Kentaurenliebe. Die Toteninsel : Zwei antike Novellen

By Richard Voss

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Title: Kentaurenliebe. Die Toteninsel
        Zwei antike Novellen

Author: Richard Voß

Release date: June 11, 2024 [eBook #73808]

Language: German

Original publication: Leipzig: Verlag von Philipp Reclam jun, 1913

Credits: Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


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 Anmerkungen zur Transkription


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[Illustration]




Kentaurenliebe.

Die Toteninsel.


Zwei antike Novellen

von

Richard Voß.


Leipzig

Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.




Kentaurenliebe.

Der antike Spuk einer römischen Frühlingsnacht.


1.

Ein später Karneval war's dieses Jahr. Die Römer konnten den Anfang der
großen Narretei kaum erwarten; feierten sie doch, uraltem Brauch gemäß,
nur die letzten zehn Tage der tollen Zeit. Zwar war der Mensch zu allen
Zeiten des Jahres närrisch. Und närrisch war das Leben, also närrisch
die Welt, die für lächelnde Optimisten der Welten beste bedeutet. Sie
sei es! Eine närrische Welt bleibt sie trotzdem.

Deshalb bedarf die Menschheit im Jahre eine Reihe von Tagen, wo sie ihr
tiefstes und wahrstes Wesen offen zur Schau tragen, sich wohlgefällig
die Narrenkappe aufsetzen und lustig mit den Schellen rasseln kann;
einer Reihe von Tagen, wo sie mit »wenig Witz und viel Behagen« je nach
Wahl Harlekin, Pulcinell, Bajazzo, eben — Narr sein darf: so recht
nach Herzenslust und innerster Natur. Und gerade dieses Jahr fiel die
letzte Faschingswoche erst spät in den März hinein!

Es ward bereits Frühling. Auf der Pinienwiese der Villa Doria Pamfili
pflückten Römer und Fremdlinge die letzten blühenden Edelsteine: die
lieben bunten Anemonen; die ganze Villa Borghese duftete nach Veilchen;
den Pincio vergoldeten Beete gelber Tazetten, und von Santa Prisca
aus schweifte der Blick über das weiße Gewölk der Mandelblüte. Dazu
jubilierten hoch in den Lüften die Campagnalerchen und die Amseln
begannen zu flöten: leise, zarte Weisen, die ersten Minnelieder der
verliebten Frühlingswelt. Denn Lenz und Liebe gehören nun einmal
zusammen.

Endlich konnte die Narrheit losbrechen! Das Volk der Romulusenkel
behängte sich mit bunten Lappen und billigem Flitter, begnügte sich
mit dem Phantasielosesten und Ärmlichsten, machte sich Kronen aus
Schaumgold und Staatsgewänder aus Bettüchern. Es tollte durch den
Korso, tanzte Saltarello auf Treppen und Plätzen, schleuderte sich
Sträuße weißblühenden Campagnaunkrauts (_mazzetti_) und Mengen kleiner
steinharter Gipskugeln (_confetti_) ins Gesicht; es heulte und johlte,
und nannte das Feste feiern ...

Bis in den christlichen Himmel hinauf drang der Heidenlärm römischer
Volkslust und erfüllte die Heerscharen der Seligen und Heiligen mit
heftigem Unwillen. Die lieben bausbäckigen Engelknaben drängten sich in
hellen Haufen zu den Wolkenvorhängen, wollten sie heimlich aufheben und
neugierig hinabspähen: »was da unten wieder einmal los sei?« Sie wurden
jedoch von den zürnenden Cherubimen fortgeschickt, und mußten nun
Hymnen absingen: teils zur Strafe; teils, um den Ärgernis erregenden
Erdenspektakel durch fromme Weisen zu übertönen. Obgleich sich die
Kleinen schier heiser sangen, gelang ihnen das doch nicht; und wieder
und wieder schallte vom Tiberstrand ein Laut überlustiger Erdenfreude
zu den seligen Höhen empor.

»Warte, Gesindel! Auf Faschingsdienstag folgt Aschermittwoch! Der wird
euch Mores lehren —« trösteten sich die gekränkten Himmlischen nicht
ohne heimliche Schadenfreude über die gute christliche Einrichtung des
großen grauen Bußtags nach all der höllischen Weltlichkeit.

       *       *       *       *       *

In dem Berge Cavo, dem hochheiligen Mons Albanus der Alten, der sich
wie ein Monument der Erdenschönheit über die Campagna Roms erhebt,
hausten die neun Musen.

Seitdem Rom und Griechenland offiziell das Christentum angenommen
hatten, hielten sich die hehren Heidinnen im tiefsten Innern des
klassischen Waldgebirges verborgen, welches sie jedoch auf höheren
Befehl jeden Abend und Morgen verlassen mußten. Sant' Agnese und Santa
Caecilia hatten gemeinschaftlich mit den holdesten Worten auf das
Eindringlichste versucht, sie zu bereden, sich taufen zu lassen. Aber
die neun Jungfrauen wollten ihrem leuchtenden Gott getreu bleiben und
erklärten: lieber Märtyrerinnen zu werden als Christinnen. Sie wären
sicher zum ewigen Inferno verdammt worden, hätte die süße Madonna als
Mutter aller Gnaden für sie bei ihrem lieben Sohne nicht eine gar
bewegliche Fürbitte getan. So ward ihnen denn jenes Asyl gewährt,
doch unter der Bedingung, sich dafür dankbar zu erweisen. Jeden Abend
und jeden Morgen mußten sie von dem Gipfel des Berges aus über das
römische Land die Purpurteppiche breiten, die sie in ihrem Refugium
an uralten Webestühlen wirkten. Auf solche Weise überdauerten sie in
ewiger Jugend die Jahrtausende, webten römisches Morgen- und Abendrot
und nährten sich von den Erinnerungen an eine Zeit, da die Erde noch
von frohen Gottheiten bewohnt ward, strahlende Tempel sich erhoben und
Apoll zur Freude der Menschen und Götter die Schar seiner Jungfrauen
anführte. Die neun Verbannten nannten jene längst verschwundenen Tage
mit einem schmerzlichen Seufzer: »das goldene Zeitalter«. Ihrem Urteil
war freilich nicht sehr zu trauen.


2.

Eines schönen Märzabends begab es sich, daß sie, nachdem sie sorgfältig
für eine besonders glühende Beleuchtung gesorgt hatten, zauderten,
sogleich in die dunklen Tiefen wieder niederzusteigen. Es versprach
eine leuchtende Vollmondnacht zu geben und die Neun hatten eine solche
seit länger als einem Jahrtausend nicht erlebt. Auch hätten sie gern
einmal nachgesehen: was wohl eigentlich aus dem Tempel des Jupiter
Latialis geworden sei, wozu sie sich noch niemals Zeit gelassen — so
eilig hatten es die Guten stets gehabt, wieder nach Hause und an ihre
Webearbeit zu kommen. Denn nachts mußten sie für den nächsten Tag die
Morgenröte wirken — wie sie über Tag nur knapp mit dem Abendrot fertig
wurden. Deshalb war die himmlische Illumination über Rom nicht immer
gleich herrlich an Gluten und Glanz.

Unter Anführung der feierlichen Urania nahten sich Apolls Hofdamen a.
D. den gewaltigen Rüstern, hinter denen die Mauern von Latiums ältestem
Heiligtum lagen. Noch waren hier oben Wipfel und Zweige winterlich
grau; denn der Lenz begann sein blühendes Wesen erst in der Tiefe zu
treiben. Er kroch gar langsam und mühselig den hohen Berg hinan, den er
dann freilich in eine Pyramide von Blüten: von Veilchen und Tazetten,
von wilden Päonien und Orchideen verwandelte und mit Chören von
Nachtigallen bevölkerte. Die Schönen hatten den Ort beinahe erreicht,
als sie mit leisem Schreckensruf wie gebannt stehen blieben: als große
blutrote Scheibe stieg über den Gipfeln der volle Mond auf; und von
diesem mystischen Hintergrund hob sich, hoch und schwarz, ein Kreuz ab.

Wo Latiums erhabenster Gott einst seine Stätte gehabt, befand sich ein
Kloster der Passionisten, aus den Trümmern des Tempels erbaut.

Die Jungfrauen entwichen ... Dann sprachen sie untereinander:
»Vielleicht lebt von unseren Göttern doch noch der eine oder der
andere? Es ist nicht möglich, daß alle gestorben sein sollten! Irgendwo
erhebt sich gewiß noch ein Altar, darauf wir opfern, eine Bildsäule,
zu der wir flehende Hände erheben dürfen. Laßt uns daher in dieser
Mondnacht ausziehen und nach einem der Götter Roms und Griechenlands
suchen!«

Also wandten sie sich und hielten Umschau nach einem Wege in die Tiefe
der Waldungen hinab, die den Berg einhüllten. Ihnen zu Füßen blitzte
es geheimnisvoll auf. Es waren die Kraterseen von Albano und Nemi; auf
deren dunkler Flut Luna ihre Strahlen warf. Sie wirkte auch um jede
der neun fleißigen Weberinnen ein Gewand aus Silberglanz. Denn der
antike Faltenwurf, der ihre hohen und schlanken Gestalten gar feierlich
umwallte, war während der Jahrtausende denn doch etwas abgetragen,
so daß die Herrlichen ziemlich schäbig gekleidet einhergingen. Nun
aber umleuchtete sie himmlische Glorie; nicht anders, als gehörten
sie zu der Schar höchster christlicher Heiligen, die zur Rechten des
Gekreuzigten thronten.

Sie fanden die Straße, die abwärts führte. Es war die uralte Via
triumphalis, darauf einstmals bei den latinischen Festen die
Völkerschaften in Prozessionen den Mons Albanus emporgezogen kamen:
aus dem Hain der Ferentina, dem Tal von Ariccia und von Rom her. Nicht
nur Priester und fromme Waller taten die Pilgerschaft, sondern auch
siegreiche Feldherren mit Öllaub bekränzt.

Als die unsterblichen Schwestern diesen Weg in dem aufsprießenden
Buschwerk entdeckten, überkam sie eine heilige Freude; denn er führte
sicher einem Tempel, also einer Gottheit zu! Das schwarze Lavapflaster
säumten zu beiden Seiten weiße und blaue Anemonen und purpurblütige
Zyklamen. Von diesem römischen Lenz pflückten die Leuchtenden eifrig
und flochten Gewinde, mit welchen sie das Standbild eines — vielleicht
durch Zufall — übriggebliebenen Gottes schmücken wollten. Auch ihre
eigenen Stirnen kränzten sie, was seit ihrer Verbannung nicht mehr
geschehen war.

Als sie auf ihrem Haupt die frischen Blüten fühlten, ergriff die
Huldinnen heiße Sehnsucht nach der Schönheit der Welt, die sie hatten
verlassen müssen, und die in immer neuer Herrlichkeit geblieben war,
mochten Zeiten und Götter kommen und weichen. Zu dreien faßten sie
sich bei der Hand, stiegen tiefer und tiefer hinab, schritten weiter
und weiter in den Mondglanz hinein, davon sie selber Strahlen zu sein
schienen.

Sie erkannten die Gegend: den Hain der Diana von Ariccia. Die Wipfel
wölbten über ihren bekränzten Häuptern feierliche Kuppeln, welche die
moosigen mondbeschienenen Stämme als Säulen aus Smaragd stützten; und
durch das Laubwerk der niederhängenden Äste schimmerte aus der Tiefe
eine kreisrunde Silberfläche: der Spiegel der keuschen Schwester des
leuchtenden Gottes, von den Christen dieser Tage in rohem Verkennen
lago di Nemi genannt.

Aber vergeblich schauten die neun nach dem zierlichen Rundtempel aus,
der sich einstmals auf einem Felsenvorsprung des hohen Uferrandes
erhob; vergeblich lauschten sie auf den Gesang der jungfräulichen
Priesterinnen. Auch die wunderbaren Schiffe der Kaiser Tiberius
und Caligula konnten sie nirgends erspähen; und als sie über
die Narzissenflur schritten, darauf sie manche Frühlingsnacht
heimlicherweise die Adonisfeier begangen hatten, umfing sie eine
Einsamkeit, als wären von allem Göttlichen des schönheitstrunkenen,
heiteren Heidentums nur sie übriggeblieben.

Doch hofften sie noch immer zu finden, was zu suchen sie ausgingen.
Also eilten sie weiter und weiter.


3.

Auf der Via Appia antica schritten sie schwebend dahin. Der Saum ihrer
Strahlengewänder streifte die schwärzlichen Lavasteine und ihre Füße,
die bisweilen den Boden berührten, spürten die tief in das harte
Gestein gegrabenen Spuren der Wagenräder aus den Zeiten, da auf dieser
Straße ein Gewimmel aller Völkerschaften der Erde Rom zudrängten, dem
goldenen, dem ewigen Rom (_Roma eterna_)! War aber Rom ewig, so mußten
die Suchenden in Rom auch die »ewigen« Götter finden.

Grabmale zur Rechten, zur Linken: die traurigen Ruinen der einstmals
gleichfalls für die Ewigkeit errichteten Totenpaläste. Zur Rechten,
zur Linken gestürzte Säulen, zertrümmerte Sarkophage, gebrochene,
einstmals herrliche Marmorleiber. Dazu Öde ringsum; Schweigen des Todes
in den Lüften ...

Vor den Schreitenden, den Schwebenden, ein langgezogener Lichtstreif,
hoch in den Horizont hinaufsteigend, als stünde der Himmel in Flammen.
Dort, vor ihnen, lag Rom. Ganz Rom mußte in Flammen stehen! Schon
einmal hatten die hohen Jungfrauen Rom brennen sehen — da der ruchlose
Sohn der kaum minder verruchten Agrippina über Rom herrschte. Als Nero
im Anblick der lodernden Stadt im Gewande Apolls, die Strahlenkrone
auf dem Haupt, zur Leier den Brand Trojas besang, waren sie zürnend
entwichen: hinauf nach Tusculum; und sie hatten die Stätte der
Gotteslästerung lange gemieden. Heute nun eilten sie dem brennenden
Rom entgegen, getrieben von einem Gedanken, der sie hinzog wie eine
geheimnisvolle Gewalt: »Wenn noch Götter sind, so müssen sie in Rom zu
finden sein!«

Sie langten an. Aber — war das Rom? Das! Wo waren die Tempel, die
Basiliken, die Portiken, die Altäre, die Bildnisse in Marmor und Erz?
Die Bildnisse von Göttern und Helden!

Versunken, verschwunden ...

Hier eine Ruine, dort eine Ruine; ein Trümmerstück hier und dort. Sonst
nichts — nichts — nichts! Alles und alles versunken, verschwunden,
als wäre es niemals gewesen.

Aus weitoffenen, erschrockenen Augen schauten die armen Himmlischen um
sich; eng drängten sie sich aneinander. Doch auch jetzt noch flüsterten
sie sich zu: »Wir wollen suchen! Wir müssen finden! Nicht alle unserer
ewigen Götter können tot und begraben sein!«

Und sie suchten.


4.

Eine bunte Menge drängte sich durch Roms Straßen und über Roms Plätze:
Narren, Narren! Plötzlich entstand ein Zusammenlauf. Es entstand
tobendes Gelächter und Geschrei wie von Besessenen: »Die Masken! Seht,
die Masken! ... Wer sind sie? ... Keine echten Närrinnen! ... Seht
doch, seht! Die Dämchen wollen uns wohl klassisch kommen? Antik? Als
›Musen‹ haben sie sich verkleidet! ... Seht nur: als Musen! Vornehm
wollen sie tun! ... Was werden sie sein? ... Hetären, Dirnen! ... Seht,
seht, seht!«

Schwärme von Harlekins und Kolumbinen umrasten die hohen Frauenwesen,
die nicht wußten, wie ihnen geschah; die aus dem Gewühl nicht fliehen
konnten, sich nicht zu retten vermochten. Das hatten sie nun von ihrer
heißen Sehnsucht nach Göttern.

Die Weiber trieben es am ärgsten. Sie verhöhnten die wundersamen
Erscheinungen, beschimpften sie, daß sie etwas so ganz anderes
vorstellen wollten, als sie selbst waren. Sie lachten ihnen ins
Gesicht, zerrten sie an ihren aus Mondglanz gewebten Gewändern. Die
Römer dagegen fanden die fremden Frauen wohl schön; sie waren ihnen
jedoch zu feierlich und hehr. Auch wagten sie aus Furcht vor den
eifersüchtigen Römerinnen nicht laut zu bewundern, stimmten daher ein
in den wüsten Lärm. Sie bliesen greulich auf blechernen Trompeten,
schwangen mit Luft gefüllte Schweinsblasen, schrien durch die Straßen:
»Die Musen sind wieder da! Alle neun! ... Was wollen sie wohl bei uns?
Als ob wir sie brauchten? In unserer Zeit die ~Musen~! ... Hinweg mit
ihnen! Dirnen wollen wir haben! ... Reißt ihnen die Masken ab, damit
wir ihr wahres Gesicht sehen. Denn ihre Göttlichkeit haben sie sich
aufgeschminkt! Es gibt auf Erden keine Göttlichkeit mehr!«

Gerade, als die Entsetzten sich in den ärgsten Nöten befanden,
kam unerwartet Hilfe. Eine Reihe seltsam aufgeputzter Karren zog
die Aufmerksamkeit des Volks von ihnen ab. Als Galeerensträflinge
kostümierte Männer: blühende Jünglinge und welke Greise, zogen die
bunten Wagen. Sie trugen blutrote Kleider, hatten blutrote Narrenkappen
auf, an Händen und Füßen klirrten blecherne Ketten. In den Karren
aber befanden sich käufliche Weiber mit nackten Armen und entblößten
Brüsten, Bacchantinnen vorstellend. Jede führte eine Geißel, mit der
sie auf die Menge einhieb. Diese heulte auf vor Entzücken. Männer
und Frauen stießen einander unter die Räder, um von den Schamlosen
gegeißelt zu werden.

An die Gefährtinnen Apolls dachte keine Seele mehr. Trunken vor
Tollheit bereiteten die Fastnachtsnarren den Königinnen des römischen
Karnevals einen Siegeszug durch die ewige Stadt ... Die Neun entwichen
der allgemeinen Orgie, gelangten in eine dunkle Gasse, wo es einsam
war, standen nahe beieinander und wollten anheben laut zu klagen, wie
schlecht es ihnen auf Erden erging. Thalia jedoch sprach begütigend:
»Sie reden nicht mehr unsere Sprache, haben sie längst vergessen — wie
auch uns selbst. Also können sie uns nicht verstehen. Ihr Lieben —
laßt uns daher in Frieden weiter schreiten und voller Hoffnung weiter
suchen. Gewiß werden wir doch noch Götter finden!«

So geschah es denn auch ... Es blieb in diesen Teilen der Stadt
menschenleer, daß so sie ungehindert ihres Wegs wandeln konnten, von
dem sie nicht wußten, wohin er sie führte. Sie kamen an hohen und
prächtigen Gebäuden vorüber, deren Pforten weit offen standen. In
viele dieser Häuser traten sie ein, in vielen erkannten sie bei dem
Mondesleuchten, das sie verbreiteten, die Säulen ihrer Tempel; und in
allen wohnte der bleiche, blutige Christenheiland, der dornengekrönte,
gekreuzigte Sieger über die glückseligen Götter. Sie aber wandten sich
schaudernd ab, und fuhren fort nach einer Gottheit zu suchen, von deren
Wesen sie ein Teil waren.

An mancher Hauswand, mancher Straßenecke befand sich das Bildnis
einer Frau, darunter ein mattes Lichtlein glühte. Immer war es
dasselbe unsäglich traurige Antlitz. Einige Male war die Brust der
Schmerzensreichen von Schwertern durchbohrt und ihre Augen weinten
blutige Tränen. Von Mitleid ergriffen, blieben die Musen vor Maria
stehen. Sie erkannten ihre hohe Fürbitterin; und diese und jene nahm
sich den Frühlingskranz vom Haupt und legte den blühenden Schmuck
schweigend bei dem blassen Bildnisse nieder. Da war es, als ob die
leidensvollen Lippen der Gottesgebärerin ein leises, ganz leises
Lächeln umspielte.


5.

Weiter schritten sie, und betraten eine breite Straße. Auch hier war
es einsam. Aus der Ferne drang der Karnevalslärm zu den Wandelnden
herüber wie das Rauschen eines Meeres von Stimmen und Tönen. Zwischen
zwei Reihen von Palästen ging es allmählich hinan, einer festlichen
Treppe zu, inmitten von weißblühendem Buschwerk, dunklem Lorbeer und
feierlichen Palmen. Gleich weißen Rosen lagen die Mondesstrahlen auf
den Marmorstufen.

Langsam stiegen die heiligen Neun zur Höhe empor. Auf dieser umfingen
Säulenhallen ein ehernes, im Mondglanz wie Silber leuchtendes
Reiterstandbild, bei dessen Anblick den schönen Heidinnen etwas
leichter um die beschwerten Gemüter ward; und plötzlich rief die eine
— es war Jungfrau Clio — mit fast fröhlicher Stimme und Miene: »Das
ist ja unser lieber Marc Aurel!«

Da echoten alle im Chorus: »Ei, das ist ja unser lieber Kaiser Marc
Aurel!«

Doch dann sprachen sie untereinander: »Eigentlich ist er gar nicht
unser lieber Kaiser! Denn eigentlich hat er sich aus uns herzlich wenig
gemacht. Das kam von seiner großen Gelehrsamkeit. Bei solchen gelehrten
hohen Herren geht es unsereins nicht allzugut. Auch wir wollen mit
ihnen nichts zu schaffen haben. Immerhin, wenn man so verlassen und
verloren ist, wie wir Armen, freut man sich einem alten Bekannten zu
begegnen.«

Und nun hielten sie vor dem Kaiserbildnis ein kleines behagliches
Schwätzchen, welches sie derartig erfrischte, als wäre ihnen auf dem
kapitolinischen Hügel von dem freundlichen Knaben Ganymedes eigenhändig
eine Schale Nektars kredenzt worden ...

Wie sie hineingelangten, wußten sie schließlich selbst nicht.
Genug, sie gelangten hinein! Vor ihnen öffnete sich Saal auf Saal;
und jeden Saal füllte ein bleiches stummes Marmorvolk, eine wahre
Heerschar olympischer Gestalten. Die schneeigen Glieder umflossen die
Mondstrahlen, daß sie in unirdischer Verklärung erglänzten; aber sie
standen regungslos und blaß wie Gestorbene. Es waren die Bilder ihrer
höchsten Götter und Göttinnen, nebst allen heidnischen Sippen: Faune
und Satyre, Nymphen und Kentauren; dazu Amazonen, Heroen, Epheben.
Auch Antinous neigte sein junges Haupt mit einem Ausdruck unsäglicher
Trauer; und sämtliche Weisen Griechenlands waren wie zu einem Kongresse
versammelt.

Die Musen eilten von einer Statue zur anderen, schauten und staunten,
grüßten die Marmorbilder, nickten ihnen zu, sprachen zu ihnen,
erhielten keine Antwort, klagten, weil sie starr und stumm blieben:
empfindungsloser leuchtender Stein.

Wie aber ward den guten Jungfrauen zumute, als sie ihren eigenen Gott
und Herrn, Apollon Musagetos, erblickten: in wallendem, feierlichem
Gewande, bekränzten Hauptes, im Arm die Leier, deren Saiten einstmals
Melodien entströmten von Ewigkeitsklang. Fühlloser Stein auch er! Die
Seinen umringten die göttliche Gestalt, schauten dem Herrlichen in das
emporgehobene strahlende Antlitz, riefen leise, leise seinen Namen, daß
es wie ein erstickter Jammerlaut durch die prächtigen Hallen und die
Reihen der schimmernden Regungslosen schallte.

Nachdem dieses schmerzliche Wesen eine Weile gedauert hatte, trat eine
der Musen vor. Es war die Jüngste, ein zierliches zartes Geschöpf,
an Schlankheit einer Blume gleich: einer weißen Lilie. Denn so
bleich leuchteten durch die veilchenblauen, vom Mondlicht getränkten
Schleiergewebe die Glieder; und das liebliche Antlitz, daraus große
dunkle Augen strahlten, hatte die Farbe matten Elfenbeins.

Terpsichore war's ... Was sie jetzt begann, war wie ein Opfer, welches
das feine Wesen ihrem Meister vor dessen Standbild darbrachte. Sie hob
einen Reigen an. In wundersamem und wundervollem Rhythmus bewegte sie
sich, daß die ganze jugendliche Gestalt zu einem klanglosen Wohllaut,
einer stummen Melodie ward; ihr Tanz zu einem Liede, einem Hymnus.

Plötzlich ergriff es auch die ernsthafteren Schwestern. Sie faßten sich
bei den Händen, ließen sich wieder, suchten sich von neuem, neigten
sich, beugten sich, erhoben Haupt und Arme. Selbst die gewaltige
Melpomene ließ sich herab, an der anmutigen Huldigung teilzunehmen.
Freilich behielt ihr erhabenes Antlitz seinen Ausdruck düsterer
Majestät und ihr schmerzlicher Mund blieb fest geschlossen, wo sich
doch sogar die großartige Dame Clio himmlisch bewegt zeigte.

Die Huldigung der neun Musen vor der Statue des sangreichen Gottes im
Kapitol erhielt ihren Höhepunkt, als Polyhymnia die lieblichen Lippen
öffnete und zu der Weise des Reigens einen Gesang anstimmte, wie die
Welt nicht mehr gehört hatte, seitdem daraus die alten seligen Götter
entweichen mußten, und der Gipfel des Parnasses verödete.

Während des himmlischen Gesanges nun ereignete sich das Wunder dieser
römischen Frühlingsnacht.


6.

Geisterspuk war's!

Die Steingebilde belebten sich gespenstisch. Die hohlstarrenden Augen
bekamen Blick, die stummen Lippen öffneten sich. Atem schwellte die
Marmorbrust.

Ein langgezogener Seufzer zitterte wie Harfenton durch die Säle ...

Langsam, langsam begannen die Unbewegten sich zu regen. Ein Schauer
überlief die unirdisch schönen Körper. Ein Arm hob sich, ein Fuß. Von
den Postamenten glitten sie herab. Sie standen auf dem Marmorboden,
schritten —

Nun gab's ein Gewimmel nackter Leiber sowohl wie umhüllter Gestalten.
Die ganze Antike ward lebendig in all ihrer Herrlichkeit, wie sie in
solcher Vollkommenheit nur einmal auf Erden war. Götter grüßten Götter.
Apoll konnte es nicht unterlassen, zum Entzücken seines vor Wonne
trunkenen getreuen Gefolges unverzüglich in die Saiten zu greifen —
denn selbst ein Gott hat seine Menschlichkeiten. Jupiter hatte sogleich
mit Juno eine kleine Eheszene, die er dadurch zum Ende brachte, daß
er sein Bündel Blitze schwang; Minerva ließ sich mit den Weisen
Griechenlands in einen wissenschaftlichen Disput ein; der Kriegsgott
begann mit der holden Psyche, die ihren Amor einfach stehen ließ, einen
nicht ganz harmlosen Flirt, wodurch sich die keusche Diana in ihren
Gefühlen ernstlich verletzt fühlte.

Auch die verwundete Amazone des Lysippos und der berühmte sterbende
Gallier aus Pergamon befanden sich unter der Menge. Die kriegerische
Dame zeigte sich entschieden tanzlustig und der arme Held sah sich
nach einem Becher Falerner um, der ihn nach all den erlittenen
Todesqualen stärken sollte. Dionysos erschien in voller Majestät
seiner Jugendschöne und erhielt einen solchen Zulauf seiner sämtlichen
männlichen sowohl wie weiblichen Trabanten, daß in den Sälen arges
Gedränge entstand. Bacchantinnen und Satyre brachten schwellende
Trauben herbei; der mädchenhaft liebliche Jüngling des großen
Praxiteles blies für den Gott auf seiner Schalmei eine Hirtenweise;
und von der berühmten Mosaik flatterten die Tauben auf, die Vögel der
Venus.

»Sie kommt!«

Einer flüsterte es dem anderen zu. Ein Raunen gab's, ein Rauschen
wie von Waldeswipfeln und Meereswogen. Eine geheimnisvolle Bewegung
entstand; eine fiebernde Erregtheit höchster Erwartung: »Sie kommt!«

Die Götter selbst schufen freie Bahn. Es bildeten sich gleichsam eine
Via triumphalis, welche sie durchschreiten sollte. Ihre Tauben flogen
ihr voraus.

Und sie kam!

Die hohe Frau vom Kapitol, der Göttinnen größeste, die Spenderin aller
Seligkeiten, die Bezwingerin der Welt. Zugleich der Welt Beglückerin,
die einige Törichte der Welt Verderberin schelten.

Auch die Venus des Praxiteles empfing für diese eine Frühlingsnacht
Leben, und trat ihre Herrschaft an.


7.

Und voraus seiner großen Mutter schritt Amor. Der geflügelte Gott
spannte den Bogen, legte an, schoß seine Pfeile ab: mitten hinein in
die Menge. Dem kleinen Unhold war es vollkommen gleichgültig, wen er
traf. Manchem seiner Opfer — sie waren wie Sand am Meer — wäre eine
Todeswunde besser gewesen, als der Wurf, der weniger verletzte als
Mückenstich. Dabei hatte der gemeingefährliche Knirps das Ansehen eines
Unschuldengels mit Kinderlächeln.

Im Gefolge der Siegerin über Götter und Menschen befanden sich zwei
Kentauren: ein Jüngling und ein bärtiger Mann. Auf jedem der Fabelwesen
ritt ein Liebesgott. Der geflügelte kleine Kerl, der auf dem Jungen
trabte, hatte Mühe, sein Menschenroß zu bändigen. Es war solch junger
und unbändiger Geselle, mochte selbst die federleichte Last auf seinem
Rücken nicht dulden, spottete aller Reiterkünste des Bengels mit einem
Übermut, daß die beiden zur Belustigung des ganzen antiken Publikums
ein gar artiges Schauspiel boten. Dagegen der ältere —

Das Amorlein hatte dem durch seine Pfeile Getroffenen beide Arme
auf dem Rücken gefesselt, und quälte sein Opfer mit der ganzen
grausamen Wollust, die den Wicht zu einem wahren Henker machte.
Und dann wollte der Schlingel ein Gott sein! Das stolze Antlitz
schmerzverzerrt, entstellt von Scham und Selbstverachtung, wandte der
Kentaur nach seinem erbarmungslosen Peiniger das Haupt. Ein Stöhnen
wie Sterbelaut entrang sich seinem Munde. Aber die belebten Antiken
achteten nur seines jungen überlustigen Gefährten; bei dem allgemeinen
Beifallsgetöse erstarb der Aufschrei des Gefesselten und sein Quälgeist
brauchte den vergifteten Pfeil als Geißel, womit er dem zu ewiger Liebe
und ewigem Leide Verdammten den Rücken peitschte.

Was jedoch bei dem traurigen Anblick als das Traurigste erschien, war,
daß der Gepeinigte nicht die leiseste Anstrengung machte, seine Bande
zu lösen, den Dämon abzuschütteln, und sich von dem Martyrium seiner
Leidenschaft zu befreien. Mit gelähmtem Willen, gebrochenen Geistes
ertrug er die Schändung seiner Mannheit. Und das mit dem Antlitz eines
Heroen! Also geschah ihm recht ...

Plötzlich brachen Götter und Göttinnen mit allen anderen in ein
schallendes Gelächter aus: dem jungen Kentauren gelang es, des
boshaften Schalks los und ledig zu werden. Mit einem regelrechten
Purzelbaum flog der göttliche Lümmel vom Rücken des Tiermenschen herab,
und ward zum Glück von einem behenden Nymphlein aufgefangen. Sehr zum
Überfluß drückte die Holde den Knaben wie ein Wickelkind an ihre junge
Brust, ahnungslos, was für einen Säugling sie sich beilegte; denn der
Bursch konnte des Mägdleins Herzblut trinken.

So ist es nun einmal mit der Liebe.


8.

Jupiter und Juno; Dionysos mit seinen bacchischen Begleitern; Apoll
mit dem Gefolge der verzückten Musen — alle die Hehren und Herrlichen
waren plaudernd und lachend durch die glanzvollen Säle gewallt. Jetzt
aber hielt Frau Venus Hof. Sie thronte auf einem antiken Marmorsessel,
dessen Lehnen Sphinxe stützten, und ihr zu Füßen lagerten ausgestreckt
die beiden Kentauren.

Ihnen gebot die Göttin: »Erzählt eure Geschichte! Da ihr zwei Verliebte
seid, so gehört ihr mir ... Dich heiße ich jedoch einen Liebenden
—« wandte sie sich huldvoll zu dem älteren. »Weiß ich erst, wen du
so gewaltig liebst, daß du durch einen meiner Kleinen deiner Liebe
willen ein Martyrium erduldest, kann ich dir vielleicht beistehen in
deiner Not ... Nicht jetzt sprich! Zuerst soll der Junge reden, der
ein rechter Verächter aller Liebesnöte zu sein scheint. Dafür soll der
Leichtfuß mir büßen.«

Der von der großen Göttin Gescholtene lachte hell auf: »Herrin,«
begann er mit der heitersten Miene, »o Gebieterin! Verliebt nennst du
mich? Als ich von der Hand eines Meisters noch nicht in Stein gebannt
war, bin ich das seit meinen Knabenjahren jeden Tag meines jungen
glückseligen Lebens gewesen. Und wie verliebt war ich! Ich lebte in den
Wäldern und auf den Fluren Kariens in Kleinasien bei der wunderschönen
Stadt Aphrodisias, die ihren heiligen Namen nach dir hatte, und wo dir
die prächtigsten Tempel erbaut, die herrlichsten Bildsäulen errichtet
waren. Da mußte ich, armer junger Kentaur, mich denn wohl oder übel
bis über die Ohren verlieben: in jede Najade und Dryade, in jedes
Nymphlein, das meine vor Jugendwonne und Lebenslust leuchtenden Augen
erblickten. Ich küßte alle — alle! Und wen ich küßte, der verfiel mir.
Denn es war, als hätte ich zu Aphrodisias das Küssen von dir selber
gelernt — verzeihe die Gotteslästerung.

Niemals hättest du dich zu einem von meinesgleichen herabgelassen: zu
einem Tiermenschen mit Schweif und vier Füßen! Ich mußte mich daher mit
geringeren Huldinnen begnügen; und — ich begnügte mich.

Bei deiner ewigen Gottheit — was für ein seliges Leben ich führte auf
den Blumenwiesen, am Rande der Bäche, unter den Wipfeln der Haine,
die deine in Schönheit strahlende Stadt umschatteten. Jeden Tag, jede
Nacht, herzte ich eine andere; jede eben nur ein einziges Mal. Sie
wollten mich alle behalten. Ich aber lachte die verliebten Schönen aus
und warf sie von meinem Halse, wie vorhin den Schlingel, der mir den
Herrn und Meister zeigen wollte — mir!

Ich bin die Jugend selbst! Bin das Tier, das in jedem jungen Menschen
steckt. Ein Stück Natur bin ich. Sogar ein Stück göttlicher Natur,
meinem Pferdeleibe zum Trotz. Solche Jugend ist eitel Verliebtheit —
Verliebtheit in beständigem Wechsel. Verstehst du?

Was jedoch mein wonnigstes Glück war, sollte zu meinem Unglück werden.
Das ereignete sich folgendermaßen: Die Scharen der Schönen, in die ich
verliebt war, und die ich für eine einzige Brautnacht an meinem Herzen
hielt, vereinigten sich gegen mich und schwuren mir Rache. In deiner
Stadt lebte ein berühmter Bildhauer, Aristias mit Namen. Zu diesem
Manne schickten sie eine Gesandtschaft der Schönsten und zugleich
Rachegierigsten. Sie sagten und baten: Vor den Toren der Stadt haust
ein junger Kentaur. Das ist ein ganz Schlimmer! Er stellt uns armen
unschuldigen Jungfrauen auf allen Wegen nach, bei Tag und bei Nacht.
Wir können nicht mehr unsere Krüge zur Quelle tragen, um Wasser zu
schöpfen; können nicht mehr in Frieden unter den Büschen und Bäumen ein
Nachmittagsschläfchen halten; nicht mehr auf den Fluren Kränze winden
und den Reigen tanzen.

In unserer Not kommen wir zu dir, großer Meister, und flehen dich an,
uns von dem bösen Gesellen zu befreien. Er ist so garstig, so roh! Und
er hat Pferdefüße. Denke doch: Pferdefüße! Von solchem Tier müssen wir
Ärmsten uns küssen lassen.

Hilf uns, befreie uns!

Welche Tücke, große Göttin! Statt ein ewig Verliebter, sollte ich
am Ende ein Weiberhasser sein. Und — stelle dir das Ungeheuerliche
vor! — jener Mensch ließ sich wahr und wahrhaftig von den hübschen
Lügnerinnen betören, lauerte mir auf, fing mich, schleppte mich in sein
Haus, verwandelte mich in Stein: meiner vielen Schandtaten willen.

Erbarme dich meiner! Lasse mich das Leben diese Nacht behalten! Lasse
mich wieder ein junger, verliebter, glückseliger Kentaur sein! Ich
trabe hinaus: hinaus in Wälder und Auen, und küsse — küsse — küsse ...

Und ich verspreche dir feierlichst: zum Dank den kleinen Kerl mit den
Pfeilen von neuem geduldig auf meinem Rücken zu tragen; ich schwöre
dir: jedes Nymphlein anstatt ein einziges Mal, zum mindesten durch drei
Nächte zu kosen. Was meinst du zu diesem Handel? Ich bitte dich, große
Göttin, schlage ein.«

Unter dem jubelnden Beifall der gesamten Zuhörerschaft, urteilte Frau
Venus ernsthaft: »Du hast deine Strafe verdient!«

Es wurde still, als der ältere der beiden Kentauren anhob zu sprechen,
mit einer Stimme, darin seine Qual nach Worten rang. Zur Göttin erhob
er sein entstelltes Menschenantlitz. Aber nicht um Mitleid flehte sein
Blick; nicht einmal um Verständnis.


9.

»Auch ich bin aus dem Lande mit der Stadt deines göttlichen Namens;
auch ich wurde in Stein verwandelt. Er ist getränkt von dem Herzblut
meiner großen Liebe, das ich fließen ließ. Denn ich wollte lieben
und leiden! Große Liebe ist großes Leid. Das haben die Götter so
geschaffen. Sie seien gepriesen dafür ...

Ich wuchs auf in den nämlichen Wäldern, auf den nämlichen Fluren,
wie hier mein junger Gefährte, dem ich seine leichte und lustige
Verliebtheit von Herzen gönne — trotzdem er mir dadurch mein
Schicksal schuf. Für mich paßt sie nicht; für mich paßt, was ich
besitze. Einzig nur das.

Bereits in meiner frühesten Jugend war ich stolz bis zum Hochmut.
Und ich war unglücklich von Kind an: war ich doch ein Kentaur, ein
Tiermensch! Unglück macht stolz, wie es einsam macht. Dabei sehnte ich
mich nach Schönheit, nach Göttlichkeit. Damals wußte ich jedoch nicht,
daß es Sehnsucht war; denn ich war damals noch ohne Seele — wenigstens
wähnte ich mich seelenlos.

Mein Sehnen verzehrte mich schier.

Einer der Hehrsten und Herrlichsten hätte ich sein mögen und war — ein
Halbmensch, ein Pferd, eben ein Tier.

Ich schämte mich dessen, empfand meine behaarte Vierfüßigkeit als
Schmach. Aus Scham verkroch ich mich in den finstersten Schatten der
Haine, wagte mich nur in dunklen Nächten hinaus auf die Fluren. Und
auch das nur selten. Denn auf den Auen tanzten bei Mondschein und
Sternenschimmer die Nymphen, die meine Mißbildung nicht sehen sollten.

Am liebsten hätte ich mich verkrochen wie ein zu Tode verwundetes Wild,
um im Dickicht einsam zu sterben.

Damals wußte ich jedoch noch nicht, daß ein mythologisches Geschöpf
sterben könnte.

Meine Einsamkeit, Göttin! Sie war so groß wie dann meine Liebe ward ...

In der tiefen Einsamkeit meines Tiermenschen-Lebens lernte ich, um
dieses ertragen zu können, das Spiel auf der Leier, die ich mir aus
Röhricht und Haaren meines Roßschweifes verfertigte. Ich lauschte die
holde Kunst Faunen und Satyren ab. Sie füllten mit ihrem Wohllaut die
Haine und lockten damit die Schönen an. Mein Saitenspiel sollte indes
keine vernehmen.

Also übte ich mich in Melodien. Sie klangen traurig, traurig; denn ich
ließ durch sie meine Sehnsucht sprechen und klagen. Wie hätten meine
Weisen fröhlich klingen können? Zu den Tönen ersann ich Worte. Ich sang
sie zu meinem Spiel. Meine Worte waren wie dieses.

Mit zunehmenden Jahren wuchs mein Unglück über mein Tiermenschentum.
Ich wähnte, es sei mein Geheimnis, welches ich keinem Wesen unter dem
Himmel verraten wollte. Um es zu hüten, zog ich mich tiefer und tiefer
in die entlegensten Einöden zurück; wurde ich einsamer und einsamer.
Zugleich mit meinem Unglück, nahm ich zu an Stolz und an Hochmut.

So schwand meine Jugend, so begann das Alter ...

Noch immer hatte ich nicht geliebt, noch immer nicht gelebt. Vom
Tode wußte ich nichts, fühlte mich indessen wie tot. Trotzdem diese
Sehnsucht! Große Göttin, ~diese~ Sehnsucht —

Doch dann sollte sich mein Schicksal erfüllen. Höre, du Herrliche,
wie es kam: Eines Sommertags begegnete mir in der Wildnis hier dieser
muntere Geselle. Er war der erste von meinesgleichen, den ich sah. Du
kannst dir daher denken, wie mir bei seinem Anblick zumute ward: wie
einem großen Toren, der die Welt nicht kannte. Ich trabte eilends auf
ihn zu und sprach ihn an: »Sei gegrüßt, mein Leidensgefährte!«

Er aber, höchst verwundert, als sagte ich ihm etwas Ungeheuerliches,
fragte: »Wie nennst du mich?«

»Leidensgefährte.«

»Weshalb sollte ich leiden?«

»Weil du doch gleich mir ein Tiermensch bist.«

»Darum leidest du?«

»Du nicht?«

Er lachte unbändig: »Ich nicht. Bei allen Göttern — ich ganz und gar
nicht!«

»Wie ist das möglich?«

»Wie ist's möglich, darum zu leiden? Darum!«

»Wie ist's möglich, darum nicht zu leiden?«

Aber er: »Ich bin mit Wonne das, was ich bin; möchte nicht um die
Schönheit des Adonis etwas anderes sein. Als Tiermensch kann ich
genießen — genießen — genießen! Mehr als ein ganzer Mensch; mehr
als selbst ein Gott. Wie ein Tier kann ich genießen ... Weißt du, was
Weiber sind?«

»Holde himmlische Wesen.«

Wiederum das gellende Hohnlachen: »Weiber sind's, Dirnen sind's!«

»Göttinnen!«

»Narr! O du Narr!«

»Ich kenne sie also nicht.«

»Dir hing niemals ein Weib am Halse, niemals der Mund einer Frau an
deinem Munde?«

»Niemals.«

»Du Tor, du Narr, du — Mensch! Du verdientest wahrlich ein Mensch zu
sein, der allernärrischsten einer.«

Und er wälzte sich am Boden vor Vergnügen über meine Narrheit. — Als
er nicht mehr lachen konnte, erhob er sich, stand vor mir, meinte
plötzlich: »Komm mit mir.«

»Wohin?«

»Ich führe dich.«

»Ich muß wissen, wohin. Siehe, ich bin gewiß ein großer Tor; aber ich
bin zugleich ein großer Einsamer. Aus meiner Einsamkeit lasse ich mich
nicht fortlocken.«

Da redete er mir schmeichelnd zu: »Nur dieses eine Mal, du großer
Tugendhafter. An deiner Leier erkenne ich, daß du Musikant bist. Gewiß
sogar Dichter. Du siehst mir ganz danach aus. Als Lautenschläger
und Poet sollst du mir helfen, ein armes Weiblein zu trösten, ein
blutjunges, bildhübsches, verlassenes.«

Ich rief mit tiefem Erschrecken: »Geh allein!«

»Folge mir, ich bitte dich. Ich selbst habe es nämlich verlassen, wie
ich dir nur gestehen will. Ich kann eben nicht anders. Es ist meine
Natur. Und dann — ich bin jung, jung, jung! Und ich will genießen,
genießen, genießen! Will leben! Ohne Ende! Du scheinst mir zwar
ein sonderbarer Kauz zu sein, so etwas von einem Schwärmer, einem
sogenannten Idealisten, eben einem Narren. Zugleich aber ein netter
Kerl, ein gutmütiger alter Herr. Dabei höchst ehrbar. Dir wird das
niedliche Dingelchen nichts anhaben; und du tust an ihm und auch an
mir ein gutes Werk. Denn ich bin zwar ein Tier; aber schließlich doch
immerhin ein leidlich anständiges. Das erkenne ich daran, daß die
Verlassene mir leid tut.«

So sprach dieser Jüngling, der mich jetzt mit Augen und Lippen anlachte
— wieder mich auslachte ... Ich ließ mich von seiner fröhlichen Jugend
auch wirklich beschwatzen. So meinte ich nämlich damals. Denn damals
wußte ich nicht, daß es etwas anderes, ganz anderes war, was mich
gewaltsam trieb, seiner Lockung zu folgen.

Große Göttin, meine Sehnsucht war's!

Meine Sehnsucht nach Leben, nach Liebe.«


10.

Nach diesen Worten schwieg der Liebende. Und schweigend verharrten
alle, die ihm zuhörten. Alle empfunden, daß dieser Mann mit dem
Heroenantlitz, der sich derartig sklavisch dem Gott unterwarf, und
Hände sowohl wie Seele in Fesseln schlagen ließ — daß es bei ihm
etwas anderes war als verächtliche Schwäche. Die Kraft zu lieben, und
um seiner Liebe willen zu leiden war's! Es war der Mut, eine große
Leidenschaft auf sich zu nehmen gleich einem Kreuz. Still und milde
schaute die Göttin auf den Mann, der sonder Scheu und Scham bekannte,
mit gebrochenem Stolz, zermarterten Herzens ihr zu Füßen zu liegen.

Der Tiermensch mit der durch seine leidensvolle Liebe göttlich
gesprochenen Seele sprach weiter in dem schweren Schweigen rings um
ihn: »Dieser glückliche Leichtfertige führte mich zu einer kleinen
Waldwiese, die voll roter Anemonen stand, so daß sie mit lichtem Purpur
bedeckt schien. Mitten in der glühenden Blütenflut ruhte das erste
Weib, das ich sah. Sie war von feiner Gestalt und von solcher Anmut
der Bildung, wie ich die Frau bei meinen Weisen und Gesängen im Geiste
schuf, wenn meine Sehnsucht in mir nach Lieben und Leben schrie.«

Vollkommen hüllenlos sah ich das erste Weib, das ich für eine Göttin
hielt: für dich selbst, Tochter des Zeus ...

Wir waren am Waldessaum stehen geblieben, und hier dieser rannte mir
zu: »Sie ist eingeschlafen. Ihr Schmerz wiegte sie in Schlaf. Möchte
sie im Traume den Treulosen vergessen! Du aber wecke das Kind mit
deinen süßesten Melodien, singe der Reizenden deine zartesten Lieder:
deine Melodien und Lieder werden sich in ihr trauriges Seelchen
schleichen. In den Gesängen wird sie den Sänger lieben; und über deinen
jungen Liedern deine alternden Jahre vergessen. Im übrigen nimm dich in
acht. Denn auch dieses Nymphchen ist ein Hexlein. Diesen Rat lass' ich
dir als Warnung zurück; und — Aphrodite sei mit dir!«

Wie im Traum vernahm ich des Gesellen raunende Rede; und wie das Bild
eines Traums sah ich dicht vor mir auf dem blutroten Teppich der
Frühlingsflur das leuchtende Frauenwesen. Nicht mit meinen Augen sah
ich's; sondern mit meiner Seele, die ein gütiger Gott — oder war es
ein furchtbarer, erbarmungsloser? — auch uns Tiermenschen gab. Das
empfand ich plötzlich in diesem einen Augenblick.

Als ich noch stand und versuchte, das große Wunder zu fassen, das sich
mit mir begab, verschwand der Versucher von meiner Seite. Aus den
Dickichten hörte ich sein lustiges Lachen als letzten höhnenden Gruß.

Nun bewachte ich den Schlummer der weißen, wundersamen Gestalt. Die
Ruhende seufzte im Schlaf. Da ergriff mich ein unsägliches Mitleid, ein
mir bis dahin völlig unbekanntes Gefühl, wie ich mir denn auch erst
jetzt meines qualvollen Sehnens bewußt ward und dieses Sehnens Grund.

Dort lag er vor meinen Augen schlank und licht im Anemonengefilde ...

Ich begann leise zu spielen, leise zu singen: von meiner verzehrenden
Sehnsucht! Daß ich soeben erst meine Seele empfangen und angegraute
Locken hatte bekommen müssen, bevor ich erfahren, was Leben und Liebe
sei. Aber zugleich gedachte ich gar nicht meines Alters. Und ich
gedachte nicht meiner Einsamkeit. Auch nicht meines Stolzes. Das war
mein Schicksal.

Meine zarte Weise weckte sie. Sie schlug die Augen auf: große azurblaue
Augen, die in dem weißen Gesichtchen unter der goldigen Haarflut fast
schwarz strahlten. Still schaute sie auf mich, gar nicht erschrocken,
kaum erstaunt. Sie blieb ruhig liegen, schien sich in dem weichen
Blütenbett so recht wohlig zu fühlen, und behaglich auf Spiel und
Gesang zu lauschen. Da spielte und sang ich denn, als sollte ich meine
soeben erst empfangene — soeben erst empfundene Seele hingeben.

Endlich erhob sie sich ... Es war, als erblühte aus dem roten Grunde
eine binsenschlanke, wundersame, blasse Blume. Als ich sie in ihrer
ganzen hüllenlosen Frauenherrlichkeit vor mir sah, riß auf meiner Leier
eine Saite.


11.

Sie tat durchaus nicht fremd und scheu, schien nicht im mindesten
traurig und des Trostes bedürftig zu sein. Ja, sie lachte mich an,
daß ich zwischen ihren roten Lippen die Zähne schimmern sah, weiß wie
Winterschnee auf den Felsengipfeln.

Ich stand mit zerrissenem Saitenspiel verstummt und bebend, von
heißen Schauern geschüttelt. Da trat sie auf mich zu, sagte mit einem
Stimmchen wie Vogelgezwitscher im knospenden Lenz: »Du also bist der
Spieler und Sänger? Du!«

Ich fragte — und kaum, daß ich sprechen konnte: »Kennst du mich denn?«

»Gut, recht gut. Ich schlich mich häufig in deine Nähe und belauschte
dich heimlich. Alle deine Lieder kenne ich. Darum kann ich mit dir
reden wie mit einem alten lieben Bekannten ... Aber sage mir: warum
sind deine Weisen so traurig?«

Da sagte ich's ihr: »Weil ich dich nicht fand.«

»Weil du mich nicht fandest —«

»Weil ich mich nach dir sehnte! Immer, immer!«

»Suchtest du mich denn?«

»Immer, immer!«

»Also wußtest du, daß ich auf der Welt war?«

»Das Weib! ... Ich ahnte es ... Ich ahnte dich!«

»O du —«

Sie wollte lachen. Aber etwas wie Schreck ließ sie verstummen. Ich las
die Ursache in ihren Augen: weil ich ein Kentaure war — ein Tiermensch!

Und ich sagte es ihr ... Sie aber meinte leise, ganz leise: »Der andere
hat mich ja auch geküßt. Freilich der andere war —«

Da sie stockte, so sprach ich für sie. Ich rief, schrie es auf: »Der
andere war jung!«

Nun mußte ich doch meiner ergrauenden Haare gedenken: Sie selbst
erinnerte mich daran. Das hätte mich warnen sollen. Aber — welcher
Liebende ließe sich warnen?

Wer sich warnen läßt, liebt nicht.

Was würde sie antworten? ... Ich wartete darauf. Mein Herz hörte ich in
der Brust klopfen, mein Blut durch die Adern rauschen. Jetzt weiß ich,
was es damals mit mir war: Todesangst wegen der Jugend des anderen.
Denn Jugend ist die triumphierende Siegerin.

Sie sah mich an. Mir war's bei ihrem Blick, als sänke meine soeben erst
empfangene Seele in einen strahlenden Abgrund, darin sie unterging:
so abgrundtief war ihr Auge. Dann antwortete sie: »Deine Melodien und
Lieder sind jung; und frühlingsjung ist deine Seele; und kinderjung
werden deine Lippen sein, wenn ich sie küsse.«

Ich, grauer Tor, stieß hervor: »Wie kannst du mich küssen, da du doch
den jungen Treulosen küßtest; da du ihn doch liebst, um ihn leidest?«

Ihr Blick ward fremd und fern. Sie sprach mir nach: »Da ich ihn doch
liebe, um ihn leide ... Sagte er dir das?«

»Er führte mich zu dir, damit ich deiner liebenden und leidenden Seele
meine traurigen Lieder sänge.«

»Er selber brachte dich her? ... Weshalb sprichst du nur immer von
Lieben und Leiden? Und wer sagt dir, daß ich lieben und leiden kann?«

Ich verstand sie damals nicht, schwieg, schaute sie an; schaute in den
strahlenden Abgrund ihres Auges. Sie fragte: »Kannst du lieben und
leiden?«

»Seit ich dich sah —«

Und sie, beständig mit ihrem abgrundtiefen Blick auf mich gerichtet:
»Du bist anders als alle. Einen solchen wie du bist, küßte ich niemals.
Ich möchte dir die Seele ausküssen. Das möcht' ich! Weil du so ganz
anders bist.«

Da entrang es sich mir wieder wie ein Stöhnen: »Ein Tiermensch bin ich!
Ein lebendiges Stück Unnatur.«

Ernsthaft meinte sie: »Ein Sänger bist du, ein Dichter. Schmähe dich
also nicht selbst ... Jetzt aber komm!«

»Ich soll mit dir gehen?«

»Du sollst mich lieben und sollst um mich leiden. Ich will deine Seele
haben: deine Dichterseele! Ich will deine Seele mit meinem Lächeln
zerstören, mit meinen Küssen morden. Oder fürchtest du dich eines
solchen seligen Todes zu sterben?«

So erfuhr ich, daß es auch für uns ein Sterben gibt. Aber nur dann
auch für uns, wenn wir lieben und leiden: unserer Liebe willen blutige
Qualen erdulden. Wir sterben an unserer Liebe ...

Aus ihrem lächelnden Munde erfuhr ich's; und sie fragte mich, ob ich an
ihr sterben wollte?

Das wollte ich.


12.

Sie schlüpfte von mir fort, schwebte wie ein Silberstreif über die rote
Flur, neigte sich nieder, pflückte von den Anemonen, flocht sie zu
Gewinden, kränzte mir Haupt und Brust. Auch ihren eigenen schneeweiß
schimmernden Leib schmückte sie bacchantisch mit dem Blütenglanz und
streute sich die blutenden Tropfen in ihr strahlendes Haar.

Das Blumenspiel der Reizenden begleitete meine Melodien, die trotz der
zerrissenen Saite plötzlich einen neuen, gar wundersamen Klang hatten:
als wäre auch in meinem Spiel erst die Seele erwacht. Dann streckte
ich mich ihr zu Füßen aus, sie setzte sich auf meinen Rücken, und —
es geschah in diesem Augenblick, daß der kleine Gott mir die Hände
fesselte, die keine Macht wieder lösen kann.

Nun entführte ich meine holde Last an den schönsten und zugleich
einsamsten Ort. Es war dies eine wonnige Flur am Gestade eines
Alpensees. Nur über die blauende Flut konnte man hingelangen. Ringsum
stiegen gewaltige Felsenmauern auf, darüber allein die Wolken und Adler
zogen und schwebten. Die Aue selbst war ein einziges Rosengefilde,
an dessen Ende eine Grotte sich öffnete, wie eine Halle so feierlich
schön. Wände und Decke erglänzten von Kristallen und den Boden umhüllte
smaragdgrünes Moos.

Als ich die Geliebte über den See trug, kamen Schwäne geschwommen und
gaben unserem Brautzuge das Geleit. Nur ihre winzigen weißen Füße
wurden naß. Ich aber beneidete die Wellen, die ihren Fuß küßten, und
mißgönnte ihren Anblick den Schwänen. So schlimm stand es gleich
anfangs um mich ...

Es ward jedoch schlimmer von Tag zu Tag. Wir hausten in der glanzvollen
Grotte und ich wurde nicht nur ihr Liebhaber, sondern ihr Wärter und
Wächter, ihr Knecht, Sklave, Leibeigener.

Mit jeder Stunde wuchs mein Leid. Je qualvoller dieses war, um so
größer ihre Freude daran. Sonst empfand sie nichts — nichts — nichts!
Keine Wonne bei meinen Küssen, keine Seligkeit in meinen Armen. Aber
wenn sie meine Liebespein sah, lachte sie mich an; und wenn mir das
Herz blutete, kränzte sie meine Stirn. Dazu mußte ich die Leier
schlagen und singen zu ihrem Preis.

Mein ganzes Sinnen und Dichten war, sie heiß und heißer zu lieben; ihr
mehr und mehr meine Seele zu eigen zu geben und Lieder zu singen zum
Preise ihrer jungen holdseligen Schönheit.

Eins jedoch vergaß ich nie: daß sie bereits an den Herzen anderer
gelegen hatte. Und noch ein Zweites; daß sie nicht zu lieben und zu
leiden vermochte; also keine Seele besaß.

Keine Seele! Und sie hatte mir doch die meine gegeben ...

Es kam eine Zeit, da merkte ich wohl, wie sie meine Lieder nicht mehr
»jung« fand, nicht mehr in mir den Sänger und Dichter sah, sondern nur
noch den alternden Mann mit dem schmerzlichen Antlitz, den todtraurigen
Augen und den sklavisch gefesselten Händen. Die Zeit kam, wo sie meine
Küsse nicht mehr wollte, wo sie fortstrebte von mir.

Fort von mir wollte sie. — Ich aber wollte sie nicht fortlassen. Wie
hätte ich sie fortlassen können? Sie war zu meinem Atem geworden; und
Atem ist Leben. Ich konnte doch nicht plötzlich aufhören zu atmen, zu
sein.

Da machte sie mein Herzblut strömen — nur um von mir fortzukommen. Ich
ließ es hinströmen in Fluten. Wenn sie nur bei mir blieb.

Was jetzt folgte, war nichts anderes als meines Schicksals letzte
Erfüllung ...

Nach einer mondhellen wütenden Sturmnacht tat ich in der Frühe am
Gestade einen seltsamen Fund.

Es war ein Jüngling, ein Menschen-Jüngling! Zugleich das Schönste, was
ich jemals erblickt hatte: fast schöner als die Geliebte. Jener Holde
dort (der Kentaure deutete auf den ernsthaft zuhörenden Antinous)
gleicht dem schlanken Knaben, der in der wilden Mondnacht über den See
schwamm — ich erfuhr später weshalb — und der nun am Ufer lag ohne
Bewußtsein, ohne Leben.

Ich hob ihn sorgsam auf, trug ihn in die Grotte, bettete ihn auf das
Mooslager. Da sah ihn mein Weib, und da wußte ich's denn.

Ich wußte es sogleich ...

Der Jüngling erwachte zum Leben, lag aber im heftigen Fieber. In seinen
Phantasien sprach er von der schneeigen Frau, die er vom jenseitigen
Ufer aus erblickt hatte, und deretwillen er in der Sturmnacht über den
See geschwommen war. Sie stand dabei, hörte sein Seufzen und Sehnen,
und lachte.

Dann ward er gesund. Ich pflegte ihn; ich liebte ihn. Seine Schönheit
war von schier göttlicher Art. Ich mußte ihn lieben! Und ihn lieben
müssen hätte das junge Weib — wenn es hätte lieben können.

Es wollte ihn jedoch nur küssen ...

Aus abgrundtiefen Augen lachte sie ihn an: anders, ganz anders, als
sie jemals mich angelacht hatte. Sie wand um seine Stirn Kränze, dafür
sie die allerschönsten Blumen suchte. Er half ihr suchen und pflücken.
Dabei küßte sie ihn. Ich sah es nicht; aber ich wußte, daß sie ihn
küßte: anders, ganz anders als mich ...

Wiederum eines schönen Morgens hieß ich beide, sich auf meinen Rücken
setzen. Sie gehorchten stumm. Über denn See trug ich das Liebespaar und
die Schwäne geleiteten uns. Am jenseitigen Gestade stieg ich ans Land.

Sie glitten von meinem Rücken herab in das blumige Gras, faßten sich
bei der Hand, schritten davon: schweigend, ganz schweigend. Mit keinem
Blick schauten die beiden jungen lichten Gestalten zurück nach dem
Einsamen, dem Tiermenschen, dem alten Kentauren mit den gefesselten
Händen und der gemordeten Seele.

Was weiter geschah?

Ich hauste in Öde und Wildnis, rührte meine Leier nie wieder, sang nie
mehr ein Lied.

Auf meiner Leier waren sämtliche Saiten zersprungen, und zersprungen
war etwas in meinem Herzen.

Auch der Dichter, der ich sein sollte, war tot.

Und das war gut so.

Einmal belauschte ich wider Willen das Gespräch zweier alter Dryaden
in den Wipfeln einer grauen Steineiche. Die beiden Frauen erzählten
sich von einem großen Künstler in der Stadt Aphrodisias, der Götter
und Heroen, Faune und Kentauren und sonst alle Fabelwesen zu Erz und
Marmor umschuf. Da wußte ich sogleich, auf welche Weise ich zu einem
leiblichen Tode gelangen konnte: zur Entgeisterung, Erstarrung, zur
Umwandlung in Erz oder Stein.

Wie ich wollte, so ist mir geschehen ...

Das ist meine Geschichte, große Himmlische, du Siegerin über Menschen
und Götter.«


13.

In dem schweren Schweigen des antiken Geisterspuks dieser
Frühlingsnacht erschallte ein weicher Wohllaut. Die Stimme der großen
Göttin war's, welche fragte: »Vermag ich dir einen Wunsch zu erfüllen?«

»Was für einen Wunsch?«

»Zum Leben will ich dich nicht wieder erwecken. Was solltest du, armer
Geselle, wohl noch auf der Welt? Sie kennt keine Götter mehr; also
auch keine Kentauren. Es würde dir daher auf Erden schlecht ergehen.
Die Römer würden dich bei ihren Karnevalsfesten als ›Barbari‹ laufen
lassen; sie würden dich hetzen und höhnen, dich wohl gar wie einen
Büffel vor einen Karren oder Pflug spannen.

Werde daher auch du wieder fühlloser Stein wie wir alle hier, die in
dieser leuchtenden Frühlingsnacht durch die holden Frauen Apolls für
einige Stunden zum Leben erweckt wurden. Uns allen ist besser, ist
tausendmal besser, in der neuen Zeit, die hereinbrach, starre stille
Bildsäulen zu sein.

Aber siehe, Lieber: ich könnte dich von dem bösen kleinen Gott
befreien; denn er trieb es wahrlich arg mit dir. Ich könnte deine Hände
aus ihren Fesseln lösen und den grimmigen Schmerz aus deinem Antlitz
streichen. Wünsche also, mein Freund.«

Des Kentauren Antwort lautete: »Was ich war, will ich in Ewigkeit
bleiben. Da ich von meiner großen Liebe nicht mehr zu spielen und
zu singen vermag, so sollen die Menschen sie an meinen gefesselten
Händen, an meinem gramvollen Angesicht erkennen. Und sie sollen daraus
erkennen, daß auch ein Tiermensch lieben kann — wie sie; also auch
er eine gottgeschaffene Seele besitzt — wie sie. Vielleicht, daß sie
alsdann mich und meinesgleichen weniger verachten.«

Plötzlich rief aus der Versammlung der Olympischen eine strenge
Frauenstimme: »Wie kann ein ernsthafter Mann, wenn er auch nur ein
Kentaure und Halbmensch ist — wie konntest du, o Meisterwerk des
Bildners Papias, eines derartigen Geschöpfes willen in solchen Abgrund
von Schwäche versinken? Pfui, schäme dich, grauer Gesell!«

Mit einem Lächeln, welches das schmerzliche Antlitz wundersam
verjüngte, erwiderte der Geschmähte der hehren Minerva: »Weise Göttin,
weißt du nicht, daß wir nicht den Gegenstand unserer Liebe lieben,
sondern —«

Er blickte sie leuchtenden Auges an, die ihn ungeduldig unterbrach:
»Sondern was? ... Willst du mich etwa belehren?!«

»Ich will dir nur sagen, daß es die göttliche Liebe selbst ist, die wir
in einem unwürdigen Geschöpfe — wie du es nennst — lieben. Ich weiß
nicht, ob du mich verstehst?«

Aber die Göttin der Weisheit verstand ihn nicht. Wie sollte sie auch?

Kaum hatte der Kentaure diese Worte gesprochen, als die Zeit um war.
Der Frühlingstag dämmerte auf. In feierlicher Prozession kehrte die
Welt der Antike zurück in die Säle, verteilte sich auf die Postamente,
wurde wiederum Statue — Stein.

Ein leises, leises Klirren wie ein unirdischer Klagelaut begleitete die
Wandlung ...

Die neun Musen verließen das Standbild ihres Gottes, schritten traurig
hinweg: aus dem Palast des kapitolinischen Museums, den Hügel hinab,
über das zertrümmerte Forum, an den Ruinen des Palatins vorbei und
hinaus in die Campagna, darüber keine Morgenröte Purpurglanz warf.
Denn die himmlischen Frauen hatten ihr Nachtwerk ungetan gelassen, für
welche Versäumnis sie sicher einer strengen Strafe verfielen.

Etwas Erfreuliches begegnete ihnen an diesem grauen Morgen aber doch
noch auf der Via Appia antica in Gestalt eines jungen zärtlichen
Liebespaares, welches die leuchtende Frühlingsnacht im Hain der guten
und getreuen Egeria verbracht hatte. Als die neun Hehren die beiden
Glücklichen gewahrten, sprachen sie untereinander: »~Es gibt doch noch
Götter auf Erden!~«

Und sie kehrten getröstet auf ihren Mons Albanus zurück.

       *       *       *       *       *

Am Vormittage besuchten die Fremden zu hellen Haufen das Museum des
Kapitols. Sie kamen mit braunen und roten Büchern in den Händen,
schlugen darin wichtig nach, lasen eifrig; und wenn eine Statue mit
einem Stern bezeichnet war, so blieben sie davor stehen und fanden
das besternte Steinbild in allen Sprachen Europas ganz besonders
wundervoll, oder reizend, oder sonst etwas.

Am begierigsten drängten sie in das Kabinett der »Venus vom Kapitol«,
verglichen sie mit anderen Standbildern der großen Göttin der Liebe;
und die meisten fanden die Mediceerin um vieles herrlicher, was jedoch
niemand laut sagte.

Aber auch die beiden Kentauren des Aristias und Papias aus Aphrodisias
in Karien fanden Beachtung. Die Fremden lasen darüber: »Das Motiv
der Gruppe ist die verschiedene Wirkung der sinnlichen Liebe auf das
reifere und das jugendlichere Alter.«

»Ach so! ... Seht! Der Junge hat den Amor abgeworfen: Jugend läßt sich
nicht fangen ... Aber seht das andere mythologische Vieh! Alter schützt
vor Torheit nicht! Selbst nicht solchen Halbmenschen.«

Sie lachten.




Die Toteninsel.


Es war zu Roms goldener Zeit. Die Kaiserstadt am Tiber war in
Flammen aufgegangen und soeben aus der Asche neu entstanden. Was der
menschliche Geist an Herrlichkeit, an Üppigkeit und Vergeudung, an
ungeheuerlichster Verworfenheit und schändlichem Laster hervorbringen
konnte, ward ausgesprochen, wenn man Rom nannte. Mit dem Wahnwitze
Neros war die schreckliche und scheußliche Kaiserkrankheit bereits
typisch geworden: es gab nichts, was in der Welt, die jener Grimasse
eines großen Herrschers untertan war, unmöglich gewesen wäre.

Noch lebten die Götter Griechenlands. In Rom befand sich eine Stadt
von Tempeln, welche ein Volk von göttlichen Bildnissen aus Marmor, aus
Gold und Elfenbein bewohnte. Überall standen die Altäre der Olympier.
Aber bereits schwebte über der Glorie dieser Götterwelt der Schatten
des Kreuzes, unter dessen triumphierendem Zeichen der Glanz der
goldenen Roma erblassen, die Tempel zerbrechen, die Altäre stürzen,
die Götter vergehen sollten; bereits stieg von Golgatha der Dunst
vergossenen göttlichen Blutes auf, den alle Wohlgerüche Arabiens nicht
zu überduften vermochten, und das bacchantische Evoe des Heidentums
durchzitterte der letzte Seufzer des sterbenden Gottessohnes; in der
von Lust und Genuß übersättigten Menschheit erwachte die Sehnsucht
nach einem erlösenden Tode.

Rom war das Meer brausender Lebensfreuden, schäumender Daseinswonnen
und schimmernder Herrlichkeiten, von dem nach allen Himmelsgegenden
Ströme ausgingen, die Welt mit Wogen römischen Glanzes und römischer
Verderbnis überflutend. Einer dieser zahllosen Kanäle, welche römische
Kultur, Sitte und Fäulnis über die Erde verbreiteten, lief durch Latium
dem Meere zu, die ganze Küste von Centumcellae bis zu dem wollüstigen
Bajä mit einem strahlenden Bande von ländlichen Lusthäusern und
Prachtbauten säumend, so daß der Strand weit hinausleuchtete in die
blauenden Fernen des herrlichen, von Göttern und Menschen geliebten,
tyrrhenischen Meeres.

Und die römische Herrlichkeit schimmerte gleich einem Nebelstreif zu
einem winzigen Klippeneilande hinüber, das weltfern in der erhabenen
Einsamkeit der Meeresfluten ruhte.

Die Insel war der Krater eines toten Vulkans, tief lag der mächtige
Berg in die Wellen versenkt. Nach dem Festlande zu hatte die Gewalt des
unterirdischen Elementes die Rundung gesprengt, auseinandergerissen und
teils in die Tiefe des Kraters selbst, teils in den Abgrund der Wellen
geschleudert. Als ein Halbkreis von mächtigen Wänden, an denen kein
Pflänzlein Wurzel zu fassen vermochte, entstieg der braune Lavafels dem
Meere; gleich dem Thron des Neptun erhob sich der geborstene Gipfel
über der leuchtenden Wogendecke. Möven umkreisten die Klippen, der
Seeadler ruhte darauf, die Wellen schlugen beim Sturme schäumend und
donnernd daran; aber keines Menschen Fuß berührte das öde Gestein. In
langer Kette zogen die Jahrhunderte an dem einsamen Felsen vorüber,
langsam eine Wandlung vollziehend.

Der vulkanische Stein verwitterte, und wo der Krater in sich
zusammengestürzt war, deckte eine dünne Erdschicht die Trümmer. Winde
und Vögel trugen geschäftig aus beiden Weltteilen Samen von Bäumen und
Blumen nach dem Eiland hinüber. Im Halbkreis der Felsenmauern blühte
es auf; ein tiefschattiger Hain entstand, ein paradiesisches Gefilde,
die köstlichste Wildnis von Blumen und Blüten, in denen Scharen
buntgefiederter Vögel nisteten, ringsum die Luft mit Gesang erfüllend,
so daß Vogellied das Rauschen der Meeresflut übertönte.

Dann entdeckte der Mensch das glückselige Eiland. Von der Küste her
kamen die Römer, und da die winzige Klippe zu wenig Raum bot, als daß
ein Volk von Lebendigen darauf hätte Fuß fassen können, wurde die
Insel zu einer Wohnstätte der Toten bestimmt. Man sprengte Galerien in
das Gestein, wölbte Grotten und Grabkammern, rodete den Hain aus, die
Platanen und Steineichen, die Palmen und Pinien, und pflanzte den Toten
schwarze Zypressen, in deren Mitte sich leuchtend der Altar erhob,
darauf den Unsterblichen das Opferfeuer angebrannt wurde. Was die
tiefen Schatten der Bäume durchstrahlte, weit bis ins Meer hinaus, das
waren die Rosen, deren Heimat der meerumbrandete Fels zu sein schien:
Rosen umblühten die Stufen des Altares, Rosen umrankten die Stämme der
Zypressen, durchwanden die starren Zweige, kletterten hinauf in die
Wipfel, stürzten sich von droben in schimmerndem Blütenfall zur Erde
nieder.

Und Rosen bedeckten ringsum die braunen Klippen! Gleich einem
strahlenden Vorhang hing es von den jähen Wänden, in deren Tiefen die
Toten ruhten, bis hinab in die Fluten. Die rosigen Blumenwellen trieben
auf den Meereswogen.

Generationen von Menschengeschlechtern schliefen in den engen,
dunklen Kammern vom Leben aus; ein ganzes Volk von Toten bewohnte das
liebliche Eiland, schon war es mit Sarkophagen und modernden Leichnamen
angefüllt, aber das Blühen der Rosen nahm kein Ende. Mancher, der aus
der blauen Flut das schimmernde Eiland auftauchen sah, rief, ernsten
Auges hinüberspähend, mit gedämpfter Stimme aus: »Seht dort — die
Insel der Seligen!«

       *       *       *       *       *

Die Insel der Seligen, wie das Eiland von den Küstenbewohnern bald
allgemein genannt wurde, war zur neronischen Zeit außer von der
Heerschar seliger Toten nur noch von einem Priester und einem Hüter
der Gräber nebst ihren Familien bewohnt. Der Priester, welcher
dem Dienste der Totenopfer oblag, hieß Atinas und war ein überaus
gottesfürchtiger, in seinem Glauben strenger und eifriger Mann. Sein
Weib führte den göttlichen Namen Trivia. Leider starb die Frau in
jungen Jahren, nachdem sie ihrem Gatten, der sie heiß liebte, einen
Sohn geboren hatte. Die Götter mögen wissen, was aus dem kleinen
Tullus geworden wäre, hätte das Weib des Grabhüters Daunus nicht
mütterlich des Knäbleins sich angenommen. Zur selben Zeit, als Trivia
einem Kinde das Leben gab und daran starb, ward auch die wackere
Larina Mutter eines Mädchens, so daß sie die Quelle ihrer Brust
zwischen dem mutterlosen Knaben und ihrem eigenen Kinde teilen konnte.
Der arme Atinas hüllte sein totes Weib in ein Linnen, opferte für
ihren Schatten den finsteren Gottheiten und half Daunus den Leichnam
in eine Grabkammer tragen. Da fast alle Höhlungen der Felsen ihre
Sarkophage oder Aschenurnen bereits empfangen hatten, mußten die
Männer mit der Gestorbenen bis in das höchste Stockwerk des großen
Totenhauses hinauf, woselbst sich noch einige leere Zellen befanden:
eine mühselige Wanderung beim Scheine der Fackel durch die Nacht des
engen Felsenganges. Als das Grab seine ewige Bewohnerin aufgenommen
hatte, meinte Daunus: »Nun ist unser Tagewerk hier bald getan. Wenn
unsere Kinder groß geworden sind, schiffen wir uns alle ein, fahren
nach Antium hinüber und wandern miteinander nach Rom. Dort soll es uns
gut gehen! Die Toten hier werden wohl von den Wellen bewacht werden und
auf deinem Altare, mein guter Atinas, mögen die Zypressen und Rosen den
Göttern opfern.«

Atinas erwiderte nichts. Er gedachte seiner Toten und daß sein Weib
ihren Knaben nicht sehen sollte, wenn er groß geworden war und mit der
jungen Acca nach Rom zog.

Anderen Tages wurde der Eingang zur Grotte, darin sich nur noch
Platz für einen Gestorbenen befand, vermauert, und Larina flocht aus
Zypressenzweigen und bunten Bändern eine Tänie[A], die Atinas trauernd
über die Grabtür hängte.

[A] Binden, die man den Toten weihte.

Einträchtig lebten die Inselleute weiter. Atinas, dessen von Natur
finsteres Gemüt sich mehr und mehr verdüsterte, wohnte auf der
einen Seite der Insel, wo neben dem eingestürzten Kraterrand der
Fels als mächtige und unzugängliche Wand ins Meer abfiel, seinen
treuen Gefährten in der Einsamkeit gerade gegenüber. Zwischen beiden
Behausungen lag der Zypressenhain mit der Blumenwildnis und dem Altar
in seiner Mitte. Beide Hütten waren ehemalige Grabkammern, in welche
man nach dem Meere zu Fenster eingebrochen hatte. Aber weder bei
Atinas noch bei Daunus war es den Räumen anzumerken, daß sie während
vieler Jahrhunderte von Toten bewohnt gewesen. Die Wände waren mit
hellem Stuck überzogen, darauf heitere Gemälde: Landschaften, Genien
und anmutige Menschengestalten, Bilder des Lebens, der Schönheit und
der Freude erglänzten; ein bunter Fries, an dem Gewinde von Blumen
und Früchten niederhingen, umrandete die mit lichten Stuckaturen
geschmückte Decke. Der Fußboden trug eine schöne Mosaik und wurde an
festlichen Tagen mit wohlriechenden Kräutern bestreut.

Die Geräte beider Wohnungen waren überaus schlicht und ihrer nur sehr
wenige; sie genügten indessen den Bedürfnissen der Bewohner. In der
einen Kammer stand neben dem Ehebette der Webstuhl; in einem andern
Gelasse befand sich der Stein, darauf das Brot gebacken und die Fische
gebraten wurden, befanden sich auch die verschiedenen Amphoren, Gefäße
von nicht allzu mäßigem Umfange, und der Platz, um den Mischkrug zu
bewahren.

In dem kleinen Nachen, für den die sorgende Natur an dem Gestade der
einen Inselseite einen winzigen Hafen geschaffen, trat der biedere
Daunus einmal in jedem Monat die Meerfahrt nach Antium an. In dieser
herrlichen Stadt, in deren Mauern der Kaiser geboren worden, beschaffte
er für sich und seinen priesterlichen Freund alles, dessen das Haus
und der Grabkultus bedurfte: Mehl und Salz, Öl, Wein und Flachs, buntes
Bandwerk, um Tänien zu flechten, und allerlei Spezereien für den
heiligen Opferdienst.

Nach glücklich abgeschlossenem Handel und nachdem er sich beim
Oberpriester des Apollotempels gemeldet, unter welchem hohen Heiligtum
die Gräberinsel stand, schiffte Daunus so eilig wie möglich wieder
zurück. Die reiche, lärmende Hafenstadt mit ihrer Menge von prangenden
Tempeln, Basiliken und Hallen war für sein ehrliches, weltfremdes und
weltscheues Gemüt voller Schrecknisse, Gefahren und Nöte, denen er sich
erst dann glücklich entronnen fühlte, wenn er sich weit entfernt von
dem sirenischen Gestade auf offenem Meere befand. Segelte er seiner
lieben Gräberinsel zu, so war ihm, als ob die Wellen ihn einem seligen
Gestade entgegentrügen, und das Herz bebte ihm bei der Vorstellung,
daß, sobald die Kinder groß geworden, sie ihr friedliches Eiland
verlassen und nach Rom ziehen würden, um sich in dieser ungeheuren
Stadt ihres Lebens zu erfreuen. Der gute Daunus zerbrach sich bereits
jetzt den Kopf, wie sie es dereinst anfangen sollten, in dem Gedränge
der Gassen nicht erstickt und erdrückt zu werden. Wenn schon das kleine
Antium als ein Rom erschien, wie groß mußte dann erst die Stadt des
Kaisers sein!

Die glückliche Rückkehr des Daunus aus der weiten, weiten Welt war auf
der Insel jedesmal ein Ereignis. Der Weitgereiste sollte erzählen.
Larina erkundigte sich eifrigst nach allerlei Frauenangelegenheiten:
ob die vornehmen Antiatinnen sich immer noch das Haar auftürmten, des
Nachts frisches Hühnerfleisch auf die Gesichter legten und Belladonna
in die Augen gössen? Ob die Frau des Cäsars wirklich goldenes Haar
hätte, ein Hemd aus Byssus[B] trüge, wie Spinnweb so fein, und eine
Freigelassene wäre? Ob Daunus einen Gladiator gesehen und ob in
Antium nicht bald wieder ein Fest gefeiert würde, bei dem wilde Tiere
gefangene Übeltäter zerrissen?

[B] Batist.

Der schweigsame Atinas fragte nur nach einem; aber er fragte es
jedesmal: »Sage, o Daunus: werden in Antium die Götter geehrt?«

Dann wurde Daunus redselig: »Das will ich meinen! Welche Tempel, welche
Bildnisse, welche Weihgeschenke! Es ist nicht zu glauben!«

»Und in Rom? Hörtest du in Antium sagen, daß auch in Rom den
Unsterblichen eifrig gedient würde?«

»Je nun, in Rom — freilich auch in Rom, ganz sicher auch in Rom! Es
soll nicht zu glauben sein!«

»Aber der Kaiser?«

»Nun, das ist einer! Der versteht's! Das ist ein anderer als der
Caligula. Und wie er die Götter ehrt! Er soll sogar daran denken,
selber einer zu werden, ein ganz anderer, als der Caligula war: ein
wirklicher Gott. Gar nicht zu glauben ist's!«

Und Atinas seufzte tief auf.

       *       *       *       *       *

Unter Toten, die in ihrem ewigen Frieden selig waren, und unter
Blumen, welche das ganze Jahr hindurch blühten, wuchs das Kinderpaar
auf; an Lebensfülle, Heiterkeit und Schönheit jungen Göttern gleich.
Die kleine Acca mit ihren zarten Gliedern, dem schlanken Hals mit
blassen Gesichtchen glich einem Marmorbilde der Psyche, das in einem
laurentinischen Heiligtum verehrt wurde. Sie hatte lichtes, welliges
Haar und in ihrem lieblichen Antlitz erstrahlten die Augen in dem
tiefen Blau der von Sonne durchleuchteten Meereswogen. Wenn sie
lächelte, was sie tat, so oft sie ihres Spielgefährten ansichtig ward,
erschien sie so reizend, daß selbst Atinas glaubte, es könnte auf der
Welt nichts Holdseligeres geben. Ihre Stimme war voll Wohllauts, und
sie hatte eine eigentümlich anmutige Art zu gehen und sich zu bewegen.
Im Spiel mit dem Knaben huschte und schlüpfte sie wie eine Eidechse
durch die Büsche; dann hörte man durch die Zweige ihr Lachen, lieblich
wie Sirenengesang.

Sie war heiteren Gemütes, von einem stillen Frohsinn, gleichmäßig
sonnig, einem schönen Frühlingsmorgen ähnlich. Wenn sie in die Kammer
ihrer Eltern oder in die Wohnung des Atinas trat, schien der trübste
Tag plötzlich weniger trübe; ein sonniger noch strahlender zu werden.
Frühzeitig lernte sie ihrer Mutter Larina beim Flechten der Tänien
behilflich zu sein, welche das Weib des Grabhüters an bestimmten
Tagen vor den Grabkammern aufzuhängen hatte; sie goß für Vater Atinas
den Wein in die Opferschale, häufte die Spezereien auf dem Altar,
den sie jeden Tag mit frischen Blüten kränzte, und schaffte bereits
als halbwüchsiges Mädchen eifrig mit der Spindel und am Webstuhl. Da
nun seit dem Tode der armen Trivia in des Atinas Kammer der Webstuhl
verlassen stand, so war nichts natürlicher, als daß der leere Platz
von Acca eingenommen wurde, welche auch sonst im Hause des Priesters
geschäftig als kleine Domina waltete.

Auch der junge Tullus war von besonderer Art, ein prächtiger Bursche,
um dessen braunes Antlitz düstere Locken sich ringelten, mit
schwarzen, blitzenden Augen, die bald in überquellender Lebenslust
und Jugendfreude aufleuchteten, bald voll unsäglicher Schwermut still
vor sich hinblickten. In solchen Stunden schien des Knaben Seele eine
Flamme zu sein und er sich bei diesem innern Feuer zu verzehren.

Schneller als Tullus selbst empfand Acca die Wandlung, die so häufig
mit ihrem Freunde vorging. War sie bei ihm, so wich sie nicht von
seiner Seite. Nie war ihr Lächeln so lieblich, ihr Antlitz so sonnig,
ihre Stimme so voll süßen Wohlklangs, als wenn Tullus' Geist von der
dunkeln Wolke beschattet ward, von der auch das Mädchen nicht wußte,
woher sie kam und was sie barg. Sie steckte voller unschuldiger
Liste und Künste, denen nicht zu widerstehen war. Tausend Einfälle
flogen ihr zu; immerfort neue, mit denen sie den Freund fortzulocken
wußte; allerlei anmutige Possen kamen ihr in den Sinn. Sie summte
schelmische Lieder, die niemand sie gelehrt, erzählte wunderschöne
Geschichten, die sie von niemand gehört hatte. Aus der engen Kammer
trieb sie den schwermütigen Gespielen hinaus in den von Sonnenglanz
durchfluteten Tag. Sie selbst versteckte sich im Hain; Tullus mußte
sie suchen, und fand er sie endlich, so warf sie ihm eine Fülle von
Rosen ins Gesicht. Dann riß auch Tullus Blüten ab; es entbrannte
zwischen beiden der Kampf, bei dem der Jüngling Heldentaten beging und
seine reizende Feindin glorreich besiegte. Oder sie lockte die Vögel,
die Nachtigallen, die Amseln und die Tauben, welche Acca als Herrin
und Königin des Eilandes kannten und ihr untertan waren. Die kleine
Zauberin stand auf den Stufen des Altars und von allen Seiten kam das
Gevögel herangeflattert. Zwitschernd und gurrend schwirrte es aus den
Blumendickichten und den Wipfeln der Zypressen nieder; von den Felsen
herab kamen sie geflogen, ein schimmerndes Gewölk, das sich, Accas
Haupt umrauschend, zu ihren Füßen niedersenkte. Auf Schultern und Armen
saß das kecke Vogelvolk, die Brosamen von den geöffneten, rosigen
Lippen naschend. Dann wurde Tullus eifersüchtig, dann lachte Acca.

Zuweilen zog das Mädchen den Träumer mit sich fort, tief in das
Innere des Totenberges hinein. Die düsteren Gänge entlang, die engen
Felsenstiegen empor, die sie kannten wie die Gänge und Wege draußen im
Hain; an allen den Gräbern und Grüften vorüber, klommen sie hoch und
höher, bis sie wieder hinaus an den Tag und auf den Gipfel gelangten.
Auf seinem schmalen Rand dahinschreitend, schienen sie zwischen Himmel
und Erde zu schweben. Zu ihren Füßen ruhte das herrliche Meer, so weit
sie blickten in dunklem Purpur erstrahlend, oder in hellem Silberglanz
aufleuchtend, unübersehbar, unendlich, aus seinem heiligen Schoß die
schöne Erde zur Sonne emporsendend und in seinen Abgrund den Himmel
hinabziehend mit aller seiner Wolkenpracht. Dann stand Acca auf der
Klippe; ihr weißes Kleid wehte um ihre winzigen nackten Füße, es wehte
um Stirn und Wangen ihr glänzendes Haar. Sie hob die Arme. Es war,
als ob ihren Schultern Flügel entwachsen müßten und die kleine lichte
Gestalt sich aufschwingen würde in den Himmel hinein. Waren die beiden
in die blühende Tiefe zurückgekehrt, so war Tullus' Blick wieder
beruhigt, dann wand ihm die Freundin zum Lohn für seine heitere Miene
von ihren schönsten Blumen einen Kranz. Diesen setzte sie ihm auf, und
wenn er sie zum Dank küssen wollte, entwand sie sich ihm; er mußte
sie jagen und fangen und halten. Dann tönten die Stimmen der beiden
Unschuldigen und Reinen fröhlich durch die wonnige Wildnis, mit den
Vogelstimmen und dem Rauschen der Wogen sich mischend.

Aber nicht immer gelang der jungen Sirene ihre Bestrickung; zuweilen
enteilte Tullus, wohin sie ihm nicht zu folgen vermochte. Er sprang in
den Nachen und trieb mit raschen Schlägen vom Lande ab; taub für die
süße, flehende Stimme, die vom Ufer her zu ihm drang, blind für die
kleine, einsame Gestalt, für die ihm zuwinkende Hand, ihren bittend
erhobenen Arm. Oft geschah es dann, daß Tullus im Nachen sich hinwarf
und, vollständig unbekümmert um Wind und Wellen, dalag, zum Himmel
aufblickend, der wie ein zweiter strahlender Ozean über ihm flutete;
die junge Seele krank vor Sehnsucht nach einem unbekannten, aber
göttlichen Glück, träumte der Knabe.

Einmal war es ihm, als sähe er den Himmel offen. Alles war Glanz und
Glorie. Zwei leuchtende Gestalten schwebten empor: Acca und er! Es
waren aber nur zwei zarte Wölkchen, die dem Abendrot zuwallten. Da sie
in das goldene Licht eintauchten, lösten sie sich auf und zerannen.

       *       *       *       *       *

Weil auf der Toteninsel beinahe alle Grabstätten gefüllt waren, kam
von der Küste selten noch jemand herübergeschifft. Nur bisweilen
erschien im Morgengrauen dieser und jener Trauernde, um an irgendeinem
Gedächtnistage seinen Verstorbenen eine Tänie zu bringen und nach
kurzem Aufenthalt wieder zu scheiden. Niemals kam jemand von den
Ponza-Inseln herüber, deren Bewohner die nächsten Nachbarn der Leute
auf dem Gräbereiland waren; denn dort lebten Verbannte, Feinde und
Widersacher des Kaisers, welche der Herr der Welt nicht hatte töten
lassen wollen und daher auf diese öden Klippen sandte, wo ihr Leben ein
langsames Sterben war. So kam es, daß von der Sturmflut der Ereignisse
und Dinge selten der Schall einer verrauschenden Woge zu den fünf
Einsamen drang; aber es befand sich unter ihnen keiner, der sich nach
den brausenden Tönen des Lebens gesehnt hätte; jeder Laut, der nicht
von dem altgewohnten Liede der Wellen und Winde herrührte, gellte als
Mißklang in diese von den Vogelstimmen und dem Lachen Accas durchtönte
reine und schöne Welt.

Friedlich spannen sich die Tage ab. Mutter Larina und Acca walteten
sorgsam in den beiden Häusern; der fromme Atinas diente mit aller
Strenge den Göttern, von Jahr zu Jahr mehr in seinem Gemüt verdüstert,
während der derbere und gutmütigere Daunus für Herd und Tisch
bedacht war, wobei ihm Tullus zur Hand gehen mußte: er tat es nicht
allzufreudig.

Manchen Tag befanden sich die beiden schon beim Morgengrauen auf
dem Meere; aber anstatt dem Daunus zu helfen, das schwere Netz zu
werfen, hockte Tullus im Nachen und schaute der Sonne zu, wie der
große, goldige Flammenball aus dem Pupurgewölk langsam und feierlich
aufschwebte und die ersten Strahlen sich über die dunklen Wellen
ergossen. Dann murrte der wackere Daunus; »Aus dir wird dein Lebtage
nichts. Wozu du wohl auf der Welt bist?«

Das hätte Tullus selber gern gewußt; da er es aber nicht wußte,
überließ er diese Sorge den Göttern.

Eine noch unliebsamere Beschäftigung war dem Jüngling, zu den Zeiten,
wo der Thunfisch die Küsten entlang strich, mit Daunus des Nachts auf
den Fischfang auszuziehen. Alsdann flammte am Bug des Schiffes die
Harzfackel; Daunus lehnte mit dem spitzen Dreizack über den Rand und
traf mit sicherem Stoß den Thun in den fleischigen Rücken, worauf es
zwischen dem Fischer und dem mächtigen verwundeten Tier häufig zu
einem Kampf kam, bei welchem in dem schwankenden Kahn auch der Mensch
seines Lebens sich wehren mußte. Bessere Zeit war im Frühling, wenn
der Jüngling mit dem Alten die Klippen erstieg, um den von Afrika
wiederkehrenden Wachteln Netze zu stellen. Von dem weiten Flug übers
Meer zu Tode ermattet, ließen sich die heimkehrenden Vögel in Scharen
auf den Felsen nieder: eine leicht erjagte Beute, welche Larinas
Vorratskammer füllte.

War des Tages Arbeit vorüber, so fand man sich beim Altar zusammen.
An schönen Abenden, deren es auf diesem seligen Eilande gar viele
gab, ruhte man nach vollbrachtem Opfer am Ufer, angesichts der lang
sich hinziehenden lateinischen Küste. Dann erzählte Atinas von dem
göttlichen Helden Odysseus. Dort, wo jener Felsenthron dem Meere
entstieg, waren die Gärten der argen und holdseligen Zauberin Kirke!
Und Atinas berichtete von dem unsterblichen Äneas: An jenem Gestade,
der Insel gerade gegenüber, war der Held mit den Seinen nach langer
Irrfahrt gelandet; damals war die Gegend dort drüben dunkle Waldung
und schauervolle Wildnis, grenzenlose Steppe und Sumpf. Nach Antium
zu erhob sich unweit des Meeres die Stadt des schönen Rutulerfürsten
Turnus; und mächtig ragten, von hochstämmigem Lorbeer beschattet, die
Mauern der Stadt des greisen Königs Latinus, der den stammverwandten,
griechischen Fremdling gastlich empfing, diesem die Tochter, die
liebliche Lavinia, zur Ehe gelobend. Heiß entbrannte zwischen Rutulern
und Latinern der Kampf, dem von des Albanus Höhen die zornige Juno
zuschaute: dort ragte der Gipfel des heiligen Berges! — In jenen
Wäldern starb das herrliche Jünglingspaar Nisus und Euryolus den
Heldentod, sank der wonnige Pallas, auf Todeswunden blutend, auf die
Blumen der Flur, beweint von Göttern und Menschen.

Starren Auges schaute Tullus hinüber, wo so hehre Dinge geschehen
waren. Ein Nebelstreif, versilbert vom Mondesglanz, säumte das Land.
Aus dem Haupt des Albanus, der des Landes höchstes Heiligtum trug,
stieg das sanft glühende Himmelslicht empor; eine breite Strahlenbrücke
führte von der Insel zur Küste hinüber; hätte Tullus sie beschreiten
können!

Leise erhob er sich und schlich davon in die Finsternisse des heiligen
Haines. Hier, auf den Stufen des Altars, darauf das Opferfeuer
verglühte, warf er sich nieder, seufzte, schluchzte, weinte. Schön war
das Leben, denn Acca atmete es! Aber noch schöner mußte es sein, das
Leben dahingeben zu können, zu sterben — ganz gleich, um was; starb
man nur den Tod eines Helden. Acca kam dem Freunde nachgeschlichen. Sie
kauerte neben ihm nieder, raunte ihm zu, tröstete ihn. Aber selbst Acca
vermochte nicht ihn zu trösten. So geschah es manche Nacht.

Daunus befand sich auf einer seiner gewöhnlichen Fahrten nach Antium,
mußte indessen jede Stunde zurückkehren. Es war Abend geworden,
das Meer bewegt, der Himmel bewölkt; aber der Wind erwies sich dem
Heimkehrenden günstig, so daß die Seinen um den einsamen Schiffer nicht
zu sorgen brauchten. Da der Herbstabend kühl war, hatten sie sich in
der Kammer des Atinas versammelt. Die dreiarmige Lampe brannte; auf
dem Herde knisterte das Feuer; vor dem Fenster hing der bunte Teppich
herab. Man hörte das Rauschen des Windes in den Zypressen und das Meer
an den Felsen rollen.

Atinas erzählte von den Göttern, in deren urewiges Sein und Wesen sich
der Priester mit immer größerer Inbrunst versenkte, eifrig bestrebt,
in seinem Sohn dem Unsterblichen einen wahrhaft frommen Diener zu
erziehen. Und das schien dem Vater zu gelingen; denn so wenig der junge
Tullus von der Welt und dem Leben kannte, so gut Bescheid wußte er mit
den Himmlischen, die er liebte, ehrte und fürchtete und die ihm überaus
hehr und herrlich zu sein schienen.

Dann vernahmen sie den lauten Ruf des heimgekehrten Daunus. Larina und
Tullus standen auf und gingen hinaus; der Nachen mußte ans Land gezogen
und die Ladung in den Kammern geborgen werden. Das war bald geschehen.
Nach einer Stunde saßen alle beim Herdfeuer; Daunus labte sich am Wein
und sprach kräftig den warmen Ölkuchen und den gebratenen Fischen zu,
die seine Hausfrau ihm bereitet hatte. Gegen alle Gewohnheit war der
Gute, der sich sonst seiner Rettung aus den Gefahren der Welt und der
Bergung im sicheren Hafen mit lautem Behagen erfreute, diesmal seltsam
verdüstert und in sich gekehrt.

Man bestürmte ihn mit Fragen: Wie war es in Antium gewesen? Was hatte
er vom Kaiser gehört? Welche Neuigkeiten über den Brand von Rom, der
immer noch in den Gemütern lebte? Hatte es sich bestätigt, daß der
Kaiser, purpurgekleidet, lorbeergekrönt, in einem von zwölf weißen
Rossen gezogenen, goldenen Wagen nach seiner Vaterstadt gekommen war,
um im Theater vor dem Volk der Antiaten zu singen und sich am nächsten
Tag auf dem Forum als höchsten Gott ausrufen und anbeten zu lassen?

Nun ja, bestätigt hatte sich die Kunde. Atinas fuhr wild in die Höhe;
aber Daunus blieb wortkarg. Endlich schmeichelte es Acca aus ihrem
Vater heraus.

»Was soll mir geschehen sein? Geärgert habe ich mich! Denkt euch:
da gibt es jetzt Menschen, die behaupten, unsere Götter wären nicht
Götter. Solche Bestien! Sie verkünden einen andern Gott, den sie Jesus
nennen und der aus der asiatischen Stadt Nazareth ist. Kann man sich
solches vorstellen? Diesen Jesus von Nazareth haben die Juden, als
Tiberius Kaiser war, unter dem Statthalter Pilatus in unserer Provinz
Judäa gekreuzigt. Der soll nun ein Gott sein.«

Atinas war aufgesprungen. Mit heiserer Stimme stieß er hervor: »Wie
sagtest du, Daunus? Unsere Götter wären nicht Götter? Es gibt Leute,
die solches auf der Straße ausrufen und die von dem Grimm der Götter
nicht zermalmt werden? Sie leugnen Jupiter und predigen von einem Gott
Jesus, der unter Kaiser Tiberius gekreuzigt ward? Ei, Daunus, ein Toter
soll ein Gott sein und unsere Unsterblichen sollen niemals gelebt
haben? Mein wackerer Daunus, welcher laurentinische Äsop hat dir in
Antium Fabeln erzählt?«

Auch Larina schüttelte den Kopf über ihren Hausherrn, der solche
Geschichten mitbrachte. Die Götter wären nicht Götter! Hatte man jemals
so etwas gehört? Besorgt beobachtete die verständige Frau den Gatten,
ob nicht etwa der Trank des Bacchus aus ihm rede. Doch schien jener
gütige Himmlische dem wackern Mann gänzlich fern geblieben zu sein.

Mit stummen Schrecken blickten Acca und Tullus einander an; es sollte
keine Götter geben! Der Jüngling war erblaßt; er mußte an den neuen
Gott denken, der wie ein Mensch gestorben war. Die Götter Roms starben
nicht!

Nun erzählte Daunus. Und wenn er nichts mehr wußte, wiederholte er das
Gesagte. Atemlos lauschten sie auf seine verworrenen Reden, Atinas mit
einem Ausdruck in seinem mächtigen Antlitz, daß sein Sohn voller Scheu
zu ihm hinübersah. Daunus berichtete, wie die Nazarener — so nannten
sie sich nach ihrem Herrn — den neuen Gott begeistert verkündeten,
wie sie die alten Götter lästerten, wie sie von den ergrimmten Römern
sich töten ließen, wie sie sterbend voller Glückseligkeit waren; denn
ihr Tod vereinigte sie mit ihrem gestorbenen Unsterblichen. Mit eigenen
Augen hatte Daunus in Antium solche Nazarener erblickt. Sie sahen ganz
aus wie andere Menschen, kleideten sich auch so, aber sie hielten sich
still und grüßten einander mit einem besonderen, feierlichen Gruße.

Daunus schloß seine Rede: »Und das ärgste ist, daß dieser Gott Jesus
eines Zimmermanns Sohn gewesen sein soll. Wäre er noch Kaiser gewesen!«

Aber da stieß Atinas, der in düsterem Schweigen und halber
Entgeisterung dagesessen hatte, einen Seufzer aus, so laut und
schmerzlich, daß es wie ein Stöhnen klang. Und der Priester
gedachte des Kaisers, der, nachdem er öffentlich vor allem Volk
als Schauspieler, Sänger und Rosselenker aufgetreten war, sich als
höchste Gottheit hatte ausrufen lassen. Und auch das hatten die Götter
geduldet! Dies bedenkend, schämte sich Atinas über die Schmach, welche
die Unsterblichen sich selber zugefügt.

Bis spät in die Nacht hinein blieben die Freunde beisammen. Der Wind
legte sich, die Wolken verzogen sich; der Insel gegenüber stand am
Himmel ein kleiner leuchtender Streifen: der junge Mond. Es war, als
wäre das Firmament aufgeritzt und Glanz quelle hervor.

Atinas erhob sich und sprach feierlich: »Laßt uns den Göttern ein Opfer
bringen.«

Er verließ die Kammer. Acca füllte die Opferschale. Tullus holte die
Spezereien und alle begaben sich zum Altar. Als die Flammen stiegen,
hob Atinas die Schale: »Euch, die ihr ewig seid!«

Und er sprengte den heiligen Wein.

       *       *       *       *       *

Trübe Tage folgten jener Nacht. Das Gemüt des Atinas blieb verdüstert
und es stürmte in der Seele des sonst festen und sicheren Mannes. Er
trug sich mit schweren Gedanken, verbrachte die Tage in der Tiefe des
Haines, sogar den geliebten Sohn meidend, dessen Geist er nach seinem
Geist gebildet und mit dessen Leben sich dereinst das seines Vaters
erfüllen sollte. So oft er jetzt seines priesterlichen Amtes waltete,
spendete er das Opfer den »ewigen« Göttern, jenen Herrlichen und
Hehren, die da waren, die da sind, die da sein werden.

Wochen verstrichen. Der Herbst brachte die Regenzeit. Unaufhörlich
strömte es hernieder; dichte, graue Wolkenschleier umhüllten das
Eiland, weder Sonne noch Mond waren zu erblicken; die ganze Welt schien
in Dunst und Geriesel sich auflösen zu wollen.

In den Zypressen stöhnte der Wind; er beugte die Wipfel, brach die
Blütenzweige der Büsche und trieb Schwärme bunter Blätter in die Luft.
Die aufgewühlten Wogen peitschten die Klippen, der Fels erbebte vom
Anprall der wilden Flut; die Brandung stritt mit dem Sturm, wessen
Stimme am grimmigsten zu tosen vermöchte.

Auf den Seelen der Inselbewohner lastete der graue Himmel, als wäre er
der Deckel eines Sarges, der über ihnen, den Lebendigen und Atmenden,
geschlossen würde. Tullus schlich blaß und stumm umher, als wandle
er im Schlafe, aus dem selbst Accas Zauberstimme ihn nicht zu wecken
vermochte. Zuweilen konnte man ihn starr vor sich hinschauen sehen und
dabei die Worte murmeln hören: »Euch, ihr ewigen Götter!«

Eines Abends trat Atinas in die Kammer der Freunde. Indem er es
vermied, seinen Sohn, der sich gerade bei Daunus befand, anzusehen,
sprach der Priester mit rauher Stimme zu dem Gefährten: »Morgen gibt
es einen freundlichen Tag. Der Regen hat aufgehört und der Wind ist
umgeschlagen; das Meer beruhigt sich über Nacht. Getrautest du dir
wohl, morgen nach Antium hinüber zu schiffen?«

»Wir haben noch Mehl genug; Wein und Öl reichen auch wohl für eine
Woche.«

»Es ist diesmal nicht, um Mehl und Wein zu holen, daß du nach Antium
sollst.«

Verwundert blickte Daunus auf: »Weshalb sonst?«

»Du sollst mich hinüberbringen.«

»Dich, Atinas? Du willst nach Antium?«

»So sagt' ich.«

»Aber was willst du dort?«

Tullus stand leise auf und trat zu seinem Vater.

»Ja, was willst du eigentlich in der Stadt?« fragte mit besorgtem
Gesicht jetzt auch Larina. »Du gehst ja niemals hinüber. Es werden zehn
Jahre und länger her sein, daß du zuletzt in Antium gewesen bist. Was
willst du dort?«

»In Antium nichts.«

»Wie?«

»Ich will nach Rom.«

»Nach Rom!«

Alle vier riefen es. Die beiden Alten erschraken; Acca tat einen leisen
Schrei; denn Tullus' schwermütiges Gesicht erhellte sich und er hatte
den Ausruf mit ersticktem Jubel getan.

Atinas runzelte die Stirn.

»Nun ja, ich will nach Rom. Was ist da weiter? Ich muß selbst sehen,
selbst hören — das von den Nazarenern. Es läßt mir keine Ruhe; ich
halte es hier nicht länger aus. Genug, ich gehe morgen fort. Bis zum
Frühling bin ich wieder zurück. Was willst du, Tullus?«

Atinas wußte sehr wohl, was der Jüngling wollte. Bevor dieser indessen
seine Bitte stammeln konnte, vernichtete er ihm jede Hoffnung auf
Erfüllung derselben.

»Du bleibst hier,« gebot Atinas. »Was wolltest du in Rom? Rom ist
nichts für einen Knaben wie du einer bist. Das ist eine Stadt, die den
Menschen vergiftet und verdirbt an Leib und Seele. Still! Bitte mich
nicht! Genug, du bleibst bei Daunus und Larina und — bei Acca.«

Atinas sah sie an. Sie stand da, immer noch zitternd von dem gewaltigen
Schrecken, aber mit einem Antlitz, das von der holdesten Freude
verklärt ward: Tullus würde dableiben, bei ihr! Atinas nickte ihr zu
und lächelte; bei den ewigen Göttern: der finstere Atinas lächelte! Da
erglühte Acca über und über.

Am nächsten Morgen vor Aufgang der Sonne war der Nachen zur Abfahrt
gerüstet. In tiefer Bewegung schloß Atinas seinen Sohn in die Arme, den
Jüngling mit feierlichem Segen unter den Schutz der Ewigen stellend,
denen er vorher zum letztenmal am Altare geopfert hatte. Noch lange
sahen die Zurückbleibenden die hohe Gestalt im Nachen aufrecht stehen
und ihnen zuwinken. Dann tauchte das Fahrzeug in den Glanz des jungen
Tages, in dessen Strahlen es ihren Blicken entschwand.

Tullus war zumute, als könnte keine Woge ihm den Vater zurückbringen.

       *       *       *       *       *

Von Atinas drang keine Kunde nach dem Eilande. Aber obgleich der
opfernde Priester fehlte, wurde nach gewohnter Weise jeden Morgen und
jeden Abend am Altar den Himmlischen gespendet.

»Euch, ihr ewigen Götter!«

Es war Tullus, der, während Daunus das Opfer darbrachte, diese
feierlichen Worte sprach.

Auf der Insel befand sich eine Bildsäule des Jupiter. Die herrliche
Marmorgestalt, von einem griechischen Künstler gebildet, stand unweit
des Altars, an einem Ort, wo das ganze Jahr über Rosen in solcher
Fülle blühten, daß es aussah, als lägen zwischen den dunklen Zypressen
scharlachrote Teppiche gebreitet und rosige Schleier gehäuft. Die
schönste Ranke, daran vor Blüten keine Blätter zu sehen waren, hatte
sich um den Sockel der Bildsäule geschlungen und höher um den in
unsterblicher Schönheit strahlenden Leib, bis zum Haupt des Donnerers
empor, ihm einen Kranz von Rosen auf die Stirn drückend.

Der heimliche Winkel war von Kinderzeiten an der Lieblingsaufenthalt
des jungen Paares gewesen; zu Füßen des Gottes hatten die beiden ihre
ersten Spiele gespielt und das schöne Marmorbild, das mit göttlichem
Lächeln auf die Kleinen niederblickte, war dabei das dritte im Bunde
gewesen. In späteren Zeiten hatte Tullus manchen halben Tag vor der
Jupiterstatue verträumt, glühende Sehnsucht nach einem zukünftigen
Leben voll großer Taten in der Seele. Jetzt nun, nach der Abreise
des Atinas, brachte er von neuem die Stunden unter dem Bildwerk zu;
während er in den Anblick des hellenischen Gottes versunken war, kam
dem Jüngling die Absicht jener Nazarener, so viel Majestät und Größe
zu leugnen, mehr und mehr als ein Frevel vor, für den alle Qualen
des Todes nicht Strafe genug waren. Pochenden Herzens gedachte er in
solchen Stunden seines herrlichen Vaters, der sich in Rom sicher an
der Verfolgung der Nazarener beteiligte, für die alten, unsterblichen
und ewigen Götter Großes vollbringend. Mit Tränen heißen Schmerzes in
den Augen fühlte er seine Nichtigkeit und daß er hatte zurückbleiben
müssen, anstatt an seines Vaters Seite dessen glorreiche Taten zu
teilen. Als der Jüngling das hehre Bild des höchsten Gottes anschaute,
stieg in seiner Seele eine andere Gestalt auf, die eines Menschen,
dessen gemarterter Leib an einem Kreuze hing: Jesus von Nazareth,
der neue Gott. Ein gekreuzigter Mensch ein Gott — ein Toter ein
Unsterblicher!

Tullus haßte und verabscheute den Leichnam, der ewig sein sollte.

Wieder einmal war Daunus nach Antium hinübergeschifft. Tullus
hatte ihn durchaus begleiten wollen, war aber beinahe mit Gewalt
zurückgehalten worden; denn Daunus hatte dem Atinas gelobt, seinen Sohn
der Küste fernzuhalten. Die Nachrichten, welche er über die Nazarener
zurückbrachte, waren nicht danach angetan, die Gemüter zu beruhigen:
laut und lauter erhoben die Jünger des neuen Gottes ihre Stimmen;
offen schmähten sie die Ewigen als ungöttlich und gar nicht seiend;
triumphierend erlitten sie Verfolgung, Marter und Tod. Ihre Zahl wuchs
und wuchs.

Dann war lange Zeit der Verkehr mit dem Festlande unterbrochen:
Winterstürme umbrausten die Insel. Endlich kam der Frühling: es war,
als ob die Schwingen einer Gottheit im Vorüberrauschen den Felsen im
Meere berührt hätten. Unter den Zypressen erblühte über Nacht ein
Teppich von weißen und gelben Krokus; in den Gebüschen dufteten die
Veilchen; die öden Klippen bedeckten sich mit Anemonen und Tazetten,
und neben den Myrtensträuchern öffneten die Blumen des schönen
Narzissus ihre duftenden Kelche.

In Schwärmen erfüllten Amseln und Nachtigallen den Hain mit Gesang. Es
war ein Getön, als hätten die Zweige Stimmen und Wohllaut empfangen.
Gleich Strahlen durchschossen die Blaudrosseln die sonnigen Lüfte; in
den von Schmetterlingen umschwärmten Blumendickichten schwirrten bunte
Käfer, und in den Zypressen nisteten zahllose Turteltauben.

Halbe Tage lang lag Tullus am Strand, hörte die Wogen rauschen, sah
die Wolken über sich ziehen und starrte in die glanzvolle Meeresweite
hinaus, hinüber zu dem langen, leuchtenden Streifen der lateinischen
Küste. Es war in diesen Tagen, daß der Jüngling sich wie sterbend
fühlte vor Sehnsucht.

Acca saß am mütterlichen Webstuhl, das Schifflein weniger eifrig als
sonst durch die Fäden werfend. Sorgend gedachte sie des dunklen Wesens
ihres lieben Freundes und fühlte sich so kummerbelastet, daß ihr häufig
die Arme wie in tiefer Ermattung am Leibe herabsanken. Die Sonne ging
unter in den purpurnen Fluten, die Glorie des Abendrotes verklärte
den Webstuhl und die junge Gestalt des einsam in Trauer dasitzenden,
reizenden Kindes.

Was war's nur mit ihm?

Er wollte fort!

Und fort mußte er, sonst verkam er. Sie kannte ihn! Lange ertrug er's
nicht mehr, dann ging er fort: in aller Heimlichkeit, ohne ihr Lebewohl
zu sagen. Er folgte seinem Vater; er ging nach Rom, in die ungeheure
Stadt, wo Gefahren ihm drohten, wo niemand bei ihm war, ihn vor dem
Verderben zu schützen.

Denn sie kannte ihn!

Was wollte er in Rom?

Seinem Vater helfen, die Nazarener zu verfolgen. Er haßte sie.

Acca verstand nicht, wie der Mensch hassen konnte.

Leise trat Tullus in die Kammer und sah zu der verklärten, lieben
Gestalt hinüber, lange und unverwandt. Sie schaute auf und ihre Blicke
begegneten sich. Da wußte sie es; sie wußte es gleich.

Er wollte fort, diese Nacht noch — ohne von ihr Abschied zu nehmen.

Sie erhob sich, ging langsam auf ihn zu, stand und sah ihm tief in die
Augen.

»Ich gehe mit dir.«

Tullus erbebte.

»Ich gehe nicht fort.«

»Du willst nach Antium und weiter: bis nach Rom — diese Nacht noch.«

»Acca!«

»Es wird meine Eltern sehr bekümmern, aber ich kann ihnen nicht helfen.«

Noch einmal versicherte Tullus: »Was fällt dir ein? Ich bleibe hier.«

Ihren leuchtenden Blick von seinem bleichen Gesicht nicht abwendend,
lächelte sie ihn an, ohne ein Wort zu sagen; da stürzten ihm die Tränen
aus den Augen, laut schluchzte er auf.

»Ich weiß ja auch nicht, was es ist,« stammelte er; »aber ich sehne
mich so — ach, Acca, Acca, wie ich mich sehne!«

Sie umschlang ihn mit beiden Armen, drückte sein Haupt an ihre Brust
und flüsterte ihm zu: »Wo du bist, muß ich sein. Kannst du dir denken,
daß es anders geschehen könnte?«

Er konnte es sich nicht denken; so gestand er ihr denn alles und sie
tröstete ihn. Daran küßten sie sich, unschuldig wie Kinder, die sich
gezankt haben und sich wieder versöhnen.

Heilige Frühe wehte um die Stirnen der beiden Flüchtlinge. Die ganze
Nacht waren sie mit günstigem Winde gesegelt und trieben nun beim
aufglühenden Tageslicht der Küste zu, deren Herrlichkeiten bereits
dicht vor ihren Augen lagen. Voller Entzücken sah Tullus die Menge der
Paläste, der Basiliken, Thermen und Amphitheater; er sah den Strand,
so weit seine Blicke schweiften, besetzt mit Landhäusern, Portiken und
Heiligtümern.

Acca schaute nicht vorwärts, sondern zurück, wo an dem lichten Horizont
ein Wölklein zu schwimmen schien: die verlassene Heimat. Doch so oft
Tullus mit einem Ausbruch des Jubels sich nach ihr umwendete, bog
sie hastig das Köpfchen und teilte sein Staunen über alles, was er
erblickte.

»Das ist die Welt, Acca! Sieh, wie groß, wie schön! Hier sind die
Götter, die sie leugnen wollen.«

Und nach einer Weile leise, mit bebender Stimme: »Bist du glücklich,
Acca?«

Sie nickte ihm zu: »Ich bin glücklich, Tullus.«

Trotz dieser Versicherung glaubte er sie trösten zu müssen: »Sie
werden nicht allzusehr um dich besorgt sein; wissen sie doch, daß du
bei mir bist! Was sollte dir da geschehen können? Siehst du nun ein,
wie unnütz du dich quälst? Mutter Larina wird jammern und Vater Daunus
schelten, nicht allzusehr! Sie werden sich gewiß denken können, wie
alles gekommen ist; daß ich fortwollte, daß du mich nicht zurückhalten
konntest, und daß du dann natürlich mit mir gegangen bist. Es war
wirklich ganz natürlich, daß du mich nicht allein ließest. Sicher
werden sie das einsehen! Sie haben uns wie Gefangene gehalten, ich wäre
beinahe gestorben. Wenn man jung ist und auf einer Klippe lebt und die
Welt jeden Tag vor Augen hat und doch nicht hin kann, und wenn man
fühlt, wie man zu etwas Besserem taugt, zu etwas Größerem; wenn man
etwas tun will, etwas tun muß — ach, Acca, Acca, mir ist so wohl, ich
fühle mich so frei, so stark, so — — ich kann es nicht sagen, aber
die Götter wissen es. Sieh nur die Herrlichkeit! Ist es denn möglich,
daß die Welt so groß, daß sie so schön ist? Sei glücklich! Wir wollen
glücklich sein!«

Sie nickte ihm wieder zu: »Das wollen wir.«

Eine Weile schwiegen sie; dann flüsterte Tullus, die zarte Gestalt
seiner Gefährtin mit scheuem Blicke streifend: »Acca!«

»Ja.«

»Dir ist doch nicht bang?«

»Wovor sollte mir bang sein?«

»Vor der Stadt, vor den Menschen, vor Rom, vor der Welt. Aber du hast
ganz recht; wovor sollte dir bang sein? Sind doch die Götter bei uns.«

Acca wendete sich ab.

»Ob wir wohl einen Nazarener zu sehen bekommen?«

Sogleich verfinsterte sich des Jünglings Gesicht. Er preßte die Lippen
zusammen und murmelte: »Ich hasse sie.«

Acca wollte ihn bitten, das nicht zu tun; Tullus schaute aber so
finster drein und hatte eine so feindselige Miene, daß sie schwieg.

Bereits befand sich das Boot mitten im Gewühl des Hafens; doch achtete
niemand der beiden. Tullus ermahnte: »Du darfst dich nicht fürchten.
Ich beschütze dich. Es soll niemand wagen, dich anzurühren, sieh nur
recht mutig drein und kehre dich nicht an das Geschrei! Ich habe es
mir viel schlimmer gedacht. Sobald wir gelandet sind, suche ich einen
Schiffer, der mit dem Nachen zur Insel zurückrudert. Dein Vater wird
froh sein, das Boot wiederzuhaben und den Mann gewiß für die Fahrt
bezahlen. Das müssen wir ihm sagen, verstehst du. Ich werde schon alles
besorgen, fürchte dich nur nicht! Du bist ganz bleich. Gewiß hungert
dich. Wie gut, daß wir Geld haben! Dafür können wir uns kaufen, was wir
wollen. Es wird herrlich sein. Die Götter werden uns beschützen.«

Es währte einige Zeit, bis sie ans Ufer kamen. Der Nachen erhielt
von allen Seiten Stöße, von allen Seiten wurde der junge Fährmann
angeschrien. Doch schließlich gewannen sie festen Boden unter den
Füßen. Schwindlig von der langen Fahrt stieg Acca ans Land; Tullus
faßte sie bei der Hand und schickte sich an, einen Schiffer zu suchen,
dem er das Boot übergeben konnte. Die Sache war bald erledigt. Der
Mann, den Tullus deswegen ansprach, zeigte sich sofort geneigt; gleich
am Abend wollte er nach der Insel ausbrechen. Mit stockender Stimme bat
Acca den Boten, an die Eltern Grüße auszurichten und ihnen zu sagen,
daß — — nein, nur grüßen sollte er Vater und Mutter, vielmals grüßen.
Der Mann versprach es zu tun. Die Menschen waren doch viel freundlicher
und hilfreicher, als die jungen Leute geglaubt hatten, und beide
fühlten sich von froher Hoffnung beseelt.

Wie von einer Last befreit, nahmen sie von dem gefälligen Antiaten
Abschied, sich Hand in Hand in das Gewühl der großen und prächtigen
Stadt begebend; zunächst, um bei anderen freundlichen Menschen ihren
Hunger zu stillen. Es schmeckte prächtig! Sie genossen weißes Brot
und heißen, aus Gewürzen bereiteten, mit Honig versüßten Wein. Auch
für ihre Wanderschaft kauften sie ein. Neugestärkt erfragten sie den
nächsten Weg nach Rom. Zuerst sollten sie die Via Severiana gehen,
welche längs der Küste hinführte und sodann die Straße nach Ardea
einschlagen. Tullus wollte, ehe sie Antium verließen, die Tempel
der höchsten Götter besuchen; aber Acca bat ihn inständig, sogleich
aufzubrechen, damit sie bald nach Rom und zu Vater Atinas gelangten.
Der Gefährtin zuliebe zügelte der Jüngling sein ungestümes Verlangen;
doch waren sie bereits müde vom Schauen und Staunen, als sie sich noch
in den Straßen Antiums befanden.

Schon seit Stunden wanderten sie und immer noch schienen sie aus der
Stadt nicht herauszukommen; denn immer noch schritten sie zwischen
herrlichen Bauwerken dahin und hatten Mühe, den Wagen und Fußgängern
auszuweichen. Aber als Tullus sich erkundigte, ob Antium noch nicht
bald ein Ende nehme, hörten sie, daß sie die Stadt bereits gute fünf
Miglien hinter sich hatten.

Sie sprachen unterwegs nicht viel. Von Zeit zu Zeit fragte Tullus seine
Gefährtin mit leiser Stimme: »Bist du glücklich?«

Diese erwiderte jedesmal ebenso leise: »Ich bin glücklich.«

Ihre Hände hielten sie fest ineinandergeschlossen.

Tullus kam vor Aufregung nicht dazu, seine Müdigkeit zu fühlen;
er drängte vorwärts und vorwärts. Plötzlich wankte Acca und wäre
hingesunken, hätte Tullus sie nicht schnell mit beiden Armen umfaßt und
gehalten. Er führte sie vom Wege ab, in einen Pinienwald, wo sie sich
rasch erholte und nun gleich weiter wollte. Besorgt spähte Tullus in
ihr bleiches Gesichtchen; doch sie plauderte und scherzte, so daß er
sich überreden ließ, sie fühle sich ganz kräftig und wohl. Bis Ardea,
der uralten, einst mächtigen Stadt des Rutulerfürsten Turnus, setzten
sie ihre Wanderung fort; dann bat Tullus einen Landmann, der in seinem
Karten nach Rom fuhr, sie beide mitzunehmen. Ja, wenn sie ihn bezahlen
könnten, meinte der Mann. Er ließ sie erst aufsteigen, nachdem Tullus
ihm das Geld, fast den ganzen Rest seiner Barschaft, eingehändigt hatte.

Jetzt ward es herrlich. Der Bauer bereitete aus seinem Mantel einen
bequemen Sitz für Acca, von dem sie über die niedrige Brüstung des
Karrens nach beiden Seiten hin frei ausschauen konnte; Tullus stand
neben ihr, ließ sich von dem Wagenlenker alles zeigen und nennen, so
viel der Mann wußte, und berichtete das Erfahrene der Freundin. Jener
langgestreckte, ganz mit Landhäusern bedeckte Bergrücken war Tusculum,
die Stadt des Sohnes des Odysseus, welchen die goldige Zauberin
Kirke dem Helden geboren hatte. Weiterhin, unterhalb des Tempels des
Jupiters auf dem Gipfel des Albanus, dunkelte der Hain der Ferentina,
dieser herrliche, hochheilige Wald, in dem vorzeiten die Städte des
lateinischen Bundes an der Quelle der Göttin zum großen Völkerrate
sich zusammenfanden und die höchsten Feste des Landes begingen.
Dort drüben der Ort, an welchem, hoch über dem blauenden See, einst
Albalonga gelegen, die Wiege Roms, das seine Mutterstadt dem Erdboden
gleichgemacht hatte. Seht! Das Landhaus des Helden Pompejus leuchtet
herüber, nicht als Palast erscheinend, sondern als eine Stadt von
Palästen. Dann Ariccia, an der Stelle erbaut, wo des Theseus Sohn,
der herrliche Hippolyt, von Rossen zu Tode geschleift ward. Jetzt
die Waldung, die den strahlenden Spiegel Dianas umschattet, in deren
Heiligtum der von den Furien verfolgte Orest das auf Tauris geraubte
Götterbild barg. Tibur müßt ihr noch sehen, das hochragende, herrliche!
Von den elyseischen Höhen der Sabina glänzt es herüber. Dort die
Felsenberge des hehren Praeneste und dort — — nichts mehr! Nichts
mehr!

Der Bauer erzählte: »Der Cäsar ist jetzt in Rom. Das ist einer! Ein
Gott ist's: Gott Nero. Solch ein Gott! Nun, was geht's mich an? Ich
habe meine Hütte, mein Feld, mein Weib und meine Kinder in Laurentum
drüben. Warum soll der Kaiser kein Gott sein? Der Caligula war auch
einer und das Pferd des Caligula war auch einer; und ein Gott könnte
des Nero Hund und des Nero Pfau und des Nero Katze sein. Warum nicht?
Gott Nero behüte uns! Ich sage: das ist einer! So einer, wie der, der
bringt Geld unter die Leute. Sein neues Haus geht vom Palatin über
den Quirinal und den Viminal. Warum soll's nicht? Wenn so ein Gott
ein neues Haus haben will, baut er sich's eben. Es heißt: sogar die
Straßen in dem römischen Haus wären mit Gold und Perlen gepflastert.
Was geht's mich an? Wenn dabei nur Geld unter die Leute kommt. Es lebe
Gott Nero! Habt ihr schon gehört: sie wissen jetzt, wer damals die
Stadt angesteckt hat.«

»Wer war's?«

»Die Nazarener.«

»Jupiter vernichte sie!«

»Nun ja; sie sollen nichts auf die alten Götter geben, sie sollen einen
neuen Gott gefunden haben. Was geht's mich an? Wenn der Cäsar stirbt,
bekommen wir wieder einen neuen Gott. Ein neuer Gott bringt Geld unter
die Leute; die Nazarener sind arme Schlucker. Das mag ein rechter Gott
sein, den die haben! Nun, was geht's mich an? Ich habe mein Feld, meine
Hütte, mein Weib und meine Kinder in Laurentum drüben. — Da ist die
Stadt.«

»Acca, da ist Rom! Acca! Acca!«

Sie stand auf, hielt sich an ihm fest und schaute mit ihm hinüber —
ein Häusermeer, unabsehbar, unendlich. Auf den Tempeln und Palästen,
welche die Hügel krönten, lag die Glut der Abendsonne. Es leuchtete
und lohte, als ob Rom zum zweitenmal in Flammen stünde, als ob goldige
Strahlen über die Stadt hinfluteten. Dort ragte der Kaiserpalast, ein
Olymp! Jenseits des Stroms, auf dem Janiculus, die Kaisergärten, ein
Elysium! Ein zarter schimmernder Dunst schwebte über der ungeheuren
Stadt, als würde auf tausend Altären tausend Gottheiten geopfert.

Die beiden schauten und wußten nicht, wie ihnen geschah. Sie glaubten
zu träumen. Die Stimme ihres Wagenlenkers rief sie wieder ins Leben
zurück.

»He, ihr! Was wollt ihr eigentlich in der Stadt? Zwei solche Vögelchen!«

Tullus fand auf diese Frage nicht gleich eine Antwort. Der Bauer
murmelte verdrießlich: »Nun, was geht's mich an? Ich meine nur. Nehmt
euch vor der Stadt in acht! Das meine ich, obgleich es mich nichts
angeht. Ihr seid ein hübsches Paar. Noch blutjung! Hättet auch noch ein
Jährchen warten können, ehe ihr Mann und Frau wurdet. Juno, die reinen
Kinder! Seht nur zu, daß ihr bald zu einem Stücklein Feld kommt,
mit einer Hütte darauf und Kindern darin. Das ist das beste. Und je
entfernter von der Stadt, um so besser; recht weit fort von der Stadt,
das ist am allerbesten. — Nun, was geht's mich an? Hier ist das Haus
meines Herrn, hier müßt ihr absteigen. Die Götter seien mit euch: die
alten und die neuen; man muß es mit allen halten.«

Der Karren hielt; die beiden stiegen ab, schweigend, ohne ihrem
freundlichen Lenker ein Wort des Dankes und des Lebewohls zu sagen. Sie
gingen fort, immer noch stumm, mit gesenkten Augen und sich nicht mehr
bei der Hand haltend.

Sie wußten selbst nicht, wie es gekommen war: auf einmal merkten sie,
daß sie von der Landstraße abgewichen und sich auf einem einsamen, mit
Gras und Blumen überwachsenen Wege befanden. Zwischen silbergrauem,
gelbblütigem Fenchel und dunklem Akanthus wucherten üppige Asphodelen
und die blassen, schönen Blumen der Aronswurzel; den Eppichüberhang
der Hecken durchrankte buntes Kaprifolium; Schlehen und Goldregen
blühten. Die stumme Acca pflückte den Mantel voller Blumen, daß sie
mit ihrem lichten Haar und den strahlenden Augen der Tochter des Ceres
glich, welche Blüten spendend über die Flur wandelt. Kein Auge ließ
Tullus von der schlanken, ihm vorausschreitenden Gestalt, die ihm
plötzlich wundersam verändert deuchte. Zum erstenmal gewahrte er ihren
schwebenden Gang, gewahrte, mit welcher Anmut sie das Köpfchen trug
und die Arme bewegte, wie strahlend ihr Blick, wie lieblich ihr junger
Mund. Aber zugleich erschien ihm die Gefährtin geweiht und heilig, ein
göttliches Wesen, das keine irdische Hand berühren durfte. Wenn ihr
Gewand ihn streifte, überliefen Schauer den Jüngling.

Auch er fühlte sich wie durch Zauber ein anderer geworden. Ein
wütender Schmerz bebte in ihm auf, eine unsägliche Wonne; ihm war's,
als zersprengte es seine Brust, als müßte er ersticken; er dachte
nicht daran, daß er in Rom war, sondern, daß er bei Acca weilte; er
sehnte sich nicht mehr nach Heldentaten; sein einziges Verlangen war,
immerfort bei Acca sein zu dürfen, an ihrer Seite, so wie heute in die
Helle des Sonnenuntergangs hineinzuwallen, weiter und weiter.

Über ihnen war der Himmel Glanz und Glorie; durch die Blütenmauern
schritten sie hinein in die flammende Abendröte.

Es begann zu dämmern. Schleier woben sich um den Glanz, verhüllten die
himmlischen Flammen, erstickten sie. Schatten stiegen auf; sie wuchsen
und wuchsen. Aber schon schimmerten die Sterne. Es war wie in einem
Mysterium.

Die Nacht brach an, eine Frühlingsnacht voll balsamischen Wohlgeruches,
voll Sternenglanz und geheimnisvoller Stimmen.

Sie gelangten auf eine weite Wiese, weiß von Narzissen. Ein Bach
durchfloß die Flur, die Ufer waren mit einem Kranz heller Lilien
besäumt. Nirgends war ein Haus, nirgends ein Mensch zu sehen. Inmitten
der lichten Weite ruhte ein großer, schwarzer Schatten, gleich einer
dunklen Insel in diesem Blumenmeer. Eine breite Spur von zerknickten
Stengeln, zertretenen Blüten hinter sich lassend, schritten sie darauf
zu.

Über Rom schwebte ein fahler Schein; einem düstern Gewölke ähnlich
lagerte das ferne Gebirg über dem Lande.

»Wohin gehen wir?«

»Wohin die Götter uns führen. Fürchtest du dich?«

»Nein, nein.«

»Morgen sind wir in Rom, morgen finden wir meinen Vater, Acca —«

Was mochte es sein, das der nächste Tag bringen würde? Es war Tullus,
als müßte etwas Großes, Ungeheures geschehen, etwas, danach sie beide
nicht länger würden leben können. Doch was es auch sein mochte, es
wurde ihnen von den Göttern gesendet.

Der mächtige Schatten erwies sich als eine Waldung hoher,
dichtbelaubter Steineichen; am Rande des Haines stehend, schauten sie
vor sich in eine weitklaffende Höhle. Tullus sagte: »Bleibe hier! Ich
will hinein und sehen, was drinnen ist.«

Aber Acca faßte seinen Arm und drängte sich an ihn. So schritten sie
denn zusammen in das Dunkel.

Als ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, fanden sie, daß
der Hain voller Grotten und Höhlen war, die tief in das Innere der Erde
hinab zu führen schienen. Tullus wollte an der unheimlichen Stätte
nicht bleiben, aber Acca war zu sehr ermattet. So riefen sie denn die
Ewigen zu ihrem Schutze an, Acca begab sich in eine der natürlichen
Felsenhallen und Tullus lagerte sich am Eingang nieder, entschlossen,
kein Auge zuzutun und den Schlaf der Geliebten zu bewachen. Um noch
einmal ihre liebe Stimme zu hören, rief er leise in die Grotte hinein:
»Acca, bist du glücklich?«

»Glücklich,« tönte es zurück wie der zitternde Widerhall seiner eigenen
Stimme.

       *       *       *       *       *

Trotz seiner guten Vorsätze schlief Tullus bald ein. Ihm träumte:
Ein Kreuz ragte auf. An dem Kreuzesstamm hing mit eisernen Banden
festgeschmiedet, ein sterbender Mensch, von dessen Haupt heller Schein
ausging. Unter dem Kreuz stand Acca, mit einem Antlitz, darauf von den
Strahlen, die um des Sterbenden Antlitz flossen, ein heller Glanz fiel.
Acca winkte ihm, näher zu treten.

Tullus aber sprach: »Das ist ja der Gott aus Nazareth.«

Doch Acca fuhr fort zu winken und das Licht, welches sie verklärte,
wurde immer leuchtender, so daß endlich ihre ganze Gestalt erstrahlte.
Sie winkte, lockte und lächelte so lange, bis Tullus zu ihr kam und
mit ihr zusammen unter dem Kreuze stand, dessen Schein nun auch ihn
überflutete. Da hörte er Acca flüstern: »Bist du glücklich, Tullus?«

Und Tullus hörte sich antworten: »Ich bin glücklich.«

Auf einmal war ihm, als klänge der Donner einer göttlichen Stimme in
seine Ohren: »So empfanget das ewige Leben.«

Tullus erwachte; aber er glaubte, immer noch zu träumen. Von dem Platz
aus, wo er sich zur Ruhe niedergelegt hatte, sah er in das Innere der
Grotte hinein, die von dem glühenden Schein mehrerer Fackeln, welche
in eisernen Ringen an den Wänden steckten, erleuchtet wurde. Durch die
vielen natürlichen Säulen, welche die Decke stützten, erhielt der Raum
das Ansehen eines Felsensaals; der Helle der vorderen Höhle folgte
geheimnisvolle Dämmerung, hinter der die Finsternis wie eine mächtige
schwarze Woge zusammenschlug.

Gestalten füllten die Grotte: Greise und Matronen, Jungfrauen und
Jünglinge, wehrhafte Männer. Alle trugen die weiße Festtoga und auf
aller Gesichtern lag ein heller Schimmer, Abglanz eines anderen
Lichtes, als von den Fackeln ausging.

Sie befanden sich in feierlicher Versammlung beieinander, einen
hehren Greis umstehend, der soeben zu ihnen geredet haben mußte, und
es schienen alle noch andachtsvoll zu lauschen. Eine tiefe Stille
herrschte.

Wie aber ward Tullus, als er Acca erblickte, mitten unter den
Jungfrauen stehend, ohne jedes Zeichen von Angst und Befangenheit,
zutraulich, als befinde sie sich in einem Kreise von Gespielinnen! Zwei
schöne Mädchen hielten sie zärtlich umfaßt und begannen jetzt leise
zu ihr zu sprechen. Da schaute Acca herüber und gewahrte, daß Tullus
erwacht war; sie schien es den anderen mitzuteilen, denn der Jungfrauen
Blicke richteten sich auf ihn. Acca löste sich aus den Armen ihrer
neuen Freundinnen und kam auf Tullus zu.

»Wer sind diese und was wollen sie von dir?«

Acca erwiderte: »Als ich erwachte, waren sie da; sie kamen jedoch
von einer andern Seite in die Höhle als wir. Zuerst erschrak ich
heftig, fürchtete mich sehr und regte mich nicht, so daß sie meiner
nicht gewahr wurden. Da hörte ich, was sie miteinander sprachen, ganz
herrliche Dinge, so daß ich jede Angst verlor. Als dann jener schöne,
alte Mann zu reden begann, erhob ich mich und schlich zu dir, um
dich zu wecken. Aber du schliefst so fest. Da sahen mich jene guten
Jungfrauen, traten zu mir, grüßten mich freundlich und forschten,
wer wir seien und wie wir hierher gekommen. Ich sagte ihnen, du
seiest des Atinas Sohn, der nach Rom gezogen, um dem Cäsar zu helfen,
die Nazarener zu verderben, und daß ich mit dir zusammen die Insel
verlassen und wir keine andere Stätte für die Nacht gefunden hätten.
Da führten sie mich zu jenem ehrwürdigen Greise, und alle erwiesen mir
Gutes. Dann sprach der alte Mann, und sie weinten bei seinen Worten,
die groß und gewaltig klangen, wie ich niemals Worte gehört habe,
selbst nicht aus dem Munde deines Vaters.«

»Aber wer sind sie?«

»Gute Menschen. Komm!«

Tullus blickte finster auf die Versammelten; da näherten sich ihm die
Jünglinge und luden ihn ein, zu ihnen zu treten. Sie führten auch ihn
vor jenen ehrwürdigen Greis, der ihn mit milden Worten anredete und
willkommen hieß. Zu den anderen gewendet sprach er: »Rüstet das heilige
Liebesmahl. Wenn diese beiden, die der Herr uns gesendet hat, auch
nicht unseres Glaubens sind, so sind sie doch unseres Geistes; denn
sehet, wie beiden die himmlische Liebe aus den Augen leuchtet. Deshalb
mögen sie von fern an unserem Feste teilnehmen und in Frieden unter uns
weilen.«

Sogleich brachte man einen Korb herbei; darin befand sich ein Krug voll
Weins, ein Becher und ein Laib Brotes; langsam und feierlich, als wären
es heilige Dinge, wurden sie herausgenommen. Der Alte stellte sich
hinter einen altarähnlichen Stein, alle anderen ordneten sich vor ihm.
Die beiden Jünglinge aber traten zur Seite des Greises.

Dieser sprach inmitten einer großen Stille: »Zwar des Menschen Sohn
gehet hin, wie von ihm geschrieben stehet; wehe aber dem Menschen,
durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Es wäre demselben
Menschen besser, daß er nie geboren wäre.

Und indem sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach es und gab es
ihnen und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib.

Und nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle
daraus.

Und er sprach zu ihnen: das ist mein Blut des neuen Testamentes, das
für viele vergossen ist.«

Also der Greis.

Und er nahm von dem einen der Jünglinge Krug und Becher und schenkte
ein. Alle traten hinzu, einer nach dem andern, und tranken von dem
Wein. Dann nahm der Greis das Brot, brach es und die Gemeinde trat von
neuem herzu, auch das Brot zu empfangen. Nur Tullus und Acca standen
von ferne, beide von dem feierlichen und geheimnisvollen Vorgang auf
das tiefste ergriffen und sich nicht zu dem hehren Mann heranwagend.
Da blickte dieser zu den beiden hinüber, winkte sie mit einem gütigen
Lächeln zu sich und sprach: »Auch euch kann der Heiland und Erlöser
geboren werden, welcher ist Jesus Christus, der Sohn Gottes.«

Tullus schrie auf: »Acca, es sind Nazarener!«

Und er wollte sie fortreißen, wollte mit ihr voller Grausen entfliehen.

In demselben Augenblick stürzte vom Hain her ein Jüngling in die Grotte.

»Löscht die Fackeln, flieht in die Tiefe! Der Priester Atinas kommt mit
der Leibwache des Cäsars, uns gefangen zu nehmen. Rettet euch!«

Niemand zeigte Schrecken oder Furcht; alle waren vorbereitet, den
Feinden ihres Gottes in die Hände zu fallen und den Märtyrertod zu
erleiden. Ihr Bischof mußte ihnen befehlen, die Fackeln bis auf eine zu
löschen. Dann wendete er sich zu den beiden, die nicht seines Glaubens
waren: »Verlaßt uns! Es könnte der Wille des Herrn sein, daß die Heiden
uns hier finden; der Priester Atinas ist es, der nach uns sucht,
unser und des Herrn, unseres Gottes, grimmigster Feind. Weiche von
uns, Sohn des Atinas, damit dein Vater, sollte Gott uns in seine Hand
geben, nicht wähne, du seiest einer der Unseren. Denn wenn du uns auch
hassest, so möchte es deinen Vater doch kränken, daß du eine Stunde als
unser Freund bei uns weiltest. Geh, Jüngling, und nimm diese holdselige
Jungfrau mit dir. Aber das wisse: wen der Herr suchet, den findet er.
Auch deine Stunde wird kommen, ehe du es denkst. Und so ziehet hin in
Frieden!«

Nach diesen feierlichen, mit lauter Stimme gesprochenen Worten winkte
der Bischof den beiden gebieterisch, die Grotte zu verlassen. Tullus
schlich mit der weinenden Acca hinaus.

Als sie draußen am Eingang standen, im Dunkel des Haines, raunte der
Jüngling dem Mädchen zu: »Warte hier auf mich!«

»Was soll ich?«

»Ich komme gleich zurück.«

»Wo willst du hin?«

»Still!«

»Tullus!«

Aber er war schon fort.

»Tullus, was willst du tun?«

Aber auf ihre angstvolle Frage kam keine Antwort.

Sobald Tullus der finsteren Waldung entronnen war, stürmte er vorwärts.
Dann besann er sich, blieb stehen, spähte um sich; doch entdeckte er
nichts. Nun stand er und lauschte. Er hörte keinen Laut. Aber jetzt —
— es klang wie gedämpfte Stimmen, wie Geräusch von Waffen, ihm ganz
nahe. Da rief er: »Vater, Vater! Ich bin's! Dein Sohn Tullus!«

Ein erstickter Aufschrei. Aus dem Dunkel der Nacht löste sich die
Gestalt eines Mannes und stürzte auf Tullus zu.

»Ich bin es, Vater.«

»Du, fort von der Insel, du hier?!«

»Dir nach. Verzeih' mir! Acca ist auch da. Ich will dir helfen,
die Nazarener zu verderben. Wir sind diese Nacht mit ihnen
zusammengekommen.«

»Mit den Nazarenern? Wo sind sie?«

»In einer Grotte, dort beim Hain.«

»Tullus!«

»Ihr Priester ist bei ihnen. Ich führe dich. Kommt, kommt schnell!«

Die Leute von der Leibwache des Cäsars und ein Hauptmann waren zu den
beiden getreten. Tullus eilte den Männern voraus. Atemlos erreichte
er den Hain, tastete sich bis zum Eingang der Grotte. Aber hier war
keine Acca. Sie war auch nicht im Walde, welchen Tullus, den Namen der
Geliebten rufend, durchsuchte.

Atinas erschien mit dem Hauptmann und der Wache; Tullus mußte
vom Suchen ablassen und die Höhle zeigen. Plötzlich kam ihm ein
entsetzlicher Gedanke. Er stürzte seinem Vater und den Römern voraus in
die Grotte hinein. Drinnen fand er sie.

Acca stand mitten unter den Jungfrauen, bei den Christen, die Tullus
an die Römer verraten hatte. Atinas rief seinem Sohne zu: »Sie bekennt
sich als zu diesen gehörend.«

Die Nazarener, die sich ohne Widerstand gefangen nehmen ließen, wurden
herausgeführt: sie gingen festen Ganges, erhobenen Hauptes, sich
einander Trost und Mut zusprechend. Acca schritt in der Reihe der
Jungfrauen, welche liebevoll um die neue Christin besorgt waren.

In einiger Entfernung folgte Tullus. Sein Gesicht war fahl, seine
Mienen waren verzerrt; er taumelte wie ein Trunkener und ließ von Zeit
zu Zeit ein jammervolles Ächzen hören. Und von Zeit zu Zeit rief er sie
an, die er mit den anderen verraten hatte: »Acca! Acca! Acca!«

Doch Acca hörte nicht auf ihn.

Der Morgenwind wehte, die Sterne erblaßten; ein totenfarbenes Zwielicht
erhellte die Welt. Aber schon regten sich die Vögel und aus den Lüften
drang Lerchenjubel durch die Dämmerung.

Als die Römer mit ihrer menschlichen Beute durch die Porta Capena
in die Stadt zogen, war es Tag. Ein blutiger Glanz flammte über dem
Albanus und dem Heiligtum des höchsten Gottes auf; schnell griff der
Brand der Morgenröte um sich, entzündete Himmel und Erde, schien Rom
mit allen Tempeln und Göttern verzehren zu wollen.

Beim Coelius, in der Nähe des großen Zirkus, wurden die Christen in den
Kerker geführt. Acca war die letzte. Bevor der finstere Eingang sie
aufnahm, blieb sie stehen, wandte sich zurück, mit feierlicher Gebärde
Tullus winkend. Dann schlug die Tür zu hinter der lichten Gestalt.

Mit einem dumpfen Wehlaut warf sich der Zurückbleibende auf den
Boden, das Antlitz gegen die Erde pressend. Von göttlicher Sehnsucht
getrieben, war er ausgezogen, Heldentaten zu begehen, und seine erste
Tat war Verrat gewesen, ein Verrat an denjenigen, welche ihm Gutes
erwiesen, seine erste Tat war Mord gewesen, ein Mord, verübt an der
Schwester, an der Geliebten.

Jene anderen, die Verratenen, die sich erhobenen Hauptes zum Tode
führen ließen, sie, die Verabscheuten und Gehaßten — sie waren Helden!

Und der unglückliche Jüngling stöhnte auf, als wäre er ein Sterbender.

       *       *       *       *       *

Der Cäsar gab den Römern in seinem neuen Hause ein Fest.

»Endlich wohne ich wie ein Mensch,« hatte der Gott gesprochen, als
aus dem Schutt und den Trümmern des abgebrannten Roms des Kaisers
neues Haus sich erhob. Von Gold erstrahlten Wände und Decken, von
Gold funkelte der Estrich. Juwelen waren in des Kaisers Haus den
Steinen gleich geachtet, und das schlechteste Material, daraus man
es aufgeführt, bestand in dem kostbaren Marmor aller drei Weltteile.
Wo der Gott menschliche Nahrung zu sich nahm, wölbte sich über der
glanzvollen Halle ein sonniger Himmel, von dem Narden herabtauten,
der sich öffnete, um auf den Gott und seine Gäste Veilchen und Rosen
hinabrieseln zu lassen. Der Saal drehte sich um eine goldene Achse,
Gestirne kreisten und die Musik der Sphären ertönte.

Wenn Nero schwelgte, stiegen die Himmlischen selber von ihren seligen
Höhen hernieder, um die Freuden ihres Brudergottes zu teilen, die
göttlicher waren als die ihren; wo Nero wandelte, erblühten Blumen,
sangen Vögel, freuten sich Menschen und Götter; wo Nero weilte,
verwandelte sich die Welt in den Olymp, Rom ins Elysium. Nur die Römer
blieben, was sie seit den Zeiten des großen Augustus geworden waren:
ein Volk von Knechten, Speichelleckern, Kreaturen und hündischen
Kriechern.

Heute nun wollte der Gott mit seinen Geschöpfen sich auf menschliche
Weise ergötzen.

Rings um den Palast, die Tiefen zwischen vier Hügeln füllend,
erstreckten sich weite Fluren mit umfangreichen Seen, köstliche Haine,
welche die Tiere der Wildnis bewohnten. Durch dieses wundersame
Gefilde sollte heute nacht des Cäsars Weg führen, wenn er sich von
seinem Hause zum Zirkus begab. Denn hier ließ der Kaiser dem römischen
Volke olympische Spiele veranstalten, bei denen er seinen Römern als
Apollon-Helios erscheinen wollte, ein Sechsgespann weißer Rosse lenkend.

Den Weg vom Kaiserpalast bis zur Arena sollten diese Nacht Fackeln
erhellen, wie sie noch keinem Unsterblichen geleuchtet hatten.

Schon früh am Tage begannen die Vorbereitungen, zu welchen die Römer
sich drängten, denen sie voll Entzücken zuschauten. Aus den Kerkern
und Grüften des Coelius wurden die Christen herbeigetrieben: sie,
welche, den ewigen Göttern zum Hohn, Rom in Brand gesteckt hatten
— denn so wollte Gott Nero, daß es geschehen sei — sie sollten
den ewigen Göttern zum Ruhm in Flammen auflodern. In Scharen brachte
man sie herbei: Greis und Jüngling, Matrone und Jungfrau, Mann und
Kind. Das römische Volk heulte auf vor Mordgier. Und es würde diese
unersättliche, nach Blut lechzende Menge, welcher Todesschreie und
Sterberöcheln Musik war, entzückt haben, wenn ihr »göttlicher« Kaiser
seine Römer die wilden Tiere hätte sein lassen, denen man in der Arena
menschliche Leiber zum Zerreißen vorwarf. Wie die Bestien ihre Opfer
zerfleischt haben würden!

Unter dem Gebrüll und Geheul des Plebs, darunter sich »edle« Römer,
Senatoren und Ritter befanden, wurden die Christen nach dem Hause
des Kaisers geschleppt. Hier vor dem Palast, dem palatinischen Berg
gegenüber, woselbst die eherne Kolossalstatue des Gottes aufgestellt
war, angesichts des Forums, dieser hochehrwürdigen Stätte, welche die
Größe Roms geschaut hatte, nahm das Fest seinen Anfang.

Pfähle bedeckten den Platz, lagen hoch aufgeschichtet, an dem einen
Ende zugespitzt, um in die Erde gesenkt werden zu können. Nun kamen die
Christen. Ihre Wächter überlieferten sie ihren Henkern.

Diese rissen ihnen die Kleider herab, schnürten sie an die Pfähle, in
solcher Weise, daß ihr nackter Leib hoch über den Pflock hinausragte,
umwickelten sie bis zur Brust mit Werg, das mit Öl und Pech getränkt
wurde. Darauf schleppte man die menschlichen Fackeln hinweg, dahin,
wo sie in den Boden gegraben werden sollten. Zu beiden Seiten des
Weges wurden sie aufgerichtet; vor dem Palast des Kaisers und dessen
Bildsäule sollten die schönsten Flammen lodern: die Jungfrauen, die
Jünglinge, die Kinder.

Nachdem die Körper der Christen in die sonnigen Lüfte ragten, schickte
man sich an, die kaiserlichen Fackeln kaiserlich zu schmücken. Mit
sidonischer Seide und phönizischem Purpur wurden die Pfähle verziert,
um die Leiber Blumen geschlungen, daß bis zur Brust Krokus und
Tazetten, Lilien und Narzissen sie umhüllten; die Häupter erhielten
Kränze von Lotosblumen. Von Pfahl zu Pfahl, von Fackel zu Fackel
wurden mächtige Rosengewinde gezogen, die Wege mit Myrten- und
Zypressenzweigen bestreut, zu beiden Seiten der Straße Dreifüße
aufgestellt, die in herrlichen Gefäßen Spezereien und Sandelholz trugen.

An manchen Stellen wurden Triumphbögen erbaut.

Hier sollten die Senatoren und Ritter, die Flötenspieler und Sänger den
Kaiser erwarten.

Endlich war alles vorbereitet. Ein leuchtender Himmel wölbte sich
über dem Festplatz; ringsum strahlten die Paläste, die Tempel, die
Götterbilder. Frühlingslüfte wehten; in den Gärten der Kaiserpaläste
schlugen die Nachtigallen, und die Menschen freuten sich ihres Lebens
und des Sterbens der Hunderte.

Unter der Menge, welche die Straße auf- und niederwogte, befand sich
auch Tullus. Vor einer jeden der vielen lebenden Fackeln blieb er
stehen und schaute hinauf, immer von neuem in der fürchterlichen
Erwartung, unter den Blüten ein geliebtes, holdseliges Antlitz zu
erblicken. Und wenn er die fand, die er suchte, was sollte er dann
beginnen, was würde ihm dann geschehen? Bei Accas Anblick entseelt
hinsinken, bevor der liebliche Leib in Flammen aufging!

Aber Acca war nicht unter den vielen, und Tullus blieb leben.

Er gewahrte alles, was geschah; er sah die Römer in bestialischer
Wut, sah die Christen voll heldenhafter Ergebung; er hörte jene die
Götter preisen, hörte diese ihren Gott anrufen. Unter manchem Pfahl
blieb Tullus stehen und schaute hinauf; er sah das bleiche, ruhige
Antlitz der dem Tode Geweihten; er vernahm, was diese von Göttern und
Menschen Verlassenen in der letzten Stunde ihres Lebens, kurz vor einem
martervollen Tode sich sagten: Mütter ihren Söhnen und Töchtern, Gatte
der Gattin, Freund dem Freunde. Sie trösteten einander, sie sprachen
sich Mut zu; sie sagten sich große, erhabene Worte, die gleich Flammen
in des Jünglings Seele drangen.

»Unser Herr, der erleiden mußte, was wir erleiden, sprach: Vergebt
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Laßt uns diese Worte unserm
Herrn und Heiland nachsprechen.«

Das taten sie, das taten alle.

Ein Greis ermahnte: »Auch dessen gedenket in dieser Stunde: daß uns
geboten ward zu lieben, die uns hassen und verfolgen, und zu segnen,
die uns fluchen. Erfüllet den Willen des Herrn, der für uns gestorben
ist.«

Wiederum ein anderer: »Harret aus! Bald ist's überwunden.«

»Ja, bald werden wir bei unserm lieben Herrn im Paradiese sein.«

Tullus hörte diese Reden, und als er über einer der Triumphpforten,
die am Abend der siegreiche Cäsar durchschreiten sollte, in goldener
Inschrift die Worte las: »Euch, ihr ewigen Götter!« zuckte der Jüngling
zusammen und wendet sich jählings ab.

Es dämmerte. Vor dem Palast des Cäsars zog die Leibwache auf, drängte
die Menge zurück und besetzte die Straße. Die Senatoren und Ritter, die
Sänger und Flötenspieler erschienen. Im Volke ward es still, nach dem
wilden Getöse ein Todesschweigen.

Schnell nahm die Finsternis zu. Plötzlich erschallten feierliche
Stimmen. Wie aus den Lüften herab schwebten die Töne über die dunkle
Erde — der Sterbegesang der Christen.

»Hosianna! Hosianna!«

Es ward Nacht.

       *       *       *       *       *

Durch die Hallen und Säle des Palastes wälzte sich der kaiserliche Zug:
Nero, in schleppenden goldenen Gewändern, in den duftenden Locken einen
Rosenkranz, den der Gott, wenn er im Zirkus der Welt als glanzvolles
Tagesgestirn aufging, mit einer Strahlenkrone vertauschen würde. Eine
Schar von Korybanten und Bacchantinnen umschwärmte den Unsterblichen;
junge Weiber ließen aus kristallenen Gefäßen Wohlgerüche auf den Boden
rieseln, schöne Knaben spielten Zither und schlugen silberne Becken,
brachten dem auf Erden wandelnden Gott in goldenen Schalen Brandopfer
dar, so daß dichtes Gewölk den Himmlischen und sein Gefolge umwallte.

Jetzt trat Nero aus seinem strahlenden Hause in die Finsternis. Vor dem
Gott erhellte sich die Nacht — auf flammten die Fackeln!

       *       *       *       *       *

Der Zug des Cäsars ward gestört. Tumult erhob sich, ein Gedränge
entstand.

Was geschah?

Angstvoll fragte es der erblaßte Gott, für sein unsterbliches Leben
zitternd. Auch seinen Vorgänger auf dem römischen Gottesthron hatten
bei ähnlichem, festlichem Nachtgang die Dolche der Meuchelmörder
getroffen.

Senatoren und Ritter beeilten sich, den Cäsar zu beruhigen.

Nichts war geschehen! Ein Schwärmer, ein Phantast, ein Verrückter hatte
die Reihen der kaiserlichen Leibwache durchbrochen und dem Zug des
Göttlichen sich in den Weg gestellt und gerufen, auch er sei ein Christ.

»Wer ist's?«

Man lief, man forschte, man brachte dem Kaiser Bescheid: »Ein fremder
Jüngling. Er nennt sich Tullus, Sohn des Priesters Atinas.«

»Des Priesters Atinas — —«

Und es zuckte um des Göttlichen Mund.

»Was soll mit dem Nazarener geschehen?«

Und der Unsterbliche bedachte sich. Darauf gebot er: »Des Atinas Sohn
für die Bestien!«

Und Nero lächelte.

Weiter ging der Zug.

       *       *       *       *       *

Tullus war glücklich; was er begangen hatte, war keine Heldentat
gewesen — wenigstens hielt er es nicht für eine solche; aber glücklich
war er doch. Nicht Accas hatte er gedacht, auch nicht des Gottes dieser
Nazarener; er sah jene den Heldentod sterben und mochte nicht länger
leben.

Und jetzt bereitete er sich auf das Christentum vor.

Unter den Gefangenen, die für den Kampf im Zirkus aufgehoben worden,
befand sich der Bischof, jener von Tullus an die Römer verratene,
ehrwürdige Greis. Es war dieser beredte Mund, der dem jungen Heiden das
Evangelium verkündete, und da es das Evangelium der Liebe war, so ward
es von Tullus gehört. Der Jüngling erfuhr, daß Jesus Christus auch für
ihn gestorben sei, daß seine Schuld ihm vergeben werde, daß seiner die
Seligkeit harrte, das Auferstehen und das ewige Leben.

Mit Acca zusammen würde er vom Tode auferstehen, mit Acca zusammen das
ewige Leben erhalten — —

Und er würde zusammen mit ihr sterben.

Denn noch lebte Acca, für denselben Tod aufbewahrt, zu dem Tullus
verdammt war; dem es verheißen worden, sie am Tage seines Sterbens
wiederzusehen. Dann wollte der Bischof die beiden vermählen. Nun
ersehnte Tullus den Tod, wie er sich einstmals nach dem vollen Strome
des Lebens gesehnt hatte.

Der letzte Tag kam und die beiden Getrennten sahen sich wieder; mit
strahlendem Antlitz eilte Acca dem Freund entgegen; sie flüsterte ihm
zu: »Wohin ich gehe, dahin mußt du gehen, und wo ich bin, da mußt du
sein.« Darauf laut und freudig: »Wie ich dir von unserer Insel ins
Leben folgte, so begleitest du mich aus dem Leben in den Tod. Deine
Liebe ist die größere.«

Tullus preßte die Geliebte an seine Brust, mit ersticktem Jubel sie
fragend: »Bist du glücklich, Acca?«

»Glückselig in der Ewigkeit — mit dir,« lautete Accas feierliche
Erwiderung.

Dann wurden sie vermählt.

Eben sollten sie mit den anderen ihren Todesgang antreten, als
beide vor den Priester Atinas gerufen wurden. In einem besondern
Raum des Kerkers empfing dieser eifrigste Verfolger der römischen
Christengemeinde das Paar. Todblassen Gesichtes, aber erhobenen Hauptes
trat Tullus vor den Vater, seine junge Gattin an der Hand.

»Vergib mir!«

Atinas winkte ihm heftig zu schweigen. Dann reichte er seinem Sohn
einen Becher Weins, der auf dem Tische stand.

»Trinke!«

Tullus zauderte.

Mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete, gebot Atinas nochmals:
»Trinke!«

Da nahm Tullus aus seines Vaters Hand den Becher; ihm mit den Augen
dankend, trank er.

Und nach ihm trank Acca.

Den ewigen Göttern mußte das Leben der beiden Christen geopfert werden;
aber Atinas wollte barmherzig sein.

Mit verhülltem Antlitz stand er, bis es zu seinen Füßen still geworden
war: dann hob er den Mantel und schaute starren Blickes auf die beiden
Toten herab. Ihre Mienen waren still und friedlich; Acca trug auch noch
im Tod ihr holdes Lächeln, und Tullus' trotziges Gesicht hatte einen
Ausdruck tiefsten Friedens. Da mußte der Priester denken: Wenn sie
dennoch für eine heilige Sache gestorben wären? In Athen soll ein Altar
stehen, dem unbekannten Gotte geweiht; wie, wenn jener unbekannte Gott
Jesus hieße? Und wenn dieser Jesus ein wahrer Gott wäre, ein ewiger
Gott? Was wären dann die »ewigen Götter«?

Und Atinas stöhnte wie einer, der eine Todeswunde empfangen. Er wankte.
Es war, als ob er über den beiden Leichen zusammenbrechen würde; dann
aber raffte er sich mächtig auf und schritt von seinen toten Kindern
hinweg festen Ganges hinaus, um die Schar der Nazarener in die Arena zu
führen.

So war der Wille des Cäsars.

       *       *       *       *       *

Purpurfarbige Frühe lag über Himmel und Meer; Glut des aussteigenden
Tages bestrahlte ein mächtiges Gewölk, das langsam und feierlich
dahinschwebte; Morgenluft wehte, über das ewige Antlitz des Meeres
glitt es wie ein Erzittern und Schauern.

Durch die weite Einsamkeit der Wellen lenkt Atinas den Nachen, gegen
dessen Planken die Wogen rauschen und rannen. Zwei Tote schiffen dahin,
zwei Vereinigte, der Heimat zu.

_Requiescat in Pace, Tullus — Acca, requiescat in Pace!_


Ende.




Aus Philipp Reclams Universal-Bibliothek.

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    =Hebbels= sämtl. Werke. 4 Bd. =L.= M. 5.—, =Gl.= M. 12.— 2
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*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KENTAURENLIEBE. DIE TOTENINSEL ***


    

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