast ihn nie mit
einem Blick, mit einer Silbe auf etwas anderes als auf seine Pflicht
hingewiesen! Und das hat mir den Mut gegeben, jetzt mit dir so offen
darüber zu reden. Ich weiß: wenn er zurückkehrt, wirst du, die du
selbst so glücklich bist, mein Glück nicht stören ...«
»Da sei Gott vor!« sagte Maximiliane von Glümke leise und ernst.
Die zwei jungen Frauen blickten sich an und beugten sich dann, von
der gleichen Eingebung ergriffen, mit einem schmerzlichen Lächeln
gegeneinander und gaben sich einen stummen, schwesterlichen Kuß. Beide
hatten Tränen in den Augen. Still kehrten sie in die Stadt zurück.
Dort war immer noch dasselbe Bild: Menschenmauern, über ihnen, in
rastlosem Dahingleiten, die Züge der Pickelhauben und Gewehrläufe,
Pferdeköpfe, eine in schwarzes Wachstuch gewickelte Fahnenstange
-- der Schellenbaum mit Glöckchengeklingel und Roßschweifwehen --
Paukenschlag und Trompetengeschmetter -- immer neue Regimenter
und Bataillone. Von den Fenstern der Otterslebenschen Wohnung sah
man nicht mehr auf sie hinunter. Alle standen und musterten ein
paar sonderbare, kreisende Libellen fern in der Luft, über dem
Waldsaum, der den Exerzierplatz hinter dem Bahnhof abschloß. Das
waren Militärflugzeuge, die vom Griesheimer Sand herüberkamen. Sie
flatterten, verschwanden wieder in der Richtung gegen den Rhein,
und während noch die Blicke der Familie an den Luftseglern hingen,
wandte sich Maximiliane mit einem plötzlichen leisen Aufschrei der
Freude um und lief nach der Tür. Sie hatte draußen die Stimme ihres
Mannes gehört. Fast zugleich stand er schon auf der Schwelle, streckte
lachend die Arme aus und zog sie stürmisch an sich.
Exzellenz von Glümke war feldmarschmäßig gestiefelt und gespornt,
so wie er eben aus dem Sattel gestiegen. Sein Gefolge hielt als ein
stattlicher Reitertrupp, Generalstäbler, Adjutant, Stabsordonnanzen,
Burschen mit Handpferden, vor dem Hause inmitten einer rasch
zusammengeströmten Menge von Neugierigen. Er war seiner nachrückenden
Division vorausgaloppiert. Ein Hauch von Herbstluft und Stoppelwind,
von Frohsinn und Frische des Manövers umwitterte ihn. Seine Wangen
waren gerötet. Seine blauen Augen blitzten. Jetzt, wo der Helm das
angegraute Haar bedeckte, glich er in der Lebhaftigkeit seiner
Sprache, dem Ungestüm seiner Art weniger einem preußischen General der
schweigsamen, gemessenen Moltkeschen Schule als einem Napoleonischen
Marschall, einem der verwegenen Troupiers, die auf Mord und Kaput
die Truppen mit sich in das Feuer und zum Siege rissen. Er goß ein
Glas Wein herunter, das ihm seine Frau gebracht, wischte sich den
Schnurrbart und lachte.
»Na -- nu geht's los! ... Eine Riesenwirtschaft ... Drüben am Main, wo
ich herkomm', ist alles himmelblau von Bayern. Die sind noch zurück.
Aber sie schließen mit einem Nachtmarsch auf. Morgen wird was an
Pulver verknallt ...«
»Schade nur, daß du so weit hinten bist!« meinte Maximiliane betrübt.
Er verneinte eifrig.
»Schadet gar nichts, Schatz! Die Teten beißen sich doch am Feinde
fest. Die kommen doch nicht vorwärts. Aber wir marschieren am Flügel
auf ... Ich hab' so die Idee, daß wir uns bei Weinheim seitwärts
in die Büsche schlagen ... das wäre ein Spaß: über den Odenwald
urplötzlich morgens die Württemberger und Badenser aus ihren Biwaks
kitzeln ... na ... Gott geb's!«
Er küßte seine Frau zum Abschied.
»Also hört mal ... wer von euch morgen was sehen will -- meine
Heldentaten im Gebirge könnt ihr doch nicht verfolgen --
immer dahin, wo Seine Majestät ist ... in die Rheinebenelinie
Heidelberg--Ladenburg--Mannheim -- sag mal, Otto ... schämst du dich
nicht an so 'nem Tag wie heute bis in die Knochen, als freiwilliger
Ziviliste? Junger, gesunder Kerl und spielt den Schlachtenbummler und
läßt sich von uns alten Leuten was vorschwitzen und vorgaloppieren
... Unter den Augen des Kriegsherrn?«
Otto von Ottersleben wandte sich finster ab. In der Tür erschien die
Gestalt des Divisionsadjutanten.
»Ich bitte gehorsamst um Entschuldigung, gnädige Frau! ... Exzellenz:
die Spitzen der Division sind schon...«
Von unten klang neue, rasch näherkommende Musik durch den ewigen,
gleichmäßig schütternden Marschschritt der Bataillone. General von
Glümke winkte.
»Ja ... ich komm' schon, mein lieber Gutgesell! Adieu, Kinder! ...
Gott ... wird das morgen famos!«
Er eilte die Treppe hinab. Unten auf der Straße ertönten die gellenden
Rufe: »Achtung!« Und pflanzten sich weithin über die marschierenden
Kolonnen fort, um dem Divisionskommandeur den Weg links frei zu
machen. In sausendem Galopp flog der General von Glümke mit seinem
Stab an ihnen vorbei, gegen Süden, in der Richtung wider den Feind.
17
Gegen Mitternacht hörte endlich der Durchzug des Heerwurms durch
Darmstadt auf. Es wurde allmählich sonderbar still. Nur noch
vereinzelte Nachzügler tröpfelten hinterher -- Zahlmeister und
geheimnisvolle graue Karren, die die Kriegskasse oder sonst etwas
bargen, Offiziere, die noch hinter der Front mit dem Etappenwesen
zu tun hatten, Telegraphenbeamte, Gendarmen zu Pferde und zu Fuß.
Und schon sandte in den frühen Morgenstunden das Manöverfeld seine
ersten Gefechtsschlacken zurück -- einen Leiterwagen voll fußkranker
Soldaten, Reservisten, Unteroffiziere, Einjährige, Gemeine bunt
durcheinander auf dem Stroh, huflahme Gäule, die unwillig über
das Pflaster hinkten, ein Bernerwägelchen mit einem an Kopf und
Arm verbundenen Husarenleutnant, der beim Aussteigen vor dem
Garnisonlazarett zu dem Assistenzarzt lachte: »Heute kriegen Sie noch
mehr unter die Finger, Doktor ... Die Gäule stürzen bei dem nassen
Boden wie die Deubels!«
Von dem Kampfe selbst merkte man in den Vormittagsstunden in der
Stadt nur den fernen Kanonendonner. Von wo er kam, ließ sich nicht
sagen. Das Wetter grollte überall. Es brummte aus den Odenwaldtälern,
es böllerte an der Bergstraße, es dröhnte von der Rheinebene, selbst
jenseits des Stroms, bis zum blauen Haardtgebirge hin murrte es tief
und schwer, wie sonst bei elektrischer Schwüle im Hochsommer. Den
ganzen Mittel- und Unterlauf des Neckars entlang, von Württemberg
und durch Baden bis in die bayerische Pfalz, feuerten Hunderte von
Geschützen. Viele Stunden weite Strecken gab es dazwischen, tiefe
Waldeinschnitte des Flußbetts, in denen man nichts von dem Manöver
sah, und auch in dem Teil der Rheinebene hinter Darmstadt, durch
den Otto von Ottersleben sein elegantes Automobil lenkte, war es
menschenleer. Der Kasten kostete ja jährlich eine Stange Gold.
Aber wozu hatte man den reichen Schwiegerpapa? Zwei bebrillten
Eisbären ähnlich, saßen er und seine Frau mit dem Chauffeur auf den
Vorderplätzen, dahinter Maximiliane und die Grotjans, Ulla hatte
nicht mitkommen wollen. Es regnete nicht. Aber der Himmel war grau,
die Luft undurchsichtig. Schlechtwetterwind blies von Südwesten, von
den Vogesen her. Man hörte überall da vorn die Schlacht, aber man
konnte nicht erraten, wohin sie sich zog. Die Wälder von Obstbäumen
und Hopfenstangen, die vielen Dörfer versperrten die Aussicht. Auf
der niedrigen Hügelfläche von Lorsch stoppten sie unter dem Torbogen
aus Karolingerzeit, der allein an die einstige Klosterherrlichkeit
erinnerte. Auch von da sah man nichts als zwei oder drei große Fische
in der trüben Luft schwimmen -- lenkbare Luftschiffe, die über den
Heeren kreuzten -- dort, über dem Fabrikqualm von Mannheim, an seiner
schlanken Weiße kenntlich, ein nachts von Metz durch Lothringen
herübergeflogener Zeppelin, hier, eilig neckaraufwärts, gen Osten
steuernd, je nach der Beleuchtung bald eisengrau, bald hellgelb
schimmernd, die plumper geformten Parsevals und Groß'.
»Hier ist nichts los!« sagte Otto. »Weiter!« Er ließ den Motor laufen
und wandte sich nach einer Weile befriedigt zu den anderen. »Na
endlich doch mal Menschen!«
Die weite Wiesenfläche rechts vor ihnen war bunt von Kavallerie. In
zwei, drei Staffeln hintereinander hielten in langen, in der Ferne
verschwindenden Reihen die Regimenter, Dragoner, Husaren, Ulanen --
eine ganze Division, die Mannschaft abgesessen, die Pferde mit träge
hängenden Köpfen, an langen Zügeln, hinter der Front das eilige
Hämmern und der heiße Hornspangeruch der Feldschmiede, eine Gruppe
Veterinäre um einen am Boden liegenden, in Kolik um sich keilenden
Gaul, am Weg ein Trupp Leutnants von den reitenden Batterien,
von denen ein paar ihren einstigen Kameraden Ottersleben von der
Militärtechnischen Akademie in Berlin erkannten. Einer der Herren
meinte: »Was wir hier tun? Sie sehen's ja: vorläufig nischt!«
Und ein anderer setzte hinzu: »Wenn Sie was sehen wollen, Sie
Zivilstratege, dann kantern Sie mit Ihrer Benzindroschke immer der
Nase nach. Bei der Ladenburger Brücke vor uns ist der Hauptklimbim!«
Hier, gegen den Neckar zu, kam man allmählich in den Hintergrund der
Schlacht. Große Munitionsparks standen seitwärts in den nassen, von
Rädern kreuz und quer zerfahrenen Äckern, Gruppen von Neugierigen
säumten die Straßen -- ein Zug von Leiterwagen mit kriegsgemäß
requirierten Balken und Holzwerk arbeitete sich, von berittenen
Pionieroffizieren angetrieben, unter Geschrei und Peitschengeknall
vorwärts, und der die Oberaufsicht führende Generalstabsoffizier, der
gestern Maximiliane den Weg durch den Train am Darmstädter Schlosse
freigemacht, sprengte heran und erwiderte lachend auf ihre Frage: »Bin
leider nicht ganz auf der Höhe der Situation, Exzellenz! Habe die
angenehme Aufgabe, mich hier mit diesen vierräderigen Angelegenheiten
hinter der Front zu befassen. Aber was von da durchsickert: danach
fällt die Entscheidung, ob wir die Neckarlinie forcieren, auf den
linken Flügel ... Man rechnet da sehr auf den Herrn Gemahl, Exzellenz
... Wenn Exzellenz sich da den Hügel hinauf bemühen, da hat man einen
guten Überblick! ... Gendarm ... lassen Sie bitte die Herrschaften
durch! ...«
Als die drei Offiziersfrauen oben standen und die Ebene überschauten,
machten sie erstaunte Gesichter. Sie waren sämtlich mit Heeresdingen
vertraut. Sie wußten: so wie man sich ein Manöver gemeinhin
vorstellte, so war es längst nicht mehr. Es gab keine Bajonettangriffe
mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen, keine Führer hoch zu Roß,
mit gezogenem Säbel, keine Karrees, an denen die Reiterschwärme
brandeten. Aber doch war ihnen der Anblick hier oben verblüffend: das
ganze Schlachtfeld war leer! Die Dörfer, die Obstwälder, die Felder
lagen wie sonst in der trüben grauen Herbstluft. In der hörte man wohl
schweres, wie unterirdisches Dröhnen der Geschütze und dazwischen
ein schwaches, rastloses, unsichtbares Gehämmer und Geplacker des
Kleingewehrfeuers, so als stiegen fortwährend Hunderte von Blasen
aus einem siedenden Kessel -- aber dabei blieb diese unheimliche,
rätselhafte Öde, diese scheinbare Abwesenheit von Mann und Roß, und
der Generalstabsmajor Eberwein, der abgesessen und den Damen gefolgt
war, erläuterte: »Streng kriegsgemäß! ... Alles platt am Boden --
eingebuddelt wie die Maulwürfe ... in den neuen grauen Felduniformen
... bitte ... hier ist mein Glas, Exzellenz!«
Jetzt, mit bewaffnetem Auge, erkannte Maximiliane die dünnen, wie
Herbstspinnweb über den Äckern hin eingenisteten Schützenschwärme,
dahinten die großen dunklen, am Boden niedergeduckten Massen der
Regimenter, hinter einem Hause, jedem Blick des Feindes entzogen,
ein Stab -- ledige Pferde, Offiziere um einen mit Karten bedeckten
Tisch, vorn, bäuchlings im Kartoffelkraut, ein Adjutant, das
Fernrohr vor dem Gesicht -- wenn man schärfer hinschaute, wimmelte
es auf einmal auf den Stoppeln hinter dem schwachen Dunst der
Schützenlinie von Tausenden von bedächtig kriechenden Schnecken.
Die Unterstützungstrupps schoben sich behutsam wie Indianer auf dem
Kriegspfad vor. Über dem allen ruhte, unter dem bleigrauen Himmel, ein
sonderbarer Schauer, ein atemloses Bewußtsein: wer nur eine Sekunde
aufrecht steht und dem Feind das Antlitz zeigt, ist ein Kind des Todes
... ein Zweidecker flatterte wie ein großer, geängstigter Vogel über
dem schweigenden Bild dahin, nach rückwärts, nach dem Hauptquartier.
Der Generalstabsoffizier schirmte die Augen mit der Hand und
beobachtete es.
»Donnerwetter -- der Aeroplan kam quer über den Odenwald! Alle
Achtung! ... Das sind Nachrichten von unserem linken Flügel. Wenn der
nur ordentlich um den Königsstuhl herumlangt und den Feind auf die
Flanken drückt, dann kriegen wir hier vorne auch Luft. Ja, ich muß
mich nun beurlauben! Empfehle mich gehorsamst, Exzellenz ...«
Maximiliane von Glümke schaute, nachdem der Major Eberwein sich
wieder auf sein Pferd geschwungen, stumm in den finsteren, eintönigen
Ernst des Kriegsbildes vor ihr. Es fiel ihr ein: So wie dieser
Generalstäbler da, so würde auch Logow jetzt hier herumreiten und
im Vaterland seine Pflicht erfüllen, statt fern überm Meer gleich
einem Landsknecht in fremdem Sold und Dienst, und würde es seinen
Vorgesetzten zu Dank machen und wäre wie früher ein Muster an Schneid
und Eifer für die anderen, wenn ich nicht wäre! Ich hab' ihn von hier
vertrieben. Ich bin der stete Stein auf seinem Wege! Der Gedanke
erfüllte sie mit einer plötzlichen unendlichen Traurigkeit. Es mochte
auch die Umgebung sein: der schweigende Himmel -- die schweigende
Schlacht -- die schweigenden Tausenden da auf der Erde -- alles
so seltsam -- so unwahrscheinlich ... dann merkte sie: es war der
Nachhall des Gesprächs mit ihrer Schwester gestern. Sie hatte der
armen Strohwitwe so viel Trost gegeben, als sie vermochte. Aber ihr
selber war zumut, als sei erst seitdem, seit diesen Worten im Walde,
Erich von Logow ganz aus ihrem Leben weg, gestorben da drüben in
Chile, gestorben für sie ...
Die anderen hatten sich neben dem Auto auf die Plaids gesetzt und
frühstückten. Ihr Schwager, der biedere, lange, sommersprossige
Pionierhauptmann, hob lachend und mit vollen Backen seinen Becher:
»Prost, Maxe: die vierundfünfzigste Division macht's!« Sie lächelte
dankbar. Sie dachte an ihren Mann. Sie fühlte sich plötzlich
erlöst. Er war ja da. Sie hatte ihn, und er hielt sie. Er hatte
sie nie gefragt, was hinter ihr lag. Sie verschlang die Hände im
Stehen und schaute weich und traumverloren hinüber nach den fernen,
rotschimmernden Sandsteinbrüchen von Heidelberg und weiter nach den
Odenwaldshöhen, aus denen er jetzt seine Regimenter wie Ziethen aus
dem Busch dem Feind in den Rücken führte und hoffentlich recht viel
Ruhm und Ehre vor Majestät und der Armee errang ...
In der Nähe vorn entstand ein abscheuliches Rasseln und Knattern.
Die Maschinengewehre traten in Tätigkeit. Man konnte deutlich
sehen, wie da hinten in der Talsenkung die zweispännigen Wagen
hielten, wie die Grauröcke die mörderischen Kugelspritzen Stück für
Stück herabhoben, auf das niedrige Schlittengestell legten, es,
paarweise auf dem Bauche rutschend, mit den Schultern in die Stellung
schoben, wie dort das endlose Patronenband seitwärts abschnurrte
und der Lärm der Mitrailleusen alles andere übertönte. Dabei war
der Kanonendonner rechts immer stärker geworden. Dichte Rauchmassen
ballten sich da zu weißen Wolken. Fernes Hurrageschrei erklang. Es
schien, daß sich der Schwerpunkt des Treffens in den Neckar- und
Rheinwinkel bei Mannheim hineinzog. Im Hintergrund ritt jetzt auch
die Kavalleriedivision von vorhin in dieser Richtung ab. Die langen
schimmernden Linien schaukelten im Trab. Die Trompeten schmetterten.
Die prunkvollen Uniformen wirkten ganz unwahrscheinlich, wie
Spiegelbilder vergangener Zeit, wie verklungene Reiterherrlichkeit
von Hohenfriedberg und Roßbach, von Liebertwolkwitz und Mars-la-Tour,
inmitten der Burentaktik, der wissenschaftlichen Nüchternheit einer
modernen Schlacht. Otto von Ottersleben stand, die Hände in den
Taschen des Automobilzivils und starrte tiefsinnig darauf hin. Sein
Herz klopfte plötzlich: Da war die Lust der Waffen -- die alten
Regimenter -- die deutschen Fürsten -- das Reich in Wehr -- und
dazwischen er, ein Ottersleben, als Zaungast, als frühstückender
Schlachtenbummler, und er sehnte sich wider Willen nach einem Gaul
zwischen den Schenkeln, einem Säbel in der Faust, nach dem Brausen der
Attacke, und dachte sich voll ärgerlichen Mißbehagens: Ich war doch
eigentlich ein rechter Esel, daß ich im Frühjahr so über Hals und Kopf
quittiert hab'!
»Otto! ... Otto!« rief eine helle Stimme. Maximiliane trat zu ihm,
der Chinchillapelz hing ihr lose um die Schultern. Darunter leuchtete
das Violett ihres Herbstkleides. Ein violetter Schleier umrahmte ihr
blondes Haupt und flatterte mit den Zipfeln im Winde. Sie lachte --
von dem Trübsinnsanfall von vorhin schon befreit. Er war ihr Bruder.
Aber auch ihm ging es beim Anblick dieser leuchtenden blauen Augen,
dieser hohen, schlanken Gestalt durch den Kopf: Was ist sie doch für
eine schöne Frau! ...
Neben ihr hielt der Major Eberwein auf seinem rauchend nassen Gaul und
rief ihr aufgeregt zu: »Machen Sie, daß Sie nach Mannheim kommen!«
»Über den Neckar?«
»Wir gehen schon überall hinüber! ... Rot baut ab nach allen Regeln
der Kunst! ... Sie müssen eine Mordsschweinerei von uns Blauen besehen
haben -- da droben, auf ihrem rechten Flügel ... Nu bringen wir ihnen
hier mit Macht die Flötentöne bei ... da sehen Sie doch nur ... da
drüben bei Käfertal! ...«
Mächtige weiße Dampfwolken stiegen dort auf und überqualmten die
Ebene. Man hörte keine einzelnen Kanonenschüsse mehr. Ein einziger
ununterbrochener Donner rollte und brüllte aus den Schwaden, durch ihn
das gellende, nervenrüttelnde Rattern der Kugelspritzen, das atemlose,
tausendfache Hämmern der Magazingewehre, ganz von ferne, halb
schattenhaft, ein gedämpftes Hurra aus unzähligen Kehlen -- irgendwo
blies es: »Geht langsam vor!« -- Weithin widerhallten die Hörner:
»Geht langsam vor! Geht langsam vor! Geht langsam und bedächtig vor!«
Der Generalstäbler schrie: »Sie kommen gerade noch zurecht! Der Kaiser
und alle Fürsten sind schon vorhin durch Mannheim durch! ... Wie
gesagt: Rot ist im Wurstkessel! ... Viel Vergnügen!«
Otto von Ottersleben drehte das Auto, beschrieb im
Sechzigkilometertempo einen weiten Bogen hinten um die schwarzen
Schlangen und Linien von Pickelhauben herum, die jetzt auf einmal,
wie aus dem Boden gewachsen, wimmelten und tausendfach über alle
Felder gegen Mannheim zogen, und raste nach kaum einer Viertelstunde
über das Pflaster der pedantischen Stadt mit ihren sich unerbittlich
rechtwinklig schneidenden Häuservierecken. Anfangs waren die statt mit
Namen nur mit Buchstaben und Zahlen bezeichneten Straßen menschenleer.
Aber bald wurden sie schwarz vom Gewühl. Eine Völkerwanderung strebte
da hinaus ins Freie. Ganze Reihen von Automobilen schossen dahin, mit
ihnen die Equipagen reicher Fabrikherren -- Bauernwägelchen aus den
Dörfern ... Taxameter ... Reiter, Radfahrer, Züge von Schuljungen
unter Führung ihrer Lehrer, alles strömte in die Rheinebene ...
Um einen Hügel herum staute es sich da, tausendfach Kopf an Kopf.
Seitlings, hinter der Gendarmenkette, standen, eine Musterkarte aller
Herren der Welt, die fremden Militärbevollmächtigten. Man sah über der
Menge das Käppi des Franzosen und die Hahnenfedern des Italieners, die
schwarze Lammfellmütze des Russen und die Tschakos der Österreicher,
den Messinghelm des Briten und den Fes der Türken und der deutschen
Paschas! Dazwischen Uniformen, die selbst die preußischen Offiziere
nicht kannten, ungewohnte Gesichter -- gelbliche Südamerikaner, ein
frierender siamesischer Prinz -- ein chinesischer Mandarin, da -- im
Mittelpunkt des Staunens -- drei kleine, schwarzgekleidete, rätselhaft
lächelnde Japaner! Oben, auf der flachen Kuppe, war ein Gewimmel
von Mann und Roß, als hielte da ein aufgelöstes Kavallerieregiment.
Aber dieses Regiment bestand nur aus Generalen und Generalstäblern,
die meisten Gesichter martialisch unter ergrauten Schnurrbärten
verwittert, andere anscheinend viel zu jung für ihren hohen Rang, die
Haussterne fürstlicher Herkunft auf der Brust. Ein paar gebieterische
Greise mit Marschallsabzeichen ganz vorne trugen das Eiserne Kreuz
Erster Klasse. Sie hatten noch Gravelotte und Sedan mitgeschaut und
mitgefochten.
Durch die freigehaltene Gasse der Menschenmasse jagten
Ordonnanzoffiziere auf und nieder. Reitende Feldjäger. Mannschaften
der kaiserlichen Leibgarde. Dort oben, wo der weiteste Überblick
war, zeichnete sich einsam die Reichsstandarte vom Nebelgrau des
Himmels ab. Zwei, drei Offiziere hielten da, weit abseits von den
anderen. Einer von ihnen war der Kaiser. Er beobachtete die Attacke.
Heute hüllte nicht wie sonst der Staub die Reitergeschwader in
hochaufschlagende Wolken. Man sah weithin, scheinbar unendlich sich
in das feuchte Regengrau hinaus verlängernd, die langen, dünnen
Linien -- zwei, drei in Staffeln hintereinander, man sah sie langsam
im Schritt anreiten, im Trab, im Galopp, mit eingelegten Lanzen
und flatternden Fähnchen, man sah die Kommandeure mit gezogenem
Säbel vor ihren Regimentern -- diesen farbig schimmernden, über
das Blachfeld hinschießenden blauen, roten, grünen, flatternden
Riesenbändern, die sich in der Karriere des Anlaufs fächerartig
aufblätterten und auseinanderzogen und durch erneuten Anprall der
folgenden Geschwader ausgefüllt und weitergerissen wurden, man hörte
das Attackengeschmetter von Hunderten von Trompeten, das Stampfen von
Tausenden von Pferdehufen ... man erkannte die Lücken durch Stürze
... da ein Dutzend und mehr auf einmal kopfüber -- ein Gekrabbel am
Boden -- gebrochene Lanzen -- reiterlose Pferde -- und jetzt da vorn
weißlicher Dunst -- das wütende Kugelspeien der Infanterielinien, der
Hagel der Maschinengewehre, die Kartätschenlagen der Batterien ...
»Kei' Floh blieb' am Leben!« meinte tiefsinnig ein Bayer neben
Maximiliane, und ein Preuße lachte: »Na ... ob mit oder ohne Attacke
... gewonnen haben wir den Tag! Wir haben den Roten tüchtig in die
Suppe gespuckt! ... Ich glaube, hinter Heidelberg herum setzen die
Schiedsrichter schon ganze Bataillone außer Gefecht ...«
»Wenn Glümke so weiter arbeitet wie bisher, dann gewiß!« nickte ein
anderer höherer Offizier und klappte sich, durchfroren von langer
Autofahrt, den Mantelkragen hoch. »Er hat rein den Deubel im Leib --
er und seine Kerls ... Er kann sich zum heutigen Tage gratulieren!«
Maximiliane vermochte sich nicht zu halten. Sie wandte sich an den ihr
unbekannten Oberst.
»General von Glümke hat es so gut gemacht -- sagen Sie?«
Der Oberst lachte.
»Na -- tadellos! ... Ich komm' eben von dort!«
Dann fügte er, immer noch lächelnd, hinzu: »Interessiert Sie der so?«
»Ich bin doch seine Frau!«
Im selben Augenblick nahm der Stabsoffizier eine andere Haltung an und
verbeugte sich.
»Gestatten Exzellenz, daß ich mich vorstelle: von Herbersdorf!«
Neben ihm legte der bayerische Major die Hand an den Helm.
»Gestatten Exzellenz: Ritter von Raimoser!«
Dann berichtete der erste wieder: »Der Nachtmarsch heute durch den
Odenwald ... Auf dem Krähenbergpaß stieg Exzellenz vom Pferd und half
eigenhändig die Kanonen schieben. Vierzig Mann mit Hurra an jedem
Geschütz. Da ging's! ...«
»Das sieht ihm ähnlich!« lachte die junge Generalin stolz.
Der Generalstäbler fuhr fort: »Und im Morgengrauen ... am Neckar
... Exzellenz ... die Gäule wollten nicht gleich in das kalte Bad
-- aber Ihr Herr Gemahl einfach zu Pferd -- bis an den Sattel im
Wasser, voraus. Alles hinterher -- wir waren drüben, ehe der Feind
noch abgekocht hatte -- nein! Die vierundfünfzigste Division hat eine
schöne Leistung hinter sich, das muß ihr der Neid lassen! ... Ich
empfehle mich gehorsamst, Exzellenz! ...«
In der Freude ihres Herzens reichte Maximiliane von Glümke dem Oberst
freundlich die Hand. Zugleich meldete ihr Bruder Otto: »Du, Maxe ...
eben rief mich der olle Schaftenburg an ... du weißt: der Intimus von
Papa und Onkel Bruno ... Er ist nun schon Divisionär ... Er hat mir
aufgetragen, ich möchte dir gratulieren! Von heut ab hätte dein Mann
die Anwartschaft auf ein Armeekorps sicher in der Tasche! Unter den
großen Bonzen auf dem Hügel sei darüber nur eine Stimme!«
Es war ein ehrfurchtsvolles Schweigen. Dorle Grotjan sagte zu ihrem
Mann: »Hans ... so weit bringen wir's nicht!«
Und selbst die kleine Frau von Ottersleben wurde plötzlich
mißvergnügt: »Wir avancieren überhaupt nicht mehr, Otto! Wir von der
Reserve!«
Ihr Mann ärgerte sich.
»Na ... hat's etwa der Logow mit all seiner Weisheit so wunderweit
gebracht? Es kann doch nicht jeder Napoleon Konkurrenz machen! Die
Maxe ist nun einmal der Glanzpunkt der Familie!«
»Kinder, ~ich~ kann doch nichts dafür!«
Die junge Generalin lachte.
In ihrem Inneren ergänzte eine ernste Stimme: ›Und ich hab' dafür
bezahlt ...!‹ Dann war das wieder vorbei. Der Herbstwind trug es
über die Stoppeln davon. Es verwehte im Blasen der Trompeten da
vorn, dem Rauschen der vorbeimarschierenden Bataillone, dem fernen
Geschützdonner, dem ganzen Glanz und stürmenden Lebensatem des Kriegs
im Frieden. Wie gestern, so brach auch heute jetzt, bald nach Mittag,
die Sonne durch das Gewölk. Sie überflutete mit ihren Strahlen die
nassen Felder, die nassen Menschen und Pferde -- sie trocknete die
Generalsachselstücke und die Schulterklappen der Trainfahrer, die
Geschützrohre und die Blechmündungen der Regimentskapellen, die Seide
der Fahnen und die Leinwand der Lagerzelte, die Generalstabskarten
wie das Biwakstroh. Sie beschien die dampfenden, atemlosen
Reitergeschwader da vorne -- die Husaren und Dragoner, die Ulanen
und die grünen bayerischen Chevaulegers -- die erdbefleckten
Infanteristen, die pulvergeschwärzten Kanoniere, die starken Pioniere
und kecken Luftschiffer und grünen Jäger, das ganze große deutsche
Heer. Es kam allmählich Ruhe über die Hunderte von Schwadronen und
Kompanien und Batterien. Der rote Feind war gegen Karlsruhe zu in
Aufnahmestellungen zurückgewichen. Das Plackern des Kleingewehrs
verstummte. Nur noch in langen Zwischenräumen rollte, wie von einem
abziehenden Gewitter, da vorn der Donner der Geschütze. Für heute war
die Schlacht zu Ende.
Es ging schon gegen Abend. Die letzten Strahlen der tiefstehenden
Sonne flimmerten schräge fern drüben im Osten über den Hügelwellen
des badischen Baulands. Dort lagerte Olaf von Glümkes sieggekrönte
vierundfünfzigste Division. Sie hatte den Neckar längst im Rücken. Zur
Linken blaute schattenhaft am Horizont über den schwäbischen Rebhügeln
die Rauhe Alb. Aber aller Augen waren nach rechts gerichtet. Man war
noch immer hart am Feind. Man wich ihm nicht von der Klinge. Er wurde
den lästigen Seitendruck nicht los. Durch die breite, fruchtbare Lücke
zwischen Königstuhl und Schwarzwald bedrohte man nach wie vor auf
Karlsruhe zu seine rechte Flanke, zwang ihn zu immer weiterem Rückzug.
Leicht konnte heut nacht ein verzweifelter Gegenstoß erfolgen. Man war
auf der Hut. Fieberhaft arbeiteten die todmüden Truppen mit Schaufel
und Spaten. Ganze Regimenter gruben sich geräuschlos in ihre Deckungen
hinter den Hügelkämmen ein. Dichte Vorpostenketten spannten sich vorn
als undurchdringliches Netz. In fliegender Eile wurde abgekocht. Wenn
es erst dunkel wurde, sollte kein Schein eines Biwakfeuers, kein
Lichtpunkt einer glimmenden Zigarre dem Feinde die Stellung verraten.
»... 'n Abend, Leute!«
»Guten Abend, Euer Exzellenz!«
Dröhnend scholl es, wo Generalleutnant von Glümke auf seinem
dampfenden riesigen irischen Schweißfuchs die Linien abritt. Die
Gesichter strahlten. Die gemeinen Soldaten lachten, die Einjährigen,
die Unteroffiziere, die Herren Hauptleute und Leutnants. Alle waren
stolz auf den heutigen Tag und auf ihren Führer.
Olaf von Glümke war am Flügel der Stellung angekommen. Er hob die
Hand und winkte kameradschaftlich einer Gruppe von Offizieren zu, die
vom Weg her stillstehend grüßten. Heute machte er keine Unterschiede.
Sie hatten ihm alle, alle nach Kräften geholfen. Dann unterdrückte er
ein leises Gähnen. Wenn er überdachte: Eigentlich war er seit gestern
früh, seit sechsunddreißig Stunden, nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Sogar die Nacht durch im Sattel. Ein bißchen viel. Eine Sekunde fühlte
er seine Jahre. Aber nur eine Sekunde. Dann leuchteten seine feurigen
blauen Augen wieder in alter Kriegslust, und um seinen Mund spielte
sein gewohntes verwegenes Lächeln.
»Ich will jetzt noch rasch zu den Vorposten da hinüber, mein lieber
Gutgesell!« sagte er zu dem neben ihm haltenden Adjutanten und
deutete gen Westen, wo sich die Sonne unheimlich blutrot zwischen den
nachtdunklen Stämmen einer Baumgruppe abhob. »Schaffen Sie's noch über
das infame Terrain? Ihr Schinder kommt wohl nicht mehr recht vorwärts?«
Der Adjutant hob die Hand an den Helm.
»... Wollen nicht auch Exzellenz vorher das Pferd wechseln? ...
Exzellenz reiten es schon seit zehn Stunden. Es scheint mir auch nicht
mehr ganz kapitelfest auf den Vorderbeinen!«
Olaf von Glümke lachte und klatschte dem Tier auf den Hals. Er sprach
zu ihm wie zu einem guten Freund.
»Das könnt' dir passen, alter Schwede -- was? Aber dir sollen heut
mal deine Mucken gründlich vergehen! ... Nee -- lieber Gutgesell --
das dauert mir zu lang. Inzwischen wird's dunkel. Vorwärts!«
Er jagte über das steinige, von Baumstöcken und Wurzeln durchsetzte
Blachfeld hin. Er kümmerte sich wenig um die Hindernisse. Er hatte
in seinem langen Reiterleben schon andere überwunden. Sein Herz war
leicht, seine Brust weit von dem heutigen Tag. Da hatte man doch,
soweit es in dem ewigen faulen Frieden möglich war, gezeigt, was man
konnte -- da wußte man doch, wozu man auf der Welt war. Er richtete
sich im Sattel auf. Er holte tief Atem. Ja -- das war schön -- diese
Stunde -- war wie eine Erfüllung des Besten in einem -- den Wind um
die Ohren, den Gaul unter sich, der Sonne und dem Feind entgegen,
hinter sich, durch dick und dünn, die treuen Kerle, vor sich noch ein
Jahrzehnt und länger einer glänzenden Karriere, dort drüben, am Rhein
die schöne, junge, geliebte Frau -- in seiner Seele, die sonst Handeln
und nicht Sinnen hieß, stieg ein Gefühl der Andacht empor. Er dachte
sich: ›Herrgott ... ich danke dir, daß du mich leben ließest ... Die
Welt ist schön ...‹
In dem holperigen Weidegrund zu seinen Füßen aber hatte, unbekümmert
um Krieg und Kriegsgeschrei, aus dem Dunkel des Schicksals heraus ein
Maulwurf seinen Haufen aufgeworfen. Der ermüdete Gaul galoppierte
unsicher. Er merkte zu spät die Gefahr. Er trat mit dem rechten
Vorderhuf in die lockere Erde und brach durch und ging vornüber, und
Roß und Reiter taten einen schweren Sturz ...
18
Der Mond war noch nicht aufgegangen. Er stieg erst lange nach
Mitternacht von Osten her über den kalten, sternklaren Himmel. Tiefe
Nacht ruhte über der Rheinebene, und doch kein Dunkel. Da, wo sonst
selten einmal der spärliche Lämpchenschein aus einem Bauernhaus die
weite Finsternis unterbrach, da flammten heute Hunderte und Tausende
von Lichtern, regelmäßig in feurige Linien und Staffeln geteilt, die
Biwakfeuer des Heeres. Sie waren jetzt schon halb erloschen. Die
Mannschaft schlief. Spärlich einmal fielen fern, ganz fern Schüsse
durch die Stille. Aber im Rücken der Stellung war es auch jetzt
lebendig. Ein Knattern und Knarren, ein Rasseln und Rumpeln war auf
allen Straßen. Schwerfällig schoben sich die mächtigen Trainkolonnen
durch die Nacht. Die Leiterwagen hielten im Dunkel nicht ordentlich
Vordermann. Sie füllten, rechts und links fahrend, den ganzen Weg.
Es war schwer, an ihnen vorbeizukommen. In kurzen Zeiträumen ließ
Otto von Ottersleben immer wieder die Hupe seines Automobils ertönen,
das mit seinen beiden Flammenaugen zornig in das Schwarz vor sich
leuchtete, den Schlammboden in den Glanz einer Schneelandschaft
verwandelnd.
An einem Kreuzweg hielt, in einen Mantel gewickelt, ein höherer
Offizier, Mann und Roß wie ein Schattenriß vom Dämmern des Himmels
abgehoben. Er rauchte eine Zigarre. Sie leuchtete eine Sekunde auf
und erhellte sein bärtiges Gesicht. Der junge Sportsmann stoppte sein
Auto. Er lüftete, die eine Hand am Steuer, mit der anderen seine Kappe.
»Ach ... Verzeihung ... Ich möchte um Auskunft bitten ... Ich fahre
hier mit meiner Schwester, der Generalin von Glümke, durch die Nacht
... Es ist ein Gerücht verbreitet, Exzellenz von Glümke habe oben im
Kraichgau ein Unglück mit dem Pferde gehabt ...«
»Oh ... doch hoffentlich nichts Ernstes, Exzellenz?«
Der Oberst sprach von seinem Rappen in das Dunkel des offenen Autos
hinein, in dem er irgendwo Frau von Glümke vermutete.
Sie stand auf. Ihre Stimme zitterte.
»Ich weiß nicht! Ich will hin! In einer Stunde ist man doch dort! Aber
mein Bruder behauptet ...«
»Erst müssen wir wissen, Maxe, wo die vierundfünfzigste Division
augenblicklich steht!«
»Und das kann uns hier niemand sagen?«
Der Oberst zuckte bedauernd die Achseln.
»Hier in der Front kaum, Exzellenz! ... Das verschiebt sich ja
unaufhörlich, in der kriegsmäßigen Lage, in der wir uns befinden. Da
kennt man die Stellung der Truppenteile nur im Hauptquartier.«
»Dahin will ich ja eben!« rief Otto von Ottersleben.
»Fahren Sie nur immer noch weiter zurück -- die große Straße entlang.
Sie sehen schon von ferne die vielen Lichter!«
Das Automobil schoß davon, daß der Kot weithin von den Pneumatiks
spritzte. Nach kurzem wurde es vorn hell. Strohwische loderten
an langen Stangen rechts und links vom Wege. In dem unsicheren
Flackerschein huschten immer zahlreicher schattenhafte Reiter,
Radler, Motorfahrer vorüber. Auf dem Kartoffelacker drüben waren
Stimmen und Fackeln. Eine Telegraphenabteilung legte bei Nacht eine
Kriegsdrahtleitung querfeldein. Nun zeichneten sich hohe Giebeldächer
im Dunkel ab -- Schartenmauern -- Türme -- Parkwipfel -- ein
schloßartiger Gutshof irgendwo mitten in der Rheinebene, alle Fenster
des dreistöckigen Herrenhauses hell, als feiere man da drinnen ein
Fest. Vor der Anfahrtsrampe brannten rechts und links Pechflammen.
In ihre düstere Purpurglut getaucht, hielt da eine Wagenburg von
Militärautomobilen, standen Dutzende von gesattelten Pferden, von
Kavalleristen gehalten. Ein unaufhörliches Laufen von Unteroffizieren,
Ordonnanzen, Burschen erfüllte treppauf treppab den Eingang. Einige
Herren vom Luftschifferbataillon standen plaudernd seitlings,
des Mondes und des neuen Aufstiegs harrend, und schauten bald
hinüber auf das Feld, wo in verschwommenen Umrissen, von schwarzen
Musketierklumpen an Tauen gehalten, der Riesenkörper eines Parseval
frei in der Luft schwebte und im Nachtwind schwankte, bald wieder
sahen sie nach rechts empor. Dort tönte, von unsichtbar hoher Stange,
das Rasseln des Slabyapparats durch das Dunkel, der die drahtlosen
Depeschen empfing und weitergab. Ein junger Leutnant trat zu den
anderen heran und lachte.
»Wir fangen fortwährend Meldungen von drüben ab. Ganze Haufen! Aber
der Deubel soll sie enträtseln ...!«
Das Ganze hatte nichts eigentlich Kriegerisches mehr an sich. Die
Truppen waren ja auch alle viele Stunden weiter vorn. Bis hierher
drang kaum mehr der Laut eines Kanonenschusses. Es war, als sähe man
einen großen, wissenschaftlichen Fabrikbetrieb mitten in der Nacht in
methodischer Tätigkeit. In den ersten Zimmern des taghell mit Lampen,
Kerzen, Stallaternen erleuchteten Schlosses, das Maximiliane mit ihrem
Bruder betrat, saßen Reihen von Offizieren, die Stirnen gerunzelt, den
Bleistift in der Hand, Geheimtabellen vor sich, mit der Chiffrierung
und Dechiffrierung von Depeschen beschäftigt. Nebenan tackten, von
Unteroffizieren bedient, rastlos die Telegraphenapparate. Soldaten
kamen und gingen, brachten die abgerollten, mit geheimnisvollen
Chiffrebuchstabengruppen bedeckten Streifen und nahmen ebensolche
Blätter entgegen.
Daneben, im großen Saal, war die Befehlsausgabe. Es standen da
an die hundert Offiziere, die meisten die Adjutantenschärpe von
der rechten Schulter zur linken Hüfte, die hohen Stiefel mit Kot
bespritzt, die Gesichter übernächtig von Mangel an Schlaf nach der
Mühe des Tages, alle stumm im Stehen in ihre Bücher notierend und
stenographierend, was die Stimmen der Generalstäbler in ihrer Mitte
langsam, nachdrücklich, durchdringend klar, diktierten. Ein Geruch von
nassem Tuch, von Pferdeschweiß, von flackernden Dochten war in dem
Raum. Unwillkürlich wandten sich all die scharfen, schnurrbärtigen
Köpfe einen Augenblick vom Ernst zur Sache nach der ungewohnten
Erscheinung einer schönen jungen Frau, hier mitten in der Nacht in
den geheiligten Räumen des Armeeabteilungskommandos, in denen alle
Linien von dem weit ausgedehnten Kampfplatz draußen im Spinnennetz
zusammenliefen. Ein höherer Adjutant hatte die Generalin empfangen.
Er verbeugte sich tief, eilte voraus und führte sie und ihren Bruder
durch weitere Räume voll schreibender, mit dem Zirkel auf der
Generalstabskarte messender, rechnender und brütender Offiziere bis in
das vorletzte Gemach der langen Zimmerflucht.
Da waren Generale. Wohl ein halbes Dutzend und mehr. Grauköpfe und
Kahlschädel. Derbe, altpreußisch-kriegerische Züge und glattrasierte,
strenge Gelehrtengesichter. Sie saßen und standen -- sie lasen und
schrieben -- sie blätterten nachdenklich in Stößen von roh mit
Buntschrift ausgeführten Feldkrokis, die vor ihnen lagen -- sie
schwiegen und warteten auf etwas da drinnen, hinter der Tür links zum
Allerheiligsten ...
Jetzt öffnete sich die. Ein eleganter Generalmajor vom Gardetypus trat
heraus. Einen Augenblick sah man in das Innere, in eine große Stube,
die bis aufs Letzte kahl ausgeräumt war. Kein Tisch, kein Stuhl in
der Ecke war geblieben. Von der Decke sandte ein Kronleuchter seinen
hellen Schein in alle Ecken und auf den Boden. Den deckte ein Netz
aneinandergefügter Generalstabskarten -- das ganze Manövergelände im
kleinen, von der Kocher und Jagst bis über den Rhein, von dem Main bis
an die Murg. Kleine bewimpelte Nadeln staken an einzelnen Stellen in
den Plänen und zeigten den augenblicklichen Standort der Truppen an.
Davor lag auf dem Bauch, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf in den
flachen Händen, jemand am Boden, lang auf den Holzdielen ausgestreckt.
Man sah von hinten sein kurzgeschnittenes schlohweißes Haar, das
Funkeln der goldenen Raupen auf den Schultern, das Glitzern der Sporen
an den Reitstiefeln. Neben sich hatte er rechts und links auf der Erde
ein brennendes Licht stehen, um besser die Karten lesen zu können.
Das war der Höchstkommandierende. Sein Wille lenkte wie durch einen
Fingerdruck auf einen elektrischen Knopf den ganzen mächtigen Apparat
da draußen. Er sann über den morgigen Tag. Stumm lag er da und rührte
sich nicht. Hinter ihm stand sein Adjutant und schwieg. Die Tür schloß
sich.
Nebenan hatte der blonde Gardegeneral inzwischen erfahren, um was
es sich handelte, und versetzte, halblaut -- denn in diesen Räumen
wurde nur flüsternd gesprochen: »Nach unseren bisherigen Meldungen,
Exzellenz, hat Ihr Herr Gemahl allerdings leider einen bösen Sturz
getan. Er liegt noch in dem Pfarrhaus des Dorfes, in dessen Nähe das
Malheur geschah ...«
»Und was sagen die Ärzte?«
»Vorläufig nichts Bestimmtes, Exzellenz! ...«
Der Generalmajor zuckte vielsagend die Schultern und wandte sich an
Otto von Ottersleben.
»Sie scheinen mir ja militärisch geschult: Ich werde Ihnen auf der
Karte den nächsten, für Automobile praktikablen Weg dorthin zeigen und
telephonisch Order vorausschicken, daß man Sie an der Heidelberger
und der Eberbacher Brücke sofort durch die Trainkolonnen, die Sie da
kreuzen müssen, durchläßt!«
Der Mond war aufgegangen. In silbernem Blau lag die Pfalz. Die
Heidelberger Schloßruine träumte im Dämmerschein über der Neckarstadt,
durch deren Gassen das aus der Rheinebene heranrasende Automobil
in das Flußtal hineinschlüpfte, das Rauschen der Stromschnellen
zur Linken, durch das schlafende, mittelalterliche Neckargemünd,
vorüber an dem geheimnisvoll im Mondschein ragenden Geviert der
Landschadenburgen -- zuweilen, an den Neckarübergängen, plötzlich,
jäh, aus der Nacht heraus, der Trubel des Scheinkriegs, Fackeln,
lange Wagenzüge, Geschrei und ebenso rasch wieder tiefe Stille --
Menschenleere -- Mondschein -- ein Reh über den Waldweg. Kühle. Herber
Hauch von den Höhen, über denen wieder eine riesenhafte altersgraue
Burgruine dräuend wie ein Drache zu Tal hing. Auf dem Fluß rasselte
es in langer Lichterreihe und kläfften die Schifferspitze. Ein
Schleppzug fuhr bergwärts. Er verlor sich um die Biegung. In den
dunklen Massen des Waldes da oben kreischten und johlten unheimlich
die unsichtbaren Nachtkäuzchen. Es war wie ein böses Vorzeichen.
Weiter! Nur weiter! ... Aus der Odenwaldenge heraus, aus den ewigen,
zeitraubenden Windungen des Flusses! Eine Schwenkung nach rechts. Dort
drüben, über dem Massiv des Katzenbuckels, färbte sich der Himmel
von feierlicher Röte. Lange Purpurstreifen zogen sich quer durch das
Grau des Ostens. Die Sonne ging auf. Man ließ sie halb im Rücken.
Man fuhr endlich den geraden Weg, den bisher die Berge versperrt,
nach Süden, in das fließende Nebelgrau der Dämmerstunde hinein. Dann
zerteilten sich die feuchten Schleier. Der Himmel blaute. Man konnte
bei Tageslicht leichter die Karte und die Wegweiser lesen als bisher
beim Windgeflacker des Wachsstreichholzes. Geräuschlos rollte das Auto
über die weichen Ackerpfade. Ein einsamer Einjährig-Freiwilliger kam
herangehumpelt, fußkrank, auf dem Weg zur Etappe. Er hatte Schmisse
im Gesicht und trug einen Zwicker. Otto von Ottersleben rief ihn an:
»Wissen Sie, wie's Herrn General von Glümke geht?«
»Ich fürchte, gar nicht gut. Es sagen's wenigstens alle im Biwak!«
»Ist's noch weit?«
»Dort sehen Sie schon den Kirchturm über dem Hügel!«
Hinter diesen Höhen war das Biwak des Gros' der vierundfünfzigsten
Division. Die Truppen waren noch nicht angetreten. In langen Reihen
schimmerten die Pyramiden der zusammengesetzten Gewehre. Die
Mannschaften standen am Wege, gegen das Dorf zu, Tausende und aber
Tausende, mit dem blauen Schein der Waffenröcke die Felder füllend,
da und dort die Offiziere dazwischen, und überall war das gleiche,
seltsam-ernste, wie angstvolle Schweigen. Das Automobil konnte nur
noch ganz langsam fahren. Maximilianes Auge ruhte leer auf der
menschenerfüllten Gasse vor ihr. Was war das nur alles? ... Diese
Morgenröte hier ... das fremde Dorf ... die vielen Leute? ... Ihr
schien es wie ein böser Traum der Nacht. Man wachte auf, und er war
verflogen. Nein: das war Wirklichkeit. Da war die Kirche. Daneben
das Pfarrhaus. Auf dem Platz davor, unter der herbstbunten Linde,
Offiziere, Offizierspferde, Offiziersburschen, wieder Offiziere --
auf den Torstufen -- auf der Schwelle -- im Flur. Hier kannte man die
Frau des Divisionskommandeurs. Ehrerbietig machte alles Platz. Stumm
hoben sich die manöver-dunkelbehandschuhten Hände an die Helmbänder.
Sie stieg aus. Ihr Bruder stützte sie. Sie sah sich ratlos um. Es war
solch ein sonderbarer Ausdruck in all den sonnengebräunten Gesichtern,
solch eine drückende Stille ... Sie ging in das Haus -- in einem
ungläubigen Staunen: Sie hatte noch nie Männer weinen sehen. Aber die
zwei, drei Offiziere, die da standen, hatten Tränen in den Augen,
hier der Oberst von Mensingen, da der Divisionsadjutant, der Major
Gutgesell. In der Ecke heulten die Glümkeschen Burschen, Mannhardt,
der erste Pferdebursche, und Hinsch, der andere, als sie ihre Herrin
erblickten. Und sie dachte sich befremdet: Was bedeutet das alles? und
wußte es doch, noch ehe plötzlich der Divisionspfarrer vor ihr stand
und stumm ihre Hand ergriff und langsam die Tür öffnete.
Die helle Morgensonne lag in trügerischem Rot auf dem ernsten Antlitz
des Generalleutnants Olaf von Glümke. Ihn störte der Glanz des neuen
Tages nicht mehr. Seine Lider waren geschlossen. Es war, als ob er
schliefe, das von weißen Mullstreifen umwundene Hinterhaupt auf das
weiße Kissen gebettet, die Orden auf der Brust, die weißbehandschuhten
Hände, zwischen denen ein kleines Kruzifix lag, über dem Säbelknauf
verschlungen, in einer feierlichen Ruhe, die von seinem Totenbett
ausging und das Gemach erfüllte. Von draußen, aus dem Flur, tönte
wieder Schluchzen, und weiterhin, im Freien, von den Feldern und Wegen
ein unbestimmtes, tausendfaches Summen und Murmeln und Brausen von
Stimmen. Dann trat der Generaloberarzt hastig über die Schwelle:
»Rasch ... Wasser ... Ihre Exzellenz ist ohnmächtig geworden ...«
In einem Nebenraum bemühten sich die Ärzte, die Schwester und die
Schwägerin um Maximiliane. Sie lag bewußtlos. Sie hörte nicht, wie
fern ein dumpfer Kanonenschlag erscholl, zwei, drei -- ein ganzes
Geböller, stürmisch aufflackerndes Kleingewehrgeplacker bei den
Vorposten -- Hornsignale -- ›An die Gewehre!‹ -- ›An die Pferde!‹
-- ›An die Geschütze!‹ -- Ein Laufen und Rennen -- ein Jagen von
Adjutanten, von denen einer einem anderen durch Hufschlag und
Säbeltanzen an der linken Pferdeflanke zurief: »Man merkt schon, daß
Glümke nicht mehr kommandiert! Wir müßten schon seit zwei Stunden
unterwegs und dem Gegner im Rücken sein ...«
»Ja, aber das Unglück ...«
»Wenn er noch hätte reden können, hätte er gesagt: Kinder ... Krieg
ist Krieg! ... Kümmert euch nicht um mich ... Vorwärts! ... Spuckt den
Roten gehörig in die Morgensuppe, daß sie noch einmal an mich denken!
...«
Nun brüllten da vorn schon überall die Kanonen. In langen Schlangen
setzte sich die Division in Bewegung. Von der Rheinebene grollte es
dumpf herüber. Luftschiffe und Flugzeuge erschienen schwimmend und
suchend am Himmel -- das Kaisermanöver ging seinen Gang, die Massen
waren im Fluß -- der Tod eines einzelnen konnte dies Widerspiel
von Krieg und Tod nicht hemmen. Die Scheiben des Zimmers, in dem
der General von Glümke ruhte, zitterten leise im fernen Donner der
Geschütze.
19
Und wieder war der Mai im Land ... der Mai im äußersten Osten des
Reiches, mit kaltem Steppenhauch von drüben aus der russischen Weide,
mit Nachtfrösten und Wetterschauern -- aber doch der Frühling ... das
erste Grün an Baum und Strauch, die ersten warmen Sonnenstrahlen vom
blaßblauen Himmel.
Dort, fern am anderen Ufer der Weichsel, lag malerisch das altersgraue
Thorn mit seinen Mauern und Zinnen aus der deutschen Ordenszeit,
seinen spitzen Giebeln und Backsteinmassen mittelalterlicher Kirchen.
Von ihnen klangen die Sonntagsglocken. Der Wind trug den Schall
über das flache Land, er ließ da unten die lehmgelben Wellen des
Flusses weiß aufheulen und pfiff ungestüm in dem Eisengitterwerk
der Riesenbrücke, die einen Kilometer lang sich anscheinend fast
unabsehbar über den Grenzstrom spannte.
Maximiliane von Glümke schritt auf ihr dahin, das blonde Haupt gegen
den Sturm vorgeneigt, daß die Enden ihres blauen Schleiers flatterten:
sie trug kein Schwarz mehr. Schon vor anderthalb Jahren hatte sie nach
Ablauf des Trauerjahres den Flor abgelegt. Aber jetzt noch zeigte
ihre Kleidung in ihrem einfachen tiefen Violett die Zurückhaltung
der Witwe und der Exzellenz. Sie war mit dem kleinen Dampfboot über
den Fluß gefahren und kehrte von ihrem einsamen Spaziergang in das
Grotjansche Haus zurück, in dem sie, von Berlin aus, zu Besuch weilte.
Sonntagsausflügler kamen ihr entgegen, polnische Bauern, Soldaten vom
Infanterieregiment von Borcke, dessen Kasernen hinter ihr wie ein
Brückenkopf halb in den Wäldern verborgen lagen, andere vom Regiment
von der Marwitz, von den Ulanen, Fußartilleristen und Pioniere der
großen Grenzfeste. Dann ein Keuchen und Poltern. Ein Eisenbahnzug
rollte langsam vom Stadtbahnhof nach der Station Thorn hinüber.
Eydtkuhnen-Berlin stand auf den Wagen. Fremdartige Gesichter sahen
heraus. Die Brücke zitterte leise. Ein vorbeireitender junger Offizier
hatte Mühe, sein schnaubendes Pferd auf den glatten Holzbohlen
des Bodenbelags neben dem Schienenstrang versammelt zu halten. Er
hatte nicht aufgepaßt gehabt. Beinahe wäre das Tier gestrauchelt.
Maximiliane ging weiter. Der Zwischenfall hatte ihr einen Stich in das
Herz gegeben. Er hatte sie an den Sturz und Tod ihres Mannes erinnert
... Vor zweieinhalb Jahren ...
Die Generalin von Glümke ging und ging. Wohl fünf Minuten schritt
ihr Fuß schon über diese Brücke. Aber das andere Ufer schien immer
noch gerade so fern wie zuvor. Ihr dünkte das, in der Schwermut der
Frühlingsstimmung, wie ein Sinnbild des Seins. Man wanderte -- man
hatte keinen Gefährten zur Seite -- da vorn verlor sich vor den
Augen ein Ziel -- man wanderte und erreichte es nicht ... Die Sonne
tröstete mit mildem Strahl -- da unten spielten die Wellen -- Menschen
kamen vorbei -- lachend -- schwatzend -- im Sonntagsstaat -- aber
selber war man allein und wanderte, das Auge auf der Stadt da drüben
mit ihren grauen Türmen, im Ohr die Glocken, im Herzen ein trübes,
unbestimmtes Sehnen der Verlassenheit ... Sie blieb stehen und blickte
zurück. Die dunklen Streifen am Horizont, keine zwei Stunden entfernt,
das waren schon die Grenzwälder. Gleich dahinter begann das heilige
Rußland. Dem Blick verborgen, dehnten sich davor in weitem Halbkreis
die deutschen Forts. Sie trugen die Namen der Ordenshochmeister, von
Hermann von Salza bis zu Dietrich von Plauen, all der Großen mit dem
schwarzen Kreuz auf weißem Mantel, die trotz Tannenberg den Heiden
und Slawen die Ostmark abgerungen. In Metz hießen die Forts nach den
Helden des siebziger Kriegs. Metz ... der Abend im Garten der Villa
in Montigny stand vor ihr -- die rote Glut der sinkenden Oktobersonne
zwischen den hohen Bäumen -- damals hatte sich ihr Schicksal
entschieden. Sie hatte ihr »Ja« nie bereut. Sie war glücklich gewesen
mit ihrem Mann. Nun war das alles schon wieder vorbei, verschollen,
verronnen wie die Wogen der Weichsel unter ihr.
Im Weitergehen schaute sie über das Geländer in die Tiefe: schwer
wälzten sich da in rastlosem Schwall die Wellen. Graue Inseln oder
Sandbänke lagen scheinbar da und dort verstreut in ihrer gelben Flut.
Aber wenn man näher hinsah, waren es die kurzen plumpen Holzflöße der
Flissaken, deren Räubergestalten da unten, in einer Buschlichtung
des Überschwemmungslandes, um ein Feuer lagerten. Darüber hinaus
verlor sich der Fluß in die Weite ... in den bläulich verdämmernden
Horizont. Und ebenso endlos dehnte sich vor ihr die Brücke. Sie ging
und ging, nun schon eine gute Viertelstunde, immer über den Strom,
immer die Stadt vor Augen -- in der Seele die Frage: Wozu das alles?
... Man wandert und wandert ... das ist das Leben ... und vor einem
steht etwas wie ein Traumbild -- und weicht zurück ... und schließlich
ist das Leben zu Ende ...
Da war das Ende der langen Brücke. Die Straßen von Thorn. Sie
überquerte den Marktplatz, wo sonst an Wochentagen die russischen
Bauern mit ihren Gänsen unter den Armen standen. Vor dem Theater
hielten Krümperwagen. Offiziersdamen holten sich da für den heutigen
Sonntagabend ihre Eintrittskarten. Bald dahinter begann die Neustadt,
in der die Grotjans wohnten. Ihre Schwester Dorle, die mollige kleine
Hauptmannsfrau, empfing sie mit einem Seufzer der Erleichterung: »Na
... Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, die Kalbskeule wird zu
braun!«
Die sonntägliche Kalbskeule -- das war ein Ding von Bedeutung für den
Familienkreis. Frau Dorle, ihr Mann, vier hungrige kleine Mäuler unten
am Tisch. Er, der Hauptmann Grotjan, von den dreißigsten Pionieren,
saß zufrieden in der Mitte der Seinen. Er war immer ein wenig befangen
in Gegenwart seiner schönen Schwägerin, der Exzellenz. Und auch in
Gedanken an ihre anderen Verwandten: Otto, den Millionär, und Peter,
den kleinen Grenadier und glücklichen Bräutigam einer schlesischen
Gräfin, und Onkel Bruno, den Divisionskommandeur, und Erich von Logow,
den Weltumsegler, der jetzt eben, irgendwo auf dem Meere schwimmend,
auf dem Rückweg von Chile in die Heimat war. Das alles stimmte nicht
zu seinem schlicht bürgerlichen Sinn und Sein. Er kam sich manchmal
wie ein Eindringling in die Familie vor. Aber es schmeichelte ihm
doch. Er war der Generalin von Glümke dankbar, daß sie jedes Jahr
seit dem Tod ihres Mannes auf eine Woche zum Besuch der Schwester von
Berlin zu ihnen herüberkam. Es war dann immer eine eigene feierliche
Stimmung im Hause. Es strahlte immer noch ein Glanz auch von dem
Witwentitel ›Exzellenz‹ aus. Selbst Kraninski, der Bursche, ging auf
den Fußspitzen und machte ein blöde andächtiges Gesicht.
»Bist du denn wirklich satt?«
Maximiliane nickte zerstreut. Sie dachte sich in der alten Schwermut,
im Gefühl des Alleinseins, inmitten dieser Grotjanschen Gemeinsamkeit:
›Ach ja, Kinder -- ihr seid satt! ... Euer Kreis ist geschlossen,
euer Schicksal erfüllt. Ihr habt's gut ...‹ Und in ihr war wieder das
Sehnen -- die Unruhe -- das Unbestimmte -- Dunkel über dem Meer, wie
Rauschen und Wandern von Wellen ...
»Du mußt eben vorlieb nehmen, Maxe! ... Bei dir daheim bist du's
natürlich besser gewöhnt!«
Sie mußte halb lachen und strich sich mit der Hand die blonden Haare
aus der Stirn.
»Ich? Mit meiner Gartenwohnung in Charlottenburg und einem Mädchen?
Glaubst du, eine Generalswitwe sei bei uns mit ihrer Pension so auf
Rosen gebettet? Und Schätze hat mein Mann mir nicht hinterlassen! Dazu
hatte er eine viel zu sorglose Hand in Geldsachen. Ich komme gerade
so mit Anstand durch. Aber auch nicht mehr!«
Der Tisch war abgeräumt. Dorle Grotjan las einen vormittags
angekommenen Brief ihrer Mutter vor, die nach wie vor zurückgezogen in
Darmstadt in ihrem Kreis von Generalinnen z. D. und Kommandeusen a. D.
ihren Lebensabend verbrachte. Jeden Winter und Sommer kamen ein paar
neue hinzu, blieben ein paar in aller Stille weg. So schlossen sich
die Lücken, rollten die Tage in Frieden dahin. Sie schrieb:
»... daß Otto und seine Frau wieder einmal in Paris sind, habt ihr
wohl schon gehört. Mir scheint, sie wissen jetzt, nachdem sie ihr Gut
wieder verkauft haben, gar nicht mehr, was sie anfangen sollen. Aber
eine große Freude habe ich vorige Woche gehabt. Ulla ist eingetroffen,
auf der Reise vom Süden nach Hamburg, wohin sie ihrem Mann
entgegenfährt. Sie ist immerhin frischer, als wie sie im Herbst nach
Mentone ging. Es hat ihrer Brust gewiß gut getan. Es war ja nun schon
ihr zweiter Winter an der Riviera. Sie freut sich so, endlich nach
drei Jahren, ihren Mann wiederzusehen. Ich gönn' es ihr von Herzen!
Möge nun alles gut werden, besser als in der trüben Zeit zuvor. Die
Jahre waren für beide wohl eine harte Lehre. Husten tut sie freilich
immer noch. Ich hoffe, sie nehmen im Militärkabinett darauf Rücksicht
und stecken Erich jetzt nicht gleich nach seiner Heimkehr nach
Ostpreußen oder an das Stettiner Haff oder sonst eine rauhe Gegend.
Ihm soll der Aufenthalt da draußen ja vorzüglich bekommen sein -- das
sagen alle -- neulich noch hörten wir über Berlin, wie zufrieden man
mit seinen Leistungen gewesen sei -- Ich denke mir immer, die Kinder
kommen hier in meine Nähe, irgendwo an den Rhein. Das wäre zu schön!«
Es folgten noch Familiennachrichten aus dem weiten Geschwister- und
Verwandtenkreis, von Onkel Wilderich, dem Husaren a. D., von dem
Gerüchte umliefen, daß er trotz seiner grauen Haare auf seine alten
Tage noch in Breslau auf Freiersfüßen ging, dann Langes und Liebes
von der künftigen Schwiegertochter, der kleinen schlesischen Gräfin,
die die Witwe bisher nur aus Briefen und Photographien kannte -- noch
ganz jung, blond -- vom Lande -- wenig Geld -- aber gewiß das Rechte
... »Sie paßt auch so gut ins Regiment, so frisch von der väterlichen
Klitsche hinein, und die Damen freuen sich schon alle auf sie,
schreibt Peter. Der Junge ist im siebten Himmel!«
Und dann ein Nachwort: »Denkt euch: diesen Augenblick kommt eine
Kabeldepesche aus Teneriffa! Erichs Schiff hat dort angehalten. So
weit ist er nun schon auf dem Heimweg. Ulla ist außer sich vor Freude!«
Es war ein kurzes Schweigen nach dem Brief. Dann meinte Frau Dorle:
»Wenn die beiden nur nicht in einem Vierteljahr wieder wie Hund und
Katz miteinander stehen!«
»Beruf es nicht, Dickchen!« sagte ihr Mann. »Die Ulla hat auch für
ihre Fehler gebüßt!«
Es erschien Besuch. Am Sonntagnachmittag ging es bei den Grotjans
immer zu wie im Taubenschlag. Damen vom dreißigsten Pionierbataillon,
die Kommandeuse, Frau Major Große selbst, Frau Hauptmann Paulitschek,
Frau Leutnant Breitscheidt -- es war ein Geschwatze und Gelache
-- Kirchturminteressen -- Neuigkeiten von Bekannten aus Danzig und
Metz, aus Köln und Magdeburg, aus Straßburg und Mainz, und wo überall
Pioniere in den Festungsgarnisonen lagen -- die junge Generalin,
die zwischen den eifrig plaudernden und kaffeetrinkenden Damen saß,
hatte gar kein Interesse an diesen Sachen. Aber sie wollte nicht,
daß man ihr Schweigen als Hochmut auslegte, und beteiligte sich am
Gespräch, so gut es ging. Es war nicht leicht. Sie war ja Witwe --
eine gestürzte Größe, deren Lächeln niemandem mehr nutzte, deren
Ungnade keinem mehr schaden konnte, aber immerhin -- sie war Exzellenz
-- anders als die anderen -- auch im Äußerlichen. Sie war immer noch
die große Dame. Und um sie herum der leere Raum. Eigentlich überall im
Leben. Es war immer ein Abstand zwischen ihr und den Dingen. Wieder
empfand sie das Frösteln der Verlassenheit. Mit einer jungen Frau,
die später als die anderen gekommen war, unterhielt sie sich ganz
gut. Aber als jene harmlos fragte: »Steht Ihr Herr Gemahl bei den
Gardepionieren, gnädige Frau?« und sie wahrheitsgemäß antworten mußte:
»Er ist schon vor ein paar Jahren als Divisionskommandeur gestorben!«
da wurde die Ahnungslose puterrot: »O, Pardon, Exzellenz!« und war von
da ab nicht mehr recht aus sich herauszubringen.
Maximiliane war froh, als gegen Abend das Geschwurbel aufhörte und man
noch einen Spaziergang unternahm. Sie gingen durch die sonntäglich
belebten Straßen. Das weiche singende Westpreußisch schlug an ihr
Ohr. Dazwischen polnische Laute. Von dem Hügelgelände der alten
Festung schauten sie auf die Stadt nieder: es war einsam da oben,
dem Zivil der Zutritt zu dem Bollwerk verwehrt, das längst schon
seine militärische Bedeutung an den stundenweit entfernten Fortgürtel
abgetreten hatte. Die Kasematten dienten jetzt zur Unterkunft von
Infanterie und lagen heute, wo alles bunte Tuch ausgeschwärmt war,
still und verlassen. Die Gräben waren zu Schießständen eingerichtet.
Auf den leeren Geschützbänken darüber wuchs das Gras. Die beiden
Schwestern hatten sich, die anderen weit vorausgehen lassend, dahin
gesetzt. Rundherum lag weit im Abendrot, am Horizont schon im Dämmern
verschwimmend, die Ostmark. Trotzig wie in alten Ordenszeiten, hielt
da drüben Thorn die Wacht an der Weichsel. Es war eine Stimmung
ähnlich der am anderen Ende des Reiches, wo dräuend der St. Quentin
über Metz und Mosel hinweg gen Westen, nach Frankreich blickte. Hier
im Osten war nicht die lachende, üppige Hügelgegend Lothringens.
Platt, einförmig, schon wie im Vorahnen der endlosen russischen Ebenen
und Wälder, dehnte sich das Land. In breitem Band schlängelte sich die
Weichsel dahin. Ihre Krümmungen glänzten silbern im Abendlicht. Über
der Riesenbrücke, die sie überspannte, ballten sich kleine, wandernde
Dampfwolken in der Luft. Ein Verbindungszug rollte von der Stadt zur
Hauptstation am anderen Ufer. Maximiliane sah darauf hin und sagte
dann: »Morgen reise ich nun auch wieder ab, Dorle!«
»Bleib doch noch ein bißchen! In Berlin hast du doch auch nichts
verloren!«
»Nein. Aber irgendwo muß man doch sein!«
Die jungen Frauen schwiegen und blickten in den feuerroten Sonnenball,
der langsam, feierlich, in Glut gebadet, in der Grenzlinie zwischen
Himmel und Erde versank. Dann frug Dorle Grotjan: »Warum bist du
eigentlich gerade nach Berlin gegangen, Maxe?«
Die schöne junge Generalin zuckte die Achseln.
»Weißt du, Dorle ... in der ersten Zeit -- da war mir überhaupt alles
gleich ... Da war ich so ... ich weiß nicht, wie ich's nennen soll ...
Trauer ist zu wenig ... Ich war so aus allen Himmeln gerissen ... Ich
hab' alle Leute immer nur erstaunt angesehen ... Ich hab' gar keine
Menschen vertragen können ... ich war ja das ganze erste Jahr auf
Reisen ... aber du könntest mich totschlagen, wenn ich dir noch recht
sagen könnte, wie und wo ... Und da sah ich schließlich ein, daß ich
mich irgendwo seßhaft machen muß ...«
»Aber warum nicht zusammen mit Mama und Ulla?«
Maximiliane von Glümke beugte den blonden Kopf vor und strich die
Falten an ihrem Rock glatt.
»Liebes Kind: Ulla und ich -- das ist ein Kapitel für sich. Es
ist besser, wir sind nicht beisammen! Und dann: ich kann doch
nicht so einfach wieder quasi als Haustochter in Mamas Darmstädter
Bekanntenkreis untertauchen! Ich kann doch nicht da so eine Nebenrolle
spielen, wie Ulla. Ich bin doch schließlich Exzellenz!«
Es war dabei ein unwillkürlicher Hochmut in ihren Worten und in ihren
Zügen. Sie fuhr fort: »Eigentlich ist's ja ein Widerspruch! Man
schmückt sich als Frau von dreißig mit einem Titel, der einem Mann von
fünfzig gebührt -- man wird dadurch selber älter vor der Zeit oder
kommt sich wenigstens so vor -- ja -- aber was soll ich machen? Ich
hab' die Gesetze nicht erlassen, nach denen ich meinen Platz in der
Welt einnehmen muß ...«
Dorle Grotjan machte eine lebhafte Bewegung, als wollte sie etwas
sagen. Aber sie besann sich und schwieg.
Ihre ältere Schwester schloß: »Und diesen Platz finde ich eben noch
am ersten in Berlin, weil man da nicht auf einen bestimmten Kreis
angewiesen ist, sondern sich wenigstens die Menschen aussuchen kann,
mit denen man umgeht. Ich hab' da wirklich sehr netten Verkehr
gefunden!«
»Freilich: wenn du dich da wohl fühlst ...«
»Eigentlich ist's langweilig!« sagte Maximiliane. »Aber das liegt
an mir! ... Mir ist, ich möchte sagen, vor zweieinhalb Jahren mein
Daseinszweck in der Hand zerbrochen. Ich steh' und krieg' ihn nicht
wieder zusammen. Ich weiß nicht recht, was ich mit mir anfangen
soll, geschweige denn mit anderen! ... Darum können die mir auch so
wenig helfen ... So furchtbar viel bin ich auch nicht mit Menschen
zusammen. Ich lebe, bei Licht besehen, recht einsam. Wie jeder, der in
Berlin nichts zu tun hat. Dort ist das Gemeinsame die Arbeit. Man muß
Pflichten im Leben haben, Dorle! Das ist das ganze Geheimnis!«
Maximiliane malte mit ihrer Sonnenschirmspitze im Sand vor ihren
langen schmalen Lackschuhen Kreise und Striche und sagte dann
unvermittelt: »Ich will dir was gestehen ... Ich bin ja noch nicht
entschlossen ... aber ich denke seit einem Jahr schon ernstlich daran,
Diakonissin zu werden!«
Die Jüngere schlug entsetzt die Hände zusammen.
»Du?«
»Ja!«
»Maxe! Ich glaub', du bist verrückt!«
»Wieso? ... Wie ich in Straßburg war als junges Mädchen bei Onkel
Bruno, da stand ich auch schon ganz dicht davor, gerade wie mein Mann
um mich anhielt ...«
»Ja, damals ... Ein Mädel ohne Geld ... eine Waise ... Und sonst noch
allerhand auf dem Herzen ... da war's weiter kein so großes Kunststück
... Aber jetzt, in deiner Stellung ... du bist doch selbst so stolz
auf deinen Rang und Titel ...«
Die Generalin von Glümke sah nachdenklich in die Ferne.
»Seinen Stolz muß man eben opfern, Dorle! ... Das ist's ja! Es muß
nur ein Ding sein, das das Opfer wert ist. Groß genug dazu! ... Man
muß nicht hinabsteigen auf eine andere Stufe im Leben, sondern alles
hinter sich lassen, mit einem freien Entschluß, auf einmal. Das könnte
ich wohl, weil das etwas Ganzes ist!«
»Na ... vorläufig bist du ja noch nicht so weit!« lachte Dorle. Sie
nahm die schwermütige Anwandlung der schönen Schwester nicht ganz
ernst, und jene nickte selbst: »Ich sag' dir ja: ich weiß es noch
nicht. Ich habe ja noch ein langes Leben vor mir. Mir ist nur das eine
klar: so ganz leer wie jetzt darf es nicht bleiben. Ich muß ihm einen
Inhalt geben!«
Nun konnte Frau Dorle Grotjan das, was ihr die ganze Zeit schon auf
Herz und Lippen lastete, nicht länger an sich halten: »Zu komisch! ...
An das Nächstliegende denkst du wohl gar nicht, Maxe?«
»An was denn?«
»Herrgott: daß du noch einmal heiratest!«
Ihre Schwester hörte es nicht oder wollte es nicht. Sie blieb bei
ihrem Gedankengang.
»Ich hab' mich diesen Winter schon im Kultusministerium erkundigt!«
sagte sie. »Wegen meiner Diakonissenpläne. Oder vielmehr: wenn --
dann würde ich Johanniterschwester werden! Die Ausbildung geht da
schneller. Nur ein Jahr. Und wo wir die Menge Johanniterritter in
unserer Verwandtschaft haben! Da nehmen sie natürlich Rücksicht --
auch darauf, daß man schließlich doch auch als Exzellenz und Generalin
zu ihnen kommt. Ich kann da vielleicht mit der Zeit einen größeren
Wirkungskreis erhalten ... Oberin werden, oder ...«
Frau Dorle schüttelte ratlos den Kopf.
»Ich denk' immer, ich hör' nicht recht! ... Wenn ich mir vorstelle, du
in der Schwesternhaube ... eine große Dame wie du ...«
»Eben deswegen! Ich habe viel vom Leben und der Welt gehabt! Mehr
als andere! ... Und dies Leben und mein Schicksal hat mich ernst
gemacht. Ich bin doch nicht mehr das dumme, blonde Mädel von vor acht
oder zehn Jahren, wie wir drei es damals waren! ... Ich bin doch ein
gereifter Mensch geworden und hab' Zeit genug gehabt, über vieles
nachzudenken. Jetzt bin ich immer noch jung. Ich seh' gut aus. Die
Leute freuen sich, wenn ich komme. Aber man wird älter! Was tu' ich
denn in späteren Jahren? Soll ich denn da ewig noch, in dreißig oder
vierzig Jahren, als die vor undenklicher Zeit mit achtundzwanzig
verwitwete Exzellenz Soundso herumlaufen und dem lieben Herrgott die
Tage stehlen?«
»Heiraten sollst du!«
»... da will ich mich doch lieber nützlich machen,« schloß
Maximiliane, als hätte sie nichts von den Worten der Schwester
vernommen. »Das kann mir wirklich niemand verargen!«
Die junge Hauptmannsfrau faßte die lange, schmale, weiße Hand der
Älteren und hielt sie zwischen ihren eigenen, molligen, rundlichen
Patschen.
»Nützlich macht man sich, wenn man glücklich macht, Maxchen! Dazu hast
du doch das Zeug wie wenige. Es ist ja jammerschad' um dich! ... Du
mußt dich jetzt an den Gedanken gewöhnen, wieder zu heiraten! ... An
Bewerbern kann es dir doch in Berlin nicht fehlen! Es war doch gewiß
schon mehr als einer da!«
Die Generalin mußte über die Naivität der kleinen Grenzbewohnerin
lachen.
»Einer, Dorle?« sagte sie. »Eine Legion! Ich kann mich gar nicht vor
ihnen retten! Sie laufen mir das Haus ein! Ich mach' schon, wenn ich
Einladungen annehme, bei meinen Freunden zur Bedingung, daß ich nur
verheiratete. Leute zu Tischherren kriege! ... Nein, was das betrifft,
da hätt' ich wirklich die Wahl ...«
»Ja, da wähl doch in Gottes Namen!«
Maximiliane von Glümke war wieder ernst geworden. Sie machte ihre
Rechte frei, legte die Hände im Schoß zusammen und versetzte ruhig:
»Du vergißt immer -- und mir scheint, ihr alle vergeßt es immer ein
wenig, wenn ihr euch meinen Kopf zerbrecht: meine Ehe ist sehr, sehr
glücklich gewesen. Ich kann es wirklich jetzt hinterher noch, wo die
Zeit alles geklärt hat, mit gutem Gewissen sagen. Ich habe nie, auch
nur einen Augenblick, die Stunde bereut, wo ich ›ja‹ gesagt hab',
trotz des Altersunterschieds. Aber daß die Ehe glücklich war, war eben
ein Glück. Das kehrt so leicht nicht wieder!«
»Das kommt nur auf den Zweiten an!«
»Ja eben, Kind! ... Ich kann dir nur wiederholen: ich war in einer
äußerlich glänzenden Stellung. In meiner Zeit als Mädchen hatte ich
in der Hinsicht nur zu gewinnen, jetzt als Witwe hab' ich auch viel
zu verlieren! ... Soll ich mir die Stellung bewahren, die ich jetzt
inne habe ... so muß ich jemanden zum Mann nehmen, der schon in hohem
Amt und Würden ist! ... Es gibt ja solche Leute in der Armee und in
der Verwaltung, die es so eilig hatten, Karriere zu machen, daß sie
darüber das Heiraten vergaßen, bis sie eines schönen Tages vor dem
Spiegel ihre grauen Haare entdecken! ... Solche großen Tiere kommen
wohl auch in meinen Gesichtskreis. Für solch eine Vernunftehe dank'
ich! ... Für eine zweite! ... Da bleib' ich lieber frei und behalte,
was ich ohnedies schon hab'!«
»Es gibt doch auch noch andere Menschen auf der Welt!« sagte Dorle.
»Kind, das verstehst du nicht ... Man kann sich nicht von heute auf
morgen umkrempeln wie einen alten Handschuh und in kleine Verhältnisse
zurück. Wenn man gewöhnt war, daß die Damen einer ganzen Division
einen zuerst grüßten, daß der Regierungspräsident einen zu Tisch
führte und Fürstlichkeiten einem die Hand küßten ... und dann
hinterher ... nein, so bescheiden bin ich nicht ...«
»Aber das hängt doch nur davon ab, Maxe ...«
»Es wäre ein Unrecht an dem Zweiten! Ich habe Angst, was da alles
kommen könnte! ... Nein, lieber nicht! Lieber schon die Einsamkeit, da
bin ich wenigstens nur für mich verantwortlich! ... Warum lachst du
denn auf einmal so dumm, Dorle?«
»Ach ... ich denke mir so mein Teil!«
»Was heißt das?«
Frau Grotjan legte der Generalin die Hand auf die Schulter.
»Du hast ganz recht, Maxe! ... Du bist noch nicht so weit! ... Du mußt
warten, bis der Richtige kommt!«
»Woran erkenne ich denn den?«
Die Schwester lachte wieder.
»Daran, daß du dich in ihn verliebst, du Unglücksgeschöpf ... Aber
gründlich verliebst! Bis über die Ohren! ... Das fehlt dir! ... Das
ist dein ganzes Unglück! ... Verlieb dich nur mal recht herzhaft,
Maxe! Dann sind deine Diakonissengeschichten gleich beim Kuckuck! ...
Dann ist dir's auch ganz gleich, ob er Hauptmann oder General ist. Du,
Hand aufs Herz, Maxe: Hast du denn wirklich gar nichts da im Herzen
drinnen?«
»Nein!« erwiderte Exzellenz von Glümke. In einem plötzlich kalten und
gleichgültigen Ton, vor dessen Abwehr ihre Schwester verstummte, und
stand auf. »Sag mal: wo ist dein Mann denn eigentlich hingeraten, und
die Kinder?«
»Irgendwo voraus! Laß sie doch nur!«
»Nein. Ich finde, es wird kalt hier!« sagte Maximiliane mit sonderbar
unbewegtem Gesicht und frostiger Stimme und knöpfte sich die Jacke zu.
»Die Sonne ist auch schon unter! ... Komm -- wir wollen nach Hause!«
Der Abend verlief still und gemütlich. Die Grotjans waren die rechten
Heimchen am Herde. Natürlich erschienen auch wieder Kameraden mit
ihren Frauen. Das Pionierehepaar konnte sich dies offene Haus leisten,
trotz seiner beschränkten Mittel. Denn hier war die Einfachheit noch
an der Tagesordnung, das berühmte altpreußische Butterbrot, dessen
Name sonst wie eine Sage aus verklungenen spartanischen Zeiten in den
modernen Wohlstand der Armee hineinklang, noch leibhaftig auf der
Schüssel zu schauen. Hinterher tranken die Herren Bier, die Damen
Tee. Die Herren saßen im Zimmer rechts, die Damen im Zimmer links.
Die einen sprachen vom Dienst, die anderen von den Dienstboten.
Maximiliane hörte mit geistesabwesendem Lächeln den Hausstandsorgen um
sie herum zu. Ihre Gedanken waren wo anders. Es war eine Unterströmung
in ihrer Seele -- eine Nachwirkung des Gesprächs von vorhin -- die
alte Traurigkeit und Ruhelosigkeit ... Und dann, mitten in der Nacht,
schlug sie die Augen auf. Sie hatte Herzklopfen. Sie konnte nicht
schlafen. Dies unermüdliche, hastige Hämmern raubte ihr alle Ruhe.
Dabei war gar kein Grund dazu vorhanden. Sie wußte wenigstens keinen.
Sie sah in das Dunkel vor sich empor. Im Wandern ihrer Gedanken hörte
sie wieder die Worte ihrer Schwester: ›Warum heiratest du eigentlich
nicht?‹ Das war der Schlüssel zu dem ganzen Sein und Schicksal. Es
stand einer zwischen ihr und dem Leben und trat immer wieder in ihren
Gesichtskreis und kam jetzt wieder zurück. Sie wollte nichts von ihm
sehen und wissen, und doch ... was sie vorhin sich und der Schwester
verschwiegen und verneint, das sprach jetzt zu ihr die Stille der
Mitternacht: ›Ich liebe ja doch, wenn ich's auch zehnmal abgeleugnet
hab' ... Ich lieb', solange ich zurückdenken kann, lieb' ich den
einen! ... Ich hab' ihn fern von mir gesehen, losgelöst, nur noch
ein Bild heiliger Erinnerung, in den Jahren meiner Ehe ... Jetzt, in
meiner Einsamkeit, ist er wieder da ...‹
Sie stand auf, ging vorsichtig durch das dunkle Zimmer zum Fenster
und schlug den Vorhang zurück. Draußen lag heller Mondschein auf
den breiten, hellen Straßen und Plätzen der Thorner Neustadt.
Drüben schimmerten in dem blauen Dämmern die Dächer und Höfe der
Fußartilleriekasernen. Einsam schildernde Posten vor dem Tor. Der
Pfiff einer Lokomotive vom nahen Stadtbahnhof. Und in ihrem Ohr,
durch das ewige Hämmern des Herzens, etwas wie ein Rauschen --
wie Wellenstrudeln und Windeswehen -- und vor ihren Augen etwas
Unbestimmtes -- eine Rauchwolke dort am Horizont -- ein Dampfer fern
auf dem Meer -- er war in voller Fahrt -- er näherte sich -- er hatte
schon Teneriffa im Rücken ... bald legte er im Heimatshafen an.
Sie atmete schwer auf. Sie sagte sich: Gottlob -- wenn auch Logow
jetzt wieder nach Deutschland kommt, unsere Wege kreuzen sich nicht.
Sie werden ihn irgendwo an den Rhein bringen. Mama schreibt das nicht
umsonst. Sie hat schon ihre Quellen. Da bleibt er. Da mag er mit Ulla
so glücklich sein, als er vermag. Vielleicht finden sich jetzt die
beiden! Ich will das einzige dazu tun, was in meinen Kräften steht:
ich will seine Nähe fliehen. Es ist zu seinem Besten. Und zu meinem
eigenen erst recht ...
Am anderen Morgen merkten ihr die Verwandten nichts von den
durchwachten Nachtstunden an. Sie nahm heiter und unbefangen
Abschied von dem Grotjanschen Hause, küßte die Kinder, beschenkte
die Dienstboten und fuhr dann mit dem Ehepaar auf dem Krümperwagen
über die große Brücke hinüber, nach der Hauptstation. Dort gingen sie
auf dem Bahnsteig auf und nieder und warteten auf den von Rußland
herkommenden Zug. Draußen auf dem freien Gelände zwischen Bahnhof
und Fluß war ein Kommen und Gehen zu den nahen Kasernen. Offiziere
zu Fuß und zu Pferd. Ein Hauptmann sah den Pionier und seine Frau,
blieb grüßend stehen und rief hinüber: »Haben Sie schon 's neueste
Militärwochenblatt gelesen, Grotjan?«
»Nee!«
»Gestern abend erschienen! Warten Sie ... Ich hab's bei mir ... da ist
nämlich was drin, was Sie auch interessiert! ... Sie sind doch nahe
verwandt mit dem Logow, dem bisherigen Chilenen?«
»Ja. Unsere Frauen sind Schwestern!«
»Na -- da sehen Sie ... Glück muß der Mensch haben!«
Er trat heran und zeigte dem andern eine Stelle in der Zeitung, und
Maximilianes Schwager las halblaut: »Von Logow, Hauptmann à la
suite der Armee, bisher in chilenischen Diensten, vom 25. Mai ab
in den Großen Generalstab versetzt!«
»Donnerwetter ja!« sagte er, gab dem Hauptmann, der sich mit erneutem
Gruß entfernte, das Blatt zurück und wandte sich, über sein ganzes
langes, ehrliches Gesicht von neidloser Genugtuung strahlend, zu den
Damen. »Na -- das gönn' ich dem Logow! ... Das gönn' ich ihm von
Herzen! ... Da muß er sich ja riesig wieder herausgemacht haben in
Südamerika! Nun hat er wieder seinen Stein im Brett!«
»Einsteigen!« schrie der Schaffner. Der D-Zug aus Eydtkuhnen war
eingelaufen. Maximiliane von Glümke nahm in ihrem Abteil Platz und
ordnete mechanisch ihre Sachen. Dann beugte sie sich zum Fenster
hinaus. Unten standen die Geschwister und freuten sich noch immer über
die gute Nachricht. Sie waren stolz auf den Schwager.
Der Hauptmann Grotjan rief: »Na ... grüß den Erich schön von uns! Du
wirst ihn ja nun bald zu sehen kriegen! ...«
»Ja ... ich weiß es nicht ...« sagte die Generalin von Glümke. Sie war
blaß geworden. Die fröhlichen Leutchen da unten beachteten es nicht.
Der Pionier lachte: »Wieso? Wo ihr jetzt beide in Berlin wohnt -- die
Logows und du ... Du, hör mal: Erich und seine Frau müssen jetzt uns
auch hier in Thorn besuchen! ... Schärf es ihnen jedesmal ein, so oft
du mit ihnen zusammen bist! ... Vergiß es nicht ...«
»Ich werde daran denken ...« Die Stimme der jungen Frau war tonlos.
Die Räder knarrten. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte in der
Richtung nach Berlin.
20
»Ich finde es ers--taunlich,« sagte John Bannersen, in seinem
kaltblütigen und nachdrücklichen Deutsch von der Waterkant, und
zündete sich seine Nachtischhavanna an, » ... ich finde es offen
ges--tanden ers--taunlich, wie ein Mensch in deinem Alter dies
Nichtstun jahraus jahrein aushält! Als ich in den Dreißig war, mein
lieber Otto, da hab' ich drüben in New Orleans im Baumwollgeschäft
Blut und Wasser geschwitzt! Das war kein S-paß! ... Aber du denkst:
wozu hat der alte Mann da hinten seinen Arnheim s--tehen? Tja ... Aber
wenn der Kasten nun mal verschlossen bleibt? ... Was dann, min Jong?«
Otto von Ottersleben stand am offenen Fenster des Arbeitszimmers
seines Schwiegervaters. Draußen im Vorgarten der Charlottenburger
Villa leuchtete das Sommergrün des Juni in der Sonne. Finkenschlag
und Sperlinggezwitscher klang aus dem Laub der Lindenreihen auf der
Straße, die ihren Schatten über den heißen Asphalt warfen. Sein
hübsches Gesicht war verdüstert. Er drehte sich um und versetzte
heftig: »Ich kann nichts dafür, Papa! Du weißt doch, was für
gräßlichen Ärger ich mit dem Gut gehabt hab'! ... Der Verwalter hat
gestohlen ... ich hab' jedes Jahr ein kleines Vermögen zugesetzt ...
da hab' ich schließlich verkaufen ~müssen~ -- wenn auch mit
Verlust.«
»Eingeseift haben sie den Herrn Leutnant a. D.!« nickte der alte Herr.
»Das kommt davon, wenn man seine Branche im S--tich läßt. Ich bin nun
schon 'n büschen schlecht auf den Augen, aber ich will dir jetzt noch
auf der Liverpooler Baumwollbörse im arbitrationroom auf zehn
Schritte sagen: Das ist good middling und das ist fine
-- da macht mir keiner was vor! ... Du aber vers--tehst nichts von
Landwirtschaft. Seit vorigem Herbst sitzt du nun wieder mit Frau und
Kindern in Berlin! Und was nun weiter ... Hm?«
»Ich weiß nicht!«
»Dat 's ja nun wohl slimm!« versetzte John Bannersen phlegmatisch,
entsandte wieder eine Weile blaue Havannawolken aus den Tiefen seines
Klubstuhls und wurde plötzlich in einer ganz breiten und gelassenen
Art ungemütlich. »Ich hätte mich als junger Mensch geschämt. Ich hätte
lieber Säcke im Hafen getragen oder Holz gehackt, als den ganzen Tag
unserm lieben Herrgott die Zeit s--tehlen!«
»Verzeihung, Papa ... Diesen Umgangston bin ich nicht gewohnt!«
»Das glaub' ich!« sagte John Bannersen mit unerschütterlicher Ruhe.
»Ich hab' auch lang genug gewartet. Ich hab' jahrelang s--till
zugesehen, ich übers--türze nie etwas. Aber nun ist meine Geduld zu
Ende. Leuten, die nicht arbeiten wollen, hänge ich den Brotkorb höher.
Du vers--tehst ...«
Sein Schwiegersohn biß sich auf die Lippen in hilflosem Widerwillen
gegen diese plebejische Auffassung seiner Existenz. Er machte eine
verächtliche Handbewegung und zwang sich zu hochmütiger Ruhe.
»Du entschuldigst, Papa, wenn ich dir auf diese Verkehrsformen nicht
folge! Sie sind mir zu vulgär!«
Der Baumwollschwiegervater lächelte mit breitem Behagen.
»Geldverdienen ist immer vulgär! Geldausgeben immer fein! Nicht
wahr? Aber ich s--pare das Geld lieber für meine Enkel. Ich leg'
es testamentarisch fest, s--tatt daß ich es Leuten geb', die es
verplempern. Wenn du, ein kräftiger Mensch, dich dein Leben lang von
deiner Frau und deinen Kindern ernähren lassen willst ...«
»Adieu!«
Otto von Ottersleben war schon an der Tür. Herr Bannersen erhob sich
erstaunt aus dem Sessel.
»Ja, wenn du freilich mitten aus einer ruhigen geschäftlichen
Bes--prechung davonläufst ...«
»Adieu! Ich hab' genug gehört!«
Der junge Mann schlug dem Schwiegervater die Tür vor der Nase zu,
der drinnen breitbeinig stehen blieb und ihm, die Hände in den
Hosentaschen, voll Seelenruhe nachsah, und trat verstört in ein
Nebenzimmer. Dort saß seine Frau mit ihrer Mutter. Sie schluchzte. Ihr
niedliches Gesichtchen war verweint und verwaschen. Sie flog an seine
Brust.
»Otto! ... Mama sagt ... Papa gibt von heut ab nur noch die Hälfte! Er
sagt, wir täten nichts!«
»Er sagt noch viel mehr!« versetzte Otto von Ottersleben wütend und
schob Adda sanft zur Seite. Er wollte nur fort aus diesem Hause, in
dem man ihn ~so~ behandelte! Er mußte jetzt mit sich allein
sein, um sich klar zu werden, was er sich schuldig war. Er küßte seine
Frau auf die Stirne.
»Auf nachher, Adda! Wir treffen uns bei Maxe und gratulieren ihr zum
Geburtstag! Also in 'ner Stunde! ... Adieu! ...« Er stürmte davon
und lief ziellos, düster, mit dem Spazierstöckchen wippend durch die
sonnenhellen Straßen Berlins. Überall wimmelte es von Menschen. Alle
schienen etwas zu tun zu haben. Sie gingen ruhig, mit geschäftlich
gespannten Mienen. Er sagte sich trotzig: ›Gottlob, daß ich nicht
so zu schuften brauch' wie die Spießer!‹ aber ihm war nicht wohl
dabei zumut. Ihm war, als antwortete ihm die breite schwere Stimme
des Schwiegerpapas: ›Dafür bist du eine Drohne. Du wirst schlecht
behandelt und mußt es dir gefallen lassen!‹ ... Und in ihm war ein
sonderbar katzenjämmerliches Gefühl, inmitten dieser Stadt, in der
alles vom Morgen bis zum Abend, vom Kaiser bis zum Kärrner tätig war.
Er blieb unschlüssig stehen. Er hatte keine Lust, jetzt schon seine
Schwester, die Exzellenz, aufzusuchen. Da saß alles voll Frauenzimmer,
es wurde durcheinandergeschwatzt und Geburtstagskuchen gegessen. Dazu
war er nicht in der Stimmung. Er fühlte das Bedürfnis, sich an irgend
jemandem festzuhalten, mit einem vernünftigen Menschen zu reden.
Hier in der Nähe wohnte sein Onkel Bruno, der Generalleutnant. Er
war lange nicht bei ihm gewesen. Er hatte, als verwöhnter Gentleman
von Paris oder der Riviera heimkehrend, eine unbestimmte, ein wenig
geringschätzige Scheu vor diesem nüchternen, altpreußischen Haus.
Aber heute schien es ihm, in seiner Gekränktheit und Ratlosigkeit, wie
eine Heimat. Er stiefelte entschlossen drauf zu und war froh, als ihm
gemeldet wurde, Exzellenz seien daheim und würden sich sehr freuen.
An dem General Bruno von Ottersleben waren die Jahre scheinbar
spurlos vorübergegangen. Es war immer noch dieselbe aufrechte,
breitschulterige, ein wenig schwere Gestalt, dieselben klugen, etwas
grobgeschnittenen Züge voll ruhigen Wohlwollens und unerschütterlicher
Festigkeit. So hörte er die Klagen an, in denen sein Neffe ihm das
Herz ausschüttete und wütend schloß: »Wenn der Olle mir ~so~
kommt ... mir so ... sozusagen mir nichts dir nichts die Temporalien
sperrt ... ich lass' mir von dem alten Rauhbein nichts gefallen ... da
kennt er mich schlecht! Aber ich sitze ja rein auf dem Pfropfen ...
Wovon soll ich denn leben ... zum Kuckuck ... mit Frau und Kindern?
... Ich bin ja ganz in seiner Gewalt! Schließlich wird er noch
verlangen, ich soll in sein Geschäft eintreten ... Baumwolle zupfen
... hol' mich der Deubel ... ich bin doch ein Ottersleben ...!«
Der Blick des Generals lag ruhig prüfend auf dem aufgeregten,
auffallend hübschen jungen Mann. Er musterte sein Äußeres von Kopf
bis zu Fuß -- den eleganten blauseidenen Knoten des Selbstbinders,
der aus dem Schlitz des hohen Stehumlegkragens hervorquoll, die
geblümte Phantasieweste unter dem taubengrauen Cutaway, die bunten
Sockenzwickel zwischen dem aufgekrempelten Beinkleid und dem
ausgeschnittenen Lackschuh. Er verstand nicht das Geringste von diesen
Dingen vom Zivil, er ahnte nicht, daß dies Ganze ein aus dem Rahmen
einer Schneiderzeitung gestiegenes Musterbild der Mode war -- für
ihn bedeutete es nur ein Gleichnis, und er sagte, nachdem der andere
geendet, ruhig: »Dein ganzes Unglück ist, daß du falsch angezogen
bist, Otto!«
»Ich? Wieso?«
Der Neffe sah erschrocken an sich hinab. Sein Onkel fuhr fort: »Du
sagst selbst, du bist ein Ottersleben! ... Ein junger, gesunder,
kräftiger Ottersleben. Also solltest du von Gottes und Rechts wegen
die Uniform tragen. Dann wäre dir gleich wohler ...«
»Ich bin doch Reserveoffizier bei dem Kü...«
Der General unterbrach ihn mit einer Handbewegung und fuhr fort:
»Hänge du mal den grauen Schwalbenschwanz und die Fastnachtsweste, die
du anhast, an den Nagel und geh und suche dir wieder eine Uniform --
ich will dir helfen ... und wir werden leicht eine finden -- aber ...
eine blaue, mein Sohn, mit schönem schwarzen Kragen ...«
»Ich soll wieder Artillerist werden?«
»Paß mal auf!« sagte der General gelassen. »Wenn du das erste Mal
kommandiert hast: ›Erstes Geschütz: Feuer!‹ -- wie nützlich du dich
gleich nach dem Knall wieder auf der Welt fühlst. Jetzt weißt du ja
nicht, wozu du eigentlich da bist. Und wir anderen offen gestanden
noch weniger!«
»Ja, aber ich in einem Artillerieregiment ... mit dem rasenden Geld
...«
»Wozu brauchst du denn das rasende Geld? Hat dein Schwiegervater
nicht seinerzeit der Form wegen das Kommißvermögen für dich einzahlen
müssen?«
»Ja ... das schon ... aber ...«
»Gut! Dann leb doch mal von den Zinsen des Kommißvermögens! Wenigstens
eine Zeitlang! Pfeif ihm auf seinen sonstigen Krempel! Dann bist du
wahrscheinlich der einzige Mensch, der dem alten Herrn seit fünfzig
Jahren imponiert hat!«
»Ja, aber ... meine Frau ist doch so verwöhnt ...«
»Stell sie doch mal auf die Probe! Sie hat dich doch lieb! Es wird
schon gehen! ... Deine Tante da drinnen und ich, wir haben in unserer
Leutnantszeit überhaupt nicht gewußt, was warmes Abendbrot ist ... Und
wir leben auch noch ... Das ist nicht so schlimm ...«
»Aber es wäre doch furchtbar schwer, Onkel ...«
Exzellenz von Ottersleben langte nach Mütze und Säbel. Er wollte in
den Grunewald reiten. Unten auf der Straße harrte der Bursche mit den
Pferden.
»Ja, wenn das alles so leicht wäre, lieber Neffe!« sagte er, »dann
könnt' es jeder! Das sind eben die Kraftproben! Sieh zu, was in dir
steckt! Vielleicht mehr, als du glaubst und man dir zutraut! ... So --
nun weißt du meine Meinung. Ich muß jetzt fort! Adieu, Mutter!«
Frau von Ottersleben war so wenig gealtert wie ihr Mann -- eine große,
blonde, hausmütterliche und hausbackene Exzellenz mit den frischen
Wangen und dem glatten Scheitel einer ländlichen Pfarrersfrau. Ihre
beiden Söhne von der Garde-Infanterie, Günter und Busso, waren aus
der fernen Kaserne zu einem Nachmittagsbesuch gekommen und eben im
Begriff, sich zu verabschieden. Otto von Ottersleben schloß sich
ihnen an. Er hatte die beiden jungen Leutnants lange nicht gesehen.
Nachdenklich schritt er zwischen ihnen auf der Straße und hörte den
Vettern zu. Der eine, der ältere, büffelte schon fleißig auf die
Kriegsakademie hin ... Man mußte sich beizeiten heranhalten bei dem
schlechten Friedensavancement! Der andere hatte sich mit Einwilligung
des Vaters zum Dienst nach Südwestafrika gemeldet, um einmal
ordentlich Feldsoldat zu sein. Beide machten einen straffen, festen
Eindruck. Sie wußten genau, was sie wollten. Und Otto von Ottersleben
konnte sich nicht helfen: Wieder beschlich ihn, zwischen diesen
Grünschnäbeln, ein sonderbares Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit, und
in seinem Ohr klang es wie aus weiter Ferne: ›Erstes Geschütz: Feuer!‹
Die Leutnants begleiteten ihn zu Maximiliane, um da auch ihre
Geburtstagsaufwartung zu machen. Die Zimmer der verwitweten Exzellenz
waren voll von Blumen und voll von Menschen. Es war ein Gedränge und
Gelächter um den Geburtstagstisch mit seinen einunddreißig Lichtern,
ein Kommen und Gehen. Die beiden Leutnants hörten, während sie
vorgestellt wurden, klangvolle Namen, Titel und Würden. Die junge
Witwe hatte sich in Berlin einen hübschen Kreis geschaffen. Sie war,
so ungezwungen und einfach sie sich auch bewegte, immer noch in
jedem Salon der Mittelpunkt, wie einst an der Spitze der Division.
Man räumte es ihr als etwas Selbstverständliches ein, so wie sie mit
ihrem hohen, schlanken Wuchs die meisten anderen Damen überragte. Sie
war etwas blaß, aber heiter. Busso von Ottersleben beugte sich über
ihre Hand und murmelte ernst: »Maxe ... du wirst immer noch alle Tage
schöner! Wo soll denn das hinaus?«
Sie entzog dem Schwerenöter ihre Rechte.
»Busso -- das ist 'ne gräßliche Art! Schrecklich, wenn sich ein Mensch
dümmer anstellt, als er ist! Weißt du denn gar nichts Besseres?«
»Ich?« Der junge Krieger richtete sich auf und wurde stolz. »Ich
weiß wohl, was ich tu'! Ich geh' doch nach Südwest! ... Es ist schon
entschieden!«
Das Wort Südwest zündete. Die Umstehenden traten interessiert hinzu.
Eine alte Dame klagte: »Ach Gott ... die Schutztruppe! ... Wieviel
Herren haben wir da schon gelassen!«
»Dazu sind wir da, gnädige Frau!«
Und ein alter General nickte.
»Nur immer 'raus! Ist den jungen Leuten sehr gesund!«
»Nicht wahr?« meinte der angehende Schutztruppler eifrig. »Das hab'
ich mir eben auch gesagt! ... Wenn ich nur zum Beispiel an den Erich
Logow denke! In was für 'ner Verfassung ist der vor drei Jahren
hinüber nach Chile! Und nun wieder so famos zurück! ... Gesund ...
Fidel ... Wieder im Großen Generalstab ... in allem tiptop ... Findest
du nicht auch, Maxe?«
»Ich weiß nicht. Ich hab' ihn noch nicht gesehen!«
»Wieso? Er ist doch schon seit drei Wochen in Berlin!«
»Aber bei mir war er nicht!«
»Komisch! Hat dir Ulla nicht verraten, warum?«
»Ulla war auch noch nicht da!«
»Hört mal, Kinder: ihr seid aber merkwürdig! Da würde ich doch an
deiner Stelle einmal ...«
Maximiliane von Glümke schnitt ihm das Wort ab.
»Laß sie doch machen, was sie wollen! Ich lass' mir keine grauen Haare
drüber wachsen. Hast du schon Peters Braut guten Tag gesagt?«
Der kleine Grenadier, Maxes jüngster Bruder, war aus seiner
schlesischen Garnison mit seiner künftigen Frau und ihrer Mutter
herübergekommen. Die kleine Gräfin war ein niedliches Ding, mit rundem
Stupsgesicht und großen Kinderaugen. Sie und ihr Verlobter saßen Hand
in Hand. In acht Wochen sollte auf dem elterlichen Schloß die Hochzeit
sein. Jetzt eben wurde in Berlin die bescheidene Aussteuer besorgt,
und Edith Spalck, die Braut, sprang plötzlich stürmisch empor und
faßte die Hausfrau um die Taille.
»Also, Maxe ... du kommst mindestens acht Tage vorher zu uns hinüber!
Du mußt's mir versprechen! Du hast doch sonst nichts zu tun!«
Die junge Exzellenz lächelte. Es lag einen Augenblick ein
schmerzlicher Schatten auf ihrem schönen Gesicht.
»Da hast du recht, Edith!« sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, wozu
ich auf der Welt bin! Was bringen Sie da, Minna?«
»Eine Depesche, Exzellenz!«
Sie war aus Darmstadt, von der Mutter: »Tausend Glückwünsche und
herzliche Grüße an Dich und die anderen Kinder und die liebe Edith und
den guten Erich! Eure alte Mama.«
»Danke schön!« versetzte die kleine Gräfin Spalck, die vor wenigen
Wochen erst als Braut in den Familienkreis getreten war und noch nicht
mit allen Zweigen der Verwandtschaft Bescheid wußte. »Aber wer ist
denn Erich?«
Maximiliane von Glümkes Züge blieben unverändert.
»Erich ist mein Schwager Logow!« sagte sie. »Aber wie du siehst, ist
er nicht hier, und so kann ich ihm die Grüße nicht bestellen! ...
Guten Tag, Onkel! ... O, die schönen Blumen!«
Der Oberstleutnant a. D. Herr Wilderich von Koninck, der in der
geöffneten Flügeltür erschien, hatte etwas Feierliches an sich. Er war
Bräutigam auf seine alten Tage. Neben ihm wandelte seine Erwählte.
Groß, blond, von stattlichen, frauenhaften Formen, nicht mehr jung,
nicht mehr hübsch, aber sehr energisch. Sie wurde den Damen als
Fräulein von Hornschuh vorgestellt. Hinter ihr machten die Leutnants
vergnügte Gesichter, und Busso murmelte: »Na ... der Olle steckt fest
im Eisen!«
Herr von Koninck setzte sich mit seinem Brigittchen -- so nannte er
die strenge, die Länge eines Potsdamer Flügelmanns erreichende Braut
-- neben Maximiliane und erzählte ihr seine Zukunftspläne, und daß
sie in Anbetracht der Sandwege auf ihrem märkischen Gut kein Auto
anschaffen, sondern bei den ollen ehrlichen Gäulen bleiben würden,
und von der anderen Seite berichtete ihr ihr Bruder Otto von den
Feindseligkeiten, die der Schwiegervater plötzlich aus heiterem Himmel
eröffnet. Und die junge Witwe hörte zerstreut zu und nickte, den Kopf
müde von den vielen Geburtstagsbesuchen, die sich jetzt allmählich
verloren. Es wurde leerer in dem kleinen, blumengeschmückten Zimmer.
Auch die alte Gräfin Spalck mit ihrer Tochter und dem zukünftigen
Schwiegersohn empfahl sich. Maximiliane stand noch im Gespräch mit ihr
auf der Schwelle, da hörte sie draußen eine Stimme -- die Männerstimme
eines Neuangekommenen, der gedämpft mit dem Mädchen redete -- drei
Jahre hatte sie diese Stimme nicht gehört und erkannte sie auf den
ersten Ton. Ihr Herzschlag stockte. Sie zwang sich, ein unbewegtes
Gesicht zu machen. Sie blieb immer noch plaudernd mit dem Rücken gegen
die Tür und gab der kleinen Gräfin einen Abschiedskuß und meinte auf
deren Frage lächelnd: "Für wen ich die Kuchenstücke da einpacke? ...
Für Ottos Kinder!« und vernahm im selben Augenblick, wie jemand hinter
ihr rief: »Na, endlich! Da ist der Logow ja ... na -- nu mal 'ran, du
oller Deserteur! Wo hast du denn die Ulla gelassen?«
Sie wandte sich um. Da stand er. Ihr erster Eindruck beim Anblick
seiner gebräunten Züge war eine Erleichterung, eine selbstlose
Genugtuung. Wie gut sieht er aus!... Wieviel frischer und freier! Das
allzu Harte an ihm hatte sich da draußen in die Ruhe eines Mannes
ausgeglichen, der viel von der Welt gesehen und sich in ihr bewährt
hatte. In seinen dunklen Augen lag ein kaltblütiges Kraftbewußtsein.
So hatte sie ihn nur einmal, vor langen Jahren, gesehen -- es schoß
ihr durch den Kopf -- wenige Tage hindurch -- als er innerhalb von
vierundzwanzig Stunden zum Hauptmann befördert, in den Generalstab
versetzt und Ullas Bräutigam geworden war. Sie fühlte einen Stich im
Herzen. Sie lächelte und streckte ihm die Hände hin.
»Ich dachte, ihr beiden hättet mich überhaupt schon ganz vergessen,
Erich!«
Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, vor den anderen auf ihren leichten
Ton einzugehen. Und doch: es war ein Segen, daß andere im Zimmer
waren. Sie wäre sonst geflohen. Sie spürte es. Sie hätte es nicht
ausgehalten. Es erschreckte sie. Sie hatte weniger Widerstandskraft,
als sie gedacht. Er sah ihr grade ins Gesicht und sagte scherzend:
»Hab' du mal meinen Dienst, Maxe!... Jetzt geht das Schuften wieder
los!... Na ... du kennst ja die Generalstabsarbeit! Du warst ja schon
einmal als Mädel mein Adjutant!«
Er lachte dabei. Er beherrschte sich. Sie auch! Aber in ihr war bei
seinen Worten der Schmerz, der verzweifelte Schmerz: Nun hub das
wieder an. Nun war das bißchen Frieden vorbei. Nun stöhnte wieder der
Sturm und schüttelte zwei Seelen.
»Gott ... das ist so ewig lange her!« meinte sie. »Das ist mir schon
wie aus einem anderen Leben! ... Sag mal: Wo steckt denn Ulla?«
Er zuckte die Achseln.
»Sie liegt wieder auf der Nase! ... Sie läßt dich herzlich grüßen ...
Es ist immer die alte Geschichte! Ich verderb' euch nur damit die
Feststimmung. Laß mal lieber schauen, was du Schönes gekriegt hast,
Maxe!«
Er trat mit ihr in den Nebenraum, in dem der Geburtstagstisch
stand. Außer ihnen war niemand im Zimmer. Vor dem Kuchen mit den
Lebenslichtern blieb er stehen. Aber er achtete nicht auf den bunten
Tand von Rosen, Handarbeiten, Fruchtkörbchen, Büchern, der ihn
umrahmte. Er legte einen Busch weißer Lilien, den er bisher, ohne
daran zu denken, in der Linken gehalten, achtlos zu den übrigen
Blumen, und schaute Maximiliane an. In diesem Augenblick sahen sie
sich erst wirklich wieder. Beide wurden blaß und ernst.
»Setz dich doch endlich!« sagte sie.
Er nahm auf dem Sofa Platz. Sie neben ihm. Die Tür zu dem anstoßenden
Gemach stand offen. Dort hatte man sich um Otto gedrängt, der seinen
Zwist mit dem Schwiegervater dem Familienrat unterbreitete. Die hier
innen hörten, wie die kleine Frau Adda leidenschaftlich ausrief: »Ich
geh' mit meinem Mann durch dick und dünn! ... Da werden wir eben in
Gottes Namen Artilleristen!... Ich verkauf' meinen Schmuck. Das Auto
auch. Papa soll nur sehen!«
Und sie mußten, trotz der zitternden Spannung zwischen ihnen, lächeln,
und Erich von Logow sagte: »Ich wär' froh für deinen Bruder, wenn ich
ihn wieder in Uniform sähe. Das Nichtstun taugt den Teufel was! ...
Man muß sich Aufgaben stellen -- so schwer wie möglich -- und sie
zu lösen suchen! Was darin für ein Segen liegt, das hab' ich in den
drei Jahren erkannt ... Ich hab' allen Grund, mit der Zeit da drüben
zufrieden zu sein ... Wie ich neulich so frühmorgens zum erstenmal
nach drei Jahren die europäische Küste wiedergesehen hab', da hab'
ich gar nicht begriffen, daß das noch derselbe Kerl sein sollte, der
damals so verzweifelt ins Aschgraue hinübergefahren ist! Jetzt hab'
ich, gottlob, meine alte Spannkraft wieder!«
»Bewahr sie dir nur, Erich!« versetzte sie leise mit einem kaum
merklichen Zucken um die Lippen. »Bewahr sie dir ja!«
Sein Antlitz hatte sich plötzlich verdüstert.
»Ja ... und nun sieh mal, wie das geht: Ulla hatte mir versprochen,
mich in Hamburg zu erwarten. Sie ist auch rechtzeitig aus dem Süden
dorthin gereist ...«
»Ja. Mama hat es mir geschrieben.«
»Nun stand ich, wie das Schiff im Hafen festmachte, ganz vorne --
unten auf dem Kai alles schwarz von Menschen -- und hab' mir die Augen
ausgeschaut. Umsonst! Im Hotel hab' ich Ulla dann getroffen. Im Bett.
Wieder krank! Der rasche Klimawechsel war ihr zu viel gewesen!«
»Ach, du Armer ...«
»Da war man so grade im Mai wieder daheim in Deutschland -- bei blauem
Himmel -- ganz geladen mit gutem Willen und Hoffnungen auf die Zukunft
... Und gleich die erste Nacht mußte ich im Hotel wach sitzen und
Ulla pflegen, bis ich sie wieder nach Berlin bringen konnte. Ja -- da
spürte man wieder die alte Kugel am Bein ...«
»Du mußt Geduld haben, Erich!«
»Wenn sie's nur mit mir haben! Schau: jetzt haben sie's noch einmal
mit mir versucht. Ich bin wieder im Generalstab. Ich hab' noch einmal
die Klinke zur großen Karriere in der Hand. Versag' ich diesmal, ja,
dann sagen sie sich: ›Der Mann hat zu viel anderes im Kopf! Für den
ist das zu schwer!‹ Und stecken mich einfach in die Front. Da kann ich
dann mein Bataillon drillen und sachte meinen Abschied nehmen und grau
und alt werden an Ullas Krankenbett ...«
Plötzlich wurde er leidenschaftlich.
»Und was das Schrecklichste ist, Maxe: Sie verzehrt sich auf ihrem
Krankenbett auch noch vor Eifersucht! ... Vor grundloser, sinnloser
Eifersucht! Denn wir beide, du und ich, haben uns doch seit Jahren
nicht mehr gesehen und keine Zeile miteinander gewechselt! Das hab'
ich ihr geschworen, und sie glaubt es mir auch. Aber es ist ihr nicht
genug. Sie will bis in meine Gedanken eindringen. Ich soll ihr eigen
sein mit Herz und Seele! ... Sie quält sich und mich bis aufs Blut.
Und macht uns beide krank und elend! ... Das ist der Grund, warum du
mich heute zum erstenmal siehst! ... Einmal mußte ich ja schließlich
kommen!«
Er reckte sich in den Schultern und hob den dunklen energischen Kopf.
»Eine Zeitlang geht's ja! Da hält der Kraftvorrat vor, den ich
heimgebracht hab'! ... Aber schließlich höhlt es einen aus, Tropfen um
Tropfen, man wird mürbe. Man sieht's kommen! Ich weiß nicht, warum ich
dich auch noch damit quäle! ... Du kannst doch nicht helfen. Aber dir
muß ich das alles sagen! Du bist ja das alles!«
»Schweig!« versetzte sie hastig, hart und leise. Von nebenan näherten
sich Stimmen. Otto von Ottersleben und seine Frau traten über die
Schwelle. Er schwenkte die Rangliste, in der er schon nach für ihn
passenden, billigen Artillerieregimentern gesucht hatte.
»Na, adieu, Schwesterchen!« sagte er aufgeregt und erhitzt von dem
großen Entschluß, mit dem er kämpfte. »Und vergiß in Zukunft deine
darbenden Verwandten da unten bei den Kassuben oder Masuren nicht! Wir
gehen jetzt dem Hungertuch entgegen! Der olle Bräsig hat ganz recht:
Die Armut kommt von der Poverteh! Macht nischt! Auch recht! Mal was
Neues im Leben!«
»Also willst du wirklich wieder eintreten!«
»Nu grade! Und wenn der Schwiegerpapa zehnmal vor Schreck vom Stengel
fällt!« Der hübsche junge Mensch stand lässig und trotzig lächelnd
vor seinem auf dem Sofa sitzenden Schwager, schaute auf dessen
Achselstücke hinunter und machte plötzlich große Augen. »Du, Mensch
... seh' ich denn recht? ... Du trägst ja die dicken Epauletten ...«
»Ja. Seit vorgestern bin ich Major!«
Major! Ein Aufschrei ging durch das ganze Zimmer. Otto von Ottersleben
legte dem andern beinahe feierlich die Hand auf die Schultern.
»Herrschaften: er ist doch offenbar ein Kirchenlicht vor dem Herrn!
Man sieht's ihm nicht an, aber in der großen Bude müssen sie's ja
wissen! Wieviel Vorderleute hast du denn diesmal übersprungen?«
»Ein paar Hundert!«
»Na, Gott segne deine Studia!« sagte der Oberleutnant der Reserve
von Ottersleben in stiller Wehmut, beim Gedanken an seine eigene
rückständige Laufbahn.
Die übrigen drängten sich um den neuen Major. Es war ein
Händegeschüttel und Glückwünschen. Alles machte frohe Gesichter. Erich
von Logow lachte mit. Er war aufgestanden. Seine Augen blitzten.
Unruhig spielte der Ehrgeiz über seine energischen Züge. Sein
häusliches Elend war vergessen. Er war in dieser Minute ganz Offizier.
Ganz Wille und Selbstbewußtsein. So blieb er, während sich allmählich
der Schwarm der Besucher verlor. Nun gingen endlich die letzten. Er
fand sich mit Maximiliane allein. Die sinkende Sonne schien schrägen
Strahls durch die offenen Fenster. Draußen verblaßte der blaue
Sonnenhimmel über den Dächern und Telephondrähten Berlins. Sie standen
nebeneinander auf dem Balkon und schauten hinaus in diese steinerne
Weite, in der zu Hunderttausenden und Millionen die Menschen gleich
ihnen lebten und ihr Leid trugen. Um sie grünten und blühten auf dem
schmalen Sims umher die Blumen. Ein süßer, schmeichelnder Duft stieg
von ihnen auf, umwehte sie in dem lauen Abendwind. Maximiliane hätte
gewünscht, daß ihr Gast sie jetzt verlassen möge. Aber sie wagte es
ihm nicht zu sagen. Es schien ihr wie ein Eingeständnis von Schwäche.
Die durfte er bei ihr vor allem nicht sehen. Sie wollte von etwas
Gleichgültigem zu reden anfangen, da drehte er den Kopf zu ihr und
sagte rasch: »Verzeih ... ich hab' vorhin immer nur von mir gesprochen
... das kommt davon, wenn man sich so in sein Schicksal verbockt und
verbiestert! Man kommt davon nicht los!«
»Sprich mir nur von Ulla, wenn es dir das Herz leichter macht!«
Er schüttelte das Haupt, als wollte er sagen: Es hilft ja doch nichts!
Dann frug er, nach einer Weile, vor sich hin: »Nun bist du schon lange
Witwe, Maxe ...«
»Bald werden's drei Jahre!«
Sie verstummten wieder. Endlich versetzte er: »Denke dir: ich hab' es
erst beinahe nach einem halben Jahr erfahren: so tief im Innern war
ich damals in Chile. Seitdem hab' ich so oft an dich denken müssen
...«
Er brach ab und fügte dann hinzu: »Das heißt: vorher ebenso oft!«
Sie machte eine Bewegung, vom Balkon zurückzutreten. Er verstand sie.
Er murmelte: »Ja, ja ... ich bin schon still ...«
Wieder war um sie nur das Fächeln des Windes, von der Straße her das
unbestimmte Brausen Berlins. Dann forschte er trocken, anscheinend
wieder völlig Herr seiner selbst:
»Wie lebst du nun denn so eigentlich, Maxe?«
»Du siehst's ja, Erich! Ich kann nicht klagen!«
»Also bist du zufrieden?«
Sie zeigte ihm ein ruhig lächelndes Gesicht.
»Es ist mir ja noch manches geblieben nach dem Schicksalsschlag! Vor
allem die Erinnerung an einen Menschen, der's so gut mit mir gemeint
hat und mich so geliebt hat wie gewiß keiner wieder auf der Welt. Ich
bin viel durch ihn geworden, -- glaub mir! Das wirkt jetzt noch nach.
Das hat mir die Kraft zum weiteren Leben gegeben. Ich hab' die Trümmer
gesammelt. Es ist doch hier ganz nett um mich -- nicht?«
Er nickte.
»O gewiß,« meinte er. »So für die erste Zeit ... bis das Schwerste
überwunden ist ... Aber dann ...«
»... aber dann?«
»Du kannst doch nicht immer so weiterleben ... Das kann dir doch nicht
genügen!«
Ihre Stirn blieb heiter, ihre Augen klar.
»Was soll denn noch Großes kommen? Ich erwarte mir nichts mehr.«
»So? Nun -- das freut mich!«
Er sprach es bitter und wandte sich ab. So setzte er hinzu, während
es düster unter seinem Schnurrbart zuckte: »Aber ich glaub' es nicht,
Maxe!«
Maximiliane von Glümke lächelte wieder.
»Glaub ruhig daran, was du von mir siehst und hörst! Woher willst du
denn sonst etwas wissen? Und nun wird's Zeit. Geh heim zu Ulla und
grüße sie schön von mir!«
Er erwiderte nichts.
»Und richt ihr aus, ich käme morgen nach ihr schauen und wünschte gute
Besserung. Adieu jetzt, Erich! Sie wartet gewiß schon auf dich!«
»Ich geh' ja schon ...«
Erich von Logow sprach es finster und zerstreut, ohne sich von
seinem Platz zu rühren. Endlich trat er vom Balkon in das schon halb
dämmerige Zimmer zurück. Da blieb er wieder stehen. Sein Auge irrte
ziellos durch den kleinen, von Blumenduft und Geburtstagsschmuck
erfüllten Raum. Es schien, als suche er nach einem Anlaß, noch länger
zu verweilen. Die junge Exzellenz stand vor ihm und wartete, daß er
sich verabschieden würde. Plötzlich seufzte er schwer auf.
»Wenn man so denkt, Maxe .... ein einziger Fehltritt im Leben ... oder
vielmehr eine wahnsinnige Blindheit in der entscheidenden Stunde ...
Und nun bis an sein seliges Ende darunter leiden zu müssen ... jahraus
... jahrein ..., wo man alles so viel besser und schöner hätte haben
können ...«
»Gute Nacht, Erich!«
»... siehst du ... wenn ich darüber nachdenke, dann verlier' ich
wieder allen Mut, alle Kraft ... Es ist gräßlich ... Es erscheint
einem alles so unnütz, was man tut und soll ... fremde Pflichten von
außen, wo man mit sich selber nicht fertig wird! ... Sei du froh,
Maxe, und danke deinem Schöpfer, daß du dies Kunststück fertig bringst
...«
»Gott sei Dank hab' ich meine Ruhe gefunden!«
Er schaute sie wieder wie vorhin zweifelnd an.
»Eigentlich sieht dir's gar nicht ähnlich! Du warst doch früher so wie
ich: Alles oder nichts! Freilich, das Leben nimmt einen hart in die
Lehre. Man wird bescheiden. Oder sollte es wenigstens endlich sein ...
Also adieu, Maxe!«
Die Generalin von Glümke wollte klingeln, um das Mädchen draußen zu
benachrichtigen, daß der letzte Besucher ginge. Da trat diese eben
über die Schwelle. Sie brachte einen Brief. Maximiliane öffnete ihn
und sagte, während jene sich zurückzog: »Von der Dorle! Die Grotjans
lassen dich auch schön grüßen, Erich, und dir zum Major Glück
wünschen. Sieh mal an: da wußten die das schon in Thorn!«
»Das ist ja kaum möglich!«
»Doch: da steht's!«
Sie zeigte ihm mit dem Finger die Stelle. Er blickte über die Schulter
und versetzte plötzlich: »Was ist denn da für eine Nachschrift?«
»Wo?«
»Da am Rand ...«
Er las rasch, halblaut, die paar Zeilen vor: »Was machen denn deine
Diakonissenpläne? Denkst du wirklich noch daran, der Welt zu entsagen?
Hoffentlich nicht! Nochmals tausend Grüße! Dein getreues Dorle.«
Die junge Frau ballte hastig den Brief zusammen, als wollte sie ihn
verstecken. Eine flüchtige Röte schoß über ihre Wangen. Erich von
Logow blieb eine Zeitlang stumm. Endlich frug er mit trockener Kehle:
»Was heißt denn das, du willst Diakonissin werden?«
»Nein, Johanniterschwester!«
»Das ist doch dasselbe!«
»Ungefähr ja.«
»Ich denke, du fühlst dich hier ganz wohl ...«
Sie gab keine Antwort.
»Du behauptest doch, du seist so zufrieden ...«
Sie hatte sich von ihm abgewandt. Er sprach langsam: »Mir scheint, mit
deiner Seelenruhe ist es doch nicht so weit her, Maxe ...«
Zum erstenmal verlor sie die Fassung. Sie warf gereizt den Kopf in den
Nacken.
»Das geht dich nichts an, was ich tu' und lasse! Gar nichts ...
verstehst du?«
»O ja, ich verstehe.«
»Du hast daraus keine Schlüsse zu ziehen ...«
»Ich tu' es doch!«
Er trat näher. Sie wich vor ihm zurück. Er folgte ihr. Er stand dicht
vor ihr. Beide waren sie geisterbleich geworden in der Dämmerung.
Maximiliane von Glümke nahm ihre äußerste Kraft zusammen.
»Geh!« sagte sie heiser. »Zum letztenmal: geh zu deiner Frau!«
Diesmal gehorchte er. Er gab ihr nicht die Hand. Er drehte sich
schweigend um und nickte ihr auf der Schwelle durch das Zwielicht
traurig zu, wie einem Kameraden. Sie rührte sich nicht. Sie
holte kaum Atem. Sie stand unbewegt, wie eine Statue, bis er das
Zimmer verlassen. Dann stürzte sie auf das Sofa nieder und barg,
aufschluchzend, das Antlitz in die Hände.
21
Es war eine der nüchternsten Stadtgegenden, in der Major von Logow
diesmal sein Berliner Heim aufgeschlagen, im Nordwesten draußen,
zwischen der Spree und Altmoabit, mit dem Blick auf Kohlenlager und
Speicherschuppen, die den trüben Spiegel des Flusses verdeckten.
Aber auf dessen anderer Seite, kaum zehn Minuten entfernt, lag das
Generalstabsgebäude. Und zudem: die Wohnung war billig. Das fiel jetzt
auch ins Gewicht. Denn Ullas Leiden kostete Geld. Immer mehr Geld,
jahraus, jahrein.
Und ihre Schwester Maximiliane dachte sich, während sie am nächsten
Morgen durch den Tiergarten zu dem Krankenbesuch gen Norden ging, --
selbst gesund, straff und mit flüchtigen Schritten: wenn nicht einmal
dieser wunderbare Mai ihr neue Lebenskraft bringt, wann -- wann soll
sie denn dann je genesen?
Um sie war frisches Grün, blauer Himmel, goldene Sonne. Sie hatte den
Großen Stern und das Schloß Bellevue hinter sich gelassen und auf der
eisernen Brücke die Spree überquert. Nun stand sie vor dem Logowschen
Haus, einer grauen Mietskaserne wie tausend andere. Da wohnten sie
zwei Treppen hoch. Sie brauchte nur zu klingeln und hinaufzugehen. Sie
fand die Kranke sicher daheim. Und sicher allein. Ohne ihren Mann.
Den hielt der Dienst den ganzen Tag außer Hause fest.
Und doch zögerte sie in einer unbestimmten Scheu. Irgend etwas hemmte
sie, auf den Knopf am Haustor zu drücken. Der alte Schuhmacher, der
da drinnen mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch saß, blinzelte aus
seiner Portierloge neugierig zu ihr heraus. Sie zauderte noch immer.
Es war wie eine jähe Anwandlung von bösem Gewissen. Ein Schuldgefühl.
Eine Erinnerung. Sie dachte sich: Jedesmal, wenn ich die Schwelle der
Logows überschritten hab', hab' ich Unglück in ihr Haus gebracht.
Immer war ich das Trennende. Immer trat ich zwischen ihn und sie,
zwischen Gesundheit und Siechtum, zwischen Kraft und Schwäche. Soll
ich denn ewig das Werkzeug ihres Verhängnisses sein? Und des meinen
dazu?
Da hinten, fern, kam ein Offizier um die Ecke. Er schritt langsam auf
sie zu. Am Ende war es Logow selbst. Er hatte ein wichtiges Aktenstück
daheim vergessen und holte es sich. Oder er schaute nach seiner Frau.
Eine plötzliche sinnlose Angst ergriff sie. Sie kehrte um. Sie eilte
von dem Hause weg, als ob sie da ein Verbrechen hätte begehen wollen,
und in entgegengesetzter Richtung den Bürgersteig hinunter. Erst
nach ein, zwei Minuten warf sie, den Fahrdamm überschreitend, einen
bangen Seitenblick zurück. Der Offizier setzte immer noch ruhig seinen
Weg fort. Er hatte die Logowsche Wohnung längst hinter sich. Er war
untersetzt und rundlich und trug einen grauen Schnurrbart. Es war
lächerlich, daß sie sich in ihm ein Trugbild ihres Schwagers Erich
vorgespiegelt hatte.
Aber das wiederholte sich heute den ganzen Tag. Immer wieder stand
Erich von Logow vor ihr. Er hatte heute viele Doppelgänger in
Berlin oder wenigstens Menschen und Dinge, die sie ständig an ihn
erinnerten. Sie erblickte auf dem Rückweg von der Spreebrücke aus
das Dach des Generalstabsgebäudes und fragte sich: Ob er wieder die
Mobilmachungsarbeiten unter sich hat, mit den eingerahmten Vierecken,
wie damals? Sie sah, während sie in der Leipziger Straße Besorgungen
machte, ein paar Offiziere mit karmesinroten Beinkleiderstreifen aus
dem Kriegsministerium treten, und es ging ihr durch den Kopf: ›Das
sind wohl Kameraden von ihm. Aber er sieht besser aus, frischer!‹ Sie
nahm zu Hause die Zeitung zur Hand mit dem bewußten Vorsatz: ›Ich muß
doch einmal nachschauen, ob seine Beförderung schon drin steht!‹ Und
zwang sich, die Seiten umzublättern, und ertappte sich darauf, wie
sie unter den Depeschen nach Neuigkeiten aus Chile suchte, als könnte
unter ihnen vielleicht noch, als Nachhall seines dortigen Wirkens,
sein Name genannt sein.
Sie saß bei Tisch, den Kopf in die Hand gestützt, und ließ die
Speisen unberührt wieder abtragen. Diese einsame Mahlzeit stimmte sie
so trübe, trüber wie je. Man war so allein, so mutterseelenallein.
Draußen lockte der Maientag. Sie machte sich wieder zurecht und ging
spazieren und beneidete alle die Menschen, die zu zweien waren, und
wenn auch nur ein Pärchen aus dem Volk da Hand in Hand auf der Bank
saß, oder eine Arbeiterfrau ihrem Mann das Mittagbrot auf den Bauplatz
brachte und neben ihm stand, während er schweigend löffelte. Alle
diese Leute waren glücklicher als sie, die Exzellenz. Jeder von ihnen
hatte seinen andern. Sie hatte nichts. Jeder von ihnen sah sein
bißchen Tagwerk und Abendfrieden vor sich. Ihre Stunden waren leer. Es
war ganz gleichgültig, was sie trieb, heute, morgen, immer. Sie rief
keine Pflicht. Niemand verlangte nach ihr. Außer dem einen! Immer dem
einen. Und sie nach ihm. Sie hemmte mitten auf dem Weg ihren Schritt
und schloß die Augen, daß die Frühlingshelle um sie in einem dumpfen,
rötlichen, geheimnisvollen Dämmern verschwand. Seit gestern, seit sie
ihn wiedergesehen, war alles, alles wieder wach ...
Zu Hause blieb sie vor dem Bild ihres verstorbenen Mannes stehen und
schaute ernst, mit ineinandergelegten Händen zu den ritterlichen,
leise gefurchten Zügen des Generals von Glümke hinauf, als müsse sie
vor allem seine Verzeihung erbitten für das, was in ihr war, immer
gewesen war, schon ehe er gekommen. Sie lächelte schmerzlich und
nickte ihm zu und sagte sich: ›Nein. Ich habe mir nichts vorzuwerfen!
Ich war dir treu! Immer! Du hast mich nie gefragt und es nie wissen
wollen, wer der erste in meinem Leben war. Aber daß einer dagewesen,
das wußtest du wohl! Ich hab's in deiner Nähe, unter deinem Schutz,
verschmerzt und vergessen. Daß es jetzt in der Witwenstille wieder
auflebt, da kann ich nichts dafür. Ich hab' dich von Herzen lieb
gehabt, so, wie ich dir versprach. Geliebt hab' ich im Leben nur
einen, einen andern -- vorher -- und nun wieder mit alter Macht. Ich
bin dir aus tiefstem Herzen dankbar. Dein Bild steht verklärt vor
mir. Es tröstet mich noch aus der Ferne. Aber ich kann von Erinnerung
nicht leben. Ich bin zu jung. Das Sein verlangt sein Recht.‹
Es kam Besuch. Nachzügler mit Geburtstagsglückwünschen. Befreundete
Damen. Maximiliane von Glümke saß mit ihnen zusammen und bot ihnen
Tee an und hörte zu und sprach selber und lachte und frug sich
dabei innerlich voll Staunen: Was soll das nur? Warum tu' ich da
mit? Es ist ja alles so leer, so nichtig. Es kann doch nicht immer
so weiter gehen! Auf einmal wurde ihr klar, daß sie diese ganzen
letzten Jahre nur in einem Zwischenzustand gelebt hatte, in einer
unbewußten Erwartung, daß Erich von Logow wiederkäme und sie dann
erst dem Schicksal würde standhalten müssen. Bis dahin hatte sie sich
schonen und unter dem Trauerschleier die Tage verträumen können. Sie
zuckte zusammen. Da wurde schon wieder sein Name genannt. Ihre Tante,
die Generalin von Ottersleben, sprach ihn aus. Sie erwähnte seine
Beförderung in ihrer gesunden, hausmütterlichen Art.
»Mein Mann und ich haben den Erich gestern noch unseren Jungens als
Vorbild hingestellt!« sagte sie. »Und dabei kann er einem so leid tun!
So viel Erfolg im Dienst und so viel Elend daheim! Bruno meint auch,
er habe es doppelt so schwer wie andere!«
Dann glitt die Unterhaltung wieder auf andere Familiennachrichten
und Neuigkeiten aus nahen und fernen Garnisonen hinüber. Nur in
Maximiliane zitterte es nach. Sie konnte es kaum mehr erwarten, bis
ihre Gäste gingen. Und als endlich die letzten weg waren, aus diesem
kleinen, netten Kreise, den sie sich in Berlin geschaffen, und an
dem sie sonst ihre Freude hatte, da wußte sie wieder nicht, was sie
mit sich nun anfangen sollte. Und sehnte sich Menschen herbei, nur
um nicht allein zu sein, und sehnte sich doch nur, in neuem wilden
Schluchzen in der Dämmerung nach dem einen, dem, wenn er kam, ihre Tür
verschlossen geblieben wäre ...
Endlich hielt sie sich und diesen Zustand nicht mehr aus. Sie wollte
sich ablenken. Sie fuhr in das Theater. Eine befreundete Familie hatte
eine Loge im Opernhaus. Da saß man still im Dunkel. Aber da unten auf
der Bühne, im »Fliegenden Holländer«, sang wieder der Steuermann vom
Schiff herauf mit heller, wohltönender Stimme:
»Über turmhohe Flut vom Süden her --
Mein Mädel, ich bin da!«
und sie biß die Zähne zusammen und krampfte die Hände ineinander und
hatte, als der Vorhang fiel und es hell wurde, zwei Tränen auf den
bleichen Wangen, und ihre Freundin meinte erstaunt: »Herrgott, Maxe --
das hab' ich gar nicht gewußt, daß du so musikalisch bist!«
Sie zwang sich zu lächeln.
»Ich hab' ein bißchen Kopfweh,« sagte sie. »Seid nicht böse, wenn ich
nachher nicht mit zu Borchardt komme! ... Ich will lieber gleich nach
Hause und mich hinlegen!«
Daheim fand sie einen Brief. Der Bursche von Frau Major von Logow habe
ihn gegen Abend abgegeben, meldete ihr das Mädchen. Sie las:
»Liebe Maxe!
Erich hat mir gesagt, du wolltest heute zu mir kommen ... Ich hab'
den ganzen Tag gewartet. Aber Du bist nicht gekommen. Warum nicht?
... Bitte, komm! Wir müssen uns sprechen. Ich kann nicht zu Dir. Ich
liege fest. Ich bin wieder ganz elend. Sonst wäre ich schon bei Dir
gewesen. Erich hat Dir's ja ausgerichtet. Komm recht bald. Komm,
wenn Du kannst, morgen! Bitte, bitte ... Ich habe heute bitterlich
geweint, weil Du nicht gekommen bist. Ich bin schon manchmal wie ein
kleines Kind, so schwach.
Tausend Grüße von Deiner armen kranken Schwester
Ulla.«
»Nachschrift: Bitte, komm, wenn Du kannst, vormittags. Gegen Abend bin
ich immer so dumm. Da hab' ich immer ein wenig Fieber und schreib'
dann so konfuses Zeug wie jetzt!«
Genau um die gleiche Zeit wie tags vorher stand Maximiliane von
Glümke wieder vor der Mietskaserne in Moabit. Diesmal brauchte der
alte Pförtner auf seinem Schustertisch nicht lange zu warten. Sie
klingelte entschlossen und stieg die zwei Treppen hinauf und harrte
in dem Salon, bis sie der Kranken gemeldet wurde. Ein schwermütiges
Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie sich umsah. Wie gut kannte
sie diese Gegenstände umher, die mit den Logows von einer Garnison
zur anderen gewandert waren. Da nebenan, in dem offenstehenden
Arbeitszimmer: die beiden Granatsplitter von Wörth als Briefbeschwerer
auf den Generalstabsakten, die beiden Bronzebüsten der beiden
Kriegsgötter, Napoleon I. und Friedrich der Große, rechts und links
auf dem Schreibtisch, darüber der Stahlstich des alten Kaisers im
breiten Eichenrahmen. Alles weckte Erinnerungen. Da trat das Mädchen
wieder ein.
»Gnädige Frau lassen Exzellenz bitten!«
Ulla von Logow sah nicht eigentlich wie eine Leidende aus. Von
dem weißen Kissen, in dem sie, in einem weißen Morgenkleid auf
der Ottomane ruhend, ihr dunkles, klassisch wie eine antike
Gemme geschnittenes Haupt gebettet hatte, hoben sich die großen,
mandelförmigen Augen in einem feuchten Glanz, die Wangen in einem
leisen Rot ab, während sie ihre Rechte der schlanken blonden Schwester
entgegenstreckte. Die kannte diese Zeichen trügerischer Gesundheit.
Es hätte des kurzen, trockenen Hustens der jungen Frau in den
Polstern nicht bedurft. Sie setzte sich an Ullas Lager und hielt
ihre alabasterne Hand zwischen den ihren. Etwas von der strömenden
Sonnenwärme draußen war noch um sie, ein Hauch von Licht und Lenz und
Leben. Ulla von Logow atmete das tief ein. Dann frug sie leise: »Warum
bist du denn gestern nicht gekommen?«
»Ich wußte nicht, ob es dir recht sein würde!« »Ich bin froh, wenn
sich ein Mensch um mich kümmert ... Ich bin immer allein. Ich lieg' so
da. Ich bin's schon gewohnt. Es ist nicht schön, Maxe!«
»Danke!« sagte sie dann matt und nahm aus den Händen der Generalin
einen Blumenstrauß entgegen und senkte mit einem schwachen Lächeln ihr
Antlitz in das Duftgewirr von Rosen, Maiglöckchen und Veilchen. »Das
ist lieb von dir! Du bist selber wie ein Stück Frühling, Maxe!«
Die Leidende sah die andere seltsam vergeistigt an.
»Entsinnst du dich, Maxe, wie wir noch Mädels waren -- Gott ... 's
ist so ewig lange her -- bald zehn Jahre -- da war ich die Schönheit
der Familie. Alles hat sich um mich gedreht. Es war unrecht von den
Eltern. Auch an mir. Ich hab' ja denken müssen, daß Gott weiß was
aus mir werden würde. Nun bin ich in den Dreißig und schon verblüht
... Wenn ich in den Spiegel schau, wird mir so jämmerlich herbstlich
zumute ...«
»So mußt du nicht denken, Ulla! Es kommt doch nicht bloß auf das
Äußere an!«
»Bei mir schon! Was hab' ich denn sonst gehabt? Ich hab' mir immer
eingebildet, wenn man so ausschaut wie ich, gehört man in die große
Welt, unter Menschen in die Salons. Nie hab' ich das gehabt. Sogar
darum hat mich das Schicksal geprellt. Immer hab' ich allein gesessen
-- hier in Berlin und unten in den Vogesen und in Darmstadt bei Mama
und in Hotels und Sanatorien im Süden -- immer unnütz -- immer das
fünfte Rad am Wagen -- und du warst inzwischen das Sonntagskind! Dir
flog alles zu ... es ist so seltsam, Maxe, wie das Schicksal spielt.«
»Ich hab' weiß Gott dem Schicksal auch meinen Tribut bezahlt!«
»Ja. Das hast du. Du bist Witwe. Aber vor dir liegt noch das Leben.
Vor mir nicht. Du bist gesund. Ich werd' es nie mehr ganz ...« Frau
von Logow hustete, sah ihrer Schwester in das ernste, schmale,
schöngeschnittene Gesicht und sagte dann langsam: »Weißt du: Man hat
Zeit, nachzudenken, wenn man so die Nächte schlaflos daliegt. Ich war
ja ein furchtbar oberflächlicher, selbstsüchtiger, eitler Mensch.
Durch das Nachdenken wird das ein bißchen besser. Man kommt ein wenig
über sich selbst hinaus. Man sieht freier. Wenn man so viel zu leiden
hat wie ich, begreift man allmählich manches.«
»Arme Ulla!« sprach die junge Exzellenz sanft, beugte sich nieder und
küßte die Ältere. Die machte sich leise frei und fuhr fort: »Lieg' mal
immer so mit wachen Augen im Dunkel -- und draußen ist alles still ...
Da geht einem manches durch den Kopf ... Man frägt sich manches ...
Ich hab' mich gefragt: ›Es muß doch eine Gerechtigkeit auf der Welt
geben. Warum geht es nun zum Beispiel mir so schlecht und der Maxe so
gut?‹«
»Ach ... Ulla ...«
»Doch, doch. Es geht dir immerhin noch sehr gut! ... Du bist so viel
und hast noch so viel. Dich hat das Leben in jeder Hinsicht reich
gemacht -- auch in seinen Schmerzen -- mich nur arm! Es war für mich
immer nur eine große Enttäuschung -- ohne Anfang und ohne Ende. Und
siehst du, wenn ich mich da gefragt hab', warum werd' ich bestraft und
meine Schwester nicht? da hab' ich das jetzt erkannt -- so viel klarer
und so viel strenger gegen mich bin ich allmählich geworden: Weil sie
in ihrem Leben nie eine Schuld auf sich geladen hat: Ich aber wohl!«
»Ulla ...«
»... ich hab' den zum Mann genommen, den sie geliebt hat! Und hab's
gewußt und bin über sie weg. Das rächt sich, Maxe! Das rächt sich
unerbittlich an uns beiden, seit Jahren und Jahren ... Immer weiter
und weiter! Aber vor allem an mir!«
»Wollen wir wirklich darüber reden, Ulla?«
»Ja. Wir müssen!«
Die Kranke stützte sich mit einer plötzlichen Bewegung auf den
Ellbogen und hob sich empor. Ihre Stimme war gepreßt und zitternd.
»Wir müssen einmal!... Die Angst drückt mir sonst das Herz ab ... Ich
will dir ja nicht bloß diese Beichte ablegen, Maxe, daß ich unrecht an
dir gehandelt hab'!... Ich will ja mehr von dir!«
»Wer weiß, ob du damals an mir unrecht getan hast!« sagte Maximiliane
von Glümke. »Er wäre ja doch an mir vorbeigegangen ... Er hat mich ja
noch gar nicht gesehen ... damals ...«
»Einerlei, was er damals fühlte oder nicht ... aber was du fühltest,
das hätte mir heilig sein müssen als Schwester! ... Da hätt' ich
verzichten müssen!... O doch: ~Eine~ Entschuldigung hätte es für
mich gegeben: wenn ich ihn geliebt hätte ... so heiß ... so mit allem,
was in einem ist ... so wie du ... aber das war ja nicht!... Ich
wollt' ihn bloß haben!... Daß eine andere sich nach ihm verzehrte, das
hat mir seinen Besitz nur noch erhöht! Ich war schlecht damals, Maxe!
... Da lieg' ich nun!«
Die Jüngere schüttelte stumm das Haupt. Ulla von Logow wiederholte,
erschöpft in die Kissen niedergleitend: »Da lieg' ich!... Ich werd'
auch wieder aufstehen und mich wieder hinlegen! Das geht so fort. Das
ist mein Leben. In dem hab' ich rein gar nichts mehr, keine Freude und
keine Hoffnung und keine Zerstreuung. Weißt du, was ich den Tag über
tu'? Er ist heute früh um acht Uhr in den Dienst! Am Nachmittag um
fünf kommt er wieder. Bis dahin zähl' ich die Minuten, bis ich seinen
Schritt höre -- siehst du: dort an der Wand hängt die Uhr -- und freu'
mich darauf wie ein Kind auf Weihnachten. Da setzt er sich dann eine
Stunde zu mir und hält meine Hand und ist immer lieb und gut. Da bin
ich dann so glücklich, so glücklich, Maxe, daß ich weinen könnte!...
Und abends, nach dem Essen, eh' er sich wieder an den Schreibtisch
setzt, da ist er auch eine Zeitlang bei mir und liest mir etwas vor
und wir plaudern ... Die paar Stunden -- das ist mein Tag -- das
ist mein Leben, Maxe! ... Das andere ist ein dummes Hinvegetieren!
Das rechne ich nicht. Nur das bißchen Zeit, wo ich ihn hab'! Für
mich! Ganz für mich! Ich lieb' ihn ja so heiß ... Ich lieb' ihn so
wahnsinnig ... Er ist mir alles auf Erden ...«
Die junge Generalin schwieg erschüttert. Ihre Schwester fuhr mit einem
verzweifelten Lächeln um die Lippen fort: »Ich lieb' ihn! Und er hat
mit mir Geduld! ... Er pflegt mich! Aber mehr als Pflicht ist's bei
ihm nicht und tut mir doch so wohl, Maxe!... Es hat sich alles ins
Gegenteil verkehrt ... bitte ... bitte ... bleibe, Maxe! Ich weiß: ich
tu' dir weh! Aber es muß gesagt sein!«
»Ich geh' nicht weg!« versetzte Maximiliane ruhig. »Sprich nur weiter!«
Die Kranke holte tief Atem.
»Gott straft mich mit dem, Maxe, was ich gefehlt hab'! ... Ich hab's
an der Liebe fehlen lassen! ... Nun hat er sie mir auferlegt! ... Nun
weiß ich, wie's tut. Und was ich dir angetan hab' seinerzeit ... Und
was ich ihm angetan hab' und noch tu'! ... Ich weiß ja, wie er unter
mir leidet ... Und man ist doch so grausam, wenn man liebt ... Und
vielleicht auch grausam, wenn man krank ist ... Ich kann mir nicht
helfen: ich klammere mich an ihn! ... Jetzt, wo ich so schwach und
elend und schmerzbeladen und von Gott und der Welt verlassen bin, ist
er mein einziger Halt -- mein einziger Trost ... ich würde verzweifeln
... ich würde wahnsinnig werden -- ohne ihn ... Ich weiß gar nicht,
was ich täte ... bei dem bloßen Gedanken daran steht mir das Herz
still ... ich brauch' ihn, Maxe ... ich brauch' ihn ... ich hab' auf
ihn gewartet, mit Zittern und Beben, diese drei langen, furchtbaren
Jahre, in denen hab' ich viel bereut und will's nun besser machen. Ich
brauch' ihn, Maxe!«
Sie starrte bang und fiebernd, mit weitaufgerissenen Augen, der
Schwester ins Gesicht. Die hatte sich erhoben und sagte nur ruhig: »Es
nimmt ihn dir ja auch niemand, Ulla!«
Aus den angstvollen Zügen unter ihr wich die Spannung. Es war wie ein
Schimmer von Erlösung in Ullas dunklen Augen -- eine Weichheit und
Dankbarkeit. Sie lächelte in einem jähen Umschwung ihrer Stimmung.
»Gott sei Dank! Es gibt nur einen Menschen, der ihn mir nehmen kann!
Und der tut es nicht! Du warst mir immer eine gute Schwester, Maxe! Du
hast immer gewußt, was deine Pflicht war, und hast sie untadelhaft
erfüllt und immer alles aufgeboten, was in deiner Macht lag ... Ich
hab' es dir früher schlecht gedankt und war hart und häßlich gegen
dich. Aber jetzt hab' ich einsehen gelernt, wieviel ich dir schuldig
bin und immer schuldig sein werde. Auch in Zukunft!«
Sich von der Ottomane aufrichtend, legte sie, in ihrer Schwäche
nach einer Stütze suchend und in schwesterlichem Zutrauen den Arm
um die andere. In ihrem weißen Gewand stand sie, hell von der
Frühlingssonne beschienen, mitten im Zimmer. Es war eine gläubige,
träumerische Hoffnung auf ihrem Gesicht. Sie legte die abgemagerten
Hände ineinander. Sie sagte innig: »Schau, Maxe: Ich hab' so jetzt das
felsenfeste Zutrauen: die Zeit der Prüfungen ist bald vorbei, und nun
kommt es besser mit Erich und mit mir! ... Er findet allmählich den
Weg zu mir zurück. Es hat eine Zeit gegeben ... lang ist's her ... da
hat er mich so unendlich geliebt ... ich hab's verscherzt ... durch
meine eigene Schuld ... aber es kann doch wiederkehren ... nicht wahr?
... wenn ich es so von Herzen bereue ... wenn ich mir so recht Mühe
gebe ... wenn ich zum lieben Gott drum bete ... nicht wahr? ... sag
doch ja, Maxe ... mach mir nur ein bißchen Mut ...«
Frau von Logow hustete und fuhr in leidenschaftlicher Verklärtheit
fort: »Ich gewinn' ihn mir wieder! Ich fühl' es! Ich bin schon auf dem
Weg. Ich merk' es an tausend kleinen Zeichen. Es ist bei ihm nicht
bloß Mitleid, nicht bloß Pflichtgefühl, daß er so gut zu mir ist. Er
kann sich doch nicht verstellen! Das kommt bei ihm aus dem Herzen!
Das wird wachsen ... Tag für Tag ... Maxe ... warum sprichst du denn
kein Wort?«
Maximiliane schwieg. Sie fühlte an ihrer Brust das Zittern der
Schwester. Verängstigt, schwach, liebebedürftig, vertrauend hing
die ihr am Halse. Und legte ihren Kopf an den ihren. Und lachte mit
nassen Augen und schluchzte mit lächelnden Lippen und entwaffnete sie,
indem sie das Beste in ihr wachrief: »Nicht wahr, Maxe ... du ... du
tust nichts, um das zu stören. Du bleibst so stolz und rechtlich wie
bisher. Und gönnst mir mein Glück. Endlich ein bißchen Glück! ... Wenn
ich nur das von dir weiß, dann bin ich schon ganz ruhig. Niemand außer
dir kann mir im Leben was zuleide tun! Und auf dich verlass' ich mich
so ganz! ... Du hast dich immer so bewährt! ... Du bist meine gute,
liebe Schwester ... Vor dir hab' ich keine Scheu! Du begreifst, was es
heißt, wenn ich bei dir um meinen Mann bitte! ... Du gibst ihn mir! Du
läßt ihn mir! Nicht wahr?«
Immer noch hielt sie die Jüngere zitternd umfangen. Die fühlte die
Last an ihrer Schulter und hatte Mühe, selbst aufrecht zu bleiben. Sie
löste sich leise aus den Fesseln der beiden Arme und half der Kranken,
sich erschöpft wieder niederzusetzen. Dann sagte sie: »Sei unbesorgt,
Ulla! ... Du sollst kein Hindernis auf deinem Weg finden. Es wird
alles Nötige geschehen!«
»Du brauchst ja gar nichts Besonderes zu tun, Maxe! ... Verstehe mich
um Gottes willen nicht falsch. Es ist nur ...«
»Doch! Ich schiebe einen Riegel vor! Der hält!«
Die junge Frau beugte sich nieder und küßte die ältere Schwester noch
einmal. Sie war ebenso ruhig, wie jene zwischen Lachen und Weinen
schwankte.
»Erlaub, daß ich nun gehe, Ulla! ... Gute Besserung ... Auf
Wiedersehen!«
Die Generalin von Glümke verließ das Zimmer. Draußen auf dem
Treppenflur blieb sie eine Sekunde stehen, stützte sich an dem
Geländer und schloß die Augen in einer Schwächeanwandlung, die
blassen Züge von Schmerz versteinert. Dann hörte sie Schritte. Ein
Herr kam die Stufen herauf. Er warf einen forschenden Blick auf die
hohe, elegante Gestalt und grüßte dann sehr höflich. Sie erkannte den
Hausarzt der Logows, der Ulla schon bei ihrem ersten Aufenthalt in
Berlin vor Jahren behandelt hatte. Sie frug: »Wie geht's eigentlich
meiner Schwester?«
»Entschieden besser, Exzellenz! Ich habe jetzt mehr Zuversicht als
je. Die Rückkehr ihres Mannes hat sie belebt -- in ganz unerwarteter
Weise. Psychische Einflüsse tun da oft Wunder. Wenn diese Krise jetzt
überwunden ist, dann sind wir, denk' ich, endgültig über den Berg ...
Ganz robust wird die gnädige Frau ja nie werden. Sie wird sich immer
schonen müssen. Aber innerhalb dieser Grenzen, wenn wirkliche grobe
Dummheiten, wie schwere Erkältungen und derlei vermieden werden, liegt
eigentlich kein Grund vor, warum sie nicht so alt werden sollte wie
Sie oder ich ... Ich habe die Ehre, Exzellenz ...«
»Guten Morgen, Herr Doktor!«
Maximiliane von Glümke winkte draußen vor dem Hause das nächste
Automobil heran, fuhr nach Westen, in der Richtung nach
Charlottenburg. Dort bewohnte ihr Onkel, der Oberstleutnannt a. D.
Freiherr von Koninck seit seiner Verabschiedung ein Junggesellenheim.
Nicht mehr auf lange. Er war schon mit einem Fuß auf dem Standesamt
und erwartete jetzt eben, nur noch vierzehn Tage vor der Hochzeit,
den Besuch seiner Braut und ihrer Mutter, die ihn zu Besorgungen
abholen wollten, und steckte, das Klingeln draußen hörend, mit einem
zärtlichen »Brigittchen?« den Graukopf durch den Türspalt und machte
große Augen, als die schlanke blonde Dame in dem Halbdunkel gelassen
sagte: »Ich bin's bloß, Onkel! ... Die Maxe! ... Hast du 'nen Moment
Zeit für mich?«
»Für solchen Besuch immerzu!« Der alte Schwerenöter lachte. »Bitte
Euer Exzellenz gehorsamst, einzutreten! ... Wie kommt solch Glanz in
meine niedere Hütte?« Er änderte, da er Maximilianes ernstes Antlitz
sah, den Ton und frug besorgt: »Aber ... verzeih ... Ist irgend etwas
passiert?«
»Nein. Gar nichts! Sag mal, Onkel Wilderich, ... du bist doch irgend
so ein großes Tier im Johanniterorden -- nicht wahr ...«
»Ja ... das heißt ... ich hab' in der Ballei Brandenburg ...«
»Also jedenfalls kannst du da, wenn du willst, für jemanden ein gutes
Wort einlegen?«
»Frägt sich nur, wer es ist!«
»Ich!«
Herr von Koninck musterte seine schöne Nichte erstaunt: »Du? Was
willst du denn? Na -- komm mal, bitte, mit in mein Arbeitszimmer!«
Da blieben sie lange Zeit. Seine Braut, Fräulein von Hornschuh, und
ihre Mutter, die inzwischen erschienen, mußten warten. Endlich kam
Maximiliane von Glümke wieder heraus. Sie begrüßte freundlich die
beiden Damen und verabschiedete sich. Es war ihr nichts Besonderes
anzumerken, und Frau von Hornschuh sagte mit merklicher Schärfe zu
ihrem künftigen Schwiegersohn: »Ich weiß nicht, ob das unbedingt nötig
war, uns hier quasi antichambrieren zu lassen ...«
Der Freiherr von Koninck machte eine abwehrende Handbewegung. Der alte
Husar war für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst, fast ergriffen.
Er wandte sich an seine Verlobte: »'s ist doch eigentlich eine
komische Welt, Brigittchen!« versetzte er. »Wo die einen anfangen,
hören die anderen auf! ... Wir beide, du und ich, wir packen jetzt
erst das Leben ordentlich bei den Hörnern, und die Maxe, die so viel
jünger ist als wir, und es am wenigsten nötig hätte, die sagt ihm so
gewissermaßen Ade ... Sie will bei den Johanniterschwestern eintreten
-- ich hab's ihr in die Hand versprechen müssen -- und gleich jetzt
auf der Stelle ...«
»Sie wird sich schon noch besinnen!« meinte Frau von Hornschuh.
Aber Maximilianes Onkel verneinte: »Da kennen Sie sie flach, verehrte
Schwiegermama! ... Ich kenn' sie doch von klein auf. Die tut's! ...«
22
Ein Wirbel von Schneeflocken segelte mit dem Strom von kalter
Winterluft durch das halbgeöffnete Fenster in die Stube des
Krankenhauses. Der Lärm Berlins drang herein, das Klingeln der
Straßenbahn, das Getute der Hupen, das Kratzen und Scharren der
Schneeschaufler. Die Gardinen blähten sich in dem frischen Hauch, der
die Patientinnen dritter Klasse in ihren Betten -- je vier an jeder
Längsseite des Raums -- nicht treffen konnte und nur den nächtigen
Brodem des Zimmers zerstreute. Aber es rührte sich trotzdem in den
Lagern und seufzte und gähnte.
»Schwester Maximiliane!«
»Ja!«
»Wieviel Uhr ist's denn?«
»Sieben Uhr!«
»Au fein! ... Da jiebt's bald Frühstück!«
Die Diakonissin strich lächelnd dem blassen vierzehnjährigen Mädchen
mit der Hand über den Scheitel.
»Du kriegst doch nur Milch, Elschen!«
»Aber ik hab' doch so Hunger, Schwester!«
»Wenn man so arg Typhus gehabt hat wie du, muß man brav sein und
fasten, bis man wieder ganz gesund ist. Dann bekommst du wunderschönen
Apfelkuchen mit Schlagsahne! Paß nur auf!«
»Ach ja!« sagte das Kind hoffnungsvoll und beruhigte sich. Die
Probeschwester trat zu dem nächsten Bett und drehte die Patientin
sanft an den Schultern auf die Seite.
»Sie sollen nicht immer auf dem Rücken liegen, Frau Dubberke! ... Der
Herr Sanitätsrat will's doch nicht ... so ... nicht wahr ... es geht
schon ...«
»Et ~muß~ jehn!« meinte schnaufend die korpulente Frau aus dem
Volke. »Ick muß doch bald heim! ... Wat mein Oller is, der ... haben
Sie ihm auch janz jewiß wieder geschrieben, Schwester?«
»Gestern hat er eine Postkarte bekommen ... Haben Sie nur Geduld, Frau
Dubberke! Sehen Sie: danebenan -- da sind wir noch lange nicht so weit
...«
Maximilianes ernstes, von der Diakonissenhaube beschattetes Antlitz
beugte sich forschend über das dritte Bett. In dem lag eine junge
Frau regungslos, mit geschlossenen Lidern. Die Pflegerin nahm den
Fieberthermometer unter ihrem Arm hervor und schüttelte unzufrieden
den Kopf, während sie das 38,6 in die Temperaturkurve einzeichnete.
»Schwester!«
Der Ruf kam aus der anderen Ecke. Schwester hier und Schwester da.
»Schwester -- warum hämmern sie denn da draußen so?«
»Sie nageln Girlanden an. Morgen ist doch Kaisers Geburtstag!«
»Darf ich da aufstehen und ein bißchen aus dem Fenster schauen?«
»Das müssen wir den Herrn Doktor fragen! Vielleicht erlaubt er's!«
»Schwester ... fährt da der Kaiser unten vorbei?«
»Hier nicht!«
Schwester Maximiliane beantwortete alle Fragen mit der gleichen
Geduld, während sie und die inzwischen eingetretene Schwester
Agathe, auch eine Dame aus altem preußischen Geblüt, das Zimmer
fegten, die Kranken wuschen und kämmten und die Betten machten. Man
durfte keine Zeit verlieren. Bis zu dem Rundgang des dirigierenden
Arztes der inneren Abteilung mußte alles in Ordnung sein. Indes die
ältere Diakonissin die Patientinnen mit dem Frühstück versorgte,
kniete Maximiliane vor dem Ofen und fachte das Feuer an. Sie
schaute aufmerksam in die knisternden Flammen. Die Glut warf einen
hellen Schein über ihr schlicht gescheiteltes hellblondes Haar. Die
Oberschwester, bejahrt, rundlich, mit gutmütigem Matronengesicht,
schaute, das große Kreuz vorn an der Brust, eine entleerte
Morphiumspritze in der Hand, herein und suchte nach einer Unordnung.
Die mußte sie haben. Des Grundsatzes wegen. Etwas fand sie immer! Da:
Auf dem Teller in der Ecke lag weiß Gott eine herrenlose halbe Semmel!
»Schwester Maximiliane ... ich versteh' Sie wirklich nicht! ... Sie
sind schon über ein halbes Jahr Probeschwester. Sie könnten doch nun
nachgerade wissen, wie Typhusrekonvaleszenten sind! ... Die schlingen
doch Nägel hinunter und beißen Türklinken ab, wenn man den Rücken
dreht! Nu lassen Sie 'mal das Elschen da hinten über die Schrippe
kommen! Da haben wir morgen die Bescherung!«
»Ja. Es war sehr unvorsichtig!«
»Sie kann ja gar nichts dafür!« rief Schwester Agathe vom Fenster.
»Ich hatte das Frühstück unter mir!«
Die Oberschwester machte erstaunte Augen.
»Ja, warum sagen Sie denn das nicht selbst?«
»Ach -- es ist ja ganz gleich!« versetzte Maximiliane gelassen, schloß
die Ofentüre und stand elastisch auf. Zugleich warnte die andere:
»Pst! Der Sanitätsrat!«
Der dirigierende Arzt trat ein, von dem Stab seiner Assistenten
gefolgt. Er untersuchte die acht Kranken und war zufrieden.
»Das Typhuszimmer gefällt mir!« sagte er, schon wieder auf der
Schwelle. »Da ist Leben drin. Nur immer so weiter!«
Sein Blick glitt dabei von den anderen Diakonissen ermutigend zu
Maximiliane hinüber, anders als sonst. Er respektierte unwillkürlich
die frühere große Dame, die den Schritt von der Exzellenz zur
Schwester getan. Sie wurde vor Freude bei seinem Lob ein wenig rot.
»Es wäre zu schön, wenn wir sie alle durchbrächten!« sagte sie in der
Türe lebhaft und so leise, daß man sie drinnen nicht hörte. »Das ist
jetzt mein ganzer Ehrgeiz!«
Sie hatte den Vormittag über in dem Krankenzimmer zu tun. Erst gegen
Mittag verließ sie es und ging über den Flur, auf dem Genesende
in ihren blau und weiß gestreiften Kitteln müßig umherschlurften.
Sie hatte unten zur ebenen Erde eine Bestellung durch das
Telephon auszurichten. Auf dem halben Wege dahin begegnete sie dem
Anstaltsgeistlichen. Ein Siebziger, gebückt, mit weißen Haaren, blieb
er stehen und reichte ihr freundlich die Hand. Er war durch seine
Heirat mit einer pommerischen Adeligen zu vielen preußischen Familien
in Verschwägerung getreten. Seine beiden Söhne waren Offiziere und
hatten Offizierstöchter zu Frauen. Er lächelte und frug: »Nun,
Schwester Maximiliane -- wie geht's?«
»Danke, Herr Pastor! Ganz gut!«
»Sind Sie zufrieden?«
»Wenn man mit mir zufrieden ist, bin ich es auch!«
»Sie bereuen Ihren Entschluß wirklich noch nicht?«
»Warum sollt' ich denn? Ich hab' hier meine Ruhe, und ich mache mich
nützlich! ... Ich will nicht mehr ...«
»Jedenfalls halten Sie sich immer vor Augen: Sie sind noch ganz frei.
Sie haben sich noch zu nichts verpflichtet! Sie können gehen, wann Sie
wollen!«
Die schöne junge Frau lachte ein wenig.
»Wollen Sie mich wirklich hier mit Gewalt wieder an die Luft setzen,
Herr Pastor? ... Was hab' ich denn angestellt, um das zu verdienen?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Ich für mein Teil freu' mich ja nur, wenn Sie hier wirklich Ihren
Frieden finden! Aber heute hab' ich wieder einen Brief von Ihrer Frau
Mutter aus Darmstadt! Sie ist nach wie vor verzweifelt über Ihren
Entschluß ...«
»Ja, da kann ich Mama nicht helfen!«
»... und hofft immer noch, Sie würden sich besinnen.«
»Ich hab's mir vorher überlegt, Herr Pastor! Schreiben Sie das nur
Mama ...«
Beide schwiegen eine Sekunde. Dann meinte der Geistliche herzlich:
»Sie sollten einmal des Nachmittags ein Stündchen bei uns vorsprechen!
Meine Frau würde sich auch so freuen!«
»Ja. Ich komme nächstens!«
»Das sagen Sie immer nur, und es wird nie etwas daraus! Und dabei
ist's doch nur über die Straße!«
»Ich komm' eben gar nicht auf die Straße! Ich war -- glaub' ich
-- seit Monaten nicht mehr draußen! ... Ich hab' meine nächsten
Verwandten Gott weiß wie lange nicht gesehen.«
»Darüber grämt sich Ihre Mutter ja so. Sie haben Ihre Schwester in
Berlin. Ihr Bruder steht nicht weit davon bei der Artillerie. Ihr
Onkel hat hier seine Division. Aber Sie seien für alle seit einem
halben Jahr und länger wie verschollen, schreibt die Frau Oberst.
Niemand sieht und hört mehr etwas von Ihnen!«
»Ich will auch nichts mehr sehen und hören! Ich will nichts mehr von
da draußen wissen ... ich hab' damit abgeschlossen ...«
Sie verabschiedete sich ruhig, ganz im Ton der Dame von einst.
»Adieu, Herr Pastor! ... Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer verehrten
Frau Gemahlin!«
»Adieu, Schwester Maximiliane ...«
Es gab in diesem Hause keinen Müßiggang, keine ungenützte Minute.
Und doch blieb die Johanniterschwester, nachdem der Pfarrer sich
entfernt, noch einen Augenblick stehen und schaute nachdenklich
durch die großen, hellen, gardinenlosen Fenster des Flurs. Gerade vor
den Scheiben schwankte etwas Frisch-Grünes im Winde, das Ende einer
Tannengirlande. Die Arbeiter auf den hohen Leitern draußen pochten.
Sie schmückten die Front des Hauses für morgen, zu Kaisers Geburtstag
...
Kaisers Geburtstag ... das war der immer sich gleichbleibende große
Festtag jedes Jahres gewesen, solange Maximiliane sich erinnern
konnte, bis in ihre früheste Kinderzeit hinein, als der greise Kaiser
Wilhelm noch lebte -- fern in Berlin -- schon halb dem Irdischen
entrückt -- vom Strahlenglanz des Ruhms und Alters umgeben, Bismarck
und Moltke gleich riesenhaften Recken rechts und links von seinem
Thron. So hatte sie sich das als kleines Ding gedacht, und so war,
als sie heranwuchs, vom März zum Januar hinüber, der feierliche Tag
geblieben. Hier im Hause war das morgen ein Tag wie jeder andere. Die
Kranken lagen und litten und hofften, und man ging von Bett zu Bett
und gab da zweistündlich den Eßlöffel Medizin und dachte dort daran,
daß um fünf Uhr abends die subkutane Injektion gemacht werden sollte.
Sie erschrak, daß sie sich so in ihre Träume verloren hatte. Sie
wandte sich eilig zum Weitergehen und lief die Stufen hinab. Sie war
schon beinahe unten, da hörte sie vom Hauseingang her, wo der Pförtner
saß, Stimmen und, wieder wie eine Erinnerung an einst -- ein leises
Sporenklirren -- das schwache Rasseln eines eingehakten Offiziersäbels
-- dann eine gedämpfte Frage -- es war keine Täuschung ... sie
vernahm deutlich ihren eigenen Namen ... Sie beugte sich unruhig über
das Geländer. Auf dem Korridor unter ihr stand ein junger Hauptmann in
der Uniform eines Feldartillerieregiments mit einer Dame. Sie erkannte
ihren Bruder Otto und seine Frau. Er wiederholte eben aufgeregt dem
Pförtner: »Ja ... zu meiner Schwester möchte ich ... der früheren
Exzellenz von Glümke ...«
Und die kleine Frau Adda fügte hinzu: »Zur Schwester Maximiliane ...
Jetzt ist doch Sprechzeit für die Diakonissen! Von zwölf bis eins ...«
»Was wollt Ihr denn?« frug die junge Frau von oben, stieg hinunter
und reichte ihnen die Hand. »Bitte ... kommt da herein! Da ist das
Besuchszimmer!«
Ihr Bruder Otto erschien ihr förmlich verjüngt, seit er wieder den
schwarzen Kragen des Feldartilleristen trug, in dem sie ihn von
früheren Zeiten, vom Elternhaus her, in Erinnerung hatte: Er war
frisch und straff, sein hübsches Gesicht wettergebräunt vom Dienst.
»Also hör mal! ...« sagte er hastig. »Vorgestern war großes
Versöhnungsfest bei Schwiegerpapachen in Charlottenburg. Der alte
Herr war doch wütend, weil ich auf seine Moneten gepfiffen hab' und
mich wieder zur Dienstleistung bei der Bombe hab' kommandieren lassen
und weil wir uns die Zeit über mit dem Kommißvermögen mit Anstand
durchgefressen haben, die Adda und ich. Nu empfand er also ein
menschliches Rühren ... Wir haben uns geeinigt. Er gibt wieder was!
... Aber mit Vernunft. Ich seh's selber nun ein!«
Er merkte einen Schatten von Ungeduld auf Maximilianes Zügen. Er
beeilte sich: »Ich komm' schon zur Sache! Also da war großer Zauber
... alle Verwandten ... du warst pro forma auch eingeladen und die
Ulla auch. Niemand hat von dir gedacht, daß du kommen würdest. Und von
der Ulla noch weniger. Denn es geht ihr doch seit dem Herbst wieder
ganz flau, und die letzten vierzehn Tage, bei der Bärenkälte, hat sie
der Doktor überhaupt nicht aus dem Zimmer gelassen. Da, wie wir nun
alle beisammen sind, geht die Türe auf, und sie tritt herein! Sie
langweile sich daheim, sagt sie. Sie wolle auch einmal unter Menschen
...«
»O Gott -- wie unvorsichtig!«
»Wart nur; das Tollste kommt noch: Also, sie setzt sich, trinkt Tee,
ist ganz vergnügt und heiter, tut, als wär' es gar nichts, steigt
endlich wieder in ein Auto und fährt davon! Aber glaubst du nach
Hause? ... Jawohl! ... Vorgestern nachmittag trifft Adda zufällig in
der Leipziger Straße Frau von Bliest, die draußen in Grunewald wohnt
... Ist doch die Ulla, das Unglücksgeschöpf, tags zuvor im offenen
Wagen bei dem Ostwind zu ihr hinausgekommen, zu einer Stippsvisite
... ganz ohne Not ... die Bliest hat sich selber gewundert ... Nun --
was sagst du zu dem grenzenlosen Leichtsinn? Es sieht der Ulla so gar
nicht ähnlich. Sie ist doch sonst so ängstlich.«
»Ja. Es ist unbegreiflich!« sagte Maximiliane.
»Na -- wir kriegten's nun doch mit der Angst! Heut' früh sag' ich zu
meiner Frau: ›Wir wollen doch lieber sehen, wie's ihr geht!‹ Also
gut! Wir gondeln nach Moabit! Da finden wir denn auch gleich die
Bescherung: der Bursche verdattert. Die Mädchen verheult. Sie selbst,
die Ulla, mit 'ner Lungenentzündung im Bett!«
»Ach, du großer Gott!«
»Ja ... das heißt doch das Schicksal mutwillig herausfordern!« klagte
Frau Adda.
»Und was sagt sie denn selber?«
»Ich hab' sie doch nicht sprechen können, Maxe! ... Sie läßt ja
niemanden vor, in ihrem unbegreiflichen Eigensinn! ... Da sind wir in
unserer Ratlosigkeit zu dir! Es muß doch etwas geschehen ...«
Es kostete Maximiliane Überwindung, den Namen auszusprechen, der ihr
die ganze Zeit schon auf den Lippen lag.
»Wozu hat sie denn ihren Mann?« sagte sie. »Ihr könnt das doch ruhig
Erich überlassen!«
Die kleine Hauptmannsfrau rang die Hände.
»Ach so! Das haben wir ja ganz vergessen, dir zu erzählen. Erich ist
ja gar nicht in Berlin! Er ist seit acht Tagen irgendwo in Schlesien,
auf einer Dienstreise, an der russischen Grenze! Er kommt erst morgen
früh, zu Kaisers Geburtstag, zurück. Wir wissen augenblicklich nicht
einmal seine Adresse!«
»Und inzwischen geht die kostbarste Zeit verloren,« fügte ihr Mann
hinzu. »Der einzige Mensch, der helfen kann, bist du, Maxe!«
»Ich kann doch auch nicht ohne weiteres von hier fort!«
»Wenn deine Schwester krank ist ...«
»... dann weiß ich doch noch lange nicht, ob sie mich als Pflegerin
will! Ich kann doch nicht hier um Urlaub bitten und dann dort
abgewiesen werden, so gut wie ihr!«
»Das ist wahr!« meinte der Artillerist und tauschte mit seiner Frau
einen bedrückten Blick.
Die Diakonissin fuhr fort: »Ich will aber jedenfalls heute noch nach
ihr schauen! Gegen Abend kann ich mich auf eine Stunde frei machen!
Mehr als mich auch abweisen, kann sie nicht. Und nun entschuldigt
mich. Ich hab' zu tun!«
»Wie geht's dir denn?«
»Immer gut!«
»Adieu, Maxe!«
»Adieu, Adda!«
Die beiden Frauen küßten sich. Dann stieg Maximiliane die Treppen
hinauf, in ihr Revier zurück. Gewohnheitsmäßig tat sie da den
Nachmittag über ihre Pflicht. Zuweilen dachte sie zwischen den Sorgen
jeder Stunde an die Schwester. Vielleicht war es mit der nicht so
schlimm. Ulla bereute hinterher ihren dummen Streich und bildete sich
in ihrer Angst die Anzeichen einer Krankheit nur ein. Oder war einfach
schlechter Laune. Wollte keinen Besuch. Das kam bei ihr auch vor. Die
Stimmungen wechselten ja so rasch bei ihr. Und in Abwesenheit ihres
Mannes war sie wohl doppelt unruhig und aufgeregt.
Maximiliane hatte Erich von Logow seit einem halben Jahr nicht
gesehen, nur zuweilen, gegen ihren Willen, aus dem Mund von Verwandten
etwas von ihm gehört. Einmal eine Äußerung Otto's: »Diesmal schafft's
der Logow! Man ist mit ihm kolossal zufrieden!« ... Und ein andermal
hatte Onkel Wilderich, der grauköpfige, stark unter dem Pantoffel
stehende junge Ehemann, melancholisch gemeint: »Eigentlich seid ihr
beide ins Kloster gegangen! Nicht nur du, Maxe, sondern der Erich
auch. -- Der Mensch kennt nur noch seinen Dienst. Er arbeitet zwanzig
Stunden täglich wie ein Pferd. Im übrigen für die Menschheit total
ungenießbar. Um ~den~ Preis möcht' ich nicht später mal ein
Armeekorps kriegen!«
Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Sie hatte allmählich nun
schon Übung gewonnen, sich auch innerlich zu beherrschen. Wenn sie
wollte, schwand alles, und es blieb nur der eng umschriebene Umkreis
von Pflichten übrig -- vier kahle Wände mit Kruzifix und Bibelspruch,
acht eiserne Betten mit Typhuskranken, die man warten und pflegen
mußte, zwei große kahle Fenster, hinter denen sich langsam wie
jeden Tag der frühe Winterabend auf das schmutzige Schneegrau der
Straße senkte. Sie war so in ihre Beschäftigung vertieft, daß sie
zusammenfuhr, als plötzlich die Oberschwester neben ihr stand und ihr
ausrichtete: »Sie möchten sofort einmal zur Frau Oberin kommen!«
Die Oberin des Krankenhauses war eine alte vornehme Dame, eine Gräfin
aus einer der ersten Familien Preußens. Sie sagte beim Eintritt
der Johanniterin: »Schwester Maximiliane, erschrecken Sie nicht:
Ihre Schwester, Frau von Logow, ist seit gestern nicht unbedenklich
erkrankt!«
»Ich hab' es schon heute mittag von Verwandten erfahren, Frau Oberin!«
»Mir hat soeben der behandelnde Arzt telephoniert, daß sich der
Zustand leider ständig verschlimmert und eine Pflegerin dringend not
tut. Er bat mich, Sie ungesäumt an das Krankenbett zu schicken!«
»Ich weiß nicht, ob ich dort willkommen bin, Frau Oberin!«
»Ihre Frau Schwester bittet darum! Sie ist bei Besinnung. Sie erwartet
Sie mit Ungeduld. Also machen Sie sich sofort fertig, dort die
häusliche Pflege zu übernehmen! Meine besten Wünsche auf Besserung!«
»Ich danke, Frau Oberin!«
Eine Viertelstunde später war Maximiliane schon unterwegs. Sie stand
auf der Rückseite eines Straßenbahnwagens, eine Tasche mit Wäsche und
den nötigsten Gebrauchsgegenständen in der Rechten. Um sie rauchende
Herren, mit hochgeschlagenen Krägen, die Hände in den Paletots. Es
war nun schon völlig Nacht. Der rötliche Widerschein, der da drüben,
hinter dem Brandenburger Tor, jeden Abend den Himmel färbte, strahlte
heute in zehnfacher Helle. Dort, in den Palästen Unter den Linden
und in der Gegend der großen Kaufläden bis zum Spittelmarkt hin und
in dem Bankviertel um die Französische und Behrenstraße probte man
schon die Festbeleuchtung für morgen. Dort stauten sich heute bereits
die Menschenmassen neugierig vor den bunten Kaiserinitialen, den
preußischen Adlern, den Sternen und Bogen aus farbigen Glühlampen
und zitternden Gasflämmchen, die ihren taghellen Glanz über das
dunkle Meer von Hüten und Schutzmannshelmen unter sich warfen. Dort
herrschte jetzt schon in der Friedrichstadt Jubel und Trubel am
Vorabend der Kaisergeburtstagsstimmung. Hier draußen im Nordwesten war
es kahl und finster wie sonst. Grau lag da die Moabiter Mietskaserne,
trübe beleuchtet waren die Treppen, auf denen Maximiliane zu der
Logowschen Wohnung emporstieg.
Oben vor der Flurtüre stand schon wartend eines der beiden
Dienstmädchen und spähte in das dunkle Stiegenhaus hinaus. Sie atmete
auf, als sie Maximilianes ansichtig wurde. Sie, die Dienstboten,
hätten sich schon gegrault, berichtete sie, und hätten nicht gewußt,
was tun. Der Doktor sei vor einer Stunde weggegangen. Die gnädige Frau
sei jetzt auf einmal so sonderbar. Sie habe einen ganz roten Kopf und
rede allerhand durcheinander ... man würde gar nicht klug daraus ...
Auf den ersten Blick sah Maximiliane beim Eintritt in das
Krankenzimmer, daß ihre Schwester phantasierte. Sie schickte schleunig
eines der Mädchen nach Eis und setzte sich an das Bett. Die Leidende
warf sich unruhig in den Kissen hin und her. Dazwischen hustete sie
schmerzlich und murmelte abgerissene Worte. Sie hielt die Augen
geschlossen. Aber sie hatte gehört, daß jemand gekommen war. Sie frug:
»Erich ... bist du's ...«
»Erich ist auch bald da! Hab' nur Geduld ...«
Es schien, daß Ulla von Logow die sanfte, ruhige Stimme ihrer
Pflegerin erkannte. Ihre Lippen zogen sich eigensinnig klagend
zusammen wie bei einem kranken Kind: »Erich soll nicht fort ...«
»Nein, nein!«
»Sag Erich, er soll bei mir bleiben! Wenn du's ihm sagst, tut er's!
... Er tut alles, was du willst ...«
Maximiliane zuckte zusammen und beugte sich still über die Fiebernde
und streichelte sie mit der Hand über die Stirn. Die schlug plötzlich
die Wimpern auf und starrte sie aus ihren dunklen, heißen Augen an.
»Du, Maxe ... was hast du denn für eine Haube? ... Wenn die dein Mann
sieht, wird er böse! Die Haube mußt du nicht tragen! Die steht dir
nicht ... Du ... da hinten steht doch Erich?«
»Noch nicht, Ulla!«
»Dann schick den Mann fort! Da hinten soll niemand stehen! Ich will's
nicht! Wenn Erich da wäre, würd' er ihn schon jagen!« ... Und während
die Diakonissin einen dunklen, dort hängenden Mantel weglegte,
flüsterte es in den Kissen geheimnisvoll: »Du ... Erich: die Maxe
sieht elend aus! ... Die denkt immer an dich ... weißt du ...«
»Komm, Ulla ... sei jetzt vernünftig!«
»Ich hab' sie wieder fortgeschickt, Erich! ... Ich mag sie nicht! Ich
mag nur dich! ... Wo bist du denn? ... Was habt ihr denn da? Warum
tuschelt ihr nebenan! Immer habt ihr beide was miteinander!«
Im Nebenraum hatte das Mädchen das Eis aus der Apotheke hingestellt.
Maximiliane war dazu getreten, um es in den Beutel zu füllen. Als
sie sich umwandte, sah sie zu ihrem Schrecken durch die offene Türe,
daß die Kranke aus dem Bett gestiegen war und lang und weiß in ihrem
Nachtgewand wie ein Geist mitten in dem dämmerigen Zimmer stand.
Sie eilte auf sie zu und legte den Arm um sie, um sie sanft wieder
zurückzugeleiten. Aber Ulla sträubte sich flüsternd, den Blick unruhig
in der Ferne: »Laß ... laß ... ich muß fort!«
»Bleib nur hier! Hier ist's besser, Ullachen!«
»Ich muß fort ... das Auto ... hörst du ... da draußen tutet's ...
kalt ... sehr kalt ... der Grunewald ...«
»Komm', Ulla ...«
»Weit fort! ... Du ... die Bliest hatte so 'nen Diamantring am Finger!
Ob der echt ist? Eigentlich haben die's doch gar nicht dazu. Da hinten
ist ja der Erich ... ganz da hinten im Schnee ... Gott ... ist da viel
Schnee! Er geht immer weiter! ... Erich! ... Erich! ... So bleib doch
stehen! Ich muß dir was sagen! ... Der Maxe auch! ... Euch beiden! ...
Fix! ... Wo steckt denn die Maxe?«
»Ich bin ja bei dir! Sei nur jetzt hübsch still!«
Mit leisem Zwang führte die Diakonissin ihre Schwester wieder an das
Lager und bettete sie. Die Kranke ließ es geschehen. Sie seufzte und
schloß die Augen. Der Eisbeutel auf der Stirne tat seine beruhigende
Wirkung. Sie frug mit klagender Stimme: »Maxe, bist du noch da?«
»Ja. Gewiß!«
»Bleibst du auch da?«
»Freilich!«
»Der Erich auch?«
»Er wird auch bald da sein!«
»Eben! ... Ihr beide sollt ja doch jetzt ...« Ulla faßte
geistesabwesend nach der Rechten ihrer Pflegerin, die noch feucht und
kühl vom Hantieren im Eiswasser war. »Ist das deine Hand, Maxe? ...
Warum ist sie denn so kalt? ... Bist du auch schon tot? ...«
Die junge Frau neben ihr fröstelte zusammen.
»Schlaf nur, Ulla!«
»Du bist fort ... schon lang ... weit weg ... aber du bist doch immer
da ... weißt du? ...«
»Schlaf! Schlaf!«
Die Kranke beruhigte sich allmählich. Einmal warf sie sich noch in
den Kissen hin und her und befahl ungeduldig: »Nein ... klappen Sie
das Verdeck nur auf ... Was? ... Zu kalt? ... Herrgott ... wenn ich's
doch will!« Dann wurden ihre Atemzüge lang und tief. Sie verfiel in
einen Betäubungsschlummer. Maximiliane saß still an ihrem Bett. Sie
war diese einsamen wachen Nachtstunden gewohnt, die schattenhaft,
lautlos, eintönig vorüberglitten. Erst zwischen zwei und drei Uhr
morgens entstand ein leises Geräusch im Krankenzimmer. Der Arzt war
auf den Fußspitzen eingetreten. Er begrüßte Maximiliane mit einer
Kopfneigung, die halb vertraulich zur Pflegerin, halb ehrerbietig
gegen die Exzellenz war, setzte sein Stethoskop der Patientin auf die
Brust, horchte und klopfte schweigend. Sein bärtiges Gesicht zeigte
Besorgnis.
»Ich bin gar nicht zufrieden!« sagte er flüsternd, während er mit der
Diakonissin in das Nebenzimmer trat. »Der Krankheitsprozeß schreitet
immer weiter fort! ... Auf die Dauer hat das Herz nicht die Kraft,
da mitzukommen. Wenn man einem derartig schwachen Organismus einen so
wahnsinnigen Insult zufügt -- hinterher sollen ~wir~ es dann gut
machen! ... ~Uns~ trifft die Verantwortung! In wenigen Stunden
kommt Herr von Logow an. Er findet seine Frau zwischen Tod und Leben
... ja, wenn Ihr Herr Schwager dann in seiner begreiflichen Angst und
Aufregung mir Vorwürfe macht -- ich vermag ihm nur zu erwidern: Wenn
jemand mit aller Gewalt krank werden ~will~, kann ich's nicht
hindern und kein Arzt der Welt!«
»... krank werden will?«
»Ja! Ihre Schwester mußte wissen, was die unausbleibliche Folge
einer solchen Fahrt bei Kälte und Ostwind sein würde! Ich hab's ihr
hundertmal gesagt und sie zur Vorsicht ermahnt. Warum sie's trotzdem
getan hat, weiß der Himmel! Ich wasche jedenfalls meine Hände in
Unschuld!«
Der Doktor hatte noch einige Anordnungen getroffen und sich dann
in sehr ernster Stimmung verabschiedet. Die Diakonissin saß still,
die Hände im Schoß. Sie hatte die Mädchen zu Bett geschickt. Es
gab jetzt nichts zu pflegen und zu tun, bei dem tiefen Schlaf der
Bewußtlosigkeit da drinnen, in dem langsam, je weiter die Stunden
über Mitternacht hinaus vorrückten, die Fieberhöhe sank. Zuweilen
trat Maximiliane auf leisen Sohlen an das Bett und sah nach ihrer
Schwester. Dann schritt sie wieder durch die Räume, setzte sich,
nahm mechanisch ein Buch zur Hand und legte es weg, ohne darin zu
lesen, und erhob sich und stand am Fenster und schaute hinaus.
Draußen war tiefe, schwarze Winternacht. Nüchterner, reihenweiser
Laternenglanz auf der ausgestorbenen Straße, kaltes Sternenflimmern
über den beschneiten Dächern. Kein Laut, keine Bewegung in diesem
brütenden Dunkel. Berlin schlief. Sie dachte sich: Jetzt fährt ein
Zug durch die Finsternis. In dem sitzt er und kommt heim und findet
seine Frau zwischen Leben und Sterben -- halb im Sterben -- sie schrak
zusammen -- sie schloß im Stehen die Augen -- sie frug sich: ›Bist du
das wirklich? Ist das nun doch wahr? ... Und wie ist es gekommen?‹
Ein sonderbares Grauen vor etwas Unbekanntem, Geheimnisvollem
durchfröstelte sie. Da hörte sie von drinnen einen schwachen Laut,
und sofort verwandelte sie sich, im Instinkt der Pflicht, in die
barmherzige Schwester. Sie eilte in das Krankenzimmer. In dem kämpfte
das erste fahle Morgengrau mit dem gelblichen Dämmer der Nachtlampe.
Geisterbleich lag Ullas Kopf in den weißen Kissen. Sie war bei
Bewußtsein. Ihre Augen waren offen. Ihr Züge zeigten eine ängstliche
Spannung. Sie streckte der anderen die Hand entgegen und flüsterte:
»Versprich mir, Maxe ... nicht wahr, du tust's ...«
»Was denn, Ullachen?«
»Hol nachher, um halb elf, Erich selbst am Bahnhof ab! Er weiß ja noch
von nichts! ... Er soll es nicht von Fremden hören! Sag du's ihm, daß
es mit mir zu Ende geht!«
»Um Gotteswillen, Ulla -- was bildest du dir ein? In vierzehn Tagen
bist du wieder wohl und munter!«
Ein eigenes, feierlich-abwehrendes Lächeln durchgeistigte das Antlitz
der Kranken.
»Das weiß ich besser, Maxe! ...«
»Ulla -- man muß auch gesund werden ~wollen~! Das hilft auch,
wenn man krank ist. Denk' doch an deinen Mann! Du hast ihn doch so
lieb!«
»Und ob ich ihn lieb hab' ...« sagte Ulla von Logow langsam und
andächtig, den Blick nach oben, und hustete schmerzlich und hielt
immer noch die Hand der Schwester fest.
»Erinnerst du dich noch, Maxe ... wie wir beide hier darüber geredet
haben ... in diesem Zimmer. Es ist jetzt bald ein Jahr! ... Damals war
ich noch so voll Hoffnung -- voll Zuversicht! ... Ich dachte, es müßte
mir gelingen -- ich müßte seine Liebe wiedergewinnen. Ich hab' darum
gekämpft, wie eine Verzweifelte ...«
»Erzähl' mir das später einmal, Ulla! Du regst dich zu sehr auf!«
»Wann denn, Maxe? -- Ich bin bald ganz still! ... Ich bin ja so
schwach und krank. Ohne ihn kann ich nicht leben!«
»Du sollst ihn ja auch haben!«
Die Kranke sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.
»Du hast ihn nach wie vor! Du wirst ihn ewig haben, solange er lebt
... Klingen dir nicht manchmal die Ohren? Ich bild' mir ein, das müßte
man förmlich hören, wenn ein anderer Mensch so immerzu an einen denkt
-- Tag und Nacht -- immerzu -- das tut er ...«
»Ulla!«
Die andere hustete. Das Sprechen bereitete ihr Schmerz. Ihre Stimme
war kaum vernehmbar.
»Es war ja lächerlich von mir, es zu versuchen, Maxe! ... Du bist ja
so, so viel stärker! ... Du stehst in ihm so unverrückbar wie ein Bild
von Erz ... O, er verrät sich nicht. Er war immer zu mir lieb und gut
...«
»Ulla -- hör jetzt auf!«
»Und du hast gerade so die Zähne zusammengebissen wie er! ... Euch
kann keiner einen Vorwurf machen. Ich bin an allem schuld! Ich hab's
schon früher geahnt, bei unserem letzten Gespräch. Wie jetzt der
Herbst ins Land gekommen ist, da hab' ich es allmählich ganz klar
erkannt!«
»Du mußt nicht so viel reden! Es schadet dir!«
»Ich hab' deine Liebe verraten, weil ich's gewußt hab' und hab' ihn
doch genommen ... und ich hab' seine verraten -- denn ich hab' ihn
ohne Liebe genommen. Das ist das ganze Geheimnis dieser zehn Jahre,
Maxe! So darf man nicht mit Menschen spielen! ... Jetzt weiß ich's!
... Ich bin jetzt besser ... Ich hab' zu viel gelitten! ... Ich bin
über mich hinaus!«
Sie richtete sich mit letzter Kraftanstrengung halb auf und flüsterte:
»Siehst du -- so kommt die dumme Geschichte jetzt ganz gelegen --
diese Ausfahrt von mir bei Wind und Wetter ... Es war ein Leichtsinn
von mir -- ich geb' es zu ... Ich hatt' es nicht bedacht! ... Sag ihm
gleich auf dem Bahnhof, daß es ein Leichtsinn war! ... Sag es Mama
und den Geschwistern ... sag es allen Leuten! ... Sie sollen es alle
glauben, daß es ein Leichtsinn war. Sie werden's auch! ... Warum denn
nicht? ... Du allein weißt es besser! Gib mir die Hand, Schwester ...
schau mir ins Gesicht und verzeih mir!«
Ihre Stimme war noch einmal laut und leidenschaftlich geworden. Die
andere stand erschrocken vor ihr. Sie strich sich mit der Rechten über
die Stirne: »Ulla, um Gotteswillen, was hast du getan?«
»Ich denke, das Rechte! Ich habe eine Ende gemacht. Freiwillig ... Ich
wußte: Die Ausfahrt ~war~ das Ende!« Sie sank zurück. Es war ein
feierlicher Ausdruck in ihren Zügen. »An den anderen liegt mir nichts!
... Aber du, Maxe ... du sollst mich doch so sehen, wie ich jetzt bin
und mich so im Gedächtnis behalten, und es niemandem verraten, bei
Gott im Himmel, -- auch Erich nicht! ... Ich hab' die Waffen gestreckt
vor eurer Liebe ... Es stand schon seit Wochen in mir fest. Wie Erich
nun in Schlesien war, hab' ich's ausgeführt und hab' mir draußen im
Grunewald mein Schicksal geholt ... und ich bereu' es nicht ...«
Ein schwerer Hustenanfall machte ihren Worten ein Ende. Sie rang
nach Luft. Maximiliane lag, aufschluchzend, neben ihrem Bett auf den
Knieen. Es wurde still. Die Kranke dämmerte erschöpft vor sich hin,
ein Rückschlag nach der Anstrengung des vielen Redens. Ihre Gedanken
wanderten wieder. Sie murmelte unverständliche Worte und bewegte
seltsam suchend die Finger. Ihre Schwester wußte nicht, wieviel Zeit
verstrichen war, während sie da kniete. Sie fuhr erst auf, als sich
ihr eine Hand leise auf die Schulter legte. Um sie war heller Tag.
Neben ihr stand eine Pflegerin vom Roten Kreuz. Der Arzt hatte sie zu
ihrer Entlastung geschickt. Er selbst wollte bald nachkommen. Und da
von nebenan schauten angstvoll ihr Bruder Otto und seine Frau herein,
und er flüsterte: »Ich hab' Mama noch gestern abend nach Darmstadt
telegraphiert. Sie kommt heute mittag hier an. Die Grotjans auch.
Peter ist schon da.«
Der kleine Grenadier drückte ihr stumm die Hand. Seine junge Frau
war an seiner Seite. Immer mehr Besucher füllten jetzt zwischen
acht und neun Uhr morgens flüsternd die Vorderräume der Logowschen
Wohnung: Günter von Ottersleben, durch den Fernsprecher aus seiner
Garde-Infanteriekaserne herbeigerufen, und hinter ihm sein Vater,
der General. Und der Freiherr und die Freifrau von Koninck kamen,
Burschen und Ordonnanzen mit Anfragen nach dem Befinden, das Telephon
klingelte, es war ein Treppauf und Treppab, ein Schweigen, ein Raunen,
unruhige Blicke nach den verschlossenen Türen, hinter denen der Arzt
mit den Krankenschwestern waltete.
»Sie gehen jetzt, Herrn von Logow abzuholen?« frug er leise, als sich
Maximiliane fertig machte.
»Ja, ich hab's ihr in die Hand versprochen!«
Der Doktor schaute auf.
»Sehen Sie, daß Sie keine Zeit verlieren!« sagte er sehr ernst.
»Bringen Sie ihn so rasch wie möglich! Sie wissen schon, was ich
meine!«
Es war ein kalter, klarer Wintertag. Die Straßen reingefegt vom
Schnee, der Himmel blau, die Häuser voll Fahnen. Maximiliane ging
das Spreeufer entlang. Wenig Menschen begegneten ihr bis zur
Weidendammer Brücke. Da umfing sie plötzlich das festliche Gewühl der
Friedrichstraße. Mächtige Girlanden hingen drüben an der Kaserne des
zweiten Garderegiments, nach der anderen Seite, gegen die Absperrung
unter den Linden zu, war unter dem Flaggenwald der beiden engen
Straßenfronten alles schwarz von Köpfen -- dahinter undeutlich der
Prunk der Auffahrt zum Kaiserschloß -- im Winde flatternde Federbüsche
der Generale -- schwarz-weiße Lanzenwimpel -- das Schaukeln und
Flimmern der Adlerhelme der Garde du Corps -- verwehte Musik --
wie eine Vision aus dem achtzehnten Jahrhundert die altfränkischen
Galakarossen mit dem hinten stehenden gepuderten Lakaien -- und dann
mit einem Schlag wieder der Alltag, das Hasten und Drängen auf dem
Bahnhof Friedrichstraße, zu dem sie emporstieg.
Sie hatte sich beeilen müssen, um gegen die herabflutenden
Menschenströme den Aufgang zu gewinnen. Atemlos stand sie oben auf
dem Bahnsteig im Wellenschlag der Menge. Es waren nur noch zwei
Minuten bis zur Ankunft des schlesischen Schnellzugs. Aber noch war
seine Tafel nicht aufgezogen und ein Beamter erklärte ihr den Grund:
Schneeverwehung ... Eine halbe Stunde Verspätung ...
Warten ... wieder warten ... Und daheim lag die Kranke ... die
Sterbende ... Sie schaute verstört vor sich hin. Sie wurde im Gedränge
angestoßen ... hin- und hergeschoben ... Langsam trat sie zur Seite,
ging wieder die Stufen hinab, über die Straße, gesenkten Haupts -- sie
wußte selbst nicht, wohin. Ihr Schwesternkleid schaffte ihr Durchlaß.
Auf einmal war sie an der Ecke der Linden, hart an der Ruhmeshalle,
wo eben die Parole ausgegeben war, die immer gleiche an diesem Tag:
»Es lebe Seine Majestät der Kaiser und König.« Sie sah vor sich die
mächtigen abgesperrten Flächen des Opernplatzes, sie sah von der
grauen Riesenfront des Hohenzollernschlosses die Reichsstandarte
purpurn über Berlin wehen, sie sah nach der anderen Seite bis zum
Brandenburger Tor hin den Festprunk der Siegesstraße, die Fahnen
und Kreuze, die Teppiche und Inschriften, sie sah vor sich auf der
lichten Weite des Asphalts Hunderte und Tausende von Offizieren, die
schärpenumgürtet, in lichtgrauem Mantel und hohen Stiefeln aus dem
Zeughaus traten -- sie sah die Federbüsche, die schwarzen und weißen
Roßschweife, die Pickel- und Kugelhauben, die Tschakos, die Adlerhelme
und Tschapkas und Bärenmützen. Und all dies bunte Gewimmel stand mit
einem Schlag still. Die Hände hoben sich zum Gruß -- ein Brausen
und Hochrufen und Tücherschwenken schwoll an den Seiten hinter den
Schutzmannsmauern an und durchzitterte die dunklen Menschenmassen und
rollte, sich immer verstärkend, bis über die Spree. Zwischen ihr und
der Ruhmeshalle war eine breite, freie Gasse. Mitten auf ihr schritt
ein General, sechs jüngere Offiziere ihm zur Linken, in einiger
Entfernung ein Schwarm von Gefolge: der Kaiser kehrte mit seinen
Söhnen vom Zeughaus nach dem Schloß zurück ...
Der Ruf der Tausende hallte Maximiliane im Ohr nach, während sie
sich umwandte und wieder den Weg nach dem nur wenige hundert
Schritte entfernten Bahnhof einschlug, dieser Ruf, der heute in
jeder deutschen Stadt erklang, auf jedem deutschen Panzer, der das
Meer durchfurchte, an jeder fernen Küste des Erdballs, an der die
schwarz-weiß-rote Flagge wehte. Das war das Heer. Das war das Reich.
Das war die Größe. Die eigene Not erschien einem wenigstens einen
Augenblick klein dagegen und kam dann wieder mit aller Macht über sie.
Sie stand und rang die Hände ineinander und atmete auf, als endlich,
endlich der Zug einlief und Erich von Logow ausstieg.
Er war in Zivil. Denn auf den Straßen Berlins durfte er sich heute
nur in Paradeuniform zeigen, und die konnte er erst zu Hause anlegen.
Mit ruhigem Gesicht schritt er dem Zug entlang, seine Handtasche in
der Rechten und erblickte plötzlich Maximiliane und blieb stehen, als
hätte er einen Geist gesehen.
»Du hier?«
»Ja.«
»Was ist denn geschehen?«
»Hast du unsere Depeschen nicht erhalten?«
»Nein!«
»Deine Frau ist sehr krank! ... Komm rasch!«
Er war betäubt. Er fand kein Wort. Stumm folgte er ihr. Als sie in
einem Automobil saßen, wiederholte sie mit erstickter Stimme: »Komm
rasch! ... Sonst kommst du zu spät!«
Und nun begriff er ...
Der Wagen schoß dahin. Erich von Logows Gesicht war fahl geworden.
»Maxe ... Sag mir die ganze Wahrheit!«
Und sie erwiderte, eingedenk ihres Worts: »Ulla war zu leichtsinnig!
... Sie ist ausgefahren. Dabei hat sie sich's geholt! Der Arzt gibt
kaum mehr Hoffnung!«
Sie stiegen aus und eilten die Treppen hinauf. Oben in der Wohnung
waren jetzt noch mehr Menschen. Die Mutter war aus Darmstadt gekommen,
die Grotjans aus Thorn -- all die Ottersleben und ihre Verwandten
waren beisammen. Aber nicht mehr in den Vorderräumen. Sie waren
sämtlich in das Krankenzimmer getreten. Sie umstanden schweigend mit
gefalteten Händen das Bett. Davor der Pfarrer. Der Arzt richtete sich
empor. Er murmelte: »Gott sei Dank! ... Da sind Sie!«
Ulla schlug noch einmal die Augen auf. Eine Bewegung ging über ihr
Gesicht. Sie erkannte die beiden, die an ihr Lager traten. Sie reichte
ihrem Mann die Hand. Es war ein schwaches Lächeln um ihre Lippen. Dann
tastete sie mit der Linken nach etwas. Sie nahm ihren schwindenden
Willen zusammen. Sie suchte es und fand es. Sie hatte, auf der anderen
Seite des Bettes, Maximilianes Rechte ergriffen und hielt sie so fest,
wie drüben die ihres Mannes, und sah die beiden an und bemühte sich,
deren Hände zusammenzulegen. Es war keiner im Zimmer, der das nicht
fühlte. Dann verließ sie die Kraft. Ihre Arme sanken nieder. Arzt
und Pflegerin beugten sich hastig über sie. Maximiliane drehte sich
zur Seite. Sie konnte nichts mehr sehen, so verschleierten ihr die
strömenden Tränen den Blick. Sie hörte nichts mehr. Es war eine tiefe,
große Stille ...
Und in ihr plötzlich die Stimme des Geistlichen: »Vater unser, der
du bist im Himmel! Dein Reich komme ... Dein Wille geschehe, wie
im Himmel, also auch auf Erden ...« eine Bewegung umher -- ein
Aufschluchzen ... da faltete auch sie die Hände ...
»Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!«
Sie sank am Bett der Toten auf die Knie. Ulla lag still. Auf der
anderen Seite kniete Erich von Logow. Vom Fenster her fiel über sie
beide und die Schläferin in ihrer Mitte ein heller Sonnenstrahl ...
~Rudolph Stratz~:
~Der weiße Tod~
Roman aus der Gletscherwelt. 41.-50. Tausend
~Buch der Liebe~
Sechs Novellen. 4. Tausend
~Der arme Konrad~
Roman aus dem großen Bauernkrieg von 1525 5. und 6. Tausend
~Die letzte Wahl~
Roman. 7. und 8. Tausend
~Montblanc~
Roman. 16.-22. Tausend
~Die ewige Burg~
Roman aus dem Odenwald. 9. Tausend
~Alt-Heidelberg, du Feine ...~
Roman einer Studentin. 46.-55. Tausend
~Es war ein Traum~
Berliner Novellen. 7.-9. Tausend
~Gib mir die Hand~
Roman. 20.-24. Tausend
~Ich harr' des Glücks~
Novellen. 7.-9. Tausend
~Du bist die Ruh~'
Roman. 18.-27. Tausend
~Der du von dem Himmel bist~
Roman. 13.-17. Tausend
~Herzblut~
Roman. 42.-51. Tausend
~Für Dich~
Roman. 49.-58. Tausend
~Liebestrank~
Roman. 32.-41. Tausend
~Du Schwert an meiner Linken~
Ein Roman aus der deutschen Armee 59.-68. Tausend
~Seine englische Frau~
Roman. 83.-95. Tausend
~Stark wie die Mark~
Roman. 36.-40. Tausend
~Jörg Trugenhoffen~
Ein deutsches Schauspiel in fünf Aufzügen
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
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Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
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