Die vom Niederrhein

By Rudolf Herzog

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Title: Die vom Niederrhein

Author: Rudolf Herzog

Release date: March 4, 2025 [eBook #75525]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger G. m. b. H, 1903

Credits: Peter Becker, Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)


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Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist
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Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende des Buches
zusammengefasst.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.




Die vom Niederrhein


Roman in zwei Büchern

von

Rudolf Herzog


[Illustration]


Stuttgart und Berlin 1903

~J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger~

G. m. b. H.

Alle Rechte vorbehalten


Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart


Walter Bloem

zu eigen




Erstes Buch




Erstes Kapitel


Schiefergrau schob der Rhein seine Wassermassen an Düsseldorf vorbei.
Er zwängte sich stöhnend durch die Joche der alten Schiffsbrücke und
entpreßte den Bohlen und Planken der bauchigen Brückenkähne denselben
hellsingenden, melancholischen Ton, den einst der lustige Bergwind
dem Holze entlockte, als es noch mit quellenden, steigenden Säften
auf einsamen Nordlandshöhen oder grünen Schwarzwaldgipfeln seine
Kronen wiegte. Ausströmend fand er seine Gelassenheit zurück, trieb
schwerfällig an dem roten Schloßturm der schönen Jakobe von Baden
vorüber, der als altes Wahrzeichen der Stadt in die neue Zeit mit ihrer
alles glättenden, die Erinnerungen auslöschenden Verschönerungssucht
glücklich sich hinübergerettet hat, und nahm die Parade ab über
einen zusammengewürfelten Haufen baufällig scheinender Hütten und
Baracken, die sich wie eine Zigeunerhorde an die massigen Hüften ihrer
Nährmutter, den kalt und erhaben seine Umgebung beherrschenden Bau der
Kunstakademie, herandrängten. Dann tauschte er kurz Red’ und Antwort
mit dem leisquellenden Wasser des Sicherheitshafens, überströmte
kräftig den Rand der Golzheimer Insel, große Lachen in dem sandigen
Boden zurücklassend, und entschwand nahe Kaiserswerth, der alten,
efeuumsponnenen Feste, die einst Pipin erbaute und die die Entführung
des vierten Heinrich sah, in einem scharfen Bogen gen Holland.

Unaufhörlich ging der Regen nieder. In der Nacht hatte er begonnen, und
jetzt, nachdem die Glocken der Stadt längst Mittag verkündet hatten,
zeigte er sich noch keineswegs zur Rast gewillt. Wer aus dem Rheintor
heraustrat, sah Strom und Ebene, soweit der Blick reichte, in einen
engmaschigen, grauen Schleier gehüllt, der nur dicht über dem Wasser
eine langgestreckte, silberne Kante aufwies, den zitternden Reflex, den
der beständige scharfe Anprall der Regentropfen auf der Wasserfläche
schuf. Die Häuser der Ortschaft Oberkassel jenseit der Schiffbrücke —
»auf der anderen Seit’« sagt der Eingeborene — waren nur als dunkle
Schattenmassen erkennbar, und die Pappeln, Erlen und Weiden, die dem
Stromlauf folgen und dem Bild des Niederrheins den besonderen Charakter
geben, geisterten nur wie spindeldürre Finger durch die Luft, wenn eine
schwächliche Brise den Regen zu Tal drückte.

Die ganze Atmosphäre war gesättigt mit jener feuchten, weichlichen
Wärme, die das Menschenblut zur Unrast treibt.

Kein Ton als das einförmige Triefen des Regens, das Singen des
Brückenholzes und zeitweilig ein dumpfes Aufbegehren der drängenden
Wassermassen im Strombett oder an den Bordschwellen.

Jetzt zitterten die sentimental näselnden Laute einer Handharmonika
hindurch. In der Deckskajüte eines am Kai verankerten Schleppkahnes
rekelte sich die lange, verwitterte Gestalt des Schiffers auf dem
Rücken. Über den Kopf hielt er mit ausgestreckten Armen die Harmonika,
auf der er schläfrig allerlei Volksweisen improvisierte, wie sie just
unter dem Griff der hin und her stolpernden Finger herauskamen. Durch
das weitgeöffnete Hemd lugte unbekümmert die zottig behaarte Brust, ein
schmaler Gurt schnürte die englischen Lederhosen über den Hüften kraus
zusammen, an den Füßen, die in graublauen Socken staken, tanzten im
Takt der Musik rote Plüschpantoffeln.

»Lambert!« tönte rufend eine Frauenstimme aus dem Unterdecksraum.

Der Schiffer war viel zu faul, eine Antwort zu geben.

Ein Kopf wurde in der Treppenluke sichtbar.

»Wat machste, Lambert?«

»Musik,« tönte es lakonisch zurück.

»Ach e nee,« machte die Frau höhnisch verwundert und kletterte nach
oben, »wat du nich sagst! Ich hatt’ jejlaubt, du tätst schnarchen!«

»Domm’ Grielächer,« schimpfte der Rheinschiffer, drehte ihr seine
Kehrseite zu und versuchte, auf dem Bauche liegend, weiterzuspielen.

Die Frau prüfte das Wetter.

»Jesus Maria Jusepp, wat es dat en Leid! Et rejent un et rejent.«

»Kuns’stück,« entgegnete verächtlich der Harmonikaspieler und zog die
Register zu einem kläglichen Gewimmer. Mehr sagte er nicht.

Die Frau sah über die Achsel zurück und wartete.

»Du,« sagte sie nach einer Weile, in der nur noch das Surren des Regens
vernehmlich war, und tippte den Gefährten mit dem holzbeschuhten Fuß
in die Seite, »spürste noch nix oder spürste jet? Mr kann sich an de
eigene Schlauheit verfresse, wenn mr kein Lust hat. Wat es dat also mit
dem ›Kuns’stück‹?«

»Och, Tring,« höhnte der Ehegatte, »ich jlöw, du bis us Dülken
jebürtig, wo die Gecke herkomme. Solang ich auf dem Rhing fahr un mein
Vader un mein Bestevader: wenn mr von Kölle zu Tal kommt, oder von
Wesel zu Berg, un et e su rejent wie heut, am heilige Sonntag et e su
rejent, na, wat es dann?« Er machte eine schlappe Viertelwendung und
gähnte. »Domm’ Dier, die Sank-Sebastian-Brüder in Düsseldorf feiern
Schützenfest! Den ihre Schutzpatron, dat is ene brave Heilige. Dä will
nich, dat en Malör passiert, deshalb speuzt er ihne dat Pulver naß.«

»Da tät ich doch hinlaufe und mich aufnehme lasse in die Brüderschaft.«

»Ich hau dat nich nüdig.«

»Ah so! E nee — — jewiß nicht — —« machte die Vierschrötige maliziös.
Und mit einem Achselzucken: »ful’ Thommes!«

Dann retirierte sie, mit den Holzpantoffeln klappernd, lachend unter
Deck.

Der Schiffer gab sich gar nicht erst die Mühe, über ihre Reden
nachzudenken. Er blinzelte noch einmal nach dem Häusergewirr der
Altstadt, über deren Dächern der Regen wie ein Dampf lag, und schlief
ein. Er hielt seinen Sonntag. — —

Über die Kaimauer gelehnt, hatte ein junger Mann den Diskurs der
beiden belustigt mit angehört. Der Regen füllte die Krempe seines
Hutes und rann an dem schwarzglänzenden, eleganten Gummimantel glatt
herab. Er achtete nicht darauf. Das schmalgeschnittene Gesicht — eher
das eines Knaben als eines Neunzehnjährigen — war durch das Wetter
leicht gerötet, das dichte, braune Haar klebte auf der Stirn, die
dunkelgrauen Augen blickten klar und fest. Diese Augen machten die
feine Jugendlichkeit der Züge wieder wett. Sie verliehen eine Reife,
die von den weichen, knabenhaften Bewegungen seltsam abstach.

Der junge Spaziergänger richtete sich auf. Er schüttelte sich, daß
die Tropfen ihn umzischten, und sog dann mit Nüstern und Lungen den
charakteristischen Duft des Rheintals ein, den Duft, der zwischen Teer
und Algen die Mitte hält.

»Düsseldorfer Luft!« dachte er stolz. »Ich glaub’, ich würde zu Grunde
gehen, wenn mir die auf die Dauer entzogen werden sollt’.«

Er dehnte und reckte Arme und Körper.

»Was die Leute nur immer von der Schönheit des Oberrheins fabeln! Diese
Spießbürger haben nur Sinn für das, was ihnen recht augenfällig auf dem
Präsentierteller entgegengetragen wird. Aber hier? Wenn’s dort hinten
über die weiten, einsamen Wiesen huscht, über die Wasserarme, um die
Erlenbestände? Und der Horizont ganz, ganz fern — —. Was liegt da alles
drin an Unerklärlichem, Schönem, Sehnsuchtsvollem — an Poesie — —.
Schreien möcht’ man, schreien!«

Er fuhr sich mit dem nassen Rockärmel über das erhitzte Gesicht; das
kühlte ihn auf der Stelle ab.

»Na ja,« dachte er weiter, »bist schon ein rechter Heimatsmensch, dem
die Scholle nicht von der Stiefelsohle geht!«

Er lauschte.

Aus der Ferne klangen die verwehten Töne eines marschierenden
Musikkorps. Nur die große Trommel und die Becken brachen sich vorläufig
Bahn.

»Bumm, bumm, bumm — — —«

»Zingda, zingda, zingda, zingda!«

»Aha, der Schützenzug! Nun geht’s auf den Festplatz. Die Kirmeß gehört
dazu, die gehört zur Volkspoesie des Niederrheins. Vorwärts, ›Hans der
Träumer‹!«

Und der junge, hübsche Mensch versenkte die Hände in den schräg
anliegenden Taschen seines Gummimantels und schritt im Takt der
unablässig herüberdröhnenden Paukenschläge, den Kopf zur Abwehr des
Regens leicht vorgebeugt, die Melodie des Schützenmarsches pfeifend,
den Kai entlang. Er umging die Schleife des Sicherheitshafens,
konnte sich nicht enthalten, die wenigen Schritte zum Eiskellerberg
hinaufzuspringen, um noch einmal das Auge über das in den Konturen
verschwimmende Rheinpanorama schweifen zu lassen, und durchquerte
darauf die Anlagen des Hofgartens, um die kürzeste Straße nach dem
Festplatz auf dem Golzheimer Gelände zu gewinnen.

Das Straßenbild hatte sich mit einem Schlage verändert. Die gute
Düsseldorfer Bürgerschaft, vor allem der hier von alters her kräftig
gedeihende Mittelstand, stets bereit, jede öffentliche Lustbarkeit
als eine Art ausgedehnten Familienfestes zu begehen, hatte kaum die
ersten Klänge der Schützenmusik vernommen, als sie auch schon mit Kind
und Kegel den Ausmarsch begann. Der Regen genierte nicht. Gerade er
trug dazu bei, den niederrheinischen Witz zu üben, wenn eine Hausehre
couragiert die Kleider hochnahm, um sich durch die nassen Grasrabatten
einen Weg zu bahnen, wenn ein Unglücklicher verzweifelt seinem Hut
nachsetzte oder ein umgekippter Regenschirm sich in die Lüfte hob.

»Achtung, Pitter, die Menagerie vom Festplatz hält nich dicht. Süch
ens: der Storch im Salat!«

»Wat denn! Dat is ’ne Störchin! Awer ’ne komplette.«

»Ach so, Sie sind dat, Frau Schmitz? Nix för ongot!«

»Da — —! Da! — Da ging ’ne Hot heidi! Kß! Kß! Kß!«

Schweißgebadet stürzte der Besitzer vorbei. Ein allgemeines »Ah«
empfing ihn.

»Schnelllöper, Schnelllöper!! — Akurat wie Fritz Käpernick! Un alles
omsünst. Et werd nich emol affjesammelt.«

Der umgekippte, vom Winde hochgehobene Regenschirm wurde von der
Menschenkolonne mit staunendem: »Luffballon — —! Hurra: Luffballon!«
begrüßt.

»Minsch, Minsch,« kreischte einer aus der Menge, »wat ham’mer en Freud!«

Und sofort fiel der ganze Chorus ein: »Wat ham’mer en Freud!«

Alles elektrisiert. Sommerliche Karnevalsstimmung.

Und von der Flanke her immer näher, dröhnender und gellender, die Musik.

»Bumm, bumm, bumm — — —«

»Zingda, zingda, zingda, zingda!« — —

Der junge Naturschwärmer vom Rheinkai befand sich bald inmitten der
Menschenstauung, die an der Ehrenpforte zwischen dem eigentlichen
Schützenplatz und der mit Jahrmarktbuden und Schaustellungen jeder
Art besetzten Festwiese den Einzug der Sankt Sebastianus- und der
ihr verwandten Gilden erwartete. Altem Brauche nach hatten die
Schützenbrüderschaften am Vormittag das Hochamt gehört. Nun zogen
sie heran, mit Gott und der Welt eines frohen Sinns. Die »gedienten«
Leute faßten Tritt, die übrigen stampften lachend und plaudernd
hinterdrein, die Beine in weißen Leinenhosen, »Porzellanbuxen«, wie
sie der Volkswitz nennt, dazu schwarzer Bratenrock und Zylinder
aller Dimensionen. Auch grünes Jägerhabit und Lodenhut mischte sich
darunter. Die Büchse geschultert, die Musik vor den Fahnenzügen
verteilt, dahinter der Schützenkönig des vergangenen Jahres, ein
biederer Handwerksmeister mit einer fast über seine Kräfte gehenden
Hoheitsmiene, mehr einem Fürsten von Gottes Gnaden ähnlich als dem
Menschenpack, dem er morgen wieder die Schuhe flecken und sohlen würde,
so schwand der Zug — Gewerbetreibende, Kaufleute, Künstler — mit einer
Salve derber Zurufe und lustiger Grußworte überschüttet, durch die
Ehrenpforte, um sich bald darauf an den Schießständen zu verteilen
und das Königsschießen für das neue Schützenjahr zu beginnen. Wer von
den Zuschauern Karten für den Schützenplatz erworben hatte, drängte
nach. Der Rest, meist junges Volk aller Stände, verteilte sich auf
der Festwiese, auf der jetzt, nach Beendigung des nachmittaglichen
Gottesdienstes, die Bierzelte eröffnet wurden, die Jahrmarktsbuden
zur Schau einluden, die Karussells ihre verstimmten Orgeln auf die
Nerven losließen, die Clownkapelle des Kölner Hänneschentheaters ihre
ohrenzerreißende Musik anhob, die Glocken bimmelten und die Aufrufer
mit heiserer, in der Fistel jäh versagender Stimme unermüdlich das
schiebende, stoßende, lachende, kreischende Publikum zum Besuch
anfeuerten: »Hier herein, meine Herrschaften! Das muß man gesehen
haben! Das muß man mitgemacht haben! Das muß man seinen Kindern und
Kindeskindern erzählen können! Das gehört unbedingt zur Bildung!
Herein, meine Herrschaften; das größte Schwein der Welt für zehn
Pfennige — —!«

»Hallo, Steinherr, hierher!«

Der junge Mann im Gummimantel, der strahlend vor Vergnügen im
dichtesten Trubel eingekeilt stand, hob sich auf den Zehen, um über die
Köpfe der anderen hinweg die Rufenden zu erspähen. Jetzt hatte er sie
entdeckt und winkte ihnen mit der Hand zu.

»Ich kann hier nicht heraus!« rief er. »Keine Möglichkeit.«

Aber schon hatte einer der außerhalb des Ringes stehenden jungen Herren
einen anderen auf die Schulter gehoben, der nun von oben herab mit
seinem Spazierstock nach Steinherr angelte.

»Schnappen Sie zu, Steinherr! Wir ziehen.«

»Das Angeln an dieser Stelle ist verboten!« schrie einer aus der Menge.

»Awer doch niemals för de Jeistlichkeit. Die hat dat Angelprivileg,«
mischte sich ein anderer ein.

»Wo is denn hier Jeistlichkeit?«

»Sühst du denn nich? Dat Jungken hät doch ’ne lange Rock, so schwarz
wie nur ’ne Deuwel oder ’ne Kaplan.«

»Oha!« rief dem Spottvogel ein dritter zu, »komm du nur morjen in die
Beicht’. Dir kann’t sehr jut gehen!«

Dann ließ man Steinherr bereitwillig durch. Ein keckes Wort ist
am leichtlebigen Niederrhein eine bessere Hilfe als Obrigkeit und
Schutzmannschaft.

Der junge Mann war lachend zu seinen Freunden getreten.

»Guten Tag, meine Herren. Was? Ein fideles Leben hier. Sie haben
wirklich Glück mit Ihrer Garnisonstadt. Wollen Sie mich auf Ihren
Bummel mitnehmen?«

Die jungen Leutnants in elegantem Zivil — ein paar Neununddreißiger und
ein paar Fünfter Ulanen — die, wie das ganze Offizierkorps, im Hause
des Großindustriellen Steinherr fleißig verkehrten, nahmen den Sohn des
Hauses in ihre Mitte und zogen weiter auf Abenteuer aus, wie der Tag es
gebot.

»Na, wenn Sie zu Ostern Ihr Abitur haben, Steinherr, werden Sie doch
auch bei uns bleiben. Welchem Regiment wollen Sie denn die Ehre
schenken?«

Hans Steinherr schüttelte den Kopf.

»Sprechen wir um Gottes willen nicht davon. Ich habe genug darüber zu
Hause zu hören. Es ist ja selbstverständlich eine hohe Ehre, Offizier
zu sein, aber — aber es gibt doch auch noch andere hohe Ehren.«

»I natürlich! Zum Beispiel: Sohn des Hauses Steinherr zu sein.«

»Die schönste Frau Düsseldorfs zur Mama zu haben.«

»Und selbst ein so verteufelt hübscher Bengel —«

»Stopp, stopp, meine Herren; ich akzeptiere nur die Ehre, die meine
Mama betrifft.«

Er nahm dankend, etwas verlegen, den Hut ab. Die jungen Offiziere
warfen übermütig salutierend die Hand an die Hutkrempe. —

Die Julisonne arbeitete sich nun doch noch durch. Ihre Strahlen
brachen in die letzten Regenschauer, und alle Feuchtigkeit, die noch
zwischen den grauen Wolkenfetzen und dem morastigen Erdboden schwebte,
wurde aufgesogen. Ein prachtvoller Regenbogen, in den klarsten Farben
prangend, spannte sich von der Golzheimer Insel bis weit hinein in die
Stadt Düsseldorf.

Die jungen Leute hatten die Zeltgassen durchquert, sehr feierlich das
Kölner Hänneschentheater und etwas weniger ehrerbietig die Riesendame
besichtigt, hatten sich elektrisieren und photographieren lassen, dann,
um die Kraft der Muskeln zu erproben, ein Dutzendmal »den kleinen
Lukas gehauen« und sich kindisch gefreut, wenn unter dem schweren
Hammerschlag die Metallscheibe an der Stange emporsauste und an der
Spitze die Glocke anschlug. Sie hatten in den Schießbuden holländische
Tonpfeifen zerschossen und allerlei sonderliche Artigkeiten mit den
Schießbudenmädels ausgetauscht, waren juchzend auf dem Karussell
gefahren, immer zu zweit auf dem mächtigen Rücken eines hölzernen
Löwen oder einer springenden Pantherkatze, und hatten so viel Allotria
getrieben, wie überschüssige Jugendlust unter dem Eindruck einer
Festwiese, sinnverwirrenden Lärms und ausgelassenster Kirmesfreiheit es
nur vermag.

Hans Steinherr war immer mitgezogen. Er lärmte nicht, wie die
übrigen, aber er genoß innerlich alles und jedes doppelt. Sein feines
Knabengesicht glühte, seine Nasenflügel spannten sich, sein Herz
hämmerte vor Lust. In ihm quoll etwas empor, was er noch nie mit
solcher Macht gespürt hatte. Es war ein Kraftgefühl ohnegleichen,
ein Gefühl, etwas Unerhörtes zu vollbringen. Noch nie hatte er so
die Freiheit genossen, so stark den Puls des Lebens empfunden. Ein
reiches Muttersöhnchen, hatte er sich zumeist mit einem Blick aus
der Vogelschau begnügt und das Fehlende dem Spiel der Phantasie zur
Ergänzung überlassen. Nun stand er dem Volksleben Brust an Brust
gegenüber, fein farbendurstiger Sinn trank sich einen Rausch, sein
niederrheinisch Blut, das so schön in Zucht und Ordnung gehalten worden
war, klopfte ihm von den Fingerspitzen bis in die Schläfen.

Eine mächtige Wasserlache hatte sich diesseit des Engpasses, der
schmalen Landzunge, die das Inselterrain mit dem Stadtgebiet verband,
angesammelt. Drüben stand ein junges Mädchen, braun wie eine Kastanie,
dem Alter nach ein Kind, fünfzehnjährig. Aber das fadendünne
Sommerkleid, das erste fußlange wohl, das sie trug, spannte sich schon
unter dem Druck heimlich drängender Formen. Der altmodisch breite
Schäferhut aus gebleichtem Stroh saß auf einem Paar Flechten, deren
volle Enden bis in die Kniekehlen schlugen. Sie ließ die verträumten
Augen über die breite Wasserlache nach dem lärmenden Zeltlager
schweifen und pendelte mit dem kleinen Fuß, der in derbem Leder stak,
über den Rand der Sandleiste.

Steinherrs Gesellschaft war herangekommen und rief dem hübschen Kinde
Scherzworte zu. Einer begann das Lied von den zwei Königskindern:

    »Sie konnten beisammen nicht kommen,
    Das Wasser war viel zu tief.«

Da setzte Hans Steinherr, einer impulsiven Regung nachgebend, im
Sprungschritt durch das Wasser, daß die Tropfen ihm um die Ohren
flogen, erreichte atemlos den jenseitigen Rand, schlang den Arm um
die Kniee der überrumpelten Kleinen, hob das heftig sich wehrende
Geschöpfchen empor und watete zurück, unbekümmert darum, daß das
aufklatschende Wasser ihm die Beinkleider verdarb und ihm in die
Stiefel rann.

Die jungen Offiziere begleiteten als einzige Zuschauer den Vorgang
mit lautem Hallo. Aber das zarte Ding erwies sich als eine ungefügige
Wildkatze. Es packte den ungerufenen Ritter, der sich in der Rolle
des heiligen Christophorus versuchte, mit beiden kleinen nervigen
Fäusten in den Stirnlocken und bedrängte ihn so heftig, daß er fast
zum Straucheln kam. Es wurde ihm purpurn vor den Augen. Er spürte
das stürmende Blut des jugendlichen Mädchenkörpers dicht über seinem
eigenen jugendlichen Herzen, das sich mit einem fremden im Schlag
verschmolz. Das war etwas noch nie Empfundenes. Noch nie hatten seine
Knabenhände ein Mädchen berührt. Tausend Gefühle durchwühlten ihn in
Sekundenschnelle, ließen Duft, Klang und Farbe in ihm entstehen, regten
ihn an und verwirrten ihn durch ihre Süße, schlugen ihn gleichzeitig
zum Ritter und nahmen ihm die Kraft.

»Ruhig, du, oder ich küß dich!« stieß er plötzlich hervor.

Er wußte selbst nicht, woher er die Worte genommen hatte.

Jetzt setzte er sie am anderen Ufer ab und wischte sich aufatmend die
Stirn. Seine Hand war blutig, als er sie zurückzog.

»Die kleine Hexe hat Sie gekratzt?«

Er nickte, verlegen lachend. Daß sie ihn auch empfindlich mit den
strampelnden Füßen getreten hatte, behielt er für sich.

Aus den Augenwinkeln sah er scheu nach seiner kleinen Dame, die trotzig
Kehrt gemacht hatte, im Begriff, durch das Wasser wieder zurückzuwaten.
Er trat zögernd auf sie zu, und sie streifte mit einem hastigen
Seitenblick die Schramme auf seiner Stirn, dicht unter den lockigen
Haarsträhnen.

»Nun?« fragte er mit angenommenem Knabenhochmut.

»Ich will hier nicht sein,« brachte sie hervor, und die dunkelblauen
Kinderaugen verschleierten sich.

Da hob er sie, als könnte das gar nicht anders sein, zum zweiten Male
auf und trug sie stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, zurück. Sie
schien ihm schwerer als vorhin, obwohl sie sich nicht regte. Drüben
setzte er sie behutsam ab. Einen Herzschlag lang standen sie sich
schweigend und verstört gegenüber und sahen sich an. Dann nahm er, wie
er es im Salon seiner schönen Mama zu tun pflegte, die Mädchenhand, die
noch in der seinen lag, und führte sie an die Lippen.

Hui, flog die Kleine davon, als wäre sie nie gewesen. Die Zöpfe
flatterten hinter ihr drein und sprühten Funken in der tiefstehenden
Sonne. Fort war sie.

Und Hans Steinherr, ohne sich um die zurückbleibende Gesellschaft
zu kümmern, die bereits mit einem Rudel flügger Mädel kokettierte,
wandte der Festwiese den Rücken und ging den Weg zurück, den er am
Nachmittag gekommen war. Durch den Hofgarten schritt er und über den
Eiskellerberg, immer weiter, den abendlich stillen Kai entlang, den
geliebten Rhein zu Füßen, nichts hörend, nichts sehend; mit den Augen
eines, der unvermutet in die Wunder eines Feenlandes geblickt.

Als er die Schiffbrücke erreicht hatte, betrat er, noch immer ganz
versunken in seinen rätselhaften Zustand, die schwanken Bohlen. Er
hatte schon ein paar Schritte zurückgelegt, als er hinter sich einen
kurzen, groben Zuruf vernahm. Er fuhr zusammen, wachte auf und wandte
sich um. Was wollte denn nur der gestikulierende Mensch von ihm?

»Sie, jong Här, dat Brückengeld schaffen Sie allein auch nich aus der
Welt!«

Ach so, er hatte vergessen, den Brückenzoll zu entrichten. Brückenzoll?
Wo war er denn und wohin wollte er nur? Unter ihm plauderte der Rhein
so geschäftig, wie er ihn nie glaubte gehört zu haben: Neuigkeiten,
Heimlichkeiten. Und er dachte: Sag’s nur laut, Alter, ich versteh’ dich
doch. Dabei lächelte er ganz still in sich hinein, denn er wußte gar
nichts. Nur so verwandt fühlte er sich plötzlich mit all dem Leben und
Weben der Natur um sich her, so vertraut, so zugehörig.

Er kehrte zum Brückenhäuschen zurück, ließ sich, während er den Zoll
entrichtete, ruhig den mißtrauisch prüfenden Blick des Einnehmers
gefallen und nahm den Weg wieder auf. Mit einem Male zuckte ihm ein
Marschtempo in den Beinen. Und sofort streckte er den schlanken Leib,
richtete sich auf der Brücke zusammen und marschierte in dröhnendem
Taktschritt ab. Dabei sang er aus voller Kehle.

Der Wärter sah ihm kopfschüttelnd nach.

»De hät bereits Öwerfracht,« meinte er zum Einnehmer und machte mit dem
zerkauten Ende seines Pfeifenstiels eine bezeichnende Geste nach der
Gegend des Schützenplatzes.

Hans Steinherr aber schritt unbekümmert seines Wegs. Er hatte sein
Marschtempo noch beibehalten, als er schon längst in den Fußweg linker
Hand eingebogen war und in den Rheinwiesen wanderte. Seinen ganzen
Vorrat von Volksliedern sang er herunter. Wie die Glieder einer Kette
ließ er sie aneinander anschließen, ob sie passen wollten oder nicht.
Er fühlte sich kindisch wie ein Abcschütze und abgeklärt wie ein Greis.
Wie seltsam weich die Luft war! Wie Samt. Und gerade so war’s in seinem
Innern. Ganz, ganz weich .... Und mitten in seiner Freude ertappte er
sich dabei, wie er ein paarmal heftig schluckte. — So bemitleidenswert
kam er sich plötzlich vor, trotz seiner Gehobenheit.

»Heißa, heißa!« schrie er laut hinaus und begann ein tolles Rennen.
Diese verrückte Sommerabendstimmung wollte er schon unterkriegen.

Nun stand er, festgebannt. Vor ihm flammte ein Hochofen des
Industriedorfes Heerdt, aber doch nur wie ein Widerschein der feurigen
Lohe, die über der altertümlichen Stadt Neuß und ihrem ragenden Dome
lag.

Die untergehende Sonne.

Mit gefalteten Händen stand er, den Hut unterm Arm, feierlich,
unbeweglich, staunend, als hätte er nie zuvor das Himmelsschauspiel
genossen. Tönten nicht auch Harmonien um ihn her? Er horchte gespannt
und erschauerte. Was war das? Hatten sich seine Sinne verfeinert?
Konnte er die Sonne singen hören und die Farben gleichsam als Duft
empfinden? Seit wann, seit wann — —? Darüber grübelte er nach und hörte
sein Herz schwere Schläge tun.

Der Sonnenball war gesunken und entschwunden. Aber die Luft war noch
vollgesogen von dem Licht, das erst mählich zerfloß. Dann blinzelten
ein paar Sterne, und das Wasser warf ihr Bild zurück. Es sah aus, als
ob auf dem Rhein Irrlichter schwämmen, kein Hauch weit und breit.

Behutsam, als ob er den Gottesfrieden nicht stören dürfe, glitt Hans
Steinherr auf einen Weidenbaum zu, der in phantastischer Gestaltung aus
dem Ufersande ragte. Hier stand er, den Arm um den Stamm geschlungen
und lauschte. Er belauschte die neue Welt, die sich vor ihm aufgetan
und die ihn doch vor kurzem noch die alte dünkte. Und er belauschte den
neuen Menschen, der sich da heimlich in ihm regte und dehnte und alles
mit seinem Wesen zu erfüllen trachtete.

In der Ferne sah er ein Licht auftauchen. Es kam stromab und wuchs
schnell heran. Jetzt unterschied er die Laterne eines Dampfers, der
verspätet zum Hafen eilte. Morgen, in junger Sonne, würde er seine
Fahrt zu Tal wieder aufnehmen, dem Meere zu. Mit können — mit können!
Und mit den Atemzügen des Rheins, mit den leisen, schmalen Wellen, die
das Ufer küßten und entflohen und wiederkamen und wiederkamen, ohne
sich greifen zu lassen, durchzitterte ihn die Sehnsucht nach dem Leben.

Er war ganz wach, so wach, daß er sogar den Rhythmus des Rheins mit dem
Rhythmus seines Herzens verglich. Das däuchte ihn so wunderlich, daß er
am liebsten laut über sich selbst gelacht hätte. Aber er traute sich
nicht. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, denn er mußte ja die Rhythmen
in Worte kleiden. Er mußte, mußte! Es war ein Zwang und eine Befreiung.
Süß, herb; trotzig, weich. Dann sprach er eine Weile atemlos vor sich
hin, und plötzlich sprang er auf.

Beschämt; selig. Heiß bis unter die Haarwurzeln.

Er, Hans Steinherr, der Primaner, der Ostern ins Examen steigen würde,
hatte ein Gedicht vollbracht, sein erstes, allererstes — —! Es handelte
vom Rhein, dem alten, dem geliebten Rhein. Und — überdies noch von — —
Liebe — Liebe? Was war denn das für ein Begriff? Wie? He? Antwort!

»Ach was, ich weiß nicht,« lachte Hans laut hinaus, und einem neuen
jähen Übermutsdrange folgend, rannte er wie ein Füllen durch die
im Mondschein glänzende Wiese und rastete nicht, bis er den ersten
Tanzsaal Oberkassels an der Schiffsbrücke erreicht hatte, aus dem
Juchzen und Stampfen in die Nacht hinaus scholl.

»Wenn die Mama ihren wohlerzogenen Sohn so sehen würde,« dachte er.
»Sie würde es nicht glauben.«

»Und ich glaub’s fast selber nicht,« fügte er laut hinzu. »Herr Gott,
ich war doch den ganzen Nachmittag in Gesellschaft von Offizieren. Bis
— nun — bis — Ach, was geht mich die kleine Kröte an? Frech war sie
und — Donnerwetter, wie lieb so ’n Ding ist, wie — wie — — Hans, du
hast einen Schwips!«

Nun wollte er sich vor Lachen ausschütten. Er war wie ausgewechselt.
Dann hörte er aufmerksam der Tanzmusik zu, die aus den geöffneten
Fenstern des Wirtshauses drang; ganz ernsthaft, als horchte er auf eine
Offenbarung. Er unterschied deutlich die Uniformen der Husaren, der
Ulanen, der Infanteristen, sah die gebräunten Gesichter der wackeren
rheinischen Jungens, die, stolz auf ihr »zweierlei Tuch«, den Ballsaal
beherrschten und den Kopf so dicht über die brennendroten Wangen ihrer
Tänzerinnen gereckt hielten, daß diese nicht wußten wohin damit, um den
vielen genierlichen Tanzküßchen zu entgehen. Mitten im Saale entstand
eine Stockung. Ein Zivilist hatte die Kühnheit gehabt, von der Schönen
eines kleinen, windigen Neununddreißigers eine Extratour zu begehren.
Der Soldat lehnte verächtlich ab. Ein Wortwechsel folgte, in dem der
Soldat »Rheinkadett« und der Zivilist »Sandhase« schimpfte; eine kurze,
aber umso schnellere Prügelei — und alles tanzte mit verdoppelter
Hingebung weiter. Die Leute hatten nicht viel Zeit, sie mußten
pünktlich, zur Sekunde, in den Kasernen sein.

Hans Steinherr lauschte mit glänzenden Augen. Was war das für ein Tag!
Und heute mittag erst hatte er ein Loblied auf das niederrheinische
Land angestimmt und sich einen Heimatsmenschen genannt. Kannte er denn
diese Heimat? Mit Ausnahme der Szenerie? War das nicht vielleicht, rein
äußerlich, der ererbte Stolz auf die Vaterstadt, auf sein Düsseldorf
gewesen?

Und plötzlich packte ihn der Wunsch nach lauter, lustiger Kumpanei.

Es fiel ihm ein, daß er sich als Schüler des Gymnasiums des
Wirtshausbesuches zu enthalten habe. Bisher hatte er das nicht als
Entbehrung empfunden. Zu Hause herrschte genug geselliges Treiben,
und die Mama liebte keine Extravaganzen an ihrem Sohne. In diesem
Augenblicke kam ihm das gesellschaftliche Leben daheim wie bestellte
Schablonenarbeit vor. Er hätte die Komplimente und Gesprächsthemen
am Schnürchen hersagen können. Alles sehr hübsch, sehr witzig sogar.
Aber das wahrhaft Rassige, das durch alle sieben Himmel Jauchzende,
das Ursprüngliche fehlte. Der Inhalt und Ausdruck der Jugend. — Hans
verspürte zum ersten Male seine neunzehn Jahre.

»Verwünschtes Pennal,« murrte er. »Na warte, noch ein Semester, und ich
habe dich für ewig im Rücken.«

Wohin also nun?

Ihm fiel der »Malkasten« ein. Sein Vater gehörte der
Künstlergesellschaft als passives Mitglied an. Bei Tisch hatte er davon
gesprochen, heute abend, wenn das Wetter sich klären würde, im Garten
des Malkastens, dem alten, schönen Jacobischen Park, in dem auch Goethe
einst gelustwandelt, mit einigen Herren eine Bowle zu trinken.

Also zum »Malkasten«, so schnell ihn die Füße trugen.

Der Brückenwärter auf der Düsseldorfer Seite, an dem er vorüberrannte,
schien ihn wiederzuerkennen. »Hä ’s ömmer noch jeck,« knurrte er und
machte ironisch einen Sprung beiseite. —

Außer Atem langte Hans vor dem Malkasten an. Hastig öffnete er das
Gittertor und prallte heftig gegen einen Herrn, der es ebenso eilig zu
haben schien, hinauszukommen, wie der andere hinein.

»Hoppla, Verehrtester!« rief der Herr lachend und faßte ihn mit beiden
Händen um die Taille. »Um ein Haar, und Sie hätten sich ins Unglück
gestürzt. Sagen Sie mal, Sie wollen doch nicht ernsthaft da hinein?
Zu den Neunmalweisen in der phrygischen Mütze mit der Troddel dran?
Junger, junger Mann!«

»Das beabsichtige ich freilich,« versetzte Hans Steinherr kurz.

Der andere aber ließ sich durch den Ton des Gekränktseins nicht
abschrecken. Er führte den Jüngling unter die nächste Laterne und sah
ihm mit gemachtem Ernst eindringlich in die Augen. Dabei parodierte
er die Schülerszene des Faust: »Ihr seid allhier erst kurze Zeit
und kommet voll Ergebenheit. — Denn ich sah Sie noch nie vordem,
Verehrtester. — Ihr kommt mit allem guten Mut, leidlichem Geld und
frischem Blut. Möchtet gern was Rechts hier außen lernen. — Sehen
Sie, wenn ich der Mephistopheles wäre, für den sie mich da drinnen
verschreien, so müßte ich jetzt mit Salbung sagen: Da seid Ihr eben
recht am Ort. Aber das wäre verdammt gelogen. Weisheit ist nicht
verdaulicher, wenn sie altbacken genossen wird. Und nun entscheiden
Sie sich. Wollen Sie hinein zu den Perücken, die Simson, als er die
Philister erschlug, übersah, weil er sie für Haubenstöcke hielt, oder
wollen Sie mit mir, in irgend eine Vagabundenschenke, aber unter
Geschöpfe Gottes, die lebendiges Fleisch auf dem Gebein haben.«

»Vorwärts,« bestimmte Hans und schob resolut den Arm in den des
Unbekannten. Nach den vielen Wundern des Tages hatte er das Verwundern
verlernt. Zudem: der Mann imponierte ihm.

Der aber streifte den schnell Vertraulichen von oben herab mit einem
kurzen, prüfenden Blick und schritt, ohne von seinem Begleiter
vorderhand weiter Notiz zu nehmen, eine italienische Opernarie summend,
durch die Straßen, die zur Altstadt führten.

Hans Steinherr hatte unterwegs Gelegenheit genug, den ihm so plötzlich
bescherten Wandergefährten mit Muße zu betrachten. Es war eine
schlanke, sehnige Figur, nach neuester Mode gekleidet. Aber die Eleganz
wurde mit solcher Selbstverständlichkeit getragen, daß sie nicht weiter
auffiel. Der Kopf war der eines vornehmen Mannes; scharf geschnitten,
mit vorspringender Hakennase, unter die sich ein weicher, blonder
Schnurrbart schmiegte; mit blauen, echten Germanenaugen, deren Blick
Kühnheit und Intelligenz, und einem Munde, dessen weiche und doch
charakteristische Linie Lebenslust und Spottsucht verriet. Das Alter
war unbestimmbar. Vielleicht, daß die Schätzung von vierzig Jahren die
richtige war, doch sah der Fremde jünger aus. Hans war es übrigens,
als müßte er die auffallend vornehme Erscheinung schon des öfteren in
Düsseldorf gesehen haben.

Vor ihnen lag die Ratingerstraße, winklig und unregelmäßig, mit
ihren engbrüstigen Gebäuden, vorspringenden Erkern und altmodischen
Giebeldächern im Mondlicht einem Bilde gleich, das aus der
Versunkenheit längst entschwundener Zeiten emporgestiegen schien. Ihre
Schritte hallten auf dem holprigen Pflaster und weckten das Echo an der
Häuserzeile entlang.

»Was meinen Sie, Verehrtester, dieser Ausschank macht einen höchst
vertrauenswürdigen Eindruck.«

Hans fand zwar im stillen, daß das gepriesene Haus eher einer
Räuberherberge ähnlich sähe, aber er nickte energisch und trat hinter
seinem Begleiter ein.

In dem Tabaksqualm, der, in dichten Streifen übereinander lagernd,
die Stube füllte, hielt es schwer, die Umgebung festzustellen.
Erst, als sie hinter einem weiß gescheuerten Tisch auf handfesten
Holzstühlen saßen, gelang es Hans allmählich, sich zu orientieren.
Das Zimmer war mäßig groß, die Decke aus schweren Balken gebildet,
die Alter und Rauch tiefbraun gebeizt hatten, die Wände zeigten
kaum eine Handbreit der ehemaligen weißen Tünche, mit Kohle, Rötel
und Farbe hatten sich Generationen werdender Maler hier =al fresco=
verewigt. Neben dem Eingang prangte das primitive, peinlich sauber
gehaltene Büfett, hinter dem das Wirtspaar thronte, der »Baas« in
gestrickter Weste und schneeweißen Hemdärmeln, die »jung’ Frau«, eine
behäbige Matrone, mit weißer Latzschürze über dem mächtigen Busen.
Ein Küferjunge mit vorgeschnalltem Lederstück bediente. Von der Decke
hingen große Petroleumlampen nieder, um die sich der Tabakrauch wie der
Hof um die Mondscheibe sammelte. Sie leuchteten nieder auf Gerechte
und Ungerechte, auf gestikulierende Arbeitsleute im Sonntagstaat und
auf gesetzte Bürger; und unter diese mischten sich Prachtexemplare
von Düsseldorfer Künstlern, trunkfeste Männer, die mit lautem,
nimmermüdem Humor die ganze Wirtschaft dirigierten. Man neckte sich
und log sich gegenseitig die unglaublichsten Geschichten vor, mit
glänzenden Schalksaugen den Reinfall des Gegners erwartend, und irgend
einer bestellte immer wieder eine Runde des köstlich bitterlichen,
einheimischen Bieres. Der gehobenen Künstleratmosphäre entsprechend,
trugen die beliebtesten Speisen — die Speisekarte wies die stattliche
Auswahl von vier Nummern auf — besonders vollklingende Namen. Hans
Steinherr wunderte sich, wie häufig am Büfett »ein halber Hahn«
beordert wurde, bis er dahinter kam, daß dies hochtönende Gericht aus
einem halben Roggenbrötchen mit Holländer Käse bestand.

Hansens Begleiter schien hier eine wohlbekannte und von allen
respektierte Erscheinung zu sein. Die älteren Maler begrüßten ihn
mit kräftigem Händedruck und ebenso kräftigem Scherzwort. Einige der
jüngeren, die sonst der Ansicht huldigten, das echte Künstlertum müsse
unbedingt durch rauhbeinige Manieren bewiesen werden, verstiegen sich
sogar zu einer Bewegung, die eine Verbeugung ausdrücken sollte.

Hans traute seinen Augen nicht. Der Kellnerjunge brachte eine Flasche
Sekt, und keiner der mundfertigen demokratischen Geister ringsum schien
gegen diese Reglementswidrigkeit auch nur das geringste einzuwenden zu
haben. Der Gastgeber schenkte die beiden Gläser voll und stieß mit dem
jungen Manne an.

»Entschuldigen Sie,« stotterte Hans, »ich habe mich noch nicht
vorgestellt — —«

»Sind Sie ein anständiger Kerl? Na also! Ich bin’s auch, schmeichle ich
mir. Prosit!«

Aber Hans fand es dennoch passender, seinen Namen zu nennen.

»So, so — —. Steinherr. Hm. Übrigens, wenn Ihnen so viel an der
Etiketteaufschrift gelegen ist: von Springe. Sagen Sie mal,
junger Freund, Sie sind ein Sohn der hochedlen Firma Steinherr,
Grafenbergerchaussee? Und wollen Maler werden?«

»Ich habe noch nicht daran gedacht,« antwortete Hans bescheiden.
»Vorläufig werde ich zu Ostern ins Abiturientenexamen steigen.«

Herr von Springe fuhr erstaunt mit dem Stuhl gegen die Wand.

»Wie? Was? Hör’ ich recht? Ein Pennäler? Sie schlagen sich noch mit
Fibel und Schiefertafel herum? Und ich Volksverführer hielt Sie für
einen wackeren Lehrling des heiligen Lukas und schleppe Ihre zarte
Jugend in diesen Rauchfang? Ah, ich werde Ihrer Frau Mama morgen eine
Entschuldigungsvisite machen, damit es keine strammen Hosen setzt.
Bitte tausendmal um Verzeihung.«

Purpurne Röte stieg in dem feinen Gesicht des jungen Mannes auf. Dann,
sich gewaltsam beherrschend, sagte er so ruhig, wie es ihm nur möglich
wurde: »Sie schmeichelten sich vorhin, auch ohne Namensetikettierung
als anständiger Mensch zu erscheinen. Nach diesem Überfall muß ich
freilich annehmen, daß der Schein trügt. Guten Abend.«

Aber der Effekt seiner Rede entsprach nicht seinen Erwartungen. Herr
von Springe lachte, daß die Gäste von ihren Stühlen auffuhren.

»Bravo, bravo, gut gebrüllt, Löwe! So lieb’ ich meine Pappenheimer!
Das Kerlchen hat, weiß Gott, Rasse. Hier geblieben, mein Junge, kein
schiefes Maul mehr gezogen, du hast vollkommen recht, ich bin ein
Verbrecher und gebe dir hiermit feierlichst eine Ehrenerklärung.«

Er hielt ihm das Glas hin, und, halb widerstrebend, halb
unwiderstehlich angezogen von dem bannenden Wesen des lachenden Mannes
vor ihm, stieß der junge Heißsporn an.

Bevor eine Stunde vergangen war, hatte Hans Steinherr dem Fremden
mit den sieghaften Augen alle die rätselvollen Eindrücke des Tages
anvertraut, die sein junges Leben erregt hatten wie nie zuvor. Auch das
Gedichtchen stammelte er, und von Springe lachte nicht. Er ließ nur
seine Augen über ihn hinblitzen, und die Freude an der Unberührtheit
dieser jungen Seele, die unbewußt zu Taten drängte, stand ihm auf der
Stirn.

»Du bist ein Dichter, mein Sohn.«

»Ich möchte ein Künstler werden, Herr von Springe. Sie — Sie müssen ein
großer Künstler sein.«

»Herzlichen Dank für die gute Meinung.«

»Spotten Sie nicht über mich. Aber wer als Mensch so über den
Situationen steht —«

»Kindskopf, was weißt du davon!«

Er blickte schweigend in sein Sektglas.

»Die Hauptsache ist, für den Künstler und den Menschen, den Humor an
der Sache nicht verlieren.«

»Darf ich Sie besuchen?« schmeichelte Hans.

»Du darfst. Aber jetzt zu Bett, Kleiner, deine Schlafenszeit muß längst
da sein.«

Und sie gingen.

       *       *       *       *       *

So endete der ereignisvollste Tag in Hans Steinherrs bisherigem Leben.

[Illustration]




Zweites Kapitel


Der alte Philipp Steinherr, Fabrikbesitzer und Stadtverordneter, hatte
klein angefangen. Grauköpfige Düsseldorfer Bürger erinnerten sich
sehr wohl noch der kleinen Blechschmiede auf freiem Felde beim Dorfe
Bilk, in der er als junger Mann selbst das Handwerk ausgeübt. Mit
nie rastendem Ehrgeiz hatte er seinen Hammer geführt. Seine Bildung
hatte er mit zähem Eifer in abendlichen Fortbildungsschulen und durch
unablässiges Selbststudium vervollkommnet. Kein Gebiet der über Nacht
emporblühenden Technik durfte ihm verschlossen bleiben, sein Spürsinn
witterte das goldene Zeitalter, das die Technik zur Wissenschaft und
diese Wissenschaft zur Macht stempeln würde, er sah bereits die neue
Morgenröte und richtete sich auf ihren Empfang ein, als alles um ihn
her noch im Gleise der alten, guten Zeit fortschlenderte, mit echt
rheinischem Leichtsinn die Tage hinnahm, wie sie kamen, und — als
Hauptsache dieses Erdendaseins — die Feste feierte, wie sie fielen.
Philipp Steinherr hatte wenig Feste gefeiert. Seine Gedanken waren
zeitlebens auf den Erwerb gerichtet gewesen, auf den Erwerb mit allen
Mitteln, die er für seinen Zweck tauglich befand. Der aber war eben
der Erwerb, der Konkurrenzkampf, der Aufstieg aus den Niederungen
des Lebens zu den Höhen der Besitzenden. Das Wort des Marschalls von
Danzig, der auf die hochmütige Frage eines Junkers, ob er sich in der
Zahl der Ahnen mit ihm messen könne, schlagend erwiderte: »Nein, aber
ich ~bin~ ein Ahne,« hatte ihn nicht mehr losgelassen, als er es bei
der Lektüre eines Buches gefunden. Der Ahnherr seines Geschlechtes
wollte er werden, der bei der Arbeit grübelnde Blechschmied, obwohl er
damals noch den Gedanken an Hochzeit machen mit einem geringschätzenden
Lächeln abtat. Eins aber wußte er: ein neues Wappenschild richtet
man am leichtesten auf heruntergerissenen alten auf, im Kampf der
Schlachten wie im Kampf der Industrie. Nur keine Sentimentalitäten beim
Geschäft! Man konnte über Leichen schreiten und dennoch ein achtbarer
Mann bleiben.

Das hatte Philipp Steinherr in seinem ganzen Leben bewiesen. Als junger
dreißigjähriger Meister erfand er ein billigeres Fabrikationssystem.
Er unterbot die Marktpreise so lange, bis er die kleinen Betriebe
in der Runde zum Auffliegen gebracht oder von sich abhängig gemacht
hatte. Er sog die Kräfte seiner Leute bis zum letzten Blutstropfen
aus, entledigte sich ohne Bedenken der verbrauchten, ohne sich über
das weitere Schicksal der abgerackerten Alten auch nur einen Gedanken
zu machen, und arbeitete, um jeden bösen Leumund zu verstopfen
und gleichzeitig seine Leute zur Hergabe der letzten Muskelkraft
anzuspornen, mitten unter ihnen mit nie versagender Rüstigkeit. Wenn er
an Sonn- und Feiertagen die Messe gehört, gebeichtet und kommuniziert
hatte, verschloß er sich tagsüber in seinem kleinen Laboratorium, um
Versuche über Versuche anzustellen, und saß Abends über seinen Büchern
oder trieb Sprachstudien.

Die Kriegsjahre 1864 und 1866 trugen ihm große Lieferungsaufträge ein.
Er hatte durch Zufall die Bekanntschaft eines vornehmen Herrn gemacht,
der sich zuweilen hier draußen auf den Feldern erging. Wenigstens
erschien ihm dazumal der Herr sehr vornehm. Er besaß die kordialen
Allüren des etwas heruntergekommenen Edelmannes, die für die unteren
Stände stets etwas Bestechendes haben. Dem Meister erzählte er, daß
er inspizieren gehe, ob man ihm in der Nacht sein Königreich nicht
fortgetragen hätte. Einst habe das ganze Wiesen- und Ackerland, so
weit das Auge reiche, seinen Vorfahren gehört, aber der Letzte dieser
Biedermänner, sein Herr Vater, habe so gründlich damit aufgeräumt,
daß ihm zu tun fast nichts mehr übrigbliebe. Dieser kleine Fetzen
Land, einen Steinwurf groß und völlig unkultivierbar, sei der Rest
eines einst fürstlichen Vermögens. Vorläufig aber immer noch viel zu
geräumig, um sich jetzt schon darin begraben zu lassen.

Dieser lustige Junker, stets in Geldverlegenheit und nie in Sorge um
den kommenden Tag, wurde der Mittelsmann zwischen Philipp Steinherr und
den Militärbehörden. Die Konnexionen aus den Zeiten der Väter hatten
noch vorgehalten, dem Sprossen der alten, niederrheinischen Familie
ein paar kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Als die Schlacht von
Königgrätz geschlagen war, hatte Philipp Steinherr den Grundstock zu
seinem Vermögen gelegt. Nun konnte er daran denken, eine vorteilhafte
Ehe zu schließen. Ihm, dem Fabrikanten, standen die Häuser offen. Er
heiratete eine blutjunge Dame, die ihm zwar keine Barmittel, dafür aber
einen hochgeachteten Düsseldorfer Namen als Mitgift einbrachte. Er
hatte ganz richtig gerechnet. Diese Verbindung brachte ihn vorwärts.

Frau Margot beschenkte ihn im nächstfolgenden Jahre mit einem Sohne
und schien damit ihre Pflichten als erledigt zu betrachten. Sie
richtete sich mehr und mehr auf die Weltdame ein, was für die im
Grunde gut spießbürgerlichen Kreise der Stadt immerhin ein Ereignis
war, erhöhte ihre Bedeutung in den Augen der Damenwelt noch durch
einen wöchentlichen »Jour«, zu dem sich bald die jungen Offiziere der
Garnison und die bessergestellten Elemente der Künstlerschaft drängten,
schöngeisterte und flirtete und gewöhnte sich bald an, ihren wenig
unterhaltenden Mann lediglich als notwendiges Übel zu betrachten.

Der aber lächelte nur zu dem Tun und Treiben seiner kindischen
Gemahlin. Er brauchte ja die Leute, die sie um sich sammelte und durch
Koketterien zu fesseln wußte, dann aber — so sehr er sich gegen das
Eingeständnis sträubte, fürchtete er sich auch ein klein wenig vor
der spöttisch überlegenen Miene der jungen Frau, die so trefflich den
Unterschied zwischen Geburt und Erziehung anzudeuten wußte und ihm die
mangelnde Lebensart fast greifbar zur Erkenntnis zu bringen vermochte.
So ließ er sie gewähren, lebte fürder als Hofmarschall neben ihr hin
und machte aus jeder Not eine zinstragende Tugend.

Der Deutsch-französische Krieg brachte den gewaltigen Umschwung und
Aufschwung in der Industrie, den Philipp Steinherr seit Jahren
vorausgesehen hatte. Die große Zeit fand ihn vorbereitet. Ganz in der
Stille war ihm ein epochemachendes neues Verfahren in der Herstellung
von Eisenblech geglückt. Als der Tag von Sedan vorüber war und die
deutschen Armeen auf Paris rückten, ging auch er zum Angriff über,
kühl wie ein Börsenspieler. Es galt, so schnell wie möglich Terrain
anzukaufen, das beste, das sich zu großen Fabriksanlagen eignete. Mit
mathematischer Sicherheit rechnete er aus: war erst der Krieg siegreich
beendet, würde eine wilde Spekulation losbrechen und die Werte der
Grundstücke ums Vielfache multiplizieren. Dem galt es zuvorzukommen. Er
hatte sein Bargeld und den Kredit für die sofortige, jeden Mitbewerb
überflügelnde Inangriffnahme und steigernde Unterhaltung eines weit um
sich greifenden Betriebs nötiger.

Aber die Bauern von Bilk waren mißtrauisch. Sie wollten zu Kriegszeiten
keine Grund- und Bodengeschäfte machen. Ihr Instinkt gab ihnen
Witterung von größeren Verdiensten. Schon nach wenigen Tagen merkte
Steinherr, daß ein schlauer Spekulant gleich ihm an der Arbeit war,
denn die Bauern nannten unerhörte Preise. Bis zum Winter schlug er
sich mit der hartnäckigen Bande herum, dann gab er es auf. Jedoch nur,
um nachdrücklich einen anderen Plan durchzuführen, den er bisher nur,
einem feinbohrenden Schamgefühl nachgebend, in ganz einsamen Stunden zu
streicheln gewagt hatte.

Durch die Freunde seiner Frau, die zur Zernierungsarmee gehörten,
hatte er die unumstößlichsten Nachrichten, daß der Fall von Paris nur
noch eine Frage von Tagen sein könne. Da opferte er skrupellos die
Regungen der Freundschaft. Der fröhliche Mittelsmann, der ihm einst
durch die Verschaffung von Armeelieferungen zur Grundlegung seines
Wohlstandes verholfen hatte, mußte mit seinem Erbe daran glauben. Das
»Königreich«, die paar Hufen Landes, lagen zu beiden Seiten des Bilker
Baches langhin gestreckt. Sie waren, wenn die Industrie zur Blüte
gelangte, weitaus das günstigste Terrain, nahe genug den Bahnhöfen der
Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Bahn, um sich an diese durch
kurze Anschlußgleise anzugliedern.

Philipp Steinherr verließ an diesem Tage die Fabrik vor Feierabend. Er
begab sich auf dem kürzesten Weg nach Hause, sicher, den Freund als
lustigen Gesellschafter seiner Frau anzutreffen. Er hatte sich nicht
getäuscht.

»Du kommst so früh schon?« begrüßte ihn Frau Margot.

»Ich verspürte Lust, ein Stündchen zu verplaudern. Hast du Nachricht
von deinem Heinrich?« wandte er sich an den Gast.

»Soeben überbrachte ich der schönen Hausfrau Botschaft von meinem
Jungen. Zum Leutnant befördert, vor dem Feinde, und als Marschsoldat
ausgerückt. Ja, mein Lieber, so weit hätten wir es mit kaum zwanzig
Jahren nicht gebracht, das ist meine Erziehung! Von meinem Alten — Gott
hab’ ihn selig — hatte ich, als ich zwanzig zählte, nichts, als mein
Königreich im Bilker Feld und einen gehörigen Schuß von seinem Podagra
im Blut.«

»Und wenn er zurückkommt? Was wird er beginnen?«

»Er wird sich dieser schönen Hausfrau zu Füßen legen, ganz wie bisher.
Das ist ~auch~ meine Erziehung,« und er küßte galant die Hand der
jungen Frau.

»Margot wird,« entgegnete Steinherr, »vorausgesetzt, daß sie
ernstliches Interesse an dem hoffnungsvollen jungen Manne nimmt, die
Tändeleien abstellen und für seine Zukunft bedacht sein. Wie ich weiß,
bereitet sich Heinrich vor, die Kunstakademie zu besuchen.«

»Ach du leew Herrgöttche!« seufzte der Sorglose humoristisch, »der Jong
wird Möler, un der Alte hät auch nix! Die Rechnung wird schon auf die
Dauer stimmen.«

»Ich will dir einen Vorschlag machen,« sagte Steinherr nachdenklich.

»Lieber Freund,« fiel der andere lachend ein, »wenn du mir etwas pumpen
willst — gnädige Frau verzeihen wohl diese gräßliche Wendung des
Gespräches — so muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß, solange
mein Heinz und ich dieser schönen Frau um die Wette den Hof machen, wir
uns nicht noch obendrein von dem Gatten besolden lassen können.«

Frau Margot lachte wie eine Turteltaube und reichte dem Schwerenöter
die Hand zum Kuß. Sie empfand den lustigen Kavalierdienst des Alten
fast so entzückend wie die heißen Huldigungen des Jungen, der ihr
Gespiele gewesen war.

»Pardon,« sagte Steinherr kalt, »ich dachte, du könntest, wenn es sich
um die Zukunft deines Sohnes handelt, auch einmal fünf Minuten ernst
sein. Ich beabsichtige nicht im Traume, dir etwas zu schenken, aber ein
für dich profitables Geschäft möchte ich dir vorschlagen. Wirklich, aus
Freundschaft.«

»Aus Freundschaft? Ein Geschäft? Meines Jungen wegen? Hm, das läßt sich
hören.«

»Wieviel, glaubst du, wird die Ausbildung deines Sohnes kosten?«

»Na, gut wär’ es, wenn man zweitausend Taler bar in der Hand hätte.
Aber die paar Zinsen, die ich beziehe, lassen nicht daran denken.«

»Siehst du,« sagte Steinherr und zog seine Brieftasche heraus, »ich
möchte dir, deinem Jungen und meiner Frau, ja auch mir, eine Freude
machen und dich bitten, mir dein Königreich zu verkaufen. Ich habe Lust
auf ein Stückchen Feld. Vielleicht, daß ich mir einen Gemüsegarten und
eine Grasbleiche dort anlege, einige Obstbäume und eine hübsche Laube.
Margot wünschte sich lange schon derartiges. Hier sind zweitausend
Taler. Einverstanden?«

Der joviale Freund stutzte. Dann lachte er schallend hinaus.

»Philippus, du machst Witze? Da lebst du nicht mehr lange, alter Sohn!
Einen Gemüsegarten von fünf Morgen, für euch zwei Leute, denn das Baby
rechnet noch nicht mit. Und ich verstehe doch recht: Gemüsegarten?
Auf einem Stück Land, auf dem der Herrgott nur nackte Schnecken und
Regenwürmer wachsen läßt. O Philippus, du dauerst mich!«

Steinherr lachte mit. Dann, ernst werdend, meinte er ruhig: »Das
Bedauern schenk’ ich dir gern. Jeder Mensch hat seine Marotte.«

»Wie? Du sprichst im Ernst? Du wolltest wirklich?«

»Hier liegen die zweitausend Taler. Wenn du einverstanden bist, kann
die Regierung deines Königreichs morgen schon auf mich übergegangen
sein.«

Der Freund hatte sich erhoben und ging im Zimmer auf und ab.

»Philippus,« sagte er dann und blieb vor Steinherr stehen, »du meinst
es gut mit mir. Und ich — hm — ich werde dir jetzt wie ein ganz
gemeiner, undankbarer und gieriger Rabe erscheinen. Aber, siehst du,
wenn ich auch ein einigermaßen flottes Tuch bin: etwas bin ich doch
auch meinem Jungen schuldig. Na, also kurz: Glaubst du nicht, daß das
Land da draußen nach dem Krieg Grundstückswert bekommen wird, daß sich
die Stadt ganz dort hinüber ausdehnen wird? Wenn erst die Milliarden
ins Land kommen, wird selbst die ordinärste Plebs von der Bauwut
befallen werden, geschweige denn die Mammonspächter und die Herren von
der Industrie.«

»Ah — du mißtraust mir? Gut, gut.«

»Sagt’ ich es nicht? Nun bin ich der schäbige Rabe! Donnerlütsch,
Minsch! Ich? Einem Freunde mißtrauen? Ich wende mich an Sie, schöne
Hausfrau. Bin ich denn wirklich schon so tief gesunken?«

Da er nicht weiter wußte, nahm er seinen Marsch durch das Zimmer wieder
auf. Ganz kleinlaut, weil ihn das Gefühl peinigte, nicht ritterlich
verfahren zu sein, fügte er nur hinzu: »Ich meinte ja auch bloß, wegen
der Kriegsentschädigung. Vielleicht hast du die Folgen davon noch gar
nicht so ins Auge gefaßt. Ich Tagedieb habe ja genügend Zeit dazu,
Luftschlösser zu bauen und in meinem Königreich nach Gold zu schürfen.«

Steinherr setzte die überlegene Miene des Geschäftsmannes auf.

»Ihr werdet euch mit euren Milliardenerwartungen gründlich in
die Nesseln setzen. Der Beweis? Nun, was hat uns das Siegesjahr
Sechsundsechzig gebracht? Das trägt ein Hund auf dem Schwanze fort.
Dem Herrn von Bismarck schien es doch geratener, die gute Laune des
Herrn Nachbarn für künftige Zeiten zu schonen. In Geldangelegenheiten
sind alle Leute nun einmal am kitzlichsten. Frankreich gegenüber wird
der Herr von Bismarck zum guten Schluß auch keine andere Politik
einschlagen. Die deutsch gewesenen Provinzen zurück, sonst aber den
französischen Geldbeutel nach Möglichkeit geschont. Er wirft jetzt nur
mit Zahlen um sich, um nachher durch seine Großmut umso nachhaltiger
zu versöhnen. Übrigens würde auch England eine solche Schröpfung
Frankreichs nicht zulassen. Zum dritten und letzten aber: wer bürgt
dir dafür, daß dieser Krieg so bald zu Ende geht und ~wie~ er zu Ende
geht? Die Franzosen stempeln ihn zum Volkskrieg. Schau mal nach dem
Norden, nach Amiens zum Beispiel, welche Heeresmassen dieser Monsieur
Faidherbe da wieder aus dem Boden gestampft hat. Eure Milliarden
haben einstweilen nur auf dem Monde Kurs. Hier unten könnt ihr damit
verhungern.«

Er trommelte einen kurzen Marsch auf dem Tisch. Dann trat Stille ein.

Diese Stille wirkte auf den Hausfreund beklemmend. Er räusperte sich,
schritt nach der schönen Hausfrau, die ihm zulächelte, nach dem
Hausherrn, der mit einer geradezu beleidigenden Gelangweiltheit nach
der Decke starrte und die Daumen umeinanderlaufen ließ, räusperte sich
nochmals und trat dann entschieden vor.

»Philippus,« sagte er, »wir kennen uns jetzt ein halbes Dutzend Jahre.
Ich hab’ dir, wie du behauptest, ein paar Gefälligkeiten erwiesen.
Du mir auch. Als Geschäftsleute wären wir ja — nehmen wir mal so an
— quitt; aber als Freunde — nee! Schön. So muß das ja auch sein. Und
nun, wo du mir deine Freundschaft mal wieder da offenbaren willst, wo
sie bei anderen Leuten aufhört, am Portemonnaiechen, da komme ich, ich
netter Bruder, dir mit allerhand Eigennützigkeiten, die sich weiß Gott
im Ohre eines Fremden beinahe wie Verdächtigungen ausnehmen müßten. Gib
mir deine Hand, du wackerer Eisenblechmensch, und laß mich sie drücken.
Nichts wie Vertrauen hab’ ich zu dir, Vertrauen und Dankbarkeit. ’raus
mit dem kalten Mammon und der warmen Liebe! Dafür sei es zehnmal
dein, mein Königreich. Nur noch die Zustimmung meines Jungen, und das
Geschäft ist perfekt und die Thronfolge geregelt.«

Er schüttelte Steinherr die Hand, daß die Gelenke knackten.

»Heinrichs Zustimmung?« meinte der Geschäftsmann nachdenklich. »Hältst
du denn die für nötig?«

»Du wirst mich vielleicht auslachen. Aber es war nun einmal mein
Ehrgeiz — und du weißt, in diesem Artikel unterhalte ich nur ein
bescheidenes Lager — daß der Junge zum wenigsten eine Scholle
Heimatsboden sein eigen nennen sollte. Daß ich es konnte, das war ja
auch für mich ein sogenanntes ›erhebendes Bewußtsein‹. Grundbesitzer!
Na ja ... =Tempora mutantur=. Da bin ich nun zu Ende mit meinem
Latein.«

Philipp Steinherr bemerkte die Weichheit des Freundes mit Besorgnis.
Jetzt nur keine Sentimentalität aufkommen lassen, sondern Trumpf
spielen!

»Ja,« machte er kopfschüttelnd, »wenn du das deinem Sohn schreibst,
wird er in dem ganzen Handel natürlich nichts als ein Opfer sehen, das
du ihm darbringen willst, sich an Großmut nicht übertreffen lassen
wollen und dankend verzichten.«

»Entschuldige, aber für so’n Jammermann wirst du mich doch wohl nicht
halten.«

»Hm — — was meinst du, wenn — wenn — meine Frau ihm schriebe? Sie malt
ihm seine Zukunft, den Künstlerruhm, den er sich erringen kann, und —
na, das wird sie schon selbst am besten wissen. Wie denkst du, Margot?«

»Herr Heinrich wird mir gewiß folgen,« sagte Frau Margot träumerisch.
Was verstand sie von den Geschäften der Männer!

»Bis ans Ende der Welt, bis in die Hölle, nee, nee, bis in den Himmel,
das Leckermaul!« begeisterte sich der lebensfrohe Causeur, heilfroh,
daß er nicht mehr von Geschäften zu reden brauchte. »Und ich alter
Krippensetzer werde das Fingerlecken haben. O Philippus, weshalb
mußtest du dir eine so charmante Frau nehmen!«

Philipp Steinherr hatte eine Flasche Rheinwein beordert.

»Trinken wir auf eine glückliche Zukunft,« sagte er bedeutsam.

Doch der andere hatte, den gefüllten Römer in der Hand, vor der Frau
des Hauses das Knie gebeugt.

»Majestät,« sprach er, »ich habe bisher nur Eurer Schönheit gehuldigt.
Lasset mich heute als erster Euch huldigen als der Herrscherin meines
Euch zu Füßen liegenden Königreichs. Ich bin Euer Gefangener. Lang lebe
und blühe Königin Margot die Erste!«

Die alte, fröhliche Haut ahnte nicht, daß er wirklich eingefangen war.

Eine Woche später traf Antwort aus dem Lager vor Paris ein. Heinrich
dankte der Jugendfreundin für das große Vertrauen, das sie in ihn setze
und dessen er sich durch seine Kunst und durch seine Anhänglichkeit
würdig zeigen werde.

Das Terrain am Bilker Bach ging in den Besitz Philipp Steinherrs über.

Es folgte der Fall von Paris und der Friedensschluß. Wie ein Sturmwind
kam die neue Zeit ins Land, das Kapital wurde mobil, die Städte
empfanden ihre Enge und reckten sich und dehnten sich aus, industrielle
Unternehmungen schossen überall zu Dutzenden empor und suchten der
Bauspekulation den besten Boden abzugewinnen, und die Grundstückswerte
verdoppelten, verdreifachten, verzehnfachten sich.

In Philipp Steinherrs neuen, mächtigen Eisenwerken dampften die
Schlote bei Tag und Nacht. Er war der erste auf dem Platze gewesen.
Und als nach wenigen Jahren das einst so einsame Terrain durch lange
Straßenzüge der Stadt angegliedert war, als sich die Spekulation durch
die unsinnigen, überhetzten Ausgaben zu Grunde gerichtet hatte und das
mangelnde oder festgelegte Kapital auch der Industrie den gewaltigen
Rückschlag brachte: Philipp Steinherr spürte nichts von schwerer Zeit.
Er wuchs und wuchs und war längst Millionär, bevor sein Sohn Hans die
ersten Gymnasialklassen hinter sich hatte.

Von dem einstigen Freunde wußte der mit Ehrenämtern überladene Mann
seit langem nichts mehr. Der Name klang im Steinherrschen Hause wie das
Märchen von der Blechschmiede, die einem Gerüchte nach der Hausherr
einstmals draußen im Feld bewirtschaftet haben sollte. An dem Tage —
und der Tag war sehr schnell gekommen — an dem der einstige Besitzer
des »Königreichs« erfahren hatte, daß er mit kalter Überlegung um
hunderttausend Mark geprellt worden war, hatte er das Steinherrsche
Haus zum letzten Male betreten. Er war gekommen, seinen Sohn abzuholen,
der ahnungslos mit dem Fabrikanten plauderte und nicht dabei vergaß,
Frau Margot anzuschwärmen.

»Heinrich,« hatte der alte Junker gelassen gesagt, »mach der Dame dein
Kompliment, wie es sich für einen Kavalier gebührt. Und dann setz
deinen Hut auf, bevor du an dem kleinen Spitzbuben da vorübergehst, —
wie es sich für einen Kavalier gebührt!«

Der Vater war dem Sohne mit der Tat vorangegangen. Er hatte sich
zeremoniell vor Frau Margot verbeugt, sich umgewandt, den Hut auf
den Kopf gesetzt und war an Philipp Steinherr vorüber zur Türe
hinausgeschritten, als sähe er in Luft. Und der Sohn, der bei aller
leichten Sinnesart und den Zechgewohnheiten seines Erzeugers die
unbedingte Ehrenhaftigkeit seines alten Herrn kannte, war ihm, ohne zu
fragen, mit demselben Zeremoniell, auf den Hacken gefolgt.

Trotz des überlauten Lachens ihres Gatten über die »Komödiantenallüren«
hatte Frau Margot doch des Gefühls sich nicht erwehren können, daß in
diesem scheinbaren Komödiantentum eine erkleckliche Dosis überlegenen
Rittersinns gelegen habe. Sie empfand die Demütigung umso stärker,
als die beiden einstigen Freunde und Verehrer den Grund des Bruches
mit keinem Wort in der Öffentlichkeit laut werden ließen und nicht im
Traume daran dachten, die gesellschaftliche Stellung der Steinherrs zu
gefährden. Von diesen armen Schluckern einfach übersehen zu werden,
hatte sie beschämt, ihre Eitelkeit verletzt und ihren Zorn erregt.
Diese Wunde wollte sich auch im Laufe der Zeit nicht schließen.

Hin und wieder hörte sie über die originelle Zigeunerwirtschaft der
beiden reden, die hinfort wie Kameraden zusammen hausten, las in den
Zeitungen von dem wachsenden Ruhm des Jungen, der in seiner Kunst mehr
und mehr ein Eigener wurde, oder stand wohl auch in den Ausstellungen
vor seinen Bildern, die bei aller Realistik einen bannenden
Farbenrausch zur Schau trugen. Dann fühlte sie ein feines, feines
Bohren in ihrem Herzen, das wie aus weiter Ferne sich meldete. Und wenn
sie darüber grübelte, tauchte aus verschollenen Jugendtagen das Bild
eines Jünglings vor ihr auf, dessen heißes Knabentum sie einst geliebt
hatte. Die verwöhnte Weltdame, die seit Jahren die Grenzen ihrer Jugend
künstlich zu erweitern trachtete, fand in solchen Stunden keinen Spott
über ihre Gefühle. Ein einziges Mal in ihrem so rein äußerlichen Leben
hatte die Liebe sie gestreift. Die Liebe zu ihrem Pagen.

Sie hatte sie geopfert, aus Bequemlichkeit, aus Egoismus; in der
Hoffnung auf Ersatz.

Die elegante Frau mit den müden Zügen, die in ihrem Rosengarten draußen
im Villenviertel der Grafenbergerchaussee unter einem Zeltdach ruhte,
strich mechanisch mit der Hand über die Augenlider.

»=Long, long ago= — —« murmelte sie. »Der Page ist jung geblieben und
seine Königin wird alt. Wir hätten miteinander jung bleiben können ...«

Sie schloß die Augen und horchte auf das feine, feine Bohren in ihrem
Herzen, das wie aus weiter Ferne sich meldete — — —.

Bei der Mittagstafel hatte ihr Sohn von seinem neuen Freunde erzählt.
Der Name von Springe hatte die Konversation der Ehegatten verstummen
gemacht.

»Von Springe? — Ach, das war ja der tolle, alte Junker. Hm ...«

»Von Springe?« — — Das war ja einst die Jugend ...

[Illustration]




Drittes Kapitel


Auf der breiten, baumbestandenen Allee, der Hauptpromenade Düsseldorfs,
auf welche die Nachmittagsonne heiß herniederbrannte, wurde es
plötzlich lebendig. Es hatte soeben vier Uhr geschlagen. Das graue,
kastenartige Gymnasium entließ seine Schutzbefohlenen.

Sexta und Quinta stürmten zuerst hervor. Kleine Halbwilde, noch bar
jeden wissenschaftlichen Ernstes, hatten sie bei dem ersten Luftzug,
der sie traf, die tiefe Bedeutung der Deklination von =mensa= und der
Konjugation von =amare= vergessen, erfüllten bereits Korridore und
Schulhof mit ihrem Lärm, inszenierten schleunigst ein paar Raufereien,
um den »Stärkeren« festzustellen, schlugen wild mit den am Riemen
geschwungenen Tornistern um sich, sausten im Wettrennen über den
aufstäubenden Reitweg, von den Schimpfworten der für die Lungen ihrer
Pfleglinge besorgten Kindermädchen verfolgt, und trennten sich an
den Straßenecken mit der würdevollen Grandezza ihrer vergötterten
Lederstrumpfgestalten. Ein Knirps rief dem anderen das Stelldichein
zu: »Mein großer Bruder Falkenauge wolle nicht vergessen, daß der
springende Panther ihn erwartet. Die Hunde von Sioux sind auf dem
Kriegspfad wider uns. Hör, Schrüwken, dene müsse mer ens ordentlich dat
Fell verjücke.«

Quarta und Tertia folgten. Hier hatte schon das Leben mit seinen
Forderungen eingesetzt. Man tauschte Briefmarken, alte Münzen,
Quarze; man handelte um all die tausend Dinge, die die unergründliche
Hosentasche eines Lateinschülers nur zu fassen vermag. Einige ganz
Betriebsame hielten sich abseits und besprachen den Plan einer
Lotterie, in der ein lebendiges Eichhörnchen ausgelost werden sollte.
Dieses Eichhörnchen demnächst zu fangen, war der Hauptpunkt der
heimlichen Konferenz. Einer schlug eine aufregende Jagd im Ellerbusch
vor. Ein Phlegmatiker wies darauf hin, daß an der Mühle in Wersten,
ganz nahe der Stadt, ein Eichhörnchen frei in einem Kasten hinge und
ein kleines Rad triebe. Es wäre doch viel bequemer und auch sicherer,
wenn man — »Schuft!« hieß es empört. Aber man ging doch zunächst nach
Wersten.

Nun nahte Sekunda. Eine Gattung für sich. Mannbar gewordene Leute,
ihren Empfindungen nach; dicht davor, bei Erlangung des Zeugnisses
zum einjährigfreiwilligen Dienst ihre Bildung ein für allemal als
abgeschlossen zu betrachten oder doch, sofern sie die Prima zu
absolvieren gedachten, in dem erhebenden Gefühl, daß die Büffelei
fürs Abiturientenexamen bei der immensen Länge der Zeit besser erst
im nächsten Jahre vorzunehmen sei. Selbstverständlich sprach man nur
vom »Weib«. Etwas Selbstverständlicheres gab es nicht, höchstens — die
Verachtung für die, die nicht mitzusprechen vermochten. Man sprach
über »meine, deine, seine Poussage« in der geläufigen Art, in der sich
Besitzer von Serails unterhalten mögen. Nahte ein weibliches Wesen —
und zählte es auch nicht mehr als zehn treubewachte Lenze —, so kniff
man die Augen ein und zupfte nervös an der Haut über der Oberlippe.
Dienstmädchen und das, was nicht die Töchterschule besuchte, galt
als Freiwild. Hier waren Augenrollen und laute Bemerkungen am Platz.
»Donnerwetter, gut gewachsen.« — »Unsinn, zu kurze Taille.«

Den Beschluß machte Prima. Jünglinge von Erziehung, das reinste Produkt
der neunmaligen Filtration einer neunklassigen Schule. Zwei Welten
vereinigten sich in ihnen: die gegenwärtige, mit ihren jugendfrohen,
schwärmerischen Idealen für die Freuden des jungen Lebens, die
Schönheiten der Kunst und die Erhabenheiten der Dichtung, und die
künftige, mit ihrem Hinweis auf den Beruf und die Stufenleiter der
Erstrebungen. Diese Verschmelzung prägte sich deutlich in den Augen,
den Bewegungen, der Haltung aus. Sonnenschein und Frühreife. Der
künftige Student, der künftige Offizier, der künftige Kunstjünger wurde
bereits markiert, unbewußt fast, aber dennoch untrüglich. Aufmerksame
Beobachter vermochten selbst den gelinden Übergang zu den Feinheiten
der Klassifizierungen zu erkennen, wie sie zwischen Korpsstudenten
und Burschenschaftern, zwischen den Herren der Infanterie und der
Kavallerie bestehen. Trotz ihrer Gemessenheit hatten sie im Rassigen
die meiste Ähnlichkeit mit Sexta. Die Treffpunkte des Kreises
offenbarten sich. Der Sturm war auch in ihnen lebendig, wie bei
jenen Knirpsen, nur gezügelt durch die Erziehung; er war aufs neue
lebendig geworden im Wonneschauer der Erwartung, an der Schwelle der
zweiten Jugendhälfte. Ihre Disputationen waren von einer inneren
Leidenschaftlichkeit erfüllt. Ihre Ansichten, ihre Aussprüche über
antike Kunst und modernes Theater, über die soziale und pekuniäre
Stellung eines Amtsrichters zu der eines Hauptmanns, über die
Berechtigung eines philosophischen Systems, die Billigkeit einer Kneipe
und die Tugend der Frauen waren kategorisch.

Als einer der letzten verließ Hans Steinherr das Schulgebäude. Er ging
allein, trug die Bücher unter den Arm geklemmt und schlenderte langsam
die Allee entlang. Den weißen Strohhut in den Nacken gerückt, die Hände
in den Taschen seines hellen Sommeranzuges, summte er vor sich hin und
horchte, ob es ein Liedvers wurde.

Ein paar Klassenkameraden schauten sich nach ihm um. Dann gingen sie
weiter. Der junge Steinherr war den meisten von ihnen zu apart, er
legte ihnen durch sein zurückhaltendes Wesen zu großen Zwang in der
Unterhaltung auf.

Als Hans dicht hinter ihnen in die Elberfelder Straße einbog, schwenkte
einer der Primaner die Mütze und rief einem jungen Mädchen, das in
diesem Augenblicke ihren Weg kreuzte, ein paar Worte zu. Hans blickte
auf. Dann spannten sich seine Züge, er fühlte, daß er flammend rot
wurde und daß sein Atem plötzlich ganz kurz geworden war. Instinktiv
machte er eine Bewegung nach dem Hute, aber sein Arm blieb in der
Luft hängen. Dabei starrte er auf das junge, schlanke Geschöpf in dem
fadendünnen Sommerkleidchen, mit dem altmodischen Schäferhut auf den
schwer herabhängenden Flechten, bis sie vorbei war. Sie hatte die Augen
gesenkt gehalten, als sie an ihm vorüberschritt, aber eine leise Röte,
die sich von den flaumweichen Wangen bis in den kleinen Halsausschnitt
stahl, zeigte an, daß auch sie ihn bemerkt und erkannt hatte.

Sein Abenteuer von der Golzheimer Insel ...

Sie war verschwunden, und er atmete tief auf; und nochmals und wieder.
Mitten auf dem Trottoir blieb er stehen, ließ sich von den Passanten
stoßen und lächelte in die Luft hinein. Alles um ihn und in ihm
streichelte und schmeichelte. Sein Wesen verspürte tausend kosende
Berührungen und drängte unerklärlich, sie zu erwidern. Ein Unnennbares,
eine grenzenlose Verwunderung lag über ihm ausgebreitet.

Dann kam es ihm zum Bewußtsein, wie linkisch, wie überaus hölzern er
sich soeben dem Kinde gegenüber benommen hatte. Und nun färbte die
Scham seine Wangen so rot, wie vorhin die Überraschung. Er hätte sich
prügeln mögen dafür, daß er nicht wenigstens den Hut heruntergerissen,
gleichviel, ob sie seinen Gruß bemerken wollte oder nicht. Was war er
doch für ein steifleinener Bursche! Ob sich das Ding insgeheim nicht
über ihn lustig machen würde?

Der Zorn rüttelte ihn gänzlich wach. Mit langen Schritten eilte er
hinter seinen Klassenkameraden her und gesellte sich zu ihnen.

»Heiß heute, was?« und er nahm seinen Hut ab und wischte sich die
Stirn, um seine Verlegenheit zu bemänteln.

»Nanu,« erwiderte der Angeredete erstaunt und ironisch, »ich dächte,
deine so wohl temperierte Natur wäre über so was erhaben.«

Hans ging über den Spott hinweg.

»Doll heiß!« fuhr er fort. »Wie wär’s, Hüsgen, wenn wir nachher
irgendwo eine Kneiperei veranstalteten?«

»Was gefällig? Kneiperei? Steinherr und Kneiperei? Ich hab’ mich wohl
verhört?«

»Du hast ganz recht gehört. Natürlich, wenn du vor einem Anker Bier
kneifst — —«

»Nu schlag einer lang hin! Steinherr, wahrhaftig, ich glaub’s jetzt
selber, daß dir heiß ist. Seit wann gestatten dir denn deine vornehmen
Grundsätze solche Extravaganzen? O Steinherr, du steigst bergab,
du mischest dich unter das Volk. Laß das gemeine Vergnügen uns
gewöhnlicheren Sterblichen.«

Der stämmige Bengel schüttelte wie in tiefem Schmerz das von einer
Künstlermähne umwallte Haupt. Es amüsierte ihn königlich, den
Kameraden, der sich von allen Streichen mehr als nötig und üblich
zurückhielt, derb zu hänseln.

»Hör mal, Hüsgen,« antwortete Steinherr ruhig, »du tust dich etwas
groß. Ich hab’ zwar nicht das Zeug zu einem Kneipgenie, aber Leute wie
dich trink’ ich, wenn ich will, dreimal unter den Tisch.«

»Ach nee, wenn du willst? Wirklich? Schön, du sollst wollen. Daran
kommst du jetzt nicht mehr vorbei.«

»Gut. Heute abend.«

»Heute abend kann ich nicht. Aber morgen.«

»Du willst dich wohl präparieren? Oder hast du ein Rendezvous? Du
grüßtest da vorhin so ’n kleines Mädel.«

Hans Steinherr hielt inne. Diese tastende Diplomatie war ihm bisher
fremd gewesen, und er ärgerte sich über sein Vorgehen. Aber er scheute
sich, von dem großtuerischen Kameraden, der zu Ostern die Kunstakademie
beziehen wollte, seiner zaghaften Neugier wegen verspottet zu werden.
So wartete er denn mit Spannung auf die Antwort.

»Ein kleines Mädel? Gott, ich kenn’ so viele. Wo denn?«

»An der Ecke der Elberfelder Straße.«

»Ach so — —. Du meinst den Hannes?«

»Den Hannes? Ich sag’ dir doch, ich mein’ ein Mädel!«

»Behaupte ich denn, daß es ein Junge ist? Hör doch zu, Mensch!«

»Also Hannes heißt sie ...?«

»Hannes.«

Hans Steinherr gab sich einen Ruck. Er mußte mehr erfahren.

»Und ihretwegen bist du heute abend nicht zu haben?« sagte er mit
erzwungener Neckerei.

»Wegen Hannes?« Der junge Kunstaspirant warf sich in die Brust. »Nee,
Backfische sind nicht mein Schwarm. Ich muß schon was Reiferes haben,
=à la= Rubens, verstehst du? Der wußte, was gut ist. Nicht dein
Geschmack, wie? Du hast eben keine Ahnung!«

»Und Hannes?« beharrte der andere.

»Ach, Hannes! Hm, gewiß, wird sich schon auswachsen. Glaub’ schon, daß
diese Linien eines Tages —«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

Hans Steinherr stieß es fast herrisch hervor. Er hätte den plumpen
Menschen plötzlich am Halse würgen mögen.

Der sah ihn mit überlegenem Hohn an.

»Ja, nach was dann? Entschuldige nur, wenn ich deiner keuschen Seele —«

»Das ist ja Unsinn,« unterbrach ihn Hans kurz. »Also du triffst das
Mädchen heute abend nicht?«

»Natürlich treff’ ich sie. Sie kommt sogar zu uns. Der Künstlerverein
Gaudeamus — lauter flotte Akademiker — hat zu Beginn des
Wintersemesters große Feier. Zehnjähriges Bestehen! Ich werde offiziell
zwar erst zu Ostern eintreten, weil mein Alter sich hat einreden
lassen, das Abiturientenexamen sei erst der Schlüssel zum Leben,
aber ich bin in der Stille doch schon Konkneipant. Als Haussohn!
Die Gaudeamus-Brüder haben nämlich ihr Lokal bei meinem Alten. Du
weißt vielleicht, daß wir eins der ältesten Düsseldorfer Wirtshäuser
besitzen?«

Hans Steinherr nickte. Der alte Hüsgen war eine stadtbekannte
Persönlichkeit und ein wohlhabender Mann, der seinen Stolz darein
setzte, seinen Jungen wie die der Vornehmsten das ganze Gymnasium
durchlaufen zu lassen. Mochte er nachher werden, was er wollte.

»Also ich werde zu dem Fest lebende Bilder stellen. Aber welche, die
sich gewaschen haben. Die Kerle sollen Augen machen, was ich kann.
Daher fang’ ich jetzt schon mit den Vorbereitungen an. Alles stilecht:
Kostüme, Stellungen. Die Stellungen wollen probiert, die Kostüme
entworfen und geschneidert sein. Das ist alles nicht so einfach, wenn
man’s mit der Kunst ernst nimmt. Da hat nun meine Schwester den Hannes
aufgestöbert, eine frühere Schulkollegin; gerad’ nix Feines von Haus
aus, aber Schick und Geschmack hat der Balg.«

Die anderen Kameraden hatten sich von ihnen getrennt. In Gedanken
versunken schritt Steinherr neben dem stämmigen Wirtssohn her, der,
stolz, sein Künstlertum proklamieren zu können, weitschweifig seine
Pläne auseinandersetzte und die Schönheiten der Renaissance beschwor,
als wäre er heute schon ihr Herr und Meister. Hans Steinherr hörte kaum
hin. Während die Schlagworte an sein Ohr tönten, die sich von einer
jungen Künstlergeneration auf die andere vererben, hatte ihn eine Idee
erfaßt und ließ ihn nicht mehr los.

»Du,« unterbrach er plötzlich den Redseligen, »könntest du mich nicht
gebrauchen?«

Sie waren am Wehrhahn angelangt, dicht vor dem Hüsgenschen Hause.

Verblüfft machte Hüsgen Halt. Dann betrachtete er mißtrauisch die Miene
des anderen, der den Kopf geneigt hielt und mit der Stiefelspitze
Figuren beschrieb.

»Steinherr,« sagte er endlich, »entweder, du hast heute eine Marotte,
oder du willst dich gar lustig machen. Für beides findest du in deinen
Kreisen bessere Gelegenheit. Adjüs.«

Er wollte ins Haus, aber Steinherr faßte ihn am Ärmel.

»Sei doch nicht gleich ein so grober Patron. Wenn ich dich höflich
frage, kannst du mir doch wohl eine höfliche Antwort geben.«

»Was?« rief Hüsgen und riß die Augen auf, »das war dein Ernst vorhin?
Aber du hast doch früher keinen Schritt in unser Haus gesetzt? Die Bude
und die Gesellschaft drin waren dir und deinesgleichen doch immer zu
power. Hier verkehren wirklich keine Millionäre.«

»Hüsgen,« erwiderte der Kamerad ernst, »bin ich dir so oberflächlich
erschienen? Glaubst du nicht, daß ich mich oft genug danach gesehnt
habe, mit euch herumzutollen? Früher, als wir noch jünger waren? Aber
ihr ließt mich ja nie zu. Mein Anzug genierte euch. Also, wenn sich da
so was wie eine Scheidewand aufgetan hat: ich bin doch nicht schuld.
Oder hast du mir sonst was vorzuwerfen?«

Der derbe Bursche biß sich auf die Lippe und blickte stumm vor sich
nieder. Die Situation wurde ihm unbehaglich. Am liebsten hätte er sich
durch einen Sprung in den Torweg gedrückt.

»Nun?« beharrte Hans und trat ihm einen Schritt näher.

»Mensch,« stotterte der Schulkamerad, »du — du — na, du warst uns eben
zu vornehm.«

»Und du, als werdender Künstler, sprichst auch heute noch solche
inferiore Begriffe aus? Weiß Gott, und wenn ich keinen Knopf mehr an
der Hose hätte, dazu wär’ ich zu stolz. Adieu, Hüsgen.«

»Hör mal,« schrie es hinter ihm her, »komm um sechs!«

Hans wandte sich um.

»Ich will deine Anschauungen nicht verwirren,« rief er zurück.

»Also um sechs!« brüllte der andere aus dem Torweg heraus, als ob
der Einwand gar nicht bis zu ihm gedrungen wäre. »Aber gefälligst
pünktlich! Adjüs!«

Hans Steinherr schob den Strohhut in den Nacken und schritt wacker
aus. Er kam sich mit einem Male so unternehmungslustig vor. Und dabei
spürte er doch innerlich eine seltsame, wohlige Unruhe. Ah, war das
wieder ein schöner Tag heute! In dem Garten, der die Steinherrsche
Villa umschloß, dufteten die Rosen betäubend, die Jasminblüten lagen
wie ungezählte weiße Sterne in den grünen Hecken, und der Springbrunnen
sandte aus weitgeöffnetem Reiherschnabel eine Garbe Schaum in die
sonnendurchzitterte Luft.

Es war ganz still im Garten und im Hause. Mama war zum Kaffee zu einer
Freundin gefahren; die Damen hatten jetzt, wo es bald zur Saison nach
Ostende ging, so vieles miteinander zu besprechen. Der Vater war
draußen in den Fabriken.

Hans ließ sich den Kaffee in die Laube bringen. Er hatte eine
vollerblühte Marschall Niel-Rose vom Zweige geschnitten und preßte
sein Gesicht in den Blütenkelch. Um ihn her lebte und webte das leise
summende Getön des Sommers.

Hatte er geschlafen? Er war aufgesprungen und sah nach der Uhr. Fünf
bereits. Der Kaffee stand noch immer unberührt und war kalt geworden.
Er nahm einen Schluck, dehnte sich und ging schnellen Schrittes ins
Haus. Auf seinem Zimmer setzte er sich sofort an den Arbeitstisch und
nahm energisch die Bücher vor. Die Zeigefinger in die Ohren gesteckt,
studierte er emsig sein Pensum für den morgigen Tag.

Da schlug es sechs Uhr vom Kamin. Die durchdringenden Töne der
Metallplatte mußten doch wohl zu seinem Bewußtsein gelangt sein. Er
fuhr auf, starrte die Uhr an, schob die Bücher beiseite und griff
nach seinem Hut. Doch er ging noch nicht. Den Hut in der Hand, stand
er am Fenster und blickte hinaus. Wie der Garten prangte! Welch ein
herrliches Besitztum war doch sein väterliches Heim! — — Im Garten
rief eine kleine, schwarzbraune Amsel. Da lächelte er, ein unsicheres,
zärtliches Knabenlächeln, und verließ langsam das Haus. Eine
Straßenbahn fuhr vorüber. Er sprang auf die Plattform, und in wenigen
Minuten erreichte er den Wehrhahn. Vor der Hüsgenschen Wirtschaft
lauerte bereits der Haussohn.

»Süch ens, der Steinherr!« tat er verwundert. »Hat dich die Frau Mama
losgelassen? Na, komm nur ’rein, du wirst dir auch bei uns die Stiebel
nicht schmutzig machen.«

Hans folgte ihm durch den Torweg. Der mit Lorbeerbäumen und
verstellbaren Hecken bestandene Hof, der sich anschloß, war dicht mit
Menschen besetzt, die den Vespertrunk begannen. Durch die offene Tür
des Schenklokals sah man die Ehegatten Hüsgen am weißgescheuerten
Büfett mit Biergläsern und Butterbroten hantieren.

»Willst du mich nicht deinen Eltern vorstellen?« fragte Hans bescheiden.

»Vorstellen? Meinen Alten?« Hüsgen junior traute seinen Ohren nicht.
»Mensch, du bist doch hier nicht bei Hofe.« Dann, in neu erwachtem
Mißtrauen, zog er die Augenbrauen hoch. »Übrigens, wenn das ein Witz
sein sollte — deine Witze verbitt’ ich mir.«

Hans Steinherr schüttelte den Kopf.

»Hüsgen, daß man im eigenen Hause nicht den Grobian spielt, einem
Gastfreund gegenüber, das hätten dich auch mittlerweile deine
griechischen Klassiker lehren können.«

»Ach was, ein echter Künstler ist immer grob. Ich pfeife auf eure
Finessen.«

»Na, wenn du meinst, die Grobheit allein mache den Künstler, so kannst
du deinen Eltern das Lehrgeld für die Akademie sparen.«

»Gott, wie viel Worte wegen einer überflüssigen Form. Vatter! Mutter!«
rief er zur Büfettür hinein, »ich hab’ hier einen Gast, den jungen
Steinherr von der Grafenbergerchaussee.«

Hans trat vor und verbeugte sich.

»En Gläschen Bier jefällig?« fragte der biedere Alte und hob ein Glas
an den Zapfhahn.

Der Sohn des Hauses stieß den Schulgenossen ironisch in die Seite und
grinste.

»Och, Vatter,« wies die lebensgewandtere Wirtin den geschäftseifrigen
Gatten zurecht, »dä jong Herr Steinherr is doch en Fründ von uns’
Willibald. Freut mich sehr, Herr Steinherr,« fügte sie zierlich wie ein
junges Mädchen hinzu, strich sich die Hand an der Schürze trocken und
reichte sie dem jungen Manne zum Gruß. »Laßt euch als häufiger sehen.
Gelt? — Un nich überarbeiten, Jüngkens.«

Als die beiden jungen Leute die Treppe hinaufstiegen, lachte Willibald
Hüsgen ziemlich respektlos.

»Fein, so’ne Vorstellung, wie?« und er ahmte die Stimmen der Alten
nach. »En Gläschen Bier jefällig? Freut mich sehr, Herr Steinherr ...«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte Hans entrüstet. »Wenn ich doch
regelmäßiger in eurem Hause verkehren will, habe ich wohl deinen Eltern
gegenüber zuallererst die Pflicht der Höflichkeit.«

»Ah so, du willst regelmäßiger — —. Mir kann’s ja recht sein. Hier ist
meine Bude, links, drück auf die Klinke. Der Herr segne deinen Eingang.«

Sie waren ungefähr unter dem Dach angelangt. Hans tat, wie
ihm geheißen, drückte die Klinke auf und trat ohne weiteres
ein. »Donnerwetter!« entfuhr es ihm. Dann blickte er sich mit
großen Augen um. Auf die weißgetünchten Wände war mit Kohle ein
Bacchantenzug gezeichnet, übertrieben in den Formen, willkürlich in
der Linienführung, aber keck und saftig im Entwurf. Die Zimmerecken
waren mit mächtigen Bündeln Schilfkolben ausstaffiert, auf denen eine
silbrige Staubschicht lag. Von der Decke herab hing ein Kronleuchter,
der aus einem großen, mit Kerzen besteckten Faßreifen gebildet war; ein
Uhu, in dessen weitgespreiztem, mottenzerzaustem Gefieder der Reifen
zu ruhen schien, verlieh dem Beleuchtungsapparat einen phantastischen
Reiz. Dicht an das Fenster war eine Staffelei gerückt, die einen
gewaltigen Leinwandrahmen trug. Ob das Bild, das in satten Farben
darauf begonnen war, eine Prozession oder eine blühende Kirschbaumallee
vorstellen sollte, war noch nicht zu erkennen, der Meister erklärte
es vorläufig für das Gelage des Sardanapal. »Weißt du,« setzte er
belehrend hinzu, »hier taugen ja die Weiber nix. Zu schmal in den
Hüften.«

»Schafskopp,« sagte jemand trocken hinter der Leinwand.

Selbst der unverfrorene Willibald fand für einen Augenblick nicht das
Gleichgewicht.

»Sprach da nicht jemand?« flüsterte Hans Steinherr nach einer Pause.

»I wo!« entgegnete der Haussohn grob, »da spielte jemand Flöte. Kommt
heraus da, ihr Gesindel,« rief er und zerrte an dem Vorhang, der als
Draperie von der Staffelei herabhing. »Müßt ihr Frauenzimmer denn die
Ohren überall haben? Vorwärts!«

Hinter dem Vorhang kicherte es. Dann wurde das Tuch zurückgeschlagen
und ein sechzehnjähriges, derbes Mädel trat, flammend rot zwar, aber
resolut vor.

»Meine Schwester Malchen,« sagte der junge Künstler grimmig, »Herr
Steinherr, Oberprima. Nanu, wo steckt denn der Hannes?«

»Hier,« tönte eine feine Stimme, in der Scham und Trotz miteinander
stritten. Das junge Mädchen war unbemerkt hinter dem Vorhang
hervorgetreten und stand nun unbeweglich im Hintergrund des Zimmers.

»Der Hannes,« sagte Hüsgen mit einer Gebärde zu Steinherr hin. Damit
waren für ihn die Formalitäten erledigt.

Hans Steinherr blickte verwirrt zu dem jungen Mädchen hinüber. Er sah,
wie sie die Lippen fest aufeinander schloß, wie die dunkelblauen Augen
einen Stahlglanz erhielten, und er trat rasch auf sie zu.

»Hans Steinherr,« stellte er sich höflich vor und wartete auf Antwort.
Aber sie antwortete nicht. Über ihrer Nasenwurzel grub sich die
kindliche Trotzfalte nur noch tiefer, und der Blick, mit dem sie ihn
feindlich streifte, nahm ihm den Rest von Unbefangenheit.

»Ich glaube, mein Fräulein ...« stotterte er, »verzeihen Sie, Fräulein,
ich habe mich noch —«

Weiter kam er nicht. Die Kleine tat, als wäre er ihr gänzlich fremd,
und Fräulein Malchen nahm keinen Anstand, vergnügt in ihr Taschentuch
zu kichern. Herr Willibald aber machte auf seine Art reinen Tisch.

»Ach, Steinherr, würdest du dir wohl merken, daß wir nicht hier sind,
um einen Kontertanz zu probieren, sondern um Kostüme zu entwerfen.
Schleppt mal den Tisch ans Fenster, ihr beide. Malchen, hol die
Zeichnungen. Ich werde erklären.«

Während er den Rock abstreifte und es sich in Hemdärmeln bequem machte,
rückten Steinherr und seine kleine Feindin den Tisch aus der Ecke
heran. Die Kleine nahm all ihre Kräfte zusammen, um nicht schwächlich
zu erscheinen. Die junge Brust hob und senkte sich bei der ungewohnten
Anstrengung.

»Loslassen!« befahl Hans kurz. Und da sie nicht gewillt schien, zu
gehorchen, setzte er den Tisch nieder.

»Das ist doch keine Arbeit für Mädchen,« sagte er und sah sie an. Dann
packte er den Tisch allein, drückte ihn gegen die Brust und schleppte
ihn mit Aufbietung aller Kräfte ans Fenster.

»Faulwams!« rief er dem Freunde zu.

»Bitte sehr,« entgegnete Hüsgen gelassen, »einer muß dirigieren.«

Hans schob den jungen Mädchen Stühle hin, stellte sich neben dem
Kameraden auf und hörte mit freundlicher Geduld den im Grunde einfachen
Erklärungen zu, die der Dozierende mit großer Wichtigkeit vortrug.

»Ich denke, ihr habt mich begriffen,« schloß der Primaner seinen
Vortrag. »Was die Renaissance ist, hab’ ich euch nun haarklein
auseinandergesetzt. Das ist die Zeit der äußerlichen Pracht und
der innerlichen großen Leidenschaften. Aber uns geht hier nur die
Pracht an. Über die Leidenschaften reden wir später, wenn wir mit den
Kostümproben beginnen können. Die trichter’ ich euch dann schon ein,
die Leidenschaften. Hannes,« unterbrach er sich, »was fällt dir denn
eigentlich ein, zu lachen?«

Steinherr sah schnell zu der Gemaßregelten hinüber. Sie saß, den Kopf
geneigt, und die Abendsonne lag voll auf ihren schweren Zöpfen, die
in der roten Lichtflut wie Feuer gleißten. Ein Beben flog über die
feine Gestalt. Und als dem jungen Manne einfiel, daß der ungeschlachte
Hüsgen, der echte Bierwirtsprößling, diesem Geschöpf die Ausdrucksart
der Leidenschaften einzutrichtern versprochen hatte, da konnte auch er
nicht an sich halten und er brach in ein fröhliches Gelächter aus.

»Am Lachen erkennt man die Dummen,« erklärte Willibald, nachdem er sich
von der ersten Verblüffung erholt hatte. »Wenn ihr bedauernswerten
Böotier keinen Sinn für die Kunst habt, so sagt es doch gleich. Dann
brauch’ ich mich mit eurem Spatzenhirne doch nicht aufzuhalten.«

Er wollte, tief gekränkt, seine Zeichnung zusammenklappen und sich
erheben. Aber Steinherr hinderte ihn daran.

»Entschuldige nur,« sagte er. »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.
Laß uns fortfahren. Oder — wenn du gestattest — laß mich an dem Entwurf
der Skizzen teilnehmen. Vielleicht reicht mein Talent auch noch so
weit.«

»Was?« schrie Hüsgen und schlug auf den Tisch, »du Duckmäuser, du wirst
auch Künstler? Weshalb hast du mir denn das nicht gleich gesagt?«

»Ob ich Künstler werde?« wiederholte Hans Steinherr und ließ die
Blicke auf den im Abendrot flammenden Flechten seiner stumm horchenden
Nachbarin ruhen. »Ein echter Künstler? — — Ich fürchte, lieber Hüsgen,
ich bin nicht grob genug dazu.«

»Du,« sagte der verständnisvoll, »werde gefälligst nicht anzüglich. Das
ist schlimmer als Grobheit.«

Stillschweigend setzte sich Hans an den Tisch und griff nach den
Zeichnungen. Es waren Kostümentwürfe im Stile des Cinquecento. Er
vertiefte sich hinein, dachte nach und nahm, ohne zu fragen, den
Bleistift auf. In feinen, sicheren Schraffierungen zeichnete er das
Prunkgewand einer Florentinerin aus der Zeit der Medici.

Willibald Hüsgen sah ihm sprachlos zu. Auch Hannes hatte sich an den
Tisch gedrängt und blickte erst scheu, bald aber mit offenkundiger
Bewunderung auf die schlanken, gepflegten Hände, die so leicht
produzierten. Man hörte nur die Atemzüge der jungen Leute und das
Stricheln des Bleistiftes.

»Mensch,« brach endlich der zukünftige Akademiker das Schweigen,
»Mensch, du kannst ja was.« Aber, als hätte er seiner Stellung
als Kunstpapst dieses Kreises bereits etwas vergeben, fügte er in
protegierendem Tone hinzu: »Gezeichnet kann man das zwar noch nicht
nennen, das ist eher ein Gedicht. Na, wird schon noch werden. Geschmack
hast du.«

Fräulein Hannes maß den Redner mit einem spöttischen Blick, während
Malchen auf Geheiß des Bruders die Gewandfetzen herbeischleppte.

Hüsgen zeigte sie dem Kameraden.

»Siehst du, das hier wird das Nachtgewand der Francesca von Rimini.
Im Schnitt stimmt’s, und im übrigen ist das ja verteufelt einfach.
Möcht’ wissen, was die Gans, die Male, dabei zu kichern hat. Himmel
Wetter,« fuhr er drein, »hier handelt es sich doch um Kunst, nicht um
ein altes Nachthemd!« Er zuckte die Achseln, überlegen, verächtlich,
mitleidsvoll. »Also wir stellen ein großes, glänzendes, höfisches Bild,
die Francesca als Fürstin; und ein feines, intimes: die Francesca
mit ihrem Geliebten, wie sie gemeuchelt werden. Hannes übernimmt die
Francesca. Das Nachtgewand hat sie bald fertig, sie kann nämlich
Maschine nähen. Jeder muß für sich selber sorgen, streng nach meinen
Skizzen,« flunkerte er, und mit der Schlauheit des Wirtssohnes, die
Wirkung seiner Worte gespannt beobachtend, fügte er seelenruhig hinzu:
»Der Liebhaber der Francesca, der schöne Paolo, steht natürlich im
Vordergrund des Interesses. Um den werden sich alle reißen. Aber ich
will ihn dir überlassen, Steinherr, weil du die richtige Figur dazu
hast. Nun blamier’ mich bloß nicht mit deinen Kostümen. Knausern gibt’s
hier nicht, wir müssen alle bluten. So, nun bedank dich mal.«

Hans Steinherr schüttelte dem geriebenen Jüngling voll herzlicher
Freude die Hand. Er dachte viel zu anständig, als daß er einen
besondern Grund für diesen seltsam schnellen Freundschaftsbeweis
geargwöhnt hätte, und er warf nur einen fragenden Blick auf das junge
Mädchen, das durch viele Proben hindurch nun seine Partnerin werden
würde. Hannes aber tat, als ob sie von den Beschlüssen nichts vernommen
hätte. Sie saß über eine Handnähmaschine gebeugt und steppte das
Nachtgewand der Francesca von Rimini. Das von Gesundheit strotzende
Malchen hockte, die Hände im Schoß, auf einem Schemel vor ihr und sah
ihr gähnend zu.

»Malchen,« kommandierte der Bruder, »du kannst jetzt mal für Abendbrot
sorgen. Bring Bier mit und spekulier, daß du ’n paar Zigarren aus der
Groschenkiste schnappst.«

»Dat dhun ich nich,« empörte sich Malchen. »Gang du nur selber
spekulieren.«

Der Bruder brummte etwas, was gerade nicht wie Bewunderung für die
schwesterliche Tugend klang, und bequemte sich endlich, hinter der
Voraufgegangenen das Zimmer zu verlassen.

Hans und Hannes waren allein.

Durch das offene Fenster kam die Dämmerung gezogen und spann ihre
Schleier um die Gegenstände und die beiden Menschenkinder. Das Mädchen
drehte mit verdoppeltem Eifer das Rädchen der Nähmaschine.

»Sie werden sich die Augen verderben,« sagte Hans leise.

Sie stand auf, trug die Handmaschine auf den Fenstertisch und setzte
wortlos ihre Arbeit fort. Nur das Rädchen schnurrte und belebte die
Stille.

Hans gab den Gedanken an eine Unterhaltung auf. Er ließ sich am Tisch
auf einen Stuhl nieder und sah ihr stumm auf die kleinen, fleißigen
Finger. Zuweilen wagte er den Blick zu erheben und die feine Silhouette
in sich aufzunehmen. Da stand das Rädchen still.

»Das geniert,« sagte sie böse.

»O nein,« antwortete er trotzig, »mich geniert das gar nicht.«

Sie preßte die Lippen zusammen, und das Rädchen schnurrte weiter.

Wie ein breiter Mondscheinstreifen zog der weiße Stoff unter der Nadel
her. Der junge Mann folgte ihm mit den Blicken, und als die Kante
knisternd sein Knie berührte, griff er ihn auf und ließ ihn gedankenlos
durch die Hände gleiten. Dann fiel ihm ein: dieser selbe Stoff, dem er
die Wärme seines Blutes mitgab, würde auf ihrem Körper ruhen, sich an
ihre Glieder schmiegen. Und ganz lind und sacht, als beginge er ein
heimliches Verbrechen, fing er an, das feine Linnen zu streicheln ...

Übte sein beschleunigter Pulsschlag einen Rapport aus? Konnte die
Leinwand, die ihm durch die schmeichelnden Hände glitt und zu den
hurtigen Fingern der Arbeitenden eilte, sein Gefühl verraten? Das
böse, gepreßte Lippenpaar des Mädchens wurde weicher, etwas Süßes,
Fröhliches, fast Schelmisches huschte um den Mund. Noch einmal
schnurrte das Rädchen. Dann stand es still.

»Es ist dunkel,« murmelte sie und lehnte sich hintenüber. Aber die
erwachte Weibsnatur horchte mit feinen Ohren, ob der vornehm gekleidete
junge Herr das alte Gewebe weiter streicheln würde. —

Auf der Treppe polterte das Geschwisterpaar. Nun flog die Tür auf, und
greller Lampenschein überströmte das Gemach. Die Idylle war zu Ende.

»Prost!« brüllte Hüsgen und stieß die Biergläser auf den Tisch.
»Malchen bringt jet zum Müffeln. Zugelangt! Hier sind auch die
Havannas. Kosten mich ~einen~ Griff und ~zwei~ Sekunden Angst. Es lebe
die Kunst! Prost, Leute!«

Es ging gegen zehn Uhr, als die Gäste des Hüsgenschen Ateliers sich
verabschiedeten. Man hatte die regelmäßigen Zusammenkünfte auf Mittwoch
und Samstag festgesetzt.

Draußen, auf der abendstillen Straße, sah Hans Steinherr seine kleine
Dame fragend an. Ohne von seinem Blick Notiz zu nehmen, neigte sie
kurz den Kopf und ging an ihm vorbei. Er beeilte sich, ihr zu folgen,
und hielt neben ihr Schritt, so sehr sie auch hastete. So zogen sie
die Straße den Hofgarten entlang, der vom Duft der Sommernacht erfüllt
war. Und hier faßte sich der große Junge ein Herz und bot dem graziös
einherschreitenden Kind den Arm an.

»Wohl nur, weil’s dunkel ist,« sagte sie ernsthaft.

»Fräulein Hannes!« rief er gekränkt.

»Glauben Sie an Sternschnuppen?« fragte sie schnell. »Man muß sich was
wünschen. Da! — und da auch!«

Und während er hastig in die Luft starrte, war sie verschwunden.

»Gute Nacht!« rief er durch die hohlen Hände und horchte.

Aus der Ferne tönte es lachend zurück: »Gut’ Nacht!« — — —

[Illustration]




Viertes Kapitel


Am nächsten Tage zog sich Hans Steinherr zum ersten Male seit Jahren
in der Unterrichtsstunde eine Vermahnung zu. Er hatte auf den Vortrag
des Mathematikprofessors nicht acht gehabt und wußte, als er aufgerufen
wurde, nicht zu antworten. Bei einer eingehenden Prüfung, die der
Professor sofort mit seinem Schüler veranstaltete, stellte es sich
heraus, daß Hans nicht einmal die geringste Ahnung hatte, welches Thema
überhaupt verhandelt worden war. Die ganze Oberprima staunte. Der
Musterknabe des Gymnasiums hatte sich menschlich schwach erwiesen. Nur
Hüsgen lachte. Und sofort entlud sich über sein Künstlerhaupt der Zorn
des Schulgewaltigen. Aufgefordert, an Stelle Steinherrs den Vortrag
inhaltlich wiederzugeben, hielt er zwar mit mächtigem Stimmaufgebot
eine längere Rede, mußte sich jedoch bedeuten lassen, daß er sich hier
durchaus nicht in einer Narrensitzung der Tonhalle befände, in der der
albernste Mann der berühmteste Mann sei, sondern »verstehen Sie mich
recht, Herr, in einem königlich preußischen Lehrinstitut, in dem der
Anstand mit der Wissenschaft zu wetteifern hat! Sollte sich das eine
oder das andere dieser Worte oder gar beide nicht in Ihrem Vokabularium
befinden, so wird es mir eine Freude sein, Ihnen diese Begriffe vor
dem Schlußexamen noch zu verdeutlichen«.

Der stämmige Bursche hörte mit übertriebenem Interesse zu. Dann aber
ließ er sich kopfschüttelnd und mit einer Miene auf seinen Platz
nieder, die grenzenloses Mitleid mit der Auffassung des aufgeregten
Pädagogen bekundete. Diesmal war es die Klasse, welche lachte.

Hans Steinherr nahm sich vor, dem Professor nach Schulschluß eine
Entschuldigung vorzutragen. Aber kaum war die Glocke des Pedells
erklungen, als sich auch schon Hüsgen an ihn hängte, um seinen Witz an
ihm zu üben.

»Gratuliere, gratuliere. Du vermenschlichst dich in überraschender
Weise. Glaube mir,« fügte er pathetisch hinzu, »die schöne Francesca
und ihr Kavalier wußten auch nichts von Logarithmen, und sie waren
dennoch glücklich.«

Hans Steinherr konnte das Geschwätz nicht ertragen; er schüttelte den
Kameraden an der nächsten Straßenecke ab und eilte nach Hause. Der
Nachmittag war schulfrei. Er arbeitete mehrere Stunden hindurch mit
einem Eifer, als gälte es, die Vergehen eines ganzen Semesters und
nicht die eines einzigen Tages wieder gut zu machen. Im Garten ließ die
kleine, schwarzbraune Amsel ihren Ruf ertönen. Sie störte ihn nicht.
Dann, während er eine Pause machte, um sich das Erlernte zu überhören,
vernahm er die Lockrufe deutlicher. Ruhig weiter memorierend ging er
zum Fenster, öffnete es und begab sich an seinen Arbeitsplatz zurück.
Jetzt machte er zwischen den Sätzen hin und wieder eine Pause. Er
lauschte auf den kleinen Sänger. Mit dem Liede zog durch das offene
Fenster der Duft des Gartens ...

Der junge Stubengelehrte murmelte noch einige Worte seines Pensums.
Dann lehnte er sich langsam in seinen Stuhl zurück, streckte sich
wohlig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

So blieb er lange, und seine Träumereien setzten dort ein, wo sie am
Morgen durch den Aufruf des Mathematikprofessors unterbrochen worden
waren. — —

»Wie schön ist es, jung zu sein,« wogte es in seinem Innern, und es
stieg auf seine Lippen und formte sich zu Worten. Und mit tiefer
Inbrunst sprach er sie aus und wiederholte sie: »Jung zu sein — immer,
immer.«

Konnte man diese Gefühle, die ihn durchströmten, diese Jugend, konnte
man sie bannen?

Er schauerte leicht, öffnete die Augen weit und setzte sich grübelnd am
Tisch zurecht.

Jung bleiben? — Wem war das geglückt, von allen Menschen, die er
kannte? »Mama,« sprach er lächelnd vor sich hin; aber das Lächeln
wollte nicht bleiben. Er war an diesem schweigenden Sommernachmittag
merkwürdig hellsehend geworden. »Mama?« wiederholte er. Sie hieß heute
noch in Freundes- und Besucherkreisen »die schöne Frau Margot«. Aber
wirklich jung? Achtunddreißig Jahre ... Ja, ist denn das schon keine
Jugend mehr?

Es packte ihn eine Angst. Seine Mama, die er nie anders als jung und
schön gekannt, sie hatte die Jugend nicht mehr? Und wenn es keine
Jugend war, die sie antrieb, heiter, strahlend, lebendig zu sein, was
war es dann?

›Unrast‹, sprach es laut in ihm.

Das Wort war da. Er erschrak darüber und suchte die Beweggründe.
Doch es blieb ihm nur das Wort, so sehr er sich quälte, und wie
einen körperlichen Schmerz empfand er plötzlich seine völlige
Lebensunkenntnis.

Er versuchte, an seinen Vater zu denken. Und wieder stand er vor einer
Mauer. Sein Vater? Ob der überhaupt in seiner Jugend jung gewesen
war? Zu einer Zeit selbst, in der Knaben aus Schilf und Haselholz
Flöten schneiden? Nein, das Bild wollte keine Gestalt gewinnen. So
weit er zurückdachte, er kannte seinen Vater nicht anders als mit
derselben unveränderlichen, eisernen Miene des Mannes, für den es keine
Überraschungen gibt, nie gegeben hat.

Was aber ist das Leben ohne Überraschungen? philosophierte der
junge Grübler. Mich hat es doch überrascht, und ich war noch nie so
selig. Ist es denn erforderlich, ist es denn von einer willkürlichen
Altersgrenze abhängig, daß das zu Ende geht?

Er ging erregt im Zimmer auf und ab.

Nein, nein, sagte er sich und suchte sich krampfhaft eine Hoffnung
zuzuführen, das liegt an uns, das muß an uns liegen. An jedem
einzelnen, wie er es anpackt, was er einsetzt, ob er den rechten Mut
hat —.

Und mit einem Male fiel ihm sein nächtliches Abenteuer am
Schützenfesttage ein.

Er sah den Mann am Gitter des Malkastens auftauchen und sich ohne
weiteres von dem Fremden mit Beschlag belegt. Der feine, vornehme
Kopf, die blauen, sieghaften Augen tauchten vor ihm auf. Er hörte
die spottlustigen Worte in seinem Ohre klingen, die den Perücken
den Respekt verweigerten. Und dennoch war es keine lustige Person,
kein Allerweltskerl, der nach dem lachenden Applaus der Menge geizte.
Das hatte ihm der Respekt gezeigt, der diesem Manne selbst in der
buntgewürfelten Malerkneipe der Altstadt von Leuten entgegengebracht
wurde, denen in der Kunst nie ein anderer Name heilig war als der
eigene.

Herr von Springe ...

Der hatte die Jugend, und er zählte vierzig Jahre. Der würde sie haben,
und wenn er das doppelte Alter erreicht hätte. Ob er sein Mentor werden
würde, wenn er ihn bäte? Mit sehnsüchtigem Knabengesicht streckte er
die Arme aus — —

Im Arbeitszimmer des Vaters suchte er im Adreßbuch die Wohnung.
»Immermannstraße.« Wenige Minuten später befand er sich auf dem Wege.

Als er das Haus erreicht hatte, wollte ihm der Mut entweichen,
einzutreten. Er ging einige Male vor der Haustür auf und ab, musterte
verstohlen die Fenster und überlegte gerade, ob er nicht besser täte,
den Besuch zu verschieben, als er auch schon mit zusammengebissenen
Zähnen eine jähe Wendung machte und sich im Hausflur befand. An der
Korridortür der ersten Etage waren zwei Namenschildchen übereinander
angebracht: »Friedrich Leopold von Springe.« »Heinrich von Springe.«
Ohne sich zu besinnen zog Hans Steinherr die Klingel.

Kurz darauf ertönte ein kurzer, fester Schritt. Die Tür wurde geöffnet,
und ein sehniger alter Herr mit kurzgehaltenem, schneeweißem Haar und
aufgebürstetem, schneeweißem Schnurrbärtchen stand vor ihm.

»Womit kann ich dienen?« fragte er und musterte mit seinen klaren Augen
den Jüngling.

»Ich möchte zu Herrn von Springe.«

»Bin ich selber. Oder wünschen Sie die jüngere Auflage? Die ist auch zu
haben. Bitte nur hereinzuspazieren.«

Hans folgte dankend der Aufforderung. Der alte Herr in grauem Gehrock
und weißer Weste war ihm sofort bekannt erschienen. Er hatte ihn zu
Hunderten von Malen auf den Promenaden gesehen.

»Heinrich,« rief der alte Herr und pochte an eine Türe, »Besuch für
dich, mein Sohn.«

»Eintreten!«

Hans trat ein. Er stand in einem hohen, weiten Atelierraum und wagte
kaum zu atmen. Eine gediegene Pracht strömte auf ihn ein, nirgendwo
Überladung, aber jedes Stück unzweifelhaft echt und von erlesener Form,
Möbel, Teppiche, Gobelins, Lampen und Leuchter, Vasen und Bronzen. Von
den an den Wänden aufgestapelten Bildern waren einige zu übersehen:
die rotglühende Campagna, der Triumphbogen des Titus, eine südliche
Felsenlandschaft mit heranrollender See. Auf einer Staffelei stand ein
Bild, an dem der Maler arbeitete: ein schweigender Park in purpurnen,
braunen und gelben Tinten, die Sinfonie des in Schönheit sterbenden
Herbstes.

Heinrich von Springe wandte sich nach seinem Besucher um. Er erkannte
ihn wohl nicht gleich, denn er kniff einen Augenblick das linke Auge
ein und überlegte.

»Aha,« machte er dann, »mein junger Freund, der Dichter.«

»O, nicht doch —«

»Nicht? Mir war doch so? Oder wollten Sie gar Anstreicher werden
wie ich? Übrigens war das früher eine schöne Sitte, daß man den Gast
nicht ausfragte, sondern sich einfach der Ehre seines Besuches freute.
Gestatten Sie mir, ebenso zu verfahren.«

Er legte Pinsel und Palette beiseite, rieb sich die Hände an einem
seidenen Tuch und begrüßte den jungen Mann mit kräftigem Handschlag.

»Schön, daß Sie Wort halten. Machen Sie es sich bequem und strecken Sie
die Beine, so weit Sie wollen. Burg Springe ist stolz darauf, Sie in
ihren Mauern zu beherbergen.«

Er nahm ihm den Hut aus der Hand und drückte den Gast in einen tiefen
Ledersessel.

»Zigarette gefällig? Bitte, bitte, es ist mir eine Freude, Sie mit
Feuer zu bedienen.«

Nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte, nahm er dem
Besucher gegenüber Platz, blies mit schweigendem Behagen ein paar
Rauchringel in die Luft und meinte: »’n ja.«

Hans rührte sich nicht. Er fühlte sich unsagbar wohl in dem tiefen,
kühlen Lehnstuhl, in dem seine schlanke Gestalt fast verschwand,
umgeben von Schätzen der Kunst und in Gesellschaft eines sicherlich
hervorragenden Mannes, der ihn, den Unfertigen, Unbewährten, wie einen
Gleichgestellten behandelte. Es hätte ihn nicht weiter gestört, wenn
die Unterhaltung mit diesem einzigen »’n ja« beendet gewesen wäre. Nur
hier bleiben dürfen. Sonst wünschte er nichts vom Augenblick.

Der Maler betrachtete ihn lächelnd. Er spürte den Überschwang heraus,
dem sich der hübsche Junge da hingab, und es gefiel ihm.

»Ist Ihnen der Schützensonntag gut bekommen? Hoffentlich haben Sie
wegen der späten Sitzung keine Unannehmlichkeiten zu Hause gehabt?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr von Springe. Als ich am nächsten Tage
meinen Eltern von Ihnen erzählte, kam ich ohne Tadel weg. Ich war ja
noch so begeistert.«

»Sie junge Schwarmseele. — Man fand also nichts zu erinnern?«

»O nein, kein Wort. Es wurde auch sogleich von Tisch aufgestanden.«

»So, so. Man stand sogleich von Tisch auf .... Gut. Reden wir von etwas
anderem. Sagen Sie mal, junger Freund, ich war an dem Abend wohl etwas
unparlamentarisch. Oder ziehen Sie das klare, deutsche Wort ›ruppig‹
vor? Nur heraus mit der Sprache, ich kann’s vertragen.«

»Sie beschämen mich, Herr von Springe. Es war doch ein so wundervoller
Abend.«

»Ja, ja,« sagte Springe und stäubte mit dem kleinen Finger die Asche
von seiner Zigarette, »ich entsinne mich. Ich hatte mich im Malkasten
erbost, über eine Mitteilung, über einen Kumpan, der umgefallen war.«

»Umgefallen?«

»Ach so, das verstehen Sie nicht. Ich meine: der ›aus Gründen‹ eine
Reverenz vor den Perücken gemacht hatte. Glauben Sie mir, man soll nie
etwas aus Gründen tun.«

»Pardon, jetzt versteh’ ich wirklich nicht.«

»Na ja, es klingt paradox. Aber wenn der Mensch schon Gründe
herbeiholen muß, fährt seine Ursprünglichkeit zum Teufel. So tun,
so leben, weil man nicht anders kann, weil einen der Geist, die
Stimmung, der Herzschlag ~so~ treibt und nicht anders, das ist das
einzig Richtige, das einzig Menschenwürdige und nebenbei auch das
einzig Vergnügliche im Leben. Und auf das Letzte kommt es nicht zuletzt
an. Oder man spielt sich selbst die abgeschmackteste Komödie vor. Aus
Gründen!«

»Ich verstehe Sie,« sagte Hans, und es war ihm ganz feierlich zu Mute.

Der andere bemerkte es und wechselte den Ton.

»Fidel, fidel!« rief er und schlug ihn leicht aufs Knie. »Als ich Sie
vor dem Malkasten sah, Einlaß begehrend, junger Freund, fuhr es mir
durch den Kopf: diese junge Künstlerseele schnappst du denen da drinnen
weg. Und nachher hatte ich die Ehre mit einem Herrn aus Oberprima.«

»O, bitte, machen Sie sich nur über mich lustig. Vertreiben werden Sie
mich deshalb doch nicht.«

»Sieh mal an,« meinte der Maler gedehnt. Dann stand er langsam auf,
strich seinem Gegenüber freundlich über das Haar und ging quer durch
das Zimmer zu einer Glastür, die zu einer Veranda führte. Er öffnete
sie und schaute hinaus.

»Was der Bengel für eine zärtliche Stimme hat,« murmelte er. »Wie einst
die kleine Margot. Und die hat getäuscht.«

Er kam zurück und blieb vor dem Ledersessel stehen. Der junge Mann
verspürte eine leichte Unruhe, als er den prüfenden Blick auf sich
gerichtet fühlte. Er wollte sich erheben und fragte unsicher: »Habe ich
vielleicht etwas Inkorrektes gesagt, Herr von Springe?«

Springe drückte ihn in den Sessel zurück.

»Inkorrektes? — Bleiben Sie ruhig sitzen, Kleiner. — Inkorrektes?
Herrgott, sagen Sie so viel Inkorrektes, wie Sie wollen. Das wird mir
mehr Spaß machen als die tadellosesten Erziehungsproben. Geben Sie
sich, wie ~Sie~ sind, nicht wie andere sind. Allons!«

»Dann,« sagte Hans und nahm einen mutigen Anlauf, »möchte ich Ihre
Bilder sehen.«

»So!« meinte der Maler mit lachender Selbstironie. »Wenn das inkorrekt
sein soll — schmeichelhaft für mich ist das ja gerade nicht. Aber ich
werde meiner Lebensweisheit nicht untreu werden. Kommen Sie, verehrter
Kunstkritiker.«

Er führte den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf eine Erwiderung
stammeln wollte, aber keine fand, im Atelier umher. Zu jedem Bilde, das
er auf die Staffelei hob und in die richtige Beleuchtung rückte, gab er
eine kurze Erklärung. »Gemalt in der Campagna, gemalt in Rom, gemalt
an der sizilianischen Küste, gemalt im Park zu Versailles, wenigstens
in der Studie; das übrige müssen Ihnen die Bilder sagen, oder es ist
schade um die schöne Leinwand.«

Hans gab keine Antwort. Er trat vor die Bilder hin und versenkte
sich in ihre Sprache. Und ihm war, als ob es nicht die Sprache der
Landschaften wäre, die aus den seltsam packenden Gemälden redete, als
ob er die Sprache einer Menschenseele vernähme, die sich hier, fern dem
lauten Marktgetriebe, zum Beten gefunden hätte. Wie konnte ein Mensch
so tief empfinden, wie seine Empfindungen so leidenschaftlich zum
Ausdruck bringen! Ein Mensch, der so spottlustig durchs Leben schritt,
wie Herr von Springe!

»Wie viel heimliche Liebe müssen Sie in sich tragen,« sagte er leise.
»So kann nur ein Glücklicher malen.«

Springe legte ihm den Arm um die Schulter.

»Heimliche Liebe? Menschlein, Sie sind eine Poetennatur. Aber werden
Sie erst älter, dann reden wir auch vom Glück. O, Sie süße Einfalt, als
ob Liebe und Glück dasselbe wäre.«

»Ist es das nicht?« fragte Hans verwirrt.

»Doch, doch. Beruhigen Sie sich. Sie brauchen Ihre Erstlingsgedichte
deshalb nicht gleich ins Feuer zu werfen. Aber wenn Sie eines Tages,
was Gott verhüten möge, an einer Frau irre werden, die Sie geliebt
haben, dann wundern Sie sich nicht, sofern Sie ein Künstler sind,
daß Ihre Kunst tausendmal reicher wird. Das ist wie mit einem wilden
Rosenstrauch, der aus den Schutthaufen verfallender Burgen seine
prangendsten Blütenzweige treibt. Das Entgelt, das der Himmel zahlt.
Für jeden Blutstropfen eine Doppelkrone. He, paßt Ihnen das nicht?«

»Ich möchte doch lieber —«

»Ihr Blut behalten? O ja, dafür gibt’s auch ein Rezept. Auf alles
pfeifen, sobald man es richtig abtaxiert hat, und nicht heulen, wenn
man herausfand, daß das hübsche Ding nur einen Groschenwert besaß. Das
hält merkwürdig jung; und jung sein, das heißt lieben. Punktum, streu
Sand drum.«

»Darf ich Sie noch etwas fragen?« bat der junge Schüler zögernd.

»Liebster, ich bin nicht allwissend. Sein Bündelchen Weisheit muß jeder
vom Leben selber kaufen.«

»Nur eins noch, bitte. Halten Sie — halten Sie viele Frauen für
Groschenware?«

»Kommen Sie doch mal ans Fenster,« sagte Springe nach einer Pause, »ich
möchte Ihnen gern einmal in die Augen sehen. Also Sie sind bereits
verliebt —.«

»Nein, nein, nein,« wehrte der Errötende halb unverständlich ab.

»Aha,« machte der Maler ironisch, »der Kampf der guten Erziehung mit
der Stimme der Natur. Die Hauptsache ist, nicht feige sein.«

»Ich bin nicht feige, ich schwör’ es Ihnen. Ich bin nur unwissend. Die
Damen, die ich in Mamas Salon kennen lernte —«

»Keine Beichte,« sagte Springe und strich ihm mit der Hand über das
erhitzte Gesicht. »Und was die Groschenware betrifft, mein lieber,
dummer Junge: Hüten Sie sich stets im Leben vor den Frauen, die
Gefallsucht mit Liebe, und Sinnlichkeit mit Leidenschaft verwechseln.
Das ist ganz verdammtes Kroppzeug aus dem Ramschbazar. Und nun hören
Sie mal, Verehrungswürdiger, wenn Sie etwa vorhaben, hier auf Burg
Springe sentimental zu werden, so werfe ich Sie samt Ihrer Kontrebande
hinaus. Hausrecht! Verstanden?«

Er trat auf die Veranda hinaus, die von Weinlaub dicht überwuchert war.
Die Hände auf die Brüstung gestützt, schaute er in die Luft, in die
sich das erste Dämmer mischte. Nach einer Weile wandte er sich wieder
um. Aus seinen Augen lachte die sieghafte Fröhlichkeit.

»Sehen Sie sich mal diesen Winkel an, Kleiner! Weinlaub oben, Weinlaub
unten und Weinlaub von allen Seiten. Schreit das nicht förmlich nach
einer Bowle? Und nachher kommt der Mondschein und setzt silberne
Lichter auf den goldenen Wein. Und man schlürft lauter Schätze in sich
hinein. Ah, das Zechen ist nicht die geringste Kunst. Menschen, die
nicht zechen, sind mir verhaßt wie die Leisetreter, denn sie haben
Angst, sich zu begeistern. Wir aber —« er unterbrach sich. »Na, wir
wollen das doch lieber durch die ~Tat~ beweisen.«

Er ging zur Tür und rief in den Korridor hinaus: »Herr Friedrich
Leopold, Burggeist, Kellermeister, erscheine! Mr wolle en Böwlchen
drinke.«

Aus dem Nebenzimmer kam schmunzelnd der alte Herr.

»Die Botschaft hör’ ich wohl, allein — apropos, würdest du mich mit
deinem Gast bekannt machen?«

»Herr Hans Steinherr. — Mein Vater.«

»Steinherr?« wiederholte der alte Herr. »Hm, ja — — der Name ist mir ja
nicht ganz unbekannt.«

»Hans Steinherr, wohnhaft Grafenberger Chaussee, seines Zeichens
Oberprimaner, in Zukunft ein großer oder ein kleiner Mann, wie’s
fällt, in der Gegenwart aber mein Freund, mein jüngster Freund. Dieser
Steckbrief, du lebensweiser Vater, wird deiner Menschenwürdigung
genügen. Daraufhin schau dir das Objekt einmal genauer an.«

»Da mein Sohn und ich Freunde sind,« sagte der alte, stramme Herr und
schüttelte dem jungen Manne die Hand, »so sind seine Freunde meine
Freunde. Also das wollen wir feiern. Das wäre jetzt die Hauptsache.«

»Hören Sie nicht hin, was dieses leichtfertige Alter spricht!« lachte
der Maler. »Seine Lebensweisheit ist vom Weine abhängig, echt und
unverfälscht rheinländisch. Wenn die Bowle winkt, sind alle Menschen
Brüder.«

»Mein Sohn übertreibt schamlos,« widersprach der alte Herr würdig. »Er
war’s, der nach der Bowle rief, ich aber war’s, der eintrat, um ruhig
und sachlich zu zitieren: Die Botschaft hör’ ich wohl, allein —«

»Allein —?« wiederholte Springe junior.

»Allein mir fehlt der Wein,« vollendete Springe senior und zuckte
bedauernd die Achseln.

Die beiden Springes sahen sich in die Augen.

»Behüter meiner zarten Jugend,« sagte der Junge endlich, »du gibst mir
ein schlechtes Beispiel.«

»Mein Sohn,« sagte der Alte, »ich habe dich bislang nur den Weg zur
Tugend geführt. Schlechter Wein aber, oder sogar gar kein Wein, das ist
keine Tugend.«

»Die Weisheit deiner Jahre,« erwiderte der Junge, »ist
bewunderungswürdig, und ich beuge mich voller Respekt. Aber ich
argwöhne,« und er trat dicht vor ihn hin, »du hast die Tugend wieder
einmal allein ausgeübt. Herr Friedrich Leopold von Springe, ich habe
Sie im ernstlichen Verdacht, heimlich zu schnäpsen. Das ist Egoismus,
mein Vater. Mit solchen Grundsätzen wird man nicht alt!«

Das Gesicht des siebzigjährigen, frischen Herrn wetterleuchtete vor
Vergnügen.

»Heinrich,« sagte er, »wie würde ich meine Jugend so leichtsinnig
aufs Spiel setzen. Außerdem: zur Liebe und zum Zechen genügt nie ein
Menschenkind allein. Lerne das von deinem alten Vater.«

»Also liebst du mich nicht mehr,« seufzte der Maler, »denn du nimmst
mir die Gelegenheit, mit dir zu zechen.«

»Es ist nicht meine Schuld,« verteidigte sich der alte Herr. »Ich
war heute morgen persönlich bei Scheufgen, um einen ganz exquisiten
kleinen, aber spritzigen Mosel zu bestellen. Und heute nach Tisch kommt
so ein gallonierter Schuft und schleppt einen ganzen Korb Niersteiner
an. Ich hab’ ihm nicht schlecht den Kopf gewaschen. ›Rheinwein? Mosel
will ich!‹ hab’ ich ihn angedonnert, ›zum Teufel, ich bin doch ein
Rheinländer!‹ Und was glaubst du? Der unverschämte Bursche packt
seelenruhig seinen Korb aus und sagt schnippisch, ›die gnädige Frau
habe das nun einmal so angeordnet‹. Die ›gnädige Frau‹! Die dicke
Scheufgen! Na, da wurd’s selbst mir zu viel. Ich habe den arroganten
Bengel kurz beim Schlafitchen genommen und ihn samt seinem Niersteiner
vor die Tür befördert. ›Die gnädige Frau,‹ hab’ ich ihn angeblasen,
›soll nächstens ihre Ohren besser aufsperren, oder ich such’ mir ein
besseres Haus! Bestellen Sie das Ihrer Gnädigen!‹« Der alte Herr fuhr
sich mit seinem rotseidenen Taschentuch über die Stirn. »Auf diese
Weise, mein Sohn, wären wir nun ohne Wein.«

Heinrich von Springe hatte mit merkwürdig interessierten Augen
zugehört. Er ergriff die Hand des Vaters und schüttelte sie lange und
kräftig.

»Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Papa.«

»Nicht wahr?« meinte der alte Herr; aber er fragte etwas kleinlaut,
denn die Herzlichkeit des Dankes schien ihm nicht ganz im Einklang mit
dem kleinen Vorkommnis zu stehen.

»Selbstverständlich. Man darf sich nur nichts gefallen lassen. Dieses
Volk möchte einem immer seinen schlechten Geschmack aufdrängen.
Freilich, daß es unbedingt Mosel sein müßte —«

»Aber ich hab’ ihn der alten Tante doch deutlich genug bezeichnet.«

»Nee, Alterchen, bezeichnet hast du ihn nicht, und das mit der alten
Tante stimmt auch nicht. Im Gegenteil: eine höchst scharmante Frau.
Als sie gestern bei mir im Atelier war, um den Herbstzauber auf der
Staffelei zu besichtigen, den sie, nebenbei gesagt, kaufen will —«

»Was,« rief der alte Herr und riß die blanken Augen auf, »die Scheufgen
will Bilder kaufen?«

»Nein, lieber Papa,« sagte der Maler freundlich, »die Frau Präsident
von Tondern. Als sie den ›Herbst‹ sah, meinte sie, da ich die Studien
dazu im letzten Jahre gemalt hätte, müßte ich auch den Wein dieses
gottgesegneten Jahrganges kennen lernen. Er sei zwar noch jung, aber
schon gehaltvoll. Die Leute haben nämlich große Weingüter. Und heute
schickt sie den Niersteiner. Brav, mein Vater, daß du das Unglück
abgewendet hast. Dieser Umgang verdirbt unsere einfachen Sitten.«

Die Kinnlade des alten Herrn war mit einem Ruck nach unten gegangen,
der Mund stand auf, und die Augen hatten den Ausdruck eines erstaunten
Vogels. Er tastete mit der einen Hand nach der Hand des Sohnes, während
die andere das Taschentuch an die Augen führte. Das Antlitz abgewandt,
verhüllte mit der freien Hand auch der Maler sein Gesicht. So standen
sie lange, und ein Schweigen entstand, das für den unbeteiligten Gast
doppelt peinlich war. Dann ging ein Zittern durch ihre Körper, ihre
Schultern begannen zu zucken, immer heftiger machte sich das Toben der
Gefühle bei Vater und Sohn bemerkbar — und plötzlich lagen sie sich in
den Armen und lachten und lachten, daß es die Wände zu sprengen drohte.
Ob die Affäre unliebsame Folgen haben könnte, daran dachte weder das
Kind von Vater noch das Kind von Sohn. Selbst Hans wurde angesteckt,
und er schmetterte sein jugendhelles Lachen in das Duett der beiden
sonnigen Menschen. Burg Springe beherbergte drei wahrhaft Glückliche ...

Draußen wurde an der Klingel gerissen.

»Besuch,« sagte der alte Herr und wischte sich die tränenden Augen.
»Den können wir brauchen.«

Er ging selbst, um zu öffnen. Nach einer Weile steckte er den Kopf
durch den Türspalt.

»Diesmal,« verkündigte er, »ist es der richtige Scheufgen! Ich werde
die Bowle gleich auf Eis stellen. Zweitens habe ich Herrn Professor
Schack anzumelden. Er scheint mir ebenso reparatur- wie bowlebedürftig.«

»Schack?« fragte der Maler schnell zurück. »I was! Herein mit Seiner
professoralen Gnaden.«

Hastig und aufgeregt trat ein Mann von einigen dreißig Jahren ins
Atelier. Sein Gesicht war blaß, aber ausdrucksvoll und intelligent.
Seine unruhigen Augen bekundeten eine starke Nervosität.

»Guten Abend, Springe. Kann ich dich sprechen oder stör’ ich? Ah,
Verzeihung, ich sehe, du hast Besuch.«

»Guten Abend, Schack. Pardon, Pardon, man muß wohl jetzt Professor
sagen. Ja, wenn dir hier die Luft nicht zu revolutionär ist? So ein
frischgebackenes Professorenwesen hat das im Geruch wie eine Hofdame
den Sozialdemokraten. Herr Steinherr — Herr ~Professor~ Schack.«

Der Neuhinzugekommene erwiderte die Verbeugung des jungen Mannes
zerstreut.

»O,« sagte er hitzig, »ich kann auch wieder gehen. Ich dachte nur,
ein Mensch deines Genres würde ein Verständnis für die Gründe haben,
derentwegen ich die Stellung an der Akademie übernahm.«

»Lieber Schack, ich habe schon als kleiner Junge nicht für die
Geschichten geschwärmt, denen im Lesebuch eine Moral in Vers oder Prosa
angehängt war. Wenn die Geschichte nicht für sich spricht, helfen alle
Begründungen nichts. Wenigstens bei mir nicht. Du bist umgefallen. Was
mich aber nicht hindert, mit dir als Menschen einen Becher zu leeren.
In deinem Interesse schlage ich vor: Wir wollen auf die Terrasse gehen.
Dort ist selbst für einen Akademieprofessor eine Luft, die sich neutral
und höchst gebührlich aufführt. =Avanti, signore=.«

Springe schob den aufgeregten Kollegen vor sich her und winkte Hans
freundlich zu, ihnen zu folgen. Das letzte verlorene Sonnengeflimmer
zitterte durch das Weinlaub und malte weiße Kringel auf den Tisch. Die
Herren saßen in ihren Stühlen und sahen dem Spiele zu. Irgendwo in der
Nachbarschaft wurde ein Klavier bearbeitet, und ein jugendlicher Chor
intonierte das Rheinlied:

    »Nur am Rhein, da will ich leben,
    Nur am Rhein geboren sein — — —«

Der Chor klang rauh und ungeschult, aber das verschlug den Sängern
nichts. Die mangelnde Schönheit wurde durch Lungenkraft und
Begeisterung hinlänglich ersetzt. Mitten in das Rheinlied hinein ließ
ein Sohn der roten Erde trutzig das Westfalenlied ertönen:

    »Du Land, wo meine Wiege stand,
    O grüß dich Gott, Westfalenland!«

Eine Pause entstand. Dann sangen die lustigen Brüder einträchtig
miteinander:

    »Der Herr Pappenheimer, der soll leben,
    Der Herr Pappenheimer lebe hoch!
    Beim Bier und beim Wein
    Lust’ge Pappenheimer woll’n wir sein ...«

»Das sind die Balduren,« nickte Springe, »goldenes, unverschämtes
Künstlerblut. Die Kerle sind unverkennbar an ihren schrecklichen
Stimmen. Aber sie haben den Teufel im Leib und fürchten sich nicht vor
Gott und der Welt. Darum lieb’ ich sie!«

»Jawohl,« knurrte der Professor, »nur vor der Malerei fürchten sie
sich.«

»Ach du lieber Himmel, wer am bravsten im Taglohn malt, ist deshalb
nicht der größte Künstler.«

»Soll das etwa auf mich gehen?« fuhr Professor Schack empor.

»Dort naht der versöhnliche Geist Herrn Friedrich Leopolds mit
dem Abendimbiß. Ich beanspruche einen Waffenstillstand zur
Provianteinnahme.«

Der alte Herr von Springe machte dem Geplänkel ein Ende. Mit der
Zuvorkommenheit eines alten Ritters spielte er den Wirt, nötigte zum
Zulangen und kredenzte in Gläsern verschiedener Formen und Farben den
Wein. Als die Dunkelheit hereinbrach, entzündete er eine Ampel, die
wie ein satter Rubin aus dem grünen Weinlaub über der Terrasse lugte,
und holte eigenhändig die kristallene Bowlenschale. Man saß zu viert,
feierlich, und kostete.

»Ah!« machte Schack und tat einen leisen Schnalzer.

»Das schmeckt wie flüssige Jugend,« bemerkte der alte Herr. »Davon kann
man nie genug bekommen. Bitte auszutrinken.«

Man trank und plauderte. Von der Kunst wurde kein Wort gesprochen. Nach
dem vierten Glas aber wurde Professor Schack melancholisch.

»Lieber Springe,« sagte er und blickte finster in das schwimmende Gold
seines Glases, »ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.«

»Lieber Schack,« entgegnete der andere, »das ist der große Irrtum.
Du bist nur dir allein Rechenschaft schuldig. Geht die Rechnung auf,
umso besser für dich. Stolperst du über einen Fehler, so mußt du ihn
korrigieren. Lediglich deinetwegen. Das ist’s.«

»Ich weiß, worauf du hinzielst,« versetzte der junge Professor, »und
ich will mich auch nicht entschuldigen. Aber menschlich verständlich
will ich mich dir machen. Seit dem Tage, an dem ich dir im Malkasten
mitteilte, daß ich zum Professor an der Akademie ernannt sei, meidest
du mich. Du behauptest, ich wäre umgefallen, ich hätte — ja, ich
hätte die Sünde wider den heiligen Geist begangen, weil ich meine
individuelle Art des lieben Amtes wegen nach dem Akademiezopf regeln
würde, langsam, aber sicher. Abgesehen davon, daß doch auch im anderen
Lager Männer stehen —«

»Entschuldige,« sagte Springe, »du willst da gerade einem landläufigen
Irrtum Worte verleihen. Ich kenne kein anderes Lager, ich kenne nur
Künstler! Ob sie auf die sogenannte alte oder auf die sogenannte
neue Manier malen, das ist mir ganz egal. Die Hauptsache ist mir,
ob sie die schöne Illusion erzielen. ~Wie~ sie das machen, ist mir
Nebensache. Die Individualität ist die Hauptsache. Ein Gott läßt sich
nicht in spanische Stiefel schnüren, oder es wird ein Götze. Ein
Ölgötze in unserem Falle. Und obwohl du weißt, daß auf der Akademie
augenblicklich mit Nachdruck schablonisiert wird, gehst du hin und
wirst Helfershelfer.«

Schack sah düster vor sich hin. Dann griff er nach seinem Glase, trank
es aus und setzte sich aufrecht.

»Du hast eins vergessen. Der heilige Geist, gegen den man sündigen
kann, besteht nicht allein in der Kunst. Er ist hier, da und dort. Er
ist überhaupt der reine Kautschukbegriff. Jeder arme Teufel legt ihn
sich auf seine Art aus. Schwärmer behaupten, er sei die Liebe.« Er
stand auf. »Auf die Gefahr hin: ich bin ein Schwärmer.«

»Schack, alter Kamerad ...« Springe hatte sich schnell erhoben und den
Aufgeregten sanft in den Sessel niedergedrückt. »Ich hatte ja keine
Ahnung. Was ist denn los?«

»Siehst du,« begann der Akademieprofessor, »ich habe gemalt, was das
Zeug hielt. Nicht oberflächlich, das weißt du. Ich habe, um mich
deines Ausdrucks zu bedienen, den Gott in mir wahrhaftig nicht in
spanische Stiefel geschnürt. Ich wurde verlästert, verhöhnt, als
Tempelschänder gebrandmarkt. Ich arbeitete fort. Als die Schreier
meine Entschlossenheit sahen, verliefen sie sich allmählich. Auch die
Kritik wagte sich jetzt hervor. Man nannte mich in den Zeitungen eine
interessante Erscheinung. Aber Bilder kaufen — das war nicht. Ich
war von den Perücken, die im lieben Düsseldorf einmal die Papstgewalt
haben, nicht approbiert. Unterdes wurde ich achtunddreißig. Und mein
Mädchen wurde auch nicht jünger. Springe,« fuhr er fort und griff nach
der Hand des Freundes, »das — das ist das Schrecklichste. Sehen, wie
die Jugend schwindet. An der Liebsten es sehen. An den kleinen Fältchen
der getäuschten Sehnsucht, den schmalen Wangen, die die heimliche Angst
blaß färbt, dem ergebungsvollen Blick der Entsagung. Springe, du hast
nicht geliebt, sonst wüßtest du, daß man in solchen Augenblicken sein
künstlerisches Gewissen für eine Handvoll Haselnüsse verkauft, daß
man seine Individualität hinschmeißt wie einen alten Handschuh, daß
man zu allem, aber auch zu allem bereit ist, um nur nicht hinsterben
zu müssen, ohne die Jugend der Liebsten und damit die eigene gerettet
zu haben. Ruft allesamt, ich sei umgefallen. Ich weiß das besser.
Ich zahl’ der Welt mit gleicher Münze, und inzwischen küsse ich im
Blumengarten meines stillen Mädels alle blassen Rosen wieder rot. Erst
kommen wir selber!«

Es war einen Augenblick still geworden auf der Terrasse.

»Und du,« brach Springe das Schweigen, »willst deine Individualität
hingeschmissen haben? Ich habe dich falsch beurteilt, denn du hast mir
nie von deiner Freundin erzählt. Vielleicht,« fügte er lächelnd hinzu,
»weil du mir kein Verständnis für die Liebe zutrautest. Aber,« er wurde
wieder ernst, »dem geliebten Weib gehört nicht nur die Kunst, ihm
gehört das Leben zuallererst. Jetzt habe ich keine Angst mehr um dich.
Schack, deine Liebe soll leben.« — —

Den alten Herrn und den jungen Gast hatten die beiden Maler gänzlich
vergessen. Jetzt erhob sich der alte Herr und klingelte an sein Glas.

»Liebe Freunde,« begann er, »ich möchte zu diesem Thema auch ein
Wörtlein sagen. Freund Schack hat soeben die Angst vor dem Altwerden
bekundet. Nun, er hat ja auch das Arkanum dagegen gefunden. Aber
wenn das Arkanum auf die Dauer Wirkung haben soll, müssen Sie alle
selbst das Beste dazu tun. Ich bin siebzig Jahre. Wie? Bin ich nicht
ein Jüngling? Sind Sie der Meinung, daß ich je im Leben alt werden
könne? Wollen Sie das Geheimnis wissen? Nun, es ist einfach. Werden
Sie nie im Leben blasiert! Versuchen Sie auch nie, über das Leben zu
philosophieren. Sie behalten jedesmal unrecht und haben eine Menge
Zeit vertrödelt. Das Alpha und Omega dieses Daseins ist, zu wissen:
~daß~ man lebt. Und es lohnt sich — glauben Sie das meiner langjährigen
Erfahrung — am besten, daß man für diese kurze Erdenspanne so lacht und
liebt, singt und trinkt, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Klappt
einmal der Sargdeckel zu, und man entsinnt sich just in dieser Sekunde
einer Seligkeit, die man abgewehrt hat, kriegt man noch im Grabe die
Gelbsucht, und die schadet dem Teint. Ich meine natürlich den Teint der
Erinnerung. Meine Freunde, es prangt und duftet die Sommernacht, und
die Bowle nicht minder. Die Philister liegen in der Klappe und zetern
über unsere Untugend. Die Tugend aber ist das Leben; mit ihm hört auch
die schönste auf. Und diese Tugend wollen wir auf das kräftigste
ausüben. Dann sind wir die Herren dieser Welt, dann sind wir die ewige
Jugend. Bange machen gilt nicht. Prosit!«

Der Akademieprofessor fiel dem alten Herrn schluchzend um den Hals.
Die Erregtheit der letzten Stunden, die rasch getrunkene Bowle, die
wunderbare Sommernachtstimmung und die prächtigen Menschen um ihn her —
er konnte nicht anders, er bekam es mit der Rührung.

Hans Steinherr hatte mäuschenstill dagesessen. Es war ihm heiß und
kalt geworden, er hätte, ganz gegen die ihm anerzogenen Gewohnheiten,
schreien und singen mögen, und plötzlich sprang auch er auf und fragte
an, ob er ein Gedichtchen deklamieren dürfte, das ihm heute eingefallen
sei.

»Silentium! Silentium für den Dichter!«

Und mit vor Erregung zitternder Stimme sprach der Jüngste des Kreises:

    »Was nutzt der Kuß auf deinen Mund,
    Wenn nicht dein Herz erglommen?
    Tut sich der Lenz dem Blut nicht kund,
    Was soll der Name frommen?

    Und sehnst du dich, daß dir die Kunst
    Entschleiert sich soll zeigen:
    Lern fühlen nur mit inn’ger Brunst
    Und laß die Lippe schweigen.

    Gott ist im Sturm, im Frühlingswind
    Und in der Früchte Samen.
    Das Glück, du grübelnd Menschenkind,
    Du bannst es nie mit Namen.

    Tu auf das Herz zur Feierstund’,
    Bekränze still die Pforte.
    Dann regt sich’s auf der Seele Grund
    Wie seltne Bibelworte.

    Und ob dein Mund der lauten Welt
    Ihr Wesen nie verkündet:
    Wenn nur dein Herz die Zwiesprach hält,
    So hast du es ergründet.

    Das tiefste Glück, das du dir schufst,
    Blieb immer ungesprochen.
    Und wenn du es bei Namen rufst,
    Sein Zauber ist gebrochen.«

Blaß bis unter die Haarwurzeln wollte sich Hans setzen. Er war zu Ende.
Aber Heinrich von Springe war hinter seinen Stuhl getreten und schloß
den Jungen in seine Arme.

»Hättest du das auch zu Hause, in einer eurer Gesellschaften
vorgetragen?« fragte er ihn halblaut und sah ihm in die Augen.

»Nein. Dort hätte ich es nie gekonnt. Hier fühl’ ich mich so, so — —«

Springe küßte ihn auf den Mund. Das »Du« behielt er bei. —

Der Akademieprofessor stellte nach einer Stunde fest, daß er den Rest
seiner Energie für den Nachhauseweg nötig habe. Lachend führten ihn
Springe und Steinherr die Treppe hinab. Der alte, fröhliche Herr folgte
mit dem Licht, und er zitierte kräftig aus seinem Lieblingsdichter
Wilhelm Busch für den Professor einen Abschiedsgruß.

    »Einen Menschen namens Meyer
    Schubbst’ man vor des Hauses Tor
    Und man sagt’: Betrunken sei er,
    Selber kam’s ihm nicht so vor.

=A rivederci, a rivederci=, es lebe die Persönlichkeit!« —

[Illustration]




Fünftes Kapitel


Bei Willibald Hüsgen wurde emsig geprobt. Die Kostüme waren im Laufe
der Wochen fertig geworden, die Dekorationen von Willibalds Meisterhand
entworfen und in ziemlich eigenmächtiger Weise auf große Papierrahmen
gemalt. Der Künstler nannte das kurz: =al fresco=. Mutter Hüsgen
hatte bereits den Saal herrichten müssen, der während des Semesters
den Gaudeamusbrüdern zur Kneipe diente, und der Wirt, der »Baas«,
ließ seinen Stammgästen gegenüber geheimnisvolle Worte fallen, um
durchsickern zu lassen, was für ein Mordskerl sein Willibald sei, und
»von der Mutter hätte der Jung’ das nu mal nich«.

Zu Anfang September erklärte der selbstbewußte Arrangeur, daß die
Vorstellung, wie es im Bühnenjargon heiße, nunmehr »stehe«. Das
Knochengerüst wäre da, nun gelte es, Fleisch ansetzen. Bei der nächsten
Probe am Samstag würde er mit der Durchgeistigung der Bilder beginnen.

Hans blickte auf Hannes. Aber das Mädchen lachte nicht zu den
protzenhaften Worten wie einst, da ihnen auf dem Dachstubenatelier Herr
Willibald die Eintrichterung der Leidenschaft versprochen hatte. Es
war seit jenem Tage und mit der Zeit fortschreitend eine so seltsame
Änderung mit dem jungen Geschöpf vor sich gegangen, daß es der Umgebung
hätte auffallen müssen, wäre diese egoistische Jugend nicht viel zu
sehr von sich selbst in Anspruch genommen gewesen. Mechanisch folgte
sie den Regievorschriften, mechanisch nahm sie ihre Stellungen ein und
ahmte die Bewegungen nach, so daß der rücksichtslose Haussohn mehr als
einmal ein Donnerwetter über die verdammte Steifheit der Frauenzimmer
im allgemeinen und im besonderen über die Häupter der Versammelten
schickte. Dann färbte sie sich blaß und rot, verharrte regungslos und
wie im Trotz in ihrer eckigen Haltung, um, sobald die Probe ihr Ende
erreicht hatte, in einem Temperamentsausbruch sondergleichen durch das
Zimmer zu tollen.

Hüsgen stand wie versteinert. Aber die Versteinerung wandelte sich bald
zur wilden Wut.

»Kröte,« schrie er »alberner Aff’, wenn du dir etwa einbildest, mich
hier zum Narren zu halten, so soll doch gleich — Rausschmeißen werd’
ich euch, rausschmeißen alle miteinander —!«

»Du hältst sofort den Mund!« fiel ihm Hans Steinherr kategorisch ins
Wort.

Er war dicht an den Kameraden herangetreten, mit geballten Händen, und
sah ihm herausfordernd in die Augen.

»Untersteh dich, in diesem Tone fortzufahren. In meiner Gegenwart
werden keine Damen beleidigt!«

»Damen?« fragte Hüsgen höhnisch. »Du bist wohl jeck? Malchen, lach dich
kapott, ihr seid ›Damen‹!«

»Wie deine Schwester darüber denkt, muß sie selbst wissen. Aber
Fräulein Hannes ist hier Gast, und das Gastrecht respektiert man.
Zumal wenn der Gast dir zuliebe gekommen ist, um so selbstlos wie
möglich sich für deinen persönlichen Ehrgeiz verwenden zu lassen.«

»Ehrgeiz?« brauste Hüsgen auf. »Bist du übergeschnappt? Ihr versteht
eben den Teufel von der Kunst!«

»Dann stell deine lebenden Bilder gefälligst allein!«

Einen Augenblick schien es, als sollten die lebenden Bilder wirklich
lebendig werden. Aber der Geschäftsinstinkt des Wirtssohnes witterte
noch rechtzeitig die Gefahr. Und knurrend lenkte Hüsgen ein, um sich im
»Gaudeamus« den Triumph nicht entgehen zu lassen. Während die beiden
Mädchen in einer Ecke beieinander hockten und Malchen verwundert die
renitente Freundin anstarrte, versuchte der Akademieaspirant sich in
der Fensternische vor dem Freunde reinzuwaschen.

»Steinherr,« sagte er eindringlich, »du mußt das doch einsehen. Wir
Künstler sind geradeaus. Wir legen nun einmal keinen Wert auf das
Äußerliche, weil wir alles auf das Innerliche konzentrieren. Aber
unsere Seele — Mensch, unsere Seele — —!«

Hans maß den Redenden von oben bis unten.

»Erzähle mir doch keinen Unsinn, an den du selber nicht glaubst. Der
Geist macht den Körper, und Rauhbeinigkeit ist noch lange nicht das
Erkennungszeichen für spartanische Tugend. Übrigens bist du noch gar
kein Künstler.«

»Was bin ich nicht?« versetzte Hüsgen atemlos.

»Noch kein Künstler. Wenn du’s erst bist, sprichst du nicht mehr so
viel davon.«

»Ich —? Ich wäre kein —? Nu hört sich aber alles auf. Malchen, Hannes,
kommt doch mal her! Ihr habt doch, weiß Gott, Verständnis! Malchen,
du holst auf der Stelle mein Skizzenbuch. Und die Kreidezeichnungen
bringst du her, die ich von Vatter gemacht hab’ und von Mutter. Im
Schlafzimmer über dem Bett. Wenn die nich ähnlich sind! Aber laß man.
Hier stehen doch die Dekorationen zur Francesca. Na? Wie? Ist das
gemalt oder ist das geschwefelt und geflunkert? Ich kein Künstler! Aber
der da, der da — Kuckt ihn euch an — das ist einer. Och! Och! Malchen,
fix, hol mal en Kognak. Vatter is nich am Büfett.« —

Diese Szenen, die sich mit geringen Variationen häufig genug
wiederholten, waren Hans peinlicher, als er es sich gestehen mochte.
Nicht seiner selbst wegen. Er merkte, wie der Verkehr im Hüsgenschen
Wirtshaus sein allzu sensitives Empfinden abhärtete und seine weiche
Männlichkeit robuster machte. Das war sicher ein Gewinn. Aber das
Kavaliertum, das ihm im Salon seiner schönen Mama anerzogen worden war,
ließ zuweilen beschämt die Flügel hängen. Er hätte ganz anders für
seine kleine Dame eintreten mögen, aber die schien für die feineren
Unterscheidungen des Verkehrs noch weniger Verständnis zu haben als der
rüpelhafte Willibald. Mit übertriebener Hast nahm sie stets Partei für
den triumphierenden Haussohn und blitzte mit ihren dunklen blauen Augen
ihren Ritter wie einen Lästigen an. Wurden die Proben erneuert, so sah
man ihr das Unbehagen an, den jungen Mann berühren zu müssen. Steif wie
eine Gliederpuppe hielt sie die Arme gereckt, und des Regisseurs Zorn
wurde mit Recht entfacht über diese »niederträchtige Versündigung an
der Kunst«.

Nachdem Hüsgen eines Tages erklärt hatte, daß sie nunmehr reif wären,
um sich von Direktor Millowitsch für das Kölner Hänneschen-Theater
engagieren zu lassen, und er nur noch einen und den allerletzten
Versuch mit ihnen machen wollte, ordnete er für die nächste
Zusammenkunft die erste Kostümprobe an.

Willibald Hüsgen hatte einige junge Kunstschüler ins Vertrauen gezogen,
da er zu dem Prunkbilde, der Hofhaltung der Francesca, eine Anzahl
Ritter benötigte. Die jungen Leute erschienen, die Hosen über die
Trikots gezogen, lachend und lärmend im Hause und begannen im Festraum
ungeniert Toilette zu machen, während Francesca-Hannes und ihre
Palastdame Malchen in einem Nebenzimmer letzte Hand an ihre Kostüme
legten.

Hans Steinherr betrachtete mit Verwunderung die Kostüme der Kumpane.
Tausend Maskenschlachten schienen schon darin geschlagen worden
zu sein, die Farben waren erblindet und verschossen, die Tuche
mottenzerfressen und geflickt, und ein Duft ging von ihnen aus, der am
Hofe der Malatesta kaum statthaft gewesen sein dürfte. Er wagte darüber
eine Bemerkung an Hüsgen, der von einem wahren Begeisterungstaumel
erfaßt zu sein schien.

»Was? Blinde Farben? Mottenlöcher? — Ja, Mensch, begreifst du denn
nicht? Das ist ja gerade das Echte! Himmeldonnerwetter, das ist echt!
Das riecht man ja geradezu!«

»Leider Gottes,« versetzte Hans und zog die Nasenflügel zusammen. »Aber
es handelt sich doch nicht darum, was heute echt erscheint, sondern was
damals echt ~war~. Und du darfst dich darauf verlassen, daß sich die
Herrschaften damals mindestens so anständig anzogen und auf Sauberkeit
hielten wie die gute Gesellschaft heute. Das hier aber — das ist doch
der reine Anachronismus.«

Willibald und die jungen Herren von der Akademie, die sich vor
Entzücken über die »fabelhafte« Echtheit ihrer Gewandungen nicht
zu lassen wußten und sich gegenseitig beschauten, betasteten und
beschnüffelten, sahen sich sprachlos an. Der Horizont verfinsterte sich
eine Weile. Dann meinte ein langer Akademiker wegwerfend: »Laßt den
Kerl doch laufen, der hat ja keine Ahnung von echt!«

Hans trat zurück. Er wollte heute keinen Streit; auch machten ihn die
sonderbaren Käuze lachen.

Das stilgerechte Kostüm aus purpurnem Samt, das sich eng an seinen
schlanken Leib schmiegte, gab ihm ein fremdartiges Aussehen, und
der feine Kopf mit dem braunen Haar erinnerte in der Tat an einen
alten, seltenen Stich. Die purpurne Kappe mit den silberschillernden
Reiherfedern saß fest im Gelock. Die Hände falteten sich über dem Griff
des Degens.

Hüsgen ließ die Stellungen einnehmen. Die jungen Akademiker
fanden sich überraschend schnell in die Situation und bildeten in
ritterlicher Attitüde den Hofstaat und die fremden Gesandtschaften.
Die alte Tradition, die Düsseldorf von jeher den Ruhm zuspricht,
unübertroffen im Arrangement lebender Bilder zu sein, wurde wie auf ein
Zauberzeichen in diesen formlosen Burschen lebendig. Sie standen da
mit dem Anstand von Adelsgeschlechtern, und die bunten Lumpen wurden
zu Prachtgewändern. Jetzt führte Hüsgen als mißgestalteter, finsterer
Gianciotto Malatesta sein Weib Francesca ein, und Totenstille
herrschte. Jeder der jungen Künstler spürte die Macht der Schönheit.

Das war Francesca. Blaß war sie wie eine weiße Rose, in deren Kelch
eine Flamme sitzt. Das aufgenommene Haar lag wie Sonnengold auf der
Stirn. Die mädchenhaften Formen des Körpers hoben sich unter dem
reichbestickten Brokatgewand, und unter dem schweren Saume zeigten sich
die scheuen, zierlichen Kinderfüße. Sie konnte nur langsam vorwärts
schreiten, denn Fräulein Malchen als traute Gespielin hielt sich so
würdevoll, daß sie die Schleppe der Fürstin, die sie trug, straff zog
wie ein Sprungtuch.

Malatesta geleitete Francesca zum Thronsessel und nahm neben ihr Platz.
Zur Seite hinter ihr stand Hans Steinherr-Paolo, versunken in diesen
Traum von Jugendschönheit. Jetzt hob Francesca den Kopf, und ihre
Blicke begegneten den Blicken Paolos. In diesem Augenblicke dachten
beide nicht an die Gestalten, die sie darzustellen hatten. Francesca
sah das feingeschnittene, leidenschaftliche Jünglingsantlitz, ihre
Augen hingen in rückhaltlosem Staunen an seiner Erscheinung und ließen
sie nicht los. Und während Paolo mit halbgeöffneten Lippen den keuschen
Duft ihrer Haare einatmete und sich mit Augen, in denen ein Suchen und
Sehnen war, unwillkürlich näher beugte, schwellte ein tiefer Seufzer
die Brust Francescas, und ein geheimnisvolles Lächeln zog durch ihren
Blick. Das Lächeln des Mädchens, das das Weib in sich erwachen fühlt.

»Bravo, bravo!« rief stürmisch die »Gesandtschaft« vor ihrem Thron.
Ein Jubelgeschrei raste durch die jugendliche Versammlung, und
Hüsgen-Malatesta versuchte auf seinem Thronsessel den Kopfstand.
Gesandte und Mannen sprangen herzu und halfen dem überschwenglichen
Fürsten wieder auf die Beine.

»Habt ihr’s gesehen?« rief er. »Habt ihr’s gesehen? Diese Bewegung?
Diesen Blick? Das war Musik, he? Eine ganze Geschichte in einer
Sekunde. Das große Vergessen im Liebestrank!«

Er stolzierte aufgeregt umher.

»Was sagt ihr nun? Nix! das glaub’ ich — Aber wenn ihr einen bloßen
Schimmer hättet, was mich das für Müh’ gekostet hat, den beiden
das einzupauken. Innerlichkeit konzentrieren, hab’ ich gesagt,
Innerlichkeit! Über Nacht ist es gekommen. Den Seinen gibt’s der Herr
im Schlaf. Aber dieser Herr war ich. Und wenn ich die Blasphemie morgen
am Tag dem Pater Servatius beichten sollt’ und mit hundert Rosenkränzen
gepönt werd’! So, und nun bedankt ihr beiden euch bei mir, daß ich euch
hab’ was lernen lassen. Vorwärts, umkleiden zum zweiten Bild.«

Die beiden Mädchen waren ins Nebenzimmer geeilt. Hans Steinherr zog
sich hinter die Bühne zurück, um seinen Anzug zu wechseln. Hüsgen warf
als Rachegeist, der in der Nacht heimeilt, um die Untreue von Weib und
Bruder zu bestrafen, einen weiten Mantel um die Schultern und nahm den
blanken Stahl in die Faust. Alle Anwesenden, die in diesem Bilde nicht
mitwirkten, hatten sich in den Hintergrund des Zimmers zurückzuziehen,
das einstweilen verdunkelt wurde.

Nun tastete sich Francesca zur Bühne. Hans-Paolo half ihr hinauf und
nahm mit ihr die Pose ein. Hüsgen-Malatesta ließ, zusammengekauert wie
ein sprungbereiter Tiger, den Degen schwirren.

»Licht!«

Nur die Gasflamme über der Bühne strahlte hell auf. Ein unerwarteter
Anblick:

Paolo in weißem Samtwams. Das Wams über der Brust zerrissen, die
nackte Brust von Blut gerötet. Francesca hält den Taumelnden fest.
Das zarte Nachtgewand liegt wie ein Duft um den süßen Mädchenkörper.
Ihr rotschillerndes Haar ist gelöst und schlingt sich um den Hals des
Geliebten. Seinen Nacken umwindet ihr bloßer Arm, und mit der freien
Hand wendet sie den zweiten todbringenden Degenstoß des wutschäumenden
Malatesta auf sich. Und plötzlich, als sei auch sie getroffen von dem
erlösenden Stahl, ließ sie den ausgestreckten Arm auf die Schulter des
in die Kniee gebrochenen Geliebten niedersinken, und ihr Körper hing
schwer und fest an dem seinen, als wären sie eins.

Hans Steinherr tanzten Flammen vor den Augen. Er wußte nicht, wie ihm
geschah. Alle Kraft hatte er nötig, den Mädchenkörper zu halten. Er
preßte ihn mit Gewalt an sich, um ihn vor dem Niederfallen zu bewahren,
und in die angstvolle Umschlingung hinein strömte eine Flut von
unbekannter Süße hinüber und herüber. Er suchte ihre Augen, die starr
die seinen suchten, sah ihren Mund wie blasse, verlangende Rosenblätter
— dann sank ihr Kopf hintenüber, und er spürte ihre kühle, weiche Wange
auf seiner entblößten Brust.

»Vorhang!« schrie er mit erstickter Stimme in die Kulisse, und irgend
einer, der herbeigesprungen war, ließ die Gardine fallen.

»Was ist denn los?« rief Hüsgen ärgerlich und stolperte über die Bühne.
»Die Bewegung war tadellos realistisch und du —«

»Rufe sofort deine Mutter. Die anderen sollen in den Garten. Malchen
bleibt im Zimmer und verhält sich ruhig. Schnell, du!«

Die abgehackten Sätze kamen wie ein Kommando. Und Willibald Hüsgen
duckte sich augenblicks, warf noch einen scheuen Blick auf das Mädchen,
dessen Ohnmacht er jetzt erst gewahrte, und hieß die Gaffer das Zimmer
räumen. Malchen trippelte an der Stubentür auf und ab und wartete
angstvoll auf die Mutter, die der Bruder holen gegangen war.

Auf der Bühne kniete Hans, den Kopf der kleinen Freundin in seinen Arm
gebettet. Ihr durchsichtiges Gesichtchen war blutleer, und der schlanke
Mädchenleib lag wie leblos gestreckt.

»Nicht sterben,« flüsterte er, »nicht sterben. Durch dich hab’ ich ja
erst zu leben begonnen. Das weißt du ja gar nicht. Du, Heinz Springe,
der alte, prächtige Vater Springe, all die neuen Menschen — alles durch
dich. Hörst du, kleiner Hannes?« Und es quoll in ihm empor, und ein
heißer Tropfen hing sich an seine Wimper und fiel auf ihre Stirn. Da
beugte er sich herab und küßte sie zärtlich, wie man eine Schwester
küßt, auf die kalten Lippen. Wie eine Schwester? Ein Schauer durchrann
ihn, und er wagte den Kuß nicht wieder. Wo nur Frau Hüsgen blieb ...

Da kam sie; äußerlich erhitzt vom schnellen Treppensteigen, im Gemüt
seelenruhig. Sie hatte die Essigflasche gleich mitgebracht und rief
Malchen zur Hilfeleistung heran. Aber das alberne Mädel fürchtete sich
und drückte sich zur Tür hinaus, um die Magd zu rufen.

»Barmherzigkeit,« grollte die resolute Wirtin, »dat Kindchen stirbt uns
noch unter die Hände weg. Fassen Sie mal an, jong Här. Sie sind jetz’
Samariter, verstehn Sie mich. Dat hat mit dem sonstigen Anstand absolut
nix zu tun.«

Mit flinken Fingern öffnete sie dem jungen Mädchen das Gewand, legte
einen essiggetränkten Lappen in die Herzgrube, einen essiggetränkten
Schwamm auf die Schläfen, rieb und frottierte und hieß ihren
Assistenten, die Arme des Mädchens im Takt auf und nieder zu heben.
Hans folgte dem leisesten Wink. Er sah die hilflose, weiße Mädchenblume
vor sich liegen in ihrer rührenden Schönheit, und ihm war feierlich zu
Mute.

Das Mädchen öffnete die Augen. Das Blut hatte zu kreisen begonnen, und
das Leben war zurückgekehrt.

»Weg!« sagte die Wirtin und machte dem jungen Manne eine energische
Kopfbewegung. »Dat Samariterspiele is all jut, aber nu kömmt auch
der menschliche Anstand retour. Jed’ Ding zu sein’ Zeit. Adjö, Herr
Steinherr.«

»Ich werde mich umkleiden und dann unten warten,« antwortete Hans,
machte eine ehrerbietige Verbeugung und verließ, ohne sich umzuschauen,
das Zimmer.

Ruhig ging er später im Flur auf und ab. Wenn das Bild, das er vorhin
gesehen, vor ihm auftauchte, war ihm, als ginge etwas Heiliges in ihm
vor. Er wußte, daß er nie einen heiligeren Augenblick erleben würde.
Wie ernst, wie glückselig ernst das stimmte. War das die Jugend?

Aus dem Gärtchen im Hof hörte er die Kunstjünger schwatzen und lachen.
Sie tranken das Wohl der lieblichen Francesca und ihre baldige
Genesung. Das war auch eine Art, die elastische Jugend zu äußern. Aber
er brauchte nicht zu trinken, um seine Begeisterung anzufachen.

»Kleiner Hannes,« murmelte er, »kleiner, lieber Hannes! Weißt du noch?
An dem Schützensonntag? Bis dahin war ich ein Kulturpflänzchen. An dem
Tage lernte ich die Natur verstehen. Ach, wie das wohl tut — —. Lieber,
kleiner Hannes!«

Die Minuten dehnten sich ihm zu Stunden. Soeben noch ernst und
abgeklärt, überfiel ihn jetzt aufs neue die Unruhe, und er horchte in
das winklige Treppenhaus hinein, ob er auf den Stiegen ihren Schritt
noch nicht vernähme. Sollte sich der Anfall wiederholt haben? Dann —
ja, dann hatte er doch hier unten nicht herumzulungern, dann war doch
sein Platz dort oben, dann gehörte er doch an die Seite der armen,
kleinen Kameradin.

Er hielt die Ungewißheit des Wartens nicht mehr aus. Zwei, drei Stufen
auf einmal nehmend, sprang er die Treppen hinauf. Vor der Tür des
Dachstubenateliers war ihm der Atem ausgegangen, aber er wartete die
Beruhigung der Pulse nicht erst ab, er klopfte an und drückte auf die
Klinke.

Da saß Hannes, mit ihrem dünnen Sommerkleidchen angetan, am Tisch und
trank aus einem Glase dunklen, roten Wein. Das Haar hing gelöst, um
die Schläfen nicht zu drücken, an den schmalen Kinderwangen herab.
Mutter Hüsgen hockte mit ihrer massigen Gestalt auf einem Schemel und
ermunterte zum Trinken.

Bei dem hastigen Eintritt des jungen Mannes hielt das Mädchen das Glas
unbeweglich an den Lippen und starrte ihn an. Die Erinnerung kehrte
zurück, und wo diese aussetzte, stellten sich ängstigende Vermutungen
ein. Die Hand, die das Glas zum Munde führte, begann zu zittern, das
Auge zu flirren und zu flimmern, und eine Glut stieg von der Kehle an
über Wangen und Stirn, so dunkel und tief wie der rote Wein im Glase.
Frau Hüsgen winkte dem jungen Manne ärgerlich ab.

»Sachte, sachte! Dat jeht hier nich zu wie auf ene Bauernkirmeß:
Flauwerden un jleich wieder Walzer. En bisken mehr Zartheit, jong Här.«

»Ich wollte nur — — ich hatte nur solche Angst — des Fräuleins
wegen — —« stotterte Hans. »Ich hielt’s da unten nicht mehr aus ...
Entschuldigen Sie.«

»Ich bin ganz wohl,« sagte die Kleine trotzig und senkte die Augen.

»Schön,« entschied die Wirtin und erhob sich, »dann machst du jetzt,
daß du in die Klappe kommst. Un Großmutter soll dich besser päpeln. Du
bist jetzt in die Jahre, wo mr aufpassen muß. Jesses Maria,« seufzte
sie, »wat is dat sein Lebtag ein Elend mit uns arm Frau’nsleut!«

Ein schneller, scheuer Blick glitt aus den Augenwinkeln der Kleinen
zu dem jungen Manne hinüber, der noch immer die Türklinke in der Hand
hielt. Jetzt trat er näher und sagte, respektvoll zu Frau Hüsgen
gewandt: »Wenn Sie gestatten, werde ich das Fräulein nach Hause
bringen.«

»Ich kann allein gehen,« wehrte das Mädchen hastig ab und stand im
selben Augenblick aufrecht da.

»Fräulein Hannes,« sagte Hans Steinherr ruhig, und er wunderte sich
selbst über die Bestimmtheit seines Tones, »Sie werden diesmal
vernünftig sein. Sie sind krank und haben sich denen zu fügen, die es
gut mit Ihnen meinen.«

Sie sah starr an ihm vorüber. Dann wandte sie sich mit einer seltsam
matten Bewegung ab, nahm ihren Hut vom Wandhaken, nestelte achtlos fast
ihr Haar darunter und reichte der Wirtin die Hand.

»Ich dank’ Ihnen auch, Frau Hüsgen.«

»Keine Ursach’, aber nich die Spur!« Die resolute Frau klopfte ihr die
Backen. »Also du wirst mir hübsch gesund. Un vergiß nich, Großmutter zu
grüßen, un sie soll übermorgen zum Waschen kommen.«

Wieder der scheue Blick. Diesmal hatte ihn Hans Steinherr in den
Augenwinkeln seiner Schutzbefohlenen aufblitzen sehen.

Ach, die Kleine schämte sich, weil sie zu einer Waschfrau ging. Daher
das Abwehren einer Begleitung. Und wenn schon zu einer Waschfrau;
was war dabei? Die Ereignisse hatten in Hans die romantischen Sinne
geweckt. Was ging ihn Rang und Stand der Menschen an.

»Kommen Sie, Fräulein,« sagte er herzlich, »ich werde Sie bei Ihrer
Großmama gut abliefern.«

Sie schritt, ohne ihn anzusehen, an ihm vorbei und die Treppe hinab.
So eilig, daß er sich sputen mußte, sie an der Toreinfahrt wieder zu
erreichen. Hier aber nahm er sie fest bei der Hand und sah sie an.

»Fräulein Hannes — —.«

Dann zog er ihren Arm durch den seinen und führte sie behutsam die
Straße entlang. Willenlos ging sie neben ihm her. Den Arm hielt sie
steif wie eine Marionette.

»Wo wohnen Sie?«

»Pempelforterstraße.«

»Nummer?«

Sie nannte sie und schwieg sofort wieder. Die unregelmäßigen Schritte
der beiden hallten durch den stillen, dunklen Abend. Es war spät
geworden.

»Sie dürfen so weit nicht zu Fuß gehen,« sagte Hans Steinherr nach
einer Pause und blieb stehen. »Wir werden eine Droschke nehmen.«

»Nein,« stieß sie hervor. »Ich will nicht.«

»Wir werden es aber trotzdem tun,« meinte Hans ruhig, »oder fürchten
Sie sich, mit mir in einer Droschke zu fahren?«

»Fürchten —?« wiederholte sie gedehnt. »Ich will nur nicht; der
Nachbarn wegen.«

»Die liegen längst im Bett. Außerdem sind Sie Patientin. Ich wußte
übrigens nicht, daß Sie keine Courage haben.«

Nun wartete sie mit ihm, bis eine Droschke sichtbar wurde.

»Fräulein Hannes,« sagte der junge Ritter verlegen, »ich — ich weiß
wahrhaftig noch nicht, wie Sie eigentlich heißen. Sie — Sie gelten bei
Hüsgens immer schlankweg als Fräulein Hannes. Schon Ihrer Großmama
wegen muß ich das doch wissen.«

Das junge Mädchen rührte sich nicht. Da hielt die Droschke vor ihnen.

»Meine Großmutter heißt Frau Stahl,« murmelte sie. Dann ließ sie sich
in den Wagen helfen, kauerte sich in die Polster und schloß sofort die
Augen.

Hans Steinherr saß ihr gegenüber. Ihre Kniee berührten sich. Wenn sich
der Wagen einer Straßenlaterne näherte, beugte er sich vor und spähte
in das regungslose Mädchenangesicht, das bei aller süßen Kindlichkeit
der Formen einen Zug der Entschlossenheit zeigte. Wie rührend dieser
Ausdruck wirkte — —. Und in der Brust des jungen Mannes regte sich ein
zärtliches Empfinden und erregte ihn. Dieses Kind in die Arme nehmen,
es streicheln und mit der Überlegenheit, die das männliche Bewußtsein
gewährt, trösten und ihm kosend zureden: »Kleines, kleines Närrchen,
so lächle doch! Du bist ja viel zu schwach, um ein Lebenskämpfer zu
werden. Und es wäre so schade um dich und so traurig ...«

Unbewußt hatte er begonnen, ihre herabhängenden Arme zu streicheln. Wie
mager die Ärmchen geworden waren! Vor wenigen Monaten — das stand ihm
noch deutlich vor Augen — hatte sich das Kleid straff um den vollen Arm
gespannt. Sie hielt ganz still, als wäre die Berührung nicht einmal zu
ihrer Wahrnehmung gedrungen. Da streichelte er ganz sacht ihre kalten
Händchen. Und plötzlich fühlte er, wie sich ihre Finger um die seinen
krampften.

Der Wagen hielt vor einem niederen, baufälligen Hause an. Die beiden
merkten es nicht. Sie saßen stumm und starr nebeneinander und hielten
sich bei der Hand. Keines wagte sich zu bewegen. Aber beide waren sie
blaß, und zwischen ihnen ging der Atem schmerzhaft schwer.

Der Kutscher kletterte von seinem Bock herunter und öffnete den
Wagenschlag.

»Hier is dat Palaischen; un ich kriegen eine Mark un fünfzig, netto,
ohne ’t Trinkgeld.«

Hans sah verwundert auf. Hannes öffnete nur müde die Augen. Das
Mädchen war so schwach, daß ihr junger Begleiter sie nur mit Mühe die
ausgetretene Stiege, die zur oberen Wohnung führte, hinaufbringen
konnte.

»Großmutter!« rief sie oben. Dann wankte sie und fiel gegen Hans’
Schulter.

In der Stube wurde ein Stuhl zurückgestoßen. Die Tür öffnete sich
und, eine Lampe in der weit vorgestreckten Hand, stand eine hagere,
sehnige Greisin auf der Schwelle. Sie fand zuerst kein Wort. Ein
schreckensstarrer Ausdruck war in ihre Augen getreten, und ein Zittern
flog ihr durch Schultern und Arme, daß Lampenglocke und Lampenglas
leise und schwirrend erklirrten.

»Johanna! — Herr Gott, Johanna — — —«

Sie fuhr sich mit der verarbeiteten Hand über die Augen. Eine Sekunde
nur. Dann ging ein Ruck durch ihren alten Körper, sie richtete sich
kerzengerade auf, schritt auf Hans zu und nahm ihm das Mädchen aus dem
Arm.

»Lassen Sie sie los! Wie kommen Sie dazu ...«

Es war wie Gewittergrollen in dieser Stimme, und doch ein Ton, der wie
eigenes Entsetzen klang. Hans aber empfand in diesem Augenblick nur
das Gefühl eines blinden Respekts gegenüber dieser großen, kräftigen
Greisin, deren Gesicht so dicht voll Falten und Runzeln stand wie ein
engbeschriebener Runenstein. Er sah mit Erstaunen, wie die alte Frau
das Mädchen aufhob und auf ihre Arme nahm, als wäre es ein Federchen,
das sie trüge.

»Ihre Enkelin,« berichtete er leise, »ist bei Hüsgens von einem
Unwohlsein befallen worden. Eine Art Ohnmacht. Wenn Sie gestatten, Frau
Stahl, bleibe ich noch hier. Vielleicht, daß Sie mich zum Arzt schicken
möchten.«

Die Greisin schenkte ihm keinen Blick. Mit zusammengepreßten Lippen,
den schlaffen Leib der Enkelin fest an ihrer Brust, schritt sie
schweren Fußes durch das Zimmer und verschwand in einer Nebenkammer.
Hans war ihr in das erste Zimmer gefolgt. Hier blieb er stehen und
wartete geduldig ihre Rückkehr ab.

Der Raum diente als Wohnzimmer. Es war ein quadratisches Gelaß; eine
dünn aufgerichtete Wand teilte es von der kleinen Küche ab. Aus
der offen gebliebenen Tür der Nebenkammer fiel ein Lichtschein und
beleuchtete fahl die alten Möbel. Einfache Strohstühle umstanden
einen alten, ovalen Mahagonitisch; ein breiter Strohsessel mit
buntbestickter, wollener Schlummerrolle schien das einzige Prunkstück.
Auf dem Tisch lag ein schweres Buch, in dem die alte Frau wohl eben
erst gelesen hatte. Hans erkannte es als die Bibel.

Jetzt wurde die Kammertür geschlossen, und Hans stand im Dunklen.

Er fand gar nichts Taktloses in der außergewöhnlichen Behandlung,
die ihm zu teil wurde. Alles, was hier geschah, schien ihm so
selbstverständlich und der ganzen Lage entsprechend, daß ihm nicht
einfiel, sich zurückgesetzt zu fühlen. In dem Zupacken der Greisin,
in der Art, mit der sie Beschlag auf das junge Mädchen legte, wie auf
den Körper eines Verwundeten, den sie, einem altgermanischen Weibe
ähnlich, der Schlacht da draußen entriß, hatte ein großer Zug gelegen,
dessen Eindruck sich der so kurz beiseite Geschobene nicht zu entziehen
vermochte. Dank, für ihn? In dem harten »Lassen Sie sie los« hatte
die Antwort gelegen: Sie hat zu eurem Vergnügen beigetragen, in eurem
Dienst ist das Kind zusammengebrochen, und an euch war es, ihr den Dank
abzustatten. Daß ihr sie herschafftet, ist doch wohl die geringste
Äußerung dieses Dankes.

Der Lauschende hörte die alte Frau in der Kammer auf und ab gehen.
Er hatte wohl eine halbe Stunde im Dunklen verbracht, als sich leise
die Tür öffnete und die Greisin mit dem Licht erschien. Sie drückte
behutsam die Tür ins Schloß und trug die Lampe auf den Tisch. Wortlos
blieb sie an ihrem Sessel stehen und starrte in das Licht. Noch
immer nahm sie von ihrem Besucher keine Notiz. Da glaubte Hans, sich
bemerkbar machen zu müssen, und trat einen Schritt vor.

Die alte Frau wendete den Kopf und sah ihn verständnislos an.

»Ah,« machte sie dann, als ob sie sich besänne, »Sie sind noch da?«

»Wie geht es dem Fräulein? Können Sie mich nicht zu irgend etwas
gebrauchen, Frau Stahl?«

»Sie schläft,« murmelte die Alte. »Wenn sie den Schlaf nachgeholt hat,
wird sie gesund sein.«

»Hat sich Fräulein Hannes überanstrengt?« fragte Hans leise.

»Überanstrengt?« wiederholte die Frau, und ein harter Zug trat in ihr
faltiges Gesicht. »Das fragen Sie mich? Ich sollte doch meinen, daß Sie
das besser wissen müßten.«

»Ich habe keine Ahnung,« stotterte Hans. »Wie sollt’ ich denn, Frau
Stahl ...«

»Natürlich nicht. Davon habt ihr keine Ahnung.«

Die alte Frau ließ sich schwerfällig in ihren Sessel nieder. Dabei
streifte ihre Hand die Bibel auf dem Tisch. Sie zog die Brauen
zusammen, klappte das Buch zu und schob es von sich.

»Wollen Sie mir nicht erklären, Frau Stahl — —? Weshalb das Fräulein
leidet, meine ich.«

Die alte Frau sah auf ihre Hände, die fest auf ihren Knieen lagen.

»Ist das so schwer —?« murmelte sie. »Sie leidet am Leben. Das ist ihr
Erbteil.«

»Aber ihre Ohnmacht? Meine Fragen sind vielleicht ungeschickt.«

Die Greisin hob den Kopf und sah ihn durchdringend an. Dann machte sie
eine Bewegung und sagte: »Setzen Sie sich, wenn Sie müde sind. Also Sie
wollen wissen —. Nun ja, Sie sollen es. Es wird gut für Sie sein; wer
weiß, wofür. Da hat sie gesessen,« fuhr sie finster fort, »da hat sie
gesessen, jede freie Stunde, bis in die Nacht hinein, und entworfen und
gezeichnet nach einem kleinen Blättchen, auf dem ein Kostüm zu sehen
war, und Stoffe hat sie angeschleppt und Zutaten und geschneidert,
gebandelt und gebastelt. Und nie wurde es ihr schön und reich genug,
immer wieder hat sie geändert und geprobt und mit einer Erregung daran
gearbeitet, daß sie Essen und Schlafen vergaß. Ob sie ihr bißchen
Kraft nötig hatte! Sechs Stunden im Tag sitzt sie im Atelier des
alten, biblische Geschichten malenden Professors Kehren. Ich arbeite
seit zehn Jahren in dem Hause und kenne die Leute. Einmal hat sie als
Kind dem Professor zu einem Engelsköpfchen gestanden. Aber ich hatte
Furcht wegen ihrer leicht erregten Phantasie und litt es nicht mehr.
Doch der Hang und Drang nach dem Schönen, nach dem Vornehmen stak in
ihr. Eines Abends, es war im Juni oder Juli, kommt sie atemlos nach
Hause und erzählt mir, daß sie bei Hüsgens lebende Bilder stellen
wollen. Sie soll die Fürstin darstellen und muß Gewänder haben. Und
nun trotzte sie, und nun schmeichelte sie, und dann lief sie zum
Professor und machte mit ihm aus, daß sie ihm jeden Tag zu einem großen
Historienbilde stehen wollte, und ich gab es endlich zu, daß sie sich
das Geld für ihre Kostüme verdiente, denn ich konnte nicht mehr gegen
sie an. Das steckt im Blut.«

Die alte Frau grübelte vor sich hin, als ob sie an andere Zeiten dächte.

»Sie hat eine Erziehung gehabt, wie junge Mädchen aus gutem Hause,«
fuhr sie nach einer Pause fort. »Das war vielleicht falsch und paßte
nicht mehr für unsere jetzigen Verhältnisse. Aber es war das Kind
meiner Tochter, die bessere Tage gesehen hatte, es war mein Fleisch und
Blut, und auch ich« — sie lächelte trübe vor sich hin — »auch ich hatte
in der Jugend die Sonne gesehen. Bis mein Mann starb. Bis ich als junge
Beamtenfrau eine Witwenpension erhielt, die zu wenig zum Leben und zu
viel zum Sterben war. Weshalb ich nichts anderes unternahm, weshalb ich
so weit heruntergestiegen bin? Das — das — das steht auf einem anderen
Blatt. Meine Tochter starb und hinterließ mir — ihre kleine Johanna.
Und einen Stolz hatte ich doch behalten, einen Stolz, und wenn es der
Hochmut aus alten Tagen war: ich wollte sie erziehen, wie bisher alle
aus unserer Familie erzogen worden waren. Sie sollte mir nicht unter
das Proletariat, weil bei Mutter und Großmutter das Unglück zu Besuch
gekommen war. Wie jedes andere Bürgermädchen sollte sie werden, nicht
mehr, aber auch nicht weniger. Das bißchen Unterhaltung bei Hüsgens
hab’ ich ihr gerne gegönnt. Es ist ein rechtes Haus. Nicht zu hoch
hinaus und doch gut bürgerlich. Dort gehen weder Lumpen aus und ein,
noch Barone. Und nun kommt sie mir ins Haus gestürzt und alles in
ihr ist auf den Kopf gestellt. Sie lacht, sie tanzt, sie singt. Dann
spricht sie stundenlang wieder kein Wort. Endlich bekam ich’s doch
heraus. Ihr ganzes verändertes Wesen, ihr neu erwachter Lernfleiß,
ihr Streben, auf ihre Sprache zu achten, auf ihr Benehmen, auf ihre
Kleidung, das war alles ja so deutlich, daß sie mir gar nicht erst
lachend zu versichern brauchte, ein Prinz stünde mit in den lebenden
Bildern, gegen den Hüsgens und all ihre Bekannten Bauern seien, und
nun müßte sie sorgen, daß sie neben ihm bestehen könnte und von ihm
nicht nur geduldet oder gar ausgelacht würde. Damit begann das tolle
Drauflosstürmen auf die Gesundheit, die fieberhafte Unruhe, der ich
nicht mehr gewachsen war. Und jeder Groschen, den sie sich verdiente
und den wir zu ihrer Kräftigung hätten anwenden können, er flog weg für
den Flittertand, mit dem sie sich für ein paar Stunden in eine andere
Welt täuschen wollte.«

Die Greisin war erregter geworden. Ihre Hände zitterten, als wollte sie
einen nahenden Verlust aufhalten. Jetzt trat sie dicht an den jungen
Mann heran.

»Hören Sie,« sagte sie und ihre Stimme klang heiser, »ich ~will~
aber nicht, daß sie sich täuscht. Ich habe genug an den Täuschungen
im Leben. Ich will nicht, daß mit ihr gespielt wird, und daß sie an
Einbildungen zu Grunde geht. Dazu ist sie mir zu lieb, verstehen Sie
mich? Und wenn Sie auch dieser Prinz sind, gerade deshalb sage ich es
Ihnen! Hier ist ein Haus, das wieder aufwärts will! Bringen Sie es mir
nicht herunter! Die Kleine da — die Kleine — — ah, was rede ich nur
alles!«

»Frau Stahl,« sagte Hans weich. Er wußte nichts anderes, als die Hand
der alten Frau zu nehmen.

Sie achtete nicht darauf. Aber er fühlte an dem Zucken ihrer harten,
verarbeiteten Finger, daß sie in ihrem Inneren Empfindungen, Worte
niederkämpfte.

»So sprechen Sie doch nur weiter, Frau Stahl. Ich bin Ihnen ja so
dankbar.«

Sie sah ihn an. Dann machte sie ihre Hand los und setzte sich wieder
in den Sessel. Das Licht war heruntergebrannt. Ein Helldunkel, das die
Schatten der Gegenstände vergrößerte, herrschte in der alten Stube. Die
alte Frau erschien wie eine Riesin, wie die Überlebende eines einstigen
Geschlechtes.

»Junger Herr — —« sagte sie sinnend.

»Ich heiße Hans Steinherr.«

»Gut, gut. Die Steinherrs sind reiche Leute. Ich kannte sie noch,
als sie so klein waren wie wir jetzt. Alles im Leben läuft im Kreis.
Wir dürfen uns nur nicht ganz herausschleudern lassen. Ach, das Alter
macht geschwätzig. Doch ich habe auch die Jugend nicht vergessen. Ich
verstehe mit ihr zu empfinden, wenn ich Ihnen auch hart und verknöchert
erscheine. Ich will der Jugend nichts verkürzen, auch der Johanna
nicht, so wenig, wie ich es ihrer Mutter getan habe. O Gott, die paar
kurzen Jährchen der Lebensfreude! Aber sich nicht fortwerfen, nicht
sich fortwerfen, oder es muß um ein Großes, ein Heiliges sein. Ich
habe nie mehr davon gesprochen, aber Ihnen sag’ ich es, obwohl Sie so
jung sind. Weil Sie mir vorhin danken wollten, weil ich es Johannas
wegen tue. Meine Tochter — ihre Mutter — war seit Jahren verlobt. Als
sie heiraten wollten, kam der Krieg. Er mußte mit, nach Frankreich. So
etwas Herzzerreißendes habe ich nicht wieder erlebt. In den letzten
Tagen mieden sie sich, sie hatten Furcht, sich zu berühren, und wenn
sie sich in die Arme stürzten, schrie die Verzweiflung aus ihnen.
Nicht, als ob der Mann Angst vor dem Kriege gehabt hätte. Er war
Offiziersaspirant und nicht feige. Aber eine Ahnung lastete auf ihnen,
sie würden sich nicht wiedersehen, sie würden sterben müssen, ohne für
ihr treues, jahrelanges Warten belohnt zu sein. Sie wollten zu den
Massentrauungen. Doch da rückte das Regiment schon aus. Den Jammer
versteht nur eine Frau, und ich verstand ihn. Ich, ja ich, die Mutter,
gab ihnen meinen Segen. Acht Tage darauf fiel der Mann bei Spichern.«

Wieder saß die alte Frau in sich gebückt und versonnen da. Dann fuhr
sie langsam fort.

»Das Kind war die Johanna — —. Ein Schmerzenskind. Denn meine Tochter
starb bald danach, und ich wurde die Mutter. Und deshalb, sehen Sie,
deshalb nahm ich die geringste Arbeit auf, griff ich zu allem und
jedem, was mir Verdienst versprach, um einst rein dazustehen vor meinem
Herrgott, damit er meine einstige Menschenschwäche als Menschenliebe
ansehen möge. Deshalb lese ich immer wieder in jenem Buche, das von der
Liebe handelt, und deshalb will ich nicht, daß meine Rechnung und die
Heilige Schrift betrogen werde.« Sie schöpfte tief Atem. »Solange ich
lebe — nicht!«

Die Greisin richtete sich auf. Ihr Schatten wuchs bei dem niederen
Licht groß bis an die Decke.

»Das war’s, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun stören Sie uns nicht
länger.«

»Frau Stahl —« bat Hans. Er hatte so viel zu sagen, aber er fand die
Worte nicht vor dieser Frau.

»Gehen Sie. Aber so gehen Sie doch!«

Da ging er schweigend.

[Illustration]




Sechstes Kapitel


Es war eine Sonntagsstille. Die Nachmittagssonne schmeichelte sich an
den Kanten der leinenen Vorhänge vorbei in die kleine Kammer und lag
nun, als hätte sie ihren Willen erreicht, golden und friedlich auf dem
weißen Bette. Hannes saß aufrecht in den Kissen. Sie hatte das gelöste
Haar über den Arm gebreitet und ließ die Enden in der Sonne schimmern.
Ihre Augen besaßen wieder den alten Glanz, auf den Wangen zeigte sich
eine feine Röte.

Ihre Hände spielten, aber ihre Gedanken waren nicht bei dem Spiel.

»Großmutter!« rief sie nach einer Weile leise.

Die alte Frau, die im Nebenzimmer ein Nickerchen gehalten hatte, kam
herbei.

»Hab’ ich dich aufgeweckt, Großmutter? Nicht? — Du, Großmutter, dann
bleib doch bei mir sitzen. Willst du?«

»Aber gewiß, Kind.«

»Du, Großmutter — — — bist du mir arg böse?«

»Ach, Unsinn. Es ist ja nichts passiert.«

»Es ist nichts passiert — —« wiederholte das Mädchen und strich über
ihr sonnenglühendes Haar.

Die alte Frau rückte die Kissen zurecht und zupfte und glättete an
den Decken. Dann zog sie einen Stuhl heran und setzte sich nieder. Sie
wartete.

»Hast du keine Angst gekriegt, Großmutter, als man mich brachte?«

Die Greisin machte eine jähe Bewegung. Aber sie bezwang sich und
lächelte.

»Angst? Vor was denn? Ich kenn’ doch meine Johanna.«

»Du sagst das so — so — —. Was meinst du denn damit?«

»Krank werden kann jeder. Dabei ist nichts Böses. Die Krankheiten
stehen in Gottes Hand, das Böse in der unseren. Siehst du, so meint’
ich es. Angst hat man nur vor dem Bösen.«

»Und das — das traust du mir nicht zu, Großmutter?«

»Nein, Kind, das trau’ ich dir nicht zu. Nicht, weil ich dich für so
viel besser hielte als andere Menschen, sondern einfach darum, weil du
es deiner Mutter wegen nicht darfst.«

Da schwiegen sie beide.

»Sag,« meinte dann das Mädchen sinnend, »Mutter war wohl sehr schön?«

»Sie war schön und gut. Gut ist viel mehr. Das war sie.«

»Und — und Vater?«

»Dein Vater, mein Kind, war ein Mann von Ehre. Er verdiente, daß deine
Mutter ihn über alles liebte.«

»Und doch — und doch — —?«

»Und doch?« fragte die Greisin und hielt den Atem an.

»Gelt, Großmutter,« rief das Mädchen leidenschaftlich und schlang die
Arme um den Nacken der Alten, »gelt, Großmutter, ich brauch’ mich nicht
zu schämen?«

Die alte Frau preßte den Kopf der Jungen fest an ihre Brust. Unablässig
streichelte ihre Hand den Scheitel und die zuckenden Schultern der
Enkelin und bewegten sich lautlos ihre Lippen.

»So sprich doch, Großmutter, so sprich doch nur.«

»Kind, ich habe dir doch gesagt, daß deine Mutter gut war. Was sie tat,
war Güte. Und die Reinheit der Güte verstehen die Menschen nicht. Nein,
bei Gott dem Allmächtigen, du brauchst dich nicht zu schämen, du kannst
stolz auf deine Mutter sein — wenn du nur stolz auf dich selbst bist.«

»Du, Großmutter,« stieß das Mädchen hervor, »ich glaube, ich könnte es
auch. So lieben wie Mutter.«

Die Alte erwiderte nichts. Aber mit beiden Händen umspannte sie den
Kopf der Enkelin und drückte ihn fest an sich. Eine atemlose Stille
war um sie, die Sonne kroch langsam über die weiße Decke heran und
überströmte das bange Alter und die bange Jugend.

»Johanna,« sagte die Greisin, »hör mich einmal an, Johanna. Wir haben
alle ein Schicksal zu erfüllen. Dagegen können wir nicht an, und wir
Frauen zumal nicht. Aber ~wie~ wir es erfüllen, darauf kommt es an.
Was wir hineintragen und mit welchen Gedanken wir es tun. Verstehst du
mich auch recht? Was bei dem einen Sünde ist, kann bei dem anderen zur
Tugend werden. Aber immer nur bei einem, nicht bei allen! Nur sich kein
Vorbild aufstellen wollen, denn es gibt keine Beispiele für uns. Was du
tust, das tue, weil du es ~mußt~, nicht weil du es magst. Und was du
mußt, das ist: dir selber treu sein. Wir können von den Menschen keine
größere Wertschätzung verlangen, als die wir uns selber beilegen.«

»Aber die Liebe, Großmutter ...?«

»Die Liebe, mein dummes Mädchen, ist der Stolz auf den Glauben des
Geliebten.« — —

Das Mädchen hatte sich losgemacht. Mit gefalteter Stirn lag es in den
Kissen und starrte in die Luft.

»Ist das wahr, Großmutter?«

»Es ~ist~ wahr.«

»Und wenn man den Stolz nicht hat?«

»So ist die Liebe eine Lüge. Und Lügen haben kurze Beine.«

»Du meinst, man geht daran zu Grunde. — — Ach, das Sterben kann nicht
so schwer sein.«

»Wenn andere um uns jammern, nicht. Aber wenn man sich selbst
bejammert.«

»Großmutter,« sagte das Mädchen mit einem plötzlichen Ernst, der eine
Feierlichkeit über ihre Züge goß, »ich glaube, ich habe den Stolz.«

»Ich habe mich immer darauf verlassen, Johanna,« erwiderte die Greisin.

»Soll ich dir die Hand darauf geben? Hier hast du sie.«

Sie ergriff die hartgearbeitete Hand der alten Frau und preßte sie mit
ihren weichen Fingern.

»Ich werde dir keine Unehre machen, Großmutter.«

Die Alte nickte. Es war ihr feucht in die Augen gekommen, und sie
wandte den Kopf.

»Was ist das für ein Sonntag,« murmelte sie. »Sieh nur, all die Sonne.«

»Laß noch mehr herein, Großmutter. Ich kann so viel vertragen.«

Und während die alte Frau die Vorhänge beiseite schob, kam endlich die
Frage, die sie erwartet hatte.

»Hat sich denn keiner nach mir erkundigt?«

Aber die Frage rief jetzt nur noch ein stilles Lächeln auf den
zerfurchten Zügen wach. Die Gemeinsamkeit des Blutes hatte sich
dargetan. Der Handschlag der Enkelin galt.

»Der junge Herr Steinherr war in der Frühe da. Aber du warst noch gar
nicht wieder aufgewacht. Da hat er etwas für dich abgegeben und gesagt,
er wollte gegen Abend noch einmal vorsprechen.«

»Gott, was für ein Getue.«

»Mädel, Mädel,« lachte die Frau, »aus einem Fehler fällst du in den
anderen. Muß ich denn mit einem Male deine eigenen Freunde gegen dich
in Schutz nehmen?«

»Ach was, Freunde! Aufdringlich ist er!«

»Du — —,« sagte die alte Frau mahnend. »Vorläufig hast du allen Grund,
ihm dankbar zu sein. Aber ich merke schon, du wirst wieder gesund. Das
war soeben der echte Hannes.«

Hannes drehte sich auf die Seite. Sie war flammend rot geworden. Dann,
nach einigen Minuten, klang es halb zag, halb trotzig aus dem Kissen:
»Was hat er denn für mich abgegeben? Eine Gratulationskarte?«

Frau Stahl ging in das Wohnzimmer und kehrte zurück. Auf den bloßen Arm
gestützt, sah ihr das junge Mädchen gespannt entgegen. Keine Spur mehr
das ernste Wesen von vorhin, ganz das erwartungsfrohe Kind.

»Rosen,« rief sie jubelnd und streckte die Hände aus, »Rosen, ein
ganzer Arm voll. Großmutter, das sind Maréchal Niel und das sind La
France! Himmel, sind die schön! Und das — was ist denn das? Du,«
sagte sie ganz feierlich, »das ist ja eine Bonbonnière, denk mal, von
Branscheidt. Feineres gibt’s in ganz Düsseldorf nicht.«

Sie breitete die Herrlichkeiten auf der Bettdecke vor sich aus und
staunte sie an. Dann schob sie die Konfitüren zusammen und reichte sie
der Großmutter.

»Da, nimm nur, das ist was für dich. Ich darf ja jetzt doch nicht. Aber
sofort essen.«

»Ich heb’ sie auf, Kind, bis später.«

»Ach, dann macht’s keinen Spaß mehr. So was Extraes muß immer extra
auf der Stelle genossen werden. Dann schmeckt’s ganz anders. Zeig mal.
Einen Bonbon kannst du mir doch abgeben.«

Sie stopfte sich eine große kandierte Frucht in den Mund und ließ die
Großmutter ihre Schätze in Sicherheit bringen. Unterdes band sie den
Rosenstrauß auseinander, roch an jeder einzelnen Blume, ordnete sie
nach der Farbe, nach dem Duft, legte sie paarweise, Rosa und Gelb,
zusammen, um endlich alle wieder zu einem großen Buschen zu vereinen
und sie wie eine Garbe in den Arm zu legen. Die Wange hatte sie tief in
die Fülle der Blütenkelche geschmiegt.

Als die Großmutter nach einer Weile eintrat, lag das Mädchen wie
eine Rose unter Rosen. Schnell zog sie sich zurück, um dem Kinde die
heimliche Freude nicht zu stören. Sie hatte ein merkwürdig junges Herz,
die alte Frau, die einst ihrer Tochter den Segen gab, damit sie den
blutroten Tag von Spichern leichter ertragen könne.

Daß sie heute immer ihrer Tochter gedenken mußte —

War es ein Unrecht gewesen — damals —?

Ein heller Schein flog über der Alten Gesicht. Reue? Wofür? Nur Sünder
bereuen. Sie aber hatte aus tiefster Seele gehandelt, und die Seele ist
ein Stück von Gott und spricht wahrer als die Gesetze der Menschen.

Die Greisin suchte ihre Brille hervor, rückte den Strohsessel dicht an
den Tisch und schlug die Bibel auf. Sie traf die erste Epistel Pauli
an die Korinther. Die Blätter teilten sich wie von selber bei dem 13.
Kapitel, als kannten sie seit langem die Zufluchtstätte der alten Frau.
Stumm und ernst blickte sie in das Buch. Dann las sie mit halblauter
Stimme die gnadenreichen Worte des Apostels, die sie mit ihrem starken
Menschensinn menschlich gerade deutete; das monotone Gemurmel klang wie
ein Gebet, und über das Gebet hinaus wie ein Glaubensbekenntnis, und es
war eine große Feiertagshaltung.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Und wenn
ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis,
und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der
Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen
gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre
mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe
eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht.
Sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie
lässet sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freuet
sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. Sie
verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.
Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden,
und die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird.
Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein
Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat
ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem
dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s
stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist
die größeste unter ihnen.«

Die alte Frau nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Sie lächelte.
Wer wollte mehr wissen als sie, was gut und böse sei, wenn unser Wissen
Stückwerk ist? Wer, der nicht erkannt hatte, daß die Liebe das Größte
ist? — — Die Liebe! — Die alte Frau erhob sich. Das Lächeln machte
einem feierlichen Ernste Platz.

»Sie freuet sich aber der ~Wahrheit~!« sagte sie mit starker Stimme.
»Das ist es. Die Wahrheit allein gibt den Ausschlag. Dann mag sein, was
will: wir taten das Unsere.«

Es wurde an die Tür geklopft, die zur Treppe führte, und die Alte ging,
um zu öffnen. Draußen stand Hans Steinherr.

»Treten Sie ein,« sagte sie freundlich, »meine Enkelin ist wach und
auch wieder wohl.«

»Sie sind heute so gütig zu mir, Frau Stahl.« Der junge Mann drückte
dankbar die dargebotene Hand. »Daran erkenn’ ich schon, daß es Fräulein
Johanna besser gehen muß.«

Er hatte unwillkürlich an Stelle des kindischen »Hannes« Johanna gesagt.

»Es ist Sonntag heute,« entgegnete die Greisin einfach.

»Nicht wahr? Das ist wirklich ein Sonnentag! Alle Blumen strecken die
Köpfe hoch.«

»Sie haben schon wieder Ihren Garten geplündert? Sie müssen nichts
übertreiben.«

»Nur drei Rosen. Es waren die schönsten, und sie baten so sehr, für ihr
Blühen belohnt und mitgenommen zu werden.«

Frau Stahl sah den Schmeichler prüfend an.

»Sie haben die Worte hübsch in der Gewalt. Das kleidet Sie. Hoffentlich
tönt es unter dem Kleid gerade so.«

Hans verstummte. Aber er blickte offen zu der Sprechenden auf.

»Ich werde meiner Enkelin sagen, daß Sie da sind.«

Einige Augenblicke später stand er in ihrer Kammer.

»Guten Tag, Herr Steinherr,« tönte eine zage Stimme, die gern einen
festeren Beiklang gezeigt hätte.

Da trat er an das Bett und reichte ihr seine Rosen. Zu sehen vermochte
er immer noch nicht. Er fühlte, wie seine Hand scheu ergriffen wurde.
Und nun sank der Schleier.

»Guten Tag, Fräulein Hannes,« sagte er rasch. »Gottlob, daß Sie wieder
gesund sind!«

»Ach,« meinte sie und vermied seinen Blick, »das bißchen von gestern.
Unkraut vergeht nicht.«

»Unkraut?« machte er staunend. Ihre ganze Lieblichkeit wurde er gewahr.
Wie sie dalag, bis unter das Kinn zugeknöpft in dem weißen Linnen,
das leuchtende Haar glatt heruntergestrichen zu beiden Seiten der
zartgezeichneten Wangen, das leinene Hemdchen Hals und Brust bedeckend.
Und vor ihr lagen die Rosen, die er am Morgen hergetragen hatte, und
sie sagten so wenig, so gar nichts; wie kleine Dienerinnen vor einer
kleinen Prinzessin.

»Unkraut?« wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so
was aussprechen!«

»Sie scherzt,« sagte Frau Stahl. »Ganz so gering schätzt sich Johanna
doch nicht ein.«

Da wurde die kleine Rekonvaleszentin ausgelassen.

»Buh!« machte sie und streckte ihrem Besucher so plötzlich ihr Köpfchen
entgegen, daß er zurückfuhr. Dann warf sie sich lachend zurück. »Ich
bin ein Ungetüm, gelt? Ein schreckliches Menschenkind! Antworten Sie,
auf der Stelle!«

»Wahrhaftig,« rief Hans begeistert, »das sind Sie! Aber ich glaube,
mehr ein schrecklich ~liebes~ Menschenkind. Hab’ ich recht, Frau Stahl?
Sie verstellt sich nur immer, damit’s keiner merkt.«

»Jawohl, ihre Unarten auch noch beloben! Na, nun setzen Sie sich nur
nieder. Einen Augenblick dürfen Sie schon hierbleiben.«

»Großmutter,« sagte Hannes und lächelte die Alte an, »trinken wir denn
heute nachmittag keinen Kaffee?«

»Ach so,« meinte die Greisin trocken. »So hatt’st du dir das gedacht?«

»Herr Steinherr ist doch zu Besuch gekommen,« schmollte die Kleine und
zupfte an den Rosen.

»Aber ich bitte, Frau Stahl,« warf der junge Besucher verlegen ein,
»ich möchte Sie nicht stören.«

»Freilich,« stieß das Mädchen trotzig heraus, »dann — dann — wenn es
Herrn Steinherr geniert, bei uns Kaffee zu trinken. Es ist ja auch gar
kein richtiger Kaffee. Wir trinken ihn nur so.«

»Fräulein Hannes!«

Hans Steinherr war empört.

»Das war schlecht,« fügte er nach einer Weile hinzu. »Das durften Sie
mir ganz gewiß nicht sagen.«

Sie antwortete nicht, aber sie zog mit einer hastigen Bewegung ihr Haar
bis über die Augen zusammen.

»Sie werden unseren Kaffee schon mögen,« meinte die alte Frau. »Wollen
Sie mittun?«

»So viel Freundlichkeit hab’ ich ja gar nicht erwartet,« murmelte Hans.

»Ich werde das Geschirr hereinholen. Dann trinken wir mit Johanna
zusammen.«

Sie ging ruhig hinaus, um den Kaffee aufzubrühen. Bald vernahm man ihr
Hantieren mit Töpfen und Tassen.

Hans Steinherr blickte zu seiner kleinen feindlichen Freundin hinüber.
Er konnte unter dem dichten Haarschleier nichts von ihrem Gesicht
erkennen. Nur die im Haar verkrampften Fäustchen waren sichtbar.

»Fräulein Hannes,« sagte er recht knabenhaft weich.

Sie regte sich nicht.

»Sie schämen sich wohl, Fräulein Hannes? Dann ist ja alles wieder gut.«

Keine Antwort. Sie lag wie eine Bildsäule. Nur über ihrem Munde
zitterte das Haar.

Da wagte er es, ihre Hände zu fassen. Und die Fäustchen, die so fest
verkrampft schienen, zeigten sich so willfährig, nachzugeben, und er
schob sie sacht beiseite und strich ihr ganz sanft das Haar aus dem
Gesicht.

»Sie haben ja Tränen in den Augen,« sagte er leise und tupfte mit
zartem Finger die Tropfen fort.

Sie ließ alles mit sich geschehen, aber sie wich auch seinem Blick
nicht mehr aus.

»Buh!« machte er plötzlich, wie sie vorher, und streckte mit einer
lustigen Grimasse den Kopf gegen sie aus.

Erschrocken fuhr sie zusammen. Und dann lachte sie, lachte, daß es
durch die Kammer schmetterte, in einem Lachkrampf, der sich nicht
bändigen lassen wollte. Und Hans sekundierte ihr mit seinem jungen,
durchdringenden Bariton, und wenn der eine aufhören wollte, begann der
andere von neuem, und beide wußten nicht mehr, worüber sie lachten.
Über ein Nichts, über alles — das war ihnen Nebensache. Bis Großmutter
Stahl energisch gegen die Türe pochte.

»Sind Sie — noch — ärgerlich auf mich?« schluchzte Hans.

»Och,« schluchzte Hannes und rieb sich mit dem Handrücken die Augen,
bis sie brannten, »ich — ich hab’ mich ja nur — über mich selber —
geärgert.«

»Dann — dann — könnten wir doch wirklich — gut’ Freund sein.«

»Ja — — —«

Da kam Frau Stahl mit dem Nachmittagskaffee. Schnell sprang Hans zu, um
ihr behilflich zu sein. Er zog aus der Ecke einen kleinen Tisch herbei,
deckte das Tuch darüber, das Frau Stahl unterm Arme trug und half
ihr, die Sonntagsgenüsse aufbauen. Aniszwieback, gezuckerten Zwieback
und Burger Brezeln. Die rüstige Frau stopfte ihrem Enkelkind ein paar
Kissen in den Rücken, und dann saßen sie zu dritt in der kleinen Kammer
und griffen wacker zu.

»Schmeckt Ihnen der Kaffee?« fragte die Kleine mit größter
Unbefangenheit.

»Einfach fürchterlich!« erwiderte Hans.

»Das wundert mich,« fuhr die Kleine in aufrichtig klingendem Tone fort,
»Großmutter nimmt aber bestimmt nur die beste Zichorie.«

»Ich hatte es auf gebrannte Eicheln taxiert,« entgegnete Hans
verbindlich und bat um eine neue Füllung. »Wir haben soeben
Freundschaft geschlossen, Frau Stahl. Sie merken es wohl am Ton.«

»Die Freundschaft ist immer die beste, die sich eines guten Tones
befleißigt,« sagte die alte Frau. »Das hält die Gewöhnlichkeit der
Gewöhnung zurück, den schlimmsten Feind der Freundschaft.«

Hans bröckelte stumm an seiner Brezel. Wie einfach und sicher die
Greisin sprach. Dieser Frau glaubte er es, daß sie einst die Würde der
Beamtenfrau ruhig mit der Stellung einer Lohnarbeiterin vertauschen
konnte, ohne auch nur die Spur von sich selbst zu verlieren. Wie
beneidenswert seine kleine Freundin war, daß sie eine solche Erzieherin
hatte.

»Hat man Ihnen denn gar nichts aufgetragen?« hörte er plötzlich die
Stimme des Mädchens.

»Aufgetragen?« fragte er und richtete sich auf. »Wer sollte mir denn
etwas aufgetragen haben?«

»O, ich dachte nur — —« machte Hannes gedehnt. »Sie waren also nicht
bei Hüsgens?«

»Gewiß, heute vormittag.«

»Und sie haben sich nicht nach mir erkundigt?«

Hans wurde ein wenig verlegen und suchte nach Worten. Sie bemerkte es
sofort.

»Geben Sie sich keine Mühe,« sagte sie spöttisch, »ich bin nicht so
feinfühlig.«

»Das sind Sie wohl,« warf er eifrig ein. »Aber Sie wissen ja selber,
daß der edle Willibald alles andere eher ist. Ich fürchte, seine
Schwester nicht minder. Doch daraus dürfen Sie sich nichts machen.«

»Tu’ ich auch nicht. Aber etwas muß doch gesagt worden sein.«

»Nun ja,« gab er zögernd zu, »Willibald hatte Angst, seine schönen
Veranstaltungen könnten ihm in die Brüche gehen — so sagte er wörtlich
— und er schalt auf das unzeitgemäße Krankwerden.«

»Also eine gute Besserung hat er mir nicht wünschen lassen,« sagte sie
und zog die Stirn in Falten.

»Er hat es wohl nur vergessen,« begütigte Hans. »Sie kennen doch seine
Art.«

»Dann soll er auch meine Art kennen. Ich werde ihn und seine schöne
Veranstaltung auch vergessen.«

»Sie wollen nicht mehr mittun?« rief Hans überrascht. »Ach nein,
Fräulein Hannes, das kann nicht Ihr Ernst sein. Wir haben uns doch alle
so auf den Abend gefreut.«

»Und ich tu’ doch nicht mit,« beharrte sie trotzig. »Er soll sich
suchen, wen er will. Ich lass’ mich so nicht behandeln. Von dem am
wenigsten, diesem Bierwirtsjungen!«

»Johanna,« verwies Frau Stahl sie zürnend.

»Laß nur, Großmutter, ich tu’s doch nicht.«

»Fräulein Hannes,« sagte Hans niedergeschlagen, »was soll denn aber aus
dem schönen Abend werden?«

»Och, der Abend läuft uns nicht weg. Wir unternehmen was für uns.«

»Für uns?«

»Nun ja. Großmutter, Sie und ich. Oder — paßt Ihnen die andere
Gesellschaft besser?«

»Darauf gebe ich Ihnen jetzt keine Antwort mehr. Das ist gerade wie
vorhin mit dem Kaffeetrinken.«

»Sie sind einverstanden!« lachte sie, ohne auf seine beleidigte Miene
zu achten. »Großmutter, du auch? Also nächsten Sonntag? Wohin wollen
wir denn? Nach Schloß Benrath? Ja, bitte, nach Schloß Benrath!«

Sie beugte sich vor, schlang die Arme um den Hals der alten Frau und
küßte sie auf den Mund. Frau Stahl erhob sich schnell.

»Jetzt ist es aber Zeit, Herr Steinherr,« sagte sie mit freundlichem
Ernst. »Das Kind wird viel zu unruhig.«

Sofort stand Hans auf. Man verabredete, sich am nächsten Sonntag
nachmittag zwei Uhr am Bahnhof zu treffen. Bei gutem Wetter sollte
der Rückweg zu Fuß angetreten werden. Hannes lag ganz still, mit
geschlossenen Augen, im Bette, als Hans Steinherr sich verabschiedete.
Sie gab ihm kaum die Hand.

»Ich kann Sie leider nicht auffordern, in der Woche noch einmal
vorzusprechen,« sagte die alte Frau, als sie Hans die Tür im Vorzimmer
öffnete. »Ich bin die ganze Woche draußen auf Arbeit.«

»O, Frau Stahl, ohne Ihren Willen würde ich es auch nicht wagen.«

»Es ist gut,« entgegnete sie.

»Haben Sie vielen Dank, Frau Stahl. Der Nachmittag bei Ihnen war
wirklich schön.«

»Adieu, Herr Steinherr.«

Er stolperte die Stiegen hinunter und stand mit erhitztem Kopf auf der
Straße. Wohin? dachte er. Nur nicht unter Menschen jetzt. Er eilte
auf kürzestem Wege nach Hause, in den Garten. Er fühlte, daß seine
Brust ganz schwer war von all den Gestalten, die er mit sich trug. Ein
unerklärlich wonniges Gewicht. Bis in die Nacht saß er in der Laube und
hielt mit den Gestalten allerlei närrische Zwiesprache. — —

Frau Stahl hatte leise die Kammertür geöffnet.

»Schläfst du, Johanna?« fragte sie.

Als keine Antwort kam, blieb sie im Wohnzimmer. Grübelnd stand sie am
Fenster und blickte hinaus. Dann kehrte sie sich ruhig um und suchte
sich eine Handarbeit heraus.

Sie sollen ihre Jugend haben, dachte sie, das ist ihr Recht. Man soll
dem Menschenfrühling nicht ins Handwerk pfuschen, wenn man das Wort
Glück im Munde führt. Und — und — das Kind gab mir doch die Hand
darauf. — —

       *       *       *       *       *

Zweimal im Laufe der Woche war Hans Steinherr im Atelier seines
Freundes Springe gewesen. Er hatte sich stundenlang an den
Bildern vorbeigeschoben, in alle Ecken geguckt und ganz sonderbar
herumgedruckst.

»Was gibt’s denn, Junge? Hast du Schulden beim Konditor, eine schlechte
Zensur, oder bist du verliebt?«

»Ach, Sie spotten ja nur.«

»Also verliebt. Dann behalt’s bei dir! Die Heimlichkeit erhöht den
Reiz. Hoffentlich ist sie von altem Adel?«

»Sehen Sie? Ich wußte ja, daß Sie für gewisse Dinge kein Verständnis
haben.«

Der Maler hatte eine Melodie gepfiffen und rastlos weiter gearbeitet.

»Herr von Springe?«

»Nun, mein Junge?«

»Wenn — wenn ich nun einmal jemanden nötig haben sollte, der — der —
auf den ich mich — verlassen könnte?«

»Soweit meine Verständnislosigkeit reicht, würde ich der Jemand ja sein
können.«

»Herr von Springe!«

Hans war auf ihn zugesprungen und hatte sich an ihn gehängt.

»Mach’ daß du nach Hause kommst und halte die Leute nicht auf. Marsch,
ab! Hörst du nicht, ich habe zu arbeiten. Ich will allein sein.«

Und jedesmal, wenn der Junge nach solch einer Szene gegangen war,
hatte der Maler die Arbeit beiseite geschoben und war auf die Veranda
hinausgetreten, an der das Weinlaub rubinrot schimmerte und tausend
dringendere Fragen stellte, als der Mund des mannbar gewordenen Knaben
...

Und nun war Sonntag. Ein Herbsttag von jener Schönheit und tiefen
Schwermut, die noch einmal alle Erinnerungen des enteilenden Sommers
zusammengreifen möchte zu einem lang nachschwingenden Akkord. Aus
Hoffen und Bangen gemischt: Was wird der Tag bringen, was wird nach ihm
kommen? Nütze den Tag! Er trägt in sich, was über den Winter hilft.
Sein Zittern ist dein Zittern. — —

Hans Steinherr stand am Bahnhof. Er hatte sich bei den Eltern mit
einem Ausflug entschuldigt, ohne die Namen der Teilnehmer anzugeben,
und wartete nun schon seit einer Viertelstunde auf Frau Stahl und ihre
Enkelin. Für jede der Frauen trug er ein paar Rosen in der Hand. Er war
so aufgeregt, als gälte es eine Weltreise.

»Hier!« rief er plötzlich aus Leibeskräften und schwenkte den Hut. Da
waren sie neben ihm.

Frau Stahl war nicht sonderlich modern gekleidet. Er merkte es nicht.
Er war nur dankbar, daß sie gekommen war. Und Hannes? War das denn
Hannes? Ja, war sie denn gewachsen in den acht Tagen und umsoviel
reifer geworden? Er kam sich fast wie ein Knabe neben ihr vor.

»Wie geht es Ihnen?« murmelte er und stopfte ihr die Rosen in die Hand.
»Wie ich mich freue! Sie sind also wieder ganz gesund? Freuen Sie sich
denn auch ein wenig auf die Tour? Hier, Frau Stahl, bitte, nehmen Sie
doch auch die Blumen. Da kommt der Zug. So, bitte, hier können wir
einsteigen.«

Frau Stahl hatte den Griff des Coupés gefaßt. Jetzt ließ sie ihn wieder
los.

»Herr Gott,« lachte sie, »da wären wir beinah falsch eingestiegen. Das
ist ja die erste Klasse.«

»Dann stimmt’s doch. Bitte, Fräulein Hannes.«

Das junge Mädchen blickte fest auf die Coupénummer. Dann preßte sie die
Lippen zusammen und stieg ein, als ob sie’s anders nicht gewöhnt sei.
Frau Stahl folgte schweigend, und als letzter Hans. Während der kurzen
Fahrt bis zur Station Benrath wollte kein Gespräch zu stande kommen.

Steif schritten die Frauen die Feldwege einher, die zum Schloß führten.
Auch Hans war verstimmt. So zogen die drei Menschen fürbaß.

»Soll ich den Pedell rufen, damit er uns das Schloß zeigt?« fragte
Hans, als sie vor dem Rokokobau standen und die Blicke über die
Rasenfläche schweifen ließen, die sich vor ihm ausbreitete.

»Bitte,« sagte Hannes kurz.

Der Pedell kam und übernahm die Führung. Aber was er auch von dem
Erbauer, dem kunstsinnigen pfälzischen Herzog Karl Theodor und seinem
fröhlichen Hofstaat zu erzählen wußte, was er berichtete von allerhand
Zeitläuften und Schicksalen, von hohen und höchsten Herrschaften,
die geruht hatten, in diesen und jenen historischen Betten zu ruhen:
er fand nicht das mundaufsperrende Verständnis, das er bei diesen
Gästen zu finden gehofft hatte. Erst das Trinkgeld stimmte ihn um. Er
empfahl angelegentlich, nicht zu versäumen, den Park zu besuchen. »Der
herrlichste Park, den der Niederrhein besitzt. Mit der Dunkelheit wird
er geschlossen. Sonst müssen Sie übers Gitter klettern.«

Wieder standen die drei Menschen draußen und blickten stumm über die
Rasenfläche.

»Sind Sie müde, Frau Stahl? Wir hätten wohl erst die Wirtschaft
aussuchen sollen. Entschuldigen Sie, daß ich nur an mich dachte.«

»Großmutter hat sich in den letzten Tagen überarbeitet,« sagte Hannes
kurz.

Hans blickte auf die alte Frau und errötete. Hannes gewahrte es und
wandte sich finster ab.

»Komm, Großmutter, es ist nicht weit. Nur ein paar Schritte bis zum
Grund.«

Durch die lockende Sonntagspracht gingen sie mit lässigen, müden
Bewegungen.

Im Wirtshaus im Grund saßen sie, bis die Sonne im Westen zu flammen
begann. Da drängte die alte Frau, die jungen Leute sollten den Tag
nicht vertrauern und noch einmal hinausgehen. Sie fühlte sich bereits
wieder wohler. Das Stillsitzen und der Abendfriede täten ihr am besten.

Da gingen die beiden jungen Menschenkinder den Weg zurück zum Schloß
und traten durch das Gittertor in den gepflegten Garten und gingen
weiter, an den Sandsteingöttern vorbei, vorüber an den Wasserspielen
und dem mit Seerosen bedeckten Bassin, die laubenartig verwachsenen und
künstlich verschnittenen Heckengänge entlang, in denen es einsam war
wie in stillen Grotten, und weiter, bis der Park sie aufnahm mit seinen
Baumriesen und wundervollen Landschaftsbildern, bis sie den Rhein in
der Ferne aufblitzen sahen und sein heimatliches Gemurmel hörten.

Es war ein Duften um sie her nach kräftigem Waldboden.

Und sie blieben beide stehen und schlossen die Augen und sogen den Duft
ein. Den Duft von niederrheinischer Scholle, deren Kinder sie waren.

Als sie die Augen öffneten, hatte die flammende Abendsonne den Park
mit Glut gefüllt, die Bäume schillerten in goldenen Konturen, und die
Wipfel waren wie purpurne Baldachine. Das Gras zu ihren Füßen war ein
persischer Teppich geworden in bunten Farben und phantastischen Mustern.

»Wie — schön — —« stammelte fassungslos das junge Mädchen.

Und der junge Begleiter ergriff ihre Hand, als müßte er ihr zeigen, daß
sie ritterlichen Schutz genösse in diesem Zaubermärchen.

Als die tiefen Schatten fielen und das Licht auslöschten, behielt er
die Hand in der seinen, und so gingen sie wie Kinder, die sie waren:
Hand in Hand.

Es wurde nicht dunkel heute. Ein silbriger Schimmer spielte in dem
Dämmer und durchdrang es. Der Mond kam herauf. Durch den flüsternden
Park gingen die Kinder Schulter an Schulter, bis sie in den
Laubengängen waren, in denen einst die Liebe des Rokoko geseufzt.
Drüben, im Garten, lächelten die verschwiegenen Sandsteinfiguren,
die allwissenden Heidengötter, wie ehedem; auf den Teichen träumten
die Wasserrosen; durch die Hecken glitt ein Singen wie von einer
Harfensaite, immer derselbe, einzige, sehnende Ton; und der Park dort
öffnete wie eine Mutter die Arme weit.

Die Kinder spürten ein Zittern in den Händen, an denen sie sich gefaßt
hielten. Sie blieben stehen. Da lief das Zittern durch ihren Körper.

Und das Mädchen legte den Kopf zurück und blickte mit weitgeöffneten
ergebungsvollen Augen dem Knabenkopf entgegen, der sich mit bebendem
Mund über sie beugte und ihre Lippen suchte.

Sie berührten sich wie ein Hauch, staunend blieben sie übereinander
gebeugt, und in ihre kalten Wangen strömte das junge, warme Leben
zurück.

Die Hände lösten sich und hingen schlaff herab. Dann hoben sich die
Arme, scheu und ungelenk, und eines umschlang den Nacken des anderen,
und die Lippen, halbgeöffnet, neigten sich zueinander und drängten
sich fest aneinander und kehrten, wenn sie sich lassen wollten, immer
wieder hastig, durstig zueinander zurück. Keines sprach ein Wort. Aber
wenn sie innehielten, zählte eines des anderen Herzschläge. Bis die
Herzschläge durcheinander jubelten.

»Hannes, Hannes, ich habe dich so lieb, daß ich es nicht sagen kann.«

»Ich hab’ dich lieb gehabt, wie ich dich sah, und werde nur dich lieb
haben,« murmelte das Mädchen, und ihre Finger zitterten auf seinem
Haar, seinen Augen, seinen Wangen.

»Weshalb warst du immer so böse zu mir?«

»Sprich doch nicht,« flehte sie und hob die feuchten Augen und die
jungen, verlangenden Lippen.

Da faßte er sie um den biegsamen Leib und preßte sie an sich, daß ihnen
beiden schwindelte.

»Komm, komm, du sollst dich setzen,« und er führte sie behutsam zu
einer Bank.

Sie saß auf seinem Schoß, seinen Kopf in beiden Händen, und sah ihm
ganz nahe in die Augen.

»Du!« stieß sie jäh hervor und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

»Du! Du! Du!« stammelte er. »Wenn du mich vergessen solltest!«

»Hans!« rief sie, und sie lachte und schluchzte durcheinander.

»Weshalb hast du mich immer so gequält? Sag es mir doch, damit ich
ruhig werde,« bat er.

»Ich kann es nicht. Ich kann es wahrhaftig nicht.«

»Aber ich leide darunter. Ich habe ja nie einen anderen Menschen so
lieb gehabt.«

»O, du! Und ich? — Und ich werde auch nie einen anderen Menschen lieb
haben können. Nie! Hörst du? Ich habe nicht und ich werde nicht. Hans,
Hans!«

»So mußt du es mir auch sagen können. Erst heut nachmittag — o, du
weißt — da warst du so kalt.«

»Sei nicht böse,« sagte sie beschämt und drückte ihr Gesicht an seine
Brust.

Und plötzlich, unaufgefordert, begann sie zu sprechen. Ohne ihr Gesicht
von seiner Brust zu heben.

»Ich war ja so kindisch. Siehst du, als ich dich sah, und immer wieder
sah, da warst du für mich so vornehm. Und ich wollte nicht, daß du
vornehmer wärst als ich. Und ich hatte solche Angst, du könntest es
merken, daß du vornehmer seist als ich und könntest dich über mich
lustig machen wollen. Deshalb war ich so trotzig. Lieb hatt’ ich dich
ja längst. Und du mich auch; das merkte ich. Aber ich wollte, daß du
dich nicht schämen solltest. Ich wollte werden wie du, und ich will es
auch werden. Ich will es! Du darfst dich nie, nie meiner schämen. Ach,
du, es kann dich ja keiner so lieb haben wie ich. Auf der ganzen Welt
nicht! Im ganzen Leben nicht!«

Hans kniete vor sie hin, umschlang ihre Kniee und drückte seinen Kopf
in ihren Schoß.

»Wie gut das tut,« sagte er aus Herzensgrund. »Wie lieb du bist!«

Er küßte ihr Kleid, und sie schmiegte die Wange auf sein Haar.

»Schwöre mir, daß du mein Weib wirst. Daß du auf mich warten wirst, was
auch kommt!«

Sie schwur es, mit einem stillen Lächeln in der Stimme.

Und er gab tausend heiße Knabenschwüre zur Antwort.

»Komm, Hans,« sagte sie endlich, »Großmutter wartet. Sie vertraut auf
mich.«

Da stand er von dem kühlen Boden auf, und sie gingen wieder Hand in
Hand, wie Kinder gehen. Durch den lauschenden Garten, vorbei an den
lächelnden Sandsteingöttern.

Sie hatten lange zu suchen, bis sie eine Stelle im Parkzaun fanden,
durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Das Parktor war verschlossen.
Doch der Spaß des Suchens war größer als die Angst. Und alles Kindische
kehrte in ihnen zurück. Ausgelassen tollten sie den Weg zum Wirtshaus
im Grund zurück.

Frau Stahl war im Garten eingenickt. Der Wirtssohn spannte eine
Kalesche an und fuhr die Gäste nach der Stadt zurück. Die alte Frau
schlummerte im Fonds, müde von der Last der Arbeit, der Sorge und
der Jahre. Ihr gegenüber saß das Märchen, das sich Jugend nennt, und
schaute selig lächelnd in die ewigen Sterne.

[Illustration]




Siebentes Kapitel


Der Spätherbst setzte mit endlosem Regen ein. Es regnete fort bis
in den Dezember. Verdrießlich eilten die sonst so lebensfrohen
Düsseldorfer über die Straßen, verdrießlich über das Wetter und die
allgemeine schlechte Geschäftslage. Selbst in den Narrensitzungen,
die wie alljährlich pünktlich mit der elften Abendstunde des elften
November begonnen hatten, um mit weiser Gründlichkeit den Karneval, den
»Fastelowend«, für den Monat Februar vorzubereiten, wurde mehr gallige
Bosheit als blanker Humor gezeitigt. Im Hofgarten war das Herbstlaub
an den Bäumen verfault. Harte Windstöße rissen es von den Zweigen
und klatschten es auf den Boden, wo es zu einer breiigen Masse ward.
Die Schwäne auf den Teichen ruderten zerzaust am Ufer entlang, als
wären sie in der Mauser. Kein Mensch bekümmerte sich um die sonst so
verwöhnten Tiere. Über den Rhein, den das aufgewühlte Grundwasser der
Nebenflüsse lehmiggelb gefärbt hatte, pfiffen die Winde, daß jeder die
Kaimauer mied. Die Schiffahrt war eingeschränkt. Die Frachtkähne wagten
sich bei dem rapid wachsenden Pegelstand nicht aus den Heimatshäfen,
und die paar kleinen Lokalboote fuhren meist ohne Passagiere. Große
Geschäftskrisen standen vor der Tür, und der unaufhörliche Regen
machte die Stimmung immer noch grauer.

Hans und Hannes gewahrten von alledem nichts. Die Not der Zeit blieb
ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Sie wußten nicht anders, als daß
das goldene Zeitalter hereingebrochen sein müsse. Und wenn sie an
jeder Straßenecke über das erbärmliche Hundewetter schelten hörten, so
lachten sie und segneten das Hundewetter. Unter demselben Regenschirm,
eng aneinandergeschmiegt, unternahmen sie ihre Streifzüge durch
die entlegenen Viertel der Altstadt oder setzten den Brückenwärter
in Erstaunen durch stundenlange Promenaden auf der menschenleeren
Schiffsbrücke.

»Nu säg ehner, wat en Rejen is!« brummte der Alte kopfschüttelnd. »Dene
hät et dörch et Dach jerejent, da sind se öwerjeschnappt. Knatsch
jeck.« — — —

Hans und Hannes hörten und sahen nichts, als nur sich selbst. Jedem
ging im anderen eine neue Welt auf, und sie suchten sie sich zu eigen
zu machen und aus der Vermischung eine einheitliche mit erweiterten
Grenzen aufzubauen. Das Mädchen war dem jungen Manne in der schnelleren
Anpassung weit voran. Als hätte ihre Seele nur darauf gewartet, daß
einer an die verriegelte Pforte poche und das »Sesam, öffne dich«
spräche, so breitete ihr Empfinden und ihr Verständnis die Schwingen.
Mit dem unausgesprochenen Fraueninstinkt fand sie heraus, was in ihrer
ungebundenen Natur den guterzogenen Freund verwirrte, sie las ihm sein
ganzes Formentalent ab, das sie bisher als den Ausdruck angeborener
Vornehmheit angestaunt hatte, und zitterte insgeheim vor Freude, wenn
sie seinen verwunderten Blick bemerkte. Aber sie sprach nie ein Wort
über ihre Lerntätigkeit. Sie hatten auch so viel anderes zu besprechen
...

Regelmäßig trafen sie sich zwischen der sechsten und siebenten
Abendstunde, wenn Hans das notwendigste Aufgabenpensum der Schule
erledigt hatte. Die Ecke am Pempelforter-Stall, neben Schloß Jägerhof,
galt ihnen als Rendezvous, aber meist trafen sie sich, da Hannes als
erste zur Stelle war, halbwegs der Jakobistraße und bogen sofort in
den triefenden, aufgeweichten Hofgarten ein. Als Hans im Gummimantel
erschien, erschien auch Hannes im Gummimantel. Daß sie ihn aus dem
Erlös ihres Francesca-Gewandes erstanden hatte, verschwieg sie. Der
elastische Stoff legte sich fest um den schlanken Mädchenleib, hob die
feinen Formen und gab der Figur etwas über die Jahre hinaus Vollendetes
und Reifes.

»Wie wunderschön du bist!« sagte Hans. »Wie ein verkleideter Page. Man
wagt gar nicht, dich anzufassen.«

Dann nahm sie seinen Arm, drückte sich an ihn und versuchte, mit ihren
zierlichen Füßen seinen Schritt einzuhalten.

Kam ein Tümpel, so hob sie die Röckchen, prüfte erst mit der Spitze des
Stiefels die Tiefe und schritt hindurch wie eine kleine Bachstelze.

»Du sollst mir nicht so nach den Füßen schauen, Hans,« sagte sie drüben.

»Ach, Hannes, liebster, süßer Hannes, in ein paar Jahren bist du ja
doch meine Frau.«

»Ich will es aber nicht, Hans. Oder riskierst du das auch bei den
jungen Damen, die in eurem Hause verkehren?«

Dann ging er verstimmt neben ihr her. Bis die Bäume sich lichteten
und die Alleestraße sichtbar wurde, und sie sich plötzlich mit einer
jähen Bewegung an seine Brust warf und sich von ihm herzen, drücken
und küssen ließ und den Kuckuck danach fragte, ob er das auch bei den
jungen Damen, die in seinem elterlichen Hause verkehrten, »riskierte«.

»Hans, ach, du, du!«

»Hänschen, Hänschen, weshalb bin ich nicht schon was geworden!« — —

Mit der gleichen, jähen Bewegung machte sie sich los, und mit der
sicheren Eleganz, als wäre sie die Schwester des so apart erscheinenden
jungen Menschen, überschritt sie mit ihm die Straße, um durch die
Altstadt oder an der Kunstakademie vorbei den Weg zum Rhein zu nehmen.

Sie führten keine tiefen Gespräche, die beiden. Und doch war ihnen
jedesmal, wenn sie sich trennten, als hätten sie die Tiefen der
Weltweisheit erschöpft, und sie fühlten sich in ihrer Lebensklugheit
bereichert mehr denn von allen Schuljahren.

Im stürmenden Wetter, unter dem schwankenden Regenschirm dicht
aneinandergeschmiegt, blieben sie oft mitten auf der Straße stehen
und horchten, halb selig, halb verängstigt, auf etwas Unerklärliches,
Beunruhigendes, Wunderbares — —. Und es war nur das Pulsen ihres
Blutes, das sie in der dichten Berührung verspürten.

       *       *       *       *       *

Nun war Frost eingetreten. Es ging auf Weihnachten zu. Manchen
verregneten Sonntagnachmittag hatte sich Hans von der alten Frau Stahl
erbettelt, ihn in dem primitiven Wohnzimmer der Pempelforterstraße
zubringen zu dürfen. Denn an den Sonntagen verließ die Enkelin die
Großmutter nicht. Über den einzigen freien Tag, den die alte Frau
besaß, hatte sie auch allein zu verfügen. Seit in dem jungen Mädchen
das Geheimnis der Frauennatur zur Offenbarung rang und unbewußt nach
Betätigung drängte, umschloß sie mit verdreifachter Liebe die einzige
Frau, die, wenn auch alt und greis, ihrem Leben näher stand und ihr das
gleiche Geschlecht verkörperte. Dann wandelte sich der Liebeshunger in
eine Liebesverschwendung.

Und in der Greisin stieg es jung und heiß empor.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle,« murmelte
sie und reckte sich auf.

Mit Hans saß sie oft und plauderte. Ruhig, ernst, auf ihre Weise. Sie
ließ ihn Blicke in ihr Leben tun, und ihr Leben, ihr siebzigjähriges,
spiegelte siebzig Jahre der Menschheit. Alle Kreuz- und Quersprünge der
Zeit und der Zeitgenossen, das Trotzen, Aufbegehren, Himmelstürmen,
das Nachgeben, Erkennen, Resignieren, die Inzucht des Egoismus wie
das Sichfeilhalten des Strebertums, alle Narrheiten und alle Tugenden
des Menschengeschlechts hatten der alten Frau ein Spiegelbild lassen
müssen, und sie mischte die Bilder in ihrem Kaleidoskop und hielt
es dem stumm Aufhorchenden hin und sagte: »In all dem suchte die
Menschheit das Glück. Schauen Sie nach, ob Sie es sehen.«

Und Hans sah es nicht.

»Ich sehe es in ganz etwas anderem,« sagte er mit seiner warmen
Knabenstimme.

»Das taten die anderen von Haus aus auch. Aber sie waren zu schwach,
ihre Meinung vor den Leuten festzuhalten. Links und rechts lockte
es, akkurat wie das Glück. Und obenein schien es bequemer oder
ruhmreicher, oder vornehmer und eleganter; und sie brachen von der
Bahn aus und nahmen Richtwege. Da fanden sie die Bequemlichkeit,
den Ruhm, die Vornehmheit, die Eleganz. Und das Glück, das dumme,
kindische, einfältige, und doch über alles, alles, alles triumphierende
Menschenglück? Ich bin siebzig Jahre. Fragen Sie Leute, die so alt sind
wie ich, was sie an Orden und Ämtern bieten für das, was sie — als sie
jung waren — auf der geraden Bahn liegen sahen. Damals, als sie sich
ihrer Jugendmeinung, ihres Impulses schämten. Wissen Sie auch, was das
ist: sich schämen? Scham ist Feigheit.«

Über das Wort hatte er lange nachgegrübelt. Er empfand sehr wohl,
daß es nur bedingungsweise gebraucht worden war und auch nur
bedingungsweise seine Anwendung finden konnte. Aber gerade deshalb
wurde es ihm zum Sporn, den Motiven nachzuspüren und sich zu prüfen,
wenn er drauf und dran war, sich einer Sache, eines Menschen wegen zu
schämen. Bevor er dem Gefühl der Scham Gewalt über sich ließ, sezierte
er mit Gedankenschnelle die treibenden Gründe. Waren sie ideeller
Natur, gaben sie ihm ein Recht, mit sich oder anderen unzufrieden zu
sein, so schämte er sich für sich und die anderen mehr denn früher.
Ging ein egoistischer Zug hindurch, vor allem der, der zur grundlosen
Überhebung und jener eigensüchtigen Art der Verleugnung drängt, aus der
Petrus nach des verlästerten Nazareners Gefangennahme die Worte sprach:
»Ich kenne den Menschen nicht,« so versuchte er mit Gewalt Herr über
sich selbst zu werden und murmelte es nach wie eine Beschwörung: »Scham
ist Feigheit.«

An einem Dezemberabend war es, als Hans der Gedanke kam, mit Hannes
gemeinsam das Springesche Atelier aufzusuchen. Es sollte ein Überfall
in aller Form sein. Er wollte, daß Springe das Mädchen sehen, daß
er im stande sein sollte, sich ein Urteil zu bilden. Nie hatte er
mit dem älteren Freunde über seine Neigung mehr gesprochen, als in
losgelösten Andeutungen, nie einen Namen genannt. Nun aber trieb ihn
der jugendliche Renommierstolz, ein Zipfelchen des Schleiers, den er
über den selbstentdeckten Schatz gebreitet hatte, geheimnisvoll zu
lüften. Er kam sich mit seinen neunzehn Jahren unendlich kavaliermäßig
vor, als er, das sechzehnjährige Mädchen am Arm, die Treppe des Hauses
in der Immermannstraße hinaufstieg und die Klingel zur Springeschen
Wohnung zog.

Der alte Herr öffnete wie gewöhnlich. Er blinzelte überrascht, als er
das Pärchen erblickte.

»=Parbleu=,« sagte er und machte eine Verbeugung wie aus einem
graziösen, altmodischen Menuett. »Die verdammten Kalendermacher! Machen
die Kerle einem weiß, Dezember sei; und vor der Tür steht der Frühling!
Treten Sie ein, meine schöne, kleine Gnädige.«

Das junge Mädchen, im molligen, schwarzen Krimmerjackett, die Pelzmütze
auf dem Kopf, trat errötend näher. Die chevalereske Begrüßung hatte
ihr sensitives Schönheitsgefühl erregt und sofort die Brücken
geschlagen zwischen ihr und dem jovialen alten Herrn. Als er ihr die
Hand zum Gruße reichte, machte sie ihm unwillkürlich einen so tiefen,
ehrerbietigen Knicks, wie er ihr vorher wohl nie in ihr kapriziöses
Köpfchen gekommen war, und als er, erfreut, ihre derb behandschuhten
Händchen hob, um ihr wie einer Dame den Zoll des Handkusses zu
entrichten, kam sie ihm zuvor und berührte mit ihren warmen, jungen
Lippen seine schönen, weißen Aristokratenhände.

Mit einem Griff nahm er das feine Kind um die Taille.

»Sommervögelchen,« sagte er mit lächelndem Drohen, während sie
schelmisch seinem Blick stand hielt, »das bitt’ ich mir aber aus.
Sparen Sie sich das Küssen, bis es für den Mund reicht. Gelt? Das ist
abgemacht.«

Dann ließ er sie mit einer Verbeugung los und nahm die Hacken zusammen.

»Gestatten Sie, meine allergnädigste Kleine: von Springe. Übrigens der
Ältere. Aber nur dem Geburtsschein nach.«

Da trat Hans vor und übernahm schnell die Vorstellung seiner Freundin.

»Fräulein Johanna Stahl. — Verzeihen Sie, Herr von Springe, daß ich Sie
am Abend noch mit einem Besuch überfalle. Aber ich hatte Fräulein Stahl
so viel von dem Atelier des Herrn Heinrich erzählt — und — und — am
Tage habe ich wegen der Vorbereitung zum Examen so wenig Zeit — daß —
daß — —«

»Wie denn nur? Die Freude ist auf unserer Seite. Burg Springe ist
entzückt. Mein liebes Fräulein, lassen Sie sich von dem korrekten
jungen Mann da nicht ihre köstliche Natur verderben. Erstens mal ist
es erst sechs Uhr, und daß im Winter die Sonne früher untergeht als im
Sommer, ist ihr eigenes Pech. Und zweitens bitte ich überhaupt, Burg
Springe als Ihr Eigentum zu betrachten. So eine Lehnsherrin habe ich
mir schon lange gewünscht. Meinen Respekt, schöne Gönnerin.«

»Donnerwetter noch mal!« entfuhr es ihm, als er sie an sich
vorbeischreiten ließ und sie ihn mit ihren großen Augen kinderfroh
anlachte. »Bitte, hier einzutreten. Verzeihen Sie eine kurze Weile,
ich werde sofort Licht machen. Die jüngere Generation von Springe
verrichtet im Nebenzimmer gerade ihr Abendgebet. Pardon also für wenige
Minuten. Religiöse Handlungen soll man nicht stören.«

Er ging, um einen Kerzenfaden herbeizuholen, mit dem er die Lichter
anzünden wollte.

Aus dem Nebenzimmer drangen die Klänge eines meisterhaft gespielten
Flügels. Sie suchten sich mit sehnsuchtsvoller Friedlosigkeit, in
durstiger Leidenschaft und tauchten unter in plötzlicher, zärtlicher
Erinnerung genossener Träume, um dann ihre Stimme aufs neue zu erheben
und von der großen Liebe zu sagen, die da gleich ist in der Nähe und
in der Ferne, im Leben und im Sterben. Und die horchenden jungen
Menschenkinder erschauerten vor der ungeahnten Menschenherrlichkeit.
Sie waren blaß geworden, blaß in der Erkenntnis der Größe der Liebe,
und ihre Hände kamen sich scheu entgegen, und als sie sich hielten,
verkrampften sie sich. Der Mann am Flügel spielte Tristan und Isoldens
Liebestod.

Und in der Dunkelheit des Zimmers, in dem sie warteten, von demselben
Gedanken getrieben, hoben sie beide gleichzeitig die Arme und
umschlangen sich und preßten in Angst und Wonne Mund auf Mund, wie sie
noch nie einen Kuß geküßt.

Ebenso hastig ließen sie voneinander ab. Die Musik rauschte auf.

»Das ist wie ein Brautbesuch,« flüsterte Hans stockend.

»Wie ein Brautbesuch,« wiederholte das Mädchen und suchte den schweren
Atem zu bändigen.

Herr Friedrich Leopold von Springe kam mit dem brennenden Kerzenfaden
und zündete die großen Atelierlampen an. Auch die Kerzen in den
Bronzeleuchtern mußten heute daran glauben.

»Ein bißchen festlichen Glanz muß Burg Springe doch hergeben,« meinte
er schmunzelnd. »Ein Turnier kann ich in der Kürze der Zeit leider
nicht abhalten lassen. Hoffentlich haben Sie sich vorhin im Dunklen
nicht allzusehr gefürchtet.«

Der alte Herr schob die augenfällige Ergriffenheit der Kinder auf die
aufwühlende Tristanmusik.

»So,« sagte er lakonisch, als drinnen der Deckel des Flügels klappte,
»er hat ausgerungen.«

In der Tür stand Heinrich Springe. Er konnte sich in dem Lichtmeer
nicht gleich zurechtfinden und beschattete einen Augenblick lang die
Augen mit der Hand. Dann warf er den Kopf zurück, sah fest auf das Bild
vor sich und ging mit ausgestreckten Händen auf seinen Besuch zu.

»Meine Freundin, Fräulein Johanna Stahl, würde sich so sehr freuen,
wenn sie Ihr Atelier sehen dürfte ...«

»Herzlich willkommen. Das ist ja beinahe wie eine Weihnachtsbescherung.
Gelt, Papa?«

»Wahrhaftig, mein Sohn, ich werde unsere Tanne um drei Tage zu früh
anzünden. Man soll die Tage nicht nach dem Datum, sondern nach dem
Inhalt feiern.«

Und der alte Herr verschwand händereibend im Nebenzimmer, in dem der
Flügel stand.

Heinrich Springe hielt die Hände des jungen Mädchens. Wie entzückend
die Kleine war, wie biegsam und weich, und doch wie stark und
selbstsicher an der Seite ihres jungen Freundes! Es ging ein Duft von
ihr aus, so frisch wie von einer Waldblume. Glückliche Jugend, dachte
er, wer die Zukunft so sähe wie ihr!

»Darf ich Ihnen aus dem Jackett heraushelfen?« fragte er. »Es wird
Ihnen zu warm werden, und ein Stündchen müssen Sie nun schon bei uns
alten Junggesellen aushalten. Ergeben Sie sich nur gleich auf Gnade und
Ungnade.«

»Ja, ja, mein Sohn,« fuhr er fort und schob Hans scherzend beiseite,
»das hättest du wissen sollen, als du dich in dies Nest wagtest. Die
alten Springes von ehedem waren arge Raubritter und Schnapphähne,
und die jungen kitzelt zuweilen auch noch das Blut. Jetzt erfind nur
schnell ein Lösegeld. Das Fräulein aber zahlt für ~sich~.«

»Und wenn ich mich sträube?« lachte das Mädchen und reckte sich in
ihrem blauen mit weißen Litzen besetzten Tuchkleidchen nachdrücklich
auf.

»So stehle ich Ihnen Ihr Konterfei und laß es zu Weihnachten an böse
Kinder verteilen mit der Unterschrift: ›Die unartige Johanna‹.«

»Da muß ich mir doch erst Ihre Malkunst ansehen,« meinte sie
würdevoll, »damit ich mir klar werde, was vorzuziehen ist.«

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Arm reiche, meine Gnädigste?«

»Sie sind sehr aufmerksam.«

Hans war sprachlos. War das sein wilder, scheuer Hannes aus der
Zweizimmerwohnung der Pempelforterstraße? War das dasselbe Mädchen,
das noch vor wenigen Monaten nichts vom gesellschaftlichen Ton gewußt
und sich feindselig gegen alles, was aus den ihr fremden Kreisen kam,
gesträubt hatte? Wer hatte das in sie hineingelegt? Der gute Junge
ahnte ja nicht, daß er es selber gewesen war. Er wußte ja so gar nichts
von der geheimnisvollen Kraft der Frauennatur, die, wo sie liebt,
spielend bewältigt, wozu sonst Jahre der Erziehung oft nicht ausreichen
wollen. Hannes aber war nur von einem Gedanken beherrscht: ihrem
Freunde keine Unehre zu machen, tapfer die erste gesellschaftliche
Probe zu bestehen, zu zeigen, daß sie es wert war, aus der dunklen Ecke
herausgeholt zu werden, und daß sie das Licht jetzt nicht mehr scheute.
Es wurden Kräfte in ihr frei, vor denen sie sonst gezagt hätte, aber
ein urplötzlich erwachter starker Wille spornte sie an, sich ihrer zu
bedienen, damit der Freund jede ängstliche Besorgnis verliere, sich
ihrer an anderer Stelle einmal schämen zu müssen, damit sich sein
Vertrauen wie sein Stolz aus seinen kleinen, namenlosen Schatz stärke.

Sie lächelte ihm zu, als sie an des Malers Arm von Staffelei zu
Staffelei wanderte. Halb Kinderlächeln war es, und halb süße, frauliche
Überlegenheit.

Heinrich von Springe war nicht weniger überrascht als Hans Steinherr.
Er hatte nach den wenigen Andeutungen seines jungen Freundes geglaubt,
es handle sich um eine der unausbleiblichen Kinderliebeleien mit einem
der kleinen, nicht gar zu prüden rheinischen Mädel. Und nun fand
er ein Geschöpf, das zwar die ganze Rasse und die ganze Anmut der
Rheinlandstöchter in sich verkörperte, dem aber eine Tiefe innewohnte,
vor deren ernstem Grundspiegel er fast erschrak. Mit seinem geschärften
Künstlerauge sah er in diesem Spiegel, welche Flut von Gefühlen die
Tiefe bewegte, wie sich diese Mädchenseele ängstete und wie sie sich
trotzig mühte, wie sie selig erzitterte und wie sie tapfer kämpfte. Und
er sah, wie auf dem Grunde sich schon die Wandlung vom Kinde zum Weibe
vollzogen hatte und ein grenzenloses Vertrauen rührend klar bis zur
Oberfläche stieg. Jede Antwort, die sie ihm gab, jede freie Äußerung,
die von einem feinen weiblichen Empfinden für Kunst und Schönheit
Zeugnis ablegte, bestärkte seine schnelle Zuneigung zu dem seltsamen
Mädchen, dessen zierliche Schönheit sein Entzücken herausforderte und
dessen ungehobener innerlicher Reichtum sein Mitgefühl entzündete.
Würde Hans Steinherr der Mann sein oder doch der Mann werden, den
Schatz zu heben, ohne die Form zu zerstören? Die Form zu erkennen,
ohne den Schatz verkümmern zu lassen? Was wußte der junge, unerfahrene
Mensch von dem Wert des Geschenkes, das er wie ein blindtappendes
Sonntagskind am Wege gefunden hatte! Noch hatte er keinerlei ernste
Probe im Leben zu bestehen gehabt.

Heinrich von Springe streifte den jungen Mann zum ersten Male mit einem
sorgenvolleren Blick.

»Kinder,« sagte er dann, »wie schön, daß ihr gekommen seid!«

»Sie sind also nicht böse?« schmeichelte Hans. »Eigentlich gehörte es
sich ja nicht, Sie zu überfallen.«

»Mein Fräulein,« wandte sich der Maler an die Kleine, die, ganz Kind
wieder, bei Hans’ Worten beschämt die Augen gesenkt hatte, »gewöhnen
Sie diesem jungen Herrn doch die Salonsprache ab, wenn er sich unter
Freunden befindet. Von Ihnen nehme ich als ganz gewiß an, daß Sie sich
ebenso freuen wie ich. Stimmt’s?«

»Ja,« sagte sie ehrlich, und es wurde ihr so frei zu Sinn, daß sie klar
und ruhig die Augen zu ihm erhob.

»Sie müssen mich nicht schelten, Herr Heinrich,« bettelte Hans. »Ich
konnte doch nicht wissen, wie Sie meine Eigenmächtigkeit aufnehmen
würden.«

»Auch nicht fühlen?« meinte der Maler und strich ihm über das Haar.
»Bin ich dein Freund, he? Und bin ich ein blutwarmer Mensch oder ein
verknöchertes Monstrum, das sich selbst zum Sterben mit Albertis
Anstandsbuch in den Händen niederlegt? Kleiner Dummkopf du!«

»Ha,« entfuhr es Hannes, »das war famos!«

»Freut mich, mein Fräulein, daß ich mich zum Dolmetscher Ihrer
Empfindungen machen durfte.«

Er ergriff mit übertriebenem Zeremoniell ihre Hand und führte sie
an die Lippen, und Hans, glückselig, ergriff ihre andere Hand und
führte sie ebenso an die Lippen, und das Mädchen stand zwischen ihnen,
errötend und doch ihrer Freude nicht Herr; wie ein Weihnachtsengel, der
seine Flügel ausspannt.

»Was ist denn das?« fragte Heinrich Springe und hob den Kopf.

Alle drei horchten sie auf. Aber ihre Stellung behielten sie inne.

Drinnen im Nebenzimmer suchte jemand auf dem Flügel eine Melodie. Jetzt
hatte er sie, wenn auch etwas klapperig, weil er sie nur mit einem
Finger zu spielen verstand.

    »Ihr Kinderlein, kommet,
    O kommet doch all — — —«

Die Musik wurde von einer brüchigen, aber sehr gefühlvollen Stimme
begleitet.

»Die Kinderlein sind wir,« flüsterte der Maler. »Weiß Gott, Herr
Friedrich Leopold hat Ernst gemacht und das Geburtstagsfest des Herrn
Jesus um drei Tage vordatiert!«

»Ihr Kinderlein, ~kommet~!« mahnte die Singstimme des alten Herrn
dringend von neuem, denn seine musikalischen Kenntnisse waren mit den
beiden Verszeilen erschöpft.

»Also kommen wir,« entschied der Maler. »Man kann Weihnachten nie
ausgiebig genug feiern.«

Noch immer hielten sie das Mädchen links und rechts bei den Händen,
und so führten sie es hinein, just, als würde das stimmungsvolle
Kindheitsfest nur für das fremde Mädchen gefeiert.

Auf dem Tisch strahlte eine kaum drei Schuh hohe, sattgrüne Tanne in
buntem Kerzengeflimmer. Eine Schale, hochaufgetürmt mit Früchten aller
Art, war neben einer bauchigen Champagnerflasche und langgestielten
Kelchen aufgebaut. Durch das Zimmer zog der harzige Duft des Waldes.

Herr Friedrich Leopold saß am Flügel. Er hatte nun schon dreimal
seinen Vers gesungen, und als er jetzt den reizenden Weihnachtsengel
hereinschweben sah, überkam ihn eine andere poetische Erinnerung aus
der Kinderzeit. Da der Finger auf den Tasten streikte, so klatschte er
kurz entschlossen den musikalischen Rhythmus mit den Händen und sang
dazu begeistert und aus Leibeskräften:

    »Christkindchen, komm in unser Haus,
    Pack die große Tasche aus — —«

»Donnerwetter,« unterbrach er sich bestürzt und sprang eilig auf die
Beine. »Das war natürlich nur ein Versehen, meine Allergnädigste, ein
bloßes Vergreifen in meinem Liederschatz. Sie werden mir im Ernst
nicht die bodenlose Unhöflichkeit zutrauen, von meinem lieben Gast das
Mitbringen und Auspacken einer großen Tasche zu ergieren. Was singen
wir nun?«

Heinrich Springe setzte sich auf den Klavierstuhl, sann einen
Augenblick nach, und bald begann der Flügel unter seinen Händen zu
jauchzen und zu jubeln. Der Maler sah Hannes an, die neben ihm stand.
»Kennen Sie das?« fragte er, ohne sich im Spiel zu unterbrechen.

»Aus den Weihnachtsliedern von Peter Cornelius.«

»Ah — — das überrascht mich. — — Die Lieder sind nicht sehr bekannt.«

»Die Musiklehrerin, von der Schule her, hat sie mich gelehrt. Ich
durfte zuweilen zu ihr kommen.«

»Bitte, singen Sie,« und er begann von neuem.

Ihr Blick fuhr blitzschnell von einem zum anderen; hilfesuchend,
verwirrt. Ihr Herz begann in rasendem Tempo zu schlagen. Der Maler
wartete, die Hände auf den Tasten; der alte Herr und Hans standen
gespannt neben der Tanne. Da hob sie sich in den Schultern und trat,
die Stirn zusammengezogen, dicht an das Instrument heran.

    »Wie schön geschmückt der festliche Raum.
    Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum.
    O fröhliche Zeit! O seliger Traum!«

Der Maler wandte während des Spiels den Kopf und nickte ihr zu:
»Bravo!« Das half ihr über die Angst. Und sie sang so frisch und
unbekümmert das Lied zu Ende, als wüßte sie von keinem Zuhörer.

Heinrich Springe reichte ihr die Hand.

»Sie haben ein schönes Organ,« sagte er, »und was mehr ist, Sie haben
Seele. Wir müssen mehr miteinander musizieren. Topp, schlagen Sie ein!«

»Sie spielen wundervoll,« stammelte sie und suchte mit den Augen den
Geliebten.

Den aber hatte Herr Friedrich Leopold bei den Rockaufschlägen genommen,
ihn wach zu rütteln.

»Sie sind an der Reihe, mein Sohn! Es geht ein Rundgesang an unserem
Tisch herumvidiwum!«

»Ich lebe seit Jahren im Stimmbruch, Herr von Springe.«

»Sie brauchen auch gar nicht zu singen; lassen Sie Ihre Muse singen;
die ist doch so Gott will über den Stimmbruch erhaben. Sie Drückeberger
sind der einzige, der heute abend nichts geleistet hat.«

»Ich habe Ihnen Fräulein Stahl gebracht,« sagte Hans mit einer
Verbeugung.

»Wahrhaftig,« beeilte sich der alte Herr und erwiderte die Verbeugung
tief. »Ich werde beim Papst darum einkommen, daß man Sie für diese Tat
heilig spricht.«

Darauf ließ er mit einem Knall den Sektpfropfen an die Decke springen.

»Noch nicht, Vater,« bat der Maler. »Horcht! Das paßt in die Stimmung.«

Vom nahen Klösterchen in der Oststraße klangen die Glocken zu einer
weihnachtlichen Messe.

»Hast du wirklich kein neues Gedicht verfaßt, Hans?« fragte der Maler.
»Wir bilden doch eine Familie.«

»Hans dichtet?« rief Hannes überrascht. »Ach — ich meinte — Herrn
Steinherr.«

»Herrn Steinherr?« versetzte der alte Herr trocken. »Hier gibt es nur
einen Hans; und der dichtet in der Tat.«

»Ein Weihnachtsliedchen,« sagte Hans mit leiser Stimme, und es trat
feierliche Stille ein.

    »Komm, komm — — — — —!
    Die Weihnachtsglocken läuten. — —
    Du sollst das Lied mir deuten,
    Ganz leis, ganz fromm.
    Dort auf dem Tannenmoos,
    Von Zweigen überhangen,
    Laß, Liebste, dich umfangen
    Auf meinem Schoß.

    Still, still — — —!
    Was können Worte sagen?
    Ich spür’s an seinem Schlagen:
    Dein Herz, es will —

    Will aus dem Glockenklang
    Mir eine Mär’ verkünden,
    Die ich nicht konnt’ ergründen
    Ein Leben lang.

    Du! Du! — — —
    O, laß mich weiter hören!
    Mit keinem Hauche stören
    Will ich die Ruh’.
    Weich nicht verwirrt zurück —
    Ein Lachen und ein Singen
    Will dich und mich bezwingen
    Von innrem Glück.

    Bald, bald — — —!
    Und wieder brennen Kerzen,
    Und Glockenruf im Herzen
    Uns widerhallt.
    Was heiß in uns gegärt,
    Die Wünsche, die wir spannen
    Zu Weihnacht unter Tannen
    — Gewährt, gewährt!

    Dann, dann — — — — —!
    O jetzt noch schweigen müssen!
    Sprich’s aus in tausend Küssen,
    Was ich gewann. — —
    Horch, in den Lüften blieb
    Der Weihnachtsglocken Klingen,
    Und unsre Seelen singen:
    Ich hab’ dich lieb. — — —«

Er blieb unter der Tanne stehen und blickte, weltvergessen, sein
Mädchen an, dem die Kniee zitterten. Sie hätte sich ihm an den Hals
geworfen, trotz des fremden Ortes, trotz der fremden Menschen, wenn sie
vermocht hätte, sich von der Stelle zu rühren. Ihr ganzes Wesen war in
Aufruhr.

Heinrich Springe schenkte die Gläser voll und wortlos reichte er sie
herum. Dann trat er auf Hans zu und legte ihm den Arm um die Schulter.

»Das soll das Wort sein, das diesem Tag die Weihe gibt: ›Ich hab’ dich
lieb.‹ Komm, nenne mich du.« —

Noch ein halbes Stündchen blieben sie beisammen. Dann ging der Maler an
den Flügel.

»Noch ein Abschiedslied,« sagte er und intonierte die Melodie. »Kennen
Sie es wiederum, Fräulein Johanna?«

»Aus den Brautliedern von Cornelius,« erwiderte sie leise und setzte
ein.

    »Nun, Liebster, geh und scheide — — —
    Morgen ist auch noch ein Tag. — Morgen, morgen, morgen ...«

Und das »morgen« klang liebeschwer, sehnsuchtsvoll und wunderbar
trostreich. — —

»Mein Dichter,« flüsterte sie erregt, als sie durch den Winterabend
heimschritten, »du wirst so groß, so berühmt werden ...«

»Ich habe ja alles von dir!« rief er leidenschaftlich und preßte ihren
Arm. »Ich dürfte dich nie verlieren.«

Da stieg ein seltsam neues Gefühl in ihrer jungen Brust auf. Das
zärtliche Muttergefühl des Weibes für den Geliebten. —

[Illustration]




Achtes Kapitel


Die Abiturienten des Düsseldorfer Gymnasiums standen im Examen, während
sich die Stadt zum Empfang des Prinzen Karneval rüstete.

Hans Steinherr stürmte aus dem Schultore heraus auf die Alleestraße.
Ohne sich zu besinnen, eilte er quer über die Straße nach der
Droschkenhaltestelle am Alleeplätzchen.

»Grafenbergerchaussee,« rief er dem Kutscher zu. »So schnell Sie
können.«

Er rasselte am Gymnasium vorüber und warf einen triumphierenden
Blick auf den nüchternen, grauen Kasten. Dann lehnte er sich wie ein
Grandseigneur in die Polster zurück und musterte stolz die Passanten
der Schadowstraße. Der Wagen fuhr dicht am Trottoir vorbei.

»Halt!« rief Hans plötzlich und war mit einem Sprunge aus der Droschke
heraus. Er hatte Hannes gesehen.

»Bestanden!« jubelte er ihr zu. »Vom Mündlichen dispensiert! Als
einziger!«

Sie konnte nicht sprechen. Sie faßte scheu nach seiner Hand und
umklammerte sie. Das Gefühl seiner Bedeutung wuchs bei ihr ins
Abenteuerliche.

»Nun? Keinen Glückwunsch?« lachte er obenhin. Seine Gedanken waren
noch bei der Zensurenverkündigung.

»Doch, doch,« stammelte das Mädchen und hielt noch immer die Hand
umklammert.

»Ich habe Eile,« belehrte er sie. »Meine Eltern warten. Wenn ich eben
kann, bin ich heute abend bei euch.«

Sie sah ihm nach, wie er mit einer wichtigen Miene, die sie nie an ihm
gekannt hatte, im Wagen davonrollte. Als sie weiter ging, traf sie auf
Willibald Hüsgen.

»He, Hannes, weißt du schon? Der Kerl, der Steinherr, hat mal wieder
Dusel entwickelt. Ach so« — unterbrach er sich mit einem hämischen Ton
— »seitdem wir so feinen Umgang haben, wollen wir wohl Fräulein und Sie
genannt werden. =O, excusez!= Soll prompt geschehen.«

»Wie steht es mit ~Ihrem~ Examen?« fragte Hannes freundlich.

»Gott, der Blödsinn! Wird gemacht. Das ist doch sonnenklar. Alles
auf natürlichem Wege, ohne gegenseitige Aufregung. Der Streber, der
Steinherr, nee, wie sich der Mensch hatte! Wie ’ne Petroleumlampe mit
Explosionsgefahr. Ich hab’ Tag für Tag nicht einen Schoppen weniger
getrunken. Weshalb auch? Als das Schriftliche vorüber war, hört’ ich
den Direx zum Schulrat sagen: ›Er will nur Maler werden.‹ — So’n Esel!
Als ob man im Vollbesitz der griechischen Grammatik auch nur ’nen ollen
griechischen Gipskopp zeichnen könnte!«

Sie nickte, ohne weiter hinzuhören, ihm zu und wollte an ihm vorüber.

»Hören Sie mal, Hannes, was ich noch sagen wollte.« Er vertrat ihr
den Weg. »Nun werden Sie doch wieder vernünftig werden, wie? Die
Fisimatenten mit dem Bengel, dem Steinherr, die sind doch nun ex? Der
wird jetzt irgend ein feines Korpsstudentchen und fragt den Deubel nach
Ihnen. Bei uns aber, im Gaudeamus, da wird’s jetzt fidel, wenn ich erst
von der Penne los bin. Lassen Sie mich nur in acht Tagen statt des
Abiturientenkittels die Sammetjacke anhaben. Ich glaub’, ich könnt’ Sie
gut brauchen.«

Sie sah ihn eine Sekunde lang starr an, drehte ihm schweigend den
Rücken zu und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Mit offenem
Munde staunte ihr Hüsgen nach.

»Na wart, du!« knurrte er und schaute sich um, ob keiner sein Fiasko
bemerkt hätte, »dir werd’ ich deinen dämlichen Hochmut anstreichen. Hat
sich was mit deinem Getue. Alberne Gans!«

Und er wippte, den Gang des Mädchens nachahmend, hinter ihr her und
verschwand in der väterlichen Wirtschaft.

Hans Steinherr war, zu Hause angelangt, sofort in das Eßzimmer
gestürmt. Herr Philipp Steinherr befand sich bereits daheim. Er sah
darauf, daß pünktlich um halb eins zu Mittag gespeist wurde. Grämlich
saß er bei Tisch und las in einer englischen Zeitung.

»Nun?« begrüßte er den Sohn. »Du bist ja ausnahmsweise von einer
unheimlichen Pünktlichkeit. Bitte, Margot, klingle, damit sofort
serviert wird. Die Fabrik wartet auf mich.«

»Bestanden, Papa! Ich habe das Examen bestanden!«

»Das ist doch wohl selbstverständlich. Zu dem Zweck geht man nämlich
auf die Schule.«

»Aber glänzend bestanden, Papa, summa cum laude, und vom Mündlichen
dispensiert!«

»Sieh mal an, unser junger Mann!« Die steinernen Züge Philipp
Steinherrs hellten sich ein wenig auf. »So ist’s recht. Ahm deinem
Vater nach. Immer aufs Ganze, und dem kleinen Gelichter den Daumen aufs
Auge, so nur kommt man hoch. Man soll die Steinherrs noch einmal adeln
— wenn wir wollen.«

»Mama,« begann Hans aufs neue, »ich weiß nicht, ob du zugehört hast,
ich bin Student!«

Frau Margot winkte ihn herbei und reichte ihm die Hand.

»Das ist ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen. »Ein so großer
Sohn, ein erwachsener Student, das kompromittiert mich ja geradezu.
Nimmst du denn gar keine Rücksicht auf deine junge Mama?«

»Margot,« unterbrach Philipp Steinherr verstimmt, »ich hatte doch schon
vor geraumer Zeit gebeten, daß serviert würde. Vielleicht hast du jetzt
die Güte, das Zeichen zu geben.«

Das Mahl wurde, wie immer, einsilbig verzehrt. Herr Philipp Steinherr
hatte die kleinbürgerliche Sitte, die in den Stunden der Mahlzeit
nicht eine freundliche Erholung, sondern nur eine notwendige hastige
Stoffzufuhr sieht, aus jenen Tagen beibehalten, da er selbst noch
zu den kleinen Leuten zählte. Sie saß wie ein Flicken auf einem
Gesellschaftsrock, und Frau Margot sah mit kühler Überlegenheit darüber
hinweg.

Hans war es von Kind an nicht anders gewöhnt. Und doch hatte er
im stillen gehofft, daß heute, an seinem Ehrentage, die Tischregel
durchbrochen werden würde. Er hatte das Herz so übervoll, und er
empfand eine leise Enttäuschung, daß keiner es gewahren wollte, daß man
ihn nicht zum Schwatzen und Lachen animierte, daß alles blieb wie an
Werkeltagen.

Beim Dessert übergab der Diener dem Hausherrn einen Brief. Philipp
Steinherr las ihn, sah scharf zu seinem Sohn hinüber und steckte das
Papier in die Tasche. Dann schälte er seine Orange weiter, aß die
Frucht bis auf die Kerne und erhob sich.

»Mahlzeit,« sagte er zu seiner Frau, und sie neigte leicht den Kopf.

Als er schon in der Tür stand, wandte er sich noch einmal um.

»Du kannst nachher mal auf mein Zimmer kommen, Hans. Ich möchte einiges
mit dir besprechen.«

Wenige Minuten später stand Hans im Arbeitszimmer seines Vaters.

Philipp Steinherr saß, das Fenster im Rücken, in einem Lehnstuhl. Sein
Gesicht war beschattet, aber die Augen durchforschten scharf den vor
ihm Stehenden. Eine Weile blieb es still zwischen Vater und Sohn. Dann
sagte der Großfabrikant und deutete lässig auf einen Stuhl: »Du kannst
dich setzen.«

Hans nahm Platz. Er wartete respektvoll, was der Vater ihm zu sagen
haben würde.

Noch einmal musterten die scharfen Augen den Sohn. Aber die Stimme
klang ruhig und geschäftsmäßig.

»Du wirst also zu Ostern zur Universität abgehen. Selbstverständlich
wählst du das Studium der Jurisprudenz. Ein Großindustrieller muß
heute so gut Jurist sein, wie der Leiter einer großen Bank.«

»Papa,« warf der junge Mann kleinlaut ein, »Jurist —?«

»Ja, Jurist. An etwas anderes hattest du doch wohl nicht gedacht?«

»Doch, Papa; ich will dir die Wahrheit gestehen. Die Juristerei hat nie
etwas Anziehendes für mich gehabt.«

»Du sollst sie auch nicht zum Vergnügen erlernen, sondern für das
Geschäft.«

»Ach, Papa, fürs Geschäft bist du doch da. Mich brauchst du doch
wahrhaftig nicht.«

»Und wenn ich ~nicht~ mehr da bin? Daran hast du wohl gar nicht
gedacht?«

»Nein, Papa, daran will ich auch nicht denken.«

»Das macht deiner Pietät Ehre, nicht aber deinem praktischen Verstand.
Laß dir sagen, mein Junge, daß man bei der wirtschaftlichen Stellung,
die wir im Staate einnehmen, nicht mit Gefühlen rechnet, sondern mit
der stahlharten Erkenntnis der Pflichten. Umso besser wirst du alsdann
die Pietät pflegen können, wie ich sie verstehe.«

»Welche Pflichten meinst du, Papa? Wenn ich mich bestrebe, ein
nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden —«

»Nützliches Mitglied der Gesellschaft! Was sind das wieder für
jugendtörichte Phrasen. Die Gesellschaft soll ~uns~ ein nützliches
Mitglied werden. Verstehst du den kleinen Unterschied? ~Wir~ sind
in erster Linie die Erhalter und Ernährer des Staates, wir, die
größte Steuerkraft des Landes. Wir sind die Ernährer und damit
auch die Bändiger der Arbeitermassen, wir, die Großindustrie. ~Wir~
halten das Zünglein an der Wage. Und dafür gebührt es sich, daß man
uns Äquivalente zahlt. Freiwillig geschieht das nicht. Das ist ein
beständiges Markten und Feilschen, und es kommt darauf an, wer die
hellsten und härtesten Köpfe hat, den Profit zu erzwingen.«

»Den Profit? Ich denke, du sprichst von Idealen?«

»Ideale? Im Volksleben? Im Wirtschaftskampf? Ach, du armer
Schwarmgeist, es ist Zeit, daß deine Kathederweisheit unter den
Schmiedehammer kommt. Ideale! Das ist auch so ein Ding, das noch
niemand je mit Augen gesehen hat, so wenig wie den lieben Gott. Ein
jeder macht sich ein Bild davon, aber just immer ein Bild, wie es ihm
in seinen Kram paßt. In diesem Sinne lass’ ich die Ideale gelten. Als
gesunde Selbstsucht nämlich. Das stellt zwar deine Begriffe von der
Sache auf den Kopf.«

»Wie kannst du nur so sprechen, Papa!«

»Ich spreche in vollem Ernst. Und weil ich mich bemühe, dich als einen
nunmehr erwachsenen Menschen anzusehen, laß ich die Ammenmärchen, die
für das Proletariat gut sind, beiseite und spreche zu dir als Mann zum
Mann. Ich spreche zu meinem dereinstigen Nachfolger. Und ich wünsche,
daß du mich gut verstehst; zu deinem Besten. Es handelt sich für uns
nicht darum, das Gros der lieben Mitmenschen auf ein höheres Niveau zu
heben, sondern es handelt sich darum, unablässig unsere Position zu
erweitern und zu stärken. Die Wohlfahrtsapostel, auch die aus unseren
Gesellschaftskreisen sind wirre Köpfe, überspannte Flagellanten, die
sich selbst eine Geißel binden, um sich einen Erlösergeruch zu geben.
Ach du lieber Gott, diese Art Erlösergedanke wird Wahrheit werden, wenn
es — keine Menschen mehr geben wird. Solang es aber noch zwei Menschen
gibt, wird der eine Hammer und der andere Amboß sein. Ich glaube, da
fällt dir die Wahl nicht schwer.«

»Und das Edle im Menschen, Papa? Daran müssen wir doch auch glauben?«

»An das Edle? Warum denn nicht! Aber das bleibt doch ein ganz
persönlicher Luxusgegenstand. Wohl dem, der sich alle Tage ein Pöstchen
darin leisten kann, ohne in den realeren Dingen des Lebens in Konkurs
zu geraten. Die realeren Dinge gehen nämlich vor, oder du wirst mit
deinem schönsten Edelsinn von dem Volk da, dem du ihn widmen willst,
zertrampelt. Füll den Leuten den Magen; das übrige laß ihre Sorge sein.«

»Papa, ich glaube nicht, daß ich mich zu dieser Anschauung durchringen
kann.«

»Mein lieber Junge, so reden alle Kronprinzen. Wenn du erst die Macht
in die Hände bekommst, wirst du nichts Eiligeres zu tun haben, als
dich zum Regime deines Vorgängers zu bekennen. Dann liegt der Knüppel
plötzlich beim Hunde. Das ist mehr als berechtigte Notwehr, das ist
der Selbsterhaltungstrieb, der die Wurzeln eines jeden geordneten
Staatswesens bildet.«

»Du magst gewiß recht haben, Papa, aber alles, was mit hoher Politik
zusammenhängt, liegt mir so fern.«

»Ach was,« entgegnete Philipp Steinherr und bewegte ärgerlich die
Hand. »Hohe Politik! Für uns ist ~das~ hohe Politik, was uns am
nächsten steht. Und das ist bei allen anderen, wie sie sich auch
nennen, haarscharf ebenso. Klammere dich um Gottes willen nicht an die
großen Worte! Die Politik ist immer der Egoismus der einzelnen, die
sich aus Interessengemeinschaft zu einer Vielheit zusammengetan haben.
Merk dir das Wort ›Interesse‹. Es allein bewegt die Welt.«

Hans sah still und gedrückt vor sich nieder.

»Papa,« sagte er endlich und wagte ein kleines Lächeln, »du hast ja
deine Interessen so gut wahrgenommen, daß du dir nun auch einmal einen
Luxus gestatten könntest.«

»Und der wäre?«

»Laß deinen Sohn werden, was er möchte. Ich habe doch so gar keine
Neigung zur Fabrik. Sieh, Papa,« fuhr er hastig fort, als er an seinem
Gegenüber ein schnelles Auffahren bemerkte, »wir sind doch reich.
Und der Zweck des Reichtums ist doch, daß er uns in den Stand setzt,
unserem Leben unbehindert von materiellen Sorgen ein Ziel zu geben,
uns darin auszuleben. Ich möchte es, Papa. Ich will ja arbeiten wie
du, aber auf meine Weise. Es kommt doch nicht darauf an, nur Geld
aufzuhäufen, viel, viel mehr, als man je gebrauchen kann. Auf die
innere Befriedigung kommt es doch an.«

»Und wie hattest du dir das mit der Fabrik gedacht, wenn ich mal nicht
mehr bin?« fragte Philipp Steinherr kalt. »Denn jetzt wirst du dir doch
etwas gedacht haben?«

»Die Fabrik — —? O, die würde doch ein anderer übernehmen und sicher
besser leiten als ich.«

»O, die würde!« spottete Philipp Steinherr ihm nach. »Das denkst du dir
so ganz einfach. Da kommt einfach ein Wildfremder und setzt sich in das
weiche Bett, das ich, Philipp Steinherr, mit Daransetzung eines ganzen
Lebens, unter Hergabe aller Kräfte, unter tausend Sorgen und Mühen
zurechtgemacht habe. Nein, mein Junge, so haben wir nun doch nicht
gewettet. Die Werke da draußen, ~ich~ hab’ sie gegründet, ~ich~ hab’
sie aus dem Nichts geschaffen und jeden Skrupel zurückgedrängt, wenn
es hieß: vorwärts! Ja, glaubst du denn, das hätt’ ich lediglich zum
Pläsier meines Herrn Sohnes getan? Nur damit der junge Herr in der Lage
wäre, sich seine Tage so amüsant wie möglich zu gestalten? An dich,
mein Junge, habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe nur an den Namen
Steinherr gedacht, den ich vom Aushängeschild einer Schmiede an die
Tore eines der größten Werke angeschlagen habe. Und da soll er stehen
bleiben, solange es einen Steinherr gibt. An dem Namen soll niemand
mehr rütteln und jeder sich beim Lesen an mich erinnern! Das war ~mein~
Lebensideal, wenn du absolut von Idealen hören willst.«

Er hatte sich erhoben und pochte mit den Knöcheln kurz und hart auf den
Schreibtisch.

Auch Hans war aufgestanden. Er war bleich und kämpfte mit sich selbst.

»Papa,« sagte er langsam, »du hast vorhin von gesunder Selbstsucht und
berechtigtem Egoismus gesprochen. Ich möchte die Lehre auch für mich in
Anspruch nehmen. Mich treibt alles zur Kunst. Ob mein Talent ausreichen
wird, ausübender, selbstschaffender Künstler zu werden, kann ich heute
nicht sagen. Aber laß mich den Versuch machen und laß mich gleichzeitig
Kunstgeschichte studieren.«

Philipp Steinherr wandte sich ab. Er wollte den Sohn das überlegene
Lächeln, das über seine Züge flog, nicht sehen lassen. Künstler!
Kunstgeschichte! Er hatte Schlimmeres erwartet. Weshalb sollte sich
ein Großindustrieller in seinen Mußestunden nicht mit der Kunst
beschäftigen. Ein jeder ritt eben sein Steckenpferd. Und daß der Junge
nicht an der Kunst hängen bliebe, dafür wollte er schon sorgen. Der
Mensch ist das Produkt seiner Umgebung.

»Ich mache dir einen Vorschlag, Hans,« erwiderte er nach einigem
Besinnen. »Du versprichst mir, regelrecht Jura zu studieren, bis zum
Doktor. Das Staatsexamen schenke ich dir. Ich stelle dir dafür frei,
auch kunstgeschichtliche Vorlesungen zu hören und dich, soweit es deine
Zeit gestattet, auch selbst in den ›freien Künsten‹ zu üben. Du gehst
zunächst nach Bonn. Ich wünsche, daß du in ein Korps eintrittst. Nach
dem ersten Semester dienst du dein Jahr bei den Bonner Husaren ab.
Später kannst du Heidelberg wählen und zum Schluß Berlin. Unterdes
werden sich deine Meinungen oder deine Talente geklärt haben. Du
siehst, ich komme dir entgegen, und nun sind wir, denke ich, =all
right=!«

Er hielt ihm die Hand hin, und Hans, froh ein Zugeständnis erlangt zu
haben, legte die seine hinein.

Philipp Steinherr lächelte geringschätzig. Weiches Wachs, der Junge. — —

Hans war schon in der Tür, als ihn der Vater zurückrief.

»Du, noch eins. Was kommen mir da für tugendhafte Dinge zu Ohren?«
Er faßte ihn vorn an der Weste und schüttelte ihn mit gutgespielter
Gemütlichkeit hin und her. »Ich darf doch wenigstens hoffen, du hast
dich anständig betragen? Du Duckmäuser, du!«

»Hat man über mein Betragen geklagt, Papa?« fragte Hans verdutzt.

»Die, welche es angeht, wird sich hüten. Hat wohl auch keinen Grund
dazu. Aber ich bitte mir aus, daß du ihr auch keinen Grund mehr gibst.
Na ja, es ist ja gut. Ich will dir keinen Sermon halten. Wer hat nicht
auch seine kleine Schülerliebelei gehabt? Aber nun ordne mir die Sache
schnell und bündig, damit du mit klarem Kopf ins Studentenleben gehst!«

Er wollte ihn mit einem vertraulichen Klaps abschieben, aber Hans blieb
stehen.

»Hast du mir noch etwas mitzuteilen, Hans? Dann bitte kurz. Ich habe
mich bereits über Gebühr verspätet.«

»Ich habe dir nur mitzuteilen, Papa, daß du dich irrst.«

Schwer kamen die Worte heraus, aber sie waren nachdrücklich gesprochen.
Philipp Steinherr horchte auf und maß den Sohn von oben bis unten.

»Wenn du vorhin auf die Verehrung anspieltest, die ich für Fräulein
Johanna Stahl hege — und ich wüßte nicht, wen anderes du meinen
solltest —«

»In der Tat. Fahre nur fort, du machst mich begierig.«

»Papa,« sagte Hans und trat auf ihn zu, um seine Hand zu ergreifen.
Doch Steinherr übersah die Bewegung. »Papa, ich sehe ein, daß du Grund
hast, böse zu sein. Verzeih mir. Ich hätte es dir selber sagen sollen.
Und ich wollte es dir auch sagen, nur jetzt noch nicht, wo ich noch so
gar nichts geleistet habe.«

»Sehr rücksichtsvoll, obwohl deine Streifzüge die Spatzen von den
Dächern pfeifen. Trotzdem: ich will dir deine Dummheiten verzeihen. Ich
sagte ja schon: in ~den~ Jahren begeht jeder seine Jugendeselei. Aber
nun auch rechtzeitig Schluß gemacht. Jedenfalls wünsche ich von der
sauberen Angelegenheit nichts mehr zu hören.«

Hans Steinherr sah seinen Vater entgeistert an.

»Du mußt mich nicht recht verstanden haben,« murmelte er, »oder — oder
man hat dich falsch unterrichtet.«

»Bist du noch immer nicht zu Ende? Du stellst meine Geduld auf eine
lange Probe.«

»Du hast davon begonnen, Papa; jetzt mußt du mich auch aussprechen
lassen. Wünschest du, daß ich mich kurz fasse?«

»Ob ich es wünsche!«

Der Alte und der Junge standen sich dicht gegenüber. Keiner wich
dem Blick des anderen aus. Und zum ersten Male las der Mann, der
sich nie die Mühe gegeben hatte, in Menschenseelen zu lesen, in den
Mienen seines Sohnes das Erbteil der niederrheinischen Heimat: die
Hartköpfigkeit und das verhaltene brausende Temperament.

Hans sah nichts von den zusammengezogenen Falten auf der Stirn des
Vaters. Vor seinen Augen stand das scheue, zierliche Geschöpf,
das so rührend in seinem Armutsstolz gewesen war, sich ihm nicht
aufzudrängen; das ihn geflohen und ihn schlecht behandelt hatte, um
nicht zu erliegen, und, als er sie dennoch endlich von seiner treuen
Wahrhaftigkeit überzeugt hatte, ihm stets mehr gegeben hatte als er
ihr. Er sah ihre furchtsamen Augen voll schreckhafter Spannung auf sich
gerichtet, ob er mutig sein, ob er sie nicht verleugnen würde, und er
sagte laut: »Ich liebe Johanna von ganzem Herzen.«

»Das bezweifle ich keineswegs. Es fragt sich nur, wie lange du den
Unsinn noch fortzusetzen gedenkst.«

»Vater!«

»Sag mir doch: wie alt bist du eigentlich?«

»Zwanzig Jahre geworden.«

»O! Ganz respektabel. Und die — die kleine Person?«

»Sechzehn.«

»Dacht’ ich’s mir doch. Sie soll sich ein Kinderfräulein nehmen und
keinen Geliebten.«

»Vater!« brauste Hans auf. Er war nicht wiederzuerkennen. Jede Spur von
Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, alles an ihm vibrierte, seine
Nasenflügel bebten, die Augen waren weit aufgerissen.

»Was fällt dir ein, Junge? Mäßige dich auf der Stelle!«

»Mir fällt ein,« keuchte Hans, »dich zu bitten, daß ~du~ dich mäßigst.
Du hast kein Recht, ein Mädchen zu beschimpfen, das reiner und
selbstloser ist als wir alle. Wenn du sie kennen lernst, wirst ~du~
gewinnen, nicht sie.«

»Du wärst im stande und brächtest sie mir ins Haus.«

»O nein. Ich lasse sie nicht beleidigen. Aber in ~mein~ Haus hoffe ich
sie dereinst zu bringen. Und wenn sie später erst meinen Namen trägt,
wird sie schon geschützt sein.«

»Du hast wohl vergessen, daß du deinen Namen von mir hast. Darüber habe
ich zu bestimmen. Und ich bestimme, daß, wenn ich es für an der Zeit
halte, der Name nur in aufsteigender Linie vergeben wird. Vorläufig
bist du mir noch zu kindisch, um dir meine Pläne auseinanderzusetzen.«

»Über meine Gefühle hast du nicht zu bestimmen. Wenn ich das zuließe,
wär’ ich nicht wert, einer anständigen Frau in die Augen zu sehen.«

»Bist du toll geworden, Bursche? Ist deine Mutter vielleicht keine
anständige Frau? Oder glaubst du, wir hätten uns nur unserer schönen
Augen wegen genommen? Geh hin, schäm dich vor deiner Mutter, wenn du
das bei deinem neuen Verkehr noch nicht verlernt hast.«

»Meine — Mutter — —?« wiederholte Hans betäubt. Wachte er? Hatte er
wirklich richtig verstanden? Seine Mutter hätte — nicht aus tiefstem,
innersten Gefühl heraus — — Ja, war denn das überhaupt möglich? Konnte
man eine Ehe schließen eines Namens und nicht einer Liebe wegen —? Er
sah sich wirr um. Er war doch in seinem elterlichen Hause? Wo blieb
denn sein Verständnis? Wo blieben alle seine jugend-begeisterten
Argumente? Nichts, nichts regte sich in ihm. Es war ein Rauhreif auf
seine junge Seele gefallen und fröstelnd ließ sie die Flügel hängen.

Da schlich er scheu aus dem Zimmer. — —

»Wohin?« fragte er sich im Treppenhaus.

»Zur Mutter?«

»Nicht, nicht!« Er hatte Angst, eine unsägliche Angst, er könnte sie
nicht mehr verstehen. Und sie würde ihn auslachen.

»Zu Frau Stahl? Zu Hannes?«

Er hatte dem Mädchen versprochen, zu kommen. Aber wie sollte er ihr
unter die Augen treten? Er, mit seinem schlechten Gewissen, das vor
einer Stunde noch gut gewesen war, und das man ihm schlecht gemacht
hatte.

In seiner Kehle stieg es auf. Er weinte mit trockenen Augen. Alles
war grau um ihn. Das würde sich nun nie mehr ändern. Nie mehr? Und
der erste Schmerz der Jugendliebe ließ ihn sich aufbäumen, in einem
titanenhaften Trotz, um ihn sogleich wieder niederzudrücken, ganz fest
auf den platten Boden.

»Heinrich von Springe!«

Der Name fuhr ihm heraus. Springe mußte ihm beistehen, ihn wieder
zu sich bringen. Der lachende Springe, der sich mit Tod und Teufel
herumzuschlagen verstand und immer Sieger blieb. In seiner Erregung
wuchs ihm der Freund zum Heiligen Georg. Der mußte es wissen. Der
Springe, o ja! Der sah mit seinen ironischen Blicken allen Dingen
auf den Grund und ließ sie nicht los, bis sie ihm Red’ und Antwort
gestanden hatten. Aber auslachen — auslachen würde ihn Heinrich Springe
nicht.

Er eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, zur Immermannstraße. An der
nächsten Ecke traf er die Straßenbahn, aber er lief lieber hinter ihr
her, als sich mit Menschen zusammen in einen engen, kleinen Raum zu
setzen. Die stupiden Gesichter hätten ihn krank gemacht.

Oben, an der Etagentür, zog er so heftig die Klingel, daß er selbst
zusammenfuhr.

Er hörte es gleich am Schritt: es war der Maler, der öffnen kam. Der
alte Herr machte seinen gewohnten Nachmittagspaziergang.

»Heinrich!« rief der verstörte junge Mensch und warf sich
leidenschaftlich dem Freund an die Brust.

Der drückte schnell die Tür ins Schloß und zog ihn ins Zimmer.

»Gemach, gemach, mein großer Junge! Es wird schon zu reparieren gehen.«

»Du weißt ja noch gar nicht, was geschehen ist —«

»Ist das Examen nicht geglückt? Das wäre doch wunderbar.«

»Das Examen? Ich hab’ es als Bester bestanden. Aber dann kam’s, heute
mittag; erst des Studiums wegen, und als das endlich geregelt war,
Johannas wegen. Man hat meinem Vater alles entstellt hinterbracht. Und
auf Erläuterungen ließ er sich gar nicht ein. Er hat sie verächtlich
abgetan, sie beschimpft und —«

»Erzähle der Reihe nach,« sagte der Maler und legte ihm die Hand auf
die Schulter. »Der Aufgeregte ist immer im Nachteil. Beim ersten
Kanonenschuß läuft man nicht von dannen.«

Hans bezwang sich. Der starke Wille des Freundes übte auf ihn seine
Wirkung. Er ließ sich auf einen Stuhl niederdrücken und begann
mechanisch herzusagen, was sich bei Tisch und nachher im Arbeitszimmer
des Vaters zugetragen hatte. So monoton er sprach, er vergaß nicht
das Nebensächlichste. Und ebenso berichtete er den Abschluß der
Unterhaltung und die andeutenden Worte über seine Mutter.

Heinrich von Springe hatte, den Kopf in die Hand gestützt, zugehört.
Die müde Beichte des Jungen war längst zu Ende, und immer noch saß der
Maler in sich versunken im Stuhl. Da berührte eine zitternde Hand sein
Knie.

»Ja, ja. Gewiß. Ich habe verstanden.«

Er erhob sich, öffnete die Tür zur Veranda, daß ein kalter Luftstrom
über seine Stirn fuhr, schloß die Tür wieder und kam zurück.

»Also helfen soll ich dir. Deshalb bist du doch gekommen. Einen
Freundschaftsdienst verlangst du.«

»Du wirst nicht können und auch nicht mögen.«

»Nicht mögen? Man mag vieles nicht und schluckt’s doch herunter, wenn’s
dienlich ist. So ein rechter Magen kann eine Menge vertragen — Und was
das Können oder Nichtkönnen betrifft — darüber kann man als Mann erst
urteilen, wenn man nach mißlungenem Experiment auf der Nase liegt. Bis
dahin aber hat man schlankweg Courage zu haben.«

Er ging ins Nebenzimmer, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Hans folgte
ihm wie ein Schatten.

»Was willst du tun?«

»Zunächst deiner Frau Mama meine Aufwartung machen. In
Herzensangelegenheiten ist immer die Mutter die zuständige Instanz. Du
bleibst ruhig hier. So, hier hast du ein Glas Wein; das trink mal aus,
um die Lebensgeister aus den Winkeln zu locken. Wenn du müde wirst, leg
dich auf das Sofa. Und damit: Gott befohlen.« —

Heinrich Springe schritt, die Hände in den Taschen seines Paletots
vergraben, durch den unfreundlichen Februartag. Er ging mit
zusammengezogenen Brauen und fest aufeinandergepreßten Lippen. Und als
wollte er sich ungerufener Bilder erwehren, beschleunigte er plötzlich
seinen Schritt. Als er in die Grafenbergerchaussee einbog, schlug es in
der Stadt fünf Uhr. Er blieb stehen und schöpfte Atem. Vor ihm lag das
Steinherrsche Haus.

»Weiß Gott, Mensch,« sagte er vor sich hin, »hast du gar selbst das
Kanonenfieber?«

Er zog die Hausglocke und gab dem öffnenden Mädchen seine Karte. »Für
die gnädige Frau.«

Wenige Minuten später, und er wurde in den Empfangssalon geführt. Er
wartete.

»Meine gnädige Frau — —«

Sie war eingetreten, mit hastigem Schritt, und nun zögerte sie, mitten
im Zimmer.

»Ich weiß nicht, ob ich noch den Vorzug habe —« fuhr er fort, um ihr
über die Peinlichkeit der Minute hinwegzuhelfen.

»Haben Sie endlich den Weg zu mir zurückgefunden?« entgegnete sie
zurückhaltend. »Es ist lange her, Herr von Springe. Sehr lange — —«

»So lange, gnädige Frau, daß Ihr kleiner Irrtum leicht verzeihlich ist.
Nicht ich war’s, der vom Wege abgekommen war.«

»Kommen Sie nur, um mir das zu sagen? Der Heinrich Springe, den ich
einmal kannte, war ritterlicher.«

»Ich bitte um Verzeihung,« murmelte Springe. »Ich habe nicht das Recht,
die Beweggründe Ihres Lebens zu prüfen.«

»Aber Sie haben es getan. O ich weiß. Und ich kenne auch das Resultat.
Sie kamen ja nicht wieder.«

»Es wird Ihnen nicht schwer geworden sein, darüber zu lächeln, gnädige
Frau. Was war an mir gelegen?«

»Wir waren einmal glückliche Kameraden,« sagte sie, als besänne sie
sich auf die Zeit. »Die Erinnerungen der Jugend laufen mit durch das
ganze Leben und bestimmen den Wert aller späteren Eindrücke. Das ist
bei mir nun einmal so. Möglich, daß ein Mann glücklicher darin ist.«

»Nein,« erwiderte Springe fest, »ein Mann ist nicht glücklicher darin.
Auch er ist von dem Gewinn oder Verlust seiner Jugend abhängig. Und
deshalb sehen Sie mich heute vor sich. Nicht meinetwegen. Mein Konto
ist geschlossen. Aber einer anderen Jugend wegen, der ich Sie zu helfen
bitte, daß ihr die paar Ideale des Lebens erhalten bleiben, die uns wie
ein paar gute Gottesgroschen jede dürre Zeit erträglich machen. Wenn
Sie selber die Eindrücke, die wir aus der Jugend mitnehmen, so hoch
eintaxieren, wie Sie soeben sagten, so werden Sie mich nicht als einen
unnützen Bittsteller wegschicken.«

»Sie stehen noch immer, Herr von Springe.«

»Ich danke Ihnen für die Antwort.«

Dann saßen sie sich stumm gegenüber und suchten unbewußt in ihren Zügen
die Kinder von einst. — —

»Ich komme wegen Hans,« brach der Maler endlich das Schweigen. »Ich
weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß wir gute Freunde geworden
sind.«

»Ich habe es geahnt,« erwiderte sie leise. »Er hat mir nichts
anvertraut. Hier geht jeder seinen Weg.«

»Sie haben es geahnt und keinen Einspruch erhoben.«

»Ich wußte ihn in guten Händen.«

Er rückte zusammen und sah sie mit maßlosem Erstaunen an.

»Ja, ja; es ist so,« sagte sie mit einem Anflug von Lächeln. »Ich bin
wohl doch nicht ganz so schlecht, wie Sie vermuteten.«

»Frau Margot — —« entfuhr es ihm unbedacht.

»Sie kennen also meinen Namen noch? Lieber Freund, nur der Name ist
geblieben.«

»Gnädige Frau,« sagte er mit Aufbietung aller Willenskraft. »So geht es
nicht weiter. Ich gedenke tiefernste Dinge mit Ihnen zu besprechen, und
Sie gedenken mit mir zu kokettieren.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich kokettieren will,« rief sie beinahe heftig.
»Ist denn in Ihren Augen alles Lüge, alles Verstellung an mir? Muß
ich denn, wenn ich mich einmal freue, von Herzen freue wie ein junges
Mädchen, immer gleich wieder geduckt und gedemütigt werden? Gut, gut,
wenn Sie wollen, daß ich Ihnen gegenüber den Ton gebrauche, den ich für
die ganze indifferente Menschheit gebrauche — o bitte, befehlen Sie
nur, Sie können ihn haben.«

»Frau Margot,« sagte er, beugte sich vor und faßte ihre Hände. »Meine
liebe Frau Margot — —«

Ihre Aufwallung ging vorüber. Aus seinen Händen strömte es in sie über
wie eine Beruhigung.

»Sind das Freundeshände?« lächelte sie. »Wie gut es doch mein Hans hat!«

»Sie kokettieren nicht, gnädige Frau?«

»Doch, doch, ich kokettiere. Daß Sie es nur endlich wissen! Und wenn
ich noch länger mit Ihnen kokettiere, werde ich Ihnen noch eingestehen,
daß ich Sie vermißt habe. Mehr können Sie von einer koketten Frau nicht
verlangen.«

Springe hatte ihre Hände losgelassen und sich erhoben. Er sprach zu
ihr. Und während er zu ihr sprach, blickte er über sie hinweg, in den
winterlichen Garten, und sie konnte glauben, er spräche vielleicht nur
zu sich selbst.

»Ich habe Sie geliebt, Frau Margot, dabei ist nichts Unrechtes, denn
wir waren Kinder. Wenn wir im Hausflur oder in einer Zimmerecke
spielten, waren Sie die kleine Prinzessin und ich Ihr Page. Darunter
taten wir’s nicht, denn wir wurden beide daheim mit großen Ansprüchen
an das Leben erzogen und — hatten keinen Pfennig. Als ich die ersten
langen Hosen erhielt, nahm ich mir vor, mich zum Ritter schlagen
zu lassen, um Sie zu gewinnen. Wir haben damals oft ernsthafte
Beratungen darüber gepflogen. Ich glaube, es wurde sehr viel Gefühl
dabei verbraucht. So viel, daß für die Praxis wenig übrig blieb. Ich
diente mein Jahr bei den Neununddreißigern ab, und Sie feierten Ihren
siebzehnten Geburtstag. Als ich gratulieren kam, konnte ich gleich
doppelt gratulieren. Dem Geburtstagskind und der glücklichen Braut.
Ihr Vater mußte zugreifen, und Sie folgten den Spuren der Erziehung.
Das war im Winter des Jahres achtundsechzig. Ein paar Monate daraus
waren Sie verheiratet. Hm, ja, ich hab’ das verstehen gelernt. Ich
wollte Maler werden. Wollte erst! Und, wie mein alter Herr immer zu
sagen pflegte: Er war Maler, und sie hatte auch nix. Da konnte ich mir
das Exempel schon zusammenrechnen. Dann wollte ich mir wenigstens ein
Surrogat schaffen, und ich nahm, da es mit dem siegreichen Rittertum
nichts geworden war, die Pagendienste wieder auf. Das war ein stiller,
seliger Dienst, der nichts anderes wollte, als für Ihr Glück wachen.
Aber als ich nach dem Feldzug aus Frankreich heimkehrte, hatte sich die
Zahl der Pagen vermehrt und die Königin bedurfte meiner nicht mehr. Ich
durfte zurücktreten und hinfüro meinen Erinnerungen leben.«

»Nein, Heinrich,« rief Frau Margot erregt, »so war es nicht! Es
war nicht meine Schuld. Sie gingen, weil mein Mann eine — eine —
Geschäftspraxis gegen Sie und Ihren Vater geübt hatte, die Sie
verletzen mußte. Wie können Sie mir die Verantwortung aufbürden! Ich
verstand ja nichts von alledem und war schon so apathisch.«

»Ach, meine gnädige Frau, Sie glauben, des entgangenen Geldes wegen
wäre ich fortgeblieben?«

»Weshalb — nur sonst?« entgegnete sie zögernd. Sein ironischer Ton
hatte sie beschämt.

»Muß ich es Ihnen wirklich aussprechen? Muß ich Ihnen sagen, daß ich
den Glauben an Sie verloren hatte, weil Sie nichts, aber auch gar
nichts taten, um ihn mir zu erhalten? Den Glauben an die Jugend und
ihre starken Bande? Kein Freundeswort von Ihnen kam, kein Versuch wurde
gemacht, mich wissen zu lassen, daß die Dinge, wie sie lagen, nichts
zwischen uns beiden ändern dürften. Ich war für Sie erledigt, wie mein
Vater für Ihren Gatten. Sie waren die große Dame, und ich der armselige
Bilderstümper.«

»Heinrich,« fragte sie ganz leise, »haben Sie — haben Sie lange
darunter gelitten?«

Er gab keine Antwort.

»Wollen Sie mir nicht erwidern? Auch dann nicht, wenn ich — wenn ich
Ihnen sage, daß ich — bis heute — darunter gelitten habe? Ich bin ja
heute eine alte Frau. Achtunddreißig Jahre! Da darf ich schon ein
Geständnis wagen. Ja, ich habe unrecht an Ihnen gehandelt und unrecht
an der Jugend. Und zur Strafe hat mich die Freudigkeit der Jugend
verlassen, seit — Sie mich verließen. Meine Erinnerungen wollen nicht
fröhlich werden. Ist das nicht Buße genug? Keine Rückschau zu haben,
aus der man die Fröhlichkeit zieht? — Nun habe ich Sie wohl zufrieden
gestellt.«

Heinrich Springe beugte sich über ihre Hand. Er suchte nach Fassung.

»Sie sind ja noch so jung,« murmelte er. »Mit achtunddreißig Jahren
steht man mitten im Leben.«

»O ja,« bestätigte sie bitter, »soweit die Lebewelt in Betracht kommt.
Mitten drin! Das war doch die Ansicht. Aber die Gefühlswelt — ach,
lieber Freund, klingt es in Ihren Ohren nicht lächerlich, mich von
einer Gefühlswelt reden zu hören?«

»Ich bedauere Sie.« —

»Glauben Sie mir, was ich möchte? Noch einmal die Prinzessin im
Hausflur und in den Zimmerecken sein. Mein Gefühlsleben haben wie
einst. Ich wüßte dann, was Glück ist.«

»So suchen Sie es. Es ist nie zu spät.«

»Wollen Sie mir den Weg zurück zeigen?« fragte sie und sah ihn voll an.

»Ja, Margot,« sagte er, »ich will. Als ich Ihr Haus betrat, wußte ich
nichts dergleichen. Ich kam wegen Ihres arg mitgenommenen Jungen.
Helfen Sie ihm aus seinem Leid, und Sie helfen sich aus dem Ihren. Er
liegt bei mir daheim und wartet auf mich, seinen Freund. Lassen Sie ihn
wissen, daß er auch noch eine Freundin hat, die seine Schmerzen mit ihm
versteht. Tragen Sie Sorge, daß ihm seine Jugend nicht verdorben, daß
er nicht vor der Zeit alt und blasiert wird, und Sie werden die erste
der fröhlichen Erinnerungen für sich gewonnen haben.«

»Mein Mann hat mir schon davon gesprochen,« erwiderte sie nachdenklich.
»Das Mädchen soll keinen legitimen Vater haben, und die Großmutter eine
Arbeiterfrau sein.«

»Das Mädchen ist rein, und überdies schön und klug und liebenswert. Für
seine Geburt kann kein Mensch. Es hat allen Anspruch darauf, glücklich
zu werden wie die Höchstgeborenen. Ich kenne die kleine Johanna und
weiß, was sie Hans sein wird. Ich war mehrfach mit meinem Vater dort im
Hause, denn mein biederer Alter macht der siebzigjährigen Großmutter
die Cour, die eine Arbeitsfrau geworden ist, weil sie für die Erziehung
ihres Enkelkindes arbeitet.«

»Ich werde hingehen,« sagte Frau Margot und richtete sich auf. »Nein,
nein,« wehrte sie glücklich, als er ihr die Hände küßte, »es ist noch
eine Bedingung dabei. Erstens: Hans wird Vertrauen zu mir haben und
ruhig mit seinem Vater abreisen, der eine kurze Italienreise plant. Und
zweitens: Sie dürfen mich nicht mehr aufgeben.«

»Frau Margot,« entgegnete er nur, »ich habe Sie wiedergefunden. Nun
werden wir alle wieder jung sein.« — —

Als er hastig seiner Wohnung zueilte, tobten ein paar verfrühte
Fastnachtsläufer an ihm vorbei. Er war drauf und dran, ihr stürmisches
»Helau!« mit dem gleichen Juchzer zu erwidern. Zwanzig Jahre waren von
ihm abgefallen.

Zu Hause fand er Hans auf dem Sofa ruhig eingeschlafen.

Und er beugte sich lange über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn
und suchte in dem Gesicht des Jungen nach den Zügen einer anderen
Jugend.

[Illustration]




Neuntes Kapitel


Hans Steinherr trug die Farben eines der vornehmsten Korps der
rheinischen Universität, und unter den Kommilitonen galt er als der
Mann der Zukunft. In welcher Hinsicht, darüber stand die Ansicht
bei den jungen Herren noch nicht fest. Aber daß ein Mann von seinen
Mitteln, seinen Allüren, seinen Konnexionen — manche zählten auch seine
Talente hinzu — eine glänzende Karriere machen würde, das sah der
Blindeste ein.

Als er aus dem krassesten Fuchsentum herausgeschlüpft war und wagen
durfte, hin und wieder seine Stimme in die Wagschale zu werfen,
erkannte er bald seine Geltung und seine Kräfte. Das gab ihm einen
Anreiz. Es war nicht so sehr jugendliche Eitelkeit, als das stärkere
Gefühl des Ehrgeizes, unter diesen scharf auf die Form sehenden Leuten
aus den besten Häusern noch besonders hervorzustechen und über sie
hinaus als das Muster eines untadelhaften Gentleman betrachtet zu
werden. Er wurde tonangebend in seinen Anschauungen, wie im Schnitt
seiner Kleider, und sein Ehrgefühl entwickelte sich aufs peinlichste.
Galt es einen Ehrenhandel zu erörtern, Hans Steinherr gab das Votum;
stand die Frage nach standesgemäßer Aufführung zur Verhandlung, Hans
Steinherr entschied mit der Kaltblütigkeit eines alten Römers. Er
hielt auf Klassenabstufungen wie kein zweiter. Als er zum ersten Male
auf die Mensur gestellt wurde, schlief er in der vorhergehenden Nacht
vor Aufregung nicht eine Sekunde und lag wie im Fieber. Aber als er auf
der Tenne stand, und ihm aus einem wilden Durchzieher das Blut in den
Mund lief, wehrte er sich störrisch dagegen, daß der Hieb als Abfuhr
erklärt werde, und verlangte so lange auszupauken, bis der Korpsarzt
erklärte, jede Verantwortung ablehnen zu müssen.

Die neue Welt, die sich vor ihm auftat, nahm ihn ganz und gar gefangen,
und in seinem jugendlichen Überschwang glaubte er bald, in ihr die
einzige gefunden zu haben.

»Geliebter Leibfuchs,« sagte ihm einmal sein in hohen Semestern
stehender Leibbursch, dessen Worte er als heiligste Orakelsprüche zu
betrachten pflegte, »du bist ein ganz famoses Haus, aber du zeigst zu
viel dein Temperament. Deine Gefühle spiegeln sich auf deinem Gesicht
auf zehn Meter Entfernung. Da liest man Sonnenschein und Gewitter im
voraus, wie in der Zeitung. Mein Sohn, überlaß das den Kirmeßgästen,
die mit ihrem Gefühlslärm hausieren gehen. Leute wie wir haben sich
unter allen Umständen in der Zucht.«

Und von Stund’ an überwachte der Schüler sein Mienenspiel, und er wurde
nach Anweisung kalt und gemessen. Das schuf ihm ein neues Übergewicht.

In den Hörsaal war er nur wenige Male gegangen. Das Korpsleben nahm
ihn gänzlich in Anspruch. Und sein Vater rügte das keineswegs. Gute
Verbindungen anknüpfen, schien dem Manne, der nur die realen Seiten
eines jeden Unternehmens in Betracht zog, nicht der letzte Zweck der
Universitätsjahre.

Trotz der Nähe der Stadt und der guten Bahnverbindung hatte Hans
Düsseldorf noch nicht wieder besucht. Er redete sich vor, daß er gerade
während des schwächeren Sommersemesters im Korps unabkömmlich sei, und
verschob den Besuch auf die Ferien. Insgeheim zwar peinigten ihn andere
Gedanken. Die Menschen daheim — die Springes, Frau Stahl, Johanna —
erschienen ihm seit kurzem in einem anderen Licht. Sie waren prächtige
Menschen, ohne Frage, und er verdankte ihnen entzückende Stunden.
Aber eigentlich und nur ein wenig streng genommen: sie waren doch ein
bißchen arg altmodisch und als intimer Umgang doch wohl nicht so ganz
zweifelsohne. Wenn er dachte, daß ihn einer seiner Korpsbrüder bei
Frau Stahl Kaffee trinken sehen könnte, stieg ihm heiß das Blut in die
Wangen. Die beiden von Springe, das war schon etwas anderes. Wenn nur
nicht Heinrich so gräßlich radikal seine Ansichten zu äußern liebte und
der alte Herr immer so komisch den Jugendlichen spielte! Und Johanna —
—?

Es gab Zeiten, wo ihn eine rasende Sehnsucht nach ihrer Zärtlichkeit
packte und er in Gedanken seitenlange Briefe an sie entwarf. Kam er
dann von einem Ausflug heim, an dem die Damen des Korps in Schönheit
und Eleganz teilgenommen und ihn durch den Esprit der großen Welt
berauscht hatten, so fühlte er eine peinliche Ernüchterung, und
höchstens eine Ansichtspostkarte flatterte als kurzer Gruß nach dem
windschiefen Haus in der Pempelforterstraße. Dann schämte er sich vor
sich selbst, aber er war nicht mehr Herr seiner selbst. Er stand unter
einem Zwang, dem er gehorchte wie einem Fetisch. Ein unausgesprochenes
Lächeln, das seine Qualifikationen als Gesellschaftsmensch in Frage
gezogen hätte, würde ihn rasend gemacht haben.

Nur in den ersten Wochen seines Bonner Aufenthaltes hatte er in
längeren Episteln dem Mädchen daheim ein Bild von den Herrlichkeiten
des Studentenlebens entworfen. Damals auch war er noch dem Briefträger
entgegengelaufen, der ihm die lieben, halb kindlichen, halb
frauenhaften Antworten brachte. Und selbst Heinrich Springe war nicht
vergessen worden. Eines Tages hatte der Maler in einem Briefumschlag,
der den Poststempel Bonn trug, ein schmales Büchlein vorgefunden, das
den Titel führte »Meine Lieder« und den Autornamen »Hans Steinherr«.
Aus der ersten Seite stand in Druckschrift zu lesen: »Meinem Mentor
Heinrich von Springe — Telemach.«

Eine Druckerei in Düsseldorf hatte, wohl auf Kosten des Herausgebers,
den Verlag übernommen.

Der Maler war an diesem Morgen für keinen Menschen sichtbar. Er
saß in seinem Atelier und las die zwei Dutzend Gedichte mit einer
Gründlichkeit, als ob er sie auswendig lernen wollte. Er las nicht nur
die Worte. Als er mit den Worten fertig war, begann er zwischen den
Zeilen zu lesen. Dann lehnte er sich, das Büchlein auf den Knieen,
zurück und ließ die Lieder plastisch werden. Die Bilder aber waren
eigenwillig und änderten ihre Züge. Und der Maler lachte dazu leise vor
sich hin ...

Wie eine Erquickung war das schmale Buch. Ein echter und rechter
Jugendgruß.

»Meinem Mentor — Telemach.«

»Jawohl, Mentor!« polterte er. »Netter Mentor, der bei der Mutter nicht
einmal sein Versprechen eingelöst hat. Abgemacht. Heute nachmittag geh’
ich hin.«

Er traf Frau Margot zu Hause, zum Ausgehen gerüstet.

»Ich will nicht lange stören, gnädige Frau. Sagen Sie mir nur, wann ich
wiederkommen soll.«

»O nein, so entschlüpfen Sie mir nicht. Ich lege nur den Hut ab und bin
gleich wieder bei Ihnen.«

»Versäumen Sie auch nichts, gnädige Frau? Ich möchte mir keine Ihrer
Freundinnen zur Feindin machen.«

»So furchtsam sind Sie? Lassen Sie sich doch einmal ansehen.«

»Nur Frauen gegenüber. Da kenn’ ich mich nicht aus.«

»Trotz Ihrer sicherlich reichen Erfahrungen? O Gott, wie beschämt Sie
tun!«

»Ich habe nur ~eine~ Erfahrung gemacht, gnädige Frau.«

Sie blieb ganz ruhig. Nur ihre Stimme vibrierte ein wenig bei der
Antwort.

»Ich meine, wir sollten, wenn wir uns sehen, immer ganz besonders
fröhlich sein.«

»Wahrhaftig, Frau Margot,« rief er herzlich, »da sprechen Sie mir
aus der Seele! Und nun werde ich mich mal auf mindestens eine Stunde
häuslich hier niederlassen.«

»Oder,« fragte sie, »haben Sie Lust zu einem Spaziergang? Dann können
Sie mich begleiten.«

»Wollen Sie mich den Düsseldorfern als Ihre neueste Akquisition
vorführen? Wenn das Ihren Geschmack nur nicht kompromittiert. Gut,
spannen Sie mich nur an Ihren Wagen.«

»Nein,« lachte sie, »mit Ihnen ist wirklich kein Staat zu machen. Es
würde aussehen, als ob ein gestrenger Mentor seine ungezogene Schülerin
spazieren führte.«

»Halt; Mentor—« unterbrach er sie. »Das Wort fliegt mir heute schon zum
zweiten Male zu. Ich mache Ihnen eine Proposition. Sie behalten Ihr
entzückendes Hütchen auf und setzen sich für eine Viertelstunde ganz
stumm dort in die Sofaecke. Dann begleite ich Sie, so lange Sie mich
wollen, auf Ihrer Promenade. In dieser Zwischenzeit aber möchte ich
Ihnen Gedichte vorlesen.«

»Gedichte — —« fragte sie verblüfft. »Sie haben doch nicht etwa — —«

»Ihr Vertrauen ehrt mich,« versetzte er unerschütterlich. »Aber Sie
dürfen sich beruhigen, die Gedichte stammen von einem anderen.«

»Schade,« meinte sie bedauernd.

»Na, wenn Sie meinen, ich sähe noch leidlich lyrisch aus — an der
Courage zum Dichten soll’s mir nicht fehlen.«

»Tun Sie es nicht, Heinrich,« riet sie mit mütterlicher Würde, »das
Leben ist zu kurz und Sie verlieren zu viel Zeit damit.«

»Ganz meine Ansicht. Aber nun: Obacht! Ich bitte das geehrte Auditorium
um Ruhe.«

Er begann zu lesen. Mit natürlicher Stimme, ohne Pathos, wie es die
einfachen Verse verlangten.

Die Viertelstunde ging vorüber und keiner bemerkte es. Der Maler
las Gedicht für Gedicht, wie sie der Reihe nach in dem Büchlein
enthalten waren. Und zum Schluß das Weihnachtslied, das Hans an dem
improvisierten Christabend so feierlich-ernst vorgetragen hatte.

    »Horch, in den Lüften blieb
    Der Weihnachtsglocken Klingen,
    Und unsre Seelen singen:
    Ich hab’ dich lieb. — — —«

Er hatte geendet, und leise schloß er das Büchlein. Er sah Frau Margot
an.

Die wischte seit einiger Zeit an ihren Augen herum. Als sie sich
beobachtet fühlte, ließ sie rasch die Hand sinken und versteckte sich
hinter einem lachenden Ärger.

»Mein Gott,« sagte sie hastig, »wie kann man einem gänzlich
unvorbereiteten Menschen nur so etwas antun!«

»Nicht wahr?« meinte er lakonisch.

»Heinrich,« drängte sie, »gestehen Sie nur, Sie selbst sind der
Übeltäter.«

»Mein Name steht zwar auf der ersten Seite, gleich hinter dem
Titelblatt,« gab er zu, »aber es steht davor: ›Meinem Mentor‹ und
dahinter: ›Telemach‹. Daß ich ein Mentor sei, haben Sie soeben selbst,
wenn auch nicht in schmeichelhafter Weise, behauptet. Und der Telemach?
Ja — da ich ~Sie~ ablehne, muß es schon, damit’s doch in der Familie
bleibt, Ihr — Hans sein.«

»Ach nein,« versetzte sie kopfschüttelnd.

»Ach ja,« versetzte er kopfnickend.

Und dann lachten sie sich gemeinsam aus.

»Der Junge, der Junge!« — sie konnte es nicht begreifen — »wo mag er
das nur herhaben! ...«

»O — Sie kennen nicht die Vererbungstheorie? Vielleicht hat eins seiner
Eltern in der Jugend mal ähnliches geträumt, wofür er jetzt die Worte
gefunden hat. Darwinismus, wirklich, sonst nichts.«

»Spotten Sie nicht immer,« sagte sie und legte ihm die Hand auf den
Mund. Dabei schloß sie für einen Moment die Augen. Heinrich Springe
hielt ganz still. Es war ihm leid, daß es nur ein Augenblick war.

»Ich kenne jetzt auch das Mädchen,« fuhr sie nach einer Weile fort.
»Wenn auch nur vom Sehen. Ich habe so oft die Pempelforterstraße
aufgesucht, bis ich sie bei einem Patrouillengang entdeckte. Ein süßes
Geschöpf — — —. Seit der Zeit gehe ich häufig um dieselbe Stunde hin.
Aber mir ist immer noch nicht eingefallen, wie ich eine persönliche
Annäherung herbeiführen könnte. Mit der Tür ins Haus stürzen, geht doch
für mich nicht an.«

»Wollen wir jetzt unsere Wanderung antreten?« erwiderte er. »Wie ich
annehme, nach der Pempelforterstraße?«

Er öffnete die Tür, und die gefeierte Weltdame schritt an dem
merkwürdigen Manne vorüber. Als wäre er sich nur guter Taten bewußt,
ging er offen und frei neben ihr einher.

»Sehen Sie mal,« sagte er unterwegs, »kennen Sie vielleicht den alten
Herrn dort, der im Begriff ist, zu einer Salzsäule zu erstarren?«

»Aber das ist doch — das ist doch Ihr prächtiger Vater ...«

»Gelt? Das ist doch Herr Friedrich Leopold? Aber besonders geistreich
— bei allem schuldigen Respekt — sieht er gerade nicht drein. Tag,
Papachen. Na, so aufgeräumt?«

Der alte Kavalier hätte beinahe vergessen, seinen grauen Zylinder zu
ziehen. Er blickte verdutzt dem Paare nach. »Hm, hm,« machte er bloß,
»hm, hm; wird schon seine Richtigkeit haben.« Dann setzte er seinen
Spaziergang fort.

Als das Paar in die Pempelforterstraße einbiegen wollte, kam vom
Hofgarten her Hannes. Sie ging, die Augen an den Boden geheftet,
nachdenklich ihren Weg und fuhr zusammen, als sie Springes Anruf
vernahm.

»Potz Tausend, Fräulein Johanna, Sie machen sich! Schon so stolz, daß
man einen guten Freund über den Haufen rennt?«

»Ach — Herr von Springe — Sie sind’s. Gerade dacht’ ich an Sie.«

»Nicht flunkern, Fräuleinchen,« drohte er ihr. »So viel
Selbstverleugnung verlang’ ich ja gar nicht.« Und als sie errötend von
ihm zu der fremden Dame sah, fuhr er fort, als ob sie sich über etwas
Selbstverständliches unterhielten: »Nun? Gute Nachrichten von Bonn?«

Sie errötete noch stärker, aber es war ein Strahlen in dem Erröten, und
sie nickte lebhaft.

»Darf man vielleicht hören? Ich bin doch gewissermaßen der Nächste dazu
— natürlich: soweit es keine Geheimnisse sind.«

»Ich habe ein Gedichtbuch bekommen,« sagte sie so leise, als
streichelte sie jedes ihrer Worte.

»Was Sie sagen! Ein Gedichtbuch? Von wem ist es denn? Von Goethe? Oder
gar von Heinrich Heine —«

»Von Hans selbst,« antwortete sie und sah ihn triumphierend an.

»Machen Sie keine Späße, Fräulein Johanna! Von Hans? Und gedruckt,
sagen Sie? Wirklich mit Druckbuchstaben?«

»Ach, Herr von Springe,« sagte sie und wiegte den Kopf neckend vor ihm
hin und her, »mich foppen Sie heute nicht. Ich ärgere mich heute ganz
bestimmt nicht. Und wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie auch
anders sein.«

»So — —? Was wissen Sie denn?«

»Ihr Name steht vorn in dem Buch,« raunte sie und sah ihn mit
erwartungsvollen Augen an.

Aber die Wirkung blieb aus.

»Ihr Name? — Wer ist denn diese ›ihr‹? Der Radschläger von Jung’ wird
sich doch in Bonn keine Flamme angeschafft haben?«

Nun wurde sie doch ein wenig entrüstet.

»Ich meine ~Ihren~ Namen, Herr von Springe, Ihren groß geschrieben.«

»Donnerwetter!« rief er erstaunt und schlug die Hände zusammen.
»Apropos, Fräulein, ich schreibe meinen Namen immer groß.«

Frau Margot stand zur Seite und ergötzte sich königlich an der
Unterhaltung, die sie belauschte. Ihre Freude an dem eigenartig
schönen und frischen Mädchen, in dem das Knospen und Blühen noch im
Streite lag, wuchs von Minute zu Minute. Sie konnte sich nicht länger
enthalten, sie selbst mußte mit dem Mädchen plaudern.

»Dürfte man das seltene Buch einmal sehen?« sagte sie freundlich und
trat näher. »Bücherneuheiten sind immer interessant.«

»Meine kleine Freundin, Fräulein Johanna Stahl« — stellte Springe vor
— »meine große Freundin — —« und er murmelte höchst unverständlich
einen Namen. »Fräulein Johanna wird sicher so liebenswürdig sein, uns
einen Blick auf das Buch zu gestatten. Da, wie sie sagt, mein Name in
dem Büchlein vorkommt, so hab’ ich doch sozusagen ein Recht darauf,
nachzusehen, ob man auch keinen Unfug mit mir getrieben hat.«

»Das Buch liegt aber oben in der Wohnung,« stotterte Hannes kleinlaut.

»Sie scherzen, Fräulein. Wetten, daß Sie es vorn in der Jacke stecken
haben?«

Frau Margot kam der geängstigten kleinen Mitschwester zu Hilfe.

»Wenn Sie das Buch in der Wohnung haben, wäre es wohl unbescheiden,
Sie zu bitten, uns auf einen Augenblick mit hinaufzunehmen? Wir würden
Ihnen zwar sicherlich keine Ungelegenheiten machen.«

Das Mädchen nagte nervös an der Unterlippe.

»Bitte,« stieß sie dann kurz hervor und ging vorauf. Lächelnd folgten
ihr die beiden Besucher. — —

»Ich will nur ablegen,« sagte Hannes, als sie zu dritt in der einfachen
Wohnstube standen, und ging eilig, ohne den Blick vom Boden zu erheben,
in die Schlafkammer.

»Sagt’ ich’s nicht,« flüsterte Springe schelmisch, »sie hat es doch im
Jackett.«

Frau Margot hob beschwörend die Hand. Ihr war eigentümlich zu Mute in
diesem engen, dürftigen Raum.

Da kam Hannes zurück. Sie hatte die dünne Sommerjacke abgelegt und
stand nun rank und schlank in ihrem weißen Kleide da. Das Buch trug sie
in der Hand.

»Darf ich das Buch nehmen?« fragte Frau Margot und hielt, als sie es
nahm, mit leichtem, wie zufälligem Griff die Fingerspitzen des Mädchens
in ihrer Hand fest.

»Meine Lieder — Hans Steinherr,« las sie ab, und dann sprach sie einige
der Gedichte, die sie aufschlug, halblaut vor sich hin. Plötzlich hielt
sie inne und sah mit forschendem Blick das Mädchen an.

»Sie zittern ja, Fräulein. Ich spür’ es in Ihren Fingerspitzen. Ist
Ihnen nicht wohl?«

»Doch,« kam die Antwort, und die Lippen schlossen sich wieder. Aber auf
der Stirn stand eine tiefe Falte.

Frau Margot las weiter, um nach wenigen Zeilen von neuem einzuhalten.

»Bin ich Ihnen unangenehm? — Sie ziehen Ihre Hand zurück?«

»Ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind Hans Steinherrs Mutter.«

»Wie kommen Sie mit einem Male darauf?«

Und — plötzlich fassungslos — stammelte Hannes: »Weil Sie mich so
quälen — — —«

»Mädchen!« rief Frau Margot bestürzt, »Mädchen! Was sagen Sie da!« Und
schnell schlang sie die Arme um die zuckenden Schultern der Erregten
und drückte das von dem schweren, leuchtenden Haar gekrönte Köpfchen
fest gegen ihre Brust ... »Springe,« bat sie mit einem Blick. Und
Heinrich Springe verstand und verließ leise die Wohnung.

Dort oben aber ließ sich Frau Margot Steinherr auf einen Stuhl nieder
und zog das widerstandslose Geschöpf auf ihren Schoß. Mit weicher Hand
strich sie ihm wie einem Kinde über die Augen und spielte mit seinen
Flechten, die ihm in das verweinte Gesicht gefallen waren. Sie wunderte
sich selbst, wie lind, wie sanft sie das alles tat. Es war doch sonst
nicht ihre Art gewesen, über den Gefühlen anderer sentimental zu
werden. Was war es nur, das in ihr flutete? Seit dem Tage, da sie
mit dem wiedergekehrten Springe Kindheitserinnerungen ausgetauscht.
Und heute so viel stärker, angesichts dieses bangenden, jugendwarmen
Glücks, das sie auf dem Schoße hielt — —.

»Komme ich Ihnen noch immer so schrecklich vor?« fragte sie lächelnd.

Hannes schüttelte stumm den Kopf, den sie noch immer an die Brust der
fremden Dame gedrängt hielt.

Wie wohl das tat! Wie köstlich es sich hier lag! Sie empfand das feine
Wogen und konnte jeden Herzschlag zählen. Sie hielt ganz still und
preßte nur die Lippen auf das Kleid Frau Margots.

»Kleines Liebchen — —« sagte die verträumt. »Kleines Liebchen — — —«

Und wieder stieg ein Wundern in ihr auf, woher sie nur diese nie
gebrauchten Worte nahm.

»Also lieb haben Sie meinen großen Jungen?« fuhr sie nach einer Weile
fort. »Und so ganz hinter dem Rücken der Mama, die man für eine
Vogelscheuche hält?«

»O, Sie sind so schön!« stieß Hannes hervor und sah mit ihren
lächelnden Kinderaugen zu ihr empor.

»Kind, Kind, was für Schmeicheleien! Wer ist von uns beiden schön?
Vielleicht war ich es mal ein wenig, als ich so jung war wie Sie. Heute
sind Sie es.«

»Nein, nein,« rief Hannes stürmisch, »Sie sind es heute! O, so schön
werd’ ich in meinem ganzen Leben nicht werden.«

Frau Margot erhob sich schnell, um ihre Verwirrung zu verbergen.
Tag für Tag hatte sie in der Gesellschaft, von allen Offizieren
der Garnison und den sämtlichen Herren der Regierung, ähnliche
Worte vernommen und sie wie einen ihrer Stellung schuldigen Tribut
entgegengenommen. Sie waren ihrem Ohre so bekannt wie den Lippen
der Herren geläufig. Wie man eine Phrase wechselt. Und oft, in den
letzten Jahren, wenn ein neuer, jüngerer Stern am Gesellschaftshimmel
Düsseldorfs erschien, hatte sie innerlich gebangt, es könnte wirklich
eine Phrase sein ... Jetzt aber — dieses Kind — mit dem klaren Blick
und der jugendlichen Begeisterung — Gott, sie wurde ja über die
Lobpreisung verwirrt wie ein junges Ding von sechzehn Jahren, das zum
ersten Male von seinen Reizen erfährt. Wirkte denn diese Jugendlichkeit
ansteckend?

Sie nahm sich zusammen und ging nachdenklich durch das Zimmer. Dabei
warf sie durch den Türspalt einen Blick in die Schlafkammer. Wie
leuchtend weiß das Stübchen war. Nein, da hinein gehörte kein anderer
Schmuck als die weißen Glieder des schlanken Mädchens.

»Fräulein Johanna,« sagte sie und blieb vor ihr stehen, »geben Sie mir
mal Ihre Händchen. So. Und damit wollen wir es für heute bewenden
lassen. Wir haben uns gesehen und gesprochen und müssen nun zunächst
unsere Gedanken sammeln. Ein jeder über den anderen. Ich denke,« fügte
sie mit einem ermunternden Blick hinzu, »das soll uns nicht schwer
fallen. Versprechen kann ich Ihnen heute nichts, wenigstens nichts, was
über meine Person hinausgeht. Mein Mann ist gewöhnt, sich seine eigenen
Ansichten zu bilden und danach zu handeln. Aber Sie sind ja noch so
jung und werden abwarten können, besonders, da Sie jetzt wissen, daß
mit mir zu reden ist. Oder wissen Sie das nicht?«

»Doch, doch,« stammelte die Kleine.

»Nun, so kommen Sie zuweilen zu mir. Morgen nachmittag, um diese
Stunde. Geben Sie acht, wir werden uns schon befreunden und auch Pläne
schmieden. Ihre Frau Großmutter hoffe ich noch kennen zu lernen. Adieu,
mein Kindchen. Und vergessen Sie nicht: morgen!«

Hannes knickste und beugte sich sprachlos über die feingeäderte
Frauenhand. Da faßte Frau Margot sie unter das Kinn und küßte sie auf
die Stirn.

»Adieu, adieu — — —«

Draußen auf der Straße wartete Springe auf sie. Er tat keine Frage, und
sie gingen eine ganze Weile, ohne zu reden, nebeneinander her. Aber das
Schweigen brachte sie einander näher.

»Sie sind also meiner Ansicht?« fragte sie endlich unvermittelt und
blieb stehen.

»Umgekehrt, gnädige Frau, Sie sind der meinen, und das macht mich
froher, als ich sagen kann.«

»Des kleinen, herzigen Mädchens wegen?«

»Nein, Ihretwegen, Frau Margot. Sie verstehen mich.«

Und sie verstand, was er meinte.

»Hat die Kleine besondere Talente, die man ausbilden könnte? Ich möchte
für alle Fälle etwas für sie tun.«

»Sie ist überraschend musikalisch. Es würde sich lohnen, sie im Gesang
ausbilden zu lassen.«

»Sie soll mir morgen etwas vorsingen. Dann werde ich mit einer
Gesangsmeisterin sprechen.«

»Werden Sie mir erlauben, mein Scherflein dazu beizutragen?«

»Springe,« meinte sie, »können Sie mir denn gar keine Freude gönnen?«

»Geteilte Freude ist doppelte Freude. Wenigstens für mich. Ich bin nun
einmal ein Egoist.«

»Ja,« sagte sie, »mir wird es auch so gehen. Wir beide als gemeinsame
Pflegeeltern — —.«

»Nun haben wir schon ein gemeinsames Kind.«

»Springe!« verwies sie ihn empört, aber sie mußte doch über ihn lachen.
»Sie sind und bleiben ein unverbesserlicher —«

»Optimist,« vollendete er. »Man muß seinem Herrgott für alles danken.«

Er brachte sie bis vor ihr Haus, und sie verabschiedeten sich mit einem
kameradschaftlichen Händedruck.

Am nächsten Tage war Hannes gekommen, und sie kam fast Tag für Tag. Es
dauerte lange, bis sie die Scheu vor den glänzenden Räumen überwunden
hatte. Nicht der Komfort war es, der auf ihr lastete, sondern das
ungewisse Gefühl, daß sie hier wie ein heimlicher Dieb aus- und
eingehe. Der Geist Philipp Steinherrs ging sichtbar für sie durch die
Räume. Und ob sie auch den Fabrikanten tagsüber draußen auf seinen
Eisenwerken wußte und keinerlei Überraschung zu befürchten hatte:
daß sie nicht wie ein von allen gern gesehener Gast das Vaterhaus
ihres Hans betreten konnte, bedrängte um des Liebsten willen ihren
Mädchenstolz.

Frau Margot beobachtete die junge Gesellschafterin mit ungetrübtem
Auge. Sie wünschte den Charakter in allen seinen Phasen zu ergründen.
Und gerade der stumme Seelenkampf, den sie wahrnahm, war es, der ihr
die stärksten Sympathien einflößte. Als sie sich sicher wußte, daß
ihre Zuneigung zu dem äußerlich seltsamen und innerlich so klaren
Wesen eine unerschütterliche geworden sei, begann sie mit festen
Händen in den Bildungsgang ihrer Schutzbefohlenen einzugreifen. Sie
brachte sie persönlich zur Gesangsmeisterin, und als die ernste Frau
beinahe enthusiastisch erklärte, in der Kleinen stecke eine Altistin
von seltener Begabung und seltenem Wohllaut der Stimme, schloß sie auf
der Stelle den Studienvertrag ab, demzufolge Hannes dreimal in der
Woche das Haus der Meisterin zu besuchen hatte. Doch hierbei blieb
Frau Margot nicht stehen. Sie wies das Mädchen an, ihre Sprachstudien
wieder aufzunehmen, führte nach einiger Zeit die Konversation öfters
im englischen oder französischen Idiom, wählte vornehme, deutsche
Lektüre aus und ließ sie wie spielend alle die kleinen Handgriffe
lernen, die eine schöne Frau im Salon als Wirtin oder Gast erst recht
liebenswert erscheinen lassen. Als der Herbst vorüberging und die
Saison anhob, schickte sie das bildungshungrige Mädchen zuweilen in
die großen Konzertaufführungen oder auch ins Theater, das sich damals
eines hohen Rufes erfreute. Und beim nächsten Zusammensein ließ sie
sich die Eindrücke schildern, korrigierte unauffällig den Geschmack und
erläuterte freundlich, was ihrem Fassungsvermögen noch unklar geblieben
war.

Und der Herbst war nun lange schon vorüber, die Universitätsferien
waren zu Ende gegangen, und Hans war nicht gekommen. Er hatte mit
einigen seiner Kommilitonen sofort von Bonn aus eine Ferienreise
angetreten, die vom Vater mit Vergnügen gesehen wurde und ihn auf
fröhlichen Mittelmeerfahrten zurückhielt. Dann war Philipp Steinherr
ihm entgegengereist, hatte ihn in Bonn equipiert, und Hans hatte seinen
Dienst bei den blauen Husaren angetreten.

»Der Prophet gilt nichts im Vaterland, wenn er seine Entwicklung unter
den Augen der Nachbarn abmacht,« hatte Philipp Steinherr dem Sohne
erklärt. »Zeige dich den Leuten daheim nicht zu oft in deiner unreifen
Zeit, tobe deine Dummheiten außerhalb der Mauern Düsseldorfs aus, und
man wird, wenn du nach ein paar Jahren zurückkehrst als Doktor der
Rechte, Reserveoffizier und was weiß ich, stets eine Art Respektsperson
in dir sehen und nicht den Allerweltsduzbruder, dem man mit der alten,
plumpen Vertraulichkeit begegnen kann. Ich möchte, daß du daheim einmal
Numero eins wirst.«

Und Hans hatte sich vorgenommen, sich nicht eher daheim zu zeigen,
als bis er zum mindesten die Tressen erlangt hätte und ihm dadurch,
als Offiziersaspirant, unter den Besuchern seines väterlichen Hauses
von vornherein eine angemessene Stellung gewährleistet sei. Er tat
seinen Dienst mit einem Ehrgeiz, der ihm schnell die Beachtung und das
Wohlwollen seiner kavalleristischen Vorgesetzten eintrug.

Die Briefe an Hannes wurden in dieser Zeit noch seltener. Er
entschuldigte sich mit seinen tausend Dienstobliegenheiten, Strapazen
und Ärger, und vertröstete auf ein Wiedersehen, das alles klären würde.
Was er sich unter dieser Klärung gedacht hatte, war ihm selbst nicht
bekannt. Nur jetzt nicht nachdenken.

Daß Hannes bei seiner Mutter verkehrte, war ihm unbekannt geblieben.
Frau Margot hatte gewünscht, daß die Mitteilung unterbliebe, damit der
Junge eines Tages umsomehr von dem Ereignis und den sich an Hannes
so augenfällig bemerkbar machenden Folgen überrascht würde. Aber dem
Jungen eilte es scheinbar ja gar nicht, sich überraschen zu lassen.
Ein Grund mehr, ihn nicht unnötig und voreilig in den inneren Konflikt
zwischen Vater und Mutter hineinzutreiben.

Ruhig ging das Leben in Düsseldorf seinen Weg. Die geschäftliche
Krisis, welche die ganze deutsche Industrie ergriffen hatte, war
zwar nicht gewichen, aber schon sahen einige Wetterkundige der
Großindustrie Zeichen auftauchen, die auf einen baldigen und jähen
Umschwung hindeuteten. Philipp Steinherr war nicht der letzte, der sie
bemerkte. Aber er sprach kein Wort von besseren Zeiten, von Zeiten,
die der Industrie eine bis dahin in Deutschland unerhörte Hausse
bringen sollten; er handelte auf seine Weise. Als der Sommer kam,
hatte er zu seinen Werken in aller Heimlichkeit einige Etablissements
hinzugekauft, die sich allein nicht mehr zu halten vermochten,
und ließ alsbald unauffällig alle Betriebe in Stand setzen und die
Vorräte an Rohmaterialien für billiges Geld verdoppeln, um beim ersten
beutekündenden Morgenrot sofort gerüstet auf der Schanze zu stehen.

Da trug man an einem frühen Sommerabend den unersättlichen Mann auf
einer Bahre ins Haus. Während einer hitzigen Auseinandersetzung auf dem
Werk war er vom Schlag getroffen umgesunken.

Es war noch Leben in ihm, als man ihn in seinem Zimmer bettete. Zwei
der besten Ärzte hielten bei ihm Wacht, bis ihm das Bewußtsein dämmernd
zurückkehrte. Frau Margot, furchtbar erregt und an nichts anderes
denkend als an die Linderung seiner Schmerzen, wich und wankte nicht
von seinem Lager.

Philipp Steinherr öffnete den Mund. Sein Bestreben, Laute
hervorzubringen, war schrecklich anzusehen. Er rollte die Augen hin und
her, als ob er jemand suche. »Hans — —« quoll es ihm undeutlich über
die Lippen. Er hatte seinem Nachfolger noch so viel zu sagen.

»Es ist nach ihm depeschiert, Philipp,« beruhigte Frau Margot, kaum im
stande, sich auf den Füßen zu halten. »Er kann bald hier sein.«

Sie legte ihm die Hand auf die feuchte Stirn, und der Mann, der nie
im Leben nach einer schmeichelnden Frauenhand viel Verlangen getragen
hatte, empfand im Sterben den wohltuenden Zauber der Berührung. Seine
angstvoll starrenden Blicke wurden weicher, er hob mit Aufbietung aller
Kräfte die Hand, um sie auf ihre Hand zu legen. Dann verschied er in
den Armen seiner Frau. — — —

Als Frau Margot totenblaß durch die Zimmer schritt, schlug ein leises
Weinen an ihr Ohr. Sie stutzte. Wer konnte da so heiß um den Toten
trauern, der im Leben keine Freunde besessen und sie auch nie gewollt
hatte? Sie schlug die Portière zu dem Kabinett zurück, das an ihr
Schlafzimmer stieß, und erblickte Hannes.

»Was machen Sie hier, Kind?« fragte sie tonlos.

Da warf sich das Mädchen an ihren Hals und schluchzte in wilder Angst.

»Wie wird er das nur ertragen, wie wird er das nur ertragen — — —«

»Sei still, mein Töchterchen,« sagte Frau Margot, »wir müssen einer dem
anderen beistehen.«

Sie hatte dem fremden Kinde gegenüber das erste Du gefunden.

»Im Salon — ist — noch jemand,« brachte Hannes unter den Tränen hervor.

Frau Margot befreite sich sanft aus der Umarmung und schritt durch die
Zimmer weiter zum Salon. Sie wußte, daß es Springe war. Und Heinrich
Springe ging ihr, als er ihren Schritt hörte, entgegen und nahm stumm
ihre Hände in die seinen und drückte sie.

»Ich bleibe hier,« sagte er dann, »vielleicht kann ich Ihnen etwas
abnehmen. Aber Sie müssen sich jetzt unbedingt zurückziehen. Tun Sie es
Ihrem Jungen zuliebe, der jeden Augenblick kommen kann, damit Sie ihm
Fassung zeigen können, wenn er die seine verliert.«

Sie nickte bloß zu seinen Worten und ging.

Die Dienstboten hatten die Rollläden heruntergelassen und im
Treppenhaus das Licht entzündet. Der Sommerabend senkte sich tief herab.

Da rasselte ein Säbel auf der Treppe, Sporen klirrten, und bald darauf
gellte ein Schrei durch das Haus: »Papa, Papa — — —!«

Nach einer halben Stunde wankte Hans aus dem Zimmer. Er hatte die
besänftigenden Worte der Mutter kaum gehört, wiederum war sein Leben
widerstandslos von den neuen Eindrücken überwältigt worden, und er fand
nicht den Halt in sich selbst.

Er vermochte die schwere Luft im Hause nicht zu ertragen, nach
anderthalbjähriger Abwesenheit kamen ihm die Räume fremd vor, die
Dienstbotengesichter waren ihm unbekannt. Und allein wollte er
sein, allein, um alles zu begreifen und eine äußerliche Haltung
zurückzugewinnen.

Er stolperte durch den dunklen Garten nach der Laube, in der er als
Primaner so oft Verse gedichtet hatte. Vom Gartentisch, an dem sie
gesessen hatte, erhob sich eine Gestalt, die der Mond hell beschien.
Das feine Gesicht, die tiefen Augen, das leuchtende Haar — das war
doch, das war doch — —

»Hans —« sagte da die Stimme, die nur der Liebsten gehören konnte.

Und als er vor ihr stand, schreckhaft weiß, trocken brennenden Auges
und der Sprache beraubt, trat sie auf ihn zu und nahm sein kaltes
Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn leise zum Willkommen.

»So weine doch,« sagte sie, »so weine doch nur ...«

Da löste es sich in seiner Brust, da war ihm, als hörte er ferne
Heimatsglocken rufen, und sie riefen näher und näher und löschten aus,
was zwischen fern und nah lag. Den Kopf an der Schulter des Mädchens,
weinte er und weinte — um alle seine Verluste.

[Illustration]




Zehntes Kapitel


Das Trauerjahr war zu Ende gegangen.

Nach wie vor leuchtete der Name »Philipp Steinherr« in großen
Metallbuchstaben an den Oberbilker Eisenwerken, aber der, der den
Namen in harten, unvergänglichen Zügen geschaffen hatte, war nicht
unersetzlich geblieben.

»Ist es nicht ein schwermütiger Gedanke,« hatte einst Frau Margot
im Gespräch mit dem Freunde geäußert, »daß kein Mensch eine Lücke
hinterläßt? Es wird Morgen und es wird Abend und wieder Morgen, und das
Leben schreitet fort und Handel und Wandel, und keiner dreht sich um
nach dem, der einst war und ohne dessen Stimme sonst kein Unternehmen
möglich schien. Was hat da aller Ehrgeiz genutzt, wenn jedes Ding so
bald unpersönlich wird?«

»Nein, Frau Margot,« hatte Heinrich Springe geantwortet, »darin kann
ich keinen Grund zur Klage sehen. Für mich liegt gerade in dem Umstand,
daß kein Mensch unersetzlich ist, etwas ungemein Tröstliches und —
Aufrüttelndes. Inwiefern Tröstliches, meinen Sie? Nun, weil es auf
die Dauer auch den größten Schmerz paralysiert, wenn die beständig
mahnende Kluft fehlt; denn sonst würde die Vernichtung eines jeden
Menschenlebens die Vernichtung einer Anzahl anderer Menschenleben nach
sich ziehen und so fort bis ins Unendliche. Die Selbstzerfleischung
aber kann nie der Zweck einer Schöpfung sein. Der Mahner Tod schwindet
hin wie ein Phantom, weil wir seine Spur nicht mehr sehen, die Lust zum
Leben, die erschreckt den Kopf unter die Flügel gezogen hatte, wagt
sich scheu hervor, blinzelt mit den Augen und bemerkt, daß sie nach
wie vor und trotz heftigen Sträubens den Duft der Rosen empfindet,
den Gesang der Vögel vernimmt und das Licht der goldenen Sonne sieht.
Und damit komme ich zu dem, was ich das Aufrüttelnde der Idee nennen
möchte. Wenn wir erst einmal gewahr geworden sind, daß das Leben
nach der Spanne, die es uns läßt, uns nicht vermißt, so sollen ~wir~
hingegen, ~während~ dieser Spanne, nichts vom Leben missen wollen,
sondern bei dem kurzen Besuch alle Gastgeschenke entgegennehmen und,
wenn’s not tut, sie seinem Reichtum entreißen. Damit nehmen wir
unserem Toten nichts und schaffen uns Lebendigen unser Recht. Es ist
eine fixe Idee, wenn man glaubt, man komme über den Schmerz um einen
Dahingeschiedenen nie mehr hinweg, wenn man sich um diesen Schmerz
lebendig begraben will, und läßt doch bei dem geringsten Zahnweh
einen Arzt zur Hilfe rufen. Für ehrliche Naturen sollte es keine
Inkonsequenzen geben, auch aus Gefühls- und Pietätsgründen nicht.
Entweder — oder!«

»Also Witwenverbrennung — ich meine damit natürlich mehr, das
Auslöschen alles dessen, was er hinterlassen hat —« sagte sie
nachdenklich, »oder —?«

»Hand ans Steuer,« vollendete er. »Nur nicht das widersinnige
Vegetieren, dies halbe Verzichtleisten und Nirgendhingehören, das
vielleicht einer Generation Schaden und uns keine Zufriedenheit bringt.«

»Und wenn wir nun die Hand ans Steuer legen? Auch uns wird es eines
Tages entzogen.«

»Verstehen Sie denn darin nicht die Größe des Gedankens, Frau Margot?
Es wird kein Unterschied gemacht! Auch bei unseren Nachfolgern nicht!
Ein endgültiges Triumphieren gibt’s nicht! Herr Gott, bei solchem
maschenlosen Kommunismus verliert der Tod doch jeden Schrecken.«

»Und die Werke, die wir zurücklassen müssen und die in fremde Hände
übergehen? Ist das nicht quälend?«

»Der Kopfschmerz, den wir uns darüber machen, vergeht in dem Moment,
in dem wir die Augen schließen. Sind wir am Abend unseres Daseins
mit dem Bestand unserer Werke und mit uns zufrieden, so ist uns die
Krone des Lebens geworden. Und wissen wir überdies, daß wir kein
Glück vorbeiließen, soweit es uns erreichbar war, so sind wir selbst
nach unserem Tode noch glücklich zu schätzen. Darum sag’ ich: bis
zum letzten Atemzug die Hacken einschlagen in die Felsen und Quellen
hervorrufen, aus denen wir trinken können. Austrinken, wenn es uns
schmeckt. Das nachfolgende Leben ist nicht auf unsere zwei Augen
gestellt, so wenig wie das unsere auf die Augen unserer Vordermänner.
Es rauschen immer wieder neue Brunnen.«

»Sie sind ein Lebenskünstler, Heinrich Springe. Woher haben Sie diese
hieb- und stichfeste Weisheit genommen — —«

Dann bot er ihr den Arm und führte sie in den Garten, zu den Rosen.

»Wie sie blühen und duften,« sagte er. »Und sie schießen und sprießen
aus demselben Stock hervor, der im letzten Herbst verblüht war. Liebste
Frau: es gibt kein Jahr, in dem nicht Rosen blühen.« — — —

Und auch in Frau Margot blühten die Rosen auf, die so lange
durchwintert hatten.

Hans Steinherr hatte am Tage nach der Beerdigung seines Vaters den
Freund in seiner Wohnung aufgesucht, um sich wegen der Fortführung
der Werke Rats zu holen. Nach längerer ernster Konferenz war
man übereingekommen, sich zu Frau Margot zu begeben, um ihr die
einstweiligen Pläne zur Begutachtung vorzulegen.

»Ich habe ja nicht die geringste Ahnung von dem Wesen der
Betriebsführung und rationeller Fabrikationswirtschaft,« hatte Springe
geäußert, »und daß Hans mir in diesen Dingen nichts weniger als
überlegen ist, bedeutet auch gerade keinen Trost. Wollen Sie jedoch
die Meinung eines sonst ziemlich klarblickenden Menschen haben, so
ist es die: Lassen Sie den Oberingenieur der Firma rufen. Der Mann
ist zwanzig Jahre im Dienst und hat die ganze Entwicklung der Werke
mit durchgemacht. Er weiß um alle Zukunftspläne und hat Interesse an
ihrem Werden, weil sein geistiges Kapital darin angelegt ist. Das ist
aber nicht genug. Soll die ganze Leitung in seine Hände übergehen, so
muß seine Bedeutung nach außen hin gesteigert werden. Seiner selbst
wegen, damit er nicht auf Konkurrenzgedanken kommt, und der Beamten
und Arbeiter der Fabrik wegen, damit sie mit Respekt seinen Weisungen
folgen. Das scheint mir aber nur möglich, wenn Sie ihn zum Teilhaber
ernennen. Geben Sie ihm den Titel und beteiligen Sie ihn — neben
seinem festen Gehalt — mit einem gewissen Prozentsatz am Reingewinn.
Sie werden pekuniär gut dabei fahren und vor allem jeder Sorge
überhoben sein.«

Der Abend war mit Verhandlungen mit dem Oberingenieur ausgefüllt
worden, der sich als ein kluger und ruhiger Mann erwies. Die
Eintragungen in das Firmenregister hatten bald darauf stattgefunden.
Hans war zu seinem Regiment zurückgekehrt, und nun lief die Zeit wieder
hin, als wäre in ihrem Gleise keine Unebenheit gewesen.

Hans hatte von seinem Kommandeur die Erlaubnis erhalten, die erste
achtwöchentliche Reserveübung sofort an das Dienstjahr anschließen
zu dürfen. Dadurch wurde er der Notwendigkeit enthoben, sich bis zum
Beginn des neuen Semesters nach Hause begeben zu müssen, denn eine
andere Reise erschien ihm jetzt nicht passend. Vor den Verhältnissen
daheim aber bangte ihm. Er wußte nun um das Verhältnis Johannas zu
seiner Mutter, er sah voraus, daß man ihm keine Hindernisse mehr in
den Weg legen, sondern im Gegenteil an seinen Besuch frohe Erwartungen
knüpfen würde. Und diese Erwartungsfreudigkeit war ihm unbequem, sie
war ihm geradezu fatal.

Nun stand er dicht vor dem Reserveoffizier, und er setzte allen Ehrgeiz
darein, nicht zum Train abgeschoben zu werden, sondern beim Regiment
weiter zu bleiben. Die Anschauungen seiner neuen Freunde, seiner ganzen
Umgebung, hatten viel zu stark auf ihn abgefärbt, als daß er im stande
gewesen wäre, sich ein anderes Glück zu denken, als das von seinem
ganzen Kreise akklamierte und — beneidete.

Hannes’ auffallende Mädchenschönheit tauchte vor ihm auf. Er wich
dem Bilde betreten aus, dann aber blickte er verstohlen hin und sein
Auge begann zu strahlen und sein Herz zu schlagen, je länger er es
ins Auge faßte. Dies letzte Wiedersehen! Als sie in der Laube vor ihm
stand, eine andere, schönere; und doch dieselbe, liebe. Nie, nein nie
und nirgends hatte er ein so starkes, überquellendes und wiederum so
beruhigendes Heimatsgefühl gehabt, wie in der Stunde, da er an ihrem
Halse hing und sie ihn das befreiende Weinen lehrte ...

»Keine würde sie übertreffen,« dachte er selig, »keine ihr
gleichkommen. Sie hat den Mund einer Geliebten und die Augen einer
Mutter.«

Plötzlich übergoß flammende Röte seine Stirn, und er wandte sich rasch
ab und trommelte nervös gegen die Fensterscheiben.

»Aber wenn es auskäme? Ihre Herkunft, ihre Familie, ihre — Geburt?
Und es kommt aus,« rief er laut, »so was bleibt nie verheimlicht,
dafür sorgen die guten Freunde. Man wird zu tuscheln anfangen und sich
erzählen und alles mehr noch übertreiben, als ob es nicht so schon
genug wäre. Man brauchte nur zu erfahren, daß sie als Kind zum Modell
gesessen hat. Ob nur zu einem Engelsköpfchen, danach fragt ja die
Menschheit nicht. Da heißt es einfach: Modell! Und jeder denkt sich
ein Manko an Schamhaftigkeit dabei. Himmel und Hölle, weshalb mußte
die Alte auch einen solchen Unfug zugeben. Vererbtes Blut, schlechte
Erziehung — wo sind da die Kautelen? Als Primaner denkt man ja an
nichts anderes, als an das Gesichtchen. Aber ich bin kein Primaner
mehr. Ich habe Verpflichtungen gegen meine Gesellschaft. Ich würde
mich mit sehenden Augen unmöglich machen, nicht den Verkehr einhalten
können, den ich haben will und muß. Wenn’s ein anderer wäre, ich würde
doch ganz genau so darüber denken. Da kann und darf ich mich nicht
ausschließen wollen.

Und dabei hab’ ich doch das Mädchen so lieb —«

»Ruhe, Ruhe. Nichts überstürzen. Zeit gewinnen, nur Zeit gewinnen.« —

Von Bonn ging er auf zwei weitere Semester nach Heidelberg. Auch hier
wurde er bei einem Korps aktiv, aber er betrieb doch mit einer gewissen
Regelmäßigkeit seinen Studiengang. Als der Herbst kam, bereitete er
sich auf die Übersiedlung nach Berlin vor; da erhielt er einen Brief
Heinrich Springes, der ihn bat, diesmal einen Teil der Ferien zu Hause
zu verbringen, da er verschiedenes mit ihm zu besprechen habe, das am
angenehmsten an Ort und Stelle seine Erledigung fände. Es war ihm nicht
sympathisch. Aber er mochte auch den alten Freund nicht vor den Kopf
stoßen und reiste an einem der nächsten Tage ab. — —

Für Hannes war das letzte Jahr wie das vorletzte geblieben. Sie nahm
das Studium mit einem Ernst, der weit über ihre achtzehn Jahre ging,
und wenn sich Ermüdung einstellte, dachte sie an den Geliebten,
lächelte jede Mattigkeit hinweg und sprach vor sich hin: »Ich tue es ja
nicht für mich, ich tue es ja für ihn.«

In ihren äußeren Verhältnissen waren einige Änderungen eingetreten.
Großmutter Stahl brauchte nicht mehr von Haus zu Haus ihrer Kundschaft
nachzugehen. Die Herren von Burg Springe hatten sie feierlich zur
Palastdame, Verwalterin und Oberschließerin auf Burg Springe ernannt,
eine Beschäftigung, die den Tag der alten Frau nicht allzusehr
bedrückte, aber dennoch ausfüllte. Zuerst hatte sie nicht gewollt. Sie
witterte ein verstecktes Almosen. Als ihr aber Herr Friedrich Leopold
in beweglichen Worten seine Not klagte und die aus Rand und Band
gehende Junggesellenwirtschaft beschrieb, da bedurfte es nur noch eines
kläglichen Hinweises auf den Verfall von Leib- und Tischwäsche — der
alte Herr raunte mit bekümmertem Gesicht der alten Frau einige Worte
ins Ohr und zeichnete dazu mit der Hand ein paar riesenhafte Ellipsen
in die Luft, um ihr die schreienden Defekte in ihrer Größe einigermaßen
klar zu machen — und Frau Stahl quittierte ihre sämtlichen Dienste in
anderen Häusern, um den Rest ihrer Kräfte der Ordnung auf Burg Springe
zu weihen. Die Wohnung in der Pempelforterstraße aber behielt sie
bei; nur die Einrichtung wurde nach und nach etwas komplettiert. »Sie
könne in ihren Jahren keine Luftveränderung mehr vertragen,« sagte sie
zu Frau Margot, die ihr riet, eine bequemere Wohnung zu nehmen. »Wie
gelebt, so gestorben.«

In Burg Springe schlug das Leben seitdem höhere Wogen. Wenn Hannes
kam, um ihre Großmutter abzuholen, oder mit Herrn Friedrich Leopold
ein Stündchen zu verschwatzen und Herrn Heinrich beim Malen zuzusehen,
»dann wurde es Tag«, wie der alte Kavalier strahlend erklärte. Dann
zog die Jugend durch alle Räume und ließ die seinen Silberglöckchen
klingen, und die sonderbaren Burgbewohner, die immer die Fallbrücke in
Bereitschaft hielten, um die Jugend bei sich einzulassen, schworen, sie
wären keinen Tag älter als Hannes. Es ging von dem Mädchen ein Fluidum
aus, rein und stärkend wie die Wasser eines Jungbrunnens.

An schmeichelnden Sommerabenden setzte sich Heinrich Springe an seinen
Flügel und Hannes ließ ihren warmen Alt erklingen. Und wenn die
Lieder ausgeströmt waren und die Stimmung sich so seltsam verdichtet
hatte, daß nur noch etwas Außergewöhnliches geschehen durfte, um den
glücklichen Zauber zu halten, dann führte Herr Friedrich Leopold an
zierlich gespreizter Hand die rüstige Altersgenossin Frau Stahl vor,
und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte mit ihm zu Heinrichs
Begleitung ein köstlich-steifes Menuett aus der guten alten Zeit
exerzieren. Das war an den Abenden, an denen Frau Margot zugegen war,
die nach der Eintönigkeit des vergangenen Trauerjahres nun oft im
Vorbeigehen heraufgeschlüpft kam, um, wie sie sagte, ihre Seele zu
füttern. Und an dem Abend, an dem das Weinlaub der Veranda herbstlich
rot erglühte, hatte sie mit Heinrich Springe an der Brüstung gestanden,
und die Fröhlichkeit, die aus dem Zimmer zu ihnen drang, gab ihrer
stummen Stimmung das Relief.

Sie lehnten nebeneinander und sahen geradeaus, in den farbenprangenden
Abend hinein.

»Frau Margot,« sagte dann Springe, aber keins von ihnen änderte die
Richtung des Blickes, »ich habe Sie bis heute nicht fragen wollen.«

»Lieber Freund, ich bin nicht mehr die kleine Margot, die Sie im
Gedächtnis haben. Ich bin eine Frau, die den Höhepunkt überschritten
hat. Bedenken Sie das.«

»Wir beide haben erst den Höhepunkt überschritten, wenn wir uns nicht
mehr lieben.«

»Und das ist nicht möglich,« sagte sie und legte ihre Hand auf die
seine.

Sie schauten, nebeneinander lehnend, in den Abend wie vorher; aber es
war ihnen, als wäre Luft und Licht noch wohltuender geworden.

»Wann, Margot?« fragte er nur.

Und sie antwortete: »Wann du willst. Nur ordne mir auch das
Glücksbedürfnis meines Jungen ...«

Da beugte er sich über die feingeäderte Hand, die wie ein Marmorgebilde
auf der Verandenbrüstung ruhte, und küßte sie.

       *       *       *       *       *

Hans war angekommen.

Als Frau Margot, die ihren Jungen von der Bahn abgeholt hatte, ihm im
Wagen gegenübersaß, wußte sie nicht das rechte Wort zu finden, ihn im
Sturm einzunehmen. Hans hatte sich bei der Begrüßung sehr zärtlich
gezeigt, aber es war doch mehr die liebenswürdige Aufmerksamkeit
eines chevaleresken Sohnes zur Mutter gewesen. Nun suchte sie ihn
während der Fahrt zu beobachten und Vergleiche zwischen früher und
jetzt anzustellen. Sie hatte sich ihren Jungen nicht gar so erwachsen
gedacht. Hans war stärker geworden und breiter in den Schultern. Sein
welliges braunes Haar war der Schere zum Opfer gefallen und so kurz
geschnitten, wie es der durchgeführte Scheitel nur eben zuließ. Auch
sein kräftiger dunkler Schnurrbart zeigte eine offiziersmäßige Form.
Das Gesicht war röter geworden und die Studentennarben auf Stirn und
Wangen zogen scharfe, purpurne Linien hinein. Um die Augen herum liefen
tiefe Schatten, die von durchtollten Nächten sprachen.

Es wurde Frau Margot eigentümlich zu Mute bei dieser Entdeckung. Hatte
sie geseufzt? Worüber? Weshalb?

Der Sohn erkundigte sich teilnehmend, ob sie sich nicht ganz wohl fühle?

»O doch,« gab sie freundlich zur Antwort. »Ich bin nur froh, daß du da
bist.«

»Weißt du, was Springe von mir will? Er zitierte mich mit solcher
Bestimmtheit her.«

Welchen Ton er sich angewöhnt hatte — —. In den wenigen Worten schon
lag die ganze Veränderung seines Wesens.

»Ich möchte unserem Freunde nicht vorgreifen,« erwiderte sie
reserviert. »Du wirst wohl gleich zu ihm wollen?«

»Es eilt nicht, Mama. Jedenfalls möchte ich mich zunächst umkleiden
und, wenn du gestattest, ein Glas Wein bei dir trinken. Diniert habe
ich bereits in Köln auf dem Bahnhof.«

Sie nickte nur, und schweigend kamen sie zu Hause an.

Eine Stunde später verabschiedete er sich von der Mutter. Der rasch
genossene Wein brauste ihm im Blut, und er freute sich auf einen
Spaziergang durch den kühlen Herbsttag. Als der Hofgarten in Sicht
kam, zog es ihn unwiderstehlich nach der Pempelforterstraße. Er wollte
nur an dem Hause vorübergehen und dann zurückkehren, um Springe
aufzusuchen. Doch nachher konnte er sich nicht enthalten. Weshalb nicht
auf einen Sprung hinauf? Die Großmutter würde nicht daheim sein und
Hannes — Hannes allein. Alle Pulse klopften ihm. Da war er auch schon
oben und klingelte.

»Hans!«

Das Mädchen war zuerst einen Schritt zurückgetreten. Dann kam sie
hastig vor, faßte ihn bei den Händen und zog ihn in das Zimmer. Seine
Hände in den ihren, starrte sie ihn eine Minute an. Das Schweigen wurde
ihm peinlich, und er machte eine Bewegung. Da schüttelte sie den Kopf,
als wollte sie die aufsteigenden Gedanken verjagen, und warf, einem
jähen Impulse folgend, die Arme um seinen Hals.

»Da bist du, da bist du,« wiederholte sie nur immer, und ihr junger,
warmer Mädchenkörper zuckte vor Erregung in seinen Armen.

»Kind, Kind, wer wird sich denn so aufregen!«

»O laß mich doch, laß mich doch. Ich wußte ja kaum noch, ob du lebtest.«

»Mir ist das viele Briefschreiben ein Greuel. Damit wird dich auch Mama
getröstet haben.«

»Mama —?« Sie ließ seinen Nacken los und lächelte eigen vor sich hin.

»Nun, Johanna, was soll denn das?«

»Mama ist der Meinung, daß ich regelmäßig Nachrichten von dir gehabt
hätte.«

»Wie ist denn das möglich? Hat sie denn nie gefragt?«

»Doch, doch. Gerade, weil sie gefragt hat. Da hab’ ich ihr das ja
gesagt.«

»Daß du Nachrichten von mir hättest? Ja warum denn, um alles in der
Welt?«

Sie sah ihn an. Sie fühlte, daß er sie nicht verstand, daß er ihre
Tapferkeit nicht verstand. Und plötzlich merkte sie, daß all ihre
Freude erstorben, daß ihr Blut eiskalt geworden war.

»Weil ich mich für dich schämte,« sagte sie und richtete sich ruhig auf.

»Was —?« fragte er erstaunt, als hätte er nicht recht gehört. »Weil du
dich — für mich — —? Ach, du scherzest wohl.«

»Wie du dich verändert hast,« entgegnete sie nur und betrachtete ihn
ernst. Sein Gesicht hatte keine Geheimnisse für sie. Sie las aus den
kleinen Spuren sein ganzes Leben.

»Darf ich vielleicht wissen, weshalb du es für nötig hieltst, dich für
mich zu schämen?« fragte er zornig.

Da fuhr auch sie auf.

»Nein! Das darfst du ~nicht~ wissen, wenn du es wirklich nicht längst
schon weißt.«

»Ich bitte mir ein besseres Benehmen aus. Das ist nicht der Ton, in dem
wir eine Unterhaltung führen können.«

»O — —! Und ~dein~ Benehmen? Dein Benehmen gegen mich? Daß du mich fast
ein Jahr lang auf eine Zeile warten ließest? Das ist wohl ganz was
anderes!«

Er suchte nach einer Antwort, um der aufsteigenden Scham zu begegnen.
Und plötzlich, nur von dem Gefühl getrieben, nicht als der Besiegte
zu erscheinen, stieß er brüsk hervor: »Vergiß doch nicht, daß wir
durchaus nicht offiziell verlobt sind. Dann freilich, dann wäre es
unverantwortlich von mir gehandelt gewesen. So aber trifft mich auch
nicht der kleinste Vorwurf.«

Sie wurde mit einem Male merkwürdig ruhig. Noch ein paar schnelle
Atemzüge, und sie konnte lächeln.

»Reden wir nicht davon. Es hat keinen Zweck. Einer von uns spricht
Chinesisch.«

Dann bot sie ihm mit heiterem Wesen einen Stuhl an und setzte sich mit
einer kleinen Handarbeit an den Tisch. Ganz korrekt, ganz über der
Situation stehend, wie eine große Dame, dieses junge Geschöpf ...

»Großmama wird sehr bedauern. Es ist zwar nicht ganz schicklich, daß
wir hier so mutterseelenallein sitzen. Aber für ein paar Minuten — das
hat wohl nichts zu bedeuten.«

Er biß sich auf die Lippen. Sie machte sich lustig über ihn! — — Da
verlor er den Kopf.

»Hannes,« begann er, und nun sprudelten die Worte hervor und
überstürzten sich, »Hannes, ich hab’ dich lieb. Daran zweifelst du
doch hoffentlich nicht. Ich habe dich genau so lieb wie früher. Aber
dem Leben da draußen ist nicht nur mit der Liebe gedient. Wir — ich
mein’ die Menschen, die auf sich halten — wir haben ernstere Pflichten
gegenüber der Gesamtheit als die große Masse gegen sich. Wir bilden die
Elite. Und deshalb dürfen wir uns nicht leichtsinnig eine Blöße, eine
Angriffsfläche geben. Was den einzelnen von uns trifft, das trifft uns
alle. Wir sind sozusagen ein Körper und eine Seele. Verstehst du das?«

»Ich wußte bisher nur, daß zwei, die sich lieben, das zu sein hätten
...«

»Aber natürlich. Das hab’ ich doch wohl nicht in Abrede gestellt. Ich
spreche hier aber von dem Kreise, in dem ich zu leben habe, von den
Leuten aus gutem Hause und von guter Erziehung. Siehst du, Hannes, das
sind die Konflikte, die an mir herumreißen. Ich habe dich so lieb — wer
könnte dich nicht lieb haben — aber nun sei einmal mein vernünftiges
Mädchen.«

»Ich bin dein vernünftiges Mädchen,« sagte sie und zwang den
stürmischen Atem zurück.

»Also, Hannes; dann wird es uns leicht werden. Ganz offen, nicht
wahr, ganz offen! Ich habe nun einmal einen Platz in der Gesellschaft
einzunehmen. Und deine Mutter — deine Mutter besaß keinen Frauennamen.«

»Nein; aber sie besaß die Frauenliebe.«

»Aber davon versteht die Welt doch nichts,« rief er aufgebracht, »dazu
ist doch die Welt zu dumm!«

»Und trotzdem — —? Armer Hans.«

»Du scheinst bei meiner Mutter viel gelernt zu haben,« sagte er und
stand auf.

»Ich wollte dich nicht kränken. Aber ich habe dich viel zu lieb, als
daß ich dich so hören könnte.«

»Hannes,« bestürmte er sie von neuem und zog sie an sich, »es ist ja
nur eine bloße Formalität, die ich verlange. Ich habe ja allen Respekt
vor deiner Mutter, aber die Leute, auf die es für uns ankommt, denken
darüber anders. Wir wollen zu Springe hingehen. Wir wollen ihm alles
vorstellen und ihn bitten, zu helfen. Er soll dich adoptieren. Dagegen
wird er bei seinen Anschauungen nichts haben. Du erhältst einen guten
Namen und wir heiraten und ziehen nach München, nach Berlin, wohin du
willst. Mit der Fabrik will ich ja doch nichts zu tun haben. Hannes,
ich bitte dich. Hannes — — was hast du denn? Was fällt dir denn ein?«

Sie hatte sich mit einer energischen Bewegung freigemacht und vom
Wandhaken ihren Hut gerissen.

»Soll ~ich~ gehen, oder willst ~du~ gehen?«

»Hannes, Liebste, versteh mich doch nicht falsch. Kannst du mir denn
kein Opfer bringen?«

»O doch,« lachte sie und nestelte ihren Hut auf, »das größte; dasselbe
Opfer, das meine Mutter gebracht hat. Wenn es darum ging’! Wenn
es nicht anders wär’! Das wär’ doch wenigstens Stolz! Kein feiges
Einschleichen, wie du es von mir verlangst. Gib dir keine Müh’ mit mir.
Ich will nichts mehr hören, als das eine: Soll ~ich~ gehen, oder willst
~du~ gehen?«

Er war gegangen. Rot vor Zorn und Scham. Aber wie in einer Muschel, in
der sich, unentrinnbar, die Stimme des ewigen Meeres gefangen hat, so
schallte, unentrinnbar ihr, eine Stimme in seinem Innern. »Scham ist
Feigheit — Scham ist Feigheit.«

Die alte Frau Stahl hatte es gesagt, droben in dem Stübchen. Und droben
in dem Stübchen rang jetzt ein junges, wildes Blut mit dem ganzen
Stolz die Verzweiflung nieder. Der Sommernachtstraum, den sie im Park
zu Benrath geträumt hatte — Sommernacht? Es war doch Herbst gewesen,
Herbst wie heute. Der Ring hatte sich geschlossen.

Sie saß gerade aufgerichtet auf dem Stuhl, den Hut auf dem Schoß, und
starrte ins Leere. Nicht mit der Wimper wollte sie zucken. Aber die
Tränen nahmen keine Notiz davon. Sie kamen tief aus dem Innern und
rollten langsam über die Wangen und tropften heiß auf die Hände. Ein
Abschied — —.

       *       *       *       *       *

Heinrich Springe ging auf dem Trottoir vor seiner Haustür auf und
ab und zog jeden Augenblick aufs neue seine Uhr. Wo nur der Hans
blieb? Er hätte schon seit Stunden bei ihm sein können. Sollte Frau
Margot vorgezogen haben, zuerst mit ihrem Sohne zu sprechen, und Hans
Einwendungen zu machen haben? Dem wartenden Manne war es auf seinem
Atelier ordentlich unheimlich geworden. Ahnungen durchflatterten das
Zimmer und schreckten ihn auf. »Wie Fledermäuse,« dachte er und sah
sich um. Er hatte doch sonst nicht an Nervosität gelitten.

»Die Liebe macht doch selbst die Vernünftigsten zu schreckhaften
Kindern,« sagte er kopfschüttelnd. »Vielleicht, weil ihre Vernunft
begreift, was das Herz zu verlieren hat.«

Damit nahm er seinen Hut, um vor dem Hause nach Hans auszuspähen.

Endlich! Dort kam er von der Oststraße her, den Hut etwas schief, das
Jackett aufgeknöpft und den Stock wagrecht unter dem Arm.

»Achtung, mein Junge, du läufst zu weit.«

»Ah, da bist du ja selbst. Guten Tag, Heinrich. Wie geht’s? Wollen wir
einen Spaziergang unternehmen? Es plaudert sich im Freien am besten.«

»Lieber wär’s mir, wenn du mit mir hinaufgehen wolltest. Wir sind oben
ungestörter.«

»Na, gar so feierlich wird’s doch nicht sein.«

»Wie man’s nimmt, mein Junge. Für mich soll’s, so Gott will, eine
Feierstunde werden.«

Sie saßen sich im Atelier gegenüber, wie vor Jahren. Aber der Jüngere
war älter geworden, und der Ältere jung geblieben. Das sahen sie beide
auf den ersten Blick, und es schlich sich ein Fremdes zwischen sie.

Heinrich Springe schüttelte den Bann ab. Freimütig blickte er den
einstigen Schützling an und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Laß mich gleich mitten in die Sache hineingehen, Hans. Umschweife
würden sich für uns nicht schicken, und sie passen auch nicht zu meiner
Art. Nur eines sollst du mir vorher sagen: ob du mir noch so vertraust
...«

»Aber gewiß ...«

»Das genügt mir. Ich brauche also nicht zu erwähnen, daß keinerlei
Interessen bestimmend für mich sein konnten. Hans, ich habe deine
Mutter gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war, und ich habe sie
mit meiner Knabenliebe geliebt. Du weißt ja selbst, was Jugendliebe
bedeutet, nur daß du glücklicher darin bist, als ich es war. Wir waren
beide arm, deine Mutter konnte nicht warten und heiratete deinen
Vater, und ich — ich habe keine andere Frau mehr lieb gehabt. Und
nun, Hans, und nun — haben wir uns wieder zusammen gefunden. Und der
Kindheitsglaube an das Glück hat sich auch wieder eingefunden. Und nun
möchten wir drei für immer zusammen bleiben: deine Mutter, dein Freund
und der Kindheitsglaube.«

Er stand auf und fuhr sich über die Stirn.

»Das war’s, was ich dir persönlich sagen wollte, was sich brieflich
überhaupt nicht ausdrücken läßt. Deshalb bat ich dich her. Und ich
meine, dies Atelier, in dem auch du mir einmal von deiner Jugendliebe
erzähltest, war die richtige Umgebung für diese Minute. — Du antwortest
nicht? Hat es dich so überrascht?«

»Das — das — verstehe ich nicht,« stieß Hans kurz hervor und erhob sich
gleichfalls.

»Soll ich es dir — ausführlicher erklären?«

»O ich danke dir. Die Erzählung selbst ist mir schon aufgegangen. Aber
daß meine Mutter es über sich gewinnt, daran zu denken, in ihren Jahren
daran zu denken —«

»Schau sie dir doch an, Junge,« sagte Springe lächelnd, »und dann
wiederhole das von den Jahren.«

»Einerlei. Und gerade ~du~ und sie. Spürt ihr denn nicht die Indezenz,
die darin für mich liegt?«

»Was sollen wir spüren?« fragte Springe verblüfft. »Was liegt für dich
darin? Ja, mit wem sprech’ ich hier denn eigentlich? Hans, Hans, wach
auf, es ist doch dein alter Freund, der vor dir steht.«

»Ein Freund, der im Begriff ist, sich in meinen Vater zu verwandeln.
Ein Freund, mit dem ich geschwärmt habe, mit dem ich gezecht habe,
mit dem ich meine Liebesaventiuren beraten habe; der mir wie ein
Gleichaltriger war. Und diesen Gleichaltrigen, diesen Kameraden der
Jugend soll ich mir vorstellen als — als — den Gatten meiner Mutter?
Wird es dir jetzt klar, was ich mit dem Worte ›Indezenz‹ aussprach?«

Heinrich Springe war blaß geworden.

»Nein,« sagte er und zog die Augenbrauen zusammen, »das wird mir
~nicht~ klar. Aber es schwant mir ziemlich klar, daß du da draußen dein
Liebesempfinden verloren oder — verhandelt hast.«

»Möchtest du mir irgend etwas unterschieben?« brauste Hans auf. Die
Szene, die er soeben erst mit Hannes erlebt hatte, stand ihm so
greifbar vor Augen, daß er meinte, auch der andere müsse sie sehen. Das
brachte ihn außer sich.

»Ich denke, ich spreche ganz deutlich,« erwiderte Springe, »und so
offen, wie es sich unter Männern ziemt. Du scheinst mir überhaupt den
wahren Kern des Wortes Liebe noch gar nicht entdeckt zu haben. Ja,
glaubst du denn, die Dezenz von Liebe und Eheliebe wäre unterscheidbar?
Mein Junge, wer die Indezenz hineinträgt, das seid ihr! Ihr mit eurem
lächerlichen Grenzregulieren und Schematisieren der Frauengefühle,
die nach bestimmter Frist so schnell als möglich mit Anstand und
Geräuschlosigkeit zu ersterben haben. Ich will dir was sagen: ich wäre
in diesem Falle so geschmacklos, auf die ganze sogenannte Liebe zu
pfeifen.«

»Der Ausdruck macht dir im Rahmen dieser Unterhaltung alle Ehre.«

»Nein, Hans,« sagte Springe schnell, »so dürfen wir beide nicht
miteinander verhandeln. Ich habe dich falsch verstanden und bin übers
Ziel geschossen. Aber sieh, wir sind alle Menschen. Deine Mutter und
ich, du und Hannes. Und deshalb bleibt uns nichts, als menschlich
zu fühlen. Das aber ist doch das Schönste. Wir fühlen, daß wir uns
lieben, und wir lieben uns. Wo wir das rein und wahr erkennen, da
fällt jede falsche Scham ab. Da versinkt das künstliche Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern. Da stehen nur noch liebende Menschen neben
liebenden Menschen.«

Er durchmaß das Zimmer und kehrte zu dem Schweigenden zurück.

»Hans,« und das alte, strahlende Lächeln stand auf seinem Gesicht, »als
ich — damals — deine frische, ringende Jugend antraf und dein Mentor
wurde, da wurde ich es, um deinem Leben gerade dieses Ziel zu geben. Du
solltest ein echter Mensch werden, durch jeden Firnis hindurchschauen
lernen und mit klingendem Spiel noch ins Alter einmarschieren wie der
Soldat ins Himmelreich. Jedem aber das Seine! Auch deine Mutter und
ich nehmen das für uns in Anspruch, nicht weil wir älter sind, sondern
gerade weil wir uns in dieser Beziehung euch immer gleichaltrig dünken
werden. Mein lieber, alter Junge, in unseren Jahren ist der Vater nicht
nur Vater, sondern auch Bruder, Freund, Kamerad. Das alles, und nur
das, siehst du in mir. Und deine liebe, kleine Braut findet in ihrer
Mutter auch eine Schwester.«

»Meine — Braut? Von wem sprichst du denn?«

»Herr Gott, sei doch nicht so offiziell! Von Hannes sprech’ ich.«

»Dann gestatte, daß ich dich berichtige. Fräulein Stahl und ich denken
nicht an eine Heirat.«

Heinrich Springe trat ein paar Schritte zurück. Dann streckte er die
Arme aus, kam vor und rüttelte seinen Gast an den Schultern.

»Hans —«, er suchte nach Worten, »Hans! Auf der Stelle sagst du mir,
daß du lügst. Ich will nicht wissen, was zwischen euch vorgefallen ist.
Aber daß du es wieder gut machst, und wenn es dich die Zeit deines
Lebens kostet. Eine Träne von ihr ist mehr wert, als der ganze Plunder
deiner Errungenschaften. Sag es; auf der Stelle sag es.«

»Bitte sehr,« versetzte Hans und machte sich kurz los. »Der Vater
spricht etwas vorzeitig aus dir. Ich wüßte nicht, daß ich dir über mein
Tun und Lassen irgendwelche Rechenschaft schuldig wäre. Ich lebe mein
Leben, du — deins.«

»O du armer Junge,« sagte Springe und ließ die Arme sinken, »du armer,
verblendeter Tor!«

»Für heute ist wohl unsere Unterhaltung zu Ende,« erwiderte Hans und
ging zur Tür.

Springe schaute ihm traurig nach.

»Du hast noch etwas vergessen,« sagte er ernst, nahm ein Buch vom
Schreibtisch und brachte es ihm. »Das gehört mir nicht.«

Dann fiel die Tür zwischen ihnen ins Schloß.

»Er wird durch eine bittere Schule gehen,« murmelte der
Zurückbleibende, »und der arme, blinde Narr reißt sich selbst die
Schwungfedern aus, um eine fremde Sprache schreiben zu lernen, die er
nie sprechen lernt.« — —

Hans Steinherr war, das Buch in der Hand, ziellos durch die Stadt
gewandert. Eine unsagbare Leere spürte er in seiner Brust, ein
quälendes, schmerzendes Heimverlangen. Aber er wollte es vor sich
selbst nicht Wort haben. Was wußten die hinter ihm von seinem Ehrgeiz?
Wer nicht mit ihm war, der war gegen ihn. Für den Philister sind die
Höhen nicht getürmt, dem behagt es nur in der Niederung wie dem Frosch
im Teich. »Ah, vorwärts,« sprach er sich Mut zu, »mit leichtem Gepäck
marschiert es sich am besten. Wenn ich wiederkomme, sollen sie zu mir
aufblicken.«

Er war durch das Rheintor gegangen, über die Schiffsbrücke, und
wanderte durch die Rheinwiesen, an den Erlen- und Weidenbüschen vorbei.
Plötzlich zuckte er zusammen und griff nach dem Buch. Es war ihm
eingefallen, daß er an dieser Stelle sein erstes Gedicht gedichtet
hatte. Hier — hier hatte er zum ersten Male seine Jugend verspürt.
Begierig führte er das Buch dicht unter die Augen.

Es war dunkel geworden. Fern über Neuß stand ein Wetter. Schmutziggelbe
Streifen zogen sich am schwarzbewölkten Himmel entlang. Aber die
Widmung, die vermochte er noch zu lesen.

»Meinem Mentor — Telemach.«

Der Mentor hatte auf diesen Telemach freiwillig verzichtet. Und die
Liebe auf ihren Sänger ...

Ein Schwung — und das Buch klatschte in die Wogen des grollenden Rheins.

Da schwamm ein Stück Jugend — — —.

[Illustration]




Zweites Buch




Erstes Kapitel


Die Nacht ist herabgesunken auf das schweigende Nordmeer.

Noch lustwandeln auf den Promenadendecks des Luxusdampfers fröhliche
Menschen in heiterem Geplauder, und aus den Rauchsalons schallt das
Lachen lustiger Zecherrunden. Aber die Macht der Gewohnheit berührt sie
an der Schulter, und die Menschenlust wird müde, die sich nur an sich
selbst zu entzünden vermag in der lauten Vielheit. Das Leben erlischt
über der lautlosen See.

Auf Achterdeck lehnt eine Gestalt gegen die Brüstung und träumt in die
schaumweiße Kielspur nordische Märchen hinein. Scheu ist der Schlafgott
an dem Manne vorübergegangen, als spürte er den Widerpart der alten,
starken Götter, die in der Nacht über das einsame Nordmeer schweben.
Und auch der sinnende Mann spürt ihre Gegenwart. Das Wunderbare,
Rätselvolle, Nie-Gelöste in Luft und Wasser. Und seine Menschenseele
möchte sehnend sich dehnen in dem unsagbaren, schmerzlich süßen
Empfinden und unsichtbare Bande sprengen, um zu verschmelzen mit der
Allmutter Natur, und sie ringt vergeblich nach einem armseligen Wort ...

»Gute Nacht, Herr Doktor!«

Der Träumer fuhr herum und blinzelte mit den Augen in den Lichtstreifen
der Schiffslaterne. »Sie sind noch auf, gnädige Frau? Sie werden morgen
das Frühstück verschlafen.«

»Selbst auf die Gefahr Ihrer Ironie hin.«

»Meiner Ironie —? Was hätte wohl meine Ironie damit zu tun?«

»O, bitte, keine Entschuldigung. Daß Sie sich über die ganze
Schiffsgesellschaft lustig machen —«

»Pardon, meine Gnädige, ich denke nicht daran.«

»Nun also, Sie denken nicht einmal daran; das wäre Ihnen schon zu viel
der aufgewandten Ehre. Sie verachten sie ganz einfach.«

»Sie gefallen sich heute in starken Ausdrücken, gnädige Frau. Ich tue
weder das eine noch das andere, was Sie mir unterstellen. Wenn ich
mich während der Nordlandsfahrt, die leider ihren Kurs nun wieder heim
nimmt, für mich gehalten habe, so bedeutete das keinerlei Affront gegen
die Reisegesellschaft, so wenig, als sie mich affrontieren kann. Keine
Berührungspunkte zu finden, ist doch kein Verbrechen.«

»Weshalb suchen Sie sie nicht?«

»Meine gnädige Frau, ich bin trotz meiner verhältnismäßig jungen Jahre
viel auf Reisen. Wenn ich den Gang des gesellschaftlichen Lebens
beobachten wollte, könnte ich zu Hause bleiben. Aber gerade weil ich
anderen Stimmen, unverfälschten und ergreifenderen, lauschen wollte,
zog es mich aufs Meer. Da haben Sie den Unterschied. Frühstücken,
dinieren, soupieren, Musik oder ein Spielchen machen und von Zeit
zu Zeit einen Erholungsblick in die Natur tun — ja, dazu brauche
ich nicht nach dem Nordkap zu segeln. Eine Reihe von festlichen
Veranstaltungen finde ich überall. Wenn ich könnte, wie ich wollte, so
ließ’ ich mir hier auf dem Achterdeck ein primitives Bett aufschlagen,
nähme hier ganz nebenbei meine Mahlzeiten ein und rührte mich im
übrigen nicht von der Stelle.«

»Ohne jede Unterhaltung?«

»Ich plaudere den ganzen Tag, wenn auch wortlos. Und wenn ich nicht
plaudere, so staune ich.«

»Über was, Herr Doktor?«

»Über das, was mir die Elemente zu sagen haben.«

»Und was sagen sie Ihnen gerade jetzt, Herr Doktor?«

Hans Steinherr blickte lächelnd die elegante Fragerin an, die, den
Saum ihrer reichen Abendtoilette gerafft, auf den Spitzen der weißen
Glacéschuhe stand und in die schäumende Kielspur sah.

»Hören Sie es nicht selbst? Sie wundern sich, daß die große Weltdame
ihre Nachtruhe einer Kaprice opfert und sich einen Schnupfen holt, um
ein Viertelstündchen Naturkind zu spielen!«

»Das kann nicht alles sein,« erwiderte sie, »damit vertreiben Sie mich
nicht. Haben Sie keine stärkere Beschwörung?«

»Wenn Sie sie hören wollen?«

»Ich will.«

»Sie wissen, es ist die erste Reise, die das Schiff macht. Es ist seine
Hochzeitsreise, seine Vermählung mit dem Meere. Und nun hat sich die
Nacht gesenkt und die Neugier hat die Augen geschlossen. Verstehen Sie
jetzt, was das Meer wünscht? Es wünscht, daß man die Mysterien der
Brautnacht ehrt und das Schiff allein läßt in den Umarmungen der See.
Schnell, schließen Sie schamhaft die Augen und fliehen Sie in Ihre
Kajüte.«

»Und Sie?«

»O, ich — —. Nehmen Sie an, ich kenne in diesen Dingen keine Scham.
Nehmen Sie an, ich sehe darin nur die Kraft und den Stolz der Kraft.
Alles das, was wir Menschenkinder verloren haben und was ich für meine
Person so gern wiedergewinnen möchte. Da! Da! Schauen Sie, wie die
Welle das Schiff bei der Flanke packt. Wie das Schiff zittert und in
die Umarmung hineintaucht. Was liegt ihm an dem Flüstern, das über die
Wasser läuft! Die Wasser verrinnen ... Gute Nacht, gnädige Frau, es ist
Zeit, daß Sie zu Bett gehen.«

»Lassen Sie mich hier. Die Nacht ist herrlich.«

Er gab es auf, sie zu verscheuchen, und zog einen bequemen Triumphstuhl
aus Segeltuch heran, in dem sie sich ausstrecken konnte. Dann wickelte
er seinen Plaid um ihre Schultern und hüllte ihre Füße in eine
Reisedecke.

»Ah — —« machte sie und rekelte sich wohlig.

Schweigend lehnte er wieder an der Brüstung und lauschte in die
schwarzblaue See unter dem endlosen Nachthimmel. Aber eine Unruhe trieb
in seiner Stimmung umher wie ein unter dem Wasserspiegel verborgener
Wirbel. Er fühlte, daß er beobachtet wurde, und diese Empfindung lenkte
ihn von der Vertiefung des Genusses ab.

»Weshalb sind Sie nur ein solcher Sonderling?« hörte er die
Frauenstimme wieder neben sich fragen. »Wenn Sie wollten, könnten Sie
der vollendetste Weltmann sein.«

»Ich mache weder auf das eine, noch auf das andere Anspruch, gnädige
Frau.«

»Sie haben Trauriges im Leben erfahren?«

»Ich — —? Ich glaube, es war umgekehrt. Das Leben hat von mir Trauriges
erfahren. Und das ist schlimmer.«

»Bah, man muß das Leben zuweilen =en canaille= behandeln, damit’s
einmal einen anderen Ton von sich gibt.«

»Sie spielen jetzt die Frivole wie vorhin das Naturkind.«

»Wenn Sie das Spielerei zu nennen belieben —. Für mich ist es
jedenfalls keine Spielerei. Vielleicht liegt darin unsere individuelle
Verwandtschaft, die uns von der Allgemeinheit entfernt: wir haben,
jeder für seine Person, unsere Separatwünsche.«

»Sie sind bei gutem Humor, gnädige Frau. Ich kann mir nicht vorstellen,
daß Sie sich lange mit Wünschen abgeben. Für Sie gibt es doch wohl nur
Erfüllungen.« Er sah mit seinem leisen, ironischen Lächeln nach ihr
hin, und es war ihm, als hätte es in ihren schwarzen Augen aufgeflammt.

»Ihre Komplimente haben einen Beigeschmack, Herr Doktor; aber besser
Beigeschmack als das fade Einerlei.«

»Das ist eine Freinacht hier oben. Die Kultur liegt unter Deck und
schnarcht.«

»Sie sehen, daß ich nicht unter Deck liege. Ich verlange daher auch
durchaus nicht nach Rücksichtnahme. Erkennen Sie das an?«

»Sie ebnen mir so sehr die Wege zur Erkenntnis, daß es eine
Rücksichtslosigkeit wäre, sie nicht zu betreten.«

»Wohlan? Und Sie machen mir nicht den Hof?«

»Das wäre doch paradox. Ich halte Sie für eine so schöne und so kluge
Frau, daß Sie alles Recht haben, sich nach Laune zu langweilen. Daß ich
Sie daran nicht hindere, das ist die eine Seite der Freinacht.«

»Und die andere Seite?«

»Die andere? Logischerweise muß sie darin bestehen, daß man sich
gegenseitig nicht langweilt. Auch nicht mit Hofmachen. Die Woge
schwillt empor, und das Schiff stürmt ihr entgegen. Die Schriften der
unendlichen Natur sind alle so einfach. Nur wir Endlichkeitsgeschöpfe
suchen sie zu komplizieren und haben die wenigste Zeit dazu.«

»Sie reden wie ein dichtender Philosoph oder wie ein philosophischer
Dichter.«

»Das sind beides Leute, die ihren Beruf verfehlt haben, denn sie
vergessen in ihrer Doppelbeschäftigung das eine über dem anderen.«

»Und so haben Sie es auch gemacht? In die Sterne geguckt und dabei
Blumen zertreten?«

»O, Eva, Eva! Das Paradies und die Schlange! Und wenn ich nun, um Ihren
Wissensdurst zu stillen, ja sagte?«

»Ich könnte Ihnen zum Äquivalent aus meinem Leben erzählen.«

»Meine Gnädige, ich bin ein ebenso schlechter Beichtvater wie ein
uninteressantes Beichtkind.«

»Wer weiß — —?« meinte sie zögernd und ließ ihren Blick aufmerksam
über ihn hinstreifen. »Es stände ja nichts im Wege, daß Sie sich in
beiden Beziehungen besserten. Vielleicht habe ich den Ehrgeiz, Sie zu
entdecken.«

Er verbeugte sich zeremoniell und schwang sich auf die Schiffsbrüstung.

»Ich bin ganz Ohr, meine gnädige Frau,« sagte er, als er seinen Platz
eingenommen hatte.

»Der Vorbereitungen bedurfte es wirklich nicht,« versetzte sie
leichthin. »Die Geschichte ist kurz und verständlich. Ich war zehn
Jahre lang an einen kranken Mann gefesselt, der mich tyrannisierte.
Einen Schritt aus dem Zimmer, und ich stand mitten in der Welt. Aber er
ließ nicht zu, daß ich den Schritt auch nur einmal tat. Aus Eifersucht,
aus Selbstsucht. Was nutzte mir da alle Schönheit und aller Geist, wenn
ich meine Waffen nicht in den Kampf tragen konnte! Draußen rief das
Leben, und in mir rief das Leben, und neben mir hielt mich der Kranke
an der Kette.«

»Und Sie kamen nie darauf, Schönheit und Geist zu benutzen, um dem
Kranken eine Welt aufzubauen?«

»Ich war ja selbst krank. Krank danach, mir selbst eine Welt
aufzubauen. Glauben Sie, ich wollte mich besser machen als ich bin?
Wenn nichts anderes, so sollen Sie wenigstens den Mut der Wahrheit bei
mir anerkennen. Zu einer duldenden Samariterin tauge ich nicht.«

»Ihr Gatte starb?«

»Vor einem Jahre. Nun bin ich auf der Fahrt ins Leben.« Sie stützte
sich auf den Arm und sah ihn mit ihren strahlenden Augen fest an.
»Herr Doktor, lassen Sie es meine erste Tat sein, daß ich Sie Ihren
Grübeleien entreiße, daß ich Sie ins Leben zurückführe, in das Sie
hineingehören wie ich. Seien Sie mein Herold!«

»Ich bin nicht gewohnt, die Posaune zu blasen,« murmelte Steinherr und
verließ seinen Platz.

»Aber die Zither zu schlagen. Verstellen Sie sich nicht; ich habe die
Künstlernatur gleich in Ihnen entdeckt.«

»Die Zither?« Es lag ein spöttischer Ton in seiner Stimme. »Meine
verehrte Forscherin, alle Märchen beginnen mit: ›Es war einmal ...‹
Sie reden von Märchentagen der Jugend, in denen jeder ein Instrument
spielt. Aber Sie tun recht daran, von Märchen zu sprechen. Ist das
nicht märchenhaft um uns her?«

Er deutete in die nächtliche See hinaus, die sich wenige Meter vom
Schiff wie ein Geheimnis im Dunkel verlor.

»Dort liegt das Asenreich, das einst dahin mußte vor ›Buch und Kreuz
und Mönchsgebet‹, wie Scheffels Waldfrau singt. Aber es liegt nur im
Traum, wie alles, was einmal war. Der Gedanke ist ewig. Und eines Tages
werden sich die Menschen zurückbesinnen auf die Tage der Kraft und
Ursprünglichkeit.«

»Und Sie werden dazu die Zither schlagen.«

»Ich? — Ich bin ein stagnierendes Wasser, das langsam aber sicher
verschwindet.«

»Mein Herr Doktor: Sie und Sentimentalitäten? Ich nehme an, das ist ein
bißchen Pose.«

»Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Wenn es Sie nur unterhält.«

»Ein stagnierendes Wasser — —,« wiederholte sie. »Mir fällt ein,
ich wanderte im Sommer einmal an einer wasserarmen Stelle des
Werraflüßchens. Da hatte sich ein stagnierendes Wasser gebildet, und
ein graues, moosiges Gespinst überzog die ganze Fläche. Das war ein
trauriger, trostloser Anblick. Und als ich wenige Tage darauf wieder an
den Ort kam, traute ich meinen Augen nicht. Das Grau war verschwunden,
Sonne lag auf dem Wasser, und der Fluß — ja, denken Sie — der Fluß
blühte! Tausende und aber Tausende weißer Blumen bedeckten ihn wie
ein prangender Sternenmantel. Der Gott war in das stagnierende Wasser
gefahren und hatte es gezwungen, zu leben, seine Wunder zu offenbaren.
Das war eine seltene Überraschung. Seit dem Tage, Herr Doktor, geben
mir die stagnierenden Wasser am meisten zu denken. Es sammelt sich
darin in der Stille eine ungeheure Materie, und fährt der Gott hinein,
so gibt es ein überwältigendes Prangen ...«

»Sie schlagen ja selbst die Zither, gnädige Frau.«

»O nein, ich bin nur eine begeisterte Zuhörerin. Heraus und heran mit
allem, was das Leben schmückt!«

»Die Sonne,« sagte Steinherr leise und wies in die Ferne, die einen
fahlen, roten Streifen zeigte, der rasch anwuchs und die Linie
des Horizontes scharf markierte. »Sonnenaufgang,« wiederholte er.
»Ah, sehen Sie, wie im Osten Funken aufspringen und sich jagen und
vereinigen. Jetzt ringeln sich feurige Schlangen blitzschnell um den
Horizont. Jetzt schießen Strahlengarben empor, fliehen sich, suchen
sich und verdichten sich zu einem golden umsäumten Purpurbaldachin,
unter dem die Majestät der Sonne wie das segnende Auge Gottes
emporsteigt.«

Er berauschte sich an dem Schauspiel der Natur und an seinen eigenen
Worten.

»Ich freue mich mit Ihnen,« sagte die Frau im Triumphstuhl und streckte
in heimlichem Kraftbewußtsein die Glieder. Doch sie blickte nicht über
das Meer. Sie sah nur den Enthusiasmus des sonst so unnahbaren und
überlegenen Mannes und forschte, wie weit ihr Anteil an der Erweckung
ginge.

»Ja,« fuhr Steinherr hastig fort, »eine wundersamere Stunde heiliger
Morgenfrühe kann es hienieden nicht geben. Wie das Schiff so sanft und
glatt dahineilt! Als wollte es die Weihe des Schauens durch nichts
unterbrechen und den Gedanken an seine Existenz verschwinden machen vor
dem Atmen der Weltenseele.«

»Wo nehmen Sie die Worte her — —?«

»Ist das so schwer? Da stehen sie ja alle aufgezeichnet, wohin Sie
blicken, da, da und da! Dort tritt auch die Felsenküste Norwegens
wieder hervor. Und nun liegen sie vor uns in ihrer Weltabgesondertheit,
die granitenen Häupter und Zacken, von der See bedrängt und zerrissen,
und das schwerlastende Einsamkeitsgefühl ausströmend, das unser
Altvorderen bewog, den Sitz Odins und Asathors, des Hammerschwingenden,
in das wilde Reich Norge zu verlegen. Das Land der Asen ... Soweit das
Auge reicht, Wasser und Felsen. Das Geschlecht der Menschlein nirgend
zu verspüren. Ein Wasserrabe streicht einsam über die Flut. In der
Ferne ein Zug wilder Eiderenten. Sonst nichts Lebendiges ...«

»Nichts Lebendiges?«

Er wandte sich nach der Fragerin um. Der Ton hatte ihn stutzig
gemacht. Und nun sah er die kapriziöse Reisegefährtin, die mit ihm
eine Nacht Kameradschaft geteilt hatte, mit der er wie mit einem
nächtlichen Schemen Rede und Antwort getauscht hatte, im Dämmer des
Morgens vor sich als ein Wesen von Fleisch und Blut, als ein üppiges,
bestrickendes Frauenbild. Er sah die elfenbeinfarbene Haut, das vom
Wind über die Stirn gewehte schwarze Haar, die großen, schwarzen Augen,
die fest seinem Blick begegneten und ihn zwangen, stillzuhalten. Und
den blaßroten Mund, der ihm am rätselvollsten schien.

Seine überwachten Sinne, von der gewaltigen Schönheit der Natur
überwältigt, strafften sich mit verdoppelter Kraft. Was er sprach,
empfand er nicht. Er empfand nur das neue Bild in der Einsamkeit der
Frühe.

»Was soll das?« hörte er seine Stimme, »was wollen Sie mit der Frage?«

»Wissen, ob Sie glauben, ich sei neben Ihnen gestorben.«

Sie sahen sich immer noch an, mit demselben festen, fast finsteren
Blick. Er vornüber gebeugt, die Hände an der Lehne ihres Stuhles; sie
ausgestreckt, regungslos daliegend.

Da atmete sie tief auf. Und mit einer jähen Bewegung hatte er seine
Hände unter ihr Haar geschoben.

Noch eine Sekunde starrten sie sich an, ganz nah, ganz dicht — — Und
sein Mund preßte sich auf ihre Lippen, die sich unter dem Drucke
öffneten und seinen Kuß tranken. — —

Dann sprang sie auf, drückte die Hand auf die Augen, ließ den Arm
sinken und strich mechanisch die Toilette glatt, ging bis an die
Brüstung und blickte über das Meer.

Als sie sich umwandte, war sie ruhig.

»Kommen Sie, wir machen Dummheiten, lieber Freund! Bringen Sie mich bis
zur Kajütstreppe. Ich danke Ihnen. Gute Nacht! Nein, Guten Morgen!
=A bientôt=!«

»Auf Wiedersehen, Frau Bettina Wittelsbach — —«

Sie lächelte vor sich hin, als er ihren vollen Namen aussprach. War es
doch, als ob er damit beweisen wollte, daß auch sie ihm aus dem Kreise
der Reisegenossen längst aufgefallen sei.

Als sie gegangen war, blieb er einen kurzen Moment emporgerichtet auf
dem Fleck stehen. Dann schwand das Leuchten aus seinen Augen, die
ironisierende Kälte kehrte in den Blick zurück, und mit langsamen
Schritten begab auch er sich in seine Kajüte, um die Vorgänge der
Nacht zu verschlafen. Als kurz nach sieben Uhr die Trompeten durch das
Schiff den Morgengruß schmetterten und zum Frühstück luden, erwachte
er frisch und gekräftigt. Nur in seinem Blute war ein leises Vibrieren
zurückgeblieben. Aber er empfand es nicht unangenehm.

Während der Toilette fiel sein Blick in den Spiegel. Heute morgen
betrachtete er sich aufmerksamer als sonst.

Hm, mein guter Hans, dachte er nachdenklich, die Jahre sind schneller
über dich gekommen, als du über sie. Mit achtundzwanzig Jahren pflegt
man in der Regel noch nicht nach den ersten grauen Haaren an den
Schläfen auszuspähen.

Der Spiegel warf das Bild eines scharf ausgearbeiteten Kopfes zurück,
aus dem die weiche Rundung der Jugendformen längst verschwunden war.
Der wehende Schnurrbart beschattete den zum Sarkasmus neigenden Mund.
Die Stirn war breit, und die Wölbungen erschienen wie gemeißelt. Nur
in den dunkelgrauen Augen loderten zeitweilig noch die alten, heißen
Flammen auf, wie Wachtfeuer der Jugend.

Ob man mich in Düsseldorf noch wiedererkennen würde? flog es ihm
plötzlich durch den Sinn. Und ich die Menschen dort? In fünf Jahren
ändert sich die ganze Welt von Kopf bis zu Fuß. Das ist eigentlich gar
nicht auszudenken. Also denken wir doch nicht immer daran ...

In einem leichten Promenadenanzug ging er an Deck, ließ sich eine
Viertelstunde lang die frisch aufspringende Brise durchs Haar wehen und
begab sich dann in den Frühstückssalon. Mit dem ersten Blick stellte er
fest, daß Frau Bettina Wittelsbach noch nicht sichtbar geworden war.
Erst gegen Mittag gewahrte er sie in einem Kreise lebhaft flirtender
Berliner Herren. Sie trug ein fest anliegendes russisch-grünes
Tuchkleid, denn die Temperatur war plötzlich gesunken, und der Wind
kam in kurzen, kalten Stößen aus Nordnordwest. Als er gleichmütig
vorüberschritt und höflich den Hut lüftete wie alle Tage, ließ sie die
Gesellschaft stehen und kam auf ihn zu. »Guten Morgen, Herr Doktor! Ich
wünsche Ihnen das heute schon zum zweiten Male.«

»Guten Morgen, meine gnädige Frau! Ich hoffe, daß die Freinacht in
Ihrer zarten Konstitution keine Spuren zurückgelassen hat.«

»O doch,« sagte sie ruhig und hielt seinen Blick aus. »Aber das wird
Sie schwerlich interessieren.«

»Mache ich einen so wenig Vertrauen erweckenden Eindruck, meine gnädige
Ungnädige?«

»Ich habe das Frühstück richtig verschlafen,« lenkte sie ab, »wie Sie
es mir prophezeit hatten. Und auch nachher konnte ich mich kaum zum
Aufstehen zwingen. Ich habe selten den halbwachen Zustand als so schön
empfunden.«

»Geträumt, gnädige Frau?«

»Ja, geträumt.«

»Darf man Näheres wissen?«

»Nein, man darf nichts Näheres wissen.«

Er nahm ihre Hand, die in seinem Arm lag, und führte sie an die Lippen.
Es lag keine Veranlassung zu einer Huldigung vor, aber sie empfanden
beide das Unzeitgemäße durchaus nicht.

»Wie mir vorhin der Steward mitteilte, wird das zweite Frühstück um ein
Uhr heute mehr den Charakter eines Diners tragen. Die Windstärke steigt
verdächtig. Da sorgt der kluge Hausvater vorzeitig für die nötige
Widerstandsfähigkeit. Sehen Sie nur, wie boshaft die kleinen Wellen
hüpfen. Jede Welle eine kleine Grimasse. Das kann zum Abend lustig
werden. Sie fürchten sich doch nicht, gnädige Frau?«

»Ich ernenne Sie einfach zu meinem Ritter. Da bin ich aller Furcht
ledig.«

»Befehlen Sie, daß ich meinen Dienst bereits bei der Tafel antrete?«

»Wie? Ist es möglich, Herr Doktor? Sie wollen Ihren einsamen Eckplatz
aufgeben und gar eine Tischdame wählen? Das ist sehr schmeichelhaft
für mich. Nur eine Bedingung: Fragen Sie mich nicht immer, ob ich
befehle. Wenn ich befehlen dürfte, hätte ich doch nicht die Freude,
zu sehen, daß man mir freiwillig etwas entgegenbringt. Kennen Sie uns
Frauen so wenig, daß Sie nicht wissen, worin unser größter Triumph
besteht?«

Der sarkastische Zug erschien um seinen Mund.

»Sie treffen ganz meinen Geschmack, gnädige Frau. Auch ich sehe den
besonderen Liebhaberwert einer Sache im Geschenk, in der persönlichen
Widmung. Also auf Gegenseitigkeit, wenn Sie geruhen.«

Sie nickte kurz, als dächte sie schon an anderes.

Dann riefen die Trompeten zu Tisch, und unbekümmert um die verwunderten
Gesichter der Tafelrunde pokulierten sie heiter miteinander, und mit
der heiteren Gravität des alten Kavaliertums, das mehr und mehr aus
der Zeit verschwindet und doch durch die Form auf den Inhalt wirkt,
bediente Hans Steinherr seine Dame. Seine Art fiel ihm selbst auf.
Woher hatte er sie nur? Und vor seinen Augen stand Herr Friedrich
Leopold von Springe, stand Düsseldorf, das gastfreie, stand das
schlanke, scheue, hingebungsvolle und aufbegehrende Mädel, das in
seligen Zeiten auf den Namen Hannes hörte ...

Düsseldorf — Burg Springe — Pempelfort — — die Worte wurden zu
Begriffen, die Macht über ihn gewannen, die sein ganzes Denken und
Empfinden zu absorbieren drohten. Er wurde schweigsam und stierte in
sein Glas.

»Mein Herr Ritter — —« erinnerte neben ihm die schöne Frau.

Da nahm er sich zusammen und wurde, wie er zu Beginn der Tafel gewesen
war. »Ich rate Ihnen, sich für ein paar Nachmittagsstunden hinzulegen,
gnädige Frau. Der Himmel ist zwar noch klar, aber die See beginnt
verdächtig unruhig zu werden. Sollten wir zum Abend Sturm bekommen, ist
es doch um Ihre Nachtruhe geschehen.«

»Weil Sie mich nicht für wetterfest halten?«

»Nein,« sagte er, »weil ich Ihnen auch diese Nacht entreißen würde, um
Sie auf Deck zu halten. Weil ich Sie mit Beschlag belegen würde, damit
Sie das Meer in der Leidenschaft sehen. Das ist ein guter Maßstab,
schöne und verehrte Herrin aller Kulturstätten.«

Sie hatte sich von der Tafel erhoben, zum Gehen bereit.

»Hoffen wir, daß Sturm kommt,« sagte sie leise, verneigte sich gegen
ihn und suchte ihre Kajüte.

Auf den Promenadendecks stand die Reisegesellschaft in Gruppen umher.
Man lachte, schwatzte und fühlte sich zu Hause, als ob man statt der
Schiffsplanken den Parkettboden der heimatlichen Salons unter den Füßen
hätte. Morgen abend hoffte man in Hamburg zu landen, und noch einmal
wurden die Eindrücke der Fahrt rekapituliert. Wer genauer hinzuhören
verstand, konnte wahrnehmen, daß die bleibendsten Eindrücke nicht durch
die Wunder der Natur, daß sie bei der Mehrzahl dieser Modereisenden
durch die — glänzende Verpflegung an Bord geschaffen worden waren. Ein
rundlicher, beweglicher Herr, dem die Wonne des Lebensgenusses auf den
glattrasierten Wangen geschrieben stand, ereiferte sich am meisten.

»Ja, ja, meine Herrschaften, für unser Zeitalter gibt es keine Höhen
und Tiefen mehr. Flugs setzt sich so ein Techniker hin, schlägt die
Brücken und gleicht alles aus. Ist denn das ein einsam dahinsausender
Dampfer, auf dem wir uns befinden, der uns allen menschlichen
Wohnstätten entführt? Ein erstklassiges Hotel hat uns seine Pforten
geöffnet und führt uns mit jeder erdenklichen Selbstverständlichkeit
einen Luxus vor Augen, wie er selbst dem Verwöhntesten unter uns nicht
vollendeter an Land geboten werden könnte. Glauben Sie mir, meine
Herrschaften, ich verstehe mich ein wenig darauf. Aber das versichere
ich Sie: Zeit meines Lebens, wo es nur angeht, werde ich das Reisen
per Dampfer vorziehen. =D=-Zug mit Speisewagen ist ein überwundener
Standpunkt.«

Hans Steinherr schlenderte weiter. Auf dem Sonnendeck war es ruhiger.
Hier ließ er sich nieder und beobachtete das aufgeregte Hasten der
vor Stunden noch so glatten See. Dann verfiel er, ohne sich dagegen
zu wehren, in eine Art Halbschlaf. Ein paar Stunden wohl mußte er
verträumt haben. Er hörte zwei Matrosen miteinander verhandeln, und als
er aufblickte, sah er, wie der eine verstohlen auf einen dunklen Punkt
am Horizont deutete, der sich rasch vergrößerte und sich mehr und mehr
zur Wolke auswuchs.

Sturm in Sicht!

Es wurde dunkel. Schwarze Schleierfetzen flatterten, wie von einem
boshaften und schadenfrohen Meeresgesindel emporgeblasen, am Himmel
auf, und die See machte einen Buckel wie ein fauchender Kater. Eine
steife Brise sprang auf. Plötzlich schwieg sie. Einen Augenblick
Stille ringsum; nur die See tanzte weiter in unregelmäßigem Hüpfwalzer.
Da — hui! — pfiff es daher, ein Windstoß, so wütend und kreuz und
quer einherspringend, daß die Passanten an Deck jäh ihren Stützpunkt
verloren. Ein Flüchten begann nach den Kabinen, den Salons. Nur wenige
hielten sich an Deck. Eine Leidenschaft war in ihnen erwacht nach
vieler, vieler frischer Luft ...

Wieder setzte ein Windstoß ein; heftiger als der erste. Hans Steinherr
zog seinen Wettermantel an und stülpte die Kapuze über die Ohren. Dann
stieg er die Stufen zum Promenadendeck hinab, um sich die Tragikomödie,
die hier bereits ihren Anfang genommen hatte, aus der Nähe anzusehen.

»Gottlob, daß ich Sie finde. Ich hätte Sie in Ihrer Vermummung fast
nicht erkannt.«

»Ah — — meine Gnädige — —«

Sie klammerte sich an seinen Arm, denn der Wind packte rücksichtslos
an. Wie er, war sie in einen langen Gummimantel gehüllt, und die
Gummikapuze, die sie über den Kopf gezogen hatte, ließ nur Augen, Nase
und Mund frei.

»Ich wäre da unten verrückt geworden,« sagte sie rasch, denn der Wind
benahm ihr den Atem. »Unmöglich, in den Kabinen zu bleiben. Dort haben
sich — unsichtbare — Karussells — etabliert.«

Der nächste Windstoß warf sie hart gegen seine Schulter. Sie schrie auf.

Er lachte und faßte sie fest um den Leib. »Das war ja nur die
Ouverture. Das eigentliche Konzert soll erst beginnen. Da! Schauen
Sie hin! Da taucht der Nickelmann grinsend aus der Flut. Mit den
Flossenhänden stützt er sich auf den Kamm einer Riesenwelle, und sein
plusterndes Gesicht will platzen vor Vergnügen über den gelungenen
Streich. Sehen Sie es, schöne Sturmfrau? Jetzt — jetzt! Als rühre er
eine Pauke, so fallen plötzlich seine Tatzenschläge auf die See, und
soweit das Auge das fahle Licht durchdringt, schlagen weiße Nixenleiber
Kobolz mit den schwarz heranstürmenden Fluten, schwingen sie sich auf
die Wogenkämme, daß sie so blendend scheinen wie schneeiger Schaum,
heben sie sich bis an den Bordrand und werfen unter tollem Gelächter
den verblüfften Festgenossen Kübel voll Salzwasser über den Kopf.
Hoppla, der Guß war für uns!« Er riß Frau Bettina hoch, die unter der
Wucht des Sturzbades in die Kniee sinken wollte, und ergriff mit der
freien Hand einen Eisenring an der Bordbrüstung.

»Ich habe den Mund voll Salz,« entrüstete sie sich, »das ist ja
unerträglich.«

»Sie werden sich schnell daran gewöhnen,« beschwichtigte er. »Äußerten
Sie nicht in vergangener Nacht selbst, jeder Beigeschmack wäre Ihnen
noch lieber als das fade Einerlei? Der Himmel hat Ihre Bitte erhört.«

»Spotten Sie nicht, Sie gräßlicher Heide. Da kommt eine neue
Sturzwelle.«

»Diesmal gilt es den anderen. Schwupp — und sie hat ein Dutzend
Triumphstühle übergossen. Empfinden Sie nicht das Groteske des
Vorspiels? Ganz wie bei den alten Meistern. Erst die Rüpelkomödie, dann
das Drama. Ach du mein lieber Gott, das Publikum hier ist ja viel zu
ungebildet für die ganze Veranstaltung, oder zu dekadent. Wenn sich die
Natur einen Witz erlaubt, nennen sie’s Gemeinheit; und wenn sie selbst
sich Gemeinheiten gestatten, nennen sie’s einen Witz. Treten Sie näher,
meine schöne Dame. Entree gänzlich frei.«

»Na,« lachte sie zornig, »Tribut scheint mir doch zur Genüge gezollt zu
werden.«

»Ja,« bestätigte er, »die Ästhetik ist vorläufig von der Tagesordnung
abgesetzt. Sehen Sie nur, wie die tadellosen Helden und Heldinnen vom
Turf und Tennisplatz sich verzweifelt winden, um ihrem Schicksal zu
entrinnen. Hilft nichts. Jetzt grassiert das reine Menschentum. Dort
ziehen flinke Stewardshände die Erblassenden aus den Salons auf Deck —
denn die Smyrnateppiche sind kostbar, und Holzplanken noch nie diffizil
gewesen. Gehen wir hin, kondolieren.«

»Um Himmels willen, hören Sie auf. Gleich wird sich der Spieß umkehren.«

»Unbesorgt. Ich setze meinen rheinischen Dickkopf auf.«

»Und ich?«

»Sie —?« gab er zurück, ließ einen Augenblick den Eisenring los, schob
ihr die Kapuze aus der Stirn und sah ihr in die Augen. »Sie sind bis
auf weiteres ein Teil von mir.«

Wieder sprühte ein Salzwasserregen über sie hin. Die Wellen fegten über
das Bugspriet; auf Vorderdeck war der Aufenthalt unmöglich geworden,
und auf Promenadendeck wurden starke Seile gezogen als Halt für die
tastenden Hände. Wie Mumien eingepackt, still und starr und frierend,
lagen die Reisegenossen in langer Reihe in den Triumphstühlen. Aber
die horizontale Lage war auf die Dauer nicht zu ertragen. Einer nach
dem anderen erhob sich wieder, mit übernatürlich glänzenden Augen, um,
wie weiland Graf Ernst von Mansfeld, stehend und in voller Rüstung
zu sterben. Und endlich schwankten sie hinweg, von samariterhaften
Matrosen geleitet.

Der rundliche Herr, der am Mittag so enthusiastisch die Wonnen der
Dampfer vor allen anderen Transportmitteln gefeiert hatte, war wie
eine Kugel an Steinherr und seiner Gefährtin vorbeigeschossen. Nun
klammerte er sich, ohne den Kopf zu wenden, mit einer Innigkeit an
die Bordbrüstung, als hätte er tiefe Geheimnisse mit der zu ihm
aufspringenden See. Als er sich endlich mit schwerem Atemzug dem Bann
des Meeres entriß, drückte er erloschenen Auges Steinherr die Hand.

»Doch, doch! =D=-Zug ist auch was Schönes. — Glauben Sie’s mir. Jetzt
versteh’ ich mich darauf.«

Ein Matrose brachte ihn unter Deck.

Die Nacht brach herein, und der Sturm tobte mit voller Kraft. Kein
Passagier war an Deck zurückgeblieben. Nur Steinherr stand mit seiner
Gefährtin an der Bordbrüstung. Er hatte ein Tau durch die Eisenringe
gezogen, so daß sie fest angeseilt gegen die Planke gedrängt waren.

Die Frau an seiner Seite sprach schon seit langem nicht mehr. Sie
trieften beide vor Nässe, und bei jeder neuen Sturzwelle spürte er, wie
sie erschauerte, wie sie sich unwillkürlich an ihn preßte. Dann beugte
er sich zu ihr hinab und sah ihr starr in die Augen. Der Wind heulte
um die fauchenden Schlöte des Schiffes herum.

»Nun, meine gnädige Frau,« fragte er leise, »was sagen Sie zu diesem
Pendant der gestrigen Nacht? Nach dem weichen Sehnen die tolle
Leidenschaft. Haben Sie ein Gefühl für die wilde Größe?«

Sie hob den Kopf, und ihre Nasenflügel vibrierten.

»O — —« stieß sie hervor, »Sie sind ein Lehrmeister — —«

»Wir Menschen müssen Künstler sein,« sagte er, »und wenn nicht mehr,
dann doch Lebenskünstler. Damit betrügen wir uns selbst, zu unserem
Heil, als hätten wir wahrhaftig Gottähnlichkeit.«

»Wir haben sie,« entgegnete sie, »wir brauchen nur zu wollen.«

Er überhörte den Einwurf. Der Künstler in ihm war geweckt.

»Was für ein Pathos liegt in dem Bilde vor uns! Man denkt nicht daran,
über den Stil zu lachen, man wird selbst pathetisch. Aber Größe
verspürt man. Wie sie aus weiter Ferne heranrollen, die Wellenungetüme,
näher und näher jagen, von anderen gefolgt. Und wie ein Kommandeur in
der Schlacht links und rechts die Regimenter an sich reißt, zum Sturm
auf die feindliche Hauptmacht, so schlingt die heranstürmende Woge
links und rechts kleinere Wellenberge in sich hinein, wächst wie eine
Lawine, bäumt sich dicht vor dem Bug des Schiffes haushoch empor, unten
die schwarzen Massen, darüber eine kristallgrüne Kappe, die wieder von
schneeweißem Gischt gekrönt, der sich in sausenden Fontänen auflöst
— heißa! jetzt fegt’s über Deck wie ein Schwarm von nadelscharfen
Pfeilen. Sind Sie getroffen, meine Allergnädigste?«

Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Der Sturm hatte ihr die
Kapuze heruntergeweht, und sie griff mit beiden Händen in den Nacken.
In ihrem schwarzen Haar glitzerten die Salzspuren wie Diamanten. Brust
an Brust standen sie.

»Wissen Sie noch, was Sie mir heute mittag zuriefen? ›Hoffen wir, daß
Sturm kommt.‹ Der Sturm ist da! Und ich warte.«

»Nein, ~ich~ warte!«

Sie küßten sich unter dem Sprühregen der See auf den Mund, auf die
Augen, und wieder auf den Mund. Kein Wort hatte Raum zwischen ihnen.
Kaum, daß sie sich sahen in der Dunkelheit. Nichts von Erblassen,
nichts von Erröten. Mitten im Meersturm: zwei Menschen.

»Wohin mit uns?«

»Wohin? Willst du vor meiner Kajütentür Schildwacht stehen?«

»O, selbst Tristan —«

Sie hielt ihm den Mund zu.

»Ja, wenn ein König Marke existierte. Nur die Gefahr entzückt. Wart’s
ab, bis sie kommt.«

»Hüte dich.«

»Hüte du dich.«

Und wieder küßten sie sich.

»Auf morgen denn.«

»Nein, nicht hier. Das wäre eine blasse Kopie. Nicht eher, als bis ich
daheim bin.«

»Du reisest weiter, ohne in Hamburg zu bleiben?«

»Übermorgen bin ich in Berlin. Vielleicht — weißt du mich zu finden?«

»Und unterdes? Das ist eine Wartezeit von Jahrhunderten!«

»Voneinander träumen. Lebenskünstler sein, wie du sagtest.«

Er zog das Tau aus den Ringen, um sie frei zu geben. Sie tat ein paar
Schritte, blieb stehen, öffnete den durchnäßten Wettermantel und
schöpfte, die Arme dehnend, Atem.

Da war er bei ihr und riß den Mantel ganz herab. »Ich muß deine Gestalt
noch einmal sehen. Ob du dich nicht in eine fischschwänzige Nixe
verwandelt hast. Das ist jetzt mein Eigentum.«

»Verteidige es,« lachte sie und wollte ihm entfliehen.

Aber er fing sie in den Armen und preßte sie an sich. Sie schloß die
Augen in der ungestümen Umarmung.

»Gute Nacht, wilder Mensch!«

»Gute Nacht, Sturmfrau!« — — — —

Am nächsten Tage sah er sie wieder. Der Morgen war sonnendurchleuchtet.

Hoheitsvoll, in eleganter, duftiger Toilette, schritt sie, wie eine
unnahbare Fürstin von einer alten Exzellenz geleitet, an ihm vorbei.
Kaum merkbar zuckte es in ihren Wimpern, als sie ihn erblickte, und die
Spitzen um den zarten Halsausschnitt zitterten eine Sekunde lang. Sie
war, wie vorher, die Dame der großen Welt.

Und Steinherr, den alten ironischen Zug um den Mund, zog mit kalter
Höflichkeit den Hut.

Als sie zum zweiten Male an ihm vorüberkam, kannten sie sich nicht mehr
....

Das Schiff war in die Elbmündung eingelaufen. Mit der einbrechenden
Flut ging es stromauf. Am Abend war der Sankt Pauli-Landungsplatz
erreicht; die Schiffsbrücken rasselten nieder und bildeten den Steg.

Hans Steinherr stand mitten im Gedränge. Die Passagiere stießen an ihn
an und machten Bemerkungen über den Sonderling, der sich durch seine
Art auch beim Abschied nicht verleugnete. Er hörte nichts.

Jetzt erschien Frau Bettina, von einem ganzen Kreise eskortiert. Er
streifte sie mit gleichmütigem Blick. Er hatte sich völlig in der
Gewalt.

Als sie neben ihm war, tat sie, als würde sie von dem Menschenstrom
gegen ihn zurückgedrängt. Wie unbeabsichtigt lehnte sie sich einen
Moment fest an seine Schulter. Da spürte er ihre suchende Hand in der
seinen. Er biß die Zähne zusammen. Sie hatte ihm die Nägel in die
Handfläche gedrückt.

Um den Wagen, der sie zum Bahnhof brachte, sammelte sich die
Gesellschaft. Sie erteilte gnädig Abschiedsaudienz. Hans Steinherr
reckte sich in den Schultern: ~Ich~ hab’ sie in den Armen gehabt!

Aus der Ferne flatterte ihr Tuch. Das galt ~ihm~: Folge mir!

Lange noch stand er an der stiller werdenden Hafenstelle. — —

[Illustration]




Zweites Kapitel


Hans Steinherr hatte es nicht sonderlich eilig gehabt, Frau Bettina
Wittelsbach wiederzusehen. Die ersten Tage in Berlin waren damit
hingegangen, eine Wohnung zu suchen und das Ameublement auszuwählen,
das dem Geschmack eines verwöhnten Junggesellen zu entsprechen
vermochte.

Er konnte nicht müde werden, die Stadt zu durchstreifen und sich die
Gegenstände Stück für Stück zusammenzuholen. So schuf er sich ein Heim,
so ruhig und vornehm in Form und Farbe, als hätte ein kunstsinniger
Geist schon seit einem Menschenalter in diesen Räumen geweilt.

Die Wohnung lag in der Viktoriastraße nahe der Potsdamerbrücke. Wenige
Schritte, und er war mitten im Leben der Großstadt; wenige Schritte
zurück, und die Brandung war verrauscht, Weltabgeschiedenheit umfing
ihn. Seine Stimmung brauchte sich von der Laune Berlins nicht abhängig
zu machen.

Vierzehn Tage hatte er benötigt, um die Einrichtung zu vollenden. Von
früh bis spät war er in freudiger Tätigkeit gewesen, und das Schaffen
und Anordnen, das stetige Sichversenken in jeden neuen Gegenstand und
das heitere Bekanntwerden mit den Dingen, die nun seine Umgebung
bildeten, hatte seine andrängenden Gedanken und Erinnerungen in ruhige
Bahnen abgezogen.

Es war ein Vormittag zu Anfang Oktober. Hans Steinherr stand an dem
weitgeöffneten Fenster seiner Parterrewohnung und blickte über die
sonnenbeschienene Potsdamerbrücke hinaus. Was nun? Er hatte sich
fertig eingerichtet und mußte nun wohl an die Regelung eines weiteren
Tagewerks gehen. Das fiel ihm zum ersten Male ein. Weshalb hatte er
sich sonst seßhaft gemacht!

Er erinnerte sich der hohen Meinungen seiner einstigen Kommilitonen.
Ihres Schwärmens von seiner Zukunft. Man hatte doch eine Karrière von
ihm erwartet, die in gerader Linie unter Volldampf vorwärts wies, und
nun war er, eben vom Start gelassen, in breiter Kurve ausgewichen und
hatte den Anschluß nicht wieder aufgesucht. Wo war der kalt wägende
Ehrgeiz geblieben, für den es keine Hindernisse geben sollte, dem er
als ersten Tribut seine töricht süße Jugendliebelei geopfert hatte?

Töricht — —? Süß, o ja, das war sie gewesen. Aber töricht? — Was war
denn in der Empfindung später ernsthafter gewesen? Oder nur gleich
ernsthaft? Jede Spanne des Lebens nahm das ernsthaftere Gepräge der
Empfindungen für sich in Anspruch, aber das der aufwachenden Jugend
war das erste und damit das ursprünglichste gewesen. Das, was folgte,
hatte sich darauf aufgebaut, dem Geschmack der Welt, den Zeitströmungen
nachgebend.

So schnell er gelaufen war, sein Schatten lief mit.

Das hatte sich hemmend auf den Sturmlauf seines Ehrgeizes gelegt. Das
niederrheinische Gemüt wurzelte tiefer als alle anerlernte Form. Das
Wesensinnere einer Heimatscholle, die einen ausgesprochenen Charakter
besitzt, läßt sich nicht abschütteln wie der Staub von den Stiefeln.
Durch sie, durch das Festhalten an ihr, werden ihre Söhne in der Ferne
zur Kraft gelangen wie Eichen im Buschwald, ohne sie, unter Preisgabe
ihrer Art, werden sie unkennbar im Niederholz verschwinden.

Hans Steinherr sah über die sonnige Straße hin. Noch war er da!

Anders, als er es sich vorgestellt hatte beim letzten Abschied von
Düsseldorf, vor fünf Jahren ... Aber er war da! Er war ~wieder~ da! Und
eine neue Heimat zu schaffen, mußte gelingen.

Als er es in seinem Studium zum Doktor der Rechte gebracht, hatte er
resigniert. Durch den jähen Abbruch der Beziehungen zur Vaterstadt,
zur Mutter, den Freunden, der Freundin, war es mählich und mählich
beklemmend still in ihm geworden. Er hatte Stunden gehabt, in denen
es ihn mitten in fröhlicher Gesellschaft fror. Und die Stunden
waren wiedergekommen und kamen wieder. Dann vermochte er sich nicht
zu wehren: die Vergleiche drängten sich ihm unabweisbar auf. Dann
entsann er sich des Abends am Rheinufer, als er, noch ein Primaner,
vom Schützenfestplatz gekommen war und ihm die Ursprünglichkeit des
Heimatlandes zum ersten Male jubelnd aufgegangen war. Auch damals hatte
er Vergleiche gezogen, zwischen dem gesellschaftlichen Leben im Hause
seines Vaters, das sich, wenn auch Schablonenarbeit, zeitweilig doch
so hübsch, ja sogar witzig abspielte, und der Glückseligkeit, die ihm
die nahe Berührung mit der Rassigkeit der ureigensten Scholle bereitet
hatte. Nun fehlte ihm selbst das schwache Abbild, das das Vaterhaus ihm
bot. Von allem anderen zu schweigen ...

Immer wieder waren die Erinnerungen gekommen wie der Dieb in der
Nacht. Sie verschönten sich in seiner Einbildung, ließen ihn oft die
Gegenwart vergessen und gaukelten ihm Perspektiven vor, in denen er als
nimmer müder Genießender stand. Wenn er erwachte, fragte er sich: Wozu
arbeite ich, wozu leb’ ich denn überhaupt? Das ist ja eine regelrechte
Komödie, die ich mitmache. Nur weil andere aus Gründen ihr Gesicht
unter Schminke verstecken? »Wenn der Mensch schon etwas ›aus Gründen‹
tut ...!« hatte Heinrich Springe einmal gewettert.

Aber der harte Kopf, der niederrheinische Eigensinn hatte ihn
abgehalten, den Schritt zurück zu tun. Wenigstens nicht als
Schiffbrüchiger sollte es geschehen. Der Schein des Siegers, der
sich großmütig und menschlich erweist, sollte gewahrt werden. In den
Gedanken, so widerspruchsvoll er war, hatte er sich verbissen.

Wo der Siegerlorbeer für ihn zu holen sei, war ihm dabei nicht
klarer geworden. Den Ehrgeiz auf eine hohe gesellschaftliche oder
Staatsstellung hatte er quittiert, seitdem ihm die Masken als
Masken erschienen und ihm der Gedanke, eines Tages als Marionette
zu funktionieren, kalten Schauder einjagte. Also zurück zu den
Jugendträumen, der Kunst! Aber die Poesie floß ihm dickflüssig aus der
Feder, sie wurde geschraubt, unwahr und schematisch, weil sich sein
innerer Mensch noch immer im Widerspruch zu dem äußeren befand. Er
war zu gründlich in die Schule der Salons gegangen. Die Natürlichkeit
schien ihm mit einem peinlich lächerlichen Beigeschmack behaftet. In
seinem Gefühlsleben war alles durcheinander gestürzt.

Da hatte er es mit der Flucht in die Einsamkeit versucht. Er, der
Anwärter des Menschenglücks, war menschenscheu geworden, hatte die
Wüsten durchwandert und die Meere befahren. In jungen Jahren waren
seine Züge schärfer geworden und sein Sarkasmus größer als seine
Jugendfreude. Wieder hatte er sich eine neue Welt gebaut, und wieder
umgürtete sie nicht die chinesische Mauer, die den großen, fragenden
Augen der Heimat den Einblick verwehrt hätte.

Nicht, daß er von daheim mit vielen Briefen behelligt worden wäre. Nur
das unabweisbar Notwendige kam zu seinen Ohren. Die geschäftlichen
Berichte und Bilanzen, die ihm der neue Leiter der Firma Philipp
Steinherr regelmäßig einsandte, würdigte er kaum eines Blickes. Das
mußte der Mann ja besser verstehen als er. Von privaten Geschehnissen
wußte er nur, daß seine Mutter Heinrich Springes Gattin geworden war,
daß sie sich an der Seite des herrlichen Menschen unsagbar glücklich
fühlte, daß sie die Wohnung in der Immermannstraße gewählt hatten, und
die Villa an der Grafenbergerchaussee unter einer tüchtigen Verwalterin
täglich für ihn bereit stand. Einmal hatte die Mutter den Namen Hannes
in den letzten Jahren erwähnt. Er hatte Wunderdinge aus dem Briefe
herausgelesen. Sie sollte, nachdem sie Düsseldorf bald verlassen und
in Frankfurt am Main unter Meister Stockhausens Leitung ihre Studien
vollendet hatte, eine Konzertsängerin von weitreichendem Ruf geworden
sein und draußen in der Welt zu den gesuchtesten Künstlerinnen zählen.
Nach Düsseldorf käme sie selten, und nur zu Gast.

Die Nachwirkung dieser Kunde war größer gewesen, als er sich zuerst
gestehen wollte. Es war etwas wie Scham und Stolz, was in ihm stritt.
Die kleine Jugendliebste schien dort eingesetzt zu haben, wo er
aufgehört hatte. ~Sie~ hatte gehalten, was ~er~ versprochen hatte. Und
noch eins: sie zeigte, daß jeder Name, und sei es der geringste, adlig
ist, wenn er von seinem jeweiligen Träger adlig gehalten wird.

Ah, das war ganz der alte Hannes. Das war schön und — das war
niederdrückend.

Sie hatte sich den Inhalt ihrer Jugend gerettet, ihn veredelt; er hatte
ihn verloren, nachdem er ihn verleugnet hatte.

Eine Ausgleichung konnte nicht mehr in Betracht kommen.

Nein, dachte der Mann am Fenster ruhig, wir sind auseinander gewachsen,
der Boden unter unseren Füßen ist nicht mehr der gleiche. Die alten
Gespenster müssen endlich einmal geknebelt werden, und endgültig.

Er trat zurück, nahm Hut und Handschuhe und verließ die Wohnung. Ein
eigentümliches Flimmern kam in seine Augen, als er über die Straße
schritt und sein Ziel nahm. Es glitt plötzlich wie schwerer Wein durch
seine Adern, und seine Männlichkeit dehnte sich in den Gelenken. Die
Sturmnachtstimmung von der Nordsee war über ihn gekommen, und er spürte
die wilden Küsse des Bereitseins. Das war eine andere Stimmung wie
weiland die Hofgartenstimmung in Düsseldorf mit den keuschen Küssen
der Vorbereitung. Das Herz hatte sich als ein läppischer Bundesgenosse
bewiesen. Es wimmerte bei der geringsten Zumutung. Frau Bettina aber
... Ah, diese Frau hielt es mit den Sinnen. Sie lachte und genoß.

    »Um Sechse des Morgens ward er gehenkt,
    Sie aber schon um Achte
    Trank roten Wein und lachte ...«

klang ihm die Heinesche Romanze in den Ohren. Unwillkürlich blieb er
stehen und zog die Brauen zusammen. Was war dies für eine wahnsinnige
Reminiszenz? Mußte er denn schon wieder ins Extravagante verfallen? Sie
hatte Leidenschaft, Frau Bettina!

Er schritt weiter, bis er den Kurfürstendamm erreicht hatte. Aus dem
Adreßbuch wußte er ihre Wohnung. Der Portier öffnete und wies ihn nach
der ersten Etage.

Feierlich still war es in dem hochschössigen Treppenhaus. Der dicke
Teppich dämpfte jeden Lebenslaut.

Hans Steinherr mußte eine momentane Verlegenheit niederkämpfen, bevor
er dem Stubenmädchen in den Salon folgen konnte. Er hatte sich ein ganz
anderes Bild von Frau Bettinas Umgebung gemacht, ein farbenfroheres,
ein genußfreudigeres. Hier war ja alles auf Harmonien gestimmt.

Die Dame des Hauses ließ auf sich warten. Er hatte schon die Bilder
ringsum an den Wänden studiert, als er hinter sich das Rauschen eines
Kleides vernahm.

»Guten Morgen, mein lieber Herr Doktor! Entschuldigen Sie, daß ich
Sie nicht in Toilette empfange, aber ich hätte dann Ihre kostbare Zeit
allzusehr in Anspruch nehmen müssen. Wie geht es Ihnen? Was führt Sie
her? Bitte, dort den Sessel!«

Er ärgerte sich über die Begrüßung, und sie sah es ihm an.

Ihre Augen schlossen sich ein wenig, als wollten sie eine geheime
Freude unterdrücken.

»Sie sehen übrigens ausgezeichnet wohl aus. Ich fühle mich leider etwas
abgespannt. Die vielen Verpflichtungen hier —«

»Frau Bettina —«

»Aber so setzen Sie sich doch, Herr Doktor!«

Er setzte sich, blickte sie an und schwieg. Eine Ernüchterung kam über
ihn.

Und wieder bemerkte sie es, schloß die Augen halb und lächelte.

»Sie sind wohl ungehalten, daß ich Sie so =sans gêne=, im Hauskleid,
empfange?«

Er antwortete nicht gleich, aber der leise ironische Zug um seinen
Mund, der sie schon auf dem Schiffe gereizt hatte, kehrte wieder,
als er mit fragendem Blick ihre weich herniederwallende Gewandung
betrachtete und mit gut gespielter Naivetät dann das Auge zu ihr erhob.

»Ich kann mir nicht helfen, ich finde Sie ganz hübsch, gnädige Frau.«

»Nein — wirklich? Ganz hübsch? — Sie nehmen mir eine Last vom Herzen.«

»Sollte Ihnen daran gelegen sein, mir gegenüber noch hübscher zu
erscheinen? Das wäre doch undenkbar.«

»Gott, liebster Doktor, man hat zuweilen so seine Launen.«

»Das versteh’ ich vollkommen. Wer in dieser Beziehung frei von Schuld,
der werfe den ersten Stein.«

Sie öffnete weit die Augen. Was fiel dem Manne ein? Wollte er den Spieß
umkehren? Trotzte er noch oder spottete er bereits ...

»Sie haben sich wohl noch in Hamburg von den Strapazen der Seereise
erholt?« fragte sie mit erzwungener Ruhe.

»Nein. In Hamburg hielt mich nichts. Es zog mich nach Berlin, und seit
zwei Wochen bin ich hier.«

»Würde es unbescheiden sein, zu fragen, was Sie so sehr nach Berlin zog
und Sie hier so fesselte, daß Sie sogar darüber vergaßen, sich nach dem
Befinden einer Ihnen nicht ganz unbekannten Dame zu erkundigen?«

»Die nicht ganz unbekannte Dame war es.«

»Ah,« lachte sie auf und lehnte sich weit zurück, »das muß ich sagen:
Sie haben eine Art, Ihre Bewunderung an den Tag zu legen, die einem
Dichter Ehre machen würde.«

»Gnädige Frau haben die Güte, anzunehmen, daß ich etwas erdichte?«

»Ja, gnädige Frau haben diese Güte.«

»Das ist — verzeihen Sie — sehr unrecht, gnädige Frau. Ich konnte der
mir nicht ganz unbekannten Dame die Aufrichtigkeit meiner Bewunderung
nicht besser beweisen, als dadurch, daß ich ihr Zeit ließ, sich ebenso
über ~ihre~ Aufrichtigkeit klar zu werden. Wie mir scheint, ist das
geschehen. Das Schiff streicht durch die Wellen, Fridolin — —«

»Sie erwarteten wohl gar noch eine Art rührender Familienszene, Herr
Doktor?«

»Fehlgeraten, meine allergnädigste Frau. Über die Tage der Rührung bin
ich hinaus. Mich gelüstet es mehr nach dem Starken, dem Kräftemessen,
dem — aber =pardon=, ich langweile Sie wohl.«

»Ich wüßte nicht, daß ich Sie unterbrochen hätte. Bitte, fahren Sie
fort. Es gelüstet Sie —?«

»Nach dem Weib — dem Vollweib.«

Sie lag noch immer, den Kopf weit hintenüber gelehnt, in ihrem Sessel.

»Sie sprechen von diesen Dingen,« sagte sie gedehnt, »als ob es sich um
Spielzeug handelte. Orientieren Sie sich.«

»Ich spreche von Dingen,« entgegnete er, »denen ich gewachsen bin.
Vorausgesetzt, daß mir die Partnerschaft paßt.«

Mit einem Ruck stand sie auf den Füßen. Ihre Brust wogte, und über ihre
elfenbeinfarbene Haut zog sich blitzschnell eine fliegende Röte.

»Das — das ist — eine Kühnheit von einer Beispiellosigkeit —« brachte
sie hervor.

»Hassen Sie die Kühnheit?« fragte er mit einem Gleichmut, der sie noch
mehr empörte. »Nun, meine gnädige Frau, Kühnheit oder Feigheit, Haß
oder Liebe: eine Frau wie Sie, die nur zuweilen eine Laune hat, ist
doch selbstredend =hors concours=. Und von der anderen zu sprechen,
lohnt sich nicht.«

»Wie Sie befehlen, Herr Doktor.«

Sie ging mit erzwungener Gelassenheit an ihm vorüber, und die Schleppe
ihres weichen Kleides strich über seine Füße hin. Wie ein magnetischer
Strom ging es von der Berührung aus.

»Sie bedienen sich da eines Ausdrucks, meine allergnädigste Frau, den
Sie mir einmal verwiesen. Sie betonten damals als erlesenste Freude das
freiwillige Entgegentragen ohne Befehl.«

»Sie täuschen sich, Herr Doktor. Das muß wohl die andere gewesen sein.«

»Verzeihung wegen meiner Vergeßlichkeit. Es war die andere.«

Sie stand an dem Fenstervorhang, den Rücken ihm zugewandt, und blickte
durch die Stores. Wie prachtvoll sich diese Rückenlinie schwang. Ein
Frauenkörper ohne Fehl.

Eine Minute zögerte Steinherr noch, um das Bild zu genießen. Dann erhob
er sich.

»Sie verabschieden mich, meine gnädige Frau? Da muß ich wohl meiner
Erziehung Ehre machen und — gehen?«

Sie blickte weiter durch die Stores, als ob auf der Straße sie etwas
ungewöhnlich fesselte.

Da trat er hinter sie und küßte sie auf den weißen Nacken, dicht unter
den Haaransatz des schlanken Kopfes.

Sie fuhr herum mit vor Entrüstung flammenden Augen.

»Was erdreisten Sie sich!«

Da beugte er sich über sie und küßte sie auf den gewölbten Hals.

»Ich verbiete Ihnen — —«

Und er beugte sich zum zweiten und dritten Male über sie und küßte sie
genau auf dieselbe Stelle.

»Du!« stieß sie erregt hervor, »du! Ich will nicht! Ich — ah, ich
verspreche mich.«

Er führte langsam ihre Hand an die Lippen, zum Abschied.

»Leben Sie wohl, gnädige Frau! Ich hoffe, ich habe Ihnen keine
Aufregung bereitet.«

Noch eine Verneigung, und er ging.

»Hans!«

Er wandte sich an der Tür um. »Sie befehlen, meine gnädige Frau?«

»Nichts, nichts!« rief sie zornig und stampfte wie ein wildes Kind mit
dem Fuße auf.

»Entschuldigung. Mir war’s, als hätte ich meinen Namen gehört,« und er
griff nach der Klinke.

»Wann du wiederkommst, will ich wissen!«

»Also war es doch keine Halluzination.« Er lachte, drehte sich um
und sah sie mit seinen strahlenden grauen Augen an, die sonst so
geheimnisvoll das Feuer behüteten. »Die andere war kein Phantom. Sie
lebt!«

»Wann du wiederkommst, frag’ ich doch.«

»Wenn Bettina sehr lieb zu sein gedenkt — morgen!«

»Morgen,« sagte sie hastig, »morgen abend.«

Er verbeugte sich und ging, ohne sie noch einmal zu berühren.

Fassungslos blickte sie ihm nach. Dann lachte sie nervös auf. Also —
geschlagen!

Geschlagen? Der Anfang eines Gefechtes entscheidet nicht. Und — und —
war es denn gar so unangenehm? Sie sah mit einem verträumten Lächeln an
sich herab.

Wie er mich auf den Hals geküßt hat! Das brennt wie Feuer.

Leise wischte sie mit der Hand über die Stelle.

Sie durchtändelte den Tag, ohne sich zu einer bestimmten Beschäftigung
aufraffen zu können, nahm hundert verschiedene Dinge in die Hand und
entsann sich im selben Augenblick nicht mehr, zu was sie ihr dienen
sollten, fühlte sich einsam, ließ dennoch jeden Besuch abweisen und
saß zuletzt ganz still in einer Ecke des Diwans, zusammengekauert, mit
glänzenden Augen.

Am Abend dieses Tages schrieb Hans Steinherr zum ersten Male nach
langen Jahren wieder ein Gedicht. Es war ein Impuls, dem er folgte.
Etwas trieb ihn an, die Spannung, die wie eine Gewitterschwüle in
ihm lag, zu entladen. Und der junge, heiße Siegestaumel kam hinzu,
das Begehren nach Frauenliebe, nach großer Leidenschaft, in deren
Lichtfülle alle kleinen Gestirne erblassen. Er glaubte in der
zwingenden, sinnenstarken Frau, der Geben und Nehmen nur ~ein~ Begriff
war, das Weib, die Verkörperung des Weibes entdeckt zu haben, und in
dem Sturm der beiderseitigen Gefühle sah er die beiderseitige Sehnsucht
nach der Ruhe. Nach der Ruhe Brust an Brust.

Er wußte, daß sie ihn liebte; und in ihm loderte alles empor, wenn
er nur ihren Namen vor sich hinsprach. Er wollte nachdenken, wie von
nun an sein Leben zu gestalten wäre, er wollte einen Plan entwerfen,
seinem täglichen Tun einen vernünftigen Inhalt zu geben. Er dachte an
seine Fabrik, an die Eisenwerke in Bilk; er dachte an Arbeit. Denn ihm
schien es, als ob solche Liebe ein Äquivalent verlange, als ob er in
kühnem, erfolggekröntem Schaffen der königlichen Frau tagtäglich ein
Bild seiner Unwiderstehlichkeit bieten müsse, damit sie die Herrenhand
sähe, die für sie das Eisen zu Gold münzte, damit das Staunen vor
seiner Kraft sie wiederum ansporne, die Kräfte ihrer Liebe auszulösen.

Aber in seine Grübeleien fuhr ihr Bild hinein wie ein Wirbelwind und
riß ihn mit über Höhen und Tiefen, und alle ehrgeizigen Pläne, alle
Vernunftgründe stoben auseinander vor dem einen Gedanken an den Besitz,
den unumschränkten Besitz dieser Frau.

Das ist die Liebe, sagte er sich. Sie duldet keine Götter neben sich.
Als ich jung war, war ich ein Schwärmer, der die Seele suchte, wie
Saul des Vaters entlaufene Eselin. Und als er auszog, fand er ein
Königreich. Da flogen die opferseligen Hirtengefühle auf die Heide. Für
den verlorenen Jugendhimmel die königliche Glückseligkeit der Erde!

Und ist das vielleicht keine Schwärmerei? dachte er lachend und sprang
vom Tisch auf. Ehrlich, alter Hans, du gibst dem Kind nur einen größer
tönenden Namen. Beschwindle deinen eigenen Menschen nicht. Du bist
verliebt, verliebt, verliebt! Nun ja — — und das ist mehr als alle
großen Worte.

Von dieser Sekunde an versuchte er seine Gefühle nicht mehr zu
zergliedern und zu analysieren. Er nahm sie als ein Unbedingtes, als
eine feststehende Zahl, als ein untrennbares Element. Der Mann in ihm
erhob seine Stimme, und er sah nur Helena. Bettina-Helena — —. Nam’ und
Art zu wägen, wäre ihm als Sakrileg erschienen.

Er beobachtete es nicht, daß er unmerklich in eine neue Phase geraten
war ...

Am nächsten Abend, zur Teestunde, war er bei Bettina.

Sie hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen, und ihre Ungeduld war so
groß gewesen, daß sie selbst auf den Korridor hinausgeschlüpft war, um
die Entreetür für ihn offen zu halten.

»Endlich, endlich ... So komm doch nur ... Nennst du das Abend? ... Das
ist ja Nacht.«

»Kaum sechs vorbei.«

Sie zog ihn ins Zimmer und hing, bevor er ablegen konnte, an seinem
Halse.

»Du läßt mich ja zu Tod’ schmachten. So küss’ mich doch!«

Sie sprachen kein Wort mehr. Sie küßten sich, bis daß es sie schmerzte.
Da ließen sie sich mit einem Seufzer los.

Frau Bettina strich ihr Haar zurecht. Mechanisch, mit einer wohligen
Mattigkeit. Als er aufs neue auf sie zutreten wollte, um sie in die
Arme zu schließen, wehrte sie horchend ab.

»Wir sind Kinder,« murmelte sie. »Wenn das Mädchen servieren kommt und
dich sieht —«

Rasch ging sie auf den Korridor hinaus, ließ die elektrische Klingel
draußen ertönen und kam zurück.

»Lassen Sie nur, Anna,« rief sie dem herbeieilenden Mädchen zu, »ich
habe schon selbst geöffnet. Sie können den Teetisch richten. In einer
Viertelstunde etwa melden Sie.«

Hans Steinherr war überrascht beiseite getreten. Der Vorgang war ganz
natürlich, aber der schnelle Wechsel von alles verlachender Unvernunft
zur peinlich überlegenden Vernunft hatte ihn beklommen gemacht.

Ihr weiblicher Instinkt witterte sofort den Grund seiner Umwandlung.
Der Ton ihrer Stimme bekam eine schmeichelnde, mütterlich besorgte
Klangfarbe, und als ob sie es mit einem großen Jungen zu tun habe, nahm
sie ihn beim Ohr und zupfte es.

»Willst du wohl gleich ein anderes Gesicht machen? Wenn Bettina nicht
für dich mit dächte! Jetzt bist du doch offiziell gemeldet, ganz
gleich, ob du den Abend offiziell oder inoffiziell gestalten willst.
Siehst du wohl? Ja, jetzt lächelst du. Ich verwöhn’ dich.«

Sie hob sich auf den Zehen und legte ihre weichen Lippen auf das
mißhandelte Ohr.

Er hielt ganz still. In seinem Hirn begann ein Sausen und Brausen. Und
plötzlich faßte er sie um die Taille, trug sie wie ein zappelnd Nixlein
zum Diwan, kniete schnell nieder und hob sein erhitztes Gesicht zu ihr
auf.

»Wie du die Menschen verjüngst. So hatte ich es mir gedacht. Du bist
das Leben.«

»Du hast an mich gedacht? Wann? Wo? Ich muß jede Regung in dir kennen.«

»Gestern abend, zu Hause. Ich kramte in Erinnerungen umher, in toten
Geschichten. Da kamst du ...«

»Und weiter? Was tat ich? Was tatst du? So erzähle doch. Du sprichst
schön.«

»Ich sagte es ja: du verjüngtest mich.«

»Und die toten Geschichten? Legten sie sich nicht zwischen uns? Wurden
sie nicht lebendig?«

»Du hattest ihnen ein neues Leben gegeben. Sie trugen deinen Stempel.«

Sie atmete tief auf und zog die Brauen dicht zusammen.

»Ich bin von einer unbändigen Eifersucht,« murmelte sie. »Das hast du
davon.«

Er zog ihren Kopf herab und küßte sie auf die finsteren Augen.

»Hättest du mich lieber als den Spötter gemocht, dem nichts mehr heilig
war?«

»Nichts soll dir heilig sein als ich!«

»Nun, ich meine: daß du diese Ausnahme in mir geweckt hast, beweist
alles. Eine andere kenne ich nicht.«

Sie griff links und rechts in sein Haar.

»Schnell, schnell, was hast du jetzt gedacht? Liebster, so sprich doch
...«

»Du wirst mich nicht auslachen, wenn du hörst, wie jung ich geworden
bin?«

»Nein, aber nein. Ich könnte dich eitel machen und sagen: ich will
nur dein sonores Organ hören. Du hast einen Klang in der Stimme, der
aufwühlt. Nun gib dem Klang Begriffe, an denen man sich halten kann.«

»Ich werde beichten,« sagte er, und das selbst-ironisierende Lächeln
spielte um seinen Mund. »Erschrick nicht allzu sehr. Ich bin so jung
geworden, daß ich wie in der Jugend holden Wahnsinnstagen das — Dichten
wieder aufgenommen habe! Sage und schreibe: das Dichten!«

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, richtete sich auf und
blickte ihn lange an.

»Ich habe es ja gewußt,« sagte sie endlich, »o ich habe es ja gewußt,
daß etwas Eigenes in dir war.«

Ein triumphierendes Leuchten stand in ihren Augen.

Im Nebenzimmer klirrte ein Servierbrett.

»Steh auf!« flüsterte sie.

Als das Mädchen erschien, saß Hans, durch den Tisch von der Hausfrau
getrennt, gelassen in seinem Sessel.

»Stellen Sie nur alles hin, Anna; ich werde das übrige selbst besorgen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau.«

Sobald das Mädchen gegangen war, hatte sich Frau Bettina erhoben.

»Hans,« schmeichelte sie und legte ihm die Arme um den Hals, »vorlesen;
bitte, bitte, vorlesen!«

»Du wirst mir nachher keinen Tee mehr geben wollen,« lachte er.

»Sei lieb, Hans. Ich will ~auch~ verwöhnt sein. Ich will einen Sänger,
meinen Sänger haben.«

»Gut, dein Wille geschehe! Wollte ich mich noch weiter sträuben,
würdest du am Ende noch glauben, es handle sich um ein unerhörtes
Meisterwerk. Es ist nichts als eine Impression.«

Er entnahm seiner Brieftasche ein Blatt und wollte lesen. Aber sie
legte ihre schlanken Hände über die Zeilen.

»Trag mich erst auf den Diwan zurück.«

Er gehorchte auf der Stelle. Aber sie ließ ihn nicht wieder los, bis er
auf dem früheren Platze kniete.

»So — —« sagte sie gedehnt, und dann kroch sie lauschend in sich
zusammen.

Er nahm die Spitzen ihrer Finger in seine Hand und las. Wenn er eine
Pause machte, hörte er ihre tiefen Atemzüge und spürte das Klopfen des
Blutes in ihren Fingerspitzen.

    »Der Tag erlischt ... Was war’s, was die Sibylle,
    Die schöne Frau, einst sprach?: Es tut nicht gut,
    Daß du allein bist in der Dämmerstille.
    Dann fließt zu schwer dein Abenteurerblut. — —

    Der Tag erlischt ... Gestreckt in meinen Sessel
    Schau träumend ich empor ins dichte Grau,
    Das mich umstrickt wie eine enge Fessel....
    Hüt’ vor dem Traum dich — sprach die schöne Frau. — —

    Ich blätterte heut’ lang’ in alten Briefen;
    Noch spielt die Hand mit dem vergilbten Tand.
    Es wurden Bilder wach, die längst entschliefen;
    Ein Rufen scholl aus fernem Heimatland.

    Ich hör’ den Rhein an seine Ufer rauschen;
    Das Wellenlied reißt meine Sehnsucht wund.
    Du meine Jugend, komm, laß dich belauschen;
    Drück’ deine Lippen auf des Träumers Mund.

    Sieh dort, sieh dort: die alte Lieblingsstelle —
    Ein Streifen Moos im dichten Erlenstand.
    Fern fließt der Rhein; es lockt und lockt die Welle;
    Ein Sommerduften zittert durch das Land.

    Zwei Händchen, wie sie sonst nur Kinder zieren,
    Sie pressen sich an meine Schläfen an,
    Und junge Lippen wollen sich verlieren
    Im ersten Kuß, im Kuß von Weib und Mann. — —

    — Wenn Jahr für Jahr die Winterstürme bliesen,
    Wenn meine Seele nach dem Sommer schrie,
    Nach meinem Rhein, nach meinen Erlenriesen:
    Ich sucht’ die Händchen, und ich fand sie nie.

    Durch Abenteuer bin ich durchgeritten,
    Und Lieder sang, just wie mein Mund, mein Schwert.
    O wüßtet ihr, um die ich heiß gestritten,
    Nach welchen Rosen nur mein Herz begehrt’!

    — Du sollst dich hüten vor der Dämmerstille,
    Kein Sieger träumt! — Wer trat in mein Gemach?
    Wer wagt es, mit den Worten der Sibylle
    Zu wandern meinen Seelenpfaden nach?

    Gib Antwort, du! Die Jugend ist verklungen!
    Kein weicher Schwärmer spannte hier sein Zelt!
    Halt’ ich mit diesem Arm ein Weib umschlungen,
    So bring’ dies Weib mir eine ~neue~ Welt!

    Aus Gräbern müßt’ ihr wundertät’ger Wille
    Mir wecken Heimat, Jugend, Liebeskraft!
    — Seh’ ich dich recht — —? Du, zaubrische Sibylle?
    Du hast zum Wunder ~selbst~ dich aufgerafft?

    Du, schöne Frau ...? Die Prüfung ist zu Ende?
    Du trägst die Fackel in die Dämmerung?
    Ich spür’ zwei Hände, schlank wie Kinderhände,
    Und einen Mund wie wilde Rosen jung,

    Und deines Blutes sturmbewegte Welle!
    — O andre Wellen sind’s, wie einst am Rhein —
    Ein Lebender, ich fühl’s, in Sonnenhelle
    Kann nur des Lebens Auserwählter sein.

    Komm an mein Herz! Es ward dein Adelswille,
    Des Rätsels stolze Lösung mir bewußt!
    ... Du sollst nicht ~träumen~ in der Dämmerstille,
    Doch ~siegen~ sollst du, — siegen Brust an Brust!«

Die Dämmerstille lag über ihnen. Es begann stärker zu dunkeln, und
keiner von ihnen bemerkte es.

Da führte Hans Steinherr die widerstandslose Frauenhand an seine heißen
Lippen, so fest, daß sie den Druck schmerzhaft verspürte, und daß
Bettina mit einem kurzen Aufschrei auffuhr.

»Tu’ ich dir weh?«

»Weh? — Weh? — Fragt mich dieser Mensch auch noch, ob er mir weh tut!
Ja, du ~tust~ mir weh, aber nicht weh genug. Brust an Brust! Hast du
das nicht eben selbst gerufen? Brust an Brust! Wo bleibst du denn nur?«

»Bettina! Ob du mich lieb hast, sag!«

»Lieb, lieb! Das ist ein Ausdruck für kleine Mädchen! Wenn du ~mich~
meinst, erfinde einen anderen!«

»Ich habe keine Zeit dazu. Das einzige Wort, das ich ausdenken kann,
heißt: Bettina. Meine, mir gehörige — Bettina.«

»Das ist nicht viel für einen Dichter. Sag mehr, mehr —«

»Jetzt hat der Mensch in mir das Wort. Nimm dich in acht: wenn er mehr
redet, steigert er seine Ansprüche.«

»Ah, laß ihn doch, laß ihn doch,« rief sie laut und preßte ihren Kopf
gegen seine Brust. Dann rann die Woge langsam zurück — — —

»Ich bin rasend,« sagte sie und fuhr sich über die Augen. »Ich muß
Licht machen, damit wir zur Besinnung kommen.«

Sie ging zur Wand und tastete nach dem Knopf der elektrischen Leitung.

Das Zimmer schwamm in blendender Helle, und die beiden Menschen standen
und staunten sich an.

Er trat ihr einen Schritt entgegen, ungewiß, zögernd. Aber es schob ihn
vorwärts.

Und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, wollte entweichen und
lief auf ihn zu.

»Hans, Hans, sei doch vernünftig! Du siehst doch, ich kann es nicht
sein.«

»Weshalb hast du Licht gemacht? Jetzt seh’ ich erst, was ich alles
vergessen habe.«

Sie glitt unter seinem Arm hinweg, zurück zur Wand. Ein Ruck, und es
war dunkel.

Bevor er sich von seiner Überraschung erholen konnte, spürte er ihre
Lippen auf seinem Mund und ihre Hände an seinen Schläfen.

Worte seines Gedichtes wirbelten ihm durch das Hirn.

»Ein Lebender kann nur des Lebens Auserwählter sein!« —

Jetzt lebte er ein auserwähltes, ein doppeltes Leben. Das ihre war das
seine.

Die umschwärmteste Frau, die Dame der großen Welt war wie ein
zärtliches Kind und bedeckte ihn mit ihren Liebkosungen.

»Bettina, kleine, süße, wilde Bettina, sprich nur ein Wort. Noch
existiert der Schmied von Gretna-Green. Noch ist Helgoland nicht aus
der Welt. Morgen, übermorgen kannst du meine Frau sein.«

»Nicht den Zauber brechen,« murmelte sie, »das kommt nicht wieder.«

»Wir werden es in der Hand haben, ihn jede Stunde zu beschwören, wenn
wir nicht mehr getrennt sind.«

»Ach, du, diese Heimlichkeit — das ist das Schöne. Das Gefühl haben:
wenn’s morgen aus wäre — diese Stunde raubt uns niemand mehr, mag die
Zukunft sein wie sie will. Das Gefühl laß mir, bring es mir, so oft du
kannst, tagtäglich; das spannt unsere Nerven, das macht so närrisch
jung und so rasend verliebt; das ist, als könne es ein Jahrhundert
dauern. Das ist eine Brautzeit, wie sie für uns paßt. Ein Fest nach dem
anderen. Die Ehe bringt ja doch den unausbleiblichen Schlafrock.«

»Du, du, werde nicht tragisch. Soll ich wieder Licht machen, damit du
siehst, was du dir zutrauen kannst?«

»Horch,« entgegnete sie unvermittelt, »eins — zwei — drei — neun Uhr!
Unmöglich! Was ist aus der Zeit geworden? Das Mädchen wird kommen, um
den Tisch abzuräumen. Ich habe alles vergessen.«

»Wer an der Tafel der Götter gesessen hat, kann doch keinen Tee mehr
trinken, Bettina.«

»Du mußt; hörst du, du mußt. Ich kann doch das ganze Arrangement nicht
unberührt fortschaffen lassen. Die Dienstboten würden die Hände über
dem Kopf zusammenschlagen. Liebster, sei gut. Ein klein, klein wenig
Aufopferung, weil es nicht anders geht. Da — ah, da ist Licht. Nein,
ich will dich jetzt nicht anschauen. Hier, an den Tisch mit dir! Lach
nicht so mokant. Du mußt ja doch, wie ich will.«

»Ich bin dein ergebenster Diener. Wenn du befiehlst, verschling’ ich
dich mit.«

»Vorwärts, die Küche will ihr Recht. Ach Gott, der Tee ist kalt!«

»Nein,« sagte er verwundert, »und steht doch erst seit zwei Stunden.«

Sie warf sich im Sessel zurück, griff in ihr Haar und lachte ohn’
Aufhören.

»Du, Bettina, ich möchte auch lieber lachen als essen. Das ist eine
Tortur.«

Und jubelnd weiter lachend, fuhr sie mit Messer und Gabel durch den
Inhalt der Platten, warf die Delikatessen der Saison wild durcheinander
und lehnte sich ausatmend zurück.

»So,« sagte sie, »das Abendessen wäre zu Ende. Wenn du jetzt auch nur
noch eine Viertelstunde bleibst, mache ich jede Dummheit.«

»Dann laß mich ungezählte Viertelstunden bleiben. Und noch länger.«

»Mein Herr — so gern ich Ihrem Wunsche willfahrte: der Ruf Ihrer Dame
verlangt —«

Er erhob sich sofort.

»Ich habe Ihnen nur noch zu danken, meine allergnädigste Frau; nur noch
zu danken.«

Sie sah die kühne Mannesfröhlichkeit in seinem Blick, faßte seine Hand
und schloß die Augen.

»Ich mach’ Dummheiten,« sagte sie.

Er küßte sie auf die Lippen, die sich ihm boten.

»Auf morgen!«

»Und — vergiß nicht! — Gedichte will ich haben, Gedichte. Von mir, für
mich. Du sollst mich stolz machen.«

Sie stand hinter den Stores und sah ihm nach, wie er jugendlich
elastisch über die Straße schritt. Dann ging sie langsamen Schrittes
und vor sich hin grübelnd zum Diwan. In eine Ecke gekauert saß sie und
sah vor sich hin, immer auf denselben Punkt.

»Ich darf nur Dummheiten machen, die mich vorwärts bringen.
Einstweilen, einstweilen — —«

[Illustration]




Drittes Kapitel


Mit der fortschreitenden Saison entwickelte sich auch das
gesellschaftliche Leben in den Salons Frau Bettina Wittelsbachs. Nicht,
daß sie das Prinzip der »offenen Tür« in ihrem Hause einführte. Die
schöne Frau, welcher ihr Gatte Verbindungen mit den ersten Häusern
hinterlassen hatte, hielt sehr auf eine erlesene Auswahl, und die
kleinen, vornehmen und doch künstlerisch bewegten Abende, die sie mit
nie trügendem Geschmack zu arrangieren verstand, erfreuten sich in der
weltkundigen Gesellschaft bald eines Rufes, daß es für eine besondere
Bevorzugung galt, hinzugezogen zu werden. In wenigen Monaten hatte
die zielbewußte und starkgeistige Frau erreicht, wozu andere eines
Einlebens von Jahren bedurften: ihr Salon bildete einen Machtfaktor.
Nicht offenkundig, nicht vor den Augen der Welt; noch weniger aber
insgeheim. Die Herren und Damen, die sich an jedem Mittwoch abend
bei ihr zu versammeln pflegten, gehörten durchweg Kreisen an, die
eine gewisse Bedeutung in sich schlossen: maßgebende Staatsbeamte,
hohe Offiziere, Künstler von Einfluß, alle mit ihren Damen, deren
Beziehungen wiederum weit durch die Salons der Hauptstadt reichten.
Handelte es sich darum, einen Wunsch, eine Persönlichkeit an die
Öffentlichkeit zu bringen, so spannen sich die Fäden der Protektion
von hier aus bald nach allen Seiten.

Es war nicht allein Frau Bettinas reizvolle Art, jeden Menschen einzeln
seiner Individualität gemäß zu behandeln und in jedem den Glauben
zu erwecken, daß er vor allen die besondere Sympathie der Hausfrau
genösse, was der vielvermögenden Frau so schnell die Ausnahmestellung
schaffte. Unter den Näherstehenden war es ein stilles Geheimnis, daß
sich ein hoher Herr aus der Seitenlinie eines regierenden Hauses stark
um die Gunst der jungen, reichen Witwe bewerbe und lediglich deshalb in
diesem Winter fern von Berlin und in der langweiligen mitteldeutschen
Residenzstadt weile, um den Chef des Hauses seinen Heiratsplänen
zugängig zu machen. Hatte doch der Prinz, der sich gelegentlich der
Frühjahrsrennen der damals ins Leben zurückkehrenden Dame hatte
vorstellen lassen, ihretwegen sogar an der Nordlandsfahrt teilgenommen
und nur deshalb während der Reise ein mehr zurückhaltendes Wesen zur
Schau getragen, um die Dame nicht in vorzeitiges Gerede zu bringen und
dadurch die Chancen einer Verbindung mit Frau Bettina zu erschweren.

Man hielt in den Kreisen um Frau Bettina mit großem Zartgefühl darauf,
daß dieser Gegenstand nicht mit Worten erwähnt wurde. Einerseits
geschah es aus dem natürlichen gesellschaftlichen Takt, anderseits
aber stand die Person des in Frage Kommenden immerhin so hoch, daß man
sich die für später sicher nützlichen Verbindungen nicht leichtfertig
verscherzen wollte.

Hans Steinherr war wohl der einzige, dem von dem stillen Geheimnis
nichts bekannt war und auch nichts bekannt wurde. Er trat den
einzelnen des Kreises nicht sonderlich näher, beschäftigte sich
fast ausnahmslos mit der Dame des Hauses und galt bald als das
Protektionskind, als ein junger, talentvoller Dichter, dem man sich
bemühte, durch freiwillige Herolddienste die Wege zu ebnen. Den
Austausch eines wärmeren Blickes zwischen ihm und Frau Bettina hätte
man vergeblich zu erspähen versucht. Nur auf dem Nachhausewege pflegten
zuweilen einige der Herrschaften ihre Gedanken über die Beziehungen
zwischen Steinherr und der Dame des Hauses laut werden zu lassen. Dann
zerbrach man sich den Kopf, ob dem Verhältnis wirklich das Rückgrat
einer Liebschaft anhafte, oder ob die kluge und ehrgeizige Frau es
nur inszeniere, um, wie sich ein diplomatisch geschulter Geheimer Rat
ausdrückte, »Hoheit scharf zu machen«.

Eines stand jedenfalls fest: Frau Bettina hatte der Person Hans
Steinherrs ein Relief gegeben, das bald über die Grenzen des
gesellschaftlichen Lebens hinaus seinen Wert erhielt.

An den Abenden, die in ihrem Heim den Künsten gewidmet waren, bedrängte
sie ihn, seine starken, leidenschaftlichen Poesien vorzulesen, und ihr
äußerlich vornehm heiteres, innerlich drängendes, begehrendes Wesen
fand einen verfeinerten Genuß darin, vor aller Augen und Ohren Verse
zu hören, die ebensoviele Liebesbeteuerungen und Liebesschilderungen
enthielten, die einzig und allein ~sie~ angingen und die sie inmitten
des buntesten geselligen Treibens all die Stunden heimlichen Glückes
noch einmal durchschwelgen ließen. Sie lächelte unmerklich, wenn ein
spontaner Beifall sich über den Dichter ergoß, wenn Steinherr, nur für
sie erkenntlich, sich und die Situation ironisierend, eine Sekunde lang
den Blick auf sie heftete.

Aber Frau Bettina blieb hierbei nicht stehen. Durch Schmeicheln,
Trotzen und Befehlen veranlaßte sie den Geliebten, die Gedichte in den
ausschlaggebenden modernen Zeitschriften zu publizieren, und da ihr
Namen von Bedeutung zur Seite standen, so war es ihr ein leichtes,
ihren Wünschen bald die Erfüllung folgen zu sehen.

Als die Saison im Februar ihren Höhepunkt erreicht hatte, war der Name
Hans Steinherr unter den literarischen Feinschmeckern bekannt wie in
den unzähligen Salons, die sich in Berlin zu den Treffpunkten der
~oberen~ Zehntausend rechnen, weil Neugier und Nachahmungssucht das Tun
und Lassen der wirklichen Oberen hier zu beklatschen pflegt, als stände
man mit den so hoch interessanten Vorbildern familiär auf du und du.

Hans Steinherr war eine der plötzlich aufschießenden Saisongrößen
geworden und wußte selbst nicht, wie er zu der Ehre kam. Wenn er an
der Seite Frau Bettinas, die durch ihre blendende Erscheinung und
nicht weniger durch ihre aparten, geschmackvollen Toiletten stets
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, zu den Premieren in der
Theaterloge erschien, erregte er den Hauptteil des Interesses. Dann
sprach man in Logen und Parkett über seine Persönlichkeit, die berufen
war, dieser Dame =de grande tenue= als bevorzugter Kavalier zu dienen,
und der Neid schuf ihm ein noch größeres Renommee als die Freundschaft.

»Wer ist denn dieser Günstling der schönen Wittelsbacherin?«

»Aber, gnädige Frau, das ist doch Hans Steinherr!«

»Hans Steinherr? Also von der Kunst, weil Sie den Vornamen nennen.«

»Meine Gnädige: Hans Steinherr, der bedeutende und eigenartige Lyriker!
Treiben Sie denn nicht die neueste Literatur? Allerverehrteste, wie
können Sie nur so unmodern werden!«

So wurde Hans Steinherr der »bedeutende und eigenartige« Lyriker, und
hatte kaum ein Dutzend Gedichte veröffentlicht, die er nicht einmal
für die Öffentlichkeit niedergeschrieben hatte. Man gab ihm einen Ruf,
damit es umso interessanter würde, ~über~ seinen Ruf Andeutungen mit
kleinen Pointen loszulassen. Irgend ein Dutzendmensch hätte sich nicht
gelohnt.

Über Hans Steinherrs Seele gingen die Wandlungen, welche die Außenwelt
mit ihm vornahm, spurlos hinweg. Es war dasselbe Fluten und Ebben in
ihm, derselbe Wechsel von Rausch, Ernüchterung und neuem Rausch; alles
wie seit dem ersten Tag in Frau Bettinas Haus. Nicht um eine Spanne war
die Klärung fortgeschritten. Wenn er mit Ungestüm darauf drang, zog sie
sich zornig von ihm zurück und schalt ihn einen Alltagsmenschen, eine
poesielose Natur, einen Undankbaren, der nicht wert sei, mit ihr ein so
wunderbar anregendes Geheimnis zu teilen, und durch seine prosaische
Verständnislosigkeit den kleinsten Stimmungszauber verderben müsse.
Wurde er kalt und zurückhaltend, so überschüttete sie ihn unvermutet
mit einer so stürmischen Flut von Liebkosungen, daß er sein Blut sausen
fühlte und nach innerlicher Gegenwehr plötzlich die Reserviertheit
aufgab und ihre Küsse erwiderte, wie sie gegeben wurden.

Sonnenschein und Sturm, Sturm und Sonnenschein.

Er war in einen Kreislauf geraten, aus dem er sich nicht mehr
herausfand.

Packte ihn in nüchternen Stunden die Scham, wie eine Drohne zu leben
und sein Dasein arbeitslos und daher zwecklos zu vergeuden, faßte er
den Entschluß, diesem für seinen Lebensstolz unhaltbaren Zustand ein
Ende zu machen, selbst auf die Gefahr eines gänzlichen Bruches hin, so
wandelte schon der nächste Abend ihn wieder zum modernen Tannhäuser,
der außer den Augen der liebsten Frau nichts will und nichts weiß.

Was ihm jeden tatkräftigen Gedanken erschwerte, war das
unausgesprochene Bewußtsein, daß neben der wilden Zuneigung die
Eitelkeit des Mannes in ihm wachgerufen war. Die Eitelkeit des Mannes,
die weniger Schmerz um eine verlorene Liebe als um die sichtbaren
Zeichen einer Niederlage empfindet. Die Vorstellung, Bettina an der
Seite eines anderen zu sehen, während er unbeachtet abseits zu stehen
habe, zu wissen, daß sie einem anderen die Zärtlichkeiten gebe, die
sie ihm gegeben hatte, ließ ihn in wortlosem Grimm die Nägel in die
Handflächen graben.

Dieses endlose Hin- und Herzerren, dieses immer sich wiederholende
Kapitulieren vor dem Ziele machte ihn launisch und reizbar. Er war
nicht der Mann des ewigen, verborgenen Brautlebens, er hatte ein
Ruhebedürfnis, und nicht zuletzt ein Bedürfnis nach der Ruhe des
Besitzes.

Und dennoch: wenn er wieder einmal eine der immer seltener werdenden
Stunden verlebt hatte, in denen sie im engen Beisammensein allen
Sonnenschein über ihn ergossen hatte, wenn er sie vor sich sah in dem
weich herniederfallenden Hausgewand, das in dem schlanken Ausschnitt
die weißen Schultern freigab, dann unterlag auch er dem Zauber, den
gerade die Verschwiegenheit ihrer Liebe so außergewöhnlich prägte, und
er schmiegte knabenhaft, ein selig Träumender, sein Gesicht dicht neben
das ihre auf den Pfühl des Diwans, während er vor ihr kniete und seine
Arme sie umfaßt hielten.

Seit kurzem häuften sich diese stillen, schönen Stunden. Es war, als ob
auch Bettina etwas Schmerzliches in der Art ihrer Liebe empfände, als
ob sie plötzlich zu der Erkenntnis seines unduldsamen Leidens gekommen
wäre und sich nun bemühte, durch eine fortlaufende Reihe ungetrübter
Tage viele voraufgegangene Launen wieder gut zu machen. Mitten im
Gespräch konnte sie verstummen, sein Gesicht in ihre beiden Hände
nehmen und ihm lange, mit verschleiertem Blick, in die Augen schauen.
Die Weichheit ihres Wesens nahm zeitweilig einen Charakter an, daß ihn
erschreckte, was ihn sonst mit Freude erfüllt haben würde.

An einem Abend, an dem er die an ihr so ungewohnte Erscheinung stärker
als je empfand, fragte er sie.

»Was hast du, liebste Frau? Dich quält etwas. So verbirg es mir doch
nicht.«

Und sie sagte kopfschüttelnd und ihm leise über das Haar fahrend: »Es
ist nichts. Und wenn auch. Wir wollen uns in den kurzen Stunden doch
nicht mit Grillen plagen.«

»Du bist eine andere geworden, Bettina — —«

»Hast du dich nicht auch verändert — —?«

»Ich —? Nenn mir meine Fehler, und ich will sie dir zuliebe ablegen.«

»Hans,« sagte sie nachdenklich und legte die flache Hand auf die
Stirn, »wann hast du mir das letzte Gedicht gebracht?«

»Ich wußte nicht, daß dir noch daran gelegen war,« entgegnete er ernst.

»Hab’ ich dir wirklich Anlaß zu solchen Vermutungen gegeben?«

»Ja,« sagte er. »Du schicktest, was ich schrieb, in die Öffentlichkeit,
bevor du es noch recht gelesen hattest. Und das Beste, was zwischen den
Zeilen geschrieben stand, hättest nur du empfinden können. Aber dir lag
an dem Druck mehr als an der Schrift; mir an deinen Augen mehr als an
denen des Publikums. Da streckte ich die Wehr.«

»Und nie, nie wieder hast du das Gefühl gehabt: du mußt jetzt für
Bettina dichten?«

»Doch. — In den letzten Tagen. — Seitdem du so — so verändert wurdest.«

»Hans,« sagte sie und streckte ihm die Hände entgegen, »komm, Hans.
Wie damals, als es anfing. Hier auf dem Diwan lag ich, und da knietest
du — siehst du, ich habe alles behalten — und du lasest mir eine
Jugendbeichte von einer Liebe am Niederrhein, und wie du sie erst ganz
überwunden hättest durch mich. War das ein Abend! — — — Komm, ich sitze
wieder hier, und du lehnst deinen Kopf gegen meine Kniee. Und nun lies.
Es soll nur für mich sein.«

Und er las, mit stiller, schwerer Stimme.

    »Wenn der weißen, stolzen Schultern Bogen
    Wie des Marmors Schneekristalle flimmern,
    Deiner Brust geheimnisvolle Wogen
    Wie von Mondschein übergossen schimmern;

    Wenn ich dich, die mir entgegenleuchtet,
    Mit gebenedeiten Händen streichle,
    Und dein Auge sich vor Liebe feuchtet,
    Wenn ich wie ein Knabe stumm dir schmeichle —

    Weißt du, Liebste, was ich schauernd fühle
    Bei dem selbstvergessenen Umschlingen,
    Wang’ an Wange auf demselben Pfühle?
    — Sieh, die Seelen wollen sich durchdringen!

    Wollen sich durchdringen und vereinen,
    Wollen unauflöslich sich verketten,
    Wollen uns, wenn unsre Augen weinen
    Fern der Heimat, unsern Frieden retten.

    Wo ich geh’, nun trag’ ich deine Seele;
    Wo du bleibst, dich tröstet meine heiter:
    Glaub’ es nicht, daß dir die Liebe fehle;
    Ich bin bei dir, fürchte dich nicht weiter. — — —

    Heil’ge Stille ... Dann, mit beiden Händen,
    Greifst du meinen Kopf und starrst mit weiten
    Augen auf mich, die ein Wunder spenden;
    Und voll Inbrunst und voll Seligkeiten,

    Bleich vor Wonne flüsterst du: Bedränger!
    Zärtlichster und wildester der Knaben,
    Press’ mich fester, daß die Seelen länger
    Süß und heimlich einst zu raunen haben .....«

Er sah nicht auf. Er hatte das Gefühl, daß es jetzt an ihr sei,
zu sprechen; irgend etwas hinreißend Liebes zu sagen, das all die
vielfachen kleinen Dissonanzen, die sich in die Melodie ihres Verkehrs
eingeschlichen hatten, in einem lange nachzitternden Vollton vergessen
machen würde. Aber es blieb Stille, ein lastendes Schweigen.

Müde hob er den Kopf. Da fielen brennend heiße Tropfen auf seine Stirn.

»Bettina!« rief er, sprang auf und faßte sie an den Schultern.
»Bettina, was geht in dir vor? So kenn’ ich dich ja gar nicht. Du
weinst? Herr Gott im Himmel, du kannst weinen? Liebste, Liebste, dann
ist ja alles gut.«

Ihr Mund verzog sich krampfhaft, aber sie konnte den hervorschießenden
Tränen keinen Einhalt tun. Sie streifte seine Hände herab und wanderte
im Zimmer umher, bis sie ihre Haltung wiedergefunden hatte.

»Mach doch nicht solch ein Wesen daraus. Ich bin nur nervös. Ich bin
gar nicht so tief, wie deine Dichterseele sich jetzt wieder einbildet.
Gemütsbewegungen! Das ist doch zum lachen. Ich bin in diesen Dingen
tatsächlich so oberflächlich, wie du es schon zu wiederholten Malen
mir vorgehalten hast. Die echte und rechte mondäne Frau. Daran läßt
sich nichts ändern, das liegt in einem. Nur deine rheinische Art macht
mich immer wieder fassungslos. Das wühlt auf und lullt ein, bis man
vor Sehnsucht nicht mehr aus noch ein weiß und jede Dummheit begehen
möchte.«

»Du sprichst mir so oft von den — Dummheiten. Eine Frau wie du sollte
den Mut besitzen, sich klarer auszudrücken.«

»O, ich — — da siehst du’s ja, wie recht du hast — ich bin eine ganz
oberflächliche Natur.«

»Wenn ich nicht besser wüßte, was in dir steckte, würde ich dich nach
dem ersten Tage zu den Toten gelegt haben.«

»Hans!« rief sie. Alle Unruhe war zurückgekehrt. Durch ihren Körper
flog es wie Angstschauer. Er hatte sie noch nie in solcher Aufregung
gesehen.

»Du, du, ich hab’ ja eine Sehnsucht, eine ganz tolle, unbezwingbare
Sehnsucht. Wie soll das nur werden? Seid ihr denn alle so an
eurem Rhein? Ich habe gedacht, da leben nur frohe, leichtsinnige
Menschenkinder. Ähnlich wie ich. Oder seid ihr vom Niederrhein so
ganz anders? Ihr mit dem harten westfälischen Schädel und dem heißen
rheinischen Blut, ihr unauskennbaren Grenzlerleut’!«

»Du solltest mich noch nicht auskennen, Bettina?«

»Nein, schweigen sollst du, nicht reden. Ich weiß es ja, daß ich
rettungslos verliebt in dich bin. Aber wie weit du in mich — ob auch
rettungslos — das — das weiß ich nicht. Und deshalb fürcht’ ich mich
vor der Probe.«

»So stell’ mich doch auf die Probe. Denk dir doch mal was ganz
Unerhörtes aus.«

Sie blickte ihm starr in die Augen, als ob er ihre Gedanken erraten
hätte und sie sich vor der nächsten Sekunde fürchtete. Aber seine
scharf gewordenen Züge zeigten keinen Sarkasmus, nur eine sich
nähernde, mitleidsvolle Liebe.

Das konnte sie nicht ertragen. In diesem Augenblick nicht. Ein
Schluchzen schüttelte ihren Körper, und sie ließ die Tränen strömen,
wie sie wollten. Sie hatte jede Gewalt über sich verloren.

»Ich kann ja nicht leben ohne dich. Was soll denn nur werden?«

Er zog sie sacht wie ein krankes Kind auf seinen Schoß und streichelte
ihre schönen Arme.

»Glück soll daraus werden. Glück, nichts als Glück. Ein seliger Mann
und eine selige Frau.«

»O du arme Dichterseele, wie werde ich dich enttäuschen.«

»Dann werde ich meine Lieder zu dir reden lassen; von alten Zeiten,
von stolzen Menschen, von verschwiegenen Stunden, die uns mehr waren
als Jahre. Und die Erinnerungen werden so mächtig werden, daß sie eine
Fortsetzung fordern.«

»Du — Hans,« sagte sie hastig.

»Ich höre.«

»Du sollst mir eins versprechen.«

»Ich verspreche dir heute alles.«

»Du sollst mich nicht mehr andichten. Jetzt nicht, die nächsten Tage
nicht. Ich ertrag’ es jetzt nicht, so — so deine Seele zwischen den
Fingern zu halten in ihrer beispiellosen Offenheit. — So blicke mich
doch nicht so ironisch an. Du kannst mich ja gar nicht verstehen.
Gerade weil ich deine Seele nun besser kenne als du, und weil ich dir
gerade in diesem Punkte nicht oberflächlich erscheinen will. Weil ich
erst — — Ach nein, später, später. Du mußt jetzt gehen. Nimm deinen
Mantel und Hut. Wie kalt es ist; fühlst du es nicht auch? Gute Nacht,
Liebster ...«

Er berührte ihre Lippen nur ganz sanft und ging.

An der Tür drehte er sich um. »Ich werde morgen abend bei dir sein.
Bestimme nur die Stunde. Zur Teezeit, um sieben?«

»Morgen? Nein, morgen komme nicht!«

»Aber weshalb morgen nicht? Ich muß mich doch nach meinem Patienten
umsehen.«

»Ich erwarte morgen Besuch.«

»Und wenn schon. Der soll mich doch nicht hindern, du nervöses
Geschöpf.«

»Wenn ich dich aber bitte. Der Besuch würde dich nur — nur —
langweilen. Das will ich nicht. Komme übermorgen, Mittwoch, aber eine
Stunde früher als die Mittwochsgäste. Um sechs; willst du?«

Er sah sie lächelnd an, nickte ihr zu und ließ sie allein.

Auf dem Wege nach seiner Wohnung befiel ihn eine unerklärliche Unruhe.
Aber er redete sie sich aus. Wenn ihr etwas zustieße, morgen, während
er nicht zugegen wäre? Nun, er würde der erste sein, den sie rufen
lassen würde. Sie konnte ja doch nicht ohne ihn sein. Soeben erst hatte
er es von ihrem leidenschaftlichen Munde vernommen.

Ein überhebendes Gefühl wallte in ihm auf, und wieder reckte und
streckte sich die männliche Eitelkeit in ihm weit über die selbstlose
Liebe hinaus und ließ ihn sich nur als lächelnden Gebieter dieser
vielgefeierten Frauenschönheit sehen. Aber als er in der Frühe
erwachte, war auch die Unruhe wieder erwacht und gab ihn nicht mehr
frei und ließ ihn alle Handlungen mechanisch verrichten.

Auch Frau Bettina fand, als der Morgen graute, keinen Schlummer mehr.
Ziel- und zwecklos durchwanderte sie im Frisiermantel alle Räume der
Wohnung, blieb an den Fenstern stehen, blickte in den trüben Tag
hinaus, gab der Jungfer Aufträge, die sie sofort widerrief, und kehrte
immer wieder in den Salon zurück, um gedankenlos das Zifferblatt
der Bronzeuhr zu betrachten. Stellte sich wirklich ein Gedanke
ein, so dachte sie ihn nicht zu Ende, sondern eilte schnell in das
nächstgelegene Zimmer, um sich von irgend einem anderen Gegenstand
abziehen zu lassen.

Endlich, gegen Mittag, brachte ihr das Mädchen eine Depesche.

Sie nahm den Papierstreifen entgegen, dankte kurz und legte ihn neben
sich auf den Tisch. Erst als sie sich wieder allein befand, griff sie
danach und drehte das Blatt in den Händen umher. Dann erhob sie sich
plötzlich, warf den Kopf zurück, als ob sie das letzte schwache Zaudern
ein für allemal abweisen wolle, vergewisserte sich durch einen klaren
Umblick, daß sie ganz und gar Herrin der Situation sei, und entfernte
ruhig die Siegelmarke von der Depesche.

Sie schlug das Blatt auseinander und las:

»Reise soeben ab. Gestatten Sie mir, Ihnen um sechs Uhr meine
Aufwartung zu machen. Ich küsse Ihre Hände. Georg.«

Ruhig faltete sie das Papier wieder zusammen und legte es auf eine
Schale. Dann klingelte sie.

»Sie können das Frühstück bringen, Anna. Ich werde heute nicht
dinieren.«

Sie trank in kleinen Zügen ein Glas Sherry aus und wählte in den
Speisen herum, ohne viel zu genießen. Trotzdem saß sie über eine Stunde
zu Tisch. Als auf ihr Klingelzeichen das Mädchen wieder erschienen war,
fragte sie nach der Zeit.

»Es ist zwei Uhr, gnädige Frau. Befehlen gnädige Frau eine Toilette?«

»Zwei Uhr? Ja, da muß ich wohl daran denken, mich anzuziehen. Kommen
Sie doch gleich mit.«

Während sie in ihrem Ankleidezimmer vor dem wandhohen Spiegel stand,
kam es ihr in den Sinn, daß sie für Hans Steinherr nie einen großen
Toilettenapparat hatte in Szene zu setzen brauchen. O, dem hätte sie
in dem losen, weichen und bequemen Hauskleid immer am besten gefallen.
Das war auch Hans Steinherr. Und der andere, der heute — endlich — sein
Kommen gemeldet hatte — —

»Nein, Anna, was legen Sie mir nur heute vor! Das ist ja schon zwei-,
dreimal getragen. Mädchen, seien Sie nicht so ungeschickt! Wo ist denn
der Karton, der gestern gekommen ist? Ja, ja, das seegrüne Unterkleid
und das Überkleid aus schwarzen Valenciennes mein’ ich. ›Diese
fürstliche Robe?‹ fragen Sie Unschuld? Endlich der erste vernünftige
Ausdruck, den ich von Ihnen höre. Also — die fürstliche Robe.«

Sie lehnte sich in ihrem Frisiermantel in den Stuhl und blickte
unverwandt in den Spiegel. »Lassen Sie sich Zeit. Sie sollen mich heute
so schön machen, wie ich noch nie war.«

»O, gnädige Frau sind immer schön. Wenn gnädige Frau noch so kunstvoll
frisiert sind, schöner können gnädige Frau darum nicht ausschauen.«

Als wenn Hans Steinherr spräche ... Nur daß er für »gnädige Frau« einen
etwas präziseren Ausdruck setzte.

»Erzählen Sie mir etwas, Anna!«

Und das Mädchen schwatzte drauf los, Geschichten von Bekannten
und Unbekannten, und kam sich von Minute zu Minute wichtiger und
interessanter vor, während Frau Bettina sie längst vergessen hatte. —
— Bis das letzte Spitzenendchen mit kleinen Brillantnadeln über dem
Seidenstoff befestigt war, hatte es fünf Uhr geschlagen.

Sie schickte das Mädchen fort, in der ganzen Zimmerflucht alle Flammen
der elektrischen Kronen zu entzünden, und blieb selbst, ein Buch in der
Hand, in ihrem Ankleidezimmer.

Punkt sechs Uhr klopfte das Mädchen. Sie sah dem erstaunten Gesicht an,
daß es sich um eine außergewöhnliche Meldung handelte.

»Nun, Anna?« fragte sie lächelnd und nahm die ihr auf dem Tablett
dargereichte Visitenkarte.

»Gnädige Frau, der Prinz von —«

»Es ist gut, Anna. Bitten Sie Hoheit, mich nur eine Sekunde zu
entschuldigen. Ich würde sofort erscheinen.«

Noch einmal stellte sie sich vor den Wandspiegel, musterte ruhig ihre
Gestalt und den Glanz ihrer Augen und ging mit der Sicherheit der
Weltdame, um den Prinzen zu begrüßen.

Er stand mitten im Salon, im eleganten Frackanzug, den =chapeau claque=
unter dem Arm, und eilte ihr, sobald sie die Portiere zurückschlug,
entgegen.

»Meine schöne und liebenswürdige Freundin —«

Sie reichte ihm anmutsvoll die beringte Hand, die er wiederholt an die
Lippen führte.

»Seien Sie mir herzlich willkommen, Hoheit. Was trieb Sie denn so
plötzlich aus Ihrer Weltabgeschiedenheit her?«

»Die Sehnsucht, mich meiner gnädigen Frau zu Füßen zu legen.«

»Die Sehnsucht hat lange gebraucht, Hoheit, um zu diesem Entschluß zu
kommen.«

»Man hatte ihr die Flügel zusammengeschnürt. Zürnen Sie ihr nicht. Ich
war ein abhängiger Mann.«

»Sie ~waren~? Soll ich das dahin verstehen, daß Sie es heute nicht mehr
sind?«

»Die Entscheidung wird lediglich von Ihrer Güte abhängen, Bettina.«

Sie saß ihm gegenüber, frei und unbekümmert, und erwiderte seinen
festen Blick lächelnd.

»Du lieber Gott, Hoheit, man appelliert so viel an meine Güte. Aber
tragen Sie Ihr Anliegen vor.«

Der Prinz wurde für einen Moment unsicher. Er blickte auf die Spitzen
seiner Lackschuhe und streichelte mit dem Rande seines Claques nervös
die Bügelfalte seines Beinkleides.

Frau Bettina hatte Muße, ihn zu betrachten. Er war eine durchaus
vornehme Erscheinung, ein Mann von glänzendster Haltung und großen
Formen. Nur die melierten Schnurrbartspitzen und die leicht ergrauten
Schläfen wiesen darauf hin, daß er die erste Jugend hinter sich hatte,
aber seine fünfzig Lebensjahre hätte ein Fremder nicht erraten. Ein
geschultes Auge konnte dem Kolorit des Gesichtes anmerken, daß Seine
Hoheit den Lebensgenüssen nicht aus dem Wege zu gehen pflegte. Eine
leise Lebemannstönung zog sich darüber hin.

»Meine gütige Gnädige,« sagte der Prinz und schaute zu ihr auf, »ziehen
Sie doch in Betracht, ich bin in meinem bäuerlichen Waldnest gänzlich
außer Form gekommen.«

»Ach, Sie wollen ein Kompliment hören? Nein, nein, Hoheit, so wollen
wir nicht beginnen.«

»Meine gnädige Frau, so gestatten Sie mir, ohne Umschweife auf mein
Ziel loszusteuern. Über meine Gefühle befinden Sie sich nicht im
unklaren. Ich hatte mir, als ich im Herbst schied, die Freiheit
genommen, sie Ihnen zu gestehen, und unsere Korrespondenz konnte
sie nur noch verstärken und vertiefen. Der Grund meines damaligen
Scheidens ist Ihnen bekannt. Es galt, Hindernisse hinwegzuräumen und«
— er lächelte auf eigene Weise — »dem hohen Chef unseres Hauses die
Gelegenheit zu bieten, sich durch den Augenschein von der nunmehr
erlangten Reife zur Ehe zu überzeugen.«

»So notwendig war das?« warf sie ein.

»Meine Jugend hat ein bißchen lange gedauert, ich gestehe es zu.
Dadurch aber hoffe ich, mir die Anwartschaft auf einen besonders
soliden Ehemann erworben zu haben.«

— Und bei Hans Steinherr, dachte sie bei seinen Worten, sollte die
Jugend mit der Ehe wiederbeginnen und endlos sein. —

»Sie haben sich höchst ehrenvolle Vorsätze gestellt, Hoheit,« erwiderte
sie in dem Tone, den er angeschlagen hatte.

»=Eh bien=, meine Gnädige, gegen die Ehe als Ding für sich hatte mein
Herr Oheim auch durchaus nichts einzuwenden, das einzige Hindernis war
—«

»Die erwählte Dame.«

»Keineswegs, meine gnädige Frau. Die Persönlichkeit der Dame stand
über jeder Situation. Lediglich die Rangfrage — verzeihen Sie, daß ich
das erwähnen muß, aber die Fragen der Etikette rangieren bei Hof zum
wenigsten mit dem Glaubensbekenntnis in einer Linie.«

»Also als gläubig ward ich ~ohne~ jede Prüfung befunden?«

»Prüfungslos,« lachte er und küßte ihr die Hand. »Schon daß Sie mich
schlimmen Christen bekehrt haben, gewann Ihnen die Gloriole der
Heiligen.«

»Es scheint mir doch,« sagte sie leichthin, »als ob die Fragen der
Etikette demnach ~vor~ den Fragen des Katechismus rangierten. Aber ich
werde Sie nicht weiter unterbrechen. Entschuldigen Sie, Hoheit!«

Der Prinz überwand die verblüffende Ironie schnell. Es war ihm darum zu
tun, zur Hauptsache zu kommen.

»Der hohe Chef unseres Hauses vermochte an der Aufrichtigkeit meiner
Gefühle auf die Dauer nicht zu zweifeln, viel weniger noch an der
Stabilität meiner Absichten. Er geruhte, einzulenken und mir den
Konsens zu bewilligen. Freilich unter Auferlegung nicht zu umgehender
Opfer. Ich habe auf die Berechtigung zur Regierungsnachfolge Verzicht
geleistet — nun, für ein Jahrhundert war die Kandidatur ohnedies in
sicheren Händen, und später wird’s mir keinen Spaß mehr machen, —
und ich werde =à la suite= der Armee gestellt. Den Drill hatte ich
längst schon über, und ich werde in jeder Beziehung ein freier Mann.
Am Tage unserer Ehe — ich bitte Sie um die Erlaubnis, Bettina, von
uns in dieser Gemeinsamkeit zu reden — am Tage unserer Ehe wird uns
im Anschluß an den Namen meiner Besitzung der Titel Graf und Gräfin
Wallberg verliehen werden.«

Er erhob sich.

»Das wäre die Lösung der einen Seite der Frage. Die Lösung der anderen
steht in Ihrer Hand.«

Auch Bettina hatte sich erhoben. Sie blickte einen Moment sinnend vor
sich hin.

»Und man wird, Hoheit, mich nicht als lästigen Eindringling betrachten?
Ich kann annehmen, daß man mir meine Stellung nicht zu einer
exponierten gestaltet, daß es mir nicht an verwandtschaftlichem und
freundschaftlichem Entgegenkommen seitens Ihrer Familienmitglieder
fehlen wird? Das ›Nullerl‹ zu spielen, liegt nicht im Bereich meines
Ehrgeizes.«

»Meine Brüder sind entzückt, Sie als Schwägerin zu sehen. Ihr Bild, das
ich besitze, hat allein schon Wunder gewirkt. Meine Brüder Dick und
Fredy suchen bei der schönen Herrin dieses Hauses und dieses Herzens um
die Ehre nach, der Vermählungsfeierlichkeit beiwohnen zu dürfen, und
senden jetzt schon ergebensten Handkuß mit der Versicherung blinder
Anhänglichkeit. Gestatten Sie, daß ich mich meines Auftrages in vollem
Umfange entledige!«

Er nahm mit ritterlicher Verbeugung ihre Hände und küßte die rechte und
die linke.

»Georg,« sagte sie und zog sanft ihre Hände zurück, »halten Sie mich
nicht für unzart. Aber bei einer so außergewöhnlichen Verbindung ist
es direkt notwendig, den realen Dingen ins Auge zu sehen. Ich denke,
wir sind über die Sentiments erhaben. Sie sehen in mir die schöne und
liebenswerte Frau. Aber das dürfte nicht genügt haben, mir die Stellung
an Ihrer Seite anzubieten. Sie sehen in mir auch die vollkommen
unabhängige und mit den Schätzen dieser Welt einigermaßen gesegnete
Frau.«

»Bettina!« warf der Prinz in verweisendem Tone ein.

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, das an die zweite Stelle zu
schieben. Aber es ist ein Grund mehr für mich, es zu beachten. Das
können und dürfen Sie nicht in Abrede stellen. Vorwürfe zwischen uns
müssen von vornherein ausgeschlossen sein, jeder von uns wird dem
anderen seine kleinen Liebhabereien nicht mißgönnen. Ihr Rennstall hat
Sie viel gekostet, der Troubadourendienst« — sie lächelte vor sich hin
— »kurz, sagen Sie mir ruhig die Höhe Ihrer Engagements.«

»Bettina! Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Aber das — das ist mir
nicht möglich.«

»Nein, nein, lieber Freund, jetzt kein übertriebenes Zartgefühl.
Wir haben ernstere Dinge vor, als hier das verschämte Liebespaar
zu spielen. Wir kennen uns beide, und wir wollen es miteinander
wagen. Schaffen wir also sofort die richtige Grundlage. Das ist für
lebenserfahrene Menschen wie wir das einzig Würdige.«

»Ich strecke vor Ihrer klaren Lebensauffassung die Waffen, Bettina.«

»Also?« neckte sie und reichte ihm ermutigend die Hand. »Ist es eine
sechs- oder eine siebenstellige Zahl?«

»Rund eine siebenstellige,« sagte er mit einem schweren Seufzer, der
humoristisch klingen sollte.

»Nun,« entgegnete sie mit einem frappierenden Gleichmut, »das wird
sich immerhin arrangieren lassen. Über diesen Punkt brauchen wir also
nicht mehr zu sprechen. Die Regelung können wir unseren Sachwaltern
überlassen. Und wann gedachten Sie die Verlobung zu publizieren?«

»Pardon,« sagte er, legte den Hut hin und kam auf sie zu. »Gestatten
Sie mir, daß ich mich zunächst in aller Form Rechtens meines Besitzes
versichere.«

Sie stand regungslos, mit leicht vorgebeugtem Kopf, und er küßte sie
respektvoll auf die Stirn.

Dann atmete sie tief auf. Es war geschehen. —

Nun stand sie auf der Höhe, und das Leben war ihr tributpflichtiger
denn je. Nach der Sklavenrolle der ersten Ehe die Herrscherrolle der
zweiten. Unumschränkte Freiheit, und die Gesellschaft ihr zu Füßen.
Jetzt erst wollte sie das Leben erschöpfen, jetzt war sie erst ganz
gerüstet, denn über ihr hing der Schild.

»Meine liebe Bettina,« sagte der Prinz feierlich, »ich huldige als
erster der Gräfin Bettina Wallberg.«

»Ich danke dir, Georg. Die Gebieterin wird nicht allzu strenge sein.«

Er steckte ihr einen reich gefaßten Brillantring an die Hand, und sie
ließ es sich lachend gefallen, daß er alle Ringe, die sie trug, abzog
und anprobierte, bis er sich für einen Rubin entschied.

»Das ist Herzblut,« erklärte er, »dein rotes, feuriges Herzblut.«

Sie schloß die Augen und dachte an ihr rotes, feuriges Herzblut — —

»Wie schön du bist. Ich habe weder in Paris, noch in Nizza eine
wundervollere Toilette gesehen. Was brauchst du mich eigentlich? Du
bist ja die geborene Prinzessin.«

Dann begann er, ihr seine Pläne zu entwerfen. Keine lange, offizielle
Verlobung. Die Vermählung heute in vier Wochen. Nur so viel Zeit,
um die notwendigen Reisevorbereitungen zu treffen. Dann eine
mehrmonatliche Reise durch den Orient: Bukarest, Sofia, Konstantinopel,
Alexandria, wohin und so weit sie wünsche. Seine intimen Beziehungen
reichten an alle Höfe und Vizehöfe. Sie würden überall der
glänzendsten Aufnahme gewiß sein können, und überall würde sie die
Herzen besiegen.

Sie lauschte gern seinen weltmännischen Plaudereien. Eine schmeichelnde
Vorahnung unzähliger Triumphe zog durch ihre Seele und gab ihr ein
erhöhtes Selbstgefühl ...

Leben, leben — auf den Höhen! — —

Draußen erscholl kurz und fest die Korridorklingel.

»Ah, wir werden gestört,« meinte der Prinz bedauernd und horchte auf.

Auch Bettina war zusammengeschreckt. Sie kannte diese Art des Klingelns.

»Ich bin für niemand daheim,« murmelte sie zornig. »Ich habe ihm doch
untersagt — —« Aber das Mädchen hatte keinen dahinlautenden Befehl.
Zumal bei Herrn Doktor Steinherr wußte sie, daß eine zeremonielle
Anfrage, ob gnädige Frau den Besuch anzunehmen gedenke, außer Betracht
stand.

Hans Steinherr wechselte auf dem Korridor ein paar Worte mit dem
Mädchen, darauf öffnete dieses die Salontür nach leichtem Anklopfen
und meldete gewohnheitsgemäß den täglichen Besucher: »Herr Doktor
Steinherr, gnädige Frau.«

Frau Bettina blieb ruhig sitzen, und der Prinz verhielt sich nach ihrem
Vorbild ebenfalls reserviert.

Hans Steinherr trat ein. Seine Augen blitzten in der Erwartung eines
lachenden, überraschten Willkommens. Er hatte es einfach nicht mehr
ausgehalten daheim, der vergangene Abend mit seiner verweinten
Seligkeit und den rätselhaften, springenden Gefühlsstimmungen lastete
ihm auf der Seele. Wenigstens sehen wollte er Bettina und ihr den
Beweis liefern, daß er ihretwegen selbst die langweiligste Gesellschaft
gern ertrüge.

Mit lässiger Handbewegung stellte Bettina vor.

»Herr Doktor Steinherr — Seine Hoheit Prinz Georg.«

Der Prinz machte eine höfliche Verbeugung und nahm seinen Platz wieder
ein. Hans Steinherr stand noch immer. Vergaß man vor der hohen Ehre,
einem Prinzen von Geblüt das Gastrecht zu erweisen, ihm, der sich als
Herr der Gastgeberin dünkte, einen Stuhl anzubieten?

»Was führt Sie her, lieber Herr Doktor? Ein neuer literarischer Plan? —
Ich bin nämlich die Egeria dieses großen Dichters und bilde mir nicht
wenig darauf ein,« wandte sie sich lächelnd an den Prinzen. »Hoheit
haben allen Grund, auf der Stelle eifersüchtig zu werden.«

Hans Steinherr trat einen Schritt näher. Mit festem, zwingendem Blick
sah er Bettina an, und auf seiner bleichen Stirn trat eine schwere,
dunkle Ader hervor.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor,« sagte die schöne Frau
hastig, »daß ich Sie nicht zum Niedersitzen einlade. Aber ich mußte, so
schwer es mir wurde und entgegen allem Gastrecht, Hoheit bereits meinen
leidenden Zustand erklären und ihn bitten, seinen Besuch morgen zu
meinem Mittwochabend zu wiederholen. In meinem Schlafzimmer wartet das
Migräninpulver, meine Herren.«

Der Prinz verstand und erhob sich sofort. »Möge Ihnen eine angenehme
Ruhe und ein heiteres Erwachen beschieden sein, meine Gnädige,« und er
küßte ihr, abschiednehmend, die Hand, dicht unter dem Verlobungsring.

Sie bemerkte seine Galanterie und gab es ihm durch einen leisen Druck
der Fingerspitzen zu verstehen.

»Gute Nacht, Herr Doktor, auf morgen also! Ich rechne bestimmt auf Sie.
Weil Sie heute zu kurz gekommen sind, dürfen Sie morgen eine Stunde
früher erscheinen.«

Hans Steinherr verbeugte sich kalt. Er war überhaupt nicht zum Reden
zugelassen worden.

Auf der Straße zogen die Herren die Hüte. Der Prinz winkte eine
Droschke heran und ließ sich zu einem Theater fahren. Für den Klub,
in dem er einst Stammgast gewesen war, war es ihm noch zu früh. Hans
Steinherr wanderte planlos weiter.

Was war das? dachte er immer wieder, was war das? Das war doch eine
Komödie, eine ganz richtige Komödie! Oder — auch früher schon? — Wie?
Was? — Er fühlte sich total überrumpelt. Er fand sich nicht zurecht.
Wofür hatte sie sich so geschmückt? Das fiel ihm nachträglich ein. Dann
versagte das Gehirn den Dienst, und es war ihm so sonderbar angenehm,
nicht mehr denken zu können. Nur der frivole Heinesche Vers zog ihm
kreuz und quer durch den Sinn, und er konnte ihn nicht abschütteln:

    »Um sechse des Morgens ward er gehenkt,
    Sie aber schon um achte
    Trank roten Wein und lachte.«

[Illustration]




Viertes Kapitel


Hans Steinherr war zu einem Entschluß gekommen. Als er am
Spätnachmittag des nächsten Tages den Frack anzog, wußte er, daß der
Abend die Entscheidung bringen müsse. Heute noch würde seine Verlobung
mit Frau Bettina erklärt werden, oder — er machte mit Fassung seine
Abschiedsverbeugung. Auf seinem Schreibtisch prangte eine große
Photographie Bettinas. Sie zeigte den von der dunklen Haarwelle
gekrönten Kopf im Profil, die klassischen Schultern und den weißen,
schlanken Nacken, der von mattfarbener Seide wirksam umsäumt war. Er
sah das Bild prüfend, finster an; wie einen Gegner, mit dem er heute
noch die Klinge kreuzen müsse.

»Schöne Frau,« sagte er, »jetzt gilt’s. Zeig, daß du Seele hast, oder
du bist verloren.«

Dann drehte er das Bild herum.

»Erst die Berechtigung nachweisen, daß du hier stehst, sonst könnte ich
ja das Zimmer mit Bildern tapezieren.«

Eine Röte stieg ihm in die Schläfen.

Was für unwürdigen Zweifeln gab er Raum! Er verstand sich nicht, daß
er von der Frau, mit der er im Begriff stand, seinen Namen zu teilen,
auch nur vorübergehend anders denken konnte als in der höchsten
Wertbemessung. Sie hatte Kapricen. Welche Frau von Welt hatte die
nicht! War er doch selbst in diesem Winter nervös geworden und hatte
sich doch Jahre hindurch in kalter Selbstüberwindung geübt.

Draußen auf dem Korridor wurden Stimmen laut. Es wurde nach ihm
gefragt, und die Wirtschafterin gab Auskunft. Da vergaß er, das
Bild wieder umzudrehen und wandte sich nach der Hausbesorgerin, die
eingetreten war.

»Ein Herr möchte Sie sprechen, Herr Doktor. Er sagt, er wär’ ein
Landsmann.«

»Wie heißt der Herr? — Sie wissen es nicht? — Nein, Sie brauchen nicht
zum zweiten Male zu fragen. Lassen Sie den Herrn eintreten.«

Gespannt blickte er nach der Tür. Sonderbar, daß sich just in diesem
Augenblick die Heimat melden mußte.

»Guten Tag, Steinherr; ’n Tag, ’n Tag! Jesses, Jüngsken, dich hätt’
ich bereits nich widdererkannt. Süch ens, wer da vor dir steht?
Donnerlütsch, er hat kein’ Ahnung mehr vom Willibald Hüsgen am
Wehrhahn.«

»Hüsgen —?« fragte Steinherr überrascht. »Wahrhaftig, an dich hätt’
ich zuletzt gedacht. Nichts für ungut. Es freut mich doch, daß du mich
aufgesucht hast. Sei willkommen!«

»Na, wenn et dich nur freut,« meinte der Gast und schüttelte die
dargebotene Hand, »dat is die Hauptsach’.«

»Nimm Platz, ich steh’ zwar, wie du an meinem Frack siehst, auf dem
Sprunge, auszugehen, aber auf ein paar Minuten langt’s immer noch. Du
besuchst mich dann in den nächsten Tagen wieder.«

»Och, Steinherr, laß doch heut die Gesellschaft schießen. Ich hatt’
grad Lust, mit dir so’n bißchen ’rumzukneipen.«

»Das läßt sich heute leider nicht machen,« versetzte Steinherr
höflich. »Ich habe sogar fest zugesagt, schon vor dem Beginn der
Abendgesellschaft zu erscheinen.«

Willibald Hüsgen überlegte. Er hatte sich einen schönen Rubensbart
wachsen lassen, den er zärtlich streichelte.

»Du hast vielleicht gehört, Steinherr,« begann er mit offenem
Selbstbewußtsein, »daß ich fix in die Höhe gekommen bin. Wir haben
da in Düsseldorf ein bißchen revolutioniert. Die Herren Malermeister
schliefen ja alle auf die Dauer ein; Gehirnschwund, Farbenblindheit,
Verblödung. Die betrieben das Geschäft zuletzt rein fabrikmäßig und
schmierten ihre Sächelchen nach dem Quadratfuß. Sie wünschen, mein
Herr? Eine Düsseldorfer Landschaft? Ein zartes Genrebildchen? Ein
derbes? Bitte, nehmen Sie Platz. Sie werden auf der Stelle rasiert.
So, bitte, frisch von der Pfanne, gleich mitzunehmen, wie beim
Kirmeßphotographen. Was es kostet? Fester Düsseldorfer Preis. Aber
bestellen Sie doch ein Pendant dazu! Pendants, das ist das Feinste.
Links vom Sofa, rechts vom Sofa. Heilig’ Mutterjottes, ich krieg’
Leibschmerzen!«

»Setz dich doch, Hüsgen!« sagte Steinherr lachend. Die heimatlichen
Klänge regten ihn zu einer längst entwöhnten, heiteren Stimmung an. Wie
lange hatte er solch eine Plauderstunde vermißt!

»Du,« meinte Hüsgen und ließ sich gemütlich nieder, »das
Leitungswasser, hab’ ich mir sagen lassen, wär’ bei euch in Berlin gar
nicht zu genießen. Schade.«

»Ach so,« fiel Steinherr ein, »du kommst ja vom Rhein. Da läßt sich
natürlich eine Unterhaltung nicht anders als zwischen den Gläsern
denken.«

»Zu allen Tages- und Nachtstunden,« erklärte Hüsgen. »Die
Zeiteinteilung ist Menschenmachwerk. So was muß überwunden werden. Ah,
das nenn’ ich doch eine Blume. Prosit! Es lebe der freie Geist!«

Sie taten sich mit einem Glase Rheinwein Bescheid, und Hüsgen nahm
sofort den Faden wieder auf: »Ja, alter Junge, den Umwandlungsprozeß
in Düsseldorf hast du nicht mitgemacht. Ihr hier draußen lebt in der
Einbildung, in Düsseldorf liefe noch alles im alten, verschlafenen
Trott. Schneidet euch nur nicht! Da ist Leben in die Bude gekommen;
über Nacht, sag’ ich dir. Aus der alten ›Lätitia‹, dem ›Tartarus‹,
dem ›Baldur‹ sind Maler hervorgegangen, Maler — na, mit einem Wort —
Kerle! Ich bin nämlich, als die Gaudeamusbrüder sich in Wohlgefallen
auflösten, weil mein Alter den Bierverlust nicht mehr tragen wollte
und ein anderer Dummer mit dem Laternchen nicht zu finden war, in
die ›Lätitia‹ eingetreten. Kurz, ich sag’ dir, die in Düsseldorf
wissen jetzt, was sie wollen! Der Fink hat wieder Samen! Das neue
Jahrhundert wird die Leute wieder an der Spitze sehen. Darauf kannst du
kommunizieren gehen.«

»Das freut mich, zu hören. Es war aber auch Zeit geworden. Und du
stehst also mit an der Spitze?«

Willibald Hüsgen verbeugte sich nur.

»Ich hab’ ein paar Riesenfetzen verkauft. Landschaften, aber ordentlich
mit Erdgeruch. Weißt du, Landschaften, das ist heute nämlich das
einzige. Früher, da schrie die bornierte Gesellschaft gleich: ›Dat is
ja gar kein Möler, dat is ja nur en Landschafter!‹ Jawoll, un dann kam
dat Echo von draußen: ›Seht ens, dat is Düsseldorfer Figurenmalerei.
Dat sind Bilderbogen nach Zeichenvorlagen!‹ Zum scheckig lachen!«

»Also, du hast Erfolg,« sagte Steinherr und erhob sich. »Ich gratuliere
herzlich. Und nun sei nicht bös, daß ich dich nicht länger hierhalten
kann. Gerade heute abend darf ich nicht fehlen.«

»Ja,« meinte Hüsgen und schlürfte langsam sein Glas aus, »wenn sich
das nun mal nicht anders einrichten läßt? Ich bin nur auf ein paar
Tage hier, wegen meiner Ausstellung bei Schulte. Und eben für heut
hatt’ ich dir noch eine Masse zu erzählen. Du,« fragte er plötzlich mit
echter Hüsgenscher Unverfrorenheit, »kannst du mich denn nicht in die
Gesellschaft einführen?«

»Heute geht’s schlecht,« sagte Steinherr reserviert. »Es ist ein Prinz
da, den ich selbst nicht kenne.«

»Ein Prinz?« wiederholte Hüsgen wegwerfend. »Die sind, wenn’s ans
Bilderbezahlen geht, akkurat wie andere Menschen. Wie heißt er denn?
Vielleicht kenn’ ich ihn.«

»Prinz Georg von Dingsda. Irgend eine Seitenlinie.«

»Na natürlich kenn’ ich den. Der stand doch mal ein Jahr in Düsseldorf.
Und trinken konnt’ der! Ich hab’ ihn mal aus dem ›Malkasten‹ nach Hause
geschleppt, und zum Dank durft’ ich ihm gänzlich gratis seine Gäule
malen. Drunter tat er’s nicht. Als kleines Erinnerungszeichen an die
große, denkwürdige Stunde. Du, nimm mich mit; ich muß doch meinen edlen
Mäcen begrüßen.«

Hans Steinherr lachte. Auch er hätte gern mit dem einstigen Kameraden
noch geschwatzt. Wenn er den Menschen ansah, wenn er ihn sprechen
hörte, wurden hundert alte Bilder in ihm lebendig. Die Proben im
Hüsgenschen Hause, Francesca von Rimini, Hannes — Und die Fragen
brannten ihm auf den Lippen.

»Höre, ich muß vorausfahren. Aber ich werde dich anmelden. Ich glaube,
ich darf mir in dem Hause eine Einführung wohl gestatten. Wo wohnst
du? Am Potsdamer Platz? Dann steig schnell mit in meine Droschke, ich
setz’ dich vor der Tür ab, du ziehst den Frack an und kommst nach, und
ich werde durch den Tiergarten hinfahren. Die Adresse geb’ ich dir. Nun
aber eilt es.«

Auf der kurzen Strecke zwischen Potsdamerbrücke und Potsdamerplatz
kramte Hüsgen schnell noch seine größte Neuigkeit aus.

»Was sagst du denn zu unserem Hannes? Das ist eine Karrière, was? Die
verdient das Geld gleich scheffelweis, stellt sich hin, singt ein paar
Lieder und trägt die dicken Kuverts auf die Bank. Wenn ich bedenke,
daß ich das Mädel mal heiraten gewollt hab’ ... Nee, nee, das ist kein
Spaß von mir. Damals wollt’ ich mich tatsächlich herbeilassen. Ich
hatte nur noch nicht das dienstmäßige Alter. Und dann standest du mir
in der Quere. Das war wirklich nicht hübsch von dir, Steinherr, denn du
hattest doch keine ernsthaften Absichten. Na, ich war nicht schlecht
wütend auf dich. Einmal hab’ ich sogar an deinen Alten geschrieben,
aber anonym natürlich, das war ja nicht so schlimm. Gott, als Jung’
ist man ja immer ein Stück Halunke, besonders in dem eifersüchtigen
Stadium, und du bist ja längst über so was ’raus.«

»Wie hast du denn nur meine Adresse erfahren?« lenkte Steinherr ab. Das
Thema war ihm gerade jetzt unbequem.

»Deine Adresse? Springe ist doch hier. Kam heute mit mir zusammen an.
Jesses, er will dich ja vor sieben Uhr besuchen. Der Hannes ist von
London gekommen und singt heute abend in der Philharmonie, wo der
Nikisch dirigiert. Oder ist es der Weingartner?«

Der Wagen hielt vor dem Hotel, und Hüsgen, der in seiner derben
Selbstsucht Angst verspürte, die Gesellschaft mit dem Prinzen könnte
ihm verloren gehen, sprang schnell aus dem Fonds und rief dem
Jugendfreunde zu: »Das erzähl’ ich dir nachher alles ausführlich. Wohin
soll der Kutscher?«

»Kurfürstendamm.« Steinherr nannte zerstreut Namen und Nummer.

»Auf Wiedersehen. In einer Stunde meld’ ich mich zur Stelle.«

Steinherr wollte ihn zurückhalten. Da fiel sein Blick auf die
Bahnhofsuhr. Sechs vorbei. Er gab dem Kutscher einen Wink und lehnte
sich, von einer plötzlichen unerklärlichen Müdigkeit befallen, tief in
die Polster des Wagens zurück. Hannes in Berlin, mit ihm in derselben
Stadt — —

Er sah die Straßen nicht, durch die der Wagen rollte. Er sah nur immer
Bilder aus dem alten, einstigen Düsseldorf vor sich. Wanderungen
durch den stillen Hofgarten, Wanderungen über die Rheinbrücke,
Wanderungen nach all den kleinen altertümlichen Städtchen, Neuß, Zons,
Kaiserswerth, über die der Zauber geschichtlicher Romantik lag, und
Benrath, das für ihn den Zauber der Liebesidylle gezeitigt hatte.

War er wirklich einmal so jung, so selig verschwärmt, so trunken
verliebt gewesen, daß er nicht anders gekonnt hatte, als seine Liebe
durch die Natur zu führen, um seine innere Glückseligkeit mit der
Umgebung in Einklang zu bringen? Und — er besann sich — so stark, so
stolz, so lebensfreudig hatte er sich dazumal gefühlt, als er die Welt
erobern wollte. Die Welt in einem süßen, milden, hingebungsvollen
Mädchen. Und die Welt überhaupt! Er, der Sieger ...

Der Wagen hielt vor Frau Bettinas Haus, und Steinherr fuhr hastig empor.

Richtig, er war am Platz. Hier war ein Feld, Beweise anzutreten. Also
heraus doch mit der jugend-trotzigen niederrheinischen Siegernatur,
falls sie nicht vorzeitig vom Alter gestreift war wie ihr einstiger
Besitzer!

Er biß die Zähne aufeinander und ging ins Haus.

Frau Bettina befand sich noch in ihrem kleinen Privatsalon, aber das
Mädchen hatte Auftrag, Herrn Doktor Steinherr unverzüglich zu ihr
einzuführen. Die Dame des Hauses erhob sich und kam ihm entgegen.

»Du hast dir heute Zeit gelassen, lieber Freund. Ich erwarte dich seit
einer halben Stunde, und dringender als je.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ein Schulfreund suchte mich in dem
Moment auf, in dem ich gehen wollte; ein junger, erfolgreicher Maler
aus Düsseldorf, der augenblicklich eine Ausstellung bei Schulte hat.
Hoffentlich hast du nichts dagegen, daß er heute abend hier erscheint.
Ich wußte ihn nicht anders loszuwerden.«

»Aber heute abend gerade —« machte sie, sichtlich unangenehm
überrascht.

»Du meinst, weil sich Hoheit angesagt hat?« Und mit leiser, ironischer
Färbung fuhr er fort: »Das trifft sich im Gegenteil sehr gut, der
Prinz Georg war während seiner Düsseldorfer Zeit der Mäcen des jungen
Künstlers.«

Sie sah ihn ungewiß an. Dann nickte sie, daß die Angelegenheit nunmehr
erledigt sei.

»Mein lieber Hans, wenn du den Namen des Prinzen nennst, ist mir, als
ob es mit einem gewissen Sarkasmus geschehe. Das hör’ ich nicht gern.«

»O — ich konnte nicht ahnen, daß dir der Mann so interessant wäre.
Übrigens, wir wollen uns nicht zanken.«

»Gewiß nicht. Ich wollte dir auch nur die Bitte vortragen, einige
Rücksicht auf mich zu nehmen.«

Er sah stutzig zu ihr hin.

»Sollte ich in der Tat so weit heruntergekommen sein, daß ich es an —
Rücksichtnahme fehlen ließe?«

»Gebrauche doch nicht immer gleich die stärksten Ausdrücke. Es greift
dich doch niemand an.«

»Mir war, als ob ich einen Vorwurf zu hören bekäme. Oder — verzeihe —
sollte es sich um — um eine Art Vorbereitung handeln?«

»Das ist ein Angriff auf mich,« fuhr sie auf. »Jetzt ersuche ich dich,
dich deutlicher zu erklären.«

»Deutlicher — —. Das ist so ein vages Gefühl. Seit einiger Zeit tritt
es auf, seitdem du so rätselhaft weich geworden bist. Aber das ist ja
unsinnig, rein unsinnig. Verliebte sehen Gespenster.«

Er zwang sich zu einem Lächeln und trat auf sie zu.

»Guten Tag, Bettina. In dem Eifer, uns Liebenswürdigkeiten zu sagen,
haben wir richtig vergessen, uns zu begrüßen.«

Sie beugte den Kopf und hielt ihm die Stirn hin. Da legte er ihr
leicht die Hand unter das Kinn und bog ihren Kopf zurück. Und als
sie die Wimper, die sie unmutig gesenkt hielt, endlich hob, traf ihr
unvorbereiteter Blick in seine tiefgrauen, strahlenden Augensterne, und
um seinen Mund gewahrte sie den alten, spöttischen Zug, der sie einst
angetrieben hatte, den Einsamkeitsmenschen auf besondere Qualitäten
zu erforschen. Sie hatte mehr als besondere Qualitäten, sie hatte den
~Mann~ gefunden.

Ihre Augen weiteten sich unter seinem Blick, ihre Brust schwoll unter
einem tiefen Seufzer —

— — Den Mann gefunden — —!

Und unwillkürlich hob sie sich in seiner Umarmung auf die Fußspitzen
und schob ihre Stirn an seine Wange hinauf.

Mit weicher Hand strich sie ihm ein Haarsträhnchen aus der Stirn und
streichelte sein Gesicht. »Mein ganzes Dasein wird darin bestehen, dir
Opfer zu bringen.«

»Also endlich hast du dich entschlossen? Endlich, Bettina?«

»Zu was, was du nicht längst schon wüßtest. Ich hab’ dich lieb.
Verstehst du das? Lieb, lieb, lieb! Viel zu lieb, als daß ich dich
heiraten möchte.«

»Ach — scherze jetzt nicht, Bettina!«

»Scherzen? Wer spricht von scherzen? Ich war noch nie so ernst wie
jetzt. Wollte ich die Unklugheit begehen, dich zu heiraten, so
wäre sowohl der Nimbus hin, der mich, wie der, der dich umgibt.
Binnen kurzem hätten wir die Zahl der alltäglichen Ehepaare um eins
vergrößert.«

Hans Steinherr staunte die Frau an, die mit ihm sprach. Hatte er recht
gehört?

»Du, Bettina, du verwechselst die Personen. Ich bin’s — ich.«

»O, ich bin durchaus bei der Sache. Ich habe alles hundertmal,
tausendmal überlegt und bitte dich nur darum, ruhig, ganz ruhig zu
bleiben. Was glaubst du, was es heißt, wenn eine Frau wie ich dir sagt:
Mein Dasein wird nur darin bestehen, dir Opfer zu bringen?«

»Ich lasse nur eine Deutung zu. Ist die falsch, so verzicht’ ich auf
eine andere.«

»Das ist Hartnäckigkeit; nicht das, was ich Liebe nenne. Liebe aber ist
für mich Leidenschaft; du kennst meine Natur. Und Leidenschaft, die
nach acht Tagen in Schlafrock und Pantoffeln herumläuft — geh fort, das
ist dir ja selber lächerlich. Menschen wie wir haben eine schärfere
Luft zum Gedeihen nötig.«

»Du sprichst nur immer von uns beiden. Irr’ ich mich, oder geschieht
das, um den ehrenwerten Dritten zu cachieren?«

»Uns soll doch eine bloße Form keine Skrupel machen? Ich behalte mir in
meiner Ehe jede Freiheit vor und lasse sie meinem Gatten nicht weniger.
Ich kann mich nicht zum zweiten Male fesseln lassen.«

Hans trat zurück, totenblaß, aber er verbeugte sich.

»Dann bleibt mir also nichts, als meinen allerergebensten Glückwunsch
abzustatten. Der Name ist bei den hochfliegenden Plänen der gnädigen
Frau ja nicht schwer zu erraten.«

»Es ist der Prinz,« sagte sie ruhig. »Du brauchst über diese Wahl
wahrhaftig nicht betrübt zu sein.«

»Es wäre unstatthaft für mich, wollte ich deinen — Pardon, Ihren
zukünftigen Gatten mit meinen Gefühlen in Zusammenhang bringen. Das
würde eine Geschmacklosigkeit bedeuten — und den guten Geschmack möchte
ich mir doch bewahren.«

Sie sah es ihm an, daß er trotz der eisigen Kälte, die er jetzt
zur Schau trug, erregt war bis ins Innerste, daß ein beständiges
Zittern durch seinen Körper lief, daß er sich mit der letzten Gewalt
beherrschte.

»Hans,« stieß sie hervor, »was will ich denn? Deinen Ehrgeiz
befriedigen und meinen Ehrgeiz befriedigen. Wir brauchen hier nichts zu
beschönigen. Du sollst berühmt werden, und ich will beneidet sein.«

»Ah —« sagte er gedehnt, »du meinst: man beneidet eine Frau nicht um
den Mann, sondern um den Liebhaber.«

»Nenn es, wie du magst. Das sind Worte. Ich will das Glück und die
Liebe auf meine Weise.«

»Meine gnädige Frau, bei uns am Niederrhein pflegt man aus der Liebsten
eine Frau, nicht aber aus dem Liebsten einen Geliebten zu machen.
Wenn das in diesem Kreise hier nur Worte sind — ich habe ihnen nichts
hinzuzufügen.«

Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten. Er bewegte die Hand, als
wollte er etwas Widerwärtiges beiseite schieben.

Da flammte es in ihr auf.

»So behandelt man mich nicht!« rief sie und trat ihm dicht unter die
Augen. »Ich habe mehr an dir getan, als du zu wissen scheinst. Ich
habe dich bekannt gemacht, und mehr als das, ich habe dich interessant
gemacht, dir einen Nimbus in dieser sensationssüchtigen Welt gegeben,
selbst auf die Gefahr meiner eigenen Persönlichkeit hin, nur um dich
über alle hinaussteigen zu sehen.«

»Für dich oder für mich?« fragte er mit offenem Hohn.

»Nun ja, für mich! Tausendmal ja, für mich! Aber dir ist es zu gute
gekommen. Und dafür rechne ich auf Dank, auf Ergebenheit. Ich kann und
will dich nicht mehr lassen, und du, du — denke nur mit einem einzigen
Gedanken daran, mich beiseite zu schieben. Du solltest sehen, was ich
vermag. Wenn ich dich berühmt gemacht habe, ich kann dich auch —«

Hans Steinherr sah die rasende Frau von oben bis unten an. Dann drehte
er sich auf dem Absatz herum.

»Du,« rief sie außer sich und faßte nach seinen Schultern, »das ist
eine Behandlung, wie du sie deinem rheinischen Allerweltsmädel zu teil
werden lassen kannst, mir nicht, mir nicht!«

Er hatte sich blitzschnell umgewandt und sie bei den Handgelenken
ergriffen.

Kein Wort sprach er, aber er preßte ihre Gelenke, daß sie
zusammenzuckte.

»Hans,« weinte sie leise, »sei doch gut, sei doch gut. Wenn ich dich
nicht so wahnsinnig liebte —«

»Schäme dich,« sagte er kaum hörbar und ließ sie los. »Arme, betrogene
Frau ...«

Und plötzlich war ihm, als ob er selbst schon einmal in einer ähnlichen
Situation gestanden hätte. Er als der Betrogene, der sich selbst
Betrügende.

»Es wiederholt sich alles im Leben,« murmelte er, »nur der Verlierende
wechselt.«

»Hans —« versuchte sie noch einmal.

»Still, man kommt.«

Frau Bettina richtete sich auf und fuhr sich mit dem Tuch über das
verstörte Gesicht.

»Du darfst jetzt nicht gehen. Nicht sofort. Das gäbe Aufsehen.
Versprich es mir.«

»Gut, gut. Hab’ ich so lang’ Komödie gespielt, halt’ ich es auch noch
eine halbe Stunde länger aus.«

»Ich werde dich wiedersehen.«

»Das wirst du nicht.«

Das Mädchen meldete, soeben sei Seine Hoheit erschienen. Die Gäste
wären vollzählig. Auch ein fremder Herr schicke der gnädigen Frau seine
Karte herein mit einer Empfehlung des Herrn Doktor.

»Ihren Arm, Herr Doktor ...«

In seinen Augen flackerte es, als er die Dame des Hauses in den Salon
führte. Seine Haltung war noch aufrechter als sonst, seine Miene kalt
und abweisend wie meist. Aber es war ihm, als ob er ohne zu atmen,
ohne atmen zu können einherginge, und dieses Gefühl verursachte ihm
direkt körperlichen Schmerz. Er führte seine Begleiterin, ohne sich bei
den Gästen aufzuhalten, geradeswegs auf den Prinzen zu, der im selben
Augenblick den Salon betrat.

Frau Bettinas Hand zitterte auf seinem Arm. Wollte er einen Eklat
herbeiführen?

Doch als sie den Prinzen erreicht hatten, trat Steinherr mit kurzer
Verbeugung wortlos zurück.

Da fand auch sie ihre Selbstbeherrschung, und sie reichte dem Prinzen
lächelnd die Hand, die er an die Lippen führte.

»O —« sagte er bedauernd und nahm auch die andere Hand auf, »rote
Streifen an den süßen Gelenken?«

»Ich habe Armbänder anprobiert, Hoheit, aber sie wollten nicht passen.
Darf ich Ihnen die Herrschaften bekannt machen?«

Frau Bettina war an diesem Abend eine besonders entzückende Wirtin.
Für jeden ihrer Gäste hatte sie ein freundliches Wort bei der Hand,
das dem Prinzen die künstlerische oder gesellschaftliche Bedeutung des
Vorgestellten schmückend erklärte, und ihre Augen strahlten heller,
als sie sich von den bewundernden Blicken ihrer Freunde verfolgt sah.
Sie las darin den offenkundigen Drang, ihr heute noch die Glückwünsche
der Intimen darbringen zu können, und sie quittierte mit einem
geheimnisvollen Sinkenlassen der langen, dunklen Wimpern. Nun war ein
jeder orientiert. Und gerade die stille Erregung, die sie in dem Kreise
wahrnahm, gab ihrem Auftreten das Bewußtsein.

Willibald Hüsgen war der vielbeschäftigten Hausfrau kurz präsentiert
und mit einem gnädigen Nicken bewillkommnet worden. Der Prinz hatte
kaum Notiz von ihm genommen. Von einem Wiedererkennen konnte nicht die
Rede sein.

»Du,« flüsterte Hüsgen und stieß den wortkargen Steinherr in die Seite,
»alles wat recht is: ene staatse Frau. Wär’ det nix für dich gewese?«

»Also Springe ist in Berlin?« fragte Steinherr zurück. Er fühlte, daß
er sich zu jedem Worte Gewalt antun mußte.

Willibald Hüsgen aber war von dem eleganten Gesellschaftsbild viel zu
sehr gefesselt, um aus der neuen Welt eine Exkursion in die altbackene
zu unternehmen.

»Weißt du,« sagte er, »hier muß mer sich bloß beliebt mache. Hier
gucken einen die Aufträg’ förmlich aus jeder Ritz’ an. Ich werde Hoheit
nachher mal so ’nen stillen Wink geben, von wegen der Düsseldorfer
Bekanntschaft.«

Dann sprach er ziemlich laut von seiner Ausstellung bei Schulte, um die
Umstehenden darauf aufmerksam zu machen, daß auch er »wer sei«.

Das wurde von der Gesellschaft nicht gerade angenehm empfunden. Man
befleißigte sich heute mehr denn je, dem Zusammensein einen gewissen
feierlichen Charakter zu verleihen, und die ungenierte Stimme des
Düsseldorfer Malers, der sich etwas zu gute darauf zu tun schien,
auch in seiner Ausdrucksweise durch Urwüchsigkeit zu verblüffen
und aufzufallen, störte empfindlich das verbindliche, harmonische
Zeremoniell.

Es war an Frau Bettinas Abenden eine schöne Sitte, daß man zunächst
dem Büfett im Speisezimmer zusprach und dann erst den Musik- und
Diskutiersalon aufsuchte, um, angeregt durch die leibliche Stärkung,
ausgiebiger den geistigen Genüssen sich hingeben zu können. Auch
heute war das der Fall. Aber während der Büfettstunde wurde eifriger
als gewöhnlich die Improvisation einer unmittelbar eingreifenden
künstlerischen Veranstaltung besprochen. Man wünschte diesmal, das
gefüllte Glas in der Hand zu behalten, um für jeden Moment gewappnet zu
sein.

»Herr Doktor Steinherr, es gilt, Hoheit einen anregenden Abend zu
verschaffen, und unserer strahlenden Hausfrau nicht minder. Bitte!
Beginnen Sie mit einem stimmungmachenden Gedicht. — Sie haben zufällig
nichts bei sich? Ach, das sagen die Herren Dichter immer, um sich
den Hof machen zu lassen! Sehen Sie nur einmal gründlich nach, die
Muse wird Ihnen bei ihrem letzten Besuch schon eine kleine Gabe
zurückgelassen haben. — In der Tat nicht? Ja, dann hilft es Ihnen
nichts, dann müssen Sie extemporieren.«

Frau Bettina und der Prinz wurden um Hilfe angerufen.

»Ah,« sagte der Prinz, »da steht uns ja ein seltener Genuß bevor. Sie
würden mich wirklich verbinden, Herr Doktor. Ich bin gerade heute für
Poesie besonders empfänglich.«

Über Bettinas Gesicht glitt ein seltsames Scheinen. Der Augenblick
war da, den gegen den Stachel Lökenden wieder zur Raison zu bringen.
War er zu bewegen, den Abend verherrlichen zu helfen, so war die
Grundlage für ein späteres Wiederzusammenfinden dennoch geschaffen. Ein
Gedicht, jetzt, zum festlichen Abend, das der Eigenschaft gerade dieses
Abends irgendwie Rechnung trug, und er entäußerte sich damit seines
beleidigten Stolzes und erkannte, wenn auch heute noch unter einem
Zwange, ihre Wünsche und Pläne an.

Gespannt blickte sie zu ihm auf, ihre Hand im Arme des Prinzen.

»Fehlt Ihrer Harfe,« sagte sie, um ihn zu reizen, »die Saite, auf der
die Töne des Glückes erklingen?«

»Ja,« fiel der Prinz lebhaft ein, »preisen Sie die Liebe. Ich höre, Sie
sind der Berufenste.«

Um Hans Steinherrs Lippen zuckte es sarkastisch. Hoheit hatte unbewußt
ein böses Gleichnis gebraucht.

Auch Frau Bettina hatte die Wimpern gesenkt und blickte starr auf einen
Punkt.

Vom Musikzimmer her erschallten die Töne des Steinways. Ein berühmter
Klaviervirtuose spielte meisterlich das Liebeslied aus der Walküre:

    »Winterstürme wichen dem Wonnemond ...«

Als er geendet hatte, grüßte Steinherr, äußerlich unbewegt, die
Hausfrau. Und mit einer Stimme, deren Kälte und Gelassenheit in
seltsamem Gegensatz zu dem nervösen Wesen Bettinas stand, sagte er nur:
»Ich bitte um Urlaub. Soeben höre ich von Freund Hüsgen, daß liebe
Düsseldorfer Freunde mich noch erwarten. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis,
meine gnädige Frau. Sie wissen, die Heimat hat ihre Rechte. Nochmals:
ich bitte um Urlaub.«

Er war gegangen, aber eine drückende Stille war geblieben.

Da glaubte Willibald Hüsgen sich zum Retter der Situation aufwerfen
zu müssen, und er hob schnell sein Glas, das er nicht aus der Hand
gelassen hatte. »Pröstchen, gnädige Frau ...«

Bettina sah über ihn hinweg. Und als nun gar Hüsgen, um sein
gesellschaftliches Gleichgewicht wieder herzustellen, auf den Prinzen
einsprach und ihn unter lustigem Augenzwinkern an die Düsseldorfer Zeit
erinnerte, kehrte ihm das Paar frostig den Rücken.

Willibald Hüsgen aber nahm französischen Abschied.

[Illustration]




Fünftes Kapitel


Hans Steinherr schritt durch den naßkalten Februarabend, die Hände tief
in den Taschen seines Paletots, den Kopf vorgestreckt. Er achtete nicht
darauf, daß seine dünnen Lackschuhe durchweicht und bespritzt wurden,
daß auf seinen Hut die Tropfen fielen. Er dachte überhaupt nicht. In
seinem Kopf tanzten hundert Melodien durcheinander, Kinderlieder,
Studentengesänge, Fastnachtsstrophen vom Rhein. Woher sie so plötzlich
auftauchten, wer sie gerufen hatte — er wußte es nicht. Er wollte es
auch gar nicht wissen. Sie waren eben da, sie erheiterten ihn, sie
verkürzten ihm die Zeit. Also war es doch eine große Errungenschaft,
über sie verfügen zu können. Und er summte sie mit, wie sie ihm durch
den Kopf kreuzten, einen Vers nach dem anderen, eine Melodie nach der
anderen, ohne sich über die Notwendigkeit Rechenschaft abzulegen.

Einmal blieb er stehen. Er hatte da ein Karnevalsliedchen im Dialekt
vor sich hin geträllert, im Wortlaut, ohne zu stocken. Das kam ihm
selbst wunderbar vor. Und darüber grübelte er nun doch. Er wußte ganz
genau, daß er die Strophe kaum als Junge gekannt oder gesungen haben
konnte. Sie mußte ihm von irgend einem Düsseldorfer Fastnachtsabend
her im Ohr geblieben sein. Und nun meldete sie sich. Seltsam. War
denn damals alles so tief gegangen, saßen selbst die geringfügigsten
Tagesbildchen aus der Jugend so fest in ihm, daß sie nach jahrelanger
Unterdrückung plötzlich schelmisch hervorlugten und ihm lustig
zuraunten: Wir sind auch noch da, wir halten uns stets zu deiner
Verfügung, wenn du einmal ein Stündchen für uns hast oder wir unser
Stündchen für gekommen halten?

Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Gut, gut, mochte es so sein,
wie es wollte. Karneval in Düsseldorf, Karneval in Berlin — es war ja
schließlich völlig gleich.

Aha — ja — was war’s doch gleich? Hatte er da vorhin ein Erlebnis
gehabt? Dort hinten, irgendwo, in dem Hause am Kurfürstendamm? Er mußte
sich einen Moment besinnen, denn das Haus erschien ihm nur nebelhaft,
und die Vorgänge des Abends — —? Ganz recht, er hatte Urlaub genommen,
Urlaub von der Liebe. Das war doch alles sehr höflich gewesen, mehr als
höflich. Doch das andere — das andere — —? War diese Verlobung nicht
längst schon eine fertige Geschichte? Sämtliche Freunde des Hauses
hatten es doch gewußt, nicht ein einziger, der überrascht gewesen wäre
— —

Herrgott ja, es war keiner überrascht gewesen —!

Glühend heiß lief es ihm durch den Körper, er fühlte, wie sein Gesicht
brannte, wie das Blut ihm in den Wangen klopfte, in den Schläfen, in
den Halsmuskeln. Er nahm den Hut ab und vergaß, ihn wieder aufzusetzen.
Also alle hatten sie es gewußt, nur er nicht ... Der Seladon war mit
Blindheit geschlagen gewesen. Herr Hans Steinherr, Seladon der Frau
Bettina Wittelsbach. Die höchste Charge, die er erreicht hatte, nachdem
er von der Schlichtheit der Heimat geschieden war, um seinen Ehrgeiz zu
befriedigen!

Ah — —! schrie es in ihm auf, und er preßte die geballte Faust auf
den Mund, um den Schrei, der ihm über die Lippen trat, zu ersticken.
Mit entsetzten Augen blickte er sich um, ob ihn ein Vorübergehender
belauscht haben könnte. Wie erbärmlich, wie jämmerlich erbärmlich war
das, was er erlebt hatte! Nicht heute nur, nein, nein, all die Tage,
Wochen, Monate hindurch. Seine Augen wurden so unheimlich klarsehend.
Hundert Einzelheiten traten vor seine geschärfte Phantasie, Dinge,
die er hingenommen hatte, um die oft fadendünne Stimmung nicht zu
zerreißen, Küsse, die er geküßt hatte, obwohl sein Geist noch zornig
gewesen war über Oberflächlichkeiten und Unarten der Frau, die er —
küßte. Ihr Diener, Gnädigste, Ihr Diener — —. Das war ja doch der immer
wiederkehrende Endreim gewesen — er hatte den Diener gespielt!

Er beschleunigte seinen Schritt. Er begann durch die Straßen zu laufen,
um zu seiner Wohnung zu gelangen. Jeder Straßenköter, so glaubte er,
müßte ihm doch die Rolle ansehen, die er in so beispielloser Überhebung
verwechselt hatte.

Jetzt stießen sie im Hause Kurfürstendamm klingend die Gläser zusammen.
Jetzt brachte wohl die alte, diplomatisch geschulte Exzellenz den
Trinkspruch auf das Brautpaar aus. Und hinten, in einer Ecke des
Salons, kommentierte man tuschelnd seinen raschen Abgang. Er sah sie
ganz deutlich, die Intimen des Hauses, wie sie lächelten, in stillem
Mitleid, mit einem Stich ins Schadenfrohe. Keiner hatte ihn gemocht,
und er keinen von ihnen! Des freute sich seine Seele noch in dieser
Stunde. Nur Bettinas wegen hatte er sie ertragen, Bettinas wegen, die
so lieb zu betteln, so feurig zu überreden, so lachend jede Einwendung
zu verwischen wußte. Es dämmerte in den Straßen, und er war bei ihr.
Und sie lehnte ihren biegsamen Körper an ihn und strich über sein Haar;
und wenn er sie küssen wollte, bog sie den Kopf zurück; und wenn er
sich beleidigt zurückziehen wollte, überfiel sie ihn mit ihren Küssen.
Kein Denken und Wägen hielt stand. Denken und Wägen auf morgen! Er
fühlte nur ihre süße Gestalt und ihre heißen Lippen ...

Sein Gesicht verzerrte sich wie unter einem körperlichen Schmerz.
Hatte er denn alle Würde verloren, daß er jetzt noch, nach dem soeben
Erlebten, in Erinnerungen schwelgen konnte?

O, o, gab er sich selbst die Antwort, das ist doch kein süßes
Schwelgen, das ist ein ~bitteres~ Schwelgen, das ist der Haß, die Wut,
der Ekel. Das ist die Ironie, lachte er auf, die Ironie meines Lebens.

Und immer wieder redete er mit seinem eigenen Selbst und fand
nicht Worte genug, um sich zu verwunden, zu demütigen und wieder
aufzustacheln.

Ein Fluchwort preßte sich hinterher. Es war das erste Mal, daß er
fluchte. Und er meinte auch nur sich damit zu treffen. Wieder und
wieder stieß er das Wort heraus, aber es wurde ihm nicht leichter zu
Sinn.

Heute würden sich die Gäste natürlich früher empfehlen. Nur der
eine, der Prinz, würde noch einen Augenblick zögern, um einen
Separatabschied zu nehmen. Dieser lächerlich wichtige, inferiore
Dutzendprinz. Was er besessen hatte: Rennställe, Weiber, Hunde; was er
nie besessen hatte: Witz und Verstand; was er noch besaß: Schulden und
wieder Schulden — das war die Analyse. Es blieb kein Rest.

»Herr des Himmels!« stieß Steinherr hervor, »weshalb beschimpfe ich den
Mann?«

Da war er schon wieder bei dem Bilde.

Die Gäste waren gegangen; den Hut in der Hand, zögerte der Prinz. Jetzt
führte er mit unnachahmlicher Grazie ihre Hand an die Lippen. »Wer
war denn dieser unglaubliche Mensch, der sich so merkwürdig benehmen
zu müssen glaubte?!« Und sie antwortete lächelnd: »Mein Gott, ein
Dichter. Er legte heute schlechte Formen an den Tag. Wir werden sie ihm
abgewöhnen. Nicht wahr, mein Georg? Gute Nacht ...«

Dem hastig Einherschreitenden stand der Schweiß auf der Stirn. Er
ballte die Finger zu Fäusten zusammen und renkte den Kopf, als ob
ihm das Atmen Beschwerden machte. Das war doch Verrücktheit, glatte,
blanke Verrücktheit, diese Selbstquälerei! Hier gab es doch nur eins:
Verachtung! Aber das sprach sich nur leicht aus. Was würden die beiden
Menschen nach seiner Verachtung fragen! Lachen würden sie über ihn!

Er öffnete weit die Augen, aber er sah nichts, in sich und um sich, als
eine Leere.

Vermisse ich denn etwas? fragte er sich höhnisch. War denn überhaupt
etwas vorhanden, was wert wäre, es auf der Straße ausklingeln zu
lassen? Liebe? Die würde nicht toben und schimpfen. Für einen Groschen
Ehrgeiz verloren gegangen, und in derselben Düte ein Rest schimmelig
gewordene Vornehmheit!

Er stand vor seiner Wohnung. Neun Uhr erst ... Wie werd’ ich den Abend
herumbringen ...

Dann ging er hinein, machte Licht und sah sich um; ganz scheu, als
müßte er auch hier auf eine Überraschung gefaßt sein. Aber alles war
unverändert. Und gerade dieses unveränderte Bild, das Tag für Tag das
gleiche bleiben würde, während er sich selbst ein Fremder geworden
war, ließ ihn das, was er vor einer Stunde aufgegeben hatte, wie einen
unwiederbringlichen Verlust, in weit über alle Grenzen gehenden Maßen,
erscheinen.

Müde, zerschlagen, saß er in seinem Stuhl. Die Arme hingen schlaff über
die Lehne.

Was nun?

Er lächelte ironisch.

Was nun? Das hört sich ja an, als ob ich überhaupt schon etwas getan
hätte. Ich hab’ dem Leben nichts genutzt, und das Leben hat mir nichts
genutzt. Quitt! Wir haben uns beiderseitig nichts vorzuwerfen.

Sein Blick fiel auf das der Wand zugekehrte Bild Bettinas.

Langsam erhob er sich, nahm das Bild vom Schreibtisch und betrachtete
es. Ganz bedächtig, ganz eingehend. Nun hatte er die Augen
durchforscht, nun heftete sich sein Blick auf den Mund. Ein Zittern
ging durch seine Hände, und es wurde stärker und stärker, bis er mit
jähem Griff den Karton packte, um ihn zu durchreißen. Aber er tat es
nicht. Er warf das Bild auf den Tisch und preßte die Lippen zusammen.
Seine Augen brannten in einem trockenen, quälenden Schmerz. Wozu nur
das alles? Wozu nur? Es war doch nirgend ein Zweck zu ersehen!

Als er die Lampe niedriger schrauben wollte, fiel ihm auf dem
Schreibtisch eine Karte ins Auge. Mechanisch nahm er sie auf und las.
»Heinrich von Springe.«

Und darunter stand: »Ich werde vor zehn Uhr noch einmal mein Glück
versuchen.«

Hans Steinherr legte die Karte auf den Tisch zurück.

Das Glück versuchen? ... dachte er. Das wird wohl bei mir mehr als
verlorene Liebesmüh’ sein. Das Glück versuchen!

Im Halblicht saß er und erwartete den angekündigten Besuch. Wenige
Minuten, und er hatte ihn vergessen. Nur seine Scham hatte er nicht
vergessen, seinen beleidigten Stolz, seine beleidigte Männlichkeit. Das
wogte und quirlte in seinem Kopf durcheinander, und er war dem Ansturm
gegenüber willenlos. »Aus ist’s, aus, aus!« murmelte er immer wieder
vor sich hin, und dennoch arbeitete er unablässig an neuen Plänen, um
die gescheiterte Hoffnung zu reparieren. Es war ein Kampf in ihm, den
er verachtete und den er gleichwohl mit jeder Fiber kämpfte. Um ein
Phantom —.

Es hatte an seine Tür geklopft. Nun klopfte es wieder, und die Tür
öffnete sich. Ein Mann stand auf der Schwelle und spähte durch das
Halbdunkel.

»Hans —?« fragte eine Stimme, die ihm eigenartig vertraut vorkam.

Er machte eine Bewegung, die seine Anwesenheit verriet. Da stand auch
schon der Besucher vor ihm.

»Hans, mein alter Junge, es ist lange her, daß wir uns nicht sahen.
Deine Mutter läßt dich grüßen.«

Er antwortete nicht. Nur die Hände hielt er fest, die ihm Springe
entgegengestreckt hatte.

»Hans, ist es dir immer noch nicht lieb, mich wiederzusehen? Ich denke,
wir sind Männer geworden seitdem.«

»Doch, doch. Entschuldige meine scheinbare Teilnahmlosigkeit. So nimm
doch Platz!«

Springe legte seinen Mantel ab, ging zum Tisch und ließ das Licht
aufflammen.

»Laß dich zunächst einmal anschauen,« sagte er ruhig. »Ob es der alte
Hans ist.«

Steinherr wehrte mit der Hand ab, aber Springe achtete nicht darauf. In
Gedanken versunken, stand er vor dem einstigen Schützling.

Der zwang sich zu einem Lachen.

»Zufrieden mit der Musterung? Nicht ganz, wie ich merke. Ich bin nur
ein bißchen alt geworden in der Einsamkeit. Aber sonst, sonst — —. Nun
setz dich doch, und wenn es dich freut, will ich dir sagen: Es ist gut,
daß du hier bist.«

Springe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm dicht gegenüber.
Ihre Kniee berührten sich.

»Hans, Hans,« sagte er herzlich.

Der aber wurde unruhig und blickte an dem Gast vorbei.

»Laß gut sein; wir wollen uns das Wiedersehen nicht mit alten
Geschichten verkümmern.«

Springe schüttelte nur den Kopf. Dann fragte er unvermittelt: »Hast
du mich nötig, Hans? Kannst du mich brauchen? Was gehen uns alte
Geschichten an, wenn neue dringendere zu erledigen sind? Leute wie wir
geben sich die Hand und verstehen sich.«

»Verzeihe. Mach’ ich in der Tat einen so niederschmetternden Eindruck?«

»Ich möchte den Grund wissen.«

»Ja, lieber Heinrich — ich darf dich wohl noch so nennen — den Grund
möchte ich auch wissen. Nimm an, ich bin ohne Grund so, gänzlich ohne
Grund. Das klingt dumm, aber es hilft weiter.«

»Was das anbetrifft, wir haben Zeit.«

»Das klingt aus deinem Munde allzu bescheiden. Du wirst Besseres zu
tun haben, als dir über das Aussehen eines Menschen Kopfschmerzen
zu machen, der selbst nicht einmal weiß, ob er Kopf genug hat, um
Schmerzen zu fühlen.«

Springe lehnte sich zurück und schwieg. Dann sagte er langsam: »In der
Ironie hast du es jedenfalls weit gebracht.«

»Ich hatte einen guten Lehrmeister,« erwiderte Steinherr lächelnd; »er
hieß Heinrich von Springe und war in diesem Fach ein Meister. Bitte,
verkleinere mir den Mann nicht, ich verdanke ihm viel.«

»Der Mann muß ein Stümper gewesen sein, lieber Hans.«

»Ich widerspreche einem verehrten Gast nicht gern, aber hier scheint
es mir Pflicht. Pflicht oder Selbsterhaltungstrieb — wie du es nennen
willst. So laß dir denn sagen, daß das, was aus seiner Lebensanschauung
auf mich abgefärbt hat, das Beste war, was ich gewinnen konnte. Und das
war just der ironische Gesichtswinkel.«

»Trotzdem. Ich bleibe dabei, der Kerl war ein Stümper oder — du hast
nicht ausgelernt.«

»Ich habe, was ich brauche. Mehr wie seine Bedürfnisse kann man nicht
befriedigen.«

Springe sah ihm fest in die Augen.

»Was nutzt dich die Ironie allein? Die ist wie ein Zwilling, der ohne
den anderen Zwilling nicht leben und nicht sterben kann. Nörgelnde
Grämlichkeit statt scharfer Lebenslust. O ja, die Ironie hast du
erlernt. Nur eins, das Lachen, das rheinische Lachen hast du nicht
gelernt, noch nicht gelernt; und das gehört dazu wie der Klöppel zur
Glocke. Es wird Zeit, mein Sohn; lern das Lachen!«

Hans Steinherr erhob sich rasch. Das war das Wort, das ihm gefehlt
hatte. Das Lachen, das Lachen! Das gekonnt haben, vor ein paar Stunden,
so recht aus Herzensgrund, so recht befreiend und alles reinfegend —
das Lachen ... damit hätte er gesiegt, über sich, über die anderen,
über die Situation. Weshalb hatte er nicht lachen gekonnt!

Der Aufruhr in ihm, der sich eine kleine Weile gelegt hatte, brach
mit erneuter Gewalt los. Durch seinen Kopf schossen blitzschnell die
Bilder: das tödlich beleidigte und doch jäh erschrockene Gesicht
Bettinas, wenn er ihre Eröffnungen mit einem schallenden Gelächter
entgegengenommen hätte, wenn er sich mit lautem, humorvollem Lachen
auf dem Absatz umgedreht hätte und lachend ohne weiteres zur Tür
gegangen wäre. Das würde ihr einen anderen Respekt vor der Art
seiner Persönlichkeit beigebracht haben, als die hohen Worte seiner
Liebesmoral. Das würde sie zusammengeschüttelt und aufgerüttelt haben
mit Fäusten, und bevor er aus dem Zimmer gewesen wäre, hätte sie
widerspruchslos sich und ihre Welt der Kraft seines Lachens anvertraut.

Er stand am Fenster und hielt das Holz der Fensterschwelle gepackt,
um den Sturm abzulenken. Weshalb war der Mann nicht gestern gekommen,
ihn an heimische Art zu mahnen! Dieser Mann, der ihm schon einmal den
rechten Weg gezeigt hatte, den Weg zur Jugend. Langsam kam er durch das
Zimmer zurück. Er hatte wohl doch noch einiges nachzuholen.

»Heinrich,« sagte er, »ich habe dich vorhin nicht einmal ordentlich
begrüßt. Das möchte ich jetzt. Es hat vieles zwischen uns gestanden,
was nur in meiner Einbildung existierte und längst beschämt verflogen
ist. Aber du hast recht. Leute wie wir geben sich die Hand und
verstehen sich. Ich werde dich nicht mit Sentimentalitäten langweilen.
Wie geht es meiner Mutter?«

»Sie hat sich in den Kopf gesetzt, nicht älter zu werden.«

»Ihr seid sehr glücklich miteinander?«

»Glücklich? Das Wort kann ich nicht mehr definieren. Es wird wohl bei
uns der Normalzustand so bezeichnet werden müssen. Lieb haben wir uns
wie die Kindsköpfe.«

Er faßte den Jüngeren beim Schopf.

»So, nun komm mal her. Deine Mutter hat mir aufgetragen, dir sofort,
wenn ich dich zu fassen kriegte, einen Kuß von ihr zu applizieren. Da
hast du ihn.«

»Du hast dich in den fünf Jahren nicht verändert — —. Und Herr
Friedrich Leopold?«

»Adrett wie ein Zwanzigjähriger, der sich vorgenommen hat, hundert zu
werden. Bleiben ihm nach seiner Rechnung also noch gutgezählte achtzig
Jahre zur Verfügung.«

»Und — und Frau Stahl?«

»Stellt lebende Bilder.«

»Du, drück dich klarer aus! Lebende Bilder?«

»Ganz richtig. Mit Herrn Friedrich Leopold gemeinsam. Philemon und
Baucis und sonstiges aus der Geschichte berühmter alter Liebespaare.
Ein paarmal wollt’ ich schon den Kaplan holen, um dem Geseufz’ ein Ende
zu machen.«

»Sie führt ihm die Wirtschaft, wie mir Mutter schrieb?«

»Die Wohnung liegt auf der anderen Seite des Korridors, in derselben
Etage mit der unseren; genannt: die Toggenburg. ›Ritter, treue
Schwesterliebe widmet euch dies Herz ...‹ und so weiter. O, die beiden
sind klassisch gebildet und handeln ganz ihrer Bildung gemäß.«

»Da wären wir glücklich bei der Liebe,« meinte Hans mit einem Versuch,
zu scherzen.

»O bitte, frag nur.«

»Heinrich!«

»Nun? Was denn? Sollte ich dich falsch verstanden haben? Ich dachte, du
hättest dich nach deiner Jugendliebe erkundigen wollen.«

Hans blickte unbeweglich vor sich hin.

Wie schmal der Junge geworden war.

»Wie geht es Hannes ...«

»Ach, mein Jung’, die steckt uns noch alle eines Tages in ihre
Kleidertasche.«

»Sie muß jetzt sehr groß geworden sein ...«

»Groß? In jeder Beziehung. Als herangewachsenes Menschenkind und als
Künstlerin. Wenn sich Größe nach dem Einkommen bemessen läßt, ist sie
jedenfalls größer als ich.«

Er lachte behaglich in sich hinein, als freute er sich, daß das Mädel
ihn überholt habe.

»Du hast sie heute singen gehört ... In der Philharmonie ... Hüsgen
sagte es mir.«

»Ja, heute hab’ ich zum ersten Male erfahren, was Singen ist. Um und um
wird man von der Stimme gekehrt. Noch so verstockt kann man sein, die
Stimme lockert das ganze steinige Erdreich auf und bringt Triebe in dir
zum Blühen, Triebe sag’ ich dir, von denen du selbst keine Ahnung mehr
hattest. Man möchte heulen über sich selbst, aus purer Wonne, welch
ein guter Kerl man doch im Grunde ist. Und das macht alles der Hannes.
Jedem Wort gibt sie Leben, ganz schlicht, ganz natürlich, aber mit
einer Tiefe — das ist überhaupt nicht zu erzählen. Einfach hören mußt
du sie, und wenn du sie nebenbei ansiehst, zerstört dir das auch die
Illusionen nicht. Das war eine Sonntagslaune vom lieben Gott, als er
das Mädel schuf.«

»So,« sagte Hans; und dann wiederholte er: »So — so —«

Dann schwiegen sie beide, bis Hans, aus seinen Gedanken auffahrend,
hastig den Faden wieder aufnahm. »Weshalb bist du denn nicht bei ihr?
Das Konzert muß doch längst vorüber sein?«

»Sie ist zum Künstlersouper gequält worden. Und da ich ihr mitteilte,
daß ich noch zu dir wollte —«

»Das hast du ihr gesagt?«

»Aber weshalb denn nicht? Sie hat mir außerdem Grüße an dich
aufgetragen.«

»Der Hannes — —,« nickte Steinherr und lächelte abwesend vor sich hin.
»Bitte, du wolltest weiterreden ...«

»Kurz, sie hat zum Souper zugesagt unter der Bedingung, daß man sie
um elf Uhr gehen ließe. Um elf Uhr hat sie nämlich im Hotel ein
Rendezvous.«

Hans Steinherr blickte überrascht auf, und Springe amüsierte sich.
»Mit Onkel Springe nämlich. Der ›Onkel‹, das bin ich. Na, von so süßen
Lippen läßt man sich das Prädikat schon gefallen. Auf elf Uhr also bin
ich im Hotel Kaiserhof auf eine Tasse Tee befohlen. Du gehst natürlich
mit.«

»Ich — —? Ich glaube, du überschreitest da gehörig deine Onkelgewalt.«

»Aber so sperr dich doch nicht. Wir bilden doch sozusagen eine Familie.
Du wirst es ja erleben, was für freudige Augen sie macht, ihren alten
Kameraden wiederzusehen. Junge, Junge, ich fürchte, du taxierst unseren
Hannes falsch.«

Hans Steinherr saß, die gefalteten Hände im Schoß, und blickte auf
einen Punkt. Wie eine weiche Welle floß es über ihn hinweg. Als ob er
krank sei, und weiche, kühle Hände legten sich auf seine heiße Stirn.
»Ich möchte sie wiedersehen,« sagte er wie zu sich selbst. Er hatte
Heimweh.

»Was ist das nur?« fuhr er empor und ging zur Tür. »Es klingelt in
einem fort.«

An der Korridortür traf er den Hausverwalter.

»Ein Brief für Sie, Herr Doktor. Das Haustor war schon verschlossen,
aber ich hab’ dem Boten noch geöffnet.«

Hans Steinherr gab dem Mann ein Trinkgeld und kehrte ins Zimmer
zurück. Beim ersten Blick auf das Papier erkannte er Bettinas steile
Schriftzüge. Seine Hände flogen, daß das Papier knatterte. Dann nahm er
sich mit Macht zusammen.

»Entschuldige,« sagte er, »ein eiliger Brief, wie es scheint.«

Springe nickte. Aber mit gespannten Blicken verfolgte er jede der
nervösen Bewegungen.

Hans riß das Kuvert auf. Es enthielt nur eine Visitenkarte Bettinas.
Unter dem Namen stand in eiligen Zügen: »Ich erwarte dich aufs
bestimmteste morgen früh elf Uhr.«

Dreimal, viermal, immer wieder las Hans die wenigen Worte. Als er
endlich den Arm sinken ließ, sah er farblos und um Jahre gealtert aus.
Das Blatt fiel auf den Tisch. Es war ganz still im Zimmer.

Den starkgemuten rheinischen Maler packte ein Grauen vor dieser
künstlichen Ruhe. Er war gewohnt, den Dingen ins Auge zu sehen. Aber
hier war ein unsichtbarer Feind. Gleich beim Eintritt ins Zimmer hatte
er es an der apathischen Müdigkeit des jungen Freundes gespürt, und
nun, da er ihn durch unverfälschten Heimatsodem verscheucht zu haben
glaubte, kam er wieder. Den Zustand ertrug er nicht. Zustände waren für
alte Weiber.

»Hast du schlechte Nachrichten, Hans?«

Der hörte gar nicht.

Da nahm Springe das Blatt vom Tisch auf und las es.

»Hans!«

»Wie meinst du?«

»Was will die Frau von dir?«

»Du siehst ja. Sie wünscht, ich soll zu ihr kommen. Also — werde ich —
hingehen.«

»Du sagst das in einem Ton, als ob dich das Hingehen Überwindung
kostete.«

»Überwindung —? Ich — ich spreche in einem Ton —? Du — wie war das doch
noch mit — mit dem Lachen? Weißt du, mit dem Lachen, das ich nicht
gelernt haben sollte. Man — ganz recht — man muß nur alles humoristisch
nehmen.«

»Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, laß uns gehen.«

»Gehen? Wohin?«

»Zu Hannes. Sie wird uns längst schon erwarten. Es ist halb zwölf.«

»Es geht nicht, Heinrich. Ich kann, leider, nicht mehr mit. Morgen —
vielleicht.«

Springe trat dicht vor ihn hin. Er zwang den anderen, ihn anzusehen.

»Und weshalb kannst du nicht mehr mit? Den Mut, mir das zu sagen, wirst
du doch nicht verloren haben?«

Hans Steinherr hielt den Blick aus. Und ohne sich zu bedenken,
antwortete er dem einstigen Mentor: »Wenn ich morgen zu dieser Frau
gehe, kann ich heute nicht mit Johanna zusammen sein.«

»Der Dame wegen oder Johannas wegen?«

»Johannas wegen.«

Sie blickten sich noch immer voll in die Augen. Dann sagte Springe
kalt: »Also gedenkst du etwas zu tun, was eines Hans Steinherr unwürdig
ist.«

»Heinrich!«

»Ich wiederhole es, wenn du es wünschest. O, ich bin kein Sittenrichter
und Tugendbold. Du könntest ja die Frau lieb haben und sie dich, und
Hindernisse könnten euch im Wege stehen. Wer wollte euch deshalb
verdammen! Vielleicht ist die Dame verheiratet. Wir sind alle Menschen,
und auf die Kraft und Reinheit unserer Empfindungen kommt es an.«

»Nein, sie ist nicht verheiratet. Noch nicht. Obwohl sie es früher war.«

»Mit anderen Worten: sie ist Witwe und aufs neue verlobt. Hab’ ich
recht?«

»Verlobt. Seit heute abend. Ich wußte nichts davon, mein Wort darauf.«

»Du wurdest also getäuscht? Herrgott, so sprich doch! Ich seh’ es dir
ja an, daß du auf dem toten Punkt bist, daß es dich drängt, irgend
etwas herauszuschreien. So schrei doch! Ich bin wie eine Felswand, die
das Echo nur einmal hergibt, und sicher nicht an Unberufene. Soll ich
dir helfen? Soll ich dich zum Widerspruch reizen? Nun gut, selbst auf
~die~ Gefahr hin: Hans Steinherr, dem einst das ~beste~ Mädchen nicht
gut genug war, steht im Begriff, sich für die ~schlechteste~ Frau
zum Spielzeug zu degradieren. O, o! Wir wollen hier keinen Ringkampf
aufführen. Sag mir ins Gesicht, daß ich lüge ...«

Steinherr ließ die erhobenen Arme sinken. Er murmelte unverständliche
Worte.

»Verteidige dich nicht und sie nicht. Sie vor allen Dingen nicht. Wenn
eine Frau in der Stunde ihrer Verlobung an einen anderen schreibt, ja
nur an einen anderen denkt — weißt du, ich möchte das Wort für mich
behalten. Ich habe zu viel Respekt vor der Weiblichkeit im allgemeinen.
Hans, was ist dir?«

Steinherr hatte sich an der Tischkante halten müssen. Es kreiste ihm
vor den Augen.

»Junge, komm zu dir! Vielleicht hab’ ich eine Dummheit gemacht;
vielleicht liegen hier die Dinge so besonders, daß ich das Kind mit dem
Bade ausgeschüttet habe. Du, hör mich! Wenn ich auch beinahe dein Vater
bin, du sollst mich bei den Ohren nehmen dürfen, und ich will nicht
mucksen.«

Hans Steinherr richtete sich auf. Er strich sich mit der Hand über die
Stirn und sah sich um.

»Ich vertrottele wohl nächstens noch. Laß nur ruhig deine handfesten
Sprüche auf mich los. Vielleicht findet sich noch eine anständige
Stelle an mir, an der das eine oder andere haften bleibt. Die Hoffnung
ist zwar nicht groß.«

Da trat Springe mit raschem Schritt auf ihn zu, schlang seine Arme um
ihn und drückt den Kopf des jungen Freundes fest an seine Brust. »So,
nun heul dich aus, ich sag’s keinem wieder.«

Und nach einer Weile: »Ach, ich glaub’s ja gar nicht, daß du dich
verloren hast. Irgend eine Dickköpfigkeit, aber keine Preisgabe des
innersten Menschen. Nur rede — das erleichtert. Ich bin ja nun doch
einmal dein approbierter Vertrauter. Denk an den Tag, an dem du mir
Hannes brachtest.«

Aber Hans gab keine Antwort mehr. Ein plötzlicher Schüttelfrost hatte
ihn gepackt.

»Komm, mein Junge, ich geleite dich in deine Klappe. Du hast eine
Erkältung in allen Knochen und gehörst sofort ins Bett. Morgen sprechen
wir weiter. Rheinland läßt sich nicht unterkriegen.«

Er führte ihn, der wie ein Schwerkranker taumelte, behutsam ins
Schlafzimmer und war ihm behilflich. Dann ließ er sich die Schlüssel
anweisen. »Ich bringe sie dir morgen gegen Mittag zurück. Deine Hand
darauf, daß du inzwischen die Dame nicht wiedersiehst. Heraus mit dem
rheinischen Stolz!«

Als er durch den Salon zurückschritt, sah er das Bild Bettinas liegen.
Er nahm es auf und betrachtete es lange, mit Künstleraugen.

»Den guten Geschmack verleugnet der Bengel nie,« knurrte er. »Pfui
Deubel, wie schön!«

Mitternacht war vorüber, als er im Hotel ankam. Hannes saß noch in dem
kleinen, separierten Teezimmer und wartete. Und wieder ließ Springe
seine Künstleraugen blitzen. Das war doch ein anderes Bild.

Die schlanke Gestalt mit den hochgeschwungenen, festen Formen, das
kühne, intelligente Köpfchen, auf dem die rotblonden Flechten wie ein
Kranz aus purpurnem Weinlaub lagen, und die tiefen, stillen Augen von
der Farbe des blauen Bergsees — das war echt germanisches Blut, so heiß
wie keusch, so treu wie furchtlos.

»Guten Abend, Hannes!«

»Guten Abend, Onkel Springe!«

»Kleines Liebchen, willst du mir einen großen Gefallen tun?«

»Aber natürlich. Mach’s nicht so feierlich, du erschreckst mich sonst.«

»Dich erschreckt schon nichts. Also: geh schlafen. Darum wollt’ ich
dich bitten. Und morgen frühzeitig auf. Dann wollen wir lange plaudern.«

Sie erhob sich und kam auf ihn zu.

»Ist Hans krank? Ist etwas mit ihm geschehen? Als du nicht pünktlich
warst, wußt’ ich es.«

Er legte den Arm um ihre Schulter.

»Welch ein feinkorrespondierendes Empfinden — —. Wenn ich dir die
Wahrheit sage, wirst du sie mir auch sagen?«

»Ja, ja,« drängte sie, »das solltest du wissen. Ich kann nicht lügen.«

»Hans ist drauf und dran, über Bord zu gehen. Aber wir werden das nicht
zulassen, wir nicht, gelt, du? Und nun, gerad’ heraus: Hast du ihn noch
lieb?«

»Ja, Onkel Springe, ich hab’ ihn so lieb wie früher.«

»Gute Nacht, mein tapferes Mädel. Auf morgen!«

Als sie in der Tür war, nickte sie ihm nochmals lächelnd zu; als müßte
sie ihm, dem Manne, Mut einflößen. — —

[Illustration]




Sechstes Kapitel


Erst spät in der Nacht war Hannes eingeschlafen, und als sie erwachte,
war es noch nicht sieben Uhr. Ihre Gedanken setzten sofort dort wieder
ein, wo die Ermüdung sie unterbrochen hatte: bei Hans.

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag sie ganz still, mit
weitgeöffneten Augen.

Hans ... Wie oft hatte sie das Wort vor sich hin gesprochen, in all den
Jahren des heißen Mühens und Studierens, der ersten, angsterfüllten
Versuche und der großen, stolzen Siege in ihrer Kunst. Er wußte es ja
nicht. Er wußte ja nicht, daß sie ihm alles verdankte, den ganzen,
reichen Inhalt ihres Lebens. Er hatte die Liebe in ihr wachgeküßt,
und die Liebe hatte den Ehrgeiz der vornehmen Seele geweckt, es dem
Geliebten gleich zu tun an Wissenseifer, und den Drang nach der
Schönheit der Form. Dann hatte er den ersten, gewaltigen Schmerz in
sie hineingetragen, und der Schmerz hatte den großen Stolz gezeitigt,
zu zeigen, daß es für den Mann kein Herabsteigen gewesen wäre zur
unlösbaren Verkettung von Seel’ und Leib.

Ein leises, liebes Lächeln glitt um ihren Mund. Hans — — —.

Die Wunden, die sie bei dem jähen Abschied davongetragen, waren
längst verharrscht. Und im Laufe der Jahre waren die Narben immer
glatter, immer feiner geworden. Wenn sie in stillen Nächten, in denen
sie heimdachte, mit gleitendem Finger danach tastete, fand sie kaum
noch die Spuren. Dann dehnte sie den jungen, gestählten Körper und
spürte in ihm statt Wunden und Schmerzen das Wunder der Frauenkraft.
Eines Tages — o, eines Tages würde er sie nötig haben, wie den Duft
der Heimatscholle, den kein Sohn des Niederrheins auf immer zu missen
vermochte, der zu den Treuen im Lande zählte. Sie glaubte fest an
diesen Zug der Heimat. Warte nur, über ein kleines ...!

Sie hatte gewartet, und das Warten war ihr nicht sauer geworden.
Alle Energien in ihr waren frei geworden und, von einem zähen Willen
geleitet, den Weg gegangen, den ihr erst der Trotz und dann in
seltsamer Wandlung das erwachte Gefühl der Persönlichkeit gewiesen
hatte. Mit geklärtem Auge schaute sie mehr und mehr in alle Dinge
und ihre Beweggründe hinein, und wenn sie auf eine unbefriedigte
Ehe traf, sah sie die Verschiebung der einst harmonierenden Motive
nicht so sehr in äußerlichen Ablenkungen, als in dem rein innerlichen
Umstand, daß die Frau am Tage der Hochzeit mit der straffen, geistigen
Erziehung abzuschließen pflegte, während für den Mann jetzt erst die
Weiterentwicklung und mit ihr die geistigen Kämpfe begannen. Fand er
auf die Dauer kein mitgehendes Verständnis, fand er in ihr, in der er
eine Kameradin erhofft hatte, immer wieder nur das launenhafte Kind,
kaum auf einer höheren Warte stehend als die Kinder, die sie geboren
hatte und die sie zu stolzen, starken Menschen erziehen sollte, fand
er in ihr nie und nimmer anderes als das Evageschöpfchen, das »um
seiner selbst willen« geliebt sein wollte — was Wunder, daß die Kluft
breiter und breiter wurde und eine der Seelen frierend am Ufer stand.

Das war dem jungen, im Dunkel seines ersten Liebeswehs umherirrenden
Mädchen wie eine Erleuchtung gekommen: eine Frau muß dem Manne, auch
nach dem Rausch des Lenzes, ebenbürtig bleiben; nicht in der Fülle des
Wissens, aber in der Fülle des Verständnisses. Dann hat sie ein Recht
auf ihn, als sein wahrhaftiger Zeltgenosse, der Kampf und Sieg mit ihm
teilt, beides wie ein gleichwertiges; nicht als seine hübsche Magd, der
er für ein Lächeln ein Armband mit heimbringt.

Darauf war ihr Streben gerichtet gewesen. Sollte der Tag kommen — auf
alle Fälle, sie wollte bereit sein.

Der Tag war nicht gekommen. Ihn mit kleinen Künsten herbeizuführen, lag
in ihrem Wesen nicht.

Die Reihe war an ihm, dem Manne — und sie wartete, und wenn sie
vergeblich warten sollte. Heute stand sie ihm nicht mehr nach, weder in
der Kunst, noch im Leben.

Der selbstbewußte Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens schwand
plötzlich hin, eine Unruhe trat in ihre Augen. Sie zog die Arme unter
dem Kopfe fort und saß aufrecht da.

Was hatte Onkel Springe gestern abend gesagt? Was war mit Hans?

»Er ist drauf und dran, über Bord zu gehen — —«

Noch einen Moment ließ sie die Worte in ihren Ohren tönen und hämmern.
Dann war sie mit einem Sprunge aus dem Bett und kleidete sich an.
»Oho,« murmelte sie vor sich hin, während sie die Haken ihres
Promenadenkleides schloß, »oho!« Sie wußte nicht, war es eine Drohung,
war es, um sich selbst Mut zu machen. Noch war ihr ja gänzlich fremd,
in welcher Lage, in welcher Bedrängnis Hans eigentlich stak. Aber die
Gewißheit, daß es eine Bedrängnis war, genügte, um sie vergessen zu
machen, daß — die Reihe an ihm sein sollte, zu ihr zu kommen; und all
die mütterlichen Eigenschaften, die unbewußt im Weibe ruhen, waren in
ihr ausgelöst.

Sie klingelte dem Zimmermädchen.

»Sehen Sie doch sofort nach, ob Herr von Springe schon sein Zimmer
verlassen hat. Sonst lassen Sie ihn wecken.«

Heinrich Springe erwartete seinen Bundesgenossen bereits im
Frühstückszimmer. Sie ließen sich an einem separaten Tisch servieren
und saßen allein.

»Guten Morgen, meine Lerche!«

Sie legte den Arm um seinen Hals und ihre weichen Lippen auf seinen
Mund.

»Töchterchen,« sagte er zärtlich und streichelte ihr Gesicht und ihr
Haar ... »Dort kommt der Kellner. Jetzt heißt es zulangen. Ein Mensch,
der ein ordentliches Frühstück im Magen hat, hat schon halb gewonnen.
In diesem Sinne los, Hannes! Wer die beste Klinge schlägt!«

Da hielt sie wacker mit.

»Wunderst du dich nicht, daß ich dir gar keine Komplimente über dein
Singen mache?« fragte er nach einer Weile. »Du mußt mich unbedingt für
einen Barbaren halten. Gelt, das ist die Meinung?«

»Onkel Springe! Wer ist denn musikalischer als du?!«

»Für den Hausgebrauch, Kind. Die musikalischen Schwingungen muß jeder
Künstler in sich verspüren, ob Maler, Dichter oder Klavizimbelspieler.
Aber sieh mal, Mädel, da reise ich geschlagene acht Stunden mit dem
Kurierzug, um dich nach Jahren wiederzuhören, und als es geschehen ist,
bleibe ich stumm.«

Sie streichelte seine Hand und sah ihn schelmisch von der Seite an. »Du
wolltest wohl erst die Kritiken in den Morgenblättern lesen?«

»Schlauberger!« lachte er. »Übrigens ist das bereits auch geschehen.
Die Herren Musikkritiker verstehen zwar durch die Bank mehr von
Instrumentalmusik als von einer Stimme, aber diesmal haben sie sich
denn doch zu ~einem~ schönen Jubelchor vereinigt. Mein Mädel hat es
ihnen angetan, mußte es ihnen ja antun; mir hattest du es ja auch
angetan, daß ich den unbezwinglichen Drang verspürte, alle Menschen
teilnehmen zu lassen, irgend eine gute Tat zu tun, und da bin ich
spornstreichs zum Hans gelaufen.«

Damit war das Wort gefallen. Die beiden sahen sich ernst an.

»Eine Frau ist im Spiel,« sagte Springe kurz.

»Liebt er sie — —?«

»Wenn’s das wäre! Gelt, Mädel, dann würden wir uns bescheiden. Aber das
ist es eben nicht. Es ist schlimmer. Er ist mit seinen Sinnen, seinem
Hochmut, seiner Eitelkeit engagiert. Das ist ein böses Trisolium für
einen Mann, der gewohnt ist, alles von sich selbst aus zu beurteilen
und sich in jeder Situation zu bespiegeln. Die Coeur-Dame aber hat
ebenfalls ihren Ehrgeiz für sich. Sie möchte außer einem Gatten von
Rang und Würden auch noch einen Mantelträger — hm, anders kann ich dir
das nicht erklären — und für dies ehrenvolle Pöstchen hat sie in ihrer
großen Güte Hans ausersehen.«

»Und Hans — und Hans?«

»Ist aus allen seinen Himmeln gestürzt. Ich habe die feste Gewißheit,
daß er sie nicht liebt, so, weißt du, Kind, wie wir das Wort
verstehen, mit dem Ewigkeitsbegriff. Aber er ist im Lauf der Jahre
ein armer, einsamer Mensch geworden, und todmüde. Da kommt nun eine
schöne Frau des Wegs — sagen wir: die gefeiertste Weltdame — und da
der verschlossene Sonderling für sie Nouveauté ist, beginnt sie zur
Kurzweil das Spiel. Der Mann, der schon auf alle Freuden des Lebens
verzichtet hat, traut seinen Augen nicht, zögert, alte Erinnerungen
werden in ihm lebendig, und, teils aus Haß, teils aus Gier, noch
einmal seine Kräfte zu erproben — er greift zu. Wenn ein Todkranker
sich an etwas anklammert, mein Kind, dann fragt er nicht viel nach den
Qualitäten, dann redet nur noch sein Egoismus, denn er weiß, es ist das
letzte Mal ...«

Springe sann nach. In seinem Geiste sah er, wie Bild für Bild sich
entwickelt hatte.

»Die schöne Frau aber,« fuhr er mit ironischer Betonung fort, »hatte
bereits andere Pläne, auf die sie nicht verzichten wollte. Und da
ihr unterdes Hans unentbehrlich geworden war, als Troubadour, so
wirkte sie mit verdoppeltem Nachdruck auf seine Sinne, um ihn für das
vorbehaltene Pöstchen des Schleppenträgers gefügig zu machen. Gestern
abend erfolgte die Erklärung, und der überrumpelte Hans warf dennoch im
ersten Ansturm den Bettel über den Haufen.«

»Ah — —« stieß die Zuhörerin hervor, und über ihr blaß gewordenes
Gesicht huschte eine Röte.

»Das muß der Frau wohl imponiert haben. Möglich auch, daß sie darauf
vorbereitet war, den Mann erst ein bißchen der Raserei überlassen
wollte, um sich dann über den Niedergebrochenen gnädig zu neigen,
überzeugt, daß er nun für ein Glück halten werde, was ihm zuvor das
Anfassen nicht wert schien. Als ich gestern bei Hans war und meine
Plaudereien aus der Heimat ihn still und in sich gekehrt gemacht
hatten, platzte in die frommste Stimmung ein =billet de diable= hinein.
Und die schönste Explosion war fertig.

Ich halte im allgemeinen nichts von sogenannten Schickungen. Das sind
Eselsbrücken für Faulpelze, die nicht fest zupacken wollen. Aber als in
diesem Augenblick bei Hans just eine schwere Erkältung zum Durchbruch
kommen mußte, Schüttelfrost, Fieber, Kopfschmerz, na, Kleine, da
hab’ ich für das eine Mal die Segel gestrichen und die ›Schickung‹
akzeptiert. Auf vierundzwanzig Stunden mindestens liegt er in der
Klappe. Gottlob! Mit einem feudalen Husten und Schnupfen kann man weder
den Othello, noch den Romeo agieren.«

»Onkel Springe,« bat sie leise, »sei doch ernsthaft!«

»Ich war nie ernsthafter als jetzt. Als ich gestern nacht vor dem
Schlafengehen noch für einen Moment in das Café des Kaiserhofs trat,
traf ich Herrn Willibald Hüsgen, der Hans bei uns vermutete und ihm
auflauern wollte, um sich für den ›genußreichen Abend‹ im Hause Frau
Bettina Wittelsbachs zu bedanken. Hans hatte ihn auf seine Quälereien
hin dort eingeführt. Herr Willibald war ebenso konfus wie wütend,
scheint sich aber einen gut rheinischen Abgang gemacht zu haben. Von
ihm hörte ich, daß der bevorzugte Bräutigam ein kleiner, wenn auch
etwas abgetakelter Prinz ist. Verstehst du jetzt? Und hier ist das
Billett, das Hans gestern nach dem intimen Verlobungszirkel noch
erhielt. Ich habe es eingesteckt.«

Er legte die Karte Bettinas auf den Tisch, und Hannes las. Dann lehnte
sie sich schweigend zurück, aber in ihren Augen und um ihren Mund stand
ein Zug fester Entschlossenheit.

»Nun —?« fragte Springe. »Jetzt gilt’s, den Kriegsplan entwerfen,
Kleine.«

»Ich werde zu der Dame hingehen.«

»Was — —? Du — —?«

»Jawohl, ich. Es muß doch auf der Stelle etwas geschehen. O nein, nicht
meinetwegen.«

»Aber, Mädel, alter, tapferer Hannes, was willst du denn dort?«

»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich ihr gegenüberstehe, werd’ ich es
wissen.«

Springe schwieg. Dann nahm er Hannes’ Hände.

»Hör mich mal an. Ich weiß mit Frauenzimmern schlecht Bescheid, oder
sie müßten sein wie Frau Margot, du und Mutter Stahl. Düsseldorfer
Auslese. Aber daß ~du~ zu der Dame hingehst, das duld’ ich nicht.
Wenigstens jetzt noch nicht. Du bist ein junges Mädchen, und ich ein
gesetzter Mann, wenn’s auch keiner glaubt. Folglich — werde ~ich~
hingehen. Das war auch meine Absicht.«

»Onkel Springe, dir werden deine Kavaliertugenden im Wege stehen.«

»Ja, Kind, um mich dort herumzuprügeln, geh’ ich auch nicht hin.«

Nun mußte sie doch lächeln, trotz ihrer schweren Stimmung.

»So meinte ich es nicht. Aber gewisse Dinge können sich nur Frauen
sagen. Und wenn du nichts erreichst?«

»Dann, ja dann soll die Reihe an dir sein. Abgemacht!«

Sie erhoben sich und unternahmen einen Spaziergang, über die Linden,
durch das Brandenburger Tor und den Tiergarten. Das Thema wurde nicht
weiter berührt. Sie waren beide wortkarg geworden.

Als es gegen elf Uhr ging, verabredeten sie, da das Wetter heiter war,
eine Rendezvousstelle am westlichen Ausgang des Tiergartens. Springe
nahm einen Wagen und fuhr zum Kurfürstendamm. Dem Hausmädchen, welches
ihm die Korridortür öffnete, gab er seine Karte und trug ihm auf, der
gnädigen Frau zu bestellen, daß er eine Mitteilung von Herrn Doktor
Steinherr zu überbringen habe. Wenige Minuten darauf stand er im
Empfangssalon Bettina gegenüber.

Sie sah etwas abgespannt aus, aber gerade der matte Flor um die Augen
verstärkte den pikanten Reiz.

»Meine gnädige Frau,« sagte er mit tiefer Verbeugung, »ich erbitte Ihre
Verzeihung, daß ich so gänzlich ungerufen —«

»O,« erwiderte sie lächelnd, »die Freunde des Herrn Doktor Steinherr
sind auch meine Freunde.«

»Ich werde mir diesen Vorzug zu eigen machen.«

Sie zog einen Moment die Augenbrauen hoch; dann wies sie lässig auf
einen Sessel. »Sie ließen mich wissen, daß ein Auftrag des Herrn Doktor
Sie zu mir führe ...«

»Ein Auftrag? Pardon, nein. Das ist ein Mißverständnis. Lediglich ein
Mitteilungsbedürfnis trieb mich her.«

Eine Pause trat ein. Frau Bettina war auf der Stelle orientiert. Und
diese Pause benutzten sie beide, um sich schweigend zu beobachten. Dann
sagte die Dame des Hauses kalt: »Jetzt ist es an mir, Ihre Verzeihung
zu erbitten. Aber ich erwarte in dieser Minute noch Besuch.«

Heinrich von Springe verneigte sich, aber er blieb sitzen. »Der
Besucher, meine gnädige Frau, ist leider durch eine heimtückische
Krankheit ans Bett gefesselt.«

»Hans ist krank — —?« entfuhr es ihr so schnell, daß sie ihren Fehler
nicht mehr korrigieren konnte.

»Ja,« wiederholte Springe höflich, »er ist krank. Gestern abend ist er
plötzlich erkrankt.«

Sie nagte nervös an der Lippe, um die Beherrschung wiederzufinden. Dann
sah sie ihr Gegenüber scharf an.

»Sie wissen, um was es sich handelt?«

»Um eine Influenza, gnädige Frau.«

»Ah —!« rief sie zornig und sprang auf. »Mir scheint, Sie wollen die
Situation ins Lächerliche ziehen.«

Auch Springe hatte sich sofort erhoben.

»Wenn gnädige Frau mit der Frage etwas anderes bezweckten, dann
allerdings habe ich —«

»Nein, nein,« lachte sie ungeduldig auf, »es handelt sich in der Tat um
diese — diese Influenza.«

Springe lachte unaufgefordert mit, als ob er die Pointe in ihren
Worten durchaus nicht verstanden hätte.

»Sie haben recht, gnädige Frau, das ist freilich eine außerordentlich
komische Krankheit.«

Da wurden ihre Gesichtszüge unbeweglich.

»Ich danke Ihnen, mein Herr, für die Freundlichkeit, mich zu
benachrichtigen. Ich darf aber wohl Ihre Zeit nicht länger in Anspruch
nehmen.«

Und als Springe zögernd auf seinem Platze verharrte, sagte sie mit
einer hoheitsvollen Abschiedsverneigung: »Herr von Springe — —?«

Da rückte sich Springe zusammen und trat einen Schritt näher.

»Gestatten Sie mir, meine gnädige Frau, daß ich noch ein bei der
Vorstellung entstandenes Versäumnis nachhole. Ich möchte nicht gehen,
ohne mich Ihnen in meiner Eigenschaft als Vater Hans Steinherrs zu
präsentieren.«

Frau Bettina trat überrascht zurück, glühende Röte auf der Stirn. »Sie
scherzen,« stammelte sie verwirrt, »das ist doch nicht möglich.«

»Die Verwunderung ist ganz auf meiner Seite, gnädige Frau. Sollte Hans
das nie erwähnt haben?«

»Er liebte es nicht, von daheim zu sprechen,« gab sie, immer noch
fassungslos, zur Antwort. »Nur einmal, ganz kurz, erwähnte er eines
alten Freundes, der durch Heirat sein, Hansens, Stiefvater geworden
sei.«

»Dieser alte Freund bin ich, gnädige Frau, und die Freundschaft ist auf
meiner Seite unverändert geblieben.«

»Sie sind nicht alt ...« sagte sie gedankenlos.

»Ist denn äußerlich erkennbares Alter ein unbedingtes Erfordernis zum
Ehemann?«

Sie zuckte zusammen. Das war Hohn. — — Nun hatte sie sich wieder.

»Da Sie sich als Vater meines besten Freundes ausweisen,« sagte sie mit
lächelnder Liebenswürdigkeit, »so müssen Sie mir schon erlauben, daß
ich Sie noch ein wenig hier behalte. Das ist eine unerwartete Freude
für mich.«

Springe stutzte; aber er ließ sich wieder nieder.

»Und nun erzählen Sie mir von ihm. Von dem Hans, als er noch ganz klein
und unartig war.«

»Sollte es nicht,« erwiderte Springe verblüfft, »in unserem Falle
richtiger sein, ~Sie~ erzählten mir von dem Hans, als er schon ganz
groß und — artig war?«

»Bitte, bitte,« schmeichelte sie, und ihre dunklen Augen schienen weich
und flehend. »Was ich zu berichten habe, ist nicht immer erfreulich.
Er hat mir viel Sorgen gemacht, aber ich hab’ ihn gern und bewundere
sein Talent; und von seinen Freunden erträgt man viel, das haben Sie
wohl auch erfahren. Erzählen Sie mir von seiner Jugend. Nachher mag die
Reihe an mich kommen, zu ergänzen.«

Noch einmal machte Springe einen Anlauf, das Gespräch auf der anderen
Bahn zu halten. Aber sie legte ihm sanft die Spitzen ihrer zarten
Finger auf die Hand und sah ihm mit dem rätselhaft lächelnden Blick in
die Augen.

Das arme Ding, dachte er mitleidig, sie kann nun einmal nicht gegen
ihre Natur. Es ist ein Jammer, daß man so einem schönen Geschöpf wehe
tun muß. Na, anders geht’s doch nicht.

Aber er begann zunächst zu erzählen. Vom Rhein, vom Düsseldorfer Leben,
von seiner ersten Bekanntschaft mit Hans, von den großen Qualitäten des
jungen Freundes und seiner Entwicklung, von den feinen, dichterischen
Talenten, die durch eine Jugendliebe geweckt worden seien, und vieles
mehr. Jedesmal, wenn er zu Ende kommen wollte, berührte sie leise seine
Hand, und ihr Auge verlangte, daß er fortfahre.

Mitten in einer Schilderung hielt er inne. Die Zimmeruhr hatte die
Mittagsstunde geschlagen. Der Zweck seiner Mission fiel ihm heiß aufs
Herz. »Gnädige Frau,« sagte er sich erhebend, »Sie müssen mir den
Jungen freigeben, zumal ich mich gleichzeitig beehren darf, Ihnen meine
herzlichsten Glückwünsche zur Verlobung auszusprechen.«

Frau Bettina lehnte sich tief zurück. Das war die Ironie, die ihr immer
imponierte.

»Und wenn ich ihn trotzdem behalten möchte.«

»Das ist des Rheinlands nicht der Brauch. Wir da von der Westgrenze
sind als reichlich selbstbewußt, oder sagen wir ruhig: hochmütig
verschrieen bei aller unserer Lebensleichtigkeit; auch in unserem
Lieben machen wir Anspruch auf die ~erste~ Stelle.«

»Und in Ihrem Hassen?«

»Ich bin kein Adelsnarr. Aber auf dem Wappen meiner Familie steht der
rechte Spruch: ›=Pectus amicis, hostibus frontem=.‹ Sie haben die Wahl.«

»Ich verstehe kein Latein.«

»Ich auch nicht. Ich hab’s wieder verlernt, seitdem ich merkte, daß in
der Welt viel zu wenig ›deutsch‹ geredet würde. ›Die Brust dem Freund,
die Stirn dem Feind‹, lautet der Spruch.«

»Wollen Sie mein Freund sein, Herr von Springe?«

»Gnädige Frau tun mir unverdiente Ehre an.«

»Wer ist heute noch ein Freund? Ihr Hans, o ja; heute schon läßt er
mich allein. Aber ein Mann ist er doch, der Tollkopf, und deshalb muß
er mein Freund bleiben. Und Sie sind sein Erzieher ... Aus dieser
Quelle hat er geschöpft. Lassen Sie mich auch davon profitieren.«

»Meine gnädige Frau, der Zweck meines Besuches ist denn doch wohl —«

»Den Zweck Ihres Besuches,« fiel sie ein und schüttelte ihm herzlich
die Hand, »den sollen Sie mir morgen sagen, um diese Stunde. Kommen
Sie allein, oder kommen Sie mit Hans. Heute laß ich mir die schöne
Stimmung, die ich Ihnen danke, nicht angreifen. Das ist Ihre eigene
Schuld.«

Sie sah ihn an, mit halb über die Augen gesenkten Wimpern.

»Auf Wiedersehen, Herr von Springe! Ihrem Pflegling die zärtlichsten
Wünsche.«

Da stand er draußen; lachend, wütend, vollständig
durcheinandergewirbelt. Die Hexe, sprudelte es in ihm. Da hat sie
mich so lange von Düsseldorf erzählen lassen, bis wir glücklich
so familiär geworden waren, daß ich ihr nicht mehr grob kommen
konnte. Hannes meinte ja gleich, meine Kavalierstugenden — — ach
was, Kavalierstugenden! Blamiert hast du dich, alter Sohn! Vor zwei
kokettierenden Satansaugen hast du geschnurrt wie ein Kater, dem man
das Fell streicht!

Als er seiner Bundesgenossin ansichtig wurde, schlug ihm doch das Herz.
Aber er bemäntelte seine Niederlage nicht.

»Sie hat mich in Watte gewickelt,« knurrte er und biß sich auf den
Schnurrbart. »Viel hätte nicht gefehlt, und ich wär’ ihr um den Hals
gefallen.«

»Gott sei Dank!« gab das Mädchen zur Antwort.

»Gott sei Dank?« wiederholte Springe perplex. »Wieso denn das?«

»Onkel Springe, wenn selbst du nicht standhalten kannst, ist Hans doch
auch entschuldigt!«

Das ist die Logik der Liebe, dachte Springe. Aber er war kleinlaut
geworden und sagte es nicht laut.

»Erwarte mich im Hotel, Onkel. Spätestens in einer Stunde bin ich
zurück.«

Er sah ihr nach, wie sie über den Damm mit leichtem, flotten
Gang auf eine Droschke zuschritt. In dem rotblonden Haar lag die
Vorfrühlingssonne wie eine lustige Lohe. Ist das ein Mädel! gestand
sich Springe. Man wird gesund und fröhlich vom bloßen Anschauen. Da
liegt ein anderer Schmiß drin als in der Treibhausblume von vorhin. — —
— Na, na, na ... Nachträglich Schimpfen, das ist auch so eine Art —.

Dann wandte er sich ab und schlug langsam den Weg zum Hotel ein. — — —

Hannes hatte Frau Bettina ihre Künstlerkarte hineingeschickt, wie
sie sie im Verkehr mit Konzertdirektoren und Arrangeuren zu benutzen
pflegte.

»Johanna Stahl?« las Bettina nachdenklich. »Die berühmte Altistin, die
gestern erst im Philharmonischen — Sagen Sie der Dame, Anna, daß ich
sehr erfreut bin, sie zu empfangen.«

Die beiden Frauen standen sich gegenüber.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Bettina, überwältigt von der
eigenartigen Erscheinung und der jugendlichen Schönheit der Sängerin,
und streckte ihr beide Hände entgegen, »was verschafft mir den Vorzug,
einen so ausgezeichneten Gast bei mir zu sehen?«

»Bewilligen Sie mir wenige Minuten Gehör, gnädige Frau? Ich möchte
vorausschicken, daß die Angelegenheit, die mich herführt, in erster
Linie ~Ihre~ Interessen tangiert.«

Bettina ließ die Arme sinken. Die andere hatte ihre Willkommenbewegung
gänzlich übersehen.

»Nehmen Sie Platz, mein Fräulein,« sagte sie mit formeller Höflichkeit.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«

Hannes machte von der Einladung keinen Gebrauch. Eine Sekunde lang
kreuzten sich ihre Blicke. Die eine sah die dunkeläugige, gefährliche
Favoritin, die andere das freie, unerschrockene Germanenmädchen.

»Ich spreche gern die Hoffnung aus,« begann Hannes ruhig, »daß unsere
Unterredung ebenso kurz wie befriedigend verläuft. Mein Pflegeonkel,
Herr von Springe, ist, wie sich denken ließ, unverrichteter Sache
heimgekehrt. Ich hatte ihm gleich gesagt, daß das kein Geschäft für
Männer sei.«

»Ein Geschäft —? Mein Fräulein, Sie bedienen sich recht seltsamer
Ausdrücke.«

»Wir wollen hier nicht um Worte streiten, gnädige Frau. Das würde die
Erledigung der Angelegenheit nur verzögern.«

»So — so — —. Sie kommen aus demselben Grunde wie Herr von Springe?
Nun, ich finde das für Sie nicht sonderlich delikat.«

»Gnädige Frau, Sie wollen gütigst beachten, daß das — Parfüm nicht von
mir herstammt.«

»Mein Fräulein!«

»O nein, Sie erschrecken mich nicht. Ich fasse mich kurz. Das ist auch
mein Geschmack. Es liegt in Ihrem Interesse, daß ich Sie bitte, Ihre
Beziehungen zu Herrn Hans Steinherr ohne weiteres abzubrechen.«

»Verehrtes Fräulein,« lachte Bettina und zuckte die Achseln, »die
Rolle der verlassenen Ariadne, in der Sie sich gefallen, ist einfach
lächerlich.«

»Es freut mich, daß Sie das Kolorit dieser Rolle richtig taxieren,
obwohl ich nicht viel mit ihr zu tun habe. Ich reise morgen nach
München und singe in acht Tagen in Paris. Aber eben Sie, gnädige Frau,
möchte ich vor dieser Rolle bewahren.«

»Tragen Sie keine Sorge. Ich qualifiziere mich nicht dazu.«

»Das zu erfahren, läge lediglich in meiner Hand.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Ich frage Sie nur, ob Sie, die Verlobte eines hohen Herrn, die
Beziehungen zu meinem Jugendfreunde lösen wollen oder nicht.«

»Und wenn ich Ihnen jegliche Antwort darauf verweigerte?«

»Soll ich das als Antwort auslegen?«

»Es steht in Ihrem Belieben.«

»So zwingen Sie mich, auf der Stelle zum Prinzen Georg hinzufahren und
ihm den Inhalt dieser Unterredung mitzuteilen. Entscheiden Sie sich!«

Bettina war erblaßt. Ihre Brust hob und senkte sich tief, und die
langen Wimpern zitterten über ihren Augen.

»Wenn Sie durchaus Lust verspüren, sich selbst mit diesem Schritt zu
kompromittieren — —. Sie verstehen mich wohl. Übrigens wird man Sie
nicht empfangen.«

»Man ~wird~ mich empfangen. Ich bin meiner Kunst dankbar, daß sie mir
alle Türen öffnet. Und vor einer Kompromittierung fürchte ich mich
nicht. Das ist mir die Freundschaft schon wert.«

Die beiden Frauen sahen sich fest in die Augen. Dann sagte Bettina mit
einer starken Willensanstrengung: »Ihr glühendes Eintreten stellt mir
den Preis so verlockend vor, daß ich Lust habe, freiwillig dem Prinzen
abzusagen und Herrn Doktor Steinherrs Werbung heute noch anzunehmen.«

»Das kommt zu spät, gnädige Frau.«

»Mein Fräulein, ich muß mir jetzt jeden weiteren Einspruch verbitten.«

»Gestern hätten Sie noch ein Recht dazu gehabt, heute nicht mehr. Ich
lasse Hans nicht unglücklich machen.«

»Unglücklich? Wenn ich ihn heirate? Das ist zum wenigsten originell.«

»Hans würde über die gestrige furchtbare Enttäuschung nie hinwegkommen.
Er würde nie das Vertrauen zurückgewinnen und an den quälenden Gedanken
zu Grunde gehen.«

»In Ihnen aber, nicht wahr, in Ihnen würde er die rechte Gefährtin
finden. Nun, ich bin nicht seelengroß genug, um Ihnen den erwählten
Gatten abzutreten. Mein Entschluß ist jetzt gefaßt.«

»Gnädige Frau,« begann Hannes, und ihr stolzer Mädchenkörper reckte
sich hoch auf. Über ihrem Gesicht lag eine finstere Ruhe. »Gnädige
Frau, ich habe bis jetzt ~nicht~ von mir gesprochen, aber wenn Sie mich
zwingen, ~werde~ ich von mir sprechen.«

»Ah — das klingt wie eine Drohung ...«

»Und es ~ist~ eine Drohung. Sehen Sie mich an. Wir sind zwei Frauen,
und keiner hört uns. In der Stunde der Gefahr soll keine falsche Scham
zwischen uns stehen. Sehen Sie mich an. Sie sind schön und üben Ihren
Einfluß auf die Männer; und ich —« eine dunkle Röte flog über ihre
Stirn, aber in ihren Augen blieb das stahlharte Leuchten — »ich traue
mir zu, es mit Ihnen aufzunehmen. Kein Mann hat mich je berührt, mit
Ausnahme Hans Steinherrs, als er noch ein halber Knabe war. Das fällt
mit in die Wagschale. Wagen Sie es, von seiner Stimmung Gebrauch zu
machen, wagen Sie es, ihn für immer an sich zu ketten und damit sein
Leben zu zerstören, nachdem Sie seinen Glauben schon zerstört haben!
Selbst ~dann~ werde ich meine mädchenhafte Scheu überwinden, und ich
werde schöner sein und treuer sein als Sie, und ich werde länger jung
bleiben um seinetwillen! Wagen Sie den Kampf? Ich werde ihn mit der
Heimatsstimme rufen und dem Ton der alten Erinnerungen. Für sein Glück
soll mir ~kein~ Opfer zu schwer sein, und der Herrgott wird es mir
verzeihen.«

Frau Bettina starrte das Mädchen an. Das war kein Ausbruch verwundeter
Eitelkeit, das war die hinreißende Frauenreinheit, die alles darf, und
die durch nichts befleckt wird. Und mit einem Male kam sie sich alt und
müde vor neben dem jungen, zu jedem Kampf entschlossenen Geschöpf.

»Gehen Sie, gehen Sie!« murmelte sie und drückte die Hand vor die Augen.

Da trat Hannes auf sie zu und zog Frau Bettinas Hände herab. »Ich bin,
als ich eintrat, Ihrem Händedruck ausgewichen, gnädige Frau. Lassen Sie
mich jetzt Ihre Hände drücken.«

»Ich weiß nicht, womit Sie es mir angetan haben,« stammelte die
Frau. »Sie — Sie haben den gläubigen Mut ...« Und plötzlich, dem
Impuls des Weibes folgend, schlang sie den Arm um Hannes und sah ihr
leidenschaftlich in das ernste und doch so jugendstrahlende Gesicht.

»Leben Sie wohl, Sie glückliche Natur! Ihr Hans soll nie wieder von mir
hören. Nur drei Abschiedszeilen zum Adieu.«

Mein Hans — dachte Hannes mit einem wehmütigen Lächeln. Aber sie
behielt tapfer ihre Haltung bei, und ruhig und gefaßt schieden die
Frauen voneinander. — —

Im Hotel ließ sie Springe auf ihr Zimmer bitten. Sie nickte dem
aufgeregt Hereinstürmenden zu.

»Hans wird ~nicht~ über Bord gehen. Die Gefahr ist vorbei.«

       *       *       *       *       *

Als Springe am Nachmittag den Freund aufsuchte, fand er ihn am
Schreibtisch sitzend. Stumm wies Hans Steinherr auf ein Blatt Papier.
Bettina schrieb ihm, daß sie noch am selben Abend zu Verwandten ihres
Verlobten abreise, ihn aber um seine Verzeihung bitte.

»Komm mit nach Düsseldorf!« sagte Springe ernst. »Du bist es dir und du
bist es auch der Mutter schuldig. Die Heimat wird dich gesund machen.«

»Ich glaube an kein Gesundwerden mehr, Heinrich. Ich habe meine Wurzeln
eigenhändig zerstört.«

Aber er ließ sich leicht überreden, er war müde und hatte eine traurige
Sehnsucht. —

Hannes war nach München abgereist. Er hatte ihre Grüße empfangen und
sie selbst nicht gesehen. Sie schien vor ihm geflohen zu sein, und das
schmerzte ihn tiefer, als er es Springe wissen ließ.

In den ersten Märztagen fuhr Hans Steinherr an der Seite Heinrich von
Springes durch Hannover, Westfalen und das niederrheinische Land. In
sich versunken blickte er auf die Lichter Düsseldorfs, die sich rasch
näherten. Er kam nicht als Sieger, aber er kam.

Die Heimat hatte ihren erkrankten Sohn zurückgefordert.

[Illustration]




Siebentes Kapitel


Herr Friedrich Leopold von Springe saß an seinem hochbeinigen
Schachtisch, dessen eingelegte Platte von einer niederen Galerie
umgeben war, um die Figuren vor dem Hinabstürzen zu bewahren. Er trug
eine elegante, flauschige Jagdjoppe, sein dünnes Haar war sorgfältig
frisiert, und sein schlohweißer Schnurrbart strebte noch immer in keck
gestutzten Spitzen nach oben. Nur in seinen Händen war ein leichtes,
wenn auch kaum auffallendes Zittern zu bemerken, wenn er den Läufer zum
Sturm beorderte oder den Springer den Rösselsprung vollziehen ließ. Er
behauptete zwar, das sei die Aufregung des Spiels, kompliziert durch
die Partnerschaft einer angebeteten Dame.

Diese Partnerin und Verehrte seines Herzens thronte in Gestalt Frau
Stahls auf einem hohen Ledersessel ihm gegenüber. Über ihre faltigen
Züge huschte, so oft sich Herr Friedrich Leopold in einer chevaleresken
Bemerkung gefiel, ein kurzes, verschämtes Lächeln, das sie alsbald
unter einem verdoppelt strengen Ernst zu verstecken sich mühte, gerade
so, als müßte man sich von dem gefährlich tuenden alten Herrn der
unglaublichsten Heißspornigkeiten gewärtig halten und dürfte daher
seinem Jugendfeuer nicht die geringsten Konzessionen machen.

Eine warme Gemütlichkeit herrschte in dem Zimmer. Kein Geruch nach
Lavendel und Rosmarin. Aber es duftete verräterisch nach echtem
Sellnerschen Punsch vom Karlsplatz.

»Durchaus nicht, weil ich am Alkohol hänge,« pflegte der alte
Herr jedesmal zu betonen, wenn er aus dem Tischuntersatz das Glas
hervorholte und verbindlich gegen Frau Stahl hob. »Ich bin eigentlich
von Haus aus Vegetarier und schwärme für junges Gemüse. Aber wo soll
der Mensch in den ersten Tagen des Märzen Maikräuter herbeziehen!«

Gegen diese eiserne Logik ließ sich nichts einwenden. Und wenn
auch Frau Stahl von Zeit zu Zeit mit dem liebevoll geschärften
Blick, mit dem man große Jungen zur Einkehr zwingt, auf die nach
dem Tischuntersatz tastende Hand des alten Herrn schaute, ~so~
ungefähr, als ob sie auf seinem Handrücken etwas ganz außerordentlich
Interessantes erblickte, so erhob sie sich doch zu mehreren Malen
am Abend, um aus dem Kamin schweigend den dampfenden Wasserkessel
hervorzuziehen.

Dann saß Herr Friedrich Leopold ganz still, die Hände im Schoß
gefaltet, und beobachtete ihr Tun. Mit leichtgewölbten Nasenflügeln
schnupperte er den Duft, der aus der innigen Vermählung des
Punschsirups mit dem brodelnden Wasser aufstieg, und bewegte leise die
Lippen.

»Aber, Herr von Springe,« sagte die alte Frau mahnend, »können Sie denn
gar nicht abwarten?«

»Ach,« erwiderte Friedrich Leopold harmlos, »Sie meinen also wirklich,
das geschehe wegen des Punsches? O, meine gute Frau Stahl, in welchem
Irrtum bewegen Sie sich. Wenn meine Lippen sich regen, so tun sie
es, weil es sie zum Reden drängt. Wes das Herz voll ist, des geht
der Mund über. Und wenn ich so die Zierlichkeit Ihrer Bewegungen bei
der Punschbereitung betrachte — nein, nein, lassen Sie mich nicht
weitersprechen. Aber das Wort des einzigen Philosophen, den ich
anerkenne, bleibt dennoch wahr: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.«

»Haben Sie denn Sorgen, Herr von Springe? Das bißchen Podagra meldet
sich doch nur beim Witterungsumschwung.«

»Liebessorgen, meine verehrte Frau; Liebessorgen um Sie.«

»Ja,« sagte die alte Frau und hob betrüblich die Achseln, »da ist
freilich nix zu machen. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich bleib’ fest,
aus Konsequenz.«

»Na, dann geben Sie mir wenigstens den Leidenskelch. Frau Stahl, Frau
Stahl! Wenn ich in meinen besten Mannesjahren jählings zum Trinker
werde — Sie tragen die Verantwortung. Nein, nein!« protestierte er,
»keine stärkere Wasserzugabe. Ich bin durch Ihre Absage genügend
abgebrüht.«

Sie aber ließ sich nicht behindern, den Trank nach Gutdünken zu mischen.

In dem offenen Kamin knatterten die Holzscheite hinter dem Eisengitter.
Das war bei kaltem Wetter Herrn Friedrich Leopolds größte Freude.

»Sehen Sie,« belehrte er Frau Stahl, »der Stolz auf sein altes
Adelsgeschlecht, das ist doch kein leerer Wahn. Man muß ihn nur richtig
handhaben. Ich bin ja nur ein dürres Reis an unserem Stammbaum, aber
trotzdem, ich habe die Geschichte unseres Hauses im kleinen Finger. Und
wenn ich so sitze und grübele — dann gehört ein offenes Kaminfeuer dazu
und das Rattern und Knattern der Scheite. An so einem Kaminfeuer haben
sich auch meine Herren Vorgänger im lustigen Mittelalter höchstihre
Fußsohlen gewärmt, wenn sie von mehr oder weniger tugendhaftem Beginnen
auf ihre Burg am Rhein zurückkehrten. Geben Sie gut acht. Der Kamin
und das Füßewärmen tun’s nicht allein; aber — die Tradition. Es ist
so ein eigentümlich Ding um so eine Familientradition. Man sollte ihr
auch in Bürgerkreisen mehr nachgehen. Glauben Sie mir, die Gedanken
daran wandeln sich in Blutkörperchen um, und die Blutkörperchen geben
Haltung. Man weiß, man ist seinen Vorgängern und Nachfolgern etwas
schuldig, und wäre es auch nur die — gute Haltung. Ein Meteor, das
sich von seinem Heimatstern ablöst, strahlt zwar sehr schön und setzt
alle Welt einen Atemzug in Staunen, aber wenn es seine Bahn durchsaust
hat, sinkt es auf fremder Erde in Nacht und Grauen. Höchstens findet’s
ein Professor. Der klopft und riecht dran herum und — o Tragikomödie
des Meteors — erklärt der gläubigen Jüngerschar: Meine Herren, das,
was Sie hier sehen, ist durchaus kein Element an sich. Es hatte einmal
elementare Qualitäten, als es noch seine Kräfte aus dem zuständigen
Heimatsrevier des Saturn oder Uranus zog. Jetzt aber, jetzt — tun Sie’s
in Ihre Sammlung, unter: Verschiedenes.«

Der alte rheinische Junker stemmte seine Füße fest gegen das
Kamingitter und fuhr fort: »Die Familientradition, ja, die hat eben
etwas an sich. Man braucht sie nicht nachzubeten, bloß in den Knochen
soll man sie haben. Das ist auf alle Fälle ein feiner Regulator
zwischen dem modernen Geist und der alten Materie. Sie mögen sagen, was
Sie wollen: das sind Imponderabilien, die man bei der Rassenentwicklung
nicht unterschätzen soll. Schauen Sie sich um unter den Söhnen des
Landes. Bengel sind sie ja alle, gottlob!, und das ist ein gesundes
Zeichen. Aber wie Sie, im engeren, unter den Akademikern untrüglich die
Verbindungsstudenten herauswittern, so werden Ihnen, im weiteren, immer
die jungen Leute auffallen, die durch ihre Erziehung darauf hingeleitet
worden sind, ihrer Altvorderen, ob bürgerlichen oder adligen Grades, zu
gedenken. Was natürlich mit der persönlichen Hinneigung des einzelnen
zum Genie oder zum Schafskopf auch nicht das allermindeste zu tun hat.
Ich resümiere nur auf die Haltung; in allen Lebenslagen.«

Die alte Frau, die das Leben wissend gemacht hatte, nickte. Auch heute
freute sie sich an der draufgängerischen Frische des Altersgenossen,
aber sie hatte Lust, zu opponieren.

»Und wenn ein Kind keine Familientradition besitzt? Es gibt doch auch
solche Würmer.«

»Donnerwetter,« sagte der alte Herr eifrig, »dann heißt es
eine anlegen; auf einer Basis, so groß und breit und tief und
unveräußerlich, wie — na — kurz — wie ein Fideikommiß. Deubel ja, muß
das schön sein, eine werdende Familie zu etablieren, so eine mit Haken
und Ösen. Und der dolle Stolz, den man dann darauf hat!«

»Zum Beispiel: wie der alte Steinherr,« meinte Frau Stahl nebenbei.

Herr Friedrich Leopold sah sie groß an.

»Ich sprach doch nicht von einem Krämergeschäft mit Addieren,
Multiplizieren und Bruch- und Prozentrechnung, bis die Siebenstellige
im Münzwert voll ist? Nein, meine verehrte Frau, ich meinte
die Etablierung eines besonders feinen und körperlich gesunden
Menschenschlags, mit Addieren und Multiplizieren, bis die
Siebenstellige im geistigen oder seelischen Wert voll ist, von der dann
die Nachkommen auf Generationen hinaus zehren. Um Ihnen ebenfalls mit
einem Beispiel zu dienen: Hannes!« — —

Die alte Frau stand auf, ging zum Kamin und schüttelte dem
Realphilosophen derb die Hand.

»Ja, ja, ja,« philosophierte der weiter, »und langlebig macht so eine
gute, alte Familienerinnerung! Wenn andere Leute in das Kaminfeuer
blicken, denken sie zurück bis zu dem Tage, an dem sie ihre Nase im
Gesicht verspürten. Bei mir jedoch werden hundert Jahre wie ein Tag.
Da seh’ ich alle meine Leute durch die Jahrhunderte schreiten, und
alle sind sie mir bekannt, die Würdigen und die Borstigen, und so oft
ich sie aufmarschieren lasse — ätsch, ich bin der Jüngste. Sehen Sie,
meine verehrte Freundin, darin liegt das große Geheimnis meiner ewigen
Jugend.«

Die Greisin sann nach.

»Sie sind ein glücklicher Mensch,« sagte sie dann.

»Bin ich auch.«

»Den einen trifft’s und den anderen kann’s auch treffen. Wenn man in
die Jahre kommt, von denen geschrieben steht: sie gefallen mir nicht
...«

»Nee, nee, nee, Frau Stahl, nun schwindeln Sie. Die Jahre gefallen uns
gar nicht schlecht. Jungen Leuten wie uns kann’s doch nicht auf ein
paar lumpige Jahre ankommen. Die Hauptsache ist: leben, und wissen,
daß man lebt! Beste Freundin, Ihre Lippen sind sonst doch immer schwer
an Sprüchen der Weisheit. Ist Ihnen denn über den Wert des Lebens kein
kräftig Wörtlein geläufig?«

Die alte, ungebeugte Frau mit dem großen Lebenstrotz saß auf ihrem
Ledersessel und strich mit der Handfläche über die aufmarschierten
Schachfiguren hin und her. Dann begann sie zu reden: »Es begegnet
dasselbe einem wie dem anderen, dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem
Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert, wie dem, der nicht
opfert. Wie es dem Guten gehet, so gehet’s auch dem Sünder. Wie es dem,
der schwört gehet, so gehet’s auch dem, der den Eid fürchtet. Das ist
ein bös Ding unter allem, das unter der Sonne geschieht, daß es einem
gehet wie dem anderen; daher auch das Herz der Menschen voll Arges
wird, und Torheit ist in ihrem Herzen, dieweil sie leben; danach müssen
sie sterben. Denn bei allen Lebendigen ist, das man wünscht: Hoffnung;
~denn ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe~.«

»Bravo!« rief Herr Friedrich Leopold und rieb sich die Hände. Besonders
das Beispiel hatte seinen Beifall.

»Denn die Lebendigen,« fuhr die Greisin mit einem kleinen Lächeln
über des alten Freundes Zustimmungsruf fort, »wissen, daß sie sterben
werden; die Toten aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr;
denn ihr Gedächtnis ist vergessen, daß man sie nicht mehr liebet, noch
hasset, noch neidet; und haben keinen Teil mehr auf der Welt in allem,
das unter der Sonne geschieht.«

»Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe,« bestätigte der
Zuhörer.

»So gehe hin,« schloß die Greisin frisch, »und iß dein Brot mit
~Freuden~, trinke deinen Wein mit ~gutem Mut~ —«

»Bravo, bravo —«

»— denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider immer weiß sein, und
laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem
Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott
unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben währet; denn das
ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der
Sonne. Alles, was dir von Handen kommt zu tun, das tue ~frisch~; denn
in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch
Weisheit.«

»Schade um den Schluß,« sagte Herr Friedrich Leopold, »aber bange
machen gilt nicht, und Spaß muß sein.«

Dann verließ er seinen Kaminsitz, nahm Frau Stahl gegenüber am
Schachtisch Platz und schaute sie voll ehrlicher Bewunderung an.

»Allen Respekt, Verehrteste, das war eine Leistung. Aber, aufrichtig:
aus sich selbst haben Sie das nicht, das haben Sie mal irgendwo
gelesen.«

»Das steht in der Bibel, Herr von Springe; im Prediger, neuntes
Kapitel.«

»Ja, ja, ja,« sagte der alte Junker ein wenig kleinlaut .... »Hören
Sie mal,« meinte er nach einer Pause, und das ehrliche Staunen stand
wieder in seinen Augen, »wie haben Sie das nur alles seit der Schulzeit
behalten?«

»Ich habe das seit der Schulzeit regelmäßig wieder aufgefrischt, Herr
von Springe.«

»Aber natürlich, aber natürlich ... Eigentlich schlimm, daß ich ...
Aber nun hab’ ich ja den Pastor im Hause, mir wird nichts mangeln,« und
er schüttelte der Freundin vergnügt die Hand.

Dann spielten sie, wie allabendlich, ihre Schachpartie zu Ende.

Draußen stritt die Dämmerung mit dem Märzabend. Hier drinnen war es
friedlich und fröhlich. Eine hohe Stehlampe mit breitem, rotem Schirm
erleuchtete und beschattete zugleich harmonisch die kleine Welt der
beiden Alten, die kraft ihrer Erinnerungen die Grenzen ausdehnen
konnten zu einem weiten Reich und zusammenziehen zu einem stillen
Hafen. Im Kamin sangen die Buchenkloben alte, einfältig schöne Lieder,
und von der gebräunten Ledertapete schauten im engen Beisammen ein
paar nachgedunkelte Ahnenbilder, Frau Margots strahlende Züge und die
klaren, kühnen Mädchenaugen des Lieblings Hannes herab.

Herr Friedrich Leopold streifte die Bilderreihe mit einem liebevollen
Blick.

»Wir sind das Bindeglied,« meinte er und nickte zu der kleinen Galerie
hinüber. »Wir sitzen hier als Vermittler auf der Wacht, bis wir selber
ein Ahne werden. Aber dazu muß man zunächst Großvater sein ...« Frau
Stahl sah ihn prüfend an und lachte dann vor sich hin.

»Finden Sie nicht,« fuhr der Unverbesserliche fort, »daß man uns
eigentlich ein großes Vertrauen schenkt, uns so mutterseelenallein zu
lassen? Das heißt: das Vertrauen hat eigentlich etwas Beleidigendes.
Wie alt sind wir denn? Knapp fünfundsiebzig pro Person. Vor lumpigen
vierzig Jahren hätte man uns nicht so allein gelassen, meine verehrte
Frau. Das sollten wir den Rackers da drüben doch mal anstreichen, und
da wir sicher noch kostbare fünfundzwanzig Jährchen vor uns haben, so
meine ich, ein ehrenwerter Antrag — —«

Und er schmunzelte wie ein Spitzbube, der seinen Partner in Bedrängnis
gebracht hat.

Frau Stahl legte den Kopf auf die Seite und blinzelte ihn an.

»Na ja,« ließ sie sich nach einer oberflächlichen Prüfung des
Antragstellers vernehmen, »das Köpfchen wäre ja noch ganz gut, aber ...«

»Bitte, da gibt es durchaus kein Aber!« rief Herr Friedrich
Leopold, und reckte seine lange Gestalt, um schleunigst wieder
zusammenzuknicken. Irgendwo in den Gelenken hatte es verdächtig
geknackt.

»Achtung, Achtung! Nicht das Spiel aufhalten!« Frau Stahl tat mit der
Königin einen kühnen Raubzug.

»Das Spiel? Na, warten Sie. Das wollen wir gleich haben. Ah, siehste
wie de biste? =Gardez la reine!=«

»Jawoll,« gab sie zur Antwort, schlug seinen Springer und bedrängte ihn
im eigenen Lager. »Schach dem König, mein Herr.«

»Oho, das wäre ...«

»Ist bereits so. Matt!«

Betrübt ließ der alte Herr die Figuren durcheinander fallen.

»Da hört sich doch alles auf. Kein Glück in der Liebe und kein Glück
im Spiel. Und Sie können über solch eine doppelte Schicksalstücke auch
noch lachen! So sind die Weibsen!«

Sie ließ ihn ruhig sich ausschelten, aber das heimliche Lächeln blieb
in ihren Augen sitzen.

»Sie haben ganz und gar unrecht,« sagte sie endlich sanft.

»Ich unrecht? Na ja, den verehrten Damen ist es ja selbst möglich, die
Tatsachen auf den Kopf zu stellen. Aber in meinem Falle — — Nee, nee,
bitte, keinen Honig, lieber ein Glas Punsch.«

»Sollen Sie haben,« entgegnete die alte Freundin, »zur Feier Ihres
Glückes.«

»Meines — Glückes —? Und soeben sehen Sie erst klipp und klar, daß ich
weder Glück in der Liebe noch —«

Sie stellte das gefüllte Glas vor ihn hin und legte ihre verarbeiteten
Hände auf die seinen.

»Doch. Sie ~haben~ Glück in der Liebe. Ganz Ihrem Wunsch gemäß ...« Und
sie ließ den Blick nach den Ahnenbildern schweifen.

»Frau Stahl — —! Verehrte Freundin — —!« Der alte Junker wußte nicht,
wo ihm der Kopf stand.

»Still, still. Ich sollte ja eigentlich noch nichts davon verraten ...«

»Still?« schrie Herr Friedrich Leopold und sprang auf die Beine, ohne
auf das verdächtige Gliederknacken zu achten. »Still? O meine verehrte
Frau, ich bin gewiß ein Mann von Erziehung, aber da soll der Deubel
still bleiben, ich sage Ihnen, der Deu — — —«

Da hatte sie ihm schon die Hand auf den Mund gelegt.

»Aber ja, aber natürlich. Nur muß es doch zunächst Herr Heinrich
erfahren. Das sehen Sie doch ein. Vielleicht kommt er heute abend schon
zurück; dann können Sie morgen, wenn Sie wollen, die Fahnen zum Haus
herausstecken.«

»Tu’ ich auch,« murmelte der alte Herr und marschierte aufgeregt im
Zimmer auf und ab, »tu’ ich auch.« Und immer wiederholte er leise
frohlockend, schmeichelnd, streichelnd: »Ein Stammhalter ... ein
Stammhalter.«

Plötzlich kehrte er zum Tisch zurück, stand kerzengerade, faßte sein
Glas und leerte es auf einen Zug.

»Das war für Frau Margot, die liebe ... liebe ... Frau Margot.«

Der rüstigen Greisin standen lachende Tränen in den Augen.

»Nun aber genug. Habt ihr Männer denn gar kein Zartgefühl? Bedenken Sie
doch, wenn eine Frau gewissermaßen große Gesellschaftsdame gewesen ist,
und überdies fünfundvierzig, die man ihr zwar nicht ansieht —«

»Ach was,« fiel Herr Friedrich Leopold lebhaft ein. »Große
Gesellschaftsdame! Fünfundvierzig! Ein ganz famoses Frauenzimmer ist
sie, mit der ich Staat machen werde, an der sich unsere Hyperkultur ein
Beispiel nehmen soll! Meine Großmutter war gut und gern ein halbes
Dutzend Jahre älter, als mein Vater sich zur Stelle meldete. Das
nenn’ ich gesunden, rheinischen Schlag. Widersprechen Sie nicht. Ich
versichere Sie meiner vollsten Unzufriedenheit, Frau Stahl.«

Er ereiferte sich von neuem, rannte strahlenden Auges herum und
gestikulierte mit den Händen.

»Parbleu, diese Margot, diese — diese — — Nein, das halt’ ich nicht
aus. Die muß geküßt werden, die muß — —«

Und mit einem Male begann er aus Leibeskräften zu rufen.

»Margot! — — Margot! — —«

Da riß der alten Frau die Geduld.

»Wenn Sie nicht augenblicklich Ruhe geben, Herr von Springe, so sag’
ich Ihnen schlankweg, daß ich Ihnen ein Märchen aufgebunden habe, und
Frau Margot wird Ihnen dasselbe sagen. Was wollen Sie dann machen?«

Das leuchtete Herrn Friedrich Leopold ein, und ganz beschämt strich er
die Segel bei.

»Liebe Frau Stahl,« bat er flehentlich, »aber sehen möcht’ ich sie nur,
bloß sehen und mich an ihr freuen. Das werden Sie mir doch zugestehen
können? Ich will ja kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«

Damit erklärte sich Frau Stahl einverstanden, nachdem sie ihm noch
einmal »Zartgefühl« eingeschärft hatte.

»Ich will nur schnell den Abendtisch richten,« sagte sie, »dann ruf’
ich sie.«

Dem alten Herrn ging heute das Anrichten nicht schnell genug. Er sah
sich veranlaßt, verschiedentlich in die Küche hineinzugucken und in
zarten Worten seinem Mißfallen Ausdruck zu verleihen.

»Frau Stahl, Frau Stahl, sonst sind Sie doch immer die Jüngste — —«

Endlich ging sie, Frau Margot zum Tee zu bitten; und nun wäre ihr Herr
Friedrich Leopold am liebsten nachgelaufen, um sie zum Bleiben zu
bewegen. Denn er wußte absolut nicht, wie er sich nur benehmen sollte.

Da öffnete sich die Tür, und Frau Margot schlüpfte herein, weich und
schmiegsam, lustig und lachend. Vom Scheitel bis zur Sohle ganz die
Frau, die im zweiten Frühling ungeahnt emporgeblüht ist und jede
Zeitrechnung Lügen straft. »Guten Abend, Papachen! Schachpartie zu
Ende? Du Ärmster, hat dich Frau Stahl matt gesetzt?«

»Mein Kind,« antwortete Herr Friedrich Leopold mit Haltung und bot ihr
den Arm wie einer Fürstin, »Unglück im Spiel — Glück in der Liebe.«

Sie saßen um den Teetisch herum und plauderten. Keiner verspürte rechte
Lust, ordnungsgemäß zuzulangen. Frau Margot war mit ihren Gedanken
immer wieder in Berlin, und immer wieder nannte sie den Namen ihres
Gatten.

»Nun ist er fast eine Woche fort, eine ganze Woche, der Herumtreiber.
Wenn er nur nicht mit Hannes durchgegangen ist! Pst, nicht in Schutz
nehmen, Papachen! Die Liebe zu den Stahls liegt den Springes im Blut.
Aha, jetzt wirst du rot. So ist’s recht, immer hübsch Farbe bekennen!«

Der alte Junker warf Frau Stahl einen schadenfrohen Blick zu.

»Das ist also, was die Damen ›Zartgefühl‹ nennen. Das muß für spätere
Fälle festgestellt werden.«

Frau Stahl machte ihm heftige Zeichen mit dem Kopf. Sie traute dem
Landfrieden nicht.

Aber Frau Margot war bereits wieder bei ihrem alten Thema. »Von Hannes
hat Heinz spaltenlange Berichte geschickt. Und die Kritiken erst!
Nein, das Mädel ist auch zu einzig. Hätt’ ich es doch hier, das liebe,
liebe Ding — — Ich hab’ immer eine Sehnsucht danach, das ist nicht zu
beschreiben. Gott, was mag nur mein armer Junge anstellen — —«

»Schreibt denn Heinrich nichts Neues von Hans?«

»O doch. Er ist täglich mit ihm zusammen. Der arme Kerl lebte seit
einiger Zeit ganz außer Verkehr, schreibt Heinz, aber er hätte doch die
alten Spuren in ihm wieder aufgedeckt und viel von der warmen Seele
wiedergefunden, die der Junge früher in so reichem Maße besaß. Weißt
du, Papa, ich mache mir seit langem schon die trübsten Vorwürfe, daß
ich ihm früher nicht genug Mutter, oder doch nicht genug mütterliche
Kameradin war.«

»Gold gehört ins Feuer, wenn es geläutert werden soll,« bestimmte
Friedrich Leopold. »Und der Junge ist Gold, verlaß dich darauf. Ich
habe auch nicht die Spur Angst.«

»Ja,« meinte Frau Margot sinnend, »du bist auch nicht seine Mutter.«

Da schwieg der alte Herr sinnend. Das Wort Mutter hatte seit einer
Stunde für ihn einen besonders heiligen Klang.

»Ach, Großmutter Stahl,« sagte Frau Margot und spann träumerisch ihre
Gedanken weiter, »Hans und Hannes — —. Unsere schönen Pläne — —. Nun
sind wir hier, und der ist da, und der ist dort. Warum —?«

Die Greisin antwortete nicht. Sie blickte finster vor sich hin.

»Sie haben Hans nicht verziehen?«

»Nein.«

»Aber wenn er heimkommt — Heinz schrieb mir, daß er ihn überreden würde
— Sie werden mir helfen und ihm auch helfen. Die Jugend glaubt ja doch,
sie müsse sich erst immer Kämpfe schaffen, sonst sei das Glück nichts
wert.«

»Wir wollen warten, bis er da ist, Frau Margot. Vielleicht bedankt er
sich wieder einmal für unseren guten Willen.«

Es klingelte an der Korridortür. Frau Margot erhob sich sofort, um
nachzusehen. Als sie zurückkam, hielt sie ein Briefchen in der Hand.

»Von Heinz,« sagte sie erregt und brach das Kuvert auf, »ein Dienstmann
brachte es vom Bahnhof.«

»Heinrich ist angekommen?« rief der Senior so freudig, als ob der Sohn
eine Weltumsegelung bestanden hätte. Frau Margots Augen überflogen
hastig das Billett. Dann klärten sich ihre gespannten Züge, ihre Lippen
lächelten, und sie mußte die Augen schließen, um sich zu sammeln.

»Nicht allein Heinz,« sagte sie mit zuckendem Munde. »Er hat sein Wort
eingelöst, der treue Mann. Er bringt mir meinen Jungen zurück. Soeben
sind sie in Düsseldorf angekommen.«

»Und noch nicht hier?« rief Herr Friedrich Leopold. »Ja da soll doch
gleich! Müssen die denn zunächst =stante pede= irgendwo einen Schoppen
machen?«

»Nein, nein, Papa, wo denkst du denn hin? Hans ist nicht ganz auf dem
Posten gewesen in den letzten Tagen, schreibt Heinz, und nun möchte er
sich nicht als Halbkranker präsentieren. Mein eitler Junge! Und Heinz
ist mit ihm nach der Grafenbergerchaussee gefahren und liefert ihn in
seinem Knabenstübchen ab. In seinem Knabenstübchen — —. Möge er dort,
in der ersten Nacht unter dem heimatlichen Dache, finden, was ihm not
tut: das Vergessen und — das Erinnern.«

Nie zuvor hatte Frau Margot ihr mütterliches Gefühl so stark ausströmen
gefühlt.

»Ich glaube, heute bin ich ~wirklich~ glücklich,« sagte sie, und ihre
Augen sahen in die Weite.

Herr Friedrich Leopold legte den Arm um ihre Taille und führte sie zum
Kaminsitz, mit der zärtlichen Sorge, mit der man ein Kind geleitet. Wie
schön, wie wohltuend das war. Sie streichelte ihm dankbar die Wange.

»Wie gut du bist, Papachen — —.«

Und der alte Herr, ganz überwältigt von den vielen Eindrücken des
Abends, stotterte: »Ach was, Margot, gut — —! Lieb hab’ ich dich,
Töchterchen, lieb, ganz furchtbar lieb. So lieb, daß ich gleich Hurra!
schreien möcht’. Und überhaupt, wenn der Heinrich kommt — ach Gott, der
glückliche Bengel! Du bist nun doch einmal ein Prachtweib, und nun,
bitte — nun gib mir einen Kuß!«

Sie sah ein wenig scheu und errötend zu Frau Stahl hinüber. Aber als
die Vertraute des Hauses gleichmütig fortfuhr, den Tisch abzuräumen,
umfaßte sie schnell den schneeweißen Kopf, der dem des Gatten so
ähnlich sah, und küßte ihn zu wiederholten Malen auf den Mund.

»So! Bist du jetzt zufrieden, Papa? Ihr seid doch Schwerenöters, ihr
Springes, Vater wie Sohn.«

Und sie lachte glücklich in sich hinein, und der alte fröhliche Herr
tat desgleichen.

Dann saßen sie, Herr Friedrich Leopold, Frau Margot und Großmutter
Stahl, vor dem Kamin und gaben ihren Gedanken Audienz. Ein jeder still
für sich. Ein jeder dachte sich eine Welt. Und doch war der Kreis ihrer
Gedanken so eng umsponnen, daß sie sich alle darin wiederfanden.

Die Lampe surrte, und die Holzscheite knisterten in hellen Funken auf,
die lustige Reigentänze vollführten. —

Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, da fuhr Frau Margot
auf.

»Heinrich!«

Aber Frau Stahl war schon fort, um zu öffnen.

»Heinz! Heinz!« und sie lag an seiner Brust, glückstrahlend wie ein
junges Mädchen.

»Bummler!« lachte sie, »Ausreißer, unverbesserlicher Junggeselle!
Warte, ich werde dir die Leviten lesen, daß du dich wundern sollst!
Acht Tage — —! Acht Tage — — Und nun unterschlägt er mir auch noch den
Jungen.«

»Wenn du meinen Mund nicht freigibst ...«

Sie ließ ihn in ihrer Freude nicht zu Worte kommen. Alle Fragen, die
sie erwartungsvoll im Herzen getragen hatte, drängten sich auf ihre
Lippen und überholten sich.

»Was ist das mit Hans? Weshalb kommt er nicht zuerst zur Mutter? Du,
so sag doch, wie er aussieht? Ich bin ja so froh, daß er da ist. So
froh! Mach nicht solch ein liebes, dummes Gesicht. Natürlich freu’ ich
mich auch über dich. Doch, doch! Aber wenn der Hans krank ist — du, ich
möchte hin, sogleich. Ach Gott, wenn der Mann doch endlich sprechen
wollte!«

Nun war es an ihm, ihr die Hände auf die Lippen zu legen.

»Was ist das für ein Empfang? Wie? Existiere ich gar nicht mehr? Ja,
ja, gewiß, ich kusche schon. Also der Hans! Der ist in der alten
Wohnung. Und da laß ihn heute abend allein, du liebste Frau und
Mutter. Er ist noch ein bißchen herunter und möchte sich erst — hm —
zurechtfinden. Verstehst du das? Bei einem Mann? Na, ja, ich wußte
es. Morgen mit dem frühesten ist er bei dir. Und wenn ihr mich jetzt
verhungern lassen wollt, kann ich nachher nicht weiterreden.«

Er hatte sie um die Taille gefaßt und schwenkte sie lachend durch die
Luft wie einen Kreisel.

Herr Gott, dachte Herr Friedrich Leopold, wo bleibt denn die große
Gesellschaftsdame?

Aber dann zupfte er seinen Junior am Rock, und als sich der Racker
durchaus nicht stören lassen wollte, zupfte er energischer und ruckte
mißbilligend mit dem Kopf.

»Margot, Margot,« rief Heinrich Springe, »nun schau dir doch um alles
in der Welt mal diesen schamhaften alten Herrn an. Oder — du — er ist
eifersüchtig!«

»Er weiß eben noch nichts; er hat eben auch nicht die geringste
Ahnung,« sagte Herr Friedrich Leopold weise zu Frau Stahl. »Dieser
große Kindskopf. Es ist unglaublich.« — —

Frau Margot sorgte, daß für den Gatten noch einmal aufgetischt wurde.
Als er abgespeist hatte, saß die ganze Gesellschaft wieder um den
Kamin herum, und Springe berichtete. »Den Hans, den hätten wir hier.
Ein bißchen erkältet zwar, auch seelisch, aber ich vertrau’ auf euch
Frauen. Mit Kamillentee wird’s nicht allein zu machen sein, aber
ihr habt ja auch noch andere Heilmethoden, wie den Magnetismus, das
Handauflegen. Gerade das Handauflegen — so eine liebe, stille und doch
vielsagende Frauenhand — —. Aber wem sag’ ich das! Was wir Männer mit
dem Seziermesser suchen, das findet ihr Frauen mit dem Instinkt!«

»Und ~deine~ Meinung, Heinrich?«

Er strich der Gattin über das ängstlich zu ihm aufschauende Gesicht.
»Heimweh an den Rhein,« resümierte er kurz.

Da atmete sie tief auf und drückte ihm dankbar die Hand.

»Denkst du noch an den Abend, als wir uns verlobten? Dort drüben auf
der Veranda? Ich hatte nur ~eine~ Bedingung zu stellen: Mach mir auch
den Hans glücklich. Dann fehlte mir nichts mehr, um auch an mich zu
denken.«

»Und an mich nicht?« fragte Heinrich Springe schalkhaft.

»O, du bester Mensch, wenn ich an mich denke, so heißt das doch: an
dich.«

Da konnte sich der Ehemann nicht enthalten. Er mußte sich erheben
und trotz der Zuschauer Frau Margot in die Arme nehmen und eine
Familienszene absolvieren. Wieder stand Herr Friedrich Leopold hinter
ihm, und als der Junior den Kopf hob, rieb sich der Senior vor Freude
die Hände und nickte ihm mit weitaufgerissenen, leuchtenden Äuglein
heftig zu, als wollte er sagen: »Ich gratuliere, ich gratuliere.« Aber
er sagte keinen Ton. Der Junge machte ein zu dämliches Gesicht.

Und nun wandte sich Heinrich Springe zu der Greisin und nahm ihre
Hände und berichtete von Hannes. Wunderdinge! Wie ihr die vornehmsten
Menschen der Reichshauptstadt und selbst die Damen vom Hof zugejubelt
hätten, ohne Aufhören, zehnmal, zwanzigmal. Und wie sie ausgesehen
hätte. Noch viel schöner und vornehmer als die ganze vornehme Umgebung.
»So echt und recht Stahlsch,« sagte Herr Heinrich mit einer Verbeugung.
Und gesungen hätte das Mädel, gesungen! »Wie nur ein Menschenkind
singen kann, das über seine Schönheit hinaus eine gewaltige Gottesseele
besitzt.«

In den Augen der Greisin zitterte ein Licht, und es wurde, je weiter
der Mann da vor ihr sprach, ein stolzes Licht, und sie bewegte unhörbar
die Lippen. Sie gedachte wohl der Tochter, die ihr Mutterglück draußen
auf dem Goltzheimer Friedhof verschlafen mußte, und des einsamen
Mannes, der bei Spichern lag, und segnete sie um ihrer Liebe willen.

»Grüße hat mir das Mädel aufgetragen,« schloß Herr Heinrich, »Grüße,
damit würd’ ich bis morgen nicht fertig. Aber das Beste ist doch: in
sechs Wochen haben wir sie hier, und bis zum Winter sollen wir sie
behalten.«

Frau Margot empfand beinahe eine mütterliche Eifersuchtsregung. »Und
Hans?« fragte sie hastig. »Wie lange werden wir Hans haben?«

»Wenn er sich wiederfindet — für immer. Und wie sollte er nicht, unter
den guten Augen einer solchen Mutter!«

»Glaubst du wirklich, daß er wieder heimisch werden könnte — —?«

»Die Guttaten der Heimat werden den hartgewordenen Sinn weich und gütig
machen.«

»Du weißt nicht, was er unter gut versteht,« sagte sie nachdenklich.
»Er ist so eigenartig — — der arme Junge.«

Da aber legte sich Herr Friedrich Leopold ins Mittel.

»Darüber kann es nur eine einzige Auffassung geben,« versicherte er
aufs bestimmteste, »ebenso wie es nur einen einzigen Philosophen gibt,
der, weil unwiderlegbar, die allgemeinste Anerkennung besitzen muß. Wie
sagt also dieser einzige Philosoph? Er sagt:

    ›Das Gute, dieser Satz steht fest,
    Ist stets das Böse, das man läßt.‹

Wonach sich zu richten. Gute Nacht.«

Und heiteren Gemütes trennte man sich. —

[Illustration]




Achtes Kapitel


Hans Steinherr war in seinem Knabenzimmer aufgewacht. Es dauerte lange,
bis er sich in die Situation, in die Umgebung hineinfand. Er lag in
den weichen Kissen, in denen er acht Stunden ununterbrochen und fest
geschlafen hatte, und ließ die fragenden Blicke an den Wänden des
Zimmers umherwandern, vom Plafond bis zum Fußboden, und vom Fußboden
zurück zu der gemalten Decke, die ihm so bekannt erschien.

Langsam wachte das Bewußtsein auf.

Er war zu Hause. — —

Das erste Gefühl, das er empfand, war das Gefühl des Geborgenseins.

Das Gefühl des Kindes, das in dem elterlichen Hause eine uneinnehmbare
Festung erblickt.

Und er schloß die Augen und schlief ruhig weiter. Unbesorgt um den Tag.

Dann fuhr er auf.

Ein Gedanke hatte sich in seinen Traum hineingebohrt. Der Gedanke, daß
er seine Mutter noch nicht begrüßt hatte.

Er wollte aufspringen und sich ankleiden. Dann zögerte er und blieb.

Ach ja, er würde sie ja nicht im Hause finden. Daß er das vergessen
hatte — —.

Dieses Haus gehörte jetzt ihm allein; aber die Mutter — gehörte nicht
mehr ihm allein.

Es hatte sich eben vieles verändert, während er in der Fremde gewesen
war. Er selbst hatte sich ja auch verändert, weshalb da die anderen
nicht? Aber die anderen hatten dadurch gewonnen, und er —?

Die kinderselige Stimmung war verflogen. Er lag ausgestreckt in den
Kissen und starrte in das Zimmer wie in ein Unbekanntes. Er bemühte
sich, den Zweck der Heimreise zu ergründen, und zwang sich Bettinas
Bild vor die Augen. Aber das Bild ließ ihn kalt, zu kalt, um ihn
heimgetrieben zu haben. Es mußte ein stärkeres gewesen sein.

Die Heimat selbst? — Es dämmerte in ihm auf, daß er auch mit der Heimat
die Fühlung verloren haben würde. Sie wußte nichts von seinem Leben,
und er nichts mehr von ihrem. Er war ja allen so fremd geworden,
Menschen und Dingen. Und mit bitterem Lächeln gestand er sich: Es wird
wieder eine Illusion gewesen sein, der du voreilig nachgegeben hast;
eine Illusion, wie so viele schon in deinem Leben.

Er lag ganz still und wartete, ob etwas antworten würde, von außen oder
in seinem Innern. Aber er hörte nur die Taschenuhr auf dem Tischchen
neben sich ticken, und er sagte sich: Nun, wenigstens die Zeit läuft um.

Stunde auf Stunde verging, und er konnte sich nicht entschließen,
aufzustehen. Ihn beherrschte das lastende Empfinden, als habe er
nichts, so gar nichts zu versäumen.

Dann vernahm er die Hausuhr, deren glockentiefen Klang er als Knabe so
geliebt hatte. Er zählte aufmerksam ihre Schläge nach. Zehn Uhr! Was
half’s, für heute mußte er nachgeben.

Die Frische, die er beim Erwachen verspürt hatte, war gewichen. Mit
müden Bewegungen kleidete er sich an, und als er fertig war, dachte
er: Was nun? Er würde sich wohl zunächst zum Frühstückszimmer begeben
müssen ...

Die Hausverwalterin war eine würdige Matrone. Sie war früher schon im
Hause bedienstet gewesen und kannte die Eigenheiten der Familie. Als
Hans in das Zimmer eintrat, fand er den Tisch gedeckt, mit Düsseldorfer
Bäckereien versehen, Butter und Gelee bereit gestellt und die
Kaffeemaschine lustig brodeln. Die Alte mußte an seiner Tür gehorcht
haben, um pünktlich zur Minute aufwarten zu können.

Diese kleine, vertrauliche Aufmerksamkeit tat ihm doch wohler, als
er es für möglich gehalten hätte. Während er sich niederließ und das
Abkühlen des Kaffees abwartete, tönten in ihm feine, zage Stimmchen
eines uneingestandenen Behagens. Da lagen auch die Morgenzeitungen,
sauber zusammengefaltet, neben seinem Gedeck. Lächelnd griff er danach.
Was sollte ihm der Moniteur der Provinzstadt zu sagen haben? Zuerst
las er die hohe Politik, Zeile für Zeile, ohne sich viel Neues dabei
denken zu können. Aber allmählich wurde das Interesse selbsttätiger,
als er über die Lokalereignisse geraten war. Er las im Kunstbericht
über eine große Aufführung der Nibelungentrilogie in der Oper, mit
den besten Kräften aus aller Welt. Und staunend las er unter der
Rubrik »Städtische Angelegenheiten« von den riesigen Projekten, die in
der Durchführung begriffen waren, dem gewaltigen Bau einer zweiten,
festen Rheinbrücke, der Zuschüttung des alten Sicherheitshafens,
den in Angriff genommenen mächtigen Hafen- und Werftanlagen, die
in wenigen Jahren beendet sein sollten und das alte Düsseldorf zur
stolzen, gleichwertigen Rivalin des hochgemuten Köln machen würden.
Zufällig traf in einer Notiz sein Auge die Einwohnerziffer. Die
stille Gartenstadt, die Oase am Niederrhein, marschierte rüstig
auf die Viertelmillion zu. In weniger als zehn Jahren hatte sie
ihre Einwohnerzahl auf das Doppelte vermehrt. Da lag Gesundheit und
Fruchtbarkeit im Boden. Das war gesegnetes Land.

Der Kaffee war ihm über dem Studium kalt geworden, aber er schmeckte
ihm auch so. Und das Schwarzbrot, dies einzig in der Welt existierende
bergisch-märkische Schwarzbrot, und der weiße, lockere »Bauernplatz«!
Er aß, als ob er ausgehungert wäre, und hatte doch vor einer halben
Stunde nicht den geringsten Appetit verspürt. Schlaf, Appetit —
aha, die Heimatsluft meldete sich doch. Und mit der Heimatsluft die
Heimatslust. Die Kunde, die er da aus dem Anzeiger schöpfte, von dem
Vormarsch Düsseldorfs, von dem Blühen und Wachsen der Stadt, berührte
direkt sein vaterstädtisches Herz, das er im Lärm der Metropolen
verloren zu haben glaubte, und er murmelte wie ein Alteingesessener:
»Hoho, hinter den Bergen wohnen auch noch Leute!«

Was mochte die edle Malkunst angeben? Den großen Worten Hüsgens traute
er nicht recht. Aber nun war er ja selbst am Platz und würde sich
schon unterrichten. An Zeit fehlte es ihm ja nicht — ah, an Zeit! Und
wieder kroch die Beklommenheit heran und legte sich von neuem auf die
frischgesproßten Triebe wie ein Rauhreif.

Er nahm Hut und Mantel, ging langsam die Treppen hinab, um die
Haushälterin zu begrüßen und die unumgänglichen Anordnungen zu treffen,
und benutzte die Hintertür, um einen kurzen Umweg durch den Garten zu
machen. Der Gärtner hatte schon vorgearbeitet, Bäume, Büsche und Ranken
waren beschnitten und die Wege ausgeharkt und mit bläulich schimmerndem
Rheinkies bestreut. Aber die Kahlheit, der Mangel an Farbe und Leben
ließ ihn frösteln, die dürre Laube, in der er einst, als die Blätter
rauschten, Hannes wiedergesehen hatte, maß er mit großem, erschrockenem
Blick, und er eilte, die Straße zu gewinnen.

Viele Leute sah er an den Fenstern und vor den Häusern, und er brauchte
sich nicht auf die Namen zu besinnen. Aber es war keiner, der ihn
wiedererkannt hätte. Man hatte ihn nicht vermißt und wußte vielleicht
nicht einmal mehr, daß der alte Philipp Steinherr einen Sohn besessen
hatte. Wodurch auch? Er hatte es ja nicht für nötig befunden, sich in
der Erinnerung zu halten, weder durch einen Wunsch, noch durch eine Tat.

Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß man ihn mit
Aufmerksamkeit betrachtete, mit einer Aufmerksamkeit, der ein
spöttisches Lächeln beigemischt wäre. Er wußte ganz genau, daß er es
mit einer Einbildung zu tun hatte, und trotzdem konnte er sich nicht
von ihr befreien und wanderte mit niedergeschlagenen Augen durch die
Straßen der Vaterstadt wie ein Mensch, der sich eines Unrechts bewußt
ist. Den Weg zur Immermannstraße hatte er gedankenlos eingeschlagen,
und ebenso gedankenlos blieb er stehen und wunderte sich, daß er sich
vor der Wohnung Springes befand.

Wie ein blinder Gaul, der seine alte Tränke wiedererkennt, sagte er
sich.

Dann schritt er mit einer Eile hinauf, als käme er dadurch schneller
über den Moment des Wiedersehens hinweg.

Er brauchte nicht zu klingeln. Frau Margot hatte ihn schon seit dem
frühen Morgen am Fenster erwartet und stand jetzt auf dem obersten
Treppenabsatz, um ihn als erste in Empfang zu nehmen.

»Mutter!« stammelte er, als sie hastig die Arme um seinen Hals legte
und ihn in ihr Zimmer zog.

Frau Margot konnte nicht sprechen. Sie klopfte nur immer wieder seine
schmalen Wangen, strich ihm das Haar zurecht, drückte seinen Kopf an
ihre Schulter und küßte ihn auf den Scheitel. Sie saßen sich gegenüber,
und noch einmal sagte er leise: »Mutter,« legte seinen Kopf in ihren
Schoß und seine Lippen auf ihre Hände.

So hatte er sich das Wiedersehen nicht ausgemalt, so nicht. Diese
schweigende Liebe, diese stumme, mitfühlende Rücksichtnahme traf ihn
tief. Er fühlte sich mehr denn je aus den Gleisen geschleudert.

Allmählich sammelte er sich, und er brachte es über sich, aufzublicken
und die Mutter mit einem herzlichen Lächeln anzuschauen. Das Lächeln
aber fand den lange vorbereiteten Widerschein.

»Mein lieber Junge, da bist du ja wieder. Also ganz vergessen hattest
du mich doch nicht!«

»Nein, Mama, dich nicht.«

»Wie männlich, wie stattlich du geworden bist!«

»Und wie du jung geblieben bist, Mama. Du hast dich so gar nicht
verändert.«

»O doch,« sagte sie, und eine geheime Freude vibrierte in dem Ton. »Du
wirst mich auslachen, wegen meiner Eitelkeit, aber — aber — ich bin
noch jünger geworden.«

Die Worte hatten einen so vollen, tiefen Klang gehabt. Sie benahmen
dem Heimgekehrten jedes Grübeln, jede Frage. Er wußte jetzt, daß er
eine glückliche Frau vor sich hatte, eine glückliche Gattin, und —
wenigstens heute, in dem Augenblick, da sie das Gesicht des Sohnes
wiedersah — eine glückliche Mutter. Nur war sie auch eine glückliche
Frau und glückliche Gattin gewesen die Jahre hindurch, die er fern von
ihr verbracht hatte! Wenn er morgen wieder ging — ob er wirklich eine
Lücke hinterließe?

Da waren die Zweifel wieder, die ihn von jedem Auskosten des Genusses
zurückschreckten.

Nein, er würde keine Lücke hinterlassen. Im Gegenteil, er war doch,
bei Licht und mit vernünftiger Erwägung betrachtet, ein störendes
Element in diesem Hause der Fröhlichkeit. Man hatte zu viel Zartgefühl,
um ihn das merken zu lassen. Aber das liebe bißchen Sentimentalität
beiseite geschoben, und im Grunde verhielt es sich so. Nur keine
Selbstüberhebung mehr, nur nicht den anmaßlichen Glauben, als sei er,
nah oder fern, die Angel der Familie! Welcher Familie denn? Hier gab es
nur eine Familie Springe.

Das alles zog ihm ruhig und geordnet durch den Kopf und gab ihm die
höfliche Haltung eines Mannes, der für jede erwiesene Freundlichkeit
ein dankbares Empfinden besitzt, ohne ihre Äußerungen als
selbstverständlichen Tribut beanspruchen und herbeiführen zu wollen.

»Ist Heinrich zu Hause?« fragte er, und im gleichen Moment suchte er
sich zu verbessern. »Entschuldige, Mama,« sagte er verwirrt, »das — das
sollte natürlich keine Achtungsverletzung dir gegenüber sein. Die — die
alte Gewohnheit brach durch. Wünschest du, daß ich ihn Vater nenne?«

»Großer Dummkopf,« lachte sie errötend, »bist du denn ein Baby? Mir ist
nichts lieber, als daß er dein Freund ist, nichts als dein Freund. Gibt
es denn etwas Schöneres unter Männern?«

Er betrachtete sie still, und nun wurde auch er gewahr, daß sie jünger
schien als vor Jahren, daß in ihren Augen ein mädchenhafter Glanz lag
und über ihre Züge eine weiche Hand geglitten war. Zum ersten Male
überkam ihn eine innere, selbstlose Mitfreude, und er nahm ihre Hände
zärtlich zwischen die seinen.

»Ich gratuliere dir zu allem, Mama.«

Da löste sie rasch ihre Hände, zog ihn fest an sich und atmete dabei
tief, wie von einem Alpdruck befreit.

»Danke dir, mein Junge, danke dir ...«

»Soll ich jetzt Heinrich begrüßen?« fragte er nach einer Weile.

»Er ist fortgegangen. Er meinte, er hielte es sonst doch nicht aus und
würde uns in die weichste Stimmung hineinprasseln. Da hat er sich vor
sich selber in Sicherheit gebracht.«

Sie sahen sich lächelnd an. Nun war auch der Gatte und Freund in ihren
Kreis einbezogen.

»Erzähle mir von dir, Hans! Mich interessiert alles, was du erlebt
hast. Nein, nein, du brauchst keine angstvollen Augen zu machen, ich
will dich nicht inquirieren. Erzähle mir nur Heiteres, was dich freut.«

»Ich habe nichts Heiteres erlebt, liebe Mutter. Was soll ich da erst
berichten!«

»Du warst krank, armer Junge? Heinrich hat es mir von Berlin aus
geschrieben.«

»Krank? Ach ja, ganz recht, ich war auch krank. Ich muß die Krankheit
schon lange in mir gehabt haben.«

»Aber nun ist sie gehoben, Hans; du fühlst dich wieder gesund —?«

»Rekonvaleszentenstimmung, Mama, nicht schwarz, aber auch nicht
übermäßig farbig. Es wird sich schon klären.«

»Du solltest zu uns ziehen, Hans,« drängte sie sanft, »wenigstens auf
ein paar Monate, bis du dich eingelebt hast. Ich möchte dich so gern
pflegen.«

»Du würdest mich ja nur aufs neue verzärteln, liebe Mama.«

»Wenn auch. Hast du denn nur schon gemerkt, daß hier eine ganz
besondere Luft weht, mein ernster Junge? Eine Luft, in der man gar
nicht anders kann, als fröhlich sein und lachen?«

»Man kann auch mit traurigem Herzen lachen.«

»Hier nicht, hier ganz gewiß nicht,« versicherte Frau Margot lebhaft.
»Und in sechs Wochen käme eine neue Pflegerin hinzu, oder — vielleicht
— eine halbe Patientin.«

»Von wem sprichst du, Mama?«

»Von Johanna. Von Hannes. Freut es dich nicht, deine kleine
Jugendfreundin wiederzusehen?«

»Ob es ~mich~ freut? Darauf wird’s wohl nicht zuerst ankommen. Ob es
~sie~ freuen wird, Mama, das ist die richtige Frage. Und ich fürchte
fast — doch wozu sich darüber heute schon den Kopf zerbrechen!«

»Du möchtest also nicht zu uns ziehen, Hans? Da draußen wird es dir
bald einsam werden.«

»Ich bin ein Einsamkeitsmensch, Mama. Habe Geduld mit mir, und ich will
dir dankbar sein.«

Sie ~wollte~ Geduld haben; so unendlich viel Geduld ... Seit ihr
in der Nacht Heinrich Springe in kurzen, scharfen Umrissen Bild
für Bild aus dem Leben des Sohnes gezeichnet hatte, glaubte sie
manches Gleichlautende in ihrem und Hans’ Charakter und damit manche
Wiederholung von Kämpfen und Schicksalen erkannt zu haben. In der
Erziehung war es versäumt worden. Die Jahre der Jugend hatten ihn nicht
mit dem nötigen Fonds an rheinischer Frische und Elastizität ausstatten
können, weil er daheim im Vater nur den rastlos drauf los arbeitenden
Geschäftsmann, in der Mutter die vielbeschäftigte oder die ausruhende
Weltdame, die für das begehrliche Knabenherzchen wenig Zeit erübrigen
konnte, erblickt hatte.

Und in Frau Margots Phantasie verschoben sich die Maßstäbe, und sie
war geneigt, alle Schuld sich selbst zuzuschreiben und nun den Dingen,
wie sie geworden waren und deren Vorentwicklung in der Knabenseele sie
nicht rechtzeitig gesteuert hatte, das Geringe entgegenzusetzen, das
ihr blieb: die unendliche Geduld.

»Mama,« sagte Hans, »du quälst dich, ich seh’ es dir an. Du hast ja gar
keine Ursache.«

»Doch, doch; du verstehst das nicht.«

»Ich verstehe es schon, Mama. Was in und außer mir fehlgeschlagen ist,
das mußte kommen, weil der Grundfehler in mir selber lag. Ich hatte
immer nur Träume, sprunghafte Gedanken, die jeden Schein, der mir
fremd geblieben war und mir deshalb im ersten Augenblick imponierte,
schleunigst zu einem neuen Erfahrungssatz stempelten. Mir fehlte die
Sammlung, Mama, und die Freude, anderen wie mir eine Freude zu machen;
und so schwebte ich in der Luft.«

»Ich hätte dir helfen sollen, Hans.«

»So beunruhige dich doch nicht. Es gibt für jeden Menschen einen
Zeitpunkt, an dem er Farbe bekennen muß, was denn eigentlich an ihm
ist. Ganz nach Ausfall dieses Examens richtet sich die eigentliche
Entwicklung. Wer hier den Anschluß verpaßt, aus Leichtsinn, Trägheit
oder Überhebung, der bekommt seinen Stempel für das ganze Leben. Davon
hilft ihm selbst alle für ihn aufgebotene Familienliebe nicht ab.«

Er strich freundlich über ihre Hände, als wäre er der Tröster und sie
das Kind.

»Nun heißt es, sich mit dem empfangenen Stempel auf möglichst
anständige Weise abfinden.«

Sie hielt seine Hände fest und drückte sie mutig.

»Mein Junge,« sagte sie mit tiefer Überzeugung, »es gibt für jede
Krankheit eine Heilung. Wir dürfen nur nicht die Krankheit lieb
gewinnen und den Arzt vorüberlassen, wenn er kommt. Siehst du, wir
sind erwachsene Menschen, und ich kann es dir sagen, ohne Furcht,
gegen deinen Vater undankbar zu erscheinen, von dir mißverstanden zu
werden. Auch ich war krank, lange, sehr lange sogar. Eigentlich bis zu
dem Tage, an dem Heinrich Springe kam, zum zweiten Male kam. Ich hatte
ihn als Mädchen gern, und doch habe ich nicht gewartet und habe mich
anders entschieden, weil auch mir die rechte Sammlung fehlte und ich
in der Luft schwebte. Weil ich mir angewöhnt hatte, alles nur von mir
aus zu beleuchten. Und der Rückschlag blieb auch bei mir nicht aus. Es
gab gar nicht genug Zerstreuungen, um über eine Leere hinwegzukommen.
Zum Schluß war es doch nur ein Vegetieren in vornehmem Stil. Es war
reichlich spät, da kam der Arzt. Und ich nahm alle meine Gesundheit
zusammen und alle meine Erinnerung an die Gesundheit, und diesmal ließ
ich ihn nicht vorbei und griff zu, als er mir die Hand bot, und weil
ich das Wollen hatte, riß er mich mit einem Ruck heraus. Ins Leben.«

Sie sah den Sohn strahlend an, und wieder wunderte er sich, wie jung
sie war.

»Da steh’ ich nun im Leben,« fuhr sie fort, »nicht in dem, was die
große Welt Leben nennt und was nichts ist als eine Parodie auf das
Menschentum, sondern in dem Leben, das einem so viel Umarmungen
zurückgibt, als man ihm bietet. Ach, Hans, ich möchte meine Arme nur
immer so ausstrecken! Wie viel verlieren wir törichten Menschen doch
durch die Blasiertheit und Gespreiztheit unseres Wesens!«

»Du mußt sehr glücklich geworden sein, Mama!«

»Weil ich sehe, daß ich im stande bin, andere glücklich zu machen.«

Er verstand sie. Und lächelnd nahm er der Mutter schönes Gesicht in
seine Hände, sah ihr lange in die Augen und küßte sie auf den Mund.

Ein Vergleich drängte sich ihm auf, ein ganz vager Vergleich, der kaum
Berührungspunkte besaß, aber selbst an dieses Minimum klammerte er sich
plötzlich an. Die Mutter mußte ihm antworten können, wenn überhaupt
einer.

»Glaubst du, Mama, daß eine Frau darüber hinwegkommen kann, wenn sie
einen Mann geliebt und doch verabschiedet hat?«

»Nein, mein Junge, sie wird es nicht können. In der ersten Zeit bildet
sie es sich ein. Das Neue schafft ihr Beschäftigung. Aber wenn das Neue
alt wird und die Beschäftigung ausbleibt, und wenn sich dann, so ganz
allmählich und zuerst wie zur Zerstreuung, die Erinnerungen einstellen
— mein alter Hans, die Erinnerungen sind unsere liebsten Freunde, aber
sie können auch unsere schlimmsten Feinde werden. Wenn sich bei einer
Frau die Erinnerungen einstellen und erst leise und dann lauter zu
rufen beginnen: Dies und das war dein und du hast es aus Laune oder
Feigheit verscherzt, und wenn sie dann kein Mittel sieht, an das alte
Ende den neuen Anfang zu knüpfen — die Frau wird innerlich alt vor der
Zeit, und selbst das schöne Wort der Pflichterfüllung kann ihr nur
äußerlich aufhelfen.«

»Und was soll der Mann tun, der aus Laune oder Feigheit verleugnet
worden ist?«

»Den Wert der Frau zu erkennen suchen und danach handeln.«

»Es gibt also doch Unterschiede?«

»Frauen können wie Kinder den Weg verfehlen; dann gebührt ihnen immer
noch Liebe und Nachsicht.«

»Und wenn sie es bewußt tun, als fertige Menschen, mit der Berechnung,
im Wiederholungsfalle nicht anders zu handeln?«

»Mein lieber Hans, über solche Frauen spricht man nicht.«

Des Heimgekehrten Gedanken schweiften noch einmal zurück zu der Stadt,
die er gestern verlassen hatte. Ȇber solche Frauen spricht man
nicht.« Hast du es gut verstanden, Bettina? — Ein bitterer Geschmack
legte sich ihm auf die Zunge, und über sein Gesicht breitete sich die
Selbstironie. Von Hannes zu Bettina — das war eine Reise gewesen, des
Schweißes der Edeln wert! »Über solche Frauen spricht man nicht,« tönte
es laut und hallend in seinem Innern — aber man ~denkt~ auch nicht mehr
an sie.

Das war Hans Steinherrs letzter Gedanke an Bettina Wittelsbach.

»Mama,« sagte er, und der Versuch, heiter zu erscheinen, gelang
ihm, »lach mich doch aus, weil ich hier in der schönen Pose des
Weltschmerzlers vor dir agiere. Und solch ein Beispiel wie dich vor
Augen! Ist das nicht närrisch?«

»Willst du Herrn von Springe begrüßen?« griff Frau Margot lebhaft die
Stimmung auf, »und Frau Stahl?«

Der Sohn erhob sich sofort.

»Wenn ich ihnen gelegen komme?«

»Das sind zwei Menschen, denen nie etwas ungelegen kommt,« lachte Frau
Margot heiter. »Geh nur hinüber. Unterdes werde ich in der Küche
nachsehen, ob man auch die Ehre des Tags zu würdigen weiß. Heute habe
ich meines Jungen wegen aber auch alles verbummelt.«

War das seine Mutter? fragte er sich, als er über den Korridor schritt.
In der Küche wollte sie nachsehen? War das ein Scherz, oder vermischte
sich bei ihr das Interesse für das geistige und leibliche Wohl ihrer
Lieben jetzt in eins? Sie ist wirklich eine ~Frau~ geworden, dachte er
staunend, meine verwöhnte, geistreiche und — so viel gelangweilte Mama,
eine wirkliche und wahrhaftige Frau ...

Auf sein Klingeln an der Korridortür Herrn Friedrich Leopold von
Springes wurde nicht sogleich geöffnet. Aber einen Streit vernahm der
Draußenstehende ganz deutlich, und als er die Worte verstand, wußte er,
daß er nicht fehlgegangen war.

»Nee, nee, nee, verehrte Frau, sagen Sie das nicht. Die jüngsten Beine
von uns beiden habe ~ich~!«

»Aber, Herr von Springe, dafür bin ~ich~ doch da.«

Und dann öffneten ihm alle beide. Rechts stand Herr Friedrich Leopold
in der Hausjoppe, links Frau Stahl in weißer Schürze.

»Der Hans! Der Hans!« schrie Herr Friedrich Leopold und schwenkte an
hocherhobenem Arm die Hand wie eine Wetterfahne.

»Guten Tag, Herr Doktor,« sagte die Greisin trocken, aber auch in ihrer
Stimme zitterte etwas.

Der alte Junker hatte den Besucher gleich mit Beschlag belegt. Seinen
Arm um den des jungen Freundes geschoben, führte er den Heimgekehrten
im Triumph in seine Burggemächer.

»Ha’, hamm’, ham’ mer dich emol, du Durchgänger? Herr Doktor müssen
schon verzeihen, daß ich Du sage, aber da ich nun einmal durch Recht
und Gesetz Ihr Großvater bin, du liebenswürdiger Jüngling du, so
kannste nix mache. Höchstens — — aber natürlich! Nach alter, deutscher
Sitte! Wollen zuallererst doch mal Bruderschaft trinken. Wie sagt doch
Krökel, der Klausner alt und greis? ›Mit Verlaub, ich bin so frei!‹ Das
soll ein Manneswort sein. Frau Stahl, edle Burgverschließerin, bitte
ganz ergebenst um eine Flasche Rauentaler Ausbruch.«

»Rheinwein, Herr von Springe? Und so schweres Zeugs?«

»Rheinwein, dem Rheinwein gebührt! Und was ist schwer, wenn zwei
kräftige Männer das Werk mit Händen anfassen! Notabene, woher wissen
Sie tugendhafte Frau denn, daß das Zeugs so schwer ist? Sie haben wohl
mal — ganz heimlich — mit Verlaub, ich bin so frei — —?« und er machte
die entsprechende Geste.

Als sich Frau Stahl, entrüstet über den Verdacht, in den Keller begab,
wollte sich Herr Friedrich Leopold totlachen.

»Siehst du, mein Sohn, das mußt du dir für später merken. Das ist
ein Kniff von mir, mit dem krieg’ ich alles. Nur den lieben Seelen
insinuieren, als ob sie das Beste für sich behalten wollten. Dann
kommt die Entrüstung und mit der Entrüstung die verächtlich tuende
Freigebigkeit. Aber mir schmeckt’s doch.«

Nach fünf Minuten plauderte der alte Herr bereits, als ob sie nie
getrennt gewesen wären.

»Du,« meinte er zwischendurch geheimnisvoll, »deine Mutter ist eine
charmante Frau. Weißt du? — —«

Dann brachte Frau Stahl den Wein, und der alte Herr putzte selbst die
langstengligen Römer aus.

»So, mein Junge, nu mal fix übers Kreuz. So — o —.« Er wischte sich
den Mund. »Ich heiße Friedrich Leopold. Ach nee, das zieht ja zwischen
uns beiden nicht. Also ich bin dein Großvater, der dich sehr lieb hat
und dasselbe von dir beansprucht. Und nun wollen wir mal wie echte
Kreuzritter gegen den Heiden ziehen.«

»Gegen den Heiden?« wiederholte Hans Steinherr verwundert und ließ sich
das Glas frisch füllen.

»Hie Buch und Kreuz und Mönchsgebet — sie müssen alle von dannen,«
variierte der strenggläubige Zecher. »Dieser Rauentaler, dieser Heide,
hat sich selbst der schmerzlosesten Taufe entzogen. Vertilge ihn,
vertilge ihn! Er ist reif!«

Er stieß mit Hans an und zwinkerte, verständnisvoll schmunzelnd, mit
dem Auge.

»Du — die charmante Frau soll leben! Jung’, Jung’, ham’ mer en Freud’!«

Hans verstand zwar nicht recht, weshalb sich der alte Herr gerade
heute so unbändig über die charmante Frau freute, aber er nahm an, daß
das wohl die Normalempfindung Herrn Friedrich Leopolds gegenüber Frau
Margot sei, und dankbar tat er Bescheid. Die Trinksprüche waren indes
noch nicht zu Ende.

»Einmal ist keinmal, nicht wahr, Frau Stahl? Aber dreimal — das können
Sie durch die einfachste Addition feststellen — das ist dreimal. Das
dritte Glas also — Was? Ich soll vor Tisch nicht mehr trinken? O,
wenn Sie ahnten, wem wir dies dritte Glas bringen, hätten Sie schon
aus purstem Familienegoismus geschwiegen. Das dritte Glas unserem
Prachtmädel, unserem Hannes. Marke: Stahl!«

Er drängte der alten Freundin ein Glas auf, verbeugte sich höfisch und
ließ die Gläser fein aneinander klingen.

Hans Steinherr fühlte eine sich steigernde Beklommenheit. Rasch trat er
auf die alte Frau zu und hielt ihr das Glas hin.

Die Greisin sah ihm, ohne eine Gemütsregung zu äußern, ruhig in die
Augen und stieß mit ihm an. Dann wandte sie sich dem alten Herrn zu,
der am liebsten sofort in eine allgemeine Fiduzität hineingesegelt
wäre, und sagte warnend: »Herr von Springe, Frau Margot und Ihr Herr
Sohn erwarten uns in einer Viertelstunde drüben zu Tisch. Und Sie sind
noch immer in der Hausjoppe.«

»Donnerwetter,« meinte Herr Friedrich Leopold, »eine Berufung auf Frau
Margot, das heißt so viel als: stramme Haltung! Na, nimm’s nicht übel,
mein Sohn, daß ich verschwinde. Ich lass’ dich ja, während ich Gala
anlege, in der allerbesten Gesellschaft zurück.«

Dann war Hans Steinherr mit Frau Stahl allein.

Er saß auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, die Arme auf den Lehnen, und
beobachtete sinnend jede ihrer Bewegungen, während sie ab und zu ging,
den Tisch in Ordnung brachte und sich im Zimmer zu schaffen machte.

»Wissen Sie noch, Frau Stahl, wie ich an dem Sonntag zu Ihnen kam,
drüben in der Pempelforterstraße, und bei Ihnen Kaffee trank?«

»Weshalb sollte ich das nicht mehr wissen, Herr Doktor?«

»Wie lang’ ist das her! — — Ich war damals noch ein Junge.«

»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Doktor.«

Er zuckte zusammen. Sie hatte ihn falsch verstanden oder mißverstehen
wollen.

»Haben Sie gute Nachrichten von — von Hannes?« fragte er nach einer
Pause.

»Ich danke. Man muß schon zufrieden sein, wenn sie gesund bleibt.«

»Haben Sie denn — haben Sie denn Besorgnisse? Ich meine: Ihre Enkelin
fühlt sich doch wohl?«

»Sie sind sehr freundlich, Herr Doktor. Meine Enkelin hat bis heute
noch nicht geklagt.«

Wieder die Pause, die kein Ende nehmen wollte. Nur das mechanische
Klappern von Stricknadeln.

Da erhob sich Hans Steinherr von seinem Stuhl und ging zu der alten
Frau hinüber.

»Frau Stahl, ich bin nach Düsseldorf zurückgekommen, um meinen Frieden
zu schließen, mit meinen Angehörigen und, wenn es angeht, auch mit mir.
Meine Mutter hilft mir, Heinrich Springe und der alte Herr helfen mir —
wollen Sie allein nicht?«

»Wir sind doch nicht Ihre Angehörigen, Herr Doktor.«

Hans Steinherr preßte die Lippen zusammen. Dann streckte er die Hand
aus und sagte leise: »Verzeihen Sie mir!«

Die Greisin ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und sah ihn mit
großen Augen an.

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Herr Doktor. Ob Ihnen Johanna was
zu verzeihen hat, das hat sie mir nie gesagt.«

»Doch, Frau Stahl. Sie — gerade Sie. Sie haben mich damals voll
Vertrauen auf meine Ehrlichkeit in Ihr Haus aufgenommen und mich
Einblicke in ein starkes, stolzes Leben tun lassen. Jeder andere
wäre daran gewachsen. ›Scham ist Feigheit,‹ sagten Sie damals. Mein
Wankelmut hat das Wort traurig bestätigt, ich mußte erst noch einmal
durch die Schule gehen, um es in seiner Wahrheit verstehen zu lernen.
Frau Stahl, ich bin nicht mehr feige, ich bin nur noch beschämt.
Vielleicht halten Sie es der Mühe wert, dies trübe Geständnis
entgegenzunehmen.«

Die alte Frau rückte unruhig auf ihrem Stuhl.

»Wenn ich Ihnen von der Beschämung abhelfen könnte — —. Aber gute
Lehren sind Stroh statt Hafer.«

»Verzeihen Sie mir!« sagte er noch einmal leise.

Sie sah zu ihm auf. Sie sah sein müdes Gesicht und das Ruhebedürfnis
in seinen Augen. Und dann erhob sie sich und nahm seine Hand an. Sie
packte sie mit festem Druck und hielt sie in der ihren. Irgend etwas
wollte sie sagen. Doch sie nickte nur, ließ seine Hand los und ging in
ihre Küche.

»Ich hätte es nicht ertragen,« murmelte Hans Steinherr; »von allen, nur
von ihr nicht. Nun ist mir freier.«

Er nahm seinen Platz wieder ein und wartete auf Herrn Friedrich
Leopold, der bald erschien.

»Oho — so ganz solo? Ja, mein Sohn, weiß man denn außerhalb Düsseldorfs
nicht mehr, wie man Süßholz raspelt? Ausgerissen ist dir die verehrte
Frau? Du bist zu schüchtern, Hans.«

Er strich sich den weißen Schnurrbart hoch und klopfte behutsam ein
Stäubchen vom Rockärmel.

»Tipp topp, gelt? Als wenn’s zum Tanzen ging’.«

Draußen wurde an der Schelle gerissen, daß es Sturm läutete.

»Das sind die jungen Leute von drüben,« sagte Herr Friedrich Leopold,
»überschüssige Kraft.« Und er ging öffnen.

Dann stürmte Heinrich Springe ins Zimmer. Frau Margot folgte gemütlich
am Arme des Vaters.

»Da bist du ja, Hans. Herrgott, wie ich mich freue! Und rote Backen
hat er schon gekriegt, ordentlich rote Ba —« Sein Blick fiel auf den
Senior. »Du, sag mal, du hast ja auch rote Backen gekriegt, aber so
verdächtige? Ihr habt wohl das Krökelspiel gespielt, vom frommen
Klausner? Ah, sieh da, der stumme Zeuge. Rauentaler Auslese. Hm, hm,
hm. Margot,« wandte er sich an seine Frau, »wirf doch den Plebejer, den
Zeltinger, aus dem Eiskühler. Die Herren haben bereits anders bestimmt.«

Der alte Herr aber freute sich, als ob er den Sohn mit einer brillanten
Pointe hineingelegt hätte.

Dann ging es zu Tisch. Hans Steinherr führte die Mutter, Herr Friedrich
Leopold holte Frau Stahl herbei, und Heinrich Springe machte den
Beschluß. Feierlich zogen sie über den Korridor in die andere Wohnung
hinüber.

Nach der Tafel verlangte es Hans, die Fabrik zu sehen. Inmitten der
Fröhlichkeit war plötzlich ein Drang nach Tätigkeit in ihm erwacht. Er
bat, ihn für den Nachmittag zu entschuldigen, und versprach, sich zum
Abend wieder einzustellen.

Langsam wanderte er durch den frischen Tag hinaus nach Bilk. Hier
bleiben können, hier bleiben können! tönte es in ihm. Er reckte sich in
den Schultern, und es war ihm, als spürte er neues Blut.

Wie die Sonne dort über dem Feldstreifen zittert. Gerade, als ob es
schon Frühling wäre ... Und dann sprach er vor sich hin: »Die Heimat.
Die Heimat. Das hier ist die Heimat ...«

Manchmal blieb er stehen und sog aus tiefen Lungen die frischwehende
Luft ein. Alles schien ihm in Glanz eingehüllt, und obwohl die
Landschaft hier nichts Anziehendes bot und ringsumher die Mauern und
Schornsteine der industriellen Werke emporragten, glaubte er, selten
ein schöneres Bild gesehen zu haben.

Und er malte es sich verlockend aus, hier wieder Wurzel zu schlagen,
unter diesen Menschen hier wieder das Lachen zu lernen, durch
angespannte Tätigkeit sich die Achtung zu verdienen und — ja,
ja! weshalb sollte es nicht möglich sein! es mußte sich auch das
ermöglichen lassen bei tapferem Ausharren und unermüdlichem Werben —
und am eigenen Herd das Glück festzuhalten. »O, du Jugendkraft, du, du!
Die vom Niederrhein haben dich in Erbpacht!«

Warm lief es ihm durch alle Glieder. Die Märzsonne hatte für ihn
Juliglut. — —

Bis zum späten Abend war er in der Fabrik geblieben. Er hatte die
Feierabendglocke gehört und die Scharen geschwärzter Arbeiter unter
dem Fenster des Privatbureaus vorüberwallen sehen, während er immer
noch saß und sich von dem Leiter der Werke einen Überblick über die
Geschäftslage geben, Pläne vorlegen, den Gang der Fabrikation erläutern
ließ. Und je länger er saß, umso schärfer und quälender wurde die
Entdeckung, daß ihm jeder Sinn für das fehlte, was ihm der Teilhaber
der Firma Philipp Steinherr doch so klar und übersichtlich an Hand
der Bücher, Karten und Tabellen vortrug, daß er nie den Sinn dafür
erlangen würde. Denn die genialste Berechnung, in technischer wie in
kaufmännischer Beziehung, rüttelte kein außergewöhnliches Interesse in
ihm wach. Mit stumpfer Bereitwilligkeit hörte er zu und stellte immer
nur sein Unvermögen fest.

Er hatte sich von dem Teilhaber, der noch einige wichtige Arbeiten zu
erledigen wünschte und deshalb noch nicht in die Stadt hineinfuhr,
mit herzlicher Danksagung verabschiedet, den Wagen abgelehnt
und den Heimweg zu Fuß angetreten. Aber die Sonne war fort, und
die Frühlingsahnung war fort. In seinem Innern waren alle die
hoffnungsfröhlichen Stimmen des Nachmittags jäh verstummt, so angstvoll
er auch horchte.

Und plötzlich warf er sich an einer Böschung nieder und preßte sein
Gesicht verzweifelt gegen die Heimatserde.

»Es ist ~nichts~ mehr, es ist ~nichts~ mehr. Es ist ja alles
verpfuscht! — — —«

[Illustration]




Neuntes Kapitel


Der erste Tag im Mai!

Wieder war Düsseldorf, das glücklich gelegene, den anderen Städten im
Reich um reichlich vierzehn Tage vorausgeeilt, im Hofgarten rauschten
die vollbelaubten Kronen der Bäume, das Gesträuch war mit Blüten
übersät, und der Flieder duftete über die ganze Stadt.

Seit einer Woche hatte in der Immermannstraße Hannes Einkehr gehalten.

Sie hatte eine anstrengende Tournee hinter sich, aber sie fühlte
sich, wie sie lachend versicherte, trotz alledem elastisch wie eine
Haselgerte und gedächte sich nur deswegen sechs Monate auf die faule
Seite zu legen, um den nötigen Vorrat an Düsseldorfer Luft zu sammeln.

»Man muß doch zuletzt wissen, wo man ›zuständig‹ ist,« erklärte sie
Heinrich Springe, »wenn man nicht ganz verzigeunern will. Und das
Zigeunertum — ach Gott, das ist eine schöne Lüge.«

»Du, Mädel, so schlau wie du ist nun auch der Hans. Ganz still und
beschaulich ...«

»Er gefällt mir nicht,« sagte sie, »ich wollt’, er schlüge Skandal.«

»Na, hör mal, so was von Radaulustigkeit — —! Du wirst wohl noch nach
Oberkassel tanzen gehen?«

»Dem Hans tät’s vielleicht gut. Es riss’ ihn aus seiner
Beschaulichkeit.«

»Aber Kind, gerade über die Beschaulichkeit sind wir ja so herzensfroh!«

»Ihr seid liebe Menschen,« sagte sie und lehnte sich an seinen Arm,
»ihr denkt nur Gutes und Gesundes, weil ihr selbst gut und gesund
seid.« Sie sah zu ihm auf, ohne sich an seiner Schulter zu rühren.
»Wißt ihr denn, was es mit dieser stillen Beschaulichkeit von Hans auf
sich hat? Ach, Onkel Springe, ich habe es gleich gewußt. Er beschaut
seine Wunden.«

»Hannes!« rief Springe erschrocken und zog das Mädchen mit einem Ruck
an sich, »Hannes, was willst du gleich gewußt haben? Herrgott, sollten
wir denn wirklich blind gewesen sein? Und du — du meinst — du hätt’st
recht?«

Sie sah ihn noch immer an und nickte mit traurigen Augen.

»Es ist so, Onkel Springe. Wundert es dich, daß ich dafür ein feineres
Verständnis habe als ihr?«

Auf die Frage war Springe nicht vorbereitet, und er fand kein Wort
der Entgegnung. Aber sein gerades, ehrliches Herz erkannte die
gleichgesinnte Natur und schwoll empor bei diesem offenen Eingeständnis.

»Mädel, Mädel,« brachte er nur heraus und fuhr ihr mit breiter Hand
über Haar und Gesicht, »was bist du für ein Mädel!«

Das war nicht geistreich, das empfand er selbst. Aber für ihn gab es
in diesem Augenblick alles wieder, und für sie auch; und das war ihnen
beiden die Hauptsache.

»Was fang’ ich nur an, um ihn aus dieser verdammten Beschaulichkeit
wieder ’raus zu kriegen, Hannes? Ich schäm’ mich ja zu Tod’. Beinah —
beinah — na, muß ich’s sagen? Beinah wie in Berlin, Kurfürstendamm:
und Heinrich Springe ging hinaus und weinte bitterlich, weil er sich
aus einem finsteren Cato in einen Pudel verwandelt hatte, der vor zwei
schönen Frauenaugen hübsch Apport machte. O Gott, o Gott, Hannes, sag
das nur keinem wieder! Wenn ich damals nicht dich gehabt hätte! Wie ein
Chirurg gingst du los ... Ihr Frauen seid doch die geborenen Ärzte.«

»Du, Onkel —«

»Gut,« sagte Springe und drückte ihr die Hand. »Wenn ich nämlich an
~die~ Affaire denke, wird mir immer noch glühheiß. Das brauchte nur
Margot zu wissen. Ich läge platt unterm Pantoffel. Also sprechen wir
wieder von Hans; schon, damit ich meine Haltung wiederfinde.«

»Onkel,« sagte das Mädchen nachdenklich, »ich glaube, ihr drückt ihn
zu sehr mit eurer Liebe. Da kommt er sich vor wie ein Invalide, wie
ein Almosenempfänger. Mit solchen Kranken muß man sich frisch-fröhlich
herumzanken, ihren Widerspruchsgeist wecken. Der Mensch fühlt sich
nie gesünder, als wenn er widersprechen kann. Das steigert sein
Selbstgefühl und macht ihn trotzig.«

»Ob Trotz gerade die richtige Tugend ist — —?«

»O, du unkluger Mann! Trotz gibt nach, und dann ist der Trotzige der
Gebende. Aber Resignation, die nachgibt, bleibt die Empfangende. Das
verträgt kein Mann auf die Dauer an sich selbst.«

»Sag mal, Kind, ich hoffe, diese Weisheit hast du nur aus deinen Arien.«

»Sie ist mir über Nacht gekommen, seit ich Hans gesehen habe.«

»Und was soll ich tun? Jetzt stehe ich blind zu deiner Verfügung.«

»Suche ihn zu zerstreuen, bring ihn unter Männer, rede mit ihm über
Dinge, die ihm am Herzen liegen, über Kunst, über Literatur, und zeig
dich unwissend, dreist oder ungeschickt, damit seine Empörung wach
wird, seine Verteidigungslust; damit er ins Feuer gerät. Ach, Onkel,
wenn ich könnte, wie ich wollte —«

»So will doch, Kindchen! Du nähmst mir da wirklich ein Kommissiönchen
ab.«

Sie schüttelte den Kopf, und auf ihrer Stirn grub sich die Falte, die
sie als Kind so oft gezeigt hatte.

»Ich kann mich doch nicht wegwerfen,« murmelte sie. »So was tut man
wohl in der Stunde der Gefahr, aber doch nicht aus freien Stücken. Das
säh’ ja aus, als ob ich Sonderinteressen dabei verfolgte.«

»Wenn du ihn lieb hast ...« fragte Springe unsicher.

»Weil ich ihn lieb habe, weil, weil! ~Er~ soll gesund werden, nicht
ich. Ich — ich bin’s ja.«

»Das weiß Gott!« sagte Springe herzlich. »Und jetzt versteh’ ich dich
auch ganz. Seinen Stolz willst du.«

»Ja,« sagte sie leise, mit einem versonnenen Lächeln, und sie hatte
nasse Wimpern.

»Ich werde es einmal mit Herrn Friedrich Leopolds Rezept versuchen,«
entschied Heinrich Springe. »Der Wein erfreut des Menschen Herz, und
heute, am ersten Mai, fließt im ›Malkasten‹ die allgemeine Maibowle.
Da kommen die Malmännlein aus Höhlen und Klüften, Hunderte an der Zahl.
Und viele — ach, wie viele! — waren beim Barbarossa im Berg und haben
geschlafen, die Zipfelmütze über beide Ohren, einen gottgesegneten
Schlaf. Da verwandelte sich der Pinsel in ihrer Hand zum Weißquast, und
die heilige Ölfarbe zur unheiligen Tünche. Aber ein Geschwätz machen
sie, ein Geschwätz, sag’ ich dir, daß den umsitzenden Künstlern graut.
Hans soll es mitmachen!« — —

Hans Steinherr war in der letzten Woche nur zweimal in Burg Springe als
Gast erschienen. An dem Tage, an dem die Familie Hannes feierlich am
Bahnhof eingeholt hatte, war er erst zur Abendstunde gekommen.

Im Besuchsanzug, einen Strauß Flieder in der Hand, war er ins Atelier
eingetreten, in dem das Mädchen vor einem neuen Werke Springes, einem
schlummernden Parkteich, überwacht von dichtgedrängten, blühenden
Kastanien, stand.

Als sie seinen Schritt vernahm, wandte sie sich um.

»Guten Tag, Herr Hans. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, Sie
wiederzusehen.«

Und er hatte auf das schöne, in sich gefestigte Geschöpf hingestarrt,
und als er die Lippen bewegte, um zu erwidern, spürte er, daß in ihm
etwas zerrissen war, in diesem Augenblick.

»Hannes, Fräulein Hannes ...« sagte er mit Anstrengung, und dann bot er
ihr zögernd die Hand, die die Blumen hielt, und sie nahm die Blumen und
nahm seine Hand.

»Wie aufmerksam von Ihnen! Haben Sie herzlichen Dank!«

»Sie sind aus dem Garten draußen,« sagte er, um nur seine Stimme zu
hören. »Der Frühling kam zeitig dies Jahr.«

Sie nickte und vergrub ihr Gesicht in den Strauß. Der herbe Zug um
seinen Mund tat ihr weh.

Dann sprachen sie von ihren Reisen. Ganz so wie Menschen, die sich auf
einer Station getroffen haben und plaudern, um die Zeit hinzubringen.
Und doch achtete und wartete sie auf nichts anderes als auf ein Wort,
das den alten Hans verraten würde, und alles, was er sprach, ging
an ihrem Ohr vorüber, eilig, schnell zerflatternd, damit sie die
Aufnahmefähigkeit behielte für das, was doch kommen mußte.

Aber es kam nicht. Der Mann, der vor ihr saß, war nicht mehr
kindergläubig genug, um durch den Schleier hindurch in ihrer Seele
zu lesen. Er sah nur die Zerstreutheit, mit der sie ihm zuhörte und
antwortete, und sein unruhiges Gewissen gab ihm ein, daß es ihr
peinlich sein müßte, dem Manne höflich und freundlich gegenüber zu
sitzen, den sie als Mädchen geküßt hatte.

Einmal dachte er daran, die Vergangenheit zu berühren und sie
um Verzeihung zu bitten. Aber angesichts dieser vornehm stillen
Erscheinung, deren selbstsichere Haltung keinen Schluß mehr auf das
wilde, zärtliche Gemüt des einstigen Hannes zuließ, schien ihm seine
Anwandlung anmaßend und kindisch. Die Kinderzeit, in der ein einziges
»Sei wieder gut!« die Schranken wegräumte, war nicht mehr. Hier hieß es
nicht, reden, hier hieß es, zeigen. Und er hatte nur einen Bankrott
aufzuweisen gegen ihre Reichtümer. Einen solchen Handel machte er
nicht. Er war kein Betrüger.

So lief die Stunde ab, und das Ergebnis war der Wunsch auf ferneres
Wohlergehen. Dann saß sie wieder vor dem Bild mit dem schlummernden
Parkteich und den blühenden Kastanien, aber sie saß mit geschlossenen
Augen.

Im Nebenzimmer begrüßte Hans seine Mutter. Hannes hörte, wie er bat,
ihn zum Abendessen zu entschuldigen, und wie Frau Margot ihm doch
abschmeichelte, daß er blieb. Dann saßen sie miteinander bei Tisch,
und Großvater Springe war aufgeräumter denn je, und seine unbesiegbare
Laune holte sich auch heute den Triumph, die Tischgesellschaft zu
erheitern und die gewonnene Stimmung durchzuhalten. Später bestürmte
Frau Margot Hannes um ein Lied, um ein ganz kleines nur. Aber als sie
nachgeben wollte, obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war, sah sie,
daß Hans geräuschlos das Zimmer verließ. Da versprach sie für morgen
so viel Lieder, als man zu hören wünschte, nur heute möchte sie sich
schonen.

Auch Heinrich Springe hatte das stille Verschwinden des Freundes
wahrgenommen und war ihm gefolgt. Als er zurückkam, teilte er mit, daß
Hans nicht durch Abschiednehmen habe stören wollen. Der Junge fühle
sich heute nicht recht wohl, habe aber ebenfalls für morgen alles
mögliche versprochen. Und die beiden Springes, Frau Margot und selbst
Frau Stahl nahmen das mit unschuldigem Herzen als ein gutes Zeichen und
tauschten, heimlich sich zunickend, strahlende Blicke miteinander aus.

Hans aber war nach Hause zurückgekehrt und saß die Frühlingsnacht
hindurch in der Laube und hörte nicht die Stimmen des Frühlings und
hörte nur die Stimmen der Nacht.

Das ist nun vorüber, alter Junge ...

Was ist vorüber? fragte er sich mit bewußter Selbstironie.

Und er fuhr fort, sich Rede und Antwort zu stehen und den Sarkasmus
wider sich selbst zu kehren.

Was vorüber ist? Nun, was denn sonst als das Wiedersehen? Oder hattest
du dir gar etwas anderes gedacht, als du hingingst? Ja, mein lieber,
eingebildeter Mensch, wenn du noch solche Träume spinnen konntest,
wirst du jetzt belehrt sein, daß das, was du meintest, längst, längst
schon vorüber ist.

Sie ist schön, nicht wahr? Wie die goldrote Haarwelle auf ihrem feinen
Knabenköpfchen ruht, als wollte sie locken: Löse mich. Dich brenne ich
nicht. Wenn du mich über dein Gesicht legst, will ich dich kühlen ...

Sie ist ein Märchen, gab er zur Antwort. Hast du vergessen, daß alle
Märchen beginnen: Es war einmal ...?

Und wenn das Märchen dennoch Leben gewinnt und die Augen aufschlägt?

Ach, du armer Phantast, die Augen werden an dir vorübergehen. Schau
dich an. Sieht so ein Märchenprinz aus? Überbleibsel bringt man nicht
auf eine Königstafel, und gierige Bettler werden im Hofe abgefertigt.

Ich bin kein Bettler! brauste es ihm durch den Kopf. Ist es mir denn in
den Sinn gekommen, zu betteln? Bin ich so weit herunter, daß ich auf
Freibeuterei ausgehe? O nein, mein guter Hans, o nein, so viel Anstand
hast du doch noch in den Knochen, um dich nicht wehleidig aufzudrängen
und um Gottes Barmherzigkeit willen ein Almosen zu verlangen. Um zu
erklären: Jetzt, du schöne, lachende Frau, wo es dir geglückt ist und
mir nicht, passen wir besser zusammen. O nein, ich bin kein Bettler.
Ich weiß sehr gut, was ich bin, und mache mir keine Illusionen.

Seine Lippen legten sich fest aufeinander, und je fester sie sich
schlossen, desto heller wurde sein Auge, in dem das alte Erbgut der
Kinder dieses Landes glänzte und schimmerte: der Spott, der selbst mit
dem Tiefstand des Lebens noch um ein Lachen trotzt.

Und er zog die Bilanz der letzten Wochen, der Zeit, die er wieder in
der Heimat zugebracht hatte, und verglich die Kredit- und Debetseite.
Wieder und wieder hatte er sich aufgerafft, wie nur ein Mann es kann,
und war hinausgegangen in die Fabrik, um sein Interesse mit zäher
Energie zu zwingen. Aber was half all sein Wollen? So zappelt auch ein
Fisch auf dem trockenen Land. Das Element, in dem er sich befand, war
nicht das seine, ihm fehlte die kaufmännische Gabe und das technische
Verständnis.

Dann hatte er es im stillen mit der Kunst versucht. Die Muse zwar
war nicht zu beleben, denn jede Gefühlsäußerung erschien ihm wie
ein Hohn, und künstlerische Formspielereien waren ihm verhaßt. Aber
durch die Kunstausstellungen war er gewandert und durch die Ateliers,
und er hatte sich einen Überblick verschafft über den Stand der
vaterstädtischen Kunst, über den neuen, urwüchsigen Heimatstrieb und
über den alten Zopf. Das war ein Gebiet, das er beherrschte, und hiefür
gedachte er zu schaffen.

Sobald er jedoch vor dem Stoß weißen Papieres saß, befiel ihn wieder
der Gedanke an den Unwert all seines Tuns. Weshalb denn nur etwas
leisten wollen? Für wen denn? Für das Streicheln einer lieben Hand.
Für das Leuchten zweier Augen. Das hätte sich gelohnt, das hätte
gefördert. Aber für das bißchen Ehrgeiz oder, wenn es hoch kam,
für das Kerzenstümpfchen Idealismus? — Und die Freude, die ihm auf
Sekundenlänge über die Schulter geguckt hatte, war entflohen — —.

Das also, schloß er, ist das Resultat! Daß es etwas minimal ist, kann
ich nicht verneinen.

So verging die Frühlingsnacht.

In den nächsten Tagen sah er Hannes wieder, plauderte mit ihr, bis
er merkte, daß er mitten im Satz verstummt war und sie seit Minuten
anstarrte, und sich schnell empfahl, um der Selbstquälerei ein Ende zu
machen. —

Als am Abend des ersten Mai Heinrich Springe bei ihm erschien, packte
ihn die Angst, der Freund käme, um ihn zu einem Familienabend zu
holen. Umso hastiger ging er auf den Vorschlag ein, der Maibowle
des ›Malkastens‹ beizuwohnen. Er wurde sogar ordentlich aufgeräumt,
und Heinrich Springe dachte erstaunt und beschämt zugleich: Das
Sakramentsmädel, der Hannes, hat doch mal wieder recht behalten. Er
gehört unter trinkfeste Männer. —

Im ›Malkasten‹ war es gedrängt voll. Hunderte von Künstlern und
Kunstfreunden waren in den weiten Räumen untergebracht, aber sie
mußten dicht zusammenrücken, denn das Fähnlein der Durstigen war
in der Rheinstadt schon an Abenden ohne tiefere Bedeutung nicht
klein. Eine Schicht blauen Zigarrendampfes schwamm wie ein Nebel
über der Festversammlung und gab dem Bilde das Kolorit eines alten
niederländischen Gemäldes.

»Teniers oder Höllenbreughel?« fragte Springe lachend seinen Begleiter,
während er sich durch das Labyrinth der Tische einen Weg bahnte. »Was?
Das nennt sich doch noch gesunde Kneipenluft! Und dieser göttliche
Radau! Hier kommt’s nicht drauf an, ~was~ man sagt, sondern daß man
es möglichst ~laut~ sagt. Stimmenschwerheit entscheidet! Achtung, der
Pitter hat ’s Wort! Hier — hier ist noch Platz.«

An einem mächtigen, runden Ecktisch hatten sie Unterkunft gefunden.
Man bat um Ruhe. Man klopfte ganz energisch auf die Tischplatten. Dann
ebbte das Stimmengewirr ab wie eine lange, chromatische Tonleiter.

Der ›Pitter‹, ein weißhaariger, unverwüstlicher Maler der älteren
Generation, stand neben dem Klavier und strich mit überlegener Miene
den weißen Knebelbart. Er hatte als Maler und Mensch warten gelernt.
Plötzlich erfaßte er den ersten Moment der Ruhe. Wie eine Fanfare
drängte sich sein schmetterndes Organ in die Pause hinein und füllte
den Luftraum mit einer Vehemenz, daß kein fremder Hauch neben ihm noch
Platz zu finden vermocht hätte. Pitter hatte das Wort. Daran war nicht
mehr zu rütteln. Und er gab es von sich, als sänge er Samuels Fluch
über König Saul.

»Auch eine Auffassung,« nickte Springe zustimmend. »Das Schwermutslied
von der ›Krone im Rhein‹ durchweg auf =forte= gesungen. Is mal was
Neues.«

Dann sorgte er, daß aus dem riesigen Wandbassin, in dem das Meer der
Bowle floß, auch ihnen der Humpen häufiger gefüllt werde. Ernste Männer
traten von Zeit zu Zeit an den köstlichen Quell, prüften den Pegelstand
des Inhalts und besprachen in geheimnisvollem Flüsterton die Zufuhr
an Mosel- und Sektflaschen. Dann feierten die Humpen auf den Tischen,
und es war dürre Zeit im Land, bis die Auserwählten geprüft und wieder
geprüft hatten und sich der schweigende Ernst ihrer Mienen in die
strahlend aufsteigende Sonne der Zufriedenheit wandelte.

Der Geist der Töne bedrängte heute viele im ›Malkasten‹. Von
Viertelstunde zu Viertelstunde erhob sich ein neuer Sänger, begehrte
stürmisch die allgemeine Aufmerksamkeit, lächelte und begann. Man sang
Getragenes und man sang Kitzliges, letzteres aber, der guten Sitte
wegen, im Düsseldorfer Dialekt; und man sang endlich im Chor aus den
»hundert allerschönsten Volksliedern für einen Silbergroschen« manch
ein artig Stückchen.

Springe amüsierte sich herrlich. »Jeder Kerl hier,« behauptete er,
»ist ein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Sein Genre könnt ihr am Singen
erkennen. Der Landschafter singt urwüchsig, der Schlachtenmaler mit
edlem Feuer, der biblische Historienmaler mit schönem nasalen Ton, der
Genremaler mit neckischen Koloraturen, der Porträtist möglichst korrekt
und der Tiermaler grunzt. Das gehört zum Metier.«

Sofort wurde am Tisch widersprochen. Nicht aus Gekränktheit, aus der
bloßen Lust des Rheinländers am Opponieren. Und ehe drei gezählt
werden konnte, lag das längst erwartete Thema, die alte und die neue
Kunst, auf der Tischplatte wie ein Vivisektionstier, und jeder schnitt
lustig mit seinem Messer darin herum.

Hans Steinherr hatte kaum ein Wort gesprochen. Er hörte auch nur mit
halbem Ohre hin. Was ihm auffiel, war, daß er unter den Hunderten
von Köpfen keinen einzigen zurechtgemachten Künstlerkopf fand, keine
Samtjackengenialität, keinen Satanisten, keinen Melancholiker. Eher
noch einen gemütlichen Biedermeier aus der Hasencleverzeit. Aber den
meisten war ein festererbter, knorriger Zug zu eigen, der Vertrauen
weckte und Vertrauen gab, trotz der Spottsucht um den Mund.

Das ist die Gesundheit, sagte sich Hans Steinherr; Ungesundes wird hier
abgestoßen wie eine tote Zelle im Gewebe.

In dem Stimmengewirr am Tisch war das Wort »modern« gefallen. Und
Heinrich Springes Stimme erscholl: »Also ’raus mit der Sprache! Haltet
ihr mich für modern oder nicht?«

»Aber natürlich! Wenn Sie nicht, wen denn?«

»Soo? Das möcht’ ich mir denn doch ergebenst verbeten haben. Sie
glauben wohl wunder was für eine Schmeichelei Sie mir gegenüber da
losgeworden sind. Nee, meine Herren. Ich male meinen Stiebel nach
meiner Art; wie, das ist Nebensache; mit welchen technischen und
Anschauungsmitteln, das besagt nichts; die Hauptsache ist: ist das Bild
gut?! Gut, meine Herren, gut! Da liegt der Hase im Pfeffer. Und ich
sage Ihnen: das ist und bleibt der ~ideale~ Hase! Prost, ihr Herren!«

»Prosit! Prosit! Springe hoch! Springe soll eine Rede halten!
Si—len—ti—um!!«

»Soll ich den Kerls mal den Kopf waschen?« fragte Heinrich Springe
lachend Hans. Er hoffte heimlich, auch den Freund aus seiner Lethargie
aufzurütteln, und er ließ sich bewegen und erhob sich. Er sprach nur
für den dichtgefüllten, mächtigen runden Ecktisch, der jetzt auch von
den Nebentischen belagert wurde.

»Ihr wißt,« begann er, »ich bin ein Feind jedes akademischen Zopfes;
aber der schwache Mensch kann auch in das Extrem verfallen, und
auch das mißbillige ich. Der Künstler, ob Anhänger der alten oder
neuen Kunst, muß seine Ideale haben, das erst gibt seiner Kunst die
Weihe. Das Wort ›Ideal‹ steht heute ziemlich tief im Kurs. Es ist
nicht ›modern‹. Und damit ist ihm von den vielen, die da vorgeben,
die beste Gesellschaft auf allen Gebieten des Lebens, der Künste,
der Wissenschaften, mit einem Wort, der herrschenden Mode zu
repräsentieren, der Stab gebrochen. Ideale! Was unserer Zeit mehr als
je das Gepräge gibt, ist der unbändige Geschäftssinn, der nach allen
Dingen des Tages seine Fühler streckt und als Ausgleich das leichte
Amüsement für die mißhandelten Nerven beansprucht, wenn nicht eine
besondere Sensation. Der ›Geschäftssinn‹, bewußt oder unbewußt, ist der
Totschläger des Ideals. Unbewußt bei den vielen Tausenden, die blind
den Hammelsprung als Herde mitmachen, aus Furcht, der ›Mode‹ nicht zu
genügen. Bedauernswerte Menschen, denen ein neuer Gewandschneider mehr
zu sagen hat als alle Weisheit einer großen Überlieferung.

Der Gewandschneider dominiert. Nicht allein in der Kleidung. Seine
Doppelgänger bearbeiten das Gebiet der Kunst, des gesellschaftlichen
Lebens; sie bestimmen das Niveau des Geisteslebens. Der Charlatanismus
hat hohe Zeit und schießt üppig ins Kraut. Heute heißt es, um jeden
Preis originell sein! Ist originell gleichbedeutend mit individuell,
soll ihm Lob und Preis gesungen werden. An solchen Charakteren kann
ein Volk nie wohlhabend genug sein, denn sie geben ihm den Stempel der
Kraft und Ursprünglichkeit. Aber welch traurige Konterbande wird mit
diesen Begriffen getrieben! Spekulative Köpfe haben einen billigen
Ersatz gefunden. Um aus der Allgemeinheit emporzutauchen, wird irgend
eine ›neue Richtung‹ ausgerufen, je kühner und extravaganter, desto
besser. Schwarz wird für Weiß ausgegeben, eckig und kantig für allein
bequem, unsinniges Gestammel für Offenbarung, Frivolität für den
Gipfel des feinen Menschentums und der Tingeltangel für die letzte und
schönste Blüte der dramatischen Kunst. Edle Dreistigkeit hat immer noch
suggestiv gewirkt, zumal im lieben deutschen Vaterland.

Aber, ihr Herren, ohne die Pflege seiner altüberlieferten Ideale, an
die sich harmonisch die neuen knüpfen, ist eine wurzelechte Entwicklung
eines Volkslebens nicht denkbar. Und diese Pflege bedingt Tiefe des
Gemüts und Ernst der Gesinnung, just die Erscheinungen, durch deren
starkes Vorhandensein der Deutsche sich in allen Zeiten vor den
Nationen auszeichnete, die seiner Gesamtheit den Namen des ›Volkes
der Denker‹, meinetwegen selbst den des ›deutschen Schulmeisters‹
gaben, die das deutsche Volk aber kraft seiner seit den Altvordern
angesammelten Schätze an Idealgütern befähigten, eintretenden Falls
einen Enthusiasmus zu entwickeln, der wie im Befreiungsjahr 1813
elementar durch die Lande brauste, die Entäußerung alles Materiellen
zu Gunsten des Ideals in Flammenschrift auf den Fahnen führend, ein
Enthusiasmus, der in den Kriegsjahren 1864, 1866, 1870 und 71 aufs neue
siegreich in die Erscheinung trat. Aller tüftelnder Geistreichtum,
der heute so vielfach mit Worten und Dingen spielt, um die eigene
Persönlichkeit modisch in griechisches Feuer zu setzen, erhält diesen
hohen Sinn im Volkstum nimmer wach. Und aller Spott, alle Ironie,
mit der man die tiefreichenden Volksanschauungen heute vielerorts in
Literatur, den bildenden Künsten und dem Leben zu Gunsten eines Witzes
lächerlich zu machen trachtet, wird den Parteigängern im letzten Grunde
selbst zum Schaden gereichen.

Die Mode ist vergänglich, das Ideal unsterblich. Aber daß es nicht
für eine ganze Zeitspanne verstümmelt und einer aufblühenden
Generation entzogen werde, dafür, ihr Herren, ist ernstlich Sorge zu
tragen. Die Ideale im Volksleben sind die Wurzeln eines kraftvoll
vorwärtsstrebenden, in sich gefestigten Staatswesens. Sie sind die
Stützen zur Macht. Sie schaffen den Glauben an eine große Vergangenheit
und die Hoffnung auf eine große Zukunft. Nehmt einer Nation ihre
Ideale, und ihr zeigt ihr den Weg zur Internationalität. Der Kunst
aber liegt es vor allem ob, die Hüterin der Volksschätze zu sein,
sie zu hegen und zu pflegen, damit sie einst in der Stunde, in der
das Vaterland an die Ideale appelliert, nicht an ausschlaggebendem
Wert eingebüßt haben. Und, ihr Herren, lassen Sie es mich an dieser
Stelle aussprechen: das große Wort: ›Die Kunst ist international‹,
hält vor der Sonne nicht stand, wollen wir nicht im gewissen Sinne zur
Schablone übergehen. Es gibt so wenig eine internationale Kunst, wie es
überhaupt eine internationale Kultur geben kann. Wie eine Kultur nur
von ~nationalem~ Boden auszugehen vermag, soll sie nicht nach kurzem
Überschwang an innerer Unhaltbarkeit jämmerlich zerfallen, so wird auch
die Ausübung der Kunst und ihr innerstes Wesen stets von der ~Rasse~
abhängig sein. Eine ~deutsche~ Seele muß unsere Kunst in sich tragen,
und sie muß in den Werken unserer Künstler zum sieghaften Ausdruck
gelangen, soll sie frei und individuell neben der ausländischen
bestehen und dermaleinst in der Kunstgeschichte als Epoche bezeichnet
werden. Daran laßt uns in Düsseldorf festhalten, und wir werden die
Düsseldorfer Kunst wieder an der Spitze marschieren sehen trotz aller
französierender Mantelträger da draußen. Ihr Herren! In diesem Sinne
trinke ich auf die Stadt Düsseldorf!«

Das war Heinrich von Springes Maienrede.

Er hob seinen Bowlenhumpen und trank ihn bis zur Nagelprobe aus.

Und die Alten und die Jungen drängten sich um ihn herum. Man stieß mit
ihm an, man schüttelte ihm die Hand, man sprach auf ihn ein und klopfte
ihm auf die Schulter. Doch als er sich nach Hans Steinherr umwandte,
sah er gerade noch, wie dieser still den Saal verließ.

Da stellte auch Springe sein Glas hin, holte seinen Hut aus der
Garderobe, und als er auf der Straße stand und den Freund zwischen den
Bäumen des Hofgartens verschwinden sah, folgte er ihm aus der Ferne. —

Hans Steinherr gedachte einen Abschiedsgang zu tun.

Während er den einstigen Mentor im ›Malkasten‹ reden hörte und
alle Glocken des Lebens um ihn läuteten, fühlte er sich einsamer
und überflüssiger denn je. Seine Ideale lagen zertrümmert, und dem
Menschenkind, das allein ihm hätte aufbauen helfen können, hatte er
einst selbst die Wege gewiesen.

Schluß der Tragikomödie! tönte es in ihm — Vorhang nieder, bevor du an
Altersschwäche eingehst! Sei ein Mann!

Und während um ihn herum das lachende Leben mächtiger erbrauste, hatte
Hans Steinherr ruhig und schweigend seinen Tod beschlossen.

Der volle Mond stand über dem Hofgarten, den Steinherr langsam
durchwanderte. Wie Silber rieselte es an den grünen Zweigen und Stämmen
herab. Die ganze Landschaft lag in Silber und Grün. Links ihm zur Seite
murmelte der glitzernde Düsselbach, und durch das frühlingsprangende
Gebüsch blinkten die weißen Teiche, auf denen träumende Schwäne stille
Bahnen zogen. Der Zauber der Romantik lag ausgebreitet über dem Kleinod
des Niederrheins.

Und weiter wanderte er, bis er durch die Nacht die Wogen des
Rheinstroms klingen hörte und die rastlos drängenden Wassermassen sah.
Er schaute den Strom hinab und hinauf, und wieder hinauf und hinab.
Mit einem langen, dankbaren Blick. Dann wandte er sich zur Stadt
zurück und schritt, am Hohenzollernschloß, dem Jägerhof, vorbei, die
Pempelforterstraße entlang.

Da lag das kleine, baufällige Haus, in dem Hannes ihre Jugend verbracht
hatte, in dem er das junge, sonst so trotzige Geschöpf zum ersten Male
in seiner süßen Weichheit unter Rosen gesehen hatte. Unter ~seinen~
Rosen. Er entsann sich ganz genau, wie er die Blumen selbst am frühen
Morgen im Garten abgeschnitten hatte. Die Rosen aber, die sie jetzt
schmückten, waren nicht mehr die seinen, und das alte Haus wurde nun
abgerissen.

Er konnte nicht anders, er nahm den Hut ab, wie zum Gebet. Seine Augen
lagen tief eingesunken und erloschen in ihren Höhlen.

Als er sich endlich losriß, sah er einen Menschen neben sich stehen.

Es war Springe.

Wortlos standen sich die beiden Männer gegenüber. Dann nahm der Ältere
sanft den Arm des Jüngeren.

»Komm nach Hause, Hans!«

»Ich bin auf dem Wege.«

»War der Umweg so dringend nötig?«

»Ja, Alter, er war nötig.«

»Hans,« sagte der andere und faßte ihn unwillkürlich fester am Arm, »du
hast mir noch nie so schlecht gefallen wie in dieser Mondbeleuchtung.«

»Das wird sich bis morgen geändert haben.«

»Rede nicht so delphisch. Ohne Grund hast du nicht gerade diese Route
zum Nachhausegehen gewählt. Du führst etwas im Sinne. Das — das sah
vorhin einem Abschiednehmen ganz verteufelt ähnlich. Hans! Sei offen
gegen mich. Du willst uns verlassen, dich treibt es wieder fort ...«

»Und wenn es so wäre. Wir hätten alle Ruhe.«

»Ruhe —? Du, schau mich einmal an. Ganz frei, ganz ohne Rückhalt, so,
wie du als Junge konntest —«

Und plötzlich durchfuhr es den Mann. Er hatte in diesem stillen,
lächelnden Blick etwas gelesen. Er glaubte sich zu täuschen. Er faßte
den seltsam ruhigen Freund bei den Schultern und starrte ihm in das
weiße Gesicht. Es war kein Zweifel mehr, er hatte Klarheit.

»Hans,« brachte er mühsam hervor, »Hans, das darfst du nicht. So weit
sind wir, bei Gott, noch lange nicht! In acht, in vierzehn Tagen bist
du gesund, ich garantier’ es dir. Aber das darfst du nicht!«

»Was ist denn Großes dabei — bei einer Reise!«

»Lüge nicht, Hans! Du kommst nicht wieder, wenn du reisest; du — du
willst dich töten ...«

Das Wort war gesprochen, und atemlos wartete Springe auf ein Echo.

»Lieber Heinrich,« sagte Hans Steinherr ernst, »so lieb ich dich habe:
in meine letzten Entschlüsse einzudringen oder gar einzugreifen, dazu
gebe ich niemand das Recht. Auch dir nicht.«

Heinrich Springe nahm sein Herz in beide Hände. Er zwang sich mit aller
Gewalt zur Ruhe, zur kühlen Überlegung. Hier war nur Kaltblütigkeit am
Platz.

»Hans,« sagte er, »ich sehe, du entziehst mir dein Vertrauen, obwohl
ich nun genug weiß. Aber was hilft mir das Wissen! Über dein Leben habe
ich nicht zu verfügen, und wollte ich es doch tun, so würd’st du schon
Mittel und Wege genug finden, um dein Vorhaben auszuführen. Nur einen
Aufschub verlang’ ich.«

»Dies ist die letzte Nacht.«

»Wann hast du es beschlossen?«

»Vor einer Stunde.«

»Vor einer Stunde erst? Und jetzt schon —? Hans, so stehlen sich
Kassendefraudanten aus dem Leben oder unreife Knaben. Nicht Männer,
die da wissen, daß sie eine Mutter und Freunde zurücklassen. Du wirst
noch eine Nacht darüber hingehen lassen, du wirst den Mut bekunden, am
hellen, lichten Tag deinem Vorhaben ins Auge zu sehen. Du wirst dich
zur Ruhe legen, und wenn du morgen früh ausstehst und du sagst mir: Es
bleibt dabei — so will ich gehen und dich nicht mehr hindern. Daraus
gebe ich dir mein Ehrenwort, mein heiliges, nie gebrochenes Wort.«

»Es ist zwecklos, aber ich will dir den Wunsch erfüllen. Komm mit! Du
kannst mich sogar überwachen.«

Schweigend schritten sie durch die mondbeglänzte Frühlingsnacht, die
tausendfältig das Leben gebar.

[Illustration]




Zehntes Kapitel


»Was wünschest du, das geschieht?« fragte Hans Steinherr wie ein
freundlicher Wirt, als sie in seinem Hause an der gartenbekränzten
Grafenbergerchaussee angelangt waren und Heinrich Springe rastlos durch
das Zimmer wanderte.

Der Angeredete unterbrach seinen Gang.

»Hans —!« sagte er, und er legte alle Liebe und alle Innigkeit in den
Ton. Er ging auf ihn zu, faßte seine Hände und suchte seinen Blick.
»Hans — —!«

Der aber schüttelte stumm verneinend den Kopf.

»Hans,« fuhr Springe eindringlicher fort, »du kannst es ja nicht
wollen. Du hast ja vergessen, an deine Mutter zu denken. Ich will von
niemand sonst reden. Nur von deiner Mutter ...«

»Meine Mutter,« sagte Hans Steinherr und sah zur Seite, »meine Mutter
ist durch das Glück geschützt. Der Verlust, der sie trifft, wird an
ihrem Reichtum nichts ändern.«

Er holte tief Atem. Dann fand er ein ruhiges und entschlossenes Wort:
»Heinrich, mache keinen weiteren Versuch. Laß mich nicht bereuen, daß
ich dich nicht auf der Stelle abgewiesen habe. Ich versprach dir,
die nüchterne Überlegung am Morgen abzuwarten, obschon sie nicht
nüchterner ausfallen kann. Mehr kann ich nicht und mehr will ich nicht.
Das — ist mein letztes Wort.«

»Hans — —!«

Aber als der Freund sich abwandte, müde der Erwiderungen, ließ
Springe von jedem Überredungsversuch ab, trat hinter ihn und legte
schonungsvoll den Arm um ihn.

»Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Du sollst jetzt ruhig schlafen.«

Hans Steinherr lächelte leise über die sorglichen Bemühungen, aber er
ließ sie geschehen.

Sie gingen die Treppen hinauf, in das obere Stockwerk, in dem das
Schlafzimmer lag. Dort ließ sich Hans schweigend auf das Ruhebett
fallen.

»Laß die Lampe brennen, Hans. Licht ist gut gegen einsame Gedanken. Und
ich möchte von Zeit zu Zeit nachsehen kommen, ob du eingeschlafen bist
oder den Wunsch hast, mich zu sprechen. Gute Nacht, Hans; ich wünsche
dir mit aller Bedeutung eine ~gute~ Nacht!«

Unten im Hausflur blieb er stehen und horchte angespannt. Dann stieg
er schnell ins Souterrain hinab und klopfte behutsam an der Tür der
Wirtschafterin. Die Alte hatte den leichten Schlaf des Alters. Sie
erwachte sofort und fragte, ob der Herr Doktor noch ein Verlangen habe.

»Bitte, Frau Schmitz, stehen Sie gleich auf! Ich bin’s, Heinrich von
Springe. Sie müssen mir eine Gefälligkeit erweisen.«

In wenigen Minuten hatte die erschrockene Person ihre Kleider
übergeworfen. Springe beruhigte sie.

»Es ist nichts. Herr Hans fühlt sich nicht ganz wohl. Aber ich möchte
doch auf alle Fälle mit Fräulein Stahl sprechen. Gehen Sie doch bitte
sofort zur Immermannstraße — die Dienstmädchen machen leicht eine
übertriebene Geschichte daraus — und ersuchen Sie Fräulein Stahl in
meinem Namen, sich gleich herzubemühen. Das Fräulein versprach mir,
aufzubleiben, bis ich aus dem ›Malkasten‹ zurück sei. Wir wollten noch
plaudern.«

»Soll ich nicht,« fragte die alte Frau ängstlich, »gleich einen Doktor
mitbringen?«

»Das wird hoffentlich nicht von nöten sein. Eilen Sie nur!«

Er sah ihr vom offenen Fenster aus nach, wie sie in ihrem großen
Umschlagetuch eilig die Straße dahintrippelte.

Eine qualvoll lange Stunde begann für den Mann am Fenster. Er zog die
Uhr. Es war eins. Vor zwei Uhr konnte Hannes nicht eintreffen. Und wenn
sie nicht aufgeblieben, wenn sie schon zur Ruhe gegangen war? Aber
nein, sie hatte ja am Abend erst versprochen, zu warten. Es drängte
sie ja viel zu sehr, zu hören, ob der heitere Abend günstig auf Hans
eingewirkt habe. Sie wollten ja noch Pläne miteinander schmieden,
allein, ohne von den anderen gestört zu werden.

Hannes würde kommen; Hannes würde ganz bestimmt kommen!

Fern, aus einem der Gärten, tönten die langgezogenen Koloraturen einer
Nachtigall. Sobald ihr Ruf in einem Triller erstarb, antwortete eine
andere. Hin und her ging das Spiel, im Lauschen und im Schwelgen.

Aber Springe hatte heute keinen Sinn für den Wohllaut der Nacht. Als
er sich dennoch beim Horchen ertappte, riß er sich ärgerlich los. Das
Tirilieren zog ihn ab. Er hatte sein Gehör einer anderen Richtung zu
schenken.

Das Viertelstundenschlagen der Turmuhren erschien ihm endlos. Er
tastete nach seiner Zigarrentasche. Aber jetzt zu rauchen, kam ihm wie
ein Verbrechen vor. Er verspürte auch nicht die geringste Lust.

Eben hatte es dreiviertel zwei geschlagen, und seine Nervosität
war gestiegen, daß er die Zähne zusammenbeißen und die Fingernägel
in das Fensterbrett einkratzen mußte. Herrgott, das ging ja über
Menschenkräfte. Das war ja wie eine Nacht vor dem Schafott. Schlimmer,
schlimmer. Da oben lag ein Mensch, den Tod vor Augen, und er stand
hier unten, tatenlos, wie ein Publikum. Er fühlte, wie auf seiner
Stirn große, kalte Tropfen standen. Und da draußen dieses schwelgende
Nachtigallenkonzert, als gäbe es jetzt auf der weiten Welt nichts
Dringenderes zu tun, als Liebeslieder zu singen ...

Ein Schritt! Ein ganz hastiger Schritt! — —?

So weit, als er es vermochte, beugte sich Springe aus dem Fenster, um
die Straße zu übersehen.

Da! Das Mondlicht schuf taghelle Beleuchtung. Eine Frau! Eine Frau im
Umschlagetuch ...! Heiliger Vater im Himmel, die Frau kam allein zurück!

Er stürzte nach der Haustür, er öffnete —

Es war Hannes.

Der Umschwung seiner Empfindungen war so stark, daß er sich einen
Atemzug lang gegen die Tür lehnen mußte — daß das Mädchen in jäher
Angst nach seinen Armen griff — daß sie Entsetzliches befürchtete —

»Nein, nein!« stieß er hervor. »Es kam nur — ich dachte — Frau Schmitz
käme allein. Ich sah nur das große Umschlagetuch. Wenn man in der Nacht
wartet, spielt die Phantasie Streiche. Mädel, Mädel, Gott Dank, daß du
da bist!«

Er drückte geräuschlos die Tür ins Schloß und führte das Mädchen
vorsichtig ins Zimmer.

»Du warst noch auf, als die Frau kam? Hat keiner etwas gehört?«

»Ich stand am Fenster, Onkel, und öffnete ihr, ohne daß sie zu läuten
brauchte. Als sie mir deine Bestellung ausgerichtet hatte, nahm ich
gleich ihr Umschlagetuch, ohne erst den Hut zu holen, bat die Frau, an
meiner Stelle dort zu bleiben, für den Fall, daß Großmutter zufällig
aufstehen und nach mir sehen sollte, und hastete hierher. Aber so
sprich doch um Gottes willen, was ist? Was ist mit Hans?«

Und in fliegender Eile berichtete er ihr die Vorgänge des Abends.

»Was ich auch vorbrachte, Hannes, alles war vergebens. Er war fertig
mit sich. Er hatte Abschluß gemacht. Das einzige, was ich in meiner
Todesangst erzielte, war der Aufschub bis zum Morgen. Und bis dahin ist
nicht mehr weit.«

Hannes stand blaß vor ihm, aber sie stand aufrecht. Die großen, tiefen
Augen weit geöffnet, ging ihr Blick an ihm vorbei.

»Nein, Onkel Springe, so spät ist es noch nicht.«

»Ich wußte mir keinen anderen Rat als dich.«

»Ich danke dir, Onkel Springe, Hat er von mir noch gesprochen?«

»Nein, Kind. Aber das beweist nichts. Viel eher ...«

»Onkel Springe,« sagte sie, bevor er vollenden konnte, »ich muß sofort
zu ihm.«

»Ich hatte das erwartet,« murmelte Springe, »aber es mußte von dir
ausgehen.«

»Willst du mich hinbringen? Wo ist er jetzt?«

»Ich habe ihn dazu bewogen, sich zur Ruhe zu legen. In seinem
Schlafzimmer.«

Aus den letzten Worten hörte sie die zögernde Frage heraus. Da sah sie
ihn ernst an.

»Wie kann mich das hindern! Komm, Onkel Springe. Und dann, nicht wahr,
dann läßt du mich allein.«

In Springes Brust stieg eine breite Atemwelle auf. Er antwortete nichts
als: »Ich wußte es ja, ich wußte es ja. In dir täuscht man sich nicht.«

Dann ging er ihr voran in das obere Stockwerk und öffnete leise die Tür
zu Hans’ Zimmer.

Hans Steinherr lag auf dem Ruhebett, ganz still, das Gesicht der Wand
zugekehrt.

»Bist du es, Heinrich?« fragte er und wendete ein wenig den Kopf.

Hannes hatte die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt. Jetzt, allein
mit ihm, schlug ihr das Herz so rasend, daß ihr schwindelte. Aber sie
bezwang sich mit aller Tapferkeit, trat rasch an ihn heran, beugte
sich über ihn, und bevor er einen Schrei der Überraschung auszustoßen
vermochte, hatte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund gepreßt, als
müßte es so sein — —.

»Hans, mein alter, lieber Hans! Nun sage mir, was dir fehlt.«

Hans Steinherr versuchte zu sprechen. Er rang nach Klarheit, nach
Bewußtsein. Mit entsetzten Augen starrte er die Erscheinung an, von
der er nicht wußte, wie sie zu dieser Stunde in dieses Zimmer kam. Und
sie strich mit ganz weicher Hand über diese wilden Augen und sagte nur
immer: »Mein alter, lieber Hans ...«

Noch einmal versuchte er, die Lippen zu bewegen. Aber es kam kein Ton.
Sie sah nur, wie seine Schultern schütterten, und sie hinderte ihn
nicht. Vielleicht, daß er weinte — —. Nur mit zärtlichen Fingern strich
sie über sein Haar und wiederholte von Zeit zu Zeit: »Alter, lieber
Hans! Glaubtest du denn wirklich, daß ich dich so gehen lassen würde?
Einfach gehen lassen?«

Dann wurde er allmählich stiller, und sie saß bei ihm und wartete
geduldig, bis er reden würde. Ihre weichen, warmen Hände, die jetzt auf
seiner Stirn lagen, zeigten ihm, daß sie wartete.

»Was nun?« stammelte er, »was denn nun? Das — das habt ihr ja glücklich
zu stande gebracht. Nun kann ich es doch nicht mehr tun — —«

»Wenn du es getan hättest, Hans, und ich hätte es erst morgen früh
erfahren, ich hätte dich doch nicht allein gelassen.«

Er sah sie verständnislos an. Seine Gedanken sprangen noch immer im
Zickzack durch seinen Kopf.

»Darauf bist du nicht selbst gekommen, Hans? Daß ich abgereist wäre,
um die lieben Menschen hier nicht so arg zu treffen, und dir an irgend
einem Winkel der Welt — nachgefolgt wäre?«

»Hannes, Hannes!« brachte er hervor, »wie kannst du das aussprechen — —«

»Wundert dich das? Das solltest du dir nicht gedacht haben, und wußtest
doch, daß ich dich liebte?«

»Nein, nein!« rief er. »Das habe ich ~nicht~ gewußt. Das wäre ja
Wahnsinn gewesen.«

»Was es ist,« sagte sie und lächelte vor sich hin, »das kann ich dir
nicht sagen. Denn ich weiß ja nur das eine: daß ich dich lieb habe; so
lieb, wie nur je im Leben; wie damals, als wir Kinder waren, und noch
viel lieber.«

»Quäl’ mich nicht! Quäl’ mich nicht so!«

Da nahm sie hastig seinen Kopf und drückte ihn gegen ihre Brust.
»Ruhig,« beschwichtigte sie mit ihrer tiefen, klingenden Stimme,
»ruhig, ganz ruhig. Es ist so, und nun hast du es mir zu glauben.«

Er regte sich nicht. Er lag wie im Arm einer Mutter. Wie unendlich wohl
das tat — —

Und nach einer Weile sagte sie: »Du darfst nur sprechen, wenn du
vernünftig bist.«

»Ich bin’s.«

»Nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.«

»Hannes, Hannes, du bist so lieb, so — so — und es ist doch alles
nutzlos.«

»Magst du mich so wenig leiden, Hans? Trotzdem ich mich dir aufdränge?«

»Du kannst scherzen,« sagte er tonlos. Aber als sie eine Bewegung
machte, drückte er den Kopf fester gegen ihre Brust und schlang scheu
den Arm um ihren Hals.

Sie hielt ganz still. Das war der Knabe — — der Knabe von ehemals.

»Hannes, es ist nichts aus mir geworden. Ich bin nichts und ich werde
nichts. Hingegen du — du hast alles erreicht. Das sind doch keine
Gleichheiten, die zueinander passen.«

»Dein Talent ist zehnmal größer und wichtiger als meins. «

»Mein Talent? Ich habe keins. Ich hab’s in der Fabrik draußen kläglich
erproben können.«

»Wer spricht denn von der Fabrik?«

»Von der Fabrik nicht?«

Er ließ sie los und schaute sie staunend an.

»Ja, wenn nicht von der Fabrik, von was denn in aller Welt?«

»Hältst du mich für so dumm, mein dummer Hans? Meinst du denn, ich
hätte deine Gedichte und deine kunsthistorischen Aufsätze nicht in den
Zeitschriften gelesen? Oder traust du mir so gar kein Verständnis zu?«

Er lachte laut auf. »Meine Gedichte! Meine Aufsätze! Ein nettes, wirres
Zeug — —«

»O ja,« sagte sie, ohne die Ironie zu beachten, »ein bißchen wild ging
es ja manchmal darin zu. Aber das lag nicht an deinem Kunstvermögen,
das lag an dir armem, liebem Kerl selbst. Dir fehlte die Sammlung. Man
muß ein Ziel haben, um unbeirrt marschieren zu können.«

Und als sie sah, daß wieder der sarkastische Zug um seinen Mund
auftauchen wollte, fügte sie mit ganz leiser, ganz durchsichtiger
Schelmerei hinzu: »Wie kann man Sammlung haben, wenn man nicht einmal
eine Frau hat!«

»Hannes!« rief er, von dem alten Heimatston gepackt, »Hannes!«

»Aha, das siehst du ein. Das ist der erste Schritt zur Besserung. Und
da ich nun doch einmal dabei bin, mich dir auf die schönste Weise
anzutragen, so merk dir noch, daß ich schon ganz tüchtig verdiene, und
daß du, als der Mann, mich unbedingt überholen mußt.«

Da lachte er nur auf.

Aber nun gab sie nicht mehr nach und kniete an seiner Seite, als wollte
sie sich ganz klein machen.

»Hans, Hans, heraus mit dem Ehrgeiz! Ich habe allezeit zu dir
aufgeschaut! Du bist ja so reich an Wissen und Können, daß du deine
Schätze gar nicht einmal überblicken kannst, wenn du erst anfängst, mit
deinem Pfund zu wuchern! Und höre einmal: Ich hab’ eine große Furcht.
Eine gewaltige Furcht wegen meines großen Einkommens. Wahrhaftig, Hans.
Ich fürchte — ich fürchte — ach, Hans, ich werde einmal entsetzlich
faul werden. Und wenn du mich lieb hast, wirst du dir das selber
zuzuschreiben haben.«

Und wieder hatte der frische Heimatston des rheinischen Mädchens
gesiegt.

»Hannes, das geb’ ich nicht zu. Auf keinen Fall! Die Kunst ist etwas
Heiliges, der wird man nicht untreu.«

»So geh mir mit gutem Beispiel voran!«

»Nein, du mir!«

»Ich habe zuerst drum gebeten. Sei nicht geizig!«

»Aber ich weiß ja nicht einmal, wie und wo ich es anfassen soll.«

»Hans, das sagt ein Düsseldorfer? Hier, deine, unsere Vaterstadt
wartet. Hier ist Terrain. Hier werden Männer benötigt, die für die alte
und jung aufblühende Düsseldorfer Kunst eine Klinge zu schlagen wissen.
Gegen den Zopf bei uns selber und gegen die Hämlinge da draußen! Wie?
Hab’ ich das nicht schön gesagt? Hans, hier gibt’s Arbeit. Und wenn
du mit ihr noch nicht auskommst, widme dich dem öffentlichen Leben.
Ach, Hans, und wenn dich der Ehrgeiz plagt, kannst du noch einmal
beigeordneter Bürgermeister für das Kunstdepartement der guten Stadt
Düsseldorf werden. Hans, sind das nicht Aussichten?«

Und sie lachte ihr klingendes, glückseliges Lachen, das ansteckend auf
den staunenden Horcher wirkte, der mit leuchtenden Augen jedem ihrer
Worte gefolgt war.

»Hans, gib acht, wenn die Sammlung kommt! Wenn du erst deine Kräfte in
Kopf, Herz und Faust zusammen hast! Wie dann der Dichter sich melden
wird, der die Stimmen in sich und um sich her sammelt. O, ich bin ja
so froh, daß du kein Wunderkind geworden bist, kein Überflieger ohne
Wurzelland. Ein Baum muß wachsen in Sturm und Wetter.«

Sie hatte den Kopf an den seinen geschmiegt, und plötzlich begann sie
leise eine Verszeile aus »Ännchen von Tharau« zu singen.

    »Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
    Hat ihn erst Regen und Sturmwind gebeugt — —«

Da konnte er sich nicht mehr enthalten. Da schlang er die Arme um sie
und küßte sie auf die Lippen, auf die Augen, auf das schimmernde,
rotblonde Haar. Als ein Gesunder! Als ein Mensch, der nach dem Leben
verlangt, nach dem fröhlichen Kampf und dem segenschweren Sieg.

»Hannes, alter, kleiner Hannes! Liebste, ach du Aller-Allerliebste!
Jetzt lass’ ich dich nicht mehr los.«

»Ich hab’ dich nie losgelassen, Hans.« — —

Sie hörten ihre Herzen schlagen. Das war ein Gleichklang.

Und mit einem Male, in der neuen Gesundheit seines Empfindens, wurde
sich Hans Steinherr der Situation bewußt.

»Mädel, Mädel, wo bist du denn hingeraten? Das ist ja mein Schlafzimmer
— —«

»Herr Gott!« schrie sie auf und wich bis an die Wand zurück.

»Hans,« sagte sie dumpf, aber in ihrer Stimme vibrierte der Schalk und
das Glück, »du hast mich fürchterlich kompromittiert.«

»Aber du warst ja als Krankenschwester bei mir.«

»Der Kranke ist kerngesund. Ich hab’ die Beweise. Kannst du das
leugnen?«

»Nein, ich kann es ~nicht~ leugnen.«

»Du hast mich also kompromittiert, und du wirst wissen, was ein
Ehrenmann zu tun hat.«

»Hannes!« flehte er.

»Ja oder nein?«

»Wenn es denn nicht anders ist —: Ja!«

»O, bitte: das genügt mir nicht. Deutlicher, klarer, Herr Doktor
Steinherr!«

»Hannes, ich seh’ es ein, ich muß dich heiraten.«

Da flog sie wie der Wind heran und umhalste ihn wie ein glückliches
Kind. »Hans, mein alter, lieber Hans!«

»O du alter, kleiner Hannes!«

»Weißt du, wir könnten die beiden Namen in einen fassen.«

»Wir sind ja eins und sind es immer gewesen.«

Und sie plauderten und schwatzten wie die Kinder von den Erinnerungen,
und das dritte Wort war: »Weißt du noch?«

»Weißt du noch,« fragte Hannes, »als wir im Regen durch den Hofgarten
liefen und ich es nicht wollte, daß du mir auf die Füße sahst, wenn ich
über die Pfützen springen mußte, und du dann riefst: Ach, in ein paar
Jahren bist du ja doch meine Frau?! Und heute bin ich zu dir gekommen,
weil ich es mußte, und weißt du, was ~ich~ jetzt rufe?: Ach, in ein
paar Wochen bist du ja doch mein Mann! Kuß! So, und jetzt müssen wir zu
Onkel Springe.«

Aber sie hielt ihn noch einmal an der Tür zurück. Mit einem lieben,
ernsten Zug im Gesicht.

»Hans, du darfst mich nicht falsch verstehen. Meine Liebe soll dir nie
eine Last sein, sie soll dir — meine Liebe sein. Du hast als Künstler
die Welt nötig. Du ~mußt~ sogar die Welt nötig haben, wenn du immer ein
Wahrheitsschilderer bleiben willst. Und du wirst überall die Schönheit
suchen, und manch eine Frau wirst du schön und interessant finden.
Hans, ich werde nie eifersüchtig sein. Meine Liebe steht so felsenfest,
daß ich weiß: ich werde der Hafen sein, zu dem er nach jeder Ausfahrt
freudig und mit überlegenem Lächeln zurückkehrt. Das, Hans, das war’s,
was ich dir noch sagen wollte.«

Er hielt ihre Hände fest und war keines Wortes mächtig.

Dann gingen sie, Hand in Hand. Sein Schritt war fest und schnell. Ein
aufrechtes Mannestum war in ihm und eine Heiterkeit, die nach frischer
Lebenstat Ausschau hält, den Dank für das Leben zu bekunden. — —

Heinrich von Springe war, nachdem er Hannes in Hans Steinherrs
Zimmer hatte eintreten lassen, sofort umgekehrt. Zuerst hatte er
seine Wanderung durch das Parterrezimmer wieder aufgenommen, dann
war er lange auf einem Fleck stehen geblieben, um seiner Erregung
Herr zu werden, und die abenteuerlichsten Pläne waren ihm durch den
Kopf gegangen, für den Fall, daß das Mädchen unverrichteter Sache
zurückkehren würde. Als aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich,
ohne daß das Mädchen wieder aufgetaucht wäre, löste sich die lastende
Spannung in ein verblüfftes Staunen, und das Staunen endlich in ein
breites Behagen — —.

Es schlug drei Uhr. Da tastete er wieder einmal nach seiner Rocktasche,
und diesmal brachte er schmunzelnd sein Etui hervor und zündete sich
mit der Miene eines Mannes, der einen Genuß zu würdigen versteht, eine
große Zigarre an.

Dann legte er sich in das offene Fenster, so bequem es ihm möglich
schien, und beobachtete den heraufziehenden Frühlingsmorgen.

Noch immer schlug im fernen Garten eine Nachtigall, und ihr lockender
Ruf ließ eine zweite antworten. Aber Dialog und Duett irritierten ihn
nicht mehr. Ja, wenn ihm eine Pause in musikalischer Beziehung zu lang
ausgesponnen vorkam, nahm er seine Zigarre aus dem Mund und ahmte leise
den Lockruf nach.

»Tü — — Türülü — — —«

Und er freute sich kindisch, wenn die kleinen unsichtbaren
Gesangskünstler prompt einsetzten.

Jetzt war er so in sein Tun vertieft, daß er das Uhrenschlagen
überhaupt überhörte. Nur einen Schritt überhörte er nicht. Der klang
ihm denn doch zu bekannt. So ging nur Frau Margot.

Sie war schon dicht vor dem Hause, da lehnte er sich, die Zigarre
zwischen den Lippen, weit aus dem Fenster, damit sie ihn erkennen
sollte, und rief so gemütlich und fröhlich, als ob es sich um eine
Absprache handelte: »Guten Morgen! Guten Morgen, du allerschönste Frau!
Hast du dich auch herbemüht?«

Frau Margot war sprachlos. Sie hatte den Weg in der treibenden Angst
der Ungewißheit zurückgelegt, von allen erdenkbaren Schreckensbildern
erfüllt, und nun rekelte sich ihr geliebter Mann zigarrenrauchend im
Fenster und machte Naturstudien!

»Aber Heinz — — aber Heinz!«

»Willst du zum Fenster einsteigen, oder soll ich dich feierlich an der
Tür des Hauses empfangen?«

»Sei nicht so unvernünftig fidel. Ich bin ja ganz hin.«

»Das, Liebste, kommt davon, wenn man nicht seine unvernünftige
Fidelität beibehält.«

»Heinz, so öffne doch!«

»Aber nicht prügeln, hörst du? Ich habe nichts verbrochen!«

Sie schüttelte lachend den Kopf über den Unverbesserlichen.

Nun war sie bei ihm im Zimmer und bestürmte ihn um Auskunft.

»Erst beichten, wer dich mir auf die Spur gebracht hat. Es muß alles
seine Ordnung haben.«

»Ach Gott, Heinz, ich wachte auf und fand deinen Platz immer noch leer.
Das ängstigte mich, und ich nahm meinen Morgenrock über, um zu sehen,
ob bei den Toggenburgers noch Licht sei. Du und Hannes, ihr hattet ja
den ganzen Tag über Heimlichkeiten gehabt. Und als ich wirklich noch
Lichtschein entdeckte, klopfte ich leise an. Du kannst dir meinen
Schreck vorstellen, als die Wirtschafterin von Hans mir öffnete.«

»Das ist die Strafe, wenn die Frau nicht vertrauensvoll den Mann
erwarten kann,« sagte Heinrich Springe.

»Spotte du noch! Mir war alle Lustigkeit vergangen. Und als mir Frau
Schmitz gar mitteilte, daß sie das Fräulein hätte holen müssen, weil
der Herr Doktor daheim wohl erkrankt sei, da war ich im Handumdrehen
angekleidet und, und — da bin ich.«

»Und nun beruhigt, Liebste?«

»Beruhigt —? Aber ich bin ja noch so klug wie zuvor.«

»Ach so,« stimmte Springe bei. »Ja — viel klüger bin ich auch nicht.«

»Aber so sag doch endlich, ob Hans wirklich krank ist!«

»Krank? I wo! Der wird sich in diesem Augenblick wohl so urgemütlich
befinden wie noch nie in seinem Leben. Ich nehme das wenigstens an.«

»Heinz, sei ernsthaft! Was ist hier vorgegangen? Weshalb hast
du Hannes in der Nacht herholen lassen? Du mußtest doch sehr
schwerwiegende Gründe haben.«

»Ja, Margot, die hatte ich. Du siehst, ich bin jetzt ganz ernst. Hans
wollte in dieser Nacht ohne Abschied von dannen. Er wollte wieder
reisen, ins Ungewisse. Vielleicht wäre er nie wieder gekommen. Ich
erfuhr davon, ich habe lang’ auf ihn eingeredet, bei uns zu bleiben,
gesund und froh zu werden. Es half nichts. Da dachte ich: Hier kann
nur eine helfen. Wenn die Namen der Mutter und des Freundes versagen,
bleibt als letztes der Name der Geliebten. Und so griff ich denn zu der
stärksten Beschwörung und ließ Hannes holen.«

»Sie muß ihn sehr lieb haben,« sagte Frau Margot leise und drückte die
Hand des Gatten.

»Und er sie nicht minder,« entgegnete Heinrich Springe, »denn er
scheint sie jetzt überhaupt nicht mehr hergeben zu wollen. Diese
Egoisten haben meine Existenz total vergessen.«

»Wo sind sie denn? Ich möchte sie sehen.«

»Oben. In seinem Schlafzimmer.«

»In seinem — —?«

»Aber Liebste, mach doch nicht so liebe, dumme Augen. Sie sind in der
Tat oben. Der Junge hatte sich zur Ruhe gelegt, um nicht gestört zu
werden, und in der Frühe wollte er heimlich davon. Da ist das tapfere
Mädel schnurstracks hinaufgegangen, um ihn zu zwingen, sie anzuhören.
Nicht nur für sich, für uns alle. Spürst du denn nicht, wie kleinlich
und nichts-bedeutend in der Stunde der Gefahr alle sogenannten
Anstandsregeln werden? Zimperlichkeit ist nicht rheinische Art.«

Frau Margot schmiegte sich an seinen Arm und lachte zu ihm auf.

»Du, du? Ist das nicht unschicklich?«

»Unschicklich ist es,« sagte Heinrich Springe mit einem tiefen Atemzug,
»aber es ist auch verdammt schön! Und siehst du,« fuhr er fort und
legte den Arm um ihren Leib, »weil die Schönheit gar so selten ist, so
soll man sie, wenn sie uns grüßt, halten und fassen, wie und wo man
kann. Und nie, nie im Leben soll man sie ungeküßt von dannen lassen.«

Am offenen Fenster zog er ihren Kopf zu sich heran, und sie wehrte
nicht, und sie küßten sich.

»Das ist aller Weisheit Schluß, du liebe Frau.« —

Die Tür öffnete sich. Da waren die Kinder.

Und wortlos eilten die beiden Frauen aufeinander zu und umarmten sich.
Eine jede den Kuß des Liebsten auf den Lippen.

»Mutter —« sagte endlich Hannes.

Frau Margot aber nahm beider Hände in die ihren — — —

Heinrich Springe hatte sich abgewendet. Unmännliche Rührung mißbilligte
er an der eigenen Person.

Dann standen sie alle am Fenster und atmeten tief in der Frühlingsluft.

»Wie weiß die Gärten in Blüte stehen,« sagte Hannes. »Das kommt, ohne
Fragen und Zaudern, weil es seine Bestimmung ist.«

»Das ist eine bräutliche Nacht,« nickte Frau Margot. »Duft und Licht
und Klang vermählen sich in eins.«

Heinrich Springe stand zwischen den beiden Frauen. Er wußte keine
Sentenz. Aber er drückte sie beide an sich und sagte, lachenden,
leuchtenden Auges in den aufsteigenden Morgen hinausschauend:

»Kinder, Kinder, es ist doch etwas Eigenes um den Frühling am
Niederrhein.« — — —

[Illustration]




J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger G. m. b. H.

Stuttgart und Berlin

Die nachstehend verzeichneten Romane und Novellen sind auch
in Leinwand gebunden zu beziehen

Preis für den Einband 1 Mark

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  ~Gleichen-Rußwurm~, A. Freiherr v., Vergeltung                 M. 3.50

  ~Grimm~, Herman, Unüberwindliche Mächte. 2 Bde.
             3. Auflage                                          M. 8.—

  ~Haushofer~, Max, Planetenfeuer. Ein Zukunftsroman             M. 3.50

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  —"— Joggeli. Die Geschichte einer Jugend. 6. Aufl.             M. 3.50

  ~Heilborn~, Ernst, Kleefeld                                    M. 2.—

  ~Herzog~, Rudolf, Die vom Niederrhein                          M. 4.—

  ~Heyse~, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage                       M. 3.50

  —"— Marthas Briefe an Maria. 2. Auflage                        M. 1.—

  —"— Meraner Novellen. 10. Auflage                              M. 3.50

  —"— Novellen vom Gardasee. 3. Auflage                          M. 4.50

  —"— Kinder der Welt. 2 Bände. 21. Auflage                      M. 7.20

  —"— Unvergeßbare Worte und andere Novellen.
             5. Auflage                                          M. 3.60

  —"— Im Paradiese. 2 Bände. 13. Auflage                         M. 7.20

  —"— Der Roman der Stiftsdame. 12. Auflage                      M. 3.60

  —"— Moralische Unmöglichkeiten u. and. Geschichten             M. 4.50

  ~Hillern~, Wilhelmine v., ’s Reis am Weg. 3. Aufl.             M. 1.50

  —"— Ein alter Streit. 3. Auflage                               M. 3.—

  —"— Der Gewaltigste. 3. Auflage                                M. 3.50

  —"— Ein Sklave der Freiheit. Roman. 3. Auflage                 M. 5.—

  ~Höcker~, Paul Oskar, Väterchen                                M. 3.—

  ~Hopfen~, H., Der letzte Hieb. Eine Studentengeschichte.
             4. Auflage                                          M. 2.50

  ~Huch~, Ricarda, Erinnerungen von Ludolf Ursleu
             dem Jüngeren. 4. Auflage                            M. 4.—

  ~Junghans~, Sophie, Schwertlilie. 2. Auflage                   M. 4.—

  ~Kaiser~, J., Wenn die Sonne untergeht. Novellen.
             2. Auflage                                          M. 2.50

  ~Kirchbach~, Wolfgang, Miniaturen. Fünf Novellen               M. 4.—

  ~Langmann~, Philipp, Verflogene Rufe. Novellen                 M. 2.50

  ~Lindau~, Paul, Der Zug nach dem Westen. 10. Aufl.             M. 4.—

  ~Lindau~, Paul, Arme Mädchen. 8. Auflage                       M. 4.—

  —"— Spitzen. 7. Auflage                                        M. 4.—

  ~Loti~, Pierre, Japanische Herbsteindrücke                     M. 3.—

  ~Mauthner~, Fritz, Hypatia. 2. Auflage                         M. 3.50

  ~Meyer-Förster~, Wilhelm, Eldena. 2. Auflage                   M. 3.—

  ~Meyerhof-Hildeck~, Leonie, Töchter der Zeit
             Münchner Roman                                      M. 3.—

  ~Muellenbach~, E. (E. Lenbach), Abseits. Erzählungen           M. 3.—

  —"— Vom heißen Stein                                           M. 3.—

  —"— Aphrodite und andere Novellen                              M. 3.—

  ~Petri~, Julius, Pater peccavi!                                M. 3.—

  ~Prel~, Karl du, Das Kreuz am Ferner. 2. Auflage               M. 5.—

  ~Proelß~, Johannes, Bilderstürmer! 2. Auflage                  M. 4.—

  ~Riehl~, W. H., Aus der Ecke. Sieben Novellen. 4. Aufl.        M. 4.—

  —"— Neues Novellenbuch. 3. Auflage. (6. Abdruck)               M. 4.—

  —"— Am Feierabend. Sechs neue Novellen. 4. Aufl.               M. 4.—

  —"— Kulturgeschichtliche Novellen. 5. Auflage                  M. 4.—

  ~Saitschick~, Robert, Aus der Tiefe. Ein Lebensbuch            M. 2.—

  ~Schunsui~, Tamenaga, Treu bis in den Tod
             Historischer Roman                                  M. 3.—

  ~Seidel~, Heinrich, Leberecht Hühnchen. Gesamtausgabe
             2. Auflage (11.–15. Tausend)                        M. 4.—

  —"— Vorstadtgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe            M. 4.—

  —"—   "       "          Zweite Reihe                          M. 4.—

  —"— Heimatgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe              M. 4.—

  —"—   "       "          Zweite Reihe                          M. 4.—

  —"— Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben
             Gesamtausgabe                                       M. 4.—

  —"— Phantasiestücke. Gesamtausgabe                             M. 4.—

  ~Skowronnek~, Richard, Der Bruchhof. 2. Aufl.                  M. 3.—

  ~Stegemann~, Hermann, Stille Wasser                            M. 3.—

  —"— Der Gebieter                                               M. 2.50

  ~Stratz~, Rudolph, Der weiße Tod. 8. Auflage                   M. 3.—

  —"— Buch der Liebe. Sechs Novellen. 2. Auflage                 M. 2.50

  —"— Der arme Konrad. 3. Auflage                                M. 3.—

  —"— Die letzte Wahl. 3. Auflage                                M. 3.50

  —"— Montblanc. 5. Auflage                                      M. 3.—

  —"— Die ewige Burg. 4. Auflage                                 M. 3.—

  —"— Die thörichte Jungfrau. 5. Auflage                         M. 3.50

  ~Stratz~, Rudolph, Alt-Heidelberg, du Feine ... 6. Aufl.       M. 3.50

  —"— Es war ein Traum. Berliner Novellen. 4. Aufl.              M. 3.50

  ~Sudermann~, Herm., Frau Sorge. 71. Auflage                    M. 3.50

  —"— Geschwister. Zwei Novellen. 26. Auflage                    M. 3.50

  —"— Der Katzensteg. 54. Auflage                                M. 3.50

  —"— Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 29. Auflage           M. 2.—

  —"— Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 26. Auflage                 M. 2.—

  —"— Es war. 35. Auflage                                        M. 5.—

  ~Telmann~, Konrad, Trinacria. Sizilische Geschichten           M. 4.—

  ~Voß~, Richard, Römische Dorfgeschichten. 4. Auflage           M. 3.—

  ~Wereschagin~, W. W., Der Kriegskorrespondent                  M. 2.—

  ~Widmann~, J. V., Touristennovellen                            M. 4.—

  ~Wilbrandt~, Adolf, Fridolins heimliche Ehe. 3. Aufl.          M. 2.50

  —"— Meister Amor. 3. Auflage                                   M. 3.50

  —"— Novellen aus der Heimat. 2. Auflage                        M. 3.50

  —"— Hermann Ifinger. 6. Auflage                                M. 4.—

  —"— Der Dornenweg. 4. Auflage                                  M. 3.50

  —"— Die Osterinsel. 4. Auflage                                 M. 4.—

  —"— Die Rothenburger. 6. Auflage                               M. 3.—

  —"— Vater und Sohn und andere Geschichten. 2. Aufl.            M. 3.—

  —"— Hildegard Mahlmann. 3. Auflage                             M. 3.50

  —"— Schleichendes Gift. 3. Auflage                             M. 3.—

  —"— Die glückliche Frau. 4. Auflage                            M. 3.—

  —"— Vater Robinson. 3. Auflage                                 M. 3.—

  —"— Der Sänger. 4. Auflage                                     M. 4.—

  —"— Erika. Das Kind. Erzählungen. 3. Auflage                   M. 3.50

  —"— Feuerblumen. 3. Auflage                                    M. 3.—

  —"— Franz. 3. Auflage                                          M. 3.50

  —"— Das lebende Bild u. andere Geschichten. 3. Aufl.           M. 3.—

  —"— Ein Mecklenburger. 3. Auflage                              M. 3.—

  —"— Villa Maria. 3. Auflage                                    M. 3.—

  —"— Familie Roland                                             M. 3.—

  ~Wildenbruch~, E. v., Schwester-Seele. 12. Auflage             M. 4.—

  ~Worms~, Karl, Du bist mein. Zeitroman                         M. 4.—

  —"— Thoms friert                                               M. 4.—

  —"— Die Stillen im Lande. Drei Erzählungen                     M. 3.—

  —"— Erdkinder                                                  M. 3.50




_Gedichte_

von

_Rudolf Herzog_

Geheftet 2 Mark 50 Pf. In Leinenband 3 Mark 50 Pf.


... Die Kunst Herzogs ist eine Kunst großen Stils und kennzeichnet sich
durch große Vornehmheit. Sie ist vornehm, ohne exklusiv zu sein, von
gedanklicher, sprachlicher und architektonischer Schönheit, ohne dunkel
oder stilisiert zu wirken; eine Kunst, die von einer tiefen Auffassung
des Schaffensmysteriums erfüllt ist, eine Innenkunst, die in die Gründe
und Abgründe der Seele steigt, um geheimes Gold an den Tag zu fördern
...

_Literarisches Centralblatt, Leipzig_

... Wie Frühlingsbrausen weht es dem Leser aus der Gedichtsammlung
entgegen. Da spricht eine ganz eigene Persönlichkeit, die vor
allen Dingen durch Frische und unzerstörbaren Lebensmut köstlich
anziehend erscheint. Wie gesund das wirkt nach all den schwülen müden
Schöpfungen, die wir in den letzten zehn Jahren an uns vorübergehen
sahen ...

_Lübecker Nachrichten_

Rudolf Herzog hat sich bisher durch Dramen und Romane eine geachtete
Stellung in der modernen Literatur erworben. Nun hat er uns als die
Frucht vieler Jahre einen Gedichtband geschenkt, in welchem sich
dieselbe starke und gesunde Persönlichkeit, die seinen Romanen ein
subjektives und individuelles Gepräge verlieh, offenbart ... Wenn auch
das Buch voll stark und stürmisch empfundener Poesien ist, so ist es
doch nicht das Werk eines Jünglings ... Es ist das Buch einer Liebe und
ihres Wachsens und ihrer Erfüllung. Und so führt er uns von tiefstem,
herzzerwühlendem Schmerz zu höchster Freude, zum vollen Menschenglücke.
So feiert er den großen Rausch der Liebe und verherrlicht die Stunden
tiefverschwiegenen Liebesglückes, den stillen Frieden des Herdes ...

_Nationalzeitung, Berlin_

=H. M.= Seinen großen Romanen »Der Graf von Gleichen« und »Die vom
Niederrhein« sendet Rudolf Herzog jetzt die Sammlung seiner »Gedichte«
nach. Sie sind es vielleicht, die den Aufgang und die Entwickelung
seines Talentes am lebendigsten zeigen, die das vollste, klarste und
reichste Bild seiner dichterischen Natur geben. Sein ganzes Temperament
sprüht und leuchtet in ihnen, und das Temperament ist zugleich gebildet
und geadelt in künstlerischer Selbstzucht. Was der Most verhieß, ist
er geworden: ein reiner feuriger Wein von feinstem Duft und edelstem
Gehalt. Nennt man die besten Dichter im Lande, wird jetzt auch sein
Name genannt ...

_Barmer Zeitung_

Herzogs »Gedichte« atmen dieselbe Lebensfreudigkeit, den gleichen
kecken Übermut und die nämliche Gefühlswärme, die uns seine Romane
so wert machen. Seine Verse klingen, und aus ihnen tönt es von
Kämpfertrotz und heißer Liebe, von lenzeslinden Lüften und wildem
Sturmeswehen: ein echter Mann und Dichter spricht zu uns, dem die Leyer
zum Schwert wird, wo es gilt, pedantische Moralphilosophen zu befehden.

_Berliner Börsen-Courier_

... Herzogs Muse ist kein blasses, schwindsüchtiges Wesen, das uns
mit den Äußerungen eines krankhaften Zustandes quälen möchte: helle,
fröhliche Augen blicken uns aus diesen Gedichten entgegen, und wir
hören aus ihnen das Lachen und den Spott, zuweilen aber auch den Zorn
und den Schmerz eines gesunden, lebensfrohen Menschen heraus ... Es
ist frische Kraft in den Versen Herzogs, die wir herzlich begrüßen.
_Berliner Lokal-Anzeiger_

[Illustration]




_Der Graf von Gleichen_

Moderner Roman aus der Berliner Gesellschaft

von

_Rudolf Herzog_

Geheftet 4 Mark. In Leinenband 5 Mark

[Illustration]

Dieses neueste Werk des jungen, vielversprechenden Verfassers ist ein
gutes Buch voll ernsten Wollens und tüchtigen Könnens. Die Schilderung
der Charaktere bis in die feinsten Seelenschwingungen, bis in die
geheimsten Herzensregungen ist dem Verfasser überraschend gut gelungen.
Ich habe diese Menschen lieb gewonnen in ihrer gesunden, bewußten,
tatfrohen Eigenart. Die gesunde Sprache, die furchtlose Tendenz des
Buches deckt manchen veralteten Schaden der heutigen Gesellschaft auf.

_Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin_

Unsere Literatur ist nicht reich an Büchern, die mit so ehrlicher
Schlichtheit, so ohne jedes Posieren, ohne alle Effekthascherei
geschrieben sind, wie der Roman Herzogs.

_Hamburger Fremdenblatt_

Rudolf Herzog hat sich in verhaltnismäßig kurzer Zeit einen
achtungsvollen Namen unter den deutschen Romanciers erworben. Die
Erhebung des Imposanten und Kraftvollen zum Träger der Geschicke gibt
sein neuester Roman »Der Graf von Gleichen«. Der Stil des Romans ist
außerordentlich elegant und fesselnd. Er wird sich einen Platz in
unsrer neueren Literatur erringen.

_Die Post, Berlin_

Das Buch ist außerordentlich gut geschrieben, flüssig, mit Kraft und
liebevoller Verve, es pulsiert in ihm ein leidenschaftlicher, tiefer
Ton, es ist die Bekenntnisschrift zweier starker, vornehmer Seelen,
die sich finden, weil es für sie kein Hindernis gibt. Das Buch will
gelesen und — empfunden werden, und wird seinen Weg machen, da es ein
so ernstliches Interesse erregt, daß es auch zum zweiten und dritten
Male gelesen werden kann, was man heuer nicht von allen Romanen sagen
darf.

_Münchener Neueste Nachrichten_

Das Buch nimmt gefangen, so stark, so persönlich ist es. Aber es ist
eine Gefangenschaft zur Freiheit, es entbindet zum freien starken
Menschentum, das sich dem Zwang der Konvention entwindet, weil es sich
selbst das Gesetz des Lebens geworden. Es ist Nietzsches hohe Moral,
in einer dichterischen Gestalt von gesättigter Kraft verkörpert mit
hinreißender Anschaulichkeit! Das willkommene Seitenstück zu Wilbrandts
fein und vorsichtig abgestimmter »Osterinsel«, die den Himmelsstürmer
mit der milden Weisheit des überlegenen Alters ad absurdum führt.

_Berliner Tageblatt_

Dieser neue Roman des geschätzten Berliner Erzählers nimmt eine
eigenartige Stellung in unserer modernen realistischen Epik ein.
Der Verfasser beherrscht spielend die naturalistische Technik, die
Milieuentwicklung, die impressionistische Aufnahme der Stimmung. Aber
vor allem ist Herzog ein Selbständiger und Eigener. Das Buch sei allen,
die an der Entwicklung unsrer modernen Literatur teilnehmen, bestens
empfohlen.

_Bohemia, Prag_

[Illustration]





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE VOM NIEDERRHEIN ***


    

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

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the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
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