Jakob von Gunten: Ein Tagebuch

By Robert Walser

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Title: Jakob von Gunten
       Ein Tagebuch

Author: Robert Walser

Release Date: January 5, 2008 [EBook #24176]

Language: German


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                           Jakob von Gunten


                             Ein Tagebuch

                                  von

                             Robert Walser




                         Bruno Cassirer Berlin

                                 1909




Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom
Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, d. h., wir werden alle
etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein. Der
Unterricht, den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld
und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften, die wenig oder gar keinen
Erfolg versprechen. Innere Erfolge, ja. Doch was hat man von solchen?
Geben einem innere Errungenschaften zu essen? Ich möchte gern reich
sein, in Droschken fahren und Gelder verschwenden. Ich habe mit Kraus,
meinem Schulkameraden, darüber gesprochen, doch er hat nur verächtlich
die Achsel gezuckt und mich nicht eines einzigen Wortes gewürdigt. Kraus
besitzt Grundsätze, er sitzt fest im Sattel, er reitet auf der
Zufriedenheit, und das ist ein Gaul, den Personen, die galoppieren
wollen, nicht besteigen mögen. Seit ich hier im Institut Benjamenta bin,
habe ich es bereits fertiggebracht, mir zum Rätsel zu werden. Auch mich
hat eine ganz merkwürdige, vorher nie gekannte Zufriedenheit
angesteckt. Ich gehorche leidlich gut, nicht so gut wie Kraus, der es
meisterlich versteht, den Befehlen Hals über Kopf dienstfertig
entgegenzustürzen. In einem Punkt gleichen wir Schüler, Kraus, Schacht,
Schilinski, Fuchs, der lange Peter, ich usw., uns alle, nämlich in der
vollkommenen Armut und Abhängigkeit. Klein sind wir, klein bis hinunter
zur Nichtswürdigkeit. Wer eine Mark Taschengeld hat, wird als ein
bevorzugter Prinz angesehen. Wer, wie ich, Zigaretten raucht, der erregt
ob der Verschwendung, die er treibt, Besorgnis. Wir tragen Uniformen.
Nun, dieses Uniformtragen erniedrigt und erhebt uns gleichzeitig. Wir
sehen wie unfreie Leute aus, und das ist möglicherweise eine Schmach,
aber wir sehen auch hübsch darin aus, und das entfernt uns von der
tiefen Schande derjenigen Menschen, die in höchsteigenen aber
zerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen. Mir z. B. ist das
Tragen der Uniform sehr angenehm, weil ich nie recht wußte, was ich
anziehen sollte. Aber auch in dieser Beziehung bin ich mir vorläufig
noch ein Rätsel. Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in
mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es
nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende,
kugelrunde Null im späteren Leben sein. Ich werde als alter Mann junge,
selbstbewußte, schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen, oder ich
werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen.

Wir Eleven oder Zöglinge haben eigentlich sehr wenig zu tun, man gibt
uns fast gar keine Aufgaben. Wir lernen die Vorschriften, die hier
herrschen, auswendig. Oder wir lesen in dem Buch »Was bezweckt
Benjamenta's Knabenschule?« Kraus studiert außerdem noch Französisch,
ganz für sich, denn fremde Sprachen oder irgend etwas derartiges gibt es
gar nicht auf unserem Stundenplan. Es gibt nur eine einzige Stunde, und
die wiederholt sich immer. »Wie hat sich der Knabe zu benehmen?« Um
diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht.
Kenntnisse werden uns keine beigebracht. Es fehlt eben, wie ich schon
sagte, an Lehrkräften, d. h. die Herren Erzieher und Lehrer schlafen,
oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert,
gleichviel, jedenfalls hat man gar nichts von ihnen. An Stelle der
Lehrer, die aus irgendwelchen sonderbaren Gründen totähnlich daliegen
und schlummern, unterrichtet und beherrscht uns eine junge Dame, die
Schwester des Herrn Institutvorstehers, Fräulein Lisa Benjamenta. Sie
kommt mit einem kleinen weißen Stab in der Hand in die Schulstube und
Schulstunde. Wir stehen alle von den Plätzen auf, wenn sie erscheint.
Hat die Lehrerin Platz genommen, so dürfen auch wir uns setzen. Sie
klopft mit dem Stab dreimal kurz und gebieterisch hintereinander auf die
Tischkante, und der Unterricht beginnt. Welch ein Unterricht! Doch ich
würde lügen, wenn ich ihn kurios fände. Nein, ich finde das, was
Fräulein Benjamenta uns lehrt, beherzigenswert. Es ist wenig, und wir
wiederholen immer, aber vielleicht steckt ein Geheimnis hinter all
diesen Nichtigkeiten und Lächerlichkeiten. Lächerlich? Uns Knaben vom
Institut Benjamenta ist niemals lächerlich zumut. Unsere Gesichter und
unsere Manieren sind sehr ernsthaft. Sogar Schilinski, der doch noch ein
vollkommenes Kind ist, lacht sehr selten. Kraus lacht nie, oder wenn es
ihn hinreißt, dann nur ganz kurz, und dann ist er zornig, daß er sich zu
einem so vorschriftswidrigen Ton hat hinreißen lassen. Im allgemeinen
mögen wir Schüler nicht lachen, d. h. wir können eben kaum noch. Die
dazu erforderliche Lustigkeit und Lässigkeit fehlt uns. Irre ich mich?
Weiß Gott, manchmal will mir mein ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein
unverständlicher Traum vorkommen.

Der jüngste und kleinste unter uns Zöglingen ist Heinrich. Man ist
diesem jungen Menschen gegenüber unwillkürlich zärtlich gesinnt, ohne
dabei etwas zu denken. Er steht vor den Schaufenstern der Kaufleute
still, innig in den Anblick der Waren und Leckerbissen versunken. Dann
tritt er gewöhnlich ein und kauft sich etwas Süßes für einen Sechser.
Heinrich ist noch ganz Kind, aber er spricht und benimmt sich schon wie
ein erwachsener Mensch von guter Führung. Sein Haar ist immer ganz
tadellos gekämmt und gescheitelt, was gerade mich zur Anerkennung
hinreißen muß, da ich in diesem wichtigen Punkt sehr liederlich bin.
Seine Stimme ist so dünn wie ein zartes Vogelgezwitscher. Man muß
unbewußt den Arm um seine Schulter legen, wenn man mit ihm spazieren
geht oder mit ihm spricht. Er hat die Haltung eines Obersten und ist so
klein. Er besitzt keinen Charakter, denn er weiß noch gar nicht, was das
ist. Gewiß hat er noch nie über das Leben nachgedacht, und wozu? Er ist
sehr artig, dienstfertig und höflich, aber ohne Bewußtsein. Ja, er ist
wie ein Vogel. Das Trauliche gelangt an ihm überall zum Vorschein. Ein
Vogel gibt einem die Hand, wenn er sie gibt, ein Vogel geht so und steht
so. Alles ist unschuldig, friedfertig und glücklich an Heinrich. Er will
Page werden, sagt er. Doch er sagt es ganz ohne unfeines Schmachten, und
in der Tat, der Pagenberuf ist für ihn das durchaus Richtige und
Angemessene. Die Zierlichkeit des Benehmens und Empfindens strebt irgend
wohin, und siehe, sie trifft das Rechte. Was wird er für Erfahrungen
machen? Werden sich an diesen Knaben überhaupt Erfahrungen und
Erkenntnisse heranwagen? Werden die rohen Enttäuschungen sich nicht
genieren, ihn zu beunruhigen, ihn, den Überzarten? Übrigens merke ich,
daß er ein wenig kalt ist, es ist nichts Stürmisches und
Herausforderndes an ihm. Vielleicht wird er vieles, vieles, das ihn
niederschlagen könnte, gar nicht bemerken, und vieles, das ihm seine
Sorglosigkeit nehmen könnte, gar nicht fühlen. Wer weiß, ob ich recht
habe. Aber ich stelle jedenfalls sehr, sehr gern solche Beobachtungen
an. Heinrich ist bis zu einer gewissen Grenze verständnislos. Das ist
sein Glück, und man muß es ihm gönnen. Wenn er ein Prinz wäre, ich würde
der erste sein, der das Knie vor ihm beugte und ihm huldigte. Schade.

Wie dumm ich mich doch benommen habe, als ich hier ankam. Ich entrüstete
mich in erster Linie über die Ärmlichkeit des Treppenhauses. Nun ja, es
ist eben der Treppenaufgang eines gewöhnlichen großstädtischen
Hinterhauses. Dann klingelte ich, und ein affenähnliches Wesen öffnete
mir die Türe. Es war Kraus. Aber damals hielt ich ihn einfach für einen
Affen, während ich ihn heute, um des rein persönlichen Wesens willen,
das ihn ziert, hoch schätze. Ich fragte, ob Herr Benjamenta zu sprechen
sei. Kraus sagte: »Jawohl, mein Herr,« und machte eine tiefe, dumme
Verbeugung vor mir. Diese Verbeugung jagte mir einen unheimlichen
Schrecken ein, denn ich sagte mir sogleich, daß da irgend etwas nicht
mit rechten Dingen zugehen müsse. Und von da an hielt ich die Schule
Benjamenta für Schwindel. Ich trat zum Vorsteher herein. Wie muß ich
lachen, wenn ich an die nun folgende Szene denke. Herr Benjamenta fragte
mich, was ich wolle. Ich erklärte ihm schüchtern, daß ich wünsche, sein
Schüler zu werden. Darauf schwieg er und las Zeitungen. Das Bureau, der
Herr Vorsteher, der vorausgegangene Affe, die Türe, die Art, zu
schweigen und Zeitungen zu studieren, alles, alles kam mir im höchsten
Grad verdächtig, verderbenversprechend vor. Plötzlich wurde ich nach
meinem Namen gefragt und nach meiner Herkunft. Jetzt hielt ich mich für
verloren, denn ich fühlte mit einemmal, daß ich da nicht mehr loskäme.
Stotternd gab ich Auskunft, ich wagte sogar zu betonen, daß ich aus
einem sehr guten Hause stamme. Ich sagte unter anderem, mein Vater sei
Großrat, und ich sei ihm davongelaufen, weil ich gefürchtet hätte, von
seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden. Wieder schwieg der
Vorsteher eine Weile. Meine Furcht, betrogen zu werden, stieg aufs
höchste. Ich dachte sogar an geheime Ermordung, stückweises Erdrosseln.
Da fragte mich der Vorsteher mit seiner Gebieterstimme, ob ich Geld bei
mir hätte, und ich bejahte. »So gib es her. Rasch!« befahl er, und
merkwürdig, ich gehorchte augenblicklich, obschon mich der Jammer
schüttelte. Ich zweifelte nicht mehr daran, einem Räuber und Schwindler
in die Hände gefallen zu sein, und trotzdem legte ich das Schulgeld
gehorsam hin. Wie lächerlich mir meine damaligen Empfindungen jetzt doch
vorkommen. Man strich das Geld ein und schwieg wieder. Da fand ich den
Heldenmut, schüchtern um eine Quittung zu ersuchen, doch man gab mir
folgendes zur Antwort: »Schlingel wie du erhalten keine Quittungen.« Ich
war einer Ohnmacht nahe, der Vorsteher klingelte. Sofort stürzte der
dumme Affe Kraus herein. Der dumme Affe? O gar nicht. Kraus ist ein
lieber, lieber Mensch. Ich verstand es nur damals noch nicht besser.
»Dies hier ist Jakob, der neue Schüler. Führe ihn ins Schulzimmer.« --
Der Vorsteher hatte kaum gesprochen, so packte mich Kraus und schleppte
mich vor das Antlitz der Lehrerin. Wie kindisch ist man, wenn man sich
fürchtet. Es gibt kein so schlechtes Benehmen wie das, welches aus dem
Mißtrauen und aus der Unkenntnis stammt. So wurde ich Zögling.

Mein Schulkamerad Schacht ist ein seltsames Wesen. Er träumt davon,
Musiker zu werden. Er sagt mir, er spiele vermittels seiner
Einbildungskraft wundervoll Geige, und wenn ich seine Hand anschaue,
glaube ich ihm das. Er lacht gern, aber dann versinkt er plötzlich in
schmachtende Melancholie, die ihm unglaublich gut zu Gesicht und
Körperhaltung steht. Schacht hat ein ganz weißes Gesicht und lange
schmale Hände, die ein Seelenleiden ohne Namen ausdrücken. Schmächtig,
wie er von Körperbau ist, zappelt er leicht, es ist ihm schwer,
unbeweglich zu stehen oder zu sitzen. Er gleicht einem kränklichen,
eigensinnigen Mädchen, er schmollt auch gern, was ihn einem jungen,
etwas verzogenen weiblichen Wesen noch ähnlicher macht. Wir, ich und er,
liegen oft zusammen in meiner Schlafkammer, auf dem Bett, in den
Kleidern, ohne die Schuhe auszuziehen, und rauchen Zigaretten, was gegen
die Vorschriften ist. Schacht tut gern das Vorschriften-Kränkende, und
ich, offen gesagt, leider nicht minder. Wir erzählen uns ganze
Geschichten, wenn wir so liegen, Geschichten aus dem Leben, d. h.
Erlebtes, aber noch viel mehr erfundene Geschichten, deren Tatsachen aus
der Luft gegriffen sind. Dann scheint es um uns her, Wände hinauf und
hinunter, leise zu tönen. Die enge, dunkle Kammer erweitert sich, es
erscheinen Straßen, Säle, Städte, Schlösser, unbekannte Menschen und
Landschaften, es donnert und lispelt, redet und weint usw. Es ist
hübsch, sich mit dem träumerisch angehauchten Schacht zu unterhalten. Er
scheint alles zu verstehen, was man ihm sagt, und er selber sagt von
Zeit zu Zeit etwas Bedeutsames. Und dann klagt er öfters, und das liebe
ich an der Unterhaltung. Ich höre gern klagen. Man kann dann den
Sprecher so ansehen und tiefes, inniges Mitleid mit ihm haben, und
Schacht hat etwas Mitleiderweckendes an sich, auch ohne, daß er
Betrübliches spricht. Wenn feinsinnige Unzufriedenheit, d. h. die
Sehnsucht nach etwas Schönem und Hohem, in irgend einem Menschen wohnt,
dann hat sie es sich in Schacht bequem gemacht. Schacht hat Seele. Wer
weiß, vielleicht ist er eine Künstlernatur. Er hat mir anvertraut, daß
er krank ist, und da es sich um ein nicht ganz anständiges Leiden
handelt, hat er mich dringend gebeten, Schweigen zu beobachten, was ich
ihm natürlich auf Ehrenwort versprochen habe, um ihn zu beruhigen. Ich
habe ihn dann gebeten, mir den Gegenstand der Erkrankung zu zeigen, doch
da wurde er ein wenig böse und kehrte sich gegen die Wand. »Du bist
schamlos,« sagte er mir. Oft liegen wir beide so, ohne ein Wort zu
reden. Einmal wagte ich, seine Hand leise zu mir zu nehmen, doch er
entzog sie mir wieder und sagte: »Was machst du für Dummheiten? Laß
das.« -- Schacht bevorzugt den Umgang mit mir, das merke ich nicht
gerade deutlich, aber in solchen Dingen ist Deutlichkeit gar nicht
nötig. Ich habe ihn eigentlich riesig gern und sehe ihn als eine
Bereicherung meines Daseins an. Natürlich sage ich ihm so etwas nie. Wir
reden Dummheiten miteinander, oft auch Ernstes, aber unter Vermeidung
großer Worte. Schöne Worte sind viel zu langweilig. Ah, an den
Zusammenkünften mit Schacht in der Kammer merke ich es: wir Zöglinge des
Instituts Benjamenta sind zu einem oft halbtagelangen seltsamen
Müßiggang verurteilt. Wir kauern, sitzen, stehen oder liegen immer
irgendwo. Ich und Schacht zünden in der Kammer zu unserem Vergnügen oft
Kerzen an, das ist streng verboten. Aber gerade deshalb macht es uns
Spaß, es zu tun. Vorschriften hin, Vorschriften her: Kerzen brennen so
schön, so geheimnisvoll. Und wie sieht doch das Gesicht meines Kameraden
aus, wenn die rötliche kleine Flamme es zart beleuchtet. Wenn ich Kerzen
brennen sehe, komme ich mir vermögend vor: Im nächsten Augenblick kommt
immer der Diener und reicht mir den Pelz. Das ist Unsinn, aber dieser
Unsinn hat einen hübschen Mund und lächelt. Schacht hat eigentlich grobe
Gesichtszüge, aber die Blässe, die über das Gesicht gezogen ist,
verfeinert sie. Die Nase ist zu groß, auch die Ohren. Der Mund ist
zugekniffen. Manchmal, wenn ich Schacht so ansehe, ist mir, als müsse es
diesem Menschen einmal bitter schlecht gehen. Wie liebe ich solche
Menschen, die diesen wehmütigen Eindruck hervorrufen. Ist das
Bruderliebe? Ja, kann sein.

Am ersten Tag habe ich mich ungeheuer zimperlich und muttersöhnchenhaft
benommen. Wurde mir da das Zimmer gezeigt, in dem ich mit den andern,
d. h. mit Kraus, Schacht und Schilinski, gemeinsam schlafen sollte. Als
vierter im Bund gleichsam. Alles war zugegen, die Kameraden, der Herr
Vorsteher, der mich grimmig anschaute, das Fräulein. Nun, und da fiel
ich dem Mädchen einfach zu Füßen und rief aus: »Nein, in dem Zimmer zu
schlafen ist mir unmöglich. Ich kann da nicht atmen. Lieber will ich auf
der Straße übernachten.« -- Ich hielt, während ich so sprach, die Beine
der jungen Dame fest umschlungen. Sie schien ärgerlich zu sein und
befahl mir aufzustehen. Ich sagte: »Ich stehe nicht vorher auf, bis Sie
mir versprochen haben, daß Sie mir einen menschenwürdigen Raum zum
Schlafen anweisen wollen. Ich bitte Sie, Fräulein, ich flehe Sie an,
tun Sie mich an einen andern Ort, meinetwegen in ein Loch, nur nicht
hier hinein. Hier kann ich nicht sein. Ich will meine Mitschüler gewiß
nicht beleidigen, und habe ich es schon getan, so tut es mir leid, aber
bei drei Menschen schlafen, als vierter, und dazu noch in solch einem
engen Raum? Das geht nicht. Ach, Fräulein.« -- Schon lächelte sie, ich
merkte es, ich fügte daher rasch, mich noch fester an sie schmiegend,
hinzu: »Ich will brav sein, ich verspreche es Ihnen. Ich will allen
Ihren Befehlen zuvorkommen. Sie sollen sich nie, nie über mein Benehmen
zu beklagen haben.« -- Fräulein Benjamenta fragte: »Ist das sicher?
Werde ich mich nie zu beklagen haben?« -- »Nein, gewiß nicht, gnädiges
Fräulein,« erwiderte ich. Sie wechselte einen bedeutenden Blick mit dem
Bruder, dem Herrn Vorsteher, und sagte zu mir: »Steh' vor allen Dingen
erst vom Boden auf. Pfui. Welch ein Flehen und Flattieren. Und dann
komm. Meinetwegen kannst du auch anderswo schlafen.« Sie führte mich zu
der Kammer, die ich jetzt bewohne, zeigte sie mir und fragte: »Gefällt
dir die Kammer?« -- Ich war so keck, zu sagen: »Sie ist eng. Zu Hause
gab's Vorhänge an den Fenstern. Und Sonne schien dort in die Gemächer.
Hier ist nur eine schmale Bettstelle und ein Waschgestell. Zu Hause gab
es vollständig möblierte Zimmer. Aber werden Sie nicht böse, Fräulein
Benjamenta. Es gefällt mir, und ich danke Ihnen. Zu Hause war es viel
feiner, freundlicher und eleganter, aber hier ist es auch ganz nett.
Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen mit Vergleichen von zu Hause und mit
weiß der Kuckuck was noch alles komme. Ich finde die Kammer aber sehr,
sehr reizend. Zwar, das Fenster da oben in der Mauer ist kaum ein
Fenster zu nennen. Und das Ganze hat entschieden etwas Ratten- oder
Hundelochartiges. Aber es gefällt mir. Und ich bin unverschämt und
undankbar, so zu sprechen, nicht wahr? Vielleicht wäre es das Beste, mir
die Kammer, die ich wirklich hoch schätze, wieder zu nehmen und mir den
strikten Befehl zu erteilen, bei den andern zu schlafen. Meine Kameraden
fühlen sich sicher beleidigt. Und Sie, Fräulein, sind böse. Ich sehe es.
Ich bin sehr traurig darüber.« -- Sie sagte mir: »Du bist ein dummer
Junge, und du schweigst jetzt.« Und doch lächelte sie. Wie dumm das
alles war, damals am ersten Tag. Ich schämte mich, und ich schäme mich
noch heute, daran denken zu müssen, wie unziemlich ich mich benommen
habe. Ich schlief in der ersten Nacht sehr unruhig. Ich träumte von der
Lehrerin. Und was die eigene Kammer betrifft, so wäre ich es heute ganz
zufrieden, wenn ich sie mit ein oder zwei andern Personen teilen müßte.
Man ist immer halb irrsinnig, wenn man menschenscheu ist.

Herr Benjamenta ist ein Riese, und wir Zöglinge sind Zwerge gegen diesen
Riesen, der stets etwas mürrisch ist. Als Lenker und Gebieter einer
Schar von so winzigen, unbedeutenden Geschöpfen, wie wir Knaben sind,
ist er eigentlich auf ganz natürliche Weise zur Verdrießlichkeit
verpflichtet, denn das ist doch nie und nimmer eine seinen Kräften
entsprechende Aufgabe: über uns herrschen. Nein, Herr Benjamenta könnte
ganz anderes leisten. Solch ein Herkules kann ja einer so kleinlichen
Übung gegenüber, wie die ist, uns zu erziehen, gar nicht anders als
einschlafen, d. h. brummend und grübelnd seine Zeitungen lesen. An was
hat eigentlich der Mann gedacht, als er sich entschloß, das Institut zu
gründen? Er tut mir in einem gewissen Sinne weh, und dieses Gefühl
erhöht noch den Respekt, den ich vor ihm habe. Es gab übrigens zwischen
ihm und mir im Anfang meines Hierseins, ich glaube, am Morgen des
zweiten Tages, eine kleine, aber sehr heftige Szene. Ich trat zu ihm ins
Kontor, aber ich kam nicht dazu, meinen Mund zu öffnen. »Geh' wieder
hinaus. Versuche, ob es dir möglich ist, wie ein anständiger Mensch ins
Zimmer einzutreten,« sagte er streng. Ich ging hinaus, und dann klopfte
ich an, was ich ganz vergessen hatte. »Herein,« rief es, und da trat ich
ein und blieb stehen. »Wo ist die Verbeugung? Und wie sagt man, wenn man
zu mir eintritt?« -- Ich verbeugte mich und sagte in kümmerlicher
Tonart: »Guten Tag, Herr Vorsteher.« -- Heute bin ich schon so gut
dressiert, daß ich dieses »Guten Tag, Herr Vorsteher« nur so
hinausschmettere. Damals haßte ich diese Art, sich untertänig und
höflich zu benehmen, ich wußte es eben nicht besser. Was mir damals
lächerlich und stumpfsinnig vorkam, erscheint mir heute schicklich und
schön. »Lauter reden, Bösewicht,« rief Herr Benjamenta. Ich mußte den
Gruß »Guten Tag, Herr Vorsteher« fünfmal wiederholen. Erst dann fragte
er mich, was ich wolle. Ich war wütend geworden und sagte: »Man lernt
hier gar nichts, und ich will nicht hier bleiben. Bitte geben Sie mir
das Geld zurück, und dann will ich mich zum Teufel scheren. Wo sind hier
die Lehrer? Ist überhaupt irgend ein Plan, ein Gedanke da? Nichts ist
da. Und ich will fort. Niemand, wer es auch sei, wird mich hindern,
diesen Ort der Finsternis und der Umnebelung zu verlassen. Dazu, um mich
hier von Ihren mehr als albernen Vorschriften plagen und verdummen zu
lassen, komme ich denn doch aus viel zu gutem Hause. Zwar, ich will
durchaus nicht zu Vater und Mutter zurücklaufen, niemals, aber ich will
auf die Straße gehen und mich als Sklave verkaufen. Es schadet durchaus
nichts.« -- Nun hatte ich geredet. Heute muß ich mich beinahe krümmen
vor Lachen, wenn ich mir dieses dumme Betragen wieder ins Gedächtnis
zurückrufe. Mir war es damals aber durchaus heilig ernst zumut. Doch der
Herr Vorsteher schwieg. Ich war im Begriff, ihm irgend eine grobe
Beleidigung ins Gesicht zu sagen. Da sprach er ruhig: »Einmal
einbezahlte Geldbeträge werden nicht mehr zurückerstattet. Was deine
törichte Meinung betrifft, du könntest hier nichts lernen, so irrst du
dich, denn du kannst lernen. Lerne vor allen Dingen erst deine Umgebung
kennen. Deine Kameraden sind es wert, daß man wenigstens den Versuch
macht, sich mit ihnen bekannt zu machen. Sprich mit ihnen. Ich rate dir,
sei ruhig. Hübsch ruhig.« -- Dieses »hübsch ruhig« sprach er wie in
tiefen, mich gar nicht betreffenden Gedanken versunken. Er hielt die
Augen niedergeschlagen, wie um mir zu verstehen zu geben, wie gut, wie
sanft er es meine. Er gab mir deutliche Beweise seiner Gedankenabwesenheit
und schwieg wieder. Was konnte ich machen? Schon befaßte sich Herr
Benjamenta wieder mit Zeitunglesen. Es war mir, als ob ein furchtbares
unverständliches Gewitter mir von ferne drohe. Ich verbeugte mich tief,
fast bis herab zur Erde, vor demjenigen, der mir gar keine Beachtung
mehr schenkte, sagte, wie die Vorschriften es geboten, »Adieu, Herr
Vorsteher«, klappte die Schuhabsätze zusammen, stund stramm da, machte
kehrt, d. h. nein, suchte mit den Händen den Türriegel, schaute immer
auf das Gesicht des Herrn Vorstehers und schob mich, ohne mich
umzudrehen, wieder zur Türe hinaus. So endete ein Versuch, Revolution zu
machen. Seither sind keine störrischen Auftritte mehr vorgekommen. Mein
Gott, und geschlagen bin ich schon worden. Er hat mich geschlagen, er,
dem ich ein wahrhaft großes Herz zumute, und nicht gemuckst habe ich,
nicht gezwinkert habe ich, und es hat mich nicht einmal beleidigt. Nur
weh hat es mir getan, und nicht um mich selber, sondern um ihn, den
Herrn Vorsteher. Ich denke eigentlich immer an ihn, an beide, an ihn und
Fräulein, wie sie so dahinleben mit uns Knaben. Was tun sie da drinnen
in der Wohnung immer? Womit sind sie beschäftigt? Sind sie arm? Sind
Benjamentas arm? Es gibt hier »innere Gemächer«. Ich bin bis heute noch
nie dort gewesen. Kraus wohl, den man bevorzugt, weil er so treu ist.
Aber Kraus will keine Auskunft über die Beschaffenheit der
Vorsteherswohnung geben. Er glotzt mich nur an, wenn ich ihn über diesen
Punkt ausfrage, und schweigt. O, Kraus kann wahrhaft schweigen. Wenn
ich ein Herr wäre, ich nähme Kraus sogleich in meine Dienste. Aber
vielleicht dringe ich doch noch einmal in diese innern Gemächer. Und was
werden dann meine Augen erblicken? Vielleicht gar nichts Besonderes? O
doch, doch. Ich weiß es, es gibt hier irgendwo wunderbare Dinge.

Eins ist wahr, die Natur fehlt hier. Nun, das, was hier ist, ist eben
einmal Großstadt. Zu Hause gab es überall nahe und weite Aussichten. Ich
glaube, ich hörte immer die Singvögel in den Straßen auf und ab
zwitschern. Die Quellen murmelten immer. Der waldige Berg schaute
majestätisch auf die saubere Stadt nieder. Auf dem nahegelegenen See
fuhr man abends in einer Gondel. Felsen und Wälder, Hügel und Felder
waren mit ein paar Schritten zu erreichen. Stimmen und Düfte waren immer
da. Und die Straßen der Stadt glichen Gartenwegen, so weich und reinlich
sahen sie aus. Weiße nette Häuser guckten schelmisch aus grünen Gärten
hervor. Man sah bekannte Damen, z. B. Frau Haag, innerhalb des
Gartengitters im Park spazieren. Dumm ist das eigentlich, nun, die
Natur, der Berg, der See, der Fluß, der schäumende Wasserfall, das Grün
und allerlei Gesänge und Klänge waren einem eben nahe. Ging man, so
spazierte man wie im Himmel, denn man sah überall blauen Himmel. Stand
man still, so konnte man sich gleich niederlegen und still in die Luft
hinaufträumen, denn es war Gras- oder Moosboden. Und die Tannen, die so
wundervoll nach würziger Kraft duften. Werde ich nie wieder eine
Bergtanne sehen? Das wäre übrigens kein Unglück. Etwas entbehren: das
hat auch Duft und Kraft. Unser großrätliches Haus hatte keinen Garten,
aber das Ganze, was einen umgab, war ein hübscher, sauberer, süßer
Garten. Ich will nicht hoffen, daß ich mich sehne. Unsinn. Hier ist es
auch schön.

Obschon es eigentlich an mir noch gar nichts Nennenswertes zu schaben
gibt, renne ich doch von Zeit zu Zeit zum Friseur, nur so des damit
verbundenen Straßenausfluges halber, und lasse mich rasieren. Ob ich
Schwede sei, fragt mich der Friseurgehilfe. Amerikaner? Auch nicht.
Russe? Nun was denn? Ich liebe es, derartige nationalistisch angefärbte
Fragen mit eisernem Schweigen zu beantworten und die Leute, die mich
nach meinen Vaterlandsgefühlen fragen, im Unklaren zu lassen. Oder ich
lüge und sage, ich sei Däne. Gewisse Aufrichtigkeiten verletzen und
langweilen einen nur. Manchmal blitzt die Sonne wie verrückt hier in
diesen lebhaften Straßen. Oder es ist alles verregnet, verschleiert, was
ich auch sehr, sehr liebe. Die Leute sind freundlich, obgleich ich
zuweilen namenlos frech bin. Oft sitze ich in der Mittagsstunde müßig
auf einer Bank. Die Bäume der Anlage sind ganz farblos. Die Blätter
hängen unnatürlich bleiern herunter. Es ist, als wenn hier manchmal
alles aus Blech und dünnem Eisen sei. Dann stürzt wieder Regen und netzt
das alles. Schirme werden aufgespannt, Droschken rollen auf dem Asphalt,
Menschen eilen, die Mädchen heben die Röcke. Beine aus einem Rock
hervorstechen zu sehen, hat etwas eigentümlich Anheimelndes. So ein
weibliches Bein, straff bestrumpft, man sieht es nie, und nun sieht man
es plötzlich. Die Schuhe kleben so schön an der Form der schönen weichen
Füße. Dann ist wieder Sonne. Wind weht ein wenig, und da denkt man an zu
Hause. Ja, ich denke an Mama. Sie wird weinen. Warum schreibe ich ihr
nie? Ich kann's nicht fassen, gar nicht begreifen, und doch kann ich
mich nicht entschließen, zu schreiben. Das ist es: ich mag nicht
Auskunft geben. Es ist mir zu dumm. Schade, ich sollte nicht Eltern
haben, die mich lieben. Ich mag überhaupt nicht geliebt und begehrt
sein. Sie sollen sich daran gewöhnen, keinen Sohn mehr zu haben.

Jemandem, den man nicht kennt und der einen gar nichts angeht, einen
Dienst erweisen, das ist reizend, das läßt in göttlich nebelhafte
Paradiese blicken. Und dann: im Grunde genommen gehen einen alle oder
wenigstens fast alle Menschen etwas an. Die da an mir vorübergehen, die
gehen mich irgend etwas an, das steht fest. Übrigens ist das schließlich
Privatsache. Ich gehe da so, die Sonne scheint, da sehe ich plötzlich
ein Hündchen zu meinen Füßen winseln. Sogleich bemerke ich, daß sich das
Luxustierchen mit den kleinen Beinen im Maulkorb verwickelt hat. Es kann
nicht mehr laufen. Da bücke ich mich, und dem großen, großen Unglück ist
abgeholfen. Nun kommt die Herrin des Hundes heranmarschiert. Sie sieht,
was los ist und dankt mir. Flüchtig ziehe ich meinen Hut vor der Dame
und gehe meiner Wege. Ach, die da hinten denkt jetzt, daß es noch artige
junge Menschen in der Welt gibt. Gut, dann habe ich den jungen Menschen
im allgemeinen einen Dienst erwiesen. Und wie diese übrigens ganz
unhübsche Frau gelächelt hat. »Danke, mein Herr.« Ah, zum Herrn hat sie
mich gemacht. Ja, wenn man sich zu benehmen weiß, ist man ein Herr. Und
wem man dankt, vor dem hat man Achtung. Wer lächelt, ist hübsch. Alle
Frauen verdienen Artigkeiten. Jede Frau hat etwas Feines. Ich habe schon
Wäscherinnen wie Königinnen sich bewegen sehen. Das alles ist komisch, o
so komisch. Aber wie die Sonne geblitzt hat, und wie ich dann so
davongelaufen bin! -- Nämlich ins Warenhaus. Ich lasse mich dort
photographieren, Herr Benjamenta will eine Photographie von mir haben.
Und dann muß ich einen kurz abzufassenden, wahrheitsgetreuen Lebenslauf
schreiben. Dazu gehört Papier. Nun, dann habe ich noch das Vergnügen,
extra in einen Papierladen zu treten.

Kamerad Schilinski ist von polnischer Herkunft. Er spricht ein hübsches,
gebrochenes Deutsch. Alles Fremdartige klingt nobel, ich weiß nicht,
warum. Schilinskis größter Stolz besteht in einer elektrisch
entzündbaren Krawattennadel, die er sich zu verschaffen gewußt hat. Auch
zündet er gern, d. h. mit der größten Vorliebe, Wachsstreichhölzchen an.
Seine Schuhe sind immer glänzend geputzt. Merkwürdig oft sieht man ihn
seinen Anzug reinigen, seine Stiefel wichsen und seine Mütze bürsten. Er
schaut sich gern in einem billigen Taschenspiegel an. Taschenspiegel
besitzen wir Schüler übrigens alle, obschon wir eigentlich gar nicht
wissen, was Eitelkeit alles bedeutet. Schilinski ist schlank von Figur
und hat ein sehr hübsches Gesicht und Lockenhaar, das er nicht oft genug
während des Tages kämmen und pflegen kann. Er sagt, er will zu einem
Pferdchen. Ein Pferd zu striegeln und zu putzen und dann auszufahren,
das ist sein Lieblingstraum. Recht karg steht es mit seinen
Geistesgaben. Er besitzt absolut keinen Scharfsinn, und von Feinsinn
oder dergleichen darf man bei ihm nicht reden. Und doch ist er durchaus
nicht dumm, beschränkt vielleicht, aber ich nehme dieses Wort nicht gern
in den Mund, wenn ich an meine Schulkameraden denke. Daß ich der
Gescheiteste unter ihnen bin, das ist vielleicht gar nicht einmal so
sehr erfreulich. Was nützen einem Menschen Gedanken und Einfälle, wenn
er, wie ich, das Gefühl hat, er wisse nichts damit anzustellen? Nun
also. Nein, nein, ich will hell zu sehen versuchen, aber ich mag nicht
hochmüteln, mich nie und nimmer über meine Umgebung erhaben fühlen.
Schilinski wird Glück im Leben haben. Die Frauen werden ihn bevorzugen,
so sieht er aus, ganz wie der zukünftige Liebling der Frauen. Er hat
einen an etwas Edles erinnernden bräunlichen, übrigens hellen Teint an
Gesicht und Händen, und die Augen sind rehhaft schüchtern. Es sind
reizende Augen. Er könnte mit seinem ganzen Wesen ein junger
Landedelmann sein. Sein Benehmen mahnt an ein Landgut, wo städtisches
und bäurisches, feines und grobes Wesen in anmutige kräftige menschliche
Bildung zusammenfließen. Er geht besonders gern müßig und schlendert
gern in den belebtesten Straßen herum, wobei ich ihm manchmal
Gesellschaft leiste, zum Entsetzen von Kraus, der den Müßiggang haßt,
verfolgt und verachtet. »Seid ihr beide schon wieder auf dem Vergnügen
gewesen? He?«, so empfängt uns Kraus, wenn wir heimkommen. Von Kraus
werde ich sehr viel reden müssen. Er ist der Redlichste und Tüchtigste
unter uns Zöglingen, und Tüchtigkeit und Ehrlichkeit sind ja so
unerschöpfliche und unermeßliche Gebiete. Nichts kann mich so tief
aufregen wie der Anblick und der Geruch des Guten und Rechtschaffenen.
Etwas Gemeines und Böses ist bald ausempfunden, aber aus etwas Bravem
und Edlem klug zu werden, das ist so schwer und doch zugleich so
reizvoll. Nein, die Laster interessieren mich viel, viel weniger wie die
Tugenden. Nun werde ich Kraus schildern müssen, und davor ist mir direkt
bange. Zimperlichkeiten? Seit wann? Ich will's nicht hoffen.

Ich gehe jetzt jeden Tag ins Warenhaus, fragen, ob meine Photographien
noch nicht bald fertig seien. Ich kann jedesmal mit dem Aufzug ins
oberste Stockwerk hinauffahren. Ich finde das leider nett, und das paßt
zu meinen vielen übrigen Gedankenlosigkeiten. Wenn ich Lift fahre, komme
ich mir so recht wie das Kind meiner Zeit vor. Ob das andern Menschen
auch so geht? Den Lebenslauf habe ich immer noch nicht geschrieben. Es
geniert mich ein wenig, über meine Vergangenheit die schlichte Wahrheit
zu sagen. Kraus schaut mich von Tag zu Tag vorwurfsvoller an. Das paßt
mir sehr. Liebe Menschen sehe ich gern ein wenig wütend. Nichts ist mir
angenehmer, als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein
ganz falsches Bild von mir zu geben. Das ist vielleicht ungerecht, aber
es ist kühn, also ziemt es sich. Übrigens geht das bei mir ein wenig ins
Krankhafte. So z. B. stelle ich es mir als unsagbar schön vor, zu
sterben, im furchtbaren Bewußtsein, das Liebste, was ich auf der Welt
habe, gekränkt und mit schlechten Meinungen über mich erfüllt zu haben.
Das wird niemand verstehen, oder nur der, der im Trotz Schönheitsschauer
empfinden kann. Elendiglich umkommen, um einer Flegelei, einer Dummheit
willen. Ist das erstrebenswert? Nein, gewiß nicht. Aber das alles sind
ja Dummheiten gröbster Sorte. Es fällt mir hier etwas ein, und ich sehe
mich, aus, ich weiß nicht welchen, Ursachen, genötigt, es zu sagen. Ich
besaß vor einer Woche oder mehr Tagen an Geld noch zehn Mark. Nun, jetzt
sind diese zehn Mark verflogen. Eines Tages trat ich in ein Restaurant
mit Damenbedienung. Ganz unwiderstehlich zog es mich hinein. Ein Mädchen
sprang mir entgegen und nötigte mich, auf einem Ruhebett Platz zu
nehmen. Halb wußte ich Bescheid, wie das ungefähr endigen konnte. Ich
wehrte mich, aber ganz und gar ohne Nachdruck. Es war mir alles
gleichgültig, und doch wieder nicht. Es bereitete mir ein Vergnügen
ohnegleichen, dem Mädchen gegenüber den feinen, obenherabschauenden
Herrn zu spielen. Wir befanden uns ganz allein, und nun trieben wir die
nettesten Dummheiten. Wir tranken. Immer lief sie ans Büffet, um neue
Getränke zu holen. Sie zeigte mir ihr reizendes Strumpfband, und ich
liebkoste es mit den Lippen. Ah, ist man dumm. Immer stand sie wieder
auf und holte Neues zum trinken. Und so rasch. Sie wollte eben sehr
schnell bei dem dummen Jungen ein hübsches Sümmchen Geld verdienen. Ich
sah das vollkommen ein, aber gerade das gefiel mir, daß sie mich für
dumm ansah. Solch eine sonderbare Verdorbenheit: sich heimlich zu
freuen, bemerken zu dürfen, daß man ein wenig bestohlen wird. Aber wie
bezaubernd kam mir alles vor. Rings um mich starb alles in flötender,
kosender Musik. Das Mädchen war Polin, schlank und geschmeidig und so
entzückend sündhaft. Ich dachte: »Weg sind meine zehn Mark.« Nun küßte
ich sie. Sie sagte: »Sag', was bist du? Du benimmst dich wie ein
Edelmann.« Ich konnte gar nicht genug den Duft, der von ihr ausströmte,
einatmen. Sie bemerkte das und fand das fein. Und in der Tat: Was ist
man für ein Halunke, wenn man, ohne Liebe und Schönheit zu empfinden, an
Orte hingeht, wo nur das Entzücken entschuldigt, was die Liederlichkeit
unternommen hat? Ich log ihr vor, daß ich Stallbursche sei. Sie sagte:
»O nein, dafür benimmst du dich viel zu schön. Sag' mir guten Tag.« Und
da tat ich ihr das, was man an solchen Orten guten Tag sagen nennt,
d. h. sie setzte es mir lachend und scherzend und mich küssend
auseinander, und da tat ich es. Eine Minute später befand ich mich auf
der abendlichen Straße, ausgebrannt bis auf den letzten Pfennig. Wie
kommt mir das jetzt vor? Ich weiß es nicht. Aber das eine weiß ich: ich
muß wieder zu einigem wenigen Geld kommen. Aber wie mache ich das?

Beinahe jeden frühen Morgen setzt es zwischen mir und Kraus ein
geflüstertes Redegefecht ab. Kraus glaubt immer, mich zur Arbeit
antreiben zu sollen. Vielleicht irrt er sich auch gar nicht, wenn er
annimmt, daß ich nicht gern früh aufstehe. Ja doch, ich stehe schon ganz
gern vom Bett auf, aber wiederum finde ich es geradezu köstlich, ein
wenig länger liegen zu bleiben, als ich soll. Etwas nicht tun sollen,
das ist manchmal so reizend, daß man nicht anders kann, als es doch
tun. Deshalb liebe ich ja so von Grund aus jede Art Zwang, weil er einem
erlaubt, sich auf Gesetzeswidrigkeiten zu freuen. Wenn kein Gebot, kein
Soll herrschte in der Welt, ich würde sterben, verhungern, verkrüppeln
vor Langerweile. Mich soll man nur antreiben, zwingen, bevormunden. Ist
mir durchaus lieb. Zuletzt entscheide doch ich, ich allein. Ich reize
das stirnrunzelnde Gesetz immer ein wenig zum Zorn, nachher bin ich
bemüht, es zu besänftigen. Kraus ist der Vertreter aller hier im
Institut Benjamenta bestehenden Vorschriften, folglich fordere ich den
besten aller Mitschüler beständig ein bißchen zum Kampf auf. Ich zanke
so furchtbar gern. Ich würde krank werden, wenn ich nicht zanken könnte,
und zum Zanken und Reizen eignet sich Kraus wundervoll. Er hat immer
recht: »Willst du jetzt endlich aufstehen, du faules Tuch!« -- Und ich
habe immer unrecht: »Ja, ja, gedulde dich. Ich komme.« -- Wer im Unrecht
ist, der ist frech genug, den, der im Recht ist, stets zur Geduld
aufzufordern. Das Rechthaben ist hitzig, das Unrechthaben trägt stets
eine stolze, frivole Gelassenheit zur Schau. Derjenige, der es
leidenschaftlich gut meint (Kraus), unterliegt stets dem (also mir), dem
das Gute und Förderliche nicht gar so ausgesprochen am Herzen liegt.
Ich triumphiere, weil ich noch im Bett liege, und Kraus zittert vor
Zorn, weil er immer vergeblich an die Türe klopfen, poltern und sagen
muß: »Steh' doch auf, Jakob. Mach' endlich. Herrgott, was ist das für
ein Faulpelz.« -- Wer zürnen kann, ach, ist mir solch ein Mensch
sympathisch. Kraus zürnt bei jeder Gelegenheit. Das ist so schön, so
humorvoll, so edel. Und wir beide passen so gut zueinander. Dem Empörten
muß doch immer der Sünder gegenüberstehen, sonst fehlte ja etwas. Bin
ich dann endlich aufgestanden, so tue ich, als stünde ich müßig da.
»Jetzt steht er noch da und gafft, der Tropf, statt Hand anzulegen,«
sagt er dann. Wie prächtig ist so etwas. Das Gemurmel eines Mürrischen
finde ich schöner als das Murmeln eines Waldbaches, beglitzert von der
allerschönsten Sonntagvormittagsonne. Menschen, Menschen, nur Menschen!
Ja, ich empfinde es lebhaft: ich liebe die Menschen. Ihre Torheiten und
raschen Gereiztheiten sind mir lieber und wertvoller als die feinsten
Naturwunder. -- Wir Zöglinge müssen morgens früh, bevor die Herrschaften
erwachen, Schulstube und Kontor aufräumen. Je zwei Leute besorgen das
abwechslungsweise. »Steh' doch auf. Wird's bald?« -- Oder: »Jetzt hört
aber bald die Genügsamkeit auf.« Oder: »Steh' auf, steh' auf. Es ist
Zeit. Solltest schon längst den Besen in der Hand haben.« -- Wie ist
das amüsant. Und Kraus, der ewig böse Kraus, wie lieb ist er mir.

Ich muß noch einmal ganz zum Anfang zurückkehren, zum ersten Tag. In der
Unterrichtspause sprangen Schacht und Schilinski, die ich damals ja noch
gar nicht kannte, in die Küche und brachten, auf Teller gelegt,
Frühstück in die Schulstube. Auch mir wurde etwas zum essen vorgelegt,
aber ich hatte gar keinen Appetit, ich mochte nichts anrühren. »Du mußt
essen,« sagte mir Schacht, und Kraus fügte hinzu: »Es muß alles, was da
auf dem Teller liegt, sauber aufgegessen werden. Hast du verstanden?« --
Ich erinnere mich noch, wie widrig mich diese Redensarten berührten. Ich
versuchte zu essen, aber voll Abscheu ließ ich das meiste liegen. Kraus
drängte sich an mich heran, klopfte mir würdevoll auf die Schulter und
sagte: »Neuling, der du hier bist, wisse, daß die Vorschriften gebieten,
zu essen, wenn etwas zu essen da ist. Du bist hochmütig, doch sei nur
ruhig, der Hochmut wird dir schon vergehen. Kann man etwa die
butterbestrichenen und wurstbelegten Stücke Brot auf der Straße
auflesen? Wie? Sei du nur ruhig und warte hübsch, vielleicht wirst du
noch Appetit bekommen. Jedenfalls mußt du das da aufessen, was hier noch
herumliegt, wohlverstanden. Es werden im Institut Benjamenta keine
Eßreste auf den Tellern geduldet. Vorwärts, iß. Mach' rasch. Ist das
eine sorgenvolle und feinseinwollende Bedenklichkeit. Die Feinheiten
werden dir bald vergehen, glaube es mir. Du hast keinen Appetit, willst
du mir sagen? Ich aber rate dir, Appetit zu haben. Du hast nur aus
Hochmut keinen, das ist es. Gib her. Für diesmal will ich dir helfen
aufessen, obschon es total gegen alle Vorschriften ist. So. Siehst du,
wie man das essen kann? Und das? Und das? Das war ein Kunststück, kann
ich dir sagen.« -- Wie war mir das alles peinlich. Ich empfand eine
heftige Abneigung gegen die essenden Knaben, und heute? Heute esse ich
so gut sauber auf wie nur irgend einer der Zöglinge. Ich freue mich
sogar jedesmal auf das hübsch zubereitete, bescheidene Essen, und nie im
Leben würde es mir einfallen, es zu verschmähen. Ja, ich war eitel und
hochmütig im Anfang, gekränkt von ich weiß nicht was, erniedrigt auf ich
weiß gar nicht mehr welche Weise. Es war mir eben alles, alles noch neu
und infolgedessen feindlich, und im übrigen war ich ein ganz
hervorragender Dummkopf. Ich bin auch heute noch dumm, aber auf feinere,
freundlichere Art und Weise. Und auf die Art und Weise kommt alles an.
Es kann einer noch so töricht und unwissend sein: wenn er sich ein
wenig zu schicken, zu schmiegen und zu bewegen weiß, ist er noch nicht
verloren, sondern findet seinen Weg durch das Leben vielleicht besser
als der Kluge und Mit-Wissen-Vollgepackte. Die Art und Weise: ja, ja. --

Kraus hat es schon sehr schwer im Leben gehabt, bevor er hierher
gekommen ist. Er und sein Vater, der Schiffer ist, sind die Elbe hinauf
und hinunter gefahren, auf schweren Kohlenkähnen. Er hat schwer, schwer
arbeiten müssen, bis er dann krank geworden ist. Jetzt will er der
Diener, der richtige Diener eines Herrn werden, und dazu ist er mit all
seinen gutherzigen Eigenschaften auch wie geboren. Er wird ein ganz
wundervoller Diener sein, denn nicht nur sein Äußeres paßt zu diesem
Beruf der Demut und des Entgegenkommens, nein, auch die Seele, die ganze
Natur, das ganze menschliche Wesen meines Kameraden hat etwas im
allerbesten Sinn Dienerhaftes. Dienen! Wenn nur Kraus einen anständigen
Herrn bekommt, das wünsche ich ihm. Gibt es doch Herren oder
Herrschaften, kurz, Vorgesetzte, die es gar nicht lieben und wünschen,
vollkommen bedient zu werden, die es gar nicht verstehen, wirkliche
Dienstleistungen in Empfang zu nehmen. Kraus hat Stil und gehört
unbedingt zu einem Grafen, d. h. ganz, ganz vornehmen Herrn. Man muß
einen Kraus nicht arbeiten lassen wie einen gewöhnlichen Knecht oder
Arbeiter. Er kann vertreten. Sein Gesicht ist dazu geschaffen, irgend
einen Ton, eine Manier anzugeben, und auf seine Haltung und auf sein
Betragen kann derjenige stolz sein, der ihn mieten wird. Mieten? Ja, so
sagt man. Und Kraus wird eines Tages an jemanden vermietet, oder von
irgend jemandem gemietet werden. Und darauf freut er sich, und darum
lernt er so eifrig Französisch in seinen etwas schwerfälligen Kopf
hinein. Etwas ist da, das ihm Kummer macht. Er hat sich nämlich beim
Friseur, wie er sagt, eine etwas garstige Auszeichnung geholt, einen
Kranz von rötlichen kleinen Pflanzen, kurz gesagt Punkten, noch kürzer,
und ganz unbarmherzig gesagt, Pickeln. Nun ja, das ist allerdings übel,
besonders, da er zu einem feinen und wirklich anständigen Herrn gehen
will. Was ist zu machen? Armer Kraus! Mich z. B. würden die Punkte, die
ihn verunzieren, nicht im mindesten hindern, ihn zu küssen, wenn es
darauf ankäme. Im Ernst: wirklich nicht, denn ich sehe so etwas gar
nicht mehr, ich sehe es gar nicht, daß er unschön aussieht. Ich sehe
seine schöne Seele auf seinem Gesicht, und die Seele, das ist das
Liebkosenswerte. Aber der zukünftige Herr und Gebieter wird da
allerdings ganz anders denken, und darum legt auch Kraus Salben auf die
unfeinen Wunden, die ihn verunstalten. Er gebraucht auch öfters den
Spiegel, um die Fortschritte der Heilung zu beobachten, nicht aus leerer
Eitelkeit. Er würde, wenn er nicht diesen Makel trüge, nie in den
Spiegel schauen, denn die Erde kann nichts Uneitleres, Unaufgeblaseneres
hervorbringen als ihn. Herr Benjamenta, der sich für Kraus lebhaft
interessiert, läßt oft nach dem Übel und seinem zu erhoffenden
Verschwinden fragen. Kraus soll ja bald einmal ins Leben hinaus- und in
Stellung treten. Ich fürchte mich vor dem Augenblick seines Austrittes
aus der Schule. Aber es wird nicht so rasch gehen. An seinem Gesicht
kann er, glaube ich, noch ziemlich lange doktoren, was ich ja eigentlich
durchaus nicht wünsche, und doch wünsche. Es würde mir so viel fehlen,
wenn er abginge. Er kann noch früh genug zu einem Herrn kommen, der
seine Qualitäten nicht zu schätzen wissen wird, und ich werde früh genug
einen Menschen, den ich liebe, ohne daß er es weiß, entbehren müssen.

An all diesen Zeilen schreibe ich meist abends, bei der Lampe, an dem
großen Schultisch, an welchem wir Zöglinge so oft stumpfsinnig oder
nicht stumpfsinnig sitzen müssen. Kraus ist manchmal sehr neugierig und
guckt mir über die Achsel. Einmal habe ich ihn zurechtgewiesen: »Aber
Kraus, bitte sage mir, seit wann bekümmerst du dich um Sachen, die dich
nichts angehen?« -- Er war sehr ärgerlich, wie alle sind, die sich auf
den heimlichen Pfaden der schleichenden Neugierde ertappen lassen.
Manchmal sitze ich ganz allein bis in die spätere Nacht müßig auf einer
Bank im öffentlichen Park. Die Laternen sind angezündet, das grelle
elektrische Licht stürzt zwischen den Blättern der Bäume flüssig und
brennend nieder. Alles ist heiß und verspricht fremdartige
Heimlichkeiten. Leute spazieren hin und her. Es flüstert zu den
versteckten Parkwegen heraus. Dann gehe ich heim und finde die Türe
verschlossen. »Schacht,« rufe ich leise, und der Kamerad wirft mir
verabredetermaßen den Schlüssel auf den Hof hinunter. Ich schleiche auf
Fußspitzen, da das lange Ausbleiben verboten ist, in die Kammer und lege
mich ins Bett. Und dann träume ich. Ich träume oft furchtbare Dinge. So
träumte mir eines Nachts, ich hätte Mama, die Liebe und Ferne, ins
Gesicht geschlagen. Wie schrie ich da auf und wie jäh erwachte ich. Der
Schmerz über die Scheußlichkeit meines eingebildeten Benehmens jagte
mich zum Bett heraus. Bei den Ehrfurcht einflößenden Haaren hatte ich
die Heilige gerissen und sie zu Boden geworfen. O, nicht an so etwas
denken. Die Tränen schossen wie schneidende Strahlen zu den mütterlichen
Augen heraus. Ich erinnere mich noch deutlich, wie der Jammer ihr den
Mund zerschnitt und zerriß, und wie sie sich im Weh badete, und wie dann
der Nacken nach hinten zurücksank. Aber wozu mir diese Bilder von neuem
vormalen? Morgen werde ich endlich den Lebenslauf schreiben müssen, oder
ich laufe Gefahr, einen bösen Vorwurf zu ernten. Abends, gegen neun Uhr,
singen wir Knaben immer ein kurzes Gutenachtlied. Wir stehen im
Halbkreis nahe bei der Türe, die in die innern Gemächer führt, und dann
geht die Türe auf, Fräulein Benjamenta erscheint auf der Schwelle, ganz
in weiße, wohlig herabfallende Gewänder gekleidet, sagt uns »gute Nacht,
Knaben«, befiehlt uns, uns schlafen zu legen, und ermahnt uns, ruhig zu
sein. Dann löscht Kraus jedesmal die Schulzimmerlampe, und von diesem
Augenblick an darf kein leisestes Geräusch mehr gemacht werden. Auf den
Zehen muß jeder gehen und sein Bett suchen. Ganz merkwürdig ist das
alles. Und wo schlafen Benjamentas? Wie ein Engel sieht das Fräulein
aus, wenn sie uns gute Nacht sagt. Wie verehre ich sie. Abends läßt sich
der Herr Vorsteher überhaupt nie blicken. Ob das nun merkwürdig ist
oder nicht, jedenfalls ist es auffallend.

Es scheint, daß das Institut Benjamenta früher mehr Ruf und Zuspruch
genossen hat. An einer der vier Wände unseres Schulzimmers hängt eine
große Photographie, auf der man die Abbildungen einer ganzen Anzahl
Knaben eines früheren Schuljahrganges sehen kann. Unser Schulzimmer ist
im übrigen sehr trocken ausstaffiert. Außer dem länglichen Tisch,
einigen zehn bis zwölf Stühlen, einem großen Wandschrank, einem
kleineren Nebentisch, einem kleineren zweiten Schrank, einem alten
Reisekoffer und ein paar anderen geringfügigen Gegenständen enthält es
kein Möbel. Über der Türe, die in die geheimnisvolle unbekannte Welt der
innern Gemächer führt, hängt als Wandschmuck ein ziemlich langweilig
aussehender Schutzmannssäbel mit dito quer darüber gelegtem Futteral.
Darüber thront der Helm. Diese Dekoration mutet wie eine Zeichnung oder
wie ein zierlicher Beweis der Vorschriften an, die hier gelten. Was mich
betrifft, ich möchte diese wahrscheinlich bei einem alten Trödler
erhandelten Schmuckstücke nicht geschenkt erhalten. Alle vierzehn Tage
werden Säbel und Helm heruntergenommen, um geputzt zu werden, was eine
sehr nette, obwohl sicher ganz stupide Arbeit genannt werden muß. Außer
diesen Verzierungen hängen im Schulzimmer noch die Bilder des
verstorbenen Kaiserpaares. Der alte Kaiser sieht unglaublich friedlich
aus, und die Kaiserin hat etwas Schlicht-Mütterliches. Oft putzen und
waschen wir Zöglinge das Schulzimmer mit Seife und Warmwasser aus, daß
nachher alles von Sauberkeit duftet und glänzt. Alles müssen wir selber
machen, und jeder von uns hat zu dieser Zimmermädchenarbeit eine Schürze
umgebunden, in welchem an die Weiblichkeit gemahnenden Kleidungsstück
wir alle ohne Ausnahme komisch aussehen. Aber es geht lustig zu an
solchen Aufräumetagen. Der Fußboden wird fröhlich poliert, die
Gegenstände, auch die der Küche, werden blank gerieben, wozu es Lappen
und Putzpuder in Menge gibt, Tisch und Stühle werden mit Wasser
überschüttet, Türklinken werden glänzend gemacht, Fensterscheiben
angehaucht und abgeputzt, jeder hat seine kleine Aufgabe, jeder erledigt
etwas. Wir erinnern an solchen Putz-, Reib- und Waschtagen an die
märchenhaften Heinzelmännchen, die, wie es bekannt ist, alles Grobe und
Mühselige aus reiner übernatürlicher Herzensgüte getan haben. Was wir
Zöglinge tun, tun wir, weil wir müssen, aber warum wir müssen, das weiß
keiner von uns recht. Wir gehorchen, ohne zu überlegen, was aus all dem
gedankenlosen Gehorsam noch eines Tages wird, und wir schaffen, ohne zu
denken, ob es recht und billig ist, daß wir Arbeiten verrichten müssen.
An solch einem Putztag hat sich mir einmal Tremala, einer der Kameraden,
der älteste unter uns allen, mit einem häßlichen Unfug genähert. Er
stellte sich leise hinter mich und griff mir mit der abscheulichen Hand
(Hände, die das tun, sind roh und abscheulich) nach dem intimen Glied,
in der Absicht, mir eine widerliche, an den Kitzel eines Tieres
grenzende Wohltat zu erweisen. Ich drehe mich jäh um und schlage den
Verruchten zu Boden. Ich bin sonst gar nicht so stark. Tremala ist viel
stärker. Aber der Zorn verlieh mir unwiderstehliche Kräfte. Tremala hebt
sich empor und wirft sich auf mich, da geht die Türe auf, und Herr
Benjamenta steht auf der Schwelle derselben. »Jakob, Schlingel!« ruft
er, »Komm einmal her!« Ich trete zu meinem Vorsteher hin, und er frägt
gar nicht, wer den Streit angefangen habe, sondern gibt mir einen Schlag
an den Kopf und geht weg. Ich will ihm nachlaufen, um es ihm
entgegenzubrüllen, wie ungerecht er ist, doch ich beherrsche mich,
besinne mich, werfe einen Blick über die gesamte Knabenschar und gehe
wieder an meine Arbeit. Mit Tremala rede ich seither kein Wort mehr, und
auch er weicht mir stets aus, und er weiß warum. Aber ob es ihm leid tut
oder dergleichen, das ist mir vollkommen gleichgültig. Die unzarte
Angelegenheit ist schon längst, wie soll man sagen, vergessen. Tremala
ist früher schon auf den Meerschiffen gewesen. Er ist ein verdorbener
Mensch, und es scheint, er freut sich seiner schändlichen Anlagen.
Übrigens ist er rasend ungebildet, daher interessiert er mich nicht.
Verschmitzt und zugleich unglaublich dumm: wie uninteressant. Aber das
Eine hat mir dieser Tremala zu erfahren gegeben: man muß auf alle
möglichen Angriffe und Kränkungen stets ein wenig gefaßt sein.

Oft gehe ich aus, auf die Straße, und da meine ich, in einem ganz wild
anmutenden Märchen zu leben. Welch ein Geschiebe und Gedränge, welch ein
Rasseln und Prasseln. Welch ein Geschrei, Gestampf, Gesurr und Gesumme.
Und alles so eng zusammengepfercht. Dicht neben den Rädern der Wagen
gehen die Menschen, die Kinder, Mädchen, Männer und eleganten Frauen;
Greise und Krüppel, und solche, die den Kopf verbunden haben, sieht man
in der Menge. Und immer neue Züge von Menschen und Fuhrwerken. Die Wagen
der elektrischen Trambahn sehen wie figurenvollgepfropfte Schachteln
aus. Die Omnibusse humpeln wie große, ungeschlachte Käfer vorüber. Dann
sind Wagen da, die wie fahrende Aussichtstürme aussehen. Menschen
sitzen auf den hocherhobenen Sitzplätzen und fahren allem, was unten
geht, springt und läuft über den Kopf weg. In die vorhandenen Mengen
schieben sich neue, und es geht, kommt, erscheint und verläuft sich in
einem fort. Pferde trampeln. Wundervolle Hüte mit Zierfedern nicken aus
offenen, schnell vorbeifahrenden Herrschaftsdroschken. Ganz Europa
sendet hierher seine Menschenexemplare. Vornehmes geht dicht neben
Niedrigem und Schlechtem, die Leute gehen, man weiß nicht wohin, und da
kommen sie wieder, und es sind ganz andere Menschen, und man weiß nicht,
woher sie kommen. Man meint, es ein wenig erraten zu können und freut
sich über die Mühe, die man sich gibt, es zu enträtseln. Und die Sonne
blitzt noch auf dem allem. Dem einen beglänzt sie die Nase, dem andern
die Fußspitze. Spitzen treten an Röcken zum glitzernden und
sinnverwirrenden Vorschein. Hündchen fahren in Wagen, auf dem Schoß
alter, vornehmer Frauen, spazieren. Brüste prallen einem entgegen, in
Kleidern und Fassonen eingepreßte, weibliche Brüste. Und dann sind
wieder die dummen vielen Zigarren in den vielen Schlitzen von männlichen
Mundteilen. Und ungeahnte Straßen denkt man sich, unsichtbare neue und
ebenso sehr menschenwimmelnde Gegenden. Abends zwischen sechs und acht
wimmelt es am graziösesten und dichtesten. Zu dieser Zeit promeniert die
beste Gesellschaft. Was ist man eigentlich in dieser Flut, in diesem
bunten, nicht endenwollenden Strom von Menschen? Manchmal sind alle
diese beweglichen Gesichter rötlich angezärtelt und gemalt von
untergehenden Abendsonnengluten. Und wenn es grau ist und regnet? Dann
gehen alle diese Figuren, und ich selber mit, wie Traumfiguren rasch
unter dem trüben Flor dahin, etwas suchend, und wie es scheint, fast nie
etwas Schönes und Rechtes findend. Es sucht hier alles, alles sehnt sich
nach Reichtümern und fabelhaften Glücksgütern. Hastig geht man. Nein,
sie beherrschen sich alle, aber die Hast, das Sehnen, die Qual und die
Unruhe glänzen schimmernd zu den begehrlichen Augen heraus. Dann ist
wieder alles ein Baden in der heißen, mittäglichen Sonne. Alles scheint
zu schlafen, auch die Wagen, die Pferde, die Räder, die Geräusche. Und
die Menschen blicken so verständnislos. Die hohen, scheinbar
umstürzenden Häuser scheinen zu träumen. Mädchen eilen dahin, Pakete
werden getragen. Man möchte sich jemandem an den Hals werfen. Komme ich
heim, so sitzt Kraus da und spottet mich aus. Ich sage ihm, man müsse
doch ein wenig die Welt kennen lernen. »Welt kennen lernen?« sagt er,
wie in tiefe Gedanken versunken. Und er lächelt verächtlich.

Ungefähr vierzehn Tage nach meinem Eintritt in die Schule ist Hans in
unsern Räumen erschienen. Hans ist der rechte Bauernjunge, wie er in
Grimms Märchenbuch steht. Er kommt tief aus Mecklenburg, und er duftet
nach blumigen üppigen Wiesen, nach Kuhstall und Bauernhof. Schlank, grob
und knochig ist er, und er spricht eine wunderliche, gutmütig-bäuerische
Sprache, die mir eigentlich gefällt, wenn ich mir Mühe gebe, die
Nasenlöcher zuzuhalten. Nicht als ob Hans etwa übel dünste und dufte.
Und doch tut man irgend welche empfindlichen Nasen zu, meinetwegen
geistige, kulturelle, seelische Nasen, und ganz unwillkürlich, womit man
den guten Hans auch gar nicht kränken will. Und er merkt so etwas ja gar
nicht, dazu sieht, horcht und empfindet dieser Land-Mensch viel zu
gesund und zu schlicht. Etwas wie die Erde selber und Erdrinnen- und
Krümmungen tritt einem entgegen, wenn man sich in den Anblick dieses
Burschen vertieft, aber zu vertiefen braucht man sich gar nicht. Hans
fordert keinen gedankenvollen Tiefsinn heraus. Er ist mir nicht
gleichgültig, durchaus nicht, aber, wie soll ich sagen, ein wenig fern
und leicht. Man nimmt ihn ganz leicht, weil er nichts hat, das schwer
zu ertragen wäre, weil es Empfindungen wachriefe. Der Grimmsche
Märchenbauernjunge. Etwas Uralt-Deutsches und Angenehmes, verständlich
und wesentlich auf den ersten, flüchtigen Blick. Sehr wert, dem Ding ein
guter Kamerad zu sein. Hans wird im späteren Leben schwer arbeiten, ohne
zu seufzen. Er wird Mühen und Sorgen und Mißgeschicke kaum recht
wahrnehmen. Er strotzt ja von Kraft und Gesundheit. Und dazu ist er
nicht unhübsch. Überhaupt: ich muß bald lachen über mich selber: ich
finde an allem und in allem irgend etwas Geringfügig-Hübsches. Ich mag
sie alle so gern leiden, meine Zöglinge da, die Schulkameraden.

Bin ich der geborne Großstädter? Sehr leicht möglich. Ich lasse mich
fast nie betäuben oder überraschen. Etwas unsagbar Kühles ist trotz der
Aufregungen, die mich überfallen können, an mir. Ich habe die Provinz in
sechs Tagen abgestreift. Übrigens bin ich in einer allerdings ganz, ganz
kleinen Weltstadt aufgewachsen. Ich habe Stadtwesen und -empfinden mit
der mütterlichen Milch eingesogen. Ich sah als Kind johlende, betrunkene
Arbeiter hin und her taumeln. Die Natur ist mir schon als ganz klein als
etwas Himmlisch-Entferntes vorgekommen. So kann ich die Natur entbehren.
Muß man denn nicht auch Gott entbehren? Das Gute, Reine und Hohe
irgend, irgendwo versteckt in Nebeln zu wissen und es leise, ganz, ganz
still zu verehren und anzubeten, mit gleichsam total kühler und
schattenhafter Inbrunst: daran bin ich gewöhnt. Ich sah als Kind eines
Tages einen im Blut schwimmenden, von zahlreichen Messerstichen
durchbohrten wälschen Fabrikarbeiter an einer Mauer tot daliegen. Und
ein anderes Mal, es war zu Ravachols Zeiten, hieß es unter der Jugend,
es werden auch bei uns bald Bomben geschleudert werden usw. Alte Zeiten.
Ich wollte von etwas ganz anderem sprechen, nämlich von Kamerad Peter,
dem langen Peter. Dieser hochaufgeschossene Knabe ist zu drollig, er
stammt aus Teplitz in Böhmen und kann slawisch und deutsch sprechen.
Sein Vater ist Schutzmann, und Peter ist in einem Seilergeschäft
kaufmännisch erzogen worden, er scheint aber den Unwissenden,
Unbrauchbaren und Ungeratenen gespielt zu haben, was ich, ganz für mich,
sehr niedlich finde. Er sagt, er rede auch ungarisch und polnisch, wenn
es von ihm verlangt werde. Aber hier verlangt kein Mensch so etwas von
ihm. Was für ausgedehnte Sprachenkenntnisse! Peter ist ganz entschieden
der Dümmste und Unbeholfenste unter uns Eleven, und das belegt und
bekränzt ihn in meinen unmaßgeblichen Augen mit Auszeichnungen, denn
unglaublich lieb sind mir die Dummen. Ich hasse das alles
verstehenwollende, mit Wissen und Witz glänzende, und sich breitmachende
Wesen. Verschmitzte und gewitzigte Menschen sind mir ein unnennbarer
Greuel. Wie nett ist doch gerade in diesem Punkt Peter. Schon, daß er so
lang ist, zum Mittenentzweibrechen lang, ist schön, aber noch viel
schöner ist die Gutherzigkeit, die ihm beständig einflüstert, er sei
Kavalier und habe das Aussehen eines edlen und eleganten Verbummelten.
Zum Kugeln ist das. Er redet immer von erlebten, aber sehr
wahrscheinlich nicht erlebten Abenteuern. Nun, das ist wahr, Peter
besitzt den feinsten und zierlichsten Spazierstock der Welt. Und nun
zieht er stets los und geht in den belebtesten Straßen mit seinem
Spazierstock spazieren. Ich traf ihn einmal in der F...straße. Die
F...straße ist der entzückende Brennpunkt des hiesigen Großstadtweltlebens.
Schon aus weiter Ferne winkte er mir mit Hand, Kopfnicken und
Spazierstockschwenken. Dann, wie ich in seiner Nähe war, schaute er mich
väterlich-sorgenvoll an, als hätte er sagen wollen: »Was, du auch hier?
Jakob, Jakob, das ist noch nichts für dich.« -- Und dann verabschiedete
er sich wie einer der Großen dieses Erdenlebens, wie ein
Weltblattredakteur, der die hochkostbare Zeit nicht zu verlieren hat.
Und dann sah ich sein rundes dummes nettes Hütchen in der Menge anderer
Köpfe und Hüte verschwinden. Er tauchte, wie man so sagt, in der Masse
unter. Peter lernt absolut nichts, obgleich er es in so humorvoller
Weise nötig hätte, und in das Institut Benjamenta ist er scheinbar nur
deshalb eingetreten, um hier mit köstlichen Dummheiten zu glänzen.
Vielleicht wird er hier sogar noch um wesentliche Portionen dümmer, als
er war, und warum sollte sich seine Dummheit denn eigentlich nicht
entfalten dürfen? Ich z. B. bin überzeugt, daß Peter im Leben
unverschämt viel Erfolg davontragen wird, und seltsam: ich gönne es ihm.
Ja, ich gehe noch weiter. Ich habe das Gefühl, und es ist ein sehr
trostreiches, prickelndes und angenehmes, daß ich später einmal solch
einen Herrn, Gebieter und Vorgesetzten bekommen werde, wie Peter einer
sein wird, denn solche Dummen, wie er einer ist, sind zum Avancieren,
Hochkommen, Wohlleben und Befehlen geschaffen, und solche in gewissem
Sinn Gescheite, wie ich, sollen den guten Drang, den sie besitzen, im
Dienst anderer blühen und entkräften lassen. Ich, ich werde etwas sehr
Niedriges und Kleines sein. Die Empfindung, die mir das sagt, gleicht
einer vollendeten, unantastbaren Tatsache. Mein Gott, und ich habe
trotzdem so viel, so viel Mut, zu leben? Was ist mit mir? Oft habe ich
ein wenig Angst vor mir, aber nicht lange. Nein, nein, ich vertraue
mir. Aber ist das nicht geradezu komisch?

Für meinen Mitschüler Fuchs habe ich nur einen einzigen sprachlichen
Ausdruck: Fuchs ist schräg, Fuchs ist schief. Er spricht wie ein
mißlungener Purzelbaum und benimmt sich wie eine große, zu Menschenform
zusammengeknetete Unwahrscheinlichkeit. Alles an ihm ist unsympathisch,
daher unbeherzigenswert. Über Fuchs etwas zu wissen, das ist Mißbrauch,
unfeiner, störender Überfluß. Man kennt solche Schlingel nur, um sie zu
verachten; da man aber überhaupt nicht gern irgend etwas verächtlich
finden will, vergißt oder übersieht man das Ding. Ein Ding, ja, das ist
er. O Gott, muß ich heute böse reden? Fast möchte ich mich dafür hassen.
Fort, zu irgend etwas Schönerem. -- Herrn Benjamenta sehe ich sehr
selten. Zuweilen trete ich in das Bureau ein, verbeuge mich bis zur
Erde, sage »guten Tag, Herr Vorsteher« und frage den Herrscherähnlichen,
ob ich ausgehen darf. »Hast du den Lebenslauf geschrieben? Wie?« werde
ich gefragt. Ich antworte: »Noch nicht. Aber ich werde es tun.« Herr
Benjamenta tritt auf mich zu, d. h. bis zum Schalter, an welchem ich
stehe, und drückt mir die riesige Faust vor die Nase. »Du wirst
pünktlich sein, Bursch, oder -- -- -- du weißt, was es absetzt.« -- Ich
verstehe ihn, ich verbeuge mich wieder und verschwinde. Seltsam, wie
viel Lust es mir bereitet, Gewaltausübende zu Zornesausbrüchen zu
reizen. Sehne ich mich denn eigentlich danach, von diesem Herrn
Benjamenta gezüchtigt zu werden? Leben in mir frivole Instinkte? Alles,
alles, selbst das Niederträchtigste und Unwürdigste, ist möglich. Nun
gut, bald werde ich den Lebenslauf ja schreiben. Ich finde Herrn
Benjamenta geradezu schön. Ein herrlicher brauner Bart -- was?
Herrlicher brauner Bart? Ich bin ein Dummkopf. Nein, am Herrn Vorsteher
ist nichts schön, nichts herrlich, aber man ahnt hinter diesem Menschen
schwere Schicksalswege und -schläge, und dieses Menschliche ist es,
dieses beinahe Göttliche ist es, was ihn schön macht. Wahre Menschen und
Männer sind nie sichtbar schön. Ein Mann, der einen wirklich schönen
Bart trägt, ist ein Opernsänger oder der gutbezahlte Abteilungschef
eines Warenhauses. Scheinmänner sind in der Regel schön. Immerhin kann
es auch Ausnahmen und männliche Schönheiten, erfüllt von Tüchtigkeit,
geben. Herrn Benjamentas Gesicht und Hand (die ich schon zu spüren
bekommen habe) haben Ähnlichkeit mit knorrigen Wurzeln, mit Wurzeln, die
zu irgend einer traurigen Stunde schon irgendwelchen unbarmherzigen
Beilhieben haben widerstehen müssen. Wäre ich eine Dame von Noblesse
und Geist, ich wüßte Männer, wie diesen scheinbar so armseligen
Institutsvorsteher, unbedingt auszuzeichnen, aber wie ich vermute,
verkehrt Herr Benjamenta gar nicht in der Gesellschaft, die die Welt
bedeutet. Er sitzt eigentlich immer zu Hause, er hält sich ohne Zweifel
so auf eine Art im Verborgenen auf, er verkriecht sich »in der
Einsamkeit«, und in der Tat, schauderhaft einsam muß dieser sicher edle
und kluge Mann dahinleben. Irgend welche Ereignisse müssen auf diesen
Charakter einen tiefen, vielleicht sogar vernichtenden Eindruck gemacht
haben, aber was weiß man? Ein Eleve des Institutes Benjamenta, was, was
kann ein solcher wissen? Aber ich forsche wenigstens immer. Um zu
forschen, sonst um nichts anderen willen trete ich öfters in das Kontor
und richte so läppische Fragen, wie die: »Darf ich ausgehen, Herr
Vorsteher?« an den Mann. Ja, dieser Mensch hat es mir angetan, er
interessiert mich. Auch die Lehrerin erweckt mein höchstes Interesse.
Ja, und deshalb, um etwas herauszukriegen aus all diesem
Geheimnisvollen, reize ich ihn, damit ihm etwas wie eine unvorsichtige
Bemerkung entfahre. Was schadet es mir, wenn er mich schlägt? Mein
Wunsch, Erfahrungen zu machen, wächst zu einer herrischen Leidenschaft
heran, und der Schmerz, den mir der Unwille dieses seltsamen Mannes
verursacht, ist nur klein gegen die bebende Begierde, ihn zu verleiten,
sich ein wenig mir gegenüber auszusprechen. O ich träume davon, --
herrlich, herrlich, -- dieses Menschen hervorbrechendes Vertrauen zu
besitzen. Nun, es wird noch lange dauern, aber ich glaube, ich glaube,
ich bringe es fertig, in das Geheimnis der Benjamentas endlich noch
einzudringen. Geheimnisse lassen einen unerträglichen Zauber
vorausahnen, sie duften nach etwas ganz, ganz unsäglich Schönem. Wer
weiß, wer weiß. Ah -- -- --.

Ich liebe den Lärm und die fortlaufende Bewegung der Großstadt. Was
unaufhörlich fortläuft, zwingt zur Sitte. Dem Dieb z. B., wenn er all
die regsamen Menschen sieht, muß unwillkürlich einfallen, was für ein
Spitzbube er ist, nun, und der fröhlich-bewegliche Anblick kann
Besserung in sein verfallenes, ruinenartiges Wesen schütten. Der
Prahlhans wird vielleicht etwas bescheidener und nachdenklicher, wenn er
all die Kräfte, die sich schaffend zeigen, erblickt, und der
Unschickliche sagt sich möglicherweise, wenn ihm die Schmiegsamkeit der
Vielen ins Auge fällt, er sei doch ein entsetzlicher Wicht, derart auf
der Breitspurigkeit und Anmaßung dumm und eitel zu thronen. Die
Großstadt erzieht, sie bildet, und zwar durch Beispiele, nicht durch
trockene, den Büchern entnommene Lehrsätze. Es ist nichts Professorales
da, und das schmeichelt, denn die aufgetürmte Wissenswürde entmutigt.
Und dann ist hier noch so vieles, was fördert, hält und hilft. Man kann
es kaum sagen. Wie schwer ist es, Feinem und Gutem lebendigen Ausdruck
zu geben. Man ist hier dem bescheidenen Leben schon dankbar, man dankt
immer ein wenig, indem es einen treibt, indem man es eilig hat. Wer Zeit
zu verschwenden hat, weiß nicht, was sie bedeutet, und er ist der
natürliche, blöde Undankbare. In der Großstadt fühlt jeder Laufbursche,
daß Zeit etwas wert ist, und jeder Zeitungsverkäufer will seine Zeit
nicht vertrödeln. Und dann das Traumhafte, das Malerische und
Dichterische! Menschen eilen und wirken immer an einem vorbei. Nun, das
hat etwas zu bedeuten, das regt an, das setzt den Geist in einen
lebhafteren Schwung. Während man zaudernd steht, sind schon Hunderte,
ist bereits hunderterlei einem am Kopf und Blick vorübergegangen, das
beweist einem so recht deutlich, welch ein Versäumer und träger
Verschieber man ist. Man hat es hier allgemein eilig, weil man jeden
Augenblick der Meinung ist, es sei hübsch, etwas erkämpfen und erhaschen
zu gehen. Das Leben erhält einen reizenderen Atem. Die Wunden und
Schmerzen werden tiefer, die Freude frohlockt fröhlicher und länger als
anderswo, denn wer sich hier freut, der scheint es stets sauer und
rechtschaffen durch Arbeit und Mühe verdient zu haben. Dann sind wieder
die Gärten, die so still und verloren hinter den zierlichen Gittern
liegen wie heimliche Winkel in englischen Parklandschaften. Dicht
daneben rauscht und poltert der geschäftliche Verkehr, als wenn es nie
Landschaften oder Träumereien im Leben gegeben hätte. Die Eisenbahnzüge
donnern über die zitternden Brücken. Abends glitzern die märchenhaft
reichen und eleganten Schaufenster, und Ströme, Schlangen und Wellen von
Menschen wälzen sich am ausgestellten, lockenden Industrie-Reichtum
vorbei. Ja, das alles erscheint mir gut und groß. Man gewinnt, indem man
mitten im Gestrudel und Gesprudel ist. Man empfindet etwas Gutes an den
Beinen, an den Armen und in der Brust, indem man sich Mühe gibt, sich
schicklich und ohne viel Federlesens durch all den lebendigen Kram
hindurchzuwinden. Am Morgen scheint alles neu zu leben, und am Abend
sinkt alles einer neuen, nie empfundenen Träumerei in die
wildumschlingenden Arme. Das ist sehr dichterisch. Fräulein Benjamenta
würde mich ganz gehörig zurechtweisen, wenn sie lesen würde, was ich
hier schreibe. Von Kraus nicht zu reden, der macht zwischen Dorf und
Stadt keinen so leidenschaftlichen Unterschied. Kraus erblickt erstens
Menschen, zweitens Pflichten und drittens höchstens noch Ersparnisse,
die er zurücklegen wird, wie er denkt, um sie seiner Mutter zu schicken.
Kraus schreibt immer nach Hause. Er besitzt eine ebenso einfache wie
rein menschliche Bildung. Das Großstadtgetriebe mit all seinen vielen
törichten glitzernden Versprechungen läßt ihn vollständig kalt. Welch
eine rechtschaffene, zarte, feste Menschenseele.

Endlich sind meine Photographien fertig geworden. Ich blicke sehr, sehr
energisch in die Welt hinein auf dem wirklich gut gelungenen Bild. Kraus
will mich ärgern und sagt, ich sehe wie ein Jude aus. Endlich, endlich
lacht er ein wenig. »Kraus,« sage ich, »bitte, bedenke, auch die Juden
sind Menschen.« Wir zanken über den Wert und über den Unwert der Juden
und unterhalten uns damit prachtvoll. Ich wundere mich, welche guten
Meinungen er hat. »Die Juden haben alles Geld,« meint er. Ich nicke
dazu, ich bin einverstanden, und ich sage: »Das Geld macht die Menschen
erst zu Juden. Ein armer Jude ist kein Jude, und reiche Christen, ich
pfeife, das sind noch die ärgsten Juden.« -- Er nickt. Endlich, endlich
einmal habe ich dieses Menschen Beifall gefunden. Aber er ärgert sich
schon wieder und sagt sehr ernsthaft: »Schwatz' nicht immer. Was soll
das mit den Juden und mit den Christen. Das gibt es gar nicht. Es gibt
liederliche und brave Menschen. Das ist es. Und was glaubst du, Jakob?
Zu welcher Sorte gehörst du?« -- Und nun unterhalten wir uns erst recht
noch lange. O, Kraus redet sehr gern mit mir, ich weiß es. Die gute,
feine Seele. Er mag es nur nicht zugeben. Wie liebe ich Menschen, die
sich nicht gern Geständnisse machen. Kraus hat Charakter: Wie deutlich
man das fühlt. -- Den Lebenslauf habe ich allerdings geschrieben, aber
ich habe ihn wieder zerrissen. Fräulein Benjamenta ermahnte mich
gestern, aufmerksamer und folgsamer zu sein. Ich habe die schönsten
Vorstellungen von Gehorsamkeit und Aufmerksamkeit, und sonderbar: es
entwischt mir. Ich bin tugendhaft in der Einbildung, aber wenn es darauf
ankommt, Tugenden auszuüben? Wie dann? Nicht wahr, ja, dann ist es eben
etwas ganz anderes, dann versagt man, dann ist man unwillig. Übrigens
bin ich unhöflich. Ich schwärme sehr für die Ritterlichkeit und
Höflichkeit, wenn es aber gilt, der Lehrerin vorauszueilen und ihr die
Türe ehrfürchtig zu öffnen, wer ist dann der Flegel, der am Tisch sitzen
bleibt? Und wer springt wie der Sturmwind, um sich artig zu erweisen?
Ei, Kraus. Kraus ist Ritter von Kopf bis zu Fuß. Er gehört eigentlich
ins Mittelalter, und es ist sehr schade, daß ihm kein zwölftes
Jahrhundert zur Verfügung steht. Er ist die Treue, der Diensteifer und
das unauffällige, selbstlose Entgegenkommen selber. Über Frauen hat er
kein Urteil, er verehrt sie bloß. Wer hebt das Fallengelassene vom Boden
auf und reicht es eichhornhaft schnell dem Fräulein? Wer springt zum
Haus hinaus auf Kommissionen? Wer trägt der Lehrerin die Markttasche
nach? Wer scheuert die Treppe und Küche, ohne daß man es ihm hat
befehlen müssen? Wer tut das alles und frägt nicht nach Dank? Wer ist so
herrlich, so gewaltig in sich selbst froh? Wie heißt er? Ah, ich weiß es
schon. Manchmal möchte ich von diesem Kraus gehauen sein. Aber Menschen
wie er, wie könnten sie hauen. Kraus will nur Rechtes und Gutes. Das ist
durchaus nicht übertrieben gesprochen. Er hat nie schlechte Absichten.
Seine Augen sind erschreckend gut. Dieser Mensch, was will er eigentlich
in solch einer auf die Phrase, Lüge und Eitelkeit gestellten und
abgerichteten Welt? Sieht man Kraus an, dann fühlt man unwillkürlich,
wie unrettbar verloren die Bescheidenheit in der Welt ist.

Ich habe meine Uhr verkauft, um Zigarettentabak kaufen zu können. Ich
kann ohne Uhr, aber nicht ohne Tabak leben, das ist schändlich, aber es
ist zwingend. Ich muß irgendwie zu ein wenig Geld gelangen, sonst wird
es mir bald an reiner Wäsche fehlen. Saubere Hemdkragen sind mir ein
Bedürfnis. Das Glück eines Menschen hängt nicht und hängt doch von
solchen Dingen ab. Glück? Nein. Aber man soll anständig sein.
Reinlichkeit allein ist ein Glück. Ich schwatze. Wie hasse ich all die
treffenden Worte. Heute hat Fräulein geweint. Warum? Mitten in der
Schulstunde stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen. Das berührt
mich seltsam. Jedenfalls werde ich die Augen offen behalten. Es macht
mir Spaß, auf irgend etwas, was keinen Ton geben will, zu horchen. Ich
passe auf, und das verschönert das Leben, denn ohne aufpassen zu müssen,
gibt es eigentlich gar kein Leben. Es ist klar, Fräulein Benjamenta hat
einen Kummer, und es muß ein heftiger Kummer sein, da sich unsere
Lehrerin sonst sehr gut zu beherrschen weiß. Ich muß Geld haben.
Übrigens habe ich den Lebenslauf jetzt geschrieben. Er lautet
folgendermaßen:

                                Lebenslauf.

    Unterzeichneter, Jakob von Gunten, Sohn rechtschaffener Eltern, den
    und den Tag geboren, da und da aufgewachsen, ist als Eleve in das
    Institut Benjamenta eingetreten, um sich die paar Kenntnisse
    anzueignen, die nötig sind, in irgend jemandes Dienste zu treten.
    Ebenderselbe macht sich durchaus vom Leben keine Hoffnungen. Er
    wünscht, streng behandelt zu werden, um zu erfahren, was es heißt,
    sich zusammenraffen müssen. Jakob von Gunten verspricht nicht viel,
    aber er nimmt sich vor, sich brav und redlich zu verhalten. Die von
    Gunten sind ein altes Geschlecht. In früheren Zeiten waren sie
    Krieger, aber die Rauflust hat nachgelassen, und heute sind sie
    Großräte und Handelsleute, und der Jüngste des Hauses, Gegenstand
    dieses Berichtes, hat sich entschlossen, gänzlich von aller
    hochmütigen Tradition abzufallen. Er will, daß das Leben ihn
    erziehe, nicht erbliche oder irgend adlige Grundsätze. Allerdings
    ist er stolz, denn es ist ihm unmöglich, die angeborne Natur zu
    verleugnen, aber er versteht unter Stolz etwas ganz Neues,
    gewissermaßen der Zeit, in der er lebt, Entsprechendes. Er hofft,
    daß er modern, einigermaßen geschickt zu Dienstleistungen und nicht
    ganz dumm und unbrauchbar ist, aber er lügt, er hofft das nicht nur,
    sondern er behauptet und weiß es. Er hat einen Trotzkopf, in ihm
    leben eben noch ein wenig die ungebändigten Geister seiner
    Vorfahren, doch er bittet, ihn zu ermahnen, wenn er trotzt, und wenn
    das nichts nützt, zu züchtigen, denn dann glaubt er, nützt es. Im
    übrigen wird man ihn zu behandeln wissen müssen. Der Unterzeichnete
    glaubt, sich in jede Lage schicken zu können, es ist ihm daher
    gleichgültig, was man ihm zu tun befehlen wird, er ist der festen
    Überzeugung, daß jede sorgsam ausgeführte Arbeit für ihn eine
    größere Ehre sein wird als das müßig und ängstlich zu Hause
    Hinter-dem-Ofen-Sitzen. Ein von Gunten sitzt nicht hinter dem Ofen.
    Wenn die Ahnen des gehorsam Unterzeichneten das ritterliche Schwert
    geführt haben, so handelt der Nachkomme traditionell, wenn er
    glühend heiß begehrt, sich irgendwie nützlich zu erweisen. Seine
    Bescheidenheit kennt keine Grenzen, wenn man seinem Mut schmeichelt,
    und sein Eifer, zu dienen, gleicht seinem Ehrgeiz, der ihm befiehlt,
    hinderliche und schädliche Ehrgefühle zu verachten. Zu Hause hat
    Immerderselbe seinen Geschichtslehrer, den ehrenwerten Herrn Doktor
    Merz, durchgeprügelt, eine Schandtat, die er bedauert. Heute sehnt
    er sich danach, den Hochmut und die Überhebung, die ihn vielleicht
    zum Teil noch beseelen, am unerbittlichen Felsen harter Arbeit
    zerschmettern zu dürfen. Er ist wortkarg und wird Vertraulichkeiten
    niemals ausplaudern. Er glaubt weder an ein Himmelreich noch an eine
    Hölle. Die Zufriedenheit desjenigen, der ihn engagiert, wird sein
    Himmel, und das traurige Gegenteil seine vernichtende Hölle sein,
    aber er ist überzeugt, daß man mit ihm und dem, was er leistet,
    zufrieden sein wird. Dieser feste Glaube gibt ihm den Mut, der zu
    sein, der er ist.

                                                       Jakob von Gunten.

Ich habe den Lebenslauf Herrn Vorsteher überreicht. Er hat ihn
durchgelesen, ich glaube, sogar zweimal, und das Schreiben scheint ihm
gefallen zu haben, denn es trat etwas wie ein schimmerndes Lächeln auf
seine Lippen. O gewiß, ich habe meinen Mann scharf beobachtet. Ein wenig
gelächelt hat er, das ist und bleibt Tatsache. Also endlich ein Zeichen
von etwas Menschlichem. Was muß man doch für Sprünge machen, Menschen,
denen man die Hände küssen möchte, zu einer nur ganz flüchtigen
freundlichen Regung zu bewegen. Absichtlich, absichtlich habe ich den
Lauf meines Lebens so stolz und frech geschrieben: »Da lies es. Wie?
Reizt es dich nicht, mir das Ding ins Gesicht zu schmeißen?« -- Das sind
meine Gedanken gewesen. Und da hat er ganz schlau und fein gelächelt,
dieser schlaue und feine Herr Vorsteher, den ich leider, leider Gottes
über alles verehre. Und ich hab' es bemerkt. Es ist ein Vorpostengefecht
gewonnen. Heute muß ich unbedingt noch irgend einen Streich verüben. Ich
muß mich sonst kaputtfreuen, kaputtlachen. Aber Fräulein Vorsteher
weint? Was ist das? Warum bin ich so seltsam glücklich? Bin ich
verrückt?

Ich muß jetzt etwas berichten, was vielleicht einigen Zweifel erregt.
Und doch ist es durchaus Wahrheit, was ich sage. Es lebt ein Bruder von
mir in dieser gewaltigen Stadt, mein einziger Bruder, ein meiner Ansicht
nach außerordentlicher Mensch, Johann heißt er, und er ist so etwas wie
ein namhaft bekannter Künstler. Ich weiß um seine jetzige Stellung in
der Welt nichts Bestimmtes, da ich es vermieden habe, ihn zu besuchen.
Ich werde nicht zu ihm gehen. Begegnen wir uns zufällig auf der Straße
und erkennt er mich und tritt auf mich zu: schön, dann ist es mir lieb,
seine brüderliche Hand kräftig zu schütteln. Aber herausfordern werde
ich solch ein Begegnen nie, nie im Leben. Was bin ich, und was ist er?
Was ein Zögling des Institutes Benjamenta ist, das weiß ich, es liegt
auf der Hand. Solch ein Zögling ist eine gute runde Null, weiter nichts.
Aber was mein Bruder zur Stunde ist, das kann ich nicht wissen. Er ist
vielleicht umgeben von lauter feinen, gebildeten Menschen und von weiß
Gott was für Formalitäten, und ich respektiere Formalitäten, deshalb
suche ich nicht einen Bruder auf, wo mir möglicherweise ein soignierter
Herr unter gezwungenem Lächeln entgegentritt. Ich kenne ja Johann von
Gunten von früher her. Er ist ein durchaus ebenso kühl abwägender und
berechnender Mensch wie ich und wie alle Gunten, aber er ist viel älter,
und im Altersunterschied zweier Menschen und Brüder können
unübersteigliche Grenzen liegen. Jedenfalls ließe ich mir von ihm keine
guten Lehren erteilen, und das ist es gerade, was ich befürchte, das er
tun wird, wenn er mich zu Gesicht bekommt, denn wenn er mich so arm und
unbedeutend vor sich sieht, wird es ihn, den Gutsituierten, doch ganz
sicher reizen, mich meine niedrige Position von oben herab leicht fühlen
zu lassen, und das würde ich nicht ertragen können, ich würde den von
Guntenschen Stolz hervorkehren und entschieden grob werden, was mir
hinterher dann doch nur weh täte. Nein, tausendmal nein. Was? Von meinem
Bruder, vom selben Blut Gnade annehmen? Tut mir sehr leid. Das ist
unmöglich. Ich stelle mir ihn sehr fein vor, die beste Zigarette der
Welt rauchend, und liegend auf den Kissen und Teppichen der bürgerlichen
Behaglichkeit. Und wie? Ja, es ist jetzt in mir so etwas Unbürgerliches,
so etwas durchaus Entgegengesetzt-Wohlanständiges, und vielleicht ruht
mein Herr Bruder mitten drinnen im schönsten, prächtigsten Welt-Anstand.
Es ist beschlossen: wir beide sehen uns nicht, vielleicht nie! Und das
ist auch gar nicht nötig. Nicht nötig? Gut, lassen wir das. Ich
Schafskopf, da rede ich wie eine ganze würdevolle Lehrerschaft per wir.
-- Um meinen Bruder herum gibt es sicher das beste, gewählteste
Salon-Benehmen. Merci. O, ich danke. Da werden Frauen sein, die den Kopf
zur Türe herausstrecken und schnippisch fragen: »Wer ist denn jetzt
wieder da? Wie? Ist es vielleicht ein Bettler?« -- Verbindlichsten Dank
für solch einen Empfang. Ich bin zu gut, um bemitleidet zu werden.
Duftende Blumen im Zimmer! O ich mag gar keine Blumen. Und gelassenes
Weltwesen? -- Scheußlich. Ja, gern, sehr gern sähe ich ihn. Aber wenn
ich ihn so sähe, so sähe im Glanz und im Behagen: futsch wäre die
Empfindung, hier stehe ein Bruder, und ich würde nur Freude lügen
dürfen, und er auch. Also nicht.

In der Unterrichtsstunde sitzen wir Schüler, starr vor uns herblickend,
da, unbeweglich. Ich glaube, man darf sich nicht einmal die persönliche
Nase putzen. Die Hände ruhen auf den Kniescheiben und sind während des
Unterrichtes unsichtbar. Hände sind die fünffingrigen Beweise der
menschlichen Eitelkeit und Begehrlichkeit, daher bleiben sie unter dem
Tisch hübsch verborgen. Unsere Schülernasen haben die größte geistige
Ähnlichkeit miteinander, sie scheinen alle mehr oder weniger nach der
Höhe zu streben, wo die Einsicht in die Wirrnisse des Lebens leuchtend
schwebt. Nasen von Zöglingen sollen stumpf und gestülpt erscheinen, so
verlangen es die Vorschriften, die an alles denken, und in der Tat,
unsere sämtlichen Riechwerkzeuge sind demütig und schamhaft gebogen. Sie
sind wie von scharfen Messern kurzgehauen. Unsere Augen blicken stets
ins gedankenvolle Leere, auch das will die Vorschrift. Eigentlich sollte
man gar keine Augen haben, denn Augen sind frech und neugierig, und
Frechheit und Neugierde sind von fast jedem gesunden Standpunkt aus
verdammenswert. Ziemlich ergötzlich sind die Ohren von uns Zöglingen.
Sie wagen alle kaum zu horchen vor lauter gespannten Horchens. Sie
zucken immer ein wenig, als fürchteten sie, von hinten plötzlich mahnend
gezogen und in die Weite und Breite gerissen zu werden. Arme Ohren das,
die derart Angst ausstehen müssen. Schlägt der Ton eines Rufes oder
Befehls an diese Ohren, so vibrieren und zittern sie wie Harfen, die
berührt und gestört worden sind. Nun, es kommt ja auch vor, daß
Zöglingsohren gern ein wenig schlafen, und wie werden sie dann geweckt!
Es ist eine Freude. Das Dressierteste an uns ist aber doch der Mund, er
ist stets gehorsam und devot zugekniffen. Es ist ja auch nur zu wahr:
ein offener Mund ist die gähnende Tatsache, daß der Besitzer desselben
mit seinen paar Gedanken meist anderswo sich aufhält als im Bereich und
Lustgarten der Aufmerksamkeit. Ein festgeschlossener Mund deutet auf
offene, gespannte Ohren, daher müssen die Türen da unten, unter den
Nasenflügelfenstern, stets sorgsam verriegelt bleiben. Ein offener Mund
ist ein Maul ohne weiteres, und das weiß jeder von uns genau. Lippen
dürfen nicht prangen und lüstern blühen in der bequemen natürlichen
Lage, sondern sie sollen gefalzt und gepreßt sein zum Zeichen
energischer Entsagung und Erwartung. Das tun wir Schüler alle, wir gehen
mit unsern Lippen laut bestehender Vorschrift sehr hart und grausam um,
und daher sehen wir alle so grimmig wie kommandierende Wachtmeister aus.
Ein Unteroffizier will die Mienen seiner Soldaten bekanntlich genau so
schnauzig und grimmig haben wie seine, das paßt ihm, denn er hat Humor
in der Regel. Im Ernst: Gehorchende sehen meist genau aus wie
Befehlende. Ein Diener kann gar nicht anders als die Masken und Allüren
seines Herrn annehmen, um sie gleichsam treuherzig fortzupflanzen. Unser
verehrtes Fräulein ist ja nun gar kein solcher Feldwebel, im Gegenteil,
sie lächelt sehr oft, ja, sie gestattet sich manchmal, uns Murmeltiere
von vorschriftenbefolgenden Menschenkindern einfach auszulachen, aber
sie gewärtigt eben, daß wir sie ruhig, und ohne unsere Mienen zu
verändern, lachen lassen, und das tun wir auch, wir tun so, als hörten
wir den süßen Silberton ihres Gelächters überhaupt gar nicht. Was sind
wir für aparte Käuze. Unser Haar ist stets sauber und glatt gekämmt und
gebürstet, und jeder hat sich einen geraden Scheitel in die Welt da oben
auf dem Kopf einzuschneiden, einen Kanal in die tiefschwarze oder blonde
Haar-Erde. So gehört sich's. Scheitel sind nun einmal auch
vorschriftsmäßig. Und daher, weil wir so reizend frisiert und
gescheitelt sind, sehen wir uns alle eigentlich ähnlich, was für einen
Schriftsteller z. B. zum Totlachen wäre, wenn er uns besuchte, um uns in
unserer Herrlichkeit und Wenigkeit zu studieren. Mag dieser Herr
Schriftsteller zu Hause bleiben. Windbeutel sind das, die nur studieren,
malen und Beobachtungen anstellen wollen. Man lebe, dann beobachtet
sich's ganz von selber. Unser Fräulein Benjamenta würde übrigens solch
einen hergewanderten, -geregneten und -geschneiten Artikelschreiber
derart anherrschen, daß er vor Schreck über die Unfreundlichkeit des
Empfangs zu Boden fiele. Nun, dann würde die Lehrerin, die es liebt,
selbstherrlich zu verfahren, vielleicht zu uns sagen: »Geht, helft dem
Herrn von der Erde aufstehen.« Und dann würden wir Zöglinge des
Institutes Benjamenta dem ungebetenen Gast zeigen, wo die Türe ist. Und
das Stück neugierigen Schriftstellertums würde wieder verschwinden.
Nein, das sind Phantasien. Zu uns kommen Herrschaften, die uns Knaben
engagieren wollen, und nicht Leute mit Schreibfedern hinter den Ohren.

Entweder sind die Lehrer unseres Institutes gar nicht vorhanden, oder
sie schlafen noch immer, oder sie scheinen ihren Beruf vergessen zu
haben. Oder streiken sie vielleicht, weil man ihnen die Monatslöhne
nicht ausbezahlt? Wunderliche Gefühle ergreifen mich, wenn ich an die
armen Eingeschlummerten und Geistesabwesenden denke. Da sitzen sie nun,
oder kauern an den Wänden eines extra für die Ruhebedürftigen
eingerichteten Zimmers. Da ist Herr Wächli, der vermeintliche
Naturgeschichtslehrer. Sogar im Schlaf hält er noch immer seine
Tabakspfeife im Mund eingeklemmt. Schade, er hätte vielleicht besser
getan, Bienenzüchter zu werden. Wie rot sein Kopf doch ist und wie fett
seine ältliche, weichliche Hand. Und hier nebenan, ist das nicht Herr
Blösch, der sehr geehrte Französischlehrer? Ei ja doch, das ist er
wahrhaftig, und er lügt, wenn er zu schlafen vorgibt, er ist ein ganz
schrecklicher Lügner. Auch seine Schulstunden sind immer nur eine Lüge
und papierne Maske gewesen. Wie blaß er aussieht, und wie böse! Er hat
ein schlechtes Gesicht, dicke harte Lippen, grobe unbarmherzige Züge:
»Schläfst du, Blösch?« -- Er hört nicht. Er ist eigentlich widerwärtig.
Und das, wer ist denn das da? Herr Pfarrer Strecker? Der lange, dürre
Herr Pfarrer Strecker, der den Religionsunterricht erteilt? Zum Teufel,
ja er selber ist es. »Schlafen Sie, Herr Pfarrer? Nun, dann schlafen
Sie. Es schadet nichts, daß Sie schlafen. Sie versäumen nur Zeit mit
Religionsunterrichterteilen. Religion, sehen Sie, taugt heute nichts
mehr. Der Schlaf ist religiöser als all Ihre Religion. Wenn man schläft,
ist man Gott vielleicht noch am nächsten. Was meinen Sie?« -- Er hört
nicht. Ich will anderswo anklopfen. He, wer ist denn das hier, der so
bequeme Stellungen wählt? Ist es Merz, Doktor Merz, der die Geschichte
Roms lehrt? Ja, er ist es, ich erkenne ihn am Spitzbart. »Sie scheinen
mir böse zu sein, Herr Doktor Merz. Nun, schlafen Sie und vergessen Sie
die unpassenden Auftritte, die zwischen Ihnen und mir vorgefallen sind,
zürnen Sie nicht in Ihren Spitzbart hinein. Übrigens tun Sie gut, zu
schlafen. Die Welt dreht sich seit einiger Zeit um Geld und nicht mehr
um Geschichte. All die uralten Heldentugenden, die Sie auspacken,
spielen ja, wie Sie selbst wissen werden, längst keine Rolle mehr. Ich
verdanke Ihnen einige wundervolle Eindrücke. Schlafen Sie wohl.« --
Hier aber, wie ich sehe, scheint sich Herr von Bergen, der Knabenquäler
von Bergen, angesiedelt zu haben. Tut, als wenn er träume, und erteilt
doch so gern, mit so kitzlich-himmlischer Vorliebe, »Tatzen«. Oder er
kommandiert »Rumpfbeuge vorwärts«, und dann ist es ihm solch ein Genuß,
aufs Hinterstück des armen Jungen ein Meerrohrgeschenk anzuflicken. Sehr
elegante Pariser-Erscheinung, aber grausam. -- Und wer ist dieser hier?
Progymnasialdirektor Wyß? Sehr nett. Bei rechtlichen Leuten braucht man
sich nicht lange aufzuhalten. Und wer ist hier? Bur? Lehrer Bur? »Ich
bin entzückt, Sie zu sehen.« Bur ist der genialste gewesene Rechenlehrer
des Kontinents. Fürs Institut Benjamenta ist er nur zu freisinnig und zu
geistvoll. Kraus und die andern sind keine Schüler für ihn. Er ist zu
hervorragend und stellt zu hohe Ansprüche. Hier im Institut existieren
keine solchen überspannten Voraussetzungen. Aber ich träume wohl von
meinen heimatlichen Lehrern? Dort im Progymnasium gab's Kenntnisse die
Menge, hier gibt es etwas ganz anderes. Uns Zöglinge hier wird etwas
ganz anderes gelehrt.

Werde ich bald Stellung erhalten? Ich hoffe es. Meine Photographien und
mein Bewerbeschreiben machen zusammen, wie ich mir einbilde, einen
günstigen Eindruck. Neulich bin ich mit Schilinski in einen ersten
Café-Konzert-Raum getreten. Wie hat da Schilinski am ganzen Leib gebebt
vor Schüchternheit. Ich benahm mich ungefähr wie sein liebevoller Vater.
Der Kellner wagte es, indem er uns von unten bis oben fixierte, uns
sitzen zu lassen; da ich ihn aber mit enorm strenger Miene ersuchte, uns
gefälligst zu bedienen, wurde er sogleich höflich und brachte uns in
hohen, zierlich-geschliffenen Kelchen helles Bier. Ah, man muß
auftreten. Wer sich mit gemessenem Anstand in die Brust zu werfen weiß,
der wird als Herr behandelt. Man muß Situationen beherrschen lernen. Ich
verstehe es ausgezeichnet, meinen Kopf, so, als wenn ich über etwas
empört, nein, nur erstaunt wäre, zurückzuwerfen. Ich blicke um mich her,
als wollte ich sagen: »Was ist das? Wie? Ist man denn hier toll?« -- Das
wirkt. Auch habe ich mir ja im Institut Benjamenta gottlob Haltung
angeeignet. O mir ist manchmal, als hätte ich es in der Gewalt, mit der
Erde und all den Dingen darauf beliebig spielen zu können. Ich verstehe
mit einemmal das liebliche Wesen der Frauen. Ihre Koketterien amüsieren
mich, und ich erblicke Tiefsinn in ihren trivialen Bewegungen und
Redensarten. Wenn man sie nicht versteht, wenn sie eine Tasse zum Mund
führen oder den Rock raffen, so versteht man sie nie. Ihre Seelen
trippeln mit den hochaufgeschweiften Absätzen ihrer süßen Stiefelchen,
und ihr Lächeln ist beiderlei: eine alberne Angewohnheit und ein Stück
Weltgeschichte. Ihr Hochmut und ihr geringer Verstand sind reizend,
reizender als die Werke der Klassiker. Oft sind ihre Untugenden das
Tugendhafteste unter der Sonne, und wenn sie erst wütend werden, und
zürnen? Nur Frauen verstehen zu zürnen. Doch still. Ich denke an Mama.
Wie heilig ist mir das Andenken an die Augenblicke, wo sie zürnte. Doch
ruhig, doch still. Was kann ein Schüler des Institutes Benjamenta über
alles das wissen?

Ich habe mich nicht bezwingen können, ich bin ins Bureau gegangen, habe
mich gewohnheitsgemäß tief verbeugt und habe zu Herrn Benjamenta
folgendes gesprochen: »Ich habe Arme, Beine und Hände, Herr Benjamenta,
und ich möchte arbeiten, und daher erlaube ich mir, Sie zu bitten, mir
recht bald Arbeit und Geldverdienst zu verschaffen. Sie haben allerlei
Beziehungen, ich weiß es. Zu Ihnen kommen die allerfeinsten
Herrschaften, Leute, die Kronen auf den Aufschlägen ihrer Mäntel tragen,
Offiziere, die mit den schneidigen Säbeln rasseln, Damen, deren
Schleppen wie kichernde Wellen daherrauschen, ältere Frauen mit enorm
viel Vermögen, Greise, die ein halbes Lächeln mit einer Million
bezahlen, Menschen von Stand, aber ohne Geist, Menschen, die im
Automobil vorfahren, mit einem Wort, Herr Vorsteher, die Welt kommt zu
Ihnen.« -- »Hüte dich, frech zu werden,« warnte er mich, doch ich weiß
nicht, ich empfand gar keine Furcht mehr vor seinen Fäusten, und ich
sprach weiter, die Worte flogen mir nur so heraus: »Verschaffen Sie mir
unbedingt irgend eine anregende Tätigkeit. Übrigens ist meine Meinung
die: eine jede Tätigkeit ist anregend. Ich habe schon so viel gelernt
bei Ihnen, Herr Vorsteher.« -- Er sagte ruhig: »Du hast noch gar nichts
gelernt.« -- Da nahm ich wieder den Faden auf und sagte: »Gott selbst
gebietet mir, ins Leben hinaus zu treten. Doch was ist Gott? Sie sind
mein Gott, Herr Vorsteher, wenn Sie mir erlauben, Geld und Achtung
verdienen zu gehen.« -- Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Du machst
jetzt, daß du zum Kontor hinauskommst. Augenblicklich.« -- Das ärgerte
mich furchtbar. Ich rief laut aus: »Ich erblicke in Ihnen einen
hervorragenden Menschen, aber ich irre mich, Sie sind gewöhnlich wie das
Zeitalter, in dem Sie leben. Ich werde auf die Straße gehen und dort
irgend einen Menschen anhalten. Man zwingt mich, zum Verbrecher zu
werden.« -- Ich erkannte die Gefahr, in der ich schwebte. Zugleich mit
den Worten, die ich aussprach, war ich zur Türe gesprungen, und jetzt
schrie ich wütend: »Adieu, Herr Vorsteher,« und drückte mich mit
wunderbarer Geschmeidigkeit zur Türe hinaus. Im Korridor blieb ich
stehen und lauschte am Schlüsselloch. Es blieb alles ganz mäuschenstill
drinnen im Bureau. Ich ging ins Schulzimmer und vertiefte mich in die
Lektüre des Buches: »Was bezweckt die Knabenschule?«

Unser Unterricht besteht aus zwei Teilen, einem theoretischen und einem
praktischen Teil. Aber beide Abteilungen muten mich auch noch heute wie
ein Traum, wie ein sinnloses und zugleich sehr sinnreiches Märchen an.
Auswendiglernen, das ist eine unserer Hauptaufgaben. Ich lerne sehr
leicht auswendig, Kraus sehr schwer, daher ist er immer am Lernen. Die
Schwierigkeiten, die er zu überwinden hat, sind das Geheimnis seines
Fleißes und dessen Lösung. Er hat ein schwerfälliges Gedächtnis, und
doch prägt er sich, wenn auch mit vieler Mühe, alles fest ein. Das, was
er weiß, ist dann in seinem Kopf sozusagen in Metall graviert, und er
kann es nicht wieder vergessen. Von Verschwitzen oder dergleichen ist
bei ihm keine Rede. Wo wenig gelehrt wird, da paßt ein Kraus hin,
demnach paßt er ins Institut Benjamenta vorzüglich. Einer der
Grundsätze unserer Schule lautet: »Wenig aber gründlich«. Nun, in
diesem Prinzip steckt Kraus fest, der einen etwas harten Schädel mit auf
die Welt bekommen hat. Wenig lernen! Immer wieder dasselbe! Nach und
nach fange auch ich an, zu begreifen, was für eine große Welt hinter
diesen Worten verborgen ist. Etwas sich in der Tat fest, fest einprägen,
für immer! Ich sehe ein, wie wichtig, vor allen Dingen, wie gut und wie
würdig das ist. Der praktische oder körperliche Teil unseres
Unterrichtes ist eine Art fortwährend wiederholtes Turnen oder Tanzen,
ganz gleich, wie man das nennen will. Der Gruß, das Eintreten in eine
Stube, das Benehmen gegenüber Frauen oder ähnliches wird geübt, und zwar
sehr langfädig, oft langweilig, aber auch hier, wie ich jetzt merke und
empfinde, steckt ein tiefverborgener Sinn. Uns Zöglinge will man bilden
und formen, wie ich merke, nicht mit Wissenschaften vollpfropfen. Man
erzieht uns, indem man uns zwingt, die Beschaffenheit unserer eigenen
Seele und unseres eigenen Körpers genau kennen zu lernen. Man gibt uns
deutlich zu verstehen, daß allein schon der Zwang und die Entbehrungen
bilden, und daß in einer ganz einfachen, gleichsam dummen Übung mehr
Segen und mehr wahrhaftige Kenntnisse enthalten sind, als im Erlernen
von vielerlei Begriffen und Bedeutungen. Wir erfassen eines ums andere,
und haben wir etwas erfaßt, so besitzt es uns quasi. Nicht wir besitzen
es, sondern im Gegenteil, was wir scheinbar zu unserem Besitz gemacht
haben, herrscht dann über uns. Uns prägt man ein, daß es von wohltuender
Wirkung ist, sich an ein festes, sicheres Weniges anzupassen, d. h. sich
an Gesetze und Gebote, die ein strenges Äußeres vorschreibt, zu gewöhnen
und zu schmiegen. Man will uns vielleicht verdummen, jedenfalls will man
uns klein machen. Aber man schüchtert uns durchaus nicht etwa ein. Wir
Zöglinge wissen alle, der eine so gut wie der andere, daß Schüchternheit
strafbar ist. Wer stottert und Furcht zeigt, setzt sich der Verachtung
unseres Fräuleins aus, aber klein sollen wir sein und wissen sollen wir
es, genau wissen, daß wir nichts Großes sind. Das Gesetz, das befiehlt,
der Zwang, der nötigt, und die vielen unerbittlichen Vorschriften, die
uns die Richtung und den Geschmack angeben: das ist das Große, und nicht
wir, wir Eleven. Nun, das empfindet jeder, sogar ich, daß wir nur
kleine, arme, abhängige, zu einem fortwährenden Gehorsam verpflichtete
Zwerge sind. So benehmen wir uns auch: demütig, aber äußerst
zuversichtlich. Wir sind alle ohne Ausnahme ein wenig energisch, denn
die Kleinheit und Not, in der wir uns befinden, veranlassen uns, fest an
die paar Errungenschaften, die wir gemacht haben, zu glauben. Unser
Glaube an uns ist unsere Bescheidenheit. Wenn wir an nichts glauben
würden, wüßten wir nicht, wie wenig wir sind. Immerhin, wir kleinen
jungen Menschen sind irgend etwas. Wir dürfen nicht ausschweifen, nicht
phantasieren, es ist uns verboten, weit zu blicken, und das stimmt uns
zufrieden und macht uns für jede rasche Arbeit brauchbar. Die Welt
kennen wir sehr schlecht, aber wir werden sie kennen lernen, denn wir
werden dem Leben und seinen Stürmen ausgesetzt sein. Die Schule
Benjamenta ist das Vorzimmer zu den Wohnräumen und Prunksälen des
ausgedehnten Lebens. Hier lernen wir Respekt empfinden und so tun, wie
diejenigen tun müssen, die an irgend etwas emporzublicken haben. Ich
z. B. bin ein wenig erhaben über alles das, gut, um so besser tun mir
auch alle diese Eindrücke. Gerade ich habe nötig, Hochachtung und
zutraulichen Respekt vor den Gegenständen der Welt fühlen zu lernen,
denn wohin würde ich gelangen, wenn ich das Alter mißachten, Gott
leugnen, Gesetze bespotten und meine jugendliche Nase schon in alles
Erhabene, Wichtige und Große stecken dürfte? Meiner Ansicht nach krankt
gerade hieran die gegenwärtige junge Generation, die Zeter und Mordio
schreit und nach Papa und Mama miaut, wenn sie sich Pflichten und
Geboten und Beschränkungen ein wenig beugen soll. Nein, nein, hier sind
Benjamentas meine lieben leuchtenden Leitsterne, der Herr Bruder sowohl
wie das Fräulein, seine Schwester. Ich werde mein Lebenlang an sie
denken.

Ich bin meinem Bruder Johann begegnet, und zwar im dichtesten
Menschengewimmel. Unser Wiedersehen hat sich sehr freundlich gestaltet.
Es war ungezwungen und herzlich. Johann hat sich sehr nett benommen, und
ich wahrscheinlich mich auch. Wir sind in ein kleines, verschwiegenes
Restaurant getreten und haben dort geplaudert. »Bleib' nur der, der du
bist, Bruder,« sprach Johann zu mir, »fange von tief unten an, das ist
ausgezeichnet. Solltest du Hilfe brauchen -- --« Ich machte eine
leichte, verneinende Handbewegung. Er fuhr fort: »Denn sieh', oben, da
lohnt es sich kaum noch zu leben. Sozusagen nämlich. Versteh' mich
recht, lieber Bruder.« -- Ich nickte lebhaft, denn es leuchtete mir schon
zum voraus ein, was er mir sagte, aber ich bat ihn, weiterzureden, und
er sprach: »Oben, da herrscht solch eine Luft. Nun, es herrscht eben
eine Atmosphäre des Genuggetanhabens, und das hemmt und engt ein. Ich
hoffe, du verstehst mich nicht ganz, denn wenn du mich verstündest,
Bruder, dann wärest du ja eigentlich gräßlich.« -- Wir lachten. O, mit
einem Bruder zusammen lachen zu können, das ist sehr hübsch. Er sagte:
»Du bist jetzt sozusagen eine Null, bester Bruder. Aber wenn man jung
ist, soll man auch eine Null sein, denn nichts ist so verderblich wie
das frühe, das allzufrühe Irgendetwasbedeuten. Gewiß: dir bedeutest du
etwas. Bravo. Vortrefflich. Aber der Welt bist du noch nichts, und das
ist fast ebenso vortrefflich. Immer hoffe ich, du verstehst mich nicht
ganz, denn wenn du mich vollkommen verstündest -- --« »Wäre ich ja
gräßlich,« fiel ich ihm ins Wort. Wir lachten von neuem. Es war sehr
lustig. Ein merkwürdiges Feuer fing an, mich zu beseelen. Meine Augen
brannten. Das liebe ich übrigens sehr, wenn's mir so verbrannt zumut
ist. Mein Kopf ist dann ganz rot. Und Gedanken voll Reinheit und Hoheit
pflegen mich dann zu bestürmen. Johann fuhr fort, er sagte folgendes:
»Bruder, bitte, unterbrich mich nicht immer. Dein dummes junges
Gelächter hat etwas Ideenerstickendes. Höre. Paß gut auf. Was ich dir
sage, kann dir vielleicht eines Tages von Nutzen sein. Vor allen Dingen:
komme dir nie verstoßen vor. Verstoßen, Bruder, das gibt es gar nicht,
denn es gibt vielleicht auf dieser Welt gar, gar nichts redlich
Erstrebenswertes. Und doch sollst du streben, leidenschaftlich sogar.
Aber damit du nie allzu sehnsüchtig bist: präge dir ein: nichts, nichts
Erstrebenswertes gibt es. Es ist alles faul. Verstehst du das? Sieh',
ich hoffe immer, du könntest das alles nicht so recht verstehen. Ich
mache mir Sorgen.« -- Ich sagte: »Leider bin ich zu intelligent, um
dich, wie du hoffst, mißverstehen zu können. Aber sei ohne Sorgen. Du
erschreckst mich durchaus nicht mit deinen Enthüllungen.« -- Wir
lächelten uns an. Dann bestellten wir uns Neues zu trinken, und Johann,
der übrigens sehr elegant aussah, fuhr fort zu sprechen: »Es gibt ja
allerdings einen sogenannten Fortschritt auf Erden, aber das ist nur
eine der vielen Lügen, die die Geschäftemacher ausstreuen, damit sie um
so frecher und schonungsloser Geld aus der Menge herauspressen können.
Die Masse, das ist der Sklave von heute, und der Einzelne ist der Sklave
des großartigen Massengedankens. Es gibt nichts Schönes und
Vortreffliches mehr. Du mußt dir das Schöne und Gute und Rechtschaffene
träumen. Sage mir, verstehst du zu träumen?« -- Ich begnügte mich, mit
dem Kopf zweimal zu nicken und ließ Johann, indem ich gespannt
aufhorchte, fortreden: »Versuche es, fertig zu kriegen, viel, viel Geld
zu erwerben. Am Geld ist noch nichts verpfuscht, sonst an allem. Alles,
alles ist verdorben, halbiert, der Zier und der Pracht beraubt. Unsere
Städte verschwinden unaufhaltsam vom Erdboden. Klötze nehmen den Raum
ein, den Wohnhäuser und Fürstenpaläste eingenommen haben. Das Klavier,
lieber Bruder, und das damit verbundene Klimpern! Konzert und Theater
fallen von Stufe zu Stufe, auf einen immer tieferen Standpunkt. Es gibt
ja allerdings noch so etwas wie eine tonangebende Gesellschaft, aber sie
hat nicht mehr die Fähigkeit, Töne der Würde und des Feinsinnes
anzuschlagen. Es gibt Bücher -- -- mit einem Wort, sei niemals verzagt.
Bleib arm und verachtet, lieber Freund. Auch den Geld-Gedanken schlage
dir weg. Es ist das Schönste und Triumphierendste, man ist ein ganz
armer Teufel. Die Reichen, Jakob, sind sehr unzufrieden und unglücklich.
Die reichen Leute von heutzutage: sie haben nichts mehr. Das sind die
wahren Verhungerten.« -- Ich nickte wieder. Es ist wahr, ich sage sehr
leicht ja zu allem. Übrigens gefiel mir und paßte mir, was Johann sagte.
Es war Stolz in dem, was er sprach, und Trauer. Nun, und dies beides,
Stolz und Trauer, ergibt immer einen guten Klang. Wieder bestellten wir
Bier, und mein Gegenüber sagte: »Du mußt hoffen und doch nichts hoffen.
Schau empor an etwas, ja gewiß, denn das ziemt dir, du bist jung,
unverschämt jung, Jakob, aber, gesteh' dir immer, daß du's verachtest,
das, an dem du respektvoll emporschaust. Du nickst schon wieder? Teufel,
was bist du für ein verständnisvoller Zuhörer. Du bist geradezu ein
Baum, der voll Verständnis behangen ist. Sei zufrieden, lieber Bruder,
strebe, lerne, tu womöglich irgend jemandem etwas Liebes und Gutes.
Komm', ich muß gehen. Sag', wann treffen wir uns wieder? Du
interessierst mich, offen gesagt.« -- Wir gingen, und draußen auf der
Straße nahmen wir Abschied voneinander. Lange schaute ich meinem lieben
Bruder nach. Ja, er ist mein Bruder. Wie freut mich das.

Mein Vater hat Wagen und Pferde und einen Diener, den alten Fehlmann.
Mama hat ihre eigene Theaterloge. Wie beneiden sie die Frauen der Stadt
mit den achtundzwanzigtausend Einwohnern darum. Mutter ist eine noch in
den vorgeschrittenen Jahren hübsche, ja schöne Frau. Ich erinnere mich
an ein hellblaues, enganschließendes Kleid, das sie einmal trug. Sie
hielt den zartweißen Sonnenschirm offen. Die Sonne schien. Es war
prächtiges Frühlingswetter. In den Straßen duftete es nach Veilchen. Die
Menschen promenierten, und unter dem Grün der Anlage-Bäume spielte die
Stadtmusik Promenadenkonzert. Wie süß und hell war alles. Ein Brunnen
plätscherte, und Kinder, hell angezogene, lachten und spielten. Und ein
feiner liebkosender Wind strich mit Düften, Sehnsucht nach Unsagbarem
erweckend, umher. Aus den Fenstern der Neuquartierplatzhäuser schauten
Leute. Mutter hatte lange hellgelbe Handschuhe an den schmalen Händen und
lieben Armen. Johann war damals schon in der Fremde. Aber Vater war dabei.
Nein, nie nehme ich je Hilfe (Geld) von den zärtlich verehrten Eltern an.
Mein verletzter Stolz würde mich aufs Krankenlager werfen, und futsch
wären die Träume von einer selbsterrungenen Lebenslaufbahn, vernichtet
für immer diese mir in der Brust brennenden Selbsterziehungspläne. Das
ist es ja: um mich quasi selbst zu erziehen, oder mich auf eine künftige
Selbsterziehung vorzubereiten, deshalb bin ich Zögling dieses Institutes
Benjamenta geworden, denn hier macht man sich auf irgend etwas Schweres
und Düster-Daherkommendes gefaßt. Und deshalb schreibe ich ja auch nicht
nach Hause, denn schon das Berichterstatten allein würde mich an mir
irre machen, würde mir den Plan, ganz von unten anzufangen, vollkommen
verleiden. Etwas Großes und Kühnes muß in aller Verschwiegenheit und
Stille geschehen, sonst verdirbt und verflaut es, und das Feuer, das
schon lebendig erwachte, stirbt wieder. Ich kenne meinen Geschmack, das
genügt. -- Ach so, ja. Ganz recht. Von unserem alten Diener Fehlmann,
der noch lebt und dient, habe ich eine lustige Geschichte auf Lager. Die
Sache ist die: Fehlmann ließ sich eines Tages ein grobes Verfehlen
zuschulden kommen und sollte entlassen werden. »Fehlmann,« sagte Mama,
»Sie können gehen. Wir brauchen Sie nicht mehr.« -- Da stürzte der arme
Alte, der einen am Krebs gestorbenen Jungen noch vor kurzer Zeit
begraben hatte (lustig ist das nicht), meiner Mutter zu Füßen und bat um
Gnade, direkt um Gnade. Der arme Teufel, er hatte Tränen in den alten
Augen. Mama verzeiht ihm, ich erzähle den Auftritt andern Tags meinen
Kameraden, den Brüdern Weibel, und die lachen mich fürchterlich aus und
verachten mich. Sie entziehen mir ihre Freundschaft, weil es, wie sie
meinen, in unserem Haus zu royalistisch zugeht. Das Zu-Füßen-fallen
finden sie verdächtig, und sie gehen hin und verleumden mich und Mama in
der abgeschmacktesten Weise. Wie echte Buben, ja, aber auch wie echte
kleine Republikaner, denen das Waltenlassen persönlicher und
herrschaftlicher Gnade oder Ungnade ein Greuel und ein Gegenstand des
Abscheus ist. Wie kommt mir das jetzt komisch vor. Und doch, wie
bezeichnend ist dieser kleine Vorfall für den Lauf der Zeiten. So wie
die Buben Weibel, so urteilt heute eine ganze Welt. Ja, so ist es: man
duldet nichts Herren- oder Damenhaftes mehr. Es gibt keine Herren mehr,
die machen können, was sie wollen, und es gibt längst keine Herrinnen
mehr. Soll ich darüber traurig sein? Fällt mir nicht ein. Bin ich
verantwortlich für den Geist des Zeitalters? Ich nehme die Zeit, wie sie
ist, und behalte mir nur vor, im stillen meine Beobachtungen zu machen.
Der gute Fehlmann: ihm, ihm ist noch auf altväterliche Art verziehen
worden. Tränen der Treue und Anhänglichkeit, wie schön ist das. --

Von drei Uhr nachmittags an sind wir Eleven fast ganz uns selbst
überlassen. Niemand kümmert sich mehr um uns. Vorstehers sind in den
innern Räumen verborgen, und im Schulzimmer herrscht Öde, eine Öde, die
einen beinahe krank macht. Lärm soll nicht vorkommen. Es darf nur
gehuscht und geschlichen und nur im Flüstertone gesprochen werden.
Schilinski schaut sich im Spiegel, Schacht schaut zum Fenster hinaus,
oder er gestikuliert mit dem Küchenmädchen von gegenüber, und Kraus
lernt auswendig, indem er Lektionen vor sich hinmurmelt. Eine
Grabesstille herrscht überall. Der Hof liegt verlassen da wie eine
viereckige Ewigkeit, und ich stehe meist aufrecht und übe mich, auf
einem Bein zu stehen. Oft halte ich zur Abwechslung den Atem lang an.
Auch eine Übung, und es soll sogar, wie mir einmal ein Arzt sagte, eine
gesundheitfördernde sein. Oder ich schreibe. Oder ich schließe die
unmüden Augen, um nichts mehr zu sehen. Die Augen vermitteln Gedanken,
und daher schließe ich sie von Zeit zu Zeit, um nichts denken zu müssen.
Wenn man so da ist und nichts tut, spürt man plötzlich, wie penibel das
Dasein sein kann. Nichtstun und dennoch Haltung beobachten, das fordert
Energie, der Schaffende hat es leicht dagegen. Wir Zöglinge sind Meister
in dieser Art Anstand. Sonst fangen die Nichtstuer aus Langeweile etwa
an, ein wenig zu flegeln, zu strampeln, hochaufzugähnen oder zu seufzen.
Das tun wir Eleven nicht. Wir pressen die Lippen fest und sind
unbeweglich. Über unsern Köpfen schweben immer die mürrischen
Vorschriften. Manchmal, wenn wir so dasitzen oder dastehen, geht die
Türe auf, und das Fräulein geht langsam, uns sonderbar anschauend,
durchs Schulzimmer. Wie ein Geist mutet sie mich dann an. Es ist, als
wenn da jemand von weit, weit her käme. »Was macht ihr, Knaben?« fragt
sie dann etwa, wartet aber gar keine Antwort ab, sondern geht weiter.
Wie schön sie ist. Welch eine üppige Fülle von tiefschwarzen Haaren.
Meist sieht man sie gesenkten Auges. Sie hat Augen, die sich zum
Niederschlagen herrlich eignen. Ihre Augendeckel (o, ich beobachte das
alles scharf) sind üppig gewölbt und der raschen Bewegung wundersam
fähig. Diese Augen! Sieht man sie einmal, so blickt man in etwas
Abgrund-Banges und Tiefes hinein. Diese Augen scheinen in ihrer
glänzenden Schwärze nichts und zugleich alles Unsagbare zu sagen, so
bekannt und so unbekannt zugleich muten sie an. Die Augenbrauen sind bis
zum Zerreißen dünn und rund darüber gezeichnet und gezogen. Wer sie
betrachtet, fühlt Stiche. Sie sind wie Mondsicheln an einem krankhaft
blassen Abendhimmel, wie feine, aber um so stechendere Wunden, innerlich
schneidende. Und ihre Wangen! Das stille Sehnen und Zagen scheint Feste
darauf zu feiern. Unverstandene Zartheit und Zärtlichkeit weint darauf
auf und nieder. Zuweilen erscheint auf dem schimmernden Schnee dieser
Wangen ein leises bittendes Rot, ein rötliches, schüchternes Leben, eine
Sonne, doch nein, nur der schwache Abglanz einer solchen. Dann ist es,
als lächelten plötzlich die Wangen, oder als fieberten sie ein wenig.
Wenn man Fräulein Benjamentas Wangen ansieht, vergeht einem die Lust,
weiterzuleben, denn dann hat man das Gefühl, als müsse das Leben ein
Höllengewimmel voller schnöder Roheiten sein. Etwas so Zartes läßt in
etwas so Schweres und Bedrohliches fast gebieterisch blicken. Und ihre
Zähne, die man hervorschimmern sieht, wenn der üppig-gütige Mund
lächelt. Und wenn sie weint. Die Erde, meint man, müsse aus den Punkten
ihres Halts herabstürzen, aus Scham und aus Weh, sie weinen zu sehen.
Und wenn man sie erst weinen -- -- hört? O, dann vergeht man. Neulich
hörten wir es, mitten in der Schulstunde. Wir alle haben gezittert wie
Espenlaub. Ja, wir alle, wir lieben sie. Sie ist unsere Lehrerin, unser
höheres Wesen. Und sie leidet an etwas, das ist klar. Ist sie krank?

Fräulein Benjamenta hat mit mir ein paar Worte gesprochen, in der Küche.
Ich wollte gerade in die Kammer hineingehen, da fragte sie mich, ohne
mich im übrigen eines Blicks zu würdigen: »Wie geht es dir, Jakob? Geht
es dir gut?« Ich nahm sogleich Achtungstellung an, wie es sich schickt,
und sagte im Ton der Unterwürfigkeit: »O ganz gewiß, gnädiges Fräulein.
Mir kann es nicht anders als gut gehen.« -- Sie lächelte schwach und
fragte: »Wie meinst du das?« -- So über die Schulter fragte sie das. Ich
antwortete: »Es fehlt mir an nichts.« -- Sie blickte mich kurz an und
schwieg. Nach einer Weile sagte sie: »Du kannst gehen, Jakob. Du bist
frei. Du brauchst nicht dazustehen.« -- Ich erwies ihr die
vorgeschriebene Ehre, indem ich mich verneigte, und drückte mich in die
Kammer. Es vergingen keine fünf Minuten, so wurde geklopft. Ich stürzte
an die Türe. Ich kannte das Klopfen. Sie stand vor mir. »Du, Jakob,«
fragte sie, »sage einmal, wie verträgst du dich mit den Kameraden?
Nicht wahr, es sind nette Menschen?« -- Ich gab zur Antwort, daß sie
mir alle, ohne Ausnahme, liebens- und achtenswert vorkämen. Die Lehrerin
blinzelte mich mit den schönen Augen listig an und machte: »Na, na. Und
mit Kraus zankst du dich doch. Ist Zanken bei dir das Zeichen der Liebe
und Achtung?« -- Ich erwiderte ohne Zaudern: »In gewissem Sinne ja,
Fräulein. Übrigens ist dieses Zanken nicht gar so ernst gemeint. Wenn
Kraus Scharfsinn besäße, würde er merken, daß ich ihn sogar allen andern
vorziehe. Ich achte Kraus sehr, sehr. Es würde mich schmerzen, wenn Sie
mir das nicht glaubten.« -- Sie erfaßte meine Hand und drückte sie
leicht und sagte: »Beruhige dich nur. Sieh' einmal, wie du in Hitze
kommst. Du Hitzkopf. Wenn es so ist, wie du sagst, so muß ich ja wohl
zufrieden mit dir sein. Ich bin es auch, wenn du fortfährst, artig zu
sein. Ja, das merke dir: Kraus ist ein prachtvoller Junge, und du
kränkst mich, wenn du Kraus unartig begegnest. Sei nett zu ihm. Ganz
ausdrücklich wünsche ich das. Aber sei nicht traurig. Sieh' doch, ich
mache dir ja keine Vorwürfe. Welch ein verzogener, verwöhnter
Aristokratensohn! Kraus ist ein so guter Mensch. Nicht wahr, Kraus ist
ein guter Mensch, Jakob?« -- Ich sagte: »Ja.« Nichts weiter als ja, und
dann mußte ich plötzlich ziemlich dumm lachen, ich wußte gar nicht
warum. Sie schüttelte den Kopf und ging. Warum ich nur habe lachen
müssen? Noch jetzt weiß ich es nicht. Aber die Sache ist ja auch viel zu
unbedeutend. Wann werde ich zu Geld gelangen? Diese Frage scheint mir
bedeutsam. Das Geld besitzt in meinen Augen gegenwärtig einen vollkommen
idealen Wert. Wenn ich mir den Klang eines Goldstückes vorstelle, werde
ich beinahe rasend. Ich habe zu essen: Pfui. Ich möchte reich sein und
den Kopf zerschmettert haben. Ich mag bald überhaupt nichts mehr essen.

Wenn ich reich wäre, würde ich keineswegs um die Erde reisen. Zwar, das
wäre ja gar nicht so übel. Aber ich sehe nichts Berauschendes dahinter,
das Fremde flüchtig kennen zu lernen. Im allgemeinen würde ich es
verschmähen, mich, wie man so sagt, weiter auszubilden. Mich würde eher
die Tiefe, die Seele, als die Ferne und Weite locken. Das Naheliegende
zu untersuchen würde mich reizen. Ich kaufte mir auch gar nichts. Ich
würde mir keinen Besitz anschaffen. Elegante Kleider, feine Wäsche,
einen Zylinder, bescheidene goldene Manschettenknöpfe, lange Lackschuhe,
das wäre ungefähr alles, damit würde ich losziehen. Kein Haus, keinen
Garten, keinen Diener, doch, ja, einen Diener, einen würdevollen braven
Kraus würde ich mir engagieren. Und nun könnte es losgehen. Da würde
ich im dampfenden Nebel auf die Straße gehen. Der Winter mit seiner
melancholischen Kälte würde vorzüglich zu meinen Goldstücken passen. Die
Banknoten trüge ich in der einfachen Brieftasche. Zu Fuß ginge ich
einher, ganz wie gewöhnlich, in der unbewußt-geheimen Absicht, es mich
nicht so sehr merken zu lassen, wie fürstlich reich ich wäre. Vielleicht
würde es auch schneien. Mir egal, im Gegenteil, mir sehr recht. Weicher
Schneefall zwischen den abendlich leuchtenden Laternen. Das würde
glitzern, reizend. Nie im Leben würde es mir einfallen, in eine Droschke
zu steigen. Das tun Leute, die es entweder eilig haben oder nobel tun
wollen. Ich aber würde weiter gar nicht nobel tun wollen, und eilig
hätte ich es schon ganz und gar nicht. Gedanken würden mir kommen, indem
ich so ginge. Plötzlich würde ich irgend jemanden grüßen, sehr höflich,
und siehe, es wäre ein Mann. Ganz artig würde ich nun den Mann
anschauen, und da würde ich sehen, daß es ihm schlecht geht. Merken
würde ich das, nicht sehen, so etwas merkt man, man sähe es kaum, aber
an irgend etwas sähe man es. Nun, und dieser Mann würde mich fragen, was
ich will, und es läge Bildung in der Frage. Diese Frage wäre ganz sanft
und einfach gestellt worden, und das würde mich erschüttern. Denn ich
wäre ja auf etwas Barsches durchaus gefaßt gewesen. »Etwas Tief-Wundes
muß der Mann haben,« würde ich mir sogleich sagen, »sonst wäre er
ärgerlich geworden.« -- Und dann würde ich gar nichts, absolut nichts
sagen, sondern ich begnügte mich, ihn mehr und mehr anzuschauen. Nicht
scharf, o nein, ganz einfach, vielleicht sogar ein wenig fröhlich. Und
nun wüßte ich, wer er wäre. Ich öffnete meine Brieftasche, entnähme ihr
glatt zehntausend Mark in zehn einzelnen Noten und gäbe diese Summe dem
Mann. Darauf würde ich den Hut ebenso artig wie vorhin lüften, gute
Nacht sagen und gehen. Und es würde fortfahren zu schneien. Im Gehen
würde ich gar nichts mehr denken, ich könnte nicht, es wäre mir viel zu
wohl zu so etwas. Einem eklig darbenden Künstler, das wüßte ich ganz
bestimmt, hätte ich's gegeben, das Geld. Ja, das wüßte ich, denn ich
würde mich nicht haben täuschen können. O, eine große, eine heiße, eine
aufrichtige Sorge würde es weniger in der Welt geben. Nun, und in der
folgenden Nacht würde ich vielleicht auf ganz andere Einfälle kommen.
Jedenfalls reiste ich nicht um die Erde, sondern ich beginge lieber
irgend welche Tollheiten und Torheiten. So z. B. könnte ich ja auch ein
wahnsinnig reiches und lustbeladenes Gastmahl geben und Orgien
niegesehener Art veranstalten. Ich wollte es mich Hunderttausend kosten
lassen. Ganz bestimmt müßte das Geld auf sinnverwirrende Art und Weise
verbraucht werden, denn nur das echt vertane Geld wäre ein schönes Geld
-- -- gewesen. Und eines Tages würde ich betteln, und da schiene die
Sonne, und ich wäre so froh, über was, das würde ich gar nicht zu wissen
begehren. Und da käme Mama und fiele mir um den Hals -- --. Nette
Träumereien sind das!

Kraus hat etwas Altes in Gesicht und Wesen, und dieses Alte, das er
ausstrahlt, führt den, der ihn anschaut, nach Palästina. Abrahams Zeiten
werden auf dem Antlitz meines Mitschülers wieder lebendig. Das alte
patriarchalische Zeitalter mit seinen mysteriösen Sitten und
Landschaftsgegenden taucht hervor und schaut einen väterlich an. Es ist
mir, als wenn es damals lauter Väter mit steinalten Gesichtern und
langen braunen, verwickelten Bärten gegeben hätte, was ja natürlich nur
Unsinn ist, und doch ist vielleicht etwas, das Tatsachen entspricht, an
dieser sonst ganz einfältigen Empfindung. Ja, damals! Schon dieses Wort:
damals: wie elterlich und häuslich mutet es an. Zu den alt-israelitischen
Zeiten durfte es ruhig noch hin und wieder einen Papa Isaak oder Abraham
geben, er genoß eben Achtung und lebte seine alten Tage in einem
natürlichen Reichtum, der in Länderbesitz bestand, dahin. Damals wob um
das graue Alter etwas wie Majestät. Greise waren damals wie Könige, und
die gelebten Jahre bedeuteten dasselbe wie ebensoviele erworbene
Hoheitsrechte. Und wie jung diese Alten blieben. Sie schufen noch mit
hundert Jahren Söhne und Töchter. Damals gab es noch keine Zahnärzte,
und darum muß man annehmen, daß es damals überhaupt keine verdorbenen
Zähne gab. Und wie schön ist z. B. Joseph in Ägypten. Kraus hat etwas
von Joseph in Potiphars Haus. Da ist er als jugendlicher Sklave verkauft
worden, und siehe, man bringt ihn zu einem schwerreichen, redlichen und
feinen Mann. Da ist er nun Haussklave, aber er hat es ganz schön. Die
Gesetze waren damals vielleicht unhuman, gewiß, aber die Sitten und
Gebräuche und Anschauungen waren dafür um so zarter und feiner. Heute
hätte es ein Sklave viel schlechter, Gott behüte! Übrigens gibt es sehr,
sehr viele Sklaven mitten unter uns modernen, hochmütig-fix und fertigen
Menschen. Vielleicht sind wir heutigen Menschen alle so etwas wie
Sklaven, beherrscht von einem ärgerlichen, peitscheschwingenden,
unfeinen Weltgedanken. -- Gut, und da verlangt nun eines Tages die Herrin
des Hauses von Joseph, er solle ihr willig sein. Wie merkwürdig, daß man
solche uralten Treppen-und Türensachen heute genau noch weiß, daß es in
alle Zeiten, von Mund zu Mund, fortlebt. In allen Primarschulen wird die
Geschichte gelehrt, und da will man an den Pedanten etwas aussetzen? Ich
verachte die Leute, die die schöne Pedanterie unterschätzen, das sind
durchaus geistlose, urteilsschwächliche Menschen. Schön, und da weigert
sich Kraus, wollte sagen Joseph. Aber es könnte ganz gut Kraus sein,
denn er hat so etwas Joseph-in-Ägypten-haftes. »Nein, gnädige Frau, so
etwas tu' ich nicht. Ich bin meinem Herrn Treue schuldig.« -- Da geht
nun die übrigens reizende Frau und verklagt den jungen Diener, er habe
eine Schnödigkeit begangen und habe seine Gebieterin zu einem Fehltritt
verführen wollen. Aber weiter weiß ich nichts. Merkwürdig, ich weiß
nicht, was jetzt Potiphar sagte und machte. Den Nil sehe ich aber immer
ganz deutlich. Ja, Kraus könnte so gut Joseph sein wie nur irgend etwas.
Haltung, Gestalt, Gesicht, Frisur und Gebärde passen unvergleichlich.
Sogar seine leider Gottes immer noch nicht geheilte Hautauszeichnung.
Pickel sind etwas Biblisches, Orientalisches. Und die Moral, der
Charakter, der feste Besitz keuscher Jünglingstugenden? Wundervoll paßt
das. Joseph in Ägypten muß auch ein kleiner, sattelfester Pedant gewesen
sein, sonst würde er der lüsternen Frau gehorcht und seinem Herrn die
Treue gebrochen haben. Kraus würde genau wie sein altägyptisches
Ebenbild handeln. Die Hände würde er beschwörend hochheben und mit halb
flehender, halb strafender Miene sagen: »Nein, nein, das tue ich nicht«
usw.

Der liebe Kraus. Immer zieht es mich in Gedanken wieder nach ihm hin. An
ihm sieht man so recht, was das Wort Bildung eigentlich bedeutet. Kraus
wird später im Leben, wohin er auch kommen wird, immer als brauchbarer,
aber als ungebildeter Mensch angesehen werden, für mich aber ist gerade
er durchaus gebildet, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er ein
festes, gutes Ganzes darstellt. Man kann gerade ihn eine menschliche
Bildung nennen. Das flattert um Kraus herum nicht von geflügelten und
lispelnden Kenntnissen, dafür ruht etwas in ihm, und er, er ruht und
beruht auf etwas. Man kann sich mit der Seele selber auf ihn verlassen.
Er wird nie jemanden hintergehen oder verleumden, nun, das vor allen
Dingen, dieses Nicht-Schwatzhafte, nenne ich Bildung. Wer schwatzt, ist
ein Betrüger, er kann ein ganz netter Mensch sein, aber seine Schwäche,
alles, was er gerade denkt, so herauszuschwatzen, macht ihn zum gemeinen
und schlechten Gesellen. Kraus bewahrt sich, er behält immer etwas für
sich, er glaubt, es nicht nötig zu haben, so drauf los zu reden, und
das wirkt wie Güte und lebhaftes Schonen. Das nenne ich Bildung. Kraus
ist unliebenswürdig und oft ziemlich grob gegen Menschen seines Alters
und seines Geschlechtes, und gerade deshalb mag ich ihn so gern, denn
das beweist mir, daß er sich auf den brutalen und gedankenlosen Verrat
nicht versteht. Er ist treu und anständig gegen alle. Denn das ist es
ja: aus gemeiner Liebenswürdigkeit pflegt man meist hinzugehen und Ruf
und Leben seines Nachbarn, seines Kameraden, ja seines Bruders auf die
entsetzlichste Weise zu schänden. Kraus kennt wenig, aber er ist nie,
nie gedankenlos, er unterwirft sich immer gewissen selbstgestellten
Geboten, und das nenne ich Bildung. Was an einem Menschen liebevoll und
gedankenvoll ist, das ist Bildung. Und dann ist ja noch so vieles. So
von aller und jeder, auch der kleinsten Selbstsucht entfernt, dagegen
aber der Selbstzucht so nah zu sein, wie Kraus, das ist es, wie ich
denke, was Fräulein Benjamenta veranlaßt hat zu sagen: »Nicht wahr,
Jakob, Kraus ist gut?« -- Ja, er ist gut. Wenn ich diesen Kameraden
verliere, gehen mir Himmelreiche verloren, ich weiß es. Und ich fürchte
mich jetzt fast, ferner mit Kraus in ausgelassener Weise zu zanken. Ich
möchte ihn nur noch anschauen, immer, immer anschauen, denn ich werde
mich ja später mit seinem Bild begnügen müssen, da uns beide ja doch
das gewaltsame Leben trennen wird.

Ich verstehe jetzt auch, warum Kraus keine äußern Vorzüge, keine
körperlichen Zierlichkeiten besitzt, warum ihn die Natur so zwerghaft
zerdrückt und verunstaltet hat. Sie will irgend etwas mit ihm, sie hat
etwas mit ihm vor, oder sie hat von Anfang an etwas mit ihm vorgehabt.
Dieser Mensch ist der Natur vielleicht zu rein gewesen, und deshalb hat
sie ihn in einen unansehnlichen, geringen, unschönen Körper geworfen, um
ihn vor den verderblichen äußern Erfolgen zu bewahren. Vielleicht ist es
auch anders gewesen, und die Natur ist ärgerlich und boshaft gewesen,
als sie Kraus schuf. Aber wie leid muß es ihr jetzt tun, ihn
stiefmütterlich behandelt zu haben. Und wer weiß. Vielleicht freut sie
sich des anmutlosen Meisterwerkes, das sie hervorgebracht hat, und
wirklich, sie hätte Ursache, sich zu freuen, denn dieser ungraziöse
Kraus ist schöner als die graziösesten und schönsten Menschen. Er glänzt
nicht mit Gaben, aber mit dem Schimmer eines guten und unverdorbenen
Herzens, und seine schlechten, schlichten Manieren sind vielleicht trotz
alles Hölzernen, das ihnen anhaftet, das Schönste, was es an Bewegung
und Manier in der menschlichen Gesellschaft geben kann. Nein, Erfolg
wird Kraus nie haben, weder bei den Frauen, die ihn trocken und häßlich
finden werden, noch sonst im Weltleben, das an ihm achtlos vorübergehen
wird. Achtlos? Ja, man wird Kraus nie achten, und gerade das, daß er,
ohne Achtung zu genießen, dahinleben wird, das ist ja das Wundervolle
und Planvolle, das An-den-Schöpfer-Mahnende. Gott gibt der Welt einen
Kraus, um ihr gleichsam ein tiefes unauflösbares Rätsel aufzugeben. Nun,
und das Rätsel wird nie begriffen werden, denn siehe: man gibt sich ja
gar nicht einmal Mühe, es zu lösen, und gerade deshalb ist dieses
Kraus-Rätsel ein so Herrliches und Tiefes: weil niemand begehrt, es zu
lösen, weil überhaupt gar kein lebendiger Mensch hinter diesem namenlos
unscheinbaren Kraus irgend eine Aufgabe, irgend ein Rätsel oder eine
zartere Bedeutung vermuten wird. Kraus ist ein echtes Gott-Werk, ein
Nichts, ein Diener. Ungebildet, gut genug gerade, die sauerste Arbeit zu
verrichten, wird er jedermann vorkommen, und sonderbar: darin, nämlich
in diesem Urteil, wird man sich auch nicht irren, sondern man wird
durchaus recht haben, denn es ist ja wahr: Kraus, die Bescheidenheit
selber, die Krone, der Palast der Demut, er will ja geringe Arbeiten
verrichten, er kann's und er will's. Er hat nichts anderes im Sinn, als
zu helfen, zu gehorchen und zu dienen, und das wird man gleich merken
und wird ihn ausnutzen, und darin, daß man ihn ausnutzt, liegt eine so
strahlende, von Güte und Helligkeit schimmernde, goldene, göttliche
Gerechtigkeit. Ja, Kraus ist ein Bild rechtlichen, ganz, ganz
eintönigen, einsilbigen und eindeutigen Wesens. Niemand wird die
Schlichtheit dieses Menschen verkennen, und deshalb wird ihn auch
niemand achten, und er wird durchaus erfolglos bleiben. Reizend,
reizend, dreimal reizend finde ich das. O, was Gott schafft, ist so
gnädig, so reizvoll, mit Reizen und Gedanken über und über behangen. Man
wird denken, das sei sehr überspannt gesprochen. Nun, das ist, ich muß
es gestehen, noch lange nicht das Überspannteste. Nein, kein Erfolg,
kein Ruhm, keine Liebe werden Kraus je blühen, das ist sehr gut, denn
die Erfolge haben nur die Zerfahrenheit und einige billige
Weltanschauungen zur unabstreifbaren Begleitschaft. Man spürt es sofort,
wenn Menschen Erfolge und Anerkennung aufzuweisen haben, sie werden
quasi dick von sättigender Selbstzufriedenheit, und ballonhaft bläst sie
die Kraft der Eitelkeit auf, zum Niewiedererkennen. Gott behüte einen
braven Menschen vor der Anerkennung der Menge. Macht es ihn nicht
schlecht, so verwirrt und entkräftet es ihn bloß. Dank, ja. Dank ist
etwas ganz Anderes. Doch einem Kraus wird man nicht einmal danken, und
auch das ist durchaus nicht nötig. Alle zehn Jahre wird jemand
vielleicht einmal zu Kraus sagen: »Danke, Kraus«, und dann wird er ganz
dumm, gräßlich dumm lächeln. Verliederlichen wird mein Kraus nie, denn
es werden sich ihm immer große, lieblose Schwierigkeiten
entgegenstellen. Ich glaube, ich, ich bin einer der ganz wenigen,
vielleicht der einzige, oder vielleicht sind es zwei oder drei Menschen,
die wissen werden, was sie an Kraus besitzen oder besessen haben. Das
Fräulein, ja, die weiß es. Auch Herr Vorsteher vielleicht. Ja ganz
gewiß. Herr Benjamenta ist gewiß tiefblickend genug, um wissen zu
können, was Kraus wert ist. Ich muß aufhören, heute, mit Schreiben. Es
reißt mich zu sehr hin. Ich verwildere. Und die Buchstaben flimmern und
tanzen mir vor den Augen.

Hinter unserm Haus liegt ein alter, verwahrloster Garten. Wenn ich ihn
morgens früh vom Bureaufenster aus sehe (ich muß mit Kraus zusammen
jeden zweiten Morgen aufräumen), tut er mir leid, daß er so unbesorgt
daliegen muß, und ich hätte jedesmal Lust, hinunterzugehen und ihn zu
pflegen. Das sind übrigens Sentimentalitäten. Mag der Teufel die
irreführenden Weichseligkeiten holen. Es gibt bei uns im Institut
Benjamenta noch ganz andere Gärten. In den wirklichen Garten zu gehen,
ist verboten. Kein Zögling darf ihn betreten, warum eigentlich, weiß
ich nicht. Aber wie gesagt, wir haben einen andern, vielleicht schöneren
Garten als der tatsächliche ist. In unserem Lehrbuch: »Was bezweckt die
Knabenschule« heißt es auf Seite acht: »Das gute Betragen ist ein
blühender Garten.« -- Also in solchen, in geistigen und empfindlichen
Gärten, dürfen wir Schüler herumspringen. Nicht übel. Führt sich einer
von uns schlecht auf, so wandelt er wie von selber in einer garstigen,
finstern Hölle. Hält er sich aber brav, so geht er unwillkürlich zum
Lohn zwischen schattigem, sonnenbetupftem Grün spazieren. Wie
verführerisch! Und es liegt meiner armseligen Knabenmeinung nach etwas
Wahres in dem netten Lehrsatz. Benimmt sich einer dumm, so muß er sich
schämen und ärgern, und das ist die peinliche Hölle, in welcher er
schwitzt. Ist er dagegen aufmerksam gewesen und hat er sich geschmeidig
benommen, so nimmt ihn jemand Unsichtbares an der Hand, etwas
Trauliches, Genienhaftes, und das ist der Garten, die gute Fügung, und
er lustwandelt nun unwillkürlich in traulichen, grünlichen Gefilden.
Darf ein Schüler des Institutes Benjamenta zufrieden mit sich sein, was
selten vorkommt, da es bei uns von Vorschriften hagelt, blitzt, schneit
und regnet, so duftet es um ihn herum, und das ist der süße Duft des
bescheidenen, aber wacker erkämpften Lobes. Lobt Fräulein Benjamenta,
dann duftet es, und rügt sie, dann wird es im Schulzimmer finster. Welch
eine sonderbare Welt: unsere Schule. Ist ein Zögling artig und
schicklich gewesen, so wölbt sich plötzlich über seinem Kopf irgend
etwas, und das ist der blaue, unersetzliche Himmel über dem
eingebildeten Garten. Sind wir Eleven recht geduldig gewesen, und haben
wir uns in der Anstrengung recht brav aufrecht gehalten, haben wir, was
man warten und ausharren nennt, können, dann goldet es mit einem Mal vor
unsern etwas ermüdeten Augen, und dann wissen wir, daß es die himmlische
Sonne ist. Dem, der sich aufrichtig und berechtigt müde fühlt, scheint
die Sonne. Und haben wir uns auf keinen unlauteren Wünschen zu ertappen
brauchen, was immer so unglücklich macht, so horchen wir: ei, was ist
das? Da singen ja Vögel! Nun, dann sind es eben die glücklichen,
schönbefiederten kleinen Sänger unseres Gartens gewesen, die da gesungen
und anmutig gelärmt haben. Jetzt sage man selber: Brauchen wir Zöglinge
des Institutes Benjamenta noch sonstige Gärten, als die, die wir uns
selbst schaffen? Wir sind reiche Herren, wenn wir uns zierlich und
anständig aufführen. Wenn z. B. ich wünsche, Geld zu besitzen, was
leider nur allzu oft vorkommt, dann sinke ich in die tiefen Schlünde des
hoffnungslosen, wütenden Begehrens, o, dann leide und schmachte ich,
und ich muß am Erretten zweifeln. Und blicke ich dann Kraus an, dann
erfaßt mich ein tiefes, murmelndes, quellenhaftes, wundervolles Behagen.
Das ist der friedliche Bescheidenheitsquell, der in unserem Garten auf
und nieder plätschert, und ich bin dann so glücklich, so gut aufgelegt,
so gestimmt auf das Gute. Ah, und ich sollte Kraus nicht lieben? Ist
einer von uns, d. h. wäre einer von uns ein Held gewesen, hätte er etwas
Mutiges mit Gefahr seines Lebens vollbracht (so heißt es im Lehrbuch),
so würde er in das marmorne, mit Wandmalereien geschmückte Säulenhaus
treten dürfen, das im Grün unseres Gartens heimlich verborgen liegt, und
dort würde ihn ein Mund küssen. Was für ein Mund, das steht nicht im
Lehrbuch. Und wir sind ja doch keine Helden. Wozu auch! Erstens fehlt
uns die Gelegenheit, uns heroisch zu benehmen, und zweitens, ich weiß
nicht recht, ob z. B. Schilinski oder der lange Peter für Aufopferungen
zu haben wären. Unser Garten ist auch ohne Küsse, Helden und
Säulenpavillons eine hübsche Einrichtung, glaube ich. Mich friert es,
wenn ich von Helden rede. Da schweige ich lieber.

Ich fragte Kraus neulich, ob er nicht auch von Zeit zu Zeit etwas wie
Langeweile empfinde. Er schaute mich vorwurfsvoll mit zurechtweisenden
Augen an, überlegte ein wenig und sagte: »Langeweile? Du bist wohl nicht
ganz gescheit, Jakob. Und erlaube mir, dir zu sagen, daß du ebenso naive
wie sündhafte Fragen stellst. Wer wird sich in der Welt langweilen?
Vielleicht du. Ich nicht, das sage ich dir. Ich lerne hier aus dem Buch
auswendig. Nun? Habe ich da Zeit, mich zu langweilen? Welch törichte
Fragen. Noble Leute langweilen sich vielleicht, nicht Kraus, und du
langweilst dich, sonst würdest du gar nicht auf den Gedanken kommen, und
würdest gar nicht hierher zu mir kommen, so etwas zu fragen. Man kann
immer, wenn nicht nach außen, so doch wenigstens nach innen, ein wenig
tätig sein, man kann murmeln, Jakob. Gewiß wolltest du mich schon oft
auslachen wegen meines Murmelns, aber, höre und sage mir, weißt du denn,
was ich murmle? Worte, lieber Jakob. Ich murmle und wiederhole immer
Worte. Das ist gesund, kann ich dir sagen. Verschwinde mit deiner
Langeweile. Langeweile gibt es bei Menschen, die da immer gewärtigen, es
solle von außen her etwas Aufmunterndes auf sie zutreten. Wo üble Laune,
wo Sehnsucht ist, da ist Langeweile. Geh' nur, belästige mich nicht, laß
mich lernen, geh' du an irgend ein Stück Aufgabe. Plag' dich an etwas,
dann langweilst du dich gewiß nicht mehr. Und bitte, vermeide in
Zukunft solcherlei einen fast aus aller Fassung bringende, über und über
dumme Fragen.« -- Ich fragte: »Hast du jetzt ausgeredet, Kraus?« und
lachte. Doch er blickte mich nur ganz mitleidig an. Nein, Kraus kann
sich nie, nie langweilen. Ich wußte das ja zur Genüge, ich habe ihn nur
wieder einmal reizen wollen. Wie unschön ist das von mir, und wie leer.
Ich muß mich entschieden bessern. Wie schlecht das ist, Kraus immer
äffen und ärgern zu wollen. Und doch: wie reizend. Seine Vorwürfe
klingen so lustig. Es ist etwas so Vater-Abraham-mäßiges in seinen
Ermahnungen.

Was hat mir doch vor ein paar Tagen Furchtbares geträumt. Ich war im
Traum ein ganz schlechter, schlechter Mensch geworden, wodurch, das
wollte sich mir nicht offenbaren. Roh war ich vom Wirbel bis zur Sohle,
ein aufgedonnertes, unbeholfenes, grausames Stück Menschenfleisch. Ich
war dick, es ging mir scheinbar ganz glänzend. Ringe blitzten an den
Fingern meiner unförmigen Hände, und ich besaß einen Bauch, an dem
zentnerschwere, fleischige Würde nachlässig herabhing. Ich fühlte so
recht, daß ich befehlen und Launen losschießen durfte. Neben mir, auf
einem reichbesetzten Tisch, prangten die Gegenstände einer nicht zu
befriedigenden Eß- und Trinkbegierde, Wein- und Likörflaschen, und die
auserlesensten kalten Gerichte. Ich konnte nur zulangen, und das tat ich
von Zeit zu Zeit. An den Messern und Gabeln klebten die Tränen zugrunde
gerichteter Gegner, und mit den Gläsern klangen die Seufzer vieler armer
Leute, aber die Tränenspuren reizten mich nur zum Lachen, während mir
die hoffnungslosen Seufzer wie Musik ertönten. Ich brauchte Tafelmusik
und ich hatte sie. Anscheinend hatte ich sehr, sehr gute Geschäfte auf
Kosten des Wohlergehens anderer gemacht, und das freute mich in alle
Gedärme hinein. O, o, wie mich doch das Bewußtsein, einigen Mitmenschen
den Boden unter den Füßen weggezogen zu haben, erlabte! Und ich griff
zur Klingel und schellte. Ein alter Mann trat herein, pardon, kroch
herein, es war die Lebensweisheit, und sie kroch an meine Stiefel heran,
um sie zu küssen. Und ich erlaubte dem entwürdigten Wesen das. Man
denke: die Erfahrung, der gute edle Grundsatz: er leckte mir die Füße.
Das nenne ich Reichtum. Weil es mir grad so einfiel, klingelte ich
wieder, denn es juckte mich, ich weiß nicht mehr, wo, nach sinnreicher
Abwechslung, und es erschien ein halbwüchsiges Mädchen, ein wahrer
Leckerbissen für mich Wüstling. Kindliche Unschuld, so nannte sie sich,
und begann, die Peitsche, die neben mir lag, flüchtig mit dem Auge
streifend, mich zu küssen, was mich unglaublich auffrischte. Die Angst
und die frühzeitige Verdorbenheit flatterten in den schönen rehgleichen
Augen des Kindes. Als ich genug hatte, klingelte ich wieder, und es trat
auf: der Lebensernst, ein schöner, schlanker, junger, aber armer Mensch.
Es war einer meiner Lakaien, und ich befahl ihm stirnrunzelnd, mir das
Ding da, wie hieß es schon, nun ja, hab' ich's endlich, mir die Lust zur
Arbeit hereinzuführen. Bald darauf trat der Eifer herein, und ich machte
mir das Vergnügen, ihm, dem Voll-Menschen, dem prachtvoll gebauten
Arbeitsmann, eins mit der Peitsche überzuknallen, mitten ins ruhig
wartende Gesicht, zum rein Kaputtlachen. Und das Streben, das urwüchsige
Schaffen, es ließ sich's gefallen. Nun allerdings lud ich es mit einer
trägen, gönnerhaften Handbewegung zum Glas Wein ein, und das dumme Luder
schlürfte den Schandwein. »Geh', sei für mich tätig,« sagte ich, und es
ging. Nun kam die Tugend, eine weibliche Gestalt von für jeden
Nicht-ganz-Hartgefrorenen überwältigender Schönheit, weinend herein. Ich
nahm sie auf meinen Schoß und trieb Unsinn mit ihr. Als ich ihr den
unaussprechlichen Schatz geraubt hatte, das Ideal, jagte ich sie
höhnisch hinaus, und, nun pfiff ich, und es erschien Gott selber. Ich
schrie: »Was? Auch du?« Und erwachte schweißtriefend, -- wie froh war
ich doch, daß es nur ein böser Traum war. Mein Gott, ich darf noch
hoffen, es werde noch eines Tages etwas aus mir. Wie im Traum doch alles
an die Grenze des Wahnsinns streift. Kraus würde mich schön anglotzen,
wenn ich ihm das erzählte.

Die Art, wie wir Fräulein verehren, ist doch eigentlich komisch. Aber
ich z. B. bin sehr fürs Komische, es enthält unbedingt Zauber. Um acht
beginnt immer der Unterricht. Nun, da sitzen wir Zöglinge schon zehn
Minuten vorher voll Spannung und Erwartung an unsern Plätzen und schauen
unbeweglich nach der Türe, in welcher die Vorgesetzte erscheinen soll.
Auch für diese Art von vorauseilender Respektsbezeugung haben wir exakte
Vorschriften. Es gilt als Gesetz, nach derjenigen hinzuhorchen, ob sie
bald komme, die dann und dann bestimmt eintreten wird. Wir Schüler
sollen uns echt dummejungenhaft zehn Minuten lang auf das Aufstehen von
unsern Plätzen vorbereiten. Eine kleine Entehrung liegt in all diesen
kleinlichen Forderungen, die eigentlich lächerlich sind, aber uns soll
nichts an unserer persönlichen, sondern uns soll alles an der Ehre des
Institutes Benjamenta gelegen sein, und das ist wahrscheinlich auch das
Richtigste, denn hat ein Schüler Ehre? Keine Rede. Recht bevormundet
und gezwiebelt zu werden, das höchstens kann eine Ehre für uns sein.
Gedrillt werden ist für Zöglinge ehrenhaft, sonnenklar ist das. Aber wir
rebellieren auch gar nicht. Würde uns nie einfallen. Wir haben,
zusammengerechnet, ja so wenig Gedanken. Ich habe vielleicht noch die
meisten Gedanken, leicht möglich ist das, aber ich verachte im Grunde
genommen mein ganzes Denkvermögen. Ich schätze nur Erfahrungen, und die
sind in der Regel von allem Denken und Vergleichen vollkommen
unabhängig. So schätze ich an mir, wie ich eine Türe öffne. Im Türöffnen
liegt mehr verborgenes Leben als in einer Frage. Nun ja, es regt eben
alles zum Fragen und Vergleichen und Erinnern an. Gewiß muß man auch
denken, sehr sogar. Aber sich fügen, das ist viel, viel feiner als
denken. Denkt man, so sträubt man sich, und das ist immer so häßlich und
Sachen-verderbend. Die Denker, wenn sie nur wüßten, wieviel sie
verderben. Einer, der geflissentlich nicht denkt, tut irgend etwas, nun,
und das ist nötiger. Zehntausende von Köpfen arbeiten in der Welt
überflüssig. Sonnen-sonnenklar ist das. Der Lebensmut geht den
Menschengeschlechtern verloren mit all dem Abhandeln und Erfassen und
Wissen. Wenn z. B. ein Zögling des Institutes Benjamenta nicht weiß, daß
er artig ist, dann ist er es. Weiß er es, dann ist seine ganze
unbewußte Zier und Artigkeit weg, und er begeht irgend einen Fehler. Ich
laufe gern Treppen hinunter. Welch ein Geschwätz.

Es ist hübsch, bis zu einem gewissen Grad wohlhabend zu sein und seine
weltlichen Verhältnisse ein wenig geordnet zu haben. Ich bin in der
Wohnung meines Bruders Johann gewesen, und ich muß sagen, sie hat mich
angenehm überrascht, sie ist geradezu Alt-Von Guntensch eingerichtet.
Schon daß der Fußboden ganz mit einem weichen, mattblauen Teppich belegt
und bedeckt ist, hat mir außerordentlich imponiert. Überall in den
Zimmern herrscht Geschmack, doch nicht auffälliger Geschmack, sondern
nur bestimmte, feine Wahl. Die Möbel sind anmutig verteilt, das mutet
gleich beim Eintritt in die Wohnung wie ein höflicher, zarter Gruß an.
Spiegel sind an den Wänden. Es ist sogar ein ganz großer Spiegel da, der
vom Boden bis an die Decke hinaufreicht. Die einzelnen Gegenstände sind
alt und doch nicht, elegant und doch nicht, reich und doch nicht. Es ist
Wärme und Sorgfalt in den Räumen, das fühlt man, und das ist angenehm.
Ein freier sorglicher Wille hat die Spiegel aufgehängt und dem zierlich
geschweiften Ruhebett seinen Platz angewiesen. Ich müßte kein von
Gunten sein, wenn ich das nicht merkte. Sauber und staubfrei ist alles,
und doch glänzt das alles eigentlich nicht, sondern es blickt einen
alles ruhig und heiter an. Nichts will scharf in die Augen stechen. Nur
das zusammenhängende Ganze hat einen vielbedeutenden, liebevollen
Ausdruck. Eine schöne schwarze Katze lag auf einem dunkelroten
Plüschsessel, wie die schwärzliche weiche Behaglichkeit, eingebettet in
Rot. Sehr hübsch. Wäre ich Maler, so würde ich die Traulichkeit solch
eines Tierbildes malen. Der Bruder kam mir sehr freundlich entgegen, und
wir stunden einander gegenüber wie wohlabgemessene Weltleute, die
wissen, was in der Schicklichkeit für ein Vergnügen liegen kann. Wir
plauderten. Da kam ein großer, schlanker, schneeweißer Hund auf uns
zugesprungen, in anmutigen, Freude ausdrückenden Sätzen. Nun, ich
streichelte das Tier natürlich. Alles ist schön an der Wohnung Johanns.
Er hat alle einzelnen Gegenstände und Stücke mit Liebe und Mühe in
Althändlerläden aufgestöbert, bis er das Wohnlichste und Anmutigste
zusammenhatte. Mit dem Einfachen hat er verstanden, etwas in
bescheidenen Grenzen Vollkommenes zu schaffen, derart, daß in seiner
Wohnung das Taugliche und Nützliche sich mit dem Schönen und Graziösen
wie zu einem Stuben-Gemälde verbindet. Bald darauf, indem wir so
dasaßen, erschien eine junge Frau, welcher Johann mich vorstellte. Wir
tranken später Tee und waren sehr heiter. Die Katze miaute nach Milch,
und der große schöne Hund wollte von dem Gebäck zu essen haben, das auf
dem Teetisch lag. Beider Tiere Wünsche wurden dann auch befriedigt. Es
wurde Abend, und ich mußte nach Hause gehen.

Man lernt hier im Institut Benjamenta Verluste empfinden und ertragen,
und das ist meiner Meinung nach ein Können, eine Übung, ohne die der
Mensch, mag er noch so bedeutend sein, stets ein großes Kind, eine Art
weinerlicher Schreihals bleiben wird. Wir Zöglinge hoffen nichts, ja, es
ist uns streng untersagt, Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen, und
doch sind wir vollkommen ruhig und heiter. Wie mag das kommen? Fühlen
wir über unsern glattgekämmten Köpfen etwas wie Schutzengel hin und her
schweben? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht sind wir heiter und
sorgenlos aus Beschränktheit. Auch möglich. Aber ist deshalb die
Heiterkeit und Frische unserer Herzen weniger wert? Sind wir überhaupt
dumm? Wir vibrieren. Unbewußt oder bewußt nehmen wir auf vieles ein
wenig Bedacht, sind da und dort mit den Geistern, und die Empfindungen
schicken wir nach allen möglichen Windrichtungen aus, Erfahrungen und
Beobachtungen einsammelnd. Uns tröstet so vieles, weil wir im
allgemeinen sehr eifrige, sucherische Leute sind, und weil wir uns
selber wenig schätzen. Wer sich selbst sehr schätzt, ist vor
Entmutigungen und Herabwürdigungen nie sicher, denn stets begegnet dem
selbstbewußten Menschen etwas Bewußtseinfeindliches. Und doch sind wir
Schüler durchaus nicht ohne Würde, aber es ist eine sehr, sehr
bewegungsfähige, kleine, bieg- und schmiegsame Würde. Übrigens legen wir
sie an und ab je nach Erfordernissen. Sind wir Produkte einer höheren
Kultur, oder sind wir Naturkinder? Auch das kann ich nicht sagen. Das
eine weiß ich bestimmt: wir warten! Das ist unser Wert. Ja, wir warten,
und wir horchen gleichsam ins Leben hinaus, in diese Ebene hinaus, die
man Welt nennt, aufs Meer mit seinen Stürmen hinaus. Fuchs ist übrigens
ausgetreten. Mir ist das sehr lieb. Ich wußte mit diesem Menschen nichts
anzufangen.

Ich habe mit Herrn Benjamenta gesprochen, d. h. er hat mit mir
gesprochen. »Jakob,« sagte er zu mir, »sage mir, findest du nicht, daß
das Leben, das du hier führst, karg ist, karg? Was? Ich möchte gern
deine Meinung wissen. Sprich offen.« -- Ich zog es vor, zu schweigen,
doch nicht aus Trotz. Der Trotz ist mir längst vergangen. Aber ich
schwieg, und zwar ungefähr so, als wenn ich hätte sagen wollen: »Mein
Herr, gestatten Sie mir, zu schweigen. Auf eine solche Frage könnte ich
höchstenfalles etwas Unziemliches sagen.« -- Herr Benjamenta schaute
mich aufmerksam an, und ich glaubte, er verstehe mein Schweigen. Es war
auch tatsächlich so, denn er lächelte plötzlich und sagte: »Nicht wahr,
Jakob, du wunderst dich ein wenig, wie wir hier im Institut so träge, so
gleichsam geistesabwesend dahinleben? Ist es so? Ist dir das
aufgefallen? Doch ich will dich durchaus nicht zu unverschämten
Antworten verleiten. Ich muß dir ein Geständnis machen, Jakob. Höre, ich
halte dich für einen klugen, anständigen jungen Menschen. Jetzt, bitte,
werde frech. Und ich fühle mich veranlaßt, dir noch etwas anderes zu
gestehen: ich, dein Vorsteher, ich meine es gut mit dir. Und noch ein
drittes Geständnis: Ich habe eine seltsame, eine ganz eigentümliche,
jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe für dich gewonnen. Du wirst
jetzt mir gegenüber recht frech sein, nicht wahr, Jakob? Nicht wahr,
junger Mensch, jetzt, nachdem ich mir vor dir eine Blöße gegeben habe,
wirst du's wagen, mich mit Wegwerfung zu behandeln? Und du wirst jetzt
trotzen? Ist es so, sage, ist es so?« -- Wir beide, der bärtige Mann und
ich, der Junge, schauten einander in die Augen. Es glich einem
innerlichen Wettkampf. Schon wollte ich den Mund öffnen und irgend
etwas Unterwürfiges sagen, doch ich vermochte mich zu beherrschen und
schwieg. Und nun bemerkte ich, daß der riesenhaft gebaute Herr Vorsteher
leise, leise zitterte. Von diesem Augenblick an war etwas Bindendes
zwischen uns getreten, das fühlte ich, ja, ich fühlte es nicht nur, ich
wußte es sogar. »Herr Benjamenta achtet mich,« sagte ich mir, und
infolge dieser wie ein Blitz auf mich niederstrahlenden Erkenntnis fand
ich es für schicklich, ja sogar für geboten, zu schweigen. Wehe mir,
wenn ich ein einziges Wort gesagt hätte. Ein einziges Wort würde mich
zum unbedeutsamen kleinen Eleven erniedrigt haben, und soeben hatte ich
doch eine ganz unzöglinghafte, menschliche Höhe erklommen. Das alles
empfand ich tief, und wie ich jetzt weiß, habe ich mich in jenem Moment
ganz richtig benommen. Der Vorsteher, der dicht zu mir getreten war,
sagte dann folgendes: »Es ist etwas Bedeutendes an dir, Jakob.« -- Er
hielt inne, und ich fühlte sogleich, warum. Er wollte ohne Zweifel
sehen, wie ich mich jetzt benähme. Ich merkte das, und daher verzog ich
auch nicht eine einzige Muskel meines Gesichtes, sondern schaute starr,
wie gedankenlos, vor mich hin. Dann schauten wir uns wieder an. Ich
blickte meinen Herrn Vorsteher streng und hart an. Ich heuchelte irgend
welche Kälte, irgend welche Oberflächlichkeit, während ich doch am
liebsten hätte in sein Gesicht lachen mögen, vor Freude. Aber ich sah es
zu gleicher Zeit: er war zufrieden mit meiner Haltung, und er sagte
endlich: »Mein Junge, geh' wieder an deine Arbeit. Beschäftige dich mit
etwas. Oder geh' dich mit Kraus unterhalten. Geh'.« -- Ich verbeugte
mich tief, ganz gewohnheitsgemäß, und entfernte mich. Draußen im
Korridor blieb ich wieder, wie schon einmal früher, eigentlich auch ganz
gewohnheitsgemäß, stehen und horchte durchs Schlüsselloch, ob sich da
drinnen etwas rege. Aber es war alles still. Ich mußte leise und
glücklich lachen, ganz dumm lachen, und dann ging ich ins Schulzimmer,
wo ich Kraus im Halbdunkel, scheinbar von einem bräunlichen Lichtstrahl
umflossen, sitzen sah. Ich blieb lange stehen. Tatsächlich, lange stund
ich so, denn ich konnte etwas, irgend etwas, nicht ganz begreifen. Es
war mir, als sei ich zu Hause. Nein, es war mir, als sei ich noch nicht
geboren, als schwämme ich in etwas Vor-Gebürtigem. Es wurde mir heiß und
meerhaft-undeutlich vor den Augen. Ich ging zu Kraus und sagte ihm: »Du,
Kraus, ich habe dich lieb.« -- Er knurrte, was das für Redensarten
seien. Rasch zog ich mich in meine Kammer zurück. -- Und jetzt? Sind wir
Freunde? Sind Herr Benjamenta und ich Freunde? Jedenfalls besteht
zwischen uns beiden ein Verhältnis, aber was für eins? Ich verbiete
mir, mir das erklären zu wollen. Ich will hell, leicht und heiter
bleiben. Fort mit den Gedanken.

Noch immer habe ich keine Stelle. Herr Benjamenta sagt mir, er bemühe
sich. In ganz schroffem Gebieterton sagt er das und fügt hinzu: »Wie?
Ungeduldig? Kommt alles. Warte!« -- Von Kraus heißt es unter den
Zöglingen, daß er vielleicht bald abgehe. Abgehen, das ist ein so
berufshaft-komischer Ausdruck. Kraus geht bald fort? Hoffentlich sind
das nur leere Gerüchte, Institut-Sensationen. Es gibt auch unter uns
Zöglingen etwas wie einen aus Luft und Nichts herausgegriffenen
Zeitungenklatsch. Die Welten, merke ich, sind überall dieselben. Ich bin
übrigens wieder bei meinem Bruder Johann von Gunten gewesen, und dieser
Mensch hat den Mut gehabt, mich unter Leute zu führen. Ich habe am Tisch
reicher Leute gegessen, und ich werde die Art und Weise, wie ich mich
benommen habe, nie vergessen. Einen alten, aber immerhin feierlichen
Gehrock habe ich angehabt. Gehröcke machen alt und gewichtig. Nun, und
da habe ich getan wie ein Mann von jährlich zwanzigtausend Mark
Einkommen, mindestens. Ich habe mit Leuten geredet, die mir den Rücken
gedreht hätten, wenn sie hätten ahnen können, wer ich bin. Frauen, die
mich total verachten würden, wenn ich ihnen sagte, ich sei nur Zögling,
haben mir zugelächelt und mir gleichsam Kurage zugewunken. Und ich bin
verblüfft gewesen über meinen Appetit. Wie gelassen man doch an fremden
reichen Tischen zugreift. Ich sah, wie es alle machten, und ich machte
es talentvoll nach. Wie gemein ist das. Ich empfinde etwas wie Scham
darüber, dort, nämlich in jenen Kreisen, ein fröhliches Eß- und
Trinkgesicht gezeigt zu haben. Von feiner Sitte habe ich wenig bemerkt.
Dagegen merkte ich, daß man mich als schüchternen Jungen empfunden hat,
während ich doch (in meinen Augen) platzte vor Frechheit. Johann benimmt
sich gut in Gesellschaft. Er besitzt die leichte angenehme Fasson eines
Menschen, der etwas gilt, und der das auch weiß. Sein Betragen ist für
die Augen, die es betrachten, ein Labsal. Rede ich zu gut von Johann? O
nein. Ich bin durchaus nicht verliebt in meinen Bruder, aber ich bemühe
mich, ihn zu sehen, ganz, nicht nur halb. Vielleicht ist das allerdings
Liebe. Meinetwegen. Sehr schön war es auch im Theater, doch ich will
mich darüber nicht weiter verbreiten. Den feinen Rock habe ich dann
wieder abgestreift. O, es ist hübsch, in eines geschätzten Menschen
Kleidern zu gehen und herumzuschwirren. Ja, schwirren! Das ist es. Man
zirpt und schwirrt so herum, dort, in den Kreisen der Gebildeten. Dann
bin ich wieder ins Institut gekrochen und in meinen Zöglingsanzug. Ich
bin gern hier, ich fühle es, und ich werde mich dummerweise später
wahrscheinlich nach Benjamentas zurücksehnen, später, wenn ich etwas
Großes geworden bin, doch ich werde ja nie, nie irgend etwas Großes, und
ich zittere vor eigentümlicher Genugtuung, daß ich das zum voraus
bestimmt weiß. Ein Schlag wird mich eines Tages treffen, so ein recht
vernichtender Schlag, und dann wird alles, werden alle diese Wirrnisse,
diese Sehnsucht, diese Unkenntnis, dies alles, diese Dank- und
Undankbarkeit, diese Lügen und Selbstbetruge, dies Wissen-Meinen und
dies Doch-nie-etwas-Wissen zu Ende sein. Doch ich wünsche zu leben,
gleichviel wie.

Etwas mir Unverständliches ist vorgefallen. Vielleicht hat es auch gar
nichts zu bedeuten. Ich bin sehr wenig geneigt, mich von Mysterien
bewältigen zu lassen. Ich saß, es war schon halb Nacht, ganz allein in
der Schulstube. Plötzlich stand Fräulein Benjamenta hinter mir. Ich
hatte sie nicht eintreten gehört, sie mußte also ganz leise die Türe
geöffnet haben. Sie fragte mich, was ich da mache, doch in einem Ton,
daß ich gar nicht zu antworten brauchte. Sie sagte sozusagen, indem sie
fragte, sie wisse es schon. Da gibt man natürlich keine Antwort mehr.
Sie legte, wie wenn sie müde gewesen wäre und der Stütze bedurft hätte,
die Hand auf meine Achsel. Da fühlte ich so recht, daß ich ihr gehörte,
d. h. ihr gehörte? -- Ja, einfach so ihr angehörte. Ich bin immer
mißtrauisch gegenüber Empfindungen. Aber daß ich da ihr, dem Fräulein,
quasi gehörte, das war wahr empfunden. Wir gehörten zusammen. Natürlich
mit Unterschied. Doch wir stunden uns mit einmal sehr nahe. Immer, immer
aber mit Unterschied. Ich hasse es geradezu, so gar wenig oder keine
Unterschiede zu empfinden. Darin, daß Fräulein Benjamenta und ich zwei
sehr verschieden geartete und gestellte Wesen waren, das zu spüren,
darin lag für mich ein Glück. Ich verachte es im übrigen, mich zu
belügen. Die Auszeichnungen und Vorteile, die nicht ganz, ganz echt
sind, betrachte ich als meine Feinde. Es war da also ein großer
Unterschied. Ja, was ist denn das? Komme ich über gewisse Unterschiede
nicht hinaus? Doch da sagte das Fräulein plötzlich: »Komm' mit. Steh'
auf und komm'. Ich will dir etwas zeigen.« -- Wir gingen zusammen. Vor
unseren Augen, wenigstens vor den meinigen (vor ihren vielleicht nicht),
lag alles in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt. »Das sind die innern
Gemächer,« dachte ich, und ich täuschte mich auch nicht. Es verhielt
sich so, und meine liebe Lehrerin schien entschlossen zu sein, mir eine
bisher verborgen gewesene Welt zu zeigen. Doch ich muß Atem schöpfen.

Es war, wie gesagt, zuerst ganz dunkel. Das Fräulein nahm mich bei der
Hand und sagte in freundlicher Tonart: »Siehe, Jakob, so wird es dunkel
um dich sein. Und da wird dich jemand dann an der Hand führen. Und du
wirst froh darüber sein und zum erstenmal tiefe Dankbarkeit empfinden.
Sei nicht mißgestimmt. Es kommen auch Helligkeiten.« -- Kaum hatte sie
das gesagt, so brannte uns ein weißes, blendendes Licht entgegen. Ein
Tor zeigte sich, und wir gingen, sie voran, ich dicht hinter ihr, durch
die Öffnung hindurch, ins herrliche Licht-Feuer hinein. Ich hatte noch
nie etwas so Glanzvolles und Vielsagendes gesehen, daher war ich auch
wie betäubt. Das Fräulein sprach lächelnd, noch freundlicher wie vorher:
»Blendet dich das Licht? Dann strenge dich an, es zu ertragen. Es
bedeutet Freude, und man muß sie zu empfinden und zu ertragen wissen. Du
kannst meinetwegen auch denken, es bedeute dein zukünftiges Glück, doch
sieh', was geschieht da? Es schwindet. Das Licht zerfällt. Also, Jakob,
sollst du kein langes, kein anhaltendes Glück haben. Schmerzt dich meine
Aufrichtigkeit? Nicht doch. Komm' weiter. Wir müssen uns ein wenig
beeilen, denn noch manche Erscheinung soll durchwandert und durchzittert
werden. Sag', Jakob, verstehst du auch meine Worte? Doch schweig'. Du
darfst hier nicht reden. Glaubst du, daß ich etwa eine Zauberin sei?
Nein, ich bin keine Zauberin. Gewiß, ein ganz klein wenig zu zaubern, zu
verführen, das verstehe ich schon. Jedes Mädchen versteht das. Doch
komm' jetzt.« -- Mit diesen Worten öffnete das verehrte Mädchen eine
Bodenlucke, wobei ich ihr helfen mußte, und wir stiegen zusammen, sie
immer voran, in einen tiefgelegenen Keller hinunter. Zuletzt, als die
steinernen Stufen aufhörten, traten wir auf feuchte weiche Erde. Es war
mir, als befänden wir uns in der Mitte der Erdkugel, so tief und einsam
kam es mir vor. Wir schritten einen langen, finstern Gang entlang,
Fräulein Benjamenta sagte: »Wir sind jetzt in den Gewölben und Gängen
der Armut und Entbehrung, und da du, lieber Jakob, wahrscheinlich dein
Lebenlang arm bleibst, so versuche bitte schon jetzt, dich an die
Finsternis und an den kalten, schneidenden Geruch, die hier herrschen,
ein wenig zu gewöhnen. Erschrick nicht und sei ja nicht böse. Gott ist
auch hier, er ist überall. Man muß die Notwendigkeit lieben und pflegen
lernen. Küsse die nasse Kellererde, ich bitte dich, ja, tu' es. Damit
lieferst du den sinnlichen Beweis deiner willigen Unterwerfung in die
Schwere und in die Trübnis, die dein Leben, wie es scheint, zum größten
Teil ausmachen werden.« -- Ich gehorchte ihr, warf mich zur kalten Erde
nieder und küßte sie voller Inbrunst, wobei mich ein unnennbarer kalter
und zugleich heißer Schauer durchrann. Wir gingen weiter. Ah, diese
Gänge des Not-Leidens und der furchtbaren Entsagung schienen mir endlos,
und sie waren es vielleicht auch. Die Sekunden waren wie ganze
Lebensläufe, und die Minuten nahmen die Größe von leidvollen
Jahrhunderten an. Genug, endlich langten wir an einer trübseligen Mauer
an, Fräulein sagte: »Geh' und liebkose die Mauer. Es ist die Sorgenwand.
Sie wird stets vor deinen Blicken aufgerichtet sein, und du bist unklug,
wenn du sie hassest. Ei, man muß das Starre, das Unversöhnliche eben zu
erweichen versuchen. Geh' und probier' es.« -- Ich trat rasch, wie in
leidenschaftlicher Eile, zur Mauer heran und warf mich ihr an die Brust.
Ja, an die steinerne Brust, und sagte ihr einige gute, beinahe
scherzende Worte. Und sie blieb, wie zu erwarten war, unbeweglich. Ich
spielte Komödie, schon meiner Lehrerin zulieb, gewiß, und doch war es
wiederum nichts weniger als Komödie, was ich tat. Und doch lächelten wir
beide, sie, die Meisterin sowohl, wie ich, ihr unreifer Schüler.
»Komm',« sagte sie, »wir wollen uns jetzt ein wenig Freiheit, ein wenig
Bewegung gönnen.« -- Und damit berührte sie mit dem kleinen weißen
bekannten Herrin-Stab die Mauer, und weg war der ganze garstige Keller,
und wir befanden uns auf einer glatten, offenen, schlanken Eis- oder
Glasbahn. Wir schwebten dahin wie auf wunderbaren Schlittschuhen, und
zugleich tanzten wir, denn die Bahn hob und senkte sich unter uns wie
eine Welle. Es war entzückend. Ich hatte nie so etwas gesehen, und ich
rief vor lauter Freude: »Wie herrlich.« -- Und über uns schimmerten die
Sterne in einem sonderbarerweise ganz blaßblauen und doch dunklen
Himmel, und der Mond starrte, überirdisch leuchtend, auf uns Eisläufer
herab. »Das ist die Freiheit,« sagte die Lehrerin, »sie ist etwas
Winterliches, Nicht-lange-zu-Ertragendes. Man muß sich immer, so wie wir
es hier tun, bewegen, man muß tanzen in der Freiheit. Sie ist kalt und
schön. Verliebe dich nur nicht in sie. Das würde dich nachher nur
traurig machen, denn nur momentelang, nicht länger, hält man sich in den
Gegenden der Freiheit auf. Bereits sind wir etwas zu lang hier. Sieh',
wie die wundervolle Bahn, auf der wir schweben, langsam sich wieder
auflöst. Jetzt kannst du die Freiheit sterben sehen, wenn du die Augen
aufmachst. Im späteren Leben wird dir dieser herzbeklemmende Anblick
noch oft zuteil werden.« -- Kaum hatte sie ausgesprochen, so sanken wir
von der erklommenen Höhe und Lustigkeit in etwas Müdes und Trauliches
hinunter, es war ein kleines, mit raffiniertem Wohlbehagen ganz
gefüttertes und erfülltes, köstlich nach Träumereien duftendes, reich
mit allerhand lüsternen Szenen und Bildern tapeziertes Ruhe-Gemach. Es
war ein geradezu gemächliches Gemach. Oft schon hatte ich von richtigen
Gemächern geträumt. Hier befand ich mich nun in einem solchen. Musik
rieselte an den bunten Wänden wie Anmutsschnee herunter, man sah es
direkt musizieren, die Töne glichen einem bezaubernden Schneegestöber.
»Hier,« sagte das Fräulein, »kannst du ruhen. Sage dir selber, wie
lange.« -- Wir lächelten beide über diese rätselhaften Worte, und
obgleich mich ein unsagbar zartes Bangen beschlich, zögerte ich nicht,
es mir in dem Lustgemach auf einem der Teppiche, die da vor mir lagen,
bequem zu machen. Eine Zigarette von selten gutem Geschmack flog mir von
oben herab in den unwillkürlich geöffneten Mund, und ich rauchte. Ein
Roman schwirrte herbei, mir gerade in die Hände, und ich konnte
ungestört darin lesen. »Das ist nichts für dich. Lies nicht in solchen
Büchern. Steh' auf. Komm' lieber. Die Weichlichkeit verführt zur
Gedankenlosigkeit und Grausamkeit. Hörst du, wie es zornig einherdonnert
und -rollt? Das ist das Ungemach. Du hast jetzt in einem Gemach Ruhe
genossen. Nun wird das Ungemach über dich herabregnen und Zweifel und
Unruhe werden dich durchnässen. Komm'. Man muß tapfer ins Unvermeidliche
hineingehen.« -- So sprach die Lehrerin, und kaum hatte sie zu Ende
gesprochen, da schwamm ich in einem dickflüssigen, höchst unangenehmen
Strom von Zweifel. Durch und durch entmutigt, wagte ich gar nicht, mich
umzuschauen, ob sie noch neben mir sei. Nein, die Lehrerin, die
Hervorzauberin all dieser Erscheinungen und Zustände, war verschwunden.
Ich schwamm ganz allein. Ich wollte schreien, aber das Wasser drohte mir
in den Mund zu laufen. O dieses Ungemach. Ich weinte, und ich bereute
bitter, mich der lüsternen Bequemlichkeit hingegeben zu haben. Da
plötzlich saß ich wieder im Institut Benjamenta, in der dunkelnden
Schulstube, und Fräulein Benjamenta stand noch hinter mir, und sie
streichelte mir die Wangen, aber nicht so, als wenn sie mich, sondern,
als wenn sie sich selber trösten müsse. »Sie ist unglücklich,« dachte
ich. Da kamen Kraus, Schacht und Schilinski von einem gemeinsamen
Ausgang zurück. Rasch zog das Mädchen die Hand von mir weg und ging in
die Küche, um das Abendbrot zuzubereiten. Träumte ich? Aber wozu mich
fragen, wenn es jetzt doch ans Abendessen geht? Es gibt Zeiten, wo ich
entsetzlich gern esse. Ich kann dann in die dümmsten Speisen
hineinbeißen wie ein hungriger Handwerksbursche, ich lebe dann wie in
einem Märchen und nicht mehr als Kulturmensch in einem Kulturzeitalter.

Sehr amüsant sind manchmal unsere Turn-und Tanzstunden. Geschick zeigen
zu müssen, das ist nicht ohne Gefahr. Wie kann man sich doch blamieren.
Zwar, wir Zöglinge lachen uns nicht aus. Nicht? O doch. Man lacht mit
den Ohren, wenn man mit dem Mund nicht lachen darf. Und mit den Augen.
Die Augen lachen so gern. Und den Augen Vorschriften zu machen, das ist
zwar ganz gut möglich, aber doch ziemlich schwer. So z. B. darf hier
nicht geblinzelt werden, blinzeln ist spöttisch und daher zu vermeiden,
aber man blinzelt halt doch manchmal. So ganz die Natur zu unterdrücken,
das geht eben doch nicht. Und doch geht's. Aber hat man sich auch die
Natur total abgewöhnt, es bleibt immer ein Hauch, ein Rest übrig, das
zeigt sich immer. Der lange Peter z. B. kann sich die höchsteigene,
persönliche Natur sehr schlecht abgewöhnen. Manchmal, wenn er tanzen,
sich graziös bewegen und erweisen soll, besteht er gänzlich aus Holz,
und das Holz ist bei Peter eben Naturanlage, gleichsam Gottesgeschenk. O
wie muß man doch über ein Klafter Holz, wenn es in Form eines langen
Menschen erscheint, lachen, so prächtig in die Brust hineinlachen. Ein
Gelächter ist das reine Gegenteil von einem Stück Holz, es ist etwas
Entzündendes, etwas, was da in einem drinnen Streichhölzer anzündet.
Streichhölzer kichern, genau wie ein unterdrücktes Gelächter. Ich mag
mich sehr, sehr gern am Herausschallen des Lachens verhindern lassen.
Das kitzelt so wunderbar: es nicht loslassen zu dürfen, was doch so gern
herausschießen möchte. Was nicht sein darf, was in mich hinab muß, ist
mir lieb. Es wird dadurch peinlicher, aber zugleich wertvoller, dieses
Unterdrückte. Ja ja, ich gestehe, ich bin gern unterdrückt. Zwar. Nein,
nicht immer zwar. Herr Zwar soll mir abmarschieren. Was ich sagen
wollte: etwas nicht tun dürfen, heißt, es irgendwo anders doppelt tun.
Nichts ist fader als eine gleichgültige, rasche, billige Erlaubnis. Ich
verdiene, erfahre gern alles, und z. B. ein Lachen bedarf auch der
Durch-Erfahrung. Wenn ich innerlich zerspringe vor Lachen, wenn ich kaum
noch weiß, wo ich all das zischende Pulver hintun soll, dann weiß ich,
was Lachen ist, dann habe ich am lächerigsten gelacht, dann habe ich
eine vollkommene Vorstellung dessen gehabt, was mich erschütterte. Ich
muß demnach unbedingt annehmen und es als feste Überzeugung aufbewahren,
daß Vorschriften das Dasein versilbern, vielleicht sogar vergolden, mit
einem Wort reizvoll machen. Denn wie mit dem verbotenen reizenden
Lachen ist es doch sicher mit fast allen andern Dingen und Gelüsten
ebenfalls. Nicht weinen dürfen z. B., nun, das vergrößert das Weinen.
Liebe entbehren, ja, das heißt lieben. Wenn ich nicht lieben soll, liebe
ich zehnfach. Alles Verbotene lebt auf hundertfache Art und Weise; also
lebt nur lebendiger, was tot sein sollte. Wie im Kleinen, so ist es im
Großen. Recht hübsch, recht alltäglich gesagt, aber im Alltäglichen
ruhen die wahren Wahrheiten. Ich schwatze wieder ein wenig, nicht wahr?
Geb' es gern zu, daß ich schwatze, denn mit etwas müssen doch Zeilen
ausgefüllt werden. Wie entzückend, wie entzückend sind verbotene
Früchte.

Vielleicht schwebt jetzt zwischen Herrn Benjamenta und mir etwas wie
eine beiden Teilen sichtbare, verbotene Frucht. Doch wir beide drücken
uns nicht deutlich aus. Wir scheuen vor der offenen Sprache zurück, und
das ist gewiß nur zu billigen. Mir z. B. ist eigentlich die
Freundlichkeit der Behandlung unsympathisch. Ich rede im allgemeinen.
Gewisse Leute, die mir zugetan sind, sind mir zuwider, ich kann das hier
nicht nachdrücklich genug betonen. Natürlich finde auch ich an der
Milde, am Herzlichen Geschmack. Wer könnte so roh sein, alle
Vertraulichkeit, alles wärmere Wesen gänzlich zu verabscheuen. Aber ich
hüte mich stets, nahezutreten, und ich weiß nicht, ich muß darin Talent
besitzen, jemanden von der Unklugheit gewisser Annäherungen stumm zu
überzeugen, wenigstens halte ich es für schwierig, sich in mein
Vertrauen zu stehlen. Und meine Wärme ist mir kostbar, sehr kostbar, und
derjenige, der sie besitzen will, muß äußerst vorsichtig vorgehen, und
das will nun Herr Vorsteher. Dieser Herr Benjamenta will, wie es
scheint, mein Herz besitzen und Freundschaft mit mir schließen.
Vorläufig behandle ich ihn aber eisig kalt, und wer weiß: ich will
vielleicht gar nichts von ihm wissen.

»Du bist jung,« sagt Herr Vorsteher zu mir, »du strotzest von
Lebensaussichten. Wart' mal, habe ich da etwas sagen wollen und es jetzt
vergessen? Du mußt wissen, Jakob, ich habe dir eine Menge Dinge zu
sagen, und da kann man das Schönste und Tiefste, eh' man bis drei
gezählt hat, vergessen. Und du schaust drein, siehst du, wie das gute,
frische Gedächtnis selber, während meines schon altet. Mein Kopf, Jakob,
ist am Sterben. Entschuldige, wenn ich etwas zu weich, zu vertraulich
rede. Ich muß einfach lachen. Da bitte ich dich, mich zu entschuldigen,
während ich dich durchprügeln könnte, wenn ich es für nötig fände. Wie
hart mich deine jungen Augen anblicken. Ei, ei, und ich könnte dich da
an die Wand werfen, daß dir Hören und Sehen für immer vergingen. Ich
weiß es gar nicht, wie es hat kommen können, daß ich mich dir gegenüber
so aller Vorgesetztengewalt entkleidet habe. Du lachst mich wohl
heimlich aus. Leise gesagt: Hüte dich da. Du mußt wissen, mich packen
Wildheiten an, und ehe ich mich verhindern kann, sind alle meine
Besinnungen geschwunden. O mein kleiner Bursch, nein, fürchte dich
nicht. Es ist ja so gänzlich, so gänzlich unmöglich, dir etwas zuleide
zu tun, aber sage, was wollte ich dich doch fragen. Sage, du fürchtest
dich wohl gar nicht ein bißchen? Und jung bist du und hast Hoffnungen,
und jetzt wirst du ja wohl bald in eine dir ziemende Stellung kommen?
Nicht? Ja eben, das ist es. Ja, das ist es, was mir leid tut, denn denke
dir, manchmal ist mir, als seiest du mein junger Bruder oder sonst etwas
Natürlich-Nahes, so verwandt kommst du mir, kommen mir deine Gebärden,
die Sprache, der Mund, alles, nun, mit einem Wort, du, mir vor. Ich bin
ein abgesetzter König. Du lächelst? Ich finde es einfach köstlich, weißt
du, daß dir jetzt gerade, wo ich von abgesetzten, ihrer Throne
enthobenen Königen spreche, ein Lächeln, solch ein spitzbübisches
Lächeln entflieht. Du hast Verstand, Jakob. O, man kann sich mit dir so
hübsch unterhalten. Es ist prickelnd reizvoll, sich dir gegenüber ein
wenig schwach und weicher, als gewöhnlich, zu benehmen. Ja, du forderst
geradezu heraus zu Fahrlässigkeiten, zur Lockerung, zur Preisgabe der
Würde. Man mutet dir, glaubst du das, Edelsinn zu, und da reizt es einen
ganz mächtig, sich vor dir in schönen, wohltuenden Erklärungen und
Geständnissen zu verlieren, so z. B. ich, dein Herr, vor dir, meinem
jungen armen Wurm, den ich, wenn's mich gelüstete, zermalmen könnte. Gib
mir die Hand. So. Laß mich dir sagen, daß du es verstanden hast, mir
Respekt vor dir abzunötigen. Ich achte dich hoch, und -- ich -- darf --
es dir sagen. Und nun habe ich eine Bitte an dich: willst du mein
Freund, mein kleiner Vertrauter sein? Ich bitte dich, sei es. Doch ich
will dir Zeit lassen, das alles zu bedenken, du darfst gehen. Bitte,
geh', laß mich allein.« -- So spricht zu mir mein Herr Vorsteher, der
Mann, der, wie er selber sagt, mich zermalmen kann, sobald er nur will.
Ich verbeuge mich jetzt nicht mehr vor ihm, es würde ihm weh tun. Was er
da nur von abgesetzten Königen gesprochen hat? Ich werde über diese
ganze Sache keine Gedanken verlieren, wie er mir anempfiehlt, sondern
ich werde einfach fortfahren, Form zu bewahren. Jedenfalls heißt es
aufpassen. Er spricht von Wildheit? Nun, ich muß sagen, das ist sehr
ungemütlich. Zum an der Wand zerquetscht zu werden, dazu bin ich mir
denn doch zu gut. Ob ich es dem Fräulein sage? O pfui, nicht doch. Ich
habe Mut genug, über etwas Seltsames Schweigen zu bewahren, und Verstand
genug, mit etwas Zweifelhaftem allein fertig zu werden. Vielleicht ist
Herr Benjamenta verrückt. Jedenfalls gleicht er dem Löwen, ich aber der
Maus. Nette Zustände sind das, die sich da jetzt im Institut
eingeschlichen haben. Nur niemandem etwas sagen. Eine verschwiegene
Angelegenheit ist manchmal schon eine gewonnene. Das alles sind
Dummheiten. Basta.

Was ich manchmal für Einbildungen habe! Es grenzt beinahe an das
Absurde. Mit einem Mal, ohne daß ich es habe verhindern können, war ich
Kriegsoberst geworden, so ums Jahr 1400 herum, nein, etwas später, zur
Zeit der mailändischen Feldzüge. Ich und meine Herren Offiziere, wir
tafelten. Es war nach einer gewonnenen Schlacht, und unser Ruhm mußte
sich in den nächsten Tagen durch ganz Europa verbreiten. Wir tranken und
waren lustig. Nicht etwa in einem Zimmer hielten wir Tafel, nein, auf
freiem Feld. Die Sonne war eben am Untergehen, da wurde vor meine Augen,
deren Strahl Schlachtenangriff und -sieg bedeutete, eine Kreatur
geführt, ein ganz armer Teufel, ein ertappter Verräter. Der unglückliche
Mensch schaute zitternd zu Boden, wohl wissend, daß er nicht das Recht
hatte, den Feldherrn anzuschauen. Ich sah ihn an, ganz leicht, dann
schaute ich diejenigen ebenso leicht und schnell an, die ihn hergeführt
hatten, dann widmete ich mich dem volleingeschenkten Glas Wein, das vor
mir stand, und diese drei Bewegungen bedeuteten: »Geht. Und henkt ihn.«
Sogleich ergriffen ihn die Leute, doch da schrie der Verruchte wie
verzweifelt, noch mehr, wie zerrissen, zum voraus zerrissen von tausend
entsetzlichen Martertoden. Meine Ohren hatten in den Gefechten und
Kämpfen, die mein Leben erfüllten, schon allerlei Töne gehört, und meine
Augen waren an den Anblick des Furchtbaren und Jammervollen mehr wie
gewöhnt, doch merkwürdig, das konnte ich nicht ertragen. Wieder drehte
ich mich nach dem Verdammten um, außerdem winkte ich meinen Soldaten.
»Laßt ihn laufen,« sagte ich, das Glas an der Lippe, um es kurz zu
machen. Da geschah etwas ebenso Ergreifendes wie Widerwärtiges. Der
Mann, dem ich das Leben geschenkt hatte, das Verbrecher- und
Verräterleben, stürzte wie unsinnig zu meinen Füßen und küßte den Staub
meiner Schuhe. Ich stieß ihn weg. Ich war von Ekel und Grauen erfaßt
worden. Mich berührte die Gewalt, die ich ausübte, die Macht, mit der
ich frei spielen konnte, wie der Sturmwind mit Blättern, peinlich, ich
lachte daher und befahl dem Menschen, sich zu entfernen. Er hatte
beinahe den Verstand verloren. Eine tierische Freude brach sich ihm
durch Augen und Mund Bahn, er lallte Dank, Dank und kroch weg. Wir
andern ergaben uns bis in die Nacht hinein einem ausgelassenen Gesöffe
und Gelage, und am frühen Morgen, noch immer saßen wir bei der Tafel,
empfing ich mit einer Würde, einer Hoheit, die selbst mir beinahe ein
Lächeln abnötigte, den Gesandten des Papstes. Ich war der Held, der Herr
des Tages. Von meiner Laune, meiner Zufriedenheit hing der Frieden von
halb Europa ab. Doch ich spielte den diplomatischen Herren gegenüber den
Dummen, den Guten, es paßte mir so, ich war etwas ermüdet, mich
begehrte, in die Heimat zurückzukehren. Ich ließ mir die Vorteile, die
mir der Krieg zuerteilte, wieder abnehmen. Natürlich bin ich später in
den Grafenstand erhoben worden, dann habe ich geheiratet, und jetzt bin
ich so tief gesunken, daß es mich gar nicht geniert, ein niedriger,
kleiner Eleve des Institutes Benjamenta zu sein und Kameraden zu haben
wie Kraus, Schacht, Hans und Schilinski. Man muß mich nackt auf die
kalte Straße werfen, dann stelle ich mir vielleicht vor, ich sei der
allesumfassende Herrgott. Es ist Zeit, daß ich die Feder aus der Hand
lege.

Für so Kleine und Niedrige, wie wir Zöglinge sind, gibt es nichts
Komisches. Der Entwürdigte nimmt alles ernst, aber auch alles leicht,
beinahe frivol. Mir kommt unsere Tanz-, Anstands- und Turnstunde wie das
öffentliche, wichtige, große Leben selber vor, und dann verwandelt sich
vor meinen Augen die Schulstube in ein herrschaftliches Zimmer, in eine
Straße voller Menschenverkehr, in ein Schloß mit alten, langen
Korridoren, in eine Amtsstube, in ein Gelehrtenkabinett, in einen
Damen-Empfangsraum, je nachdem, in alles Mögliche. Wir müssen eintreten,
grüßen, uns verneigen, sprechen, eingebildete Geschäfte oder Aufträge
erledigen, Bestellungen ausrichten, dann plötzlich sitzen wir bei Tisch
und essen auf hauptstädtische Manier, und Diener bedienen uns. Schacht,
oder vielleicht gar Kraus, stellt eine hocharistokratische Dame vor, und
ich übernehme es, sie zu unterhalten. Wir sind dann alle Kavaliere, der
lange Peter nicht ausgenommen, der sich ja sowieso stets als Kavalier
fühlt. Dann tanzen wir. Wir hüpfen umher, verfolgt von den lächelnden
Blicken der Lehrerin, und plötzlich rennen wir einem Verwundeten zu
Hilfe. Er ist auf der Straße überfahren worden. Wir schenken
scheinbaren Bettlern irgend eine Kleinigkeit, schreiben Briefe, brüllen
unsern Burschen an, gehen in die Versammlung, suchen Orte auf, wo man
französisch spricht, üben uns im Hutabnehmen, sprechen von Jagd,
Finanzen und Kunst, küssen Damen, die wir uns gewogen wissen wollen,
untertänig die gnädig ausgestreckten fünf hübschen Finger, bummeln als
Bummler, schlürfen Kaffee, essen Schinken in Burgunder, schlafen in
eingebildeten Betten, stehen ebenso scheinbar wieder des Morgens in
aller Frühe auf, sagen: »Guten Tag, Herr Amtsrichter,« prügeln uns, denn
das kommt ja im Leben oft auch vor, und tun eben alles, was im Leben
vorkommt. Sind wir müde von all den Dummheiten, so klopft Fräulein mit
dem Stab gegen eine Kante und sagt: »Allons, vorwärts, Jungens.
Arbeiten!« -- Dann wird wieder gearbeitet. Wir treiben uns im Zimmer
umher wie Wespen. Man kann das gar nicht recht schildern, und sind wir
wieder ermattet, so ruft die Lehrerin: »Wie? Ist euch das öffentliche
Leben so rasch verleidet? Macht, macht. Zeigt, wie das Leben ist. Es ist
leicht, aber man muß munter sein, sonst wird man vom Leben zertreten.«
-- Und frisch geht es wieder los. Wir reisen, wobei unsere Bedienten
Dummheiten machen. Wir sitzen in Bibliotheken und studieren. Wir sind
Soldaten, echte Rekruten, und müssen liegen und schießen. Wir treten in
Kaufläden, um zu kaufen, in Badeanstalten, um zu baden, in Kirchen, um
zu beten: »Gott, führe uns nicht in Versuchung.« Und im nächsten
Augenblick sitzen wir mitten in der gröbsten Verfehlung und sündigen.
»Hört auf. Genug für heute,« sagt dann, wenn es Zeit ist, das Fräulein.
Dann ist das Leben erloschen, und der Traum, den man menschliches Leben
nennt, nimmt eine andere Richtung. Meist gehe ich dann auf eine halbe
Stunde spazieren. Ein Mädchen begegnet mir immer in der Anlage, wo ich
auf einer Bank sitze. Sie scheint Verkäuferin zu sein. Sie biegt
jedesmal den Kopf nach mir um und sieht mich lang an. Sie schmachtet zu
sehr. Übrigens hält sie mich für einen Herrn mit monatlichem Salär. Ich
sehe so gut, nach etwas so Rechtem aus. Sie irrt sich, und ich ignoriere
sie daher.

Dann und wann spielen wir auch Theater, und zwar Lustspiel, das ins
Possenhafte ausartet, bis uns die Lehrerin einen Wink erteilt,
aufzuhören: Die Mutter: »Ich kann Ihnen meine Tochter nicht zur Frau
geben. Sie sind zu arm.« Der Held: »Armut ist keine Schande.« -- Die
Mutter: »Papperlappa, Redensarten. Was haben Sie denn für Aussichten?«
-- Die Liebhaberin: »Mama, ich muß Sie bei aller Verehrung, die ich für
Sie empfinde, bitten, höflicher mit dem Mann, den ich liebe, zu reden.«
-- Mutter: »Schweig! Eines Tages wirst du mir danken, daß ich ihn mit
unnachsichtlicher Strenge behandelt habe. -- Mein Herr, sagen Sie, wo
haben Sie denn eigentlich studiert?« -- Der Held (er ist Pole und wird
von Schilinski dargestellt): »Gnädige Frau, ich bin aus dem Institut
Benjamenta hervorgegangen. Verzeihen Sie den Stolz, mit dem ich das
sage.« -- Die Tochter: »Ach, Mama, sehen Sie doch, wie er sich benimmt.
Welche feinen Manieren.« -- Mutter (streng): »Schweig von Manieren. Auf
aristokratisches Benehmen kommt es doch längst nicht mehr an. Sie, mein
Herr, bitte, sagen Sie mir gefälligst: Was haben Sie denn dort im
Institut Bagnamenta gelernt?« -- Der Held: »Verzeihen Sie: Benjamenta,
nicht Bagnamenta, heißt die Lehranstalt. Was ich gelernt habe? Nun
allerdings, ich muß sagen, ich habe dort sehr wenig gelernt. Aber es
kommt doch heutzutage gar nicht mehr aufs viele Wissen an. Das müssen
Sie selbst zugeben.« -- Die Tochter: »Hören Sie, liebe Mama?« -- Die
Mutter: »Schweig' mir, du Mißratene, vom Anhören oder gar Ernstnehmen
solch eines Geschwätzes. Mein hübsch aussehender junger Herr, Sie würden
mir einen Gefallen erweisen, wenn Sie sich auf Nimmerwiedersehen
entfernen wollten.« -- Der Held: »Was wagt man mir da zu bieten? --
Nun, sei es. Adieu, ich gehe.« -- Er tritt ab usw. usw. Der Inhalt
unserer kleinen Dramen nimmt stets Bezug auf die Schule und auf die
Zöglinge. Ein Zögling erlebt allerhand bunt durcheinandergeworfene
Schicksale, gute und schlechte. Er hat Erfolg in der Welt oder äußersten
Mißerfolg. Das Ende des Stückes ist immer die Verherrlichung und
Versinnbildlichung bescheidenen Dienens. Das Glück dient: das ist die
Moral unserer dramatischen Literatur. Unser Fräulein pflegt während der
Darstellungen die Zuschauerwelt zu spielen. Sie sitzt gleichsam in einer
Loge und blickt durch das Augenglas auf die Bühne, d. h. auf uns
Spielende. Kraus ist der schlechteste Schauspieler. So etwas liegt ihm
gar nicht. Am besten spielt entschieden der lange Peter. Auch Heinrich
ist reizend auf der Bühne.

Ich habe die etwas beleidigende Empfindung, als wenn ich in der Welt
immer zu essen haben werde. Ich bin gesund, und ich werde es bleiben,
und man wird mich stets zu irgend etwas brauchen können. Ich werde
meinem Staat, meiner Gemeinde nie zur Last fallen. Das zu denken, d. h.
zu denken, daß man als ein niedriger Mensch sein tägliches Brot zu essen
haben wird, würde mich tief verwunden, wenn ich noch der frühere Jakob
von Gunten wäre, wenn ich noch der Abkömmling, der Sproß meines Hauses
wäre, aber ich bin ja ein ganz, ganz anderer geworden, ein gewöhnlicher
Mensch bin ich geworden, und daß ich gewöhnlich geworden bin, das
verdanke ich Benjamentas, und das erfüllt mich mit einer unnennbaren,
vom Tau der Zufriedenheit glänzenden und tropfenden Zuversicht. Ich habe
den Stolz, die Ehren-Arten gewechselt. Wie komme ich dazu, so jung schon
so zu entarten? Aber ist das Entartung? In gewisser Hinsicht ja,
andernteils ist es Erhaltung der Art. Ich bleibe vielleicht als irgendwo
im Leben verlorner und verschollener Mensch ein echterer, stolzerer
Gunten, als wenn ich, auf den Stammbaum pochend, zu Hause verdürbe,
entherzte und verknöcherte. Nun, mag das sein, wie es sein will. Ich
habe Wahl getroffen, und dabei bleibt es. In mir lebt eine sonderbare
Energie, das Leben von Grund auf kennen zu lernen, und eine
unbezwingliche Lust, Menschen und Dinge zu stacheln, daß sie sich mir
offenbaren. Hier fällt mir Herr Benjamenta ein. Aber ich will an etwas
anderes denken, d. h. ich mag an nichts mehr denken.

Ich habe eine Anzahl Menschen kennen gelernt, durch Johanns
Freundlichkeit. Es sind Künstler darunter, und es scheinen nette
Menschen zu sein. Nun, was kann man sagen bei so flüchtiger Berührung.
Eigentlich gleichen sich die Leute, die sich bemühen, Erfolg in der Welt
zu haben, furchtbar. Es haben Alle dieselben Gesichter. Eigentlich
nicht, und doch. Alle sind einander ähnlich in einer gewissen, rasch
dahinsausenden Liebenswürdigkeit, und ich glaube, das ist das Bangen,
das diese Leute empfinden. Sie behandeln Menschen und Gegenstände rasch
herunter, nur damit sie gleich wieder das Neue, das ebenfalls
Aufmerksamkeit zu fordern scheint, erledigen können. Sie verachten
niemanden, diese guten Leute, und doch, vielleicht verachten sie alles,
aber das dürfen sie nicht zeigen, und zwar deshalb nicht, weil sie
fürchten, plötzlich etwa eine Unvorsichtigkeit zu begehen. Sie sind
liebenswürdig aus Weltschmerz und nett aus Bangen. Und dann will ja
jeder Achtung vor sich selber haben. Diese Leute sind Kavaliere. Und sie
scheinen sich nie ganz wohl zu befinden. Wer kann sich wohl befinden,
wer auf die Achtungsbezeugungen und Auszeichnungen der Welt Wert legt?
Und dann, glaube ich, fühlen diese Menschen, da sie doch einmal
Gesellschafts- und durchaus keine Naturmenschen mehr sind, stets den
Nachfolger hinter sich. Jeder spürt den unheimlichen Überrumpler, den
heimlichen Dieb, der mit irgend einer neuen Begabung dahergeschlichen
kommt, um Schädigungen und Herabsetzungen aller Art um sich herum zu
verbreiten, und deshalb ist in diesen Menschenkreisen der ganz
Neu-Auftretende immer der Gesuchteste und Bevorzugteste, und wehe den
Älteren, wenn sich dieser Neue durch Geist, Talent oder Naturgenie
irgendwie auszeichnet. Ich drücke mich übrigens etwas zu einfach aus. Es
ist da noch etwas ganz anderes. Es herrscht unter diesen Kreisen der
fortschrittlichen Bildung eine kaum zu übersehende und mißzuverstehende
Müdigkeit. Nicht die formelle Blasiertheit etwa des Adels von
Abstammung, nein, eine wahrhafte, eine ganz wahre, auf höherer und
lebhafterer Empfindung beruhende Müdigkeit, die Müdigkeit des
gesunden-ungesunden Menschen. Sie sind alle gebildet, aber achten sie
einander? Sie sind, wenn sie ehrlich nachdenken, zufrieden mit ihren
Weltstellungen, aber sind sie auch zufrieden? Übrigens gibt es reiche
Menschen unter ihnen. Von denen rede ich hier nicht, denn das Geld, das
ein Mann besitzt, zwingt zu ganz andern, ganz neuen Voraussetzungen zu
der Beurteilung solch eines Mannes. Doch es sind alles höfliche und in
ihrer Art bedeutende Menschen, und meinem Bruder muß ich sehr, sehr
dankbar sein, daß er mich ein Stück Welt hat kennen lernen lassen. Man
liebt es jetzt schon, mich dort, nämlich in jenen Kreisen, den kleinen
von Gunten zu nennen, zum Unterschied von Johann, den sie den großen
von Gunten getauft haben. Das sind Späße, die Welt liebt eben Späße. Ich
nicht, aber das alles ist ja so unbedeutend. Ich fühle, wie wenig mich
das angeht, was man Welt nennt, und wie mir groß und hinreißend
vorkommt, das, was ich Welt nenne, ganz im stillen. Mein Bruder hat sich
indes Mühe gegeben, mich unter Menschen zu führen, und es ist Pflicht
für mich, mir viel daraus zu machen. Und es ist ja auch viel. Mir ist
alles, sogar das Kleinste, viel. Ein paar Menschen vollkommen kennen zu
lernen, dazu bedürfte es eines Menschenlebens. Das sind nun wieder
Benjamentasche Grundsätze, und wie unähnlich sind Benjamentas dem, was
Welt bedeutet. Ich will schlafen gehen.

Ich vergesse nie, daß ich ein Abkömmling bin, der nun von unten, von
ganz unten anfängt, ohne doch die Eigenschaften, die nötig sind,
emporzugelangen, zu besitzen. Vielleicht, ja. Es ist alles möglich, aber
ich glaube nicht an die eitlen Stunden, in denen ich mir Glück,
verbunden mit Glanz, vorspiegle. Ich habe gar keine Emporkömmlingstugenden.
Ich bin manchmal frech, aber nur aus Laune. Der Emporkömmling aber ist
von einer permanenten bescheiden-tuenden Frechheit, oder von einer
frechen, fortwährend frechen Unbedeutendheitsgebärde. Und es gibt viele
Emporkömmlinge, und was sie errungen haben, das halten sie stupide fest,
und das ist ausgezeichnet. Sie können auch nervös sein, ungehalten,
verdrießlich und »all der Dinge« müde, aber der Überdruß dringt nicht
tief beim wahrhaften Emporkömmling. Emporkömmlinge sind Herren, und
solch einem Herrn, einem vielleicht etwas protzigen Herrn, werde ich
Abkömmling, oder was ich sonst bin, dienen, und ehrenhaft dienen, treu,
verläßlich, fest, ganz gedankenlos, ganz unerpicht auf persönliche
Vorteile, denn nur so, nämlich ganz anständig, werde ich überhaupt
jemandem dienen können, und jetzt merke ich, daß ich Verwandtes mit
Kraus habe, und ich schäme mich beinahe ein wenig. Nie und nimmer
erreicht man mit Empfindungen, wie die sind, mit denen ich der Welt
gegenüberstehe, je Großes, es sei denn, man pfeife aufs glitzernde Große
und nenne das groß, was ganz grau, still, hart und niedrig ist. Ja,
dienen werde ich, und Verpflichtungen, deren Erfüllung nichts weniger
als schimmert, werde ich immer und immer übernehmen, immer wieder, und
ich werde kreuzdumm vor Seligkeit erröten, wenn man mir leichthin Dank
sagt. Dumm ist das, aber durchaus wahr, und ich bin nicht fähig, über
diese Wahrnehmung traurig zu sein. Ich muß es bekennen: ich bin nie
traurig, ich fühle mich nie, nie vereinsamt, und auch das ist dumm,
denn mit der Sentimentalität, mit dem, was man den Schrei nennt, macht
man die besten, die emporkömmlichsten und bekömmlichsten Geschäfte. Aber
ich bedanke mich für die Mühseligkeiten, für die unfeinen Anstrengungen,
auf solche Art zu Ehre und Ansehen zu gelangen. Zu Hause, bei Vater und
Mutter, duftete es alle Wände entlang nach Takt. Nun gut, das meine ich
nur so. Es war vornehm bei uns zu Hause. Und so hell. Der ganze Haushalt
glich einem graziösen, gütigen Lächeln. Mama ist ja so fein. Schon gut.
Also Abkömmling und verurteilt, zu dienen und die Person sechsten Ranges
im Weltleben zu spielen. Meiner Ansicht nach paßt das, denn, o wie sagte
doch Johann: »Die Mächtigen, das sind die Verhungerten.« -- Ich glaube
so etwas nicht gern. Und hab' ich es überhaupt nötig, mich trösten zu
lassen? Kann man einen Jakob von Gunten trösten? So lange ich gesunde
Glieder habe, ist das ausgeschlossen.

Wenn ich will, wenn ich es mir befehle, kann ich alles verehren, sogar
das schlechte Benehmen, aber es muß von Gold strotzen. Die üblen
Manieren müssen Zwanzigmarkstücke hinter sich fallen lassen, dann
verneige ich mich vor, sogar noch hinter ihnen. Herr Benjamenta ist
übrigens auch dieser Meinung. Er sagt, es sei unrichtig, das Geld und
den Vorteil, die aus unschönen Händen kommen, zu verachten. Ein Eleve
des Institutes Benjamenta soll das Meiste eben achten, nicht verachten.
-- Zu was anderem. Turnen, das ist schön. Ich liebe es leidenschaftlich,
und ich bin selbstverständlich ein guter Turner. Mit einem edlen
Menschen Freundschaft schließen und Turnen, das sind wohl zwei der
schönsten Sachen, die es auf der Welt gibt. Tanzen, und einen Menschen
finden, der mir Achtung entlockt, ist mir ein und dasselbe. Ich bewege
so gern die Geister und Glieder. Nur allein Beinschwingen, ist das doch
hübsch! Turnen ist auch dumm, es führt auch zu nichts. Muß denn
eigentlich alles, was ich liebe und bevorzuge, zu nichts führen? Aber
horch! Was ist das? Man ruft mich. Ich muß abbrechen.

»Strebst du auch noch aufrichtig, Jakob?« fragte mich die Lehrerin. Es
war gegen Abend. Es war irgendwo etwas Rötliches, wie ein Abglanz von
einem gewaltig-schönen Sonnenuntergang. Wir stunden an meiner
Kammertüre. Ich hatte eben eintreten und mich meinen Ahnungen so ein
wenig überlassen wollen. »Fräulein Benjamenta,« sagte ich, »zweifeln Sie
am Ernst und an der Ehrlichkeit meines Strebens? Bin ich ein Schwindler,
ein Gaukler in Ihren hochverehrten Augen?« -- Ich glaube, ich blickte
geradezu tragisch, als ich das sagte. Sie wandte mir ihr schönes Gesicht
zu und sagte: »Bewahre, aber bewahre. Du bist ein netter Junge. Heftig
bist du, aber du bist mir lieb, recht, anständig und angenehm. Bist du
zufrieden? He? Was? Du bringst auch dein Bett immer noch hübsch jeden
Morgen in Ordnung? Nicht? Und den Vorschriften allen gehorchst du wohl
auch schon längst nicht mehr? Auch nicht? Oder doch? O du bist ein ganz
braver Mensch, ich glaube es. Und man kann dich nicht genug mit
Lobeserhebungen überschütten. Nicht genug. Ganze Eimer voll
schmeichelnder Lobsprüche, denke, ganze Kübel und Kannen voll. Mit dem
Besen muß man sie zusammenwischen, die vielen anerkennenden schönen
Worte, die dein Betragen betreffen. Nein, Jakob, jetzt ganz im Ernst,
höre. Ich muß dir etwas ins Ohr sagen. Magst du's hören, oder willst du
jetzt lieber da hinein in deine Kammer schlüpfen?« -- »Sprechen Sie,
gnädiges Fräulein. Ich höre,« sagte ich voll angstvoller Erwartung. Die
Lehrerin schauderte plötzlich jählings zusammen. Sie faßte sich aber
rasch und sagte: »Ich gehe, Jakob, ich gehe. Es geht mit mir. Doch ich
kann es dir nicht sagen. Vielleicht ein anderes Mal. Ja? Ja, nicht wahr,
vielleicht morgen, oder in acht Tagen erst. Es ist dann noch immer Zeit
genug, es dir zu sagen. Sage mir, Jakob, hast du mich ein wenig lieb?
Bedeute ich deiner Brust, deinem jungen Herzen irgend etwas?« -- Sie
stand mit wütend zusammengekniffenen Lippen vor mir da. Ich beugte mich
schnell auf ihre Hand, die unsagbar wehmütig an ihrem Gewand herabhing,
hinunter und küßte sie. Ich war so glücklich, es ihr so sagen zu dürfen,
was ich für sie immer empfunden hatte. »Schätzest du mich?« fragte sie
mit ganz hoher, nach der Höhe zu schon fast erstickter, gestorbener
Stimme. Ich sagte: »Wie können Sie zweifeln? Ich bin unglücklich.« --
Aber mich empörte es, daß ich fast weinen mußte. Ich ließ ihre Hand
schroff fahren und nahm respektvolle Haltung an. Und sie ging, indem sie
mich beinahe bittend anschaute. -- Wie hat sich hier im einst so
herrischen Institut Benjamenta alles verändert! Es schrumpft alles
zusammen, die Übungen, der Schneid, die Vorschriften. Lebe ich in einem
Toten- oder in einem überirdischen Freuden- und Wonnenhause? Etwas ist
los, aber ich fasse es noch nicht.

Ich wagte es, Kraus gegenüber eine Bemerkung über Benjamentas fallen zu
lassen. Es mute mich, sagte ich, wie eine Trübung des Glanzes an, den
das Institut immer besessen habe. Was das sei? Ob Kraus vielleicht
etwas wisse? -- Er wurde ärgerlich und sprach: »Mensch, du bist wohl
schwanger mit albernen Einbildungen. Was für Ideen. Schaff du. Mach du,
dann fällt dir nichts Auffallendes auf. Dieser Schnüffler. Will sich in
Meinungen und Ansichten hineinschnüffeln. Geh' mir aus den Augen. Ich
kann dich bald überhaupt nicht mehr ansehen.« -- »Seit wann bist du
grob?« sagte ich, doch ich zog es vor, ihn in Ruhe zu lassen. -- Im
Laufe des Tages hatte ich Gelegenheit, mich mit Fräulein Benjamenta über
Kraus zu unterhalten. Sie sagte mir: »Ja, Kraus ist gar nicht wie andere
Menschen. Er sitzt da, bis man seiner bedarf, ruft man ihn, dann kommt
er in Bewegung und kommt herbeigesprungen. Von solchen Menschen, wie er
einer ist, macht man kein Rühmens und Aufhebens. Man rühmt Kraus
eigentlich nie, und kaum ist man ihm dankbar. Man verlangt nur von ihm:
Tu' das, und dann wieder: Tu' dies. Und man spürt kaum, daß man, und wie
vollkommen, bedient worden ist, so vollkommen ist man bedient worden.
Die Person Kraus ist gar nichts, nur der Schaffer, der Ausüber Kraus ist
etwas, aber der macht sich gar nicht bemerkbar. Z. B. dich, Jakob, lobt
man, es macht einem Freude, dir wohl zu tun. Für Kraus hat man kein
Wort, keine Neigung übrig. Du bist ganz liederlich, Jakob, gegenüber
Kraus. Doch du bist der Nettere. Anders sage ich es dir nicht, denn das
würdest du nicht verstehen. Und Kraus verläßt uns jetzt bald. Das ist
ein Verlust, Jakob, o das ist ein Verlust. Wenn kein Kraus mehr da ist,
wer ist dann noch da? Du, ja. Das ist ja eigentlich wahr, und du bist
mir jetzt böse, nicht wahr. Ja, du bist mir böse, weil ich betrübt bin,
daß Kraus weggeht. Bist du eifersüchtig?« -- »Nicht doch. Auch ich
bedaure lebhaft, daß Kraus uns verläßt,« sagte ich. Ich sprach mit
Absicht sehr förmlich. Auch mir war es weh zumut geworden, doch ich fand
es passend, ein wenig Kälte zu zeigen. Später versuchte ich, mit Kraus
ins Gespräch zu kommen, aber er verhielt sich unglaublich ablehnend.
Finster saß er am Tisch und sprach zu niemandem ein Wort. Auch er
empfindet, daß irgend etwas hier nicht gut geht, er sagt nur nichts, nur
sich sagt er es.

Oft habe ich die Empfindung von einer großen innern Niederlage. Dann
stelle ich mich mitten in der Stube auf und treibe Unfug, übrigens ganz
kindischen Unfug. Ich setze Kraus' Mütze auf meinen Kopf, oder ein
volles Glas Wasser usw. Oder Hans ist da. Mit Hans kann man
gemeinschaftlich Hüte auf Köpfe hinauflancieren, daß sie oben sitzen und
kleben bleiben. Wie verachtet uns Kraus jedesmal dafür. Schacht ist in
Stellung gewesen, drei Tage, aber er ist wieder zurückgekehrt, voll
Mißmut und allerhand zornigen, schmerzlichen Ausflüchten. Habe ich es
nicht früh schon gesagt, daß es Schacht draußen in der Welt übel ergehen
wird? Er wird immer in Ämter, Aufgaben und Stellungen hineinzappeln, und
es wird ihm nirgends gefallen. Jetzt sagt er, er habe zu schwer arbeiten
müssen, und er erzählt von listigen, boshaften, faulen Halb-Vorgesetzten,
die es gleich bei seinem Antritt unternommen hätten, ihn mit
ungebührlichen Pflichten schalkhaft zu überhäufen und ihn zu Boden zu
quälen und zu übervorteilen. Ach, ich glaube das Schacht. Nur zu willig,
d. h. ich halte für absolut wahr, was er sagt, denn kränklichen,
empfindsamen Leuten gegenüber ist die Welt ja so unbegreiflich roh,
gebieterisch, launisch und grausam. Nun, Schacht wird vorläufig wieder
hier bleiben. Ein wenig ausgelacht haben wir ihn, als er ankam, das muß
auch sein, Schacht ist ein junger Mensch, und er darf schließlich auch
nicht der Meinung sein, für ihn gäbe es besondere Stufen, Vorteile,
Handhaben und Rücksichten. Er hat jetzt eine erste Enttäuschung erlebt,
und ich bin überzeugt, daß er zwanzig Enttäuschungen hintereinander
erleben wird. Das Leben mit seinen wilden Gesetzen ist überhaupt für
gewisse Personen nur eine Kette von Entmutigungen und schreckenerregenden
bösen Eindrücken. Menschen wie Schacht sind zur fortlaufenden,
leidenden Abneigung geboren. Er möchte anerkennen und willkommen heißen,
aber er kann eben einmal nicht. Das Harte und Mitleidlose tritt ihm
zehnfach hart und unmitleidvoll entgegen, er empfindet es eben schärfer.
Armer Schacht. Er ist ein Kind, und er sollte in Melodien schwelgen und
sich in gütige, weiche, sorgenlose Dinge betten können. Für ihn sollte
es heimliches Plätschern und Vogelgezwitscher geben. Ihn sollten blasse
zarte Abendhimmelwolken tragen in das Reich: »Ach, wie ist mir?« --
Seine Hände taugen zu leichten Gebärden, nicht zur Arbeit. Vor ihm
sollten Winde wehen, und hinter ihm sollten süße freundliche Stimmen
flüstern. Seine Augen sollten selig geschlossen bleiben dürfen, und
Schacht sollte wieder ruhig einschlummern dürfen, wenn er des Morgens in
den warmen, lüsternen Kissen erwachte. Für ihn gibt es im Grunde
genommen keine ziemliche Tätigkeit, denn jede Beschäftigung ist für ihn,
der so aussieht, unziemlich, widernatürlich und unpassend. Ich bin der
reine grobknochige Knecht gegen Schacht. Ah, zerschmettert wird er
werden, und eines Tages wird er im Krankenhaus verenden, oder er wird,
verdorben an Leib und Seele, in einem von unsern modernen Gefängnissen
schmachten. Jetzt drückt er sich so in den Ecken der Schulstube herum,
schämt sich und zittert vor dem ihm widerwärtigen, unbekannten
Zukünftigen. Das Fräulein sieht ihn besorgt an, doch ist sie jetzt vom
eigentümlichen Eigenen viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß sie
sich sehr um Schacht bekümmern könnte. Übrigens könnte sie ihm nicht
helfen. Ein Gott müßte und könnte das vielleicht tun, doch es gibt keine
Götter, nur einen Einzigen, und der ist zu erhaben zur Hilfe. Zu helfen
und zu erleichtern, das würde dem Allmächtigen gar nicht ziemen, so
fühle ich wenigstens.

Fräulein Benjamenta spricht nun jeden Tag ein paar Worte mit mir, sei es
in der Küche, sei's in der manchmal ganz stillen und vereinsamten
Schulstube. Kraus tut, als wenn er noch ein Jahrzehnt gewärtigte, hier
im Institut zu verbleiben. Er lernt seine Lektionen trocken und
unverdrossen, ja doch, eigentlich verdrossen, aber verdrossen hat er ja
immer ausgesehen, das will nichts zu bedeuten haben. Dieser Mensch ist
keiner Voreiligkeit, keiner Ungeduld fähig. »Abwarten,« so steht es ihm
auf der ruhigen Stirn beinahe hoheitsvoll geschrieben. Ja, Fräulein sagte
das auch schon einmal, sie sagte, Kraus besitze Hoheit, und das ist wahr,
die Unscheinbarkeit seines Wesens hat etwas Unsichtbar-Herrscherartiges.
Zu meinem Fräulein wagte ich gestern zu sagen: »Wenn ich Ihnen nur ein
einziges, nur ein verschwindend kleines einziges Mal selbstbewußter
gegenübergetreten bin, als ganz befangen von Gefühlen und Fesseln der
lautersten Ehrfurcht, so will ich mich hassen, verfolgen, an Stricken
aufhängen, mit Giften tötendster Art vergiften, mit Messern, gleichviel
was für welchen, mir den Hals abschneiden. Nein, es ist ganz unmöglich,
Fräulein. Ich konnte Sie nie verletzen. Schon Ihre Augen. Wie sind sie
mir immer der Befehl und das unantastbare schöne Gebot gewesen. Nein,
nein, ich lüge nicht. Ihr Erscheinen an der Türe! Ich habe hier nie
einen Himmel nötig gehabt, nie Mond, Sonne und Sterne. Sie, ja Sie sind
mir die höhere Erscheinung gewesen. Ich rede wahr, Fräulein, und ich muß
annehmen, daß Sie empfinden, wie fern von aller, aller Schmeichelei
diese Worte sind. Ich hasse alles zukünftige Wohlergehen, ich
verabscheue das Leben. Ja, ja. Und doch muß ich bald auch, wie Kraus,
austreten, ins hassenswerte Leben hinaus. Sie sind mir die körperliche
Gesundheit gewesen. Habe ich in einem Buch gelesen, so waren Sie es,
nicht das Buch, Sie waren das Buch. Doch, doch. Oft habe ich mich
unartig benommen. Ein paarmal mußten Sie mich vor dem Hochmut, der mich
fressen und unter Trümmer unschicklicher Einbildungen begraben wollte,
warnen. Wie sank er da, wie blitzschnell. Wie habe ich dem gelauscht,
was das Fräulein Benjamenta sprach. Sie lächeln? Ja, das Lächeln, es ist
mir immer ein Antrieb zum Guten, Tapfern und Wahren gewesen. Wie sind
Sie stets gut zu mir gewesen. Viel, viel zu gut zu mir Trotzkopf. Und an
Ihrem Anblick herunter stürzten meine vielen Fehler, um Verzeihung
flehend, herunter, zu Ihren Füßen. Nein, ich mag nicht in das Leben,
nicht in die Welt hinaustreten. Ich verachte alles Zukünftige. Wenn Sie
in die Stube eintraten, war ich froh, dann schalt ich mich stets einen
Dummkopf. Oft habe ich Sie, denken Sie sich, ja, ich muß es gestehen, im
geheimen der Würde und der Größe berauben wollen, aber ich fand in all
meinem zusammengepeitschten Geist kein Wort, nicht ein einziges kleines
Wort der Schmähung und Schmälerung dessen, was ich ein wenig verletzen
wollte. Und die Strafe war jedesmal meine Reue und Unruhe. Ja, immer,
Fräulein, immer habe ich Sie verehren müssen. Sind Sie ungehalten, daß
ich so spreche? Ich, ich bin froh, daß ich so spreche.« -- Sie schaute
mich blinzelnd an und lächelte. Sie spottete ein wenig, war aber doch
ganz zufrieden. Außerdem, das merkte ich, war sie in Gedanken mit etwas
Fernabliegendem beschäftigt. Sie war wie geistesabwesend, und daher,
einzig daher habe ich ja auch nur so zu sprechen gewagt. Ich werde mich
hüten, es wieder zu tun.

Es geht mich ja gar nichts an, gewiß, aber es fällt mir auf, daß keine
neuen Schüler ins Institut eintreten. Sollte der Ruf, den Herr
Benjamenta in der Umwelt als Erzieher genießt oder genossen hat, im
Abnehmen oder gar im Verschwinden sein? Das wäre traurig. Doch
vielleicht ist das alles nur meine überreizte Empfindung. Ich bin hier
ein wenig nervös geworden, wenn man eine gewisse Spannung und zugleich
Mattigkeit der Beobachtungskräfte so nennen darf. Es ist hier alles so
zart, und man steht wie in der bloßen Luft, nicht wie auf festem Boden.
Und dann dieses immerwährende Gefaßt- und Bewußtsein, auch das macht es
vielleicht aus. Leicht möglich. Man wartet hier immer auf etwas, nun,
das schwächt doch schließlich. Und wieder verbietet man sich streng das
Horchen und Warten, weil das unzulässig ist. Nun, auch das nimmt Kräfte
in Anspruch. Oft steht das Fräulein am Fenster und sieht lange hinaus,
als lebe sie schon anderswo. Ja, das ist es, das nicht ganz Gesunde und
Natürliche, was hier webt: wir alle, Herrschaft sowohl wie Elevenschaft,
wir leben beinahe schon anderswo. Es ist, als wenn wir nur noch
vorübergehend hier atmeten, äßen, schliefen und wach stünden und
Unterricht erteilten und genössen. Etwas wie treibende, schonungslose
Energie schlägt hier rauschend die Flügel zusammen. Horchen wir alle
hier auf das Spätere? auf irgend welches Nachherige? Auch möglich. Und
was dann, wenn wir jetzigen Zöglinge alle ausgetreten sind und doch
keine neuen mehr kommen? Was dann? Sind dann Benjamentas arm und
verlassen? Wenn ich mir das ausmale, werde ich krank, einfach krank.
Nein, niemals, niemals. Das, das wird nicht sein dürfen. Und doch wird
es sein müssen. Sein müssen?

Rüstig sein heißt, sich nicht lange besinnen, sondern rasch und ruhig
hineingehen in das, was erfüllt werden soll. Naß werden von den
Regengüssen des Bemühens, hart und stark werden an den Stößen und
Reibungen dessen, was die Notwendigkeit fordert. Ich hasse solche klugen
Redensarten. Ich wollte an etwas ganz anderes denken. Aha, ich habe es,
es betrifft Herrn Benjamenta. Ich war wieder bei ihm im Bureau. Ich
necke ihn immer wegen der zu erlangenden, baldigen Anstellung. So frug
ich ihn auch diesmal wieder, wie's denn jetzt sei, ob ich gewärtigen
dürfe usw. Er wollte wütend werden. O, er will auch jetzt immer noch
wütend werden, und ich bin stets sehr kühn, wenn ich ihn reize. Ganz
laut, barsch und unverschämt fragte ich. Der Vorsteher wurde ganz
verlegen, er fing sogar an, sich hinter den großen Ohren zu reiben. Er
hat natürlich nicht das, was man große Ohren zu nennen pflegt, seine
Ohren sind verhältnismäßig durchaus nicht zu groß, nur ist eben alles
groß an dem Mann, folglich auch seine Ohren. Schließlich trat er auf
mich zu, lachte mich merkwürdig gutmütig an und sprach: »In die Arbeit
hinaus willst du treten, Jakob? Ich aber sage dir, bleib' du lieber
noch. Hier ist es doch für dich und deinesgleichen ganz schön. Oder
nicht? Zögere du noch ein wenig. Ich möchte dir sogar anraten, ein wenig
schlendrianisch, vergeßlich und gedankenträge zu werden. Denn siehst du,
das, was man Untugenden nennt, das spielt im Dasein des Menschen eine so
große Rolle, das ist so wichtig, fast möchte ich sagen, notwendig. Wenn
Untugenden und Fehler nicht wären, es würde der Welt an Wärme, Reiz und
Reichtum fehlen. Die Hälfte der Welt, und vielleicht die im Grunde
schönere, würde mit den Lässigkeiten und Schwächen dahinsterben. Nein,
sei du träge. Nun, nun, versteh' mich bitte recht, sei so, wie du bist
und hier wurdest, aber spiele, bitte, ein wenig den Saumseligen. Willst
du? Sagst du ja? Mich würde es freuen, dich ein wenig den Träumereien
verfallen zu sehen. Hänge den Kopf, sei voll Gedanken, blicke betrübt,
nicht wahr? Denn du bist mir fast ein wenig zu voll von Willen, zu voll
von Charakter. Und stolz bist du, Jakob! Was denkst du dir eigentlich?
Meinst du, in der offenen Welt Großes erreichen, erringen zu können? Zu
müssen? Hast du ernstliche Absichten auf etwas Bedeutungsvolles? Fast
machst du mir -- leider -- diesen etwas gewaltsamen Eindruck. Oder dann
willst du vielleicht, vielleicht wie zum Trotz, ganz klein bleiben? Auch
das mute ich dir zu. Du bist ein bißchen zu festlich, zu heftig, zu
triumphatorisch aufgelegt. Doch das alles ist ja so gleichgültig, du
bleibst noch, Jakob. Dir gebe ich keine Stelle, dir verschaffe ich noch
lange nichts derartiges. Weißt du, mich verlangt, dich noch zu haben.
Kaum besitze ich dich Burschen, so willst du fortrennen? Das gibt es
nicht. Langweile dich hier im Institut so gut als du eben kannst. O,
kleiner Welteroberer, in der Welt, draußen in der Welt erst, im Beruf,
im Streben, im Erringen, da, da werden dir Meere von Langeweile, Öde und
Vereinsamung entgegengähnen. Bleib' du hier. Sehne du dich noch ein
Weilchen. Du glaubst ja gar nicht, welch eine Seligkeit, welch eine
Größe im Sehnen, also im Warten, liegt. Also warte. Laß es dich immerhin
innerlich drängen. Aber nicht zu sehr. Höre, mich würde dein Weggehen
schmerzen, es würde mir eine Wunde, eine ganz unheilbare, beibringen,
es würde mich fast töten. Töten? Ich muß dich bitten, mich auszulachen,
aber fest. Lach' mich ganz unverschämt aus, Jakob. Ich erlaube es dir.
Doch, sage du, was habe jetzt eigentlich ich dir zukünftig noch zu
gestatten und zu verbieten? Ich, der ich dich soeben davon überzeugt
habe, daß ich fast, fast abhängig von dir bin? Mich schaudert's, mich
empört und beglückt es zu gleicher Zeit, Jakob, was ich da angestellt
habe. Doch ich liebe zum erstenmal einen Menschen. Doch das fassest du
nicht. Geh'. Marsch. Mach' daß du hinauskommst. Ungezogener, wisse, daß
ich noch strafen kann. Fürchte dich.« -- Nun, da hatte ich es, er war
eben mit einmal wieder wütend geworden. Rasch verschwand ich aus seinen
finster mich durchbohrenden Augen. Das sind Augen, das! Die des Herrn
Vorstehers. Ich muß hier bemerken, daß ich im Verduften aus einem Lokal
eine unglaubliche Fertigkeit besitze. Ich bin förmlich zum Kontor
hinausgeflogen, nein, hinausgepfiffen, wie Wind pfeift, als der Herr mir
sagte: »Fürchte dich.« O ja, man muß sich schon zuweilen vor ihm
fürchten. Ich würde es unanständig finden, wenn ich keine Furcht kennte,
denn dann hätte ich ja auch gar keinen Mut, der doch nichts anderes ist
als das Furchtüberwindende. Wieder horchte ich draußen im Korridor am
Schlüsselloch, und wieder blieb es ganz still. Ich streckte sogar ganz
läppisch und echt zöglinghaft die Zunge heraus, und dann mußte ich
lachen. Ich glaube, ich habe noch nie so gelacht. Natürlich ganz leise.
Es war das denkbar echteste unterdrückte Gelächter. Wenn ich so lache,
nun, dann steht nichts mehr über mir. Dann bin ich etwas an Umfassen und
Beherrschen nicht zu Überbietendes. Ich bin in solchen Momenten einfach
groß.

Ja, so ist es: noch bin ich im Institut Benjamenta, noch habe ich die
hier geltenden Satzungen zu fürchten, noch wird Unterricht erteilt,
Fragen werden gestellt und beantwortet, noch fliegen wir alle auf
Kommando, noch immer klopft morgens früh Kraus mit seinem ärgerlichen
»Steh' auf, Jakob« und mit seinem zornig gebogenen Finger an meine
Kammertüre, noch sagen wir Zöglinge: »Guten Tag, Fräulein,« wenn sie
erscheint, und: »Gute Nacht«, wenn sie abends sich zurückzieht. Wir
stecken noch immer in den eisernen Klauen der zahlreichen Vorschriften
und ergehen uns immer noch in lehrhaften, eintönigen Wiederholungen. Ich
bin übrigens jetzt endlich in den wirklichen innern Gemächern gewesen,
und ich muß sagen, es existieren gar keine. Zwei Zimmer sind da, aber
diese beiden Räume sehen nach nichts Gemachartigem aus. Sie sind
möbliert wie die Sparsamkeit und Gewöhnlichkeit selber, und sie
enthalten durchaus nichts Geheimnisvolles. Seltsam. Wie bin ich nur auf
die wahnsinnige Idee gekommen, daß Benjamentas in Gemächern wohnen? Oder
träumte ich, und habe ich jetzt ausgeträumt? Es sind allerdings
Goldfische da, und Kraus und ich müssen das Bassin, in welchem diese
Tiere schwimmen und leben, regelmäßig entleeren, säubern und mit
frischem Wasser auffüllen. Ist das aber etwas nur entfernt Zauberhaftes?
Goldfische können in jeder preußischen mittleren Beamtenfamilie
vorkommen, und an Beamtenfamilien klebt nichts Unverständliches und
Absonderliches. Wunderbar! Und ich habe so felsenfest an die innern
Gemächer geglaubt. Ich dachte, es müsse da hinter der Türe, durch welche
das Fräulein stets aus- und eingeht, von schloßartigen Zimmern und
Gelassen wimmeln. Zierlich gewundene Wendeltreppen und breite steinerne,
teppichbelegte andere Treppen sah ich im Geist hinter der einfachen
Türe. Auch eine uralte Bibliothek war vorhanden, und Korridore, lange
heitere, mattenbedeckte Korridore zogen sich in meiner Phantasie von
einem Ende des »Gebäudes« zum andern. Ich kann mit all meinen Ideen und
Dummheiten bald eine Aktiengesellschaft zur Verbreitung von schönen,
aber unzuverlässigen Einbildungen gründen. Kapital, scheint mir, ist
genug da, an Fonds wird es nicht fehlen, und Abnehmer solcher Papiere
kommen überall vor, wo der Gedanke und Glaube ans Schöne noch nicht ganz
ausgestorben ist. Was stellte ich mir nicht alles vor. Einen Park
natürlich. Ohne Park kann ich doch gar nicht existieren. Ebenso eine
Kapelle, aber merkwürdigerweise keine romantisch-ruinenhafte, sondern
eine sauber renovierte, ein kleines protestantisches Gotteshaus. Der
Pfarrer saß am Frühstückstisch. Und was noch alles. Man dinierte, man
veranstaltete Jagden. Man tanzte abends im Rittersaal, an dessen hohen
dunkelhölzernen Wänden die Bilder der Ahnen des Geschlechtes hingen. Was
für eines Geschlechtes? Ich stammle das, denn in der Tat, ich kann es
nicht sagen. Nun, ich bereue tief, derart geträumt und gedichtet zu
haben. Schnee fliegen sah ich auch, nämlich in den Schloßhof. Es waren
nasse, große Schneeflocken, und es war morgens früh, immer war es
dunkle, winterliche Frühe. Ach, und etwas ganz Schönes, eine Halle, ja,
eine Halle sah ich. Reizend! Drei edle vornehme Greisinnen saßen beim
kichernden, knisternden Kaminfeuer. Sie häkelten. Welch eine Phantasie,
nicht weiter zu sehen als bis dort, wo gestrickt und gehäkelt wird. Aber
mich berauschte eben gerade das. Wenn ich Feinde hätte, würden sie
sagen, das sei krankhaft, und sie würden Grund zu haben glauben, mich zu
verabscheuen samt der lieben traulichen Häkelei. Dann gab es wieder ein
wunderbares Nachtessen, wobei Kerzen von silbernen Leuchtern
herabstrahlten. Die Tafelfreude glitzerte, blendete und plauderte. Ich
stellte mir das wahrhaft schön vor. Und Frauen, was für Frauen. Die eine
sah einer veritablen Prinzessin ähnlich, und sie war es auch. Ein
Engländer war auch da. Wie die weiblichen Kleider rauschten, wie die
Brüste, die nackten, auf und nieder wogten! Das Eßzimmer war von Parfüms
wie von schlangenhaften Linien durchzogen. Die Pracht vereinigte sich
mit der Sittsamkeit, der gute Ton mit dem Genuß, die Freude mit der
Feinheit, und an der Eleganz hing der Adel der Geburt. Dann schwamm das
wieder, und es kam anderes, Neues. Ja, die inneren Gemächer, sie lebten,
und jetzt sind sie mir quasi gestohlen worden. Die karge Wirklichkeit:
was ist sie doch manchmal für ein Gauner. Sie stiehlt Dinge, mit denen
sie nachher nichts anzufangen weiß. Es macht ihr eben einmal, wie es
scheint, Spaß, Wehmut zu verbreiten. Wehmut ist mir allerdings wieder
sehr lieb, schätzens-, sehr schätzenswert. Sie bildet.

Heinrich und Schilinski sind ausgetreten. Hand geschüttelt und adieu
gesagt. Und fort. Sehr wahrscheinlich auf Niewiedersehen. Wie kurz die
Abschiede sind. Man will etwas sagen, hat aber gerade das Passende
vergessen, und so sagt man nichts oder irgend eine Dummheit.
Abschiednehmen und -geben ist greulich. In solchen Momenten rüttelt es
am Menschenleben, und man fühlt lebhaft, wie nichts man ist. Rasche
Abschiede sind unliebevoll, und lange sind unerträglich. Was tut man?
Nun, man sagt dann eben etwas Einfältiges. -- Fräulein Benjamenta sagte
mir etwas sehr Sonderbares. »Jakob,« sagte sie, »ich sterbe. Erschrick
nicht. Laß mich zu dir ganz ruhig reden. Sag', warum bist du nur so mein
Vertrauter geworden? Ich habe dich gleich von Anfang an, als du hier
eintratest, für nett gehalten, für zart. Bitte, mach' keine
falsch-aufrichtigen Einwendungen. Du bist eitel. Bist du eitel? Höre,
ja, es geht zu Ende mit mir. Kannst du schweigen? Du mußt nämlich
schweigen über das, was du jetzt erfährst. Vor allen Dingen darf dein
Herr Vorsteher, mein Bruder, nichts wissen, präge dir das fest ein. Doch
ich bin vollkommen ruhig, und du bist es auch, ich sehe es, und du wirst
Wort halten und deinen Mund halten können, ich weiß es. Es nagt an mir,
und ich sinke in etwas hinein, und ich weiß, was das ist. Das ist so
traurig, mein lieber junger Freund, so traurig. Ich mute dir Stärke zu,
nicht wahr, Jakob? Aber ich weiß es ja grad, daß du stark bist. Du hast
Herz. Kraus würde mich nicht zu Ende anhören können. Ich finde es so
hübsch, daß du nicht weinst. O es würde mich widerlich berühren, wenn
jetzt schon, jetzt schon deine Augen feucht würden. Das alles hat noch
Zeit. Und du horchst so schön. Du hörst meine elende Geschichte an wie
etwas Kleines, Feines und Gewöhnliches, wie etwas, das einfach nur
Aufmerksamkeit heischt, weiter nichts, und so horchst du. Du kannst dich
ganz riesig gut benehmen, wenn du dir recht Mühe gibst. Freilich,
hochmütig bist du ja, das kennen wir, nicht wahr? Still, keinen Ton
jetzt. Ja, Jakob, der Tod (o was für ein Wort) steht dicht hinter mir.
Sieh', so, wie ich jetzt dich anatme, so atmet er mir von hinten seinen
kalten scheußlichen Atem an, und ich sinke, sinke vor diesem Atem. Die
Brust preßt es mir ab. Habe ich dich traurig gemacht? Sprich. Ist das
traurig für dich? Ein wenig, nicht wahr. Doch du mußt das alles jetzt
noch vergessen, hast du gehört? Vergessen! Ich komme wieder zu dir, so
wie heute, und dann sage ich dir, wie es mir geht. Nicht wahr, du wirst
es zu vergessen suchen. Doch komm' her. Laß mich dir die Stirne
berühren. Du bist brav.« -- Sie zog mich ganz leicht an sich und drückte
mir so etwas wie Hauch auf die Stirne. Von Berühren, wie sie sagte, war
gar keine Rede. Dann entfernte sie sich still und überließ mich meinen
Gedanken. Gedanken? I wo. Ich dachte wieder einmal daran, daß mir Geld
mangle. Das war mein Gedanke. So bin ich, so roh und so gedankenlos. Und
dann ist die Sache ja die: herzliche Erschütterungen senken etwas wie
Eiseskälte in meine Seele hinein. Unmittelbar zur Trauer veranlaßt,
entschlüpft mir die Trauer-Empfindung vollständig. Ich lüge nicht gern.
Überhaupt mir gegenüber lügen: was hätte das für einen Sinn? Ich lüge wo
anders, aber nicht hier, vor mir selber. Nein, weiß der Kuckuck, da lebe
ich, und Fräulein Benjamenta sagt so etwas Entsetzliches, und ich, der
ich sie anbete, weiß nichts von Tränen? Ich bin gemein, das ist es. Doch
halt. Zu sehr heruntermachen will ich mich auch nicht. Ich bin stutzig,
und deshalb -- --. Lügen sind das, lauter Lügen. Ich habe das ja alles
eigentlich gewußt. Gewußt? Das ist wieder eine Lüge. Es ist mir nicht
möglich, mir die Wahrheit zu sagen. Jedenfalls gehorche ich Fräulein und
schweige über diese Geschichte. Ihr gehorchen dürfen! So lange ich ihr
gehorche, ist sie am Leben. --

Angenommen, ich wäre Soldat (und ich bin meiner Natur nach ein
ausgezeichneter Soldat), gemeiner Fußsoldat, und ich diente unter
Napoleons Fahnen, so marschierte ich eines Tages ab nach Rußland. Mit
meinen Kameraden stünde ich gut, denn das Elend, die Entbehrungen und
die vielen gemeinsam begangenen rohen Taten verbänden uns wie zu etwas
zusammenhängend Eisernem. Grimmig würden wir vor uns herstarren. Ja, der
Grimm, der unbewußte, stumpfe Zorn, der verbände uns. Und wir
marschierten, immer das Gewehr umgehängt. In den Städten, durch die wir
zögen, würde uns eine müßige, schlaffe, durch den Tritt unserer Füße
entmoralisierte Menschenmenge begaffen. Aber dann würde es keine Städte
mehr geben, oder nur noch ganz selten, sondern unabsehbare
Länderstrecken würden sich vor unsern Augen und Beinen nach dem dünnen
Horizont hinschleichen. Das Land kröche und schliche förmlich. Und nun
würde der Schnee kommen und uns einschneien, aber immer würden wir
weitermarschieren. Die Beine, das wäre jetzt alles. Stundenlang würde
mein Blick zur nassen Erde gesenkt sein. Ich würde Muße haben zur Reue,
zu endlosen Selbstanklagen. Doch immer würde ich Schritt halten, Beine
hin und her werfen und vorwärtsmarschieren. Übrigens gliche unser
Marschieren jetzt mehr einem Trotten. Hin und wieder erschien in weiter,
weiter Ferne ein äffender Höhenzug, dünn wie die Kante eines
Taschenmessers, eine Art Wald. Und da würden wir wissen, daß jenseits
dieses Waldes, an dessen Rand wir nach vielen Stunden anlangten, sich
weitere endlose Ebenen ausdehnten. Von Zeit zu Zeit fielen Schüsse. Bei
diesen vereinzelten Tönen würden wir uns an das erinnern, was käme, an
die Schlacht, die da eines Tages geschlagen werden würde. Und wir
marschierten. Die Offiziere würden mit traurigen Mienen umherreiten,
Adjutanten peitschten ihre Rosse, wie gejagt von ahnungsvollem
Entsetzen, am Zug vorüber. Man würde an den Kaiser, an den Feldherrn
denken, nur ganz dunkel, aber immerhin, man würde ihn sich vorstellen,
und das gewährte Trost. Und immer weiter marschierte man. Zahllose
kleine, aber furchtbare Unterbrechungen hemmten für kurze Zeiten den
Marsch. Doch das würde man kaum merken, sondern marschierte weiter. Dann
kämen mir die Erinnerungen, nicht deutliche, und doch überdeutliche. Sie
würden mir am Herzen fressen wie Raubtiere an der willkommenen Beute,
sie würden mich ins Heimatlich-Trauliche versetzen, an den goldenen, von
zarten Nebeln bekränzten, rundlichen Rebhügel. Ich würde Kuhglocken
schallen und ans Gemüt schlagen hören. Ein liebkosender Himmel böge sich
wasserfarbig und tonreich über mir. Der Schmerz würde mich beinahe
verrückt machen, doch ich marschierte weiter. Meine Kameraden zur linken
und zur rechten Hand, der Vorder- und der Hintermann, das bedeutete
alles. Das Bein würde arbeiten wie eine alte, aber immer noch gefügige
Maschine. Brennende Dörfer würden den Augen ein täglich wiederholter,
schon ganz uninteressanter Anblick sein, und über Grausamkeiten
unmenschlicher Art würde man sich nicht wundern. Da fiele eines Abends,
in der immer bitterer werdenden Kälte, mein Kamerad, er könnte ja
Tscharner heißen, zu Boden. Ich würde ihm aufhelfen wollen, aber:
»Liegen lassen!« würde der Offizier befehlen. Und man marschierte
weiter. Dann, eines Mittags, sähen wir unsern Kaiser, sein Gesicht. Doch
er würde lächeln, er würde uns bezaubern. Ja, diesem Menschen fiele es
nicht ein, seine Soldaten durch eine düstere Miene zu entnerven und zu
entmutigen. Siegesgewiß, zum voraus schon zukünftige Schlachten
gewonnen, marschierten wir in dem Schnee weiter. Und dann, nach endlosen
Märschen, würde es endlich zum Schlagen kommen, und es ist möglich, daß
ich am Leben bliebe und wieder weitermarschierte. »Jetzt geht es nach
Moskau, du!« würde einer in unserer Reihe sagen. Ich verzichtete aus ich
weiß nicht was für Gründen darauf, ihm zu antworten. Ich wäre nur noch
der kleine Bestandteil an der Maschine einer großen Unternehmung, kein
Mensch mehr. Ich wüßte nichts mehr von Eltern, nichts von Verwandten,
Liedern, persönlichen Qualen oder Hoffnungen, nichts vom heimatlichen
Sinn und Zauber mehr. Die soldatische Zucht und Geduld würde mich zu
einem festen, undurchdringlichen, fast ganz inhaltlosen Körper-Klumpen
gemacht haben. Und so ginge es weiter, nach Moskau zu. Ich würde das
Leben nicht verfluchen, dazu wäre es längst zu fluchwürdig geworden,
kein Weh mehr empfinden, das Weh mit all seinen jähen Zuckungen würde
ich längst ausempfunden und fertigempfunden haben. Das ungefähr, glaube
ich, hieße Soldat unter Napoleon sein.

»Du bist mir ein Rechter, du!« sagte Kraus zu mir, eigentlich ganz
ungerechtfertigt, »du gehörst zu denen, die sich, so wertlos sie sein
mögen, über gute Lehren erhaben vorkommen wollen. Ich weiß es schon,
schweig' nur. Du willst in mir einen sauren Pädagogen und Rechthaber
erblickt haben. Geh' mir. Und was fühlst du denn, du und deinesgleichen,
Prahlhanse, was ihr seid, was ernst-sein und achtsam-sein eigentlich
sagen will. Du bildest dir auf deine springerische und tänzerische
Leichtfertigkeit ganz gewiß, und mit ohne Zweifel ebenso viel Recht,
nicht wahr, Königreiche ein? Du Tänzer, o ich durchschaue dich. Immer
lachen über das Richtige und Ziemliche, das kannst du, das verstehst du
vortrefflich, ja, ja, darin seid ihr, du und deine Stammesbrüder,
Meister. Aber gebt acht, gebt acht. Euch zuliebe sind die Ungewitter,
Blitz und Donner und Schicksalsschläge, gewiß noch nicht abgeschafft
worden. Wegen eurer Grazie, ihr Künstler, was ihr doch seid, bieten sich
dem Schaffenden, überhaupt Lebendigen, gewiß nicht plötzlich weniger
Schwierigkeiten. Lerne du auswendig, das, was dir als Lektion
vorschweben sollte, statt mir zeigen zu wollen, daß du auf mich
herablachen kannst. Ist das ein Herrchen! Es will mir dartun, daß es
sich brüsten kann, wenn es ihm paßt. Laß dir sagen, daß Kraus solche
armseligen Schauspielereien einfach verachtet. Mach' etwas! Man kann dir
das nicht dutzendmal genug auf die hochmütige Nase binden. Weißt du was,
Jakob, Herr des Daseins: laß mich in Ruhe. Ziehe auf Eroberungen. Ich
bin überzeugt, es fallen dir welche vor die Füße, und du wirst sie nur
aufzulesen brauchen. Alles schmeichelt euch ja, alles kommt euch
entgegen, euch Besenbinder. Was? Du hast die Hände noch in der Tasche?
Zwar, ich begreife es. Wem gebratene Tauben in den Mund fliegen, warum
sollte der sich noch je überhaupt Mühe geben, so auszusehen wie einer,
auf den eine Tat, eine Arbeit, eine händefordernde Anstrengung
hinzutreten könnte? Bitte, gähne noch ein wenig. Es macht sich dann
besser. So siehst du zu gefaßt, zu beherrscht, zu bescheiden aus. Oder
willst du mir ein paar Vorschriften erteilen? Tu's nur. Ich bin sehr
gespannt. Ach, mach' daß du wegkommst. An deiner albernen Gegenwart
werde ich sonst noch ganz und gar an mir selbst irre, du altes
-- -- -- ich hätte jetzt doch bald mal etwas gesagt. Verleitet einen zu
sündhaften Ausdrücken, der Ärgerniserreger, was er ist. Mach' dich
unsichtbar oder beschäftige dich mit etwas. Und allen Anstand verlierst
du auch, ja du, vor Vorstehers. Ich hab's schon gesehen. Aber wozu rede
ich mit einem Lachbenzen? Gestehe, daß du ganz nett wärest, wenn du kein
Narr wärst. Wenn du mir das gestehst, will ich dir um den Hals fallen.«
-- »O Kraus, liebster aller Menschen,« sagte ich, »du höhnst, du
spottest? Kann das Kraus? Ist das möglich?« -- Ich lachte hell auf und
schlenderte in meine Kammer. Bald ist hier im Institut Benjamenta alles
überhaupt nur noch ein Schlendern. Es sieht hier aus, als wenn so etwas
wie »die Tage gezählt« wären. Aber man irrt sich. Vielleicht irrt sich
auch Fräulein Benjamenta. Vielleicht auch Herr Vorsteher. Wir irren uns
vielleicht alle.

Ich bin jetzt ein Krösus. Zwar, was das schätzenswerte Geld anbetrifft
-- -- still, nicht von Geldern reden. Ich führe ein sonderbares
Doppelleben, ein geregeltes und ein ungeregeltes, ein kontrolliertes und
ein unkontrollierbares, ein einfaches und ein höchst kompliziertes. Was
will Herr Benjamenta sagen, wenn er bekennt, noch nie einen Menschen
geliebt zu haben? Was hat es zu bedeuten, daß er mir, seinem Eleven und
Sklaven, das sagt? Nun ja, Eleven sind Sklaven, junge, den Zweigen und
Stämmen entrissene, dem unbarmherzigen Sturmwind überlieferte, übrigens
schon ein wenig gelbliche Blätter. Ist Herr Benjamenta ein Sturmwind?
Sehr wohl denkbar, denn ich habe ja schon oft Gelegenheit gehabt, das
Brausen und Zürnen und dunkle Sichentladen dieses Sturmwindes zu spüren.
Und dann ist er ja so allmächtig, und ich Zögling, wie winzig bin ich.
Still, nicht von Allmacht reden. Man irrt sich stets, wenn man große
Worte in den Mund nimmt. Herr Benjamenta ist der Erschütterung und
Schwäche so fähig, so sehr fähig, daß es beinahe zum Lachen, vielleicht
sogar zum Grinsen ist. Ich glaube, alles, alles ist schwach, alles muß
wie Würmer zittern. Nun ja, und diese Erleuchtung, diese Gewißheit macht
mich zum Krösus, d. h. zum Kraus. Kraus liebt und haßt nichts, daher ist
er ein Krösus, es grenzt etwas in ihm ans Unanfechtbare. Wie ein Felsen
ist er, und das Leben, die stürmische Welle, zerspritzt sich an seinen
Tugenden. Seine Natur, sein Wesen ist ganz voll behangen von Tugenden.
Man kann ihn kaum lieben, von hassen schon gar keine Rede. Das Hübsche,
Anziehende mag man gern, und daher ist auch das Schöne und Hübsche der
Gefahr des Gefressenwerdens oder Mißbrauchtwerdens in so hohem Maße
ausgesetzt. An Kraus heran wagen sich keine verzehrenden, fressenden
Lebens-Zärtlichkeiten. Wie verloren eigentlich, aber doch, wie fest, wie
unnahbar steht er da. Wie ein Halbgott. Doch das versteht niemand, und
auch ich -- -- -- manchmal rede und denke ich geradezu über den eigenen
Verstand. Ich hätte daher vielleicht Pfarrer, Anführer einer religiösen
Sekte oder Strömung werden sollen. Nun, das kann ich ja noch. Ich kann
noch alles Mögliche aus mir machen. Aber Benjamenta? -- Ich weiß es
genau, er wird mir jetzt bald einmal seine Lebensgeschichte erzählen. Es
wird ihn drängen zu Offenheiten, zu Erzählungen. Sehr wahrscheinlich.
Und merkwürdig: manchmal ist mir, als wenn ich mich von diesem Mann,
diesem Riesen, nie trennen sollte, nie mehr, als ob wir beide in Eines
verschmolzen wären. Aber man irrt sich ja immer. Gefaßt, einigermaßen
gefaßt sein, das will ich. Auch nicht zu sehr, nein. Zu sehr gefaßt sein
hieße zu frech sein. Wozu Bedeutsames im Leben gewärtigen? Muß das sein?
Ich bin ja etwas so Kleines. Daran, daran halte ich ungebunden fest,
daran, daß ich klein, klein und nichtswürdig bin. Und Fräulein
Benjamenta? Wird sie wirklich sterben? An das wage ich nicht zu denken,
und ich darf auch nicht. Ein höheres Empfinden verbietet es mir. Nein,
ich bin kein Krösus. Und was das Doppelleben betrifft, so führt
jedermann eigentlich ein solches. Wozu sich da brüsten? Ach, all diese
Gedanken, all dieses sonderbare Sehnen, dieses Suchen, dieses
Hände-Ausstrecken nach einer Bedeutung. Mag es träumen, mag es schlafen.
Ich lasse es einfach nun kommen. Mag es kommen.

Ich schreibe in fliegender Hast. Ich bebe am ganzen Körper. Es flackert
vor meinen Augen wie auf und ab tanzende Irrlichter. Etwas Furchtbares
ist geschehen, scheint geschehen, kaum bin ich meiner selber und dessen
bewußt, was vorfiel. Herr Benjamenta hat einen Anfall gehabt und hat
mich -- erwürgen wollen. Ist das wahr? O weh, alle meine Gedankenkräfte
schwinden, und ich kann mir nicht sagen, ob alles das wahr ist, was da
vorging. Aber ich merke an der Zerrüttung, die mich beherrscht, daß es
wahr ist. Der Vorsteher kam in eine unbeschreibliche Wut hinein. Er
glich einem Simson, jenem Mann aus der Geschichte Palästinas, der an den
Säulen eines hohen, menschenerfüllten Hauses rüttelte, bis der
festliche, lüsterne Palast, bis der steinerne Triumph, bis die Bosheit
zusammenstürzte. Zwar hier, d. h. vor kaum einer Stunde, war ja durchaus
keine Bosheit, keine Niedertracht umzuwerfen, und Säulen und Pfeiler gab
es ebenfalls keine, aber es sah doch so aus, genau so, und ich geriet in
eine nie vorher gekannte, hasenartige, schreckliche Angst hinein. Ja,
ein Hase war ich, und in der Tat, ich hatte auch Ursache zur
hasenartigen Flucht, sonst wäre es mir sicher elend ergangen. Ich
entschlüpfte mit, ich kann es nicht anders sagen, wunderbarer
Behendigkeit seinen zusammenschnürenden Fäusten, und ich glaube, ich
habe ihn, den großen Herrn Benjamenta, den Riesen Goliath, sogar in den
Finger gebissen. Vielleicht rettete der rasche, energische Biß mir das
Leben, denn es ist leicht möglich, daß der Schmerz, den die Wunde ihm
beibrachte, ihn plötzlich wieder an Art und Weise, an Vernunft und
Menschlichkeit erinnerte, derart, daß ich einer groben Verletzung des
zöglinghaften Anstandes möglicherweise das Leben zu verdanken habe.
Gewiß, die Gefahr, erdrückt zu werden, lag nahe, aber, wie ist das alles
gekommen, wie war das alles möglich? Gleich einem Rasenden hat er sich
auf mich gestürzt. Geworfen hat er sich mit seinem mächtigen Körper auf
mich wie ein dunkles Stück verrückt gewordenen Jähzornes; wie eine
Meerwelle kam es auf mich zu, um mich zu zerschmettern an den harten
Wasserwänden. Ich fable da von Wasser. Das ist Unsinn, gewiß, aber ich
bin eben noch ganz benommen, ganz verwirrt und erschüttert. »Was machen
Sie da, verehrter, lieber Herr Vorsteher? He?« schrie ich aus und rannte
wie besessen zur Bureautüre hinaus. Und da horchte ich wieder. So wie
ich mit heiler Haut im Korridor stand, schob ich, allerdings zitternd
mit all meinen Gliedern, mein Ohr ans Schlüsselloch und horchte. Da
hörte ich's leise lachen. Ich stürzte hierher an den Schultisch, und
hier bin ich, und ich weiß nicht, ob ich das geträumt, oder ob ich das
tatsächlich erlebt habe. Nein, nein, es ist, es ist Tatsache. Wenn doch
nur Kraus käme. Mir ist doch ein wenig bange. Wie nett wäre es, wenn der
gute Kraus käme und mir wieder ein wenig, wie schon so oft, die Leviten
läse. Ich möchte ein wenig ausgeschimpft, abgekanzelt, verknurrt und
verdonnert werden, das würde mir unsagbar wohltun. Bin ich ein Kind? --

Ich war eigentlich nie Kind, und deshalb, glaube ich zuversichtlich,
wird an mir immer etwas Kindheitliches haften bleiben. Ich bin nur so
gewachsen, älter geworden, aber das Wesen blieb. Ich finde an dummen
Streichen noch ebenso viel Geschmack wie vor Jahren, aber das ist es
ja, ich habe eigentlich nie dumme Streiche gemacht. Meinem Bruder habe
ich ganz früh einmal ein Loch in den Kopf geschlagen. Das war ein
Geschehnis, kein dummer Streich. Gewiß, Dummheiten und Jungenhaftigkeiten
gab es die Menge, aber der Gedanke interessierte mich immer mehr als die
Sache selber. Ich habe früh begonnen, überall, selbst in den dummen
Streichen, Tiefes herauszuempfinden. Ich entwickle mich nicht. Das ist
ja nun so eine Behauptung. Vielleicht werde ich nie Äste und Zweige
ausbreiten. Eines Tages wird von meinem Wesen und Beginnen irgend ein
Duft ausgehen, ich werde Blüte sein und ein wenig, wie zu meinem eigenen
Vergnügen, duften, und dann werde ich den Kopf, den Kraus einen dummen,
hochmütigen Trotzkopf nennt, neigen. Die Arme und Beine werden mir
seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles
wird brechen und welken, und ich werde tot sein, nicht wirklich tot, nur
so auf eine gewisse Art tot, und dann werde ich vielleicht sechzig Jahre
so dahinleben und -sterben. Ich werde alt werden. Doch ich habe kein
Bangen vor mir. Ich flöße mir durchaus keine Angst ein. Ich respektiere
ja mein Ich gar nicht, ich sehe es bloß, und es läßt mich ganz kalt. O
in Wärme kommen! Wie herrlich! Ich werde immer wieder in Wärme kommen
können, denn mich wird niemals etwas Persönliches, Selbstisches am
Warmwerden, am Entflammen und am Teilnehmen verhindern. Wie glücklich
bin ich, daß ich in mir nichts Achtens-und Sehenswertes zu erblicken
vermag. Klein sein und bleiben. Und höbe und trüge mich eine Hand, ein
Umstand, eine Welle bis hinauf, wo Macht und Einfluß gebieten, ich würde
die Verhältnisse, die mich bevorzugten, zerschlagen, und mich selber
würde ich hinabwerfen ins niedrige, nichtssagende Dunkel. Ich kann nur
in den untern Regionen atmen.

Ich gehe durchaus mit den Vorschriften, die hier -- immer noch --
gelten, einig, wenn sie befehlen, daß die Augen des Zöglings und
Lebenslehrlings glänzen müssen vor Munterkeit und gutem Willen. Ja,
Augen müssen Festigkeit der Seele ausstrahlen. Ich verachte Tränen, und
doch habe ich geweint. Allerdings mehr innerlich, aber das ist
vielleicht gerade das Schauderhafteste. Fräulein Benjamenta sagte zu
mir: »Jakob, ich sterbe, weil ich keine Liebe gefunden habe. Das Herz,
das kein Würdiger zu besitzen, zu verwunden begehrt hat, es stirbt
jetzt. Ich sage dir adieu, Jakob, schon jetzt. Ihr Knaben, Kraus, du und
die andern, ihr werdet dann ein Lied singen am Bett, in dem ich liegen
werde. Klagen werdet ihr, leise klagen. Und jeder von euch, ich weiß
es, wird eine frische, vielleicht gar vom Naturtau noch feuchte Blume
auf das Laken legen. Laß mich dich, junges Menschenherz, ganz ins
geschwisterliche, ins lächelnde Vertrauen ziehen. Ja, dir, Jakob, etwas
anzuvertrauen, das ist so natürlich, denn man meint, du, der du so
aussiehst wie jetzt, du müßtest für alles und jedes, selbst für das
Unsagbare und Unhörbare, ein Ohr, eine horchende Brust, ein Auge, eine
Seele und ein mitleidendes, mitempfindendes Verständnis haben. Ich gehe
am Unverständnis derjenigen, die mich hätten sehen und fassen sollen, am
Wahn der Vorsichtigen und Klugen, und an der Lieblosigkeit des Zauderns
und des Nicht-recht-mögens zugrunde. Man glaubte mich eines Tages zu
lieben, und mich zu haben zu wünschen, doch man zauderte, man ließ mich
stehen, und auch ich zauderte, aber ich bin ja ein Mädchen, ich mußte
zaudern, ich durfte und sollte es. Ah, wie hat mich die Untreue
betrogen, wie haben mich Leerheit und Fühllosigkeit eines Herzens
gepeinigt, an das ich glaubte, weil ich glaubte, es sei voll von echten,
drängenden Gefühlen. Etwas, das überlegen und unterscheiden kann, ist
kein Gefühl. Ich spreche zu dir von dem Mann, an den anmutige süße
Träume mich glauben, unbedenklich glauben hießen. Ich kann dir nicht
alles sagen. Laß mich lieber schweigen. O das Vernichtende, das mich
tötet, Jakob. Die Trostlosigkeiten alle, die mich brechen! -- Doch
genug. Sage, hast du mich lieb, wie junge Brüder Schwestern lieb haben?
Schon gut. Jakob, nicht wahr, es ist alles ganz gut, so wie es ist?
Nein, nicht wahr, wir beide, wir wollen nicht grollen, nicht zweifeln?
Und nicht wahr, nie wieder irgend etwas zu begehren haben, ist schön?
Oder nicht? Ja, ja doch. Das ist schön. Komm' und laß mich dich küssen,
ein einziges unschuldiges Mal. Sei weich. Ich weiß, du weinst nicht
gern, aber jetzt laß uns ein wenig zusammen weinen. Und ganz still
jetzt, ganz still.« Sie fügte nichts mehr hinzu. Es war, als wenn sie
vieles noch hätte sagen wollen, doch als wenn sie für ihre Empfindungen
keine Worte mehr fände. Draußen im Hof schneite es in nassen großen
Flocken. Das erinnerte mich an den Schloßhof, an die innern Gemächer, wo
es ebenfalls in nassen großen Flocken geschneit hatte. Die innern
Gemächer! Und ich dachte mir immer, Fräulein Benjamenta sei die Herrin
dieser innern Gemächer. Ich habe sie mir immer als zarte Prinzessin
gedacht. Und jetzt? Fräulein Benjamenta ist ein leidender feiner
weiblicher Mensch. Keine Prinzessin. Sie wird also eines Tages da
drinnen im Bett liegen. Der Mund wird starr sein, und um die leblose
Stirne werden sich die Haare trügerisch kräuseln. Doch wozu sich das
ausmalen? Jetzt gehe ich zum Vorsteher. Er hat mir sagen lassen, ich
solle zu ihm kommen. Auf der einen Seite eine Mädchenklage und -leiche,
auf der andern Seite ihr Bruder, der noch gar nicht gelebt zu haben
scheint. Ja, Benjamenta kommt mir wie ein ausgehungerter, eingesperrter
Tiger vor. Und wie? Ich, ich begebe mich in den gähnenden Rachen hinein?
Nur hinein! Mag er seinen Mut kühlen an einem wehrlosen Zögling. Ich
stehe ihm zur Verfügung. Ich fürchte ihn, und zugleich ist etwas in mir,
das ihn auslacht. Außerdem ist er mir ja noch die Erzählung seiner
Lebensgeschichte schuldig. Er hat mir das fest versprochen, und ich
werde ihn daran zu erinnern wissen. Ja, so kommt er mir vor: noch gar
nicht gelebt hat er. Will er sich jetzt etwa an mir ausleben? Nennt er
etwa gar Verbrechenausüben Ausleben? Das wäre dumm, sehr dumm, und
gefährlich. Aber es zwingt mich! Ich muß zu diesem Menschen hineingehen.
Eine Seelengewalt, die ich nicht verstehe, nötigt mich, ihn immer wieder
von neuem aushorchen, ausforschen zu gehen. Mag mich der Vorsteher
fressen, mit andern Worten, mir Leid und Schmach antun. Jedenfalls bin
ich dann an etwas Großherzigem zugrunde gegangen. Hinein jetzt ins
Kontor. Die arme Lehrerin! --

Ein wenig verächtlich, muß ich sagen, sonst aber ganz zutraulich (ja,
eben deshalb so zutraulich, weil verächtlich), klopfte mir der Vorsteher
mit der Hand auf die Schulter und lachte mich mit seinem breiten aber
wohlgeformten Mund an. Die Zähne kamen dabei zum Vorschein. »Herr
Vorsteher,« sagte ich unglaublich zornig, »ich muß bitten, mich mit
etwas weniger kränkender Freundlichkeit zu behandeln. Noch bin ich Ihr
Zögling. Im übrigen verzichte ich, und das nicht ausdrücklich genug, auf
Gnaden. Seien Sie einem Lumpen gegenüber herablassend und gütig. Mein
Name ist Jakob von Gunten, und das ist ein zwar junger, aber trotzdem
seiner Würde bewußter Mensch. Ich bin nicht zu entschuldigen, das sehe
ich, aber auch nicht zu beleidigen, das verhindere ich.« -- Und mit
diesen geradezu lächerlich anmaßenden Worten, mit diesen so wenig ins
gegenwärtige Zeitalter passenden Worten stieß ich die Hand des Herrn
Vorstehers zurück. Darauf lachte Herr Benjamenta noch fröhlicher und
sagte: »Ich muß mich einfach halten, ich muß dich anlachen, Jakob, und
ich muß mich halten, daß ich dich nicht küsse, du prachtvoller Bursche.«
-- Ich rief aus: »Mich küssen? Sind Sie verrückt geworden, Herr
Vorsteher? Ich will nicht hoffen.« -- Ich staunte selber über die
Ungeniertheit, mit der ich das sagte, und ich trat, wie um einem Hieb
auszuweichen, unwillkürlich einen Schritt zurück. Herr Benjamenta aber,
die Güte und Schonung selber, sagte mit vor seltsamer Genugtuung
bebenden Lippen: »Junge, Knabe, du bist köstlich. Mit dir zusammen in
Wüsten oder auf Eisbergen im nördlichen Meere zu leben, das würde mich
locken. Komm' her. Ei, der Teufel, fürchte dich doch, bitte, nicht vor
mir. Nichts tu' ich dir. Was könnte, was vermöchte ich dir denn anzutun?
Dich wertvoll und selten empfinden, sieh, das muß ich, das tu' ich, aber
davor brauchst du doch keine Angst zu haben. Im übrigen, Jakob, und
jetzt ganz ernsthaft gesagt, höre: Willst du ganz, ganz bei mir bleiben?
Du verstehst das nicht recht, also laß dir das ruhig auseinandersetzen.
Hier geht es zu Ende, verstehst du das?« -- Ich platzte dumm heraus mit
den Worten: »Ah, Herr Vorsteher, meine Ahnungen!« -- Er lachte von neuem
und sprach: »Sieh da, geahnt hast du es schon, daß das Institut
Benjamenta gleichsam heute noch lebt und morgen nicht mehr. Ja, so kann
man sagen. Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge
mehr an. Blick' mich an. Mich freut es so mächtig, verstehst du, daß ich
dich, den jungen Jakob, noch habe kennen lernen dürfen, einen so
rechtgearteten Menschen, bevor ich hier zuschließe für immer. Und nun
frage ich dich, Schelm, der du mich mit so eigenartigen fröhlichen
Ketten fesselst, willst du mit mir gehen, wollen wir zusammenbleiben,
zusammen irgend etwas anfangen, etwas unternehmen, wagen, schaffen,
wollen wir beide, du der Kleine, ich der Große, zusammen versuchen, wie
wir das Leben bestehen? Bitte, antworte sogleich.« -- Ich erwiderte:
»Meiner Ansicht nach hat die Beantwortung dieser Frage noch Zeit, Herr
Vorsteher. Aber was Sie sagen, interessiert mich, und ich werde mir die
Sache, etwa bis morgen, überlegen. Doch glaube ich, daß ich mit ja
antworten werde.« -- Herr Benjamenta konnte sich, wie es schien, nicht
enthalten, zu sagen: »Du bist entzückend.« -- Nach einer Pause nahm er
das Wort wieder und sagte: »Denn schau', mit dir ließe sich so etwas wie
eine Gefahr, wie ein kühnes, abenteuerliches, entdeckerisches
Unternehmen bestehen. Aber es kann ruhig auch irgend etwas Feines und
Sittsames sein, das wir machen können. Du bist von beiderlei Blut, von
zartem und unerschrockenem. Mit dir vereint wagt man entweder etwas
Mutiges oder etwas sehr Delikates.« -- »Herr Vorsteher,« sagte ich,
»schmeicheln Sie mir nicht, das ist garstig und erregt Verdacht. Und
dann halt! Wo ist die Geschichte Ihrer Vergangenheit, die Sie mir zu
erzählen versprochen haben, wie Sie sich wohl noch erinnern werden?« --
In diesem Augenblick riß jemand die Türe auf. Kraus, er war es, stürzte
atemlos, ganz blaß im Gesicht, und unfähig, die Meldung, die er offenbar
auf den Lippen hatte, vorzutragen, ins Zimmer herein. Er machte nur eine
hastige Geste, wir sollten kommen. Wir alle drei traten in die dunkelnde
Schulstube. Was wir hier sahen, machte uns erstarren.

Am Boden lag das entseelte Fräulein. Der Vorsteher ergriff ihre Hand,
ließ sie aber, wie von Schlangen gebissen, fahren und schauderte, von
Entsetzen gepackt, zurück. Dann kam er wieder in die Nähe der Toten,
schaute sie an, entfernte sich wieder, um gleich wieder heranzutreten.
Kraus kniete zu ihren Füßen. Ich hielt den Kopf der Lehrerin in beiden
Händen, damit er den harten Boden nicht zu berühren brauchte. Die Augen
standen noch offen, nicht sehr weit, sondern gleichsam blinzelnd. Herr
Benjamenta schloß sie. Auch er kniete am Boden. Wir alle drei sprachen
kein Wort, aber wir waren nicht in »tiefe Gedanken versunken«.
Wenigstens ich konnte an nichts Ausgeprägtes denken. Aber ich war ganz
ruhig. Ich kam mir sogar, so eitel das auch klingt, gut und schön vor.
Ich hörte von irgend woher ein ganz dünnes Geriesel von Melodien.
Linien und Strahlen bogen sich vor meinen Augen hin und her. »Ergreift
sie,« sagte leise Herr Vorsteher, »kommt. Tragt sie ins Wohnzimmer.
Sachte, sachte, o sachte anfassen. Sorgsam, Kraus. Um Gotteswillen,
nicht so rauh. Jakob, gib acht, ja? Nicht irgendwo anstoßen. Ich will
euch helfen. Ganz langsam vorwärts. So. Und einer strecke die Hand aus
und öffne die Türe. So, so. Es geht. Nur sorgfältig.« -- Er sprach
meiner Ansicht nach überflüssige Worte. Wir trugen Fräulein Lisa
Benjamenta aufs Bett, dessen Decke der Vorsteher rasch wegriß, und nun
lag sie da, wie sie es mir zum voraus gleichsam angekündigt hatte. Und
dann kamen die Schulkameraden, und alle sahen es, und dann standen wir
alle so da, am Bett. Herr Vorsteher gab uns einen verständlichen Wink,
und wir Eleven und Knaben fingen an, im Chor gedämpft zu singen. Das war
die Klage, die das Mädchen gewünscht hatte zu vernehmen, wenn sie auf
dem Lager läge. Und jetzt, so bildete ich es mir ein, vernahm sie den
leisen Gesang. Es war uns, glaube ich, allen, als wäre es
Unterrichtsstunde, und wir sängen auf Befehl der Lehrerin, der wir immer
so rasch gehorchten. Als das Lied zu Ende gesungen war, trat Kraus aus
dem Halbkreis, den wir gebildet hatten, vor und sprach, ein wenig
langsam, aber um so eindringlicher, folgendes: »Schlafe, ruhe süß,
verehrtes Fräulein. (Er sprach sie, die Tote, mit du an. Mir gefiel
das.) Entwunden bist du den Schwierigkeiten, entfesselt vom Bangen,
befreit von den Sorgen und Schicksalen der Erde. Wir haben dir am Bett
gesungen, Verehrte, wie du es befahlst. Sind wir, deine Zöglinge, nun
verlassen? So scheint es, so ist es. Doch du, Frühgestorbene, wirst
unsern Gedächtnissen nie, nie entschwinden. Du wirst am Leben bleiben in
unsern Herzen. Wir, deine Knaben, die du gemeistert und beherrscht hast,
wir werden uns im flatterhaften und mühevollen Leben, Gewinn und
Unterkommen suchend, zerstreuen, so, daß vielleicht alle alle nie wieder
finden und sehen. Aber wir alle werden an dich denken, Erzieherin, denn
die Gedanken, die du uns eingeprägt, die Lehren und Kenntnisse, die du
in uns befestigt hast, werden uns immer an dich, die Schöpferin des
Guten, was in uns ist, erinnern. Ganz von selber. Essen wir, so wird uns
die Gabel sagen, wie du wünschtest, daß wir sie führen und handhaben
sollen, und wir werden anständig zu Tisch sitzen, und das Bewußtsein,
daß wir das tun, wird uns an dich zurückdenken machen. In uns
herrschest, gebietest, lebst, erziehst und fragst und tönst du weiter.
Irgend einer von uns Zöglingen, der es etwas weiter als der andere im
Leben bringt, wird vielleicht seinen zurückgebliebenen ärmeren
Kameraden, wenn er ihn antrifft, nicht mehr kennen wollen. Gewiß. Doch
dann denkt er unwillkürlich ans Institut Benjamenta zurück und an die
Herrin, und er wird sich schämen, deine Grundsätze so rasch und so
hochmütig verleugnet und vergessen zu haben. Und er wird dem Kameraden,
dem Bruder, dem Menschen ohne alle Überlegung die Hand zum Gruß reichen.
Was lehrtest du uns, Verblichene? Du sagtest uns stets, wir sollten
bescheiden und willig bleiben. Ah, das werden wir nie vergessen, so
wenig wie wir die liebe Person, die es ausgesprochen hat, werden
überwinden und vergessen können. Schlaf' wohl, du Verehrte. Träume!
Schöne Einbildungen mögen dich flüsternd umschweben. Die Treue, die
glücklich ist, dir nahe zu sein, beuge ihr Knie vor dir, und die
dankbare Anhänglichkeit und das erinnerungslüsterne, zärtliche
Nie-Vergessen-Können streuen Blüten, Zweige, Blumen und Worte der Liebe
dir um Stirne und Hände. Wir, deine Zöglinge, wir wollen jetzt noch
eines singen, und dann haben wir die Gewißheit, daß wir an deinem
Totenlager, das uns das Lustlager frohen und hingebungsvollen Gedenkens
sein wird, gebetet haben. So lehrtest ja du uns beten. Du sagtest:
Singen sei Beten. Und du wirst uns hören, und wir werden uns einbilden,
du lächeltest. Uns will es die Herzen zerschneiden, dich hier liegen zu
sehen, dich, deren Bewegungen uns vorgekommen sind wie dem Durstigen
frisches, belebendes Quellwasser. Ja, schmerzvoll ist das. Doch wir
beherrschen uns, und gewiß wünschtest auch du das. So sind wir gefaßt.
So gehorchen wir dir und singen.« -- Kraus trat vom Lager zu uns zurück
und wir sangen noch ein Lied, das ebenso leise dahin- und daherklang wie
das erste. Dann traten wir, einer hinter dem andern, ans Bett, und jeder
drückte einen Kuß auf die Hand des toten Mädchens. Und jeder von den
Eleven sprach etwas. Hans sagte: »Ich will es Schilinski erzählen. Und
Heinrich muß es auch wissen.« -- Schacht meinte: »Lebe wohl, du warst
immer so gut.« Peter: »Ich will deine Gebote befolgen.« Dann traten wir
in die Schulstube zurück, indem wir den Bruder bei der Schwester, den
Vorsteher bei der Vorsteherin, den Lebendigen bei der Toten, den
Einsamen bei der Einsamen, den Schmerzgebeugten bei der Vollendeten,
Herrn Benjamenta bei Fräulein Benjamenta allein ließen.

Ich habe von Kraus Abschied nehmen müssen. Kraus ist gegangen. Ein
Licht, eine Sonne ist geschwunden. Mir ist es, als wenn es von jetzt ab
in der Welt und Umwelt nur noch Abend sein könnte. Bevor eine Sonne
untertaucht, wirft sie noch rötliche Strahlen über die dunkelnde
Gegenwart, ähnlich Kraus. Er hat mich, bevor er ging, rasch noch einmal
ausgescholten, und der ganze veritable Kraus ist dabei noch ein letztes
Mal zum leuchtenden Vorschein gekommen. »Adieu, Jakob, bessere dich,
ändere dich,« sagte er zu mir, indem er mir, beinahe ärgerlich darüber,
daß er es tun mußte, die Hand reichte. »Ich gehe jetzt fort, in die
Welt, in den Dienst. Das wirst auch du hoffentlich bald tun müssen.
Schaden wird es dir sicher nicht. Ich wünsche dir Hiebe auf deinen
Unverstand hinauf. Man soll dich tüchtig bei den ungezogenen Ohren
nehmen. Lache nur nicht noch beim Abschied. Übrigens ziemte dir das. Und
wer weiß, vielleicht sind die Verhältnisse dieser Welt so töricht, daß
sie dich in die Höhe heben. Dann kannst du in der Unverschämtheit, im
Trotz, in der Überhebung und in der lächelnden Trägheit, in Spott und
allen möglichen Sorten Unarten ruhig und frech fortfahren und sorgenlos
bleiben, was du bist. Dann kannst du dich brüsten bis zum Zersprengen,
mit all dem, was du dir hier im Institut Benjamenta nicht hast
abgewöhnen wollen. Aber ich hoffe, daß Sorgen und Mühen dich in ihre
harte, untugendenzerschmetternde Schule nehmen. Sieh', Kraus spricht
hart. Und doch meine ich es vielleicht besser mit dir Bruder Lustig, als
die, die dir Glück in den Schoß und ins offene Maul wünschen würden.
Arbeite mehr, wünsche weniger, und noch etwas: bitte vergiß mich ganz.
Ich würde mich nur ärgern, wenn ich dächte, du habest für mich irgend
einen abgelegten alten, schäbigen, solch einen tänzelnden Komm' ich
heute nicht-komm' ich morgen-Gedanken übrig. Nein, Bürschchen, merke
dir's, Kraus braucht keinen von deinen von Guntenschen Späßen.« --
»Liebloser, lieber Mensch,« rief ich voller banger Abschiedsahnungen und
-empfindungen aus. Und ich wollte ihn umarmen. Doch er verhinderte das
auf die einfachste Art der Welt, indem er sich rasch, und für immer,
entfernte. »Heute noch ein Institut Benjamenta und morgen keines mehr,«
sprach ich laut zu mir selber. Ich trat zu Herrn Vorsteher herein. Es
war mir, als wenn die Welt einen glühend-zündend-klaffenden Riß von
einer räumlichen Möglichkeit bis zur entgegengesetzten andern bekommen
hätte. Mit Kraus war die Hälfte des Lebens gegangen. »Von jetzt ab ein
anderes Leben!« murmelte ich. Es ist übrigens ganz einfach: ich war
betrübt und ein wenig bestürzt. Wozu sich in großen Worten ergehen? Vor
dem Vorsteher verneigte ich mich förmlicher als je, und es erschien mir
schicklich, »guten Tag, Herr Vorsteher« zu sagen. »Bist du toll, alter
Junge?« rief er. Er kam mir entgegen und würde mich umarmt haben, aber
ich verhinderte das, indem ich ihm einen Schlag auf den ausgestreckten
Arm versetzte. »Kraus ist gegangen,« sagte ich tiefernst. Wir schwiegen
und begnügten uns, uns ziemlich lange anzuschauen.

»Ich habe,« sagte dann Herr Benjamenta in ruhigem, männlichem Ton, »den
andern allen, deinen Kameraden, heute Stellungen verschafft. Nur noch
wir drei, du, ich und sie, die da drinnen auf dem Bett liegt, bleiben
noch hier. Die Tote (warum nicht ruhig über die Toten reden? Sie leben
ja. Nicht wahr?), sie wird morgen abgeholt werden. Das ist ein
häßlicher, aber notwendiger Gedanke. Heute sind wir drei noch zusammen.
Und wir werden die Nacht über wach bleiben. Wir beide werden reden an
ihrem Lager. Und wenn ich nun so denke, wie du da eines Tages mit der
Bitte, Forderung und Frage anlangtest, in die Schule aufgenommen zu
werden, packt mich eine unerhörte Lebens- und Lachlust. Ich bin über
Vierzig. Ist das alt? Es war alt, doch jetzt, wie du so da bist, Jakob,
bedeutet es grünende und kräftig knospende Jugend, dieses
Vierziger-Alter. Mit dir, du Gemüt von einem Jungen, ist frisches, ist
überhaupt erst Leben über mich und in mich hineingekommen. Ich habe
hier, siehst du, hier im Bureau, schon verzweifelt, bin hier schon ganz
eingetrocknet, habe mich hier geradezu begraben. Ich haßte, haßte, haßte
die Welt. Unsagbar ist von mir alles dies Wesen, Bewegen und Leben
gehaßt und gemieden worden. Da tratest du ein, frisch, dumm, unartig,
frech und blühend, duftend von unverdorbenen Empfindungen, und ganz
natürlich schnauzte ich dich mächtig an, aber ich wußte es, so wie ich
dich nur sah, daß du ein Prachtbursche seiest, mir, wie es mir vorkam,
vom Himmel heruntergeflogen, von einem alleswissenden Gott mir gesandt
und geschenkt. Ja, dich brauchte ich gerade, und ich lächelte immer
heimlich, wenn du von Zeit zu Zeit zu mir eintratest, um mich mit deinen
reizenden Frechheiten und Grobheiten, die mir wie gutgelungene Gemälde
erschienen, zu belästigen. O nein, zu betören. Ruhig, Benjamenta, ruhig.
-- Hast du es, sage mir das, nie bemerkt, daß wir Zwei Freunde waren?
Doch still. Und wenn ich dann so meine Würde vor dir bewahrte, o dann
hätte ich sie zerreißen mögen, zerreißen in Fetzen. Wie rasend förmlich
du dich sogar heute noch vor mir verbeugt hast! Doch höre, wie ist es
eigentlich nur mit dem Wutanfall von neulich? Habe ich dir wehtun
wollen? Wollte ich mir selber einen tödlichen Streich versetzen?
Vielleicht weißt du es, Jakob? Ja? Dann, bitte, kläre mich sofort auf.
Sofort, hast du verstanden! Wie ist mir? Wie? Was sagst du?« -- »Ich
weiß es nicht. Ich hielt Sie für wahnsinnig, Herr Vorsteher,« sagte
ich. Es überlief mich kalt angesichts der überströmenden Zärtlichkeit
und Lebenslust, die aus den Augen des Mannes hervorbrachen. Wir
schwiegen eine Weile. Plötzlich kam mir der Einfall, Herrn Benjamenta an
die Geschichte seines Lebens zu erinnern. Das war sehr gut. Das konnte
ihn unter Umständen zerstreuen, ihn von mörderischen neuen Anfällen
abhalten. Ich war in diesem Moment fest überzeugt, daß ich mich in den
Krallen eines halb-Verstandlosen befände, und ich sagte daher rasch,
indem mir der Schweiß über die Stirne herabrann: »Ja, Ihre Geschichte,
Herr Vorsteher? Wie ist es damit? Wissen Sie, daß ich Andeutungen
verabscheue? Sie haben mir dunkel angedeutet, daß Sie ein entthronter
Herrscher seien. Nun wohlan. Bitte, drücken Sie sich deutlich aus. Ich
bin sehr gespannt.« -- Er kraute sich ganz verlegen hinter dem Ohr. Dann
wurde er plötzlich geradezu böse, kleinlich böse, und er herrschte mich
im Feldwebelston an: »Abtreten. Mich allein lassen!« -- Nun, ich ließ
mir das nicht zweimal sagen, sondern verschwand augenblicklich. Schämte
er sich, grämte er sich um irgend etwas, dieser König Benjamenta, dieser
Löwe im Käfig? Jedenfalls war ich wieder einmal recht froh, draußen im
Korridor stehen und lauschen zu können. Es herrschte Totenstille. Ich
ging in die Kammer, zündete einen Kerzenstumpf an und vertiefte mich in
den Anblick des Bildes von Mama, das ich stets sorgsam aufbewahrt hatte.
Später klopfte es an die Türe. Es war der Vorsteher, er war ganz schwarz
angezogen. »Komm,« befahl er mit eiserner Strenge. Wir gingen ins
Wohnzimmer, um bei der Entschlafenen zu wachen. Herr Benjamenta wies mir
mit einer leichten Handbewegung meinen Platz an. Wir setzten uns.
Gottlob, ich spürte wenigstens gar keine körperliche Müdigkeit. Das war
mir sehr lieb. Das Gesicht der Toten war schön geblieben, ja, es schien
sogar noch anmutiger geworden zu sein, und noch etwas: von Moment zu
Moment schien immer mehr Schönheit, Rührung und Anmut darauf
niederzufallen. Etwas wie lächelnde Vergebung jeder Art Fehltrittes
schien im Wohnzimmer zu schweben und leise zu tönen. Es zirpte so. Und
es war auf so helle, lichte Art ernst in der Stube. Nichts, nichts
Unheimliches. Mir wurde es schön zumut, denn schon das allein, daß ich
hier wachte, ließ mich die Ruhe, die in einer stillen Pflichterfüllung
liegt, angenehm empfinden.

»Später, Jakob,« ergriff der Vorsteher das Wort, indem wir so saßen,
»später erzähle ich dir alles. Wir werden ja doch zusammenbleiben. Ich
glaube ganz fest, sogar felsenfest an deine Zustimmung. Du wirst morgen,
wenn ich dich nach deinen Entscheidungen frage, nicht nein sagen, das
weiß ich. Für heute muß ich dir sagen, daß ich kein wirklicher
abgesetzter König bin, ich meinte, ich sagte dir das nur so, des Bildes
halber. Wohl aber gab es Zeiten, wo dieser Benjamenta, der hier neben
dir sitzt, sich als Herr, als Eroberer und als König fühlte, wo das
Leben vor mir zum Erfassen dalag, wo alle meine Sinne an Zukunft und an
Größe glaubten, wo meine Schritte mich elastisch dahin wie über
teppichähnliche Wiesen und Begünstigungen trugen, wo ich besaß, was ich
anschaute, genoß, an was ich nur flüchtig dachte, wo alles bereit war,
mich mit Befriedigung zu krönen, mit Erfolgen und Errungenschaften mich
zu salben, wo ich König war, ohne es kaum zu ahnen, groß, ohne daß ich
nötig hatte, mir eine bewußte Rechenschaft davon abzulegen. In diesem
Sinne, Jakob, bin ich hoch gewesen, d. h. einfach jung und
vielversprechend, und in diesem Sinne geschah die Entfürstung und
Entthronung. Ich stürzte. Und ich zweifelte an mir und an allem. Wenn
man verzweifelt und trauert, lieber Jakob, ist man so jammervoll klein,
und immer mehr Kleinheiten werfen sich über einen, gefräßigem, raschem
Ungeziefer gleich, das uns frißt, ganz langsam, das uns ganz langsam zu
ersticken, zu entmenschen versteht. Also das mit dem König war eine
Phrase. Ich bitte dich, kleiner Zuhörer, um Entschuldigung, wenn ich
dich an Szepter und Purpurmantel habe glauben machen. Doch glaube ich,
daß du es eigentlich wußtest, wie es mit diesen gestammelten und
geseufzten Königreichen im Grunde gemeint war. Nicht wahr, ein wenig
gemütlicher komme ich dir jetzt vor? Jetzt, da ich kein König mehr bin?
Denn das gibst du doch selbst zu, daß solche Herrscher, wenn sie
genötigt sind, Unterricht usw. zu erteilen und Institute zu eröffnen,
gewiß unheimliche Patrone wären. Nein, nein, ich war nur zukunftsstolz
und -froh: das sind meine Ländereien und königlichen Einkünfte gewesen.
Dann war ich lange, lange Jahre entmutigt und entwürdigt. Und nun bin
ich wieder, d. h. fange an, wieder ich selber zu sein, und es ist mir,
als hätte ich eine Million geerbt, ach was, Million geerbt, nein, es ist
mir, als wäre ich -- -- zum Herrscher erhoben und gekrönt worden.
Allerdings kommen mir immer wieder die dunklen, grauenhaft dunklen
Stunden, wo mir alles schwarz vor den Augen und hassenswert vor dem
gleichsam, versteh' mich, verbrannten und verkohlten Gemüt wird, und in
solchen Stunden zwingt es mich, zu zerreißen, zu töten. O meine Seele,
du, würdest du, trotzdem du das nun weißt, bei mir bleiben? Könntest du
dich, vielleicht aus einfacher menschlicher Neigung zu mir, oder aus
irgend einer andern dir zusagenden Empfindung, dazu entschließen, der
Gefahr, die dir mit dem Zusammensein mit mir Unmenschen droht, zu
trotzen? Kannst du hohen Herzens trotzen? Bist du solch ein Trotzkopf?
Und nimmst du das alles nicht übel? Übel? Ach was, Dummheiten. Übrigens
weiß ich es ja, Jakob, daß wir zusammen leben werden. Es ist
entschieden. Wozu dich noch fragen? Siehe, ich kenne doch ja meinen
früheren Zögling. Jetzt, Jakob, bist du nicht mehr mein Zögling. Ich
will nicht mehr bilden und lehren, sondern ich will leben und lebend
etwas wälzen, etwas tragen, etwas schaffen. O, es läßt sich so herrlich,
so herrlich leiden mit solch einem Herzen von Kameraden. Ich besitze,
was ich besitzen wollte, und drum ist mir, könnte ich alles, ertrüge und
litte ich fröhlich alles. Kein Gedanke, kein Wort mehr. Bitte, schweige.
Du sagst mir morgen, nachdem man mir dieses Leben da, das da auf dem
Bett liegt, weggetragen hat, nachdem ich die rein äußerliche
Feierlichkeit habe abstreifen dürfen und in eine innerliche habe
umwandeln dürfen, deine Meinung. Du sagst ja, oder du sagst nein. Wisse,
du bist ja jetzt vollkommen frei. Du kannst sagen und tun, was dir
beliebt.« -- Ich sagte ganz leise, zitternd vor Verlangen, diesen mir
etwas allzu zuversichtlichen Menschen ein wenig zu erschrecken: »Aber
der Brotkorb, Herr Vorsteher? Den andern verschaffen Sie Unterkommen,
und gerade mir nicht? Das finde ich seltsam. Das ist nicht recht. Und
ich bestehe darauf. Es ist Ihre Pflicht, mir einen ordentlichen
Arbeitsposten zu vermitteln. Ich will unbedingt in Stellung und Amt
gehen.« -- Ah, er zuckte zusammen. Er erschrak. Wie mußte ich innerlich
kichern. Teufeleien sind doch das Netteste am Leben. Herr Benjamenta
sagte traurig: »Du hast recht. Es ziemt sich, dir auf Grund deines
Abgangszeugnisses eine Stelle zu verschaffen. Gewiß, du hast vollkommen
recht. Nur dachte ich, nur -- dachte ich -- --, du machtest eine
Ausnahme.« -- Ich rief wie in zündender Entrüstung: »Ausnahme? Ich mache
keine Ausnahmen. Niemals. Das schickt sich nicht für den Sohn eines
Großrates. Meine Bescheidenheit, meine Geburt, alles, was ich empfinde,
verbietet mir, mehr zu wollen, als was meine Schulgenossen bekommen
haben.« -- Von da an sprach ich kein Wort mehr. Mir gefiel es, Herrn
Benjamenta einer sichtbaren, für mich schmeichelhaften Unruhe zu
überlassen. Den Rest der Nacht verbrachten wir schweigend.

Aber während ich so saß und wachte, überfiel mich doch der Schlaf. Zwar
nicht lang, eine halbe Stunde, oder vielleicht noch etwas länger, war
ich der Wirklichkeit entrückt. Mir träumte (der Traum schoß von der
Höhe, ich erinnere mich, gewaltsam, mich mit Strahlen überwerfend, auf
mich nieder), ich befände mich auf einer Bergmatte. Sie war ganz
dunkelsamtgrün. Und sie war mit Blumen wie mit blumenhaft gebildeten und
geformten Küssen bestickt und besetzt. Bald erschienen mir die Küsse wie
Sterne, bald wieder wie Blumen. Es war Natur und doch keine, Bildnis und
Körper zugleich. Ein wunderbar schönes Mädchen lag auf der Matte. Ich
wollte mir einreden, es sei die Lehrerin, doch sagte ich mir rasch:
»Nein, das kann es nicht. Wir haben keine Lehrerin mehr.« Nun, dann war
es halt jemand anderes, und ich sah förmlich, wie ich mich tröstete, und
ich hörte den Trost. Es sagte deutlich: »Ah bah, laß das Deuten.« -- Das
Mädchen war schwellend und glänzend nackt. An dem einen der schönen
Beine hing ein Band, das im Wind, der das Ganze liebkoste, leise
flatterte. Mir schien, als wehe, als flattere der ganze spiegelblanke
süße Traum. Wie war ich glücklich. Ganz flüchtig dachte ich an »diesen
Menschen«. Natürlich war es Herr Vorsteher, an den ich so dachte.
Plötzlich sah ich ihn, er war hoch zu Roß und war bekleidet mit einer
schimmernd schwarzen, edlen, ernsten Rüstung. Das lange Schwert hing an
seiner Seite herunter, und das Pferd wieherte kampflustig. »Ei, sieh da!
Der Vorsteher zu Pferd',« dachte ich, und ich schrie, so laut ich
konnte, daß es in den Schluchten und Klüften ringsum widerhallte: »Ich
bin zu einem Entschluß gekommen.« -- Doch er hörte mich nicht. Qualvoll
schrie ich: »Heda, Herr Vorsteher, hören Sie.« Nein, er wandte mir den
Rücken. Sein Blick war in die Ferne, ins Leben hinab- und
hinausgerichtet. Und nicht einmal den Kopf bog er nach mir. Mir
scheinbar zuliebe rollte jetzt der Traum, als wenn er ein Wagen gewesen
wäre, Stück um Stück weiter, und da befanden wir uns, ich und »dieser
Mensch«, natürlich niemand anders als Herr Benjamenta, mitten in der
Wüste. Wir wanderten und trieben mit den Wüstenbewohnern Handel, und wir
waren ganz eigentümlich belebt von einer kühlen, ich möchte sagen,
großartigen Zufriedenheit. Es sah so aus, als wenn wir beide dem, was
man europäische Kultur nennt, für immer, oder wenigstens für sehr, sehr
lange Zeit entschwunden gewesen seien. »Aha,« dachte ich unwillkürlich,
und wie mir schien, ziemlich dumm: »Das war es also, das!« -- Aber was
es war, was ich da dachte, konnte ich nicht enträtseln. Wir wanderten
weiter. Da erschien ein Haufe von uns feindlich gesinnten Menschen, wir
aber zerstreuten ihn, ohne daß ich eigentlich sah, wie das zuging. Die
Erdgegenden schossen mit den Wandertagen blitzartig vorüber. Ich empfand
die Erfahrung von ganzen vorüberwinkenden, langen, schwer zu ertragen
gewesenen Jahrzehnten. Wie war doch das eigentümlich. Die einzelnen
Wochen sahen sich an wie kleine, glitzernde Steinchen. Es war lächerlich
und herrlich zugleich. »Der Kultur entrücken, Jakob. Weißt du, das ist
famos,« sagte von Zeit zu Zeit der Vorsteher, der wie ein Araber aussah.
Wir ritten auf Kamelen. Und die Sitten, die wir sahen, entzückten uns.
Es war etwas Unverständlich-Mildes und Zartes in den Bewegungen der
Länder. Ja, mir war es, als marschierten, nein eher, als flögen die
Länder. Das Meer zog sich majestätisch dahin wie eine große blaue nasse
Welt von Gedanken. Bald hörte ich Vögel schwirren, bald Tiere brüllen,
bald Bäume über mir rauschen. »Also bist du nun doch mitgekommen. Ich
wußte es ja,« sagte Herr Benjamenta, den die Indier zum Fürsten erhoben
hatten. Wie toll! So grauenhaft überspannt es ist: Tatsache war, daß wir
in Indien Revolution machten. Und scheinbar glückte uns der Streich. Es
war so köstlich zu leben, das fühlte ich in allen Gliedern. Das Leben
prangte vor unsern weitausschauenden Blicken wie ein Baum mit Zweigen
und Ästen. Und wie stunden wir fest. Und durch Gefahren und Erkenntnisse
wateten wir wie in eiskaltem, aber unserer Hitze wohltuendem Flußwasser.
Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der Ritter. »Schon
gut,« dachte ich mit einmal. Und wie ich das dachte, erwachte ich und
schaute mich im Wohnzimmer um. Herr Benjamenta war ebenfalls
eingeschlafen. Ich weckte ihn, indem ich ihm sagte: »Wie können Sie
einschlafen, Herr Vorsteher. Doch erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß
ich mich entschlossen habe, mit Ihnen zu gehen, wohin Sie wollen.« --
Wir gaben einander die Hand, und das bedeutete viel.

Ich packe. Ja, wir beide, der Vorsteher und ich, wir sind mit Packen,
mit richtigem Zusammenpacken, Abbrechen, Aufräumen, Auseinanderzerren,
Schieben und Rücken beschäftigt. Wir werden reisen. Schon gut. Mir paßt
dieser Mensch, und ich frage mich nicht mehr, warum. Ich fühle, daß das
Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen. Meinem Bruder werde ich
heute Adieu sagen. Ich werde hier nichts hinterlassen. Mich bindet
nichts, verpflichtet nichts, zu sagen: »Wie wär's, wenn ich -- --« Nein,
es gibt nichts mehr zu wären und zu wennen. Fräulein Benjamenta liegt
unter der Erde. Die Eleven, meine Kameraden, sind zerstoben in allerlei
Ämtern. Und wenn ich zerschelle und verderbe, was bricht und verdirbt
dann? Eine Null. Ich einzelner Mensch bin nur eine Null. Aber weg jetzt
mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedankenleben. Ich gehe mit Herrn
Benjamenta in die Wüste. Will doch sehen, ob es sich in der Wildnis
nicht auch leben, atmen, sein, aufrichtig Gutes wollen und tun und
nachts schlafen und träumen läßt. Ach was. Jetzt will ich an gar nichts
mehr denken. Auch an Gott nicht? Nein! Gott wird mit mir sein. Was
brauche ich da an ihn zu denken? Gott geht mit den Gedankenlosen. Nun
denn adieu, Institut Benjamenta.





End of the Project Gutenberg EBook of Jakob von Gunten, by Robert Walser

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK JAKOB VON GUNTEN ***

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
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