Der Gehülfe

By Robert Walser

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Title: Der Gehülfe

Author: Robert Walser

Release Date: December 23, 2008 [EBook #27598]

Language: German


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                              Der Gehülfe


                                 Roman
                                  von
                             Robert Walser


                       Verlag von Bruno Cassirer
                                Berlin




Eines Morgens um acht Uhr stand ein junger Mann vor der Türe eines
alleinstehenden, anscheinend schmucken Hauses. Es regnete. »Es wundert
mich beinahe,« dachte der Dastehende, »daß ich einen Schirm bei mir
habe.« Er besaß nämlich in seinen früheren Jahren nie einen Regenschirm.
In der einen nach unten grad ausgestreckten Hand hielt er einen braunen
Koffer, einen von den ganz billigen. Vor den Augen des scheinbar von
einer Reise herkommenden Mannes war auf einem Emailleschild zu lesen:
C. Tobler, technisches Bureau. Er wartete noch einen Moment, wie um über
irgend etwas gewiß sehr Belangloses nachzudenken, dann drückte er auf
den Knopf der elektrischen Klingel, worauf eine Person kam, allem
Anschein nach eine Magd, um ihn eintreten zu lassen.

»Ich bin der neue Angestellte,« sagte Joseph, denn so hieß er. Er solle
nur eintreten und hier, die Magd zeigte ihm die Richtung, nach unten ins
Bureau gehen. Der Herr werde gleich erscheinen.

Joseph stieg eine Treppe, die eher für Hühner als für Menschen gemacht
schien, hinunter und trat rechter Hand ohne weiteres in das technische
Bureau ein. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, ging die Türe auf. An
den festen Schritten über die hölzerne Treppe und am Türaufmachen hatte
der Wartende sogleich den Herrn erkannt. Die Erscheinung bestätigte nur
die vorausgegangene Gewißheit, es war in der Tat niemand anderes als
Tobler, der Chef des Hauses, der Herr Ingenieur Tobler. Er machte
ziemlich große Augen, er schien ärgerlich zu sein und war es auch.

»Warum,« sagte er, Joseph strafend anblickend, »kommen Sie denn eigentlich
heute schon? Ich habe Sie doch erst für Mittwoch bestellt. Ich bin noch
gar nicht soweit eingerichtet. Haben Sie's so eilig gehabt? Wa?«

Für Joseph hatte dieses Weglassen des Schluß-s am Was etwas Verächtliches.
So ein verstümmeltes Wort klingt ja auch nicht gerade wie eine freundliche
Liebkosung. Er erwiderte, daß man ihn im Stellenvermittlungsbureau darauf
aufmerksam gemacht habe, daß er heute, Montag früh, anzutreten habe.
Wenn das ein Irrtum sei, so bitte er um Entschuldigung, er aber könne
wahrhaftig nichts dafür.

»Sieh da, wie höflich ich bin!« dachte der junge Mann und mußte
innerlich unwillkürlich über sein Betragen lächeln.

Tobler schien nicht geneigt, sofort entschuldigen zu wollen. Er redete
noch einige Male um dieselbe Sache herum, wobei sein ohnehin roter Kopf
empört zu erröten begann. Er »begriff« nicht, es nahm ihn dies und jenes
»Wunder«, schließlich, nachdem sich sein Erstaunen über den
vorgekommenen Fehler beruhigt hatte, meinte er zu Joseph schräg hinüber,
er könne dableiben.

»Fortschicken kann ich Sie ja jetzt doch nicht mehr.« -- »Haben Sie
Hunger?« setzte er hinzu. Joseph bejahte ziemlich gleichmütig. Er
wunderte sich aber sogleich über die Ruhe seiner Antwort. »Vor einem
halben Jahr noch,« dachte er rasch, »würde mich die Hochbeschaffenheit
einer derartigen Frage eingeschüchtert haben, und wie!«

»Kommen Sie,« sagte der Ingenieur. Mit diesen Worten führte er seinen
neuangeworbenen Beamten ins Eßzimmer hinauf, das im Erdgeschoß gelegen
war. Das Bureau lag unter der Erdlinie im Keller. Im Wohn- und Eßzimmer
sprach der Herr folgendes:

»Setzen Sie sich. Irgendwo, das ist ganz egal. Und essen Sie, bis Sie
satt sind. Hier ist Brot. Schneiden Sie soviel davon ab wie Sie wollen.
Genieren Sie sich nur nicht. Schenken Sie nur mehrere Tassen ein. Kaffee
ist genug da. Und da ist Butter. Die Butter ist zum Zugreifen da, wie
Sie sehen. Und da haben Sie auch Konfitüre, falls Sie ein Liebhaber
davon sind. Wollen Sie Bratkartoffeln dazu essen?«

»O ja, warum nicht, ganz gern,« hatte Joseph den Mut zu sagen. Worauf
Herr Tobler nach Pauline, der Magd, rief und ihr auftrug, das Gewünschte
rasch zuzubereiten. Nachdem das Frühstück beendet war, gab es unten im
Kontor, inmitten der Zeichenbretter und Zirkel und umherliegenden
Bleistifte, zwischen beiden Männern ungefähr folgende Auseinandersetzung:

Er müsse, sagte Tobler in rauhem Ton, einen Kopf als Angestellten haben.
Eine Maschine könne ihm nicht dienen. Wenn Joseph planlos und geistlos
in den Tag hineinarbeiten wolle, so solle er so gut sein und es gleich
auf der Stelle sagen, damit man von Anfang an wisse, woran man mit ihm
sei. Er, Tobler, benötige eine Intelligenz, eine selbständig arbeitende
Kraft. Wenn Joseph glaube, er sei keine solche, so möge er so freundlich
sein, usw. Hier drückte sich der technische Erfinder in Wiederholungen
aus.

»Ach,« sagte Joseph, »warum sollte ich denn keinen Kopf haben, Herr
Tobler? Was mich betrifft, ich glaube und hoffe des Bestimmtesten, daß
ich jederzeit dasjenige zu leisten imstande sein werde, was Sie glauben
werden, von mir verlangen zu dürfen: Übrigens, meine ich, bin ich hier
oben (das Haus Tobler stund auf einem Hügel) ja vorläufig nur
probeweise. Die Art unseres gegenseitigen Übereinkommens hindert Sie in
keiner Weise, mit mir, wenn Sie es für notwendig erachten,
augenblicklich Schluß zu machen.«

Er wolle, fand es Herr Tobler für passend zu sagen, nicht hoffen, daß es
soweit komme. Joseph möge nichts für ungut nehmen von dem, was er,
Tobler, da soeben gesagt habe. Er habe eben nur geglaubt, gleich von
Anfang an klaren Wein einschenken zu sollen, und er sei der Meinung, daß
das für beide Teile nur vom Guten könne gewesen sein. Alsdann wisse
jeder, woran er mit dem andern sei, und so sei es am besten.

»Gewiß,« bekräftigte Joseph.

Nach dieser Rücksprache wies der Vorgesetzte dem Untergebenen den Platz
an, woran er schreiben »könne«. Es war dies ein etwas zu enges, schmales
und zu niedrig gebautes Sitzpult mit einer Schieblade, worin sich die
Markenkasse und einige kleinere Bücher befanden. Der Tisch, denn nur
ein solcher war's und gar kein wahrhaftiges Pult, stand dicht an einem
Fenster und an der Gartenerde. Darüber hinaus erblickte man in der Tiefe
den ausgedehnten See, weiter das anderseitige Seeufer. Das alles sah
heute sehr trübe aus, denn es regnete noch immer.

»Kommen Sie,« sagte plötzlich Tobler, und er lächelte in etwas, wie es
Joseph schien, unziemlicher Art zu seinen Worten, »meine Frau muß Sie
doch nun auch bald endlich einmal zu Gesicht bekommen. Kommen Sie mit,
ich werde Sie ihr vorstellen. Und dann müssen Sie auch das Zimmer sehen,
wo Sie schlafen werden.«

Er führte ihn hinauf in die erste Etage, wo den beiden eine schlanke,
hohe Frauenfigur entgegentrat. Das war »sie«. »Eine gewöhnliche Frau,«
wollte rasch der junge Angestellte denken, aber er setzte sogleich in
Gedanken hinzu: »und doch nicht.« Die Dame betrachtete den »Neuen«
ironisch und gleichgültig, aber ohne Absicht. Beides, das Kalte und das
Ironische, schien ihr angeboren zu sein. Sie streckte ihm nachlässig, ja
sogar träge die Hand dar, er ergriff sie und verneigte sich vor der
»Herrin des Hauses«. So nannte er sie im geheimen, nicht, um sie zu
etwas Schönerem zu erheben, im Gegenteil, um sie rasch im stillen zu
kränken. Diese Frau benahm sich in seinen Augen entschieden zu
hochmütig.

»Ich hoffe, es wird Ihnen hier bei uns gefallen,« sagte sie mit einer
seltsam hochklingenden Stimme und verzog dazu ein wenig ihren Mund.

»Ja, sag du das nur. Sehr hübsch. Ei seht mal, wie freundlich. Wollen ja
sehen.« Auf diese Art hielt es Joseph für angezeigt, für sich über jene
wohlwollenden Worte nachzudenken. Alsdann wurde ihm sein Zimmer gezeigt,
es lag oben im kupfernen Turm, es war also ein Turmzimmer, gewissermaßen
ein romantisches und vornehmes. Übrigens erschien es hell, luftig und
freundlich. Das Bett war sauber, o ja, in solch einem Zimmer würde
sich's wohnen lassen. Nicht übel. Und Joseph Marti, so hieß er mit
seinem ganzen Namen, legte den Koffer, den er mit hinaufgenommen hatte,
auf dem Parkettboden ab.

Später wurde er in die Geheimnisse der Toblerschen geschäftlichen
Unternehmungen kurz eingeweiht und mit den Pflichten, die er zu erfüllen
hatte, im allgemeinen vertraut gemacht. Es ging ihm dabei eigentümlich,
er verstand nur die Hälfte. Was denn nur mit ihm sei, dachte er und
machte sich Vorwürfe: »Bin ich ein Betrüger, ein Schwätzer? Will ich
Herrn Tobler hintergehen? Er verlangt einen 'Kopf' und ich, ich bin
heute absolut kopflos. Vielleicht daß es morgen früh oder bereits heute
abend besser geht.«

Das Mittagessen schmeckte ihm ausgezeichnet.

Wiederum dachte er besorgt. »Wie? Hier sitze ich und esse, wie es mir
seit vielleicht Monaten nicht mehr gemundet hat, und kapiere nichts von
den Winkelzügen der Unternehmungen Toblers? Ist das nicht Diebstahl? Das
Essen ist wundervoll, es erinnert mich lebhaft an zu Hause. Solche Suppe
hat Mutter gemacht. Wie kräftig und saftig das Gemüse ist, und das
Fleisch. Wo kriegt man in der Großstadt dergleichen?«

»Essen Sie, essen Sie,« trieb Tobler an, »in meinem Haus wird tapfer
gegessen, haben Sie das verstanden? Nachher wird aber auch gearbeitet.«

Der Herr sehe, er esse ja, erwiderte Joseph mit einer Schüchternheit,
die ihn beinahe zornig machte. Er dachte: »Wird er mich nach acht Tagen
auch noch zum Essen antreiben? Wie schmachvoll, zu empfinden, wie sehr
mir dieses fremde Essen schmeckt. Werde ich diesen unverschämten Appetit
durch entsprechende Leistungen rechtfertigen?«

Er nahm sich von jeder Speise noch einmal auf seinen Teller. Ja, er kam
aus den Tiefen der menschlichen Gesellschaft her, aus den schattigen,
schweigsamen, kargen Winkeln der Großstadt. Er hatte seit Monaten
schlecht gegessen.

Ob man ihm dies etwa anmerke, dachte er und errötete.

Ja, ein ganz klein wenig merkten das Toblers sicher. Die Frau
betrachtete ihn mehrfach fast mitleidig. Die vier Kinder, zwei Mädchen
und zwei Knaben, sahen ihn wie etwas Wildfremdes und Sonderbares von der
Seite her an. Diese ungeniert fragenden und forschenden Blicke
entmutigten ihn. Solche Blicke erinnern eben an die Angeflogenheit an
etwas Fremdes, an die Behäbigkeit dieses Fremden, das für sich eine
Heimat darstellt, und an die Heimatlosigkeit desjenigen, der nun so
dasitzt und die Pflicht hat, sich möglichst rasch und guten Willens in
das behagliche fremde Bild heimatlich einzufügen. Solche Blicke machen
einen frieren im heißesten Sonnenschein, sie dringen kalt in die Seele,
bleiben da einen Moment kalt liegen und verlassen sie wieder, wie sie
gekommen sind.

»So. Jetzt an die Arbeit,« rief Tobler. Und beide verließen den Tisch
und begaben sich, der Herr voran, in das Bureau hinunter, um da, wie der
Befehl lautete, zu arbeiten.

»Rauchen Sie?«

Ja, Joseph rauche ganz gern.

»Nehmen Sie sich einen Zigarrenstumpen aus dem blauen Paket dort. Sie
dürfen während der Arbeit ruhig rauchen. Ich tu's ja auch. So. Und nun
sehen Sie einmal hierher, das da, aber sehen Sie sie ordentlich an, sind
die zur 'Reklame-Uhr' erforderlichen Papiere. Können Sie gut rechnen? --
Dann um so besser. Es handelt sich nun in erster Linie -- was tun Sie
da? Mein junger Mann, die Asche gehört in den Aschenbecher. Ich habe
gern Ordnung zwischen meinen eigenen vier Wänden -- also in erster Linie
handelt es sich, nehmen Sie einen Bleistift zur Hand, nun, sagen wir, um
die Zusammenstellung, um die genaue Gewinnberechnung dieses
Unternehmens. Nehmen Sie Platz hier, ich werde Ihnen sogleich die
nötigen Angaben machen. Und daß Sie mir gefälligst aufpassen, denn ich
sage meine Sachen nicht gern zweimal.«

»Werde ich taugen?« dachte Joseph. Es war wenigstens gut, daß zu einer
so schwierigen Arbeit geraucht werden durfte. Ohne Zigarrenstumpen würde
er jetzt an der Rechtbeschaffenheit seines Kopfes ehrlich gezweifelt
haben.

Während der Angestellte nun schrieb, wobei ihm der Prinzipal von Zeit
zu Zeit über die Schulter in die entstehende Leistung hinabblickte,
spazierte dieser, eine krumme, langstielige Zigarre zwischen den
schönen, blendend weißen Zähnen tragend, im Bureau auf und ab, um
allerhand Zahlen anzugeben, die jeweils flink von einer heute noch ein
wenig ungeübten Angestelltenhand nachgezeichnet wurden. Der bläuliche
Rauch hüllte beide arbeitende Gestalten bald gänzlich ein, draußen vor
den Fenstern schien sich das Wetter aufhellen zu wollen, Joseph warf ab
und zu einen Blick durch die Scheibe und merkte die Veränderung, die
sich leise am Himmel vollzog. Einmal bellte der Hund vor der Türe.
Tobler trat auf einen Moment hinaus, um das Tier zu beruhigen. Nach
Verlauf zweier Arbeitsstunden ließ Frau Tobler durch eines der Kinder
zum Nachmittagskaffee rufen. Es sei draußen im Gartenhaus gedeckt, weil
das Wetter sich gebessert habe. Der Chef ergriff seinen Hut und sagte zu
Joseph, er solle jetzt Kaffeetrinken gehen und nachher das flüchtig
Geschriebene ins reine setzen, bis er damit fertig sei, werde es wohl
Abend geworden sein.

Dann ging er. Joseph sah ihn den Hügel durch den abstürzenden Garten
hinuntergehen. Welch eine stattliche Figur er hat, dachte er, er blieb
noch eine ganze Weile so stehen und begab sich dann zum Kaffee in das
hübsche, grünangestrichene Gartenhaus.

Während des Imbisses fragte ihn die Frau: »Sind Sie stellenlos gewesen?«

»Ja,« antwortete Joseph.

»Lange?«

Er gab ihr Auskunft, und sie seufzte jedesmal, wenn er von gewissen
kläglichen Menschen und Menschenverhältnissen sprach. Sie tat das ganz
leicht und obenhin, und sie behielt außerdem die jeweiligen Seufzer
länger als gerade nötig war im Mund, als habe sie sich jedesmal an der
Annehmlichkeit dieses Tons und Empfindens weiden können.

»Gewissen Menschen,« dachte Joseph, »scheint es Vergnügen zu machen, an
bedauerliche Dinge zu denken. Wie diese Frau Nachdenklichkeit mimt. Sie
seufzt, wie andere lachen, genau so fröhlich. Ist das jetzt meine
Herrin?«

Später stürzte er sich in seine Reinschrift. Es wurde Abend. Morgen früh
würde es sich ja zeigen, ob er eine Kraft oder eine Null, eine
Intelligenz oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei. Für
heute war es seines Erachtens nach genug. Er räumte seine Arbeit
zusammen und ging in sein Zimmer, froh darüber, für eine kleine Zeitlang
allein sein zu dürfen. Er fing nicht ohne Wehmut an, seinen Handkoffer,
seine ganze Besitzung, langsam, Stück für Stück, auszupacken, wobei er
der unzählbaren Umzüge gedachte, zu deren Erledigung er sich nun schon
so viele Male dieses Köfferchens bedient hatte. Schlichte Sachen werden
einem so lieb, das empfand der junge Angestellte. Wie es ihm hier
bei Tobler wohl gehen werde, fragte er sich, während er die paar
Wäschestücke, die er besaß, in absichtlich säuberlichster Manier in den
Schrank legte: »Gut oder schlecht, ich bin einmal da, gehe es wie es
gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er
ein Knäuel alter Faden, Bindfadenteile, Halsbinden, Knöpfe, Nadeln und
abgerissene Leinenfetzen auf den Fußboden warf. »Wenn ich nun schon
einmal hier esse und schlafe, will ich mich geistig und körperlich
dafür auch anstrengen,« murmelte er weiter, »wie alt bin ich jetzt?
Vierundzwanzig! Das ist keine nennenswerte Jugend mehr. Ich bin
zurückgeblieben im Leben.« Er hatte den Koffer geleert und stellte ihn
in eine Ecke. Sobald er glaubte, daß es ungefähr Zeit sei, ging er zum
Abendessen, später noch zur Post ins Dorf hinein, später schlafen.

                   *       *       *       *       *

Im Laufe des nächsten Tages glaubte er sich mit dem Wesen der
»Reklame-Uhr« dadurch bekannt gemacht zu haben, daß er begreifen
lernte, daß dieses gewinnbringende Unternehmen eine dekorative Uhr sei,
die Herr Tobler im Begriff war an Bahnverwaltungen, Restaurateure,
Hoteliers &c. zu verpachten. Solch eine wirklich äußerst hübsch
aussehende Uhr, kalkulierte Joseph, wird beispielsweise in einen oder in
mehrere Straßenbahnwagen gehängt, und zwar an eine möglichst in aller
Menschen Augen stechende Stelle, damit die fahrenden und reisenden
Mitmenschen ihre Taschenuhren danach richten können und jederzeit
wissen, wie spät oder wie früh es am Tage ist. Diese Uhr ist wahrhaftig
nicht schlecht, meinte er allen Ernstes, um so weniger, als sie den
Vorzug hat, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein. Zu diesem Behufe hat
man ihr ja ein einfaches oder doppeltes Adlerflügelpaar aus scheinbarem
Silber oder gar Gold angehängt, zwecks zierlicher Bemalung. Und was wird
man anderes darauf malen wollen als die genauen Adressen von Firmen,
die sich dieser Flügel oder Felder, wie der technische Ausdruck lautet,
zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld;
infolgedessen hat man sich, wie mein Herr, der Herr Tobler, ganz richtig
sagt, an nur erste Handels- und Fabriksfirmen zu wenden. Die Beträge
sind jeweilen zum voraus, und zwar laut auszustellender Verträge, in
monatlichen Raten, zu bezahlen. Die Reklame-Uhr kann übrigens beinahe
überall im In- und Ausland Aufstellung finden. Auf sie setzt, wie es mir
schien, Tobler die wichtigsten Hoffnungen. Freilich kostet die
Herstellung der Uhren und deren kupfernen und zinnernen Zieraten viel
Geld, auch der Dekorationsmaler will ja sein Geld haben, dafür aber
laufen eben die Inseratengelder hoffentlich und sehr wahrscheinlich
regelmäßig ein. Was sagte doch heute früh Herr Tobler? Er hat ziemlich
viel Geld geerbt, hat nun aber bereits sein gesamtes Vermögen in die
'Reklame-Uhr geworfen'. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend
Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort 'werfen' gemerkt
habe, es scheint mir ein stark im Gebrauch bestehendes, übrigens sehr
klipp und klares Wort zu sein, das ich vielleicht schon in nächster Zeit
in meinen Korrespondenzen werde anwenden müssen.«

Joseph steckte sich einen Stumpen in Brand.

»Eigentlich ein ganz netter Aufenthalt, dieses technische Bureau hier.
Das meiste an der hiesigen Geschäftsführung ist mir allerdings noch ganz
unverständlich. Ich habe immer das Neue und Fremde schwer begriffen. Ich
erinnere mich, o ja. Im allgemeinen werde ich von den Leuten für klüger
gehalten als ich bin, manchmal auch nicht. Das alles ist ja überhaupt
so merkwürdig.«

Er nahm einen Streifen Papier zur Hand, strich den Firmenkopf mit ein
paar Federstrichen durch und schrieb rasch folgendes:

                              Liebe Frau Weiß!

    Sie sind wahrhaftig der erste Mensch, an den ich von hier oben aus
    schreibe. Der Gedanke an Sie ist der erste und leichteste und
    natürlichste von allen den vielen Gedanken, die mir gegenwärtig im
    Kopf surren. Sie werden sich oft über mein Betragen gewundert haben
    in der Zeit, die ich bei Ihnen zubrachte. Wissen Sie noch, wie Sie
    mich oft aus meinem dumpfen, einsiedlerischen Dasein, aus all meinen
    üblen Gewohnheiten haben aufrütteln müssen? Sie sind eine so liebe,
    gute, einfache Frau, und vielleicht erlauben Sie mir, Sie lieb zu
    haben. Wie oft, ja beinahe alle vier Wochen, bin ich zu Ihnen ins
    Zimmer getreten, um Sie kurz zu ersuchen, mit der monatlichen Miete
    Geduld zu haben. Sie haben mich nie gedemütigt, doch ja immer, aber
    mit Güte. Wie dankbar ich Ihnen bin und wie froh ich bin, Ihnen dies
    sagen zu dürfen. Was machen und leben Ihre Fräulein Töchter? Die
    Größere ist ja nun wohl bald verheiratet. Und Fräulein Hedwig, ist
    sie immer noch in der Lebensversicherungsgesellschaft tätig? Wie ich
    frage! Sind diese Fragen nicht äußerst dumm, da ich Sie doch erst
    vor zwei Tagen verlassen habe! Mich dünkt, liebe, verehrte Frau
    Weiß, ich sei jahre- jahre- und jahrelang bei Ihnen gewesen,
    so schön, ruhig und lang mutet mich der Gedanke an das
    Bei-Ihnen-gewesen-sein an. Kann man Sie kennen gelernt haben,
    ohne daß man Sie hat lieben lernen müssen? Sie haben immer zu mir
    gesagt, ich sollte mich schämen, so jung zu sein und dazu so wenig
    unternehmenslustig, weil Sie mich stets haben in meinem dunkeln
    Zimmer sitzen und liegen sehen. Ihr Gesicht, Ihre Stimme, Ihr Lachen
    haben mich immer getröstet. Sie sind zweimal so alt wie ich und
    haben zwölfmal so viel Sorgen und erscheinen nur so jung, jetzt noch
    viel mehr als da ich noch bei Ihnen war. Wie konnte ich immer so
    wortkarg zu Ihnen sein. Übrigens bin ich Ihnen ja noch Geld
    schuldig, nicht wahr, und ich bin beinahe froh darüber. Äußere
    Beziehungen können dann innere lebendiger erhalten. Zweifeln Sie
    nie an meiner Achtung vor Ihnen. Wie dumm ich spreche. Ich wohne
    hier in einer hübschen Villa und kann des Nachmittags jeweilen im
    Gartenhaus, wenn schönes Wetter ist, Kaffee trinken. Mein Chef ist
    zurzeit ausgegangen. Das Haus liegt auf einem, man darf sagen,
    grünen Hügel, unten neben der Landstraße, hart am Seeufer, führt die
    Eisenbahn vorbei. Ich wohne sehr nett in einem, es kommt mir ganz
    herrschaftlich vor, hochgelegenen Turmzimmer. Mein Herr scheint ein
    braver Mann zu sein, etwas hochtrabend. Möglich, daß es zwischen uns
    eines Tages persönliche Keilereien gibt. Ich wünsche es nicht.
    Wirklich nicht, denn ich möchte in Frieden leben. Leben Sie wohl
    Frau Weiß. Ich habe mir ein schönes, wertvolles Bild von Ihnen
    bewahrt, es läßt sich nicht einrahmen aber ebenso wenig vergessen.

Joseph faltete den Streifen zusammen und steckte ihn in ein Kuvert.
Er lächelte. Für ihn hatte das Andenken dieser Frau Weiß etwas
Freundliches, warum, darüber wußte er selber kaum recht Bescheid. Da
hatte er nun an eine Frau geschrieben, die dem Eindruck zufolge, den er
ihr von seiner Person hinterlassen hatte, einen so raschen und beinahe
gefühlvollen Brief gar nicht erwarten durfte und sicher auch nicht
gewärtigte. Hatte die zufällige Menschenbekanntschaft einen so großen
Einfluß auf ihn? Liebte er es, zu überraschen und zu behexen? Aber der
Brief schien ihm nach kurzer Durchsicht und Prüfung passend und er
machte sich, da es ohnehin Zeit dazu war, auf den Weg zur Post.

Mitten im Dorf blieb plötzlich ein von oben bis unten rußiger junger
Mensch vor ihm stehen, schaute ihn lachend an und streckte ihm die Hand
entgegen. Joseph spielte den Erstaunten, da er sich wirklich nicht
entsinnen könnte, an welchem Ort und zu welcher Zeit im bisherigen Leben
ihm diese schwarze Erscheinung konnte begegnet sein. »Du auch hier,
Marti?« rief der Mensch, und nun erkannte ihn Joseph, es war ein Kamerad
aus der kürzlich erst überstandenen Militärdienstzeit, er begrüßte ihn,
schützte aber dringende Aufträge vor und verabschiedete sich wieder.

»Ja, das Militär,« dachte er, indem er seines Weges weiter ging, »wie
wirft es die Menschen aus allen nur denkbaren Lebensgebieten auf einen
einzigen Empfindungspunkt zusammen. Kein so feinerzogener, im übrigen
gesunder, junger Mensch lebt im Lande, der es sich nicht eines Tages
müßte gefallen lassen, aus seiner bisherigen, sortierten Umgebung
herauszutreten, um mit dem erstbesten, ebenfalls jungen Bauern,
Kaminfeger, Arbeiter, Kommis oder gar Tunichtgut gemeinschaftliche Sache
zu machen. Und welche gemeinschaftliche Sache! Die Luft in der Kaserne
ist für einen jeden dieselbe, sie wird für den Baronensohn für gut
genug, und für den geringsten Landarbeiter für angemessen befunden. Die
Rang- und Bildungsunterschiede fallen unbarmherzig in einen großen, bis
heute noch immer unerforschten Abgrund, in die Kameradschaft. Diese
herrscht, denn sie faßt alles zusammen. Die Hand des Kameraden ist für
keinen eine unreine, sie darf es nicht sein. Der Tyrann Gleichheit ist
oft ein unerträglicher, oder scheint es zu sein, aber was für ein
Erzieher ist er, was für ein Lehrer. Die Brüderlichkeit kann mißtrauisch
und kleinlich im kleinen sein, sie kann aber auch groß sein, und sie ist
groß, denn sie besitzt die Meinungen, die Gefühle, die Kräfte und Triebe
aller. Wenn ein Staat es versteht, den Sinn der Jugend in diesen Abgrund
zu lenken, der groß genug wäre für die Erde wieviel mehr für ein
einzelnes Land, so hat er sich damit nach allen offenen Richtungen hin,
an allen vier Grenzen, mit Festungen umgeben, die unbezwinglich sind,
weil es lebendige, mit Füßen, Gedächtnissen, Augen, Händen, Köpfen und
Herzen ausgestattete Festungen sind. Den jungen Leuten tut wahrhaftig
eine strenge Lehre not.«

Hier unterbrach der Angestellte seine Gedanken.

In der Tat, er rede und denke da wie ein Feldhauptmann, dachte er
lachend. Bald darauf befand er sich wieder zu Hause.

                   *       *       *       *       *

Joseph hatte in einer Elastique-Fabrik gearbeitet, ehe er zum Militär
kam. Er erinnerte sich jetzt jener vormilitärischen Zeit und sah vor
sich ein altes, längliches Gebäude, einen schwarzen Kiesweg, eine enge
Stube und ein bebrilltes, strenges Prinzipalengesicht. Er war dort, wie
man sagt, aushilfsweise engagiert gewesen, nur so vorübergehend. Er
schien mit seiner ganzen Persönlichkeit nur ein Zipfel, ein flüchtiges
Anhängsel zu sein, ein nur einstweilen geschlungener Knoten. Beim
Antritt der Stellung war ihm bereits lebhaft der Austritt aus derselben
vor Augen getreten. Der Lehrling im Elastique-Geschäft war ihm in allem
»über«. Joseph mußte diesen unausgewachsenen Menschen bei jeder
Gelegenheit um Rat fragen. Aber eigentlich kränkte ihn das nicht einmal.
O er war schon an so vieles gewöhnt gewesen. Er arbeitete kopflos, das
heißt, er mußte sich gestehen, daß ihm mancherlei durchaus notwendige
Kenntnisse abhanden gekommen waren. Gewisse, für andere Menschen
erstaunlich leicht zu erfassende Dinge prägten sich ihm so merkwürdig
schwer ein. Was war da zu machen gewesen. Sein Trost und sein Gedanke
war die »Vorübergänglichkeit« der Stellung. Er wohnte bei einem alten,
spitznasigen und -mundigen Fräulein, die eine sehr sonderbare, hellgrün
gestrichene Stube bewohnte. Auf einer Etagere befanden sich einige alte
und moderne Bücher. Das Fräulein war, wie es schien, eine Idealistin,
aber keine feurige, sondern eher eine durch und durch erfrorene. Joseph
bekam rasch heraus, daß sie einen eifrigen Liebesbriefwechsel
unterhielt, und zwar, wie er eines Tages aus einem achtlos auf dem
runden Tisch liegenden, langen Schreiben ersah, mit einem nach
Graubünden ausgewanderten Buchdrucker oder Architektenzeichner, er
konnte sich dessen jetzt nicht mehr so recht genau entsinnen. Er las
rasch den Brief, er hatte das Gefühl, daß er dadurch keine sehr
bedeutende Ungerechtigkeit begehe. Übrigens war der Brief kaum der
verstohlenen Lektüre wert, man hätte ihn ruhig dürfen an alle Säulen der
Stadt plakatieren, so wenig Geheimnisvolles und dem Fernstehenden
Unverständliches enthielt er. Er war den Büchern, die die Welt liest,
nachgeschrieben und enthielt vorzugsweise kühnlinierte und schraffierte
Reisebeschreibungen. Die Welt sei doch herrlich, hieß es da, wenn man
sich die Mühe nehme, sie zu Fuß zu durchwandern. Dann wurden der Himmel,
die Wolken, die Halden, die Geißen, Kühe, Kuhglocken und die Berge
beschrieben. Wie wichtig das alles war. Joseph hatte eine kleine Stube
nach hinten gehend inne, dort las er. Sowie er nur dieses Stübchen
betrat, fing ihm auch gleich die Bücherlektüre über den Kopf zu flattern
an. Er las da so einen von jenen großen Romanen, an denen man monatelang
lesen kann. Die Kost hatte er in einer Pension von Technikumsschülern
und Kaufmannslehrlingen. Er hatte große Mühe, sich mit dem jugendlichen
Volk einigermaßen zu unterhalten und schwieg daher meist bei Tisch. Wie
war das alles für ihn erniedrigend. Auch da war er ein Knopf, der nur
lose hing, den man gar nicht mehr festzunähen sich abmühte, da man zum
voraus wußte, daß der Rock doch nicht lange getragen werde. Ja, seine
Existenz war nur ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender
Anzug. Nahe bei der Stadt lag ein runder, mäßig hoher Rebhügel, der oben
mit Wald gekrönt war. Nun, das war fürs Spazierengehen ganz artig. Die
Sonntagvormittage verlebte Joseph regelmäßig dort oben, während welcher
Erholung er sich jedesmal in ferne, beinahe krankhaft schöne Träumereien
verwickelt sah. Unten in der Fabrik ging es weniger schön zu, trotz des
zunehmenden Frühlings, der seine kleinen duftenden Wunder an den Bäumen
und Sträuchern zu entfalten begann. Der Prinzipal machte Joseph eines
Tages ganz gehörig herunter, ja, er machte ihn schlecht, er nannte ihn
geradezu einen Betrüger, und weswegen? Das war auch wieder so eine
Kopfträgheit gewesen. Hohle Köpfe können ja nun allerdings einem
Handelsgeschäft erheblichen Schaden zufügen. Man kann schlecht rechnen,
oder aber, und das ist das Schlimme, man rechnet einfach gar nicht.
Für Joseph war es so schwer gewesen, eine in englischer Pfundwährung
aufgestellte Zinsenrechnung zu prüfen. Dazu fehlten ihm die paar
Kenntnisse, und statt das nun offen dem Geschäftsherrn einzugestehen,
wovor er sich schämte, setzte er unter die Rechnung, ohne sie wahrhaft
geprüft zu haben, die lügnerische Bestätigung. Er schrieb mit Bleistift
ein M zu der Schlußzahl, was so viel zu bedeuten hatte als die feste und
ruhige Tatsache des Richtigbefundes. An diesem einen Tage nun kam es
plötzlich durch eine mißtrauische Frage seitens des Prinzipals heraus,
daß die Prüfung nur geschwindelt, und daß ja Joseph gar nicht imstande
war, eine derartige Rechnung im Kopf zu lösen. Das waren eben englische
Pfund, und Joseph wußte mit solchen absolut nicht umzugehen. Er
verdiene, sprach der Vorgesetzte, mit Schimpf und Schande fortgejagt zu
werden. Wenn er etwas nicht verstehe, so sei das keine Unehrenhaftigkeit,
wenn er aber Verständnis lüge, so sei das Diebstahl. Man könne es nicht
anders nennen, und Joseph solle sich in Grund und Boden hinab schämen. O
das war ein tobendes Herzklopfen für ihn gewesen. Er spürte eine
schwarze, fressende Welle über seinem ganzen Dasein. Die eigene, sonst,
wie ihm immer schien, nicht schlechte Seele schnürte ihn von allen
Seiten zu. Er zitterte so heftig, daß die Zahlen, die er eben schrieb,
nachher ungeheuerlich fremd, verschoben und groß aussahen. Aber nach
einer Stunde war ihm so wohl. Er ging zur Post, es war eben schönes
Wetter, er ging so, und da meinte er, küsse ihn alles. Die kleinen süßen
Blätter schienen alle in einem liebkosenden, farbigen Schwarm auf ihn
zuzufliegen. Die vorübergehenden, im übrigen ganz alltäglichen Menschen
sahen so schön aus, zum rein An-den-Hals-werfen. Er schaute glücklich in
alle Gärten hinein, zum offenen Himmel hinauf. Wie rein und schön waren
die weißen, frischen Wolken. Und das satte, süße Blau. Joseph hatte das
eben Vorgefallene, das Wüste, nicht vergessen, er trug es beschämt mit
sich, aber es hatte sich in etwas Unbekümmert-Leidvolles, in etwas
Ebenmäßig-Verhängnisvolles verwandelt. Er zitterte noch ein wenig und
dachte: »Also muß man mich mit Demütigungen zur reinen Freude an der
Welt Gottes aufpeitschen?« Nach Feierabend trat er gemütlich in einen
ihm wohlbekannten Zigarrenladen. Eine Frau hauste dort, eine womöglich,
ja wahrscheinlich und nur zu sehr wahrscheinlich käufliche Frau. Joseph
pflegte sich in ihrem Laden Abend für Abend auf einen Stuhl zu setzen,
eine Zigarre dazu zu rauchen und zu plaudern mit der Inhaberin. Er
gefiel ihr, das merkte er bald. »Wenn ich dieser Frau gefalle, so
erweise ich ihr einen kleinen Dienst, regelmäßig bei ihr zu sitzen,«
dachte er und tat auch so. Sie erzählte ihm ihre ganze Jugend und
manches Schöne und Unschöne aus ihrem Leben. Sie alterte schon und hatte
ein ziemlich häßlich geschminktes Gesicht, aber gute Augen leuchteten
aus demselben hervor, und ihr Mund: »wie oft wird er geweint haben,«
dachte Joseph. Er blieb immer artig und höflich bei ihr, als ob dieses
Betragen selbstverständlich gewesen wäre. Einmal streichelte er ihr die
Wangen, und er bemerkte die Freude, die sie über dieser Bewegung
empfand, sie errötete und ihr Mund zuckte, als ob sie hätte sagen
wollen: »zu spät, mein Freund.« Sie war früher eine Zeitlang Kellnerin
gewesen, aber was hatte das alles zu bedeuten, da doch der ganze
Anhängezipfel nach ein paar Wochen abgetrennt wurde. Der Chef schenkte
Joseph zum Abschied eine Gratifikation, trotz jenes Vorfalles mit der
englischen Geldwährung, und wünschte ihm Glück in die Kaserne. Jetzt
kommt eine Eisenbahnfahrt durch ein frühlingverzaubertes Land, und dann
weiß man nichts mehr, denn von da an ist man nur noch eine Nummer, man
bekommt eine Uniform, eine Patronentasche, ein Seitengewehr, eine
regelrechte Flinte, ein Käppi und schwere Marschschuhe. Man ist nichts
mehr Eigenes, man ist ein Stück Gehorsam und ein Stück Übung. Man
schläft, ißt, turnt, schießt, marschiert und gestattet sich Ruhepausen,
aber in vorgeschriebener Weise. Selbst die Empfindungen werden scharf
überwacht. Die Knochen wollen anfänglich brechen, aber nach und nach
stählt sich der Körper, die biegsamen Kniescheiben werden zu eisernen
Scharnieren, der Kopf wird frei von Gedanken, die Arme und Hände
gewöhnen sich an das Gewehr, das den Soldaten und Rekruten überall hin
begleitet. Im Traum hört Joseph Kommandoworte und das Knattern der
Schüsse. Acht Wochen lang dauert das so, es ist keine Ewigkeit, aber
bisweilen scheint es ihm eine.

Doch was soll das alles, da er doch jetzt in Herrn Toblers Hause lebt.

                   *       *       *       *       *

Zwei oder drei Tage sind noch keine gar so sehr lange Zeit. Dieser
Zeitraum genügt nicht einmal, um sich in einem Zimmer ganz
zurechtzufinden, wie viel weniger in einem immerhin stattlichen Haus.
Joseph war ja ohnehin schwer von Begriff, wenigstens bildete er sich das
ein, und Einbildungen sind nie gänzlich ohne grundlegende Berechtigung.
Das Toblersche Haus war überdies noch zweiteilig, es bestund aus einem
Wohnhaus sowohl wie aus einem Geschäftshaus, und Josephs Pflicht und
Schuldigkeit war, beide Sorten Häuser ergründen zu lernen. Wo Familie
und Geschäft so nah beieinander sind, daß sie sich, man möchte sagen,
körperlich berühren, kann man das eine nicht gründlich kennen lernen und
zugleich das andere übersehen. Die Obliegenheiten eines Angestellten
liegen in solch einem Haus weder ausdrücklich da noch ausdrücklich dort,
sondern überall. Auch die Stunden der Pflichterfüllung sind keine exakt
begrenzten, sondern erstrecken sich manchmal bis tief in die Nacht
hinein, um bisweilen plötzlich mitten am Tag für eine Zeitlang
aufzuhören. Wer das Vergnügen haben darf, nachmittags draußen im
Gartenhaus in Gesellschaft einer gewiß gar nicht üblen Frau Kaffee zu
trinken, muß nicht böse werden, wenn er abends nach acht Uhr rasch noch
irgend eine dringende Arbeit erledigen soll. Wer so schön zu Mittag
ißt, wie Joseph, muß dies durch verdoppelte Leistungen wieder gut zu
machen suchen. Wer Stumpen rauchen darf während der Geschäftsstunden,
der darf nicht brummen, wenn ihn die Herrin des Hauses um einen
häuslichen oder familiären Dienst kurz ersucht, auch wenn der Ton, womit
dieses Gesuch ausgesprochen wird, eher ein befehlshaberischer als ein
schüchtern bittender sein sollte. Wer hat alles Annehmliche und
Schmeichelnde immer zusammen? Wer wird so anmaßend der Welt gegenüber
sein, von ihr nur Kissen zum Daraufruhen zu verlangen, ohne zu bedenken,
daß die samtenen und seidenen, mit feinem Flaum gefüllten und gestopften
Kissen Geld kosten? Aber Joseph denkt gar nicht so. Man muß bedenken,
daß Joseph nie viel Geld auf einmal besessen hat.

Frau Tobler fand an ihm etwas Seltsames, sozusagen Unalltägliches, ohne
ihn aber auch nur im geringsten gut zu beurteilen. Sie fand ihn ziemlich
lächerlich in seinem dunkelgrün gefärbten, abgetragenen und erbleichten
Anzug, aber auch in seinem Benehmen wollte sie etwas Komisches entdeckt
wissen, worin sie in gewisser Beziehung recht hatte. Komisch war sein
undezidiertes Auftreten, sein augenscheinlicher Mangel an
Selbstbewußtheit, und komisch waren auch seine Manieren. Hinwiederum
muß bemerkt werden, daß Frau Tobler, eine Bürgersfrau von echtester
Abstammung, sehr leicht geneigt war, vieles komisch zu finden, was auch
nur ein ganz klein wenig ihre Anschauungsweise fremd berühren konnte.
Wenn das aber so ist, so wollen wir uns weiter nicht darüber aufregen,
daß eine solche Frau einen solchen jungen Menschen komisch fand, sondern
berichten, was sie zusammen redeten. Versetzen wir uns wieder in das
Gartenhäuschen und in die Fünf-Uhr-Abend-Stunde.

»Es ist doch ein prächtiger Tag heute,« sagte Frau Tobler.

O ja, es sei wirklich herrlich, sagte seinerseits der Gehülfe. Er drehte
sich, am Tisch sitzend, halb um, und schaute in die bläuliche Ferne. Der
See war ganz blaßblau. Ein Dampfschiff mit klingender Musik fuhr gerade
vorüber. Man konnte die wehenden Tücher unterscheiden, die dort unten
von den Vergnügungsreisenden geschwenkt wurden. Der Rauch des
Dampfschiffes flog nach hinten und wurde von der Luft eingesogen. Die
Berge am andern Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag
über den See verbreitete, kaum zu sehen. Sie schienen aus Seide gewoben
zu sein. Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün
und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges
Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise
gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an,
beinahe! Wie schmeckte wieder einmal der Kaffee. »Warum denke ich an zu
Hause, an die Kindheit, wenn ich diesen sonderbaren Kaffee trinke?«
dachte Joseph.

Die Frau fing an, von der letztjährigen Sommerfrische am
Vierwaldstädtersee zu reden. Dieses Jahr gebe es, sagte sie, leider
nichts aus so etwas. Keinen Gedanken! Und dann sei es ja hier wirklich
auch ganz schön. Man brauche eigentlich gar keine Sommerfrische mehr,
wenn man so wohnen könne, wie sie. Im Grunde genommen sei man fast immer
sehr unbescheiden, man habe stets Wünsche, und das sei ja auch ganz
natürlich -- Joseph nickte -- aber zuweilen ähnele es einer wirklichen
Arroganz.

Sie lachte. »Wie seltsam sie lacht,« dachte der Untergebene und fuhr
fort zu denken: »An diesem Lachen könnte einer, der sich darauf
versteifen wollte, Geographie studieren. Es bezeichnet genau die Gegend,
wo diese Frau her ist. Es ist ein behindertes Lachen, es kommt nicht
ganz natürlich zum Mund heraus, als wäre es früher durch eine
allzupeinliche Erziehung stets etwas im Zaum gehalten worden. Aber es
ist schön und fraulich, ja, es ist sogar ein bißchen frivol. Nur
hochanständige Frauen dürfen so lachen.«

Inzwischen hatte die Frau längst weitergesprochen, und zwar von jener
geradezu ideal schönen und traulichen Sommerfrische. Ein junger
Amerikaner habe sie jeden Tag in der Gondel auf den See hinausgerudert.
Das sei noch ein Kavalier gewesen. Und dann war es doch für eine
verheiratete Frau, wie sie eine sei, reizvoll und neu, einmal ein paar
Wochen ganz allein sein zu können und dazu noch in solch einer schönen
Gegend. Ohne Mann und ohne die Kinder. Man brauche dabei noch lange
nicht an was Unfeines zu denken. Man tue den ganzen Tag nichts, esse
köstlich und liege da so im Schatten, unter solch einem herrlichen,
breitästigen Kastanienbaum, wie dort, wo sie das letzte Jahr gewesen
sei, einer war. Solch ein Baum. Immer wieder sähe sie ihn und sich
selbst drunter. Sie habe auch ein kleines, weißes Hündchen gehabt, sie
habe es immer zu sich ins Bett genommen. So ein feines, sauberes
Geschöpfchen. Nun, dieses Tier habe sie in dem reizenden Gefühl, das ihr
vorgegaukelt habe, sie sei eine Dame, eine wirkliche Dame, noch
bestärkt. Später habe sie es weggeben müssen.

»Ich muß an die Geschäfte gehen,« sprach Joseph und erhob sich.

Ob er so fleißig sei?

»Nun, man tut, was man für seine Pflicht hält.« Mit diesen Worten
entfernte er sich. Im Bureau trat ihm eine unsichtbar-sichtbare
Erscheinung entgegen: die Reklame-Uhr. Er setzte sich an den
Schreibtisch und fing an zu korrespondieren. Der Briefbote kam, um eine
Nachnahme zu präsentieren, es war ein geringer Betrag, Joseph bezahlte
aus seiner Privattasche. Dann schrieb er ein paar Briefe im Interesse
der Reklame-Uhr. Was man für so eine Uhr nicht alles aufwenden mußte!

»Sie ist wie ein kleines oder großes Kind, solch eine Uhr,« dachte der
Angestellte, »wie ein eigensinniges Kind, das der beständigen,
aufopfernden Pflege bedarf, und das nicht einmal dankt dafür. Gedeiht
denn eigentlich dieses Unternehmen, wächst dieses Kind? Man merkt wenig
davon. Ein Erfinder liebt seine Erfindungen. Diese kostspielige Uhr ist
Tobler beinahe ans Herz gewachsen. Was aber denken andere Leute von
dieser Idee? Eine Idee muß hinreißen, muß überwältigen, sonst ist es
eine schwere Sache, sie zu praktizieren. Was mich selber betrifft, so
glaube ich fest an die Möglichkeit einer Realisierung derselben, und ich
glaube deshalb daran, weil es meine Pflicht ist, weil ich dafür bezahlt
werde. Zwar, wie steht es denn nun mit meinem Gehalt?«

Es war in diesem Punkt tatsächlich noch nichts abgemacht worden.

Bis zum Sonntag verlief alles ruhig. Was hätte passieren sollen? Joseph
war folgsam und bemühte sich, ein heiteres Gesicht an den Tag zu legen.
Aber warum hätte er besonders mißmutig sein sollen, wo ja doch vorläufig
nur Ursache zur Zufriedenheit für ihn vorhanden war. Im Militärdienst
ist er auch nicht verzärtelt worden. In das Wesen der Reklame-Uhr drang
er immer tiefer ein und glaubte bereits, sie vollständig erfaßt zu
haben. Was hatte es zu bedeuten, daß zwei Wechsel zu je vierhundert Mark
nicht bezahlt wurden. Man schob den Verfalltag dieser Billetts einfach
auf einen Monat hinaus, es war sogar riesig nett für Joseph, an den
Aussteller der Akzepte schreiben zu dürfen: »Bitte, haben Sie noch
Geduld. Die Finanzierung meiner Patente läßt nur noch kurze Zeit auf
sich warten. Bis dahin wird es mir möglich geworden sein, die fälligen
Verpflichtungen prompt einzulösen«.

Er hatte mehrere solcher Briefe zu schreiben, und er freute sich über
die Leichtigkeit, mit der er den gesamten kaufmännischen Stil
beherrschte.

Das Dorf hatte er bereits halb durchstöbert. Zur Post zu gehen war ihm
jedesmal ein großes Vergnügen. Es gab zwei Wege, einen dem See entlang,
auf der breiten Landstraße, und einen über den Hügel, an Obstbäumen und
Bauernhäusern vorbei. Er wählte fast immer den letztern. Ihm schien das
alles sehr einfach.

Am Sonntag erhielt er von Tobler eine gute, deutsche Zigarre nebst fünf
Mark Taschengeld, damit er sich hie und da »etwas leisten könne«.

Das Haus lag so schön da in dem hellen Sonnenschein. Es schien Joseph
ein wahres Sonntagshaus zu sein. Er ging den Garten hinunter, die
Badehose in der Hand schwenkend, an den See, zog sich in einer
verfallenen Badehütte, durch deren Bretterritzen die Sonne
hineinleuchtete, behaglich aus und warf sich nachher ins Wasser. Er
schwamm weit hinaus, es war ihm so wohl zumute. Welchem Badenden und
Schwimmenden, wenn er nicht gerade am Ertrinken ist, ist es nicht wohl
zumut? Es kam ihm vor, als wölbe und runde sich die heitere, warme,
glatte Seeoberfläche. Das Wasser war frisch und lau zugleich. Vielleicht
strich ein leiser Windzug darüber her, oder irgend ein Vogel flog über
seinem Kopf, hoch in der Luft, daher. Einmal kam er einem kleinen Boot
nahe, ein einzelner Mann saß drin, ein Fischer, der friedlich den
Sonntag verangelte und verschaukelte. Welche Weichheit, welche
schimmernde Helle. Und mit den nackten empfindungsvollen Armen macht man
Schnitte in dieses nasse, saubere, gütige Element. Jeder Stoß mit den
Beinen bringt einen ein Stück vorwärts in diesem schönen, tiefen Nassen.
Von unten her wird man von warmen und kühlen Strömen gehoben. Den Kopf
taucht man, um den Übermut in der Brust zu bewässern, auf kurze Zeit,
den Atem und den Mund und die Augen zudrückend, hinab, um am ganzen Leib
dieses Entzückende zu spüren. Schwimmend möchte man schreien, oder nur
rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen, und man tut's auch. Und
dann von den Ufern her, diese Geräusche und hohen, fernen Formen. Diese
wundervollen hellen Farben an solch einem Sonntagsmorgen. Man plätschert
mit den Händen und Füßen, steht im Wasser schwebend und trapezturnend,
möchte man sagen, aufrecht, immer dazu die Arme bewegend. Und es gibt da
kein Untersinken. Nun preßt man noch einmal die Augen geschlossen in das
flüssige, grüne, feste Unergründliche hinab und schwimmt ans Land. --

Wie herrlich das war!

Zum Mittagessen hatten sich Gäste eingefunden.

                   *       *       *       *       *

Dieses mit den Gästen ist Folgendes: Josephs Vorgänger im Amt war ein
gewisser Wirsich gewesen. Diesen Wirsich hatten die Toblers sehr lieb
gewonnen. Sie erkannten in ihm einen anhänglichen Menschen und schätzten
seine Tüchtigkeit hoch. Er war ein exakter Mensch, aber er war es nur in
der Nüchternheit. Solange er nüchtern war, verfügte er über fast alle,
ja man darf sagen, alle Angestelltentugenden. Er war über die Maßen
ordnungsliebend, er besaß Kenntnisse sowohl auf kaufmännischem wie auf
dem juristischen Gebiet, er war fleißig und energisch. Seinen Chef wußte
er zu jeder Zeit und in beinahe allen vorkommenden Fällen in
vertrauenerweckender und überzeugender Weise zu vertreten. Zudem hatte
er eine saubere Handschrift. Hell von Verstand und mit lebhaftem
Interesse begabt war es diesem Wirsich ein Leichtes gewesen, die
Geschäfte seines Brotherrn zu dessen vollkommener Zufriedenheit ganz
selbständig zu führen. In der Führung der Bücher war er sogar
mustergültig. Alle diese Eigenschaften nun konnten zuzeiten mit einem
Mal gänzlich verschwimmen, und zwar in der Trunkenheit. Wirsich war kein
junger Mann mehr, er zählte ungefähr fünfunddreißig Jahre, und das ist
ein Alter, wo gewisse Leidenschaften, wenn sie der Träger nicht vorher
gelernt hat zu bezwingen, ein schreckliches Aussehen und eine furchtbare
Ausdehnung anzunehmen pflegen. Der Alkoholgenuß machte jeweils, das
heißt von Zeit zu Zeit aus diesem Menschen ein wildes, unvernünftiges
Tier, mit dem begreiflicherweise nichts anzufangen war. Mehrfach wies
ihm Herr Tobler auch die Tür und befahl ihm, seine Sachen zu packen und
sich nie wieder blicken zu lassen. Wirsich ging dann auch, fluchend und
Beleidigungen ausstoßend, zum Haus hinaus, kehrte aber jeweils, sobald
er wieder er selber geworden war, mit einem zerknirschten
Armesündergesicht zu der Schwelle zurück, die nie wieder zu betreten er
ein paar Tage vorher im Unfug und Wahnsinn seiner Betrunkenheit heftig
geschworen hatte. Und Wunder: Tobler behielt ihn immer wieder. Er hielt
ihm bei solcher Gelegenheit je eine gesalzene Strafpredigt, wie man sie
auch ungezogenen Kindern gegenüber anwendet, sagte ihm aber dann, er
könne dableiben, man wolle über das Vergangene einen Schleier werfen und
es nochmals mit ihm probieren. Das geschah vier oder fünf Male. Wirsich
hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Dies trat besonders hervor, wenn
er den Mund zu einer Bitte oder Abbitte auftat. Er erschien in diesem
Fall so vollkommen reuig und unglücklich, daß es den Toblers warm und
heiß wurde und sie ihm verziehen, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben,
warum eigentlich. Dazu kam noch der sonderbare, wie es schien, tiefgehende
Eindruck, den es Wirsich verstand auf die Personen weiblichen Geschlechtes
zu machen. Es ist als ziemlich sicher anzunehmen, daß auch Frau Tobler
diesem fremdartigen Zauber, diesem Unerklärlichen, nicht widerstand. Sie
respektierte ihn, solange er ruhig und vernünftig blieb, und mit dem
Rohling und Wüstling hatte sie ein ihr selber ganz unerklärbares
Mitleiden. Schon sein Äußeres war ja wie für das Urteil der Frauen
geschaffen. Seine scharfen, männlichen Gesichtszüge, in der Schärfe und
Sicherheit durch eine blasse Hautfarbe noch unterstützt, sein schwarzes
Haar, seine tiefliegenden, großen, dunklen Augen gefielen ebenso
unwillkürlich wie eine gewisse Trockenheit, die seinem ganzen sonstigen
Auftreten und Wesen anhaftete. Eine solche Hausbackenheit macht in der
Regel den Eindruck der Herzensgüte und der Charakterfestigkeit, zwei
Erscheinungen, denen keine fühlende Frau widersteht.

Und so kam es, daß Wirsich immer wieder von neuem angenommen wurde. Was
eine Frau beim Mittagstisch zu ihrem Mann in leichtem, lachendem,
reichem Ton sagt, bleibt nie gänzlich ohne Einfluß, hier um so weniger
als ja Tobler selber »diesen unglückseligen Menschen immer gern hatte
leiden mögen«. Die Mutter des Wirsich kam regelmäßig bei Anlaß einer
Wiederanstellung ihres Sohnes in die Villa hinauf, um für denselben zu
danken. Auch sie mochte man gern leiden. Übrigens sind einem ja die
Menschen, die man Macht und Einfluß hat fühlen lassen, immer lieb. Die
Wohlhabenheit und Gutbürgerlichkeit demütigt gern, nein, vielleicht das
nicht gerade, aber sie schaut doch ganz gern auf Gedemütigte hernieder,
was eine Empfindung ist, der man eine gewisse Gutmütigkeit, aber auch
eine gewisse Roheit nicht absprechen kann.

Eines Nachts nun trieb es Wirsich doch zu bunt. Er kam aus der an der
Landstraße gelegenen, stark von allerhand vagabundierendem Volk,
darunter unsaubern Weibern, frequentierten Wirtsstube zur »Rose«
vollständig berauscht, schreiend und tobend, nach Hause und begehrte
Einlaß. Da man ihm diesen verweigerte, zertrümmerte er mit Hilfe eines
Hackenstockes, den er bei sich trug, die Haustürscheibe und dann das
Gitter derselben, soweit ihm das gelang. Auch drohte er mit
fürchterlicher und unkenntlicher Stimme mit »Anzünden des ganzen
Nestes«, wie er sich in der Wildheit und Zerstörtheit seines Kopfes
ausdrückte, brüllte, daß ihn nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch
die weiter in der Umgegend wohnenden Leute hören mußten, und gefiel sich
in schmählichen Verwünschungen gegen seine Wohltäter. Schon hatte er,
von den Körperkräften aller Besinnungslosen und Unempfindlichen
unterstützt, beinahe die Türe eingeworfen, das Schloß und der Riegel
wackelten schon bedenklich, als Herr Tobler, der, wie es schien, endlich
die Geduld verloren hatte, die Türe von innen her aufriß und über den
Trunkenbold mit einem Hagel von Stockschlägen herfiel, der denselben zu
Boden auf den Kies warf. Auf den nicht zu mißverstehenden Befehl
Toblers, sich sofort vom Platz wegzubegeben, da sonst weitere und
ähnliche Hiebe seiner harren würden, erhob sich Wirsich auf allen
Vieren, um aus dem Garten zu rutschen. Einige Male fiel die Gestalt des
Säufers, vom Mond beleuchtet, so daß die Obenstehenden jede seiner
ungeheuerlichen Bewegungen verfolgen konnten, wieder an die Erde, stund
wieder auf und warf sich endlich, einem plumpen Bären ähnlich, vollends
zum Garten an die Landstraße hinaus, worauf sie sich gänzlich verlor.

Zwei Wochen nach diesem nächtlichen Vorfall hielt Tobler ein
umfangreiches Entschuldigungsschreiben Wirsichs in der Hand, worin der
Übeltäter in scheinbar geradezu klassischem Stil Besserung versprach
und bat, Herr Tobler möchte ihn doch noch ein einziges Mal anstellen, da
sich Wirsich sonst der bittersten Not preisgegeben sähe. Beide, er
sowohl als seine alte Mutter, bäten inständig um eine nochmalige, wenn
auch letzte Zuwendung der alten, wohltuenden Gunst, die er, er bekenne
es schmerzhaft und aufrichtig, nun schon so oft verscherzt habe.
Wirsich, hieß es in dem Schreiben zum Schluß, sehne sich so sehr nach
dem Haus, nach der ganzen ihm lieb und wert gewordenen Familie, nach der
Stätte der früheren Wirksamkeit zurück, daß er sich sagen müsse,
entweder er dürfe auf eine Neubelebung all dieser Dinge hoffen und
darüber froh sein, oder der Riegel sei ihm ein für allemal zugeschoben
und für ihn bleibe nur noch die Verzweiflung, die Reue, die Scham und
die Bitternis übrig.

Es war indessen zu spät. Der Riegel war in der Tat schon vorgeschoben,
es war schon ein Ersatz im Haus. Gleich am nächsten Morgen nach jener
wüsten Nachtszene hatte sich Tobler nach der Hauptstadt in das Bureau
für Stellenvermittlung begeben und hatte dort Joseph verpflichtet. Das
obige Schreiben gelangte an demselben Tage wie Joseph ins Toblersche
Haus.

Die sonntäglichen Gäste aber waren niemand anders als Wirsich und seine
Mutter.

                   *       *       *       *       *

Von der Bewegung des Badens erfrischt begrüßte Joseph seinen Vorgänger
herzlich. Vor der alten Frau machte er eine leichte Verbeugung. Er sah
wohl auf den ersten Blick, daß die Stimmung am Mittagstisch eine
ziemlich gedrückte war. Man sprach wenig, und das Wenige der
Unterhaltung war allgemeiner Natur. Etwas Klägliches, Zimperliches hatte
sich rund um das weiße Tischtuch und um die dampfenden und duftenden
Speisen und um die Menschengesichter herum breit gemacht. Herr Tobler
machte »seine größten Augen«, im übrigen war er fröhlich und freundlich
und ermunterte seine Gäste in wohlwollend-herablassendem Ton,
zuzugreifen. Jedes Essen schmeckt nach jedem Baden, auch im Freien,
unter solch einem blauen Himmel, will fast jedes Essen schmecken, dieses
heutige Essen aber fand Joseph geradezu herrlich, so einfach es auch
war. Auch den andern schien es zu munden, nicht zum mindesten der alten
Frau Wirsich, die sich heute mit einem Schein von feinerem Weltgebaren
umgeben hatte. Wo mochte diese ärmliche Dame sonst wohnen, und wie? In
welchen Zimmern und in was für Umgebungen? Wie dürftig und mager sie
aussah! Gleichsam sparsam oder gespart oder spärlich sah sie aus,
besonders neben dieser üppigen, bürgerlichen, in Fülle und Wärme
geborenen und erzogenen Frau Tobler. Frau Wirsich und Frau Tobler. Ja,
das waren, wenn es in der Welt irgendwie Differenzen gab, Unterschiede
vom klarsten, reinsten Wasser.

Immer ein bißchen hochmütig sieht Frau Tobler aus, aber wie gut steht zu
den Linien ihres Gesichtes und Körpers diese beständige, zarte Spur von
Hochmut. So etwas will man von ihrer Figur gar nicht wegwünschen, denn
es gehört ganz einfach dazu, wie der tönende, unaussprechliche Zauber zu
einem Volkslied. Dieses Lied klingt fein und in den allerhöchsten Tönen,
Frau Wirsich verstand und empfand es gar wohl. Wie kläglich das eine
Lied ertönte und wie voll das andere. Herr Tobler schenkte Rotwein ein.
Er wollte auch Wirsich einschenken, aber die Mutter verdeckte rasch das
Glas ihres Sohnes mit der alten, verknöcherten Hand.

»Ah bah, warum denn jetzt nicht? Er muß doch auch etwas trinken,« rief
Tobler.

Da stürzten plötzlich Tränen in die Augen der alten Frau. Alle sahen es
und erbebten. Wirsich wollte seiner Mutter irgend etwas zuflüstern, aber
eine steife, steinerne Macht, deren er sich nicht zu erwehren
vermochte, lähmte ihm den Gebrauch der Zunge. Er saß da wie ein
Stockfisch und schaute auf sein eigenes, zaghaftes Essen hinab. Frau
Wirsich hatte die Hand zurückgenommen, gleichsam erklärend, es sei ihr
nun gezwungenermaßen ganz gleichgültig, ob jetzt ihr Sohn trinke oder
nicht. Ihre Bewegung sagte: Ja, schenkt ihm nur ein. Es ist ja doch
alles verloren! Wirsich nippte ein wenig an dem Glas, er schien eine
unwiderstehliche Scheu zu haben vor dem Genuß des Dinges, das ihn von
einer in der Tat für ihn gemütlichen Weltposition herabgestürzt hatte.

O Frau Wirsich, deine verweinten Augen trüben ja ganz deine paar
angenommenen, glänzenden Weltmanieren. Wie hattest du dir vorgenommen,
dich fein zu bewegen, und wie hat dich nun dein Gram überwältigt. Deine
alten Hände, die wie Stirnen durchfurcht sind, zittern recht sehr. Was
spricht dein Mund? Nichts? Ei, Mutter Wirsich, man muß sprechen in guter
Gesellschaft. Sieh, sieh, wie dich eine gewisse andere Dame anschaut.

Frau Tobler schaute Frau Wirsich mit besorgten, aber kalten Augen leicht
von der Seite her an, indem sie zugleich die Locken ihres jüngsten
Kindes, das neben ihr saß, streichelte. Eine wirklich wohlhabende Frau!
Von der einen Seite strahlte die kindliche Zärtlichkeit und
Zutulichkeit zu ihr hinauf, und die andere Seite erfüllte das Weh einer
menschlichen Schwester. Beides, sowohl das Liebliche wie das Traurige,
schmeichelte der Frau. Sie sagte leise etwas Tröstliches zu Frau
Wirsich, worüber diese nur abwehrend aber demutvoll den Kopf schüttelte.
Man hatte jetzt gespeist. Herr Tobler reichte sein Zigarrenetui herum,
die Herren rauchten. Diese Sonne, diese wundervolle Berg- und See- und
Wiesenumgebung. Und dann diese schmale, vorsichtübende Unterhaltung von
diesem Häuflein Menschen. Ja, man muß schonen, andere sind auch
Menschen! Der Gesichtsausdruck der Herrin des Hauses sagte das lebhaft.
Aber gerade dieses stumme Zuverstehengeben, daß man schonen wolle, war
schonungslos. Es war vernichtend.

Die beiden Frauen sprachen dann über die Kinder Tobler; sie schienen
beide erfreut zu sein, einen, jeglichen Ton der Verletzung entfernenden,
Gesprächsstoff gefunden zu haben. Auch fand sich das ganz von selber.
Man vergaß sich eben ein bißchen. Von Zeit zu Zeit ruhte das Auge der
alten Frau auf Josephs Gestalt, Gesicht und Benehmen, wie um die Vorzüge
und Schwächen desselben herauszustudieren und sie in Gedanken mit der
Sohnes-Erscheinung zu vergleichen. Die Knaben sprangen bald von ihren
Plätzen weg und spielten im Garten, die Mädchen folgten ihnen, so daß
die erwachsenen Herrschaften allein am Tisch sitzen blieben. Inzwischen
kam die Magd mit einem hölzernen Tablett in der Hand, um den Tisch
abzuräumen. Man erhob sich. Tobler trug Joseph auf, »die Glaskugel
hinaus zu tragen«, letzterer schickte sich an, den Befehl auszuführen.
Die Glaskugel war der Stolz der ganzen Villa Tobler.

Sie hing an kleinen Ketten und Angeln in einem zierlichen, eisernen
Gestell, und war verschiedenfarbig, so daß sich die umliegenden
Weltbilder in runder, gleichsam aufeinandergetürmter Perspektive grün,
blau, braun, gelb und rot darin abspiegelten. Sie war ungefähr so groß
wie ein überlebensgroßer Menschenkopf, aber zusammen mit dem Fußgestell
wog sie sicherlich ihre achtzig oder neunzig Pfund und war schwer zu
tragen. Bei Regenwetter durfte sie nie draußen im Freien stehen bleiben.
Man trug sie immer hinaus und hinein, hinein und hinaus. Wurde sie
einmal naß, so schimpfte Herr Tobler sehr heftig. Die nasse Kugel tat
ihm direkt weh, wie es denn Menschen gibt, die mit gewissen, toten
Besitztümern wie mit etwas durchaus Lebendigem umgehen und umgegangen
wissen wollen. Joseph sprang daher sehr rasch nach der schönen,
farbigen Glaskugel, weil er die Vorliebe Toblers zu derselben bereits
Gelegenheit gehabt hatte kennen zu lernen.

Nachdem er den Wunsch und die Schönwetterlaune und -Freude seines
Meisters erfüllt hatte, entwischte er flink den Augen der Übrigen, trieb
sich die Treppen empor und verschwand in sein Turmgemach. Wie ruhig und
still es hier oben war. Hier fühlte er sich befreit, von was, das wußte
er eigentlich gar nicht einmal. Aber es genügte, dieses Gefühl zu haben;
die wahre Ursache sei, dachte er, ja sicherlich irgendwie und wo
versteckt da, aber was bekümmerten ihn jetzt Ursachen. Etwas Goldenes
schien um ihn herum zu schweben. Er besah sich einen Moment lang im
Spiegel: O er sah noch ganz jung aus, gar nicht so wie Wirsich. Er mußte
unwillkürlich lachen. Es trieb ihn, die Photographie seiner verstorbenen
Mutter zur Hand zu nehmen. Sie stand da so auf dem Tische. Warum sie
also nicht nehmen und betrachten? Er schaute sie ziemlich lange, wie ihn
deuchte, an, und legte sie dann wieder an ihren Platz zurück. Dann zog
er ein anderes, jüngeres Bild aus der Tasche seines Rockes, es war das
Porträt einer Tanzschülerin, eines Mädchens, das er »in der Großstadt«
kennen gelernt hatte. Diese ganze, ferne, menschenerfüllte Großstadt.
Dieses belebte, hohe Bild, wie entschwunden schien es ihm, wie lang
schon entschwunden. Er mußte in diesen Gedanken hinein wieder
unwillkürlich lachen. Er machte gewichtige Schritte im Zimmer auf und
ab, rauchend natürlich. Ob es denn eigentlich durchaus immer nötig sei,
so einen Stengel im Mund zu tragen? Wie herrlich die frische Berg- und
Seeluft durch seine erhöhten vier Wände strich. Und hier hatte Wirsich
gehaust? Der Mann mit dem Leidensantlitz? Joseph bog seinen atmenden
Kopf zum Fenster hinaus, an die sonntägliche und mittägliche
Welt-Freiheit. Und ich habe fünf Mark Taschengeld, und kann den Kopf zu
solch einem fürstlich gebauten und gelegenen Fenster hinausstrecken? --

Unten im Bureau ging es indessen mehr gedämpft als fürstlich zu. Der
Ton, in dem Herr Tobler und sein ehemaliger Angestellter, Herr Wirsich,
sich dort unterhielten, war ein sehr, sehr gedämpfter, ja, beinahe ein
dumpfer.

»Das müssen Sie selbst zugeben,« sagte Tobler, »daß von einer
Wiederaufnahme unserer früheren, gegenseitigen Beziehungen vorläufig die
Rede nicht mehr sein kann. Den Bruch haben Sie herbeigeführt, nicht ich,
ich würde Sie gerne behalten haben. Nichts veranlaßt mich, den Marti
wegzuschicken, er macht seine Sache auch ganz ordentlich. Es tut mir
leid, Wirsich, glauben Sie mir das nur, aber Sie sind selbst schuld. Es
hat Ihnen niemand befohlen, mich, Ihren Brotherrn, wie einen dummen
Jungen zu behandeln. Machen Sie nun alles Weitere mit sich selber ab.
Was ich anstandshalber tun kann, Ihnen zu einem anderweitigen Posten zu
verhelfen, will ich gern tun. Hier ist noch eine Zigarre. Da. Nehmen
Sie.«

Ob sich denn wirklich jetzt nichts mehr ändern ließe?

»Nein, nein, jetzt nicht mehr. Entsinnen Sie sich übrigens nur, was Sie
mir in jener saubern Nacht zugebrüllt haben, und Sie werden begreifen,
daß es zwischen uns keine Anknüpfungen mehr geben kann.«

»Aber Herr Tobler, das war doch alles die Trunkenheit, nicht ich
selber.«

»Ach was Trunkenheit und nicht Sie selber! Das ist es ja gerade. Ich
habe zu fünf oder sechs oder mehr Malen gedacht: Das ist nicht er
selber! Freilich sind Sie das alles selber gewesen. Der Mensch besteht
nicht aus zweierlei Dingen, sonst wäre wahrhaftig das ganze Erdenleben
eine zu bequemliche Sache. Wenn da jeder kommen könnte mit: 'das bin
nicht ich selber gewesen', wenn er einen Bock geschossen hat, was
würden dann noch Ordnung und Unordnung zu bedeuten haben? Nein, nein,
man sei in Gottesnamen der, der man ist. Ich habe Sie auf zweierlei Art
kennen gelernt. Glauben Sie, die Welt sei verpflichtet, Sie als ein
Kind, als ein Schoßhündchen zu betrachten? Sie sind ein erwachsener
Mann, und man verlangt von Ihnen, daß Sie wissen, was man zu tun hat.
Mit verborgenen Leidenschaften, oder wie die Dinger heißen mögen, von
denen die Philosophen reden, sehe ich mich nicht zu rechnen genötigt.
Ich bin Geschäftsmann und Familienvater und muß mich verpflichtet
fühlen, der Torheit und dem Unanstand den Eingang in mein Haus zu
verbieten. Sie waren so weit immer fleißig, warum sind Sie mir mit
Unflätigkeiten gekommen? Sie würden mich ja auslachen. Einfach auslachen
würden Sie mich, und hätten auch ein Recht dazu, wenn ich dumm genug
wäre, Sie wieder anzunehmen. Ich habe Ihnen meine Meinung jetzt gesagt,
lassen Sie uns Schluß machen.«

»Es ist also aus zwischen uns?«

»Vorläufig, ja!«

Mit diesem Wort trat Tobler zur Bureautüre hinaus, ging in den Garten,
wo er seiner Frau einen bedeutenden Blick zuwarf, und stellte sich dann
neben seiner geliebten Glaskugel auf. Die Zigarre zwischen den Zähnen
schaute er abwärts sein Besitztum behaglich an und ergab auf diese Weise
unbewußt das vollendete Bild herrschaftlicher Mittagsruhe.

Zu Wirsich, der noch immer im Bureau unbeweglich festwurzelte, da, wo er
zufällig stehen geblieben war, kam unversehens Joseph hinein. Beide
maßen sich einen Moment mit den offenen Augen. Danach aber hielten sie
es für am passendsten, sich über die Fortentwicklung der Toblerschen
technischen Unternehmungen zu unterhalten, welches Gespräch aber sehr
rasch in ein unausstehliches Stocken und Brechen geriet, bis es
vollständig abbrach. Wirsich bemühte sich, den oberhalb über den
Tatsachen Stehenden zu spielen und erteilte seinem Nachfolger allerhand
Ratschläge und praktische Winke, die jedoch nicht besonders lebhaft
anschlugen.

Und nun nach dem Nachmittagskaffee. Es hieß jetzt für die beiden
Besucher, sich zu entschließen und Abschied zu nehmen. Da gab man sich
denn die Hände, und nachher sah man, insofern man oben auf dem Hügel
zurückblieb, zwei unsicher gehende und auftretende Personen längs des
brillanten, auf je einen Meter Abstand mit je einem vergoldeten Stern
gezierten Gartengitters der Landstraße zusteuern. Ein wehmütiger
Anblick war das. Frau Tobler seufzte wieder einmal. Gleich darauf aber
brach sie über irgend etwas in ein Gelächter aus, und da war es deutlich
zu hören, wie der Seufzer und das Gelächter ein und dieselbe Klangfarbe,
ein und denselben Ton hatten.

Joseph stand etwas abseits und dachte: »Da gehen sie, der Mann und die
alte Frau. Man sieht sie schon nicht mehr, und hier oben sind sie
bereits halb vergessen. Wie rasch vergißt man das Benehmen und Gebärden
und Tun der Menschen. Da laufen sie nun, was sie können, die staubige
Landstraße entlang, um zur rechten Zeit auf dem Bahnhof zu sein oder an
der Schiffshaltestelle. Sie werden beide auf dem langen Weg, zehn
Minuten zu gehen ist lang für zwei Geschlagene und Sorgenvolle, kaum ein
Wort reden, und doch werden sie reden, eine sehr verständnisvolle
Sprache, eine stumme, eine nur zu wohlverständliche. Das Leid hat seine
ganz eigene Manier zu reden. Und nun lösen sie die Billetts, oder sie
haben sie vielleicht schon, es gibt ja bekanntlich Retourbilletts, und
der Zug braust heran, und die Armut und die Ungewißheit steigen zusammen
in den Eisenbahnwagen. Die Armut ist eine alte Frau mit verknöcherten,
begehrlichen Händen. Sie hat heute versucht, bei Tisch Unterhaltung zu
machen, wie eine Dame, aber es ist ihr nicht recht gelungen. Nun fährt
sie dahin, an der Seite der Ungewißheit, in welcher sie, wenn sie recht
genau schaut, ihren eigenen Sohn erkennen muß. Und der Wagen ist voller
vergnüglicher Leute, voller Sonntagsausflügler, die singen, johlen,
plaudern und lachen. Ein junger Bursch hält sein Mädchen im Arm, um sie
ein ums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh
kann die fremde Freude einer unmutigen Seele tun! Aber die arme, alte
Frau fühlt sich an Hals und Herz geschnitten. Sie möchte vielleicht
jetzt laut um Hülfe schreien. Weiter geht es. O, dieses ewige Gerassel
der Räder. Die Frau nimmt ihr rötliches Taschentuch aus der Rocktasche,
um die gar zu dummen und auffälligen Tränen zu verbergen, die stürmisch
aus ihren alten Augen fließen. Wer so alt ist, wie diese Frau, nein, der
sollte nicht mehr weinen müssen. Aber was kümmern sich die Dinge dieser
sonderbaren Erde um die Gebote der edlen Schicklichkeit? Die Hämmer
fallen ganz blind drauflos, manchmal auf ein arm' Kind, manchmal, merke
dir das, Frau, auf eine Greisin. Und jetzt sind Mutter und Sohn an Ort
und Stelle und werden aussteigen. Wie wird es jetzt bei ihnen zu Hause
aussehen?«

Er wurde aus seinen Gedanken durch Toblers wohltönende Stimme
aufgeweckt. Was er da so allein mache? Er solle kommen und ihm helfen,
den Rest Rotwein noch auszutrinken. Ein wenig später sagte der Hausherr
zu ihm:

»Ja, ja. Der Wirsich ist nun endgültig verabschiedet. Ich hoffe, daß ein
gewisser Anderer besser zu schätzen weiß, was einer hat, wenn er hier
oben leben darf. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wen ich unter diesem
'gewissen Andern' verstehe. Sie lachen. Ja, lachen Sie meinetwegen. Das
aber sage ich Ihnen im voraus, wenn Sie irgendwelche Gelüste haben, ich
meine, so Sonntags, was ja auch keinem jungen gesunden Menschen zu
verargen ist, so machen Sie, daß Sie in die Stadt kommen, dort ist
gesorgt für so was, mehr wie genug. In meinem Hause, haben Sie
verstanden, dulde ich nichts Derartiges. Der Wirsich hat sich gerade
dadurch hier ein für allemal unmöglich gemacht. Hier muß Anstand
herrschen.«

Dann wurde über Geschäftliches gesprochen.

Vor allen Dingen, meinte Herr Tobler, müsse jetzt Geld flüssig gemacht
werden, das sei die Hauptsache. Es komme darauf an, einen Kapitalisten
für die technischen Erfindungen zu gewinnen, womöglich einen
Fabrikherrn, damit mit der Massenanfertigung der patentierten Artikel
gleich begonnen werden könne. Immerhin, wer nur Geld ins Haus bringe,
der sei ihm willkommen. Seinetwegen möge es ein Schneidermeister sein,
zu verstehen von der ganzen Sache brauche solch ein Geldgeber gar
nichts, dazu sei er da, er, Tobler.

»Setzen Sie folgendes Inserat auf.«

Joseph zog einen Bleistift und ein Notizbuch aus der Tasche. Es wurde
ihm folgendes diktiert:

                         Für Kapitalisten!

    Ingenieur sucht Anschluß an Kapitalisten zwecks Finanzierung
    seiner Patente. Gewinnbringendes, absolut risikofreies
    Unternehmen. Offerten unter ...

»Und dann können Sie morgen früh, wenn Sie ins Dorf gehen, ein neues
Paket Stumpen zu fünfhundert Stück nach Hause bringen. Man muß doch
etwas zu rauchen hier haben.«

Es wurde allmählich Abend.

Im Gartenhaus tauchten zwei Frauen auf, eine Parketteriebesitzerin und
deren Tochter, ein langgewachsenes, sommersprossiges Mädchen, beide aus
der nächsten Nachbarschaft. Mit diesen Frauen und seiner eigenen fing
Tobler ein im ganzen Lande verbreitetes und beliebtes Kartenspiel an.
Sonst spielen dieses Spiel nur Männer, aber es wurde nach und nach auch
bei den Frauen Mode, und zwar bei den sogenannten besseren, nämlich bei
solchen, die nicht gar so streng zu arbeiten brauchten, den Tag über,
und das gerade sind ja die Besseren.

Diese drei Frauen, Frau Tobler, die Fabrikbesitzerin und die Tochter
derselben, spielten ausgezeichnet Karten, am besten und »schneidigsten«
das Fräulein, Frau Tobler noch am wenigsten gut. Wenn das Fräulein einen
Trumpf ausspielte, so kam sie jedesmal in gehörige Aufregung, ganz so,
wie es sich für Spielratzen ziemte, auch klatschte sie mit ihrer
weiblichen Faust wie der älteste und verbohrteste Spieler auf die
Tischplatte und schrie hinwiederum echt mädchenhaft auf, sobald die
Sache zu ihren Gunsten sich zeigte. Ihre Figur war eckig und ihr Gesicht
recht unschön. Ihre Mutter betrug sich klug und gesittet. Wie wäre es
möglich, eine ältere gutsituierte Frau zu sein und ein unleidliches
Betragen zu offenbaren?

Joseph dachte bei sich, indem er dem Kartenspiel, das er noch nicht
einmal Gelegenheit gehabt hatte zu lernen, zusah: »es ist interessant,
diese drei Frauengesichter beim Spielen zu beobachten. Die eine tut es
gelassen, sie lächelt dabei, das ist die Älteste. Meine Frau Tobler da
aber ist vollständig weg. Ganz reißt der Zauber des Spiels sie hin. Ihr
Gesicht drückt die echte, leidenschaftliche Spielerlust aus. Dies
verschönt ihr Gesicht gewissermaßen. Übrigens ist sie die Herrin, und
mir steht es in keinerlei Weise zu, an ihr etwas auszusetzen. Sie ist
wie ein aufpassendes Kind dieser Unterhaltung gegenüber. Aber die
dritte, dieses Männerfräulein da, behüte, ist das eine! Die verdreht die
Augen, während sie setzt und spielt, denkt gewiß Wunder was für fremde
Dinge und hält sich unbedingt für die Schönste, Beste und Gescheiteste.
Nicht auf zwei Meter Entfernung, in Gedanken, möchte man der einen Kuß
geben. Ein verdorbenes Mädchen. Sieh da, was für eine spitzige Nase sie
hat. Da erfröre einer bei der kleinsten Berührung. Und in wie falschen
Tonarten sie redet, lacht, sich beklagt und aufschreit. Ich halte sie
für eine schlechte, teuflische Person, neben ihr aber meine Frau da für
einen Engel.«

Er würde weiter so räsoniert haben, wenn nicht Frau Tobler plötzlich auf
den Gedanken gekommen wäre, den sie auch sogleich aussprach, »heute
abend einmal auf dem See Gondel zu fahren.« Es sei so schön heute abend,
und das bißchen Geld, was es koste, das sei doch gar nicht groß der Rede
wert. Da das Kartenspiel eben beendet worden war, so hatte niemand etwas
wider den Plan einzuwenden, nicht einmal Tobler selber, der brummend
beistimmte. Joseph wurde, als ein richtiger Mann für alles, ins Dorf
geschickt, um mit einem dreisitzigen, breiten Boot längs des Ufers, ohne
sich irgendwie aufhalten zu lassen, denn es müsse jetzt, da es beginne,
Nacht zu werden, flink geschehen, in die Nähe der Villa zu fahren. Unten
in einer Art Hafen würde man dann einsteigen. Der Angestellte hatte sich
schon auf den Weg gemacht. Tobler seinerseits verschmähte es, die Partie
mitzumachen. Ebenso konnte man die alte Fabrikdame nicht mitnehmen,
dagegen beschloß Frau Tobler, die Kinder mitzunehmen. Das Fräulein
erklärte sich bereit, nicht nur mitfahren, sondern sogar tüchtig
mitrudern zu wollen, worauf die Hausfrau sich für die Lustfahrt in
Bereitschaft setzen ging.

Man wartete schon an der Landungsstelle unterhalb der Villa Tobler auf
den breiten Steinplatten eines alten, außer Gebrauch gestellten Dammes,
als endlich das Schiff, von Joseph gerudert, anlangte. Alle begannen
einzusteigen, Frau Tobler zuerst, damit man ihr die Kleinen, eins ums
andere, reichen konnte. Die beiden Knaben gebärdeten sich sehr
unmanierlich, man machte sie auf die Gefahr ihres wilden, unachtsamen
Wesens aufmerksam, worauf sie sich stiller verhielten. Die Mädchen
waren ganz ruhig, sie hielten sich mit ihren kleinen Händen fest an den
Rändern des Bootes. Zuletzt stieg Joseph ein, indem er bis zuletzt das
Fahrzeug an einer rasselnden Kette strammgehalten hatte. Und dann ging
es auf einmal los, Joseph ruderte, er verstand es ganz gut, aber es ging
langsam vorwärts, doch verlangte niemand, daß es schneller vorwärtsgehen
sollte. Wie kühl auf einmal die Welt wurde. Frau Tobler sah auf die
Kinder, ermahnte sie, artig zu sein, sich in keiner Weise heftig zu
bewegen, da sonst ein großes Unglück geschähe und sie alle zusammen ohne
Erbarmen ertrinken müßten. Alle vier Kinder horchten auf diese seltsamen
Worte, hielten sich still, auch die Knaben, denn es war ihnen jetzt, so
mitten draußen in der Nacht und mitten im murmelnden Wasser, in diesem
leise dahingleitenden Boot doch etwas ängstlich zumute. Frau Tobler
sagte leise, wie schön es sei, hier, und welch guten Gedanken sie, wie
es ihr scheine, gehabt habe, solches vorzuschlagen. Da genieße man doch
einmal wieder etwas, und ihr Mann würde besser getan haben, mitzukommen.
Aber, setzte sie hinzu, für so etwas habe er keinen Sinn. -- Wie kühl,
wie schön!

Einen gewissen Abstand vom Nachen beschreibend schwamm im
dunkelglitzernden Wasser Leo, der große Hund, nach. Man rief ihn.
Namentlich riefen ihm die Kinder Koseworte zu. Neben Frau Tobler lag
deren seidenes Schirmchen. Ein befederter Hut schmückte ihren länglich
geschnittenen Kopf. Ihre Hände und Arme waren von langen, weißen
Handschuhen umschlossen. Das Fräulein schwatzte in einem fort. Aber Frau
Tobler, die sonst dergleichen auch nicht gerade verachtete, gab nur
zerstreute und einsilbige Antworten. Etwas wie eine schöne, glückliche
Naturträumerei schien ihr die gewöhnlichen Tagesdinge und deren
umfangreiches Gerede unwichtig und unwert gemacht zu haben. Ihre großen
Augen leuchteten ruhig und schön mit dem Gleiten des Schiffes dahin. Ob
Joseph nicht müde werde vom Rudern, fragte sie. O nein, was sie denke,
antwortete er. Das Fräulein wollte sich in die Ruderbank setzen, Frau
Tobler aber gab es nicht zu, da das Boot sonst in zu starke Bewegung
gerate. Es brauche ja gar nicht so rasch zu gehen, je langsamer gerudert
werde, um so länger dauere die ohnehin kurze Fahrt, und das sei ihr
lieb, denn das sei schön.

Diese Frau kommt aus echt bourgeoisen Kreisen her. Sie ist in der
Nützlichkeit und Reinlichkeit aufgewachsen, in Gegenden, wo die
Brauchbarkeit und die Besonnenheit als das Höchste gelten. Sie hat
wenig romantische Genüsse in ihrem Leben gehabt, aber eben deshalb liebt
sie sie, denn sie schätzt sie in der Tiefe ihrer Seele. Was man vor dem
Mann und der Welt sorgsam verbergen muß, weil man keine »überspannte
Gans« sein will, ist deswegen nicht tot, sondern lebt sein
eigentümliches Leben in der Enge und Stille weiter. Eines Tages kommt
eine kleine mit großen Augen grüßende und bittende Gelegenheit, und da
darf dann das Halbvergessene einmal erwärmen und lebendig werden, aber
das wiederum nur für kurze Zeit. Wer mit seiner Genußfreude und Gier vor
die Öffentlichkeit treten darf, wem solches die Lebensverhältnisse
leicht und gefällig erlauben, der stumpft in der Seele und im Herzen nur
zu bald, alles, was darin gebrannt hat, auslöschend, ab. Nein, diese
Frau hat keinerlei Farbensinn oder dergleichen, sie versteht nichts von
den Gesetzen der Schönheit, aber gerade deshalb fühlt sie, was schön
ist. Sie hat nie Zeit gehabt, ein Buch voller hoher Gedanken zu lesen,
ja, sie hat noch kein einziges Mal auch nur daran gedacht, was hoch und
was niedrig sei, aber der hohe Gedanke selber besucht sie jetzt, und das
tiefere Gefühl selber, angezogen von ihrer Unwissenheit, netzt ihr mit
dem nassen Flügel das Bewußtsein.

Ja kühl war's und dunkel um das langsam fahrende Schiff herum. Der See
war ganz ruhig. Das Stille und Ruhige verband sich mit dem menschlichen
Empfinden und mit der undurchdringlichen Schwärze der Nacht. Vom Ufer
her blitzten die zerstreuten Lichter und kamen ein paar Geräusche her,
darunter eine helltönende Männerstimme, und jetzt hörte man vom
jenseitigen Strand her eine warme Handharfe ertönen. Die Töne dieser
Musik schlangen sich wie etwas Blumenartiges oder Efeuartiges um den
dunklen, duftenden Leib der Seesommernachtstille. Alles schien eine
sonderbare Genugtuung, Befriedigung und Bedeutung bekommen zu haben. Das
Tiefe setzte sich an das unergründlich Nasse an. Die Frau hielt ihre
Hand leicht in das Wasser, sie sagte etwas, aber sie schien es in das
Wasser hinabgesprochen zu haben. Wie das trug, das schöne, tiefe Wasser.
Einmal fuhr ein anderes Boot, von einem einzelnen Mann besetzt, an dem
Toblerschen hart vorbei. Frau Tobler stieß einen leisen Überraschungs-,
ja beinahe Schreckensschrei aus. Niemand hatte das Schiff kommen sehen,
es schien sich plötzlich in ihre Nähe geworfen zu haben, aus weiter
unbekannter Ferne her, oder aus der Tiefe heraus. Der Himmel war über
und über mit Sternen bedeckt. Wie das hob und trug und umdrehte. Die
Frau sagte, sie fröstele jetzt beinahe ein wenig, und sie warf sich ein
Tuch, das sie mitgenommen hatte, über die Achsel. Joseph schien es,
indem er sie anschaute, als lächle sie da so im Dunkel, genau würde er
es nicht haben unterscheiden können. Wo ist unser Leo, fragte sie. Dort,
dort. Er schwimmt nach, rief Walter, der Knabe.

Steige, hebe dich, Tiefe! Ja, sie steigt aus der Wasserfläche singend
empor und macht einen neuen, großen See aus dem Raum zwischen Himmel und
See. Sie hat keine Gestalt, und dafür, was sie darstellt, gibt es kein
Auge. Auch singt sie, aber in Tönen, die kein Ohr zu hören vermag. Sie
streckt ihre feuchten, langen Hände aus, aber es gibt keine Hand, die
ihr die Hand zu reichen vermöchte. Zu beiden Seiten des nächtlichen
Schiffes sträubt sie sich hoch empor, aber kein irgendwie vorhandenes
Wissen weiß das. Kein Auge sieht in das Auge der Tiefe. Das Wasser
verliert sich, der gläserne Abgrund tut sich auf, und das Schiff
scheint jetzt unter dem Wasser ruhig und musizierend und sicher
fortzuschwimmen. --

Es muß zugegeben werden, daß Joseph sich ein wenig zu sehr seinen
Einbildungen überlassen hatte. Er merkte kaum, daß die Fahrt zu Ende
war, als man auch schon ans Land anstieß, das heißt an einen dicken
Pfahl, der in der Nähe des Aussteigedammes aus dem Wasser ragte. Tobler,
der dicht daneben stand, rief seinem Untergebenen zu, er könne auch
besser aufpassen. Es nehme ihn wirklich Wunder, in welchen Landesteilen
Joseph rudern und steuern gelernt habe. Aber es war durchaus kein Unheil
entstanden, alle stiegen wohlbehalten aus. Den Rest der Nacht verbrachte
man in einem hübschen, menschenbesetzten Biergarten, wo Tobler Bekannte
antraf, einen Eisenbahnwagenkontrolleur mit seiner Frau, mit denen er
sich in großzügigen Gesprächen zu schaffen machte. Die kleine, lustige
Beamtenfrau erzählte von ihren Hühnern und Eiern und von dem
schwungvollen Handel mit diesen beiden ergiebigen Artikeln. Man lachte
viel. Joseph wurde von Tobler in seiner Eigenschaft als »mein
Angestellter« den Leuten vorgestellt. Ein junges, französisches Mädchen,
eine Warenhausverkäuferin, trippelte an der Gesellschaft vorüber. »_Une
jolie petite française_,« sagte die Kontrolleursfrau, offenkundig voller
Vergnügen, ein paar französische Worte aus dem Gedächtnis frei hersagen
zu dürfen. Das ist immer so in deutschen Landen, daß die Leute sich
freuen, zeigen zu können, daß sie Französisch verstehen.

»Meine Herrin,« dachte Joseph, »versteht kein Wort Französisch. Die
Arme!«

Später ging man gemeinschaftlich nach Hause.

                   *       *       *       *       *

Als Joseph in seinem Zimmer angelangt war und eine Kerze angezündet
hatte, hielt er, anstatt sich sogleich ins Bett zu legen,
halbausgezogen, und am Fenster stehend, folgendes Selbstgespräch: »Was
leiste ich eigentlich? Ich kann mich da, wenn ich will, sogleich
ungestört zu Bett legen, um in einen sehr wahrscheinlich gesunden und
tiefen Schlaf zu versinken. Ich bekomme in Biergärten Bier zu trinken.
Ich kann mit Frau und Kindern Gondel fahren, ich habe zu essen. Die Luft
hier oben ist eine ausgezeichnete, und was die Behandlung betrifft, so
wäre ich ein Lügner, wenn ich sie tadelte. Licht und Luft und
Gesundheit. Aber was gebe nun ich dafür? Ist das etwas Reelles und
Gewichtiges, was ich zu bieten vermag? Bin ich klug und gebe ich das Maß
meiner Klugheit auch wirklich voll her? Was sind das für Dienste, die
ich bis zum heutigen Tage Herrn Tobler bereits geleistet habe? Alles was
recht und gut ist, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß mein
Herr und Meister noch wenig Nutzen durch mich davongetragen hat. Sollten
mir der Schneid, die Initiative, die Begeisterungsfähigkeit fehlen? Das
ist möglich, denn in der Tat, ich bin mit einer merkwürdig umfangreichen
Portion Ruhe ausstaffiert zur Welt gekommen. Aber schadet denn das
etwas? Freilich schadet es, denn die Unternehmungen Toblers verlangen
leidenschaftliche Anteilnahme, und die Ruhe der Seele ähnelt bisweilen
der trockenen Gleichgültigkeit. Das Schicksal der Reklame-Uhr zum
Beispiel, hat es mich wirklich auch an allen Fasern meines Ichs
angepackt? Bin ich davon erfüllt? Ich muß gestehen, ich denke nur allzu
oft an ganz andere Dinge. Das aber, mein bester Herr Gehülfe, ist
Verrat. Tauche jetzt endlich mal stramm unter in die Angelegenheiten
Fremder, du ißt ja auch Fremder ihr Brot, gehst mit Fremder ihren Frauen
und Kindern auf dem See schiffahren, liegst in Fremder Kissen und Betten
und trinkst Fremder Rotwein aus. Kopf hoch jetzt, und vor allen Dingen
den Kopf sauber gehalten. Ich meine, wir sind hier bei Toblers nicht
deshalb, daß wir es nur schön haben. Es ist eine Ehre, es sich auch ein
bißchen sauer zu machen. Hopp!«

Joseph hatte sich inzwischen ausgezogen, er löschte die Kerze und warf
sich ins Bett. Aber noch eine ganze Weile plagten ihn die Vorwürfe
»seiner Kopflosigkeit«.

Im Traum sah er sich mit einem Mal in die Wohnstube der Frau Wirsich
versetzt. Er wußte, wo er war und wußte es doch nicht recht, es war
ziemlich hell in der Stube, aber sie erschien ihm ganz voll Seewasser.
Waren die Wirsichs Fische geworden? Verwunderlicherweise rauchte er eine
Pfeife, es war Toblers Pfeife, diejenige, aus der er mit Vorliebe zu
rauchen pflegte. Auch Tobler selber schien ganz in der Nähe zu sein, man
hörte seine metallene Männerstimme, die reine Vorgesetztenstimme. Diese
Stimme schien das Wohnzimmer umrahmt oder umarmt zu haben. Da ging die
Türe auf und Wirsich erschien, noch blasser im Gesicht als sonst, und
setzte sich in einen Winkel des Zimmers, das fortwährend zitterte unter
der starken Umschlossenheit jener Stimme. Jawohl, die Wohnstube
zitterte, sie hatte Angst, auch die Fensterscheiben zitterten. Und wie
hell es dazu immer war. Es war aber kein Taglicht, auch kein Mondlicht,
sondern ein wässeriges, gläsernes Licht. Nun ja, man befand sich eben
unter Wasser. Frau Wirsich war mit einer weiblichen Handarbeit
beschäftigt, aber plötzlich zerfloß ihr die ganze Arbeit in etwas
Glitzernd-Schneidendes, und Joseph sagte dazu: »sieh da, Tränen!« Warum
er das wohl gesagt hatte? In diesem Augenblick donnerte und krachte
Toblers Stimme wie ein Ungewitter um die Wohnung der Armut herum. Aber
die alte Frau lächelte nur dazu, und wie man das Lächeln näher
betrachtete, war es der Hund Leo, noch ganz naß von der eben
unternommenen Schwimmpartie. Die furchtbare Stimme ging langsam in ein
Säuseln über, wie Blätter im heißen, leisen Sommermittagswinde etwa zu
lispeln und zu säuseln pflegen. Da erschien Frau Tobler in tiefschwarzem
Seidenkleide, warum sie das trug, konnte man nicht erraten. Sie trat auf
Frau Wirsich mit vornehmer Wohltäterinnengebärde langsam zu, aber
plötzlich schienen ihre Gefühle eine andere Richtung angenommen zu
haben, denn sie fiel der Frau um den Hals und küßte sie. Toblers Stimme
brummte dazu etwas, was, das konnte man nicht verstehen. Wahrscheinlich,
dachte Joseph, findet er die Herzensüberwallung seiner Frau ziemlich
überflüssig. Da verwandelte sich auf einmal die Wirsichsche Wohnung in
den Laden jenes häßlich frisierten und geschminkten Zigarrenweibes, bei
dem Joseph früher täglich auf einem Stuhl gesessen hatte, um Geschichten
aus ihrem Mund anzuhören. Auch jetzt erzählte sie eine Geschichte, eine
lange und eintönige und traurige, und merkwürdig, trotzdem sie lang war,
dauerte ihre Erzählung kaum einen Moment. Träume ich das nur, oder
erlebe ich's wirklich, dachte Joseph, und was hat ein Zigarrenweib mit
einer Frau Wirsich zu schaffen? Da drang ein köstlich gebautes und
geschweiftes, goldenes Boot in den Laden hinein, das Weib stieg ein, und
fort ging es mit ihr, weit fort, bis sie sich in einem schwarzen,
grellen, scharfen Luftraum verlor, aber ein Pünktchen von ihr blieb in
der hohen Luft hängen. Wieder machte der Traum einen Sprung und zwar ins
Toblersche Kontor hinunter, dort sah sich Joseph im bloßen Hemd
schreibend an seinem Schreibtisch sitzen, und alles schaute ihn fragend
an, durchdringend und fragend. Was das alles war, was ihn beobachtete,
konnte er nicht genau sehen, aber es war eben alles, es war scheinbar
die ganze, lebendige Welt. Überall waren Augen, die sich boshaft an
seiner sonderbaren Blöße erfreuten. Das Bureau war ganz grün vor
Schadenfreude, stechend grün. Da suchte er sich zu erheben, um von
diesem Punkte der Scham fortzukommen, aber er blieb fest daran kleben,
es war ihm entsetzlich zumut und er erwachte. --

Er empfand einen brennenden Durst, stand auf und trank ein Glas Wasser.
Darauf trat er ans Fenster, atmete und horchte hinaus, es war alles ganz
still, das weißliche Mondlicht umzauberte und umflüsterte die Gegend.
Und so warm war es. Die kleinen, alten Arbeiterhäuser dicht unterhalb
des Hügels schienen in ihrer Form zu schlafen. Kein einziges kleines
Menschen- und Lampenlicht mehr! Die Seefläche war von Dunst umwoben, man
sah sie nicht. Der zaghafte Schrei eines Vogels unterbrach kurz die
Stille der Nacht. Solch ein Mondlicht, wie das noch den Schlaf
versinnbildlichen konnte. Das war eine Stille, das. Joseph erinnerte
sich nicht, je so etwas gesehen zu haben. Er wäre beinahe am offenen
Fenster selber eingeschlafen.

Am Morgen verspätete er sich.

Das liebe er nicht, meinte Tobler grollend.

Joseph hatte die Unverschämtheit, zu sagen, es werde ja doch wohl auf
ein paar Minuten nicht ankommen. Da aber kam er schön an. Erstens bekam
er ein böses Gesicht anzuschauen, zweitens wurde ihm folgendes gesagt:

»Sie haben pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Mein Haus und mein
Geschäft sind kein Hühnerstall. Schaffen Sie sich einen Wecker an, wenn
Sie nicht erwachen können. Übrigens, wollen Sie oder wollen Sie nicht?
Wenn Sie den guten Willen nicht haben, so sagen Sie's, dann machen wir
kurzen Prozeß mit Ihnen. In der Stadt gibt es genug Leute, die froh über
eine solche Stelle sind. Man kann nur den Zug nehmen und hinfahren. Man
kann sie heutzutage ja auf der Straße auflesen. Von Ihnen aber erwarte
ich Pünktlichkeit, verstanden, sonst -- ich will das jetzt nicht mehr
aussprechen.«

Joseph schwieg wohlüberdachtermaßen.

Eine halbe Stunde später war Herr Tobler der gütigste Herr und
freundlichste Mann seinem Gehülfen gegenüber. Er hätte ihn beinahe aus
überlaufender Gutherzigkeit geduzt, er sagte Marti zu ihm. Bis jetzt
hatte er immer Herr Marti gesagt.

Der Grund dieser Freundlichkeit war eigentlich ein außenstehender, er
war in der Idee der Vaterlandsliebe zu suchen. Der folgende Tag war
nämlich der 1. August, und an diesem Tage feierte man allgemein im Land
das alljährlich wiederkehrende Jubelfest zur Erinnerung an eine
hochherzige und wackere Tat der Vorfahren.

Joseph mußte ins Dorf laufen, um für den morgigen Tag allerhand Lampen,
Lampions, kleine Fahnen und Flaggen, sowie Kerzen und Brennmaterialien
zu Feuerwerkzwecken einzukaufen. Außerdem hatte er so rasch wie möglich,
wunderbarerweise beim Dorfbuchbinder, der dergleichen anzufertigen
verstand, einen hölzernen, zwei Meter hohen und breiten Rahmen zu
bestellen, sowie zwei Fahnentücher, ein dunkelrotes und ein weißes. Das
Tuch würde dann über den Rahmen gespannt, und das Ganze ergäbe das
Wappen des Landes, nämlich ein großes rotes Feld mit dem weißen Kreuz in
der Mitte, alles zum Aufstellen in der kommenden Nacht vor die Fassade
der Villa Tobler. Hinter den Rahmen und das Bild würde man brennende
Lampen stellen, damit das Licht durch das Tuch schimmere und jedermann
aus der weiteren und weitesten Entfernung die zwei Landesfarben leuchten
sähe.

Nach Verlauf von anderthalb Stunden kamen alle die notwendigen
Gegenstände an. Leute stellten sich plötzlich ein, um an der Dekorierung
des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal da waren, und so
begann man, überall an Gesimsen und Nischen, an Borden und Fenstern und
Gittern Fähnchen zu befestigen und Lampen anzubringen. Sogar in die
Büsche und festeren Gewächse des Gartens legte und hing und stellte
und klemmte man die Beleuchtungsapparate an, so daß in der ganzen
Toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum
bevorstehenden Feuerwerk vorbereitete Stelle mehr zu finden war. Wie
glücklich sah Tobler aus. Das war etwas für ihn. Für Feste und deren
schöne Inszenierung schien er wie kaum ein zweiter geschaffen zu
sein. Beständig trat er vors Haus hinaus, um da oder dort noch etwas
anzuordnen oder selber einen Draht mit der Zange zu krümmen, eine schief
hängende, elektrische Lampe gerade zu drehen oder um bloß dem Ding
zuzuschauen. Seine Reklame-Uhr schien er vergessen oder wenigstens
verschoben zu haben. Natürlich war diese ganze Veranstaltung etwas
Freudiges, Feierliches und Geheimnisvolles für die Kinder, die sich
nicht genug wundern konnten und fragen konnten und denken konnten, was
das eigentlich nun zu bedeuten habe. Joseph hatte an diesem Tage genug
für den Festtag zu tun, so daß ihm gar keine Zeit blieb, darüber
nachzusinnen, ob die Dienste, die er Tobler leistete, wirklich auch
wahre Dienste seien. Frau Tobler schien den ganzen Tag zu lächeln, und
das Wetter --.

Davon sagte Tobler, daß, wenn das so anhaltend prachtvoll schön sei, man
ruhig etwas Besonderes in Szene setzen könne. Auch brauche man bei einer
solchen Gelegenheit das bißchen Kosten nicht zu scheuen. Das sei
schließlich für das Vaterland, und traurig müsse es um den Mann und
Menschen stehen, der nicht auch ein bißchen Vaterlandsliebe im Leibe
habe. Man mache ja da absolut nicht mehr als wie anständig sei, zu
übertreiben brauche man die Sache auch nicht. Aber wer gar keinen Sinn
mehr für derartiges habe, wer nur noch die ganze Zeitlang auf seinem
Beruf und Geldschrank hocke, der sei wirklich nicht wert, ein schönes
Heimatland zu haben, der könne jeden Tag nach Amerika oder nach
Australien abdampfen, das komme solch einem doch ganz genau auf ein und
dasselbe heraus. Übrigens sei das zuletzt noch Geschmackssache. Er,
Tobler, möge es nun einmal eben gern so, und damit dürfe es gut sein.

Von Josephs Turm herab flatterte eine schöne, große Fahne. Je nachdem
der Wind wehte, machte sie mit ihrem leichten Leib einen kühnen, stolzen
Schwung, oder sie bog sich beschämt und müde zusammen, oder sie
kräuselte und schwang sich kokett um die Stange, wobei sie sich in ihren
eigenen, graziösen Bewegungen zu sonnen und zu spiegeln schien. Und dann
auf einmal wieder wehte sie hoch und breit und weit empor, einer
Siegerin und starken Beschützerin ähnlich, um allmählich von neuem
rührend und liebkosend in sich selber zusammenzusinken. Dieses
prachtvolle Blau am Himmel.

Geschäftlich vieles zu erledigen, das erschien beinahe unmöglich. Die
Post (es wunderte einen, daß sie heute überhaupt kam) brachte eine
ziemlich hohe Rechnung betreffend die kürzlich erst stattgefundene
Ausführung des kupfernen Turmdaches, desselben Daches, auf welches man
eine so schöne Fahne gesteckt hatte. Der hohe Betrag der Rechnung prägte
sich in einem Stirnrunzeln auf Toblers Gesicht aus, und zwar deutlich,
beinahe mathematisch genau, als hätte man der Stirn den genauen
Zahlenbetrag müssen ablesen können. Als Beigabe zur patriotischen Feier
war solches nicht gerade besonders erbaulich.

»Der kann warten,« sagte der Chef, indem er die Faktura Joseph dicht
neben den aufs Pult herabgebeugten, denkenden und korrespondierenden
Kopf warf. Joseph sprach durch die Nase: natürlich! als sei er bereits
jahrelang im Geschäft tätig gewesen, als kenne er mehr als zur Genüge
schon die Verhältnisse, Gewohnheiten, Qualen, Freuden und Hoffnungen
seines Herrn. Überdies fand er es heute für passend, gutmütige Töne und
Gebärden an den Tag zu legen. Bei so schönem Wetter --

»Wie eilig es die Leute haben, wenn es gilt, Rechnungen zu
präsentieren,« bemerkte Tobler. Er war gerade mit Zeichnen beschäftigt,
und zwar mit der Skizzierung der »Tiefbohrmaschine«.

»Wenn die Reklame-Uhr nicht geht, dann geht wenigstens die
Bohrmaschine,« murmelte er zu Joseph hinüber, und von dem
Korrespondenztisch her klang zur Antwort wieder ein:

»Natürlich!«

»Im schlimmsten Fall habe ich ja noch den 'Schützenautomaten', der reißt
alles heraus,« redete der Skizziertisch, worauf die Abteilung für
kaufmännisches Wesen antwortete:

»Selbstverständlich!«

»Glaube ich eigentlich an das, was ich da sage?« dachte Joseph.

»Nicht zu vergessen der patentierte Krankenstuhl,« rief Tobler.

»Aha!« machte der Gehülfe.

Tobler frug Joseph, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen
klaren Begriff von diesen Sachen habe.

»Ach ja,« glaubte der Schreiber erwidern zu dürfen.

Ob er den Brief an das staatliche Patentamt aufgesetzt habe?

»Nein, noch nicht.« Joseph habe heute noch keine Zeit dazu gefunden.

»So machen Sie doch, zum Kuckuck!«

Als Joseph den Brief zur Unterschrift vorlegte, ergab es sich, daß das
Schreiben falsch war, es wurde zerrissen und mußte noch einmal geschrieben
werden. Nichtsdestoweniger behagte ihm die Nachmittagskaffeestunde
ausgezeichnet. Außerdem erhielt er von seiner Frau Weiß aus der Stadt
eine Antwort auf seine letzte Benachrichtigung. Sie schrieb, er brauche
mit Schuldenabzahlen gar nicht zu eilen, das habe gute Zeit. Der Brief
war im übrigen ziemlich hausbacken, ja sogar langweilig. Aber hatte er
denn etwas anderes erwartet? Nicht im geringsten. Er hielt gottlob diese
gute Frau nie für geistreich.

Er bemerkte heute zum ersten Mal eine vernarbte Wunde unter den Ohren am
Hals der Frau Tobler.

Woher sie das habe?

Sie erzählte ihm, es komme von einer Operation her, und sie werde sich
wahrscheinlich ein zweites Mal an derselben Stelle müssen operieren
lassen, da die Krankheit noch nicht geheilt sei. Sie klagte: da werfe
man für so eine Sache viel Geld aus, in den Rachen der allezeit
kostspieligen Arzneikunst, und von einer wirklichen Heilung sei dann
doch nicht die Rede. Ja, diese Menschen, die Ärzte und Professoren,
sagte sie, nehmen für den kleinsten, dem Auge des gewöhnlichen
Sterblichen kaum bemerkbaren Schnitt mit der Lanzette ein kleines,
halbes Vermögen in Empfang, und wofür? Dafür, daß sie irgend einen
Fehler begehen, damit man nach kurzer Zeit wieder zu ihnen laufen, und
sich von neuem kurieren lassen könne.

Ob es denn schmerze?

»So! Bisweilen!« sagte die Frau.

Dann erzählte sie Joseph den Hergang der Operation. Wie man sie
aufgefordert habe, in einen großen, leeren Saal zu treten, in welchem
nichts anderes zu sehen gewesen sei als ein hohes Bett oder Gestell und
vier gleichmäßig angezogene Krankenschwestern. Diese Schwestern hätten
eine wie die andere ausgeschaut, so leer und fühllos. Ihre Gesichter
seien einander so ähnlich gewesen wie vier gleich große und
gleichfarbige Steine. Alsdann habe man ihr befohlen, und zwar in
sonderbar barschem Ton, das Gestell zu besteigen. Sie wolle nicht
übertreiben, aber sie müsse schon sagen, daß ihr entsetzlich zumute
geworden sei. Nicht ein Zug, nicht ein Fingernagel voll Freundlichkeit
sei um sie herum gewesen, sondern es habe ihr alles den Eindruck der
Härte und der Herzensverlassenheit gemacht. Nicht ein Schein einer
milden Miene, nicht die Spur eines tröstenden oder beruhigenden Wortes.
Als ob ein bißchen gütiges Wesen sie hätte vergiften, anstecken oder gar
töten können. Sie meine, das heiße die Vorsicht und die Korrektheit denn
doch gar zu weit treiben. Dann habe man sie eingeschläfert, und von da
an habe sie natürlich nichts mehr empfunden und nichts mehr gewußt, bis
es vorbei war. Und vielleicht, schloß sie ihren Bericht, müsse ja das
alles so sein. Man empfinde es nur als überflüssig herzlos. Der wahre
Arzt dürfe aber vielleicht gar kein Herz haben, wer könne das
beurteilen.

Sie seufzte und strich sich mit der Hand durch das Haar.

Der Gedanke, fuhr sie fort, sich ein zweites Mal dort -- hinlegen zu
müssen, sei ihr abscheulich und peinlich. Und auch noch wegen etwas
anderem. Joseph könne das leicht erraten. Es sei ihr schwer, ihrem Mann
mit so etwas zu kommen, wo die ganze finanzielle Lage, Joseph müsse das
ja wissen, sich immer mehr zuspitze. Da sei eine Frau froh, wenn sie
keine Ursache zu außergewöhnlichen Ausgaben habe. Dieses dumme Geld; wie
schnöde doch eigentlich die beständige Sorge um so etwas sei. Nein, da
müsse sie, und sie lächelte, zuerst das neue Kleid haben, das sie sich
schon längst wünschte, ehe sie den Ärzten wieder etwas gebe. Das könne
ihretwegen noch eine Zeitlang warten.

Joseph dachte: »Der Herr will die Schlosserwerkstätten warten lassen und
die Frau die Ärzte.« --

Der 1. August!

Ein Abend, eine Nacht und ein Tag sind ohne besondere Dinge
vorübergegangen. Der Abend ist wieder da, es ist der Festabend. Schon
fängt man an, Kerzen in Brand zu stecken. Aus der Ferne dringen die
dumpfen Schläge der Böllerschüsse zu den Ohren der um das Haus
Versammelten. Tobler hat für einige Flaschen guten Weines gesorgt. Der
Mechaniker, der den »Schützenautomaten« in Arbeit hat, ist vom
Nachbardorf zu der festlichen Veranstaltung zu Toblers herübergekommen.
Auch die beiden Parketteriefrauen sind da. Man sitzt im Gartenhaus und
hat die Weine bereits angestochen. Tobler glänzt vor Festnachtfreude,
schon jetzt, und je dunkler es am Himmel und auf der Erde wird, um so
feuriger drückt sich dieser eigentümliche Glanz auf seinem rötlichen
Gesicht ab. Joseph zündet Kerzen und Lampen an, er muß sich unter jeden
Busch hinabducken, um Beleuchtungsstellen zu suchen. Vom Dorf her hört
man ein murmelndes Singen und Lärmen, als müsse dort, in der Entfernung
eines schwachen Kilometers, eine rauschende Freude herrschen. Neue
Schüsse! Diesmal donnern sie vom andern Seeufer herüber. Tobler ruft:
»Ah, die da drüben machen auch schon Ernst!« Er ruft Joseph zu sich
heran, um ihm »etwas zu trinken«, und neue ergiebige Winke bezüglich
der elektrischen Beleuchtung des großen Wappenschildes zu geben. Der
Angestellte ist heute nacht ein Angestellter im Namen des großen,
heiligen Vaterlandes.

Wie tönte doch da die sonore Stimme des Herrn Tobler, an diesem großen
Abend. Bald flogen die knisternden und zischenden Raketen in die Höhe,
oder es platzte ein Feuerteufel. Auch ganze Glutschlangen sprangen, von
der Hand des eifrigen Gehülfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf,
wahrhaftig, es konnte bald einem Märchen aus Tausendundeine Nacht
gleichen. Wiederum, pum, ein Schuß aus der Ferne. Die im Dorf schossen
jetzt auch. Tobler rief: »Nun? Kommt ihr auch bald einmal? Ihr seid doch
immer die Spätesten. Das gleicht euch halt, ihr Wirtstischhocker!« -- Er
lachte aus vollem Halse, ein gefülltes Glas schimmernden, hellgoldenen
Weines in der Hand schwenkend. Seine verhältnismäßig kleinen Augen
sprühten, als hätten sie Feuerwerk abgeben mögen.

Immer eine Rakete nach der andern, eine Glutgarbe und -schlange nach der
andern. Joseph glich einem heldenmütigen Kanonier in der heißen
Schlacht, so, wie er dastand. Er hatte die romantisch-edle Stellung und
Haltung eines Kämpfers angenommen, der scheinbar entschlossen war, sein
letztes bißchen Blut für die Ehre herzugeben. Das machte sich ohne
eigenes Wollen, nein, ganz von allein. In solchen Momenten glauben ja
die Menschen Wunder was zu sein, die Vorstellung von etwas Gutem und
Hohem und Eigenartigem ist von selbst da. Es bedarf nur des Weines und
des Gewehrdonners, und der Wahn des Außergewöhnlichen ist
zusammengewoben, fest genug, eine ganze, lange, ruhige, bescheidene
Nacht zu durchschwärmen. Auch Joseph war, wie sein Herr, vom
Herzensfeuer der Festnacht ergriffen worden.

»Schießt, ihr Fötzel!«

Solches rief Tobler aus, und zwar in die Dorfrichtung, und er meinte
damit jene paar Leute, die sich immer einen gewissen spöttischen Ton
herausnahmen, wenn er angefangen hatte, am Biertisch von seinen
technischen Erfindungen zu reden. Durch seinen Ausdruck und Ausruf
zeigte er diesen »Schlappschwänzen«, wie seine abermalige, kurze
Ansprache lautete, deutlich seine Verachtung.

»Aber Karl!«

Frau Tobler mußte hell auflachen.

Berauschend schön war's, als jetzt von den fernen, unsichtbaren Bergen
herab, gleichsam im hohen Raum bodenlos schwebend, Freudenfeuer zündeten
und brannten. Auch Hornrufe, groß und wuchtig tönende, kamen aus weiter
Höhe und Ferne herabgeklungen, langsam den metallenen Atem ausstoßend
und ihn lange anhaltend. Das war schön, und alles, was Ohren hatte,
horchte. Ja, wenn die Berge selber zu tönen und zu reden anfangen, muß
wohl bald das kleine Gezische und Geknatter der hastigen Raketen
schweigen. Bergfeuer brennen still aber lang, während der Sprühregen der
Nähe emporprasselt, mit recht vielem augenblicklichen Erfolg und
Geräusch, aber auch gleich wieder ins Nichts zusammensinkt.

Mit dem Eindruck, den das große, erleuchtete Wappenschild mit der roten
und weißen Farbe machte, war Tobler ausnehmend zufrieden. Er ließ daher
noch ein paar Flaschen bringen und konnte sich mit Einschenken in die
verschiedenen Gläser gar nicht genug tun. Ei was, sprach er laut, heute
müsse eins über den Durst genommen werden.

Und so klangen denn die Gläser eifrig aneinander, der Gläserklang
vermischte sich mit dem Gelächter, das über allerhand rasch ersonnenen
und ausgeführten Torheiten erschallte. Die Wangen waren so heiß wie der
Ausdruck der Augen. Die Kinder hatte Frau Tobler natürlich schon längst
in die Betten schaffen lassen. Ein Flaschenpfropfen wurde
heimlicherweise mit roter Lackfarbe bestrichen und plötzlich der alten
Dame aus der Parkettfabrik auf die Nase gesetzt, daß er kleben blieb.
Tobler lief auf diesen Anblick hin Gefahr, sich halb krank zu lachen, er
mußte sich die Backen festhalten, da diese zu zerspritzen drohten.

Schließlich klingelte und lächelte das Fest mit dem letzten Glas Wein an
den Lippen der Teilnehmer aus. Die Lust am Späßetreiben erlahmte und
sank jeden Augenblick, hintenüber taumelnd, in Schlaf. Die Frauen
standen auf und gingen nach Hause, wogegen die Männer sich noch eine
halbe Stunde, allmählich wieder ernsthaft werdend, im Gartenhaus
aufhielten.

                   *       *       *       *       *

Das Dorf Bärensweil, die Gemeinde, in deren Bezirk sich die Toblersche
Ansiedelung befindet, liegt eine gute Dreiviertelstunde Eisenbahnfahrt
von der großen Kantonshauptstadt entfernt. Der Ort ist, wie fast alle
Dörfer in dieser Gegend, reizend gelegen und zeichnet sich durch eine
ganze Anzahl, teilweise aus der Rokokozeit herrührender, stattlicher,
herrschaftlicher oder öffentlicher Bauten aus. Auch sind viele
angesehene Fabriken hier, so Seidenfabriken, Bandwebereien, die
ebenfalls schon ein ziemliches Alter haben. Die Industrie und der Handel
haben hier vor ungefähr hundertfünfzig Jahren zum ersten Mal ihre mehr
oder minder primitiven Räder und Gurten geschwungen, und sie haben sich
bis zum heutigen Tag eines fortgesetzt guten Rufes nicht nur im Inland,
sondern auch in der übrigen, weiten Welt zu erfreuen gehabt. Die
Kaufleute und Fabrikanten sind aber nicht bloß im Gelderwerb hängen und
stecken geblieben, nein, sie haben im Laufe der Jahre und der
Geschmacksänderungen auch Geld ausgegeben, sie haben, wie man noch heute
sehen kann, mit einem Wort gesagt, zu leben gewußt. Sie ließen sich in
den verschiedenen Zeiten und Baustilen allerhand reizende, villenartige
Gebäude aufrichten, deren unaufdringliche aber graziöse Form der
zufällige Beschauer noch heute bewundern und im stillen beneiden kann.
Jene reichgewordenen Leute haben sicher ihre Schlößchen und Häuser mit
Geschmack und Gewicht zu bewohnen verstanden, derart, daß, wie man ahnen
kann, damals ein schönes, solides häusliches Leben regiert und bestanden
haben muß. Nun bauen aber die Nachkommen dieser alten vornehmen
Handelsfamilien auch heute noch in einem gemessenen Stil. Sie verstecken
ihre Häuser gern in ältere, bereits durch ein tüchtiges Wachstum
ausgezeichnete Gärten, denn ihnen ist der Sinn für die Besonderheit und
Schlichtheit durch die Übertragungen des gleichen Blutes geschenkt und
gegeben worden. Auf der andern Seite sehen wir in Bärenswil oder
Bärensweil viele armütige und elendigliche Bauwerke, und in diesen
wohnen die Arbeiter, und auch diese dem Reichtum und der zierlichen
Schönheit entgegengesetzte Seite hat schon ihre lange natürliche
Überlieferung. Das armselige Haus kann eben ganz genau so fest und so
lang und so gutbegründet weiterbestehen wie das wohlhabende und
ausgesuchte; das Elend stirbt nicht aus, so lange die Pracht und das
feinere Weltleben fortexistieren.

Ja, Bärensweil ist ein hübsches und nachdenkliches Dorf. Seine Gassen
und Straßen gleichen Gartenwegen. Sein Anblick vereinigt sowohl
städtisches als dörfliches und ländliches Wesen und Treiben. Wenn man
hier eine stolze Frau nebst Gefolge zu Pferd daherreiten sieht, so muß
man nicht vor lauter dummer Verwunderung vor den Kopf geschlagen sein,
sondern man muß sich nur die Fabrikrohre anschauen und denken: hier wird
eben Geld verdient, und das Geld schafft bekanntlich alles. Auch
Kaleschen mit streng uniformierter Dienerschaft sind hier keine gar so
sehr fabelhafte Seltenheit. Sie brauchen nicht Gräfinnen oder Baroninnen
zu gehören, solches kann auch hie und da einer Fabrikbesitzersfrau
gebühren, um so mehr, als in diesen Gegenden der stolze Gewerbefleiß
wirklich zum alten Land- und Stadtadel zu zählen ist.

»Ein reizendes Nest,« würde ein gebildeter Fremder von Bärensweil sagen.
Herr Tobler aber sagt das seit einiger Zeit nicht mehr, ja, er schimpft
sogar auf »das Drecknest«, und zwar nur deshalb, weil einige
Bärensweiler, mit denen er am Stammtisch des »Segelschiffes« zu sitzen
pflegt, an die gesunde Basis seiner technischen Unternehmungen nicht so
recht glauben wollen.

Denen wolle er es schon zeigen. Die möchten ihre Augen eines Tages schön
aufreißen, sagt er in letzter Zeit öfters.

Aber warum ist Herr Tobler denn eigentlich hierher gezogen? Was hat ihn
veranlaßt, zum Aufenthaltsort diese Gegend zu wählen? Darüber herrscht
folgende, etwas unklare Geschichte. Tobler ist vor noch drei Jahren ein
einfacher Angestellter, Hilfsingenieur in einer großen Maschinenfabrik
gewesen. Da hat er eines Tages eine größere Summe Geldes geerbt und
dadurch den Plan genährt, sich selbständig zu machen. Ein noch
verhältnismäßig so junger und heißblütiger Mann ist in allen Dingen, so
auch in der Ausführung von heimlichen Plänen, stets etwas rasch, und das
ist ja ganz in der Ordnung. Tobler liest eines Abends, Nachts oder
Tages eine Zeitungsannonce, wonach die Villa zum Abendstern, denn so
nennt sie sich, zum Verkauf ausgeschrieben ist. Prachtvolle Seegegend,
schöner, hochherrschaftlicher Garten, gute Eisenbahnverbindungen mit der
nicht allzu weitentfernten Hauptstadt: Teufel, das sei, denkt er, etwas
für ihn! Er macht kurzen Prozeß und kauft sich das Grundstück. Er kann
als freier unabhängiger Erfinder und Geschäftsmann wohnen, wo es ihm
beliebt, er ist an keinerlei Scholle gebunden.

Ein eigenes Heim! Dies ist der alleinige treibende Gedanke gewesen, der
Tobler nach Bärensweil geführt hat. Das Heim kann stehen, wo es will,
wenn es nur ein eigenes ist. Tobler will ein freiverfügender und
-bestimmender Herr sein, und er ist es.

                   *       *       *       *       *

Am frühen Morgen nach der Festnacht schaute sich Joseph unten im Bureau
ein wenig den »Schützenautomaten« an, der schließlich auch studiert sein
wollte. Zu diesem Zweck nahm er ein Blatt Papier zur Hand, auf welchem
die ausführliche Beschreibung dieser Maschine nebst zeichnerischen
Wegleitungen zu lesen und zu sehen war. Was war es nun mit dieser Nummer
zwei der Toblerschen Artikel? Die Nummer eins kannte man ja bereits
beinahe auswendig, da sei es, dachte Joseph bei sich, Zeit, sich mit
Neuem im Geist zu befassen. Und er wunderte sich, wie rasch es ihm
gelang, sich mit dem innern und äußern Wesen dieser Nummer zwei vertraut
zu machen.

Der Schützenautomat erwies sich als ein Ding, ähnlich den
Schokoladenautomaten, die die reisenden Menschen auf Bahnhöfen und in
allerlei öffentlichen Lokalen antreffen, nur entsprang dem
Schützenautomaten nicht eine Platte Süßigkeit, Pfefferminz oder
dergleichen, sondern ein Paket scharfer Patronen. Die Idee als solche
war also keine gerade neue, sondern nur eine verfeinerte und
verschärfte, auf ein anderes Lebensgebiet geschickt übertragene. Auch
war der Toblersche Automat bedeutend größer, er war ein dickes, hohes
Gestell von einem Meter und achtzig Höhe und dreiviertel Meter Breite.
Der Leibesumfang des Apparates war der eines vielleicht hundertjährigen
Baumstammes. Am Automaten war in ungefährer Manneshöhe ein Schlitz
angebracht, zum Hineinwerfen oder -fügen des Geldstückes oder der Münze,
die für Geld erhältlich war. Nach dem Einwurf hatte man einen Moment zu
warten, dann an einem bequem zu erfassenden Hebel zu ziehen und das nun
in eine offene Schale stürzende Paket Patronen ruhig in Empfang zu
nehmen. Die ganze Sache war praktisch und einfach. Die innere
Konstruktion beruhte auf drei sich gegenseitig bedienenden Hebeln, sowie
auf einem abwärts gleitenden Kanal zur Beförderung der Patronen, die
sich in gleichmäßigen, der staatlichen Verpackung entsprechenden Paketen
in einer Art von Kamin zu dreißigen von Stücken aufeinandergetürmt
befanden; zog man nun an dem Hebel mit dem bequem zu erreichenden Griff,
so fiel eben eines der im Kamin befindlichen Stücke äußerst elegant
heraus, und der Apparat funktionierte weiter, das heißt er blieb still,
bis ein zweiter oder ein dritter Schütze des Weges daherkam und ihn von
neuem zu der eben beschriebenen Betätigung reizte. Aber noch mehr! Der
Automat hatte den Vorzug, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein, indem
eine kreisrunde Öffnung am oberen Teil desselben jeweilen bei Einwurf
der Münze und Ziehen am Griff des Hebels eine schönbemalte
Reklamescheibe zeigte. Dieses Reklamewesen bestand sehr einfach aus
einem Reifen verschiedenartig gefärbten Papieres, der mit der ganzen
Hebelvorrichtung in engster und zweckentsprechendster Verbindung stand,
derart, daß der Sturz eines Patronenpäckchens jeweilen eine erneute
Reklame unmittelbar und exakt an die kreisrunde Öffnung schob, indem
sich der Papierreifen stückweis umdrehte. Der Streifen oder Reifen war
in »Felder« abgeteilt, die Besetzung und Benützung der einzelnen Felder
kostete Geld, und dieses Geld mußte die Kosten der Anfertigung des
Automaten brillant herausschlagen: »Aufzustellen ist der Schützenautomat
auf Schützenwiesen gelegentlich der zahlreich stattfindenden
Schützenfeste. Was die Reklamen betrifft, so hat man sich zur Erlangung
von Bestellungen und Aufträgen wiederum, wie bei der Reklame-Uhr, an nur
erste Firmen zu wenden. Wenn man annehmen darf, daß sämtliche Felder mit
Reklamen besetzt werden, und man darf das wohl annehmen, so verdient da
Tobler (Joseph war mit seinen Gedanken so sehr beschäftigt, daß er
anfing, mit sich selbst zu reden) wieder einen schönen Haufen Geld, denn
was die Inserate einbringen, das übersteigt bei weitem die Kosten der
Fabrizierung. Bei der Besetzung je eines Feldes in mehreren, sagen wir
zehn Automaten, tritt natürlich eine wesentliche Preisermäßigung ein.«

Der Kassenbote der Bärensweiler Sparbank trat ein.

»Natürlich ein Wechsel,« dachte Joseph. Er stand von seinem Platz auf,
nahm das Formular in die Hand, besah es von allen Seiten, schüttelte es
hin und her, prüfte es auf das Genaueste, machte ein zugleich
nachdenkliches und wichtiges Gesicht und sagte dann zu dem Boten, es sei
gut, man werde vorbeikommen.

Der Mann nahm den Wechsel wieder zu sich und ging. Joseph nahm sogleich
die Feder zur Hand, um brieflich den Aussteller des Wechsels zu
ersuchen, noch einen Monat Geduld zu haben.

Wie leicht sich das schrieb. Auch der Bank mußte gleich telephoniert
werden. In diesen Dingen hatte man nun hoffentlich bald ein wenig
Routine. Da hatte er sich einfach hingestellt und seine Augen fest auf
den zu zahlenden Betrag gerichtet, und dann hatte er einfach den Boten
ruhig, ja sogar etwas streng angeschaut. Wie der Mann Respekt bekam!
Leute, die Geld von Tobler haben wollten, mußten in Zukunft noch ganz
anders, noch viel kräftiger, abgefertigt werden. Das war Pflicht, das
gebot das Zartgefühl Herrn Tobler gegenüber. Der Chef durfte jetzt unter
keinen Umständen an diese widerwärtigen Bagatellen erinnert werden. Der
hatte gerade jetzt ganz anderes zu tun, den konnten jetzt nur die großen
Sorgen beschäftigen. Dafür hatte ja Tobler einen Angestellten, damit
dieser womöglich intelligente und geistreiche Kerl ihm die kleinlichen
Unannehmlichkeiten abnahm, sich dicht an der Tür aufstellte, um
ungerufene, steife Akzeptwechselmenschen energisch weiterzubefördern.
Nun, das tat Joseph ja auch. Aber dafür rauchte er jetzt auch wieder
einmal einen von den eben aus dem Dorf herspedierten, neuen
Zigarrenstumpen.

Er ging im Bureauraum auf und ab. Tobler war den Geschäften nachgegangen
und blieb wahrscheinlich heute den ganzen Tag von zu Hause weg. Wenn da
jetzt nur nicht etwa der Herr Johannes Fischer ankam, das würde fatal
sein.

Dieser Johannes Fischer hatte auf die Annonce »Für Kapitalisten« hin
sich schriftlich gemeldet und schrieb, er werde sehr wahrscheinlich
schon in allernächster Zeit einmal in Bärensweil zwecks Besichtigung der
betreffenden Erfindungen vorsprechen.

Welch zarte, beinahe weibliche Handschrift der Mann besaß. Dagegen war
die Schrift Toblers wie mit dem Spazierstock gesetzt. Solche schlank-
und feinschreibenden Menschen machten einen schon zum voraus große
Reichtümer ahnen. So wie dieser Mann schrieben beinahe alle
Kapitalisten: exakt und zugleich etwas nachlässig. Diese Handschrift
entsprach ganz und gar einer vornehmen und leichten Körperhaltung, einem
unmerklichen Kopfnicken, einer ruhigen, sprechenden Handbewegung. Sie
war so langstielig, diese Schrift, eine gewisse Kälte strömte sie aus,
sicher war er das Gegenteil eines heißblütigen Gesellen, der so
schrieb. Diese paar Worte: kurz und artig im Stil. Die Höflichkeit und
Bündigkeit erstreckten sich sogar auf das intime Format des
blitzsauberen Briefpapieres. Auch noch parfümiert trat dieser Herr
Johannes Fischer unbekannterweise auf. Wenn er nur heute nicht kam.
Tobler würde das lebhaft bedauern, ja, es konnte geschehen, daß er, toll
vor Ärger, ganz außer sich käme. Übrigens hatte er den Befehl
zurückgelassen, dem Herrn, wenn er anlangte, alles ordentlich zu zeigen
und auseinanderzusetzen, und ganz besonders eingeschärft hatte er
Joseph, diesen Herrn Fischer unter keinen Umständen wegziehen zu lassen,
sondern ihn so lange aufzuhalten zu suchen, bis Tobler wieder zu Hause
wäre. Womöglich ließ sich ja diesem anscheinend hocheleganten Fremdling
eine Tasse Kaffee anbieten, denn es war noch lange nicht gesagt, daß der
zu nobel für so etwas sei. Solch ein zierliches Gartenhaus, wie Toblers
eins hatten, durfte für jedermann, auch für die höchstgestellte und
erhobene Person, ein Gegenstand ruhigen Betrachtens und Genusses sein.
Dieser Herr Kapitalist mochte also immerhin nur daherzutraben kommen, es
war, glaubte Joseph, genügend gesorgt für ihn.

Aber Joseph war es doch ein wenig bange.

Wie nett es sich übrigens für ihn hier lebte, wenn der Herr Prinzipal
sich außerhalb befand. So ein Prinzipal, er mochte der netteste Mensch
von der Welt sein, blieb doch immer eine Ursache zum fortwährenden
Aufpassen. War er guter Laune, so hatte man beständig Angst, etwas
könnte kommen und die fröhliche Gebieterlaune ins gerade Gegenteil
umschlagen. War er gehässig und bissig, so hatte man die mehr wie saure
Pflicht, sich selber für einen struben Gauner zu halten, weil man sich
unwillkürlich als der elende Veranlasser der schlechten Stimmung ansah.
War er gleichmütig und gesetzt, so blieb die Aufgabe vor, diesem
gleichmäßigen Wesen keinen auch nur fadenscheinig dünnen Schaden
anzutun, damit es sich ja nicht etwa mit einem Ritzchen und Spältchen
verletzt fühle. War der Herr spaßig aufgelegt, so verwandelte man sich
augenblicklich in einen Pudel, da es doch galt, dieses lustige Tier
nachzuahmen und die Witze und Zoten behend aufzuschnappen. War er gütig,
so kam man sich wie ein Elender vor, war er grob, so fühlte man sich
verpflichtet zu lächeln.

Das ganze Haus war ein anderes, wenn der Hausherr nicht da war. Die Frau
schien auch eine ganz andere zu sein, und die Kinder, namentlich die
beiden Knaben, denen sah man das Vergnügen über des strengen Vaters
Abwesenheit von weitem an. Es war etwas Ängstliches fort, wenn Tobler
weg war. Auch etwas allzu Gespanntes und Gewichtiges.

»Bin ich eine solche duckmäuserische Angestelltenseele?« dachte Joseph.
Da kam Silvi, das ältere der kleinen Mädchen, und rief zum Mittagessen.

Nachmittags, Joseph saß gerade beim Kaffee und plauderte mit Frau
Tobler, schritt ein Herr den Garten zum Haus hinauf.

»Gehen Sie ins Bureau, es kommt jemand,« sagte die Frau zum Gehülfen.

Dieser lief eilig weg und konnte nur bis zur Bureau-Eingangstüre
gelangen, als ihm auch schon der Fremde entgegentrat. Ob er die Ehre
habe, Herrn Tobler selber vor sich zu haben, frug mit angenehmer Stimme
der Ankömmling. Nein, sagte Joseph etwas betreten, Herr Tobler sei
leider gerade verreist, er selber sei nur der Angestellte, aber er
bitte, eintreten zu wollen.

Der Herr sagte seinen Namen. »Ah Herr Fischer!« rief Joseph aus. Er
verneigte sich etwas zu fröhlich, etwas zu freudig vor Herrn Johannes
Fischer, und er bemerkte auch sogleich den Fehler, den er gemacht hatte.

Sie traten beide, der Kapitalist voran, in das Zeichenbureau ein, wo
derselbe sogleich nach den technischen Dingen sich zu erkundigen begann,
während er sich mit einer gewissen Überlegenheit nach allen Seiten
umschaute.

Joseph erklärte ihm die Reklame-Uhr. Er holte ein Exemplar derselben in
Natura herbei, legte sie vor die Augen des Gastes auf den Tisch zur
Besichtigung, und schickte sich zu gleicher Zeit an, dem aufmerksam
alles, was ihn umgab, beobachtenden Mann die Gewinnchancen des Werkes
auseinanderzusetzen.

Der Fremde, der mit Interesse zuzuhören schien, fragte, indem er die
Adlerflügel der Uhr betrachtete, ob man sich in der Höhe der
angenommenen Reklamegelder nicht vielleicht, wie das ja in einem solchen
Falle leicht möglich sei, ein wenig verrechne? Und ob bereits
Reklame-Aufträge eingelaufen seien?

Er nahm es ruhig mit seinen Fragen. Und ein bißchen nachdenklich schien
er geworden zu sein, was sich Joseph, vielleicht etwas früh, zu seinen
Gunsten auslegte.

Dieser erwiderte, die Summe dürfte wohl kaum als zu hoch gegriffen
betrachtet werden, im Gegenteil, und Aufträge seien bereits in ganz
erfreulicher Anzahl da.

»Und die Uhr kostet?«

Joseph versuchte auch das dem Herrn Fischer klar zu machen, wobei er ein
ganz klein wenig, er wußte selbst nicht warum, stotterte. In der
Ungewißheit, wie er sich zu benehmen habe, wollte er sich einen
gemütlichen Stumpen anzünden, verwarf aber dieses plötzliche Gelüste als
nicht ganz schicklich. Er errötete.

»Wie ich sehe,« sprach Herr Fischer, »handelt es sich hier um ein
scheinbar ganz vortrefflich geplantes und auch, wie mir scheint, bereits
ganz gut vorbereitetes Unternehmen. Dürfte ich mir erlauben, einige
kleine Notizen zu machen?«

»Aber bitte!«

Joseph hatte eigentlich sagen wollen: bitte recht sehr. Aber Stimme und
Lippe wollten ihm den erforderlichen Dienst nicht leisten. Warum? War er
aufgeregt? Jedenfalls, das spürte er deutlich, war er schon darauf
vorbereitet, zu sagen, dem Herrn dürfte es vielleicht angenehm sein, im
Garten eine Tasse Kaffee zu trinken.

»Meine Frau wartet unten,« bemerkte leicht der andere. Er schrieb
einiges mit Bleistift in ein elegantes Notizbuch. Plötzlich war er
fertig. Joseph hatte den unfeinen Eindruck, als habe es der Kapitalist
mit seinen verständnis-erleichternden Notizen nicht ernst genommen. Er
wollte den Mund auftun, um zu sagen, er könne ja rasch hinunterspringen
und die Dame, die unten wartete, heraufholen.

Herr Fischer sagte, er bedaure, Herrn Tobler persönlich nicht
angetroffen zu haben. Dies sei schade, aber er hoffe, dieses Vergnügen
werde ihm nicht verloren gehen. Jedenfalls danke er verbindlichst für
die erhaltene, liebenswürdige Auskunft. Joseph versuchte zu reden.

»Schade,« nahm wieder der andere das Wort, »ich würde mich äußerst
wahrscheinlich gleich zu etwas Definitivem haben entschließen können.
Die Reklame-Uhr hat mir sehr gut gefallen, und ich bin der Ansicht, daß
sie sich rentieren wird. Wollen Sie die Güte haben, und Ihrem Herrn Chef
eine höfliche Empfehlung von mir ausrichten? Ich danke Ihnen.«

»Man kann ja« -- War das Joseph, der nicht besser sprechen konnte?

Herr Johannes Fischer hatte sich kurz verbeugt und war gegangen. Sollte
man ihm nachspringen? Was ist man in diesem Augenblick? Muß Joseph sich
nun vor die Stirn schlagen? Nein, es scheint, er muß nun ins Gartenhaus
gehen, zu einer gespannt und besorgt wartenden Frau, um derselben zu
sagen, wie »unverantwortlich kopflos« er sich benommen hat.

»Das ist dumm, sehr dumm,« dachte er.

Als er im Garten- oder Kaffeehaus anlangte, war Frau Tobler eben damit
beschäftigt, dem Knaben Walter eine Tracht Prügel zu verabreichen. Sie
weinte und sagte, es sei nicht schön, was sie für Unholde von Kindern
habe. Dadurch wurde es dem Angestellten recht eigentlich trübe ums Herz:
Auf der einen Seite eine weinende und erzürnte Frau, auf der andern
Seite ein ironisch winkender und grüßender Kapitalist, und im
Hintergrund die Ahnung von der Mißbilligung Toblers.

Er setzte sich an den vor zehn Minuten eilig verlassenen Platz und goß
sich noch eine Tasse Kaffee ein. Er dachte: »Warum nicht nehmen, wenn es
doch da ist? Alle Abstinenz der Welt ist jetzt doch nicht imstande, das
herankommende Ungewitter von meinem Kopf abzulenken.« --

»War das dieser Herr Fischer?« fragte die Frau. Sie hatte die Augen
getrocknet und schaute nach der Landstraße hinunter. Dort unten stand in
der Tat noch Herr Fischer. Er und die Dame schienen sich am Anblick des
Toblerschen Besitztums zu ergötzen.

»Ja,« antwortete Joseph, »ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber es
war unmöglich, er sagte, er müsse absolut gehen. Übrigens hat man ja für
alle Fälle seine Adresse.«

Er log! Wie einem die Schwindeleien ruhig zum Mund herauskamen. Nein,
er hatte nicht sein Möglichstes getan, zu versuchen, Herrn Fischer
aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es einfach eine
freche, frivole Lüge.

Frau Tobler sagte bekümmert, das werde ihnen beiden ihr Mann sehr übel
nehmen, sie kenne ihn genau in diesen Stücken.

Sie schwiegen beide eine Weile. Silvi, das Mädchen, saß auf einem
Gartenstein und sang in leisen, dummen Tönen. Frau Tobler befahl ihr zu
schweigen. Wie das heiß war, sonnig, gelblich und bläulich. Der Geldmann
war jetzt nicht mehr zu sehen.

»Sie haben wohl ein wenig Angst?« sagte die Frau und lächelte.

»O wegen der Angst,« entgegnete Joseph trotzig, »das ist das wenigste.
Übrigens kann Herr Tobler mich fortjagen, wenn er will.«

Er solle nicht so sprechen, sagte sie, das sei weder klug noch recht und
müsse eigentlich ein recht schlimmes Licht auf seinen Charakter werfen.
Natürlich habe er jetzt ein wenig Angst, man könne ihm das ja ganz schön
ansehen. Aber er solle sich nur beruhigen, auffressen werde ihn »Karl«
nicht können. Es werde heute abend eben ein gelindes Donnerwetter
absetzen, auf das dürfe Joseph immerhin sich gefaßt machen.

Sie lachte hell und schön auf und fuhr fort zu sprechen.

Sie habe, sagte sie, immer recht gut den Respekt begriffen, den ihr Mann
andern Menschen einzuflößen verstehe. Für Fernerstehende habe er beinahe
etwas Furchtgebietendes, das sei so, und sie spreche jetzt ernsthaft,
und sie verstehe das ausgezeichnet. Nur sie selber habe nicht die
geringste Angst vor Tobler.

»Wirklich?« machte Joseph. Er war ruhiger geworden.

Wirklich nicht, plauderte sie weiter. Sie müsse nicht hell von Verstand
sein, wenn sie sich in dieser Beziehung einer Täuschung hingeben könne.
Sie empfinde die schrecklichsten Wutausbrüche ihres Mannes eher als ein
Lustspiel, als wie eine Tragödie, sie müsse jedesmal, sie wisse selbst
nicht ganz recht warum, laut lachen, wenn er ihr grob begegne. Ihr sei
das nie merkwürdig, sondern immer natürlich an ihr erschienen, aber sie
wisse wohl, daß es Leute gebe, die, wenn sie so etwas sehen, die Augen
und den Mund vor Verwunderung aufreißen, darüber, daß es eine
anscheinend so unselbständige Frau, wie sie eine sei, wage, das Betragen
des Mannes komisch zu finden. Komisch finden? O sie finde es manchmal
gar nicht so komisch, wenn Tobler heimkomme und an ihr alle
aufgesammelten schlechten Eindrücke, die ihm die Welt hinterlassen habe,
auslasse, in solchen Fällen habe sie nötig, Gott zu bitten, ihr die
Kraft zu einem Gelächter zu geben. Man gewöhne sich übrigens nach und
nach ans Gehudelt- und Gescholtenwerden, auch wenn man nur »eine
unselbständige Frau« sei. Auch eine solche Frau denke hin und wieder
ernsthaft über die Dinge der Erde nach, so zum Beispiel denke sie jetzt,
der Tumult, der ihnen beiden heute abend bevorstehe, werde kein
andauernder, sondern, wie es stets mit derartigen Gewittern bestellt
sei, nur ein vorübergehender sein können.

Sie erhob sich. Sie hatte in diesem Augenblick etwas Gelassen-Ironisches
an sich.

Joseph rannte rasch in sein Turmzimmer hinauf. Er hatte das Bedürfnis,
einen Augenblick allein mit sich zu sein. Er wollte sich in aller Eile
ein wenig »zurechtdenken«, aber er fand die passenden und beruhigenden
Gedanken nicht. So trieb es ihn wieder in das Kontor hinunter, aber auch
dort wurde er dieses beschämende Gefühl des Unheimlichen nicht los. Um
es endgültig zu bewältigen, lief er schnurstracks zur Post, obgleich es
noch nicht Zeit dazu war. Das Marschieren mit den Beinen beruhigte und
tröstete ihn, und der Anblick der freundlichen, landschaftlichen Welt
erinnerte ihn an die Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit der Unruhe. Im
Dorf trank er ein Glas Bier, um Humor in den Ton seiner Stimme zu
bekommen, er würde eine gewisse Unempfindlichkeit heute nacht gut
brauchen können, dachte er. Wieder zu Hause angekommen, machte er sich
sogleich dahinter, vermittels eines langen Gummischlauches den Garten zu
spritzen. Das dünne Wasser beschrieb in der Abendluft einen schönen,
hohen Bogen und fiel klatschend auf die Blumen und Gräser und Bäume
herab. Wenn etwas beruhigen konnte, so war es das Spritzen, denn man
empfand während dieser Arbeit eine eigentümlich gemütliche und fest
geschlossene Zugehörigkeit zum Toblerschen Haus. Wer noch kurz vorher so
viel Eifer bewies, den Garten zu pflegen, den konnte man sicherlich
nicht allzuwüst anschimpfen.

Zum Abendessen gab es gebackene Fische. Es war doch einfach unmöglich,
kurz vorher noch gebackene Fische zu essen und dann gleich nachher der
Elendeste der Menschen zu sein. Das vertrug sich nicht recht zusammen.

Wie schön wieder der Abend war. Konnte man an solch einem herrlichen
Abend den Unternehmungen Toblers Verluste beigebracht haben?

Die Magd setzte eine brennende Lampe ins Gartenhaus. Nein, im Licht
einer so hübschen, traulichen Lampe durfte man von Tobler erwarten, daß
er sich den verfehlten Besuch des Herrn Fischer nicht allzu heftig zu
Herzen nähme.

Endlich begehrte Frau Tobler noch, von Joseph in der Schaukelbahn
geschaukelt zu werden. Sie setzte sich auf das Brett und er zog die
Seile an, und die Reitschule setzte sich in schwingende Bewegung. Das
war so schön anzusehen, daß der Gedanke, jetzt werde Tobler kommen und
alle diese Bilder stören, leichtsinnig abgewiesen wurde.

Gegen zehn Uhr hörten Frau Tobler und Joseph Schritte im Kies den Garten
heraufkommen, es waren »die seinen«.

Sonderbar, sowie man Schritte eines Bekannten hört, ist dieser
Näherkommende auch bereits leibhaftig da, sein wirkliches Erscheinen ist
dann nie eine Überraschung mehr, mag er dann ausschauen wie er will.

Tobler war müde und gereizt, aber das war nichts Überraschendes, denn so
pflegte er immer nach Hause zu kommen. Er setzte sich, atmete hörbar
auf, als einem wohlbeleibten Mann hatte ihm das Erklimmen des Hügels
Mühe verursacht, und verlangte seine Pfeifen. Joseph sprang wie besessen
ins Haus hinein, um sogleich das Gewünschte herbeizuholen, glücklich
darüber, seinem Vorgesetzten für eine halbe Minute wenigstens aus dem
Wege zu gehen.

Als er mit den Rauchutensilien zurückkam, hatte sich die Lage der Dinge
bereits verändert. Tobler sah schrecklich aus. Die Frau hatte ihm rasch
alles gesagt. Sie stand jetzt da, unerhört kühn, wie es Joseph erschien,
den Mann ruhig anschauend. Dieser sah aus, wie einer, der nicht fluchen
kann, weil er fühlt, daß er es zu unmäßig täte.

»Also Herr Fischer war da, wie ich höre,« sagte er, »wie haben ihm die
Dinger gefallen?«

»Sehr gut!«

»Die Reklame-Uhr?«

»Ja, die hat ihm besonders gut gefallen. Er sagte, sie scheine ihm ein
ganz ausgezeichnetes Unternehmen zu sein.«

»Haben Sie ihn auch auf den Schützenautomaten aufmerksam gemacht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Herr Fischer hatte so große Eile, seiner Frau wegen, die unten am
Gartentor wartete.«

»Und Sie haben sie warten lassen?«

Joseph schwieg.

»Und ich muß einen solchen Tropf von Angestellten haben,« schrie Tobler,
außerstande, die Wut und den geschäftlichen Jammer, die ihn verzehrten,
länger zurückzuhalten, »ich muß das Unglück haben, von der eigenen Frau
und einem nichtsnutzigen Gehülfen betrogen zu werden. Da soll der Teufel
Geschäfte machen.«

Er würde die Petroleumlampe mit der Faust zerschlagen haben, wenn Frau
Tobler sie nicht glücklicherweise in diesem Moment, bevor die Hand
niedersauste, etwas weiter gerückt hätte.

»Du brauchst dich gar nicht so furchtbar aufzuregen,« rief die Frau,
»und zu sagen, ich betrüge dich, das verbiete ich dir. Sonst weiß ich
dann auch noch, wo Vater und Mutter wohnen. Auch der Joseph verdient
nicht, daß er mit Ausdrücken solcher Art beschimpft werde. Schick ihn
ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach keine
solche Szenen.«

Sie hatte das als »unselbständige Frau« natürlich weinend gesprochen,
aber was sie sprach, das hatte seinen Eindruck durchaus nicht verfehlt,
Tobler war sofort ruhig geworden, das »Gewitter« war am Vorübergehen. Er
fing an, mit Joseph zu ratschlagen, was man tun könne, um sich die
Kapitalien des Herrn Johannes Fischer nicht entgehen zu lassen. Morgen
früh müsse sogleich telefoniert werden.

Im Leben gewisser Handelsleute spielt das Telephon eine große Rolle. Die
kaufmännischen Gewaltstreiche wollen in der Regel telephonisch begonnen
werden.

Schon der bloße Gedanke, daß man ja diesem Herrn Fischer morgen früh
telephonieren könne, machte beider, Toblers und Josephs, Hoffnungen
wieder aufleben. Wie war es denn möglich, daß, wenn man derartige
Hilfsmittel zur Verfügung hatte, das Geschäft zu Schanden gehen konnte?

Und Tobler würde sich unmittelbar nach der drahtlichen Ankündigung in
den Zug setzen und nach der Residenz fahren, um diesem »entflohenen
Vogel« einen persönlichen Besuch abzustatten.

Die Stimme Toblers zitterte noch dunkel, als er schon längst wieder
heiter und vergnügt geworden war, als habe die Aufregung innerlich
weitergebrannt. Alle drei spielten noch bis in die späte Nacht hinein
Karten. Joseph müsse das Kartenspiel auch lernen, hieß es, es sei einer
kein rechter Mann, wenn er dieses Spiel nicht verstehe.

Am nächsten Morgen wurde, wie verabredet, telephoniert. Tobler warf
sich in den Eisenbahnwagen, mit welch zuversichtlicher Miene! Abends war
die Miene eine gedrückte, zornige und traurige. Das Geschäft war nicht
zustande gekommen. Statt der flüssigen Gelder gab es eine neue, bittere
Szene im nächtlichen Gartenhaus. Tobler saß da wie das verhaltene
Ungewitter selber und gefiel sich in unschönen, gotteslästerlichen
Verwünschungen. So sagte er unter anderem, seinetwegen möchte die ganze
Erde in Morast versinken, das käme jetzt alles auf ein und dasselbe
heraus. Er selber wate so wie so in nichts anderem mehr als in einer
Unmasse von Schlamm.

Als er sich sogar dazu verstieg, sich und alles, was ihn umgebe, zum
Teufel in die Hölle zu wünschen, gebot ihm Frau Tobler Mäßigung. Er aber
fuhr sie so grausam hart an, daß es sie, den Kopf voran, auf die
Tischplatte niederstreckte, worauf sie sich hoch aufrichtete und mit
sanft gesetzten Schritten davonging.

»Sie haben Ihrer Frau wehgetan,« wagte Joseph in einem Anflug von
weltmännischer Ritterlichkeit zu sagen.

»Ach was wehgetan! Da ist eine kleine Welt verletzt,« erwiderte Tobler.

Dann skizzierten sie beide zusammen eine neue Annonce für die täglich
erscheinenden Weltblätter. In dem Inserat kamen Worte vor wie:
»Glänzendes Unternehmen«, »Höchster Gewinn bei absoluter
Risikolosigkeit«. Das würde man gleich andern Tages in die
Annoncenexpedition schicken.

                   *       *       *       *       *

Es wurde wieder Sonntag und Joseph bekam wieder fünf Mark in die Tasche.
Er genoß wieder den Vorzug, nach Belieben im Zeichenzimmer antreten zu
dürfen. Gerade das hatte entschieden etwas Poetisches. Heute würde es
wieder ein feines Essen geben, vielleicht einen Kalbsbraten, schön
gelblich und bräunlich, mit Blumenkohl aus dem Garten, und dann
vielleicht Apfelmus, das hier oben so wundervoll schmeckte. Auch die
bessere Zigarre wurde ihm verabreicht. Was doch Tobler für eine Manier
besaß, zu lachen und einen spöttisch von oben herab anzusehen, sobald es
sich darum handelte, Zigarren zu verabreichen. Gerade, als ob Joseph ein
Schlossermeister gewesen wäre, zu dem man sagt: »Da. Nehmen Sie. Sie
rauchen gewiß auch ganz gern einmal eine bessere Zigarre.« Als ob Joseph
soeben mit Gitteranstreichen oder Türschloßausbessern fertig geworden
wäre, oder als ob er soeben einen Baum gestutzt hätte. Das war die Art,
wie man einem tüchtigen Gärtner eine Zigarre gibt. War denn etwa Joseph
nicht Toblers »rechte Hand«, und durfte man glauben, man zeichnete eine
solche rechte Hand gebührend aus, indem man ihr Sonntags etwas Besseres
zu rauchen darbot?

Er blieb etwas länger im Bett heute, er öffnete die Fenster und ließ
sich im Bett von der weißlichen Morgensonne anscheinen und anblenden,
was eben auch genossen sein wollte, so gut wie verschiedenes anderes
auch, wie zum Beispiel der Gedanke an das Frühstück. Wie war heute alles
sonnig und sonntäglich. Das Sonnige und das Sonntägliche schienen von
weit her schon Brüderschaft miteinander geschlossen zu haben, und der
innige Gedanke ans ruhige Frühstück, ja, der war auch aus so etwas
Sonnigem und Sonntäglichem gewoben, das spürte man jetzt deutlich. Wie
wäre es möglich gewesen, heute etwa verdrießlich zu sein, oder gar
mißgestimmt, oder gar melancholisch. Es war etwas Geheimnisvolles in
allem, in jedem Gedanken, an den eigenen Beinen, an den Kleidern auf dem
Stuhl, am Schrank, zwischen den blendend sauber gewaschenen Gardinen, an
der Waschkommode, aber dieses Geheimnisvolle war nicht beunruhigend, im
Gegenteil, es ruhete und lächelte und friedelte einen förmlich an.
Eigentlich war man gedankenlos, und man wußte gar nicht warum, aber man
schien zwingende Ursache dazu zu haben. In und an der Gedankenlosigkeit
lag so viel Sonne, und wo Sonne war, da dachte Joseph unwillkürlich an
köstlich gedeckte Frühstückstische. Ja, mit dem einfachen Gedanken fing
dieses dumme aber beinahe süße Sonntägliche schon an.

Er stund vom Bett auf, kleidete sich besser als sonst an und trat auf
die viereckige Plattform, die ihm zur Verfügung stand, hinaus. Von hier
sah man auf die Kronen der im Nachbarobstgarten gelegenen Bäume hinüber.
Wie ruhig und blendend sonnig hier alles aussah. Pauline, die Magd,
deckte den Morgentisch draußen an der freien Luft. Diesem Anblick konnte
der Gehülfe nicht länger widerstehen, es riß ihn hinunter zu Kaffee,
Brot, Butter und Eingemachtem.

Später ging er ins Bureau hinunter. Es war ja nicht viel zu machen da
unten, aber er setzte sich trotzdem, angezogen von einem beinahe
lieblichen Gewohnheitsgefühl, an den Schreibtisch, der wie ein
Küchentisch aussah, und korrespondierte. Ach, es war heute das reine
Tändeln mit der sonst so ernsthaften Feder. Das Wort »telephonische
Unterredung« erschien ihm ebenso sonntäglich geputzt wie das Wetter und
die Welt draußen. Die Redewendung »und gestatte ich mir« war blau wie
der See zu Füßen der Villa Tobler, und das »hochachtungsvoll« am Schluß
des Schreibens schien nach Kaffee, Sonne und Kirschenmarmelade zu
duften.

Er trat zur Bureautür in den Garten hinaus. Das war ja auch sonntäglich,
daß man sich gestatten durfte, mir nichts dir nichts die Arbeit zu
unterbrechen, um rasch den Garten ein bißchen inspizieren zu gehen. Wie
das duftete, wie heiß es schon war, trotz der noch frühen Morgenstunde.
Da würde man vielleicht in einer halben Stunde baden gehen, so »genau
kam es sicher nicht darauf an«. Ja heute durfte man diese Worte Tobler
ruhig ins Gesicht hineinsagen, er würde ganz derselben Meinung wie
Joseph sein. Das »Nichtdaraufankommen«, das war schließlich der ganze
Unterschied zwischen einem Sonntag und einem Werktag. Wie der ganze
Garten verzaubert dalag, verzaubert von Hitze, Bienensummen und
Blumenduften. Heute abend würde man den Garten auch wieder einmal recht
tüchtig spritzen müssen.

Joseph kam sich wie das Ideal eines Angestellten vor, indem er das
dachte. Er trug jetzt die Glaskugel ans Freie hinaus.

Da kam ihm Tobler, mit einem wahrhaft noblen neuen Anzug bekleidet,
entgegen und erklärte ihm, daß er heute mit Frau und Kindern ausreisen
wolle. Man könne nicht immer zu Hause sitzen, und der Frau müsse man
auch einmal eine Freude gönnen. Was Joseph beträfe, so werde der
wahrscheinlich, wie Tobler denke, nach der Stadt fahren, um seine
dortigen Freunde aufzusuchen.

»Das laß du nur einstweilen meine Sache sein, das mit den Freunden,« gab
Joseph dem Herrn im stillen als stumme Antwort zurück. Laut sagte er,
nein, er wolle heute da bleiben, es passe ihm besser so.

»Das können Sie meinetwegen halten, wie Sie wollen,« sprach Herr Tobler.
Ungefähr nach einer halben Stunde stand die kleine Ausflugsgesellschaft,
bestehend aus den beiden Ehehälften Tobler, den beiden Knaben, dem
Fräulein aus der Nachbarschaft und der kleinen Dora, reisefertig vor dem
Haus, um dem an einem ziemlich weit entfernten Ort stattfindenden
kantonalen Sängerfest einen halbtägigen Besuch abzustatten. Frau Tobler
hatte ein schwarzseidenes Kleid an und sah beinahe imponierend darin
aus. Sie empfahl Pauline Obacht über das Haus an, und zu Joseph sagte
sie in gemütlichem Ton, er möge ebenfalls ein bißchen aufpassen auf
alles, was um das Haus herum vorgehe, da er doch, wie sie gehört habe,
zu Hause bleiben wolle.

Endlich begab man sich fort unter dem Geheul des an der Kette
festgebundenen Hundes, den es bitter zu verdrießen schien, allein
zurückbleiben zu müssen. Neben Joseph kauerte die Silvi, das
Schwesterchen der Dora, am Boden. Dieses Mädchen schien sich nicht im
geringsten über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, zu grämen.
Darin, daß allein sie von den vier Kindern dagelassen wurde, erblickte
sie etwas Alltägliches. In der Tat war sie längst an allerlei
Zurücksetzungen gewöhnt, derart, daß ihr beinahe schon alles Empfinden
dafür abhanden gekommen war.

»Viel Vergnügen zu Hause, Marti,« hatte Tobler zu Joseph noch gesagt.

»Ja viel Vergnügen! Sorgen Sie gefälligst für Ihr Vergnügen, Herr
Ingenieur Tobler,« dachte Joseph ein wenig bitter, als er es sich, mit
einem Buch in der Hand, auf dem Bett, das er halb abdeckte, oben in
seinem Lustgemach, bequem gemacht hatte:

»Da gehen sie, diese merkwürdigen Herrschaften Tobler, mitsamt dem
sauren Engel aus der Parkettfabrik, auf vergnügliche Sängerfahrten, und
die kleine Silvi lassen sie zu Hause wie ein widerwärtiges Häuflein
Unrat. Diese Silvi ist nur so ein kleines Hudelchen, für das das schöne
Sonntagswetter zu schade ist. Die schöne Frau Tobler mag das Mädchen
nicht ausstehen, es ist ihr zu wenig schön, da muß es eben zu Hause
sitzen. Und dieser Herr Unternehmer! Vor drei Tagen noch haben ihn die
Wut und das Gefühl der Enttäuschung von links nach rechts und im Kreis
herum geschüttelt, daß es ein Jammer gewesen ist, und heute sagt er zu
mir, er wünsche mir viel Vergnügen, und ich solle in die Stadt zu
Bekannten und Freunden fahren. Er fürchtet, ich würde mit Pauline,
seiner Dienstmagd, anbandeln, das ist alles.«

Er gestand sich, daß er zu bitter sei und zwang sich zur Lektüre des
Buches. Da ihm aber dies nicht gelingen wollte, legte er das Buch
beiseite, trat an den Tisch heran, nahm seine private Feder zur Hand und
einen Streifen Papier und schrieb folgendes darauf:

                                 Memoiren.

    Ich habe soeben gehässige Gedanken hegen wollen, aber ich verbiete
    mir das. Dann habe ich lesen wollen, aber ich bin dazu nicht
    imstande gewesen, der Inhalt des Buches hat mich nicht ergriffen,
    da habe ich das Buch weggelegt, denn es ist mir unmöglich zu lesen,
    ohne begeistert von der Lektüre zu sein. So sitze ich nun an diesem
    Tisch und beschäftige mich mit der eigenen Person, da ich niemanden
    auf der Welt besitze, der begehrt, von mir irgendwelche Nachrichten
    zu erhalten. Wie lange habe ich nun schon keinen warmen Brief
    geschrieben? Jener Brief an die Frau Weiß gibt mir deutlich zu
    verstehen, wie es mich aus dem Kreis nahestehender und teilnehmender
    Menschen herausgeschüttelt und -gerüttelt hat, wie sehr mir Menschen
    fehlen, die aus natürlichen Gründen ein billiges Recht haben, von
    mir Auskunft über mein Wesen und Treiben zu fordern. Jener Brief ist
    mit einem ersonnenen und erdichteten Gefühl geschrieben worden, er
    ist wahr, aber er ist zugleich eine Erfindung gewesen, herauserfunden
    aus einem Geist, der erschreckt ist, darüber, daß ihm einfachere und
    näherliegende Beziehungen vollständig mangeln. Bin ich ruhig jetzt?
    Ja. Und ich sage zu der mittäglichen Stille, was ich jetzt sage.
    Rund um mich herrscht sonntägliche Ruhe, schade, daß ich das nicht
    irgend einem Menschen von Gewicht mitteilen kann, denn das wäre ein
    ganz hübscher Briefanfang. Doch jetzt will ich mein Wesen ein
    bißchen beschreiben.

Joseph hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort zu schreiben:

    Ich komme aus gutem Hause, aber ich glaube, ich habe eine etwas zu
    flüchtige Erziehung genossen. Ich will mit diesen Worten keineswegs
    meinen Vater oder meine Mutter anklagen, behüte Gott im Himmel,
    sondern ich will nur versuchen, ob ich mir klar darüber werden kann,
    was mit meiner Person eigentlich los ist und mit dem Umkreis von
    Welt, der die Mühe gehabt hat, mich zu ertragen. Die Verhältnisse,
    in denen ein Kind aufwächst, erziehen dasselbe großenteils. Die
    ganze Gegend und Gemeinde helfen mit, es zu erziehen. Das elterliche
    Wort und die Schule sind freilich die Hauptsache, aber was ist das
    für eine Art und Weise, mich hier mit meiner eigenen, werten Person
    zu befassen, ich gehe lieber baden.

Der zum Tagebuchschreiben so wenig taugliche Gehülfe legte die Feder
beiseite, zerriß das Geschriebene und verließ das Zimmer.

Nach dem Bad gab es ein Mittagessen mit Pauline und Silvi. Die ziemlich
roh fühlende Magd suchte unter beständigem Gelächter, das bei Joseph
bezüglich ihres Betragens Zustimmung voraussetzte, dem Kind Manieren
beizubringen, während sie doch selber kaum solche besaß. Das eitle und
herzlose Bemühen gipfelte in dem mehrere Male wiederholten Vormachen
und Einexerzieren der Führung von Messer und Gabel, wobei irgendwelcher
Erfolg des Unterrichtes gar nicht erwartet, ja nicht einmal gewünscht
wurde, da ja sonst das Vergnügen des barschen und belustigenden
Einstudierens vorbei gewesen wäre. Das Kind saß da und schaute mit
großen, tatsächlich dummen Augen bald seine Lehrmeisterin, bald den
gleichmütig zuschauenden Joseph an und verschüttete in ziemlich
garstiger Weise ihr Essen, worüber sich Pauline in einem erneuten und
übertriebenen Entrüstungswortesturm berauschte, der für Silvi ernst,
aber für Joseph komisch wirken sollte, gleichsam, um zwei
entgegengesetzte Welt- und Lebensanschauungen mit einem Streich zu
befriedigen. Silvi benahm sich so läppisch, daß es die Dienstmagd, der
seitens der Mutter des Kindes beinahe unbeschränkte Herrschaft über das
kleine Wesen zuerteilt worden war, für passend fand oder für nötig
erachtete, den Tunichtgut ohne Umstände zu ohrfeigen und an den Haaren
zu schütteln, so daß Silvi laut aufschrie, nicht vielleicht so sehr des
körperlichen Schmerzes wegen, der übrigens gar so geringfügig auch nicht
war, als wegen eines letzten Stümpchen Stolzes, verletzten, erniedrigten
Kinderstolzes, sich derart von einer fremden Person, wie die Pauline
eine war, malträtieren lassen zu müssen. Joseph schwieg dazu. Angesichts
des kindlichen Zornes und Schmerzes spielte die Magd handkehrum die
ernstlich Gekränkte und Beleidigte; das kam daher, weil Joseph gar nicht
lachen wollte, was sie ganz unbegreiflich fand, und auch daher, weil
Silvi nicht ruhig sich hatte schlagen lassen, was sie in ihrer
Gedankenlosigkeit und Roheit als selbstverständlich vorausgesetzt hatte.
»Ich will dich schreien lehren, du Unflat,« rief sie, oder krächzte sie
vielmehr, und nahm das Kind, das von seinem Platz weggelaufen war, und
stellte es wieder auf seinen Stuhl, wobei das Geschöpfchen hart an die
Rücklehne desselben anprallte. Silvi mußte Gabel und Messer von neuem,
und zwar ordentlich, wie ihr die Lehrerin und Erzieherin durch einen
strengen und spitzen Zuruf befahl, in das Händchen nehmen, um die
wehmütige und appetitlose Mahlzeit gezwungenermaßen zu beenden. Sie sah
infolge der verweinten Augen für Pauline noch viel dümmer und ungerader
als vorher aus, und da lachte denn das Muster aller Erziehungsmethoden
der Welt laut auf. Der Anblick der traurig essenden Silvi mußte auf ihre
Lachmuskeln geradezu erschütternd wirken. Der Humor war also wieder da.
Ein schamloses Mundwerk ist nie zu verachten, und so frug denn mit
breiter Stirn, auf der sich bäuerlich-beschränktes Erstaunen deutlich
abmalte, Pauline den still dasitzenden Joseph, ob er etwa böse sei, oder
was er sonst habe, daß er gar kein Wort rede? Die Dreistigkeit und
Stiernackigkeit dieser mutwilligen Frage machten, zu einem
unerträglichen Eindruck vereint, denselben heftig erröten. Er hätte
seine Tischnachbarin tätlich angreifen müssen, wenn er es hätte
unternehmen wollen, sie von dem Gefühl, das ihn beherrschte, zu
überzeugen. So murmelte er nur etwas und stand vom Tisch auf, welches
Benehmen die Magd in dem Instinkt bestärkte, der ihr weis machte, Joseph
sei in allem ein sehr wenig verträglicher und vertraulicher Mensch, der
es sicherlich darauf müsse abgesehen haben, sie zu kränken und unwirsch
zu machen. Diese neue boshafte Empfindung bekam Silvi sogleich zu
kosten, indem ihr befohlen wurde, den Tisch abzuräumen, eine Arbeit, der
sich Pauline eigentlich selber zu unterziehen gehabt hätte. Das Kind,
eifrig bemüht, dem Befehl der Tyrannin und Unterdrückerin nachzukommen,
stellte sich jeweilen, wenn es etwas vom Tisch herunter zu nehmen hatte,
auf die Zehen der kleinen Füße, erfaßte mit beiden Händen je eine
Schüssel, einen Teller oder ein paar Bestecke und trug so Stück für
Stück demütig und sorgsam, und den Küchenwüterich stets anschauend, an
den Platz hinaus, wo die Sachen gereinigt werden mußten. Es tat dies so,
als trüge es in den Ärmchen und Händchen jedesmal eine kleine, dornige,
feuchte Krone, die von den eigenen Augen schimmernd naß geweinte Krone
des frühen und unabänderlichen Kinderleides.

Joseph ging in den Wald hinauf. Der Weg dahin war sehr hübsch und sehr
still. Natürlich war er, während er so ging, von Gedanken an die kleine,
verhutzelte und verschuggte Silvi in Anspruch genommen. Pauline kam ihm
wie ein gefräßiger Raubvogel vor und Silvi wie die Maus, die sich unter
den Krallen des grausamen Tieres befand. Wie konnte Frau Tobler ihr
zartes Töchterchen diesem Drachen von Dienstmagd ausliefern? Aber war
denn Silvi so zart und die Magd so sehr ein Drache? Vielleicht war alles
das gar nicht so schlimm. Man würde da leicht zu Übertreibungen neigen,
wollte man von der einen Seite sofort das Teuflischste, was es in der
Welt gab, annehmen, und vom andern Teil das Lieblichste und Beste. Der
»Unflat« Silvi war ja schon ein wenig ein solcher, aber Pauline war
Pauline. Joseph erschien es undenkbar, im stillen etwas Günstiges von
Pauline aussagen zu dürfen, als höchstens etwa, daß ihr Vater ein
ehrlicher Bahnwärter und Landmann sei. Aber was hatte das Bahnwärterhaus
mit dem brutalen Vergnügen an der Kindermißhandlung zu tun? Möglich war
es ja, daß der Vater der Pauline ein halber, wütender Stier sein konnte,
was wußte man denn Genaues! Aber diese feine, beinahe aristokratische
Toblerdame, diese Mutter, diese aus echt bürgerlichen Kreisen
herstammende Frau, die das zarte Empfinden mit der Muttermilch einsog,
diese Kluge, in mancher Hinsicht sogar Schöne, was war es mit der? Was
hatte die für Ursache, das Kind zu verstoßen und zu verschuggen? Joseph
freute sich an diesem kuriosen Wort: »verschuggen«, er fand es für die
Eigentümlichkeit, die es benannte, so kennzeichnend. »Verstoßen«, das
erinnerte ein wenig an die Märchenbücher, aber »verschuggen« konnte man
heute noch so gut arme, kleine, wehrlose Kinder wie vor aberhunderten
von Jahren. Solches gelang ja sogar in einer Villa Tobler, dem Ort, wo
zwei Feen sich so gern aufhielten, nach Toblers eigener Redensart, der
Anstand (es muß anständig zugehen bei mir) und die Säuberlichkeit (potz
tausend, mehr Ordnung, haben Sie gehört). Konnten zwei so reizende Feen
etwas so Unsauberes und in der Tat Unanständiges, wie es die
fortwährende Demütigung eines kindlichen Gemütes war, in ihrem Beisein
dulden, war das möglich? Wie es schien, ja! Es war eben allerlei
möglich, in dieser Welt, wenn man sich die Mühe und Liebe nahm, auf
einem Wiesenspaziergang ein bißchen darüber nachzudenken.

Joseph begegnete fast gar keinen Leuten. Ein paar Bauern standen am Weg.
Zu beiden Seiten desselben streckten sich üppige Wiesen aus, von
hunderten von Fruchtbäumen besetzt. Es war alles so eng und zugleich so
weit und so grün. Bald langte er im Wald an, er entdeckte nach kurzer
Zeit des Umherlaufens eine kleine, enge, von einem Wasser durchzogene
Waldschlucht und machte es sich im Moos bequem, indem er sich einfach
auf den weichen Boden hinfallen ließ. Der Bach murmelte so artig, durch
die Blätter der hohen Buchen blitzte die Sonne, so bekannt, so wohlig,
und das saftige Grün umwob die Schlucht wie mit feinen, süßen Schleiern.
Hier wäre für eine romantische Geschichte ein schöner, passender
Schauplatz gewesen. Von irgend woher aus den umliegenden Hochebenen
ertönten Schüsse, da war wohl in ziemlicher Nähe ein Schießstand. Wie
still sonst! Kein Lüftchen konnte in diese grüne, verborgene Welt
hineindringen. Die Bäume hätten vorher umfallen müssen, aber es waren
hohe und alte, die hielten einem Unwetter, ja zehn Unwettern stand, und
heute sah es da oberhalb der Schlucht nicht nach Winden und Wettern aus.
Irgend ein Ritterfräulein in Samtrock und ledernen Handschuhen, das
weiße Roß an der Leine führend, das reiche, goldene Haar ungebunden
tragend, hätte jetzt daherkommen können, Joseph würde sich nicht
allzusehr über den Auftritt gewundert haben. So sah es hier aus, ganz
nach ritterlichen und frauenhaften Begebenheiten. Aber was konnte viel
Schönes und Ritterliches in der Nähe der Villa Tobler vorkommen? Etwa
gar die Pauline, oder Tobler selber als abenteuerlustiger und ebenso
gekleideter Unternehmer? Unternehmungen, ja, die gab es in Hülle und
Fülle, kein Zweifel, aber was für welche? Was hatten technische
Unternehmungen mit grünen Waldschluchten, weißen Rössern, edlen, lieben
Frauengestalten und mit mutigen Taten zu tun? Ritten in früheren
Jahrhunderten die Ritter und Unternehmer auch auf der »Reklame-Uhr« und
auf dem »Schützenautomaten«, oder auf ähnlichen Gäulen herum? Gab es
damals auch schon »verschuggte« Kinder, Ecepecen Silvi? O ja, aber eben,
man nannte sie »Verstoßene«, und heute nannte sie da so einer, der
zwischen dem herrlichsten Grün im Moose lag, »Verschuggte«.

Er lachte. O es war so schön hier. Im Wald ist die Stille eine doppelte.
Ein weiter Ring von Bäumen und Gesträuchen bildet die erste Stille, und
die zweite, noch schönere, ist der eigene erwählte Platz. So wie der
Bach murmelte, glaubte man sich schon in lange, kühle Träumereien
verstrickt, und so wie man ins Grün hinaufschaute, befand man sich
mitten in silbernen und goldenen und guten Weltanschauungen. Die selber
erdachten, einem fernen und nahen Bekanntenkreis entnommenen Personen
flüsterten leise, sie sagten etwas, oder sie machten bloß Mienen,
während die Augen eine tief innerliche Sprache für sich redeten. Die
Gefühle traten nackt und mutig auf, und das Feinstempfundene traf ein
verborgenes, sehnsuchtsvolles Verständnis an. Die Lippen und Gedanken,
ohne der Zeiträume und Lebensstraßen zu bedürfen, küßten sich, wenn sie
sich erkannt hatten; auf den Lippen sah man die Freude hochaufbrennen,
und aus den Gedanken heraus sang eine zu Bach, Busch und Waldstille
passende, freundliche Wehmut. Man brauchte nur zu denken, es werde bald
Abend werden, und so schienen auch schon alle bekannten und unbekannten
Landschaften im Abendlicht zu schwimmen. Der Wald über dem Kopf des
Träumers hob und senkte und wiegte sich leise und tanzte in dem
hinaufgerichteten Auge, und für das Auge war das Mittanzen keine Frage.
Wie schön ist es hier, sagte Joseph mehrmals still für sich. Plötzlich
hatte er eine lebhafte Erinnerung aus dem Kindheitleben.

Damals, in der Jugendzeit, gab es auch so eine Art Schlucht, aber
eigentlich war es mehr eine Sandsteingrube, aber eine so seltsame und
zierliche, wie er später nie wieder eine gesehen hatte. Diese rundliche
Grube befand sich am Rand eines ausgedehnten Buchen- und Tannen- und
Eichenwaldes, er und seine Geschwister entdeckten sie eines Tages auf
einem hin und herstreifenden Nachmittagsspaziergang. Es war auch an
einem Sommersonntag, vielleicht war es auch schon ein wenig gegen den
Herbst zu. Die Kinder waren vorausgesprungen, Spiele erfindend und
betreibend, hinterher kamen die Eltern. Die neuaufgefundene Grube erwies
sich als der herrlichste Spielplatz, man beschloß, dazubleiben und die
Eltern hier zu erwarten. Diese kamen an, und auch sie fanden den Ort
reizend, es gibt Naturpunkte, die einfach berücken, so dieser. Die
Ränder der Grube waren von einem wahren, kaum durchdringbaren
Baumdickicht bewachsen, so daß es eigentlich nur neugierigen Kindern
aufbewahrt bleiben konnte, den Ort ausfindig zu machen. Freilich befand
sich an einer Stelle eine breitere Öffnung zum bequemen Durchschreiten.
Mutter setzte sich auf ein Rasenbord und lehnte sich mit dem Rücken an
eine Tanne an. Es gab da mitten in der Grube eine kleine Erhöhung
natürlichen Ursprunges, die, da sie so hübsch mit jungen Bäumen besetzt
war, von selbst zum Sitzen und Liegen einlud. Wem hätte das nicht
gefallen müssen? Der Ort, wie er dalag, schien von einer sinnigen
Naturschwärmerhand geschaffen worden zu sein, aber nein, die Natur
selber, so unbekümmert sie sonst ist, war hier gleichsam so zartfühlend
gewesen, indem sie die Traulichkeit und Geschlossenheit selber erschuf.
Rund um die kleine Erhöhung streckte und rundete sich eine Spielbahn,
eine Waldwiese, bewachsen von den wunderlichsten Gräsern, Kräutern und
wilden Blumen, die einen berauschenden, romantischen Duft verbreiteten.
Von der übrigen Welt sah man nichts als ein Stück Himmel, das die hohen
Bäume am Rand der Grube gesetzmäßig den Blicken abschnitten. Das Ganze
glich einem Plätzchen in einem weitläufigen, herrschaftlichen Garten,
nicht einer zufälligen Waldstelle. Die Eltern schauten schweigsam dem
Treiben der Kinder zu, die sich, eines das andere, die steilansteigende
Sandwelle der Grube hinauf und hinabjagten, wobei gelacht und geschrieen
wurde. Diese frühen Stimmen. Wie man nur so wild sein konnte. Die
Kinder waren alle darüber erfreut, daß es der Mutter hier gefiel, daß
sie ruhig sitzen bleiben durfte, umweht von den Annehmlichkeiten eines
so hübschen Ruheplatzes. Sie kannten die Wünsche und Bedürfnisse des
Muttergemütes. Bald schien denn auch der ganze Ort erfüllt zu sein von
diesem freundlichen, gedankenvollen Gefallen und von dem kindlichen
Meinen, Glauben und Hoffen, das Richtige getroffen zu haben. Ein
sonderbarer Gemütszauber machte die lebhaften Spiele noch um ein
Bedeutendes beliebter und stürmischer. Man durfte sich jetzt, da die
Mutter zufrieden zu sein schien, schon ein wenig Ausgelassenheit über
das gewöhnliche Maß erlauben. Wie es in fast jedem bürgerlichen
Familienhaus irgend eine bedrückende Misere gibt: hier war sie
vollständig neben die Seite gestellt worden, ja, die Welt schien man
vergessen zu haben. Die Kinder schauten von Zeit zu Zeit auf die Mutter,
ob sie böse war oder nicht, nein, sie schaute gütig und im übrigen
gemessen gradaus. Das war ein gutes Zeichen, und der kleine Grashügel
selbst schien von da an Empfindung bekommen zu haben. »Sie ist gut
aufgelegt,« flüsterten den Kindern die Blätter der rauschenden Bäume zu.
Wenn die Mutter lächeln konnte, was eine so große Seltenheit war, dann
lächelte ihnen die ganze umliegende Welt zu. Mutter war schon damals
krank, sie litt an übergroßer Empfindlichkeit. Wie süß kam nun den
Kindern das ruhige Daliegen der Frau vor, an der das Unglück herumnagte.
Das Unglück schien von diesem traulichen Winkel verbannt zu sein, und so
lispelte und flüsterte denn eine Freude in jedem Grashalm der kleinen,
weltentrückten Waldwiese und ein freundlicher Glauben in jeder
Tannennadel. Im Schoß der Mutter lagen ein paar Feldblumen, und der
Sonnenschirm lag neben ihr, den Händen war irgend ein Buch entglitten.
Das Gesicht, das die Kinder fürchteten, sah so friedlich aus. Da durfte
man schon toben und schreien und Übermütigkeiten einfädeln. Jeder Zug
des Gesichtes sagte: »Ja tobt nur, es geht jetzt. Tobt euch nur aus, es
macht nichts.« Und der ganze liebliche Ort schien sich gesellig und
stürmisch mit im Kreise des Spieles zu drehen. -- »Das war eine Grube
gewesen, und hier ist nur eine Waldschlucht, und das Haus Tobler ist in
der Nähe, und es ist eine unverzeihliche Sünde, zu träumen, wenn der
Mensch das dreiundzwanzigste Jahr überschritten hat.«

Joseph machte sich auf den Heimweg.

                   *       *       *       *       *

Das Haus Tobler, wie steht es da, fest und zugleich zierlich, als werde
es von lauter Anmut und Lebensgenügsamkeit bewohnt! Solch ein Haus ist
nicht leicht umzuwerfen; fleißige, geschickte Hände haben es dauerhaft
zusammengefügt, mit Mörtel, Balken und Ziegelsteinen. Ein Seewind weht
es nicht um, selbst ein Orkan nicht einmal. Was können ein paar
geschäftliche Verfehlungen solch einem Haus schaden?

Nun besteht ja allerdings ein Haus aus zwei Seiten, aus einer sichtbaren
und einer unsichtbaren, aus einem äußeren Gefüge und aus einem inneren
Halt, und der innere Bau ist vielleicht ebenso wichtig, ja, manchmal
vielleicht noch wichtiger zum Tragen und Stützen des Ganzen, wie der
äußere. Was nützt es, wenn ein Haus schmuck und gefällig steht, wenn die
Menschen, die es bewohnen, es nicht zu stützen und zu ertragen vermögen?
Da sind allerdings die geschäftlichen und ökonomischen Fehler von großer
Bedeutung.

Item, das Haus Tobler besteht noch, trotzdem Herr Johannes Fischer seine
geldspendende Hand jählings zurückgezogen hat. Gibt es nur einen
einzigen darlehnfähigen Menschen auf der Welt? Wenn so, dann mußte ja
Tobler den Mut wirklich verlieren. Wie kommt er aber dann gerade jetzt
dazu, sich im Garten eine Grotte bauen zu lassen? Es scheint halt doch,
der Mann hat noch nicht das mindeste verloren, sonst dächte er wohl
kaum an solche Bauereien.

Unten auf der Landstraße stehen öfters Menschen still, biegen den Kopf
zur Höhe und schauen sich die Villa gemächlich an, und man gewinnt, wenn
man von oben herabschaut, den Eindruck, daß diese zufälligen Beobachter
über den Anblick erfreut sind. Wer sollte auch nicht erfreut sein beim
Anschauen eines so reizend gelegenen Hauses? Schon allein der kupferne
Turm ist ja allen Interesses wert. Der Turm hat ja auch genug Geld
gekostet. Auf die Idee, daß die diesbezügliche Rechnung oben im Bureau
im Fach der unbezahlten Rechnungen liegt, wird nicht so leicht jemand,
der in den Anblick des Hauses versunken ist, verfallen, dazu machen Haus
und Garten einen viel zu wohlhabenden Eindruck.

Der Verwalter der Bank von Bärenswil ist ja gewiß schon ein wenig
nachdenklich geworden, darüber, daß es im Hause Tobler Sitte sei, die
zur Zahlung präsentierten Wechsel unter dem Gesuch, dieselben
prolongieren zu lassen, zurückzuweisen. Aber er hütet sich, die Gedanken
des Mißtrauens und der Besorgnis, die er leise zu hegen angefangen hat,
laut zu äußern. Es kann alles nur eine vorübergehende Krisis sein, und
ein Bankverwalter ist in der Regel kein Waschweib, sondern ein mit sich
selbst strenger Mann, der weiß, was vorlaute Bemerkungen einem
strebenden und mit der Existenz ringenden Geschäftsmann für Unheil
anrichten können. Man ist ein wenig stutzig geworden, runzelt in seinem
Direktionszimmer leicht die Stirn, macht mit der Hand eine kleine Geste,
aber man schweigt, denn man dient dem Handel und dem industriellen
Verkehr der aufblühenden Ortschaft, und Herr Tobler rechnet auch dazu,
obschon es, wie es scheint, in letzter Zeit da oben auf dem Hügel zum
Abendstern ein bißchen bergab geht. Die Banken und Sparkassen haben
gewöhnlich einen feinen, zugekniffenen Mund, und solche Lippen reden
erst dann, wenn die Gewißheit der endgültigen Zahlungsunfähigkeit
buchstäblich vorhanden ist. Da kann Tobler also noch ins Fäustchen
lachen und froh sein. Das Geheimnis seiner schwierigen Lage ruht in der
Sparbank von Bärenswil wie in einem wohlverschlossenen Grabe.

Wer noch Lust hat, mit Frau und Kindern rauschende Sänger- oder
Turnerfestlichkeiten mitzumachen, der wird wohl noch im geheimen irgend
eine Kreditquelle liegen und fließen haben, die er eben nur deshalb noch
nicht auftut, weil er diese letzte aller Hülfsbewegungen bis jetzt noch
nicht nötig gehabt hat. Wer eine solche stattliche Frau hat, die, wenn
sie durchs Dorf geht, von allen Seiten fröhlich gegrüßt wird, mit dem
wird es sicher noch nicht so schlimm stehen.

Und es stand ja auch gar nicht so schlimm. Geld konnte über Nacht in das
technische Bureau hinabregnen, inseriert war worden, man brauchte
vorläufig nur Geduld zu haben, die Erfolge mußten sich ja einstellen.
Welcher reiche und unternehmende Mann konnte einer Annonce widerstehen,
die mit den Worten begann: »Glänzendes Unternehmen«? Und wenn einer
einmal so weit gekommen war und angebissen hatte, würde man ihn schon zu
halten verstehen. Man würde es nicht so machen wie mit dem Herrn
Fischer, der ja übrigens, wenn man sich die Sache recht überlegte,
vielleicht gar nicht gesonnen gewesen war, Ernst zu machen, und der
daher eigentlich auch gar nicht verdient habe, daß man ihn so ernst
nahm.

War die Reklame-Uhr etwa plötzlich ins Wasser gefallen? I woher. Im
Gegenteil, heller und schimmernder als je prangten die eleganten Flügel
ihrer Reklamefelder, und der Schützenautomat? War man nicht mit der
Herstellung eines ersten Exemplares desselben schon seit Wochen
beschäftigt? Kam nicht der tüchtigste und dienstfertigste aller
Mechaniker fast täglich in die Villa, um mit Tobler Karten zu spielen?
Andere Leute spielten auch Karten und tranken ihr Glas Wein, und
prosperierten trotzdem, warum Tobler nicht? Das war nicht einzusehen.

Dazu, um voreilig kleinmütig zu werden, war Herr Tobler nicht nach
»diesem Lumpen-Bärenswil« gekommen, das konnte er sich anderswo, wenn es
durchaus sein mußte, auch noch leisten, und zur Genüge. Nein, es galt
gerade jetzt, diesen Hechten und Heringen ein Beispiel zu geben, rund um
die neugierigen, spöttischen Nasen herum, was ein lebendiger und
arbeitsfroher Mensch und Mann zu leisten imstande war, selbst noch in
dem Augenblick, wo ihm die Bretter des eigenen Wohn- und Geschäftshauses
auseinanderzugehen drohten. Und deshalb ließ Tobler, unbekümmert um das,
was man sich im Dorf in den Wirtshäusern in die Ohren flüstern würde,
den Garten umbauen, um eine Grotte zu errichten, mochte es einen ganzen
Heuwagen voll Geld kosten.

Diese Bärenswiler mußten nicht triumphieren dürfen, das wäre noch besser
gewesen! Denen mußte man mit aller verfügbaren Gewalt die Freude
versalzen, die diese Menschen empfinden würden, wenn es so weit käme,
daß Tobler wie ein Hampelmann im Kasperletheater »abzotteln« müßte.
Nein, so weit war man noch nicht. Und zum Trotz würde Tobler
gelegentlich der Einweihung seiner Grotte, sobald sie nur einigermaßen
fertig hergestellt wäre, an die angesehensten Bürger des Dorfes, an
solche, die es mit ihm etwa noch ein bißchen aufrichtig meinten,
Einladungskarten schicken, damit sie sähen, wie fest und wie überlegen
er das Leben betrachtete und anpackte.

Wer sich für seine Familie, wie Tobler, verantwortlich fühlte, wer Frau
und vier Kinder sein eigen nannte, den stieß man noch nicht so rasch von
einem einmal erworbenen und bewohnten Platz und Punkt herunter. Da
sollten nur ihrer ein paar herankommen, er würde sie davonjagen mit
Hieben, geblitzt und gestrahlt aus den bloßen, zornigen Augen. Und wenn
sie dann noch nicht genug hätten, die Speck- und Wurstesser, nun, so
würde es ihm eben einfallen können, den einen oder den andern von ihnen
handlich anzupacken und über den Gartenzaun hinüberzuwerfen, Umstände
würde er in einem solchen Fall nicht machen.

Aber so weit war es noch lange nicht. Noch hatte die Firma C. Tobler,
technisches Bureau, überall uneingeschränkten Kredit bei den Handwerks-
und Geschäftsleuten von Bärenswil. Tapezierer und Schreiner, Schlosser
und Zimmermann, Fleischer und Weinhändler, Buchbinder und Buchdrucker,
Gärtner und Kürschner lieferten ihre Arbeiten und Waren, ohne sofortige
Zahlung zu fordern, in vollem Vertrauen auf eine spätere, gelegentliche
Regulierung, in die Villa zum Abendstern. Von einem Getuschel und
Gezischel in den öffentlichen Lokalen des Dorfes war keine Rede, Tobler
schien sich, indem er auf seine Miteinwohner loszog, bloß auf diesen
Fall und für diese Lage zum voraus einzuüben, und das auch nur dann,
wenn ihn ein Mensch oder eine geschäftliche Sache geärgert hatten.

Noch duftet das Haus Tobler von Sauberkeit und Wohlanständigkeit rings
in die schöne Umgebung hinein, und wie! Umblitzt von der strahlenden
Sonne, erhoben von einem grünen, wundervoll zum See und zur Ebene
herablachenden Hügel, umgeben und umarmt von einem wahrhaft
herrschaftlichen Garten, steht es da, die reine bescheidene und
besonnene Freude. Nicht vergebens wird es von zufällig vorübergehenden
Spaziergängern lange angeschaut, denn es ist eine wahrhaftige Zier zum
Anschauen. Hell glänzen seine Fensterscheiben und seine weißen Gesimse,
bräunlich winkt der schöne Turm, und die Fahne, die man vom Nachtfest
her da oben hat stehen lassen, windet sich in heiter-majestätischen
Bewegungen, in Zuckungen, Windungen und flammenartigem Geröll um die
schlanke, feste Stange. Dieses Haus drückt in seiner Bauart und an
seinem Bauplatz zweierlei Gefühle aus, das der Lebendigkeit, und das der
Ruhe. Ein ganz klein wenig protzt es allerdings, es ist anders als die
tief in den lieben, alten Gärten versteckten Herrenhäuser älteren
Ursprungs, aber es ist lieblich, und wer darin wohnt und dabei denken
muß, es könne sein, daß er es unehrenhafterweise verlassen müsse, dem
darf übel zumut sein, er hat Ursache.

Aber solches zu denken, das verbietet sich Herr Tobler.

                   *       *       *       *       *

Si-vi, Si-vi!

Wie schneidend das klingt. Und doch schneidet es nicht einmal recht. Ein
grobes, seit Jahren nicht mehr geschliffenes Küchenmesser kann ebenso
gut Sivi rufen, wie Pauline, die infolge eines Zungenfehlers das l nicht
zu artikulieren vermag. Aber zu befehlen weiß diese Magd ausgezeichnet,
wenn es die Silvi betrifft. Betrifft es Dora, dann sinkt die
Befehlshaberstimme zu einem Säuseln und Lispeln herab. Zu der Dora sagt
die Pauline immer: Do-li, denn jetzt erstreckt sich ihre schwache Zunge
auf das r im Namen Dorli, das l spricht sie aus, was verwunderlich
genug ist, da sie es bei Si-vi doch stets wegläßt. Aber Si-vi klingt
eben spitz, und die Silvi will man verwunden, man will ihr schon mit dem
bloßen Zuruf wehtun, zu diesem kleinen Mädchen spricht niemand
liebevoll.

Die eigene Mutter mag das Kind nicht ausstehen, da geht es wohl mit ganz
natürlichen Dingen zu, daß alle ein wenig es verabscheuen. Dora dagegen
besteht aus Zucker, wenigstens meint man das eine Zeitlang, denn aus
allen Ecken tönt und flötet und bittet es: Dorli, liebes Dorli! heraus,
daß man glaubt, es müsse eine schneeweiße Konditorei in unmittelbarer
Nähe sein. Dora ist beinahe nicht Fleisch und Bein, sondern es sind
Mandeln, Torten und Sahne an ihr, so scheint es wenigstens, so voll ist
die Luft um das Mädchen herum von Artigkeiten, Süßigkeiten, Knixen und
Liebkosungen.

Wenn Dora krank ist, ist sie die Lieblichkeit selber. Sie liegt dann, in
Kissen gebettet, auf dem Ruhbett im Wohnzimmer, ein Spielzeug in der
Hand und ein Engelslächeln auf den Lippen. Jedermann geht hin und
schmeichelt ihr, auch Joseph tut das, er muß es beinahe tun, es zwingt
ihn, denn die Kleine ist wirklich schön. Sie ist ganz der Vater,
dieselben dunklen Augen, dieselbe Fülle des Gesichts, ein und dieselbe
Nase, überhaupt ganz Herr Tobler.

Silvi dagegen ist ein nicht recht gelungenes Abbild der Mutter, eine
zugleich verkleinerte, aber auch ziemlich mißratene Photographie
derselben. Armes Kind! Was kann sie dafür, daß man sie schlecht
photographiert hat? Sie ist dünn und doch plump. Sie scheint von
Charakter, wenn man bei einem Kind von einem solchen sprechen darf,
mißtrauisch, und in der Seele scheint sie falsch und verlogen zu sein.

Wie ist dagegen Dorli entzückend aufrichtig im ganzen Wesen. Deshalb hat
man sie ja auch im ganzen Haus und in der Nachbarschaft so gern. Man
macht ihr Geschenke und man gehorcht ihr. Joseph trägt die Dora im
Garten herum, auf den Achseln, sie braucht nur zu sagen: tu's, und so
tut er's. Sie bittet so schön. Der Himmel selber scheint ihr auf den
Lippen zu liegen, wenn sie bittet. Weiße, kleine Wolken scheinen diesem
Kinderhimmel alsdann zu entschweben, und irgendwo, meint man, müsse
jemand plötzlich angefangen haben Harfe zu spielen. Sie bittet und
befiehlt zugleich. Eine Art unwiderstehlicher Befehl ist immer mit einer
tatsächlich schönen Bitte verbunden.

Silvi kann nicht bitten, sie ist zu schüchtern, zu verschlagen dazu,
sie getraut sich nicht recht, es zu tun, aber um bitten zu können, muß
man ein unbändiges, kräftiges Vertrauen zu sich und zu andern haben.
Wenn man den schönen Mut zu einer flehentlichen Bitte finden soll, muß
eines zum voraus von der Erfüllung derselben fest, ja felsenfest
überzeugt sein, aber Silvi ist von niemands Güte überzeugt, da man sie
nur zu rasch und zu unvorsichtig an ganz anderes gewöhnt hat. Ein
verprügeltes Hudelgeschöpfchen wie Silvi wird leicht von Tag zu Tag
unliebenswürdiger und häßlicher zum Anschauen und Ertragen, weil sich
ein solch kleiner Mensch nicht nur nicht mehr in Acht und Zucht nimmt,
sondern sogar, aus einem geheimen, schmerzlichen Trotz, den nur niemand
einem unentwickelten Kind zutraut, bemüht, durch ein immer schlechteres
Betragen den Abscheu und den Ekel der Nebenmenschen stets höher zu
reizen. Es ist überhaupt mit der Silvi ganz eigentümlich, es ist einem
fast unmöglich, sie lieb zu haben, wenn man sie sieht. Die Augen
beurteilen sie sogleich schlecht, nur das Herz, wenn man eines hat, sagt
hinterher: Arme, kleine Silvi!

Von den Knaben ist Walter der Bevorzugte, Edi, der Jüngere, der
Vernachlässigte. Aber in gewissen Familien sind Knaben höher im
allgemeinen geschätzt als Mädchen, so daß es nicht möglich ist, daß
einem weniger geliebten Knaben in einem solchen Maß alle gütige, warme
Zuneigung verloren geht, wie es beim »verschuggten« Mädchen der Fall
sein kann. Auch in der Familie Tobler ist das so: Walter und Edi sind,
zusammengerechnet, ein höherer Wert als das weibliche Doppelgebild Dora
und Silvi. Walter und Edi sind ganz verschiedene Naturen, der erste ist
ein wilder, zu Streichen aufgelegter, aber offenherziger Bursche,
während Edi gern in den Winkeln der Wohnung kauern bleibt, ganz wie
Silvi, sein Schwesterchen, und sehr wenig spricht, ebenso wie diese. Edi
macht sich auch nie über Silvis Benehmen lustig, es herrscht zwischen
den beiden ein unausgesprochenes, aber vielleicht um so natürlicher
empfundenes Einverständnis. Ja, sie spielen sogar zusammen. Walter würde
nie mit Silvi Ernsthaftes zu tun haben. Er macht sich über sie lustig
und mißhandelt sie oft, weil man den Knaben daran gewöhnt hat, nichts
dabei zu empfinden.

Von Silvi muß noch erwähnt werden, daß sie fast jede Nacht ihr Bettchen
vernäßt, trotzdem sie von Pauline regelmäßig aus dem Schlaf geweckt
wird, um auf das Nachttöpfchen gesetzt zu werden. Diesem körperlichen
Makel hat die Kleine hauptsächlich die strenge Behandlung, welcher man
sie aussetzt, zu verdanken, denn man ist allgemein des festen Glaubens,
sie sei zu faul zu erwachen und vom Bett aufzustehen. Pauline hat
Auftrag von Frau Tobler, das Kind zu hauen, wenn das Bettlaken unsauber
sei, und zwar jedesmal, und wenn Ohrfeigen nichts nützen, so solle die
Magd nur den Möbelausklopfer nehmen, dann fruchte es vielleicht eher
etwas, und Pauline gehorcht der Herrin. So hört man denn oft mitten in
der Nacht ein jämmerliches Geschrei aus dem Kinderschlafzimmer dringen,
vermischt mit den Scheltworten und laut ausgerufenen Schimpfnamen, die
Pauline der Sünderin glaubt anhängen zu müssen. Morgens muß Silvi das
Häfchen, das sie während der Nacht benutzt hat, selber nach unten
tragen. Es ist dies auch eine Verordnung der Mama, die der Ansicht ist,
daß es sich für eine Bettverunreinigerin zieme, dies mit eigenen Händen
zu besorgen, die Pauline habe auch sonst noch genug zu tun. Da sitzt
dann das Hutzel- und Hudelkind mit dem bewußten Gegenstand, den sie in
kurioser Weise neben sich hinstellt, auf einem der Treppenabsätze und
scheint, wenn man sie so betrachtet, von allen guten Schutzengeln, die
sonst den Ruf haben, sich um arme, schutzlose Kinder zu bekümmern,
verlassen zu sein. Wenn sie sich »zum Überfluß« noch widerspenstig
zeigt, sperrt man sie in den Keller, und dann ist des Geschreies und
Polterns gegen die zugeschlossene Kellertüre kein Ende, so daß sogar
Nachbarn, schlichte Arbeiterleute, auf den Jammer, der aus der Villa
tönt, aufmerksam werden.

Tobler weiß von alledem wenig, er ist ja so selten zu Hause, jetzt geht
er überhaupt immer mehr auf Reisen. Er ist von Geschäftssorgen erfüllt
und kann sich der Erziehung und Überwachung seiner Kinder in nur ganz
geringem Grade widmen. So ein Mann, wie Tobler einer ist, überläßt gern
die häuslichen Dinge seiner Frau, denn er selber reist und kämpft in
Dingen der Reklame-Uhr und des Schützenautomaten. Der Mann trägt die
Verantwortung, da müßte man hoffen dürfen, die Frau trage die Liebe und
die Mühe. Der Mann kämpft mit der Existenz, und die Frau sorgt für die
Haltung und für das friedliche Benehmen zu Hause. Inwiefern das Frau
Tobler tut, wird es sich zeigen? Vielleicht.

Wo Kinder sind, da wird es ja immer Ungerechtigkeiten geben. Die Kinder
Tobler bilden ein sehr ungleichmäßiges Viereck. An den vier Spitzen des
Quadrates stehen Walter, Dora, Silvi und Edi. Walter spreizt seine Beine
und zerreißt seinen frechen Mund zu einem gesunden Lachen. Dora saugt
am Finger und lächelt und schaut auf die sie bedienende Silvi herab, die
der Prinzessin die Schuhe binden muß. Edi schnitzt an einem Holzstück
herum, das er irgendwo im Garten aufgelesen hat, ganz in die Arbeit, die
das Taschenmesser, dessen er sich bedient, leistet, versunken. Wo ist da
Regelmäßigkeit? Wie kann man jedem kleinen Sinn und Herzen gerecht sein?
Pauline schaut zum Küchenfenster heraus. Diese Person aus den weiteren
Volksschichten hat verwunderlicherweise keinen Sinn für Gerechtigkeit,
oder sie versteht sie eben falsch. Nun verschiebt sich das unregelmäßige
Viereck, die Kinder zerstreuen sich, jedes in seine Art und Weise
hinein, in die Stunden und Tage und in die geheimen Kinderempfindungen,
und in den Weltraum rund um das Haus Tobler herum, in die Schmerzen und
Freuden hinein, in die Demütigungen und in die kosenden Worte, in die
Stube und in den täglichen Kreis, in die Schlafnächte und in den
Fortgang der kindlichen Erfahrungen. Vielleicht üben sie sogar einen
gewissen richtungbeeinflussenden Druck auf das Steuerruder des
Toblerschen Unternehmungenschiffes aus. Wer kann's wissen. --

                   *       *       *       *       *

Im Laufe der Woche, die im übrigen ruhig verlief, waren eines Abends
zwei Leute, Herr und Frau Doktor Specker, in die Villa zum Abendstern zu
Besuch gekommen. Es war recht gemütlich gewesen, wie man sich
auszudrücken pflegt. Man holte wieder einmal ein Spiel Karten und
»jaßte«. Der »Jaß«, so hieß in der weiten und breiten Landesgegend ein
beliebtes, ja sogar national gefärbtes und angehauchtes Kartenspiel.
Frau Tobler, die es in diesem Spiel, wie bereits angedeutet worden ist,
bis zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte, unterrichtete Frau
Doktor Specker in den zahlreichen Kniffen, die dasselbe enthielt,
letztere Dame war darin noch nicht so sehr beschlagen. Es war an diesem
Abend viel gelacht und gescherzt worden. Joseph wurde das Amt eines
Kellermeisters übertragen, er hatte Wein aus dem Keller zu holen und den
Inhalt der Flaschen dann in die Gläser zu gießen, und es zeigte sich bei
dieser Gelegenheit, daß er einen gewissen Stolz besaß, der Tobler dumm
vorkam, aber als Gegengewicht einigen gesellschaftlichen Takt, so daß
sich sein Chef nicht zu genieren brauchte, ihn mit den herrschaftlichen
Gästen näher bekannt zu machen. Dies ist mein Angestellter, hatte Tobler
laut gesagt, auf welche Worte sich Joseph vor der Dame und dem Herrn aus
dem Dorf verneigte.

Was waren es denn eigentlich für Leute gewesen? Er war Arzt und dazu ein
noch blutjunger Mann, und was sie betraf, so stellte sie gar nichts
weiteres vor, als die Bestätigung in Weibesgestalt, die Frau des Arztes
zu sein, weiter gar nichts. Sie war die Frau ihres Mannes und führte
sich als solche den ganzen Abend still und schüchtern auf. So war Frau
Tobler nicht ganz, der sah man denn doch, namentlich wenn man beide
Frauen miteinander verglich, etwas Geheimes an, obschon wenig, aber an
der Frau Doktor Specker war gar nichts Geheimes. Man aß süßes Gebäck zum
Wein, und die Herren rauchten.

»Welch ein junger, glücklich aussehender Mensch, dieser Herr Arzt,«
dachte Joseph, indem er sich bemühte, so klug und so knifflig wie
möglich zu spielen. Man hatte ihn aufgefordert, mitzuhelfen. Der Arzt
richtete an den Gehülfen mehrfach Fragen, woher er sei, seit wie lange
er in Bärenswil und bei Toblers wohne, und ob es ihm hier oben gefalle
usw., und Joseph erstattete Antwort, so ausführlich, als ihm die
Zurückhaltung, die Menschen von unstetem Lebenswandel in solchen Fällen
immer eigen ist, erlaubte. Inzwischen hatte er ziemlich unklug gespielt,
und es wurden ihm nun in der Spielregel von allen vier Seiten des
Tisches die glänzendsten Reden gehalten, als würde es gegolten haben,
einen verbohrten, schwerfälligen Ketzer zu bekehren.

Gesprochen war im übrigen das Alltägliche worden, und das war ja
schließlich das »Gemütliche« gewesen.

Noch in derselben Woche kam auch ein kleiner Zwischenfall sittlichen und
kulturellen Charakters vor, in welchem die Gestalt des Vorgängers
Wirsich eine Rolle spielte, dermaßen, daß von diesem aus dem Hause
Tobler beförderten Menschen einige Tage lang wieder die ziemlich
beständige Rede war. Die Sache war folgende:

Gleichzeitig mit Wirsich war vor einigen Wochen auch die Dienstmagd aus
der Villa Tobler hinausgejagt worden, die Vorläuferin von Pauline, ein
nach den Darstellungen der Frau Tobler robustes und schelmisch, d. h.
diebisch veranlagtes junges Weibsbild, das der Herrin, nach deren
Behauptungen, denen man wohl glauben durfte, ganze Wäschestücke und
anderes gestohlen hatte. Entlassen war sie worden wegen ihres
gierigsinnlichen Wesens und Treibens, demzufolge sie mit Wirsich in
ziemlich kecke und schamlose, geschlechtliche Beziehungen getreten war,
die der Herrschaft nicht verborgen bleiben konnten, da sie zu
augenfällig und in der Tat unanständig unterhalten wurden. Außerdem war
die betreffende Magdsperson hysterisch veranlagt, und das erschien als
eine Gefahr für die Kinder. Sie hatte sich öfters plötzlich im bloßen
Hemd auf der Treppe und in der Küche gezeigt, indem sie dann steif und
fest und hoch und teuer, und unter Tränen und Krämpfen ihres fetten
Leibes, auf die Vorwürfe, die man ihr machte, behauptete, sie habe es
nicht mehr ausgehalten in den Kleidern, und müsse sterben, und was des
zynischen und läppischen Geschwätzes mehr sein mochte. Da die
Herrschaften Tobler genau um die nächtlichen Besuche wußten, die die
lüsterne Person dem Wirsich im Turmzimmer abstattete, so fanden sie es
kluger- und billigerweise geraten, das Dienstverhältnis zu dem
ungesunden und verderblichen Mädchen aufzulösen und ihr den Abschied zu
geben.

Nun kam dieser Tage ein Brief eben dieser Person, adressiert an Frau
Tobler, im Abendstern an, in welchem die ehemalige Magd in einem
unangenehm vertraulichen Ton schrieb, es seien über Frau Tobler in der
Gegend, wo sie wohne, Gerüchte verstreut worden, dahin deutend, ihre
frühere Herrin habe mit dem Untergebenen Herrn Toblers, dem Wirsich, ein
Liebesverhältnis unterhalten, woran sie, die Magd, in keinerlei Weise
glaube, da sie zum voraus überzeugt sei, daß nur lästerliche und
lügenhafte Zungen es seien, die so etwas hätten sagen können. Aber
verpflichtet habe sie sich gefühlt, der Frau, bei der sie so lange Zeit
gedient hätte, von den abscheulichen Lästerreden Mitteilung zu machen,
um sie zu warnen usw.

Dieser Brief, der natürlich weder orthographisch richtig noch auch nur
vernünftig geschrieben war, versetzte die Empfängerin in die hellste
Entrüstung, denn die darin enthaltene Anhänglichkeit eines Dienstboten
an die frühere Herrschaft war ebenso sehr erlogen, wie das Vorhandensein
eines schlimmen Gerüchtes betreffs das Betragen der Frau Tobler. Diese
zeigte den Brief Joseph, es war um die Mittagsstunde, man saß draußen im
Gartenhaus, und Herr Tobler war abwesend, und ersuchte ihn, nachdem sie
ihn das Schreiben hatte durchlesen lassen, ihr beim Aufsetzen einer
energischen Antwort, die sie der frechen Lügnerin schulde, behülflich zu
sein.

»Warum nicht? gern!« gab Joseph der erregten und ungehaltenen Frau zur
Antwort. Da er dies in ziemlich trockenem Ton gesagt hatte, weil ihn der
Eifer, mit dem sie sich in diese Wirsichsche Affäre hineinwickelte,
beinahe kränkte, so glaubte Frau Tobler, er tue ihr nicht gern den
erbetenen Gefallen und sagte, wenn er es nicht gern tue, so könne sie
es ja wohl auch noch allein zustande bringen. Zwingen wolle sie ihn
durchaus nicht. Es scheine ihm eben kein Vergnügen zu bereiten, ihr zu
dienen, und höflich sei sein Benehmen ihr gegenüber heute auch nicht
gerade.

»Wieso kein Vergnügen?« entgegnete Joseph beinahe zornig, »erteilen Sie
mir einen strikten Befehl. Sagen Sie mir, wie Sie den Brief abgefaßt
haben wollen, und ich gehe ins Bureau, und in ein paar Minuten ist die
Sache erledigt. Es braucht gar kein besonderes Vergnügen dabei zu sein.«

Das war ungezogen. Frau Tobler fühlte das und wandte ihm, indem sie ihn
mit einem erstaunten Blick maß, den Rücken. Joseph kehrte
stillschweigend zu seiner Arbeit zurück.

Nach ein paar Minuten erschien auch Frau Tobler, noch ganz ereifert, im
Bureau, bat sich von dem Gehülfen eine Feder, sowie einen Briefbogen
aus, setzte sich an das Pult ihres Mannes, dachte einen Augenblick nach
und fing an zu schreiben. Da dies etwas Ungewohntes für sie war, hielt
sie mehrmals während der Übung inne, wobei sie hochaufseufzte und laut
über die Schlechtigkeit des niederen Volkes klagte. Endlich war sie
fertig geworden, und da konnte sie sich des Bedürfnisses doch nicht
erwehren, die vollendete Arbeit dem Korrespondenten zu zeigen, um dessen
Meinung zu hören. Der Brief war an die Mutter der heimtückischen Magd
gerichtet und lautete:

                              Geachtete Frau!

    Es ist mir ein Schreiben zugegangen von Eurer Tochter, meiner
    ehemaligen Dienstmagd, und daß ich es nur gleich sage, ein
    unverschämtes und nichtswürdiges Schreiben. Es werden darin,
    unter dem Schein der Treue und Anhänglichkeit an die Herrschaft,
    Beleidigungen der gröbsten Art gegen eine Frau ausgestoßen, die,
    weil sie gütig und nachsichtig gewesen ist, nun dafür bestraft wird,
    daß sie nicht hart und mitleidlos hat sein können. Wißt, geachtete
    Frau, daß Eure Schande von Tochter mich, währenddem sie hier im
    Dienst war, bestohlen hat, und daß ich sie dem Gericht überliefern
    könnte, wenn ich wollte, aber so etwas sucht eine Frau wie ich zu
    vermeiden. Ich will mich kurz fassen: Sorget, geachtete Frau, dafür,
    daß dieser Nichtsnutz seinen Schnabel halte. Ich weiß, wer es ist,
    und wer die Gerüchte sind, die über mich Schlechtigkeiten und
    Schamlosigkeiten verbreiten. Es ist niemand anderes als dieselbe
    freche Person, die sich selber bei mir im Haus der Verletzungen
    guter Sitte und züchtigen Lebenswandels schuldig gemacht hat, und
    zwar, wie ich beweisen kann, mit demselben Menschen, mit dem die
    lügnerische Schwätzerin nun mich, ihre Herrin von ehemals, in eine
    schmutzige Verbindung setzen will. Der empfangene Brief hat mich in
    die höchste Aufregung versetzt, daß Ihr es wisset, Frau! Und nun
    habt acht auf die Böswillige, ich rate es Euch im freundlichen und
    schwesterlichen Sinne hiermit an, weil Ihr, wie ich gern annehme,
    achtenswert seid und nichts dafür könnt, daß Euer ausgeschämtes
    Mädchen ein »Räf« ist. Andernfalls würde ich mich zu keinen
    so langen und gutmütigen Worten mehr, wohl aber, wie Ihr Euch
    vorstellen könnt, zu strafrechtlichen Maßregeln veranlaßt sehen. Die
    Hochachtung, die die Welt einer Dame bezeigt, kann dieselbe, wenn
    es nötig ist, nicht hindern, vor die Schranken der öffentlichen
    Gerechtigkeit zu treten, um eine Verleumderin ihrer Ehre bestraft
    zu sehen.

                   Somit achtungsvoll, Eure Euch grüßende
                             Frau Carl Tobler.

Joseph sagte, nachdem er diesen Brief durchgeflogen hatte, er finde
denselben gut, nur scheine er ihm etwas zu hochtrabend. Solch ein Stil,
wie Frau Tobler ihn da angewendet habe, passe eher ins Mittelalter als
in die gegenwärtige Welt, die daran sei, die bestehenden
gesellschaftlichen Rang- und Geburtsunterschiede allmählich, wenn auch
nur nach außen, zu verwischen und aufzulösen. So schroff dürfe
schließlich eine bürgerlich geborene Frau einer andern bürgerlich
Geborenen nicht schreiben, das könne nur böses Blut erregen und den
Wunsch und Zweck des ganzen Schreibens verfehlen. Die Wohlhabenheit tue
im übrigen gut, sich gegenüber der Armut nicht allzuhoch aufzurichten,
sondern es dünke ihn nichts wie recht und billig, zu der Mutter der Magd
ganz einfach »Sie«, und »Sehr geehrte Frau« zu sagen, damit ein etwas
herzlicherer und zugleich höflicherer Ton da sei, was sicher nicht
schaden könne, wie er glaube. Frau Tobler sei eben nicht ans
Briefeschreiben gewöhnt, wie er sehe. Dies erhelle sich schon aus dem
Vorhandensein der zahlreichen Schreibfehler, die er während des Lesens
bemerkt habe, und wenn sie gestatte, so wolle er sich gern
dahintersetzen und den niedlichen Aufsatz korrigieren.

Er lachte und bemerkte des weitern, er würde auch die Behauptung, daß
das Mädchen eine Diebin sei, aus dem Schreiben entfernen, obschon er
seinerseits keinen Moment an der Wahrhaftigkeit dessen, was Frau Tobler
sage, zweifle, aber es könnten, sagte er, dumme Geschichten daraus
entstehen, die mehr Verdruß als Genugtuung einbrächten. Ob sie Beweise
habe?

Frau Tobler wurde ein wenig nachdenklich, dann sagte sie, sie wolle
einen zweiten Brief schreiben. Ihre Erregung habe jetzt ein wenig
nachgelassen, und so hoffe sie, werde sie ruhiger und milder schreiben
können. Aber der ganze Brief müsse doch in einem energischen Ton
abgefaßt sein, sonst habe er ja gar keinen Sinn. Sonst schreibe sie
lieber schon gar nicht.

Während sie schrieb, wurde sie, ohne daß sie es merkte, von Joseph
beobachtet, der ihren Rücken und Hals betrachtete. Das schöne, frauliche
Haar betupfte und berührte in kleinen, geringelten Löckchen den
schlanken Hals. Wie schlank überhaupt diese ganze Frauenerscheinung war.
Da saß sie nun und bemühte sich, dem Sinn und Verstand gemäß, und der
Schreiblehre und richtigen Methode entsprechend, an eine Frau zu
schreiben, die vielleicht kaum lesen konnte. Joseph bedauerte jetzt
unwillkürlich, indem er sie so anschaute, ihr bezüglich ihres
gutbürgerlichen Hochmutes, den er im Grunde genommen reizend fand,
Vorhaltungen gemacht zu haben. Ihn rührte etwas am Aussehen dieses
Frauenrückens, dessen Bekleidung sich in kleine, liebliche Falten
verzog, wenn der darunter befindliche Leib sich ein bißchen bewegte.
War diese Frau schön? Im landläufigen Begriff sicher nicht, im
Gegenteil. Aber auch das Gegenteil entsprach nicht den landläufigen
Begriffen. Joseph würde noch ruhig weitere Betrachtungen angestellt
haben, wenn sich die schreibende Frau nicht umgedreht hätte. Beider
Augen begegneten sich. Diejenigen des Gehülfen wichen denjenigen der
Frau aus, das schickte sich beinahe so. Joseph empfand und mußte
empfinden, daß es fast frech gewesen wäre, den Blicken der Frau stand zu
halten, die wieder einmal voll jenes Erstaunens waren, das so
vortrefflich den Hochmut widerspiegelte, der der Frau, man konnte es
nicht leugnen, sehr gut zu Gesicht stand. Wozu waren denn überhaupt
Gehülfenaugen gut, als zum Ausweichen und Niederschlagen, und welcher
andere Ausdruck war diesem andern Augenpaar natürlicher als der Ausdruck
des Erstaunt- und Verwundertseins? Er bückte sich demzufolge wieder auf
seine Arbeit herab, obschon es ihm um das Arbeiten jetzt gar nicht so
besonders zu tun war.

Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffeetrinken einen
etwas unfeinen Auftritt.

Frau Tobler, die nun wieder gänzlich beruhigt schien, fing plötzlich an,
lebhaft den Wirsich zu rühmen, wie dieser leider lasterhafte Mensch in
allem Sonstigen so brauchbar, geschickt und anstellig gewesen, wie er
sich in jeden kleinen Dienst und in jede Aufgabe sogleich, ohne viel
Wesens zu machen, hineingefunden habe und dergleichen mehr, wobei sie
Joseph mehrmals spöttisch, wie er es empfinden mußte, anschaute, was ihn
beleidigte. Er rief deshalb aus:

»Dieser ewige Wirsich. Man möchte bald meinen, er sei ein einzig
dastehendes Genie gewesen. Warum befindet er sich denn eigentlich nicht
mehr hier, da man doch beständig von seinen geradezu himmlischen
Eigenschaften redet? Weil er betrunken gewesen ist? Und glaubt man denn,
man habe ein Recht, alles und jedes Gute von der Person eines
Angestellten zu verlangen, und einen Menschen wegzujagen, in die offene,
schwierige Welt hinaus, nur weil eine seiner Eigenschaften, eine
einzige, die übrigen ausgezeichneten verdunkelt hat? Das ist wahrhaftig
ein bißchen zu viel verlangt. Da haben wir Treue und Klugheit, Wissen
und Dienstfertigkeit, Unterhaltungsgabe und Gehorsamkeit, und alle diese
Eigenschaften, und noch einige feine andere dazu, stecken wir in unsere
Dienste, nehmen wir gleichmütig und fröhlich hin, weil sich das so
schickt, und weil wir ja dem Inhaber eines solchen Sackes voll
Auszeichnungen für die Hingabe derselben Gehalt, Kost und Logis geben.
Und nun bemerken wir eines Tages den dunklen Fleck am schönen Körper,
und weg ist die ganze, bequemliche Zufriedenheit, und wir lassen den
Mann sein Bündelchen schnüren und fortziehen, wohin er will, aber wir
reden nachher noch einen halben oder ganzen Meter und ein ganzes Jahr
lang und breit von ihm und seinen 'guten Eigenschaften'. Man muß
zugeben, daß das kein so gar besonders korrektes Verhalten ist,
insbesondere dann nicht, wenn man alle diese köstlichen und königlichen
Dinge dem Nachfolger, wahrscheinlich, um ihn zu treffen, auf die Nase
bindet, wie Sie, gnädige Frau Tobler, mir, dem Nachfolger Ihres
Wirsich.« --

Er lachte laut auf, und zwar absichtlich, um den aufrührerischen
Eindruck seiner etwas langen Rede zu besänftigen und zu zerstreuen. Er
hatte ein bißchen Angst, jetzt, da er wieder zu sich gekommen war, und
um dem empfindlichen Ton seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu
geben, lachte er, aber es war ein gezwungenes Entschuldigungslachen.

Joseph habe nicht nötig, sagte Frau Tobler nach einigem Stillschweigen,
so zu ihr zu reden, einen solchen Ton verbitte sie sich, und sie sei
erstaunt, ihn ein solches Betragen annehmen zu sehen. Wenn er so stolz
und empfindlich sei, daß er seinen Vorgänger nicht rühmen hören könne,
so sei es für ihn besser, sich eine Einsiedlerhütte oben im Wald zu
bauen und da zu hausen, wo nur Wildkatzen und Füchse leben, unter die
Menschen müsse er dann lieber nicht gehen wollen. In der Welt dürfe
einer nicht alles auf eine so scharfe Wage nehmen. Sie werde im übrigen
nicht umhin können, ihrem Mann von dem Inhalt seiner sehr sonderbaren
Rede Kenntnis zu geben, damit Tobler wisse, woran er mit seinem
Angestellten sei.

Sie wollte aufstehen und weggehen. In diesem Augenblick rief Joseph aus:

»Sagen Sie nichts. Ich bitte alles ab. Ich bitte um Verzeihung!«

Frau Tobler streifte den jungen Mann mit einem Blick der Verachtung, sie
sagte: »Das ist schon gescheiter« und ging weg.

»Ich habe die höchste Zeit gehabt. Dort unten kommt Tobler!« dachte
Joseph, und in der Tat kam eben der Chef, heute unerwarteterweise früher
als sonst, nach Hause.

Nach einer Viertelstunde schon, von allem, was geschehen war, peinlich
genau unterrichtet, sagte Herr Tobler zu Joseph:

»Sie fangen wohl an, meine Frau schlecht zu behandeln? Was?«

Weiter sagte er nichts. Seiner Frau hatte er, als deren Klagen nicht
aufhören wollten, zugerufen, sie solle ihm »weggehn mit so dummen
Sachen.«

Tatsächlich hatte der Ingenieur jetzt wichtigere Dinge zu bedenken.

                   *       *       *       *       *

Am Abend dieses Tages war das Turmzimmer wieder einmal der stille, von
einer Lampe erleuchtete Schauplatz eines laut vor sich hergesprochenen
Selbstgespräches. Joseph, indem er sich Rock und Weste auszog, sagte
folgendes zu sich:

»Ich muß mich besser zusammennehmen, das geht nicht mehr so. Was hat
mich nur antreiben können, dieser Frau Tobler Grobheiten zu sagen? Achte
und nehme ich so sehr wichtig, was aus dem Mund einer solchen Dame
herauskommt? Und inzwischen muß sich der arme Herr Tobler auf
Geschäftsreisen abplagen, und sein Herr Angestellter treibt in
Gartenhäusern, neben einer Tasse Kaffee, solchen Gefühlsunsinn. Solche
Frauengeschichten! Was geht es mich denn an, wenn Frau Tobler an diesem
Wirsich manches Gute zu rühmen weiß? Das ist doch so einfach. Dieser
bleiche Ritter mit der Armesündermiene hat ihrem Weibergemüt Eindruck
gemacht. Muß mich das aufregen? Wieso denn? Statt stündlich und
halbstündlich an die technischen Unternehmungen zu denken, lasse ich es
mir angelegen sein, eine Frau von meinem Charakter zu überzeugen. Von
was? Aha, Charakter! Als ob es nötig wäre, daß ein Ingenieur-Angestellter
Charakter hat. Ich habe eben immer nur die dümmsten Dinge in einem Kopf,
der sich zu einem wirklich nutzbringenden und geschäftefördernden
Nachdenken verpflichtet finden sollte. Habe ich so wenig Pflichtgefühl?
Ich esse hier Brot und trinke Kaffee und verbinde mit diesen hübschen
Vorteilen und Nutznießungen eine in der Tat unpassende Sehnsucht nach
schädlicher Gedankenlosigkeit. Und dann halte ich halbstündige Reden vor
einer erschrockenen und verwunderten Frau, um ihr zu zeigen, daß sie
mich erbost hat. Was nützt das Herrn Tobler? Wird dadurch seine
finanziell schwierige Lage leichter? Haben sich dadurch die an den Mann
zu bringenden Geschäfte von der Lähmung, die gegenwärtig an ihnen
haftet, erholt? Ich bewohne hier eines der aussichtsfreisten und
schönstgelegenen Zimmer der Welt. See und Gebirge und Wiesenlandschaft
sind mir als Gratiszulage vor die Blicke und Füße gelegt worden, und
womit rechtfertige ich ein solches verschwenderisches Entgegenkommen?
Durch »Kopflosigkeit«! Was geht mich der Wirsich an samt seinen
nächtlichen Weiberbesuchen? Etwas viel Wichtigeres geht mich viel näher
an, und das ist die Firma, deren Schild ich auf meiner Stirne trage,
deren Interessen ich im Kopf und im Herzen tragen sollte. Im Herzen?
Warum nicht? Das Herz muß bei einer Sache sein, wenn die Finger und die
Gedanken richtig sollen arbeiten können. Am Herzen liegen! Nicht umsonst
sagen die Leute so.«

Er zergrübelte sich lange darüber den Kopf, was man wohl jetzt noch tun
könnte, um der Reklame-Uhr stramm auf die Beine zu helfen, über welchem
»geschäftlichen Nachdenken« er endlich einschlief.

Mitten in der Nacht erwachte er plötzlich. Er richtete sich in den
Kissen auf: Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe,
öffnete sie und horchte, und da hörte er die Töne einer widerwärtigen
Szene. Es war Paulines Stimme, die jetzt rief:

»Bist wieder zu faul gewesen, aufzustehen und dich aufs Töpfchen zu
setzen, du wüstes Geschöpf?« Silvi wimmerte und suchte sich mit
abgebrochenen Worten zu rechtfertigen, was ihr aber nicht gelingen
mochte, denn zur Antwort auf ihre jämmerlichen Entgegnungen gab ihr die
Magd Hiebe, daß es klatschte wie nasse Wäsche.

Joseph kleidete sich an, ging die Treppe hinunter, in das Schlafzimmer
der Kleinen, und machte Pauline milde Vorwürfe. Diese aber rief, er habe
sich gar nicht einzumischen, sie wisse, was sie zu tun habe, und er
solle nur machen, daß er fortkomme, worauf sie die Silvi, wie um zu
zeigen, welche Autorität sie im Kinderzimmer habe, an den Haaren riß und
ihr befahl, sich wieder ins Bett zu legen, und zwar, zur Strafe, in das
durchnäßte.

Der Gehülfe entfernte sich wieder, scheinbar demütig das Regiment der
Zuchtmeisterin anerkennend. »Morgen oder übermorgen oder wann es sei,«
dachte er, indem er sich von neuem schlafen legte, »muß ich der Frau
Tobler eine zweite Rede halten. Mag es lächerlich sein. Es nimmt mich
doch wunder, ob sie ein Herz hat. Als Angestellter des Hauses Tobler bin
ich verpflichtet, ein Wort für die Silvi einzulegen, denn Silvi ist auch
ein Glied dieses Hauses, dessen Interessen ich zu vertreten habe.«

Am nächsten Sonntag eilte er per Bahn nach der Hauptstadt, nachdem er
ein Fünfmarkstück wie gewohnt in Empfang genommen hatte. Es war schönes,
heißes Wetter, und die Eisenbahnfahrt ging den blauleuchtenden See
entlang. Schon beim Aussteigen aus dem Wagen kam ihm die früher so
wohlbekannte Stadt ganz fremdartig vor. Wie doch eine verhältnismäßig
nur kurze Abwesenheit einen Ort umgestalten und ganz anders färben
konnte; er hätte das nie für möglich gehalten. Es kam ihm alles so klein
vor. Am Quai, längs des Seeufers spazierten im grellen Mittagssonnenschein
eine Menge Menschen. Was für ganz fremde Gesichter! Und so arm
erschienen Joseph alle diese Menschen. Freilich waren es ja Leute aus
dem dürftigen, arbeitenden Volk, keine Herren und Damen, aber etwas
Kümmerliches, das nichts mit der Dürftigkeit der wirtschaftlichen Armut
zu tun hatte, wob sich um dieses ganze, helle Spaziergängerbild. Es
war nichts anderes als die Fremdheit, die Ungewohntheit, die ihm
entgegenblendete, und er fühlte es auch und sagte sich, daß, wenn einer
bereits seit Wochen in der Toblerschen Villa lebe, er nicht nötig habe,
sich über den Anblick eines Städtebildes und dessen Entfremdung zu
verwundern. Bei Toblers gäbe es eben dickere, rötere Gesichter und
festere Hände und ein gewichtigeres Auftreten, als wie man es hier in
der leichten Stadt sähe, wo die Menschen nur zu bald mager und
unscheinbar von Aussehen werden. Das Kleine und Enge sei immer eine
ziemlich große und bedeutende Welt für sich, sobald man eine Zeitlang in
nichts anderes mehr hineingeschaut habe, während gerade umgekehrt das
Weite und wirklich Bedeutende anfangs klein und unansehnlich erscheine,
weil es gar zu verbreitet, ausgedehnt und luftig sei. Im Toblerschen
Haus herrsche eben von Anfang an eine gewisse kleine Dicke und Fülle,
und die habe stets viel auf sich und bestricke sogleich, wogegen
die Freiheit und die Weitschweifigkeit mit ihren breiten und
auseinandergezogenen Rundsichten scheinbar erkälten, weil sie nach
nichts Festem ausschauen. Das wirklich Wohltuende sei immer so
bescheiden von Ansehen, während wiederum das Toblersche oder Tyrannische
manches Gemütliche und Herzliche an sich habe, das einem aus Turmzimmern
und dergleichen verlockend und vielversprechend entgegenkomme. Das
irgendwo Gefesselt- und Gebundensein sei zuweilen wärmer und reicher
voll zärtlicher Heimlichkeiten als die offene, Tür und Fenster der
ganzen Welt offenstehen-lassende Freiheit, in deren hellen Räumen den
Menschen oft nur zu bald grimmige Kälte oder drückende Hitze anfahre,
aber die Freiheit, die er, Joseph, meine, du liebe Zeit, das sei doch am
Ende das Schicklichste und Schönste und enthalte unsterblichen Zauber. --

Bald kam ihm denn auch das Bild städtischen Sonntaglebens nicht mehr so
fremdartig und flüchtig und rauhbeinig vor, und je weiter er ging, um
so vertrauter den Augen und dem Herzen wurde ihm alles. Er ließ seine
Augen mitten unter die vielen Spaziergänger spazieren gehen, mit seiner
an die Toblersche Küche gewöhnten Nase zog er wieder die Düfte der Stadt
und des Stadttreibens ein, seine Beine marschierten wieder ganz munter
auf städtischem Boden, als ob sie nie auf Landerde getreten wären.

Wie hell doch die Sonne schien, und wie bescheiden die Menschen sich
hin- und herbewegten. Wie hübsch das war, daß man sich unter das
Treiben, Stehen, Gehen und Hin- und Herpendeln verlieren konnte. Wie
hoch der Himmel war, und wie das Sonnenlicht es sich auf allen
Gegenständen, Körpern und Bewegungen bequem machte, und wie leicht und
fröhlich der Schatten dazwischenhuschte. Die Wellen des Sees schlugen
gar nicht stürmisch an die steinernen Dämme an. Es war alles so mild, so
bedeckt, so leicht und hübsch, es war ebenso groß wie klein geworden,
ebenso nah wie fern, ebenso weit wie fein und ebenso zart wie bedeutend.
Es schien bald alles, was Joseph sah, ein natürlicher, stiller, gütiger
Traum geworden zu sein, nicht ein gar so sehr schöner, nein, ein
bescheidener, und doch ein so schöner. --

Unter den Bäumen eines kleinen Parkes oder Anlage ruhten Menschen auf
Bänken. Wie oft hatte Joseph die eine oder die andere von diesen Bänken
in Anspruch genommen, damals, als er in der Stadt gewohnt hatte. Er
setzte sich auch jetzt, und zwar neben ein hübsch aussehendes Mädchen.
Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleiteten Gespräch, daß
sie Münchnerin sei, die hier in der ihr gänzlich fremden Stadt auf
Arbeit lauere. Sie erschien arm und unglücklich, aber schon so manches
Mal hatte er arme und wehmütige Menschen auf diesen Bänken angetroffen
und angeredet. Die beiden sprachen einiges, dann erhob sich die
Münchnerin plötzlich, um davonzugehen. Ob Joseph ihr mit einer
Kleinigkeit an Geld helfen könne? Nein, nein, sagte sie, nahm dann aber
doch etwas an und verabschiedete sich.

Was saßen auf solchen öffentlichen Ruhebänken nicht für
verschiedenartige Menschen. Joseph fing an, sie der Reihe nach im Kreis
herum zu betrachten. Jener junge, einzelne Mensch dort, der mit seinem
Spazierstock Figuren in den Sand der Erde zeichnete, was konnte er sein,
was in aller Welt, wenn nicht ein Buchhandlungsgehilfe? Vielleicht
täuschte man sich, nun ja, so war er eben einer jener zahlreichen
Warenhauskommis, die Sonntags jeweilen irgend etwas »vor« haben. Und
dieses Mädchen da _vis-à-vis_, war sie eine Kokotte oder eine
Anstandsdame oder ein artiges, zimperliches, den Erfahrungen, die die
Welt mit beiden, reichen, warmen Armen den Menschen, einem wundervollen
Blumenstrauß ähnlich, darbietet, abholdes Zierpflänzchen und -Püppchen?
Oder konnte sie zweierlei oder gar dreierlei Gattung auf einmal sein?
Möglich, denn das war ja auch schon vorgekommen. Das Leben ließ sich
nicht so leicht in Kasten und Ordnungen abteilen. Und dort der alte,
zerfallene Mann mit dem zerzausten Bart, was war er, woher kam er
gerade, welchen Berufes und Zeichens durfte man annehmen, daß er etwa
sei? War er ein Bettler? Gehörte er zu den undefinierbaren Gesellen, die
während der Woche in der famosen Schreibstube für Stellenlose sitzen, wo
sie ein paar Mark im Tagelohn oder Wochenlohn verdienen? Was war er
früher gewesen? Trug er einen eleganten Anzug einst nebst dito Stock und
Handschuhen? Ah, das Leben machte bitter, aber es konnte auch froh und
innig demütig machen, und dankbar fürs Wenige, für das bißchen süße,
freie Luft zum Einatmen. -- Und was war das dort links für ein feines,
ja sogar, wie es schien, vornehmes Liebes- oder Brautpaar? Waren es
reisende und alle vorhandene Welt im Flug genießende Engländer oder
Amerikaner? Die Dame trug eine zierliche Feder auf dem kleinen, ihr wie
von irgendher angeflogenen Hut, und der Herr lachte, er schien sehr
glücklich, nein, beide! Daß sie doch nur immer lachten, es war ja so
schön, zu lachen und sich zu freuen.

Dieser schöne, liebe, lange Sommer! Joseph erhob sich und ging langsam
weiter, durch eine reiche, elegante, aber stille Straße. An Sonntagen,
ja, da saßen eben die reichen Leute zu Hause, die ließen sich heute
recht spärlich sehen; auf die Straße zu gehen, das mochte an diesem Tage
nicht fein genug sein. Alle Magazine waren geschlossen. Einzelnes,
verstreutes Volk pendelte und wackelte daher, oft recht unschön
anzuschauende Männer und Frauen. Welche Demut in solch einem
verzettelten Spaziergängerbildnis war. Wie bitterlich arm ein
Menschensonntag auftreten konnte. »Demütig werden,« dachte der Gehülfe,
»wie ist das für so Manchen der letzte Lebenszufluchtsort.« --

Und er kam allmählich durch neue und andere Straßen.

Wie viele Straßen! Das dehnte sich in die Ebene hinaus, Haus an Haus,
und die Hügel hinauf, und den Kanälen entlang, lauter größere und
kleinere Steinblöcke, ausgehauen mit Wohnungen für reichere und ärmere
Menschen. Hin und wieder kam eine Kirche, eine steife, glatte, neue,
oder eine eindrucksvolle, ruhig dastehende alte mit Efeu am
zerbröckelnden Gemäuer. Joseph ging an einem Polizeigebäude vorüber, aus
dessen Lokalen einem ihm eines Tages vor Jahren der Schrei eines
gemißhandelten Menschen entgegentönte, den man geknebelt hielt und mit
Stockschlägen zu bändigen versucht hatte.

Es ging jetzt über eine Brücke, die Straßen erschienen nach und nach
unregelmäßiger und loser, die Gegend, durch die er ging, bekam etwas
Dörfliches. Katzen lagen vor den Haustüren, und die Häuser waren von
kleinen Gärten umsäumt. Die Abendsonne legte sich gelblich-rot auf die
hohen Hauswände und auf die Bäume in den Gärten und auf die Gesichter
und Hände der Menschen. Man war in der Vorstadt.

Joseph trat in eines der neuen Häuser, die dieser noch beinahe
ländlichen Gegend ein so merkwürdiges Aussehen gaben, stieg die Treppen
empor, in die dritte Etage, blieb dort stehen, atmete sich
anstandshalber aus, putzte sich ein wenig den Staub ab und klingelte
dann. Die Türe wurde aufgetan, und die Frau, die in der Öffnung
erschien, stieß, wie sie den Gehülfen erblickte, einen leisen
Überraschungsschrei aus:

»Sie sind es, Joseph? Sie sind es? -- Kommen Sie.«

Die Frau, indem sie ihm die Hand reichte, zog Joseph in ihr Zimmer
hinein. Dort schaute sie ihm ziemlich lange in die Augen, nahm dem etwas
steif Dastehenden den Hut vom Kopf, lächelte und sagte:

»Wie lange haben wir uns nicht gesehen. Setzen Sie sich.«

Einen Augenblick später sagte sie:

»Komm, Joseph, komm. Setz dich hierher, ans Fenster. Und dann erzähle
mir. Du mußt mir sagen, wie du so lange hast leben können, ohne mir ein
einziges Sterbenswörtchen zu schreiben, und ohne mich ein einziges Mal
aufzusuchen. Trinkst du? Sage es nur ruhig. Ich habe noch einen Rest
Wein in der Flasche.«

Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr von der
Elastiquefabrik, von den englischen Pfund, von der Militärdienstzeit
und von der Firma Tobler zu erzählen. Unten auf der vorstädtischen
Wiese spielten und lärmten eine Anzahl Kinder im Abendsonnenschein. Ein
oder das andere Mal pfiff eine nahe Lokomotive, oder man konnte einen
Betrunkenen singen und johlen hören, einer von jenen Gesellen, die den
Sonntagabend mit wüsten, sozusagen brandroten Tönen zu heulen und zu
charakterisieren pflegen.

Name und Geschichte der Frau, die jetzt ihrem jungen Bekannten zuhörte,
sind sehr einfach.

Sie hieß Klara und war die Tochter eines Zimmermanns. Zufälligerweise
stammte sie aus derselben Gegend wie Tobler und kannte daher dessen
Jugend so ziemlich. Sie war streng katholisch erzogen worden, aber von
der Zeit an, da sie in's Leben trat, veränderten sich ihre
Weltanschauungen völlig, sie ergab sich der Lektüre freisinniger
Schriftsteller, wie Heine und Börne. Sie arbeitete in einem
Photographengeschäft, zuerst als Retoucheuse, dann als Empfangsdame und
Buchführerin; der Chef des Geschäftes verliebte sich in sie, und sie gab
sich ihm, nicht ohne an die Folgen einer solchen zwanglosen Hingebung zu
denken, ja dieselben mit fester und freier Stirn gewärtigend, hin und
war sehr glücklich. Sie bewohnte noch immer das väterliche Haus, eine
jüngere Schwester von ihr war inzwischen an der Auszehrung gestorben.
Nach dem Geschäft fuhr sie täglich hin, und zurück in ihr Haus, mit der
Eisenbahn, ein und eine Viertelstunde lang. Zu jener Zeit empfing sie
zum ersten Mal Josephs Besuche. Sie fand einiges Gefallen an dem jungen,
damals kaum zwanzig Jahre alten Menschen und liebte es, seine Ergüsse,
die von jugendlich-unreifer Art waren, anzuhören.

Es war damals eine sonderbare Welt und Zeit gewesen. Unter dem Namen
»Sozialismus« hatte sich, einer üppigen Schlingpflanze ähnlich, eine
zugleich befremdende und anheimelnde Idee in die Köpfe und um die Körper
der Menschen, alte und erfahrene nicht ausgenommen, geworfen, dermaßen,
daß, was nur Dichter und Schriftsteller hieß, und was nur jung und rasch
bei der Hand und beim Entschluß war, sich mit dieser Idee beschäftigte.
Zeitungen solchen Schwunges und Charakters schossen wie brennendfarbige,
mit Düften hinreißende Blumen aus dem Dunkel der Unternehmungsgeister
heraus an die erstaunte und erfreute Öffentlichkeit. Die Arbeiter und
ihre Interessen nahm man damals allgemein mehr geräuschvoll als ernst.
Es wurden häufig Umzüge veranstaltet, an deren Spitze auch Frauen
schritten, blutigrote oder schwarze Fahnen hoch in der Luft
daherschwenkend. Was nur immer mit den Verhältnissen und Ordnungen der
Welt unzufrieden war, schloß sich dieser leidenschaftlichen Gedanken-
und Gefühlsbewegung hoffnungsvoll und zufrieden an, und was die
Abenteuerlust einer gewissen Sorte von Schreiern, Krakehlmachern und
Schwätzern vermochte, die Bewegung einesteils prahlerisch hochzuheben
und anderteils in die Gemeinheit des Tages herabzuziehen, das bemerkten
die Feinde dieses »Gedankens« mit einer Art vergnüglichem Hohnlächeln.
Die ganze Welt, Europa und die übrigen Erdteile, so hieß es damals unter
den jungen und halbreifen Geistern, verbände und vereinige diese Idee zu
einer fröhlichen Menschenversammlung, aber nur wer arbeite, sei
berechtigt, usw.

Joseph und Klara waren damals ganz und gar von diesem vielleicht edlen
und schönen Feuer ergriffen worden, das nach ihrer beiderseitigen
Meinung kein Wasserstrahl und keine üble Nachrede auszulöschen
vermochte, und das sich, einem rötlichen Himmel ähnlich, über die ganze
runde rollende Erde erstreckte. Sie liebten beide, wie es damals Mode
war, die »Menschheit«.

Sie saßen oft stundenlang, bis in die späteste Nacht hinein, in der
Stube, die Klara in dem kleinen Hause ihres Vaters bewohnte, und
unterhielten sich über die Wissenschaften und über herzliche Dinge,
wobei Joseph, so schüchtern er sonst auch im Umgang mit Menschen war,
immer das meiste redete, wie es sich auch ziemte, da ihm die Freundin
wie eine erhabene Lehrerin vorkam, der gegenüber er seine Gedanken wie
mehr oder weniger gut einstudierte Schulaufgaben zu äußern und
aufzuzählen hatte. Wie schön waren diese Abende. Jedesmal, wenn er dann
nach Hause ging, leuchtete ihm die Frau, die damals noch Mädchen war,
mit einem Licht die Treppe hinunter und sagte ihm mit ihrer sanften
Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten, wenn er
sich zurückbog, um sie zu guter Letzt noch einmal anzuschauen.

Dann bekam Klara ein Kind und wurde eine »freie Frau«, das heißt, sie
fühlte sich sehr bald in der härtesten Weise durch ihren Freund, den
Photographen, verraten und infolgedessen aufs tiefste degoutiert, so daß
sie ihm eines Abends, sie selber lebte in den ärmlichsten Umständen,
einfach die Türe zeigte und zu ihm nur das eine, kurze, befehlende Wort
sagte: »Geh!« -- Er war ihrer unwürdig! Sie mußte sich das tapfer sagen,
oder sie mußte verzweifeln. Aber von da an liebte sie nicht mehr die
»Menschheit«, sondern sie betete ihr Kind an.

Sie schlug sich durch, sie war mutig und war von jeher ans Zugreifen in
die Arbeit gewöhnt gewesen. Bald hatte sie sich einen eigenen
Photographenapparaten angeschafft und eine Dunkelkammer eingerichtet,
und während sie die Herrlichkeiten der Erziehung und Pflege eines
kleinen Kindes, die Mühen derselben, die Freuden, die Sorgen um dies
alles empfand, photographierte sie auf Postkarten und verkehrte mit
Händlern und Grossisten wie der geriebenste Geschäftemacher. Sie schloß
sich einer Freundin aus der Jugendzeit, die ein ähnliches Geschick wie
sie selber zu kosten bekommen hatte, häuslich an und lebte mit ihr in
ein und derselben Wohnung. Es war eine Frau Wenger, eine intelligente
aber ungebildete Frau, ein »guter Kerl«, wie Klara von ihr sagte. Der
Mann dieser Frau war Mitglied oder Soldat der Heilsarmee, obgleich er
ein durchaus an Verstand und Gemüt geradegebauter Mensch, und durchaus
kein religiöser Schwärmer war. Zu den Schwärmern war er einfach aus
praktischen Gründen übergetreten. »Tritt du nur dort ruhig ein, Hans, du
verlernst dort am besten das Trinken,« hatte die eigene Frau zu ihm
gesagt. Ihr Hans »trank« nämlich.

In dieser Zwei-Frauen-Wohnung fand sich Joseph als ein gerngelittener
Gast häufig ein. Etwas zu essen und zu trinken mochte es da immer geben,
eine Tasse Milch oder ein Glas Tee, und fidel, wenn auch in den
Schranken der Zartheit, die immer um Frauen von Lebenserfahrung gezogen
sind, ging es zu. Man lachte und meinte, jetzt dürfe man lachen, da man
ein Stück Welt hinter sich habe. Klaras Knabe und dessen Eigenschaften
wurden besprochen. O man hatte nun schon vielerlei erfahren. Auch Joseph
sprach kein Wort mehr von der »Menschheit«. Das war längst vorüber. Je
schwerer es einem wurde, ein »rechter Mensch« zu werden, desto weniger
mochte man große Worte in den Mund nehmen, und schwer war es, »recht« zu
bleiben, das empfand man jeden Tag deutlicher.

Nach und nach kam Joseph spärlicher, und dann geschah es, daß er sich
ein ganzes Jahr nicht mehr blicken ließ. Ein Tages erhielt Klara dann
plötzlich einen wunderlich kurzen Brief, ob er sie wieder besuchen
dürfe? Sie hieß ihn willkommen, und so ein paar Male, nach wiederholten,
langen Absenzen, immer wieder.

Und nun saß er da am Fenster, und sie lauschte dem, was er erzählte.

Auch Klara erzählte, unter anderem, daß sie sich bald ehelich
verheiraten werde. Das Kind müsse einen Vater haben, und sie selber
bedürfe einer Mannesstütze, sie sei jetzt öfters unwohl und unfähig, das
Erwerbsleben, das sie so lange geführt habe, zu ertragen. Sie sei zu
schwach geworden, so allein und ungeliebt zu leben, sie sehne sich
darnach, die Müdigkeit, die ihre ganze Seele beherrsche, von einer Hand
und von einem guten, offenen Willen gestreichelt und geliebkost zu
sehen. Sie sei nur eine Frau, und nur eine hoffende Frau. Der Mann, den
sie erwählt habe, habe sich einfach von ihr bereden, rühren und
erwählen lassen, das Ganze sei eine zu einfache Geschichte, als daß sie
lange erzählt zu werden brauche. »Er« liebe sie und begehre, begehre und
begehre nur, sie glücklich zu machen. Ob das nicht das Einfachste von
der Welt sei? Und was Joseph, den sie nun schon so lange kenne, zu dem
allem sage? Er solle schweigen, denn sie wisse, daß er jetzt nur eine
Artigkeit habe auf die Lippen legen wollen, sie kenne ihn, das genüge.

Sie gab ihm lächelnd die Hand.

All das Vergangene, sprach sie weiter, all das schöne Vergangene! Wie
gut es gewesen sei, all das Vorübergegangene, und wie »recht«. Und die
mannigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig!
Jung sein, das irre, das müsse ohne Gedankentiefe reden und handeln,
damit es ein Vorwärts gebe. Nach den Erfahrungen kämen immer noch
Gedanken und Empfindungen genug, und ein langes Leben erdrücke nachher
das Jugendleben.

Und sie sprachen beide von der Vergangenheit, indem sie einander die
Worte und Ausrufe aus dem Mund wegnahmen, um sie gutzuheißen und
nachzusagen.

Es gibt bei einem solchen Wiederfinden keine Widersprüche, es will keine
geben. Eines sagt dem andern die Erinnerungen nachdenklich und
freundlich nach, die Lippen sprechen ineinander, die gesprochenen Worte
finden nur Beifall und Widerhall, keine Einwendungen; und
Auseinandersetzungen finden, man möchte sagen, nur im musikalischen
Sinne statt.

Ja, das Vergangene kam über sie, und rauschte um sie herum, und machte
sie die Welt rückwärts, gleichsam treppab, überschauen. Sie brauchten
ihre Gedächtnisse gar nicht zu zwingen, dieselben bogen von selber ihre
feinen Arme und Schlingen nach den Gegenden des Erinnernswerten, um es
spürbar näher zu bringen und zu tragen.

»Wie oft bin ich launisch und ungroßherzig gewesen,« sagte Joseph
bedauernd. Und Klara erwiderte, er sei doch der einzige, der immer
wieder zu ihr komme:

»Du machst lange Pausen, aber du kommst immer wieder. Du liebst es, dich
selten zu machen, aber man hat während der Pause das Gefühl, du denkest
an einen. Und eines Tages bist du dann da, und man wundert sich darüber,
wie wenig du dich verändert, wie vortrefflich du es verstanden hast, der
Alte zu bleiben. Und man spricht mit dir, als seiest du bloß in den
nächstbesten Bäckerladen getreten, habest kein jahrelanges Loch in die
Freundschaft gemacht, wie es doch jedesmal mit dir Flüchtling der Fall
ist, seiest immer um einen herum gewesen. Andere Männer, Joseph, wissen
für immer wegzubleiben, das Leben wirft sie in neue Richtungen, und sie
kehren nie wieder an den alten Freundschaftsplatz zurück. Dich
vernachlässigt ein bißchen das Leben, hörst du, und deshalb kannst du so
schön deinen eigenen Neigungen treu bleiben. Ich will dich weder
verletzen noch preisen, beides wäre unwahr, und wir beide, nicht wahr,
sind bis jetzt immer noch ganz gut mit der Eindeutigkeit gefahren. Was
du mir bist und was ich dir bin, bleiben wir uns!«

Es war Nacht geworden über den Gesprächen. Sie verabschiedeten sich.

»Kommst du bald wieder?«

Joseph sagte, indem er den Hut aufsetzte, es sei ja, da er doch, wie sie
sage, immer der Alte bleibe, gleichgültig, ob er in Jahrzehnten oder in
vier Tagen wiederkomme.

Sie schieden infolge dieses Wortes kalt voneinander.

                   *       *       *       *       *

Du bist jetzt, Herr Angestellter, oder wie du sonst gern genannt sein
willst, wieder in der Villa Tobler, merke dir das, und die Reklame-Uhr
schießt dir als ein flügelschlagender Vogel über den etwas poetisch,
wie es scheint, veranlagten Kopf. Der weichliche Sonntag ist vorüber,
und der harte, robuste Werktag hat dich soeben wieder angepackt, und da
wirst du dich in die Brust werfen müssen, wenn du seinem kraftvollen
Willen einigermaßen Stand halten willst. Bleibe nur ruhig der »Alte«,
wie deine Freundin Klara sich ausdrückte, das wird weniger schaden, als
wenn du dir plötzlich einreden wolltest, ein vollkommen »Neuer« zu
werden. So von einem Tag auf den andern wird man kein Neuer, auch das
schreibe dir, wenn es dir beliebt, nur gleich hinter die Ohren. Wenn
aber einen »das Leben vernachlässigt«, auch so ein Frauensprüchlein, und
wie es scheint, ein zutreffendes, so muß man gegen diese in der Tat
unwürdige Vernachlässigung ankämpfen, hörst du, und nicht am
heiterhellen Tag und an Abenden voll wehmütigen Sonnenuntergangscheines
mit alten Freundinnen über das »Vergangene« reden. Man wird so etwas
jetzt gefälligst bleiben lassen müssen. Dagegen wird man sich seiner
Pflichten zu erinnern haben, da Sonntage und Sonntagsausflüge
zufälligerweise nicht ewig andauern, und wird müssen zugeben, daß diese
Pflichten bislang von einem gewissen Gehülfen auch so ein wenig
»vernachlässigt« worden sind, gerade wie das Leben es mit diesem Herrn
selber bis jetzt getan hat. Und die »Kopflosigkeit«? Ist sie nun
endgültig beseitigt worden? So schnell füllen sich Köpfe nicht an, das
muß erarbeitet werden. Dulde du nur keine Trägheit in dir, und so wird,
meint man, nach und nach schon etwas in deinen Kopf kommen. Die
Reklame-Uhr liegt am Boden und jammert nach flüssigen Kapitalien. Nun
also, gehe auf sie zu, stütze sie, damit sie sich wieder langsam, Glied
für Glied, erheben und sich in der Meinung und im Urteil der Menschen
ein für allemal befestigen kann. Eine deines Geistes, wenn du willst,
würdige und nutzbringende Aufgabe. Sorge du nur auch dafür, daß aus dem
Schützenautomaten bald Patronen herausfallen, zaudere nicht so lange,
zieh energisch am Hebel, die Maschine, die von Herrn Tobler, deinem
Herrn und Meister, so ingeniös erdacht und ausgeführt worden ist, wird
sich dann schon in Bewegung setzen. Keine Gefühle jetzt. Man spaziert
nicht immer, man leistet auch einmal etwas, und man wird sich auch
gelegentlich, aber nicht erst in Wochen, sondern so rasch wie möglich,
die Bohrmaschine näher ansehen müssen, damit man mit allem, was das
Geschäft Tobler betrifft, Bescheid weiß. Eine nur zu bescheidene Pflicht
für denselben jungen Mann, der der Frau Tobler, was er so sehr schätzt,
helfen darf, im Garten Wäsche aufzuhängen. Man muß auch die verborgenen
Dinge bedenken, auf die kommt es an in einem Ingenieurbureau. Zum
Waschseilspannen, mein Herr Gartenbespritzer und -Bewässerer, hat man
Sie nicht hier hinauf auf den grünen Hügel berufen. Sie spritzen mit
Vorliebe den Garten, nicht wahr? Schämen Sie sich! Und haben Sie auch
schon nur ein einziges Mal an den patentierten Krankenstuhl gedacht?
Nicht? Gott im Himmel, ein solcher Angestellter. Sie verdienen, vom
»Leben vernachlässigt« zu werden. --

Das ungefähr waren Josephs eigene Gedanken, als er am Montag Morgen früh
im Bett erwachte. Er stund auf, schickte sich an, das Nachthemd mit dem
Taghemd zu wechseln, wobei er aber eine gute Minute im Anblick seiner
Beine versunken blieb. Nachdem die Beine studiert waren, wurden die
nackten Arme einer Prüfung unterworfen. Joseph stellte sich vor den
Spiegel und fand es sehr interessant, sich hin und her zu drehen und
seinen Körper zu betrachten. Ein guter, ordentlicher Körper, und gesund,
fähig, Anstrengungen und Entbehrungen zu ertragen. Mit einem solchen
Leib ausgestattet mußte es eine wahre Sünde sein, länger als für das
Ruhen notwendig im Bett liegen zu bleiben. Ein Karrenschieber konnte
keine gesunderen, fester gebauten Glieder haben. Er zog sich an.

Und zwar sehr langsam. Es war ja noch Zeit, und auf ein paar Minuten
konnte es nicht ankommen. Zwar war Tobler in diesem Punkt anderer
Meinung, wie Joseph bereits tüchtig erfahren hatte, aber Tobler selber,
der montagete heute. Unter montagen verstund man das länger als sonst
ausgestreckt im Bett Liegen-Bleiben, das sich ein bißchen mehr als alle
andern Wochentage Wohlseinlassen und Gehenlassen, und gerade Tobler, der
war ja der Richtige in diesen Montagdingen, der würde heute sowieso erst
um halb elf Uhr unten im Bereiche der technischen Lösungen und Probleme
erscheinen.

Die Haare schienen heute früh außerordentlich schwer zu bürsten und zu
kämmen zu sein. Die Zahnbürste erinnerte an vergangene Zeiten. Die
Seife, womit man die Hände waschen sollte, glitt aus, fuhr unters Bett,
und man mußte sich bücken und sie aus dem hintersten Winkel
hervorziehen. Der Kragen war zu hoch und zu eng, obgleich er doch
gestern prächtig gepaßt hatte. Welche wunderbaren Dinge. Und wie
langweilig das alles war.

An einem andern Ort und zu einer andern Stunde wäre das alles vielleicht
niedlich, belehrend, nett, fein, amüsant, ja entzückend gewesen. Joseph
erinnerte sich gewisser Zeiten in seinem Leben, wo ihn der Ankauf einer
neuen Krawatte oder eines steifen, englischen Hutes in seelische
Aufregung versetzen konnte. Vor einem halben Jahr hatte er eine solche
Hutgeschichte erlebt. Es war ein halbhoher, ganz guter, normaler Hut,
wie ihn die »bessern« Herren zu tragen pflegten. Er aber traute dem Hut
nichts Gutes zu. Er setzte sich ihn tausendmal auf den Kopf, vor dem
Spiegel, um ihn dann endlich auf den Tisch zu legen. Dann ging er drei
Schritte weg von dem niedlichen Ungetüm und beobachtete ihn, wie ein
Vorposten den Feind beobachtet. Es war nichts an ihm auszusetzen.
Hierauf hängte er ihn an den Nagel, auch da erschien er ganz harmlos. Er
versuchte es wieder mit dem Kopf, entsetzlich! Es schien ihn von unten
bis oben zerspalten zu wollen. Er hatte das Gefühl, als ob seine
Persönlichkeit eine benebelte, gesalzene, halbierte geworden sei. Er
trat auf die Straße: er schwankte wie ein schnöder Betrunkener, er
fühlte sich wie verloren. Er trat in eine Erfrischungshalle, legte den
Hut ab: gerettet! -- Ja, das war eine Hutgeschichte gewesen. Auch
Kragengeschichten, Mäntelgeschichten und Schuhgeschichten kamen in
seinem Leben vor.

Er verfügte sich ins Wohnzimmer hinunter, um zu frühstücken. Er aß
unbändig, geradezu unanständig. Es befand sich übrigens niemand am
Tisch, aber trotzdem! Gerade dann! Den Anstand beim Essen brauchte man
ja auch so nicht außer acht zu lassen. Woher er nur einen solchen Hunger
hatte? Weil es Montag war? Nein, ihm mangelte eben der Charakter, das
war es. Er hatte eine solche kindische Freude beim Brotabschneiden, und
doch war es Toblers Brot, nicht seines, und dann empfand er ein solches
Vergnügen beim Herauslöffeln der Bratkartoffeln, und wessen
Bratkartoffeln waren es wenn nicht Toblers? Es kam ihm wunder wie schön
vor, noch etwas über den Appetit hinaus zu essen, und wem schadete er
dadurch? Nachdem er so weit fertig war, hätte er eigentlich aufstehen
können, um hinter seine Arbeit zu gehen, aber was machen, wenn es einem
festhielt am Platz, wenn man sich nicht zu trennen vermochte vom
Eßtisch? Da kam Pauline und verjagte ihn mit ihrer ihm unangenehmen
Erscheinung.

Im Bureau! Erst ein bißchen auf und ab gehen, das gehörte doch
schließlich zur Sache, so fing einer immer an, wenn er zu arbeiten sich
vornahm. Gehörte Joseph zu den Menschen, die mit Ausschnaufen ein
Geschäft beginnen und erst nach Beendigung desselben, das heißt, nach
halber Beendigung energisch werden, das heißt wiederum, nur dazu
energisch, um sich über irgend einen billigen Genuß herzumachen? Er
zündete langsam einen der wohlbekannten Stumpen an, die ihm jeweilen den
Gedanken an die beginnende Arbeit so sehr versüßten, und rauchte drauf
los wie das Mitglied eines Rauchklubs.

Und dann setzte er sich wieder einmal an seinen Schreibtisch, und fing
an, sich nützlich zu erweisen.

Gegen zehn Uhr erschien Tobler, sehr aufgeräumt, wie Joseph sogleich
bemerkte. Man durfte daher etwas Leichtigkeit in das »Guten Morgen, Herr
Tobler« legen und den Stumpen von neuem anzünden. In der Tat ging von
der Figur des Vorgesetzten und Chefs der Firma eine außerordentliche
Fröhlichkeit aus. Er schien den Abend vorher tapfer gezecht zu haben.
Jede seiner gegenwärtigen Gesten sagte: »Nun, jetzt weiß ich, wo der
Haken liegt. Von jetzt an wird im Gang meiner Geschäfte eine neue
Wendung eintreten.«

Er erkundigte sich in der freundlichsten Weise nach der Richtung, die
Josephs sonntägliche Vergnügungen eingeschlagen hätten und rief, als
derselbe ihm sagte, wo er gewesen sei, aus:

»Ja so? In der Stadt sind Sie gewesen? Und wie hat es Ihnen denn dort
nach der längern Abwesenheit wieder gefallen? Nicht schlecht, was?
Jawohl, die Städte vermögen manches zu bieten, aber man kommt
schließlich doch auch gern wieder zurück. Habe ich recht oder nicht?
Aber was ich sagen wollte, Sie haben, wie ich bemerkt habe,
entschuldigen Sie, ha, ha, keine gar sehr guten Kleider mehr am Leib. Da
gehen Sie heute nur zu meiner Frau, die soll Ihnen einen noch ganz wie
neu aussehenden Anzug von mir geben. Sagen Sie nur, den grauen Anzug,
dann wird sie schon verstehen, welchen. Sie brauchen sich nicht im
mindesten zu genieren, ich trage doch so wie so diesen Anzug nicht mehr.
Und ein paar farbige Hemden mit dazugehörigen Brüsten und Manschetten,
für Sie sicher ganz ausgezeichnet passend, wird es wohl noch in der
Villa Tobler geben. Meinen Sie etwa nicht?«

»Ich habe alle diese Sachen gar nicht nötig,« sagte Joseph.

»Warum nicht nötig? Sie sehen ja selber, wie bitter nötig Sie's haben.
Machen Sie keine Umstände, wenn ich Ihnen etwas gebe. Nehmen Sie's,
fertig.«

Tobler war ungehalten. Plötzlich dachte er an etwas. Er setzte sich
unter die Mechanik des Probe-Schützenautomaten auf einen dort stehenden
Stuhl und sagte nach einer halben Minute: »Ich weiß wohl, was Sie
denken, Marti. Es ist wahr, Sie haben noch keinen Gehalt bekommen, und
Sie werden denken, es werde auch keinen geben. Gedulden Sie sich. Andere
müssen jetzt eben auch Geduld haben. Im übrigen will ich nicht hoffen,
daß Sie's für nötig finden, mir deswegen eine bittere Miene zu machen.
So etwas würde ich keineswegs in meiner Umgebung dulden. Wer so ißt, wie
Sie essen und eine solche Luft genießt, wie diejenige ist, die Sie hier
oben bei mir einatmen, der hat noch eine lange Strecke zu laufen bis zur
Klage. Sie leben! Denken Sie nur immer ein bißchen daran, in welcher
Verfassung Sie dagestanden sind, als ich Sie dort in der Stadt engagiert
habe. Sie sehen wie ein Fürst aus. Dafür werden Sie mir denn auch ein
wenig Dank wissen müssen.«

Joseph sagte, und es war ihm später unbegreiflich, wo er die Frechheit
dazu hernahm:

»Schon gut, Herr Tobler! Aber erlauben Sie Ihrem Untergebenen, Ihnen zu
sagen, daß es mir recht peinlich ist, beständig an das gute Essen, an
die prachtvolle Luft und an die Betten und Kissen, in denen ich schlafe,
erinnert zu werden. So etwas kann einem die Luft, den Schlaf und das
Essen beinahe vollständig verderben. Was muten Sie mir zu, wenn Sie
glauben, Ursache zu haben, mir den natürlichen Aufenthalt und Genuß, den
ich hier oben bei Ihnen habe, in einem fort vorwerfen zu müssen? Bin ich
ein Bettler oder ein Arbeiter? Ruhig, Herr Tobler. Bitte, ich mache hier
keine Szene, ich setze ganz einfach etwas für unser gegenseitig
notwendiges Verständnis auseinander. Ich möchte festgestellt haben
dreierlei. Erstens weiß ich Ihnen für alles, was Sie mir 'bieten', Dank,
zweitens wissen Sie das, denn Sie konnten das meinem bisherigen Betragen
ruhig entnehmen, und drittens leiste ich etwas, ein Beweis für dieses
Letztere ist die Tatsache, daß mein Gewissen und Ihre Klugheit mich
immer noch hier beschäftigt sehen. Was die Kleidergeschenke, die Sie mir
gütigst machen wollen, betrifft, so habe ich mich in diesem Moment eines
Bessern besonnen: ich nehme sie mit geziemendem Dank an, ich kann Wäsche
und Kleider brauchen, wenn ich mich aufrichtig frage. Den Ton dieser
Sprache werden Sie mir verzeihen müssen, oder -- Sie werden gezwungen
sein, mich aus dem Hause zu werfen. Es bedurfte dieser Sprache und
dieses Tones, denn ich habe das aufrichtige Bedürfnis gefühlt, Ihnen zu
zeigen, daß ich mich unter Umständen gegen -- wie soll ich sagen --
Grobheiten wehren kann.«

»Donnerwetter noch einmal! Wo haben Sie dieses Mundwerk her? Es ist ja
zum Lachen, das. Sind Sie eigentlich närrisch geworden, Joseph Marti?«

Tobler fand es für das Vernünftigste, laut zu lachen. Aber schon im
nächsten Augenblick zog sich seine Stirne in grimmige Falten:

»So zeigen Sie auch, Teufel noch einmal, daß Sie imstande sind, etwas zu
leisten. Bis jetzt habe ich noch wenig davon bemerkt. Ein großes Maul
macht noch keine nennenswerte Leistung, haben Sie das verstanden? Wo
sind die Briefe, die noch beantwortet werden sollen?«

Joseph sagte kleinmütig: »Hier!« Er war wieder völlig befangen. Die
Briefe lagen am falschen Ort. Tobler packte den ganzen Briefkorb und
schleuderte ihn mit einer wilden Zornesbewegung zu Boden. Er schrie:

»Und das will noch immer aufbegehren. Passen Sie lieber besser auf und
seien Sie weniger empfindlich. -- Schreiben Sie!«

Und er diktierte folgendes:

    An Herrn Martin Grünen in Frauenberg.

    Ihren Brief, worin Sie mir das mir seinerzeit zwecks Realisierung
    meiner Reklame-Uhr bewilligte Darlehn von fünftausend Mark auf den
    Ersten des kommenden Monates aufkündigen, habe ich erhalten und
    gestatte mir -- haben Sie das? -- Ihnen folgendes zu erwidern: 1.
    ist meine derzeitige finanzielle Lage derart, daß es mir eine reine
    Unmöglichkeit ist, Ihnen auf den angegebenen Termin den fraglichen
    Darlehnsbetrag zurückzuerstatten; 2. befinden Sie sich in einem
    groben Irrtum, wenn Sie ein gesetzliches Recht zu haben glauben, auf
    so unerwartet rasche Zurückzahlung zu dringen, indem 3. zwischen uns
    bei Abschluß des Darlehens, so viel ich mich erinnere, und wie ich,
    wenn nötig, schwarz auf weiß beweisen kann, die Vereinbarung getroffen
    worden ist, -- sind Sie so weit? -- daß eine Zurückerstattung der
    Schuldsumme erst dann zu erfolgen hat, sobald die Geschäfte der
    Reklame-Uhr ein gewisses, gewinnbringendes Ziel gefunden haben.
    4. Dies ist noch nicht der Fall. 5. Das gemachte Darlehen ist nicht
    außer Verbindung speziell dieses Reklame-Uhr-Unternehmens zu setzen,
    sowie die Abzahlung des ersteren nicht zu trennen ist vom Gelingen
    des letzteren. 6. Würde es sich fragen, ob eine so kurzfristige
    Zahlungsforderung in einem Falle, wie dem unsrigen, überhaupt
    gestattet wäre. Hauptsache: das geliehene Geld liegt im obengenannten
    Unternehmen und verfällt dem Risiko desselben. -- Sehr geehrter
    Herr, Sie werden sich nun hoffentlich, nachdem ich Ihnen meinen
    Standpunkt erklärt habe, die Sache noch einmal ernstlich überlegen.
    Bedenken Sie, bitte, in welcher Lage ich mich befinde, und Sie
    werden kaum den Mut finden, einen Geschäftsmann ruinieren zu wollen,
    der sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft dagegen stemmt und
    wehrt, in die ihm drohende Tiefe zu sinken. Wenn Sie Ihr Geld wieder
    haben wollen, so drängen Sie mich nicht. Die Reklame-Uhr wird sich
    bewähren! Ich hoffe Sie genügend überzeugt zu haben und zeichne
    hochachtungsvoll -- --

»Geben Sie her!« Und Tobler unterzeichnete, indem er eine volle Minute
lang, scheinbar gedankenabwesend, in den Anblick des Schreibens
versunken blieb.

Inzwischen gab sich auch der Angestellte seinen privaten Gedanken hin.
Er dachte: »So ist er, dieser Herr Tobler. Zuerst nimmt er eine
hochmütige und drohende Stellung ein, dann duckt er plötzlich klein
zusammen und bittet, zu bedenken usw. Der Herr Grünen werde nicht den
Mut finden, meint mein Herr Tobler. Wie aber, wenn er ihn findet? So wie
dieser Brief abgefaßt ist, so pflegen Verzweifelte zu reden. Zuerst
klingt es hochtrabend, dann bedeutend, dann wichtig, dann prahlerisch,
dann beißend spöttisch, dann auf einmal kleinmütig, dann zornig, dann
flehentlich, dann plötzlich grob, dann Brust hoch und noch ein letztes
Mal in hochmütigem Ton: die Uhr =wird= sich bewähren! Wer beweist das? O
ein solcher pfiffiger Darlehngeber, wie dieser Grünen aus Frauenberg
einer ist, der wird hohnlächeln, wenn er diesen gefühlvollen Brief
liest.« --

Ihm scheine der Ton des Briefes kein ganz richtiger, wagte er halblaut
zu seinem Chef zu sagen. Das war ein Funke ins Pulverfaß.

Tobler sprang jählings auf: Was Joseph da Dummheiten zu schwatzen habe.
Wenn er Bemerkungen machen müsse, so solle er sie nicht erst eine halbe
Stunde nach Erledigung der Sache vom Mund ablaufen lassen, und dann
solle er sehen, daß es keine so läppischen seien, wie die, die er sich
soeben erlaubt habe.

»Unsinn!« schrie er, ergriff seinen Hut und ging davon.

Joseph kopierte das Schreiben mit der Kopierpresse, faltete es zusammen,
steckte es in einen vorher schon adressierten Briefumschlag, klebte zu
und frankierte.

Es waren ein paar hundert Zirkulare aus der Buchdruckerei angekommen.
Joseph fing an, diese Zirkulare exakt zusammenzufalten, und zwar zu
jeweiliger Briefkuvertgröße, damit sie in alle Welt hinaus verschickt
werden konnten. Das Rundschreiben enthielt in hübscher Druckschrift, und
mit Klischee-Abbildungen versehen, die genaue Beschreibung nebst
Preistabelle eines kleinen Dampfapparaten, auch einer Toblerschen
Erfindung. Vor allen Dingen galt es, diesen Dampfbehälter den
zahlreichen, in der Umgebung von Bärenswil und weiter im Land herum
verstreuten Fabriken und mechanischen Werkstätten anzupreisen, womit man
einen ganz hübschen Gewinn zu erzielen hoffte.

Der Gehülfe faltete bis zur Mittagsessenszeit diese Papiere zusammen,
welche Arbeit für ihn etwas geradezu Fröhliches und Gedankenförderndes
enthielt, und ging dann zu Tisch. Man schwieg während des Essens,
abgesehen von Dora, die ihren reizenden Mund nicht zu halten vermochte.
Die Knaben erwiesen sich unartig. Frau Tobler klagte die langen
Schul-Ferien als die Ursache der allgemeinen Jugendverwilderung an,
indem sie sagte, sie sei wahrhaftig froh über den baldigen Wiederbeginn
der Schulzeit, es werde nun gottlob bald wieder eine andere Zeit für die
Schlingel herantreten. Die Autorität und das Meerrohr des Lehrers
würden dann vielleicht erreichen, was der Mutter nicht möglich sei:
artiges und aufmerksames Benehmen ihren Buben anzugewöhnen. Es sei ganz
gut, wenn es allmählich Herbst werde. Während dieser langen, schönen
Sommertage wisse das kleine Volk vor lauter Langeweile gar nicht mehr,
wo noch irgend eine Gelegenheit sei, Übles und Dummes anzustellen.

Bei dem Wort »Herbst« fühlte sich Joseph in der Seele betroffen. Der
schöne Herbst! dachte er. Einen Augenblick später war er mit Essen
fertig geworden, er stand auf und sagte zu Frau Tobler, es fehle ihm
Geld, um Briefmarken kaufen zu können. Die dadurch unangenehm berührte
Frau sagte, so solle sie auch noch für solche Dinge sorgen, seufzte und
händigte dem Angestellten das Gewünschte schmollend, aber zugleich ein
wenig geschmeichelt, ein. Man mußte also zu ihr, der Frau, kommen, um
Markengeld zu erwischen und zu ergattern. Joseph spielte wiederum ein
wenig den Beleidigten.

Schließlich war er ein Mannesuntergebener, nicht ein Frauengehülfe. Wie
lästig das war, jedes Zweimarkstück einem Frauenrock abbetteln zu
müssen. Frau Tobler sah seinen unpassenden Zorn und begnügte sich, ihn
von oben herab halb anzuschauen.

Er begab sich zur Post. Im Garten waren mehrere Arbeiter und Handlanger
damit beschäftigt, Gartenerde hoch aufzuschaufeln und zu einem mächtigen
Haufen zu türmen. Die Erde war naß, es hatte kurz vorher geregnet.

»Auch noch eine unterirdische Feengrotte zu allem. Was denkt Tobler?«
brummte Joseph und erreichte die Landstraße. Aus dem Wirtshaus zur
»Rose«, das nicht gar weit entfernt lag, drang zur offenen Tür ein
schneidender Schnapsgeruch heraus. Hier war es, wo der Wirsich seine
ersparten Gehälter und Löhne vertrank. Von hier aus pflegte er in eine
»andere Welt« hinüber zu taumeln, indem er seinen bessern Teil in der
»Rose« unter dem Tisch liegen ließ. Im Dorf angekommen, trat der
Gehülfe, einer seit kurzem erst angenommenen Gewohnheit gemäß, in das
Restaurant zum Segelschiff ein, und wer saß dort am runden Stammtisch?
Tobler!

Da hatte man sie also beide, den Herrn und den Knecht, und wo? In der
Kneipe.

Gewiß muß man in den Zorn gewöhnlich rasch eins hinabtrinken, um das
Hitzige, was man in der Brust fühlt, abzukühlen und zu verlöschen, und
ebenso natürlich ist der Durst eines Untergebenen, der soeben erst
Markengeld hat »betteln« müssen und infolgedessen ziemlich unwirsch
aufgelegt ist. Der Unmut kann, indem man »eins« zu sich nimmt, zerstreut
werden. Gewiß muß und kann man auch das, aber -- es war doch für einen
Moment den beiden etwas kurios zumut, sich im »Segelschiff« plötzlich
bei Trinkgedanken zu ertappen, und beide schauten sich kurz aber
bedeutend an.

»So? -- Sie scheinen ja auch Durst zu haben,« sagte Herr Tobler
gewichtig aber freundschaftlich zu dem Eingetretenen. Dieser sagte:

»Ja! Muß auch sein.«

Herr Tobler erwartete im »Segelschiff« immer die anfahrenden und
abfahrenden Züge, auch jetzt »paßte er nur auf seinen Zug auf«. Das
Restaurant lag in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes. Aber wie oft
verpaßte trotzdem Tobler seine Züge; man konnte, wenn man Wirt hieß,
manchmal beinahe meinen, er verpasse sie absichtlich. In solchen Fällen
pflegte er jedesmal zu brummen: »Jetzt ist mir das cheibe Züglein schon
wieder an der Nase vorbeigefahren.«

Joseph trank aus und ging. Sein Chef rief ihm nach, so daß die andern
Wirtsgäste es hören konnten: »Schreiben Sie dem Uhrmacher, wie heißt er
schnell, er solle mit der Montierung der Uhren für die Utzwil-Stäfener-Bahn
unverzüglich beginnen. Der Brief muß noch heute abgehen. Das Übrige werden
Sie wohl wissen.«

Joseph schämte sich ein wenig seines »redeseligen« Prinzipals, wie er
ihn im stillen nannte, er nickte und drückte sich zur Türe hinaus.

Er ging zum Buchbinder und Papierwarenhändler und ließ sich eine ganze
Reihe Gebrauchsgegenstände für Bureau und Zeichentisch geben, indem er's
»ins Buch aufschreiben ließ«.

Solch ein niedliches Rechnungsbüchlein, was ging da nicht alles Mögliche
hinein. Man nahm einfach die Waren und ließ munter aufschreiben.

Der Inhaber des Papierladens erlaubte sich die Frage, wann und ob er
einen gewissen Betrag einkassieren lassen dürfe.

»O gelegentlich etwa,« entgegnete obenhin Joseph. »Ich handle sehr
richtig,« dachte er, »man muß zu den Leuten in oberflächlichem Ton
sprechen, dann haben sie absolut festes Vertrauen. Wo man keinen Ernst
zeigt, da scheint auch noch keiner erforderlich zu sein. Hätte ich die
Frage dieses Mannes wichtig genommen, so würde er jetzt Verdacht haben
und schon morgen früh mit der quittierten Note im Bureau erscheinen. Ich
diene meinem Herrn, wenn ich fortfahre, leise sich rührende
Verdächtigungen von ihm abzulenken.«

Während dieses Gedankenganges hatte er sich scheinbar aufs Gemütlichste
eine Sammlung Ansichtspostkarten angeschaut. Indem er jetzt den Laden
verließ, lächelte er freundlich, und er wurde ebenso freundlich vom
Besitzer desselben angelächelt.

Zu Hause angelangt machte er sich wieder mit dem Falzen der Zirkulare zu
schaffen. Für je ein Zirkular verwendete er vier Händebewegungen. Er
träumte dabei. Diese Arbeit forderte das gemütvolle Herumsinnen um
irgend etwas geradezu heraus. Von Zeit zu Zeit wurde ein berauschender
Zug aus dem Stumpenstengel getan. Dicht vor dem Schreibtisch und
Bureaufenster saß auf einer dort plazierten Gartenbank Frau Tobler, sie
nähte und unterhielt sich in singender Sprechweise mit ihrem Dorchen.

»Was dieses Kind es gut hat!« dachte Joseph.

»Wollen Sie diese ganze Masse Zirkulare fortschicken?« fragte Frau
Tobler. Sie setzte hinzu: Ȇbrigens ist es Kaffeetrinkenszeit. Kommen
Sie. Der Kaffee steht schon.«

Im Gartenhaus, während des Imbisses, fühlte sich der Angestellte durch
die Freundlichkeit, mit der ihn die Frau behandelte, gezwungen, zu
sagen, er bereue, sich so keck gegen Frau Tobler benommen zu haben.

Was er damit meine? Sie verstehe nicht.

»Nun, wegen dem Wirsich!«

Sie sagte, das habe sie längst vergessen. Für solche Sachen habe sie
kein haarscharfes Gedächtnis. Gottlob. Was denn das auch weiter gewesen
sei? Gar nichts von Bedeutung. Aber es freue sie, Joseph bekennen zu
hören, daß es ihm leid sei, sie gekränkt zu haben. Er dürfe ruhig sein,
und er solle sich in allem, was das Geschäft ihres Mannes anbelange, nur
immer Mühe geben, das sei die Hauptsache. Ach sie wünsche manchmal, und
besonders in letzter Zeit, ein geschäftstüchtiger Mensch zu sein, um
Tobler helfen zu können. Wenn sie daran denke, von hier fortziehen, das
Haus, das sie so lieb gewonnen habe, verlassen -- zu -- mü--ssen -- --

Tränen standen ihr in den Augen.

»Ich will mir Mühe geben!« Er schrie es beinahe.

Dann sei es recht, sagte sie und versuchte zu lächeln.

»Sie dürfen nicht gleich verzagen.«

Das tue sie auch nicht. Sie sei gleichmütig genug all diesen
sorgenvollen Dingen gegenüber. Gestern habe ihr Tobler bittere, und wie
ihr scheine, ungerechte Vorwürfe gemacht, deswegen, daß sie seine ganze
schwere Lage zu leichtsinnig nehme; sie habe es für nötig befunden, zu
schweigen dazu. Was denn in einem solchen Fall eine schwache und
ungeübte Frau machen könne? Ob sie gar etwa den ganzen, guten Tag lang
jammern, und eine wehklagende Miene zur Schau tragen solle? Und was das
nütze? Das würde doch einer einigermaßen vernünftigen Frau weder
einfallen, noch auch nur anstehen können, so etwas würde sie eher für
gefährlich als ziemlich halten. Sie sei im Gegenteil immer ganz guten
Mutes, und sie wage es, sich im stillen für diese Haltung zu loben. Ja,
das tue sie, und wenn es auch sonst auf der ganzen Welt ihr kein
einziges Wesen anerkennen wolle. -- Sie wisse im übrigen, wer sie sei,
und sie fühle sich schon aus diesem Grunde verpflichtet, den fröhlichen
und gemessenen Lebensmut nicht so bald sinken zu lassen. Daneben fühle
sie wohl, wie schwer es ihr Mann zurzeit habe.

Sie war wieder heiter geworden.

»Und was Sie betrifft, Joseph,« fuhr sie fort, indem sie den Gehülfen
mit ihren großen Augen anschaute, »so weiß ich ja, daß Sie ernst bei
Ihren Aufgaben sind. Und von einem einzelnen Mann wird man nicht alle
Lösungen und trefflichen Leistungen aufs Mal verlangen wollen. Sie
fahren einen nur manchmal ein bißchen grob an. Ja, ja!«

»Sie demütigen mich, aber ich verdiene es,« sagte Joseph.

Beide lachten.

»Sie sind ein kurioser Mensch,« bemerkte Frau Tobler, das Gespräch
beendend. Sie stund auf. Joseph sprang ihr nach, um sie zu fragen, ob
sie die Güte haben wolle, die Kleider, die ihm Herr Tobler soeben
geschenkt habe, herauszusuchen und auf sein Zimmer legen zu lassen, er
wünsche dieselben heute noch anzuprobieren. Sie sagte, ja, sie wolle die
betreffenden Sachen sogleich aus dem Schrank herausnehmen.

Nach ungefähr einer Stunde spritzte er den Garten. Er fand das zu nett,
so den dünnen, silbernen Wasserstrahl durch die Luft schneiden zu sehen
und das Aufklatschen des Wassers auf den Blättern der Bäume anzuhören.
Die Erdarbeiter warfen bald ihre Schaufeln und Bickel weg und machten
Feierabend. »Ein kurioser Mensch,« dachte der mit den Schläuchen
Beschäftigte, und es wollte ihm beinahe trübe zumut werden: »Wieso ein
kurioser Mensch?« --

Doktor Speckers kamen an diesem Abend, auch Tobler kam an, ungehalten,
unfreiwillig. Er hatte es sich eben im »Segelschiff« gemütlich machen
wollen, als er telephonisch angerufen, und davon in Kenntnis gesetzt
worden war, wer in der Villa zu Besuch gekommen sei. »Müssen die schon
wieder kommen?« hatte er durchs Telephon zu seiner Frau gesagt, konnte
aber nicht gut absagen, und so verzichtete er eben auf den Wirtshausjaß,
um dafür zu Hause zu jassen, was nach seinem Geschmack ein wenig
»kindelig« war. In der Tat ging es beim Jaß unter Berufsjassern eben
viel ernsthafter und männlicher zu, vor allem viel schweigsamer, und
Tobler hatte nachgerade diese häusliche, plaudernde, unschuldige
Jasserei ziemlich verachten gelernt.

Joseph entschuldigte sich, er habe Kopfweh, er möchte noch ein wenig in
der frischen Luft spazieren gehen. »So, der entzieht sich der Pflicht,
und ich, ich muß dahocken,« schien Toblers Gesicht zu sagen, als er
Joseph sich ausreden hörte.

Dieser flüchtete »an die Natur« hinaus. Der Mond beleuchtete zart und
groß die ganze Umgegend. Irgendwo plätscherte ein Wasser. Er ging den
Berg hinauf, zwischen den bekannten Wiesen hindurch. Die großen
Wegsteine waren weiß vom Mondschein. In dem Baumdickicht tuschelte und
zischelte und flüsterte es. Es war alles in einen duftenden,
träumerischen Dunst getaucht. Vom nahen Wald her hörte er
Käuzchengeschrei. Einige zerstreute Häuser, ein paar zaghafte Geräusche,
und plötzlich da oder dort ein Licht, ein wandelndes, das irgend ein
später Wanderer in der Hand trug, oder ein ruhendes, ein Licht hinter
einem halbverdeckten Fenster. Welche Stille im Dunkel, und welche Weite
im Unsichtbaren, welche Ferne! Joseph überließ sich vollständig seinen
Empfindungen.

Plötzlich dachte er wieder an den »kuriosen Menschen«, der er sei. Was
er denn eigentlich so Kurioses an sich hatte? Einsam in der Nacht
umherzuspazieren, das war allerdings seltsam genug, dieses Vergnügen
durfte man schon als kurios bezeichnen. Aber was weiter? War das alles?
Nein, die Hauptsache war die: sein Leben, sein ganzes Leben, das bisher
geführte und das vorauszuahnende zukünftige, das, das war kurios, und
Frau Tobler hatte ganz recht, wenn sie bemerkte -- -- Diese Frauen, wie
sie es verstunden, in den Herzen und Charakteren zu lesen. Wie
talentiert sie waren, einem mit so einem einzigen Wort das Richtige und
Treffende in die erstaunte Seele hinein zu sagen. Ein kurioser Kerl.
Spaßhaft war das, nicht wahr? --

Trauernd um Vieles, Vieles ging er nach Hause.

                   *       *       *       *       *

Die Bärenswiler oder Bärensweiler sind ein gutmütiger, aber zugleich
etwas heimtückischer, oder, wie vielleicht der richtige Ausdruck lautet,
heimlichfeißer Menschenschlag. Sie haben es alle mehr oder weniger dick
hinter den Ohren, sie besitzen alle, der eine mehr, der andere weniger,
irgend etwas Geheimes oder Heimliches, und sie sehen daher alle ein
bißchen pfiffig und verschlagen in die Welt hinaus. Sie sind ehrlich und
moralisch und nicht ohne Stolz, sie sind von Jahrhunderten her an eine
gesunde bürgerliche und politische Freiheit gewöhnt gewesen. Aber sie
verbinden mit der Ehrlichkeit gern einen gewissen Schein von Schlauheit
und Weltbenehmen und sehen gern nach was ganz Klugem und noch Klügerem
aus. Sie schämen sich alle ein wenig ihrer kernigen, natürlichen
Gradheit, und jeder von ihnen allen will lieber ein »schlechter Hund«
sein als ein Tropf von Esel, den man leicht übers Ohr hauen kann. Die
Bärenswiler sind nicht leicht übers Ohr zu hauen, davor kann sich jeder,
der das probieren will, tüchtig gewarnt sein lassen. Sie sind
herzensgut, wenn man sie achtet, sie haben eine gute Portion Ehre im
Leib, denn sie sind seit Jahrhunderten usw. Aber sie schämen sich auch
ihrer Güte, wie fast jeglicher Gefühlsäußerung. Sie lachen mit den
Stockzähnen, wo andere Menschen und Nationen mit den Lippen lachen, sie
plaudern mehr mit den gespitzten Ohren als mit dem ungenierten Mund, sie
schweigen gerne, aber manchmal fangen sie an zu prahlen wie die
leibhaftigen Matrosen, als ob sie alle mit einem Wirtshaustischmaul zur
Welt gekommen wären. Später schweigen sie wieder volle vier Wochen lang.
Im allgemeinen kennen sie sich ausgezeichnet, sie rechnen nach, wo sie
Vorzüge, wo Fehler besitzen, und sie sind immer eher geneigt, ihre
Mängel als ihre guten Eigenschaften öffentlich strahlen zu lassen, damit
ja niemand Bescheid wisse, wie tüchtig sie sind. Um so bessere
Handelsgeschäfte machen sie dann. Sie seien grob wie die Teufel, sagt
man in der rundum liegenden Welt, und nicht ganz ohne Ursache, aber es
sind ihrer immer nur ein paar unter ihnen, die grobe Laster sind, und um
dieser paar Ausnahmen willen müssen die Bärenswiler manches kecke und
ungerechte Wörtlein hören. Sie haben viel Einbildungskraft, und Lust,
diese Kräfte zu üben; die Geschmacklosen unter ihnen prahlen deshalb
öfters mehr als gut und recht ist und sind verschrieen im übrigen Land.
Aber vor allen Dingen, Herr Tobler, sind sie trocken und nüchtern, ein
Schlag Menschen, wie geschaffen dazu, bescheidene aber sichere Geschäfte
zu machen und dito Erfolge zu erzielen. Die Häuser, die sie bewohnen,
sind sauber wie sie selber, die Straßen, die sie bauen, sind ein bißchen
holperig, genau wie sie selber, und das elektrische Licht, das ihre
Dorfstraßen Abends beleuchtet, ist praktisch, wiederum exakt wie sie
selber. Und unter solch ein Volk mußte Herr Tobler geraten.

Herr Ingenieur Tobler!

                   *       *       *       *       *

Die Zeit machte einen unsichtbaren Schritt vorwärts. Auch in der Gegend
von Bärenswil blieben die Jahreszeiten nicht stehen, sondern sie hatten
natürlicherweise zu tun, was sie anderorts auch tun müssen, sie
veränderten sich, trotz des Herrn Tobler, der vielleicht wünschen
mochte, die Zeit stillstehen zu sehen. Ein Mann wie er, dessen Geschäfte
nicht gingen, war der unbewußte Feind alles dessen, was ruhig und
gleichmäßig vorwärtsschritt. Der Tag oder die Woche ist solch einem
Menschen stets entweder zu kurz oder zu lang, zu kurz, weil man die
Krisis herankommen sieht, zu lang, weil man sich langweilt am Anblick
des lahmen Geschäftsganges. Ging die Zeit scheinbar schnell dahin, so
murmelte Tobler, man komme zu gar nichts Gescheitem mehr seit einigen
Tagen, und machte sie scheinbar langsame und bequemliche Schritte, so
wünschte er sich über die Berge in ein späteres Jahrzehnt versetzt, um
alle diese ihn umgebenden Dinge nicht mehr anschauen zu müssen.

Es fing an zu herbsteln, sich zu setzen, es stund irgendwo etwas still,
die Natur schien sich manchmal die Augen reiben zu müssen. Die Winde
wehten anders als bisher, wenigstens schien das oft so, Schatten
huschten an den Fenstern vorbei, und die Sonne war eine andere Sonne
geworden. Wenn es warm war draußen, so sagten ein paar Menschen, echte
Bärenswiler, sieh da, wie warm es immer noch ist. Man dankte für die
Milde, weil man einen Tag vorher, unter der Haustüre stehend, gesagt
hatte: Potz blitz, es fängt zu rumoren an!

Hin und wieder runzelte der Himmel seine schöne, reine Stirne, oder er
zog sie sogar in Gramesfalten und -schleiern zusammen. Alsdann war die
ganze Hügel- und Seegegend von grauen, nassen Tüchern umhüllt. Der Regen
fiel schwer auf die Bäume, was nicht hinderte, daß man zur Post lief,
wenn man zufällig ein Angestellter des Hauses Tobler war. Herr Martin
Grünen schien sich um die schönen, sanften Wechsel der Jahreszeiten auch
nicht viel zu kümmern, sonst würde er kaum haben schreiben können,
alles, was Tobler an Zahlungsverweigerungsgründen ihm angebe, das
berühre ihn gar nicht, und er beharre auf seiner Kündigung.

Und wenn dann das schöne Wetter wieder kam, wie glücklich konnte das
einen berühren. Es waren vornehmlich drei Farben in der Natur zu sehen,
ein Weiß, ein Blau und ein Gold, Nebel, Sonne und Himmelsbläue, drei
sehr, sehr feine, ja sogar vornehme Farben. Man konnte dann fortfahren,
draußen im Garten zu essen, man stund dann da so, lehnte sich gegen das
Gitter und dachte darüber nach, ob man das schon einmal, irgendwo in der
Jugend vielleicht, könne gesehen haben. Die Wärme und Farbe waren eines
geworden. Ja, sagte man, solche Farben ergeben eine solche Wärme! Die
Gegend schien zu lächeln, der Himmel schien selber glücklich über sein
Aussehen geworden zu sein, er schien der Duft und der Inhalt und die
liebe Bedeutung dieses Land- und Seelächelns zu sein. Wie das alles nur
so liegen, stillsein und strahlen konnte. Wenn man über die Seefläche
hinaus schaute, fühlte man sich, man brauchte nicht einmal Gehülfe zu
sein, von freundlichen, wohltuenden Worten angesprochen. Schaute man in
die gelbliche Baumwelt hinein, so regte sich eine zarte Melancholie in
einem. Sah man das Haus an, so mußte man lachen, obschon die herrische
Pauline gerade am Küchenfenster Teppiche bürstete. Die Welt schien
voller Musik zu sein. Über den Kronen der Bäume erschienen wie ferne,
verhallende Töne die blendend-leichten-weißen Umrisse der Alpen. Man sah
hin und empfand mit einem Mal das alles als unwirklich. Dann war's
wieder anders. Andere Aussichten, andere Empfindungen! Auch die Gegend
schien zu empfinden und ihre Empfindungen zu ändern. Das Empfundene
verlor sich jedesmal in das allesbeherrschende Blau. Ja, alles war blau
angefärbt und angehaucht. Und dazu diese Frische, dieses Rauschen von
den Bäumen her, in denen immer eine leise, kühle Bewegung war. Konnte
man da arbeiten, sich nützlich erweisen? Ja, man spannte das Waschseil
auf und half der Waschfrau einen Korb nasser Wäsche aus dem Keller
hinauf an das golden-blaue Licht der Erde tragen. So etwas zu tun ziemte
sich an einem so schönen, bis in die letzten Winkel von Farben und Tönen
durchzuckten, gleichsam hellgeschliffenen Tage. Und es gab eine ganze
Reihe solcher Tage, wo man nur vom Bett aufstehen, sich zum Fenster
hinauslehnen und mehrere Male hintereinander sagen mußte: wie
wundervoll!

Ja, aus dem Sommerland war ein Herbstland geworden.

Aber im Marschtempo der Toblerschen Geschäfte war keine neue Wendung,
keinerlei Umschwung, nicht einmal ein Seitensprung eingetreten. Die
Sorge und die Enttäuschungen gingen wie ermüdete, aber an Zucht gewöhnte
Soldaten im Schritt vorwärts, sie erlaubten sich keine Abweichungen. Sie
bildeten, Mißerfolge und Aussichtslosigkeiten mithinzugerechnet, einen
wohlgeordneten Marschzug, der sich langsam aber stetig vorwärtsbewegte,
gradaus in das Kommende schauend.

Tobler ging jetzt immer mehr auf Geschäftsreisen, als würde ihn der
Anblick seines reizenden Hauses schmerzlich und vorwurfsvoll berührt
haben. Er besaß ein Generalabonnement für sämtliche Bahnen auf ein
volles Vierteljahr gültig, das er schließlich, da er es sich einmal
angeschafft hatte, auch ausnützen mußte. Wo wäre denn da die gesunde
Vernunft gewesen? Das Reisen als solches schien ihm überhaupt Vergnügen
zu bereiten. Dazu war er der Mann. Im »Segelschiff« auf den Zug zu
passen, denselben womöglich fürs erste einmal zu verpassen, dann in den
nächsten einzusteigen, eine gewichtige Geschäftsmappe unter dem Arm,
dann so zu fahren, in alle Welt hinaus, mit den Fahrgästen ein Gespräch
zu beginnen, dem einen oder dem andern derselben eine Zigarre oder einen
guten Stumpen zu offerieren, in einer fremden Gegend schließlich
auszusteigen, mit flotten, lebenslustigen Leuten zu verkehren, bis in
alle Nächte hinein in feineren Restaurants Unterhandlungen zu pflegen
usw.: das war etwas für ihn, das glich ihm und seinem Wesen, das lenkte
ihn ab von unwürdigen Gedanken, das half ihm, sich wieder ein bißchen er
selber zu fühlen, das war wie sein Anzug, der ihm so prachtvoll saß.

Was hatte er nötig, zu Hause zu sitzen, wo er doch einen Angestellten
hatte, den er »füttern« mußte? Käme ihm gerade noch recht! Da versauerte
er noch gänzlich das bißchen Unternehmungsgeist, das er noch hatte.
Würde dann nicht mehr viel fehlen und er konnte endgültig »die Bude
zuschließen«. Das fehlte noch: zu Hause sitzen und sich von den
Bärenswilergesichtern höhnisch anglotzen lassen. Nein, lieber dann
gleich eine Kugel vor den Kopf. Das war dann noch vorzuziehen.

Und so reiste er eben.

Zu Hause hatte inzwischen die Sorge um die täglichen Lebensbedürfnisse
angefangen, leise an die Fensterscheiben zu klopfen, eine Gardine
hochzuheben, um gemütlich in das Interieur der Toblerschen Familie
blicken zu können, an der Tür zu stehen, um jemand, der vorüberging, an
das Gefühl der Unsicherheit zu erinnern. Die Sorge interessierte sich
jetzt schon ein bißchen mehr als im Sommer. Sie stund einstweilen da und
prüfte das Terrain, im übrigen verhielt sie sich still. Es genügte ihr,
daß man manchmal ihre Anwesenheit empfand, sie war höflich und
vorsichtig. Eine Türschwelle, ein Fenstergesims, ein Plätzchen auf dem
Dach oder unter dem Eßtisch, diese Orte schienen ihr vollkommen zu
passen. Sie machte sich in keiner Weise wichtig, sie streifte mit ihrem
kalten Hauch von Zeit zu Zeit allerdings das Herz der Frau Tobler, so
daß diese sich manchmal am heiter hellen Tag umdrehte, als ob jemand
hinter ihr sei, als ob sie hätte fragen sollen: »wer hält sich denn da
hinter mir auf?« --

Die paar Gelder, die dem technischen Geschäft zuflossen, wurden
sogleich, auf Anraten ihres Mannes, von der Hausfrau in Empfang
genommen. Brot, Milch und Fleisch wollten doch täglich bezahlt sein. Man
lebte und aß wie immer, man sparte in keiner Weise an diesen Dingen.
Lieber gar nicht leben, als schlecht leben. Pauline erhielt ihren Lohn
regelmäßig ausbezahlt, dagegen setzte man beim Gehülfen Verständnis und
Takt genug voraus, die Lage zu begreifen, wortlos, und sich in dieselbe
zu schicken. Joseph war ein Mann, Pauline ein unberechenbares Kind aus
dem Volk. Einem Mann durfte man Entsagungen zutrauen, einem Kind aus den
niederen Schichten des Volkes niemals, und der Angestellte begriff das.

Die Knaben gingen wieder zur Schule, was für die Mutter eine große
Erleichterung war, die sich nun öfters an die milde, herbstliche Sonne
auf die kleine Veranda begeben, und dort in einem sanft schaukelnden
Stuhl liegen konnte. Der Traum besuchte sie da zuweilen und spiegelte
ihr in angenehmen Farben vor, sie sei eine Herrin und eine von den
freiesten und besten, welcher schönen Gaukelei sie jeweilen ein kurzes
Viertelstündchen, nicht ohne tiefe Wehmut dabei zu empfinden, den
Aufenthalt gestatten mußte.

Eines Tages rief sie den Gehülfen zu sich in die Veranda hinaus, sie
möchte ihn gern etwas fragen. Es war kurz nach dem Mittagessen, Tobler
befand sich auf Reisen, die beiden kleinen Mädchen spielten im
Wohnzimmer.

Was das heute wieder für schönes Wetter sei, bemerkte Joseph beim
Betreten des Balkons. Die Frau nickte, sagte jedoch, sie denke an ganz
anderes.

»An was denn?«

So. An mancherlei. Vor allen Dingen denke sie seit ein paar Tagen
beständig daran, ob es nicht viel gescheiter wäre, das Haus, wie es da
sei, jetzt schon zu verkaufen, und freiwillig fortzuziehen, denn die
Schande des Zwanges, es zu verlassen, das fühle sie, komme ja doch
langsam heran. Mit den Unternehmungen ihres Mannes sei es doch nichts,
sie glaube das jetzt bestimmt zu wissen.

»Wieso jetzt gerade?«

Sie wehrte mit ihrer Hand ab und ersuchte Joseph, ihr frank und frei
seine Meinung bezüglich der Reklame-Uhr herauszusagen.

»Ich bin fest davon überzeugt,« sagte er, »daß sie sich auf guten Wegen
befindet. Man muß nur jetzt noch ein wenig Geduld haben. Anknüpfungen
mit weiteren Kapitalisten« -- --

Ach, sagte sie eifrig, er solle doch schweigen. Sie sehe es ihm ja
deutlich an, daß er sich verstelle und ihr da Dinge sage, an die er
selber nicht glaube. Das sei wenig schön von ihm. Was ihn denn
veranlasse, zu glauben, sie könne den harten Ausdruck der Wahrheit nicht
aushalten? Wenn er lügen wolle, so sei er ein ungetreuer und
unanhänglicher Angestellter, dann glaube sie wirklich, es habe keinen
weiteren Zweck, ihn noch länger dazubehalten. Sie habe zu wissen
verlangt, wie und was er denke, und sie befehle ihm jetzt, offen seine
Meinung herauszusagen. Vor allem wünsche sie zu erfahren, ob der
kaufmännische Gehülfe ihres Mannes überhaupt fähig eines eigenen
Gedankens sei. Er solle nur ruhig sitzen bleiben und ihr Red' und
Antwort stehen, wenn ihm die Mannesehre kein ganz unbekanntes Ding sei.

Joseph schwieg.

Was das für ein Betragen sei? Sie glaube auch noch das Recht zu haben,
ihm einen Befehl erteilen zu dürfen. Ob ihm der Mund in die Schuhsohlen
hinuntergefallen sei? Platz würde dort schon sein, Löcher seien genug
darin. Was für ein Stolz das sei bei so wenig äußerer Ehre? Toblers
Kleider stünden ihm ausgezeichnet. Ja, ja. Und er solle verschwinden,
wohin er wolle, daß sie ihn ja nur nicht mehr zu sehen brauche.

Joseph war bereits weggegangen. Er ging um das Haus herum, sagte ein
paar Worte zu Leo, dem Hund, trat ins Bureau hinein und setzte sich an
den Schreibtisch. Den Stumpen anzuzünden vergaß er beinahe, er erinnerte
sich jedoch sehr bald dessen Annehmlichkeiten und steckte sich einen von
diesen immer vorrätigen Rauchstengeln an. Das behagete ihn seltsam an
und er konnte arbeiten.

Kurz darauf erschien Frau Tobler in der Bureautüre und sagte ruhig:

»Ihr Betragen hat mich gereizt, Marti, aber es war gut. Vergessen Sie
was eben geschehen ist. Kommen Sie bald zum Kaffee.«

Sie schloß die Tür leise und ging wieder. Der Angestellte zitterte
heftig. Es war ihm eine Unmöglichkeit, die Feder in der Hand zu halten.
Das Leben selber tanzte ihm vor den Augen. Fenster, Tische und Stühle
schienen lebendige Wesen geworden zu sein. Er setzte den Hut auf und
ging baden. »Rasch noch vor dem Kaffeetrinken,« dachte er. Und dieser
Frau hatte er eine Strafrede Silvis wegen halten wollen. Welche Torheit!

Das Glück und die Gesundheit selber baden nicht mit mehr Genuß in den
Wellen des Lebens, wie jetzt er im See badete. Das Wasser dampfte auf
seiner stillen, aber schon kalten Oberfläche, die wie Öl dalag, so
ruhig, so fest. Die Frische des Elementes ließ den nackten Körper sich
kräftiger und lebhafter bewegen. Vom Badehaus schrie ihm der Wärter laut
zu: »Nicht so weit hinausschwimmen, Sie da draußen. He! Hören Sie
nicht?« Joseph aber schwamm ruhig weiter, er fürchtete nicht im
geringsten, den Gliederkrampf zu bekommen. Er zerteilte und zerschnitt
mit weiten Armbewegungen die nasse, schöne Bahn. Aus der Tiefe des Sees
hauchten ihn eiskalte Ströme an: um so schöner, und er legte sich auf
den Rücken, die Augen zum wunderbar blauen Himmel erhoben. Als er
zurückschwamm, hatte er vor den Augen das von den Herbstfarben trunkene
Land, das Ufer, die Häuser. Alles lag da, eingehüllt in einen seligen
Farben- und Düfterausch. Er stieg aus dem Wasser und kleidete sich an.
Beim Weggehen aus der Anstalt sagte ihm der ängstlich gewordene Wärter,
er hätte ihm wohl gehorchen, und auf seinen Mahnruf zurückschwimmen
können; wenn ein Unglück passiere, sei er es, den man verantwortlich
mache. Joseph lachte.

Frau Tobler spielte die Entsetzte, als er ihr sagte, es hätte ihn zu
sehr gelockt, er habe halt dieses Jahr noch ein letztes Mal baden
müssen.

Sie saßen im Gartenhaus. Unvergleichlich schmeckte Joseph das braune
Getränk nach dem Bad. Man müsse wirklich jetzt die paar warmen Tage noch
profitieren, sagte Frau Tobler. Sie fing an zu plaudern von ihrer
Verheiratung, von ihrer früheren Wohnung.

So ein eigenes Haus, wo man ein- und ausgehen könne, wie es einem
beliebe, das sei doch etwas Reizendes und Ruhiges. Das fände man
vielleicht nicht so bald wieder -- --

Joseph unterbrach sie. Er sagte höflich:

»Frau Tobler, Sie werden sich wieder ereifern. Warum denken Sie immer an
das? Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Ihr gehorsamer
Diener bin. Doch wozu diese Reibereien? Hier stehe ich vom Tisch auf und
gewärtige die Erlaubnis, mich wieder setzen zu dürfen.«

Er war aufgestanden. Sie sagte, er solle sich setzen. Er tat es.

Sie schwiegen eine Weile, dann kam ihr plötzlich die Laune, sich in die
Reitschule zu setzen, und sie bat den Gehülfen, sie zu stoßen und die
Seile anzuziehen. Indem sie mit ihrem Brett hoch in die Luft flog und
wieder hinuntersauste, rief sie, das gefalle ihr, und »man müsse jetzt
noch ein wenig vom Garten profitieren«. Bald käme der Winter und dann
heiße es nur zu herrisch: Zu Hause sitzen!

Er mußte sie jedoch bald aufhalten, da es ihr schwindlig zu werden
drohte. Indem er das tat, atmete er gezwungenermaßen den Duft ihres
Körpers, den er einen Augenblick mit dem Arm umfassen mußte, ein. Ihre
Haare berührten sein Gesicht. Diese vollen, langen Arme! Er nötigte
sich, wegzusehen. Der Gedanke, ihren Hals zu küssen, durchzuckte ihn
augenblicklich, aber er tat es nicht. Eine Minute später dachte er mit
Schaudern an diese einfache Möglichkeit, und er war sehr froh, dieselbe
vernachlässigt zu haben.

Sie saßen wieder einander gegenüber. Sie plauderte ausgelassen:

Wie da in dem Haus, welches ihr Mann und sie früher bewohnt hätten, ein
junger Mensch ihr den Hof gemacht habe, ein so närrisch verliebter Kerl
-- nein, sie müsse schon laut lachen, daran nur zu denken, geschweige
denn, davon zu sprechen. Eines Nachts sei dieser junge, übrigens
besseren Kreisen angehörige Mann in ihr Schlafzimmer eingedrungen und
habe sich, sie sei schon im Bett gelegen, davor niedergestürzt und ihr
seine heiße Sehnsucht gestanden. Sie habe ihm vergeblich entrüstet
zugerufen und ihm befohlen, sich sogleich zu entfernen. Der Mensch sei
aufgestanden, aber nicht, um sich fortzumachen, sondern um sie zu
umarmen. Noch jetzt, wenn sie sich in jenen fürchterlichen Moment
versetze, spüre sie den Druck der Hände, die sich um sie spannten. Sie
habe natürlich um Hilfe gerufen, und da sei zufälligerweise -- und jetzt
komme der lustige Teil der Geschichte -- ihr Mann gerade die Treppe
hinaufgekommen. Er hört nur die Schreie, stürzt sich ins Zimmer, und da
habe er den jungen Mann wirklich wüst hergenommen. Den Stock, und der
sei dick gewesen, habe er ihm auf Kopf und Schultern entzweigeschlagen,
so daß sie, die Ursache der Prügel, Tobler habe anflehen müssen, den
Gegner, der ja auch gar kein solcher war, doch zu schonen. Ihr Mann habe
denselben dann die Treppe hinuntergeworfen.

»Ich muß mich also in acht nehmen,« sagte Joseph.

»Sie?« Es hat nie ein verständnisloseres Gesicht in der Welt gegeben,
wie das, das Frau Tobler dem Gehülfen zeigte, als sie das sagte.

Sie fing an, sich mit Dora zu beschäftigen. Ob Joseph ihr einen Gefallen
tun möge, wandte sie sich plötzlich an diesen. Auf der Post liege das
etwas große Paket, das ihr neues Kleid enthalte. Sie möchte es gar zu
gern heute noch anprobieren. Ob es von dem Angestellten nicht zu viel
verlangt sei, zu wünschen, er möchte das Paket herbeiholen? Es sei
vielleicht zu mühsam, und Joseph habe womöglich Wichtigeres zu tun.

Nein, nein, er werde sofort gehen und es holen, sagte er, ganz glücklich
darüber, eine Ursache gefunden zu haben, wieder einmal zur Post laufen
zu können.

Er lief sogleich weg und brachte nach einer halben Stunde den Karton ins
Wohnzimmer der Villa Tobler. Die Frau war das völlige Selbstvergessen
im Öffnen der langersehnten Postsendung. Sie ging in ihr Schlafzimmer
hinauf, um das Kleid anzuziehen, Pauline mußte ihr behilflich sein. Gut,
daß der Herr nicht da war. Wie würde der über ihre freudige, frauliche
Erregung gehöhnt und geschimpft haben.

Nach ein paar Minuten trat sie wieder in das Wohnzimmer, angetan mit dem
hochmodern zugeschnittenen Kostüm. Es stand ihr prachtvoll. Sie wünschte
von Joseph zu wissen, wie sie aussehe. Silvi, die kleine Botenläuferin,
mußte den Gehülfen aus dem Bureau heraufholen. Dieser war erstaunt, Frau
Tobler so schön zu finden. Akkurat wie eine Baronin, sagte er lachend.
Nein, sagte sie, im Ernst, wie sehe ich aus? Vorzüglich sehe sie aus,
gestand er, und er erlaubte sich hinzuzufügen: »Ihre Figur tritt sehr
gut zum Vorschein. Sie sehen jetzt eigentlich gar nicht mehr wie Frau
Tobler aus, sondern wie eine seeentstiegene Nixe. Für Bärenswiler-Augen
dürfte das Kleid beinahe zu schön sein. Aber schließlich verdienen diese
Leute auch, daß sie erfahren und sehen können, was hauptstädtische
Schneiderinnen zu leisten vermögen. Stoff und Form dieses Kostüms sind
derart, daß man meinen möchte, der Stoff selber habe zu der Form den
Gedanken gegeben, und umgekehrt scheint die Form selber diesen schönen
Stoff erwählt zu haben.«

Über diese Rede war Frau Tobler ganz glücklich. Sie mochte in
Geschmackssachen ein wenig unsicher sein. Sie sagte lächelnd, sie
getraue sich nicht, in diesem Aufzug über die Gassen von Bärenswil zu
gehen, sie wolle daher das Kleid nur tragen, wenn sie gelegentlich in
die Stadt fahre.

                   *       *       *       *       *

Unbezahlte Wechsel und Rechnungen. Die Bank stutzte immer mehr. Der Ton,
in welchem die Kassenbeamten der Bärenswiler Bank mit Joseph etwas
besprachen, wenn er dort zu tun hatte, drückte nicht mehr nur Erstaunen,
sondern auch herablassendes Mitleid aus. »Schlimm steht es bei euch da
oben auf eurem Hügel,« sagte dieser Ton. Erinnerungen und Ermahnungen,
nun doch endlich zu zahlen, liefen täglich per Post im Abendstern ein.
Nichts war bezahlt, nicht einmal die Zigarren, die fortlaufend geraucht
wurden.

Die Gartengrotte war nun auch fertig geworden, bis auf einige
Kleinigkeiten, die Tobler später machen lassen wollte, sobald es mit ihm
wieder einigermaßen besser stünde. Die Bauunternehmer reichten ihre
Rechnung ein, sie belief sich auf ungefähr tausendfünfhundert Mark, eine
Summe, wie man sie in der Villa Tobler schon seit langer Zeit nicht
mehr beisammen gesehen hatte. Wo hernehmen? Aus der Erde graben? Den Leo
nächtlich auf einen lustwandelnden Rentier hetzen, denselben zu Boden
schlagen und berauben? Raubrittergeschichten gab es im zwanzigsten
Jahrhundert leider nicht mehr.

Jetzt war die Zeit da, wo man wenigstens wieder ein kleines Fest feiern
konnte. Es wurden Karten versandt an sieben angesehene Männer des
Dorfes, drei nahmen die Einladung zum nächtlichen Grottenfest an, die
übrigen vier waren, wie man sich zu entschuldigen pflegt, verhindert.
Das tat übrigens nichts zur Sache. Je weniger Teilnehmer erschienen,
desto mehr bekam jeder dieser Wenigen zu trinken. Es befanden sich noch
einige Flaschen ausgezeichneten Neuenburgerweines im Keller. Der sollte
jetzt verknallt werden. Eine würdigere Gelegenheit würde sich nicht so
rasch wieder bieten.

Die drei Männer, ein Spezereihändler, der Segelschiffwirt und ein
Versicherungsagent, kamen eines Abends bei stürmischem Wetter, zu der
festgesetzten Zeit, an. Alsogleich begab man sich in die Feengrotte, ein
höhlenartiges, mit Zement ausgeschlagenes und tapeziertes Ding, länglich
wie ein größeres Ofenloch, etwas zu niedrig, so daß die Besucher mehr
als einmal die Köpfe anstießen. Ein Tisch wurde in diese Grotte
gestellt nebst ein paar Stühlen, die der Gehülfe und Pauline
herbeischleppten. Eine Lampe war die Beleuchtung.

Bald kam auch der Wein, der sich als ein edles, feuriges Getränk in die
Gläser ergoß, worauf er über die kostenden und schmeckenden und
schnalzenden Lippen sprang, die Kehlen hinunter. So lange noch ein
solches Weinlein im Hause sei, so -- -- Tobler hielt in seiner Ansprache
inne, zur Vorsicht und Besonnenheit gemahnt durch einen blitzenden Blick
aus seiner Frau Augen. Ja, da hatte er vor drei heimlichfeißen
Bärenswilern eine Dummheit sagen wollen. Er, er war ein offenes Gemüt
von einem Mann.

Die Unterhaltung wurde immer fröhlicher und ungezwungener. Recht unfeine
Witze, die in Gegenwart dreier Damen (die Parketteriedamen waren auch
da) eigentlich unschicklich klangen, flogen von Mund zu Mund,
aufgefangen von laut lachendem Verständnis. Nur Joseph lachte nicht
viel. Ob er nicht zufrieden sei, wandte sich Tobler an ihn. Er solle nur
trinken, dann werde er schon munter werden. Die Sorgen lägen auf dem
Grund der Gläser, und man müsse kurzen Prozeß machen und sie austrinken.
Wo Pauline sei? Die solle den Neuenburger auch zu versuchen bekommen.
Frau Tobler sagte, das sei nicht nötig, aber der Ingenieur bestand
darauf.

Geschichten von der anzüglichsten Sorte wurden zum besten gegeben. Die
drei Bärenswiler erwiesen sich als Meister in der komischen Wiedergabe
derselben. Würde Tobler für jedes Lachen, das an diesem Abend
erschallte, einen Hundertmarkschein bekommen haben, so wäre er über
Nacht ein wahrhaft fürstlich reicher Mann geworden, hundertmal
wohlhabend genug, alle seine Schulden auf einen Schlag zu tilgen. Aber
das Gelächter trug nichts ein, es verhallte an den Wänden der kleinen
Grotte, es belustigte bloß, aber bereicherte nicht.

»Auf das Gelingen deiner Unternehmungen, Tobler!« sprach der
Segelschiffwirt, indem er ein volles Glas hochhob. Hierdurch gerührt und
verletzt schwang sich Herr Tobler zu folgender Rede auf:

                         Das will ich auch hoffen!

    Wenn ein gesunder Mann sein Letztes an seine Ideen setzt, so gibt es
    immer im weiten Umkreis der Menschen Geschwätze, die dieses Mannes
    Werke verleumden und herabsetzen. Dieser Mann aber steht hoch über
    diesen Verdächtigungen. Er ist ein Unternehmer und als solcher
    verpflichtet, nicht nur etwas, sondern alles zu wagen. Das Wagnis,
    meine Herren, sieht kühn, aber es sieht auch oft prahlerisch und
    lächerlich aus, weil es die einzig dastehende und beständige Aufgabe
    hat, niemandes Urteil zu scheuen. Was will das Wagnis in der
    Dachstube, im Laboratorium, im Heft, auf dem Zeichentisch tun?
    Es entsteht an diesen Orten, aber wollte es da bleiben, wo es
    entstanden ist, so wäre es eine bloße, genußsüchtige Träumerei.
    Hinaus an das Licht der Welt muß es. Es muß sich zeigen, es muß die
    Gefahr, lächerlich und unbrauchbar befunden zu werden, besiegen,
    oder es muß von dieser Gefahr erdrückt werden. Was nützen der Welt
    die klugen Köpfe, wenn sie im Verborgenen dahinleben, was nützen die
    bloßen Erfindungen? Eine Erfindung ist eine Arbeit aber kein Wagnis,
    ein bloßer hoher Gedanke rüttelt nicht das Kleinste am bestehenden
    Bau der Welt. Die Ideen müssen sich verwirklichen, die Gedanken
    streben nach der Verkörperung. Hierzu braucht es des kühnen und
    unerschrockenen Mannes, des gesunden und starken Armes, der festen
    und treuen Hand. Eines Fußes, der, wenn es ihm endlich, nach vielen
    Widerwärtigkeiten, gelingt, Boden zu fassen, diesen Boden nicht bald
    wieder verlassen wird. Eines Herzens, das Stürme erträgt, einer, mit
    einem Wort, männlichen Seele. Es ist nicht gesagt, daß dieser Mann
    glücklich ist, sobald er seine Unternehmungen vom duftenden und
    rauschenden Erfolg gekrönt sieht, er erstrebt keine persönliche
    Macht, er hat nur erreicht, was ihn, wenn er es nicht erreicht
    hätte, würde erstickt haben. Seine Idee will etwas erreichen, nicht
    er, seine Idee will aber dafür auch alles erreichen. Eine Idee
    stirbt oder sie siegt. Mehr habe ich nicht zu sagen.

Auf diese ziemlich romantisch gefärbte Rede lächelten die stillen,
schlauen Bärenswilerherren mit erzwungen zugepreßten Lippen. Frau Tobler
war im höchsten Grad ängstlich geworden. Das Fräulein aus der
Nachbarschaft schien die gesamte ohrenspitzende, lauschende Umgegend zu
verkörpern, so sehr mit offenem Mund saß sie da. Die alte Dame verstund
kein Wort. Joseph teilte die Empfindungen seiner Herrin, und er war
zugleich mit ihr froh, als sich Tobler wieder setzte, um ein neues
volles Glas Neuenburger herunterzustürzen. Seine Rede hatte ihn beinahe
stärker mithergenommen als der genossene Wein. Bald aber lachten wieder
alle. Der flüchtig sich in die Grotte verlorne Ernst verflog wieder. Es
wurde ein »Jaß« beschlossen. Toblers Augen glänzten wieder ganz genau so
fiebrig wie in jener vergangenen Sommernacht, in der die Raketen zu
Dutzenden aufgeflogen waren. »Ja, für Feste jeglicher Sorte paßt er
prachtvoll,« dachte Joseph.

Am nächsten Morgen schwammen etliche Pfropfen im Teich herum, nebst ein
paar gelber, vom gestrigen Sturm hier herüber gewehter Blätter. Es
regnete. Die ganze Besitzung sah traurig und verlassen aus. Joseph stand
im Garten: welch ein Anblick! Aber er verbot sich die Stimmung, die ihn
ergreifen wollte und zwang seinen Gedanken eine alltäglich-praktische
Richtungnahme auf.

Geschäfte im bejahenden und erwerbenden Sinne gab es immer weniger zu
erledigen. Das Hauptgeschäft bestund nur noch im Abwehren der Gläubiger,
die anfingen, von allen Seiten her, und in immer schrofferer Weise, zu
drängen, und im Verzögern und Verschieben der Notwendigkeit, mit Geld
herausrücken zu müssen. Geld, Geld, das mußte herbeigeschafft werden mit
allen noch zur Verfügung stehenden Mitteln, aber der Mittel und Wege,
dieses zu bewerkstelligen, gab es verschwindend wenige, und die paar
wenigen Wege waren durchaus zweifelhafte und unsichere. Eines dieser
noch möglichen Gelderwerbsmittel bestund in einem gemeinen und
schamhaften und heimlich betriebenen Anpumpen privaten Charakters. Auf
seinen Reisen traf Tobler etwa einen Verwandten oder einen Bekannten
an, dem gestand er entweder die nackte, unfreundliche Wahrheit, oder er
schwindelte ihm irgend eine momentane Verlegenheit vor und verstund es
auf diese Weise, hie und da Geld, Summen geringen Umfanges,
herauszuerwischen. Dieses Geld kam dann in der Regel auf Privat- oder
auf Haushaltungskonto zu buchen.

Grundsätzlich hatte Joseph seine Bureaustunden inne zu halten, aber in
Wahrheit gab es im Bureau kaum noch etwas Reelles und Vorwärtsführendes
zu tun, sondern es galt im Grunde nur noch überhaupt da zu sein. Eines
Morgens ließ der Gehülfe aus Vergeßlichkeit die Bureautüre offen stehen
beim Weggehen nach der Post. Als er zurückkam, gab es eine Szene: Tobler
sagte heftig, Unordnung brauche deswegen, daß kein Geld da sei, noch
lange nicht einzureißen. Das verbitte er sich. Wenn auch keine
Barschaften zu entwenden seien, so könne doch jemand, sei es der
Briefbote, sei es ein anderer, durch die offene Türe, unangemeldet, ohne
daß ein Mensch im Hause es merke, eintreten und in den Büchern und
Papieren herumstöbern.

Joseph gab zur Antwort, es werde wohl Pauline gewesen sein, die die Türe
habe offen stehen lassen. So etwas tue er nicht, er halte stets streng
auf Ordnung.

Gerade Pauline, brauste der Chef auf, sei ja diejenige, die ihn wegen
dessen verklagt habe, was er, erstaunlich unverschämterweise, nun auf
sie schieben wolle. Er schiebe überhaupt immer alles auf Pauline.

Was sie ihn zu verklagen habe, dieses Plappermaul, sagte der in der
Schlinge Gefangene. Tobler gebot ihm zu schweigen.

Das waren Tage, das, nasse und stürmische, und doch war ein eigener
Zauber dabei. Das Wohnzimmer wurde auf einmal so wehmütig-gemütlich. Die
Nässe und Kälte draußen machten die Zimmer freundlicher. Man heizte
jetzt schon. Durch das neblige Grau der Landschaft brannten und
leuchteten fiebrig die gelben und roten Blätter. Das Rot der
Kirschbaumblätter hatte etwas Glühendes und Wundes und Wehes, aber es
war schön, das versöhnte und erheiterte wiederum. Oft erschien das ganze
Wiesen- und Baumland in Schleier und nasse Tücher eingehüllt, oben und
unten und in der Ferne und Nähe alles grau und naß. Wie durch einen
trüben Traum schritt man durch das alles hindurch. Und doch drückte auch
dieses Wetter und diese Art Welt eine geheime Heiterkeit aus. Man roch
die Bäume, unter denen man ging, man hörte reifes Obst in die Wiese und
auf den Weg fallen. Es schien alles doppelt und dreifach still geworden
zu sein. Die Geräusche schienen zu schlafen oder sich zu fürchten, zu
tönen. An den frühen Morgen und späten Abenden drang über den See der
langdahingeatmete Ton der Nebelhörner, die einander da draußen, Schiffe
ankündigend, das warnende Signal gaben. Sie erklangen wie Klagelaute von
hülflosen Tieren. Ja, Nebel gab es genug. Dazwischen gab es einmal
wieder einen schönen Tag. Und Tage gab es, echt herbstliche, weder
schöne noch wüste, weder besonders freundliche, noch besonders trübe,
weder sonnige, noch dunkle Tage, sondern solche, die ganz gleichmäßig
licht und dunkel blieben von Morgens bis Abends, wo vier Uhr nachmittags
dasselbe Weltbild bot wie elf Uhr vormittags, wo alles ruhig und
mattgolden und ein bißchen betrübt da lag, wo die Farben still in sich
selber zurücktraten, gleichsam für sich sorgenvoll träumend. Solche
Tage, wie liebte sie Joseph. Alles kam ihm dann schön, leicht und
vertraut vor. Diese leichte Traurigkeit in der Natur machte ihn sorglos,
beinahe gedankenlos. Es war dann vieles nicht schlimm, vieles nicht mehr
schwer, was ihm vorher schlimm und schwerfällig erschienen war. Eine
angenehme Vergeßlichkeit trieb ihn an solchen Tagen die hübschen
Dorfstraßen entlang. Die Welt war ruhig, gelassen und gut und
gedankenvoll anzusehen. Man konnte überall hingehen, es blieb immer
dasselbe blasse und volle Bild, dasselbe Gesicht, und das Gesicht
blickte einen ernst und zart an.

Zu dieser Zeit wurde, unter dem verschwiegenen Aufruf: Geld her! ein
neues Inserat »Fabrikbeteiligung gesucht« in die Zeitungen gedruckt. Die
kleinen Geschäftsleute des Dorfes hatten Geld haben wollen, waren aber
abgewiesen, und auf spätere Zeiten vertröstet worden. Im Dorf wurde
infolgedessen laut gesprochen: Tobler zahlt nicht! Die Frau wagte sich
kaum noch recht in die innere Ortschaft, sie fürchtete, beleidigt zu
werden. Die hauptstädtische Schneiderin ersuchte brieflich um Einsendung
des Preises für das angefertigte Kleid. Der Betrag belief sich auf rund
hundert Mark, eine dem Frauengedächtnis nur zu gut sich einprägende
Summe.

»Schreiben Sie ihr,« sagte Frau Tobler zum Gehülfen. Es war eben ein Faß
jungen Weines oder sogenannten Sausers angekommen. Schmal wurde auch
jetzt noch nicht im Hause gelebt, das verbot der natürliche Frohsinn,
der sich gerade jetzt wieder einzustellen begann. Mochten die Leute im
Dorf sagen und denken, was sie wollten, auch Doktor Speckers, die seit
drei Wochen ihre Besuche aufgegeben hatten.

Joseph schrieb der Schneiderin, einer Frau Berta Gindroz, einer
Französin: sie solle gefälligst noch ein wenig Geduld haben. Momentan
sei eine Berichtigung nicht gut möglich. Frau Tobler sei übrigens mit
der Arbeit nicht ganz so zufrieden wie frühere Male, indem das Jüpon zu
eng geraten sei, dasselbe drücke sie unter den Armen. Auf alle Fälle
möchte Frau Gindroz betreffs der Zahlung nur ruhig sein. Man könne
zurzeit nur nicht gut den Herrn wegen dieser Sache angehen, Herr Tobler
sei mit Geschäften und Sorgen zu sehr überladen. Ob das Kleid nicht wohl
erst noch müsse geändert werden? Man erwarte hierüber Bescheid und man
bitte, davon überzeugt zu sein, usw.

Frau Tobler unterschrieb den Brief wie ein Geschäftsherr seine
zahlreichen Korrespondenzen zu unterschreiben pflegt.

Der ganze Garten lag voller abgefallener und zugewehter Blätter, da
machte sich der Angestellte eines Nachmittags dahinter und fing an
aufzulesen, zusammenzurechen und zu Haufen zusammenzutragen, was er
vermochte. Der Tag war kalt und finster. Große, unbestimmbare Wolken
lagerten düster am Himmel. Das Haus Tobler schien zu frieren und sich
nach dem edlen, heiteren Sommer zurückzusehnen. Die Bäume in der
Umgebung waren jetzt ganz kahl geworden, ihre Äste waren schwarz und
naß. Der Bahnwärter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war
ein freundlicher, bescheidener, zur Dankbarkeit geneigter Mann, und er
kam nun heran und half Joseph Blätter auflesen, indem er sagte, was in
guten und bessern Tagen recht gewesen sei, das sei nun wohl in schlimmen
Zeiten nichts als nur billig. Er habe manches Gute von Herrn Tobler
genossen. Derselbe habe ihm etwa manche Zigarre gegeben und manches
hübsche Trinkgeld, so sähe er nicht ein, weshalb das immer so andauern
müßte, und er sei jedenfalls einer von denjenigen Bärenswilern, die es
gut mit dem allezeit freigebig gewesenen Ingenieur meinen.

Bald war der ganze Garten gesäubert. »Auch schon wieder eine Arbeit
erledigt,« sagte lachend der Bahnwärter. »Ja junger Herr, es gibt
mancherlei Sorten Beschäftigungen, und in allem, was man mit
aufrichtigem Bemühen tut, kann ein Stück Ehre liegen. Wenn Sie mir jetzt
ein paar von Herrn Toblers Stumpen zum Rauchen geben wollen, so ist mir
das nicht unwillkommen. Bei dieser Witterung kann man einen glühenden
Stengel schon vertragen.«

Frau Tobler ließ dem Mann einen halben Liter »Sauser« geben.

                   *       *       *       *       *

Der Aktienbierbrauerei Bärenswil wurde betreffs Besetzung einer Anzahl
Felder oder Flügel der Reklame-Uhr Offerte gemacht. Die Firma schlug ab,
später vielleicht! Das war ein neuer, peinlicher Mißerfolg, der Tobler
veranlaßte, den Briefbeschwerlöwen zu Boden zu schmettern, wo er in
Stücke flog, die der Gehülfe aufhob. Gleichzeitig wurde auf das
technische Bureau ein neues Zahlungsforderungsgeschütz gerichtet. Die
Kanonenkugel verletzte zwar niemanden, aber sie reizte, ärgerte und
vermehrte die Unruhe.

Das war niemand anderes als der frühere Agent und Reisende Toblers, ein
gewisser Herr Sutter, der jetzt per eingeschriebenen Briefen
daherzutraben kam, um die rückständigen Gehälter und Provisionen, die
sich auf die Konzessionserwerbungen für die Reklame-Uhr bezogen,
einzufordern. Tobler würde diesem Menschen am liebsten zurückgeantwortet
haben: »Du kannst mir in der Gegend von Genua in die Schuhe
hineinblasen, du Narr, was du bist,« aber er mußte vernünftigerweise
auch diese neue, unangenehme Schuldforderung anerkennen und schrieb dem
Mann: »ich kann nicht bezahlen!«

Geduld! Herr Tobler sah sich genötigt, von allen seinen Mitarbeitern,
Lieferanten und Mitmenschen Geduld zu verlangen, gleichsam so: Habt
Geduld, ich, Tobler, meine es ehrlich und aufrichtig. Ich bin so
unvorsichtig gewesen und habe mein gesamtes Barvermögen in meine
Unternehmungen geworfen. Treibt mich nicht bis zum Äußersten. Ich ordne
meine Verpflichtungen, ich kann noch erben, ich besitze noch Ansprüche
auf ein mütterliches Erbteil. Auch habe ich ein neues Inserat,
Kapitalien gesucht, in die Zeitungen, die die Welt bedeuten, rücken
lassen. Der Kopf schwindelt mir zwar ein wenig, aber usw. --

Wegen des zu erwartenden Erbteiles unterhandelte jetzt Tobler mit seinem
Advokaten, an welchen man jeden Tag Briefe und Postkarten schrieb.

Das erste Schützenautomaten-Exemplar war inzwischen fertig geworden, es
funktionierte in der Tat glänzend und erweckte fröhliche Hoffnungen.
Diesem Automaten, meinte sein Erfinder, bleibe es womöglich noch
vorbehalten, die Reklame-Uhr und das darin geworfene Vermögen zu retten.
Der Hilfsmechaniker lud Joseph eines Tages ein, das fertige Werk zu
besichtigen, und dieser folgte der Aufforderung gerne, umsomehr als der
Herbsttag schön und mild war. Er machte sich zu Fuß auf und spazierte
gemächlich gegen das eine gute Stunde weit entlegene Nachbardorf zu,
rechts zur Begleitung der in die Höhe schießende Wald, links der ruhige
See, so ließ es sich ganz gut »in Geschäften« die Landstraße entlang
gehen. In der Ortschaft angekommen, erkundigte er sich nach der
mechanischen Werkstätte, fand sie nach vielem Suchen in den
durcheinander gekneteten und gebauten Dorfgassen und stand nun vor dem
elegant mit Dekorationsfarben angemalten Schützenautomaten. Der
Hersteller desselben, indem er Joseph dartat, wie glatt und geräuschlos
das Ding lief, brummte, nun erwarte man aber auch von Herrn Tobler eine
angemessene Entlöhnung, oder man dürfe, meine man, eine solche
gewärtigen, nachdem man doch, was aber Tobler nur nicht anerkennen
wolle, die Hauptsache am Werk getan habe. Mit Springen, Befehle erteilen
und Umherreisen sei eine Sache eben noch lange nicht in Wirklichkeit im
Gang. Dazu bedürfe es der Hände, die auch tatsächlich arbeiten. Ja,
Joseph solle nur seinen Chef davon unterrichten, wie man hierorts die
Sachlage auffasse, es könne nicht schaden, wenn Tobler es wisse.

Joseph schwieg zu allen diesen unzufriedenen Auslassungen und trat bald
den Heimweg wieder an.

Zu Hause rief man ihm schon von Weitem entgegen, es warte ein Herr unten
im Bureau auf Herrn Joseph Marti.

Es war der Verwalter des hauptstädtischen Stellenvermittlungsbureaus,
der Mann, dem der Gehülfe seine Stelle zu verdanken hatte, ein sonderbar
verwilderter Herr, der aber, wie es schien, die demütigsten und
sanftesten Manieren hatte. Die Herren begrüßten sich gegenseitig
freundschaftlich, beinahe brüderlich, obschon ein bedeutender
Altersunterschied sie trennte. Das gleichsam zerzauste und zerfetzte
Gesicht des Verwalters ließ Joseph an längst überstandene Dinge denken.
Eine armselige Schreibstube tauchte vor seinen inneren Augen auf, sich
selber sah er dort an einem Pult sitzen, dann sah er den Herrn Tobler
zur Tür eintreten, den Verwalter vom Platz aufstehen, wie er sich
umguckte nach dem passenden Menschen, der diesem Herrn Tobler dienen
konnte. Wie weit das alles schon zurücklag.

Was denn den Herrn Verwalter nach Bärenswil hinaufgeführt habe?

Der ältliche Mann, indem er sich im Bureau nach allen Seiten umschaute,
sagte, er komme vor allen Dingen lediglich aus bloßem Interesse, damit
er sich einmal den Ort ansehe, an welchem es, wie es scheine, Joseph
gefalle. Es sei heute in der Schreibstube gerade ein schläfriger Tag
gewesen, keinerlei Aufträge, da habe er sich eben in den Zug gesetzt
und sich den kleinen Ausflug gestattet. Aber ganz nur neugierdehalber
komme er auch nicht, er verbinde gerne mit dem Genußvollen das Nützliche
und Notwendige, und so möchte er sich denn die Frage erlauben, warum ihm
bis heute noch nicht einmal, trotzdem er wiederholt Mahnbriefe
geschrieben habe, der Betrag, den die übliche Vermittlungsgebühr
ausmache, eingesandt worden sei. Ob seine Briefe und Mahnungen nicht
eingetroffen seien?

»Ja, die sind angekommen, aber es ist kein Geld da, Herr Verwalter,«
antwortete Joseph.

»Wie? Und nicht einmal für einen so geringen Betrag?«

»Nein!«

Der Verwalter machte ziemlich nachdenkliche Augen und frug, ob Herr
Tobler zu sprechen sei. Joseph sagte:

»Herr Tobler ist während all dieser Tage für Menschen, die Geld von ihm
haben wollen, unter keinen Umständen zu sprechen. Hiefür bin ich da,
sein Angestellter. Wollen Sie sich nicht einen Moment, bitte, setzen,
Herr Verwalter. Sie werden sich zehn Minuten ausruhen und alsdann wieder
gehen. Bei aller Hochschätzung vor Ihnen bin ich gezwungen, Ihnen zu
sagen, daß man hier im Hause Tobler die Leute, die bei uns etwas zu
fordern haben, sehr ungern sieht. Sowohl Frau wie Herr Tobler haben mir
den bestimmten Befehl erteilt, mit Erscheinungen solcher Gattung kurzen
Handel zu machen, mich mit ihnen in keine Gespräche einzulassen, sondern
sie kühl abzuweisen. Sie selber, Herr Verwalter, haben mir damals, als
ich Ihnen vor dreieinhalb Monaten in der Schreibstube adieu sagte, um
mich nach Bärenswil zu begeben, anempfohlen, mich als treuen, gehorsamen
und fleißigen Mann zu erweisen, damit man mich brauchen könne und mich
nicht nach einem halben Tag schlechtbestandener Probezeit wieder
fortjagen müsse. Sie sehen, ich bin heute noch da, ich scheine mich also
zu bewähren. Ich habe mich in die hiesigen, eigenartigen Verhältnisse
hineingefunden, und ich glaube, ich passe in diese Verhältnisse.«

»Wird Ihnen denn auch Ihr Gehalt ausgezahlt?« fragte der Verwalter. Der
Gehülfe sagte:

»Nein, und das gehört allerdings zu den Punkten, die mir nicht recht
gefallen. Ich habe hierüber schon mehrmals mit Herrn Tobler sprechen
wollen, aber jedesmal, wenn ich den Mund habe auftun wollen, um meinen
Vorgesetzten an diese, wie ich wohl habe empfinden müssen, für ihn nicht
gerade angenehme Sache zu erinnern, ist mir der Mut, zu reden,
vergangen, und ich habe dann jedesmal zu mir gesagt: Du verschiebst es!
Und ich lebe ja, auch ohne Gehalt, heute noch.«

»Wie lebt sich's denn hier. Bekommen Sie gut zu essen?«

»Ausgezeichnet!«

Es bleibe ihm also, meinte sorgenvoll der Verwalter, nach allem was
gesprochen worden sei, nichts anderes übrig, als Herrn Tobler auf
gerichtlichem Wege zu betreiben.

»Tun Sie das,« sagte Joseph. Der Verwalter griff nach dem abgeschabten
Hut, schaute den Gehülfen väterlich an, gab ihm die Hand und ging.

Joseph nahm ein Stück Papier zur Hand und schrieb, da er sich weiter mit
nichts Wichtigerem beschäftigt sah, folgendes darauf:

                            Schlechte Gewohnheit.

    Eine solche ist das Bedürfnis, gleich alles zu bedenken, was mir
    Lebendiges vorgekommen ist. Das kleinste Begegnis erregt in mir eine
    sonderbare Denklust. Eben ist ein Mann von mir weggegangen, der mir
    um der Erinnerungen willen, die mit seiner alten, armen Gestalt
    verbunden sind, lieb und bedeutend ist. Ich glaubte etwas vergessen,
    verloren, oder nur liegen gelassen zu haben, als ich in sein
    Gesicht schaute. Ein Verlust prägte sich sogleich meinem Herzen
    ein und ein altes Bild meinen Augen. Ich bin vielleicht ein etwas
    überspannter, aber ich bin auch ein genauer Mensch. Ich empfinde
    die kleinsten Verluste, ich bin in gewissen Dingen peinlich
    gewissenhaft, und nur ab und zu muß ich mir wohl oder übel gebieten:
    Vergiß das! Ein einziges Wort kann mich in die ungeheuerste und
    stürmischste Verlegenheit setzen, ich bin dann von dem Gedanken an
    dieses scheinbar Winzige und Nichtige erfüllt, durch und durch,
    während die Gegenwart, wie sie treibt und lebt, für mich
    unerklärlich geworden ist. Diese Momente sind eine schlechte
    Gewohnheit. Auch dies ist eine schlechte Gewohnheit, das was ich
    da mache, Gedankenaufnotieren. Ich gehe jetzt zu Frau Tobler.
    Vielleicht hat sie eine Arbeit häuslichen Charakters für mich. --

Er warf das Geschriebene in den Papierkorb und verließ das Bureau. In
der Tat harrte seiner eine häusliche Arbeit, die darin bestand, die für
den Winter bestimmten Vorfenster aus der Bodenkammer hinunter in den
Keller zu tragen, wo sie geputzt und gewaschen werden mußten. So zog er
denn gleich seinen Rock aus und schleppte Fenster hinunter. Frau Tobler
war erstaunt über seinen feurigen Diensteifer, und die Waschfrau, die
inzwischen putzte, sagte zu ihm, er sei etwa noch einer, den man ein
bißchen zu allem brauchen könne. Sie hängte dem Lob eine Lehre an und
bemerkte mit ihrer rauhen Stimme, das sei heutzutage, wo die Welt immer
unsicherer und veränderlicher werde, beinahe notwendig, daß junge Leute
lernten, sich in alles zu schicken. Ein Schaden sei es für einen jungen
Mann jedenfalls nicht, wenn er auch mit den verachteten und geringen
Dingen umzugehen wisse.

Nachdem die Fenster gewaschen waren, mußten sie in die Zimmer getragen,
und in die richtigen Fensteröffnungen ordentlich hineingehängt werden.
Frau Tobler ermahnte den Gehülfen zur Vorsicht, stund dabei und sah ein
wenig ängstlich seinen Aushänge-Bewegungen zu, die ihr manchmal zu kühn
vorkamen. »Wie gut dieser Frau der Ausdruck des Bangens steht,« dachte
der Fensterarbeiter und war sehr zufrieden mit sich.

Das war vielleicht auch so eine schlechte Gewohnheit von ihm, daß er
zufrieden, ja glücklich war, sobald es ihm vergönnt wurde, körperlich zu
arbeiten. Strengte er denn wirklich seinen Geist, die bessere
Menschenhälfte, so ungern an? War er zum Holzhauer oder zum Kutscher
geboren? Hätte er in Urwäldern oder auf Meerschiffen als Matrose leben
sollen? Schade, daß es in der Nähe von Bärenswil keine Blockhäuser zu
bauen gab.

Nein, geistlos war er vielleicht keineswegs, das ist übrigens nicht so
rasch irgend ein gesundgeborener Mensch. Aber er hatte so etwas
Körperbevorzugendes an sich. In der Schule, er erinnerte sich öfters
lebhaft daran, war er ein guter Turner. Er liebte das Gehen über Land,
das Steigen auf Berge, das Abwaschen von Küchengeschirr. Er hatte
letzteres zu Hause als Knabe getan und dabei seiner Mutter Geschichten
erzählt. Arme- und Beinbewegungen empfand er als etwas Köstliches. Das
Baden in kaltem Wasser war ihm lieber als das Nachdenken über hohe
Dinge. Er schwitzte gern, das ließ unter Umständen tief blicken. War er
der geborne Ziegelsteinträger? Hätte man ihn an einen Karren spannen
sollen? Herkules war er jedenfalls nicht.

Ja, er hatte schon Geist, wenn er nur wollte, aber er machte zu gern
Pausen im Denken. Als er eines Tages mitten im Dorf Bärenswil einen Mann
sah, der Säcke schleppte, dachte er sogleich, das tue er auch, sobald
Tobler ihn fortjage. Das war im Hochsommer gewesen. Und jetzt ist es
Herbstende und man hängt Vorfenster an.

Nach Beendigung dieser Arbeit gab es jungen Wein zu trinken. Auch war es
schon Nacht und Abendessenszeit. Die Unterhaltung am Tisch war sehr
lebhaft, man blieb sitzen, nachdem alle schon längst mit Essen fertig
geworden waren. Der Mann der Waschfrau, ein einfacher Fabrikarbeiter,
fand sich ein. Frau Tobler lud ihn zu einem Glas Sauser ein, er setzte
sich mit an den Tisch, und bald gab er ein fröhliches Lied zum besten.
Es wurde ihm immer von neuem eingeschenkt, auch die andern tranken viel.
Zu Bett mit euch, Kinder! rief nach einer Stunde Frau Tobler. Pauline
trug Dora auf dem Arm von einem zum andern, um gute Nacht zu sagen. Die
Waschfrau bewies, daß sie ein drolliges, schnellläufiges Mundwerk hatte,
sie erzählte in einem fort Dorfgeschichten, Liebes- und
Schauergeschichten. Der Mann fing wieder an zu singen. Seine Frau wollte
es ihm verbieten, denn was er sang, war sehr frei, aber Frau Tobler
sagte, er solle nur singen, was ihm einfalle, die Kinder seien ja jetzt
fort, und ihnen andern allen könne ein ausgelassenes Wort nicht viel
schaden, sie selber höre so etwas auch gern einmal an. Der Zauber des
Weines legte dem schwärzlich anzuschauenden, einäugigen Gesellen tolle
Reimereien auf die Lippen. Es wurde unbändig gelacht, am meisten von
Frau Tobler, die »profitieren« zu wollen schien, da sie in den letzten
Wochen zu ihrem Kummer fast gar keine Geselligkeiten genossen hatte.
Wenn es keine feinen Leute waren, die ihr heute abend Gesellschaft
leisteten, so waren es doch fidele. Arme Leute, aber aufrichtig
fühlende. Außerdem empfand sie, sie konnte selber kaum sagen, aus
welchem Grunde, das Bedürfnis, einmal recht ausgelassen zu sein, derart,
daß sie Vergnügen fand, die Gläser immer wieder neu zu füllen, bis es
Mitternacht wurde. Joseph war betrunken, er lallte und war nahe daran,
unter den Tisch zu sinken. Die andern hielten sich besser. Frau Tobler
hatte sich überhaupt mehr dem Genuß des Gespräches und des Lachens
hingegeben als dem des Trinkens. Der Arbeiter aber schien ungeheuer viel
vertragen zu können. Joseph stolperte eben die Treppe hinauf, um in sein
Zimmer zu gelangen, als Tobler erschien mit der ärgerlichen Frage, warum
wieder einmal die Verandalampe nicht gebrannt habe. Im Garten draußen
sei es stockdunkel, da könne einer ja Arm und Beine brechen. Er sah, was
im Wohnzimmer vorging. Frau und Mann aus der Nachbarschaft waren
aufgestanden. Ein wenig später sagten die Leute schüchtern gute Nacht
und gingen. Was das für eine Wirtschaft hier sei? fragte Tobler seine
Frau. Diese konnte nur noch lachen und deutete mit dem Finger auf den
Angestellten, der mit der einfachen Schwierigkeit kämpfte, die Treppe
emporzugelangen. Der Herr war müde, so sagte er nicht viel. »Gesausert«
war worden, es war ein wenig unschicklich, aber es war kein Verbrechen.

Am andern Morgen stand Joseph etwas früher auf und arbeitete extra
fleißig, er empfand Gewissensbisse und fürchtete sich vor der Begegnung
seines Meisters. Aber es wurde ihm weder ein Ohr abgerissen noch flog
etwas um seinen Kopf herum. Tobler war freundlicher und vertraulicher
als je, ja, er machte sogar Witze.

Im Laufe des Tages gestand der Gehülfe Frau Tobler, daß er sich
gefürchtet habe. Sie schaute ihn groß an, als begreife sie irgend etwas
an ihm nicht und sagte:

»Sie sind ein sonderbares Gemisch von Feigheit und Kühnheit, Joseph. Auf
die schmalen Gesimse zu treten und mitten im Spätherbst in den See
hinauszuschwimmen, das tun Sie ohne die mindesten Furchtgedanken. Auch
eine Frau können Sie beleidigen, ohne stutzig zu werden. Wenn es aber
gilt, vor dem Herrn und Vorgesetzten einen ganz unschuldigen Fehler zu
vertreten, so fürchten Sie sich. Da ist man ja wahrhaftig gezwungen,
anzunehmen, entweder Sie sind Ihrem Herrn sehr zugetan, oder aber, Sie
hassen ihn heimlich. Was soll man glauben? Was soll ein so
scharfausgeprägter Respekt eines Mannes vor einem andern Mann bedeuten?
Gerade jetzt, wo es um die äußere Weltlage Toblers schlecht steht, muß
es einen wundern, Sie diesen Mann in so zarter Weise hochachten zu
sehen. Ich bin noch nicht klug aus Ihnen geworden. Sind Sie großherzig?
Sind Sie ein Niedriger? Gehen Sie arbeiten. Ich soll nicht heftig werden
und bin es doch Ihnen gegenüber. Und fürchten Sie sich in Zukunft nicht
mehr vor meinem Mann, er hat noch keinem Menschen den Kopf abgebissen.«

Das war im Wohnzimmer gesprochen worden. Etwas später überraschte Joseph
die Frau oben an der Türe ihres Schlafzimmers, sie hatte dieselbe
zufällig offen stehen lassen, im Negligé. Sie stand, ohne an etwas zu
denken, mit entblößten Armen neben dem Waschtisch und war mit dem Ordnen
der Haare beschäftigt. Als sie Joseph hörte und sah, stieß sie einen
Schrei aus und warf die Türe zu. Welche herrlichen Arme! dachte der
Gehülfe und ging die Treppe weiter hinauf. Er hatte oben auf dem Boden
etwas aus altem Gerümpel hervorzusuchen. Statt das was er suchte, fand
er ein Paar alte Schaftstiefel von Tobler, die augenscheinlich nicht
mehr benutzt wurden. Er schaute diese hohen Stiefel unverhältnismäßig
lange an, bis er in Lachen ausbrach ob seiner Gedankenabwesenheit.

Da erschien Silvi auf dem Estrich, sie trug Wäsche in der Hand, die sie
hier oben abzulegen hatte. Sie blieb vor Joseph stehen und betrachtete
ihn, als ob sie ihn überhaupt noch nie gesehen hätte. Was für ein Kind!
Dann legte sie ihre Sachen ab, aber statt hinunterzugehen, stöberte sie,
und zwar scheinbar ohne viel Vernunft, in einer offenen Kiste herum und
richtete an den ihr zuschauenden jungen Mann allerhand unverständliche
Fragen. Silvis Anblick wurde demselben rasch unerträglich und er ging
hinunter.

Im Bureau: »Frau Tobler wundert sich über mein Betragen. Dagegen möchte
ich mich fast über das ihrige verwundern. Wie kommt sie dazu, solche
Worte zu mir zu sagen, sie, die unselbständige Frau, die Mutter Silvis?
Gleich werde ich gehen und es ihr ins Gesicht hineinsagen, was für eine
Rabenmutter sie ist. Ich bin zwar nur der Angestellte des Hauses Tobler.
Dieses Haus aber wankt, mag denn auch meine Lebensstellung wanken.«

Neben der Wohnzimmertüre stand Frau Tobler und sprach mit großer
Erregung ins Telephon hinein. Offenbar handelte es sich wieder einmal um
eine unangenehme Sache. Ihr Rücken zitterte und die Schultern hoben und
senkten sich stürmisch. Sie sprach streng und gebieterisch. Sollte der
andere Sprecher ein unverschämter Gläubiger sein? Ihre Stimme klang so
hoch, daß sie in den eigenen Tönen und Bändern zu zerreißen drohte.
Endlich war sie fertig. Sie zeigte Joseph ein ebenso stolzes wie
schmerzvolles Gesicht. Sie hatte während des Sprechens geweint.

»Wer war das?« fragte er.

»O,« sagte sie, »der Bauunternehmer, der, der die Grotte gemacht hat. Er
will Geld. Ich habe ihn aber, wie Sie soeben werden gehört haben, in die
Schranken zurückgewiesen.«

Sie sagte nicht, in was für Schranken. Aber ob sie es nun gesagt oder
nicht gesagt hatte, jedenfalls hatte der Gehülfe nicht mehr den Mut, sie
eine Rabenmutter zu schelten.

Er hätte auch ebenso gut ans Telephon gehen können. Ob er es denn nicht
klingeln gehört habe? Nein? Dann solle er doch immer die Bureautüre ein
wenig offen stehen lassen, dann werde er es schon hören.

Joseph hatte es ganz gut klingeln gehört, aber er war zu träge gewesen
und er hatte gedacht: »Die kann jetzt auch einmal telephonieren. Das
schadet dem Hochmutston nichts.«

Walter kam und erzählte, wie Edi, sein Bruder, einem Bärenswiler Herrn
die Zunge ausgestreckt, und die lange Nase gemacht habe. Edi sei in des
Mannes Garten gedrungen, um Birnen zu nehmen, er sei aber überrascht
worden und habe eine Ohrfeige gekriegt. Aus der Ferne habe dann Edi dem
Mann allerhand Schimpfwörter nachgerufen.

Das müsse sie ihrem Mann sagen, meinte Frau Tobler.

»An Ihrer Stelle, Frau Tobler«, warf Joseph ein, »würde ich selber den
Knaben bestrafen, meinetwegen hart, aber ich würde es niemals 'meinem
Mann' sagen. Erstens ist Herr Tobler jetzt, wie ja Sie am besten wissen,
mit anderweitigen Dingen genug beschäftigt, und zweitens sind Sie doch
Edis Mutter und können gewiß ebenso gut wie Ihr Mann die Strenge, womit
der Schlingel bestraft werden soll, messen. Hört Herr Tobler heute abend
wieder, wie nun schon so oft, solcherlei Klagen aus Ihrem Munde, so
dürfte er leicht außer sich geraten, und die Strafe wird nur zu leicht
eine grausame, aber keine gerechte sein. Denken Sie doch, gnädige Frau,
in welche Wutstimmung Sie Ihren Mann versetzen, wenn Sie ihn mit
derartigen, in der Tat nicht sehr gewichtigen Dingen, in dem Moment
belästigen, den er dazu benutzen will, wieder ein wenig im Kreise seiner
Familie von seinen Geschäften und Gelderwerbsplänen auszuruhen, und Sie
werden mir, so sehr Sie auch geneigt sind, mich für Ihren Kränker zu
halten, recht geben. Verzeihen Sie mir. Ich habe im Interesse des Hauses
Tobler gesprochen, ich liebe dieses Haus, ich habe den Wunsch, hier nur
nützlich zu sein. Sind Sie mir böse, Frau Tobler?«

Sie lächelte und schwieg, indem sie es scheinbar für überflüssig fand,
ein Wort zu erwidern. Sie ging in die Küche hinaus, er ins Bureau
hinunter.

Herr Tobler kam zum Abendessen nach Hause, was selten geschah. Wie es
gehe zu Hause, fragte er mit dunkler, gepreßter Stimme, er befand sich
in übler Laune. Joseph fühlte sich sogleich unbehaglich beim Klang
dieser Stimme. Diese Stimme, welchen Eindruck sie auf ihn machte! Mußte
denn Tobler gerade zum Essen heimkommen, um zu konstatieren, wie sein
Gehülfe es sich wohl schmecken ließ? Der Appetit verging ihm beinahe,
und er nahm sich vor, gleich nach dem Essen noch rasch zur Post ins Dorf
zu springen. Tobler hatte seinen Überzieher mühsam abgelegt. Joseph
dachte bei sich, vielleicht wäre es gut getan gewesen, wenn er vom
Platz aufgesprungen wäre und dem Herrn geholfen hätte, aus dem Mantel
herauszukommen. Das würde womöglich Toblers schlechte Laune, die man ihm
anmerkte, bedeutend gebessert haben. Warum nur so wenig zuvorkommend? Ob
ihm das an der Mannesehre geschadet hätte? Schöne Ehre, dazusitzen und
ängstlich zu hoffen, es werde keine Szene geben. Toblers Auftreten ließ
Joseph immer Szenen befürchten. Ja, dieser Mann hatte etwas so
Zurückgebändigtes an sich, etwas dick und rot Aufgehäuftes, etwas
innerlich Knatterndes und leise Krachendes. Das sah aus, als ob es jeden
Moment losbrechen möchte. Und da war es denn wirklich nicht angebracht,
an Ehrverletzung zu denken, da tat man einfach das Gute, das Notwendige
und das Zornesausbruch-Verhütende. Man zog einen Überzieher aus, und der
ganze Familienabend konnte gerettet sein. Tobler konnte ja so entzückend
kameradschaftlich werden, wenn er bei Laune war. Geradezu freigebig.
Aber Joseph hatte sich geschämt, artig zu sein, und noch etwas, die Frau
tat jetzt, als ob er an einem Schnürchen mechanisch wäre aufgezogen
worden, den Mund auf und erzählte in aufreizendem Tone die Geschichte
und Sünde Edis.

Der Vater trat zu dem Sohn hin und versetzte demselben einen Schlag an
den kleinen Kopf, der einen starken Mann hätte umwerfen können, wie mehr
ein derartiges Bürschchen, wie der Edi eins war. Alle im Zimmer
zitterten. Frau Tobler senkte ihre Augen schamhaft. Es tat ihr jetzt
leid, gesprochen zu haben. Tobler jagte Edi mit Hieben und Stößen in die
dunkle Nebenkammer hinein. Walter, der kleine Angeber, war totenbleich
geworden. Dora umklammerte den Arm der Mutter. Diese wagte zu sagen, es
sei genug, Tobler solle sich beruhigen. Dieser stöhnte.

»Eine unbegreifliche Frau,« murmelte Joseph für sich.

Das müsse noch sein, zu der Zeit, da sowieso im ganzen Dorf alles, was
eine Stimme und ein Maul habe, wider ihn rede, sagte Tobler, indem er
sich an den Tisch setzte. Solche Rangen! Damit jeder Beliebige bald mit
Fingern auf ihn, den Erzieher und Vater, deuten dürfe und sagen dürfe,
die Jungen machen's halt wie der Alte. So wie man nur einen Fuß ins Haus
setze, springe einem eine Widerwärtigkeit entgegen. Da solle einer noch
den Mut haben, zu hoffen, es sei irgend eine Wendung zu Besserem
möglich. Mit den eigenen Kindern sei man gestraft. Das komme, weil man
sich verpflichtet glaube, sie ordentlich zu halten, zu kleiden und zu
ernähren. Der Teufel auch. Barfuß mußten sie ihm nächstens zur Schule
gehen, die Spitzbuben, und trockenes Brot zu essen haben statt Fleisch.
Er werde einen andern Takt einführen. Aber das sei gar nicht nötig, es
mache sich bald von selber. Wenn bald nichts mehr werde zu essen da
sein, wolle er sehen, daß diese seine Brut ganz anders sich aufführe.

Er versündige sich, und es genüge jetzt, sagte Frau Tobler.

                   *       *       *       *       *

Tobler führte kein anderes Regiment in seinem Hause ein, Taktstock und
Tonart blieben dieselben im Abendstern. Der Dirigent hatte zu viel
anderes im Kopf, und der Hülfsdirigent war eine zu bescheidene,
zu zufriedene Natur. Dem brauchte man ja nicht einmal die längst
verfallenen Gehälter auszubezahlen. Der nahm mit der Idylle vorlieb, mit
dem, was da war. Wolken und Winde flogen auch um das Haus Tobler noch
herum, und so lange diese Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es
den Gehülfen auch nicht ans Fortgehen mahnen.

Eines Tages schneite es. Erster Schnee im Jahr, wie bist du nur so
erinnerungsreich anzuschauen. Altes Erlebtes fliegt mit dir stürmisch
dem Erdboden zu. Die Gesichter von Vater und Mutter und Geschwistern
lösen sich deutlich und vielsagend von deinen nassen, weißen Schleiern
ab. Es wird einem so ernst und so lustig zumut, wenn du daherkommst, mit
deinen unzähligen Flocken. Man glaubt, du seiest ein Kind, ein Bruder
oder eine liebe, zaghafte Schwester. Man hält die Hand hin, um dich
aufzufangen, nicht dich ganz, sondern nur kleine Stücke von dir. Der
Kübel, der dich auffangen wollte, müßte breit und groß sein, wie die
Erde. Lieber, erster Schnee, schneie! Es macht sich ganz prachtvoll, das
weiche Ding, das du da über Toblers Haus und Garten in aller Stille
breitest. Frau Tobler ruft erstaunt aus: »Es schneit!« Die Kinder kommen
mit Geschrei und mit Flocken in den geröteten Gesichtern und mit
Schneestücken in den Haaren in die warme Stube hinein. Da wird Pauline
im Garten bald Wege in den Schnee hineinscharren und fegen müssen, damit
Herrn Toblers Füße und Schuhe nicht allzu naß werden.

Tobler schickte auch seine Buben noch nicht barfuß zur Schule. Solch
eine Verordnung hatte ihre guten Wege. Auch zu essen gab es noch immer
in der netten Villa trotz des wilden Schneegestöbers und trotz Kälte und
Nässe. Joseph zog seinen Überzieher an, wenn er zur Post lief, es war
ein geschenkt bekommener, aber er gab trotzdem warm und kleidete hübsch.
Frau Tobler bat den Gehülfen, ihr aus dem Dorf etwas zum Lesen
mitzubringen, das Lesen fange an in die langen Nächte ganz gut zu
passen. Jassen könne man auch nicht jedesmal nach dem Abendessen. Joseph
ging in die Gemeindebibliothek und holte und brachte Lesestoffe. Die
Mädchen gingen in kleinen, roten, dicken Überkleidern in den Schnee
hinaus, mit Schlitten, um den Hügel hinunterzufahren, aber es ging noch
nicht recht, der junge Schnee war zu naß und saß nicht fest genug auf
der steinigen Erde. Leo, der Hund, half mit sich umherzutummeln.

Wie doch alle vier Jahreszeiten ihren besonderen Geruch und Ton haben.
Den Frühling meint man, wenn man ihn sieht, nie so gesehen zu haben, nie
so besonders. Im Sommer ist einem die Sommerüppigkeit jedes neue Jahr
neu und zauberhaft. Den Herbst hat man sich früher nie recht angeschaut,
erst dieses Jahr, und im Winter ist wieder der Winter ganz neu, ganz,
ganz anders wie vor einem oder vor drei Jahren. Ja, auch die Jahre haben
ihre eigene Note und ihren eigenen Duft. Das Jahr da und da zugebracht
zu haben, heißt es erlebt und gesehen haben. Orte und Jahre sind eng
miteinander verbunden, und erst Ereignisse und Jahre? Die Erlebnisse
können ein Jahrzehnt ganz neu färben, wie mehr und wie rascher ein
kurzes Jahr. Ein kurzes Jahr? Joseph ist mit diesem Ausspruch keineswegs
zufrieden. Soeben ist er vor der Villa gestanden und hat, in Gedanken
verloren, gesagt: »Solch ein Jahr, wie lang und wie voll ist es doch.« --

Und das Lange war ihm nicht rasch vorübergegangen, erst als er an
dasselbe dachte, schien es ihm Flügel, Federn und Flaumesleichtigkeit
gehabt zu haben. Es war nun Mitte November, aber wenn er es sich recht
überlegte, so hatte er schon im Mai der Welt diese Miene und diese
Manieren und diese Gedanken gezeigt. Er hatte sich, wie seine Freundin
Klara sagte, wenig verändert.

Und die Welt, verändert sie sich? Nein. Das Winterbild kann sich über
die Sommerwelt werfen, aus dem Winter kann Frühling werden, aber das
Gesicht der Erde ist dasselbe geblieben. Es legt Masken an und ab, es
runzelt und lichtet die große, schöne Stirne, es lächelt oder es zürnt,
aber bleibt immer dasselbe. Es liebt die Schminke, es färbt sich bald
bunter, bald matt, bald ist es glühend und bald blaß, es ist nie ganz
dasselbe, es verändert sich immer ein wenig und bleibt doch immer
lebendig und ruhelos gleich. Es blitzt mit den Augen Blitze und donnert
mit seiner gewaltigen Stimme den Donner, es weint den Regen in Strömen
herab und läßt den saubern, glitzernden Schnee zu seinem Mund
herauslächeln, aber an den Zügen und Linien des Gesichtes verändert sich
spurwenig. Manchmal nur fährt ihm ein schauderndes Erdbeben, ein
Hagelsturz, eine Fluten-Überschwemmung oder ein Vulkanfeuer über die
ruhige Oberfläche dahin, oder es erbebt und erschaudert innerlich von
Welt- und Erdempfindungen und -Zuckungen, aber es bleibt dasselbe. Die
Gegenden bleiben dieselben, Städteansichten allerdings weiten und runden
sich aus, aber wegfliegen und sich einen andern Ort aussuchen, von einer
Stunde auf die andere, das können Städte auch nicht. Die Ströme und
Flüsse fließen dieselbe Bahn wie seit Jahrtausenden, sie können
versanden, aber sie stürzen nicht plötzlich über ihre Strombetten an die
offene leichte Luft hinaus. Das Wasser muß sich durch Kanäle und Höhlen
hindurcharbeiten. Das Strömen und Wühlen ist sein uraltes Gesetz. Und
die Seen liegen, wo sie seit langer, langer Zeit liegen. Sie springen
nicht zur Sonne hinauf und spielen nicht Ball wie Kinder. Sie sind
manchmal empört und schlagen ihre Wasser und Wellen zornig zischend
zusammen, aber sie verwandeln sich weder eines Tages in Wolken noch
eines Nachts in wilde Pferde. Alles in und auf der Erde gehorcht
schönen, strengen Gesetzen, wie die Menschen.

Es war also jetzt Winter geworden um Toblers Haus herum.

                   *       *       *       *       *

Einen Sonntag gab es zu dieser Zeit, an dem Joseph geglaubt hatte, in
die Hauptstadt fahren, und sich wieder einmal amüsieren zu sollen. In
der Stadt hatte er Nebel in den Straßen gefunden, nasse Blätter am
Boden, Bänke in den Anlagen, auf die man sich jetzt nicht mehr setzen
konnte noch mochte, in den innern Gassen Lärm und am Abend vor den
zahlreichen Kneipen gröhlende Betrunkene. Eine halbe Stunde lang war er
bei seiner Frau Weiß gewesen, um ihr zu erklären, wer Tobler und Frau
Tobler seien, aber eine innere Scham und Ungeduld hatte ihn bei der
ruhigen und gelassenen Frau nicht lange gelitten, er war wieder in die
Gassen der Sonntagnacht hinuntergegangen und hatte ein paar Lokale
zweifelhaften Genres aufgesucht, um sich zu »amüsieren«. War er der
Mensch dazu gewesen? Jedenfalls hatte er viel Bier getrunken, und im
»Wintergarten« hatte er mit jungen, gigerlhaften Italienern am Büffet
Händel angefangen. Ebendaselbst stieg er auf die kleine Variétébühne,
vor aller Anwesenden Augen, und zum größten Gaudium derselben, und fing
an, den Gaukler, der sich dort produzierte, in den Gesetzen des
Geschmackes und der körperlichen Geschicklichkeit zu unterrichten, bis
er schließlich von einer Handvoll Kellner zum Lokal hinausgewiesen
wurde.

In der Kälte der Nacht setzte er sich in den Anlagen auf eine Bank, um
sich den Rausch von der herrschenden, rauhen Witterung aus Kopf und
Gliedern hinausblasen zu lassen. Ein wahrer Sturmwind sauste und
rüttelte in den Ästen der Parkanlagebäume. Das aber schien einem
zweiten, nächtlich hier, wie es schien, ebenfalls ausruhenden Menschen,
der sich auf die Bank _vis-à-vis_ von Joseph gelagert hatte, gänzlich
gleichgültig zu sein. Was konnte das für ein Mensch sein, und was hatte
ihn veranlaßt, sich hier, gleich Joseph, in die offene, rücksichtslose
Sturmnacht zu setzen? Tat man solches? Der Gehülfe, irgend ein Unglück
oder einen Schmerz ahnend, trat auf die ruhende, dunkle Gestalt zu und
erkannte -- Wirsich.

»Sie hier? Wie geht's Ihnen denn, Wirsich?« frug er erstaunt. Sein
Rausch war mit einmal verflogen. Wirsich gab lange keine Antwort. Dann
sagte er:

»Wie es mir geht? Schlecht. Wer läge sonst hier im Regen und in der
Kälte? Ich bin ohne Stellung und ohne jeden Halt. Ich werde stehlen, ich
werde ins Gefängnis kommen.«

Er brach in lautes, elendes Weinen aus.

Joseph bot seinem Vorgänger in Toblers Amt ein Goldstück an. Dieser nahm
es, ließ es aber zu Boden fallen. Der Gehülfe schrie ihn an:

»Seien Sie doch nicht so borniert, Mensch. Nehmen Sie das Geld. Tobler
selber hat es mir heute zaudernd genug gegeben. Wir dort oben im
Abendstern haben jetzt auch sozusagen kein Geld mehr, aber wir lassen
den Mut keineswegs sinken. Sie, Wirsich, brauchen durchaus nicht zu
sagen, Sie müssen stehlen gehen. Da schlägt man sich lieber mit der Hand
eins auf den Mund, bevor man so etwas sagt. Warum stehlen gehen? Gibt es
nicht eine Schreibstube für Arbeitslose? Aber Sie schämen sich wohl,
dorthin zu gehen, zu dem Herrn Verwalter, der ein sehr, sehr lieber,
mildedenkender, erfahrener Mensch ist. Wir im Abendstern, wir sind eines
Tages freidenkend genug gewesen und haben uns aus dieser Schreibstube
einen jungen und in der Tat vielleicht nicht ganz tüchtigen, wohl aber
brauchbaren und schmiegsamen Menschen, namens Joseph Marti, geholt, weil
Herr Wirsich nicht mehr hat gut tun wollen. Gehen Sie und arbeiten Sie,
fragen Sie morgen früh überall, wo Sie auch mit dem Fuß hintreten, nach
Arbeit, und sein Sie überzeugt, man gibt Ihnen irgendwie und wo welche.
Was für Manieren! Sie werden an manchen Orten sicherlich schnöde und
kalt abgefertigt werden, aber dann gehen Sie eben weiters, bis Sie
gefunden haben, was Sie in die Lebenslage versetzt, aus welcher heraus
man langsam wieder ein Mitmensch wird. Man soll sich verbieten, ans
Stehlen zu denken. Der gesunde Kopf soll der Gebieter sein und bleiben,
man soll ihn nicht reizen und reizen, bis er zum Narren und Schurken
wird. Doch jetzt würde ich an Ihrer Stelle mit dem Gelde da, das nicht
ich, sondern Tobler Ihnen jetzt gegeben hat, irgend ein vernünftiges
Nachtlager für den vorbereitenden Schlaf aufsuchen gehen. Sagen Sie, was
macht Ihre Mutter?«

»Krank!« machte Wirsich mehr mit der Hand als mit dem Mund. Joseph rief
aus:

»Und wegen Ihnen, nicht wahr? Entgegnen Sie mir nichts, ich weiß es, als
ob ich der ständige Zeuge dieser Krankheit und dieses Verfalles gewesen
wäre. Welche Mutter verzweifelt nicht, wo der Sohn aus jeder Art
schlägt, derart, daß er dem fleißigen Zigarrenstummelaufleser nicht mehr
gerade in die Augen zu blicken wagt? Da ist sie jahrelang stolz auf den
Herrn Sohn gewesen, hat stets zu ihm hinauf mit den Augen der Liebe und
Bewunderung geschaut, hat ihn gesorgt und gepflegt, lebt noch, ist
krank, aber könnte gesund sein in den alten und ausglimmenden Tagen,
wenn der Gegenstand der Pflege und Liebe recht und tüchtig und nur ein
strohhalmdünn wacker tun wollte. Es brauchte ganz wenig, und die alte
Frau wäre zufrieden, und sie würde versuchen, ihrem alten, zerbrochenen
Stolz neue Flammen anzuhauchen. Ihr Kind würde sie schon um der Versuche
willen, honett und stark zu bleiben, beinahe anbeten. Und der
Vergeßliche und Entartete ist dazu noch der einzige Sohn, die erste und
letzte Möglichkeit des mütterlichen Gefühlsfeuers, und er ist plump und
grausam genug, auf die Liebe und tage- und jahrelange Freude täppisch zu
treten. Hören Sie, Wirsich, ich möchte Sie am liebsten durchprügeln.«

Sie gingen zusammen, um eine Schlafstätte ausfindig zu machen. Im
Gasthaus zum »Roten Haus« war noch Licht, sie traten in die Gaststube.
Allerhand Handwerks- und Wandersmenschen saßen um einen Tisch herum,
einer gab Schelmenstreiche, die er scheinbar vielfach verübt hatte, zum
besten, die Übrigen horchten zu. Joseph bestellte ein Nachtessen und
etwas zu trinken. Er würde, dachte er, morgen früh mit dem allerersten
Zug zurück nach Bärenswil fahren.

Es war nur noch ein einziges Zimmer im ganzen Gasthof frei. Wirsich und
Marti schliefen daher beide in ein und demselben Bett. Bevor sie
einschliefen, plauderten sie noch eine ganze halbe Stunde lang zusammen.
Wirsich war nach und nach munter geworden. Joseph sagte ihm, er solle
nur von morgen ab ruhig in diesem Gasthauszimmer wohnen bleiben und hier
fleißig Offertbriefe schreiben, die er, in Kuverts säuberlich gesteckt,
selber an Ort und Stelle hintragen könne. Man müsse sich unter keinen
Umständen schämen, Armut und Not an den heiteren Tag zu legen, dürfe
aber dabei keine gar zu wehleidige Jammermiene machen, sonst widere das
die Leute, auf deren Wohlwollen es ankomme, nur zu bald an. Eine
Trauermiene sei überdies geschmacklos. Das Persönlich-Hingehen zu den
Geschäftsleuten habe das Gute, daß diese meist gebildeten und
vernunftvollen Menschen einem etwa ein Fünfmarkstück in die Hand
drückten, da sie den Beweis vor Augen hätten, daß der Stellensuchende
sich ehrlich Mühe gäbe. So hätten es etliche und andere, die er, Joseph,
sehr gut kenne, gemacht, und sie hätten dabei immer gewisse bescheidene
Erfolge zu erzielen gewußt. Namen und Schicksal von Hülfeflehenden
seien den Reichen meist ganz schnuppe, aber diese Herren gäben eben
etwas, das sei in guten, alten Firmen und Familien von alters her
gutmütiger und vornehmer Brauch gewesen. Wirklich armes müsse zu
wirklich vornehmem Wesen hingehen, in aller Ruhe, dort sei es immer noch
am wenigsten am Halse geschnürt und könne atmen und könne sich zeigen,
wie es beschaffen sei und so, wie es eben einmal leide. Man müsse, wenn
man schon nun einmal am Boden liege und Not erdulde, lernen, mit Anstand
und Freiheit zu zeigen, daß man bitte, das entschuldige und verstehe
man, das erweiche ein wenig die Herzen und könne niemals die gute und
geschmeidige Sitte verletzen. Voll Haltung müsse aber einer dabei sein,
dürfe nicht zu greinen anfangen wie ein halbjähriges Wickelkind, sondern
solle zeigen durch sein Benehmen, daß er von etwas Großem und Mächtigem,
vom Unglück, darniedergeworfen worden sei. Das ehre wiederum ein wenig
und veranlasse den Härtesten zur flüchtigen, süßen, edlen,
anstandsvollen Milde. So, jetzt habe er ihm da eine lange Rede gehalten,
und gehörig schwungvoll obendrein, jetzt aber, wie er zu tun gedenke,
wolle er schlafen, denn er müsse früh wieder aufstehen.

»Sie sind, glaube ich, ein guter Kerl, Marti,« sagte der andere. Dann
schliefen sie ein. Es war schon halb vier Uhr morgens. Um acht Uhr, nach
drei Stunden Schlaf und einer dämmernden Eisenbahnfahrt, stand der
Gehülfe wieder im technischen Bureau, zwischen Zeichen- und
Schreibtisch. Jetzt ging er ins Wohnzimmer frühstücken.

                   *       *       *       *       *

Acht Tage darauf hatte er sich wieder, und zwar als Arrestant, nach der
Stadt zu begeben. Einen zweitägigen Arrest hatte er dafür abzusitzen,
daß er die herbstliche Wiederholungsübung versäumte. Er meldete sich zur
bestimmten Stunde in der Kaserne an, man nahm ihm die Militärpapiere ab
und führte ihn in den Karzer. Dort lagerten auf Pritschen und
untergelegten Mänteln an die fünfzehn jüngere und ältere Männer, die
alle den Neuankömmling musterten. Es roch nach allem möglichen
Schlechten in dem Raum, dessen vergittertes Fenster direkt an den
Straßenboden anstieß. »Ich habe wenigstens zu rauchen,« dachte Joseph
und begann, es sich auf einer der Pritschen nach Möglichkeit bequem zu
machen. Bald hatten ihn alle Insassen der bunten Reihe nach
angesprochen. Es waren aller Art Menschen, die ähnliche Strafen wie der
Gehülfe zu verbüßen hatten. Einer wie der andere schimpfte. Entweder war
es ein höherer Offizier, der irgend etwas Ungeheuerliches begangen
haben sollte, oder es wurde irgend einem Staats- oder Zivilbeamten
heimgezündet. Die Gesichter aller dieser fünfzehn oder sechzehn Menschen
drückten Langeweile, Appetit nach Bewegungsfreiheit und Unzufriedenheit
mit der Stumpfheit, die im Raume herrschte, aus. Es lagen welche
Burschen da, die schon wochenlang saßen, einer sogar, ein Melker,
monatelang.

Neben dem Hoteliersohn und Amerikareisenden lag hier der Tapezierer,
neben dem Maurer und Handlanger der Kommis, neben dem Kuhmelker und
Schweizer der reiche, jüdische Handelsmann, neben dem Schlossergesellen
der Bäckermeister. Keiner von den fünfzehn Leuten glich dem andern, aber
alle glichen sich in der Art, wie sie schimpften und Kurzweil trieben.
Daß auch wohlhabende und gebildete Leute da waren, hatte seinen Grund in
der gesetzlichen Unmöglichkeit, Arreststrafen in Geldstrafen
umzugestalten, so daß hier eine Gleichheit der Behandlung herrschte, wie
man sie im ungebändigten, offenen Leben lange suchen konnte.

Plötzlich wurde ein, wie es Joseph schien, regelmäßig an der
Tagesordnung stehendes Spiel arrangiert. Es hieß das »Schinkenklopfen«
und bestand in einem ziemlich brutalen Draufloshauen mit der gestreckt
flachen Hand auf den Podex desjenigen, der verdammt war, denselben den
unbarmherzigen Hieben darzuhalten. Einer der Nichtmitspieler mußte dem
Dulder die Augen zudecken, damit er sich nicht die Herkunft der Hiebe
und Schläge merken konnte. Erriet er nun aber trotzdem die Person
dessen, der ihn gehauen hatte, so war er frei, und der Ertappte hatte
sich, willig oder nicht, an die unangenehme Stelle des Erlösten
herabzubücken, bis auch ihm das rasch- oder langsam-erkämpfte Glück des
richtigen Erratens zufiel.

Dieses Spiel wurde eine gute Stunde aufs eifrigste betrieben, bis die
Hände vom Schlagen ermüdet waren. Nach einiger Zeit kam das Essen, du
liebe Zeit, es war eben eine Karzerkost, keine Bohnen, Rüben oder
Blumenkohl, nicht einmal ein kleines Schweinefilet, sondern Suppe und
ein Stück Brot, langweiliges, trockenes Brot, nebst einem Schluck
Wasser. Die Suppe war auch eine Art Wasser, und die Löffel waren
außerdem noch in ziemlich degoutierender Art und Weise an die
Suppentöpfe angekettet, wie wenn einer das Blei hätte stehlen wollen,
wozu doch sicherlich kein Grund da war. Aber es war praktisch, dieses
Anketten, und militärisch und beleidigend, und Karzerinsassen waren
begreiflicherweise nicht dazu da, um geschmeichelt, liebkost und
flattiert zu werden. »Der verächtlichen Handlungsweise die verächtliche
Strafe«: das stund scheinbar auf dem Eßgeschirr deutlich und ankältend
geschrieben.

Langweilige, öde zwei Tage!

Der Schweizer oder Melker war von allen noch der Lustigste. Diesen
wahrhaft schön anzuschauenden Burschen hatten »sie« gefesselt
dahergebracht, weil er sich herausgenommen hatte, den Polizeiunteroffizier,
der ihn arretierte, um den Kopf zu schlagen, daß demselben das Blut
zu Mund und Nase hervorspritzte. Für diese Tat wurde natürlich dem
Melker dann ein ganzer Monat oder mehr zu der anfänglichen Strafe
hinzudiktiert, was aber diesen scheinbar unerschrockenen und in Dingen
der schönen Ehre vollständig gleichgültigen Menschen gar nicht weiter
beunruhigte. Im Gegenteil, er schuf sich aus dem stumpfsinnigen,
gezwungenen Daliegen einen possierlichen und fidelen, monatelang
anhaltenden Witz, er verstund es vortrefflich, sich und alle andern zu
unterhalten, und nie wollte in diesem Kellerraum das Lachen ganz
verhallen und erlahmen. Dieser Melker sprach von Staats- oder
Militärpersonen nie anders als im Tone kindlich-kräftiger Überlegenheit
und Übermutes. Nie kam etwas Giftiges und Wütend-Zurückgehaltenes über
seine Lippen. Tausend Anekdoten, die er, erfunden oder wahrhaft erlebt,
erzählte, hatten alle mehr oder weniger zum Inhalt die Betölpelung und
Naseführung irgend welcher Standesmenschen, mit denen dieser schöne,
verdorbene Mensch wie mit lächerlichen und hölzernen Puppen umzugehen
gewohnt schien. Kraftvoll und geschmeidig wie er war, durfte man der
Hälfte seiner Erzählungen ruhig, und ohne die gesunde Vernunft zu
verletzen, Glauben schenken, denn das schien in der Tat solch ein Mensch
zu sein, herkommend direkt noch von den stolzen und unbändigen Ahnen des
Landes, ausgestattet mit längst aus den Generationen entschwundenen
Spiel- und Raufkräften, und mit dem Mute begabt, der eben die Gesetze
und Gebote der weiten Öffentlichkeit fast notwendigerweise verachtete.
Sonderbarerweise trug er, um den Unfug, den er mit Vorgesetzten aller
Art trieb, noch zu schärfen, auf dem Lockenkopf eine Militärmütze, die
er Gott weiß wo noch von einem Dienst her aufbewahrt hatte. Neben all
seinen Vagabondiergewohnheiten schien er indessen durchaus den
einfachen, weicheren Empfindungen nicht abhold zu sein, wenigstens hörte
man ihn von Zeit zu Zeit jodeln und singen, was er sehr schön und voll
Taktgefühl tat. Auch erzählte er nicht ohne Sehnsucht von seinen vielen
und weitläufigen Wanderschaften, die ihn durch das ganze, große
Deutschland, von Landgut zu Landgut, getrieben hatten. Wie er da mit den
Herren und Rittergutsbesitzern umgegangen war, das war, ob es nun
teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählerphantasie
bestehen mochte, höchst possierlich und angenehm, ja sogar romantisch
anzuhören. Dieser Bursche hatte einen wahrhaft schön geschwungenen und
geformten Mund, eine edle und freie und ruhige Gesichtsbildung, und
er würde vielleicht, mußte man, wenn man ihn betrachtete, denken,
unter kriegerischen und kühnangelegten Lebensverhältnissen dem Land
außerordentliche Dienste haben erweisen können. Alles an ihm sprach von
untergegangenen Lebens- und Weltformen; namentlich wenn er sang, was er
zu der Zeit, die Joseph im »Loch« zubrachte, einmal plötzlich mitten in
der Nacht tat, glaubte man, die Töne und den Zauber der alten, starken
Zeit vernehmen zu sollen. Eine wundervolle, abendliche Landschaft stieg
mit dem Lied wehmütig empor, und man bedauerte den Sänger und das
Zeitalter, das sich gezwungen sah, mit Menschen von des Melkers
Veranlagung derart kleinlich und mißverständlich zu verfahren, wie es
tatsächlich der Fall war.

Während diesen zwei Karzertagen hätte der Gehülfe die schönste
Gelegenheit gehabt, über Verschiedenes nachzudenken, über sein
bisheriges Leben zum Beispiel, oder über Toblers schwierige Weltlage,
oder über die Zukunft, oder über das »Allgemeine Obligationenrecht«,
aber er tat es wiederum nicht, er versäumte auch diese kostbare
Gelegenheit und begnügte sich, den Späßen und Liedern und Zoten des
Schweizers zuzuhorchen, die ihm interessanter erschienen als sämtliche
Nachdenklichkeit der neuen und alten Welt. Überdies wurde beinahe alle
zwei Stunden das »Schinkenklopfen« wiederholt, auch eine Ablenkung vom
Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenenwärter trat zur rasselnden
Türe herein, um einen der Arrestanten, der »fertig« war, abzuberufen,
was auch wiederum die geistige Aufmerksamkeit von höheren Dingen den
niedrigen und gemeinen Interessen zuzog. Wozu aber auch denken?

War denn nicht das Erleben und Mitleben der Gedanke, auf dessen Pflege
es am allermeisten ankam? Und wenn auch die achtundvierzig Stunden des
Absitzens achtundvierzig Gedanken ergaben, genügte denn nicht ein
einziger, allgemeiner Gedanke, um im Leben auf guter, glatter Bahn zu
bleiben? Diese reizenden, achtunggebietenden, mühsam zusammenerdachten
achtundvierzig Gedanken, was konnten sie dem jungen Menschen nutzen, da
es doch vorauszusehen war, daß er sie morgen vergaß? Ein einzelner
richtungangebender Gedanke war da gewiß viel besser, aber dieser Gedanke
war nicht zu denken, dieser Gedanke zerfloß in die Empfindungen.

Einmal hörte Joseph den Melker sagen, das Vaterländli könne ihm in
seiner ganzen Größe, wenn es wolle, den Buckel hinaufsteigen.

Wie war das natürlich und unrecht gesprochen. Freilich, das Vaterland,
oder der gesetzliche Begriff desselben, schikanierte den Melker, hemmte
ihn, fesselte ihn, diktierte ihm öde und gliederzerbrechende
Freiheitsstrafen, langweilte ihn, bereitete ihm Verdrießlichkeiten,
Kosten und Schädigungen an der körperlichen Gesundheit. Und so wie der
Melker sprach, dachten Tausende. Tausende vom Leben nicht ganz so
gleichmäßig behandelte und vorwärtsgeschobene Menschen, wie es das
militärische Gebot blind und trocken voraussetzte. Die Diensterfüllungen
kamen nicht einem jeden so glatt gelegen, wie vielen andern, die aus den
Diensterfüllungen sogar ein Lebens- und Weltgeschäftchen zu machen
wußten, indem sie sich auf Staatskosten unterhalten und beköstigen
ließen. Manchem riß der Dienst ein unangenehmes Loch in die Laufbahn, ja
manchen konnte er sogar in die bitterste und brutalste Verlegenheit
setzen, indem die paar mühsam ersparten Rappen, Centimes oder Pfennige
in das anspruchsvolle Militärtreiben flossen, wovon am Ende der
Dienstpflicht kein Hauch mehr übrig blieb. Nicht ein jeder konnte dann
zu Vater und Mutter gehen und um Unterstützung bitten, nicht einen jeden
nahmen dann Kontor, Fabrik oder Werkstätte sogleich wieder auf, sondern
er mußte oft lange warten, bis er wieder zu dem Kreis arbeitender,
lernender, erwerbender und zielbewußter Menschen gehörte. Konnte man da
groß zählen auf dieses Einzelnen Vaterlandsliebe? Welch eine Idee!

»Und trotzdem!« Mit dem erwärmenden Gefühl, das in diesem gedachten
»trotzdem« lag, sprang der Gehülfe von seiner Pritsche auf, um sich am
»Schinkenklopfen« zu beteiligen. Er hatte Glück, er mußte nie lange
»darhalten«. Er erriet die Hand, die ihn schlug, jeweilen sofort. Den
Schlossergesellen erkannte er jedesmal an der Wucht des
Drauflosschlagens, den Tapezierer an der Ungeschicktheit des Schlages,
den Juden an den Fehlschlägen, den Amerikaner an der Zimperlichkeit und
Geniertheit, womit derselbe sich am Spiel beteiligte und den Melker an
der absichtlich gemilderten und gedämpften Schwungkraft. Der Melker
hatte für Joseph von Anfang an eine gewisse Zärtlichkeit empfunden. Er
wandte sich jedesmal, wenn er zu erzählen begann, an diesen, weil er
sah, daß der Gehülfe sein aufmerksamster Zuhörer war.

Zu rauchen war den »Gefangenen« verboten, aber Schulkinder kamen an das
Gitterfenster heran und vermittelten den zierlichsten und schönsten
Tabakschmuggel. Einer der Insassen kletterte auf die Achseln eines
zweiten hinauf und pickte vermittels eines an einen geheimnisvollen
Stock befestigten Nagels die Tabak- und Zigarrenpakete behend und
geschickt auf und warf dafür die Groschen oder Rappen den kleinen
Verkäuferinnen und Schmugglerinnen durchs Fenster zu, derart, daß das
»Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenenwärter, ein anscheinend
gutmütiger Mann, schwieg dazu.

Die zwei Karzernächte waren für Joseph kalt, fröstelnd und schlaflos. In
der zweiten Nacht konnte er ein wenig schlafen, aber ein unruhiger
Schlaf war es. Er träumte fieberhaft.

Das »Vaterländli« des Melkers lag ihm großausgestreckt mit allen seinen
Bezirken und Kantonen vor den leidenschaftlich schauenden Augen. Aus
einer Schicht Nebel hervor tauchten die geisterhaften, blendenden Alpen.
Zu ihren Füßen erstreckten sich himmlisch grüne und schöne Matten,
umhallt von Kuhglockentönen. Ein blauer Fluß beschrieb ein leuchtendes
und friedlich gezeichnetes Band durch die Gegenden, Dörfer und Städte
und Ritterburgen zart berührend. Das ganze Land glich einem Gemälde,
aber dieses Gemälde lebte; Menschen, Geschehnisse und Gefühle bewegten
sich darin auf und ab wie hübsche und bedeutende Muster auf einem großen
Teppich. Handel und Industrie schienen wunderbar zu gedeihen, und die
ernsten, schönen Künste lagen in brunnenrauschenden Winkeln und
träumten. Man sah die Dichtkunst am einsamen Schreibtisch sitzen und
sinnen und die Malerei an der Staffelei siegreich arbeiten. Die
zahlreichen Fabrikarbeiter kehrten still und schön und ermüdet von ihren
Schaffenswerkstätten heim. Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es
Heimwege waren. Weite und schallende und ergreifende Glocken tönten.
Dieses hohe Tönen schien alles, was da war, zu umschallen, zu umdonnern
und zu umarmen. Daraufhin hörte man das feine, silberne Klingen eines
Geißenglöckchens, und es war einem, als stünde man auf einer
hochgelegenen Bergweide, umschlossen von Nachbarbergen. Von weit unten
her, aus den Ebenen, drangen die Pfiffe der Eisenbahnen herauf und das
Lärmen der menschlichen Arbeit. Mit einem Male aber zerschnitten sich
diese Bilder von selber, als wären sie auseinandergeblasen worden, und
eine Kaserne hob sich in ihren Fronten deutlich und stolz empor. Vor der
Kaserne stand eine Kompagnie Soldaten in geradeausgerichteter und
unbeweglicher Achtungstellung. Der Oberst oder Hauptmann saß zu Pferd
und ordnete die Bildung eines Quadrates an, worauf die Soldaten,
geleitet von den Offizieren, diese Bewegung ausführten. Wunderbarerweise
war aber dieser Oberst kein anderer als der Melker. Joseph erkannte ihn
deutlich am Mund und an der weithinschallenden Stimme. Der Melker hielt
nun eine kurze, aber feurige Rede, worin er der militärischen Jugend das
Vaterland ans Herz legte. »Trotz allem!« dachte Joseph und lächelte. Sie
waren ja in der Ruhestellung, und da durfte sich einer schon zu lächeln
erlauben. Der Tag war ein Sonntag. Ein junger, hübscher Leutnant trat
auf den Soldaten Joseph zu und sagte freundlich: »Nicht rasiert, Marti.
He?« Worauf er säbelklirrend die Front weiterschritt. Joseph griff sich
verlegen unter das Kinn: »Noch nicht einmal rasiert bin ich heute!« --
Wie die Sonne strahlte. Wie heiß es war! Plötzlich gab es im Traum einen
Stoß, und ein freies Feld tat sich auf mit einer liegenden,
auseinandergezogenen, halbrunden Schützenlinie. Die Gewehrschüsse
widerhallten in den nahen Waldbergen, die Signale ertönten. »Sie sind
tot, stürzen Sie um, Marti!« rief der auf seinem Pferd das Bild des
Gefechtes überschauende Melker-Oberst. »Aha,« dachte Joseph, »er ist
nett zu mir. Er läßt mich hier auf dem reizenden Grasboden ausruhen.« Er
blieb am Boden liegen, bis das Gefecht aus war, indem er sich die Zeit
damit vertrieb, Grashalme durch den durstigen Mund zu ziehen. Welch eine
Welt, welche Sonne! Welch eine Sorglosigkeit, so dazuliegen! Aber er
sollte jetzt wieder aufspringen und in Reih und Glied treten. Er konnte
nicht, es hielt ihn fest am Boden. Der Grashalm wollte nicht aus dem
Mund herausgehen, er arbeitete daran, Schweiß trat ihm auf die Stirn,
Angst in die Seele, und er erwachte und befand sich wieder auf der
Pritsche, dicht neben dem schnarchenden Schlossergesellen.

Nach drei Stunden rief ihn der Wärter. Er war »fertig«. Er nahm Abschied
von allen. Dem armen Melker, der noch sechs Wochen zu sitzen hatte,
drückte er herzlich die Hand. Er bekam seine Papiere wieder zurück und
konnte die Straße betreten. Die Glieder waren kalt und steif, im Kopf
summte und läutete und schoß noch der Traum. Eine Stunde später stand er
wieder inmitten der realen, Toblerschen Geschäfte. Reklame-Uhr und
Schützenautomat winkten ihm ärgerlich und zugleich hilfeflehend
entgegen, und Joseph schrieb wieder an seinem Schreibtisch.

                   *       *       *       *       *

»Sie haben jetzt da eine tüchtige Erholungspause gemacht,« sprach der
Ingenieur, »zwei volle Tage spürt man in einem Geschäft wie dem
meinigen. Es heißt jetzt doppelt hinter der Arbeit her sein. Hoffentlich
merken Sie sich das, was ich sage. Dazu habe ich natürlich einen
Gehülfen nicht nötig, um ihn alle Wochen etwa Arreste absitzen zu
lassen. Es wird niemand von mir verlangen dürfen, daß ich Gehälter
aus« -- --

Er hatte sagen wollen: »auszahle«, schnitt aber plötzlich seiner Rede,
nachdenklich werdend, den Atem ab. Joseph glaubte nicht nötig zu haben,
auch nur ein Wort zu erwidern.

Der Krankenstuhl war fertig geworden. Ein bildhübsches, kleines Modell
stand auf Toblers Zeichentisch und wurde alle Augenblicke von einer
neuen Seite betrachtet, indem es der Ingenieur, scheinbar voller
Entzücken, hin und her drehte, um den Genuß des Anschauens von überall
her zu haben. Sogleich mußte sich der Gehülfe dahinter setzen und
Offertbriefe schreiben an verschiedene in- und ausländische, größere
Krankenmöbelgeschäfte.

Tobler legte das feine Gerät durch einfache Schraubendrehung und
Hebelverschiebung glatt zusammen, ließ sich das Ding in gutes Papier
einpacken, nahm seinen Hut und ging ins Dorf, um diesen Ungläubigen, den
sarkastischen Bärenswilern, zu zeigen, welch eine Erfindung da wieder
komplett und gangbar gemacht worden sei.

Joseph hatte inzwischen dem Friedensrichter des Ortes zu schreiben,
Tobler könne der morgen früh um neun Uhr stattfindenden Besprechung
bezüglich der Streitsache Martin Grünen persönlich nicht beiwohnen, da
ihn dringende Geschäfte abhielten. Er erlaube sich daher, dem Herrn
Friedensrichter die nötigen Aufklärungen und Zahlenaufstellungen
schriftlich zu geben, woraus er ersehen könne, daß usw.

»Daß mein Herr Tobler ein Engel ist,« lächelte innerlich, nicht ohne
flüchtige Bosheit, der Gehülfe. Nachdem dieses Schreiben erledigt war,
galt es ein ähnliches, in beinahe noch brüskerem Ton gehaltenes
Erklärungsschreiben an das löbliche Bezirksgericht abzufassen. Joseph
wunderte sich wieder einmal über die Prägnanz seines Briefstiles, sowie
über die Höflichkeitswendungen, die er plötzlich dem energischen Ton
hie und da einzuflechten wußte. »Man darf nie zu grob sein,« dachte er
bei solchen Seitensprüngen in die Gegenden der Artigkeit und des
bescheidenen Wesens. Er erledigte auch diesen Brief ziemlich rasch, denn
er hatte die Sache jetzt ja »schon so sehr los«, über welchem zufriedenen
Bewußtsein er wieder einmal einen der wohlbekannten, unfehlbaren
Stumpen anzündete. Mochten sie kommen, die Friedensrichterämter und
Bezirksgerichte, und die ebenso zahlreichen wie tückischen amtlichen
Zahlungsaufforderungen, er und Tobler, sie würden deswegen noch lange
fortfahren, und zwar ganz ruhig und seelengemütlich, ihre duftenden
Stengel und Rauchzinken herunterzudampfen.

Im Dorf war man allmählich, zuerst einander es zuflüsternd, jetzt aber
es laut auf der Straße erzählend, einer immer höher steigenden Welle,
aus Einsicht bestehend, ähnlich, zu der Überzeugung gekommen, daß da
oben im Abendstern nichts mehr zu »retten« sei, wenn man nicht die
nötigen Schritte, wenigstens etwas noch herauszufischen, an Hand der
Betreibungsgesetze einleite. Und so war es denn dahin gekommen, daß Herr
Tobler, sowohl was die Firma als was die Haushaltung betreffen mochte,
von allen Himmelsrichtungen her wechselrechtlich bestrahlt, beschattet
und betrieben wurde. Es glich einem festtäglichen Speerewerfen, wie es
da von links und rechts, von daher und dorther auf das Haus Tobler,
Löcher und Verstimmungen einschlagend, niederprasselte. Der Gerichts-
oder Betreibungsbote schlich den ganzen Tag hämisch und zugleich
gemütlich ums Haus und rund um den ganzen Garten herum, als hätte er
hier besonders guter Weile gehabt, als würde es ihm gerade hier oben
ganz besonders wohl gefallen haben. Es sah aus, als ob der Mann ein
stiller Gartenkunst- und Naturbewunderer gewesen wäre.

Oder war die hagere, spitze Gestalt von einem Baukonsortium oder gar von
einer geographischen Gesellschaft beauftragt, mit den Augen und mit dem
Gedächtnis die Gegend abzumessen? Kaum! Aber so sah der Kerl aus. Frau
Tobler haßte und fürchtete ihn und floh, sobald sie ihn sah, eilig von
den Fenstern weg, als wäre dieser Mann die personifizierte trübe Ahnung
und Stimmung gewesen. Die Frau hatte recht, denn wenn man sich erkühnte,
dieses Menschen zugeklemmtes und zugenageltes Antlitz zu betrachten, so
fror einen, und man fühlte sich unwillkürlich von der eiskalten Hand des
Unheiles berührt und gestrichen.

Mit Joseph verkehrte dieser Mann in der ausgesucht eigentümlichsten Art
und Weise. Er verstand es, plötzlich, als hätte ihn die dunkle Erde
selber ausgespien, vor dem Bureau, Licht und Luft gleichsam weghauchend,
zu erscheinen. Dann blieb er eine gute, volle Minute stehen, nicht, um
etwas zu tun oder vorzubereiten, sondern zu seiner, wie es schien,
persönlichen Lust und Freude. Dann öffnete er die Türe, trat aber noch
nicht ein, würde ihm noch lange nicht eingefallen sein, sondern blieb
stehen, anscheinend, um zu prüfen, welchen Eindruck sein unheimliches
Benehmen machte. Seine kalten Augen fest auf den unangenehm berührten
Gehülfen gerichtet, kam er jetzt in das Bureau hinein, um vorläufig
abermals eine Pause zu machen. Nie sagte er guten Tag oder guten Abend.
Für ihn schien die Tagesstunde gar nicht zu existieren, ja nicht einmal
die Gottesluft, denn dieser Mann schaute in die Welt hinaus, als ob er
nicht nötig hätte, zu atmen. Sein knochiges Gesicht fest
ineinanderklemmend nahm er jetzt ein oder zwei Formulare aus einer
schwarzledernen Tragtasche, hob sie absurd hoch in die Luft und ließ sie
auf den Schreibtisch des Gehülfen fallen, schweigend, spitz und hackig,
wie Krallen eines Raubvogels hacken. Dies abgetan schien er sich an dem
Bewußtsein zu weiden, das ihm sagen mochte, seine Erscheinung sei eine
trostlose und herzbeklemmende gewesen, denn er dachte in keinerlei
Weise daran, sich zu entfernen, sondern probierte minutenlang, ob es ihm
gelinge, die Brieftasche wieder in seine Rocktasche zu befördern. Dann
sagte er -- beinahe -- adieu und ging. Dieses Adieu des Mannes war viel
frostiger, als wenn er gar nichts gesagt hätte, es klang geistesabwesend
und zugleich bewußt kurz und hart. Der Mann schien dann gehen zu wollen,
nein, jetzt tat er jedesmal erst das Schreckliche, er maß mit seinen
Augen die Umgebung, das Haus und den Garten. Dann ging die andere Türe
auf, Frau Tobler erschien aufgeregt im Bureau, mit großen Augen und mit
den angstvollen Worten: »Jetzt steht er wieder im Garten! Sehen Sie,
sehen Sie!« --

An den Tagen, wo dieser Mann erschien, war das Wetter meist ein graues,
kaltes, schweigendes Mittelding zwischen Schnee und Regen. Die Mauern
des Hauses waren an den Sockeln naß, ein scharfer Seewind blies, neue
Schneegestöber oder Regenstürze versprechend, und der See lag da so
bleiern und farblos und traurig. Wo waren jetzt seine schönen Abend- und
Morgenfarben? Versunken in der Tiefe des Wassers? An solchen Tagen gab
es weder einen Morgen noch einen Abend mehr, die Stunden zeigten alle
dasselbe trübe Aussehen, die Zeiten schienen ihrer Bezeichnungen und der
lieben, wohlbekannten Lichtunterschiede überdrüssig geworden zu sein.
Zeigte sich in solch einer Naturtrübheit und -Entstelltheit noch der
Mann mit der schwarzledernen Mappe, so meinten Frau Tobler und der
Angestellte, das Erdbild sei plötzlich umgedreht worden, und man
erblicke die Schattenseite alles Tatsächlichen und Gewohnten, nicht mehr
das Natürliche. Etwas Gespenstisches schien sich um das schöne Haus
Tobler aufzuhalten, und das Glück und die Zierlichkeit dieses Hauses, ja
selbst seine Berechtigung, schienen sich in einen fahlen, müden,
glanzlosen und bodenlosen Traum verloren zu haben. Wenn dann Frau Tobler
durchs Fenster schaute und ihren Sommersee ansah, der jetzt ein Winter-
und Nebelsee geworden war, die Melancholie erblickte und empfand, die
sich auf allem Sichtbaren breit machte, mußte sie ihr Tuch an die Augen
halten und hineinweinen.

Als einer der wildesten Gläubiger und Schuldenforderer erwies sich der
Gärtner, der bis dahin stets die Gartenarbeiten besorgt, und die
Gewächse geliefert und gepflegt hatte. Dieser Mann schimpfte wie ein
ganzes Bataillon von Schimpfern auf Tobler und dessen ganze Familie und
sagte, er wolle sich keine einzige ruhige Stunde mehr gönnen, bis der
Tag da sei und er die Genugtuung habe, diese »hochmütige Gesellschaft«
gepfändet und aus dem Abendstern hinausgeworfen zu sehen. Man
hinterbrachte Herrn Tobler, halb, um ihm zu schmeicheln, halb, um ihn im
geheimen zu kränken, diese rohen Worte, und sofort befahl dieser, die
Pflanzen, die ihm gehörten, und die sich in den Gewächshäusern der
Gärtnerei befanden, von dort ohne weiteres abholen, und sie nach dem
Keller des befreundeten Versicherungsagenten, des Mannes, der die
Grottennacht mitgemacht hatte, führen zu lassen. Joseph war mit der
schleunigen Erledigung dieses Befehles betraut, und er hatte keine
Ursache, zu zögern. So wurde mit einem einpferdigen Wagen nach der
Gärtnerei gefahren, und dort wurden dann auch die Pflanzen, darunter ein
bereits ziemlich hochgewachsenes Edeltännchen, aufgeladen. Der zum
Garten verwandelte Wagen fuhr ab, durch die Straßen, neben den
augenaufreißenden Leuten vorbei, und hielt vor der Wohnung des dem
Fuhrmann bezeichneten Hauses und Mannes. Der Versicherungsagent selber
half mit abladen und in den Keller tragen, was immer hineingehen mochte.
Das junge edle Tännchen mußte an Schnüren befestigt werden, damit es in
den für sein schlankes und stolzes Wachstum zu niedern Gewölben
wenigstens schräg stehen konnte. Es tat dem Gehülfen weh, den Baum
derart untergebracht zu schauen, aber, was war da zu machen? Tobler
wollte es so, und der Wille Toblers blieb alleinige und unbedingte
Richtschnur für das Tun des ersteren.

Dieser Versicherungsagent war in der Tat Tobler treu geblieben. Es war
dies ein einfacher aber aufgeklärter Mensch, dem es nicht einfiel, wegen
Schwierigkeiten rein äußeren Gepräges einem Manne Freundschaft und
Vertrautheit aufzukünden, den er einmal schätzen gelernt hatte. Er war
nun noch beinahe der einzige, der etwa Sonntags herüber in die Villa
kam, um einen Jaß inszenieren zu helfen. Etwas zu trinken gab es bei
Toblers immer noch, behüte! Da war ja erst noch in den letzten Tagen ein
kleines Faß voll prächtigen Rheinweines aus Mainz angekommen, eine
verspätete, aber deshalb nur um so mehr willkommene Lieferung, die einer
Bestellung aus früheren, besseren Tagen entsprechen mochte. Tobler
schaute groß auf dieses Faß herab, er wußte sich gar nicht mehr an den
einmal der Firma gegebenen Auftrag, ihm solchen teuren Wein zu senden,
zu erinnern. Joseph hatte nun wieder eine Nebenaufgabe, die darin
bestand, den Wein in Flaschen abzuziehen und dann dieselben gehörig mit
Korken zu verschließen, zu welcher Arbeit er eine ganz erstaunliche
Geschicklichkeit an den Tag legte, so daß Frau Tobler, die dem behenden
Ding zusah, scherzweise fragte, ob er denn früher schon einmal in
Kellereien gearbeitet habe. Auf solche Art gab es im Haus manche muntere
und selbstvergessene Stunde, die vortrefflich dazu beitrug, über die
zahlreich vorkommenden, schweren Stunden hinüberzuhelfen, was für alle
nötig genug und eine nicht zu unterschätzende Wohltat war. Da aber wurde
eines Tages Frau Tobler plötzlich krank.

Sie mußte sich, so ungern sie das gerade jetzt tat, zu Bett legen, und
man war gezwungen, den Arzt zu holen, denselben Doktor Specker, der es
seit vielen Wochen zu vermeiden gewußt hatte, den Fuß weiter über die
Schwelle eines Hauses zu setzen, um dessen innere Grundpfeiler es so
schlimm stund. Er leistete dem Ruf Folge, trotzdem er fürchten mußte,
daß er für die ärztliche Arbeit und für die Mühe des mitternächtlichen
Ganges durch eine stockdunkle Gegend nicht honoriert werden würde. Er
trat an das Bett der Frau still heran und tat in Manier und Sprache so,
als wenn er seine freundschaftlichen Besuche nie eingestellt hätte,
sondern fortwährend in bester Verbindung mit der Familie geblieben wäre.
Er fragte teilnahmevoll nach den Schmerzen, und danach, seit wann Frau
Tobler sie habe usw. und übte die ernsten Pflichten seines Berufes so
angenehm, als er es vermochte, aus. Tobler zeigte dem Doktor später,
trotzdem es schon bald ein Uhr war, noch den Krankenstuhl, dessen erstes
naturgroßes Modell am selben Tag angekommen war. Jetzt könne er ja das
Möbel gleich an seiner Frau praktisch erproben, sagte der Erfinder und
versuchte einen lustigen Ton anzuschlagen, was aber nicht recht gelingen
wollte. »Nicht noch rasch ein Glas Wein trinken, Herr Doktor?« -- Nein.
Der Arzt ging.

So müsse sie nun auch noch zu allem unschönen Übrigen im Bett liegen,
klagte die Frau zu jedem, der zu ihr an das Bett trat. Nicht genug,
wehklagte sie weiter, daß im Haus und im Geschäft bald alles
zusammenstürze, möge nun nicht einmal die nackte Gesundheit mehr
bleiben. Krank müsse man sein, wo eine Hand zum Arbeiten und ein Auge
zum Überwachen mehr als nötig geworden sei. Und Geld werde das wieder
kosten, und wo es hernehmen? Sie sei so matt, und sie möchte so gern
munter sein, möchte gern das Schlimmste ertragen. Wo Dora sei? Dora
solle zu ihr kommen. --

Joseph hatte keinen Zutritt in das Krankenzimmer. Da es aber tagelang so
dauerte und er ihr einmal etwas, das unbedingt sein mußte, zu sagen
hatte, so wagte er es, das Zimmer zu betreten. Er tat es mit der
Zaghaftigkeit des Menschen von sonst rauhen Gewohnheiten. Sie schaute
ihn lächelnd an und gab ihm die Hand, und er brachte es zustande, ihr
gute Besserung zu wünschen. Wie groß ihre Augen waren. Und diese Hand.
Was für eine Blässe. War das eine Rabenmutter? Sie fragte, wie es unten
im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benähmen und sagte
schwach, nun müsse einstweilen er ein bißchen den Erzieher spielen, bis
sie wieder aufstehen könne. Sie sehne sich darnach. Ob auch Pauline noch
recht koche. Und was die Geschäfte machten?

Er gab ihr Auskunft und war sehr glücklich über diesen Moment. Und
dieser Frau, die sogar im Bett eine vollendete Dame zu bleiben verstand,
der die Krankheit eher Schönheit zutrug als wegnahm, hatte er eine
Moralrede halten wollen? Wie unrecht und unreif. Und doch, wie
wahrscheinlich! Denn Silvi wurde auch zu dieser Stunde noch um kein Haar
besser als wie immer behandelt.

Wenn Silvi während dieser Tage ein Geschrei ausstoßen wollte, zischte
ihr Pauline in die Ohren: »Bist still!« Die Kranke mußte geschont
werden.

Bei der nächsten passenden Gelegenheit geschah es sodann, daß Tobler
dazu kam, den patentierten Krankenstuhl an der Frau zu probieren. Sie
war wenig zufrieden mit den Eigenschaften dieser Erfindung und wagte es,
die Fehler, die diesem Möbel anhafteten, zu rügen. Vor allen Dingen,
sagte sie, sei der Stuhl zu schwer, er drücke, und dann müsse er breiter
gebaut sein, er enge zu sehr ein.

Das war unangenehmer Bescheid von der eigenen Frau. Tobler, der einsah,
daß er gewisse Dinge außer acht gelassen hatte, ging sofort daran, die
nötigen Änderungen zu treffen, indem er am Zeichentisch ein paar neue
Bestandteile rasch entwarf, um die Muster alsobald an die Schreinerei
senden zu lassen. Es bedurfte nur ganz weniger Umänderungen, und der
Stuhl konnte dann um so energischer in Fabrikation genommen werden.
Bereits schrieben ja eine Anzahl Verkaufs- und Vertriebsgeschäfte, sie
seien gespannt auf die Zusendung eines ersten, kompletten Exemplares.

Und die Reklame-Uhr, wie ging sie? Man stund mit einer ganz
neubegründeten Unternehmungsgesellschaft in Verbindung, man hatte
ausführlich Offerte eingereicht, sogar nebst kurzer Lebensbeschreibung
des Geschäftsherrn, da dies gewünscht worden war. Man hoffte!

Inzwischen war das elektrische Licht im ganzen Hause vom Werk aus
abgestellt worden, aus Gründen, die auch allen andern Lieferanten
verboten, weiterhin auf gutes Vertrauen Waren und Werte in den
Abendstern fließen zu lassen. Die Nachricht von der plötzlichen
Ausschaltung des elektrischen Stromes machte Tobler beinahe krank vor
Wut und veranlaßte ihn, den Herren vom Elektrizitätswerk einen ebenso
ohnmächtig zornigen wie überflüssig groben Brief zu schreiben, bei
dessen Empfang und Lektüre diese Leute, allen voran der Direktor der
Anstalt, in gutmütig-verächtliches Lachen ausbrachen. Zwangshalber mußte
man sich nun im Hause Tobler wieder einmal der bescheidenen
Petroleumlampen bedienen, an welches Licht sich alle, außer Tobler, auch
rasch gewöhnen konnten. Dieser aber vermißte zu sehr, wenn er nachts
spät nach Hause kam, den Anblick seiner geliebten elektrischen
Verandalampe, die ihm jeweilen als das schönleuchtende Wahrzeichen und
als der hellschimmernde Beweis der sicheren Fortexistenz seines Hauses
vorgekommen war. Der Schmerz um das hellere Licht verband sich in seiner
Brust mit der großen übrigen Wunde und trug dazu bei, seine
Gemütsstimmung noch mehr zu verdunkeln, derart, daß der jähe Wechsel
seiner Laune für alle Mitwohner das täglich zu kostende Brot wurde.

Jetzt aber mußte in allererster Linie eine Summe Geldes beschafft
werden, koste es was es wolle. Die dringendsten Verpflichtungen
wenigstens mußten beseitigt werden, so galt es eines Morgens, der Mutter
Toblers, einer vermögenden, aber hartnäckigen und in ihren Grundsätzen
als unerschütterlich bekannten Frau, einen Brief zu schreiben, und zwar
folgenden:

                               Liebe Mutter!

    Durch meinen Anwalt Bintsch wird es Dir zu Ohren gekommen sein, in
    welch elender Lage ich mich zurzeit befinde. Ich sitze in meinem
    Haus wie der gefangene Vogel unter den stechenden und zum voraus
    schon tötenden Blicken der Schlange. Ich bin von Gläubigern derart
    umgeben, daß, wenn das Freunde und Gönner wären, ich zu den reichen
    und allbeliebten Menschen zählen müßte; aber leider sind es die
    unbarmherzigsten Leute und ich der Bedrängteste der Menschen. Du
    hast mir, liebe Mutter, früher auch schon mehr als einmal aus der
    Klemme geholfen, ich weiß es, und ich bin Dir allezeit im stillen
    dankbar dafür gewesen, so bitte ich Dich denn, und zwar dringendst,
    und so, wie Menschen bitten, denen das Messer der öffentlichen
    Schande am Halse sitzt, hilf mir auch dieses Mal noch aus der
    Verlegenheit und sende mir umgehend, wenn es Dir irgendwie möglich
    ist, wenigstens einen vorläufigen Teil der Gelder, die ich nach
    allem, was Recht heißt, heute noch zu beanspruchen habe. Mutter,
    versteh mich, ich drohe nicht, ich sehe ein, daß ich vollkommen von
    Deinem guten Willen abhängig bin, ich sehe auch ein, daß Du mich ins
    Verderben stürzen kannst, wenn Du willst, aber warum solltest Du das
    wollen können? Gegenwärtig ist auch noch meine Frau krank, Deine
    Tochter. Sie liegt im Bett und wird es so rasch nicht wieder
    verlassen dürfen, ja, ich darf noch froh sein, wenn sie es überhaupt
    eines Tages wird verlassen können. Du siehst, auch das noch! Was
    soll ein Geschäftsmann, der dermaßen von Schlägen und Stößen
    getroffen worden ist, beginnen? Bis jetzt habe ich noch immer
    einigermaßen gewußt mich über dem Wasser zu halten, jetzt aber bin
    ich in der Tat am Rande der absoluten Unmöglichkeit, mich ferner zu
    halten, angekommen. Was sagst Du dazu, wenn es bald einmal, eines
    schönen Morgens oder Abends, in der Zeitung steht, Dein Sohn habe
    sich das Le -- -- -- doch nein, ich bin nicht imstande, das ganz
    auszusprechen, denn ich spreche zu meiner Mutter. Schicke mir
    unverzüglich das Geld. Auch das ist keine Drohung, nur eine Mahnung,
    aber eine sehr ernste. Auch in der Haushaltung ist fast kein Geld
    mehr, und an den Gedanken, daß die Kinder über kurz oder lang
    nichts mehr werden zu essen haben, bin sowohl ich wie meine Frau
    längst gewöhnt. Ich schildere Dir meine Zustände nicht wie sie sind,
    sondern so, wie ich sie sehen will, um den Anstand der Sprache zu
    bewahren. Meine Frau grüßt Dich herzlich und umarmt Dich, ebenso
    Dein Sohn

                                                    Karl Tobler.

    Nachbemerkung: Ich bin auch heute noch vom endlichen Gelingen meiner
    Unternehmungen felsenfest überzeugt. Die Reklame-Uhr bewährt sich,
    verlaß Dich darauf. Und noch etwas: Mein Gehülfe verläßt mich, wenn
    er seinen rückständigen Gehalt jetzt nicht ausbezahlt erhält.

                                                      Der Obige.

Während Tobler diesen Brief an seinem Pult aufsetzte, richtete der
Angestellte an seinem Schreibtisch die Mündung des Korrespondenzgeschützes
auf einen Bruder von Tobler, einen in angesehener Weltstellung in einem
entfernteren Landesteil lebenden Regierungsbaumeister, indem er
demselben, gemäß den von seinem Chef soeben erhaltenen Instruktionen,
ans Herz legte, wie miserabel es im Abendstern hergehe und daß es
allerhöchste Zeit sei usw.

»Haben Sie geschrieben? Zeigen Sie her. Ich werde unterzeichnen, oder
nein, halt, der Brief muß so abgefaßt sein, als würden Sie ihn aus
eigenem Antrieb und Interesse für Ihren Prinzipal geschrieben haben.
Schreiben Sie ihn anders und unterschreiben Sie selbst. Tun Sie so, als
schrieben Sie ohne mein Wissen, haben Sie gehört? Ich stehe mit meinem
Bruder nicht gut, Sie aber sind ihm ein vollständig Fremder. Machen Sie
rasch. Ich muß überlesen, was Sie da aufsetzen. Und dann muß ich zum
Bahnhof.« --

Tobler lachte und sagte:

»Das sind Kunststücke, mein lieber Marti, aber man muß sich in
Gottesnamen zu helfen wissen. Schreiben Sie das nur auch gleich meinem
noblen Herrn Bruder, das von Ihrem rückständigen Gehalt. Und dann wollen
wir beide jetzt sehen, ob die Dinger einschlagen, oder nicht. Meine
Mutter wird schon müssen. Andernfalls -- -- und vergessen Sie nicht, die
ganze Reklame-Uhr-Geschichte noch einmal mit sauberer Schrift
übersichtlich zusammenzustellen. Rauchen Sie! Stumpen sind wenigstens
noch da. Nun holt uns entweder der Teufel oder wir brechen durch.«

»Wie diesen Mann die Hoffnungen und 'Kunststücke' hinreißen,« dachte
Joseph.

                   *       *       *       *       *

Nach ein paar Tagen konnte dann Frau Tobler wieder aufstehen. Es war
auch gut, denn die Pauline bedurfte einer regierenden Hand in der Tat.
Sie hatte angefangen, nachlässig zu werden. Die Frau erschien wieder,
mit einem dunkelblauen Hauskleid lose bedeckt, im Wohnzimmer und fing
leise an, sich den häuslichen Geschäften und Sorgen wieder zu widmen.
Sie trat leise und schön auf, und sie schien mit ihrer ganzen Gestalt
still zu lächeln. Ihre Stimme war dünner geworden, ihre Bewegungen
kürzer und furchtsamer, und ihre Augen schauten nach allen Seiten umher
wie neugierige Kinderaugen. Die Krankheit hatte eine schöne Sanftheit
über ihr ganzes Betragen geworfen, sie sah aus, als hätte sie sich von
nun an nie mehr ereifern, als hätte sie niemals mehr für irgend etwas
Partei ergreifen können. Mit ihrer Dora verfuhr sie natürlicher, nicht
mehr gar so zuckerig, die Konditorei hörte ein bißchen auf zu blühen,
und die Silvi konnte sie anschauen, ohne daß ihr der offenbare Zorn ins
Gesicht schoß, was vorher beinahe jedesmal der Fall gewesen war. Sie
schien im allgemeinen eine gewisse Kompliziertheit des Herzens
abgeworfen zu haben, sie sah nach etwas Edlerem und Schlichterem als
sonst aus, man schaute sie an und empfand so, und sie selber glaubte
auch so empfinden zu müssen. Das Gesicht drückte Kummer aus, aber auch
Freundlichkeit und Gelassenheit und etwas beinahe hoheitsvoll
Mütterliches. »Ich bin wieder einigermaßen gesund, Gott sei Dank!«
schienen alle ihre kleinen Gebärden zu sagen, und diese Sprache mußte
eine tiefe und wahrhaftige sein, denn Bewegungen und Manieren können
nicht gut lügen. Der Mund fieberte noch ein wenig, als läge auf ihm noch
das erregte Zucken früherer unschöner Aufregungen, aber im großen
ruhigen Auge lag es und leuchtete es klar geschrieben: »Ich bin ein
wenig besser, feiner und überlegener geworden. Seht mich an. Nicht wahr,
ihr merkt es?« -- Ihre Hände griffen behutsam nach den Handarbeiten oder
Geschirren oder nach einem Buch, es war, als ob diese Hände die Gabe des
Nachdenkens bekommen hätten. Sie schienen auch Lippen zu haben und zu
sagen: »Wir denken jetzt über manches, manches viel ruhiger und offener
nach. Wir sind zarter geworden.« -- Ja, die ganze Frau Tobler war ein
wenig zarter, aber auch ein wenig blasser geworden.

Wie gut es ihr gefiel im Wohnzimmer. Das war tüchtig geheizt worden. Sie
schaute durch die Fensterscheiben hinaus. Draußen lag alles im
undurchsichtbaren Nebel. Wie schön das war, daß man gar nichts sehen
konnte. Wie gemütlich es hier drinnen war. Einen Augenblick lang
flatterte ihr das Bild des Sommers vor den zufriedenen Augen, sie sah es
in Gedanken ganz ruhig an mit einem: Nun ja! und es verschwand wieder.
Dann dachte sie an ihr neues Kleid und an die hauptstädtische
Schneiderin, Frau Bertha Gindroz, und sie mußte leise lachen. Sie
wischte ein bißchen den Staub von den Möbeln, aber sie rührte die Möbel
eigentlich mehr nur so an, als würde sie dieselben haben liebkosen und
grüßen wollen. Wie ihr alles lieb und neu war. Diese paar Tage! Und
diese paar Tage, diese eine kurze Woche, hatte ihr alles in eine
fremdartige, wohltuende Neuheit geworfen. Es lag alles in einem
eigentümlichen, verkleinernden, verzierlichenden Schimmer, es
schwindelte ihr ein wenig, sie setzte sich.

Der Hund war jetzt die meiste Zeit im Zimmer. Es war längst zu kalt im
Hundehaus geworden. Nur während der Nacht mußte er draußen liegen.

Auch oben im Turmzimmer, welches man nicht heizen konnte, fing es an
unleidlich kalt zu werden, so verbrachte Joseph die Abende und manchmal
halben Nächte unten in der Wohnstube, meistens allein mit der Frau, die
jetzt kaum noch jemanden zu Besuch empfing. Die Parketteriefrauen, die
alte Dame und das Fräulein, waren mit Toblers infolge eines Meinungs-
und Rechtsstreites böse geworden. Es handelte sich um einen kleinen, an
beide Nachbargüter anstoßenden Grundstücksecken, den jeder von beiden
Parteien beanspruchte. Die Sache war zu geringfügig, um vor Gericht
getragen zu werden, aber sie machte böses Blut, es entstanden
Schimpfworte, Beleidigungen, und der bisherige freundnachbarliche
Verkehr hörte eben auf. Die alte Gluckhenne solle ihm nur nie wieder
über den Gartenhag ins Haus kommen, hatte Tobler gesagt. Die
Freundschaft war damit bündig gebrochen. Überhaupt, von welchen Personen
hatte nicht Tobler ähnliches gesagt? Fast die meisten »sollten es nur
noch einmal wagen, den Fuß auf Toblersches Terrain zu setzen, dann
würden sie schön ankommen!« --

So saß man an den langen Abenden allein. Die Lampe beleuchtete meistens
zwei Köpfe, den der Frau und den des Gehülfen, der ihr Gesellschaft
leistete, und ein Spiel Karten, oder ein Buch, das aufgeschlagen auf
dem Eßtisch lag.

Es vergingen einige Tage. Sie wurden in allen ihren Stunden empfunden,
diese Tage. Man zählte sie, man rechnete mit ihnen, denn es war nicht
gleichgültig, ob sie rasch oder langsam dahingingen, hing doch das
Bestehen des Hauses Tobler nur noch von Tagen ab. Man verlernte es, an
Monate oder Jahre zu denken, oder man verkürzte die Gedanken-Monate und
-Jahre und veranlaßte die Erinnerungen zu einem rascheren Erfassen, und
man lebte so und wartete auf die Zeichen, die die Tage gaben. Ein
Geräusch war wichtig, denn es konnte der Briefbote sein, der eine neue,
sorgenvolle Unannehmlichkeit brieflich oder in Form eines
Postzahlungsbegehrens daherbrachte. Irgend Töne waren wichtig, denn es
konnten die Töne der Haustürklingel sein, und es konnte jemand kommen,
der Betrübliches im Sinn hatte. Ein Ruf war wichtig, denn er konnte
bedeutend sein: »Heda, Herr Tobler und Frau,« konnte diese Stimme rufen,
»rasch mit euch jetzt hinaus aus dieser lieblichsten und gewohntesten
aller Menschenstätten. Sputet euch, denn es ist Zeit. Ihr habt's lange
genug schön gehabt.« -- Solchen schrecklichen Inhaltes konnte irgend ein
Ruf sein. Aber auch die Farben waren wichtig, das Gesicht des Tages, die
Züge und Gebärden dieser, wie es schien, letzten Tage, denn sie sprachen
von den letzten Hoffnungen und letzten Anstrengungen und von der Art,
wie man es machen mußte, um auch jetzt noch guter Hoffnung voll zu sein.
Sie redeten so leise, diese Tage. Sie waren keineswegs zornig auf das
Haus Tobler, im Gegenteil, sie schienen es von hoch und von fern, in
Gestalt von Wolken und Genien, beschirmen, ihm zulächeln und es trösten
zu wollen. Diese Tage glichen der Frau Tobler beinahe ein wenig. Auch
die Tage schienen krank gewesen zu sein, und jetzt hatten sie ein ebenso
blasses und weiches Aussehen wie die Frau, um die herum sie sich in der
unabänderlichen Reihenfolge ablösten.

Aber Frau Tobler war nach und nach wieder die frühere Frau Tobler
geworden. Je mehr sie gesundete, desto mehr glich sie wieder sich
selbst. Es wäre ja auch gar zu sonderbar zugegangen, wenn sie plötzlich
eine andere hätte werden können. Nein, so rasch sprang eine lebendige
Menschennatur nicht aus ihrem eigenen Wesen heraus. Dafür war gesorgt,
daß das nicht geschehen konnte, und wie! Daß die Frau milder ausschaute,
das war nur, weil sie sich noch schwach fühlte.

                   *       *       *       *       *

Eines Abends während dieser Zeit saßen die Beiden, die Frau und der
Gehülfe, bei der Lampe, im Wohnzimmer. Der Herr war auf der Reise. Wann
war er denn überhaupt nicht auf der Reise? Auf dem Tisch, neben jeder
der zwei Personen stand ein halb gefülltes Glas Rotwein. Sie spielten
Karten. Frau Tobler war am Gewinnen, der Ausdruck ihres Gesichtes war
infolgedessen heiter. Sie pflegte immer zu lachen, wenn sie beim
Kartenspielen gewann, und so tat sie auch jetzt. Sie ließ ein
naiv-schadenfrohes Lachen aus ihrem Mund springen, das vielleicht zu
einer andern Zeit den Partner geärgert hätte. Aber Joseph trank einen
Schluck Wein auf den Verlust hinab, und beide setzten das Spiel fort,
indem Frau Tobler die Karten von neuem zu mischen begann. Nach ungefähr
einer Stunde sagte sie, sie wolle gern noch etwas lesen, in dem Buch,
das ihr der Gehülfe heute aus dem Dorf gebracht habe. Das Spiel wurde
unterbrochen, die Frau begann gleich zu lesen, während Joseph sich,
unlustig, eine Zeitung oder ein Buch zur Hand zu nehmen, auf das
Ruhebett setzte und anfing, die lesende Frau zu betrachten. Diese schien
sich ganz und gar in die Geschichte, die das Buch enthielt, versenkt zu
haben. Mit der einen Hand strich sie sich von Zeit zu Zeit sorgfältig
über die scheinbar tief nachdenkende Stirne, während ihr Mund sich still
aber unruhig zu bewegen begann, als habe er etwas zu den Geschehnissen
der Lektüre mitzusagen gehabt. Einmal stieß sie sogar einen leisen aber
kummervollen Seufzer aus und atmete hörbar mit der Brust auf und ab. Wie
das still und sonderbar anzuschauen war! Joseph versank immer mehr in
die Betrachtung der Leserin, und es war ihm, als lese auch er in einem
großen, geheimnisvoll-spannenden Buch, ja es war ihm, als lese er
geradezu im selben Buch wie Frau Tobler, deren Stirne, die er aufmerksam
ansah, ihm den Inhalt desselben auf merkwürdige Weise zu vermitteln und
zu erklären schien.

»Wie still sie liest,« dachte er, sie noch immer betrachtend. Plötzlich
schaute sie vom Buch auf, großen Auges zu dem Gehülfen hinüberschauend,
als sei sie mit ihren Gedanken-Augen in einer weitentfernten Welt
gewesen, und als habe das Auge Mühe gehabt, sich zu entsinnen, was das
sei, was es jetzt sah. Sie sagte:

»Sie schauen mich scheinbar die ganze Zeit über, während ich gelesen
habe, an, und ich merke nicht einmal etwas davon. Behagt Ihnen denn das?
Ist es Ihnen nicht zu langweilig?«

»Nein gar nicht,« erwiderte er.

»Wie doch so ein Buch fesselt,« bemerkte sie und las weiter.

Nach einer Weile schien sie müde geworden zu sein. Die Augen mochten ihr
ein bißchen weh tun. Jedenfalls hielt sie inne mit Lesen, sie schloß
aber das Buch noch nicht, als überlege sie, ob sie noch fortfahren solle
oder nicht.

»Frau Tobler!« sagte Joseph ruhig.

»Was?« fragte sie.

Sie schloß ihr Buch und schaute nach dem Angestellten hinüber, der ihr,
wie es schien, etwas Besonderes zu sagen hatte. Aber es verging eine
halbe Minute des Schweigens. Endlich sagte Joseph zögernd, er sei
unvorsichtig. Da habe er ihr etwas ganz Bestimmtes sagen wollen. Er habe
bemerkt, daß sie eben mit Lesen scheinbar fertig geworden sei, und daß
sie, wie er noch jetzt sehe, einen gutmütigen Gesichtsausdruck zur Schau
trage. Plötzlich sei ihm der Gedanke gekommen, die Gelegenheit, die er
schon lang gesucht habe, zu ergreifen, und sie anzusprechen, und nun
fehle ihm wieder einmal der Mut, das zu sagen, was er habe in den Mund
nehmen wollen. Nun sehe er selber ein, was Frau Tobler schon vor Wochen
einmal zu ihm gesagt habe, nämlich, daß er ein komischer Mensch sei. Das
was er habe sagen wollen, sei dumm und gar nicht des Anhörens wert. Sie
solle ihm erlauben, schweigen zu dürfen.

Die Frau runzelte die Stirn und ersuchte den Gehülfen, sich näher zu ihr
zu setzen und zu reden. Sie begehre zu wissen, was er habe sagen wollen.
Man rede nicht mir nichts dir nichts die Menschen an, um sie auf Dinge
neugierig zu machen, die dann nicht kämen. So etwas sei feig oder
gedankenlos. Sie höre.

Joseph hatte sich auf ihr Geheiß an den Tisch gesetzt und sagte, das,
was er zu berichten habe, handle von der Silvi.

Frau Tobler schwieg und senkte die Augen. Er fuhr fort:

»Erlauben Sie mir, gnädige Frau, Ihnen rund herauszusagen, wie
abscheulich mir die Behandlungsweise vorkommt, die man für dieses Kind
übrig hat. Sie schweigen. Gut, ich nehme das als einen Wink, den mir
Ihre Güte erteilt, fortzufahren. Sie begehen ein großes Unrecht an dem
kleinen Wesen. Was soll aus diesem Geschöpfchen später werden? Wird es
je den Mut und die gehörige Lust haben, den Mitmenschen ein menschliches
Betragen zu zeigen, da es sich erinnern wird und erinnern muß, daß man
es in seiner Jugend unmenschlich erzogen hat? Was ist das für eine
Erziehung, ein Kind einer rohen und dummen Magd, einer Person, einer
Pauline auszuliefern? So etwas müßte die Klugheit verbieten, auch dann
noch, wenn es die Lieblosigkeit zugibt. Ich rede so, weil ich darüber
nachgedacht habe, weil ich so manchen Tag gesehen habe, was mir
aufrichtig weh getan hat, und weil ich in mir den Drang, Ihnen, Frau
Tobler, zu dienen, so viel ich vermag, verspüre. Ich bin grob, nicht
wahr? So sind eben zuweilen komische Menschen. Doch nein. Ich möchte
ganz anders zu Ihnen reden. Es paßt sich nicht so. Ich habe schon zu
viel gesagt, und es kommt heute kein Wort mehr über meine Lippen.«

Es herrschte eine minutenlange Stille im Zimmer, endlich sagte Frau
Tobler, ihr sei schon lange auch der Gedanke gekommen, man habe Ursache,
sich wegen Silvi Vorwürfe zu machen. Das alles komme ihr übrigens jetzt
so sonderbar vor. Der Gehülfe aber brauche keine Angst zu haben, sie
verzeihe ihm die soeben gesprochenen Worte, sie sehe ja, er meine es
gut.

Sie schwieg wiederum. Später bemerkte sie, sie liebe eben das Kind
nicht.

»Warum nicht?« fragte Joseph.

Warum nicht? Das komme ihr wie eine dumme, unüberlegte Frage vor. Sie
liebe eben Silvi nun einmal nicht und möge sie nicht ausstehen. Ob man
sich denn zur Liebe und zum Wohlwollen zwingen könne, und was das für
ein Gefühl sei, solch ein erzwängtes und hervorgewürgtes? Was sie dafür
könne, wenn es sie mit eisernen Schlägen und Hämmern von der Silvi
fortjage, sobald sie sie nur von weitem erblicke? Warum gerade Dora ihr
so süß sei? Das wisse sie nicht und begehre sie auch gar nicht zu
erfahren, und wenn auch; würden ihr die treffenden Antworten auf solche,
wie ihr scheine, überflüssigen und aussichtslosen Fragen je zufallen
können? Das sei schwer. Ja, sie wisse wohl, daß sie Unrecht begehe.
Schon als ganz kleines Kind habe sie Silvi, sonderbar genug, zu hassen
angefangen. Ja, hassen, das sei das richtige Wort, es bezeichne das
Gefühl, das sie mit dem Kind verbinde, ausgezeichnet. Sie wolle
probieren, in den nächsten Tagen, ob sie sich ihm wieder ein wenig mit
dem Herzen anschließen könne, aber sie hoffe wenig von solchen
Versuchen, Liebe lasse sich nicht erlernen, die habe man und empfinde
man, oder man habe und empfinde sie nicht. Sie nicht haben, das heiße,
glaube sie, ebenso viel wie: sie nie haben. Aber sie wolle versuchen,
und nun wünsche sie, zu Bett zu gehen, sie fühle sich recht müde.

Sie stund auf und ging zur Türe. An der Schwelle drehte sie sich um und
sagte:

»Ich hätte es bald vergessen -- gute Nacht, Joseph. Wie zerstreut ich
bin. Löschen Sie die Lampe, bevor Sie hinauf in Ihr Zimmer gehen. Tobler
wird wohl noch lange nicht kommen. Sie haben mir heute abend das Herz
ein wenig erschwert, aber ich bin Ihnen nicht böse.«

»Ich wollte, ich hätte geschwiegen,« sagte Joseph.

»Machen Sie sich keine Gedanken.«

Mit diesen Worten ging sie die Treppe hinauf.

Der Gehülfe blieb mitten im Zimmer stehen. Nach kurzer Zeit erschien
Tobler. Der andere sagte:

»Guten Abend, Herr Tobler, hm, was ich da mir zu sagen erlauben wollte:
ich habe vor einer halben Stunde die Unvorsichtigkeit begangen, Ihrer
Frau wieder einmal Grobheiten zu sagen. Ich will Ihnen das zum voraus
bekennen. Ihre Frau Gemahlin wird sich veranlaßt fühlen, sich über mich
zu beklagen. Ich beteure, es sind nur Dummheiten, Dinge letzten und
allerletzten Gewichtes. Ich bitte Sie höflichst, keine so großen Augen
machen zu wollen, ich glaube, weder Ihre Augen sind ein Mund noch ich
etwas Verzehrbares, es gibt nichts zu essen an meiner Person. Was den
Ton dieser Sprache betrifft, so erklärt sich dieser daraus, daß er von
einem wütenden Gemüt diktiert wird. Wäre es nicht besser, Sie jagten
Ihren kuriosen Herrn Angestellten jetzt endlich einmal zum Haus hinaus?
Ihre Frau mißhandelt das ganze Jahr lang ungestört die Silvi. Wo haben
Sie Ihre Augen? Sind Sie ein Vater oder nur ein Unternehmer? Gute Nacht,
gute Nacht, ich glaube, ich habe es nicht mehr nötig, zu warten und zu
hören, was Sie auf eine so sonderbare Aufführung erwidern. Ich darf
annehmen, ich bin entlassen.«

»Sind Sie betrunken? He!«

Tobler rief umsonst. Der Gehülfe war bereits die Treppen
hinaufgestiegen. Vor der Türe des Turmzimmers blieb er plötzlich stehen:
»Bin ich ganz toll?« Und er lief so schnell er vermochte wieder die
Stufen hinunter. Herr Tobler saß noch im Wohnzimmer. Joseph blieb, wie
vorhin die Frau, auf der Schwelle stehen und sagte, es täte ihm leid,
sich in unziemlicher und unsinniger Art und Weise benommen zu haben, er
bereue, aber er bemerke, daß er -- noch nicht entlassen sei. Wenn Herr
Tobler noch Geschäftliches zu besprechen habe: Joseph stehe zur
Verfügung.

Tobler schrie so laut er konnte:

»Meine Frau ist eine Gans, und Sie sind ein verrückter Kerl. Diese
verdammten Bücher!«

Er nahm das Leihbibliothekbuch und schmiß es zu Boden. Er suchte nach
beleidigenden Worten in seinem Gedächtnis, fand sie aber nicht. Teils
sagten die, die er gefunden hatte, zu wenig, teils wieder zu viel.
»Räuber« schwebte ihm auf der Zunge, aber dieses Wort konnte ja gar
nicht beleidigen. Seine Wut kannte infolge seiner Verwirrung keine
Grenzen. Er hätte sagen mögen »Hund«, aber dieses Wort machte dann
wieder alle Vernunft zu schanden. Er schwieg, da er sich außerstande
sah, seinen Gegner in anständiger Weise niederzuwerfen. Schließlich
lachte er. Nein, er brüllte.

»Machen Sie, daß Sie sofort hinauf in Ihr Nest kommen.«

Joseph hielt es für das Geratenste, sich zu entfernen. Oben angelangt,
blieb er im Zimmer stehen, lange, ohne das Kleinste denken zu können.
Nur der eine Gedanke flackerte ihm wie ein Irrlicht vor dem Bewußtsein:
Er hatte seinen Gehalt noch nicht und gestattete sich -- solche
Torheiten. -- Wie würde das morgen werden? Er nahm sich vor, sich der
Frau zu Füßen zu werfen. Wie unsinnig! Von der Unmöglichkeit, denken zu
können, gepeinigt, trat er auf die Plattform hinaus. Es war eine
trockene, kalte Nacht. Der Himmel strahlte und glitzerte und fror voller
Sterne. Es war, als ob die Sterne alle Kälte, die herrschte, auf die
Erde hinunterstrahlten. Auf der dunklen Landstraße ging noch ein Mensch.
Die Schuhe klapperten metallen auf den Steinen. Alles da draußen schien
von Stahl oder Stein zu sein. Die Stille der Nacht selber schien zu
tönen, zu klirren. Joseph dachte an Schlittschuhe, dann an Erz, dann
plötzlich an Wirsich. Wie mochte es jetzt dem ergehen? Er hatte das
Gefühl von einem leisen Freundschaftsempfinden für diesen Menschen. Dem
begegnete er sicher noch wieder irgend einmal. Aber wo? Er trat in sein
Zimmer zurück und zog sich aus.

In diesem Augenblick ertönte ein Schrei Silvis.

»Da wird die Kleine wieder aus dem Bett gezogen. Hu, wie kalt,« dachte
er. Er horchte noch eine Weile, im Bett aufgerichtet, aber er hörte
nichts mehr und schlief ein.

                   *       *       *       *       *

Am Morgen schlich er zitternd und mutlos ins Bureau hinunter. Er dachte:
»Wird man mich fortjagen? Wie? Ich dieses Haus verlassen?«

Ja, er fühlte, wie lieb es ihm geworden war, und er dachte weiter:

»Wie ist es mir möglich, zu leben, ohne Dummheiten zu begehen? Und in
diesem Haus konnte ich so hübsch Dummheiten begehen. Wie wird es
anderwärts hiermit bestellt sein? Und wie kann ich daran denken, zu
existieren, ohne von Toblers Kaffee zu trinken? Wer wird mir anderswo
satt zu essen geben? Und so bequem, und so mannigfaltig? An andern Orten
ist das Essen so langweilig, so ganz und gar das Gegenteil von üppig!
Und in wessen sauber zu- und aufgedeckten Betten will ich mich nachher
schlafen legen? Unter einen behaglichen Brückenbogen wohl! Gemach! Ach
Gott, sollte es schon so weit sein? Und wie kann ich fortfahren zu atmen
ohne die Gegenwart dieser auch im Winter reizenden, landschaftlichen
Gegend? Und wie will ich mich dann abends unterhalten, wie jetzt mit der
lieben, prächtigen Frau Tobler? Wem Grobheiten sagen? Nicht alle
Menschen nehmen sie so besonders, so eigen, so schön in Empfang. Wie
traurig. Wie liebe ich dieses Haus! Und wo wird eine Lampe brennen, so
zärtlich, und wo ein Wohnzimmer sein, so heimelig, so herz-voll, wie
Toblers Lampen und Wohnzimmer sind? Wie macht mich das mutlos. Und wie
können meine Gedanken, ohne alltägliche Gegenstände wie Reklame-Uhr,
Schützenautomat, Krankenstuhl und Tiefbohrmaschine zu haben, ferner
auskommen? Ja, das wird mich unglücklich machen, ich weiß es. Ich bin
hier gebunden, ich lebe hier. Wie sonderbar anhänglich ich bin! Und
Toblers tiefe, grollende Stimme, wie bitter werde ich ihren Klang
entbehren. Warum kommt er noch nicht? Ich möchte wissen, woran ich bin.
Ja, alles das. Was? Wo wird wieder solch ein Sommer mich in die üppigen,
grünen Arme und an die blühende und duftende Brust drücken, wie der war,
den ich hier oben habe erleben und genießen dürfen? Wo, in welcher
Gegend der Welt, gibt es solche Turmzimmer? Und eine solche Pauline?
Obschon ich mich mit ihr des öftern gezankt habe, gehört auch sie
schließlich mit zu dem Schönen. Wie es mir elend zumut ist. Hier durfte
ich 'kopflos' sein, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Ich möchte
wissen, an welchen Orten der zivilisierten Welt das sonst noch gestattet
wäre? Und der Garten, den ich so oft gespritzt habe, und die Grotte? Wo
gibt man mir das? Menschen wie ich genießen sonst nirgends die
Annehmlichkeit und den Zauber von Gärten. Bin ich verloren? Mir ist
elend zumut, ich glaube, ich werde jetzt einen Stumpen rauchen müssen.
Auch das wird mir fehlen. Sei es.« --

Als er auch noch an die Fahne im Sommer dachte, sah er sich genötigt, zu
grinsen, um nicht plötzlich wie ein Schwächling weinen zu müssen. Dann
trat Herr Tobler ins Bureau, wie jedesmal, ordentlich guten Morgen
sagend. Nichts von Zum-Haus-hinaus-jagen.

Nichts dergleichen!

Joseph setzte seine demütigste und dienstfertigste Miene auf, er war
unbeschreiblich froh, daß es noch nicht »so weit« war. Er setzte sich
geradezu leidenschaftlich hinter die Erledigung der heute bestehenden
geschäftlichen Aufgaben, und er drehte sich alle Augenblicke auf seinem
Stuhl um, damit er sehe, was Tobler an seinem Pult machte. Tobler tat
das Gewöhnliche.

Was er da gestern für einen Anfall gehabt habe? frug der Chef in
unglaublich freundlichem Tone.

»Ja, das war dumm,« sagte der Gehülfe, bescheiden und beschämt lächelnd.

Er brauche nicht zu ängsten. Seinen Gehalt kriege er schon, brummte
Tobler.

»O, ich will gar keinen Gehalt. Ich verdiene ihn nicht.«

»Dummheiten,« sagte Tobler, »ich bin, einige Kopflosigkeiten, die Sie
sich haben zuschulden kommen lassen, ausgenommen, zufrieden mit Ihnen.
Und wenn ich die Fabrik bekomme, um deren Beteiligung ich mich beworben
habe, so bleiben wir hoffentlich auch dann noch zusammen. Man wird in
diesem Fall auch einen Buchhalter brauchen können.«

Später ging der Chef.

Dora war an diesem Tage krank geworden, nicht ernstlich. Es war nur eine
kleine Erkältung, aber diese genügte, um das Mädchen zu pflegen, als
wäre ihr letzter Tag herangekommen. Dora lag auf dem Sofa im Wohnzimmer,
und als Joseph zufällig sagte, er wolle zur Post gehen, es war gegen
Abend, mußte er Dora versprechen, ihr ein paar Orangen oder Apfelsinen
aus einer Spezereihandlung mitzubringen, was er denn auch tat.

Während des Nachtessens redete Frau Tobler beständig zu der kleinen,
reizenden Unpäßlichen hinüber, in der Richtung nach dem Ruhbett. Silvi
machte große Augen und hielt den Mund sperrangelweit offen, als dächte
sie darüber nach, wie es zugehe, daß man so reizend krank sein könne.
Warum war denn eigentlich Silvi nie krank? War das nichts für sie? Mußte
die Natur ihr diesen hübschen Zustand vorenthalten? War sie zu gering,
eine kleine Erkältung bekommen zu dürfen? Sie wäre so gern einmal
zärtlicher als sonst, ja nur einmal ein bißchen wärmer und milder als
sonst behandelt worden. Die Dora! Nein! Silvi schaute ihr Schwesterchen
betrübt und erstaunt an, als wäre sie nicht imstande gewesen, es sich zu
erklären, wie die da so schön krank daliegen konnte.

»Tu den Löffel aus dem Mund, Silvi. Ich kann das nicht ausstehen!« sagte
Frau Tobler. Ihr Gesicht schien in diesem Augenblick zwei Mienen
bekommen zu haben, eine liebliche und glatte für Dora, und eine darunter
liegende gerunzelte und strenge für Silvi. Gleichzeitig schaute die
Frau kurz den Angestellten an, als forsche sie auf dessen Gesicht nach
dem, was er dazu etwa denken oder sagen mochte. Aber Josephs Gesicht
lächelte zu Dora hinüber.

Es war dies durchaus kein Wunder: die Menschen richten eben ihre Augen
mit Vorliebe dorthin, wo das Schöne und Wohlgestaltete zu sehen ist,
nicht dahin, wo in unappetitlicher Weise mit einem Kaffeelöffel in einem
ausdruckslosen Mund herumgerührt wird.

Doras volles Gesicht guckte anmutig zu den schneeweißen Bettkissen
heraus, auf denen verstreut, und Höhlen in den Flaum eindrückend, die
mitgebrachten Apfelsinen herumlagen. Dieser reizende, üppige Kindermund.
Diese kleinen, aber beinahe schon bewußt schönen und graziösen Bewegungen.
Diese bittende, liebe, leichte Stimme, dieses Vertrauen! Ja, Dora, du
durftest vertrauen, du sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht
Güte dir entgegenstrahlen.

Wie arm war da Silvi. Würde dieses Mädchen je auf den Gedanken gekommen
sein, zu wünschen, man solle ihr Orangen aus den Delikateßwarengeschäften
mit nach Hause bringen? Unter keinen Umständen. Dazu wußte sie viel zu
gut, wie sehr jedermann geneigt war, ihre Bitten abzuschlagen. Ihre
Bitten waren auch gar keine Bitten, sondern nur gestammelter Neid. Sie
bat erst, wenn Dora längst ihr gewünschtes hatte. Nie kam sie auf einen
ersten Wunsch. Die Wünsche Silvis waren alle Wunschkopien, ihre Einfälle
waren keine Einfälle, sondern nur Nachahmungen von solchen, die Dora
zuerst gehabt hatte. Ein echtes Kinderherz nur kommt auf frische
Einfälle, ein verprügeltes und verachtetes niemals. Die wahre Bitte ist
immer ersten, nie zweiten Ranges, gerade wie das wahre Kunstwerk. Silvi
war eben nun einmal zweiten, dritten, vielleicht sogar siebenten Ranges.
Alles was sie sagte, war aus falschem Tone geschmiedet und gebacken, und
alles was sie tat, war altbacken. Wie alt Silvi bei ihren blütenjungen
Jahren schon war. Welches Unrecht! --

Joseph hatte das einen Moment überdacht, während er Dora anschaute. Wenn
man die anschaute, konnte man sich ein klares Bild von ihrem Gegenstück
machen, und man hatte dann gar nicht nötig, die prüfenden und
vergleichenden Augen erst noch lange auf Silvi zu werfen.

Wie das traurig war. Diese zwei ungleichen Kinder! Joseph hätte aus dem
Grund seines Denkens heraus hörbar seufzen mögen. Als Dora jetzt in ihr
richtiges Schlafbett hinaufgetragen werden sollte, trat er zu ihr hin
und war so betroffen von dem Anblick ihres keck-unschuldigen Wesens, daß
er nicht anders konnte, als ihr die kleine Hand zu küssen. Mit diesem
Huldigungskuß wollte er gleichsam die zwei Arten liebkosen, die Dora-Art
und auch die Silvi-Art. Aber wie hätte er der zweiten Art tatsächlich
huldigen können? Unmöglich! So versuchte er, wenigstens in Gedanken der
jungen Bitterkeit und Bei-Seite-Geschobenheit etwas Tröstendes und
Achtungsvolles zu sagen, indem er das Unausgesprochene mit seinem Mund
auf die Hand der schwesterlichen Liebe und Naturgnade drückte.

Frau Tobler sah es. Sein Betragen fand ihren Beifall. »Ein kurioser
Mensch, dieser Marti!« dachte sie, »da hat er mich gestern der Silvi
wegen ausgescholten, und nun ist er mir selber hier halb verliebt in die
Dora.« -- Sie lächelte gnädig und sagte zu Dora, da müsse sie aber in
Zukunft ihre Hände säuberlicher halten, wenn sie ferner solche Küsse
darauf bekommen wolle und lachte.

Zur Silvi sagte sie, indem sie ihr mit verzogenem Gesicht gute Nacht
sagte, sie solle sich besser zusammennehmen und ihr keine Ursache mehr
geben, streng mit ihr zu sein, dann sei man auch gut zu ihr. Es sei ein
Jammer, wie man sie behandeln und immer wieder strafen müsse. Sie
erwarte jetzt einmal gehörig Besserung. Silvi werde auch älter. Marsch.
Sie solle gehen.

Zuerst hatte der Ton dieser kurzen Ansprache liebreich klingen wollen,
dann aber, als sei ihm die Milde unpassend und unmöglich vorgekommen,
war er in die Härte hinübergesprungen, in Abstufungen, bis er zuletzt
selber in einem gebieterischen »Marsch« sich abbrach.

Als die vier Kinder fort waren, wurde ein »Jaß« angefangen. Der Gehülfe
hatte jetzt schon eine ziemlich bedeutende Geschicklichkeit in der Übung
dieses Spiels erlangt, er bewies dieselbe und gewann fast fortwährend,
was ihn veranlaßte, ganz besonders vorsichtig seine Worte zu wählen, da
er die Gereiztheit, die in der Frau bei Spielverlusten hervorzubrechen
pflegte, genau kannte. Sie spielten eine Stunde lang, von Zeit zu Zeit
wieder an den Rotweingläsern nippend, wie am Vorabend. Plötzlich sagte
Frau Tobler, indem sie das Spiel unterbrach:

»Wissen Sie es schon, Marti, daß mein Mann mich zu meiner
Schwiegermutter schickt? Ja, es ist so, und ich werde mich morgen früh
auf die Bahn begeben, um ihr einen Besuch zu machen. Wir müssen ja jetzt
das Geld haben, sonst sind wir verloren, und sie schickt nichts. Sie ist
sehr geizig, wenigstens hält sie ihre Gelder scharf beisammen. Sie
werden sich denken können, wie unangenehm mir eine solche Fahrt jetzt
ist, aber es muß sein. Diese Frau, die ich schon so lange nicht mehr
gesehen habe, die ich kaum recht kenne, werde ich bitten müssen, ja
Marti! Und sie wird kalt zu mir sein, von oben herab, das fühle ich nur
zu deutlich. Es wird so leicht für sie sein, mich zu kränken, mir weh zu
tun, denn schließlich behandelt man ja eine Bettlerin nicht, wie man mit
Glacéhandschuhen jemanden anrührt. Sie hat mich übrigens von jeher ein
wenig 'auf dem Zug' gehabt, ich habe das immer empfunden. Als ob ich von
jeher ihrem Sohn, meinem Mann, nur Unheil gebracht hätte. Und so wird
sie mir jetzt natürlich entgegentreten: wie einer Sünderin. Sie wird mir
die Kleider, die ich am Leib trage, vorwerfen, die unnötige Eleganz
derselben, den unglaublich überflüssigen guten Schnitt. Nein, das neue
Kleid werde ich schon nicht anziehen dürfen. Das hat auch keinen Zweck.
Eine, die daherkommt, um zu heischen, soll schwarz gehen, ich werde das
alte, schwarze Seidenkleid anziehen, das macht einen sehr unterwürfigen
Eindruck. Ja ja, Joseph, Sie sehen, andere müssen sich auch zwingen und
dulden und herabwinden zur Bescheidenheit. Es geht eben so, man weiß
gar nicht, woher und wie und wieso so rasch. Diese Welt!« --

»Wir wollen hoffen, daß Sie Erfolg haben,« bemerkte der Gehülfe. Sie
fuhr fort:

»Dafür schickt mich ja auch Tobler, weil er der Ansicht ist, daß seiner
Mutter meine Erscheinung zu einem solchen schwierigen und heiklen
Zeitpunkt angenehmer sein werde als die seinige. Sonst sehe ich
allerdings nicht ein, warum er selber nicht hinfahren könnte. Ein Stück
Bequemlichkeit seinerseits mag ja dabei sein. Die Männer nehmen gern die
gemütlosen und trockenen Geschäfte auf sich. Wo es sich aber um ein
persönlich-innerliches Opfer handelt, um eine Pflicht und Arbeit
herzlichen Charakters, um rein seelische Überwindungen, da schieben sie
lieber ihre Frauen vor die Front und sagen gewöhnlich: 'Geh du! Du
machst das besser als ich!' was man dann noch als eine Art Gnade und
Liebkosung aufzufassen beinahe gezwungen ist.«

Beide lachten. Frau Tobler nahm wieder das Wort:

»Ja, Sie lachen! Übrigens verbiete ich Ihnen das nicht. Lachen Sie nur.
Ich habe ja auch gelacht, obschon es uns beiden eigentlich ernster zu
Mut sein sollte. Ja, hoffen wir, daß ich Erfolg haben werde. Im übrigen,
was rede ich da! Ich meinerseits habe diese Hoffnungen, die in bezug
auf Toblers Geschäfte noch immer wieder Erfolge vorspiegeln, längst
aufgegeben. Es ist jetzt einmal so: das Vertrauen in meines Mannes
Geschäftstüchtigkeit ist in mir gründlich ins Schwanken geraten. Ich
glaube jetzt überzeugt zu sein, daß er nicht genügend Raffiniertheit,
nicht genügend Herzlosigkeit besitzt, um rentable Geschäfte machen zu
können. Er hat in all dieser Zeit meines Erachtens nach nur den Ton
dieser pfiffigen und schlauen Leute angenommen, das äußere Betragen, die
Manieren, nicht aber zugleich die Fähigkeiten. Gewiß, es muß einer, der
gute Geschäfte macht, deswegen kein Blutsauger und schlechter Kerl sein.
Das ist noch lange nicht gesagt. Aber mein Mann ist zu temperamentvoll,
zu rasch, zu gut und zu natürlich empfindend. Auch zu leichtgläubig ist
er. Nicht wahr, Sie wundern sich, mich dermaßen reden zu hören, aber
glauben Sie mir, wir Frauen, beständig an die Enge und an die
Beschränktheit des Hauses gebunden, wir denken über mancherlei nach, und
wir sehen auch manches und fühlen manches. Es ist uns gegeben, die Dinge
ein bißchen zu erraten, da einmal die korrekten Wissenschaften unsere
geschwornen Feindinnen sind. Wir verstehen es, in den Blicken und im
Betragen zu lesen. Wir sagen seltsamerweise nie etwas, wir schweigen,
denn wir drücken uns ja in der Regel so schlecht und immer so unpassend
aus. Unsere Worte regen meistens die geschäftsüberladenen Männer nur
auf, aber überzeugen nie. So leben wir Frauen dahin, erklären uns mit
dem allermeisten, was um uns her und mit uns selber geschieht,
einverstanden, reden nebensächliche Dinge, die uns immer stärker der
Vermutung, daß wir kleine und untergeordnete Geister sind, aussetzen und
sind immer zufrieden, ich glaube es wenigstens. Nein, mein Mann wird mit
seinen Patenten auf keinen trockenen Zweig mehr kommen, der kleine
Finger, der Schuh am Fuß, meine eigene Nase sagen es mir. Er lebt zu
gern gut, und das dürfen eine Zeitlang Unternehmer nicht. Er ist zu
wild, das schadet. Er liebt zu sehr seine eigenen Pläne, das untergräbt
dieselben. Er ist ein viel zu heiterer Mensch, und er nimmt alles zu
gerade, zu plötzlich, deshalb viel zu einfach. Er ist eine schöne, volle
Natur, und solche Naturen reüssieren mit solchen Unternehmungen nie,
oder fast nie. Nicht wahr, Marti, wie ich heute rede.«

Er schwieg und erlaubte sich ein unmerkliches Lächeln. Sie hatte schon
wieder mit Reden angefangen:

»Meinen Karl fürchten die Menschen und hintergehen ihn zugleich und
lachen ihn hinter seinem Rücken aus, denn sie gönnen gerade ihm
merkwürdigerweise allen nur erdenklichen Schaden, und ich glaube
deshalb, weil er seinen Wohlstand und sein Besitztum zu offen und zu
ungeniert gezeigt hat, dermaßen, daß es ihnen in die Augen hat stechen
müssen. Er ist immer naiv genug gewesen, vorauszusetzen, andere Leute
hätten Freude an seiner Lebensfreude und Lust an der seinigen, was
offenbar ein geradezu der richtigen Auffassung entgegengesetzter
Standpunkt war. Er hat immer mit vollen Händen gegeben, das ist eine
Schwäche gewesen, verzeihlich zum Beispiel in meinen Augen, aber
unverzeihlich im Urteil derjenigen Menschen, die von ihm eben diese
verschwenderischen Wohltaten genossen, mit einem Wort, die von ihm
profitiert haben. Er hat seine besondere Art, ein bißchen barsch und
laut zu sein, das nennt man jetzt, jetzt im Unglück, Prahlerei. Wäre er
erfolgreich, so würde man zu derselben Gewohnheit sagen: Schneid! Ja.
Nein, mein Mann würde viel besser getan haben, wenn er sich nie
selbständig gemacht, sich nie auf eigene Füße gestellt, sondern sich in
seiner bescheidenen Stellung als technischer Angestellter still gehalten
hätte. Wir waren alle so wohl damals. Freilich hatten wir kein eigenes
Haus, aber was bedarf es dessen, da doch nur Sorgen in solch ein
eigenes Haus kommen? Nach Feierabend machten wir unsern stillen,
hübschen Spaziergang rund um den Hügel. Es war zu schön, um es derart
eigensinnig von sich wegzuwerfen, aber eines Tages wurde es eben
weggeworfen.«

»Es kann noch alles gut kommen, Frau Tobler,« sagte Joseph. Diese Worte
schlugen wie mit Flammen in ihr Gesicht. Sie rief:

»Sie sollen das nicht sagen. Das ist abscheulich. So redet man nicht zu
der Frau des Geschäftsmannes, in dessen Bücher man tagtäglich
hineinblicken kann. Auf diese Art soll man nicht schonen wollen und
einer schwachen Frau das Herz mit Gewichten beladen. Wieso kann noch
alles gut kommen? Gehen Sie zu den Bedrängern meines Mannes mit dieser
fluchwürdigen Redensart. Sie haben mich wieder einmal unglücklich
gemacht. Ich will gehen und versuchen, dies zu vergessen.«

Sie lief aus dem Zimmer.

Der Gehülfe dachte: »Was ist nun da wieder? Muß es bald jeden Abend eine
heftige Szene geben? Bald bin ich unmutig, bald sie, bald wir beide, und
bald kracht es wieder aus Toblers Gemüt heraus. Bald schreit die Silvi,
bald bellt der Leo, bald ist wieder die Dora krank. Fehlte noch, daß wir
alle zusammen eines Tages, Mittags oder Abends vollständig hinten
hinüber schnappten. Dann gute Nacht schönes Haus Tobler! Aber soweit
sind wir noch nicht. Wollen jetzt erst einmal die mütterlichen Gelder
abwarten, und dann teilweise unsere Schulden bezahlen. So viel wie in
diesem Hause ist mir in meinem ganzen sonstigen Leben der Kopf nicht
gewaschen worden. Aber auch das mag gut sein. Übrigens! Habe ich etwa
wieder einmal Angst? Bin ich unruhig? Nein, Gott sei Dank nicht. Tobler
hat wohl heute wieder im Sinn, im 'Segelschiff' zu übernachten. Das
gehört scheinbar auch zu meinen Berufspflichten, daß ich inzwischen hier
seiner Frau Gesellschaft leiste. Die Arme! Warum hat sie keinen bessern
Gesellschafter?«

Er löschte die Lampe und ging zu Bett.

                   *       *       *       *       *

Andern Tages, es war wieder mehr nasses als kaltes Wetter, und die Luft
hing schwer herunter, sah man Frau Tobler, schwarzseiden gekleidet, den
Gartenhügel hinabgehen, um sich zur Bahn zu begeben. Tobler begleitete
sie ein Stück hinunter, sprach ihr zu, guten Mutes zu bleiben und sich
nicht etwa wieder zu erkälten in der Eisenbahnwagenzugluft und
dergleichen. Man sah von oben herab ein Lächeln im Gesicht der Frau, und
ein Winken mit dem Taschentuch, das galt der Dora, die der Mutter
ebenfalls nachwinkte. Wie naß alles war. Zu dieser Winterzeit hätte es
eigentlich trockener und kälter sein können, dachte man, und dann
verschwand Frau Tobler den Augen, die ihre Bewegungen bis zuletzt
verfolgten. Es waren dies Josephs, Paulinens, Silvis, Doras, der Knaben
und Leos Augen gewesen. Der Hund bellte traurig, wie er die Herrin
fortgehen gesehen hatte.

Das Ganze glich, wenn einer sich auf seine romantische Einbildungskraft
hätte versteifen wollen, dem Weggang einer Königin. Joseph, der Vasalle,
hätte jetzt, wenn er einer jener aus alten Geschichten zu uns modernen
Menschen hinübergrüßenden getreuen Untertanen gewesen wäre, bitterlich
weinen müssen, während die Kammerfrau Pauline ein Wehgeschrei
ausgestoßen haben würde, wenn sie eine von denjenigen gewesen wäre, die
in alten Zeiten schöne und hohe Königinnen, wie die Geschichten lehren,
bedient haben. Und der Hund wäre vielleicht ein Drache gewesen, und die
Kinder Königskinder und Herr Tobler der wuchtigen Rittergestalten eine,
die früher immer dabei waren, wenn es solche traurige Abschiede für
immer gab, als es noch Schlösser, Burgen, Stadtmauern und Tränen der
Treue gab. Doch nein. Hier war es ja ganz anders.

Hier handelte es sich nicht um eine immerwährende Verbannung auf eine
öde Felseninsel, sondern nur um eine Tagesreise per Eisenbahn und um
einen praktischen und ein wenig unangenehmen Besuch. Auch eine Königin
kam hier nicht vor, es sei denn, man hätte Frau Tobler als die
sorgenvolle Königin des Hauses zum Abendstern empfunden, was so ganz
apart und wunderlich nicht hätte sein können. Auch keine düstere
Heldengestalt, sondern nur ein modern gekleideter und beschaffener Herr
Ingenieur Tobler gab der Dame ein Stück weit das Geleite, um ihr, auch
nicht gerade Trost, sondern nur einige vernünftige Worte zuzusprechen.
Und von einem besonders betrübten Knecht und Vasallen war hier
ebensowenig die Frage und Rede als von einer noch fassungsloseren
Kammerfrau. Joseph und Pauline, diese beiden Personen standen da, weiter
niemand, außer den Kindern, und das waren weder Königs- noch
Fürstenkinder, sondern schlichte, bürgerliche, wie sie jedes bessere
Haus haben kann. Leo war kein Drache. Er würde eine solche
mittelalterliche Zumutung vielleicht sogar bissig übel genommen haben.
Alles in allem war es ein Bild des zwanzigsten Jahrhunderts.

Es werde sich nun bald zeigen, wessen man sich zu gewärtigen habe,
meinte Herr Tobler, als er wieder ins Bureau zurückkehrte. Was ihn
betreffe, er werde und müsse durchdringen. Jeder andere Gedanke sei
lächerlich. Was er immer behauptet habe, das behaupte er auch heute, und
heute erst recht.

Und er beschäftigte sich mit der Tiefbohrmaschine. Die Handelsabteilung
schrieb einen Brief an den Tiefbauingenieur Joël, der sich, wie es
schien, »gewaltig« für dieses Werk interessierte. Die Kinder spielten
und rauften sich im Bureau. Tobler jagte sie hinaus. Später verließ er
das technische Bureau selber und ging ins Dorf, des Automaten wegen.

Ein wenig später ging auch der Gehülfe weg und zwar zur Post. Auf dem
Wege dahin wurden ihm von zwei Landarbeitern schimpfliche Worte
nachgeschrien. Diese Bauernknechte schickten dem Angestellten nach, was
sie dem Chef würden nachgebrüllt haben, wenn sie den Mut dazu gehabt
hätten. Joseph kam ohne weitern Zwischenfall ins Dorf, auf die breitere
Straße, und hier begegnete ihm der, den er eher im Gasthaus zum »Roten
Haus« vermutet hätte, Wirsich.

»Sie sind wieder hier?«

Sie schüttelten sich die Hände. Wirsich schaute ganz vergnügt drein, er
sah aus, als wenn ihm eben etwas sehr Entgegenkömmliches passiert wäre.
Er sagte zu Joseph, eben sei er neuangestellt worden und zwar in der
Kolonialwarenhandlung Bachmann & Co. Er sei, wie der Gehülfe ihm
angeraten habe, mit fertig geschriebenen und kuvertierten Offertbriefen
in der Tasche, auf die Wanderung, von Geschäftshaus zu Geschäftshaus
gezogen, und in der Tat habe man ihn fast überall menschenfreundlich
behandelt, aber man habe nirgends eine Stellung für ihn frei gehabt, bis
er schließlich zu den Herren Bachmann & Co. hineingegangen sei, und dort
sei dann die Sache zu seinem Glück komplett geworden. Und nun glaube er
sich nach langer Zeit endlich wieder als ein gehobener Mensch fühlen zu
dürfen. Jedenfalls könne er sagen: »Guten Tag, Freund, du siehst, mir
geht es gut.« Ob es nun nicht ganz nett sei, zusammen in die nächstbeste
Wirtschaft zu treten und eins auf den Durst hinauf zu nehmen?

»Aber gewiß. Sehr gern. Aber hören Sie, Wirsich, sagen Sie, können Sie's
vertragen?« sagte Joseph.

Der andere beteuerte: »Natürlich!« -- So gingen sie in das zunächst
liegende Restaurant Central, wo sie sich jeder einen Schoppen Bier geben
ließen.

»Denn sonst lieber nicht. Es wäre schade um die neue Position,« glaubte
Joseph gut zu tun, nachzufügen.

Wirsich winkte belustigt mit der Hand ab. Es fiele ihm nicht ein, sagte
er, etwa gar wieder so unvernünftig zu trinken, wie früher. Er habe sich
das jetzt, glaube er, ein für allemal abgewöhnt, so verkommen sei er
denn doch noch lange nicht. Wie es bei Toblers stehe?

»Nicht gut,« sagte der Gehülfe, und er erzählte in kurzen Umrissen den
Verfall des Hauses. Wirsich solle sich aber hüten, zu plaudern, das
seien Geschäftsgeheimnisse und die gingen niemand etwas an.

Wirsich sagte:

»So habe ich es dem Großhans, diesem Tobler, doch noch prophezeien
können, daß er noch einmal zu seinem prahlerischen Haus und Garten
hinausfliegt. In jener Nacht hat er's von mir gehört, und jetzt gehen
die Worte in Erfüllung. Was er andern getan hat, das geschieht ihm nun
selber, und recht geschieht ihm. Ist unsereins kein Mensch? Sind wir
Angestellten ohne die Spur von Empfindung auf diese Welt gekommen? Wir
werden eines Abends einfach zum Haus und zur Lebensexistenz
herausgeworfen, und man glaubt noch, recht und milde getan zu haben.
Pardon, Marti, Sie sind mein Nachfolger und genießen infolge meines
Sturzes einen, wie Sie selber sagen, angenehmen Lebensaufenthalt. Sie
können natürlich nichts dafür, daß Sie mich vom Posten verdrängt haben.
Was rede ich: durch Sie habe ich ja die neue Stellung gefunden. Also
Entschuldigung. Ich meine nur, der Zorn kann einen fortreißen, sich eine
so lange Zeit in der elendesten Verlegenheit und Erniedrigung geschaut
zu haben. Wegen was? Wegen eines Fehlers? Donnerwetter, jetzt trinke ich
grade extra noch eins. Heda, Herr Wirt, oder Sie lieber, Frau
Gastwirtin, bringen Sie mir noch solch einen Schoppen. Sie Marti werden
doch wohl auch noch einen trinken.«

»Nur bitte ich,« sagte Joseph, »meinen Chef nicht angreifen zu wollen.
Und dann auch nicht gar so laut, wenn ich bitten darf. Mein
gegenwärtiger Prinzipal ist kein Großhans. Sie werden diesen
unvorsichtigen, und ich gebe gern zu, im Zorn gesprochenen Ausdruck
zurücknehmen. Tun Sie's alsogleich, sonst sind wir geschieden. Ich habe
Ihnen nicht vertrauliche Aufklärungen über Toblers Lage gegeben, um
diesen Mann hinterher beleidigen zu hören. Im übrigen: Prost! Es freut
mich, daß es Ihnen gut geht.«

»Ich sag' ja: im Zorn!« entschuldigte sich Wirsich.

Der Streit sei erledigt, bemerkte Joseph. Beide tranken je noch ein
Glas, auf welche »Lage« eine vierte folgte. Sie würden so fortgefahren
haben, wenn nicht jetzt die Türe aufgegangen, und Herr Tobler selber ins
Restaurant getreten wäre. Er überflog beide Zecher und Angestellten mit
einem zündenden Blick, der den Männern genug sagte.

Joseph hatte beim Eintritt des Herrn sofort den Hut abgezogen, den er
vorher ziemlich burschikos auf dem Kopf behalten hatte. Das gebot die
Höflichkeit, und der Toblersche Blick gebot es nicht minder. Er stand
übrigens bald auf, da das Gespräch mit Wirsich ohnehin verstummte, rief,
er möchte bezahlen und bewegte sich gegen den Ausgang zu. Ein Wink des
Ingenieurs veranlaßte ihn jedoch, in dessen Nähe zu treten. Dieser
fragte:

»Was will dieser Ungut hier, der Wirsich?«

Joseph antwortete: »O, er hat eine Stelle gefunden. Hier dicht nebenan,
bei Bachmann & Co. Seit heute. Er freut sich sehr darüber.«

»So? Und er trinkt wohl noch immer gern, was? Der wird sicherlich lange
in der neuen Stellung verbleiben, der! Es ist gut. Waren Sie auf der
Post?«

»Nein, ich gehe jetzt. Sie werden entschuldigen. Mein Vorgänger hat
mich aufgehalten. Ich werde gleich gehen, und wenn Sie wünschen, daß ich
Ihnen die Briefe hieherbringe« -- --

Tobler verneinte, und der Gehülfe entfernte sich.

Auch Wirsich war jetzt aufgestanden, er bezahlte, marschierte unsicher
vorwärts, wußte nicht, ob er seinen ehemaligen Vorgesetzten grüßen
sollte oder nicht, tat es, und sogar tief und demütig, und stieß zum
Überfluß noch an einen Tisch an, bei welcher Gelegenheit er beinahe
umgestürzt wäre. Sein Achtungsgruß wurde mit keinem Zug einer Miene
erwidert. Tobler »wollte nichts mehr mit diesem Menschen zu tun haben«.
An der Tür stolperte Wirsich zum zweiten Mal. War das eine schlimme
Vorbedeutung?

                   *       *       *       *       *

Frau Tobler kam mit dem Nachtschnellzug nach Hause gefahren. Herr
Tobler, Pauline und Joseph erwarteten sie am Bahnhof. Der Zug kam
schnaubend und rasselnd an. Allerlei Menschen drängten sich in die Nähe
des langen, schwarzen, prachtvoll-dastehenden Ungetümes heran. Die Frau
stieg aus, Joseph und Pauline sprangen hinzu, um Körbe und Pakete in
Empfang zu nehmen. Mutter Tobler hatte der Sohnesfrau Verschiedenes
mitgegeben, das konnte man ungefähr zum Voraus wissen, deshalb war man
zu dritt am Bahnhof erschienen. In zwei Körben befanden sich teils
Äpfel, teils Nüsse. Die Pakete enthielten Sachen für die Frau selber und
für die Kinder.

Dem Gesicht der Ausgestiegenen war abzulesen, daß die ganze Sache weder
ganz gut noch auch ganz schlecht abgelaufen war. Es drückte Müdigkeit
und Gelassenheit aus. Es schien, als ob eine Hälfte des Gesichtes ein
bißchen gelächelt hätte. Im ganzen schien sie ihrem Mann, der sie
neugierig darum befragte, eine genügende und zufriedenstellende Auskunft
gegeben zu haben, denn Tobler schien nicht übel Lust zu haben, rasch
jetzt noch für eine Weile ins »Segelschiff« zu gehen. Seine Frau sagte,
sie merke ihm wohl an, wohin er zu gehen wünsche, mit welchen paar
Worten denn auch die bezügliche Erlaubnis erteilt war. Er rief den
Davongehenden noch nach, er sei in mindestens einer Stunde wieder im
Abendstern und verschwand in seiner Stammkneipe.

Die Übrigen gingen nach Hause. Dem Gehülfen war es eine angenehme
Pflicht, die Körbe, so schwer sie waren, zu tragen. Das war doch
wenigstens wieder einmal etwas »Körperliches«. Er schritt hinter den
beiden Frauen, hinter der Magd und der Frau, leicht daher, gänzlich
gedankenlos. Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen
geboren,« dachte er.

Zu Hause angelangt, gab es einen Schwarm von Fragen, aus der kindlichen
Wißbegierde heraus ertönend. Und eine Belagerung der Pakete und
Obstkörbe. Was Großmutter sagen ließe, wollten die drei Kinder wissen.
Nur das Vierte nicht. Silvi blieb schläfrig und gleichgültig. Auch die
Geschenke ließen dieses Mädchen gleichgültig. »Mich betrifft das nicht,«
sagte ihre Miene. Um so mehr mußten die Sachen die übrigen drei
betreffen. Sie wurden jedoch bald alle samt ihren Forderungen, Fragen
und Neugierden in die Betten geschickt.

»Wie bin ich müde,« sagte Frau Tobler.

Pauline kniete vor ihr am Boden und zog ihr die Schuhe aus. Sie saß auf
dem Sofa. Joseph, der daneben stand, dachte: »Ich muß gestehen, daß es
mir nicht unangenehm gewesen wäre, wenn sie zu mir gesagt hätte: zieh
mir die Schuhe aus! Ich glaube, ich hätte mich mit Vergnügen gebückt.« --

Ein Handschuh entglitt ihr, sofort sprang er hinzu und hob ihn ihr auf.
Sie lächelte matt und dankte und sagte:

»Wie sind Sie dienstfertig! So sind Sie nicht immer gewesen. Kommt wohl
mein Mann bald nach Hause? Wie geht es Ihnen, Joseph?«

»Sehr, sehr gut,« gab er zur Antwort. Pauline hatte das Zimmer
verlassen.

Er sei eben noch jung, da spreche er so und müsse wohl auch so sprechen,
sagte die Frau. Ihr sei es so schwer zumut.

»Haben Sie Verdruß gehabt?«

Auch! Aber dieser kleine Verdruß berühre sie wenig. Sie fühle sich heute
zu allerhand Gedanken hingezogen. Ob Joseph noch jassen möge? Ja? Das
sei nett. Sie habe gerade jetzt eine unglaubliche Lust, Karten zu
spielen. Sie glaube, das helfe ihr.

Sie setzten sich an den Tisch und spielten Karten. Pauline trug etwas zu
essen auf für Frau Tobler und ging dann wieder. »Vielleicht ist diese
Frau zugleich leichtsinnig und schwermütig veranlagt. So kann es sein.
Übrigens bin ich ein Dummkopf!« dachte der Gehülfe.

»Sie will mir nicht gern geben, die alte Frau,« sagte mitten im Spiel
Frau Tobler.

»Wer? Ach so! Die Mutter Tobler! Das kann man sich denken. Aber sie wird
müssen!«

»Ja eben!« machte sie. Sie lachten beide. »Wie das wieder leichtsinnig
ist,« dachte der Buchhalter und Korrespondent des technischen Bureau
C. Tobler. Die Firma! Schließlich war man denn doch ein gesetzter Mann.
Da saßen sie beide wieder zusammen, sie, die »unbegreifliche Frau« und
er, der »kuriose Mensch«. Joseph mußte laut auflachen. Was er habe? --

»O nichts. Dummheiten.«

Sie sagte, ernster werdend, er werde sich etwa ihr gegenüber keine
Scherze erlauben. Er erwiderte auf diese Bemerkung, er sei der
kaufmännische Angestellte des Hauses Tobler, worauf sie sagte, sie
hoffe, daß er das bestimmte Gefühl habe, er sei das. Er warf die Karten,
die er in der Hand hielt, auf den Tisch, erbebte und erklärte, ein
ernsthafter und solider Angestellter sei's nicht gewohnt, bis in alle
Nächte hinein Karten zu spielen. Er war aufgestanden und ging, indem er
erwartete, sie werde ihn zurückrufen, nach der Türe hin. Sie ließ ihn
gehen.

Statt nach oben in sein Zimmer zu gehen, stieg er ins Bureau hinunter,
zündete die dort befindliche Lampe an, setzte sich an seinen Tisch und
schrieb an den Verwalter des Tit. Stellenvermittlungsbureau folgendes:

                            Sehr geehrter Herr!

    Ich bitte Sie höflichst, mich als Bewerber um eine gelegentlich frei
    werdende, passende Stelle gütigst vormerken zu wollen. Ich finde
    mich nicht veranlaßt, es darauf ankommen zu lassen, eventuell wieder
    auf dem Pflaster zu sitzen. Die Dinge hier oben, Herr Verwalter,
    spitzen sich immer schärfer zu. Ich sage: für alle Fälle! und
    empfehle mich Ihnen

                                     Hochachtungsvoll
                          Ihr aufrichtig ergebener Joseph Marti.

Er war noch nicht so bald mit Kuvertieren und Adressieren dieses
Schreibens fertig geworden, als er vom Garten her Schritte hörte. Eine
halbe Minute später traten Herr Tobler und zwei andere Herren, offenbar
Stammgäste aus dem »Segelschiff«, ins Bureau ein, laut redend und
lachend, und wie es schien, voll trunkenen Übermutes.

Was Joseph noch so spät in der Nacht zu arbeiten habe? fragte mit
unsicherer Stimme Tobler. Er habe wenigstens noch einen wahrhaft
fleißigen und aufopfernden Gehülfen, wie es scheine, bemerkte er weiter,
indem er sich lachend seinen Jaßkollegen zuwandte. Jetzt aber solle er
nur ruhig Feierabend machen, denn morgen früh sei es auch wieder Tag.
Dann ging er zur Türe, die ins Innere des Hauses führte und rief, so
laut er konnte: Pauline!

»Herr Tobler?« kam die Antwort von oben herab.

»Bringen Sie uns ins Bureau ein paar Flaschen von dem Rheinwein. Aber es
muß rasch geschehen.«

Joseph hatte kaum nötig, sich von den Herren zu verabschieden, er sagte
kurz gute Nacht und ging weg. Die andern hörten und bemerkten ihn gar
nicht mehr, denn die hatten jetzt ganz anderes zu tun. Die lagen halb am
Boden, halb auf dem Zeichentisch, ohne sonderlich zu achten, auf was sie
saßen. Die Stühle wurden als Fußschemel benutzt, und mit den
zeichnerischen Entwürfen Toblers kamen die schläfrigen und lustigen
Köpfe in engste Berührung. Tobler stopfte, hin und her taumelnd, seine
Tabakpfeife, und als endlich der Wein kam, machte er sich mit vieler
Mühe und Ungeschicktheit an das Geschäft des Gläserfüllens, worauf dann
ein Trinken begann, das halb mit Schnarchen und Hochaufgähnen verbunden
und vermischt war. Das bißchen gute Vernunft, das der Ingenieur noch zur
Verfügung hatte, glaubte er jetzt mit einem Mal dazu verwenden zu
sollen, den Herren und Kameraden die Toblerschen Erfindungen zu
erklären, er stieß aber nur auf ein Gelächter und sonst auf keinerlei
Verständnis. Der Ernst der männlichen Weltanschauung lag in einem fallen
gelassenen und zerbrochenen und seinen Inhalt ausgeschütteten Glas Wein
am Boden. Der männliche und menschliche Verstand gröhlte und johlte und
lallte, daß die Wände des Hauses beinahe erzitterten. Tobler hatte zu
allem, was er eben inszeniert hatte, jetzt noch die wenig
rücksichtsvolle Idee, seine Frau mit lauter Stimme in das Bureau
hinunterzurufen, um ihr, wie er sagte, seine guten Freunde aus dem Dorf
vorzustellen. Sie kam, steckte aber nur den Kopf durch die Türe, die sie
schüchtern geöffnet hatte, und verschwand wieder, zurückgeworfen von
dem, wie sie selber andern Tags zu ihrem Mann sagte, widerlichen und
unflätigen Bilde, das sich ihren Augen darbot, und welches ein
holländischer Trunkenboldszenenmaler nicht überzeugender und
abschreckender hätte malen können, als wie es hier in Wahrheit und
Wirklichkeit lebte und sich regte. Die Trinkerei hatte mit dem
Verschwinden der Frau noch lange nicht ihr Ende erreicht, im Gegenteil,
sie flammte und kochte und brannte bis zum frühen Morgen und bis zu der
Ermattung, jener vollständigen, die den stärksten Zechern schließlich
über die Nacken herfällt, um sie zu beugen und der Länge und Breite nach
unter Tische und Stühle zu strecken. So geschah's auch, und die
ausgelassene Gesellschaft übernachtete unter gräßlichem Schnarchen im
technischen Bureau, bis Pauline kam, um den Ofen zu heizen. Es war Tag.
Die Gesellen erwachten. Die zwei Bärenswiler zottelten in ihre
Dorfschaft und engere Heimat zurück, während Herr Tobler nach oben ging,
in sein und seiner Frau Zimmer, um den Rausch und Sturm auszuschlafen.

Pauline hatte eine wahre Heidenarbeit zu verrichten, das verwüstete und
entstellte Bureau wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Als Joseph
um acht Uhr unten ankam, sah es noch bitterlich schlimm darin aus, so
daß er sich entschloß, sogleich auf die Post zu gehen. Alles lag
durcheinander, Stühle, Zeichnungen, Schreib- und Zeichengegenstände,
Gläser und Pfropfen. Tinte war verschüttet, rote und schwarze. Wein
schwamm am Boden. Einer Flasche war der Hals abgeschlagen worden. Es
schienen Bären, nicht nur Bärenswiler in dem Raum gewirtschaftet zu
haben, den ein Geruch erfüllte, daß es schien, als müßte man zehn Tage
hintereinander die Fenster offen stehen behalten, um es hier wieder
sauber, gemütlich und wohnlich zu bekommen.

Auf der Post warf Joseph den Brief an den Verwalter in den Kasten. »Für
alle Fälle,« dachte er.

                   *       *       *       *       *

Am folgenden Tag flossen dem Hause Tobler aus dem elterlichen Vermögen
viertausend Mark zu. Das war wenig, aber es war wenigstens etwas, es
genügte gerade, um die allerungeduldigsten und am schärfsten vorgehenden
Dränger zufriedenzustellen. Joseph hatte längst eine Gläubigerliste
zusammengestellt, und so wurden nun aus dieser bunten Wiese die am
heftigsten duftenden Blumen ausgesucht, um wenigstens vorläufig diese zu
betäuben. Unter diesen wütenden und augenblendenden Gewächsen befanden
sich unter andern der Gärtner, der gesagt hatte, er wolle nicht eher
ruhen, bis er Tobler gepfändet und vom Ort verjagt sähe, das
Elektrizitätswerk, das so höhnisch mit den Schultern gezuckt, und die
schöne Beleuchtung abgestellt hatte, der Schlosser aus der
Nachbarschaft, dieser »undankbare Hund«, wie Tobler ihn nannte, dem man,
wie man sich vorgenommen hatte, das »Geld vor die Füße schmeißen würde«,
der Fleischer, und aber von jetzt an »keinen Bissen Fleisch mehr aus
dieser Metzgerei«! Der Buchbinder, das »alte Kamel«, der froh sein
dürfte usw., die Uhrenfabrikanten, denen »man allerdings ihr Drängen
nicht sehr verübeln konnte«, der Metallwarenfabrikant, der den kupfernen
Turm gebaut und verrechnet hatte, und einige, die ihr Geld »wohl
verdienten«.

Ein halber Tag genügte, um diesen lautesten und unverschämtesten
Forderungen den Mund zu verstopfen, aber auch das Geld war damit
verschwunden. Was bedeuteten viertausend Mark für ein über und über
verschuldetes Haus? Ein kleiner Rest dieser Summe wurde der Haushaltung
gegeben, und einen noch winzigeren erhielt Joseph als Gehalt-Anzahlung.

Es war ein sonniger Schneevormittag gewesen, mit blauem Himmel und
Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu Haus
gegangen war, um Beträge auszubezahlen. Auch beim Betreibungsbeamten war
er vorbeigegangen. Und wie rasch das Geld schwand, das merkte er an der
leichter werdenden Rocktasche.

Gegen den Nachmittag langte ein Schreiben des Advokaten Bintsch an,
worin derselbe erklärte, es sei von der Mutter nichts mehr zu
gewärtigen. Er habe sein Möglichstes versucht, die Frau zu überzeugen;
seine Bemühungen seien aber zu seinem Leidwesen ohne Erfolg geblieben.
Er rate daher Tobler an, mit Ruhe die Folgen dieser Resultatlosigkeit zu
ertragen.

Tobler verzog, während er diesen Brief las, sein Gesicht zu einer
schmerzhaft anzusehenden Grimasse. Er schien einen namenlosen Zorn zu
bemeistern. Dann brach es aus ihm los und warf ihn auf einen Stuhl
nieder, als ob Zentnerlasten ihn niedergeschmettert hätten. Er keuchte
mit seiner starken Brust, die zu zersprengen drohte, ähnlich einem zu
straff angespannten Bogen. Sein Gesicht schaute von unten herauf, als
sei es von oben herab von Fäusten niedergepreßt worden. Auf seinem
Nacken schienen jähzornig wiegende und sausende und stemmende Gewichte
zu liegen, lebendige Gewichte. Die Farbe seines Gesichtes war dunkelrot.
Rund um ihn schien die Luft dick und steinern geworden zu sein, und eine
unsichtbar-sichtbare Gestalt schien sich jetzt dicht neben Tobler zu
erheben, um ihm gemütlich aber kalt auf die zusammenzuckende Achsel zu
klopfen. Die eiserne Notwendigkeit selber schien ihm zugeflüstert zu
haben. »Mann! Versuche dein Letztes!«

Tobler öffnete schwerfällig sein amerikanisches Rollschreibpult, nahm
unter Ächzen und Rückenbiegungen, als ob er Schmerzen gehabt hätte, eine
Feder zur Hand, ein Blatt Papier, um seiner Mutter einen Brief zu
schreiben. Aber die Buchstaben, die er aufsetzte, tanzten ihm vor den
Augen. Das Pult flog an seiner wild gewordenen Empfindung hoch auf, das
Bureau drehte sich, er mußte aufhören. Er sagte mit röchelnder Stimme zu
Joseph:

»Telefonieren Sie Bintsch und ersuchen Sie ihn, Ihnen zu sagen, wann er
zu einer Besprechung mit mir bereit sein kann. Sagen Sie ihm, es hätte
die größte Eile.«

Joseph schickte sich sogleich an, dem Befehl Folge zu leisten. Er war
aufgeregt, sprach vielleicht etwas undeutlich, es war möglich, daß man
ihn nicht recht verstanden hatte, kurz und gut, es dauerte ziemlich
lange, ehe er mit Doktor Bintsch reden konnte. Hinter ihm her war Tobler
die Treppe hinaufgekommen und stund nun hinter dem Gehülfen, den die
Gegenwart eines so krankhaft erregten Herrn und Meisters noch mehr
verwirrte, derart, daß, als nunmehr die gewünschte Verbindung
hergestellt war, er sich mit dem Rechtsanwalt in stammelnden Gesprächen
herumschlug, ohne sich verständlich machen zu können.

Das war zu viel für Tobler. Mit einem häßlich tönenden Wutschrei warf er
den ungeschickten Sprecher zur Seite, daß derselbe an den Türrahmen des
Wohnzimmers anflog, und ergriff selber den telephonischen Hörer, um das
verunglückte Gespräch zu Ende zu führen und sich den erforderlichen
Bescheid selbst sagen zu lassen.

Seine Wut war verflogen, aber er zitterte am ganzen Leib heftig. Er
bekam Fieber und mußte sich auf das Ruhbett legen, auf dasselbe, das vor
kurzer Zeit Dora eingenommen hatte. »Ist Vater krank?« frug diese
jetzt. Frau Tobler, die besorgt neben dem liegenden und stöhnenden Manne
stand, sagte zu dem Mädchen: »Ja Kind, Vater ist krank. Joseph hat ihn
geärgert,« wobei sie den Gehülfen mit einem erstaunten und verächtlichen
Blick streifte, der denselben ins Bureau hinunter jagte. An seinem
Schreibtisch angelangt, versuchte er, als ob nichts geschehen wäre, zu
arbeiten, aber es war keine Arbeit, was er tat, sondern ein Tappen und
Tasten mit zitternden, zerstreuten Fingern, ein Bemühen, gleichmütig zu
sein, ein Nichtkönnen, ein Anderes, ein Nichts, etwas Schwarzes. Sein
Herz klopfte zum Zerspringen.

Später wurde er zum Kaffee gerufen. Tobler war inzwischen in sein
Schlafzimmer hinaufgegangen. Die Besprechung mit dem Advokaten konnte
erst andern Tags stattfinden, und bis dahin gab es für den Ingenieur ja
in der weiten Welt, scheinbar und offenbar, vorläufig nichts mehr zu
tun. Welches Bemühen konnte noch einen reellen Zweck haben? Welche Pläne
waren nicht lächerlich? Und krank! Es tat dem gehetzten Mann so wohl, zu
denken, er liege im Bett und könne bis am andern Tag ungestört liegen
bleiben. Er ließ sagen, wenn Joseph zur Post gehe, so möchte er ihm ein
paar gute Zigarren mit nach Hause bringen. »Und für Dora ein paar
Orangen, Joseph,« fügte Frau Tobler hinzu. Dieser führte die Aufträge
aus.

Nach dem Abendessen, die Kinder waren bereits zu Bett gebracht worden,
sagte der Gehülfe zu Frau Tobler, es sei ihm schwer, länger in einem
Hause zu bleiben, dessen Chef sich nicht scheue, ihn, nachdem er ihn oft
genug schon mit Worten beleidigt habe, nun auch tätlich und körperlich
zu beschimpfen. Das sei zu viel, und er glaube, er täte am besten,
gleich jetzt zu Tobler hinaufzugehen, und es diesem Mann zu sagen, wie
roh und dumm seine Handlungen seien. Er könne nicht mehr arbeiten, das
fühle er deutlich. Einer, den man herumstoße und gegen Türen heranwerfe,
der sei wohl auch nicht imstande, Nutzen zu bringen. Solch einer müsse
ein Esel und Taugenichts sein, sonst sei es ja gar nicht möglich, ihn
derart, wie es geschehen sei, zu behandeln. Dies drücke ihm den Atem ab.
Er meine, auch wenn er nichts wie Schindluder all die Zeit her, die er
nun hier oben zugebracht habe, getrieben hätte, so könne das körperliche
Schmach und Schande noch nicht einmal rechtfertigen, und er? Ob er nicht
sich immer ein wenig Mühe gegeben habe? Er wenigstens wisse es, daß er
hin und wieder mit Liebe und Lust und mit allen seinen Kräften
gearbeitet habe, wenn auch die Kräfte nicht immer den, er gestehe es,
gerechten Anforderungen hätten entsprechen können. Ob man so, wie es
geschehen sei, die Versuche, tüchtig und aufrichtig zu sein und zu
bleiben, behandle?

Er weinte.

Frau Tobler sagte kalt: »Mein Mann ist krank, wie Sie wissen, und eine
Störung wird ihm nicht gerade willkommen sein. Aber wenn Sie Lust haben,
und wenn Sie glauben, es hier oben bei uns nun so plötzlich nicht mehr
aushalten zu können, so gehen Sie nur zu ihm hinauf und sagen Sie ihm,
was Sie auf Ihrem Herzen haben. Ich denke, Sie werden den Ihnen und
Ihrem Betragen geziemenden, kurz und bündigen Bescheid erhalten.«

Der Gehülfe blieb sitzen. Dann erhob er sich und sagte: »Ich gehe noch
rasch auf die Post.«

»Sie wollen also nicht zu meinem Manne hinaufgehen?«

Nein, Herr Tobler sei krank, sagte Joseph, man dürfe ihn nicht stören.
Er dagegen habe jetzt noch Lust, einen kleinen Spaziergang zu machen.

Draußen empfing ihn eine klare, kalte Welt. Etwas Hohes und Gewölbtes
von einer Welt. Es war kalt geworden. Die Füße schlugen gegen Steine und
Eisstücke. Ein eiskalter Wind wehte durch die Bäume. Durch die Äste
derselben schimmerten die Sterne. Sein Herz war voll, er lief wie
besessen. Nein, er mochte nicht fortgehen. Er hatte Angst, Frau Tobler
würde inzwischen ihrem Mann alles ausplaudern gehen. Infolge dieses
Gedankens beschleunigte und jagte er seine Schritte. Seinen Gehalt hatte
er überdies auch noch nicht endgültig ausbezahlt erhalten. Item. Die
Hauptsache war: im Haus bleiben. »Wie unanständig, mich derart beklagt
zu haben,« rief er in die Winternacht hinaus. Er nahm sich vor, Frau
Tobler kniefällig die Hände zu küssen.

Sie saß noch im Wohnzimmer, als er es wieder betrat. Er fing schon in
der Türe, welche er aber vorsichtig zuschloß, zu reden an:

»Ich habe Ihnen zu sagen, Frau Tobler, wie gut, daß Sie noch hier
sitzen, daß ich mich vollständig im Unrecht fühle, darum, daß ich gegen
meinen Chef Klagen vorgebracht habe. Ich bin zu voreilig gewesen, und
ich bitte, verzeihen Sie mir. Ich habe mich läppisch benommen, und Herr
Tobler, in welche Aufregung hat ihn der unselige Advokatenbrief
geworfen. Waren Sie schon bei Ihrem Mann? Haben Sie es ihm schon sagen
müssen?«

»Nein, ich habe ihm noch nichts gesagt,« antwortete die Frau.

»Ich bin froh!« sagte der Gehülfe, und er setzte sich. Er fuhr fort:
»Und ich bin hieher zu springen gekommen, in der hellen Angst, daß Sie
es ihm schon hätten können gesagt haben. Es tut mir alles leid, was ich
gesagt habe. Man sagt im Sturm der Gefühle, gnädige Frau, gar so
manches, was man nicht aussprechen sollte. Ich bin so froh, daß Sie noch
nichts gesagt haben.«

Das sei vernünftig gesprochen, sagte Frau Tobler.

»Ich habe mir vorgenommen, Ihnen zu Füßen zu stürzen und kniend Abbitte
zu tun,« stammelte der Gehülfe.

So etwas sei gar nicht nötig, pfui, entgegnete sie.

Sie schwiegen eine Weile. Es kam dem Angestellten so schön im Zimmer
vor. Das war etwas, das glich einem Heim. Und wie oft war er in früheren
Zeiten durch die bewegten und menschenleeren Gassen gegangen mit dem
kalten und bösen und niederwerfenden Verlassenheitsgefühl im Herzen. Er
war so alt gewesen in seiner Jugend. Wie hatte ihn das Bewußtsein,
nirgends zu Hause zu sein, lähmen und innerlich würgen können. Wie schön
war es, jemandem anzugehören, in Haß oder in Ungeduld, in Mißmut oder in
Ergebenheit, in Liebe oder in Wehmut. Dieser Menschenzauber in solchen
Heimstätten, wie war Joseph immer davon traurig entzückt gewesen, wenn
er ihn aus irgend einem offen stehen gelassenen Fenster zu sich, dem
Einsamen und Umhergeworfenen und Heimatlosen, herabwiderspiegeln sah, zu
dem auf der kalten Straße Stehenden hernieder. Wie dufteten Ostern,
Weihnachten oder Pfingsten oder das Neujahr zu solchen Fenstern heraus,
und wie arm mutete der Gedanke an, von diesem Goldenen und Uraltschönen
nur den kargen, kaum empfindbaren Widerschein mitgenießen zu dürfen.
Dieses schöne Vorrecht der Bürgerlichen. Diese Güte in den Gesichtern.
Dieses friedliche Weben und Lassen und Leben! Er sagte:

»Es ist so dumm, sich gleich so beleidigt zu glauben.«

Er habe recht, wenn er das sage, meinte die Frau, indem sie ruhig
fortfuhr, an einem Unterjäckchen für Dora zu stricken oder zu häkeln.
Sie setzte hinzu:

»Und muß ich, seine Frau, nicht auch allerhand von ihm dulden und
ertragen? Er ist nun eben einmal der Herr im Hause, und das ist eine
verantwortliche Position, die von den übrigen Bewohnern und Gliedern
Duldung und Achtung herausfordert. Freilich soll er nicht beleidigen,
aber kann er sich immer im Zaum behalten? Kann er seinem Zorn sagen:
sei vernünftig? Der Zorn und die Gereiztheit sind halt nicht vernünftig.
Und wir andern, die den unübersehbaren Vorteil haben, seinen
Anordnungen, deren Entwurf und Plan ihn anstrengen, gehorchen zu dürfen,
seine Winke, deren Weisheit wir fast immer einsehen, zu befolgen, wir
sollen ihm in Zeiten der Unruhe und der Empörtheit eben ein wenig aus
dem Wege zu gehen verstehen. Wir sollen es gelernt haben, ihn zu
behandeln, denn ein Herr und Gebieter will auch auf eine ganz bestimmte
Art und Weise behandelt werden. Wir sollen geschickt und geschmeidig
sein in Momenten, wo er seiner Gelassenheit und sicheren Kräfte nicht
mehr, wie sonst immer, bewußt ist, in denen wir ihn unfähig, sich noch,
wie bisher, zu beherrschen, erblicken. Und wenn wir plump, und, nach
unsern Verhältnissen gerechnet, voll Fehler gewesen sind, so müssen wir
nicht allzusehr gekränkt sein, wenn seine Stimme und das Unmaß seiner
Sorgen und Qualen uns andonnern. Marti! Glauben Sie mir, auch ich bin
oft voll Wut über denselben Mann gewesen, der Ihnen heute Unrecht getan
hat, der Sie soll beleidigt und in der unwürdigsten Weise soll gekränkt
haben. Nun, so setzt man selber eben diese seine Würde ein bißchen herab
und verzeiht, denn -- man muß seinem Herrn und Vorgesetzten verzeihen.
Was sollte aus Unternehmungen, aus Haushalten, aus Geschäften aller Art,
aus Häusern, ja, was sollte aus der Welt selber werden, wenn die Gesetze
mit einem Mal nicht auch fernerhin einen ein wenig zwicken und stoßen
und verletzen dürften? Hat man das ganze Jahr lang deshalb die Wohltat
des Gehorchens und Nachahmens genossen, daß man dann eines Tages oder
Abends auftreten durfte und sich in die stolze Brust werfen durfte und
sagen durfte: beleidige mich nicht!? Nein, zum Beleidigtwerden ist man
ja allerdings nicht da, aber auch nicht zum Zorn-Anlaß-Geben. Wenn die
Verwirrtheit nichts dafür kann, daß sie sich dumm benimmt, so ist auch
die Wut nicht so rasch für ihr Schnauben und Toben verantwortlich zu
machen. Und es ist immer die Frage, wo ist man, und wer ist man. Ich bin
jetzt ja zufrieden mit Ihnen, Joseph. Geben Sie mir die Hand. Man kann
reden mit Ihnen, und gehen wir jetzt zu Bett.«

                   *       *       *       *       *

Weihnachten näherten sich. Auch ins Haus Tobler mußte die festliche Zeit
ja kommen, die Festzeit, das war etwas Unentrinnbares, das war etwas
Flugartiges, das war ein Gedanke, der sich allen Menschen mitteilte, der
alle Empfindungen durchdrang, warum hätte er, dieser Gedanke, um die
Villa zum Abendstern herum einen Umweg machen sollen? Wie wäre das
möglich gewesen? Wenn ein Haus schon einmal, und dazu noch so hübsch, so
auffällig, wie das Toblersche, in der Welt stund, so gab es ja auch
keine vernünftige oder natürliche Ursache, warum es von irgend etwas,
das in dieser Welt voll Ansehen und Duft bestund, hätte sollen verschont
bleiben. Und dann war auch noch die Frage: hätten Toblers gern mögen
verschont bleiben?

Nein, sie freuten sich darauf. Tobler sagte, wenn es schon schlimm mit
ihm stehe, so meine er doch, Weihnachten brauchten deshalb nicht etwa
gar ungefeiert an und in seinem Haus vorüberzuziehen. So etwas möchte
ihm noch gefehlt haben.

Die umliegende Gegend selber schien sich ja sogar in ihrer Art auf das
schöne Fest zu freuen. Sie ließ sich ruhig und wohlig mit dicht
herabfallendem Schnee bedecken und hielt so still gleichsam die große,
breite, alte und weite Hand dar, um aufzunehmen, was da fleißig
herunterstürzte, daß alle Menschen beinahe sagten: »Seht! Es wird weiß,
es weißelt in der Welt. Das ist recht, denn das schickt sich für
Weihnachten.«

Bald lag auch das ganze See- und Bergland in einem dicken, festen
Schneeschleier. Die rasch sich etwas einbildenden Köpfe hörten schon das
Klingeln von schnell dahinfahrenden Schlitten, obschon noch gar keine
herumfuhren. Die Weihnachtstische waren auch schon gedeckt, denn das
ganze Land glich einem säuberlich weiß überzogenen Weihnachtstisch. Und
die Stille und Gedämpftheit und Wärme solch einer Landschaft! Man hörte
alle Geräusche nur halb, als ob die Schlosser ihre Hämmer, und die
Zimmerleute ihre Balken, und die Fabrikräder ihre Schaufeln, und die
Lokomotiven ihre schrillen Pfiffe mit Watte oder mit wollenen Tüchern
eingewickelt hätten. Man sah nur das Nächste, das, was man mit zehn
Schritten abmessen konnte, die Ferne war ein undurchdringliches
Geschneie und ein fleißiges Übermalen mit grauer und weißer Farbe. Auch
die Menschen kamen weiß dahergestampft, und man konnte unter fünf
Menschen immer einen sehen, der sich den Schnee von den Kleidern
abschüttelte. Es war ein Friede da draußen, daß man unwillkürlich alle
Weltdinge als befriedigt und erledigt und beruhigt annehmen mußte.

Und da mußte nun Tobler hinfahren, durch solchen Schneezauber hindurch,
per Eisenbahn nach der Stadt, um eine Zwiesprache mit dem Herrn
Rechtsanwalt Bintsch abzuhalten. Aber an seiner Seite saß wenigstens
seine Frau, die mitfuhr, um einige Geschenksachen im hauptstädtischen
Warenhaus für das nahe bevorstehende Fest einzukaufen.

Am Abend gab es wieder eine Bahnhofsszene, aber diesmal eine verschneite
und deshalb ein wenig fröhlichere. Paulinens Gelächter und Leos
freudiges Gebell warfen in den Schnee dunklere Ton-Flecken, obschon
sonst ein Gelächter und ein Gebell hell zu färben pflegten, aber was kam
gegen die glitzernde Schneeweiße an Helligkeit und Schimmer auf? Man
nahm wieder Pakete in Empfang, und eine Dame in Pelzen war ausgestiegen
und sah aus wie die wahrhaftige, reiche und gütige Weihnachtsfrau
selber, und doch war es nur Frau Tobler, die Frau eines Geschäftsmannes,
und noch dazu eines ruinierten. Aber sie lächelte, und solch ein Lächeln
kann aus der ärmsten und bedrängtesten Frau eine halbe Fürstin machen,
denn ein Lächeln erinnert immer an etwas Hochachtbares und
Wohlanständiges.

Der Schnee blieb liegen bis zum eigentlichen Tage, sauber und fest, denn
es gab kalte Nächte, die die weiße Decke knirschend zufrieren machten.
Am Weihnachtstag ging Joseph gegen Abend den bekannten Berg hinauf. Die
kleinen Wege schlängelten sich hellgelb durch die schimmernd weißen
Wiesen, die Äste der tausend Bäume waren mit Reif überglitzert: ein zu
süßes Schauspiel! Die Bauernhäuser stunden in dieser feinen, weißen,
verzweigten Pracht da, wie Schmuck- oder Zierhäuser, für den Anblick und
für das unschuldige Verständnis eines Kindes geschaffen. Die ganze
Gegend schien eine hohe Prinzessin zu erwarten: so zierlich und sauber
angezogen sah sie aus. Sie schien ein Mädchen zu sein, ein schüchternes
und ein bißchen kränkliches, ein unendlich zart veranlagtes. Joseph
schritt höher hinauf, und da hoben sich mit einem Mal die grauen
Schleier, die die untere Erde belegten, zerfasernd auf, durchstochen von
dem feurigsten Himmelblau, und eine Sonne, so warm wie im Sommer, machte
den Spaziergänger an ein eitles Märchen glauben. Hohe Tannen standen da,
in stolzer, kraftvoller Haltung, mit Schnee beladen, der in der Sonne
zerfloß und von den großen Ästen herabfiel.

Als Joseph mit der bereits begonnenen Nacht nach Hause kam, brannte
schon im Gastzimmer, einem Eckzimmer, das man fast nie betrat, der
Weihnachtsbaum. Frau Tobler führte die Kinder zu demselben hinein und
zeigte ihnen die Geschenke. Auch Pauline wurde beschenkt, und Joseph
erhielt eine Kiste Zigarren unter der Bemerkung, daß das zwar wenig
aber dafür von Herzen sei. Tobler war bemüht, dem Fest einen
gemütlichen, wirtshäuselnden Anstrich zu geben, er rauchte die gewohnte
Pfeife und blinzelte mit seinen Augen den Tannenbaum an, der lieblich
umherstrahlte. Frau Tobler lächelte und sagte ein paar schickliche
Worte, zum Beispiel, wie schön doch so ein Bäumchen sei. Aber es mochte
ihr nicht so recht zum Mund herauskommen. Überhaupt stockte alles ein
bißchen, und es verbreitete sich keine sonderliche Freudenandacht um die
paar dastehenden Menschen, sondern es legte sich Wehmut um alles. Auch
war es kalt im Gastzimmer, und wo Weihnachtsfreude hätte herrschen
sollen, da durfte es nicht kalt sein. Man ging daher immer ins
Wohnzimmer hinüber, um sich dort ein wenig Wärme zu holen, und kam dann
wieder zum Baum. Jeder Weihnachtsbaum ist schön und jeder hat noch
Rührung erzwungen. Auch der Toblersche war schön, nur die Menschen, die
um ihn herumstanden, konnten sich zu keiner längeren und tieferen
Rührung und Freude aufschwingen.

»Da hätten Sie letztes Jahr sollen dabei gewesen sein, das waren noch
Weihnachten! Kommen Sie. Trinken Sie ein Glas Wein,« sagte Tobler zum
Gehülfen und veranlaßte ihn, ins Wohnzimmer an die Wärme zu treten.
Letzterer machte ein unzufriedenes Gesicht, als wäre er der Zigarren
wegen verstimmt gewesen, was er selber nicht genau wußte. Man sei halt
dieses Jahr, sagte und seufzte die Frau, nicht in der richtigen Stimmung
für so etwas. Sie schlug zaghaft vor, noch einen »Jaß« zu machen. Habe
man es das ganze Jahr lang getan, so könne man auch einmal am
Weihnachtsabend zu den Karten greifen, vielleicht werde es dann ein
bißchen lustiger im Zimmer. So nahm man zu den Spielkarten Zuflucht.

Der Baum war inzwischen strahlen- und lichterlos geworden. Die Kinder
ließ man noch eine halbe Stunde sich mit den Geschenken beschäftigen,
worauf sie in die Betten geschickt wurden. Nach und nach
verwirtshäuselte die Luft im weihnachtlichen Wohnzimmer gänzlich. Das
Lachen und Benehmen der drei einsamen Menschen, die da Wein tranken,
teils Zigarren rauchten, teils Bonbons aßen und miteinander Karten
spielten, verlor alle besondere Scheu und Eigenheit, die etwa noch
hätten an einen Festhauch erinnern können. Es war das gewöhnliche
Benehmen und das allerunfeierlichste Lachen. Die Stimmung, die nun diese
Spieler beherrschte, war aber nicht einmal die gewohnt-gemütliche, denn
-- es war halt doch Weihnachten, und der feinere und schönere Gedanke,
der hie und da aufblitzen mochte, mahnte vorüberhuschend an die Sünde,
das Fest und den Inhalt desselben derart, wie es geschah, verdorben und
entwertet zu haben.

Ja, einsam waren diese drei Menschen, am einsamsten der Gehülfe, weil er
fühlte, daß er als ein hinzugeflogenes Glied einem Haus angehörte, das
langsam aufhörte, ein solches zu sein; weil er sich nicht, wie Herr
Tobler, sagen durfte, er habe das Recht, in diesem Hause zu tun und zu
verhindern oder zu umgehen, was ihm beliebe, da es nicht sein eigenes
war; weil er hätte Weihnachten haben und begehen wollen, da er sich doch
einmal in solch einem Hause und in solch einer bürgerlichen Familie
befand; weil er des Glaubens gewesen war in den letzten Jahren, er
entbehre viel, solches vermissen zu müssen, und weil er am
mißgestimmtesten von allen dreien Kartenspielern war und dies als ein
großes Unrecht empfinden mußte.

»Ist dieses nun heiliger Abend?« dachte er.

Die Frau sagte unter anderem auf einmal, es sei doch nicht ganz recht,
an Weihnachten Karten zu spielen. Bei ihnen im Elternhaus würde es so
etwas nie gegeben haben. Es habe doch eigentlich gar keine Art, wie man
da heute Nacht wieder wirtshäusele.

Dadurch in Unlaune versetzt, erwiderte Tobler: »So hören wir eben auf!«

Er warf die Karten auf den Tisch und rief aus:

»Jawohl ist es nicht recht, so etwas am Weihnachtsabend zu tun. Aber was
ist das für ein Kreis, wir hier? Was sind wir? Uns kann der Wind morgen
zum Haus hinausfegen. Ja, da wo Geld ist, da ist noch Lust, Feste, und
noch dazu heilige, zu feiern. Wo Wohlstand ist, wo Glück, Erfolg und
allgemeine, häusliche Freude ist. Wer hat sich drei oder mehr Monate
hindurch unnatürlich um das Gelingen der Lebensgeschäfte abplagen
müssen, erfolglos, und will dann mit einem Mal fröhliche Feste feiern?
Ist so etwas überhaupt denkbar? Habe ich recht oder nicht, Marti? He?«

»Nicht ganz, Herr Tobler,« sagte der Gehülfe.

Es gab ein langanhaltendes Schweigen, das, je länger es dauerte, niemand
zu unterbrechen wagte. Tobler wollte etwas von der Reklame-Uhr, die Frau
etwas von Dora, und Joseph etwas von Weihnachten sagen, aber alle
unterdrückten ihre Gedanken. Es war, als ob allen der Mund zugenäht
gewesen wäre. Plötzlich schrie Tobler:

»So tut doch bald eure Schnäbel auf und saget etwas. Das ist zu
langweilig, da geht man ja gescheiter ins Wirtshaus.«

»Ich gehe ins Bett,« sagte Joseph und verabschiedete sich. Auch die
andern gingen bald nach oben, und das war Weihnacht gewesen.

                   *       *       *       *       *

Die Neujahrswoche verlief still und eigentümlich gemütvoll, die
Geschäfte lagen am Boden, es gab wenig zu tun, außer, um einen seltsamen
Menschen, den Erfinder einer Kraftmaschine, im Kontor von Zeit zu Zeit
zu empfangen. Dieser halb bäuerlich, halb weltstädtisch angehauchte Kauz
besuchte in dieser Woche das Haus Tobler fast täglich, indem er den Chef
desselben antrieb, er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im
Bureau liegen ließ, tätig sein. Man lachte über den Mann, dessen Sache
man nicht ernst nehmen konnte, aber Tobler sagte einmal beim Mittagessen
zu den übrigen: »Lacht doch nicht so. Der Mann ist gar nicht dumm.«

Die Begeisterung, mit welcher der Kraftanlagenschöpfer das Kind seines
Geistes verfocht und in fast himmelhohe Bedeutung hochhob, gab viel zu
reden und sorgte in gar nicht übler Weise für die Unterhaltung in der
still und träge dahingehenden Woche. Der seltsame Mensch besaß keinerlei
exakte und elegante Bildung, er sprach einesteils wie ein junger Träumer
und Bauer, und andersteils hätte man ihn für einen Schwindler oder
Jahrmarktbudenbesitzer halten können, denn eines Tages schlug er Herrn
Tobler die öffentliche und unter Bezahlung von Eintrittsgeld zu
besichtigende Schaustellung der Selbstkrafterzeugmaschine in Städten und
Großstädten vor, an Orten, wo recht viel Volk sich zu tummeln pflege,
über welche Idee man gar nicht genug glaubte lachen zu sollen.

Da sollte nun Tobler schon wieder einmal einem anscheinend ganz begabten
Menschen auf die Beine helfen, damit derselbe nicht in einer
Schlosserwerkstätte als Arbeiter geistig zu verträgen und zu erlahmen
brauchte, aber er, Tobler, selber, wie erging es denn ihm, und wo waren
die hülfsbereiten Menschen, die dann auch ihm halfen?

»Alle kommen zu ihm,« sagte Frau Tobler, »alle denken sie an ihn, wenn
sie auf der Suche nach einem Bereitwilligen sind, alle haben sie Lust,
ihn und seine gesellige Natur auszubeuten, und er hilft jedem. So ist
er.«

Der Gehülfe machte in dieser Woche kürzere und weitere Spaziergänge in
die kalten aber schönen Winterlandschaftsgegenden und -Bilder hinein. Da
gab es Wagenfurchen auf der Landstraße, an die die Füße anschlugen. Da
gab es steifgefrorene Wiesen, die den Berg anliefen, und kalte, rote
Hände, die man vor den Mund hielt, um hineinzublasen. Dickbemäntelte
Menschen begegneten ihm, und Nächte überraschten ihn in unbekannten
Gegenden. Oder es gab da eine Eisbahn auf einem ehemalig herrschaftlich
gewesenen Parkweiher, fahrende und umfallende Menschen jeden Alters und
beiderlei Geschlechtes darauf, mit den Geräuschen, die solche
Schlittschuhbahnen auszuzeichnen und abzumalen pflegen. Und dann stand
er plötzlich wieder vor dem Toblerschen Haus, schaute von unten zu ihm
hinauf und sah, wie der kalte Mond es verzauberte, während die
halbdunklen Nachtwolken um dasselbe herumflogen, großen, trauernden,
aber lieblichen Frauen ähnlich, um es scheinbar in die Höhe zu ziehen,
damit es sich auflöse in schöner Weise.

Zu Hause war dann alles so sonderbar still, nicht einmal die Silvi mehr
konnte man hören. Die Tugenden und Untugenden des Hauses Tobler schienen
sich beiderseits zufrieden gegeben und sich stumm verbrüdert zu haben.
In der Wohnstube saß etwa die Frau in dem Schaukelstuhl, arbeitete etwas
oder las etwas, oder sie hielt Dora auf ihrem Schoß und tat gar nichts.

»Wie Sie mich im Sommer draußen im Garten gereitschaukelt haben, Marti!«
sagte sie einmal. Sie sehne sich nach dem Garten, sie wisse nicht wie.
Wie das schon so lange her scheine. Joseph sei jetzt ein halbes Jahr
hier, und ihr sei es, als sei er schon so viel länger um sie herum. Wie
doch so etwas derart ins Gefühl komme.

Sie schaute die Lampe an. Der Blick, womit sie das tat, schien zu
seufzen. Sie sagte:

»Sie, Marti, haben es eigentlich recht gut, viel besser als mein Mann
und als ich, aber von mir will ich gar nicht reden. Sie können von hier
weggehen, Sie packen einfach Ihre paar Sachen, setzen sich in die
Eisenbahn und fahren nach wohin Sie wollen. Sie finden überall Stellung,
denn Sie sind jung, und man glaubt, wenn man Sie vor sich sieht, Sie
seien tüchtig, und Sie sind es ja auch. Sie haben mit niemandem auf der
Welt, mit niemandes Eigenheit und Bedürfnis, zu rechnen, es zieht
niemand Sie ab, in die Weite und in die Ungewißheit hinauszuschweifen.
Das ist vielleicht oft bitter, aber wie schön und wie frei kann es sein.
Wenn es Ihnen paßt, und wenn es Ihnen die paar kleinen, nicht gar sehr
genierenden Verhältnisse erlauben, so marschieren Sie, und wenn Sie zu
dürfen glauben, ruhen Sie an irgend einem festen Punkt und Ort wieder
aus, und wer wollte, und was wollte und könnte Sie daran verhindern? Sie
sind vielleicht manchmal unglücklich, aber wer ist es nicht, manchmal
verzweifelt, aber wessen Seele schonen die Schwierigkeiten? An nichts
Dauerndes sind Sie gebunden, an nichts Hemmendes gefangen und an nichts
Allzuliebevolles gefesselt und angekettet. Es muß Ihnen manchmal
unerhört läuferisch und luftspringerisch zumute sein, daß Sie sich
dermaßen voller Bewegungs-Erlaubnis erblicken dürfen. Und gesund sind
Sie auch, und Ihr Herz mag schon am rechten Fleck sitzen, ich kann es
mir denken, trotzdem Sie sich öfters so zaghaft benommen haben.
Vielleicht bin ich undankbar. Ich habe mich nun all die Zeit her mit
Ihnen nett und lang und ruhig unterhalten können, und es hat sich
vielleicht gut getroffen, daß Sie ins Haus zu fliegen gekommen sind, und
ich habe Sie oft schlecht behandelt --«

»Frau Tobler!« bat Joseph. Sie schnitt ihm das Wort ab und fuhr fort:

»Unterbrechen Sie mich nicht. Lassen Sie mich die Gelegenheit ergreifen,
Ihnen zu raten, wenn Sie einmal von uns fort sind -- --«

»Aber ich gehe ja gar nicht fort!« --

Sie fuhr weiter:

»-- -- fort sind, und gedenken, sich selbständig zu machen, es anders
anzustellen als mein Mann, ganz anders. Pfiffiger vor allen Dingen.«

»Ich bin nicht pfiffig,« sagte der Gehülfe.

»Wollen Sie denn Ihr Lebtag lang Angestellter bleiben?«

Er sagte, das wisse er nicht. Er bekümmere sich um Zukunftsfragen nicht
viel. Sie nahm wieder das Wort auf und sagte:

»Jedenfalls haben Sie hier oben etwas sehen und sich etwas einprägen
können, auch gelernt haben Sie mancherlei, wenn Sie es der Mühe wert
gehalten haben, die Augen zu öffnen, und das werden Sie, so wie ich Sie
einigermaßen schon kenne, getan haben. Sie sind ein bißchen an
Erfahrung, an Wissen und an Gesetzen reicher geworden, und Sie werden
das alles womöglich eines Tages brauchen können. Nicht wahr, manches Mal
ist man Ihnen über den Mund gefahren, und getragen und ertragen haben
Sie manches. Sie mußten! Wenn ich so denke -- ach was, ich habe, mit
einem Wort, das Gefühl, Joseph, daß Sie uns jetzt bald, bald verlassen.
Nein, sagen Sie nichts. Sagen Sie lieber nichts. Einige Tage werden wir
ja doch wohl schon noch zusammen bleiben, oder nicht? Was meinen Sie?«

»Ja,« sagte er. Es war ihm unmöglich, mehr zu sagen.

Am nächsten Tag schickte er die zu Weihnachten geschenkt bekommene
Kiste Zigarren per Post seinem Vater, folgendes Schreiben der Sendung
beifügend:

    Lieber Vater, hier mache ich Dir ein kleines Neujahrsgeschenk. Die
    Zigarren sind mir von meinem gegenwärtigen Herrn zu Weihnachten
    gegeben worden. Du wirst sie gewiß gern rauchen, es sind gute, zwei
    davon habe ich probiert, wie Du siehst, denn zwei fehlen. Wenn ich
    mit meinen heutigen sprunghaften Gedanken diese zwei fehlenden
    Stücke mit zwei Fehlern vergleiche, die meinen Eigenschaften
    anhaften, so kommt mir so recht zum Bewußtsein, erstens, daß ich Dir
    niemals schreibe, zweitens, daß ich arm bin, derart, daß ich Dir nie
    Geld schicken kann, zwei Mängel, die ich beweinen würde, wenn ich
    mir das erlauben dürfte. Wie geht es Dir? Ich bin überzeugt, daß ich
    ein schlechter Sohn bin, aber ich bin ebenso vollkommen von der
    Gewißheit durchdrungen, daß ich ein guter Kerl von Sohn wäre, wenn
    es einen Sinn hätte, Briefe zu schreiben ohne erfreulichen Inhalt.
    Das Leben, mit dem man ehrlich glaubt kämpfen zu sollen, gestattete
    mir bis jetzt nicht, Dir zu gefallen. Adieu lieber Papa. Bleibe
    gesund und lasse Dir das Essen immer wohlschmecken und fange das
    neue Jahr gut an. Ich will's auch versuchen.

                                               Dein Sohn Joseph.

»Er ist ein Greis und geht immer noch den Geschäften nach,« dachte er.

                   *       *       *       *       *

Die mündlichen Verhandlungen Toblers mit seinem Rechtsbeistand
bewirkten, daß derselbe der Mutter Tobler einen in energischen Tönen
gehaltenen Brief schrieb, den aber die festbewußte alte Dame dahin
beantwortete, daß der Rest der Sohnesansprüche bei weitem erschöpft sei,
ja, daß sie selber, eine nunmehr hochbejahrte Frau, sehen müsse, wie sie
sich in ihren alten Tagen durchschlage, und daß von weiteren Auszahlungen
an Karl Tobler die Rede überhaupt nicht mehr sein könne. Derselbe Mann,
fast möchte sie sagen, leider ihr Sohn, habe nichts anderes zu tun, als
die notwendigen Folgen seiner Unvorsichtigkeiten und Unüberlegtheiten zu
tragen. In der Art der Geschäfte, in die er sein Vermögen geworfen habe,
könne sie nichts Gewinn- und Existenzversprechendes begründet erblicken.
Das Haus zum Abendstern solle nur aufgegeben werden, es sei allerhöchste
Zeit, daß Tobler sich wieder in bescheidenere Lebensverhältnisse fügen
lerne, die ihn zwängen, ehrlich, wie es andere Menschen ebenfalls tun
müssen, zu arbeiten. Für ihn sei es das Beste, wenn man ihn in der
selbsteingebrockten Suppe belasse, damit er aus den Verlegenheiten, in
die er sich gestürzt sehe, eine Lehre ziehe. Von ihr, der Mutter, sei
nichts mehr zu erwarten.

Tobler, dem der Advokat eine Abschrift des mütterlichen Bescheides
übermittelte, wurde rasend, als er dieselbe durchgelesen hatte. Er
gebärdete sich wie ein wildes Tier, stieß unnatürliche Schimpfworte
gegen seine Mutter aus, in der direkten Anrede, als wenn sie zugegen
gewesen wäre, und brach dann, wie schon einmal, erschöpft zusammen.

Dies geschah am letzten Tage des Jahres, im technischen Bureau, das nun
so oft schon der Schauplatz ungehöriger und unbeherrschter Szenen hatte
sein müssen. Auch Joseph hatte alles Würdelose und Fassungslose wieder
mit angesehen und angehört. In diesem Moment wäre er am liebsten gleich
auf und davon gegangen, aber »wozu es herbeiziehen,« dachte er, »es
kommt schon von selber.« Er bemitleidete Tobler, er verachtete ihn, und
er fürchtete sich zugleich vor ihm. Das waren drei sehr häßliche
Empfindungen, eine wie die andere natürlich, aber auch ungerecht. Was
veranlaßte ihn, nun noch länger der Angestellte dieses Mannes zu
bleiben? Der Gehalt-Rückstand? Ja, das auch. Aber es war noch etwas ganz
anderes, etwas Wichtigeres: er liebte aus dem Grund seines Herzens
diesen Menschen. Die reine Farbe dieser einen Empfindung machte die
Flecken der drei andern vergessen. Und wegen dieser einen Empfindung
waren auch die drei andern immer, beinahe von Anfang an, dagewesen, und
um so lebhafter. Denn was einer gern hatte, an was einer sich gebunden
und geschlossen fühlte, das machte ihm eben zu schaffen, mit dem stritt
er sich, an dem paßte ihm vieles nicht, das haßte er gelegentlich, weil
er sich mächtig von ihm immer angezogen gefühlt hatte.

Das Wetter war an diesem letzten Jahres-Tag mit einmal wunderbar mild
geworden. Die winterliche Natur schien gleichsam zu schmelzen und stille
Freudentränen zu weinen, denn was Eis und Schnee sein mochte, das lief
als munteres, warmes Wasser die Hänge und Hügel hinunter, dem Seewasser
zu. Es rauschte und dampfte, als wenn sich ein Frühlingstag mitten in
den Winter hinein verloren hätte. Eine solche Sonne! Der reine Maitag.
Die beiderlei Sorten Gefühle, die schönen und die schmerzlichen, die
sich heute besonders lebhaft in der Brust des Gehülfen bewegten, reizte
das herrliche Wetter noch mehr hervor, beruhigte und beunruhigte sie
zugleich, so daß es ihm, als er zur Post lief, war, als laufe er nun da
zum letzten Mal den schönen Weg entlang, unter diesen bekannten, guten
Bäumen, an all den Dingen und Gesichtern vorbei, die Winters und
Sommers immer gleich angenehm anzuschauen gewesen waren.

Er trat bei Bachmann & Co. ein und fragte nach Wirsich, den er schon an
die zehn Tage nicht mehr gesehen hatte, und mit dem er sich für den
Silvesterabend zu einer gemütlichen Zusammenkunft zu verabreden
gedachte.

Der Wirsich? Der sei längst abgegangen. Das sei ja eine pure
Unmöglichkeit gewesen, den zu behalten. Der sei ja den halben und ganzen
Tag betrunken gewesen.

Joseph entschuldigte sich und verließ den Laden. »Ist das möglich,«
dachte er und ging langsamen Schrittes nach dem Postgebäude. Im Postfach
lag eine Neujahrswunschkarte seiner Frau Weiß, auf welcher diese gute
Frau ihm Glück und Gedeihen wünschte. Er lächelte, schloß das Fach zu
und machte sich auf den Heimweg, indem er die Richtung der Landstraße
einschlug. Das Wirtshaus zur »Rose« streifend, das an der Straße lag,
erblickte er in demselben Wirsich, der an einem Tisch saß und den Kopf
schrecklich verzweifelt in die hohle Hand stützte. Das Gesicht des
unglücklichen Menschen war blaß wie der Tod, seine Kleider waren
schmutzig, und sein Blick hatte alles Leben verloren.

Joseph trat näher und setzte sich zu seinem Vorgänger. Viel wurde
zwischen den beiden nicht gesprochen. Das Bewußtsein des Unheils findet
in der Regel keine Worte. Der Gehülfe trank ziemlich stark, gleichsam,
um dem Kameraden um eine Seelenstufe und um ein Stück Verständnis näher
zu rücken, indem er fühlte, daß hier der nüchterne Sinn und Verstand
beinahe unpassend gewesen wäre. Die Zeit verging, indem er sich erzählen
ließ, wie es gekommen war, daß der andere aus dem guten Lebensposten
wieder verjagt werden mußte.

»Kommen Sie, Wirsich, wir wollen ein wenig spazieren gehen,« sagte dann
Joseph. Sie bezahlten, der Festere nahm den Schwankenden und Trostlosen
unter den Arm, es war schon Nachmittag geworden, und so gingen sie
zusammen, erst ein Stück gradaus, dann bergauf, über die freundlichen
Wiesen. Wie milde alles war. Wie man da hätte plaudern und scherzen
können, wenn man in Begleitung eines Kindes, eines Mädchens oder einer
schönen Dame gegangen wäre. Wie man sich, wenn es halb erlaubt gewesen
wäre, hätte küssen können. Auf einer Bank in Bergeshöhe vielleicht. Oder
wie man gesprochen hätte, etwa mit einem Bruder, oder wie es da hätte
sein können, wenn Wirsich ein gesetzter, welterfahrener und gutmütiger
älterer Herr gewesen wäre. Gelacht würde man haben, und ein ernstes,
aber ruhiges Wort würde man schön vor sich hingesprochen haben. Wenn man
aber Wirsich betrachtete, mußte man mit den Verhältnissen und Geschicken
der Welt heimlich zürnen und grollen, denn Wirsich bot keinen schönen
Anblick dar.

Joseph dachte an Toblers und das Herz schlug ihm leise. Wie kam er dazu,
den ganzen halben Tag von Geschäft und Haus fern zu bleiben, ohne um
Erlaubnis gebeten zu haben? Er machte sich unbehagliche Vorwürfe.

Und dazwischen war es ihm beinahe heilig zumut. Die ganze Landschaft
schien ihm zu beten, so freundlich, mit all den leisen, gedämpften
Erdfarben. Das Grün der Matten lächelte aus dem Schnee, dieser war von
der Sonne zu weißen Flecken und Inseln zerteilt worden. Jetzt fing es
an, Abend zu werden, und nun hätte er doch nicht wünschen mögen, er wäre
besser nicht mit Wirsich spazieren gegangen.

Doch! Er hatte ganz gut daran getan, das fühlte er lebhaft. Dieser
verunglückte Mensch durfte nicht gänzlich allein gelassen werden. Und
jetzt paßte die Gestalt des Trinkers auf einmal wundervoll in die Gegend
und in die Dämmerungen des Abends. Schon zündeten Menschen in Häusern
Lichter an, schon sah man die Farben nicht mehr, nur noch die weicheren
und breiteren Umrisse, und sie gingen heim, und sonderbar, sie schlugen
beide den Weg nach Toblers Haus ein, ohne irgend welche Verabredung
getroffen zu haben.

Tobler war nicht zu Hause. Die Frau saß im Wohnzimmer, in der
Dunkelheit, ganz allein, die Lampe hatte sie noch nicht angezündet, und
Pauline und die Kinder waren noch irgendwo draußen in der Umgebung. Sie
erschrak über die unvermutete Ankunft zweier solcher abendlichen
Gesellen, aber sie faßte sich rasch, machte Licht und frug Joseph, warum
er denn heute nicht zum Essen erschienen sei, Tobler habe sich darüber
aufgeregt, er sei böse, und sie fürchte, es werde nun wieder etwas
Unangenehmes geben.

»Guten Abend, Wirsich,« sagte sie zu dem andern und reichte die Hand,
»wie geht es Ihnen?«

»So! Es geht so,« machte der. Joseph ergriff das Wort:

»Frau Tobler, würden Sie mir erlauben, für heute nacht meinen Kameraden
bei mir oben im Turmzimmer zu behalten? Wie ich denke, befindet er sich
in Verlegenheit, wo er übernachten soll, es sei denn in der 'Rose' da
unten, aber ich will mein Möglichstes getan haben, zu versuchen, daß
man ihn verhindert, dort zu nächtigen. Wirsich hat soeben seine neue
Lebensstellung verloren, durch eigene Schuld, das weiß er selber. Sein
Geld hat er vertrunken. Wenn er sich nun in den See stürzt, so begeht er
ein Ding, worüber wohlsituierte Leute leicht die Achseln zucken können,
das aber schrecklich und nie wieder zu verbessern ist. Er ist ein Säufer
und ein kaum noch zu rettender Mensch, ich spreche das hier, auch vor
Ihnen selber, Wirsich, laut aus, denn es gibt vor Naturen, wie er eine
ist, keinerlei Takt zu bewahren, weil überhaupt keine Haltung mehr da
ist. Aber er muß nicht heute zugrunde gehen, und was mich betrifft, so
nehme ich ihn als meinen besten Freund und Kameraden ungeniert in ein
Haus mit, in dem ich als Arbeiter tätig, und als Bewohner vertraut bin.
Ich werde jetzt noch ein wenig mit ihm ausgehen, denn es hat heute am
Silvesterabend keinen Sinn, sich in ein Zimmer einzusperren, trocken und
lustlos; ich gedenke im Gegenteil die Nacht mit meinem Vorgänger, daß
ich es nur sage, ruhig und anständig zu durchzechen, denn so machen es
heute ja alle Menschen, die glauben, es sich erlauben zu dürfen. Ich
werde dann mit Wirsich hieher zurückkehren, um ihn bei mir oben
übernachten zu lassen, mag Herr Tobler das nun übel nehmen oder nicht.
Ich wollte Ihnen das, gnädige Frau, im voraus sagen. Vieles, was mich
diese ganze Zeit über in Erregung hat versetzen können, begegnet in
meinem Herzen hier jetzt, nachdem ich das Unglück meines Kameraden
angeschaut habe, der gleichmütigsten und allerschönsten Ruhe. Ich wage
es, dem kommenden Leben tief und sorglos und warm ins Auge zu blicken.
Ich vertraue meinem bißchen Kraft aufrichtig, und das ist mehr, als wenn
einer Wagenladungen voller Kräfte und Heuschober voll Fähigkeiten hätte,
aber denselben nicht traute oder sie gar nicht kennte. Gute Nacht, Frau
Tobler, Ihnen danke ich, daß Sie die Güte hatten, mich anzuhören.«

Frau Tobler sagte den beiden gute Nacht. Die Kinder kamen gerade in
diesem Augenblick zurück. »Der Wirsich ist da,« riefen sie in heller,
lustiger Freude aus. Er mußte allen die Hand geben, und alle, die
dabeistanden, hatten das seltsame Gefühl, als habe jetzt Wirsich
angefangen, wieder ein Glied des Hauses Tobler zu werden, oder als sei
er während all dieser Zeit seiner Abwesenheit eins geblieben, als wäre
er nur in ein anderes Zimmer gegangen und hätte dort ein etwas
ausschweifendes, überspanntes Buch gelesen, als hätte seine Abschweifung
nur eine Stunde oder zwei gedauert, so sehr sprach jetzt die
Wiedersehensfröhlichkeit der Kinder für ihn.

Da wurde auch die Frau, die ein strenges und kaltes Gesicht hatte
aufsetzen wollen, wieder leutselig und gewohnt-heiter, und sie sagte den
beiden, die schon in den Garten hinaus getreten waren, sie sollten aber
etwa auch ein bißchen aufs Maß schauen und mit Trinken und Feten nicht
allzu hoch über die Schnur hauen. Daß Wirsich hier bei Toblers, wo er
doch früher wie zur Familie gehört habe, übernachten könne, das verstehe
sich von selber. Und sie werde mit ihrem Mann schon ein Wort reden,
damit es keine Szene gebe.

»Gut' Nacht, Frau Tobler, adieu Dora, adieu Walter!« scholl es aus
Josephs Mund nach dem Haus zurück.

Unten in seinem kleinen Haus sang der Bahnwärter ein Lied. Die warme
Männerstimme wollte, wie es schien, ausgezeichnet in die milde Nacht
hineinpassen. Das Lied klang so gleichmäßig und gleichtönend, daß man
ihm, als man es hörte, zutraute, es werde noch über das alte Jahr hinaus
ins neue hinein und hinüber tönen wollen.

Joseph Marti und Wirsich bewegten sich auf der Landstraße langsam gegen
das Dorf zu.

                   *       *       *       *       *

Was diese zwei Neujahrskameraden in der Ortschaft und während der Nacht
betrieben und taten, welche Wirtschaften sie aufsuchten, wie viele
Gläser sie tranken, welche Art von Gesprächen sie zusammen führten, das
zu beschreiben würde das Wichtige und Wesentliche in das Unwichtige und
Unbedeutende hinüberschieben. Sie sprachen, was Kollegen zu sprechen
pflegen, und sie handelten, wie man in der Silvesternacht etwa zu
handeln pflegt, das heißt, sie gaben sich einem langsamen, aber desto
vergnüglicheren und desto zielbewußteren Rausch hin. In einem der
zahlreichen Bärenswiler Restaurants streiften sie Tobler, der am Tisch
mit Freunden saß und merkwürdigerweise über Religion sprach. Joseph
hörte, so gut er noch hören konnte, wie sein Chef ausrief, er erziehe
seine Kinder gemäß den Prinzipien der Religion, er selber aber glaube an
nichts, so etwas höre auf, wenn einer Mann werde. Den beiden
Angestellten, dem gegenwärtigen und dem früheren, schenkte der Ingenieur
infolge seiner heftigen Gesprächsanteilnahme keine Beachtung.

Um zwölf Uhr fingen die Glocken an zu tönen und zu erschallen, um den
Beginn des neuen Jahres läutend und donnernd anzuzeigen. Am Hafenplatz
spielte die Dorfmusik, begleitet und abgelöst von den Chören des
Männergesangvereines. Viele Leute umstanden, die Gesichter von Fackeln
beleuchtet, das nächtliche Konzert. Joseph bemerkte den
Versicherungsagenten, der mit Tobler gut stand, aber auch den wütenden
Handelsgärtner, den ärgsten Feind der technischen Unternehmungen, unter
den Zuschauern und Zuhörern.

Die Wirte machten in dieser Nacht gute Geschäfte, bessere, als sonst in
Wochen. Manch einer trank heute eine Flasche vom ganz Guten, der das
ganze Jahr nur Bier getrunken hatte. Mancher gönnte sich etwas, das er
sich sonst nicht wohl hätte erlauben dürfen; das ergab schöne, fette
Rechnungen, und diese wurden gleich bar bezahlt.

Frau Tobler war in Begleitung Paulinens zu der Mitternachtsmusik
gekommen, still und verschämt, im Gegensatz zu den unverschämten Augen,
die sie unter ihren Mitbürgerinnen antraf, die es sich zur Wonne
machten, die Frau in Verlegenheit zu bringen. Sie war heute eine
einsame, wenig geachtete, wenig beliebte Frau, aber sie ertrug es.

Am späten Morgen erwachten im Turmzimmer zwei noch nicht ausgeschlafene
Köpfe. Es war heller Tag und bereits elf, halb zwölf Uhr, also schon
beinahe Mittag. Schnell kleideten sich Marti und Wirsich an, um hinunter
zu gehen. Im Bureau stund schon Herr Tobler. Sein Zorn, als er den
Spätling und den unberufenen Eindringling erblickte, kannte keine
Grenzen. Er war nahe daran, Joseph zu schlagen.

»Nicht nur,« rief er aus, »daß Sie den ganzen vorigen Tag, ohne auch nur
ein Wort der Entschuldigung oder der Benachrichtigung zu sagen,
weggeblieben sind und die Nacht durchgelungert haben, besitzen Sie auch
noch die Frechheit, einen neuen halben Tag zu versäumen und zu
verschlafen. Unerhört ist das. Es gibt ja vielleicht hier unten heute
gar nichts Wesentliches zu tun, zugegeben, aber es kann jemand Geschäfte
halber daherkommen, und welchen Eindruck macht dann das, wenn die Magd
dem Ankömmling sagen muß, der Lump von Angestellter liege noch oben in
seinem Nest. Schweigen Sie. Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht links und
rechts, wie Sie's verdienen, ohrfeige. Und hat auch noch die Stirne, in
Gesellschaft eines Menschen anzulangen, der, wenn er sich nicht
augenblicklich jetzt aus dem Staube macht, auf Niewiedersehen, wie ich
ihm befehle, anderes und deutlicheres zu gewärtigen hat. Und kommt an,
mit einer Gelassenheit, die dem erstbesten Galgenvogel, aber nicht dem
schuldbewußt sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses
Haus ist noch immer ein Haus und mein Haus, und wegen der Unsicherheit,
in der es sich befindet, darf niemand mich zum Narren und Buben machen,
am allerletzten mein Angestellter, dem ich Lohn ausbezahle, damit er zu
leben hat. Setzen Sie sich ans Pult und arbeiten Sie. Schreiben Sie. Es
gilt einen letzten Versuch mit der Reklame-Uhr zu machen. Nehmen Sie die
Feder zur Hand.«

Der Gehülfe sagte mit einer endgültig verletzenden Ruhe:

»Zahlen Sie mir den Rest des versprochenen Lohnes aus.«

Er wußte kaum, was er sagte, er hatte nur das bestimmte
Schluß-Bewußtsein. Es wäre ihm unmöglich gewesen, die Feder in die Hand
zu nehmen, so stark erzitterte er, deshalb sagte er unwillkürlich
dasjenige, was die stärkste Möglichkeit darbot, zu Ende mit all diesen
Dingen zu gelangen.

Tobler war denn auch außer aller Fassung.

»Machen Sie, daß Sie sofort zum Haus hinauskommen. Fort! Zu meinen
Feinden! Ich brauche Sie nicht mehr.«

Er überhäufte Joseph mit Beleidigungen, zuerst heftigen, dann immer
schwächeren, bis der Ton der Wut gänzlich in Klage und Schmerz
übergegangen war. Joseph stand immer noch da. Es dünkte ihn, mit der
ganzen Welt Mitleiden haben zu sollen, ein wenig auch mit sich, aber
stark und nachdenklich mit allem ihn Umgebenden. Wirsich war längst
vorläufig in den Garten hinausgetreten. Der Hund wedelte seinen alten
Bekannten an. Frau Tobler aber stand unterdessen am Fenster des
Wohnzimmers und hörte mit gespanntem Ohr durch die Wände und Mauern, was
von unten her zu ihr durchdringen mochte. Gleichzeitig beobachtete sie
die Bewegungen des im Garten stehenden, früheren Gehülfen.

»Ich erledige noch diese paar Briefe, Herr Tobler, dann gehe ich,«
sprach's vom Schreibtisch aus.

Ob er ohne Lohn fortgehen wolle? fragte Tobler.

Der andere erwiderte, es sei ihm nicht mehr möglich, zu bleiben, worauf
Tobler sagte, das sei doch wohl nicht so bluternst aufzufassen. Der Chef
nahm seinen Hut und entfernte sich. Nach einer Stunde begab sich der
Gehülfe, so unauffällig er konnte, in sein Turmzimmer hinauf und begann
dort, seine paar Sachen einzupacken. Da nahm er der Reihe nach wieder
diese kleinen, nichts- und für ihn vielbedeutenden Gegenstände in die
Hand, um sie säuberlich aber rasch in den bereitgehaltenen Koffer zu
stecken. Als er mit Packen fertig war, stellte er sich für zwei Minuten
an das offene Fenster und schaute noch einmal so recht mit dem dankbaren
Herzen die Gegend an. Dem großen See da unten warf er sogar eine Kußhand
zu, ohne zu überlegen, was er tat, sondern einfach in dem Gefühl des
plötzlich notwendig gewordenen Abschiednehmens.

Von der Plattform aus, auf die er jetzt trat, rief er Wirsich zu:
»Warten Sie. Ich komme im Moment.« -- Dann ging er die Treppe hinunter,
das Köfferchen in der Hand tragend. Wie ihm das Herz klopfte!

»Ich muß nun Adieu sagen, ich muß nun gehen,« sagte er zu Frau Tobler.
Diese fragte:

»Was hat's denn gegeben? Müssen Sie gehen?«

»Ja,« antwortete der Gehülfe.

»Denken Sie ein bißchen an mich, wenn Sie fort sind?«

Er bückte sich und küßte ihr beide Hände. Sie sagte:

»Ja, Joseph, denken Sie ein wenig an Frau Tobler, es wird Ihnen nicht
schaden. Das ist eine Frau, wie viele, keine bedeutende Frau. Lassen
Sie! Küssen Sie mir jetzt nicht mehr die Hand. Sagen Sie meinen Kindern
adieu. Walter! Komm doch. Joseph will uns verlassen. Komm Dora, gib
Joseph die Hand. Kommt. Ja.« --

Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort:

»Es wird Ihnen sicherlich gut gehen, ich hoffe es und wünsche es, und
ich weiß es beinahe. Seien Sie immer ein bißchen demütig, nicht zu viel,
Ihren Mann werden Sie immer stellen müssen. Aber brausen Sie nie auf,
lassen Sie die ersten Worte des Übelwollens immer unbeantwortet; auf ein
heftiges erstes Wort folgt ja so schnell ein züchtiges, sanftes.
Gewöhnen Sie sich daran, Empfindlichkeiten in der Stille zu besiegen.
Was Frauen jeden Tag tun müssen das soll auch der Mann nicht wollen ganz
außer acht lassen. Das Weltleben unterliegt ja denselben Gesetzen wie
das häusliche Leben, nur größeren und breiteren. Nur nie stürmisch!
Haben Sie auch alles, was Ihnen gehört, eingepackt? Gehen Sie jetzt
mit Wirsich? Hören Sie, Marti, nur nie zwangsweise, immer ein bißchen
artig. Dann werden Sie schon vorwärtskommen. Ich, ich werde auch bald
fortgehen. Dieses Haus ist verloren. Wir werden, ich und mein Mann und
meine Kinder, irgendwo dann in der Stadt wohnen, wahrscheinlich in einem
billigen Quartier. Man gewöhnt sich an alles, und nicht wahr, ein ganz
klein wenig gern sind Sie doch hier bei uns gewesen. Nicht wahr? Es war
doch vieles hübsch. Wollen Sie Tobler nicht auch adieu sagen lassen?«

»Von Herzen!« sagte der Gehülfe. Sie ergriff zum letzten Mal das Wort:

»Ich werde es ihm ausrichten, es wird ihn freuen. Er hat es um Sie
verdient, daß Sie ihm nicht grollen, er hat Sie gern gehabt, wie wir
alle. Sie sind unser Angestellter gewesen -- nein, gehen Sie jetzt. Viel
Glück, Joseph.«

Sie bot ihm die Hand und wandte sich dann zu ihren Kindern, als sei gar
nichts weiter geschehen. Er nahm seinen Handkoffer vom Boden auf und
ging. Und dann verließen die beiden, Marti und Wirsich, den Abendstern.

Unten auf der Landstraße angekommen, machte Joseph halt, zog einen
Toblerschen Stumpen aus der Tasche, zündete sich denselben an und drehte
sich noch einmal nach dem Haus um. Er grüßte es in Gedanken, dann gingen
sie weiter.




[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
steht.

gehen kann. Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er
gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er

zur nutzbringenden Insertion bedienen. Solch ein Feld kostet Geld;
zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld;

»Reklame-Uhr geworfen«. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend
'Reklame-Uhr geworfen'. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend

Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort »werfen« gemerkt
Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort 'werfen' gemerkt

Rang- und Bildungsunterschiede fallen umbarmherzig in einen großen, bis
Rang- und Bildungsunterschiede fallen unbarmherzig in einen großen, bis

heiß wurde und sie ihm verzeihten, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben,
heiß wurde und sie ihm verziehen, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben,

einums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh
ein ums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh

Tiefe setzte sich an das unergündlich Nasse an. Die Frau hielt ihre
Tiefe setzte sich an das unergründlich Nasse an. Die Frau hielt ihre

»Meine Herrin,« dachte Josef, »versteht kein Wort Französisch. Die
»Meine Herrin,« dachte Joseph, »versteht kein Wort Französisch. Die

des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal dawaren, und so
des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal da waren, und so

toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum
Toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum

»Aha!« machte der Gehilfe.
»Aha!« machte der Gehülfe.

Tobler frug Josef, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen
Tobler frug Joseph, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen

»Nein, noch nicht.« Josef habe heute noch keine Zeit dazu gefunden.
»Nein, noch nicht.« Joseph habe heute noch keine Zeit dazu gefunden.

der Hand des eifrigen Gehilfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf,
der Hand des eifrigen Gehülfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf,

aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es jetzt einfach eine
aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es einfach eine

absetzen, auf das dürfe Joseph immer sich gefaßt machen.
absetzen, auf das dürfe Joseph immerhin sich gefaßt machen.

ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach' keine
ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach keine

seinem Luftgemach, bequem gemacht hatte:
seinem Lustgemach, bequem gemacht hatte:

Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffetrinken einen
Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffeetrinken einen

um dem Empfindlichen von seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu
um dem empfindlichen Ton seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu

Kissen auf! Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe,
Kissen auf: Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe,

Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleitenen Gespräch, daß
Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleiteten Gespräch, daß

Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr vonder
Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr von der

Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten wenn er
Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten, wenn er

manigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig!
mannigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig!

naß. Der Bahnwäter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war
naß. Der Bahnwärter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war

nichts Wichtigerem beschäftigt sich, folgendes darauf:
nichts Wichtigerem beschäftigt sah, folgendes darauf:

herum, und so lange die Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es
herum, und so lange diese Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es

teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählungsphantasie
teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählerphantasie

Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenwärter trat zur rasselnden
Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenenwärter trat zur rasselnden

»Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenwärter, ein anscheinend
»Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenenwärter, ein anscheinend

im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benehmen und sagte
im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benähmen und sagte

den Eßtisch lag.
dem Eßtisch lag.

sah, seinen Gegner in anstäniger Weise niederzuwerfen. Schließlich
sah, seinen Gegner in anständiger Weise niederzuwerfen. Schließlich

durftest vertrauen, da sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht
durftest vertrauen, du sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht

gedankenlos Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen
gedankenlos. Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen

Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu zu Haus
Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu Haus

desselben antrieb, er er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im
desselben antrieb, er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im

schuldbewußt voll sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses
schuldbewußt sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses
]





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https://gutenberg.org/license).


Section 1.  General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
electronic works

1.A.  By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement.  If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B.  "Project Gutenberg" is a registered trademark.  It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement.  There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement.  See
paragraph 1.C below.  There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
works.  See paragraph 1.E below.

1.C.  The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
Gutenberg-tm electronic works.  Nearly all the individual works in the
collection are in the public domain in the United States.  If an
individual work is in the public domain in the United States and you are
located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
are removed.  Of course, we hope that you will support the Project
Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
the work.  You can easily comply with the terms of this agreement by
keeping this work in the same format with its attached full Project
Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.

1.D.  The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work.  Copyright laws in most countries are in
a constant state of change.  If you are outside the United States, check
the laws of your country in addition to the terms of this agreement
before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
creating derivative works based on this work or any other Project
Gutenberg-tm work.  The Foundation makes no representations concerning
the copyright status of any work in any country outside the United
States.

1.E.  Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1.  The following sentence, with active links to, or other immediate
access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
copied or distributed:

This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org

1.E.2.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
and distributed to anyone in the United States without paying any fees
or charges.  If you are redistributing or providing access to a work
with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
1.E.9.

1.E.3.  If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
terms imposed by the copyright holder.  Additional terms will be linked
to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
permission of the copyright holder found at the beginning of this work.

1.E.4.  Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5.  Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6.  You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
word processing or hypertext form.  However, if you provide access to or
distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
form.  Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7.  Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8.  You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
that

- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
     the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
     you already use to calculate your applicable taxes.  The fee is
     owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
     has agreed to donate royalties under this paragraph to the
     Project Gutenberg Literary Archive Foundation.  Royalty payments
     must be paid within 60 days following each date on which you
     prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
     returns.  Royalty payments should be clearly marked as such and
     sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
     address specified in Section 4, "Information about donations to
     the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."

- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
     you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
     does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
     License.  You must require such a user to return or
     destroy all copies of the works possessed in a physical medium
     and discontinue all use of and all access to other copies of
     Project Gutenberg-tm works.

- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
     money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
     electronic work is discovered and reported to you within 90 days
     of receipt of the work.

- You comply with all other terms of this agreement for free
     distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9.  If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
your equipment.

1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees.  YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH F3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3.  LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
refund.  If you received the work electronically, the person or entity
providing it to you may choose to give you a second opportunity to
receive the work electronically in lieu of a refund.  If the second copy
is also defective, you may demand a refund in writing without further
opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     https://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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