Sturmzeichen

By Richard Skowronnek

The Project Gutenberg EBook of Sturmzeichen, by Richard Skowronnek

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Title: Sturmzeichen

Author: Richard Skowronnek

Release Date: January 7, 2008 [EBook #24206]

Language: German


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Produced by Norbert H. Langkau, Constanze Hofmann and the
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Sturmzeichen

Ullstein-Bücher

Eine Sammlung
zeitgenössischer Romane

[Illustration]

Ullstein & Co / Berlin und Wien




Sturmzeichen

Roman von

Richard Skowronnek

[Illustration]

Ullstein & Co / Berlin und Wien

Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
vorbehalten. -- Copyright 1914 by Ullstein & Co.




In den ersten Maitagen hat die »Berliner Illustrirte Zeitung« den
Abdruck meines, im vorigen Jahre geschriebenen Romans begonnen. Als es
Hochsommer war, kam die österreichische Note an Serbien, die
Mobilmachung Rußlands und an dem denkwürdigen vorletzten Julitag die
Erklärung des Kriegszustandes für das deutsche Reichsgebiet. Seitdem hat
sich in all seiner großartigen Wucht das gewaltige Drama verwirklicht,
der europäische Krieg, dessen Nahen die »Sturmzeichen« ankündigten. Aus
der deutsch-russischen Spannung, die die Volkskämpfe am Balkan
hervorriefen, ist die Idee meines Romans geboren. Ich wußte, wie es
jenseits der russischen Grenzpfähle, in den Kosakenquartieren aussah,
ich wollte warnen und zugleich meine ostpreußischen Landsleute schildern
in ihrer gelassenen Ruhe und ihrer unbeugsamen Kraft. So ist das
Grundgefühl, das meinen Roman durchzieht, die Liebe zur Heimat. Viel
Leid hat sie in den letzten Wochen erfahren, aber nur um so herrlicher
wird sie aus Verwüstung und Not wiedererstehen.

                                             _Richard Skowronnek_

_Berlin_, im September 1914




1.


»Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem Rückzuge ...
zweitausend Tote, fünftausend Verwundete ... Das neueste, das neueste,
das allerneueste Extrablatt ...«

Gellend schrillte die laute Knabenstimme über den in vornehmer Ruhe
liegenden Königsplatz, der Portier des Großen Generalstabes verließ
seine Loge und trat durch die schwere Flügeltür auf die schon in
abendlichen Dämmer getauchte Straße hinaus.

»Kostenpunkt, Kleener?« und er griff in die Tasche.

»For Sie, Herr Jeneral, jratis! Kinder unter zehn Jahren und Militär
von' Feldwebel abwärts man bloß de Hälfte ...«

Der kecke Junge in der Uniform einer großen Berliner Zeitung zog das
oberste Blatt von dem hohen Stapel, den er im linken Arme trug, und
rannte weiter: »Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem
Rückzuge ... zweitausend Tote ... fünftausend Verwundete ...«

Der Alte in dem würdigen dunkelblauen Uniformrocke befestigte
umständlich einen schwarzen Hornkneifer vor den weitsichtigen Augen und
entfaltete das noch feuchte Zeitungsblatt.

»_Sofia_, 19. Juni. (_Telegramm unseres nach dem Kriegsschauplatze
entsandten Spezialkorrespondenten_.) Sicheren Berichten zufolge, die aus
dem Hauptquartier hierher gelangt sind, ist gestern den siegreichen
bulgarischen Waffen ein neuer Erfolg beschieden gewesen. Der Division
Radulowitsch ist es gelungen, den Feind aus seiner stark befestigten
Stellung auf den Höhen von Koprülü-Burgas zu vertreiben. Die Türken
verloren zweitausend Tote und fünftausend Verwundete, die Verluste auf
bulgarischer Seite werden als gering bezeichnet. Die geschlagene
türkische Armee befindet sich in vollem Rückzuge auf ...« Der alte Herr
unterbrach sich, rückte das Blatt ein wenig näher an die Augen ... »Wie
heißt das? I der Deuwel soll diese pollakschen Namen aussprechen!«

Eine Sprengmaschine kam die Straße entlang, drei Jungen hinterher in
hohen Stiefeln und grauen Leinenröcken führten mit eingestemmten
Schiebern das rieselnde Wasser über den feuchtglänzenden Asphalt, bis es
leise gurgelnd in den neben dem Trottoir liegenden Eisengittern
verschwand. Der Führer der Kolonne, der mit einem langgestielten Besen
der ausgiebigen Reinigung den letzten Schliff verlieh, faßte militärisch
salutierend an die Schirmmütze und trat näher.

»Jehorsamst juten Abend, Herr Feldwebel! Wat Neues?«

»I wo doch! Ejalwech dieselbe Jeschichte. Heut' haben zur Abwechslung
mal wieder de Bulgaren jesiegt. Morjen kommen de Türken und demangtieren
die Meldung. Die Blase da unten lügt doller wie die Franzosen Anno 70!«

»Sie meinen also, det alles, was in die Zeitungen geschrieben wird, is
nich wahr?«

»Na det jerade nich, 'n bißken wat wird schon dran sind. Nur sie
iebertreiben ... mächtig! Aus jeder kleenen Priegelei machen se gleich 'ne
Schlacht. Jeradeso wie mein Kollege Fielitz aus 'n Kriegsministerium. Der
is Angler. Und jeder fingerlange Plötz, den er in' Liepnitzsee fängt an'
Sonntag, is hinterher 'n Hecht. Auf 'n linken Oberarm hat er schon 'ne
dicke Hornhaut, weil er jedesmal mit de rechte Hand hinschlägt, wie lang
det der Hecht gewesen is.«

»Und meinen Se nu, Herr Feldwebel, det wir in diese balkanischen Wirren
ooch reinverwickelt werden könnten?«

Der alte Herr strich den schneeweißen Kaiser-Wilhelm-Bart auseinander
und versetzte streng: »Det is Amtsgeheimnis, mein Lieber! Darieber muß
man den Mund halten können, vastehn Se?«

Der Beamte der Straßenreinigung nahm unwillkürlich die Hacken zusammen.

»Entschuld'gen Se jietigst, Herr Feldwebel! Nur jedetmal, wenn ick hier
an't Jeneralstabsjebäude vorbeikomm' -- ick hab' nämlich hier den Rejong
um 'n Königsplatz -- ja also, da muß ick immer denken, die da drin, die
wissen't. Und wenn man vier kleene Jören zu Haus hat und 'ne kranke
Frau, da macht man sich doch Jedanken. Wer ernährt denn nu det kleene
Jewürm, wenn ick einrücken muß?«

»Na, da wird doch for jesorgt werden!«

»Kann sein, kann aber ooch nich sein! Und diese Unjewißheit is beinah'
so schlimm, wie wenn's schon wirklich Krieg wär. Sie, Herr Feldwebel,
merken das nich so, weil Se immer pünktlich Ihr Jehalt kriegen, aber
ich! Ich bin nämlich abends Logenschließer ins Joethetheater. In zweiten
Rang. Hundeleer, sag ick Ihnen! Keen Mensch hat Jeld! Wenn se sich
amüsieren wollen -- for zehn Fennje in Kientopp. Vor zwee Jahren ha'ck
noch mindestens 'n Taler einjenommen an Trinkjeld. Heute nich fufzig
Fennje! ... Und det stand neulich sehr richtig in de Zeitung: Wenn de
drückende Furcht vor'n Krieje nich von den Schultern des Volkes jenommen
wird, steuern wir rettungslos den wirtschaftlichen Unterjang entjejen!«

Der alte Herr schob zwei Finger der Rechten zwischen die Knöpfe seiner
Uniform und reckte sich.

»Janz schön, aber wie denken sich das nu die Herrschaften in der
Zeitung? Soll vielleicht Seine Majestät an de Litfaßsäulen kleben
lassen: 'Völker Europas, beruhigt Euch! Unsere heilijsten Jüter sind
nich in Jefahr, wenn diese Mauseratzenfaller da unten sich mit de Türken
'rumprügeln!'?«

Der städtische Reinigungsbeamte schüttelte den Kopf.

»Nee, Litfaßsäule wär' ja nich jerade nötig. Nur, wenn er mal wieder 'ne
Ansprache hält, bei 'n Dineh oder so ... Und wenn er bloß 'ne Ahnung
hätt, _wie_ groß de Uffrejung in' janzen Volke is! ... Man kommt aus
'n Theater nach Hause um halb zwölf ... Um fünf in der Früh muß man schon
wieder dastehen bei Kolonne, ja ... man zieht sich auf de Treppe de
Stiebeln aus, um de Olle nich uffzuwecken, aber se liejt da mit
jlockenklare Oogen! Und se schnüffelt mit de Neese, um de Tränen
runterzuschlucken: 'Jott sei Dank, det Du man wieder da bist,
Heinrich!' 'Na, wieso denn? Meenste, ick wär' unter'n Rollwagen
jeraten?' 'Nee, det nich, aber wejen Mobilmachung! De Schultzen drieben
in Jrienkramkeller hat aus 'n Abendblatt vorjelesen, wir müßten jetzt
ooch das Schwert ziehen, wenn de Russen jejen unsere Bundesbrieder, de
Oesterreicher, losjehn würden.' 'Quatsch,' sag' ick natierlich, aber
innerlich is mir jarnich so. 'Unser Friedenskaiser wird doch nich uff
eenmal Krieg anfangen?' 'Nee,' sagt sie, 'er nich, aber die andern! Und
wat mach' ick krankes Wurm denn nachher mit die vier Jören, wenn se Dir
dotschießen? Ick steck' zehn Jroschen in' Jasautomaten, laß de Kleenen
Schnaps trinken, und denn den Hahn uff.'«

Der alte Feldwebel legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Na, na, na, beruhijen Se man det Frauchen! Und mit det Dotschießen is
es nicht so ängstlich! Sehen Se mich an! Vierundsechzig, Sechsundsechzig
und Siebzig hab' ich mitjemacht, zweiunddreißig Jefechte und Schlachten.
Darunter Düppeler Schanzen und St. Privat! Wat is mir passiert? De
Dejenscheide haben se mir abgeschossen, so daß ick meinen Paddenspicker
barfuß tragen mußt'! Wat aber ihre sonstigen Beklemmungen sind, da sagen
Se ihr, Se hätten mit _mir_ jesprochen! Nach meinen Informationen --
wenn nich janz wat Dolles passiert -- is an Krieg nich zu denken! Wir
halten das scharfgeschliffene Schwert in der Scheide und unser Pulver
trocken!«

»Na denn, Jott jebe, det es nich losjeht ...«

Durch die halbgeöffnete Flügeltür kam raschen Schrittes ein junger
Offizier in Generalstabsuniform. Sein offenes, frisches Gesicht, in dem
ein paar kluge blaue Augen standen, hatte etwas ungemein Liebenswürdiges
und Sympathisches. Er hob höflich die Hand an den Mützenschirm.

»Pardon, meine Herren, wenn ich störe ... Sagen Sie mal, lieber Schmidt,
ist Herr Hauptmann von Sternheimb schon gegangen?«

Der Alte nahm die Hacken zusammen.

»Nein, Herr Hauptmann, ich hätte es sonst sehen müssen.«

»Also ich gehe langsam voran, da drüben an der Litfaßäule werde ich
warten. Guten Abend.«

»Jehorsamst guten Abend, Herr Hauptmann! Werd's ausrichten ...«

Der Beamte der Straßenreinigung sah dem davonschreitenden Offizier
wohlgefällig nach.

»'n nobler Herr! Haben Se jehört, Herr Feldwebel? 'Pardong, meine
Herren,' hat er jesagt! Aber det so wat schon Hauptmann is ... ick hatt'
jedacht, da kommt 'n janz junger Leutnant!«

»Ja,« sagte der alte Herr, und in seinem Ton klang liebevolle
Bewunderung mit, »so wat von Karriere war ooch noch nich da! Een Köppken
-- det wird mal so sicher Kommandierender General, wie zwei mal zwei
vier is! Zum Herbst is er hier fertig, dann kriegt er in der Front 'ne
Schwadron, weil er doch früher Kavallerist war, und dann kommt er nach
zwei Jahren zurück in' Jeneralstab!«

»I der Tausend! Wie heeßt er denn?«

»Jaston Baron Foucar von Kerdesac!«

»Det klingt ja so französ'sch!«

»Is et ooch! Aus 'ne alte französische Refugiehfamilje!«

Der Beamte der Straßenreinigung schüttelte bedenklich den Kopf.

»Und denn in preuß'schen Jeneralstab? Wo er an alle Jeheimnisse 'ran
kann und so?«

Der alte Herr brauste zornig auf.

»Se werden sich Unannehmlichkeiten zuziehn, vastehn Se? Und haben Sie
'ne Ahnung! Mein Hauptmann Anno Siebzig hieß Baron de Saint-Villiers!
Ooch 'n französischer Name, aber er jing druff wie Blücher!«

       *       *       *       *       *

Hauptmann von Foucar stand wartend an der Litfaßsäule, las mechanisch
die bunten Zettel, die das Vergnügungsprogramm der Reichshauptstadt
enthielten, für Leute, die Zeit hatten. Und unwillkürlich mußte er
denken, fast fünf Jahre lebte er nun schon in Berlin, mit einer einzigen
kurzen Unterbrechung, und von alledem, was sich da anpries, kannte er
herzlich wenig. Früher, auf der Akademie, war er doch noch ab und zu
einmal ins Theater gekommen, jetzt aber, seit er zum Großen Generalstabe
kommandiert war, schluckte einen der Dienst mit Haut und Haaren auf. Ein
bißchen einseitig wurde man dabei und vielleicht auch reichlich
weltfremd, aber das war nicht zu ändern.

Hinter ihm erklang das Rasseln eines Säbels, ein sporenklirrender Tritt.
Er wandte sich um, statt des erwarteten Kameraden kam sein
Abteilungschef gegangen. Ein hochgewachsener, hagerer Herr mit einem
bartlosen Gelehrtengesicht, dem ein paar scharfblickende Augen unter
buschigen Brauen einen Zug stählerner Energie verliehen.

Oberst Wegener hob zwei Finger der Rechten in die Höhe des
Mützenschirmes.

»Na, lieber Hauptmann, studieren Sie, in welches Theater Sie gehen
wollen?« Die breite Aussprache einzelner Vokale verriet den geborenen
Ostpreußen.

Gaston von Foucar erwiderte respektvoll den Gruß seines Vorgesetzten.

»Dazu dürfte es schon zu spät sein, Herr Oberst!«

»Ja, nächstens wird man sich in der alten Bude sein Bett aufschlagen
müssen. Und, passen Sie auf, es kommt noch doller. Von Montag an werden
wir -- wie nennt man es doch in den Fabriken -- ja richtig,
Nachtschichten einlegen müssen! Na, wie ist's nun? Kommen Sie mit? Wenn
ich nicht irre, haben wir denselben Weg nach dem Westen.«

»Sehr wohl, Herr Oberst.« Er nahm die Respektseite seines Chefs: »Und es
ist natürlich keine Neugierde -- meinen Herr Oberst, daß dieses erhöhte
Arbeitspensum unserer Abteilung nicht bloß eine Art von notwendiger
Vorsichtsmaßregel ist? Daß diesmal ein bestimmter Entschluß dahinter
steht?«

Oberst Wegener hob die hageren Schultern.

»Ich habe den Befehl, für drei Armeekorps, die -- entgegen dem
bisherigen Mobilmachungsplan -- nach Osten geschmissen werden sollen,
die nötigen Beförderungsmittel und Fahrpläne auszurechnen. Mehr weiß ich
auch nicht, aber aus allerhand Anzeichen schließe ich, daß es diesmal
endlich Ernst werden könnte. Es riecht _sehr_ sengerig.«

»Na, Gott sei Dank!«

»Nicht wahr? Es wäre Zeit, daß die Herrschaften da draußen einmal sehen
würden, daß unsere Armee nicht bloß 'ne Vogelscheuche ist, der die
Spatzen auf der Nase 'rumhopsen dürfen!«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, der Oberst musterte
den neben ihm schreitenden Untergebenen mit einem gewissen Wohlgefallen.

»Sagen Sie mal, lieber Foucar, Sie waren wohl nicht sehr begeistert, als
man Sie für das letzte halbe Jahr in meine Abteilung verschmetterte?«

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Herr Oberst, ich war in der Tat ein
bißchen beteppert.«

»Kann ich verstehen. Den ganzen Tag Fahrpläne schmieden, Waggons
'ranschaffen und Anschlußzeiten ausrechnen ...«

»Sehr wohl, Herr Oberst! Die erste Woche war ich auch ganz trostlos.
Wenn ich abends 'rauskam, war mein Gehirn wie Brei von dem unablässigen
Rechnen, und ich schimpfte mächtig. Dann aber ging mir der Seifensieder
auf. Ich sah mit einem Male die großzügigen Linien in unserer Arbeit,
ich empfand -- möchte ich sagen -- mit einer gewissen Ehrfurcht ihre
Wichtigkeit für den Erfolg des Schlages, zu dem der Feldherr ausholt.
Ich will mal aufs Geratewohl sagen, in Modrilewo in Ostpreußen sollen
genau zwei Tage nach der Mobilmachung drei Regimenter Infanterie, ein
Regiment Artillerie und -- meinetwegen -- die Gumbinner Ulanen stehen.
Aber sie sind nicht da. Der Offizier in der Eisenbahnabteilung des
Generalstabes hat ein paar Augenblicke lang gedöst ... in der
Berechnung der Fahrplanzeiten hat sich ihm ein Fehler eingeschlichen,
der auch bei der Revision nicht entdeckt wird. Das Verhängnis ist da!
Also da, meine ich, muß man mit Respekt auch an diese Arbeit herangehen,
in jedem Augenblick an die große Verantwortlichkeit denken, und dann
fängt sie -- merkwürdigerweise -- auf einmal an zu schmecken!«

Um die bartlosen Lippen des Chefs flog ein Lächeln, er deutete auf die
schmale Ledermappe, die sein Begleiter unter dem linken Arm trug.

»Na, und da haben Sie, genußsüchtiger Mensch, eine Portion davon über
Sonntag nach Hause genommen?«

»Nicht für mich, Herr Oberst. Ich habe zufälligerweise heute abend
Schluß machen können. Aber mein Nachbar, Oberleutnant Wentorp, mußte
morgen zu dem Begräbnis einer alten Tante nach Frankfurt an der Oder.«

Der Oberst brummte etwas vor sich hin, was wie »vielleicht auch
Verlobung mit 'ner jungen Cousine« klang, und laut fügte er hinzu: »Da
haben Sie sich die Arbeit also gutmütigerweise aufhängen lassen!«

»Was sollte ich machen, Herr Oberst? Sie muß doch nun einmal bis Montag
früh fertig sein!«

»Wenn der Herr Wentorp in der Woche sich mehr 'rangehalten hätte ... na
schön!« Und wieder nach einer kurzen Pause fragte er weiter: »Nach dem
Manöver -- wenn mit Gottes Hilfe nichts dazwischen kommt -- werden Sie
nun wieder in die Front kommandiert. Sie möchten natürlich zu ihrem
alten Regiment zurück, zu den Karlsburger Ulanen?«

»Nein, Herr Oberst, ich möchte gerne an die Grenze nach Osten. Speziell
nach Ostpreußen. Ich habe mal in der Eisenbahn einen Roman gelesen, der
dort spielte. Vielleicht mußte man von den begeisterten Schilderungen
ein wenig auf das Konto der Heimatsliebe setzen, die den Verfasser
beseelte ... aber seit der Zeit habe ich eine gewisse Sehnsucht nach
diesem Land der dunklen Wälder und blauen Seen. Nur, wo ich nicht die
geringste Protektion habe, keine Stelle weiß, an der ich eine
bescheidene Bitte vortragen könnte ...«

Der Oberst hob, ein wenig argwöhnisch, den Kopf. Wenn das ein »Schuster«
war, war es jedenfalls ein sehr geschickter ... aber nein, aus
jahrelanger Praxis besaß er ein Ohr, das für diese Sorte von
streberischen Schmeichlern besonders geschärft war.

»So, so, nach Ostpreußen! Ich kann Ihnen sagen, auch die Menschen dort
sind kein übler Schlag. Es lohnt sich, sie näher kennen zu lernen. Und
wenn Sie sich an einen gewissen Oberst Wegener wenden wollten ...«

»Ach Gott, Herr Oberst ...«

Der Chef lachte kurz auf.

»Ne, ne, man nicht so voreilig. Der Oberst Wegener ist bloß ein kleines
Kirchenlicht, aber wenn's nötig ist, kennt er gewisse Schleichwege von
hinten 'rum. Und der Kommandeur von den Ordensburger Dragonern ist ein
guter Freund von ihm, in zirka fünf Wochen will der einen seiner
Schwadronchefs absägen, _spätestens_, hat er mir geschrieben, in fünf
Wochen. Also würden Sie sehr beleidigt sein, wenn Sie ausnahmsweise
schon vor dem Manöver hier aus der Rechnerei 'rauskommen würden?«

»Ach Gott, Herr Oberst ..., und ich weiß wirklich nicht ...«

»Ne, ne, _ich_ weiß ja noch gar nicht, ob's auch einschnappen wird! Und,
was ich fragen wollte, hat der Dichter da, von dem Sie vorhin sprachen,
auch was über die ostpreußischen Mädels geschrieben?«

»Einen Hymnus, Herr Oberst!«

»Da hat er recht! Und Sie sind doch hoffentlich noch frei?«

Der Hauptmann von Foucar lachte.

»Ganz und gar! Der königliche Dienst läßt einem ja keine Zeit ...«

»Na, denn verplempern Sie sich auch nicht etwa noch in den letzten
Wochen! Und lassen Sie sich nicht beirren, wenn nachher in Ordensburg
die kleinen Margellchen 'Kartoffelkeeilchen' sagen und 'Aerbsen mit
Späck' ... Das ist nur ein kleines Sommersproßchen, tut der übrigen
Schönheit keinen Eintrag. Aber jetzt adieu ... ich sehe da ein leeres
Auto kommen, und eben fällt mir ein, meine Frau hat für heute abend ein
paar Gäste geladen.« Er grüßte rasch und ging mit langen Schritten über
den Straßendamm.

»He, Chauffeur, Uhlandstraße 51!« Und im Einsteigen rief er zurück:
»Sehen Sie, lieber Foucar, manchmal geht's auch ohne Protektion! Man muß
nur vor die rechte Schmiede kommen ...«

Gaston von Foucar winkte mit der Hand einen respektvollen Gruß, und es
stieg ihm heiß in den Augenwinkeln empor. Welch ein prächtiger Mensch,
sein sonst so verschlossener und wortkarger Chef! Die angebliche
Gesellschaft zu Hause war doch nichts weiter als ein Vorwand, sich den
Dankesbezeigungen seines Untergebenen zu entziehen! Na, das ließ sich
ja am Montag im Bureau nachholen, oder besser noch, man bewies seinen
Dank mit der Tat. Arbeitete diese letzten Wochen noch schärfer als
bisher, damit der Oberst auch sah, daß er seine Gunst keinem Unwürdigen
zugewandt hatte. Ein unbändiges Glücksgefühl schwellte seine Brust. In
fünf Wochen war er draußen, wieder in der Front! Sauste an der Spitze
einer Schwadron -- _seiner_ Schwadron -- über das Blachfeld, den blanken
Säbel in der Faust ... Wenn das Glück gut war, gleich über die Grenze,
in Feindesland ... Wahrhaftig, Zeit war es, daß das deutsche Vaterland
sich einmal darauf besann, das Schwert aus der Scheide fliegen zu lassen
und mit mächtigen Schlägen um sich zu hauen. Die Herrschaften rechts und
links bildeten sich sonst womöglich ein, es wäre eine eingerostete alte
Plempe, auch kein Stahl mehr, sondern ein mit Stanniol beklebter
Waschlappen ... eia, das sollte eine Enttäuschung geben! ... Und mitten
in aller Freude flog es ihm durch den Sinn, von welchen Zufälligkeiten
doch Menschenschicksale gelenkt wurden. Wenn er sich aus irgendeinem
Grunde ein paar Minuten länger bei der Arbeit aufgehalten hätte, wäre
die so folgenreiche Begegnung mit dem Chef doch niemals zustande
gekommen.

Also hatte er mal wieder Glück gehabt, richtiges Soldatenglück, und
eigentlich hätte es sich gehört, auf dieses fröhliche Ereignis eine gute
Flasche zu setzen. Aber schließlich, wenn er auch in das Restaurant
fuhr, in dem er sich ab und zu mit einigen Herren seiner Abteilung traf,
so nahe stand ihm keiner von ihnen, daß er hätte sagen können: »Kommen
Sie, ich muß Ihnen bei 'nem Glas Sekt erzählen, was ich eben für einen
Riesendusel entwickelt habe ...« So etwas verwahrte man am besten still
im eigenen Busen, wenn es bei dem anderen nicht sehr gut aufgehoben war
... Und dann war da auch die nun mal übernommene Arbeit, und schließlich
konnte man die gute Flasche auch für sich allein zu Hause trinken, der
kleinen alten Dame im Schwabeländle einen Gruß schicken ... Sie war doch
die einzige, die sich ehrlich freute, wenn ihr Junge wieder 'mal Glück
gehabt hatte. Die =S=-Bahn kam gefahren, bremste an der Haltestelle, er
stieg auf ... es ging über den Großen Stern nach Hause.

Auf dem Hinterperron des Anhängewagens stand ein kleiner junger Herr in
modisch geschnittenem Sommerpaletot. Er lüftete grüßend den Hut, an
seinem rechten Handgelenk blitzte ein goldenes Kettenarmband. Hauptmann
von Foucar erwiderte den Gruß, aber konnte sich nicht entsinnen, wo er
den Herrn kennen gelernt haben mochte. Der stellte sich ihm gegenüber:
»Herr Hauptmann besinnen sich wohl nicht mehr auf mich?«

»Ich muß in der Tat sagen, so im Augenblick ...«

Der kleine Herr lüftete wieder seinen Hut.

»Ich hatte vor einiger Zeit einmal im Pschorr die Ehre ... Segebrecht
von den Malchower Dragonern.«

»Ach so, jetzt natürlich ... Sie sind wohl wieder mal zum Rennen hier?«

»Ja, ich reite morgen im Grunewald den Marghilan meines
Regimentskameraden Hollenbeck. Wenn ich Herrn Hauptmann einen Tip geben
darf: da ist auf Sieg und Platz eine ganz anständige Quote zu landen.«

»Danke verbindlichst, aber ich glaube kaum, daß ich morgen Zeit finden
werde ...«

Der Kleine griff eifrig in die Tasche.

»Nun, für alle Fälle -- wenn ich mir gestatten darf -- ein
Tribünenbillett ...«

»Aber, ich bitte sehr, dafür werden Sie doch sicher eine bessere
Verwendung haben.«

»Nein, wahrhaftig nicht ... ich habe es zudem selbst geschenkt
gekriegt.«

»Nun denn, schönsten Dank« -- Gaston von Foucar schob das Billett unter
den Aermelaufschlag seines Ueberrockes -- »und Weidmannsheil für
morgen!«

Der Malchower Dragoner klappte die Hacken zusammen.

»Weidmannsdank, Herr Hauptmann! Und merken Sie sich den Namen Marghilan
im Fortuna-Jagdrennen. Es ist das vorletzte. Herr Hauptmann können
getrost ein Pfund auf meine Chance riskieren. Es gibt todsicher
zwanzigfaches Geld, denn außer mir hat niemand eine Ahnung, daß der Gaul
so grobe Klasse ist! Na und schließlich, der Steuermann, der draufsitzt,
ist doch auch kein Neuling zwischen den bunten Flaggen.«

Gaston mußte unwillkürlich lächeln. Wie siegesgewiß der kleine Dragoner
dastand ...

»Na, wenn die Sache so absolut sicher ist ... Aber wie soll ich mich nun
für den zu erwartenden Riesengewinn revanchieren?«

»Indem Herr Hauptmann mir ebenfalls einen kleinen Tip geben.« Der junge
Offizier trat ein wenig näher und sprach halblaut: »Unsereins da in der
Provinz hat doch keinen Schimmer, was wirklich passiert ... also glauben
Herr Hauptmann, daß es Krieg geben wird?« Es war dieselbe Frage, die in
diesen aufgeregten und schweren Zeiten auf aller Lippen stand.

Gaston zuckte mit den Achseln.

»Da fragen Sie mich zuviel, Herr Segebrecht. Das kann kein Mensch in
diesem Augenblick wissen.«

»Nun, ich meine, die Herren im Generalstabe können doch aus den ihnen
zugewiesenen Arbeiten immerhin einige Schlußfolgerungen ziehen.«

»Ganz recht, aber Sie überschätzen mich. Ich bin in dem Riesenbetrieb
nur ein ganz kleines Rädchen, das an dem ihm zugewiesenen Platze
mechanisch sein Pensum herunterschnurrt.«

Der kleine Dragoner machte ein etwas niedergeschlagenes Gesicht.

»Herr Hauptmann wollen bloß nicht! Und da kommt man nun übermorgen
zurück in das kleine Nest, alles bestürmt einen mit Fragen, der
Kommandeur an der Spitze: 'Na, Segebrecht, haben Sie in Berlin was Neues
gehört? Wann reiten wir nun?' Da steht man denn ganz blöd da ... Und zum
Schwindeln ist die Sache selbst doch viel zu ernst.«

»Ganz gewiß! Vor allem viel zu ernst, um mit einigen leichtfertig
hingesprochenen Redensarten allerhand Befürchtungen oder Hoffnungen zu
wecken. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Kommandeur, unbekannterweise, und
es lägen durchaus keine Anzeichen vor, aus denen man schließen könnte,
der Krieg wäre näher als sonst in all den letzten Jahren. Es wird scharf
gearbeitet natürlich.«

Der Wagen hielt auf der Corneliusbrücke, der Malchower Dragoner streckte
seinem Gegenüber respektvoll die Hand entgegen.

»Heißen Dank, Herr Hauptmann! Man weiß doch jetzt Bescheid, und es wird
meinem Kommandeur riesig imponieren, wenn ich ihm auf Grund so
autoritativer Auskunft ein Exposé über unsere auswärtige Lage
hinschmettern kann -- aus dem Handgelenk! ... Aber jetzt müssen Herr
Hauptmann mich entschuldigen, ich habe in der Nähe noch einen Besuch in
Familie zu erledigen.«

Er stieg eilig aus, und Gaston sah ihm lächelnd nach. Die »Familie«
schien in einer schlanken jungen Dame zu bestehen, die vom
Brückengeländer her mit ausgestreckter Hand auf ihn zutrat. Ein netter
kleiner Käfer war's, und er hatte recht, der Malchower Dragoner! Ein
paar weiche Mädchenlippen waren kurzweiliger als ein muffig riechendes
Aktenstück, in dem endlose Zahlenreihen umzurechnen waren. Und wer
mochte wissen, wer auf dem besseren Wege war, der ehrgeizige Arbeiter,
der sich kaum eine Pause des Verschnaufens gönnte auf dem steilen Wege
zum Ziel, oder der sorglos dahinlebende Leutnant? Kein Mädel am Wege,
dem er nicht keck den Hof machte, kein Trunk im Glase, den er
verschmähte. Wenn die Stunde schlug, hatte er wenigstens etwas genossen
vom Leben! Und die Kugel, die geflogen kam, machte keinen Unterschied.
Ob der Schädel da sich mit hochfliegenden Plänen trug, oder ob hinter
ihm leichtfertige Gedanken wohnten, Spiel, Weiber, Rennen und Jagen.

Das Blut ging ihm unruhiger als sonst durch die Adern. Als er jedoch zu
Hause war, setzte sich der Hauptmann von Foucar hinter das Aktenstück.
In ein paar Stunden glaubte er fertig zu sein, aber der Oberleutnant
Wentorp, der angeblich in Frankfurt an der Oder eine alte Tante begrub,
hatte von seiner kameradschaftlichen Gefälligkeit einen etwas
ausgiebigen Gebrauch gemacht. Das war die Arbeit von zwei Tagen, die er
ihm da aufgehalst hatte.

Sein Bursche, ein biederer Schwab von den Karlsburger Ulanen, erschien
in der Stubentür.

»Habe der Herr Hauptmann sonscht noch Befehle?«

»Ja, Häberle. Brühen Sie mir einen kräftigen Tee auf, es wird heut wohl
wieder mal eine lange Nacht geben.«

»Befehl, Herr Hauptmann.«




2.


Ueber der weiten Bahn im Grunewald schien die helle Sommersonne,
zauberte schimmernde Reflexe auf den grünen Rasen und die bunten
Toiletten, die den weiten Platz vor den Tribünen füllten. Ab und zu
brachte ein leichter Wind den würzigen Duft der hohen Kiefern herüber,
die die riesige Bahn umsäumten, überall in der Runde mit ihren dunklen,
gezackten Kronen den Ausblick schlossen.

Als Gaston von Foucar sein Billett am Eingange vorzeigte, kam von den
Tribünen her ein wirres Durcheinander von Schreien und lauten Zurufen:
»Mohnblüte macht's ... Mohnblüte ... feste, Bullock ... feste ...,« und
schließlich ein einziges, wüstes Geräusch, in dem nichts mehr zu
unterscheiden war. Jäh danach eine kurze Pause, dann wieder wie ein
übers Feld rollender Donner: »Mohnblüte ... Bullock ... Mohnblüte ...«

Er schlenderte langsam der Tribüne zu. Anscheinend hatte er den Anfang
versäumt, die ersten Rennen waren schon geritten. Im Grunde
interessierte ihn nur das vorletzte. So stumpf wurde man im täglichen
Dienst, daß man kaum noch teilnahm an den Kämpfen auf dem grünen Rasen,
die jedes Reiterherz doch höher schlagen lassen mußten. Aus der
aufgezogenen Nummer an dem hohen, weißen Gestell und aus dem Programm
ersah er, daß die Graditzerin »Mohnblüte« ein Lot von vierzehn, zum Teil
in England gezogenen Pferden geschlagen hatte. Das war ja ganz
erfreulich, gewiß, aber er sah doch mit einem leisen Kopfschütteln zu,
wie das elegante Tribünenpublikum dem in schwarz-weißem Dreß zur Wage
zurückreitenden Jockei eine Huldigung bereitete wie einem aus
siegreicher Schlacht heimkehrenden Feldherrn. Wenn die Damen aus so
unbeträchtlichem Anlaß schon mit begeisterten Schreien Blumen warfen,
Schirme schwenkten und dem blasiert lächelnden Jockei im Sattel die Hand
schüttelten, welche Steigerung gab es da noch, wenn irgend eine große
Tat zu krönen war im Dienste des Vaterlandes? Rissen sie sich da die
Kleider herunter und warfen sie die nackten Leiber vor die Rossehufe?
Ungesund war das alles, hysterische Uebertriebenheit, die sich kein Maß
zu finden wußte.

Er ging durch die Gruppen, die sich um die Erfrischungsstellen drängten,
die Kassen des Totalisators stürmten. Ueberall fieberte es von Erregung.
Die Kapelle der Gardedragoner im Musikpavillon intonierte ein
militärisches Potpourri, das mit dem alten Schlachtgesang anfing: »Ich
bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben ... die Fahne schwebt mir schwarz
und weiß voran.« Ein Teil des Publikums sang mit ... wie eine Entweihung
kam es ihm vor.

Die Hauptrennen waren gelaufen, der Himmel verfinsterte sich plötzlich,
ein leichter Sommerregen strich über die Flur. Da nahm die geputzte
Menge Reißaus. Nur die Wenigen blieben zurück, die an dem Ausgange der
letzten Ereignisse interessiert waren. Er mitten darunter -- er hatte
dem Malchower Dragoner ja versprochen, ein Goldstück auf -- wie hieß der
Gaul doch gleich? -- ja, richtig, auf Marghilan zu setzen.

Das Pfund ging verloren, der hochbeinige Schinder zeigte schon am Start
das Gelüst, seitwärts auszubrechen. Vor dem Wassergraben streikte er,
war weder mit Peitsche noch Sporn hinüberzubringen. Da machte sich der
Hauptmann von Foucar auf den Weg. Und er lächelte. Das Selbstvertrauen
des kleinen Dragoners war ein wenig größer als sein reiterisches Können
gewesen. Auf solch einen Riesengaul gehörte einer, der stärker war, der
diesem Verbrecher den Herrn und Meister zeigte, mit Faust und
Schenkeln. An den Tribünen ging er vorbei, über den zweiten und dritten
Platz, wo Gentlemen ohne Hemdkragen, laut streitend, den Gewinn der
Wettgenossenschaft verrechneten. Die Treppe hinauf zu dem Restaurant.
Laute Musik -- in dem weiten, von einen Glasdache überdeckten Raume kein
Platz mehr frei.

An einem langen, dichtbesetzten Tische in der Nähe des Einganges reckte
sich ein blauer Aermel in die Höhe, besetzt von Silberlitzen. Ein
Landsberger Husar, der mit ihm zusammen die Akademie besucht hatte.
Leider mit mangelhaftem Erfolge, nicht mal zur höheren Adjutantur hatte
es gereicht. Er diente in der Front weiter als ein mißvergnügter alter
Oberleutnant.

»Holla, Foucar, suchen Sie jemanden?«

»Nur einen Platz, um ein Kotelett zu essen! Ich komme fast um vor
Hunger.«

»Na, denn hierher, ran! Wenn wir ein bißchen zusammenrücken, geht's
schon!«

Er zwängte sich durch die engen Stuhlreihen. Der Landsberger Husar sagte
laut mit einer vorstellenden Handbewegung: »Herr Hauptmann Baron von
Foucar vom Großen Generalstab ... Frau Rheinthaler -- noch vor kurzem
eine unserer gefeiertsten Bühnenkünstlerinnen -- Herr Rheinthaler. Die
anderen Herrschaften mögen sich gefälligst selbst ...«

Die in der Nähe sitzenden Herren murmelten mit leichter Verneigung einen
Namen, die übrige Gesellschaft nahm kaum Notiz von dem neuen
Tischgenossen. Ein Kellner brachte einen Stuhl herbei, Hauptmann von
Foucar schob sich neben den Landsberger Husar. Ihm gegenüber saß Frau
Rheinthaler, eine junge Dame von etwa sechs- oder siebenundzwanzig
Jahren in einem raffiniert einfachen hellen Kleide, das alle Vorzüge
ihrer ein wenig üppigen Figur zur Geltung brachte. Aus einem schmalen,
mit Venetianerspitzen besetzten Ausschnitte hob sich ein prachtvoller
Hals, darüber ein klassisch schönes Gesicht ... große, dunkle Augen,
deren Iris leicht bläulich schimmerte, eine gerade, feine Nase mit
beweglichen Flügeln und unter einer wahren Flut dunkelblonden Haares ein
paar rosige kleine Ohren. Alles ein wenig zurechtgemacht. Unter den
großen Augen ein leichter Strich, die Lippen und Ohrläppchen ein bißchen
zu rot, aber das Ganze von frappierender Wirkung. Eins jener Gesichter,
nach denen man sich unwillkürlich umsah, wenn man ihnen in der Menge der
gleichgültigen begegnete.

Frau Rheinthaler hob in komischem Zorn die Hummergabel gegen den
Landsberger Husar: »Sie Bösewicht! Müssen Sie denn immer gleich
verraten, daß ich früher einmal beim Theater war?« Der neben ihr
sitzende Gatte, ein hagerer Herr mit starker Hakennase und eingefallener
Brust, führte hüstelnd die knochige Hand zum Munde: »Sei friedlich,
liebe Josepha, in fünf Minuten hättest Du es dem Herrn Hauptmann da
drüben ganz von selbst erzählt.« Und zu Herrn von Foucar gewendet,
fragte er: »Sind Sie Theaterhabitué? Nicht ... na, dann muß ich noch
einmal vorstellen ...« Er wies leicht auf die Gattin: »Pepi Hohenthal,
vor einigen Jahren die entzückendste Dame =de chez Maxim=, die es je
gegeben hat. Als ich ihr mit Selbstmord drohte, wenn sie ihre
himmlischen Fußgelenke noch fernerhin jedem Laffen zur Bewunderung
preisgäbe, der vier Mark fünfzig Entree bezahlte, hatte sie Mitleid und
heiratete mich. Ihr Interesse am Theater beschränkt sich jetzt nur noch
auf einige Gastspiele in der Proszeniumsloge bei den Premieren. Da
wartet sie, bis die frühere Kollegin auftritt, sich nach dem Herzen
greift und vor Aerger gelb und grün wird.« Er hob sein Glas mit
eisgekühlter Erdbeerbowle und trank der Gattin lächelnd zu.

Die Umsitzenden brachen in Lachen aus, Herrn von Foucar wurde es ein
wenig unbehaglich zumute, an eine solche Unterhaltung war er nicht
gewöhnt. Sein Nachbar aber stieß ihn unter dem Tisch mit dem Fuß an und
raunte ihm zu: »Bloß keine verwunderten Augen machen, sind in ihrer Art
ganz famose Leutchen und führen das gastfreieste Haus im ganzen Westen
...« Er nickte dazu. Was ging es ihn an? Heute hatte er diese Menschen
kennen gelernt, morgen sah er sie nicht mehr.

Die Unterhaltung am Tische wurde allgemein, man erörterte die Ereignisse
des Renntages, und Gaston von Foucar erfuhr, daß Herr Rheinthaler dem
Sport nicht nur als Zuschauer huldigte, sondern Besitzer eines namhaften
Stalles war. Zwei seiner Pferde hatten an der Hauptkonkurrenz des Tages
teilgenommen, das eine als Schrittmacher, das andere als erklärter
Sieger, beide aber hätten durch die Schuld der Jockeis unter den
Unplacierten geendet. Der Landsberger Husar erklärte seinem Gegenüber
eifrig, welche Fehler zu dem Verluste des Rennens geführt hätten, Frau
Rheinthaler schob ihren Teller zur Seite und legte die schönen Arme auf
den Tisch.

»Sie sind wohl fremd in Berlin, Herr Hauptmann?«

Gaston verneigte sich leicht. »Wie man's nehmen will, gnädige Frau. Ich
bin schon einige Jahre hier. Zuerst auf Akademie, jetzt im Generalstab.
Aber ich habe mich nicht viel um Anschluß bemüht. Ich hatte nämlich
immer reichlich zu arbeiten.«

»Interessieren Sie sich für den Sport?«

»Natürlich! Jeder Kavallerist muß sich dafür interessieren. Die
Hindernisrennen sind gewissermaßen die letzte hohe Schule für unsere
Reiteroffiziere. Aus den auf dem grünen Rasen gewonnenen
Erfahrungen ...«

Frau Rheinthaler schnitt ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung die
Rede ab.

»Ah was! Wegen der Wetten reiten doch bloß die meisten von Ihnen, und
nachher wird gespielt. Manchmal, wenn ich schon wieder aufsteh', sitzen
sie noch mit meinem Mann zusammen im Herrenzimmer. Schrecklich -- er
ruiniert sich dabei. Nicht mit dem Geld. Da kann er verspielen, so viel
er will, aber mit der Gesundheit hält er's nicht aus. Er hat einen
schlimmen Herzfehler, und seine Lungen sind angegriffen. Der Doktor
meint, jeden Tag könnt's eine Katastrophe geben, wenn er's so weiter
treibt, er aber lacht bloß dazu. Er allein müßt doch am besten wissen,
was ihm gut wär ... Und wenn er mal zusammengeklappt ist, eine halbe
Wochen zu Bett liegen muß, geht's hinterher um so ärger los. Auf alle
Rennplätze schleppt er mich, nicht nur in Deutschland, und die Nächte
sitzt er mit den Karten in der Hand. Ich aber ... für mich ist das alles
entsetzlich. Bei den Rennen langweil ich mich zum Sterben, versteh
partout nicht, wie man sich drum aufregen kann, ob eins von die Rösser
schneller lauft als das andere.«

Frau Josepha machte eine kleine Pause, tippte ihren Gatten auf den Arm:
»Du Fritzerl, bitt schön, a Zigaretten.«

Herr Rheinthaler hielt ihr die Dose hin, ohne sich umzusehen oder sein
Gespräch mit dem Landsberger Husaren zu unterbrechen. Gaston von Foucar
aber fragte sich verwundert: Weshalb erzählt mir die Frau bloß das
alles? Vor kaum einer Viertelstunde hab ich sie kennen gelernt, und sie
breitet vor mir Intimitäten aus, die man sonst doch für sich behält.

Frau Josepha hatte sich die Zigarette angesteckt und sprach weiter. Mit
einer leicht verschleierten, aber angenehm klingenden Stimme, der die
leise wienerische Färbung einen eigentümlichen Reiz verlieh. Und sie
nahm das Gespräch genau an dem Punkte wieder auf, an dem sie es
abgebrochen hatte.

»Ja, also ... stumpfsinnig kann man bei diesem Leben werden. Und man
sehnt sich nach den Zeiten zurück, wo man noch Interessen hatte. Nicht
eine blöde Rolle zweihundertmal nacheinander zu spielen, Abend für
Abend, sondern neue Aufgaben zu gestalten. Ich war nämlich nicht nur in
Berlin am Theater, sondern früher in Wien, und da spielten wir mit
wechselndem Repertoire, Ibsen, Strindberg, Shaw, und man fand doch einen
Widerhall, wenn man was geleistet hatte. Die ganze Stadt sprach von so
einer neuen Rolle. Wie ich z. B. die Hedda Gabler kreiert hatte ...«

Herr Rheinthaler wandte sich halb um, das letzte schien er gehört zu
haben.

»Entschuldige, liebe Josepha, ich möchte nur meine Zigaretten wieder
haben.« Und mit einem leicht spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Sie
können nachher zu Hause die Kritiken lesen, Herr Hauptmann. Es war
phänomenal, ganz Wien war begeistert, hingerissen, verrückt. Ein
Jüngling erschoß sich an der Theaterkasse, weil er zu der zweiten
Vorstellung keinen Platz mehr kriegen konnte, und im Gemeinderat stellte
ein Abgeordneter den Antrag, der göttlichen Darstellerin der Hedda
Gabler schon jetzt ein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in sichere
Aussicht zu stellen, natürlich gratis und franko.«

Frau Josepha blies gleichmütig einen kunstvollen Ring aus ihrer
Zigarette, hob ein wenig die vollen Schultern und machte zu ihrem
Gegenüber eine bezeichnende Geste: »Da, sehen Sie? Wenn wir uns nur
gegenseitig frozzeln können! Aber im Ernst: Ich möcht nicht, daß Sie
glauben, ich schwatz Ihnen da was vor! Wollen Sie heute abend unser Gast
sein? Es sind nur ein paar Leute da. Es gibt auch bloß eine Tasse
Kaffee, eine Zigarette und vielleicht, wenn die Stimmung danach ist, ein
bisserl Musik.«

Gaston verneigte sich leicht: »Sehr liebenswürdig, gnädige Frau, aber
ich habe zu Hause eine Arbeit liegen, die ich unbedingt bis morgen
früh ...«

Herr Rheinthaler fiel ihm ins Wort: »Keine Ausflüchte, Herr Baron! Das
Vaterland wird nicht in Gefahr geraten, wenn Sie sich zur Abwechslung
mal keine Schlachtpläne ausdenken! Und jetzt auch nicht mehr lang
gefackelt! Die Autos stehen unten. Kellner, zahlen!«

Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Herr von Foucar gedachte, sich auf
dem Wege zum Ausgange unauffällig zu entfernen. Da traf ihn ein
bittender Blick aus Frau Josephas Augen, und er ging mit.

An der Garderobe fand er Gelegenheit, den Landsberger Husar für ein paar
kurze Minuten beiseite zu nehmen.

»Sie, Wodersen, sagen Sie mal ...«

Der Kleine hob die Hand: »Weiß schon! Sie wollen mich anpöbeln, daß ich
Sie in diese Gesellschaft da verschleppt habe! Glauben Sie mir, es ist
nicht die schlechteste. Der Mann fällt einem mit seinen ein bißchen
saloppen Manieren ja auf die Nerven. Aber er macht von seinem immensen
Reichtum den denkbar vernünftigsten Gebrauch. Zwei Jahre hat er
höchstens noch zu leben -- da lebt er eben, wie's ihm Vergnügen macht.
Rennen, Jagd, Kartenspielen. Namentlich das letzte. Wenn er zehn Stunden
beim Poker gesessen hat, und sein Arzt macht ihm Vorwürfe, zuckt er mit
den Achseln. Er sollte lieber seinen Scharfsinn anstrengen, einen neuen
Spieltisch zu erfinden, für Leute, die nicht mehr viel Zeit haben. Mit
dem Mischen und Kartengeben gingen jedesmal drei kostbare Minuten
verloren.«

»Nun, und die Frau?«

»Ach, weil sie Ihnen gleich in der ersten Viertelstunde anvertraut hat,
was man sich manchmal erst nach längerer Bekanntschaft erzählt? Ich hab
mit halbem Ohr hingehört -- da brauchen Sie sich nichts drauf
einzubilden! Das ist ihr gerade so durch den Kopf geschossen, und da
mußte sie es aussprechen. Wenn sie zum Beispiel gefunden hätte, daß Ihre
Frisur Sie nicht kleidet, hätte sie's vielleicht ebenso gesagt.«

»Aber das ist doch ...«

»Ein bißchen unerzogen, wollen Sie sagen? Ich weiß nicht! Ich werd' aus
der Frau nicht klug. Manchmal glaube ich, es ist bei ihr eine Art von
Koketterie, manchmal, sie ist so unbedingt wahrheitsliebend, daß sie es
verschmäht, anders zu sprechen, als sie im Augenblick gerade denkt. In
einer Art von souveräner Unbekümmertheit wie eine Naturkraft, möchte ich
sagen, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Na, Sie werden sich ja
selbst ein Urteil bilden können, wenn Sie von jetzt an öfter in dem
Rheinthalerschen Hause verkehren.«

»Ich denke nicht daran,« sagte er lachend. Der kleine Husar aber zuckte
mit einem leichten Seufzer die Achseln.

»Ich kenne manche, die so ähnlich gesprochen haben wie Sie ... aber so
ziemlich alle bisher sind wiedergekommen.«

Ein Diener in dunkler Livree hatte Frau Josephas Hütchen in einer
Lederschachtel verwahrt, sie trat in Automantel und Kapuze auf Gaston
zu.

»Sie fahren neben mir, Herr Hauptmann! Ich steuere meinen Wagen selbst,
aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich hab' mich selbst viel zu
lieb, als daß ich eine Unvorsichtigkeit begehen könnte.« Und, als sie
nebeneinander die Treppe hinuntergingen, sah sie ihn lächelnd an.

»Na, wie war nun der Steckbrief, den Herr von Wodersen Ihnen über mich
gegeben hat?«

»=Fishing?=« fragte er zurück.

In ihrer weißen Stirn erschienen ein paar senkrechte Fältchen.

»Ich wünsche nie, Komplimente zu hören. Merken Sie sich das, bitte, wenn
wir gute Freunde werden wollen!« Und da trieb ihn eine seltsame Lust,
genau so aufrichtig zu sprechen, wie sie.

»Gnädige Frau, ich bitte gehorsamst um die Erlaubnis, sagen zu dürfen,
daß ich dazu keine Zeit haben werde. Ich habe viel zu viel zu arbeiten,
um daneben irgend welche Freundschaften pflegen zu können. Wenn ich
jetzt mit Ihnen fahre, weil ich zu höflich war, die Einladung Ihres
Herrn Gemahls abzulehnen, so kostet das mich meinen wohlverdienten
Schlaf. Die Arbeit, von der ich vorhin sprach, muß morgen früh fertig
sein.«

Frau Josepha blickte, ein wenig verwundert, auf.

»Und deswegen entschuldigen Sie sich? Herr von Wodersen hat mir schon
erzählt, wie viel Sie zu arbeiten haben, vorhin, wie Sie mir auf dem
Rennplatz auffielen ...«

»Ich? Und wodurch, wenn ich fragen darf?«

Sie errötete ein wenig.

»Das sag' ich Ihnen ein andermal! Na, und nun der Steckbrief.«

»Ja, gnädige Frau, ich weiß nicht ... also gut, ich hatte mich
gewundert, daß Sie so rückhaltlos zu mir sprachen. Ueber Dinge, die man
sonst ... na, und da versuchte Herr von Wodersen, mir das zu erklären.
Ich hätte mir darauf nichts einzubilden, weil Sie immer aussprechen
würden, was Sie gerade denken. Aus unbedingter Wahrheitsliebe oder --
ich weiß nicht recht mehr -- aus Bequemlichkeit ...«

Frau Josepha sah sinnend geradeaus.

»Ich weiß es selbst nicht. Als Kind hab' ich vielleicht zu wenig Schläg'
gekriegt. Ich war ein arg verzogener Fratz ... Aber in einem hat er
unrecht, der Herr von Wodersen nämlich: Sie dürfen sich doch was drauf
einbilden! Ich war furchtbar ärgerlich und verstimmt. Jeder andere hätte
Grobheiten zu hören gekriegt, aber bei Ihnen war mir's halt so, als
müßt' ich Ihnen erklären, weshalb ich so verstimmt war ...«

»Komisch,« mußte er unwillkürlich denken, »das eitle kleine Frauenzimmer
da bildet sich wahrhaftig ein, es wäre so etwas wie der Mittelpunkt der
Welt.«

Frau Josepha setzte sich hinter das Steuer, er nahm zu ihrer Linken
Platz, der Chauffeur drehte die Kurbel an und sprang auf den langen
Seitentritt.

»Wir haben nur ein paar Minuten zu fahren,« sagte sie, lenkte den
schweren Wagen durch eine Lücke der die breite Heerstraße
entlangziehenden Fuhrwerke in freie Bahn. »Und auf das, was Sie eben
gedacht haben, antwort' ich Ihnen zu Hause. Jetzt muß ich aufpassen ...«

Sie brach ab. Eine Droschke kam angejagt, deren Lenker anscheinend die
Gewalt über sein Rößlein verloren hatte. Haarscharf bog das Auto an den
schleudernden Rädern vorbei. Da verfiel sie zornig in ihren heimatlichen
Dialekt: »Kruzitürk'n, hätt grad no g'fehlt! A Schlamperei is das, und,
Karl,« rief sie dem Chauffeur zu, »merken S' sich die Nummer von der
Droschken! So a Kerl, dem a lahme Zieg'n durchgehn tut, muß den
Fahrschein verlieren.«

Die Villa Rheinthaler lag in einer Seitenstraße der Königsallee,
inmitten eines großen Parkes, den dichtes Buschwerk und ein hohes
Eisengitter gegen zudringlichen Einblick der Vorübergehenden
verschlossen. Schlanke Kiefern hoben sich aus weiten Rasenplätzen,
seltene Zierbäume vereinigten sich zu Gruppen, aus einem Teppich bunter
Blumenbeete sprang der mächtige Strahl einer Fontäne. Als die Autos in
die Auffahrtsrampe lenkten, eilte ein halb Dutzend Diener herbei, die
Ankommenden in Empfang zu nehmen.

»So,« sagte Frau Josepha, »jetzt entschuldigen Sie mich ein paar
Minuten. Ich bin gleich wieder da, will mich nur ein bißchen hübsch
machen. Für Sie!«

»Noch hübscher?« fragte er kecker, als es sonst in seiner ein wenig
schwerfälligen Art lag.

»Möglichst hübsch,« erwiderte sie lächelnd, »um einen Spartaner seinen
strengen Grundsätzen abwendig zu machen.«

Da folgte er ihr in das Haus, ganz unsicher, was er von alledem halten
sollte. Glaubte diese, anscheinend über die Maßen verwöhnte junge Frau
vielleicht, er wäre mit ein paar liebenswürdigen Redensarten
einzufangen? Um nachher in ihrem Hofstaat einherzutraben, wie etwa der
kleine Landsberger Husar ...

Die weite Halle füllte sich mit Gästen. In den beiden Automobilen von
dem Grunewaldrestaurant mochte etwa ein Dutzend mitgekommen sein, die
übrigen, mehr als zwanzig, hatten anscheinend schon auf die Heimkehr der
Wirte gewartet. Auf dem in der Mitte stehenden Billard war eine
Boulepartie im Gange. Die vier Spieler protestierten, teils scherzhaft,
teils im Ernst gegen die Störung. In einer Ecke bearbeitete ein Jüngling
in weißem Tennisdreß das Klavier, zwei, drei Paare tanzten Tango. Alles
schwatzte durcheinander, ein dicker Herr fuchtelte mit dem Arm in der
Luft und rief laut: »Heda, Wirtschaft! Whisky und Soda! Ich komm' fast
um vor Durst ...«

»Doller Betrieb, was?«

Gaston blickte auf, der Hausherr stand neben ihm.

Er verneigte sich höflich.

»Wohl dem, der ein so gastfreies Haus zu führen vermag.«

»Haus? Schon mehr ein Restaurant! Sehen Sie den Dicken da, der so nach
Whisky brüllt? Das ist der gewerbsmäßige Spieler Leopold David! Wenn ich
ihn ansehe, fehlen mir ungefähr dreimalhunderttausend Mark. Ich bin
seiner eisernen Ruhe nicht gewachsen, aber gerade das reizt mich ...
und, was wollte ich doch sagen? Ja richtig -- so geht das hier jeden
Sonntag zu. In der Woche weniger. Da ladet meine Frau mir nur meine
ständige Pokerpartie ein, weil ich keinen Klub besuchen kann. Hier drin
nämlich ist alles kaput« -- er schlug sich mit der Faust gegen die
Brust, ein kurzer, trockener Husten folgte danach, er sprach nur mit
Mühe weiter: »Ja, also, was spielen Sie? Gar nichts? Das ist sehr
bedauerlich! Was wollen Sie da mal als pensionierte Exzellenz machen?
Ich lebe nur, wenn ich Karten in der Hand habe. Im Sarge gedenk' ich die
'Teufelspatience' zu legen, die geht erst am Jüngsten Tag auf. Na denn,
auf Wiedersehen. Herr David winkt mir, die Partie kommt in Gang. Sie
entschuldigen mich wohl ... jeder amüsiert sich hier auf seine eigene
Fasson. Wenn Sie flirten wollen, es ist alles da! Nicht wie bei armen
Leuten ... Wenden Sie sich nur an meine Frau, die wird's Ihnen
aussuchen. Erst vorige Woche hat sie eine Verlobung gestiftet, und der
Bräutigam konnte lachen. Die einzige Tochter von Martin Neudecker ...
zwei Millionen bar auf den Tisch des Hauses, nach dem Ableben des
hochverehrten Papas und Erblassers das Vierfache. Und so was Aehnliches
läuft hier noch in mehreren Exemplaren herum, zum Beispiel die reichere,
dafür jedoch häßlichere Cousine der eben genannten, christlichen
Jungfrau und Braut -- aber jetzt entschuldigen Sie mich wohl wirklich.
Wenn Sie Durst oder Hunger haben, brauchen Sie nur zu klingeln.«

Gaston fühlte einen feuchtkalten Händedruck und stand allein. Allein in
einem Haufen von Menschen, die ihn nichts angingen, und deren Gebaren
ihm fremdartig vorkam, wie aus einer anderen Welt. Es war ja ganz
interessant, da mal hineinzublicken, aber damit auch holla ... Und jetzt
hätte er sich still entfernen können, niemand achtete auf ihn. Nur es
reizte ihn, zu erfahren, ob Frau Josepha wirklich erraten haben mochte,
was er vor dem Besteigen des Autos gedacht hatte.

Der Jüngling am Klavier intonierte plötzlich den Einzugsmarsch aus dem
»Tannhäuser«, oben auf der Treppe, die von der Halle zu einer Galerie
führte, erschien Frau Josepha. In einem Kleid aus duftigem, weißem
Stoff, das Hals und Schultern frei ließ, eine große, purpurdunkle Rose
vor der Brust. In dem hoch aufgesteckten Haar blitzte ein Diadem aus
Brillanten und Rubinen ... wie eine Königin stand sie da, ließ ihre
Blicke gleichgültig über die Menge da unten schweifen. Er sah hinauf, da
winkte sie mit dem Fächer, lachte und rief etwas hinab, was er bei der
dröhnenden Musik nicht verstand. Nur ein gewisser Stolz erfüllte ihn,
als die in der Nähe Stehenden ihn verwundert anblickten. Irgendwoher aus
der Menge kam eine fettige Stimme in unverfälschtem Dialekt: »Da schau
her, a neuches Schweinderl in Frau Circes Hofstaat! Noch schaut's aus
wie a Mensch, aber gib Obacht -- in a paar Täg wird's zu grunzen
anfangen ...«

Brüllendes Gelächter ringsum, die Zornröte stieg ihm ins Gesicht. Aber
töricht wäre es gewesen, zu zeigen, daß er sich getroffen fühlte, oder
gar den Rückzug anzutreten. Nur eins war natürlich klar: heute war er
zum ersten- und letztenmal in der Villa Rheinthaler gewesen ...

Frau Josepha kam langsam die Treppe hinab und ging durch die Menge wie
eine Fürstin, die Cercle hielt. Hie und da sprach sie eine Dame oder
einen Herrn an, endlich stand sie vor Gaston.

»Das ist nett von Ihnen, daß Sie geblieben sind. Und bin ich jetzt schön
genug, daß Sie ab und zu mal wiederkommen werden? Wenn Ihr strenger
Dienst es erlaubt?«

Er biß sich auf die Lippen und verneigte sich stumm. Wollte sie ihn
lächerlich machen vor den anderen, oder warf sie sich ihm an den Hals?

Frau Josepha wartete einen Augenblick auf die Antwort, dann sprach sie
lächelnd weiter.

»In einer Stunde wird das Auto vor der Tür stehen -- es ist nicht viel
anders, als hätten Sie ein wenig länger beim Nachtmahl gesessen.
Inzwischen gestatten Sie, daß ich Sie ein bisserl bekannt mache.« Sie
sah sich um, winkte einer jungen Dame, die von einem Kreise von
Courmachern umringt war: »Ach, liebe Magda ...«

Die junge Dame, eine Rotblondine mit mageren Schultern, blickte auf.

»Was denn, liebe Josepha?«

»Gestatte, daß ich Dir Herrn Hauptmann von ... pardon, wie war doch
gleich der Name?«

»Von Foucar ...«

»Herr Hauptmann von Foucar -- Fräulein Magda Neudecker! Sie werden viele
Berührungspunkte haben, meine Herrschaften, in der beiderseitigen
ernsten Lebensauffassung ...«

Frau Josepha neigte lächelnd den Kopf mit den schweren Flechten und dem
funkelnden Diadem und schritt zu der nächsten Gruppe. Die junge Dame
trat einen Schritt näher und kniff die kurzsichtigen Augen zusammen.

»Wie ich sehe, Herr Hauptmann, gehören Sie zum Generalstab, nach Ihrer
Uniform zu schließen. Ja, da wird gearbeitet, das weiß ich von einem
Vetter, einem Grafen Krottenburg -- er hat eine Cousine von mir
geheiratet. Wissen Sie, von der 'anderen' Linie der Neudecker ... wenn
Sie in der Berliner Gesellschaft ein bißchen Bescheid wissen, werden Sie
sich auskennen.«

»Keine Ahnung, mein gnädiges Fräulein ...«

»So, nicht? Na, mir widerstrebt es ... lassen Sie sich das von unserer
Wirtin erklären, gelegentlich ... nur so viel, mein Vetter Krottenburg
hatte eine kleine Enttäuschung zu verzeichnen infolge einer falschen
Auskunft -- es war wieder einmal eine Verwechslung passiert mit der
anderen Neudeckerschen Linie ... aber ja, was die ernsthafte
Lebensauffassung anbetrifft, da finden Sie in mir eine kongeniale
Seele.«

So sprach sie noch eine Weile lang selbstgefällig fort, ihre Zunge lief
wie das Rad eines Scherenschleifers, und Gaston fühlte ordentlich, wie
sie ihn dabei mit prüfenden Blicken betrachtete. Ob es sich wohl lohnte,
vom Standpunkt einer Millionenerbin aus, diesen neuen Bewerber, den man
ihr vorgeführt hatte, ein wenig näher kennen zu lernen.

Als er sich nach schroffer Verneigung umwandte und zum Ausgang schritt,
begegnete ihm Frau Josepha mit einem, wie ihm scheinen wollte,
spitzbübischen Lächeln in den Augenwinkeln.

»Was denn? Doch nicht etwa schon fort? Das Auto, das Sie heimbringen
soll, ist noch nicht vorgefahren. Es fehlt noch eine halbe Stunde --
genau auf neun hab' ich's befohlen. Und ich hab' Sie noch was zu
fragen.«

Sie deutete auf eine offenstehende Tür, die zu einem hell erleuchteten,
saalartigen Zimmer führte. Er neigte den Kopf und folgte. Was lag
schließlich an der halben Stunde?

In einer Ecke stand ein runder Pokertisch, von einer großen Hängelampe
bestrahlt. Die sieben Plätze waren besetzt, hinter den Stühlen standen
ein paar schweigsame Zuschauer. Ein klapperndes Geräusch von Zeit zu
Zeit, wenn die beinernen Chips in die Mittelschale flogen, die
notwendigen Erklärungen im Spiel wurden nur halblaut gegeben. Einer der
Herren wandte den Kopf, eine Hakennase stand über einem Paar flackernder
Augen.

»Na, Baronchen, amüsieren Sie sich?«

»Danke, ausgezeichnet!«

»Um so besser!« ... Ein heiseres Lachen folgte: »=Et quant à moi, ma
chérie= ... unberufen -- ein Festschießen! =Aujourd'hui j'ai une veine
comme un= ...«

Ein einziger an dem runden Tische belachte die zynische Bemerkung: der
dicke Herr David, den der Hausherr vorhin als gewerbsmäßigen Spieler
bezeichnet hatte. Die anderen blickten nicht einmal auf, griffen mit
gespannten Gesichtern nach ihren Karten. Frau Josepha aber zog die
Augenbrauen zusammen. Sie seufzte leicht auf und wies auf einen breiten
Klubsessel.

»Da bitt schön! Und wollen's was zum Trinken haben? Nicht ... na denn
...« Sie setzte sich ebenfalls, kreuzte die kleinen Füße in den
Atlasschuhen und legte die weißschimmernden Arme auf das dunkelrote
Leder der Seitenlehnen. Kein Schmuck störte die prachtvoll verlaufende
Linie bis zu dem feinen Handgelenk, nur an den schlanken Fingern
funkelten ein paar Ringe.

»Alsdann ... ich hatte versprochen, ich würd' Ihnen sagen, was Sie
gedacht haben, eh' daß wir eingestiegen sind. Sie haben gedacht: 'Hat
die Frau einen Größenwahn! Bildet sich ein, alles auf dieser Welt dreht
sich um sie.' Stimmt das?«

»So ähnlich!«

»Na, sehen Sie! Und jetzt will ich Ihnen erklären, wieso ich mir das
einbild'. Nämlich erstens denkt jede Frau so, die ein bisserl hübsch
ist, und zweitens, bei mir ist das immer so gewesen, in der Welt, die um
mich 'rum war. Schon als Kind ... Mein Vater betete mich an, jede
Ungezogenheit von mir war ein geistvolles Aperçu, und ich ... als
siebenjähriges Mädel hab ich schon drauf gespitzt, ob die Leute auf der
Gassen sich nach mir umschauten! Und später beim Theater -- wie ich
dahin gekommen bin, ist eine Geschichte für sich -- ja, Sie dürfen's
wirklich glauben, ganz Wien war in mich närrisch! Jeden Tag Blumen und
Geschenke von ganz unbekannten Menschen, und alle Wochen fast ein
Heiratsantrag. Wissen's, die Leuteln da unten sind leichter beweglich
als hier oben ... also schließlich auch ein -- na, sagen wir mal, ein
sehr ein hochstehender junger Herr. Ein Bürscherl noch, aber ein sehr
hochgeborenes. Ich lacht' ihn aus, aber er kam wieder, wollt' auf all'
seine Titel verzichten, wenn ich nur Ja sagen würd' ... Ein paar Tage
drauf teilt mir mein Direktor mit, er könnt' meinen Kontrakt nicht
verlängern. Aha, sagt' ich, und ich weiß schon, weshalb. Z'wegen höhere
Rücksichten! ... Und da wär' ich beinahe tück'sch geworden, hätt' den
Herrn Verwandten von dem hochgeborenen Bürscherl doch noch den Streich
gespielt! Aber ich besann mich, ich hatt' ein Beispiel vor Augen, auch
von so einer morganatischen Ehe ... also nach Berlin. Geheult hab' ich
... in Wien taten die Herren Rezensenten Feuilletons über mich
schreiben, hier erwischt' ich bei der fünfzigsten Aufführung ein
Notizerl von zwei Zeilen. Da kam mein Mann. Das heißt, er wurd's erst
später ... Herr Fritz Rheinthaler. Zuerst lud er mich mit einem
prachtvollen Ring aus Brillanten und Smaragden ein, ich möchte bei dem
nächsten seiner 'berühmten Herrenabende' mitwirken. Als ich ihm den Ring
zurückschickte, kam er persönlich. Ich ließ ihn nicht vor ... er kam
aber jeden Tag wieder ... drei Wochen danach hatte ich eingewilligt,
seine Frau zu werden. Eigentlich wegen einem guten Witz. Er hatte mir
nämlich geschrieben, er selbst wär' häßlich. Aber er hätte das schönste
Haus in Berlin, die schönsten Autos und Pferde, nur die schönste Frau
tät' ihm noch fehlen ... Da mußt' ich lachen ...«

Frau Josepha machte eine kleine Pause, strich sich über die Stirn und
sah nachdenklich auf ihre Fußspitzen.

»Ja, so hab' ich ihn halt genommen. Auch weil er mir ein bisserl leid
tat ... Na, und jetzt --« Sie blickte wieder auf -- »jetzt ist die Reih'
an Ihnen. Aber hübsch ausführlich, bitt' ich mir aus!«

Er schrak unwillkürlich zusammen. Zuerst hatte er aufmerksam zugehört,
dann war es wie ein sachtes Dämmern gekommen. In einem großen Garten
blühten tausend Rosen, und die allerschönste, eine tief purpurfarbene,
neigte sich ihm zu.

»Ich, gnädige Frau? Von mir ist wenig zu erzählen. Zum mindesten nichts,
was Sie interessieren könnte.«

Sie machte eine kurze Handbewegung.

»Ah ... gehn's! Wenn man so ausschaut wie Sie ... Aber Sie haben ganz
recht! Sie brauchen nicht mit Erlebnissen zu renommieren, das spürt man
als Frau. Aber nur eins möcht' ich gern wissen: wer ist denn
augenblicklich die Glückliche?«

Er errötete bis unter die Haarwurzeln, und es klang unwilliger, als er
beabsichtigt hatte: »Gnädigste Frau, ich muß gestehen, über solche Dinge
habe ich noch nie zu einer Dame ...«

»Ah was, zu mir können's sprechen wie zu einem Bub'n ...«

»Nun denn, in meiner allerersten Leutnantszeit hatte ich ein paar kurze
wilde Wochen. Die liegen hinter mir. Und ich glaube, ich hatte heute
schon einmal Gelegenheit, auszusprechen, ich hätte nicht einmal für die
Freundschaft Zeit. Geschweige denn für irgend welche leichtfertigen
Abenteuer!«

Frau Josepha lachte leise auf.

»Alsdann, wenn ich noch ein junges Mädel wär', in Sie tät ich mich
unrettbar verlieben! Aber jetzt will ich mal wieder ganz gesetzt sein:
so schrecklich viel müssen Sie arbeiten?«

»Ich muß nicht, es ist mein freier Wille. Tausende machen sich ihre
Karriere leichter.«

An dem Spieltisch wurde es ein wenig lauter, man sprach lebhaft
durcheinander. Herr Rheinthaler wandte sich auf seinem Stuhle um: »Du,
Josepha, das hättest Du eben sehen sollen! So 'was war überhaupt noch
nicht da ... drei Vierer gegeneinander, und ich kaufe zu Coeur Aß,
König, Dame, Bube die Zehn -- =royal flush=! Also, Sie dürfen mir heute
überhaupt nicht fort, Herr Hauptmann, Sie sind meine Maskotte.«

Gaston erhob sich, ein plötzlicher Widerwille war in ihm aufgestiegen.
Gegen die frivole Gesellschaft hier und die Frau, deren ganzes Gehabe
doch darauf ausging, ihn listig zu umgarnen, zu einem Spielzeug zu
machen für ihre Launen einer gewesenen Theaterprinzessin.

»Ich bedaure sehr, Herr Rheinthaler, ich habe zu Hause noch eine
dringliche Arbeit zu erledigen. Gnädige Frau, ich bitte gehorsamst um
die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.«

Er klappte die sporenbewehrten Hacken zusammen, Herr Rheinthaler winkte
mit der Hand: »Auf Wiedersehen denn.« Frau Josepha sah ihn ordentlich
erschreckt an.

»Ja, aber wieso denn? Es ist doch noch nicht neun Uhr, und ich wollt'
Sie noch so vieles fragen.«

»Ich möchte gern ein paar Schritte laufen. Die ganze Woche habe ich kaum
Zeit, am frühen Morgen meine beiden Gäule zu bewegen.«

Sie biß sich auf die Unterlippe.

»Dann will ich Sie nicht länger zurückhalten.«

Auf dem Vorflur gesellte sich der Landsberger Husar zu ihm, schnallte
ebenfalls um und setzte die Mütze auf.

»Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir ein Stück zusammen. Ich habe in
einem spontan entrierten Bac zwei Mille verloren. Das ist für den
einzigen Sohn eines kümmerlich lebenden Agrariers reichlich genug.«

»Sagen Sie mal,« -- Gaston deutete zurück -- »das Haus da ist wohl so
eine Art von Mausefalle? Wie man's in den Romanen liest: die schöne Frau
als Lockmittel, und den Gästen werden die Unkosten abgeknöpft?«

Der Kleine blieb entrüstet stehen.

»Foucar, ich glaube -- entschuldigen Sie den harten Ausdruck -- Sie sind
nicht recht bei Trost! Wissen Sie, was eine Kohlengrube ist?«

»Ich denke ...«

»Na, davon besitzt Herr Rheinthaler ungefähr ein Dutzend. Die nötigen
Hüttenwerke dazu -- sein Großvater schon war einer der reichsten Männer
von ganz Schlesien, sein Vater hat das Vermögen verdreifacht, und nun
kann _er_ sich noch so viel Mühe geben, er kriegt's nicht einmal fertig,
die Hälfte seiner Zinsen auszugeben! Und die Frau? Wissen Sie, was die
für eine Geborene ist? Eine richtige Baronin Nadanyi! Aus der
morganatischen Ehe eines Prinzen von Leuchtenfels, der in
österreichischen Diensten stand, mit einer Dame aus böhmischem Adel. Und
das sind keine Theatermärchen, ich selbst habe die Dokumente gesehen!
Wie so etwas zur Bühne kommen konnte, wollen Sie fragen? Die Mutter war
früh gestorben, sie kam mit sechzehn Jahren ins Kloster. Da brannte sie
durch. Ein schöngeistiger Pater hatte sie verrückt gemacht, weil sie
Corneillesche Verse deklamierte, daß sich's anhörte wie Musik. Ihr Herr
Papa hatte keine Autorität, war auch wohl in den Händen irgend einer
Dame, die ihn ebenfalls morganatisch zu heiraten gedachte ... kurz, sie
setzte es durch. Ein paar Jahre war sie an österreichischen
Provinzbühnen, dann kam sie nach Wien. Feierte beispiellose
Triumphe ...«

»Ich weiß,« sagte er lächelnd. »Sie hat es mir vorhin erzählt.«

»Ah nein, lieber Foucar, nicht so ironisch! Ich habe die Kritiken
gelesen. Es war fabelhaft! Hier in Berlin erlebte sie ja nachher eine
Enttäuschung.«

»Aber sie hat sich mit Herrn Rheinthaler getröstet! Erzählte sie mir
auch vorhin. Na und nun wollen wir von etwas anderem reden. Müssen Sie
noch heute nach Landsberg zurück?«

»Nein, ich hab', Gott sei Dank, drei Tage Urlaub erwischt. Aber jetzt
erlauben Sie mir eine Frage: Sind Sie wirklich so eine kaltschnäuzige
Natur, oder verstellen Sie sich bloß?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, Sie haben heute eine der schönsten lebenden Frauen kennen gelernt
... Unsinn, _die_ schönste Frau überhaupt! Sie hatten den Dusel, von ihr
ausgezeichnet zu werden, und jetzt sagen Sie gewissermaßen, na wenn
schon?«

»Ah nein, das nicht! Es hat mich sehr lebhaft interessiert, eine Sorte
von Menschen kennen zu lernen, die mir bisher fremd war. Menschen, die
den einzigen Trieb in sich haben, schrankenlos ihren Gelüsten zu folgen,
für die der Begriff Arbeit nicht zu existieren scheint, und die sich
infolgedessen viel zu viel mit dem eigenen Ich beschäftigen. Dafür hab'
ich mal in einer Zeitung ein recht nettes Wort gelesen, das darauf
anzuwenden wäre: 'Die janze Richtung paßt mir nicht!' Es ist etwas in
diesem Betrieb, da sträubt sich mein Empfinden als Offizier und Edelmann
dagegen. Es ist muffig! Treibhausatmosphäre, in die unsereins nicht
hineingehört.«

Der Kleine neben ihm stöhnte auf.

»Herrgott, was sind Sie zu beneiden! Haben Sie vielleicht eine kleine
Eismaschine in der Brust? Ich bin seit einem halben Jahr ein bißchen
verrückt. Ich muß das mal aussprechen, Sie werden es auch natürlich für
sich behalten ...«

»Aber selbstverständlich ...«

»Also die Frau ... ich glaube, ich schieß mich ihretwegen noch einmal
tot. Sie hat etwas, was mich toll macht und meine Sinne reizt, irgend
ein Fluidum, das auch ihre unerhörten Erfolge beim Theater erklärt ...
jeden Abend ausverkauft, aber nur wenige Damen im Publikum, lauter
Herren.«

»Vielleicht müßten Sie bloß ein bißchen forscher 'rangehen, lieber
Wodersen. Nur dem Kühnen blüht das Glück.«

Der Landsberger Husar stieß unwillig mit der Säbelscheide auf die
Steinfliesen des Trottoirs.

»Sprechen Sie nicht so leichtfertig, Herr von Foucar! Das heißt, pardon
... Sie kennen die Dame ja erst seit ein paar Stunden. Ich schwöre
Ihnen, sie ist ihrem Manne unverbrüchlich treu. Das weiß ich genau, denn
ich lasse sie beobachten. Lachen Sie nicht ... ich lasse sie täglich
beobachten und bekomme täglich meinen Bericht. Es würde mich wahnsinnig
machen, wenn ich verdursten sollte, während ein anderer ... na, ist gut!
Und immer laufe ich um ein Rätsel herum, wie um ein Haus, zu dem kein
Eingang zu finden ist ... weshalb hat sie nur diesen Menschen genommen?«

»Um sich glänzend zu versorgen, vielleicht?«

»Unsinn. Sie verfügt nach dem Tode ihres Vaters selbst über ein recht
beträchtliches Vermögen.«

»Nun, vielleicht aus Mitleid?«

»Auch das stimmt nicht. Wenn er seine Anfälle hat, betritt sie nicht mit
einem Fuß das Krankenzimmer.«

»Na, dann weiß ich wahrhaftig nicht. Möchte mir auch nicht den Kopf
darüber zerbrechen.«

Ein paar hundert Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann
fing der Kleine wieder an:

»Bei ihm kann ich's verstehen. Er möchte in seinen paar letzten Jahren
noch alles an Genuß an sich reißen, was auf dieser Welt zu haben ist.
Wenn damals der Riesendiamant in Südafrika verkäuflich gewesen wäre --
er hätte ihn gekauft. So macht er's mit allem, was seiner Gier
erreichbar ist.«

»Kann ich bis zu einem gewissen Grade begreifen. Aber unverständlich ist
es mir, daß er dieses mühsam errungene Juwel so schlecht behandelt. Pfui
Deuwel noch einmal! Zum Ohrfeigen! ...«

Herr von Wodersen ballte die Faust.

»Ich war schon öfter drauf und dran. Aber man darf sich doch an so einem
kläglichen Jammergestell nicht vergreifen. Und wer will sich in die
Empfindungen eines so degenerierten Menschen hineinversetzen? Eines
Menschen, der genau weiß, daß er in kurzer Frist ins Gras beißen muß?
Vielleicht ist das noch der letzte Reiz für ihn, zu besudeln, was andere
auf den Knien anbeten würden ... Na, gute Nacht! Ich sehe dort an der
Ecke ein Auto stehen. Ich fahr' nach meinem Hotel, zieh' mich um und
geh' noch irgend wohin, mich betäuben. Haben Sie Lust, mitzukommen?«

»Danke! Ich, im Gegenteil, brauche heute noch mein bißchen Grips. Aber
eins noch: Weshalb gaben Sie mir heute abend in dem Grunewaldrestaurant
eine so wesentlich andere Auskunft über diese schätzenswerte Familie
Rheinthaler?«

»Weil ... na also schön, auf die Gefahr hin, daß Sie ein bißchen
größenwahnsinnig werden -- Frau Josepha hatte mir schon auf der Rennbahn
befohlen, Sie heranzuschleifen. Sie waren ihr aufgefallen, und zwar
gleich so, daß ich es mit der Eifersucht kriegte. Da hatte ich mich
zuerst natürlich geweigert. Dann aber, als Sie in das Restaurant kamen,
hatte sie mit ihren scharfen Augen Sie sofort entdeckt, ich mußte
gehorchen. Und nachher, als Sie mich beiseite nahmen, konnte ich Ihnen
doch nicht gut raten: 'Drücken Sie sich wieder, so rasch als möglich!
Wenn Sie in kurzen vierzehn Tagen nicht ebenso ein trauriger Bonze
werden wollen wie ich --' Da hätten Sie mich doch für leicht verrückt
halten müssen! Ekelhaft ist das alles, nicht wahr? Na, gute Nacht,
Foucar, und auf Wiedersehen morgen abend oder spätestens nächsten
Sonntag.«

»Gute Nacht, Wodersen! Wenn Sie aber meinen sollten, in der Villa
Rheinthaler, fürchte ich, wird aus dem Wiedersehen nichts werden!«

»Ich lege Ihnen hundert zu eins, bis nächsten Sonntag sind Sie
dagewesen!«

»Und ich bin nicht habsüchtig genug, Sie beim Wort zu nehmen: der
Ausgang der Wette würde nur in meinem Belieben stehen. Aber da wir schon
dabei sind, ein paar von den Klappen hochzuziehen da innen, die man
sonst vor anderen geschlossen hält, ja, da möchte ich bemerken, daß ich
einige altmodische Grundsätze habe. Einer davon lautet, man soll nicht
in eine Ehe einbrechen, auch wenn sie noch so schlecht verwahrt ist!
Oder die Tür sperrangelweit offen steht.«

Der Kleine sah ihn fast feindselig an.

»Sie tun ja ganz so, als brauchten Sie nur den Finger auszustrecken,
und ...«

Er fiel ihm ins Wort: »Das ist ein Mißverständnis. Ich sprach im
Augenblick ganz allgemein ... nichts lag mir ferner, als der von Ihnen
verehrten Dame irgendwie zu nahe zu treten.«

»Dann ist's gut -- danke. Was aber unsere Wette angeht ...«

»Also, wenn Sie Ihr Geld durchaus los werden wollen: ein gutes
Sektfrühstück! Jeder von uns darf ein paar Gäste mitbringen.«

»Abgemacht! Und wir werden ja sehen, wer das Frühstück bezahlt.«

Herr von Wodersen stieg in das Auto, er rief ihm lachend nach: »Immer
derjenichte, welcher verloren hat ...« und ging langsam seiner Wohnung
zu. Sie lag in der Rankestraße, wegen der bequemen Verbindung zu seiner
täglichen Dienststelle. Er hatte reichlich Zeit, die Ereignisse des
Nachmittags noch einmal zu überdenken. Und da überkam ihn fast ein
Gefühl der Mißachtung gegen den kleinen Husaren ... Schlapp war es, sich
so widerstandslos einer -- im letzten Grunde doch verbrecherischen --
Leidenschaft hinzugeben! Da mußte man sich einfach bei den Ohren nehmen,
holla, bis hierher und nicht weiter! Und die Zeiten der Troubadoure
waren doch vorüber ... ein Ziel mußte man sich ausrichten, nach dem man
strebte, da war Minnedienst vom Uebel!

Er stieg die drei Treppen zu seiner Wohnung empor, im Vorzimmer machte
er Licht und trat vor den Spiegel. Kopfschüttelnd betrachtete er sein
Bild. Unsinn, es sah noch genau so aus wie sonst. Keine Spur eines
interessanten »Helden«, ein nüchterner preußischer Offizier, der keinen
anderen Ehrgeiz kannte, als an dem Platze, auf den man ihn gestellt
hatte, vollauf seine Pflicht zu tun ...

Er entsann sich, daß er nicht immer so gefestigt gewesen war wie heute,
ein paar Wochen in seiner frühesten Leutnantszeit gehabt hatte, wo er
beinahe unter die Räder gekommen wäre ... Wegen eines raffinierten
kleinen Frauenzimmers, das er -- im Notfall unter Einsetzung der eigenen
Existenz -- aus dem »Sumpfe« zu erretten gedachte, in den es schuldlos
geraten war. Auf der Bühne eines vorstädtischen Gartenlokals sang sie in
langem Schleppkleide sentimentale Lieder, von der letzten Rose und dem
Vergißmeinnicht am Bachesrand. Heute mußte er darüber lächeln, aber
damals war er so unsinnig verliebt gewesen, daß ihn das Herz an allen
Ecken und Enden drückte. Und als die sentimentale Sängerin, die bei dem
vorstädtischen Publikum vielen Beifall fand, ihm bei einer Flasche
sauren Mosels ihr Vertrauen schenkte, da war sein Entschluß gefaßt.
Heilige Ehrenpflicht war es, die wegen eines einzigen Fehltritts von den
grausamen Eltern Verstoßene vor dem Untergange zu bewahren, und kurz
entschlossen bot er ihr Herz und Hand. Sie begnügte sich vorläufig mit
dem größten Teile seines monatlichen Wechsels, aber Gott allein mochte
wissen, zu welchen törichten Streichen ihn seine Verliebtheit getrieben
hätte, wenn ihn nicht einer der älteren Regimentskameraden in eine Art
von Gewaltkur genommen hätte. Er lud ihn zu einem größeren »Budenfest
mit Damen«, ersuchte ihn aber, erst ein paar Stunden nach dem
offiziellen Anfange zu erscheinen. Unter den »Damen« befand sich auch
seine sentimentale Sängerin, aber sie schien sehr lustig, drehte sich
auf dem Tisch in einem unsäglich frechen Tanz, und als er sie entsetzt
anstarrte, schlug sie ihm mit der Fußspitze die Mütze vom Kopf. Da
schossen ihm die hellen Tränen in die Augen vor grimmem Weh, dann aber
stieg ihm der Ekel empor in den Hals ...

Also diese Art temporären Wahnsinns um ein Weib hatte er auch
durchgemacht am eigenen Leibe. Da war es wohl ein wenig ungerecht, sich
über den Landsberger Husaren wie ein Pharisäer zu erheben. Bei dem einen
entwickelten sich die Hemmungsgefühle, die den Menschen vor Torheiten
bewahren, früher, bei dem andern später. Und schließlich, wer wollte
sagen, was er tun oder lassen würde, wenn ihm eines Tages die
Leidenschaft wie ein Feuerbrand in die Seele schlug? ...

Er holte die Arbeit aus dem sicheren Verschlusse des Schreibtisches,
aber in den ersten Stunden wollte sie nicht recht schmecken. Ein paar
weiße Arme störten ihn ab und zu zwischen den Zahlenreihen und eine
tiefpurpurne Rose. Und manchmal beschäftigte ihn der Gedanke, was er
wohl beginnen würde, wenn das Schicksal ihm so unermeßliche Reichtümer
in den Schoß geworfen hätte wie diesem Manne, der als ein Gezeichneter
des Todes sich von Genuß zu Genuß schleppte. Da mußte er lächeln. Beim
besten Willen gelang es ihm nicht, viel mehr zu verbrauchen, als ihm
jetzt schon im Jahre zur Verfügung stand. Höchstens ein schnittiges
Juckergespann hätte er sich noch angeschafft und einen aus allerbestem
Blute stammenden englischen Hunter, der eine mannshohe Mauer wie ein
leichtes Hindernis sprang. Weiter reichten seine Wünsche nicht, und die
konnte er bei einiger Einschränkung in der kleinen Garnison da fern im
Osten auch aus eigenen Mitteln bestreiten. Vierhundert Mark im Monat
neben seinem Gehalt als Rittmeister. Damit heirateten andere und
unterhielten eine Familie. Seine Gedanken flogen der nahen Zukunft
voraus. Wie hatte der Oberst Wegener gestern gesagt? »Verplempern Sie
sich nicht, ehe Sie die kleinen ostpreußischen Mädels kennen gelernt
haben!« Na, da war nicht viel Gefahr. Das kleine Abenteuer heute war
gewissermaßen eine Probe aufs Exempel gewesen. Ein anderer hätte
vielleicht schon lichterloh gebrannt unter den Augen der schönen Frau
Rheinthaler -- er hatte sich als der standhafte Zinnsoldat erwiesen. Nur
die für den Oberleutnant Wentorp übernommene Arbeit machte bei diesen
irrlichterierenden Gedanken keine sonderlichen Fortschritte.

Der Sommermorgen blaute schon zum Fenster hinein, als er mit einem
Ausatmen die Feder aus der Hand legen durfte. Er öffnete die Flügel und
lehnte sich hinaus. Auf dem obersten Knaufe des turmartigen Aufbaues an
dem Eckhause drüben saß eine Amsel und sang in die heilige Morgenstille
ein sehnsüchtiges Liebeslied. Nur ganz von ferne kam ein leises,
rhythmisch auf- und abschwellendes Geräusch. Der Atem der noch
schlafenden Riesenstadt. Und da überfiel ihn eine seltsam schwermütige
Stimmung. Ganz einsam stand er in der weiten Welt, außer der
gebrechlichen alten Dame daheim kein Mensch, der sich um ihn sorgte.
Keinen wirklichen Freund unter den vielen Kameraden, dem man sich in
vertraulicher Stunde ganz aufschloß, der in der Not für einen eintrat,
wie für sich selbst. Vielleicht lag es daran, daß ihm die Fähigkeit
abging, eine sich entspinnende Bekanntschaft bis zur Freundschaft zu
pflegen. Immer hatte sich ihm im letzten Augenblick da innen eine Wand
emporgeschoben, über die er nicht hinauskonnte. Und wenn er jetzt in
nicht allzu langer Zeit nach dem Osten ging, riß sein Scheiden in den
Kreis, der sich ein paarmal in der Woche zu versammeln pflegte, keine
Lücke. Höchstens, daß der eine oder andere mit einer gewissen Bitterkeit
bemerkte: »Na ja, er hat's wieder einmal geschafft, der kaltnasige
Streber! Kriegt seine Schwadron außer der Tour, überspringt ein Dutzend
Vordermänner, der Schuster!«

Ein Vers flog ihm durch den Sinn, den er mal vor Jahren in einem
Gedichtbuche gelesen hatte:

    Auch keinem hat's den Schlaf vertrieben,
    Daß ich am Morgen weitergeh --
    Sie konnten's halten nach Belieben,
    Von einer aber tut's mir weh -- -- --

Das letzte stimmte nicht recht, nicht ein einziges kleines Mädel in dem
ganzen großen Berlin dachte an ihn, wenn er sich anschickte, Abschied zu
nehmen. Von gar manchen seiner unverheirateten Kameraden wußte er, daß
sie in den Vierteln im Norden eine süße kleine Verschwiegenheit hatten,
mit der sie im Räuberzivil am Sonntag irgendwohin über Land fuhren. Er
war immer nur als ein Packesel dahingetrabt, dem die anderen Arbeit
aufhalsten. Wie dieser freche Schlot von Wentorp, dem er in ein paar
Stunden wegen der angeblich verstorbenen Tante einen Sack voll
Grobheiten zu sagen gedachte. Er selbst hatte keine Zeit für törichte
Tändeleien, ging auf dem Heimweg gleichgültig gradeaus den
Kurfürstendamm hinunter, wenn er es auch zuweilen fühlte, daß ihm ein
paar blaue oder braune Mädchenaugen wohlgefällig folgten. Und noch etwas
anderes hielt ihn zurück ... ein gewisses, hochgesinntes Spartanertum.
Schlechtbehütete junge Mädchen aus gutem Hause schienen ihm die meisten,
die da mit blänkernden Augen um sich sahen. Den Frevel mochten andere
begehen ... wenn ihn das Blut trieb, folgte er einigen lustigen
Kameraden. Irgendwohin, wo nichts mehr zu verderben war ... Da war es
ganz natürlich, daß man einsam verblieb, trotzdem die schöne Frau
Rheinthaler noch vor wenigen Stunden gesagt hatte, man sähe wie einer
aus, der seine tausend Abenteuer mit diskretem Lächeln verschwiege.
Wahrscheinlich achtete sie ihn jetzt gering, weil er so ehrlich
widersprochen hatte, und wieder war eine Chance verscherzt, die andere
vielleicht skrupellos wahrgenommen hätten. Es wurde ihm heiß bei dem
Gedanken. Als ihn endlich die Müdigkeit übermannte, lag er noch eine
ganze Weile mit offenen Augen. Die aller Hemmungen bare Phantasie in dem
Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen zauberte ihm allerhand
lockende Bilder vor ...




3.


Es kamen die Wochen, die der Chef vorausgesagt hatte. Wochen, die an die
Arbeitskraft der Herren in seiner Abteilung Anforderungen stellten,
denen man nur mit erhöhter Anspannung des Pflichtbewußtseins gewachsen
war. Zu einer Maschine wurde man, die ihr Letztes herzugeben hatte. Nach
Mitternacht vom Bureau ins Bett, ein paar Stunden Schlaf und wieder ins
Bureau. Minuten für das Frühstück, eine Viertelstunde fürs Mittagessen
... ein rasendes Eilzugstempo in der Arbeit, die trotz aller Hetze bis
aufs letzte Tüpfelchen stimmen mußte, und immer dabei das
niederdrückende Gefühl, das Ganze wäre nicht viel anders als eine
spielerische Schachpartie. Die Diplomaten schoben gut und schlecht
Wetter wie ein Regisseur im Theater die hellen und dunklen Wolken auf
der Leinwand. In der letzten Woche endlich sah es wieder so aus, als
hätte die ganze Arbeit einen wirklichen Zweck gehabt. Der »politische
Horizont« verfinsterte sich, »Krieg, es gibt Krieg,« lief es durch alle
Gassen. Das große Haus am Königsplatze glich jedem Wissenden als eine
rastlos im stillen arbeitende Maschine, deren aufgespeicherte Leistung
sich in einem langhinzündenden Schlage entlud ... Da endlich ein
Aufatmen, die Arbeit war fertig, es konnte losgehen. Wie bei einer
schweren Mensur: »Herr Unparteiischer, wir von unserer Seite sind bereit
...« Der oberste Kriegsherr hatte nur das Wort zu sprechen, das ein
ganzes Volk zu den Waffen rief, und der sorgsam vorbereitete Apparat
funktionierte wie eine seit Jahren eingespielte Maschine ... Nirgends
eine Stockung ... Die Hunderte sammelten sich in den kleinen Städten und
Dörfern. Die Tausende flossen zusammen in größere Rinnsale, und
schließlich schieden sie sich in zwei gewaltige Ströme nach Westen und
Osten ...

Der Abteilungschef rief seine Untergebenen zusammen. Die Augen standen
ihm hohl unter der Stirn, denn er hatte sich mehr zugemutet als all die
übrigen.

»Ich danke Ihnen, meine Herren, ich glaube sagen zu dürfen, wir haben
unsere Schuldigkeit getan. Wir sind fertig. Seine Majestät brauchen nur
auf den Knopf zu drücken, um sich davon zu überzeugen. Na denn: Guten
Abend allerseits ...«

Kein Hurra danach, keine chauvinistische Phrase, nur man trennte sich
mit leuchtenden Augen. Es war mehr wert als ein Orden, daß der im
Dienste sonst so wortkarge Chef sich zu dieser unerhört langen Rede
aufgeschwungen hatte.

Gaston von Foucar hatte sich mit mehreren, gleich ihm unverheirateten
Kameraden zu einem kleinen Zivilbummel verabredet. Erst in ein
Weinrestaurant in der Französischen Straße, um dort einer guten Flasche
den Hals zu brechen, endlich einmal etwas Ordentliches zu essen nach all
den entbehrungsreichen Wochen, und dann wollte man weiter sehen ... Je
nach der Stimmung. Ein bescheidenes Glas Bier oder schäumenden Sekt
irgendwo, wo es Musik gab und fesche Mädel. Aus der einen Flasche wurden
mehrere, man entschied sich für den »unsoliden Lebenswandel«. Wer mochte
wissen, ob er in wenigen Wochen nicht schon ein toter Mann war! Da
schlugen auch ernsthafte Leute mal über die Stränge ...

In dem eleganten Ballokal in der Jägerstraße war »großer Betrieb«. Alle
verfügbaren Plätze besetzt, in dem Mittelraum ein Gewoge tanzender
Paare, helle Toiletten und schwarze Fracks ... über den weißen
Hemdbrüsten gebräunte Gesichter mit deutlich abgesetzter, heller Stirn
... ein reichliches Schock von Provinzleutnants, die das Boxer-,
Schmirgel- oder sonstige Kommando für ein paar kurze Wochen nach Berlin
geführt hatte. Die Musik spielte den neuesten Schlager aus einer Posse,
ein Walzerlied, dessen Refrain unwillkürlich zum Mitsingen
herausforderte. Sektpfropfen knallten dazwischen, sinnlose Schreie,
Schwatzen und Lachen ... eine Welle von Licht, Lärm und überschäumender
Tollheit schlug den Eintretenden entgegen.

Einer der Kameraden verhandelte mit dem »Herrn Direktor« über die Frage,
für fünf Personen Platz zu schaffen. Gaston stand an dem Eingange zum
Tanzsaal, ein schlankes blondes Mädel stieß ihn an.

»Du, dös' nich so! Da oben winkt Dir Eene egalwech zu, schon fast 'ne
halbe Stunde.«

Er hob den Kopf, sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm ...
wahrhaftig, da oben aus einer Loge winkte ein Fächer, und ein paar Augen
lachten ihm zu, an die er in diesen Zeiten kaum einmal ganz flüchtig
zurückgedacht hatte ... Und jetzt hatte ihn auch der Gatte der schönen
Frau Rheinthaler erspäht. Er legte die Hände an den Mund und rief etwas
herunter, in dem Lärm jedoch war kein Wort zu verstehen. Da gab es kein
Ausweichen mehr. Gaston entschuldigte sich für ein paar Minuten bei
seinen Kameraden und stieg die breite Treppe empor, die zu den Logen
führte. Mit Verwunderung und einigen Gewissensbissen. Wie, zum Teufel,
kamen diese Leute hierher, wo doch nur die ganz unzweideutige
Gesellschaft verkehrte? Und er entsann sich, eigentlich wäre es doch
seine Pflicht gewesen, nach der ersten Einladung damals seine Karte
abzugeben. Auch sonst hatte er sich an jenem Abend ein wenig rauh
benommen. Aber Frau Josepha ließ es ihn nicht entgelten, streckte ihm
mit aufrichtiger Freude die Hand entgegen.

»Grüß Gott, Herr von Foucar! Und ich glaubt' meinen Augen nicht trauen
zu dürfen ... wie kommen Sie denn hierher? Der Gerechte unter die
Gottlosen?«

Er beugte sich über die schmale Hand mit den funkelnden Ringen: »Ein
Junggeselle hat ab und zu mal das Recht, sich eine Nacht um die Ohren zu
schlagen, aber Sie, gnädige Frau?«

Frau Josepha zuckte mit den Achseln.

»Meinen's, ich tu's zu meinem Vergnügen? Die neueste Marotte meines
Mannes. Aber, Fritz, möchtest Du nicht ...«

Herr Rheinthaler nannte ein paar Namen der Herren und Damen, die in der
Loge saßen, es folgten einige Verbeugungen, dann fragte er laut: »Nicht
wahr, Herr Hauptmann, wenn ich mich recht entsinne, Sie sind doch im
Generalstab?«

»Zu dienen ...«

»Also, gibt's nu endlich Krieg oder Frieden? Man kommt aus den ewigen
Beunruhigungen ja gar nicht mehr raus: soll man fixen oder kaufen?«

»Pardon, diese Ausdrücke sind mir unverständlich.«

Die herumsitzenden Herren lachten kurz auf, Herr Rheinthaler schnitt
eine Grimasse.

»Beneidenswerter Mensch! Ich wollte, mir wären sie auch unverständlich
geblieben, diese Ausdrücke -- da hätte ich viel Geld erspart! Also ich
wollte fragen, ob man jetzt an der Börse auf Hausse oder Baisse
spekulieren soll. Wenn man einen sicheren Tip besitzen würde, könnte man
einen hübschen Posten auf Gewinnkonto verbuchen.«

Gaston parierte die taktlose Anzapfung mit einem Scherz, der die Lacher
auf seine Seite brachte.

»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit Sr. Exzellenz dem Herrn
Kriegsminister. Aber ich fürchte, auch der könnte Ihnen keine ganz
sichere Auskunft geben.«

Ein Herr mit glattrasiertem Gesicht, der neben Frau Josepha gesessen
hatte, stand auf.

»I muß eh' schon z' Haus, die verwaisten Kinder schreien nach ihren
Vatter! Also, wenn's meinen Platz hab'n wolln, Herr Hauptmann ...« Er
fühlte einen Widerwillen, klappte die Hacken zusammen.

»Bitte sehr, sich durch mich nicht stören zu lassen! Meine Kameraden,
mit denen ich hierher gekommen bin, erwarten mich.«

Frau Josepha stand auf, drückte den glattrasierten Herrn auf seinen
Platz zurück.

»Sie kommen noch früh genug in den Klub, Ihre paar Kreuzerln los zu
werden ... und erlauben's mal ...« Sie trat aus der Loge, raffte ihr
Kleid mit beiden Händen und machte vor Gaston einen leichten Knix.

»Für mich haben's vielleicht noch ein paar Minuten übrig. 'Damenwahl'
hat der Maître unten ausgerufen ... darf ich bitten, Herr Hauptmann?«

Er trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück.

»Um Gottes willen, gnädige Frau, das geht doch nicht ...«

»Ah was ...« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Es geht schon in einem
hin, und mir ist halt gerad' so zumut.«

Da verneigte er sich schweigend, bot ihr den Arm und führte sie die
Treppe hinab. Die Musik spielte einen Wiener Walzer mit seltsam
aufreizendem Rhythmus. Er mußte aus einer bekannten Operette stammen,
die meisten der Tänzerinnen in phantastischen Hüten und fliegenden
Seidenfähnchen sangen zu der Melodie den Text: »Wo steht denn das
geschrieben, daß man soll einen lieben? Man liebt oft mehrere, bald
Leichtere, bald Schwerere ...« Einen hellen Juchzer gab es jedesmal, die
Herren schwenkten ihre Damen hoch in die Luft. Frau Josepha legte sich
in seinen Arm, er führte sie die erste Runde, als wenn er auf dem
Hofballe im Weißen Saal von einer Prinzessin befohlen gewesen wäre. Da
spürte er einen leichten Druck, seine Tänzerin schmiegte sich näher an
ihn, und er griff zu. Schließlich war er doch kein Säulenheiliger, und
er hatte zwei Flaschen alten Rauenthaler im Leibe, das Blut ging ihm
rascher als sonst durch die Adern. Da tanzte er wie all die anderen
Paare ringsum ... wenn es ihr recht war, weshalb sollte er nicht? Und
zum ersten Male sah er, wie schön die Frau eigentlich war, die,
anscheinend dem Tanze ganz hingegeben, in seinem Arme dahinflog ... wie
eine Feder so leicht. Den Kopf hatte sie ein wenig zurückgelegt, die
Augen hielt sie halb geschlossen, unter den leicht geöffneten Lippen
blitzten die weißen Zähne, und die feinen Nasenflügel zitterten. Da ging
ihm das erhitzte Blut mit der kühlen Ueberlegung durch, mitten im
dichtesten Gewühl beugte er sich nach vorn, preßte eine Sekunde lang
seine Lippen auf den schneeweißen Hals, da wo er sich aus dem
spitzenbesetzten Kleidersaum hob. Sie schauerte leicht zusammen, ließ
die Arme sinken: »Bitte, führen Sie mich wieder nach oben!«

Auf der Treppe blieb er einen Augenblick lang stehen.

»Sind Sie mir böse, gnädige Frau?«

Sie strich sich mit einer müden Bewegung eine kleine Haarsträhne aus dem
Gesicht.

»Wieso denn? In unseren Kreisen nimmt man das nicht so genau ... Nur
...« Sie brach ab und zog mit einer kurzen Bewegung das feine Batisttuch
durch die geschlossene Hand.

»Na, was denn, wenn ich fragen darf?«

Sie schüttelte den Kopf mit den schweren Zöpfen, auf denen ein
merkwürdiges Geflecht thronte aus gelbem Stroh und schwarzen Spitzen,
mit einem kostbaren Marabou an der Rückseite, der wie ein Helmbusch in
die Höhe ragte.

»Ah na! Nur so viel: das, jetzt eben, stimmt nicht zu dem Bild, das ich
mir von Ihnen in all den Wochen zurechtgemacht hab'.«

Da fühlte er den Drang, sich zu rechtfertigen.

»Gnädige Frau, ich bin wie ein ausgehungerter Wolf. Vier Wochen lag ich
an der Kette ... wie ein Kuli im Dienst. Heute hat man mich zum ersten
Male ein bißchen wieder losgelassen, da heißt es, die Stunde genießen.
Wer weiß, morgen ändern sich vielleicht die Dispositionen, und die
Rechnerei fängt von neuem an. Oder es geht endlich los, die bösen
Bleikugeln pfeifen, und man küßt keinen weißen Frauenhals mehr, sondern
die kalte, schwarze Erde.«

Sie sah ihn aus erschreckten Augen an.

»Um Gottes willen, hören's auf! Aber haben Sie in dieser Zeit wenigstens
ab und zu einmal an mich gedacht?«

Da antwortete er ehrlich: »Wie sollte ich wohl, gnädige Frau? An dem
ersten Abend freilich nach dem Rennen im Grunewald, da habe ich mich
viel mit Ihnen beschäftigt. Nachher hatte ich keine Zeit. Zu viel
Dienst. Mein Abteilungschef hatte den sechzehnstündigen Normalarbeitstag
eingeführt, und -- Sie wissen vielleicht -- bei den Militärsoldaten
ist's noch nicht üblich, in solchen Fällen durch Streiken eine höhere
Gewinnbeteiligung zu erzwingen.«

Sie nickte zufrieden.

»Jetzt sind Sie wieder wie damals ...« Und plötzlich lachte sie auf:
»Gott, war das komisch an dem Abend! Wie schlecht Sie die verwöhnte
Magda Neudecker behandelt haben!«

»Gnädige Frau, ich war an dem Abend in einer seltsamen Mißstimmung. Das
Ungehörige meiner Antwort wurde mir erst später klar ...«

»Ungehörig? ...« Frau Josepha schüttelte den Kopf.

»Entweder sind Sie wirklich was Besonderes, oder ein ganz ein
Raffinierter: Fräulein Neudecker brennt lichterloh. Endlich mal hat sie
einen Mann entdeckt! Einen Mann, der nicht mit verdrehten Augen und
Liebesgegirr an die Millionenerbin herantritt! Wenn Sie morgen in der
Tiergartenstraße Besuch machen, können Sie in acht Tagen die hold
errötende Magda um das Jawort befragen ... Und nehmen's das nicht auf
die leichte Achsel! Vier Millionen sofort! Haben Sie eine Ahnung, was
schon eine Million bedeutet?«

Er verneigte sich lächelnd.

»Vielleicht, gnädige Frau! Ich habe vierhundert Mark monatlichen
Zuschuß! Den brauche ich bloß mit zehn zu multiplizieren -- Sie werden
mir zugeben, ein lächerlich kleiner Koeffizient -- ja, und ich kriege
einen Begriff von den mir winkenden Freuden. Auch ohne die reizvolle
Zugabe von Fräulein Magda. Aber ich hege nicht die geringste Absicht,
mein Leben als so eine Art von Prinzgemahl zu beschließen.«

Da lachte sie ihm zu, sie schüttelten sich die Hände wie ein paar gute
Kameraden.

Der Platz von Frau Josepha in der Loge war besetzt. Neben dem Herrn mit
dem glattrasierten Gesicht saß ein junges Mädchen in einer Balltoilette
aus grellfarbener Seide. Brust und Nacken tief entblößt, auf dem
gefärbten Haar ein großer Hut mit wallenden Federn. Sie wußte, daß man
sie in eine sogenannte anständige Gesellschaft geladen hatte ... Das war
neuerdings ja Mode geworden, daß die Damen aus dem Westen in Begleitung
ihrer Herren die öffentlichen Ballsäle besuchten. Und damit nicht genug,
bis in die schmutzigsten Nachtlokale kletterten sie hinab. Da brauchte
man also kein Blatt vor den Mund zu nehmen; wer sich unter die Treber
mengte, den fraßen die Schweine. Und sie sprach unflätige Gemeinheiten,
Gemeinheiten, die man in ihrem gewohnten Kreise nicht geduldet hätte,
weil man dort einen gewissen äußeren Anstand bewahrte ... hier aber die
Damen wollten sich ausschütten vor Lachen! Nur die Herren sahen ein
wenig verlegen drein bei den ungenierten Kraftausdrücken, die sie
gebrauchte.

Frau Josepha hatte ein paar Augenblicke mit gerunzelter Stirn zugehört,
jetzt zog sie ihren Begleiter in die hinter der Loge liegende
Fensternische. Ein Kellner in weißer Jacke kaum herzugelaufen, säuberte
eifrig mit der Serviette das Tuch auf dem kleinen Tisch.

»Bitt' schön, hier die Weinkarte.«

»Sekt,« entschied Frau Josepha, und, als der Kellner eingeschenkt hatte,
hob sie ihr Glas. Sah ihr Gegenüber aus glitzernden Augen an.

»Prost, Herr Hauptmann, und machen's nicht so ein verteufelt ernstes
Gesicht! Nehmen Sie sich ein Beispiel an meinem Herrn Ehegemahl, der
legt sich nicht den geringsten Zwang auf.« Sie deutete auf den in der
Loge sitzenden Gatten, und der Zufall fügte es, daß er sich gerade über
den Nacken seiner Nachbarin beugte, sie mit einem himmelnden Ausdruck
in den Augen zwischen die gebrannten Halslöckchen küßte. Ein paar feine
Puderstäubchen waren ihm in den Hals gefahren, er bekam einen
Hustenanfall, an dem er fast erstickte. Einer der Herren in der Loge
sprang auf, flößte ihm ein paar Tropfen ein, Frau Josepha rührte sich
nicht. Und feindselig sagte sie: »Recht geschieht ihm! Wenn er nur
endlich a mal dabei bleiben tät ...«

Gaston sah sie erschreckt an, sie zuckte mit den Achseln.

»Was wollen Sie, vielleicht Mitleid mit ihm haben? Seit wir uns nicht
mehr gesehen haben, hat sich vieles hier geändert. Das traurige Gestell
da neben ihm soll meine Nachfolgerin werden. Ich bin ja nichts mehr,
eine Größe von vorgestern, um mich wird er nicht mehr beneidet. Aber die
da, die Lisa Sandori, ist die neueste Sensation. Wann sie abends im
Theater die Röckeln hebt über die klapperdürren Knie und zu tanzen
anfangt vor dem Einbrecher, der zum Fenster eingestiegen ist, lauft all
die Trotteln im Parkett das Wasser im Mund zusammen. Jeden Abend seit
zwei Wochen sitzt er mitten drunter, seine Pokerpartie ist deswegen
auseinandergegangen. Und hinterher ladet er die Person zum Nachtmahl.
Ich immer dabei, denn das wär ja kein Vergnügen für ihn, wann ich nicht
dabei wär', die Demütigung nicht schlucken tät ...«

»Ah pfui Teufel!« Er stürzte ein Glas Sekt hinab und setzte es so heftig
auf den Tisch, daß ihm der Stiel in der Hand zerbrach. »Und das lassen
Sie sich gefallen?«

Sie nickte, ihre Augen wurden plötzlich ganz dunkel.

»Ich werd's ihm schon heimzahlen. Ich hab' mir was ausgedacht, und das
wird für ihn schlimmer sein, als tät' ihn einer mit glühenden Zangen
kneifen. Nur noch zwei kurze Wochen Geduld, dann geht's an. Lustig
wird's werden ...«

Sie leerte durstig ihr Glas.

»So, und jetzt wollen wir von was anderem reden. Machen's mir ein
bisserl den Hof, wenn Sie's auch eine Ueberwindung kostet. Bloß daß ich
vor der Person da nicht so steh, als wär' ich auf einmal eine Bettlerin
... Kein Mensch tät mehr den Kopf nach mir wenden.«

Er zog die schmale Hand, die sie ihm über den Tisch entgegenstreckte, an
die Lippen.

»Ueberwindung, gnädige Frau? Vielleicht wäre Furcht das Richtigere ...
Furcht, daß aus dem Spiel Ernst werden könnte! Ich bin schließlich nicht
bloß ein auf zwei Füßen gehendes Bündel von Grundsätzen, sondern daneben
auch ein ganzes Ende lang ein junger Kerl mit Blut in den Adern. Damals,
nach dem Rennen, gelang es mir, mich noch leidlich heil in Sicherheit zu
bringen, ich möchte die Gefahr nicht zum zweiten Male herausfordern ...«
Halb aus Mitleid sprach er so, halb unter dem Einflusse der
Weingeisterchen, die ihm im Blute spukten. Und Frau Josepha beugte sich
zu ihm über den schmalen Tisch, so daß er ihren Atem spürte.

»Ist ja alles nicht wahr, aber schön Dank! Wenn man die Gulden nicht
kriegen kann, muß man mit die Kreuzeln vorlieb nehmen ... Und jetzt will
_ich_ Ihnen ein Geständnis machen, aber das dürfen Sie Wort für Wort
glauben. Wie ich Sie damals auf der Rennbahn sah, spürte ich ein ganz
seltsames Gefühl ... wie eine plötzliche Erkenntnis: den da hätt'st ein
paar Jahre früher kennen lernen müssen, dann hätt' vielleicht aus dir
was werden können! So aber, das Leben, das ich jetzt führ' ...« Sie
brach ab und sah starr geradeaus, in ihren Augenwinkeln schimmerte es
feucht.

Da stieg es ihm heiß im Herzen empor, und nicht nur seine Sinne
entzündeten sich.

»Wenn ich mich nun wirklich in Sie verlieben würde, Frau Josepha?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es wär' nicht gut! Nicht gut für uns beide.«

»Und wenn ich's nun schon wäre?«

»Dann ...« Sie atmete tief aus ... »Dann wär's halt unser Schicksal! Und
vielleicht wär's auch noch Zeit, sich zu dem zurückzufinden, was man
früher war.«

Sie legte ihm die Hand über den Arm, er erschauerte leicht unter der
Berührung, sie blickten sich in die Augen.

»Frau Josepha, ich bin ein schwerfälliger Gesell. Ich kann keine schönen
Worte machen ... ich gehör' Ihnen von dieser Stunde an.«

»Du lieber Bub' ...«

Er fuhr zusammen, einer jener klappernden bunten Bälle, mit denen man
sich von Tisch zu Tisch bewarf, hatte seinen Kopf getroffen. Eine
Frauenstimme, die seltsam blechern klang, wie eine geborstene Glocke,
rief aus der Loge herüber: »Da sehen Sie nur, Rheinthalerchen! Und so
was lassen Sie sich gefallen?«

Herr Rheinthaler wandte sich lässig um, seine Augen blickten schon ein
wenig verglast vom reichlichen Trunk.

»Ist ja so egal! ... Die Hauptsache, hier ist's gleich Schluß -- also
gehen wir weiter!«

Frau Josepha erhob sich.

»Wenn's Dir recht ist, werden wir jetzt nach Hause fahren. Ich bin nicht
in der Stimmung.«

»Das kommt schon noch! Kellner, zahlen! ... Nämlich, paß auf, die junge
Dame, die da vorhin auf Deinem Platz saß, erzählte von einem Café in der
Ackerstraße. Das soll zum Kugeln sein. Die Herren ohne Kragen und in
gestickten Morgenschuhen, die Damen im Umschlagtuch. Für einen Taler
tanzen sie 'ne neue Art von Apachentanz mit allen Schikanen -- Fräulein
Sandori will für ihren nächsten Sketch Studien machen. Sie kommen doch
selbstverständlich mit, Herr Hauptmann?«

»Ich bedauere lebhaft!«

»Sind Sie vielleicht auch nicht in der Stimmung? Oder müssen Sie sich
heute wieder Schlachtpläne ausdenken?«

»Keins von beiden. Mir ist es nur, selbst in Zivil, nicht möglich, ein
derartiges Lokal zu besuchen.«

»Na, dann können wir ja auch wo anders hingehen?«

Frau Josepha schüttelte den Kopf.

»Ich fahre nach Hause!«

Herr Rheinthaler verbarg mühsam den aufsteigenden Aerger.

»Das ist doch nur 'ne Laune, liebes Kind! Und wir können unsere Gäste
doch nicht einfach so stehen lassen.«

Fräulein Sandori zeigte hinter den tiefrot geschminkten Lippen zwei
Reihen blendend weißer Perlenzähne, zu klein und zu regelmäßig, um echt
zu sein.

»Aber, bitte, das macht doch nichts! Fahren Sie mit Ihrer Frau Gemahlin
nur ruhig nach Hause, Rheinthaler. Ich bummel' inzwischen mit dem Herrn
Rechtsanwalt weiter! Und wir beide werden schließlich auch nach der
Ackerstraße hinfinden, nicht wahr, Doktorchen?« Sie hakte sich in den
Arm eines schwarzbärtigen Herrn, der ebenfalls in der Loge gesessen
hatte, und sah ihn mit kokettem Augenaufschlag an.

Herrn Rheinthaler stieg das Blut zu Kopfe.

»Also, Josepha, jetzt sei vernünftig! Ich kann Dich doch nicht allein
fahren lassen, und was liegt schon an der einen Stunde?«

»Gar nichts liegt daran, da hast Du recht. Aber laß Dich durch mich
nicht stören! Mein Auto steht unten, ich fahre nach Hause!«

Fräulein Sandori lachte kurz auf mit ihrer blechernen Stimme.

»Stellen Sie Ihre Frau Gemahlin doch unter den Schutz der bewaffneten
Macht, Herr Rheinthaler! Und haben Sie 'ne lange Leitung! Darauf geht
doch die ganze Reise, daß die beiden da uns versetzen wollen!«

Frau Josepha hob den Saum ihres Kleides und trat mit zornsprühenden
Augen einen Schritt auf die andere zu.

»Sie! Daß i mi net vergeß'! Aber die Ehr' tu ich Ihnen nicht an, daß ich
Ihnen darauf was antwort'. Ich tät' mich ja erniedrigen, wenn ich mich
mit Ihnen auf eine Stuf' stellen wollt'!«

In den Nachbarlogen war man aufmerksam geworden, reckte die Köpfe. Das
Mädel, das vorhin in der Loge auf Josephas Stuhl gesessen hatte, kam
vorbei und blieb lachend stehen.

»Immer feste, meine Damen! Nur nich lang gefackelt -- mit 'ne Sektpulle
über'n Kopp, det schafft am besten.«

Gaston von Foucar biß die Zähne aufeinander. Ekelhaft war das ... Er bot
Josepha den Arm.

»Darf ich Sie zu Ihrem Wagen führen, gnädige Frau?«

Sie gingen an den Logen vorüber, die breite Treppe hinunter, an der
Garderobe holte sie Herr Rheinthaler, ein wenig außer Atem, ein.

»Also, Josepha, wie Du Dich wieder einmal benommen hast ... Fräulein
Sandori ist außer sich! Und wenn Du sie nicht sofort um Entschuldigung
bittest ...«

Gaston fühlte ein seltsames Zucken im Arm, aber die lange geübte
Selbsterziehung erstickte die zornige Aufwallung im Keime.

»Verzeihen Sie, Herr Rheinthaler, wenn ich mich einmische, aber bis zu
einem gewissen Grade bin ich an dem ärgerlichen Auftritt beteiligt. Ich
habe keine Ahnung von dem sonstigen Umgangston bei diesen abendlichen
Vergnügungen, aber die Bemerkung dieses Fräuleins Sandori war eine
freche Verdächtigung. Die Dame müßte also wohl zuerst um Entschuldigung
bitten, wenn Sie überhaupt eine solche Staatsaktion für notwendig halten
sollten.«

In dem hageren Gesicht leuchtete es auf. Herr Rheinthaler sah eine
Möglichkeit, mit leidlichem Anstande zu Fräulein Sandori zurückkehren zu
können.

»Da haben Sie recht! So etwas muß man am besten mit Stillschweigen
übergehen. Morgen sind die beiden Damen wieder die besten Freundinnen --
verlassen Sie sich d'rauf! Ich werde jetzt der Gegenpartei gut zureden!
Wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollten, bei meiner Frau das
gleiche zu versuchen, wenn Sie sie jetzt nach Hause bringen ...«

Mitten in aller Erregung mußte Gaston auflachen.

»Ich soll Ihre Frau Gemahlin nach Hause bringen?«

Herr Rheinthaler schien den geheimen Unterton der Frage nicht verstanden
zu haben.

»Selbstverständlich, sie kann doch nicht allein fahren. Und ich muß die
Sache mit der Sandori noch heute aus der Welt schaffen, sonst schwatzt
morgen ganz Berlin davon. Sie versäumen nicht viel ... das Auto fährt
rasch, in dreiviertel Stunden können Sie wieder zurück in der Stadt
sein.«

Frau Josepha hatte sich von der Garderobenfrau in den Mantel helfen
lassen.

»Kommen Sie, Herr Hauptmann!« Ihren Gatten sah sie mit einem
merkwürdigen Blick an: »Na, alsdann adieu, Fritz.«

»Du bist mir doch nicht bös, Peperl?«

»I bewahre, komm nur nicht zu spät nach Haus.«

Herr Rheinthaler wandte sich, sichtlich erleichtert, der anderen Gruppe
zu, die in erregter Unterhaltung von der Treppe her in den
Garderobenraum trat: »Es ist alles in schönster Ordnung, meine
Herrschaften! Wir fahren in die Ackerstraße, teuerste Freundin ...«

Das Auto bog durch das Brandenburger Tor in den Tiergarten, Frau Josepha
saß mit zusammengezogenen Augenbrauen, plötzlich schluchzte sie auf,
preßte das feine Batisttuch, das sie in der Hand knüllte, gegen den
Mund.

»O, wie schimpflich ist das alles! Und wie müssen Sie mich verachten,
daß ich mir das alles hab' gefallen lassen die ganze Zeit über ...«

Er ergriff ihre Linke, nahm sie in beide Hände.

»Das ist ein bißchen töricht, was Sie da sagen, Frau Josepha. Woher
sollten Sie den Mut zum Widerstand nehmen? Aber jetzt ist das ja etwas
anderes ... Ich stehe neben Ihnen.«

Sie rückte näher an ihn, sah ihm in die Augen.

»Das ist nicht bloß so im Augenblick und morgen ist alles wieder
verflogen?«

»Im allgemeinen pflege ich zu halten, was ich verspreche.«

Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an das seinige.

»Du, überleg's Dir wohl! Noch kannst Du zurück. Auf der Antwort jetzt
baut sich meine ganze Zukunft auf!«

Ein feiner Duft drang aus ihren Haaren, aufreizend leuchteten ihre
Augen. Er schlang den Arm um ihren leicht erschauernden Rücken.

»_Unsere_ Zukunft, wolltest Du wohl sagen, Liebstes! Ich bin doch kein
Knabe, der morgen vergißt, was er heute geschworen hat?«

Da bot sie ihm durstig die Lippen ...

Das Auto passierte eine hell erleuchtete Straßenkreuzung, sie löste sich
hastig aus der Umarmung.

»Sei nicht bös, aber ich muß vorsichtig sein. Er läßt mich beobachten,
an jeder Ecke können seine Spione stehen. Die beiden Lackeln da vorn,
der Chauffeur und der Diener, sind auch in seinem Sold.«

Ein häßlicher Gedanke sprang ihn unversehens an ... Daher also
vielleicht die »unverbrüchliche Treue«, von der damals der Herr von
Wodersen gesprochen hatte, als sie von der Grunewaldvilla heimgingen?

Frau Josepha hatte sich rückwärts gegen die Polster gelehnt, schlang
ihren weichen Arm in den seinigen.

»Da komm her, Bubi, bring Dein liebes kleines Ohrwaschel näher 'ran, daß
ich nicht so laut zu sprechen brauch' ... so ... und jetzt hör' fein zu
... Ich schwör' Dir bei der heiligen Mutter Gottes, ich hab' außer Dir
noch nie einen lieb gehabt, Du bist der erste. Und ich kann ja nichts
dafür, daß ich Dich so spät kennen gelernt hab' ... Als Du damals im
Unwillen fortgingst, hab' ich hinterher geweint die ganze Nacht, aber
meine alte Kinderfrau hat mich getröstet. In den Karten hat gestanden,
ich würd' Dich wiederfinden ... Und jetzt, b'hüt Di Gott ... träum' von
mir und schlaf' gut heute nacht, ich hab' noch viel zu tun ...«

So sprach sie halblaut, von Zeit zu Zeit berührten ihre weichen Lippen
sein Ohr.

Das Auto hielt, der Diener öffnete den Schlag. Sie stieg aus.

»Schön Dank, Herr Hauptmann, für die liebenswürdige Begleitung. Karl,
Sie fahren den Herrn Hauptmann jetzt nach seiner Wohnung und kommen
zurück. Ich brauche Sie noch heute.«

»Zu Befehl, gnädige Frau.«

Gaston von Foucar wollte noch etwas sagen, aber Frau Josepha trat unter
dem Geleit eines Dieners in die geöffnete Haustür, der Wagenschlag flog
zu, und das Auto fuhr von der breiten Rampe wieder auf die Straße
hinaus.

»Rankestraße hundertsechzehn!« rief er zum offenen Fenster hinaus und
lehnte sich in die Polster zurück. Der Kopf war ihm benommen, er konnte
keinen klaren Gedanken fassen, nur ein sehnsüchtiges Gefühl war in
seiner Brust. Noch hundert Meilen hätte er so dahinfahren mögen wie
vorhin, und durstig sog er den zarten Duft ein, der noch das Innere des
Wagens füllte. Erst ganz allmählich wurde er nüchterner ...

Das also eben war die Entscheidung über sein Schicksal gewesen.
Unauslöslich war er jetzt an die Frau gebunden, die er zweimal bisher
gesehen hatte ... von der er nichts weiter wußte als das wenige, was sie
selbst und der Landsberger Husar damals erzählt hatten. Wie ein
Sturmwind war das gekommen, keinen Augenblick zu ruhiger Ueberlegung. Es
reute ihn nicht, wahrhaftig nicht, aber schier unbegreiflich erschien es
ihm jetzt, wie er bei seiner sonst so kühl abwägenden Art so rasche
Entschlüsse hatte fassen können. Wenn er einmal in müßiger Stunde davon
geträumt hatte, wie es sich wohl abspielen würde, wenn er sich den guten
Kameraden fürs ganze Leben gewann, hatte ihm immer etwas Zartes, Feines
vorgeschwebt, ein langsames scheues Annähern ... Irgendwo auf einem Fest
im Grünen sollte es anfangen, und monatelang stimmte man sich hinterher
aneinander ab, ehe man das entscheidende Wort sprach. Das war nun alles
anders gekommen. Im heißen Atem einer jäh emporlodernden Leidenschaft
... Und recht so! Ein Narr nur schneiderte sich sein Leben nach
Prinzipien zurecht, man mußte das Glück nehmen, wie man es fand. Und nun
galt es, einige klare Entschlüsse zu fassen. Morgen vormittag
depeschierte man an die kleine, alte Dame im Schwabenland: »Liebes
Mutterle, in ein paar Tagen bring' ich Dir Deine zukünftige Tochter. Ich
weiß, Du wirst ihr gut sein und sie freundlich bei Dir aufnehmen, bis
...« Ja, wie zum Teufel, wie faßte man das am besten in Worte? ... »Bis
die unwürdige Fessel, die sie noch an einen anderen bindet, gelöst ist!«
Und er stand in Gedanken dabei, wie das liebe Mütterchen die Depesche
las. »So, so, mei Büble! Wo hast Du sie denn kennen gelernt?«

»Ganz zufällig in dem Restaurant einer Rennbahn.«

»Und wo habt Ihr Euch verlobt?«

Da stockte ihm zunächst die Zunge: »In einem öffentlichen Ballokal. Auch
ganz zufällig ... noch eine Viertelstunde vorher hatte ich im Traum
nicht daran gedacht. Das kam wie ein Gewittersturz.«

Das alte Frauchen nahm die Brille ab.

»So, so, mei Büble! Und darauf willst Du Dein Lebensglück aufbaue? Das
ischt ungesund, aber i will Dir da nit dreinrede ... Du bischt ein
ausgewachsener Mann, mußt selbscht am beschte wisse, was Dir frommt ...
Und wenn Du ihr Dein Wort gegeben hast ...«

»Muß ich es selbstverständlich halten, da hast Du recht, Mutterle. Und,
sieh mal, man muß an Außergewöhnliches nicht den Alltagsmaßstab legen.
Es gibt Situationen, wo langes Ueberlegen vom Uebel ist. Mit beiden
Füßen zugleich muß man hineinspringen wie in ein Abenteuer, nur daß
hier eben alle Garantien vorhanden sind, daß es gut ausgeht. Sie ist von
ganz besonderem Schlag, ich kann Dir das nicht so mit Worten
ausschildern -- Du mußt sie eben selbst kennen lernen! Und wenn wir erst
die paar unumgänglichen Widerwärtigkeiten der Scheidung überwunden
haben ...«

Das Auto hielt, er gab dem Diener, der ihm den Schlag öffnete, ein
reichliches Trinkgeld und stieg langsam die drei Treppen zu seiner
Wohnung empor. Er machte Licht, vor dem Lampenfuß lag eine Depesche. Er
riß sie mit ungeduldiger Hand auf und las bei dem Scheine des
verglimmenden Zündhölzchens: »Gratuliere zur fünften Schwadron
Ordensburger Dragoner! Wegener.«

Eine ganze Weile saß er mit dem Blatte im Dunkeln. Mit einer gewissen,
stumpfen Verwunderung, daß der Chef sein vor Wochen gegebenes
Versprechen gehalten hatte. In der ganzen letzten Zeit war nicht mit
einem Worte mehr davon die Rede gewesen. Und morgen mußte er sich dafür
bedanken. Wie sehr er gejubelt hätte, daß sich ihm sein sehnlichster
Wunsch so rasch erfüllte, und daß er bei dieser außerordentlichen
Auszeichnung sich eines Gefühls der Beschämung nicht erwehren könnte,
weil er nämlich einen Teil der Voraussetzungen, die damals vielleicht
mit bestimmend gewesen, nicht mehr erfüllte. Er wäre heute nicht mehr
frei, hätte sein Schicksal an das einer anderen gebunden, der er von
jetzt an zur Seite stehen müßte. Da erwiderte der gütige Chef wohl mit
einem Lachen: »Na, lieber Foucar, deswegen brauchen Sie sich keine
grauen Haare wachsen zu lassen! Das war damals nur ein kleines
Scherzchen von mir. Und ich schätze, Sie haben in Ihrer klugen Art mit
Liebe, aber auch mit Vorsicht gewählt. Eine junge Dame, die Sie im
Kreise des vornehmen alten Regiments mit Stolz präsentieren können ...«
Und er mußte darauf sagen: »Verzeihung, Herr Oberst, das weiß ich noch
nicht! Ich kenne von der Herkunft und Vergangenheit meiner Verlobten
blutwenig, eigentlich so gut wie gar nichts. Ich weiß heute noch nicht
einmal, ob ich nicht genötigt sein werde, meinen Abschied zu nehmen,
wenn ich das ihr gegebene Versprechen einlösen soll.«

Da schrie es plötzlich in ihm auf, verrückt war das, was er in dieser
letzten Stunde getan hatte! Ein sinnloser Karnevalsstreich war das
gewesen, den ihm ein anderer gespielt hatte, der für eine kurze Weile in
seine Haut geschlüpft war. Ein leichtfertiger Bursch, der halb im
Trunke, halb unter dem Einflusse seiner aufgepeitschten Sinne mit
Menschenschicksalen spielte ... dem ein bißchen Mitleid, ein plötzliches
Begehren genug waren, die Worte zu sprechen, mit denen er sich für das
ganze Leben verpflichtete. So sinnlos war das alles, daß er keinen
Augenblick zögern durfte, sich aus dieser Verstrickung wieder zu lösen.

Er steckte die Lampe an und setzte sich, wie er ging und stand, in Hut
und Ueberzieher, an den Schreibtisch. Aber schon nach den ersten Zeilen
zerriß er den Bogen in tausend kleine Fetzen, warf sie in den
Papierkorb. Wie und womit sollte er seine plötzliche Sinnesänderung
erklären? Noch vor kaum einer Stunde hatte er gesagt: »Ich bin doch kein
Knabe mehr, der morgen vergißt, was er heute geschworen hat.« Sollte er
schreiben: »Gnädige Frau, als ich das sprach, war ich verrückt oder
betrunken, und jetzt, nachdem ich wieder zur Besinnung gekommen bin, muß
ich Sie bitten, mir mein Wort zurückzugeben?« Zorn und Scham trieben ihm
das Blut ins Gesicht, allerhand wirre Gedanken und Bilder schossen ihm
durchs Hirn. Wort war Wort, und wenn man es nicht einlösen konnte, hatte
man es eben auf andere Weise zu zahlen. Solch ein haltloser Tropf, der
für die Folgen seiner Handlungen nicht eintrat, hatte auf der Welt
nichts mehr zu suchen! Und ein längst vergessenes Bild trat plötzlich
vor seine Augen. Ein armes junges Kerlchen aus seinem alten Regiment lag
da mit durchschossener Schläfe, weil es sein verpfändetes Wort nicht
hatte halten können. Eine in der Trunkenheit eingegangene Spielschuld
war es gewesen, und er selbst hatte damals unter den strengen Richtern
gesessen.

Da stöhnte er auf wie ein weidwundes Tier und barg sein Gesicht in den
Händen. Heute hätte er wohl nicht so unbarmherzig geurteilt wie damals
vor acht oder neun Jahren. Und nur eine letzte leise Hoffnung hielt ihn
vor dem jähen Schritte ins Dunkle zurück, daß die Frau, der er sein Wort
gegeben, morgen vielleicht auch schon anders dachte ... Vielleicht als
ein tändelndes Spiel ansah, was ihm in dem einen Augenblicke, da er die
Zucht über sich verloren hatte, heiliger Ernst gewesen war. Als er sie
während den Tanzes aus den Hals küßte, hatte sie ja selbst gesagt, in
ihren Kreisen nähme man es nicht so genau, wenn ein Herr einer
verheirateten Dame mit einer Huldigung nahte, die, bei Licht besehen,
eine bodenlose Unverschämtheit war ...

       *       *       *       *       *

Gegen Morgen mußte ihn wohl die Müdigkeit übermannt haben. Als Gaston
von Foucar aus einem von wirren Träumen erfüllten Schlafe erwachte,
schien die helle Sonne zum Fenster herein. Sein Bursche stand vor dem
Bett, mit einem Briefe in der Hand.

»Herr Hauptmann werde gütigscht verzeihe, aber es ischt Zeit zum
Dienscht, und zudem, das alt Weible, was den Brief da bracht hat, will
sofort Antwort habe.«

Gaston richtete sich im Bett auf.

»Was für ein altes Weib?«

»Die wo ebe gekomme ischt, Herr Hauptmann. Sie hockt im Vorzimmer,
schaut aus wie eine von dene Schpreewäldlerinne, und der Herr Hauptmann
tät scho wisse, von wem daß das Briefle wär'.«

»Sagen Sie ihr, sie soll noch ein paar Minuten warten! Und legen Sie mir
die erste Garnitur Ueberrock zurecht!«

»B'fehl, Herr Hauptmann!«

Als der Bursche das Schlafzimmer verlassen hatte, hielt Gaston eine
ganze Weile lang den Brief unschlüssig in der Hand. Mit einem Schlage
war ihm die Erinnerung zurückgekehrt, und ein Gefühl des Ekels vor sich
selbst schnürte ihm die Kehle zusammen. Körperliches Unbehagen nach dem
ungewohnten schweren Trunke und dazu ein ganzes Heer bohrender und
nagender Vorwürfe. Wie ein Verbrecher erschien er sich, der nach einer
im Rausche begangenen Freveltat erwachte. Der bleierne Schlaf hinterher
hatte sie nicht ungeschehen gemacht, nur um so schreckhafter stand sie
im klaren Tageslichte da! Und der Brief hier brachte ihm sein Urteil.

Mit zitternder Hand riß er ihn auf, das Herz schlug ihm bis in den Hals
hinauf.

                          »Mein Liebstes!

    In aller Eile ein paar Zeilen, weil ich Dich beim Erwachen nicht
    ohne Gruß lassen wollte. Ich habe die Nacht nicht geschlafen. Ich
    lag mit offenen Augen und konnte nicht fassen, was geschehen war.
    Immer hatte ich Angst, wenn es wieder Morgen würde, wäre es nicht
    wahr. Dann aber wiederholte ich mir alles, was Du gesprochen
    hattest, und die selige Gewißheit zog in mein Herz, daß Du mir
    gehörst und ich Dir, für immer! An Deiner Hand, Du Lieber, in ein
    neues Leben gehen zu dürfen, die Seligkeit ist so groß, daß ich sie
    kaum ertragen kann. In einem einzigen Lachen und Weinen gehe ich
    umher!

    Mit dem Widerwärtigen, was heute nacht noch geschah, will ich Dich
    verschonen, auch all das Ueble und Häßliche soll Dir fernbleiben,
    was in dem Kampf um meine Freiheit nun mal nicht zu vermeiden ist.
    Er wird kurz sein, denn ich habe gute Waffen in der Hand.

    Heute nachmittag um fünf erwarte ich Dich. Da will ich noch einmal
    von Dir hören, daß Du mich lieb hast. Dann aber müssen wir für eine
    ganze Zeit Abschied voneinander nehmen. Sieh, mein liebster Bub, die
    Tränen fallen mir aus den Augen auf dieses Blatt, weil ich daran
    denke, daß wir uns vielleicht auf Monate nicht wiedersehen sollen,
    aber auf unseren zukünftigen Bund soll kein häßlicher Schatten
    fallen. Kein Gezischel und kein hämisches Gerede soll sich erheben
    dürfen. Daß wir uns heimlich versprochen haben, geht keinen Menschen
    was an!

    Meine alte Ursel, die um mich ist, seit ich auf der Welt bin,
    überbringt Dir diesen Brief. Gib ihr mündlich Bescheid, ob ich Dich
    um fünf erwarten darf. Den Brief aber verbrenne, denn die Leute, mit
    denen ich's jetzt zu tun bekomme, schrecken auch vor einem
    verschlossenen Schreibtisch nicht zurück.

    Ich umarme Dich und küsse Deine lieben, blauen Augen, die es mir
    zuerst angetan hatten bei Dir. Ich zähle die Minuten, bis Du bei mir
    bist.

                                                            Josepha.«

Unwillkürlich regte sich in Gastons Brust etwas von dem Gefühl, das er
in der vergangenen Nacht empfunden hatte, als er die schöne Frau im
Wagen heimgeleitete. In dem Briefe da war etwas, das ihn seltsam ans
Herz rührte ... Und daß er sich mit Skrupeln plagte, wo andere, die das
Leben leichter nahmen, mit beiden Händen zugegriffen hätten, lag
vielleicht nur an seiner übergroßen Gewissenhaftigkeit. An einer schier
schulmeisterlichen Strenge, mit der er noch immer sich selbst erzog. Der
Landsberger Husar, Herr von Wodersen, war gewiß ein Offizier und
Edelmann von untadeliger Gesinnung. Der aber würde ohne ein Wimperzucken
sein Seelenheil verpfänden, wenn er in diesem Augenblick an seiner
Stelle stehen dürfte! Und die Befürchtung, er müßte seine Karriere
aufgeben, wenn er eine gewesene Schauspielerin heiratete, hielt bei
näherem Ueberlegen nicht stand. Da ließ sich mit einigem guten Willen
zu einer kleinen Vertuschung ein Ausweg finden. In dem kleinen
ostpreußischen Städtchen da oben an der Grenze gab es wohl keinen
Menschen, der Josepha auf der Bühne gesehen hatte. Da war sie nichts
anderes als die geborene Baronesse Nadanyi, die nach schuldlos
geschiedener Ehe den Rittmeister von Foucar heiratete. Wenn er sich aber
in dem Regiment erst die gesellschaftliche und dienstliche Stellung
geschaffen hatte, die ihm bei seinen Fähigkeiten sicher war, sollte wohl
niemand auf den Gedanken kommen, daß bei seiner Verheiratung irgend
etwas zu bemäkeln wäre. Na, und nachher richtete man sich miteinander
ein, so gut es eben ging. Und was heute wie eine Art von Zwang aussah
nach dem gegebenen Wort, wurde vielleicht eine ehrliche Zuneigung, auf
der man sein Leben aufbauen konnte. Ein fester Entschluß aber mußte
endlich gefaßt werden.

Er griff nach der Klingel, sein Bursche betrat das Zimmer.

»Herr Hauptmann befehle?«

»Sagen Sie der Alten draußen, ich laß mich ihrer gnädigen Frau bestens
empfehlen. Ich werde heute nachmittag um fünf meine Aufwartung machen.«

Der Bursche schüttelte den Kopf.

»Sell geht nit, Herr Hauptmann! Das alt Weible will partout den Herrn
Hauptmann persönlich schpreche.«

»Na, dann soll sie gefälligst warten, bis ich mich angezogen habe!«

»Befehl, Herr Hauptmann!«

Gaston sprang mit beiden Füßen aus dem Bett, wusch und kleidete sich
rascher an als sonst. Als er aber den Rock zuknöpfte, überfiel ihn eine
eigentümliche Beklommenheit. Als ginge er einem hochnotpeinlichen Examen
entgegen, so war ihm plötzlich zumut.

Er öffnete die Tür zum Vorzimmer: »Darf ich bitten?«

Eine seltsam gekleidete alte Frau erhob sich, trat einen Schritt näher.
Unter einem bunten Kopftuch stand ein schneeweißer Scheitel. Die Füße
steckten in schwarzen Schnürschuhen, in der Rechten trug sie einen
derben Schirm, auf den sie sich stützte, als wenn ihr das Stehen schwer
fiele. Aus dunklen Augen sah sie Gaston prüfend an. Schließlich seufzte
sie leicht auf und kam langsam ins Zimmer. Gaston schloß hinter ihr die
Tür.

»Sie wollten mich persönlich sprechen?«

»Ja, Herr Hauptmann,« sagte sie, »und sehen! Damals als Sie zum ersten
Male bei uns waren, hatte ich keine Gelegenheit.«

Sie sprach ein ganz korrektes Deutsch, nur in der harten Betonung
gewisser Vokale verriet sich ein slawischer Anklang.

Gaston wurde es unter den musternden Blicken unbehaglich zumute.

»Sie stehen zu Frau Rheinthaler wohl in einem besonders vertrauten
Verhältnis?«

»Ihre Mutter war zu eitel, da hab' ich sie genährt. Seit sie zum ersten
Male in meinen Arm gelegt wurde, habe ich sie nicht mehr verlassen.«

»Na, das ist sehr nett von Ihnen!« Ihm fiel im Augenblick nichts anderes
ein als diese banale Wendung. Und, mit einem Versuche zu scherzen,
fügte er hinzu: »Sie sehen mich so prüfend an. Gefalle ich Ihnen nicht?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Darauf kommt es nicht an. Nur eins: Sie haben ihren Brief gelesen.
Danach mußte ich fast eine halbe Stunde warten! Haben Sie so lange Zeit
gebraucht, sich Ihre Antwort zu überlegen?«

Gaston fuhr mit gemachtem Unwillen auf.

»Hätte ich Sie vielleicht im Schlafzimmer empfangen sollen? Ich mußte
mich doch erst anziehen!«

Sie schüttelte den Kopf, ohne die forschenden Augen von seinem Gesicht
zu wenden.

»Ich bin ein altes Weib, vor mir brauchten Sie sich nicht zu genieren. Und
es ist schon richtig. Sie sehen nicht aus wie einer, der sich vor Freude
nicht zu lassen weiß! Aber ich werde ihr was vorlügen. Sie würde sterben,
wenn ich ihr die Wahrheit sagen wollte! Seit dem ersten Tag, wo sie mir
von Ihnen erzählte, ist sie krank. Erst als ich ausgekundschaftet hatte,
daß Sie es mit keiner anderen hielten, daß Sie frühmorgens in das große
rote Haus am Königsplatz fuhren und erst spät in der Nacht wieder
heimkehrten, beruhigte sie sich.«

Gaston richtete sich auf. Es widerstrebte ihm, eine Unterhaltung
weiterzuführen, bei der er wie auf einem Armesünderbänklein saß.

»Es ist genug. Empfehlen Sie mich Ihrer Herrin, ich werde mir erlauben,
um fünf Uhr bei ihr zu sein!«

»Weiter soll ich ihr nichts ausrichten?«

»Nein!«

Die Alte trat näher, umklammerte seinen Arm.

»Lieber, guter Herr, seien Sie nicht böse. Ich müßte mich ja selbst
verfluchen, wenn ich mir sagen müßte, ich hätte etwas bei Ihnen
verfehlt. Nur, weil ich sie so sehr liebe, daß ich mein Herzblut
verspritzen könnte für sie, meine ich immer, allen anderen müßte es
ebenso gehen. Also, Herr, sagen Sie mir nur ein einziges Wort, damit ich
mich vor meinem Kind nicht so zu verstellen brauch' ...«

Gaston machte sich unwillig los.

»Aber, meine Verehrteste, wer mutet Ihnen denn zu, daß Sie sich
verstellen sollen! Richten Sie der gnädigen Frau einen schönen Gruß von
mir aus! Alles, was unsere Zukunft angeht, werde ich heute nachmittag
persönlich mit ihr besprechen.«

»Dazu wird vielleicht keine Gelegenheit sein. Heute nacht hatten wir
alles gepackt, um fortzugehen. Da kam der Herr nach Hause, von der
anderen. Wie er unsere Vorbereitungen sah, gab es einen schrecklichen
Anfall. Ich glaubte, es ging schon zu Ende, aber er erholte sich wieder.
Dann hat er geweint und gebettelt, sich die Haare gerissen und
geschworen, er würde der anderen den Laufpaß geben. Die Josepha hat ihm
nicht geantwortet, und jetzt läßt er sie nicht aus den Augen. Sitzt in
seinem Stuhl und spricht kein Wort, bettelt nur immer mit den Augen.«

Gaston wandte sich ab, unsäglich widerwärtig war das alles.

»Na, dann sagen Sie Ihrer Herrin, es tut mir leid, aber unter diesen
Umständen kann ich keinen Fuß in das Haus ihres Mannes setzen! Sie wird
mir das nachfühlen.«

Die Alte hob die dürre Hand.

»Um Gottes willen, Herr, das geht nicht! Sie wartet auf Sie wie auf den
Heiland. Um Sie noch einmal zu sehen und daraus Mut zu schöpfen für
alles, was ihr noch bevorsteht. Wollen Sie ihr da dies kleine Opfer
nicht bringen?«

»Es ist gut,« sagte er mit einem Aufatmen, »ich komme! Und da es unter
all den Umständen wohl keinen anderen Weg gibt -- richten Sie ihr etwas
aus, was ich ihr sonst persönlich gesagt hätte. Ich setze allerdings
dabei voraus, daß ich Ihnen vollkommen vertrauen darf.«

Die Alte reckte ihre hagere Gestalt, über ihr vertrocknetes Gesicht flog
ein heller Schein.

»Sie vertraut mir, das muß Ihnen genug sein. Wie an einer Mutter hängt
sie an mir.«

»Nun denn ... Also sagen Sie der gnädigen Frau, ich hätte heute meine
Versetzung in die Front bekommen. In ein kleines Nest an der russischen
Grenze. Ob ich nach Berlin zurückkehre, hängt nicht von mir allein ab.
Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht bestimmt. Es kann ebenso gut sein,
daß ich dort unten für immer bleiben muß. Ich bitte die gnädige Frau
daher, sie möchte es sich noch einmal reiflich überlegen. Ob sie mir
dorthin folgen will, in die engen und beschränkten Verhältnisse ...«

Um die welken Lippen der Alten flog ein bitteres Lächeln.

»Ich verstehe! _Sie_ möchten sich's noch einmal überlegen. Aber das geht
nicht an, sie würde es nicht verwinden. Und nun hören Sie mir gut zu!
Ich leide es nicht, daß Sie ihr wehe tun. Strafen wird die heilige
Mutter Gottes Sie, wenn Sie Ihr Wort brechen, und ich werde ihr Werkzeug
sein. Ich schwöre Ihnen, Sie können an das Ende der Welt fliehen, ich
werde Sie erreichen!« Hochaufgerichtet stand sie da, die dunklen Augen
in dem gelben Gesicht blitzten in fanatischem Glanz.

Gaston hatte ihr ärgerlich ins Wort fallen wollen, aber die Alte war
nicht zu beirren. Da ließ er sie aussprechen. Ueber die Drohung zum
Schluß mußte er lachen. Sie war auch überflüssig, er hatte sich ja
längst schon entschieden. Nur es war etwas in ihm, was ihn trieb, genau
so ehrlich zu sprechen wie die andere da, die ihrer Herrin in blinder
Treue ergeben war.

»Sie haben richtig geraten, Frau ... Frau ...«

»Ursula heiß' ich,« fiel die Alte ein, »Ursula Blazitschek aus
Deutsch-Brod in Böhmen.«

»Also, Frau Ursula, sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich heute nacht noch
gewissenhaft mit mir zu Rate gegangen bin. Daß ich auch heute noch
überlegte, ob ich sie nicht bitten sollte, mir mein Wort wieder
zurückzugeben. Das ist jetzt anders geworden. Nach dem Brief da ...
nicht nach Ihren Drohungen. Die würden mich nicht einen Schritt weiter
treiben, als ich zu gehen entschlossen wäre. Ich habe vieles zu
überwinden, aber ich hoffe, es wird mir gelingen. Ich will ihr die Treue
halten, mehr kann ich heute nicht versprechen. Wenn sie damit zufrieden
ist, soll sie mir folgen. Gott gebe, daß es ihr und mir zum Guten
ausschlägt.«

Die Alte beugte sich hinab. Ehe er es verhindern konnte, hatte sie den
Schoß seines Ueberrockes an die Lippen gezogen.

»Dank, Herr! Jetzt wird sich alles zum besten wenden. Nur ihr werde ich
nicht alles wiedersagen, was wir gesprochen haben. Wozu soll sie sich
mit Zweifeln betrüben? Sie hat genug gelitten in dieser Zeit! Um Euer
Glück aber ist mir nicht bange ... Und jetzt, Gott befohlen, Herr! Ich
werde zusehen, ob es nicht möglich sein wird, daß Ihr Euch heute
nachmittag für ein paar Minuten allein sehen könnt.«

Sie knixte und ging eilig hinaus, ohne sich umzublicken. Ein paar
Augenblicke war ihm zumute, als ginge das alles nicht ihn an, sondern
einen Fremden. Wie in einem Theater kam er sich vor, in dem sich
allerhand seltsame Geschehnisse abspielten. Wenn der Vorhang fiel, war
die Täuschung vorüber. Man zog sich den Paletot an und trat wieder in
die Wirklichkeit hinaus. Er schüttelte den Kopf und begann nachzudenken.
Ein Mann, der sich fest in der Hand zu halten glaubte, trieb willenlos
in dem Strom des Schicksals, Zufälle bestimmten ihm den Weg, blinde und
alberne Zufälle, die jählings einfielen, wie eine aus verkehrter
Richtung in die Segel schießende Böe. Einen Tag später war die Arbeit
fertig, und er hätte die Frau, die jetzt sein Schicksal wurde,
vielleicht nie wiedergesehen. Oder der Hauptmann Sternheimb, der gestern
die Arrangements des lustigen Abends besorgte, wäre auf die Idee
gekommen, ein anderes Ballokal für den Nachtbummel vorzuschlagen.
Verrückt konnte man werden, wenn man darüber nachdachte.

Der Bursche brachte das Frühstück herein, Gaston stürzte hastig eine
Tasse Tee hinunter. Es war höchste Zeit, sich in den Dienst zu begeben.
Und allmählich mußte er sich auch in eine Art von Freudengefühl
hineinsteigern, damit seine Danksagung bei dem Oberst Wegener nicht der
nötigen Wärme entbehrte. Aber es gelang nicht. Immer mußte er denken,
daß er in den so heiß ersehnten neuen Wirkungskreis nicht eine lockende
Hoffnung mitnahm, sondern eine drückende Last -- -- --

       *       *       *       *       *

Der Oberst war sehr guter Laune, als er seinen Schützling empfing. Nur
hatte er wenig Zeit, denn er war zum Vortrage befohlen worden, konnte
jeden Augenblick abgerufen werden. Er ordnete Papiere und Akten, als
Gaston in sein Zimmer trat.

»Na, lieber Foucar, wie ist Ihnen jetzt zumute?« rief er ihm entgegen.
»Freuen Sie sich?«

»Außerordentlich! Und ich weiß gar nicht, wie ich Herrn Oberst für all
die Güte und Fürsorge ...«

»Ist schon gut, ich freue mich mit, daß ich's hab' zurechtschieben
können. Hauptsächlich für den Ordensburger Kommandeur. Der kann Leute
wie Sie gebrauchen. Ich hab's Ihnen wohl schon neulich gesagt, er ist
ein guter Freund von mir, der Oberstleutnant Harbrecht -- noch von der
Kriegsschule her. Ich hab' ihn um ein paar Nasenlängen überholt ... na
schön. Grüßen Sie ihn von mir! Und sagen Sie ihm im Vertrauen, er soll
den alten Säbel schleifen. Es liegt eine verdammt schwüle Spannung in
der Atmosphäre.«

Gaston atmete tief auf. Und jetzt kam endlich die Freude über ihn. Das
war vielleicht die Lösung aus all der Wirrsal, in die ihn diese
vergangene Nacht gestürzt hatte.

»Glauben Herr Oberst wirklich?«

Der Chef zuckte mit den Achseln.

»Ich vermute nur! Ich habe mich in dieser Zeit schon so oft mit meinen
Prophezeiungen blamiert. Vielleicht heißt's morgen, wieder 'rin in die
Kartoffeln! Aber wo der Oberstleutnant Harbrecht mit seinen Dragonern an
_der_ Seite sozusagen am dransten ist, kann's nicht schaden, wenn er noch
schärfer aufpaßt als sonst. Ich glaube, unsere Herren Nachbarn im Osten
werden sich im Ernstfalle nicht lange mit der Vorrede aufhalten. Sie
haben um Szuczin, Grajewo, und wie die Nester alle sonst heißen mögen,
einen ganz anständigen Pulk Kosaken versammelt, und unsere Grenze bis zu
dem masurischen Seendefilee ist offen. In einer Nacht können sie bis
Lötzen reiten.«

»Ich danke Herrn Oberst für die Mitteilung. Ich werde es Herrn
Oberstleutnant Harbrecht ausrichten.«

»Na, dem erzählen Sie mit dem letzten keine Neuigkeiten, der weiß in
seinem Kram Bescheid. Das war mehr für Sie, damit Sie sich gleich zu
Anfang bei ihm ein bißchen nett einführen können!«

»Herzlichen Dank, Herr Oberst. Ich hatte inzwischen auch schon
Gelegenheit genommen, mich wenigstens oberflächlich über die dortigen
Verhältnisse zu unterrichten. Herr Major Nahmacher hatte die Güte, mir
auf meine Bitte das einschlägige Material in seinem Bureau für eine
Stunde zur Einsicht zu überlassen.«

Der Chef nickte wohlgefällig.

»Um so besser! Aber jetzt einen kleinen Tropfen Wermut in den Becher der
Freude: Urlaub is nich! Wenn die Zeiten wider Erwarten ruhig bleiben
sollten, nach dem Manöver.«

»Sehr wohl, Herr Oberst. Ich hatte sowieso nicht darauf gerechnet. Jetzt
natürlich erst recht nicht, ich müßte mich ja schämen. Und ich habe hier
nicht viel zu besorgen. Ein paar Abschiedsbesuche. Die ärgste
Zeitversäumnis wäre die neue Uniform. Sonst könnte ich schon heute abend
reisen.«

Der Oberst Wegener lachte laut auf.

»So doll ist das Vaterland nun nicht in Gefahr! Die Russen werden ja
nicht gleich morgen anfangen.«

Eine Ordonnanz betrat das Zimmer, stand an der Tür stramm.

»Was' los?«

»Exzellenz erwarten den Herrn Oberst.«

»Es ist gut, ich komme sofort!«

Der Chef griff nach seiner Mappe.

»Tut mir leid, lieber Foucar, ich hätte gerne noch ein Weilchen mit
Ihnen geplaudert. Von meinem lieben Ostpreußen. Ich hab' da 'ne Masse
Verwandte, denen können Sie Grüße bestellen! Die Leitners in Prawdowen,
die Ahrens in Sarken, den Reichs- und Landtagsabgeordneten Gorski auf
Kalinzinnen ... mit einem himmlischen Kerl von Tochter. Ich alter Esel,
als ich das letzte Mal auf Urlaub war, verschoß mich in das Mädel, daß
meine gute Alte beinahe eifersüchtig wurde ... Na, das soll natürlich
kein Wink mit dem Zaunpfahl sein. Von diesen herrlichen Edelfohlen
läuft da auf dem Lande noch eine ganze Masse herum. Also, jetzt Schluß,
lieber Foucar, und adieu!« Er schüttelte seinem gewesenen Untergebenen
kräftig die Hand: »Alles Gute auf den Weg, und schreiben Sie mir mal!«

Gaston fühlte es heiß im Herzen aufsteigen. Ganz unwillkürlich beugte er
sich über die Hand, die seine Rechte hielt. Wie die Hand eines Vaters
kam sie ihm vor.

Der Oberst machte eine rasche Bewegung.

»Unsinn,« sagte er, aber seine Stimme klang ein wenig rauh. »Ich hatte
vom ersten Tage an ein Auge auf Sie geworfen, um Sie für mein geliebtes
altes Regiment und die Heimat einzuheimsen. Und jetzt Schluß ... Gott
befohlen!« Er wandte sich ab, ging eilig zur Tür hinaus. Gaston aber
stand noch eine Weile allein, ehe er sich in sein Zimmer zurückbegab. Er
fühlte sich bedrückt von diesem Vertrauen und kam sich nicht mehr so
sauber vor wie früher.

Sein alter Stubenkamerad, Hauptmann von Sternheimb, hob bei seinem
Eintritt den Kopf.

»Sie, Foucar, hier in der Abteilung hat sich eine seltsame Mär
verbreitet. Die Herren im Nachbarzimmer haben es deutlich gehört: der
Alte soll ein paarmal gelacht haben, während Sie Audienz bei ihm hatten.
Richtig gelacht. Also das ist ein so merkwürdiges Vorkommnis ... Morgen
haben wir entweder Erdbeben oder Krieg nach drei Fronten.«

»Vielleicht habe ich ihm einen guten Witz erzählt.«

Herr von Sternheimb lachte.

»So sehen Sie aus! Aber, wenn es nicht indiskret ist: Was wollten Sie
eigentlich bei ihm? So feierlich im besten Ueberrock, mit Zylinderhut
und Säbel?«

»Mich abmelden! Ich bin als Rittmeister zu den Ordensburger Dragonern
versetzt worden.«

Hauptmann von Sternheimb sprang auf.

»Mann Gottes, und das sagen Sie mit so einer Leichenbittermiene? Sausen
wieder mal über ein paar Dutzend Vordermänner weg -- unter anderen auch
über mich -- kommen in die Front, während wir hier wie die Kulis im
Schwitzkasten sitzen müssen. Die hohe Dame, die da unten in der kleinen
süddeutschen Residenz Ihre Schicksale lenkt, scheint wieder einmal recht
tätig gewesen zu sein.«

Gaston verfärbte sich.

»Wie meinen Sie das, Herr von Sternheimb?«

Der andere wurde ein wenig verlegen.

»Entschuldigen Sie, das ist mir so herausgefahren. Aber es geht hier
unter uns eine Legende, Sie erfreuten sich da unten in Süddeutschland,
noch von Ihrem seligen Herrn Vater her, ganz besonders guter
Beziehungen.«

»Das ist ein Irrtum. Mein Papa ist gestorben, als ich kaum ein Jahr alt
war. Ich habe mir mein bißchen Weg allein gemacht, ohne jede Protektion!
Die Versetzung jetzt zu so ungewöhnlicher Zeit verdanke ich unserem
Abteilungschef. Er hat sie mir selbst angetragen!«

Herr von Sternheimb lächelte vielsagend.

»Er schien Ihnen schon immer wohlgewogen zu sein. Na dann: gratuliere
herzlichst!«

Gaston runzelte die Stirn. So wie der hier, dachten alle übrigen.
Kameradschaft existierte doch nur dort, wo einer den anderen nicht zu
beneiden hatte.

»Ich hatte die Absicht, die Herren in unserer Abteilung heute abend zu
einem Abschiedstrunk zu laden. Bitte, empfehlen Sie mich ihnen! Ich muß
früher in Ordensburg antreten, als ich gedacht hatte. Nach der
Stichprobe hier eben zu schließen, wird man mir ja auch nicht allzu viel
Tränen nachweinen.«

Herr von Sternheimb machte eine lässige Handbewegung.

»Ihre eigene Schuld, Herr von Foucar! Sie haben sich ja immer von uns
zurückgezogen. Gestern kriegten wir eine Art von Erklärung und verziehen
Ihnen mit schnödem Neid im Herzen. Minnedienst geht vor Kameradschaft.«

»Wie meinen Sie das?« fragte er, ein wenig unsicher.

»Na, das feuchte Weib, mit dem Sie allein im Auto nach Hause gondelten.
Donnerwetter noch mal, war das 'ne pompöse Erscheinung! Und anscheinend
eine Klasse für sich. Eigenes Auto mit Chauffeur und Diener.«

»Herr von Sternheimb, ich mache Sie darauf aufmerksam. Sie sprechen von
einer Dame der Gesellschaft!«

»Ah, pardon! Der Ansicht war ich nämlich auch, als wir nachher noch bei
einem Gläschen Pilsner beisammensaßen, aber der lange Bledow hatte
zufällig neben Ihnen getanzt und ganz deutlich gesehen, wie Sie Ihrer
Partnerin einen zärtlichen Kuß auf den schneeweißen Schwanenhals
applizierten! Das gab er natürlich unter allgemeiner Heiterkeit zum
besten.«

Gaston wandte sich ab und biß sich auf die Lippen. Herr von Sternheimb
trat näher und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Na, Foucar, nichts für ungut! Wollen nicht im Aerger auseinandergehen.
Wir haben in der Zeit hier doch immer sehr brav zusammengehalten! Und
soll ich vielleicht noch feierlich erklären, daß ich nicht die geringste
Absicht hatte, der Dame zu nahe zu treten?«

»Ist nicht nötig,« erwiderte er mühsam. »Nach den Beobachtungen, die
Herr von Bledow gemacht hatte, konnte es sehr wohl den Anschein haben
... also erledigt!«

Herr von Sternheimb sah ihn nicht ohne Teilnahme an.

»Es tut mir furchtbar leid, lieber Foucar, falls ich da an etwas gerührt
haben sollte ... Ich habe mir nichts dabei gedacht! Aber Sie werden mir
zugeben, es ist doch, gelinde gesagt, ein bißchen ungewöhnlich, daß eine
Dame der Gesellschaft sich mitten unter diese kleinen Mädchen mischt.«

»Ist ja schon gut,« sagte Gaston gequält, »wollen die Sache nicht unnütz
breittreten! Nur so viel noch: wenn sich jemand Vorwürfe zu machen hat,
bin ich es, ganz allein. Ich habe die junge Frau, die sich in Begleitung
ihres Mannes und noch einiger Herrschaften den Balltrubel aus Neugierde
'mal ansehen wollte ... dabei ist doch nichts, nicht wahr? ... Ja also,
ich habe die Dame dazu verleitet, mit mir einmal herumzutanzen. Daß ich
mir nachher diese unbegreifliche Unverschämtheit erlaubte, dafür kann
sie nichts. Ich muß gestern nicht recht bei Sinnen gewesen sein. Sie
würden mich zu Dank verpflichten, lieber Sternheimb, wenn Sie den
Herren, die gestern mit von der Partie waren, in dieser Richtung --
gelegentlich einmal -- eine Aufklärung geben würden.«

»Aber natürlich! Herzlich gerne,« beeilte sich der andere zu versichern.
»Wir hatten ja alle gestern ein bißchen scharf getrunken. Wenn man da
einer schönen Frau ein wenig allzu keck huldigt, noch dazu in einer
solchen Umgebung ... na, das läßt sich begreifen. Sie scheint es Ihnen
ja auch nicht übelgenommen zu haben, stieg mit Ihnen ganz vergnügt in
das Auto ... Der lange Below rief Ihnen noch zu: Viel Vergnügen! aber
Sie hörten nicht mehr.«

»Nein, allerdings nicht ... ist mir ganz entgangen, sonst hätte ich dem
Herrn wohl eine recht deutliche Zurechtweisung ... Na ist gut! ... Also
dann adieu, Sternheimb.«

»Adieu, lieber Foucar, grüßen Sie mir das liebe alte Nest da an der
Grenze. Wenn nichts dazwischen kommt, sehen wir uns zum Herbst
vielleicht wieder. Ich habe da einen weitläufigen Vetter, der hebt mir
immer ein paar gute Rehböcke auf. Sie kennen ihn übrigens auch. Vor 'nem
Jahr ungefähr hat er mich hier besucht, und Sie waren so liebenswürdig,
den endlosen Nachtbummel mitzumachen. Der junge Kersten war noch dabei,
von den Königsberger Kürassieren.«

»Ganz recht, jetzt entsinne ich mich. Na dann nochmals adieu und
hoffentlich auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, lieber Foucar, und alles Gute.«

Als Gaston nach der Erledigung der üblichen Formalitäten und den
notwendigen Abmeldungen das große Gebäude am Königsplatz verließ, würgte
ihn etwas am Halse.

Ganz erbärmlich kam er sich vor, aber es ging nicht anders, er mußte die
Fessel wieder abstreifen, in die er sich bei nicht ganz klaren Sinnen
verstrickt hatte. Was er sich unter dem Eindruck des Briefes am frühen
Morgen zurechtgelegt hatte, als könnte er mit Frau Josepha in dem
kleinen Städtchen wie auf einer Insel leben, war frommer Selbstbetrug
gewesen. Torheit war es doch, zu glauben, daß dort niemand hinkommen
könnte, der Josephas Vergangenheit kannte. Das Gespräch eben mit dem
Hauptmann von Sternheimb war lehrreich genug gewesen.

Zwei Dinge gab es nur, zwischen denen er zu wählen hatte: seine Karriere
als Soldat oder die Frau. Da mußte man hart sein, alle sentimentalen
Regungen über die linke Schulter werfen und sich frei machen!

Und schließlich, wenn man sich die ganze Angelegenheit jetzt einmal im
klaren Tageslichte besah, was war denn Großes geschehen? Eines jener
hysterischen Weibchen, die in Berlin zu Tausenden herumliefen, hatte
sich in ihn verliebt. Sah in ihm den Retter aus aller Not und -- mal das
Ding beim richtigen Namen genannt -- warf sich ihm an den Hals. Er hatte
sich einfangen lassen in der seltsam gesteigerten Stimmung der Nacht.
Jetzt war es wieder heller Tag, und da kam man zur Besinnung. Richtete
seinen Weg nach vernünftigen Ueberlegungen, statt nach unklaren und halb
trunkenen Empfindungen. Wenn es dabei auch nicht ohne eine gewisse
Brutalität abging. Das war gesunder Selbsterhaltungstrieb!

Und unwillkürlich mußte er denken, ein anderer an seiner Stelle hätte
vielleicht skrupellos die Gelegenheit benutzt, die schöne Frau zu
seiner Mätresse zu machen. Er aber, in dem Respekt, den nur von einer
Mutter erzogene Männer vor allem hegten, was Weib hieß, er hatte gleich
sich selbst eingesetzt und seinen Namen. Da stand denn doch Gewinn zu
Verlust in einem zu argen Mißverhältnis. Und wenn er wenigstens noch
eine Spur von Liebe empfunden hätte! Aber nichts, rein gar nichts als
ein bißchen Mitleid.

Er stöhnte auf und ballte im hastigen Dahinschreiten die Faust: Schwerenot
noch einmal, das war nicht genug, um darauf ein Mannesschicksal
aufzubauen! Er konnte sich an diesem Mitleid doch nicht einfangen lassen
wie an einem Strick. Da mußte man sich losreißen mit ein paar kurzen
Worten heute nachmittag und nach dem Abschied nicht rückwärts schauen.
Auch nicht grübeln und sich selber Moralpauken halten. Eine dunkle Stunde,
an die er nicht ohne eine gewisse Scham zurückdachte, hatte schließlich
jeder in seinem Leben. Das mußte man nicht tragisch nehmen. Namentlich,
wenn es um eine Frauenzimmerangelegenheit ging. Da gab es ein bißchen
Geflenn und Geplärre, man plagte sich selbst eine Weile lang mit
Gewissensbissen, schimpfte sich mal Schweinehund -- wenn's gar zu arg
wurde, betäubte man sich mit einer guten Flasche. Und dann kam die liebe
Zeit, brachte allmählich Vergessenheit. Man mußte sich nur von gewissen
altfränkischen Vorstellungen losmachen. Daß Wort Wort war! Ob man es nun
einem Manne abgegeben hatte oder einem Weibe, in der Trunkenheit oder bei
vollkommen klaren Sinnen.




4.


Als Gaston nach Hause kam, lag auf dem Tische die offizielle Bestätigung
der privaten Nachricht, die er in der gestrigen Nacht erhalten hatte.

Er überlegte. Wenn er eine Depesche an seinen neuen Kommandeur schickte,
hätte der ihm die paar Tage Urlaub wohl nicht abgeschlagen. Eigentlich
brauchte er nicht viel mehr als sechsunddreißig Stunden, um zu seinem
alten Mütterchen hin und zurück zu fahren. Und da hätte er sich in einer
Aussprache wohl Klarheit und Trost holen können. Aber wie sollte er es
anfangen, der schlichten alten Frau all das zu schildern, was in seinem
besonderen Falle mitspielte? Sie hätte ihn vielleicht gar nicht
verstanden, nach dem altüberkommenen Schema Schwarz oder Weiß geurteilt.
Daß modern empfindende Menschen da allerhand Schattierungen und
Zwischenstufen einschoben und danach ihr verständnisvolles Urteil
einrichteten, hätte sie wohl nicht begriffen. Und danach wäre sie, wie
immer, auf den eigenen Kummer gekommen, der ihr ganzes Leben zerstört
hatte. Auf den allzufrühen Verlust des Gatten, der nach kaum
zweijähriger Ehe in den sicheren Tod gegangen war. Als Kammerherr und
Hofmarschall der Großfürstin Anna Feodorowna, die sich als Witwe an den
heimatlichen kleinen Hof zurückgezogen hatte. Für den Ruf seiner Herrin
hatte er sich geschlagen, den ein frecher Höfling in den Staub gezerrt.
Aus glatter, blanker Vasallentreue hatte er sich geschlagen, wie ein
Kavalier des =Ancien régime=, aber seine Frau witterte etwas anderes
dahinter, ein Verhältnis mit der leichtlebigen Großfürstin. Und davon
war sie nicht abzubringen, auch nicht, nachdem sie den Brief gelesen
hatte, der ihrem Sohne von dem Vormunde eingehändigt wurde an dem Tage,
als er Offizier wurde.

   »Mein Junge, es wird etwas lange dauern, bis Du nach meiner
   Bestimmung diesen Brief zu lesen bekommst. Du sollst erst reif genug
   sein, Dir selbst ein Urteil über Deinen Vater zu bilden. Ich werde
   morgen früh im Zweikampfe erschossen werden, denn mein Gegner hat in
   der Handhabung der Pistole eine größere Fertigkeit. Ich weine bei dem
   Gedanken, Dich und Deine Mutter allein zurückzulassen, aber ich
   sterbe im Dienst. Im Dienst der Herrin, der ich mich gelobt habe. Sie
   ist ein Racker, ich weiß es, aber ihr Ruf wurde öffentlich
   beschimpft, und ich muß als der =Cavaliere servente= dafür eintreten.
   Getreu dem Wahlspruch unseres alten Geschlechts: =mon âme à Dieu, mon
   épée au roi, mon coeur aux dames!= Deine Mutter als reine Deutsche
   versteht das nicht. Sie glaubt, ich hätte ein sträfliches Verhältnis
   mit meiner Herrin. Dir gebe ich mein Wort, es war nicht der Fall,
   trotz öfterer Gelegenheit. Dazu hatte ich Deine Mutter viel zu lieb.

   In den hundert Jahren, die unser Geschlecht jetzt in dem
   schwerfälligen Deutschland lebt, ist uns jene frohe und leichtblütige
   Galanterie abhanden gekommen, die an unverbindliche Zärtlichkeiten in
   schwüler Stunde nicht den Maßstab eines Wüstenpredigers legt. Da
   langweilte sich meine hohe Herrin mit mir, wählte für ihr =loisir=
   einen Burschen, der nicht luftdicht war, der im Trunk mit der
   genossenen Gnade großsprecherisch prahlte. Es tut mir leid, daß ich
   wegen mangelnder Fertigkeit diesen Lumpen nicht gebührend züchtigen
   kann. Der Schlag ins Gesicht war nicht genug.

   Und nun leb' wohl, mein Junge. Es tut mir leid, daß ich Dich der
   Erziehung Deiner Mutter überlassen muß. Sie wird einen deutschen
   Pedanten aus Dir machen, der mal eine wohlerzogene Geheimratstochter
   heiratet. Das letzte Tröpfchen gallischen Abenteurersinnes wird
   verloren sein. Aber vielleicht ist es gut so -- -- -- -- -- -- -- --
   -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

   Ich habe in dem Brief eine Pause gemacht, eine ganze Weile saß ich an
   Deinem Bettchen. Du schliefst ruhig, die kleinen, runden Fäuste gegen
   das Näschen gestemmt. Deutlich erkannte ich das Zeichen der Foucar,
   den leichtsinnigen kleinen Knick nach links, aber man wird ihn Dir
   schon austreiben. Danach bettelte ich noch einmal an einer
   verschlossenen Tür -- sie tat sich mir nicht auf. Vielleicht wäre
   dann noch alles anders gekommen.

   Also adieu, mein Junge! Einen Rat gebe ich Dir auf den Weg: bleibe
   ledig! Dann bleibst Du auch frei. Die Nation mit den langen Haaren
   ist von kurzem Sinn. Eine Beleidigung, die Du ihrer Eitelkeit angetan
   hast, verzeihen sie selbst auf dem Totenbette nicht. Du kannst sie
   schlagen, sie werden Dir verzeihen. Aber haben sie Dich im Verdacht,
   eine andere hätte mal Deine Sinne gereizt, bist Du ein Verbrecher,
   der am Allerheiligsten gefrevelt hat!

   Unten fährt der Wagen vor, man holt mich zu meinem letzten Gange.
   Grüß Deine Mutter, denk von dieser Stunde über Deinen Vater anders,
   als man Dich bisher gelehrt hat!

                                     Gaston Baron Foucar de Kerdesac.«

Den Brief hatte er damals so oft gelesen, daß er ihn auswendig konnte.
Aber die Mutter war selbst durch dieses im Angesicht des Todes
geschriebene Bekenntnis nicht umzustimmen gewesen, hatte daraus nur eine
neue Kränkung gelesen. Und er konnte es begreifen, denn als ein
verwöhntes reiches Mädchen hatte sie unter zahlreichen Bewerbern dem
Einen den Vorzug gegeben, der sich -- ihrer Meinung nach -- nachher als
ein Wortbrüchiger und Treuloser erwies. Und im Laufe der Jahre hatte sie
sich immer mehr in ihrem Urteil verstockt, suchte bei allen ähnlichen
Konflikten, von denen sie vernahm, die Schuld nur auf seiten des Mannes.
Da hätte sie vielleicht auch in seinem Fall ohne Ansehung der besonderen
Umstände entschieden, und damit war ihm nicht gedient. Er brauchte einen
glatten Freispruch, sonst hätte sich die weite Reise nicht gelohnt.

Der Tag ging herum unter vielfältigen Besorgungen wie eine kurze Stunde.
Die Uhr zeigte auf fünf, und da konnte er sich immer noch entschließen,
ob er den kurzen Abschied mündlich besorgte oder durch ein paar Zeilen,
die sein getreuer Bursche Häberle überbrachte. Aber das hätte
vielleicht wie eine Art von Feigheit ausgesehen, als schämte er sich
seines Rückzuges.

Das Auto hielt vor dem hohen schmiedeeisernen Gitter, das die prunkvolle
Rheinthalersche Villa von der Straße schied.

Der Diener, den er mit seiner Karte hineingeschickt hatte, kam zurück:
»Herr und Frau Rheinthaler lassen bitten.« Gaston folgte ihm durch die
weite Halle in ein halbdunkles Zimmer, in dem sich das ans helle
Tageslicht gewöhnte Auge erst allmählich zurechtfand. Eine Art von
Boudoir schien es zu sein mit einem Stutzflügel in der Mitte ... Bilder
in Goldrahmen an den Wänden.

Hinter einem mit Patiencekarten bedeckten Tische erhob sich mühsam eine
hagere Gestalt, ein paar unruhige Augen flackerten in einem verfallenen
Gesicht.

»Ei sieh da, Herr Baron, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie
sich nach uns umsehen!« Herr Rheinthaler streckte dem Eintretenden die
Hand entgegen: »Sie bleiben selbstverständlich zum Abend da. Wir
telephonieren rasch ein paar nette Leutchen zusammen.«

Gaston tat, als hätte er die Bewegung nicht gesehen. Erbärmlich wäre er
sich vorgekommen, wenn er dem Manne da die Hand gereicht hätte. Er
verneigte sich, den Helm in der Rechten.

»Ich bedauere lebhaft, Herr Rheinthaler, meine Zeit ist leider sehr
knapp. Ich komme nur, um mich zu verabschieden. Gestern nacht, als ich
nach Hause kam fand ich ein Telegramm vor, das mir meine Versetzung
ankündigte. Nach Ordensburg in Ostpreußen, zu dem Dragonerregiment Graf
von Schmettau.«

Frau Josepha, die mit einem Buche am Fenster gesessen hatte, kam näher.
Sie sah blaß und übernächtig aus, um ihre Augen lagen tiefe Schatten.
Als Gaston ihre von blitzenden Ringen bedeckte Hand an die Lippen zog,
spürte er einen leisen, zärtlichen Druck, der ihm das Blut in die Wangen
trieb. Sie machte eine zum Platznehmen einladende Bewegung, setzte sich
selbst auf einen niedrigen Hocker ganz in seiner Nähe.

»Die Versetzung ist Ihnen wohl sehr überraschend gekommen?«

Er sah sie ein wenig unsicher an. In der anscheinend so harmlosen Frage
hatte ein geheimer Unterton angeklungen, fast wie ein Vorwurf: »Weshalb
hast Du mir das gestern verschwiegen?«

»Ueberraschend? Doch nicht so ganz, gnädige Frau! Mein Abteilungschef,
der mir sehr gewogen ist, hatte sie mir schon vor Wochen angekündigt. Es
ist eine große Auszeichnung, und ich freue mich sehr darüber.«

Herr Rheinthaler, der seine Patience wieder aufgenommen hatte, warf ein:
»Daß Sie nach Ordensburg kommen? Ich kenne das Nest! Vor ein paar Jahren
war mir da in der Nähe ein Jagdgut angeboten. Wenn ich im Hotel nicht
einen Weinreisenden getroffen hätte, der mit mir um die halben Pfennige
Piquet spielte -- ich wäre umgekommen vor Langerweile. In zwei Tagen!
Wie vernünftige Menschen es dort ein Leben lang aushalten, ist mir ein
Rätsel!«

»Nun,« sagte Frau Josepha mit einer gewissen Schärfe, »dafür gibt es
eine sehr einfache Lösung: sie arbeiten! Haben irgend eine Tätigkeit,
die sie ganz ausfüllt. Nur die Leute, die dem lieben Gott den Tag
abstehlen, langweilen sich.« Und zu Gaston gewandt, fuhr sie fort: »Ich
kann es mir sehr gut vorstellen, das Leben in so einer kleinen Stadt.
Auch für eine Frau ... Kein Theater, keine Bälle, keine rauschenden
Vergnügungen, nur Ruhe und Stille. Einen Mann, den man von ganzem Herzen
liebt, dem man genug ist. Man richtet ihm das Haus so behaglich, als es
nur möglich ist, streicht ihm die Falten aus der Stirn, wenn er müde und
verärgert vom ... von der Arbeit kommt ... und abends plauscht man,
macht ein bisserl Musik oder liest ein gutes Buch. Wundervoll denk' ich
mir das! Keine lästigen Menschen ringsum, nur zwei für sich ganz
allein.«

Sie brach ab und sah mit sehnsüchtigen Augen durch das von dichtem Grün
umrankte Fenster ins Weite, als erblickte sie dort ein fernes Glück.

Gaston spürte deutlich, all das war für ihn gesagt. Die Antwort war es
auf die Frage, die er ihr durch die Alte am Vormittag gestellt hatte. Da
dauerte es ihn fast, daß er diesen Glückstraum mit rauher Hand zerstören
mußte.

Herr Rheinthaler lachte kurz auf und zwinkerte ihm vertraulich zu.

»Das sind so Stimmungen, mein verehrter Herr Hauptmann! Oder muß man
schon Rittmeister sagen, weil Sie jetzt doch bei der Kavallerie sind?
Ich kenne mich als gänzlicher Nichtsoldat da nicht aus.«

»Es ist ziemlich egal, Herr Rheinthaler.«

»Na dann, von dieser Schwärmerei eben für die kleine Stadt müssen Sie
ein bißchen Jammer in Abrechnung bringen! Ehe wir in dem Ballokal
landeten, hatten wir schon eine recht ausgiebige Sitzung hinter uns. Und
meine teure Gattin hatte sich geärgert. Da trinkt sie noch mehr Sekt als
gewöhnlich.«

»Ist nicht wahr,« fuhr Frau Josepha auf. Die Zornröte färbte ihr die
Wangen.

»Aber Peperl, ich hab' Dir doch zugesehen! Du kannst ja einen ganz
gehörigen Posten vertragen, aus langjähriger Uebung, aber gestern ...
Und wie Du gegen das arme Wurm, die Sandori, losgingst, wußte ich
Bescheid.«

Gaston fühlte einen Knäuel im Halse aufsteigen. Zwei Trunkene hatten
gestern leichtfertige Liebesschwüre ausgetauscht. Und da hatte der Narr
sich darum eine schlaflose Nacht gemacht, eine Nacht voll peinigender
Selbstvorwürfe ... Er griff nach seinem Helm und erhob sich.

»Verzeihen Sie gütigst, gnädige Frau, ich möchte um die Erlaubnis
bitten ...«

Frau Josepha sah ihn erschreckt an. »Um Gottes willen,« sagte sie
unwillkürlich. Und Herr Rheinthaler legte seine Patiencekarten hin und
trat auf ihn zu.

»Aber, mein bester Herr Baron, weshalb denn? Weil meine Frau sich mit
mir ein bißchen gekabbelt hat? Das kommt in den besten Ehen vor! Und
wir sind schon auf dem Wege, uns wieder zu vertragen -- sie schmollt nur
noch ein wenig!«

»Herr Rheinthaler, ich möchte wirklich nicht länger ...«

»Ne, ne,« sagte der Hausherr und drückte ihn auf den Stuhl zurück. »Es
wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie in Ihr kleines Nest da oben eine
schlechte Erinnerung an uns mitnehmen würden. Außerordentlich peinlich
wäre mir das! Und wo der Zufall Sie dazugeführt hat, wie wir uns gestern
verzankten, müssen Sie jetzt auch hören ... Also, das sah alles
schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war! Ich hatte auch ein bißchen
mehr Sekt im Leibe, als mir der Doktor erlaubt hat, und dann -- sehen
Sie -- das kommt ja vor, daß man sich mal in eine andere vergafft. Nur
äußerlich! Das sind so temporäre Verrücktheiten ... man besinnt sich
wieder. Kehrt zu dem allein seligmachenden Hausaltar zurück, vor dem man
in überirdischem Glück geopfert hat. Das Bild, das darauf thront, wird
ja nicht immer unerbittlich bleiben, sich dem reumütigen Sünder wieder
in Gnade neigen.«

Er sprach an seinem Gaste vorbei, seine Augen hingen bettelnd an der
Frau, die sich zum Fenster gewandt hatte.

Ein glattrasierter Kammerdiener mit der Vornehmheit eines englischen
Lords kam aus der zum Nebenzimmer führenden Tür, räusperte sich leicht
und blieb schweigend stehen. Herr Rheinthaler wandte ärgerlich den
Kopf.

»=What is the matter?=«

»=Excuse Sir, the Professor Abner is waiting for you!=«

Herr Rheinthaler sah seine Gattin mit einem gewissen Mißtrauen an: »Wer
hat denn den um diese Zeit bestellt? Mitten aus seiner Sprechstunde?«

Frau Josepha zuckte die Achseln: »Vielleicht Du selbst? Ich kümmere mich
doch nicht um Deine Kuren.«

Gaston blickte zu Boden. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. In wenigen
Augenblicken war er allein mit der Frau da drüben, und dann mußte er
allerhand unbarmherzige Worte sprechen.

Herr Rheinthaler hatte dem Diener Bescheid gesagt, jetzt wandte er sich
zu seinem Besucher.

»Entschuldigen Sie mich, lieber Herr Baron, aber ich kann den Professor
nicht warten lassen. Jede Minute bei so einer Kapazität kostet ein
kleines Vermögen, und ich möchte meiner Frau doch nach meinem Tode noch
einiges hinterlassen. Der Abner wird mich ein bißchen trösten, ein
bißchen massieren und wieder trösten. Was wirklich mit mir los ist, weiß
ich doch bloß allein. In spätestens vier Wochen schwimm' ich ab.« Wieder
richteten seine Augen sich bettelnd zum Fenster, ein leichter
Hustenanfall erschütterte seine Brust. Er unterdrückte ihn mühsam, um
seine schmalen Lippen flog ein verzerrtes Lächeln. »Eins ist jedenfalls
vorläufig noch sicher: in einer Viertelstunde bin ich wieder hier! Ich
hoffe Sie dann zu sehen.«

»Ich muß lebhaft bedauern, Herr Rheinthaler ...«

»Sie sind ein komischer Mensch. Immer, wenn man Sie einladet, bedauern
Sie! Na schön, dann glückliche Reise und -- auf Wiedersehen kann ich
armer Hund leider nicht mehr sagen! Aber wenn Sie mal auf Urlaub nach
Berlin kommen, besuchen Sie meine 'lustige Witwe'. Sehen mal nach, mit
wem sie sich getröstet hat.« Er streckte seine Hand aus, und diesmal
konnte Gaston nicht ausweichen. Die Hand war kalt und feucht, umspannte
seine Rechte mit kraftlosem Druck. Ein fröstelndes Gefühl flog ihm über
den Rücken. Der Mann konnte nichts dafür. Das lag wohl an seiner
Krankheit, aber er konnte sich nicht überwinden, den Händedruck zu
erwidern.

In der Tür wandte sich Herr Rheinthaler noch einmal um.

»Du, Peperl, wirf mir um Himmels willen die Karten nicht durcheinander!
Die Patience da habe ich auf einen ganz besonderen Herzenswunsch gelegt,
und es scheint fast, als sollte sie diesmal aufgehen.«

Die Portiere schloß sich hinter ihm, die beiden waren allein. So still
wurde es in dem halbdunklen Zimmer, daß man das leise Ticken der kleinen
Uhr hörte, die in der Ecke auf einem zierlichen Schreibtische stand.

Frau Josepha blieb am Fenster und sah in die grünen Ranken hinaus, die
es von außen fast ganz überspannten. Sie neigte den Kopf mit den
schweren Flechten nach vorn, ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren
Körper. Nur an dem Zucken der Schultern war es zu merken. Gaston stand
regungslos. Das Mitleid riß ihn am Herzen, aber er konnte sich nicht
überwinden, näher zu treten. Nichts anderes konnte er denken, als daß
die Frau da, deren schlanke und doch üppige Gestalt in dem lang
herabfließenden Kleid sich prachtvoll von dem hellen Hintergrunde hob,
in diesen ekeln Händen gewesen war, deren feuchten Druck er noch zu
spüren glaubte. Er richtete sich auf, es mußte ein Ende gemacht werden!
Seine Stimme klang heiser vor Erregung.

»Gnädige Frau, es ist wohl am besten, wenn ich mich jetzt entferne?«

Sie flog herum und auf ihn zu, warf ihm die Arme um den Hals. Ganz nahe
hob sie ihr tränenüberströmtes Gesicht zu dem seinigen.

»Was denn? Jetzt willst fort, wo wir endlich ein paar kostbare Minuten
für uns allein haben?«

Er stöhnte auf, versuchte, sich sanft loszumachen.

»Also das hier ... das alles ist so fürchterlich.«

Sie umklammerte ihn fester, schmiegte sich ganz an ihn, so daß er ihren
bebenden Körper spürte.

»Um Jesu Barmherzigkeit willen, laß mich jetzt nicht allein. Geh nicht
so von mir! Ich kann das begreifen, aber Du mußt darüber hinwegsehen.
Ich konnte es ja unmöglich wissen, daß Du ihm noch einmal begegnen
würdest! Wie eine Klette hängt er sich an mich, bettelt und bettelt.
Weil er sah, daß ich Ernst gemacht hatte mit dem Davongehen, hat er
plötzlich seinen Sinn gewandelt. Vielleicht erschien ich ihm dadurch
wieder begehrenswert, aber ich schwöre Dir, er wird mich nicht mit
einer Fingerspitze berühren. Und übermorgen lauft er doch wieder der
anderen nach, ich kenn' ihn ja. Also da darfst kein Mitleid mit ihm
haben! Und, geh', sag', daß Du so kalt dastehst, das ist doch nur, weil
wir hier in seinem Haus sind, gelt? Mußt nicht so arg verfroren sein,
lieber Bub' ... ich hätt' halt dran denken sollen, wie Du bist, Dich gar
nicht erst herkommen lassen! Aber, schau, seit sechs Uhr in der Früh,
wie er heimgekommen ist, geht das schon so. Da war ich halt ein bisserl
verwirrt! Und der Doktor sagte mir: 'Wenn Sie jetzt von ihm gehen, ist
es sein Tod! Sein Zustand ist schlimmer, als er ahnt. Das viele Morphium
hält ihn nur noch aufrecht. Jede Minute kann es den Zusammenbruch geben,
wieso wollen Sie sich da erst scheiden lassen?' Da bin ich geblieben.
Und jetzt sag mir ein liebes Wort! Nur ein einziges kleines Wort, aus
dem ich wieder Hoffnung schöpfen kann. Die Zweifel zerreißen mir das
Herz. Die Ursel hat mir zwar erzählt, wie glücklich Du gewesen wärst
über meinen Brief, aber jetzt sprich das einzige kleine Wörtel: Willst
mein sein und mir treu bleiben?« Sie umklammerte ihn fester, starrte ihm
angstvoll in die Augen.

Da atmete er auf. Das ging über Menschenkraft, jetzt auszusprechen, was
er sich vorgenommen hatte. Er beugte sich hinab, küßte ihre Stirn, und
dann fanden sich ihre Lippen.

»Du bleibst mir treu?« stammelte sie zwischen zwei Küssen.

»Ich werde mein Wort halten!«

»Ah na, ob mich lieb hast, will ich wissen?«

Von ihrem warmen Körper, der eng an den seinen geschmiegt war, zog ein
heißer Strom durch seine Adern.

»Ja, ich habe Dich lieb!«

»So arg, daß Du nie an eine andere denken wirst? Und wär' sie noch
tausendmal schöner als ich?«

Da flüsterte er trunken: »Schöner als Du? Du bist für mich die Schönste,
Herrlichste und Reinste auf der Welt.«

Sie hob sich auf den Zehenspitzen, biß ihn in die Wange, daß er einen
jähen Schmerz verspürte: »Da, daß Du dieses letzte Wort nimmer vergißt!
Und jetzt geh', daß ich mich ein wenig beruhigen kann, bis er
wiederkommt.« -- -- --

Er stand draußen im grellen Sonnenlicht des heißen Sommernachmittags und
ging langsam die Straße zurück, die zur Stadt führte. Ein großes Gefühl
weitete ihm die Brust, wie ein Sieger kam er sich vor, wie ein Sieger
über kleinliche Fürchte und Bedenken. Mochte sie nun aus den entzündeten
Sinnen stammen oder aus dem übergewaltigen Mitleid -- die Liebe war
gekommen, erfüllte ihn ganz und gar! Und war er nicht etwa Manns genug,
sich über alles hämische Gezischel und Geraune hinwegzusetzen, das sich
vielleicht erheben konnte? Er brauchte sich nur herauszurecken mit
allem, was er war, und die bösen Zungen verstummten! ...

Vor ihm auf der Straße ging einer dahin, der es ebensowenig eilig zu
haben schien, nach der Stadt zurückzukommen, wie er. Ein untersetzter
kleiner Herr in modischem Jackett und Strohhütchen, der ihm bekannt
vorkam. Gaston verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt und gedachte,
die andere Seite zu gewinnen. Es wäre ihm unangenehm gewesen, jetzt, in
dieser Stimmung irgend einem Schwätzer Rede und Antwort stehen zu
müssen.

Da blieb der Voranschreitende plötzlich stehen, wandte sich um: »Guten
Tag, Herr von Foucar!« In einem aschfahlen Gesicht flackerten ein paar
Augen in irrem Glanz.

»Wodersen!« sagte er überrascht. »Wie kommen Sie hierher?«

»Ich hatte vor Ihnen in der Villa Rheinthaler einen Besuch machen
wollen, wurde aber nicht angenommen. Da sah ich Sie stolz im Auto
anfahren und, weil ich mir dachte, Sie werden doch nicht ewig
drinbleiben, hab' ich auf Sie gewartet.«

»Na, das ist nett von Ihnen. Da kann ich Ihnen gleich Adieu sagen.«

»Sie verreisen?«

»Nee, ich bin versetzt worden. Zu den Ordensburger Dragonern.«

»Donnerwetter, so mitten aus der Tour? Wem haben Sie denn das zu
verdanken?«

Gaston lachte bitter auf. So dachten sie alle, die mal mit ihm Schulter
an Schulter ihren Dienst getan hatten. Und seine Antwort klang schärfer,
als es der im Grunde unbeträchtliche Anlaß erfordert hätte.

»Natürlich allem anderen, nur nicht mir selbst. Der unbekannten hohen
Dame, die angeblich meine Schicksale überwacht, oder meiner Fähigkeit,
mich bei meinen Vorgesetzten zu schustern und in den Vordergrund zu
drängen ... na dann Adieu, Herr von Wodersen! Ich habe es ein bißchen
eilig.«

Der andere achtete gar nicht darauf und ging rasch neben ihm her in
gleichem Schritt.

»Meinen Sie vielleicht, ich hätte deshalb hier drei Stunden auf Sie im
Sonnenbrand gelauert, um mich so abspeisen zu lassen?«

»Wie? Sie haben ...«

»Auf Sie gewartet! Schon heute vormittag hatte ich natürlich
telephonisch ausführlichen Bericht, was gestern passiert war. In dem
Ballokal, und daß Sie nachher Frau Josepha im Auto allein nach Hause
gebracht haben. Nachmittags war ich dienstfrei, da bin ich ohne Urlaub
fortgefahren. Das übrige konnte ich mir ungefähr denken. Sie hatte mich
in diesen Wochen ja fast ein dutzendmal gequält, ich sollte Sie endlich
heranschleifen. Daß ich es nicht tat, werden Sie nach dem, was wir
neulich mal gesprochen hatten, begreiflich finden.«

»Allerdings! Und was steht jetzt zu Diensten?«

Der kleine Husar blickte zornig zu ihm auf.

»Erst klopfen Sie sich mal den Puder von Brust und Kragen! Sonst sieht
es womöglich noch einer von den bezahlten Aufpassern, daß Sie eben
Abschied genommen haben. Von einer schönen Frau, die die Gepflogenheit
hat, sich Gesicht und Arme zu pudern.«

Gaston schielte auf seinen Ueberrock hinab und wurde unwillkürlich rot.
Wahrhaftig, man sah es ganz deutlich! Und jetzt wußte er plötzlich,
weshalb der glattrasierte Kerl, der ihm in der Rheinthalerschen Villa
beim Hinausgehen die Tür öffnete, so süffisant gelächelt hatte. Er zog
das Taschentuch und wischte heftig über das dunkle Tuch, aber der feine
weiße Staub drang nur um so tiefer ein, war nicht fortzubringen. Da gab
er's ärgerlich auf.

»Nun also, was wünschen Sie von mir, Herr von Wodersen?«

»Nur eine kurze Auskunft. Wie Sie sich von jetzt an zu Frau Josepha
verhalten werden.«

»Und wenn ich das zurückweisen müßte? Als einen unangemessenen Eingriff
in meine ganz persönlichen Angelegenheiten?«

Der Landsberger Husar schüttelte den Kopf.

»Das werden Sie nicht tun! Wenn einer den Anspruch hat, es zu erfahren,
bin ich es. Das wissen Sie!«

»Also, wo wir mal schon so weit sind, meinetwegen! Es wird auch dazu
beitragen, diese Unterredung, die uns beiden ja nur peinlich sein kann,
abzukürzen. Ich habe -- also ich bin mit Frau Josepha übereingekommen
... wenn sie die Trennung von ihrem Manne vollzogen hat, werde ich sie
heiraten.«

»Dann ist's gut ... und danken Sie Gott!«

»Herr von Wodersen, ich muß doch sehr bitten ...«

»Danken Sie Gott,« wiederholte der andere hartnäckig. »Im anderen Falle,
wenn's Ihnen nur ein Spiel gewesen wäre, hätte ich Sie provoziert und
abgeschossen. Es geht nicht an, daß einer umkommt vor Durst und Hunger,
während der andere in frivolem Spiel ... also es ist gut! Adieu, Herr
von Foucar.« Er sah starr geradeaus mit schwimmenden Augen, und
plötzlich kam ein lautes Aufschluchzen aus seiner Brust, er wandte sich
ab. Gaston aber stand ratlos dabei und wußte nicht, wie er sich in
dieser seltsamen Situation zu benehmen hatte. Trösten ging nicht an, das
beste war, sich still zu entfernen.

»Adieu, Wodersen,« sagte er leise und schritt langsam weiter.

Der arme Kerl tat ihm leid, schrecklich war es, wie es den
zusammengerissen hatte, daß er von jetzt an nichts mehr zu hoffen hatte.
Zugleich aber schwellte ihm selbst ein gewisses Stolzgefühl die Brust.
Daß er die Liebe dieser herrlichen Frau errungen hatte, für die ein
anderer ohne Zaudern sein Leben eingesetzt hätte. Fast eine Steigerung
des eigenen Glückes war es ihm.

Eine heisere Stimme erklang neben ihm.

»Entschuldigen Sie, Foucar, wenn Sie mich eben als altes Weib gesehen
haben ...«

»Ach Sie noch mal, Wodersen? Wäre es nicht besser, wir hätten eben
Schluß gemacht?«

»Vielleicht! Nur, Sie werden begreifen, man steht da neben einem frisch
zugeschütteten Grab, kann nicht sogleich weggehen. Eigentlich aber hätte
ich's voraussehen müssen, die Frau war ja krank nach Ihnen! Gab mir
hundert Aufträge für Sie. Immer sollte ich Ihnen bestellen, wo Sie sie
abends treffen würden. Ich hab's natürlich nie ausgerichtet. Sie werden
das begreifen.«

»Selbstverständlich! Und nun wollen wir wirklich Schluß machen! ... Sie
werden einsehen, daß es mir einigermaßen peinlich ist.«

Herr von Wodersen lachte plötzlich schrill auf.

»Ihnen? Wo Sie im Glück sitzen!«

»Na ja, aber peinlich natürlich auch für Sie.«

»Das braucht Sie nicht zu bekümmern! Und ich müßte ersticken oder
verrückt werden, wenn ich jetzt nicht -- ich weiß überhaupt noch nicht,
ob ich drüber wegkomme. Also, Foucar, Sie schwören mir, Sie werden sie
gut behandeln!«

»Aber das ist doch selbstverständlich!«

»Na ja! Und ich werde natürlich weiter aufpassen.«

Gaston blieb stehen.

»Herr von Wodersen, alles hat seine Grenzen.«

»Ach Gott, wollen doch jetzt nicht zimperlich sein wie kleine
Pensionsmädchen! Ich bin ja halb verrückt, ich hatte doch immer noch
gehofft, sie würde mich kleinen unansehnlichen Kerl ...« Er brach ab und
sah in angestrengtem Nachdenken vor sich hin. »Also, was wollte ich doch
gleich ... ja richtig! Noch vor etwas anderem müssen Sie sich in acht
nehmen, vor Josepha selbst! Wissen Sie, was sie ihrem Mann antun wollte,
jetzt wegen dieser Geschichte mit der Sandori? Kein Teufel kann sich
Aergeres ausdenken, denn das ist so auf die ganze Art dieses Menschen
zugeschnitten, mußte ihn gerade aufs tödlichste verwunden. Sie hat sich
eine Szene schreiben lassen, einen Sketch, wie man das im Theaterjargon
nennt. Mit einem Dutzend raffinierter Tricks ... ich war bei einer Probe
dabei im Apollotheater -- es war doll! Hinreißend ... zum
Wahnsinnigwerden. Eine große Menschendarstellerin, die ihre ganze Kunst
in eine einzige Szene preßt ... Alles, was sie kann, zeigt sie da ...
und dann war da ein Tanz, wo sie sich aus einem Schleier nach dem andern
löst, bis sie mit ihrem herrlichen Körper dasteht in einem ganz leichten
Gewand ... also ich sage Ihnen, ganz Berlin wäre verrückt geworden bei
dieser Darstellung. Ich ging wie ein Betrunkener aus der Probe.«

Der Kleine schwieg und sah mit verzückten Augen geradeaus. Gaston spürte
ein widerwärtiges Gefühl, zugleich aber stachelte ihn die Neugierde.
»Weiter,« sagte er heiser.

Herr von Wodersen blickte verwirrt auf, als müßte er sich erst besinnen,
wovon er eben gesprochen hatte.

»Ach so ... ja! Wer das nicht gesehen hat, kann nicht begreifen, daß ich
von der Stunde an noch verrückter war als vorher ... total verrückt! Ich
schlafe seit dem Tag nicht mehr ... und ja, verstehen Sie denn nicht,
was das alles bedeutete? Josepha hätte an dem Abend doch nur für einen
gespielt und getanzt, für ihren Mann! Dann aber, wenn seine
aufgestachelte Begierde wieder lichterloh brannte, hätt' sie ihn
verdursten lassen. Hätte ihn vor aller Welt lächerlich gemacht mit
irgend einem häßlichen, hirnlosen Halbaffen -- so einem vielleicht wie
ich ...«

»Wodersen, hören Sie auf!«

Der andere lachte höhnisch.

»Das ist Ihnen peinlich, was? Ja, meinen Sie vielleicht, ich habe vor
Freude getanzt, als ich heute früh die Nachricht bekam, für mich ist es
aus? Nichts mehr zu hoffen, rein gar nichts ...« Er dämpfte plötzlich
seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Das dürfen Sie aber
niemandem weiter sagen, ich kam mit einer ganz andern Absicht hierher
... Daß Sie noch leben, verdanken Sie ihr! Der Josepha! Sie hätte sich
ja die schönen Augen blind geweint um Sie ...«

»Herr von Wodersen, ich nehme Rücksicht, daß Sie sich offenbar in einer
Gemütsverfassung befinden ...«

Der Kleine nickte.

»Ja, nehmen Sie nur ... ist auch ganz recht! Heute früh hat sich mir da
oben im Kopf was 'rumgedreht, ich hab's ganz deutlich gespürt. Von dem
Augenblick an habe ich Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Und das weiß
kein Mensch, was das heißt, sich vor Qualen winden und schreien, während
andere mit sattem Bauch ruhig schlafen. Aber ich hab' etwas für Sie, da
werden Sie auch nicht schlafen. _Ich_ hätte mich darüber hinweggesetzt,
denn ich bin ja längst schon ein kleiner Lump geworden, innerlich. Von
außen, wenn ich meine Uniform anhabe, merkt man es nicht so. Ja, also,
Ihre zukünftige Frau Gemahlin, wie sie noch in Brünn am Stadttheater
war, zusammen mit so einem nichtswürdigen Kerl von Schauspieler, da hat
sie einen Selbstmordversuch gemacht.«

Gaston schritt schneller aus, um sich von der Gesellschaft des offenbar
plötzlich Irrgewordenen zu befreien. Aber weit und breit war keine
Fahrgelegenheit zu erblicken auf der sonnenbeschienenen Straße, und der
andere neben ihm hielt gleichen Schritt.

»Rennen Sie doch nicht so, Foucar! Das muß Sie doch auch interessieren,
daß Josepha damals sich umzubringen versuchte, weil der Kerl sie nicht
wieder ehrlich machen wollte ... so ein gemeiner Hund! Sie kennen ihn
auch ... er war gestern auch in der Loge, der glattrasierte Schuft ...
er hat mir auch die Zeitungen gegeben, wo alles drinstand ... Sie müssen
natürlich jetzt Ihren Abschied nehmen ... ich hätte ihn ja auch
genommen.«

Gaston fühlte, wie es ihm rot vor den Augen wurde. Ob der da neben ihm
nun klar im Kopfe war oder nicht -- dafür gab es nur eins:
niederschlagen! Er hob den Arm, aber der Kleine sprang wie eine Katze
zur Seite, rannte ein paar Dutzend Schritte zurück und lachte gellend
auf.

»Ach, Sie haben sich wohl eingebildet, ich wär' so leicht zu kriegen?
Und die Zeitungen schick ich Ihnen zu -- nach Ordensburg.«

Gaston wandte sich ab. Grauenhaft war das. Wie in einer Betäubung ging
er weiter, zur Stadt zurück. Was sollte er jetzt tun? Einen Irrsinnigen
zur Rechenschaft ziehen? Das erledigte sich von selbst, da war kein Wort
darüber zu verlieren. Aber das, was dieser Irre zuletzt gesprochen
hatte, das blieb hängen, wie ein Pfeil, der mit dem Widerhaken in die
Weichen gedrungen war. Das alles war Lüge, eine Ausgeburt krankhafter
Phantasie, sicherlich, aber woher sollte er sich Gewißheit holen? Noch
einmal in die Rheinthalersche Villa zurückkehren, den Mann beiseite
schieben: »Erlauben Sie mal, ich habe mit Ihrer Frau Gemahlin ein paar
Worte unter vier Augen zu sprechen?« Oder einen Brief schreiben, den man
zu Händen der alten Hexe sicher an die eigentliche Adresse beförderte?
Vielleicht hätte Josepha in ihrem stolzen, jede Lüge verabscheuenden
Sinn die Wahrheit geantwortet!

Aber darauf kam es ja nicht an. Es war schon genug, daß gegen die Frau,
die er heimzuführen gedachte, sich überhaupt ein so schmählicher
Verdacht erheben konnte. Daß es einen Menschen geben konnte auf der
Welt, der sich brüsten durfte, mit Recht oder Unrecht, sie wäre sein
gewesen. Da konnte er nicht drüber hinweg, dafür konnte er seinen Namen
nicht einsetzen, das ging nicht an! Es war schon genug, daß er sich
damit abgefunden hatte, daß er sie aus den eklen Händen ihres Gatten
nehmen mußte ... Nur, wenn man weiter dachte, wo war da ein Unterschied?
Weshalb sollte er ihr gerade den ersten verübeln? Dem hatte sie sich
vielleicht in heißer Leidenschaft geschenkt, oder sie war in törichter
Unerfahrenheit seinen ruchlosen Künsten erlegen, den zweiten aber ... er
konnte nicht weiter. Da verwirrten sich auch ihm die Gedanken. Schluß
mußte es sein, oder er verlor sich selbst! Und keine Auseinandersetzung
mehr. Wie die enden würde, wußte er. Vor ein paar Wochen hatte er über
den angeblichen Zauber gelacht. Heute hatten ein paar Augenblicke, in
denen diese Frau an seinem Halse hing, hingereicht, damit er sich selbst
und sein Schicksal verschwor.

Er hatte vormittags im Fahrplan nachgesehen, gegen neun Uhr ging ein Zug
nach dem Osten. Den konnte er noch erreichen, einen Tag in Königsberg
verbringen, ehe er weiter nach Ordensburg fuhr. Nur fort und hinaus ...

Nur das Notwendigste wurde eingepackt, alles übrige besorgte der
Spediteur. Jedesmal, wenn die Klingel ging, fuhr Gaston zusammen. Als
könnte sich noch irgend ein Zwischenfall ereignen, der ihn an der
Abreise hinderte. Oder es könnte noch eine Auseinandersetzung geben.
Davon hatte er genug. Nur fort und hinaus ...

Erst als der Zug sich in Bewegung setzte, atmete er auf. Ein blödes
Wort, das er einmal an der Biertafel gehört hatte, ging ihm nicht aus
dem Sinn. »Ein Kavalier reißt nicht aus. Nur, wenn er in Gefahr
befindlich ist. Dann aber schnell.« Das paßte auf ihn. Auch er riß aus.
Vor einer, der seine Sinne erlagen, wenn sie in seiner Nähe war. Je
weiter er eilte, desto weniger konnte sie ihn erreichen. Nur eins
beunruhigte ihn ... dort, weit hinten, von wo er kam, blieb sein Wort.
Immer länger und dünner wurde der Faden, an dem es hing, aber er riß
nicht ab. Noch tausend Meilen konnte er fahren, er riß nicht ab.
Freiheit konnte es nur geben, wenn die, die den Faden am anderen Ende
hielt, in gutem Willen ihre Hand öffnete. Wort war Wort.




5.


Der nachmittags von Königsberg abgegangene Personenzug bummelte
gemächlich nach Südosten, der russischen Grenze zu. Eintönig klang das
Läutewerk der Lokomotive, die mit Aechzen und Stöhnen etwa vier Meilen
in der Stunde zurücklegen mochte. Ein schnelleres Tempo hätte zu viel
Kohlen gekostet bei dem wenig lohnenden Betrieb.

Die brütende Julihitze ließ den sechs oder sieben Reisenden, die am
Südbahnhofe eingestiegen waren, die Fahrt noch langsamer erscheinen, als
sie in Wirklichkeit war. Der leichte Sommerwind, der ein wenig Kühlung
gebracht hatte, war drückender Gewitterschwüle gewichen. Die Schwalben
flogen dicht über dem Boden beim Nahrungsfang für die ewig hungrige
Brut, und flimmernd, gleich durcheinanderschwingenden Silberfäden,
zitterte die sonnendurchglühte Luft über der erntebereiten Erde.

Gaston von Foucar hatte die am Bahnhofe gekauften Berliner Zeitungen
gelesen, es stand nichts Neues darin. Eine Erörterung darüber, ob auch
Deutschland fechten müßte, wenn sein österreichischer Bundesgenosse von
Rußland angegriffen würde. Das war doch selbstverständlich. Alles
übrige, wie weit in diesem Falle die Bündnisklausel zuträfe, leeres
Geschwätz. Es ging dabei ums eigene Leben. Und töricht wäre es doch
gewesen, die äußersten Bastionen aufzugeben, wenn sie mit
verhältnismäßig geringen Opfern zu halten waren. Viel wichtiger erschien
ihm, daß man auch hier, im Osten des Vaterlandes, auf Posten war. An
jeder kleinen Brücke standen Wachen. Das war sehr verständig. Bei dem
mangelhaften, noch aus der Zeit der »ewigen russischen Freundschaft«
stammenden Ausbau der zur Grenze führenden Bahnen hätten ein paar
Sprengpatronen genügt, um den strategischen Aufmarsch um Tage zu
verzögern ...

Der Vormittag in der alten Handelsstadt hatte Gaston wohlgetan. Es gab
vieles zu sehen, was ihm neu war. Das Leben am Hafen, in dem neben
leichten Segelschiffen auch stattliche Dampfer lagen. Krane schwenkten
sich mit schwerer Last vom steinernen Kai zu den Schiffen, Ketten
rasselten, und Maschinen stöhnten. Dazwischen ein emsiges Getriebe von
Menschen, die in allerhand Sprachen durcheinanderschrien, Deutsch,
Russisch, Englisch. Ueber dem allen ein undefinierbarer Duft von Wasser
und Teer, der unwillkürlich in die Ferne lockte.

Lange hatte er gestanden und dem Treiben zugesehen. Die Menschen
hasteten an ihm vorüber, keiner kannte ihn, keiner gab auf ihn acht,
alle rannten sie emsig hinter ihrer Arbeit her, die einem einzigen
Ganzen diente. Einen Unfall sah er mit an. Ein Arbeiter mit dem schweren
Getreidesack auf der Schulter glitt auf schmaler Planke aus, stürzte
rücklings ins Wasser. Es gab eine kurze Stockung, bis der Mann, der mit
einem Notizbuch in der Hand die Zahl der in den Schiffsbauch wandernden
Säcke zählte, sich durch einen flüchtigen Blick überzeugt hatte, daß man
dem ins Wasser Gestürzten von Bord aus ein Tau zuwarf. Danach schloß
sich wieder die Kette der lasttragenden Arbeiter, zog in ständiger Reihe
von dem hohen Speicher ins Schiff, von dem Schiff auf schmaler Planke
zurück in den Speicher.

Etwas von der Unbeträchtlichkeit eines Einzelschicksals verspürte er. So
wäre es auch ihm gegangen, wenn er in diesen letzten Tagen gestrauchelt
wäre. Das Leben ringsum ging seinen Gang, nur wenige hätten den Kopf
nach ihm gewandt, wenn er in Gewissensbedrängnis den kurzen Schritt ins
Dunkle getan hätte. Ein Mann über Bord ... Geschah ihm recht, das Schiff
ging weiter.

Und merkwürdig, wie anders die Dinge aussahen, wenn man sie aus einiger
Entfernung betrachtete. Wie geringfügig da die ungeheuren Wichtigkeiten
erschienen, mit denen man sich geplagt hatte.

Eine kurze Episode war das, die hinter ihm lag. Er hatte jetzt an
anderes zu denken, an Pflichten, die einen ganzen Mann erforderten.

Eine Melodie summte ihm im Kopfe, die er am frühen Morgen gehört hatte,
als er zum Hotelfenster hinausblickte. Die Königsberger Kürassiere kamen
in langer Schlangenlinie zu vieren nebeneinander die krumme Straße
entlanggeritten. Grell schien die Sonne auf die schwarz-weißen Fähnlein
und die blanken Helme. Die Trompeten bliesen die Melodie, und ein paar
halbwüchsige Jungen, die mitmarschierten, sangen mit heller Stimme den
Text:

    »An der Grenze fern im Osten
    Hält ein Reiter still auf Posten,
    Späht hinaus ins weite Feld.
    Drüben fahren auf Kanonen,
    Sammeln sich Schwadronen,
    In dem weiten, weiten Feld.«

Ein Zwischenspiel kam danach, Musik und Gesang zogen weiter, aber die
Worte waren ihm haften geblieben: »An der Grenze fern im Osten hält ein
Reiter still auf Posten.« Zu dem Dienst war er berufen neben vielen
anderen, und hoffentlich blieb es nicht nur bei dem Postenstehen. Hier,
näher an der Grenze, war auch die Erregung größer als in dem
gleichgültigen Berlin. Ueberall auf der Straße, wenn er still hinhörte,
klangen zwei Worte an sein Ohr: Rußland und Krieg. Aber eine gewisse
Entschlossenheit lag in diesen Menschen, die einen seltsam breiten
Dialekt sprachen. Es sollte endlich einmal losgehen! Das ewige »Hin- und
Hergezodder« hatte man satt.

Gaston blickte zum Fenster hinaus. Zwischen goldgelb leuchtenden Roggen-
und Weizenfeldern führte der Zug dahin, an schier endlosen
Kartoffelschlägen vorüber, auf denen das Kraut noch üppig im Safte
stand, und nur in weiten Zwischenräumen lugten die roten Ziegeldächer
der Gutshöfe hinter grünen Baumgruppen hervor. Das typische
Landschaftsbild des Großgrundbesitzes. Wenig Menschen auf den Feldern,
dafür um so mehr Vieh aller Art. Wimmelnde Schafherden auf vorjährigem
Brachland, weidende Edelfohlen in eingezäunten Koppeln und gewaltige
Scharen weißbunter Kühe, die auf grünen Triften in träger Verdauungsruhe
lagerten. Und dann wieder, so weit das Auge reichte, ein in starrer Ruhe
stehendes Heer von gelben Halmen, die auf die Sense des Schnitters
warteten. In ein paar Wochen vielleicht schon schwang hier ein anderer
die Sense, aber nicht Halme lagen auf seinem Schwad ...

Der alte Herr in grauem Spitzbart, der Gaston am Fenster gegenüber saß,
schien die Gegend sehr genau zu kennen. Aufmerksamen Auges musterte er
Felder und Herden und äußerte von Zeit zu Zeit eine wohlgefällige oder
kritische Bemerkung, aus der hervorging, daß er sogar mit den Namen der
an der Bahnstrecke liegenden Güter und ihrer Besitzer vertraut war.

Die neben ihm sitzende Tochter, ein schlankes junges Mädchen in
geschmackvollem Reisekleid aus hellblauem Leinen, gab nur einsilbige
Antworten. Sie las in einem durch sein großes Format recht unhandlichen
Buche und schien so vereifert, daß sich ihre Stirn über dem geraden
Näschen in krause Falten legte. Da flog um die bärtigen Lippen des alten
Herrn ein schalkhaftes Lächeln.

»Annemarie,« rief er plötzlich, »da in der Wiesenschlenke am Haferschlag
steht ein kapitaler Rehbock!«

Das Buch fiel zu Boden, das junge Mädchen sprang auf und beugte sich
hastig zum offenen Fenster hinaus.

»Wo, wo?«

»Ja, jetzt ist er wieder weg. Bist eben zu spät gekommen!«

»Ach, Unsinn! Hast mich bloß angeführt, Papa!«

Sie setzte sich mit enttäuschtem Gesicht auf ihren Platz zurück. Der
alte Herr aber lachte herzlich auf. Ein seltsam innerliches Lachen war
es, das seinen ganzen gewaltigen Körper und mit ihm die Polster des
Wagens erschütterte.

»Na ja, mein Kind! Wenn Dein Vater Worte der Weisheit spricht und Du ihm
nur mit halbem Ohr zuhörst!«

Gaston hatte das zu Boden geglittene Buch aufgehoben und überreichte es
Annemarie mit leichter Verneigung. Während des Niederbeugens hatte er
unwillkürlich den Titel gelesen. Ueber sein Gesicht huschte ein
verwundertes Lächeln.

»Bismarcks 'Gedanken und Erinnerungen'? Für eine junge Dame eine etwas
ungewöhnliche Lektüre.«

Annemarie nahm mit leichtem Erröten das Buch, sperrte es in die neben
ihr auf dem Sitze stehende Handtasche und dankte mit kurzem Kopfnicken.
Ihre Antwort klang feindseliger, als sie beabsichtigt hatte.

»Jeder liest, was ihn am meisten interessiert.«

Ihr Vater hob begütigend die Hand.

»Na, na, Annemiechen, der Herr hat's doch nicht böse gemeint! Und gewiß
ist es für ein junges Mädchen heutzutage ungewöhnlich, wenn es so ernste
Bücher liest!« Zur Erklärung aber für den Mitreisenden fügte er hinzu:
»Nämlich sie schwärmt für unseren Bismarck wie für einen Heiligen. Ihr
ganzes Zimmer hat sie mit Bildern von ihm austapeziert, und das Buch da
nebst seinen Briefen an Johanna führt sie auf allen Reisen bei sich. Wie
fromme Leute das Gesangbuch oder die Bibel.«

Gaston verneigte sich höflich.

»Es ist wohl überflüssig zu versichern, daß mir eine Respektlosigkeit
vollkommen ferngelegen hat. Im übrigen stimme ich Ihnen aufrichtig bei.
Das sind für jeden guten Deutschen ein paar wahre Erbauungsbücher. Sie
müßten nur noch mehr gelesen werden.«

Das kaum begonnene Gespräch geriet wieder ins Stocken, Annemarie hatte
dabei aber Gelegenheit gefunden, den dem Vater gegenübersitzenden Herrn
unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Daß er über ihre beiden
Lieblingsbücher so vernünftig urteilte, war ihr sympathisch. Und auch
sonst gefiel er ihr wohl. Ueber breiten Schultern saß ein kluger Kopf,
unter scharf gezeichneten Brauen sprang eine kräftige Nase hervor, die
in ihrer Mitte einen ganz kleinen lustigen Knick nach links hatte.
Darüber ein paar kluge blaue Augen ... Augen, die klar und lauter
schienen und Vertrauen einflößten auf den ersten Blick. Nach der blassen
Gesichtsfarbe zu schließen, war er vielleicht ein Gelehrter, aber dazu
stimmte nicht sein sonstiges Auftreten. Kurze, fast militärische
Bewegungen, und seinen eleganten Reiseanzug hatte sicherlich auch kein
Zivilschneider gefertigt. Dafür hatte sie ein untrügliches Auge.

Die Hitze in dem sonnenbestrahlten Wagen fing an, unerträglich zu
werden. Der alte Herr fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und
Hemdkragen und stöhnte auf.

»Herrgott, himmlischer Vater, dieses Blindschleichentempo ist ja kaum
noch auszuhalten! Wenn ich ein paar Ackergäule vorspanne und hau' sie
ordentlich über den Zagel, geht's rascher vorwärts. Und dieses ewige
Angehalte an den kleinen Nestern -- steigt ja doch kein Mensch ein oder
aus!«

Annemarie öffnete eilig ihre Reisetasche, netzte ein frisches Tuch mit
Kölnischem Wasser und kühlte ihrem Vater die Stirn. Und, während er ihr
mit zärtlichem Händedruck dankte, flog ein schelmisches Lächeln um
ihren hübsch geschnittenen Mund. »Wie würdest Du aber erst schimpfen,
Papa, wenn er an _unserer_ Station vorüberfahren wollte?«

Gaston nahm die Gelegenheit wahr, sich die junge Reisegefährtin
unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Herrgott, war das Mädel schön
gewachsen! Eine gertenschlanke Figur voll unbewußter Anmut in jeder
Bewegung, ein zierliches Köpfchen auf biegsamem Halse. Fast zu wuchtig
erschien dazu der dicke, in einem straffen Neste zusammengesteckte
blonde Zopf. Zwei Reihen gesunder weißer Zähne zeigte sie beim Lachen
und in der linken Wange ein Grübchen, das dem vorhin so abweisend
strengen Gesicht einen Zug hinreißender Liebenswürdigkeit verlieh. Ueber
allem aber ein Hauch unberührter Reinheit wie der leichte Schimmer auf
der Haut einer reifenden Frucht, die noch niemand in begehrlicher Hand
gehalten hatte. Wer das liebe Mädel mal heimführte, trug etwas Sauberes
in sein Haus ... Ein schmerzhafter Stich flog ihm durchs Herz. Auf
sonnenbeschienener Straße gingen zwei dahin, und der eine sprach in
plötzlich ausbrechendem Irrsinn häßliche Worte, und diese Worte krochen
wie ekelhafte Kröten über das Bild einer bemitleidenswerten Frau.

Die Wagenbremsen zogen kreischend an, es gab einen Ruck, und der Zug
hielt wieder einmal an einer der zahlreichen kleinen Stationen. Neben
dem rotbemützten Stationsvorsteher stand ein dicker kleiner Herr in
weißem Staubmantel, das volle Gesicht schier rostrot verbrannt, und mit
bläulich schimmernder Nase unter weinfrohen Aeugelein.

Der alte Herr öffnete die Coupétür und winkte lebhaft mit der Hand.

»Tag, Lindemann! Erwarten Sie wen?«

Der Dicke blickte überrascht auf und setzte sich in der Richtung des
Wagens erster Klasse in Bewegung.

»Tag, Herr von Gorski! Das ist ja 'ne Riesenfreude, daß Sie wieder
zuwege sind! Und ob ich wen erwarte? Dieses nu weniger, ich wollt' bloß
mal ein bißchen Großstadtluft schnappen. Da bin ich nach der Station
gefahren, in dem Aberglauben, der Zug bringt 'was davon aus Königsberg
mit. In meinem Dachsbau ist's jetzt, kurz vor der Ernte, zum Auswachsen
langweilig!«

»Sie sollten heiraten,« sagte Annemarie und zeigte lachend die weißen
Zähne. »Ich wüßte Ihnen eine, da würden Sie sich in Ihrem Ritterschloß
keine Minute mehr langweilen!«

Der Dicke kniff listig das linke Aeuglein ein.

»Nachtigall, ich hör' Dir trapsen! Na dann grüßen Sie man das gnädige
Fräulein in Marczinowen recht schön, und ich hätt' noch nich genug
gesündigt, um so hart gestraft zu werden!« Er schüttelte sich in
komischem Entsetzen und wandte sich zu Annemaries Vater.

»Aber es ist mir lieb, daß ich Sie treffe, mein verehrter Herr von
Gorski. Ich wollte als Ihr Stellvertreter schon eine Sitzung des
Parteivorstandes einberufen. Dazu müssen wir unbedingt Stellung nehmen.«

»Was' denn passiert?«

»Der Heidereuter in Sucholasken will verkaufen. An einen Polen.«

Dem alten Herrn stieg die Zornröte ins Gesicht.

»Schwerenot noch mal! Schämt der Mensch sich nicht in den Grund seiner
Seele hinein?«

Herr von Lindemann zuckte mit den Achseln.

»Ich habe ihm zugeredet wie 'nem kranken Schimmel -- alles umsonst! Er
sitzt in Schulden bis an den Hals. Der Besitzer der letzten Hypothek
schnürt ihm die Gurgel zu -- auch natürlich auf Betreiben der Polen! Das
Hemd ist ihm näher als der Rock, sagt er, und das polnische Angebot gibt
ihm wenigstens die Möglichkeit, irgendwo mit einer kleinen Pachtung
wieder von vorn anzufangen. Bei 'ner Subhastation müßte er mit 'nem
Prachersack 'rausgehen und einem weißen Stock in der Hand. Ich wollte
ihm zum Abschied 'ne rechte Niederträchtigkeit sagen, aber ich kriegte
sie nicht über die Lippen. Der Mann hat 'ne kranke Frau und sechs
Kinder.«

Herr von Gorski zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

»Das ist in zwei Jahren hier in unserem engeren Kreise schon das zehnte
Gut, das aus deutschen Händen in polnische übergeht. Soviel Geld haben
wir nicht, um dieser andringenden Flut standzuhalten!«

Der Stationsvorsteher hob die Hand, das Zeichen zur Abfahrt zu geben,
aber Herr von Lindemann winkte ihm energisch ab. Er hatte den dritten
Mitreisenden im Wagen erspäht, der zu Beginn der Unterhaltung diskret
auf die andere Seite getreten war. Dem Stationsvorsteher rief er zu:
»Lassen Sie die alte Lokomotive man ruhig sich noch ein Weilchen
verpusten! Wird ihr nichts schaden bei der Hitze, und ich bin hier noch
nicht fertig!« Und, wieder zu dem Wagen gewandt, fuhr er lebhaft fort:
»Herr von Foucar! Wie in drei Deuwels Namen kommen _Sie_ hierher? Nach
unserem geliebten Ostpreußen, wo es am tiefsten ist?«

Der Angeredete machte ein befremdetes Gesicht.

»Verzeihung, ich erinnere mich im Augenblick wirklich nicht ...«

»Aber, Mannchen! Blättern Sie mal ein bißchen in dem Buch Ihrer
Erinnerungen an den Stellen, die junge Mädchen aus guter Familie nicht
lesen dürfen -- entschuldigen Sie gütigst, Fräulein Annemarie --, ja,
besinnen Sie sich da nicht auf einen gewissen dicken Lindemann? Freiherr
von Lindemann auf Borzymmen? Mein Vetter Sternheimb hat uns bekannt
gemacht, der lange Kersien von den Königsberger Kürassieren war der
dritte im Bunde. Und wissen Sie nicht, wie ich damals in der Jägerstraße
den ganzen Bums unter Sekt gesetzt habe? Drei Morgen Weizen hat der Spaß
gekostet, aber war doch fidel, was?«

Gaston lachte auf. Jetzt entsann er sich wirklich der lustigen Nacht,
und wie sehr er sich damals über den dicken Agrarier amüsiert hatte, der
in absichtlich vergröbertem ostpreußischen Dialekt allerhand komische
Schnurren erzählt hatte.

»Wahrhaftig, Herr von Lindemann, jetzt fällt's mir wieder ein! Und ich
bitte recht sehr um Entschuldigung ...«

»Nitschewo -- ich bin nicht so übelnehmerisch! Aber der lange Kersien
prophezeite Ihnen damals eine Springerkarriere, wie sie seit
Erschaffung der Welt noch nicht dagewesen. Also was sind Sie inzwischen
geworden? Generalfeldmarschall?«

»Vorläufig mal erst Rittmeister bei den Ordensburger Dragonern!«

»Na, für den Anfang auch ganz schön! Jedenfalls begrüße ich Sie als
schätzenswerte Akquisition unseres Kreises, und man wird sich doch jetzt
öfter sehen.«

Der Stationsvorsteher hatte zu seinem lebhaften Bedauern auf den Wunsch
seines prominentesten Nachbarn nicht länger Rücksicht nehmen können. Der
Aufenthalt auf der kleinen Station hatte schon fünf Minuten über die
vorgeschriebene Zeit gedauert. Er gab hinter dem Rücken des Herrn von
Lindemann heimlich das Abfahrtszeichen. Der Zug setzte sich ächzend und
stöhnend in Bewegung, die Lokomotive stieß pfauchend ein paar weiße
Dampfwolken aus. Der Dicke aber war noch nicht fertig. Erst warf er dem
Beamten in der roten Mütze einen zornigen Blick zu, dann setzte er sich
mit den kurzen Beinen ebenfalls in Bewegung und lief neben dem Wagen
her.

»Entschuldigen Sie nur, daß ich vergessen habe, die Herrschaften
miteinander bekannt zu machen! Herr Landschaftsdirektor und
Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen nebst Fräulein Tochter
-- Herr Rittmeister Baron Foucar von Kerdesac! Und noch eins, mein
verehrter Herr von Gorski« -- er erhob seine Stimme -- »in der Klinik
alles gut abgelaufen? Keine Beschwerden mehr in dem kaputten Fuß?«

Herr von Gorski winkte mit der Hand.

»Danke, lieber Lindemann, alles im Lot! Ich laufe, Gott sei Dank, wieder
wie 'n alter Fasanenhahn!«

Der Zug fuhr rascher, der Dicke im weißen Staubmantel mußte
zurückbleiben. Dem Stationsvorsteher aber hielt er eine ärgerliche
Standpauke. Was es wohl groß geschadet hätte, wenn der Zug sich noch ein
paar Minuten länger verschnauft hätte? Und wieso er ihn nicht auf die
gute Idee gebracht hätte, ein Billett zu lösen und in angenehmer
Gesellschaft nach Ordensburg mitzufahren? Jetzt könnte er den ganzen
langen Abend allein sitzen mit seinen spärlichen Gedanken und sich zum
Sterben langweilen.

Der Stationsvorsteher legte die Hand an den Mützenschirm.

»Nich immer gleich schimpfen, trautester Herr Baron! Ich hab' nämlich
'ne Idee. Wenn Sie Ihren hochbeinigen Trakehner Kraggen man ein bißchen
den Kopp freigeben, holen Sie den Zug zehnmal ein, sind noch vor ihm in
Ordensburg! Und da is heute mächtig 'was los ... eine Damenkapelle
fiddelt im Hotel zum Kronprinzen! Wenn ich nich Dienst hätt', wär' ich,
warraftigen Gott, heute abend auch 'rübergefahren. Man versauert ja
sonst ganz hier in der Einsamkeit, und e bißche 'was Höheres muß der
Mensch doch von Zeit zu Zeit haben, so was Ideales von Kunst und so!
Nich wahr, Herr Baron?«

Der dicke Herr von Lindemann klopfte ihm die Schulter.

»Kunst ist gut, Vorsteherchen, namentlich wenn sie wie in diesem Falle
von holder Weiblichkeit ausgeübt wird. Na, die Idee ist wirklich
glänzend -- lassen Sie sich dafür morgen bei meinem Oberinspektor einen
Sack Kartoffeln abholen als Erfinderprämie! Guten Abend, Herr
Stationsvorsteher.«

Er hob grüßend die Hand und ging nach der Rückseite des
Stationsgebäudes, wo sein Jagdwagen im Schatten von ein paar
breitästigen Linden hielt.

»Ludwig, wir fahren zur Abwechslung mal nach Ordensburg. Aber sanftes
Reisetempo bitt' ich mir aus, damit die Gäule nicht zu warm werden!«

»Befehl, Herr Baron!«

Ein leises Zungenschnalzen, und die beiden hochgezogenen Trakehner
Halbblüter trabten an, daß hinter dem davonrollenden leichten Gefährt
der Straßenkies spritzte ...

Herr von Lindemann wandte sich um, rief dem dienernden Stationsvorsteher
zu: »Telephonieren Sie, bitte, nach dem Schloß hinüber, die Mamsell
möcht' nicht mit dem Abendbrot auf mich warten ... verstanden?« Und
während er sich zu der raschen Fahrt die Mütze fester ins Gesicht zog,
zankte er schon mit sich selber: eigentlich war diese plötzliche
Eskapade für einen ausgewachsenen Menschen reichlich töricht! Die
Nachbarn mokierten sich auch über den lästerlichen Lebenswandel ... Aber
die hatten gut reden! Waren alle verheiratet und wußten nichts von der
Einsamkeit, die einen in dem großen Haus an den langen Abenden wie ein
Alp überfiel. Mit seiner Nachbarin wollte sie ihn verheiraten, die
blonde Annemarie von Gorski! Mit dem abstinenzlerischen Fräulein von
Streit auf Marczinowen ... Hopfenstange war noch ein Euphemismus für
ihre mangelnden Reize! Sie selbst aber? Was sie wohl für ein Gesicht
machen würde, wenn er mit einem Male in Frack und Claque in Kalinzinnen
antreten wollte: »Also, wie wär's nu mit _uns_ beiden, Fräulein Annemarie?
Könnten Sie sich entschließen, mit Ihren weichen Patschhändchen über
einen blanken Kahlkopp zu streicheln und 'lieber Gottfried' zu mir zu
sagen? Sie können's nicht? Na schön, dann brauchen Sie sich auch nicht
zu wundern, wenn der Freiherr von Lindemann lustige Gesellschaft sucht
und sich einen Ordentlichen einschwenkt. Und na, überhaupt ...«

Er richtete sich auf seinem Sitze auf: »Kerl, zieh den beiden faulen
Kraggen eins ordentlich über den Puckel! Bei dem Tempo kommen wir nach
Ordensburg, wenn der Kunstgenuß im Hotel Kronprinz längst schon zu Ende
ist.«

       *       *       *       *       *

Das kurze Intermezzo auf der Station Borzymmen hatte den drei Reisenden
die Müdigkeit verscheucht. Etwas von der lustigen Laune des dicken Herrn
von Lindemann war hängen geblieben, die Hitze erschien nicht mehr so
drückend wie noch kurz zuvor. Sogar Herr von Gorski schien für den
Augenblick seine politischen Sorgen vergessen zu haben. Er sah sein
Gegenüber mit lebhaftem Interesse an: »Sie kommen in unser Regiment,
Herr Rittmeister?«

»Zu dienen! Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, habe ich Ihnen
Grüße zu bestellen. Ich hatte doch vorhin recht verstanden: Herr
Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen?«

»Allerdings.«

»Dann stimmt es! Ich soll Sie von meinem verehrten Abteilungschef
grüßen. Von Herrn Oberst Wegener im Großen Generalstab.«

Annemarie schlug vor Ueberraschung die Hände zusammen.

»Von Onkel Franz? Ist das eine Freude! Und wie geht's ihm denn?«

»Soweit ich's beurteilen kann, sehr gut. Ein bißchen abgearbeitet
natürlich, denn wir haben saure Wochen hinter uns, kamen aus unseren
Schreibstuben kaum noch heraus.«

Annemarie lachte herzlich auf und rückte vertraulich ein wenig näher.

»Daher Ihre blasse Gesichtsfarbe! Wissen Sie, wofür ich Sie zuerst
gehalten habe?«

»Na?«

»Für einen Professor oder Oberlehrer. Unsere Offiziere in Ordensburg
sehen jetzt, Ende Juli, wie die Neger aus! Na, und hat Onkel Franz nicht
auch von mir gesprochen? Ihnen für mich keine Grüße aufgetragen?«

»Dazu war wohl die Zeit zu knapp, als ich mich vorgestern von ihm
verabschiedete. Er mußte zum Vortrag. Aber gesprochen hat er von Ihnen,
mein gnädiges Fräulein.«

»Was denn?«

»Dazu müßte ich wohl erst seine Erlaubnis einholen, um Ihnen das
wiederzusagen.« Und kecker, als es Damen gegenüber sonst seine Art war,
fügte er hinzu: »Aber er hatte recht! Jetzt, nachdem ich Sie persönlich
kennen gelernt habe, unterschreibe ich's Wort für Wort!«

Annemarie errötete ein wenig und verzog schmollend den Mund.

»Das ist nun eklig von Ihnen! Erst einen neugierig machen und dann
nichts sagen!«

Herr von Gorski hatte schmunzelnd zugehört.

»Ich kann's mir denken! Haben Sie auch seine Frau kennen gelernt?«

»Nur flüchtig bei einem Essen, das der Herr Oberst den Herren seiner
Abteilung gab. Auch mit ihm bin ich sonst bloß dienstlich
zusammengekommen. Da hat's mich eigentlich gewundert, daß er sich für
mich so ins Zeug gelegt hat. Die Auszeichnung, daß ich vor dem Manöver
schon in die Front hinauskam, verdanke ich nur ihm.«

Der alte Herr sah sein Gegenüber prüfend an. War das nun falsche oder
echte Bescheidenheit? Aber die Musterung schien zu seiner Zufriedenheit
ausgefallen zu sein, er nickte.

»Mein Vetter Wegener weiß, was er tut! Und Sie kommen gern zu uns nach
Ostpreußen?«

»Jetzt noch lieber als früher.«

»Na, das ist recht! Welche Schwadron kriegen Sie denn?«

»Herr Oberst Wegener sprach von der fünften ...«

»So, so ... ich bin durch die sechs Wochen Stilliegen ein bißchen 'raus
... Na, und hat mein Vetter Wegener mir nicht noch irgend etwas
Besonderes sagen lassen? Wie's so im allgemeinen aussieht?«

»Nein, Herr von Gorski. Unsere Unterredung dauerte ja auch bloß ein paar
Minuten.«

»Na, mir gegenüber können Sie ruhig und ganz offen sprechen. Ich bin
alter Herr des Regiments, das Offizierkorps geht in meinem Hause aus und
ein, namentlich das unverheiratete,« -- ein lächelnder Seitenblick
streifte die neben ihm sitzende Tochter -- »ja, also da brauchen Sie
sich nicht zu genieren. Auch nicht vor Annemarie. Sie ist der heimliche
Beichtvater und Vertrauensmann von allen jungen Dächsen im Regiment.
Etliche hab' ich sogar im Verdacht, daß sie bei ihr ein bißchen in der
Kreide sitzen!«

Annemarie wurde rot bis unter die blonden Stirnhaare und protestierte
entrüstet.

Gaston aber spürte eine seltsame Regung, als müßte er ihr über das
blonde Köpfchen streicheln und irgend etwas Liebes sagen. So stark war
diese vermessene Regung, daß er sich ordentlich zusammennehmen mußte.
»Himmlischer Kerl von Mädel«, hatte sie der Oberst von Wegener genannt.
Das stimmte, und zu beneiden war der Mann, der sich das mal zum guten
Kameraden gewann. Unwillkürlich flogen seine Gedanken weit fort zu einer
anderen, stellten allerhand Vergleiche an ...

Gaston schreckte zusammen. Der alte Herr da drüben hatte eine Frage an
ihn gerichtet.

»Wie befehlen? Ach so, ja, ganz recht. Es sieht wieder einmal
bedrohlicher aus als sonst. Ich persönlich habe natürlich kein Urteil,
aber mein verehrter Chef gab mir ein privates Avis an meinen neuen
Kommandeur mit. Daraus schließe ich, daß jeder Tag vielleicht die
Katastrophe bringen kann. Oder -- wie man's nehmen will -- die Erlösung
aus einer immer unerträglicher werdenden Spannung.«

Herr von Gorski schüttelte den grauen Kopf. »Ich glaube nicht daran. Die
Verantwortung ist zu ungeheuerlich! Da überlegen sich's die, in deren
Hand die Entscheidung liegt, eher zehnmal als einmal. Namentlich bei
unseren Nachbarn im Osten. Da spielen für die Dynastie im Falle eines
unglücklichen Krieges noch ganz besondere Interessen mit. Ich habe
livländische Verwandte in hohen Hofchargen. Einer von ihnen schrieb mir
erst unlängst, die Truppenansammlungen an unserer Grenze sind nur
befohlen worden, =pour montrer la bonne volonté=. Um den Bundesgenossen
mit dem großen Sparstrumpf bei guter Laune zu halten.«

»Mag sein, Herr von Gorski. Dafür sieht's an unserer Westgrenze um so
bedrohlicher aus. Dort geht's leider nach Stimmungen, nicht nach
Erwägungen. Das ganze Volk schreit nach dem Revanchekrieg. Wie ein
langsam angestautes Wasser ist es, das jeden Augenblick den Damm
zerreißen kann. Mir persönlich wäre es recht. Nichts sehnlicher wünsche
ich mir, als meine Schwadron gleich an den Feind zu führen!«

»Bravo!« sagte Annemarie, und Herr von Gorski lächelte.

»Sie ist nämlich mit ihren jungen Freunden vom Regiment unbedingt fürs
Einhauen. Sie geht dann als Rote-Kreuz-Schwester mit! Aber was ich schon
vorhin fragen wollte, lieber Rittmeister, wo standen Sie eigentlich
früher?«

»Bei den Karlsburger Ulanen. Von dort kam ich auf Akademie und nachher
in den Generalstab.«

»Ein glänzendes Regiment und eine angenehme Garnison,« sagte der alte
Herr. »Und da sind Sie nicht wieder hingegangen?« Die Frage klang ein
wenig argwöhnisch.

»Ich hatte meine besonderen Gründe!« sagte Gaston. Damit sollte es genug
sein, aber er fühlte, daß Annemaries Augen an ihm hingen. Wie ihm
scheinen wollte, mit ganz besonders gespanntem Interesse, und da sprach
er offen und ohne Rückhalt. Als wenn das liebe Mädel ein Anrecht hätte,
genau zu erfahren, was er fühlte und dachte.

»Also einmal, weil ich gerade Ostpreußen kennen lernen wollte, und dann
... in meiner Heimat nicht nur geht eine Legende, die mir jedesmal, wenn
ich auf sie stoße, die Zornröte ins Gesicht treibt. Eine sehr hohe Dame
soll angeblich mit besonderer Fürsorge über meine Karriere wachen. Ich
habe auch sonst genug gelitten unter diesem törichten Gerede. Mein Vater
war Kammerherr dieser hohen Dame an einem der süddeutschen Duodezhöfe.
Er starb, als ich ein Jahr alt war, ich habe ihn nicht gekannt. Als ich
Offizier wurde, gab mir mein Vormund einen Brief von ihm und klärte mich
auf. Mein Vater war im Duell gefallen für die von einem Unwürdigen
angegriffene Ehre dieser hohen Dame, war gestorben wie ein Kavalier und
Held. Aber meine liebe Mutter faßte das anders auf. Glaubte an eine
Schuld, wo nichts weiter gewesen war als die Pflicht eines seiner Herrin
dienenden Kavaliers. Sie ging nach ihrer schwäbischen Heimat zurück und
erzog mich dort auf ihre Art. Es steht einem Sohne nicht zu, mit der
geliebten Mutter zu rechten, aber es wäre vielleicht manches in meinem
Leben anders gekommen, wenn ich eine Jugend hätte haben dürfen wie
andere. Wie ein junges Mädchen verpimpelte sie mich. Aber da gab es
einen Umschwung. Eines Tages hatte ich mal wieder was ausgefressen, aber
kam gerade noch mit blauem Auge davon. Wie und wieso weiß ich nicht
mehr, aber einer meiner Coëtanen meinte: 'Na ja, wenn man eine
Schutzheilige hat -- eine richtige, lebendige Großfürstinwitwe, die ihre
Gefühle vom Vater auf den Sohn überträgt.' Ich fuhr ihm an den Hals, wir
schlugen uns auf schwere Säbel, und in der Festungshaft danach wurde ich
ein ernsthafter Mensch. Ein Streber schlimmster Sorte ...
Kommandierender General zum mindesten wollte ich werden! Aber ohne
weibliche Protektion!«

Annemarie hatte mit aufgeregten Augen zugehört. Ehe ihr Vater etwas
sagen konnte, streckte sie impulsiv dem Rittmeister von Foucar die Hand
entgegen.

»Furchtbar interessant ist das! Und überhaupt, wo Onkel Franz so große
Stücke auf Sie hält. Sind Sie Jäger?«

Gaston blickte ein wenig verwundert auf.

»Sogar mit Passion. Aber bisher hatte ich, zu meinem Bedauern, nur
wenige Male Gelegenheit.«

»Na ja, in Berlin!« sagte sie geringschätzig. »Aber das wird hier anders
werden. Sie sollen bei mir in Kalinzinnen den besten Bock schießen, den
es im Kreise je gegeben hat. Mindestens dreißig Zentimeter Stangenhöhe
und geperlt bis in die Enden hinein ... ein ganz alter Bursche, schlau
wie ein Fuchs, aber in der Brunst werden wir ihn schon kriegen!«

Der alte Herr hatte zum Fenster hinausgesehen. Hallo, was war das? Hatte
sein sonst so zurückhaltender Blondkopf an diesem Rittmeister Feuer
gefangen? Und daß das Mädel mit den Kalinzinner Rehböcken so freigebig
umging, war allein schon ein bedenkliches Zeichen. Sonst war sie damit
sehr knauserig.

»Annemarie,« sagte er, »freust Du Dich, daß wir endlich wieder nach
Hause kommen?«

»Aber natürlich, Papa, riesig!«

»Und was Hermann wohl sagen wird, wenn wir endlich wieder da sind?
Wahrscheinlich wird er an der Bahn sein.«

Annemarie runzelte die Stirn.

»Natürlich wird er da sein. Du hast ihm doch sicherlich geschrieben,
wann wir ankommen. Er ist überhaupt immer da.«

»Bitte sehr, diesmal habe ihm nicht geschrieben!«

»Er wird doch da sein!« sagte sie hartnäckig und legte sich abweisend in
die Wagenpolster zurück. Gaston aber merkte die Absicht des alten Herrn
und griff nach einer der schon längst gelesenen Zeitungen. Eigentlich
war es ja schon deutlich genug gewesen, daß Herr von Gorski die
Jagdeinladung der Tochter nicht bestätigt hatte. Und dieser Hermann, der
auf der Station warten würde, war ein Wink für ihn: »Gib Dich nicht
unnützen Hoffnungen hin.« Der Wink war überflüssig. Wer sich selbst eine
Kette um den Fuß gelegt hatte, durfte seine Augen nicht aufheben zu
einem stolzen und freien Herrenkind.

Annemarie hatte ein paar Minuten schweigend gesessen, jetzt schob sie in
leichtem Trotz die Unterlippe vor.

»Ach, entschuldigen Sie, Herr Rittmeister ...«

»Bitte sehr, mein gnädiges Fräulein.«

»Sie müssen so freundlich sein, mir noch einmal recht deutlich Ihren
Namen zu sagen. Vorhin, als Herr von Lindemann vorstellte ...«

»Aber mit Vergnügen! Gaston Baron Foucar von Kerdesac!«

Annemarie blickte überrascht auf: »Aber das ist ja ein rein
französischer Name!«

»Zu dienen! Mein -- einen Augenblick, ich muß nur nachrechnen -- ja,
also, mein Ururgroßvater kam als achtjähriger Knabe nach Deutschland.
Seine Eltern waren auf die Guillotine geschleppt worden, ihm gelang es,
als die Schergen des Konvents das Schloß durchsuchten, sich zu
verstecken. In einer Regentonne. Dann wanderte er nach Osten, bis er an
andere Flüchtlinge Anschluß fand. Mit zweiundzwanzig Jahren focht er
unter Blücher gegen Napoleon.«

»Merkwürdig,« sagte Herr von Gorski, und aus dem Tone seiner Bemerkung
war starke Mißbilligung herauszuhören, »ja, also merkwürdig, wie eine
Familie mit Traditionen in so kurzer Zeit ihren vaterländischen
Standpunkt verändern kann! Das Vaterland ist doch immer das Primäre! Und
ich frage mich manchmal ... Die Abkömmlinge der französischen
Refugiéfamilien ... ja, mit welchen Gefühlen werden die wohl einmal
satteln, wenn es gegen ihr altes Vaterland Frankreich geht?«

Gaston verneigte sich leicht, Kampflust in den blauen Augen.

»Das haben sie schon einmal bewiesen, jetzt vor mehr als vierzig Jahren!
Und ich darf wohl dagegen fragen, mit welchen Empfindungen werden Sie
sich tragen, Herr von Gorski, wenn es morgen nach der anderen Seite
losgehen sollte? Gegen Rußland?«

Der alte Herr steckte sich in einer gewissen Erregung eine Zigarette an.

»Sie verstehen zu fechten, Herr von Foucar! Aber es ist ein Irrtum
dabei. Mein Geschlecht ist von Anbeginn an rein deutsch gewesen -- trotz
seines polnischen Namens. Darüber existieren unanfechtbare Urkunden.
Mein erster nachweislicher Vorfahr ist als Gefolgsmann des Großmeisters
Heinrich von Plauen urkundlich aufgeführt, Berger hieß er. Als nach dem
Niedergange des Ordens die slawische Welle wiederkam, wurde sein guter
deutscher Name ins Polnische übersetzt. Gorski heißt nämlich auf deutsch
Berger, und das Schicksal, das ihn ereilte, traf auch all die anderen,
ursprünglich deutschen Familien. Nicht nur aus dem Stande der
Ritterbürtigen. Auch unter der bäuerlichen Bevölkerung können Sie noch
heute herauskennen mit einiger Sicherheit, was ursprünglich mal deutsch
war. Schon an der Körperlänge. Der slawische Masur ist klein, kaum daß
mal einer über Mittelgröße hinauswächst.«

»Aehnlich wie in meiner Heimat,« versetzte Gaston. »Nur daß man da
zwischen Normannen mit Wikingerblut unterscheidet und den kleineren
Abkömmlingen der Römer. Aber ich meine, der ganze Streit ist
unfruchtbar. Jeder hält zu dem Lande, dem er sich verbunden fühlt. Der
alte Name ist nur eine Erinnerung. Das Nationalgefühl entscheiden die
Mütter.«

»Haben Sie Ihre alte Heimat einmal besucht?« warf Annemarie ein.

Gaston wiederholte die Frage.

»Meine alte Heimat? Nein, aber im vorigen Jahre machte ich eine Reise
durch Nordfrankreich. Ich sage das absichtlich, um von vornherein meine
Empfindungen bei dieser Reise zu kennzeichnen. Nichts sprach zu mir, was
irgendeinen sentimentalen Widerhall in mir geweckt hätte ... oder
vielmehr einmal mußte ich an mich halten, um als preußischer Offizier
nicht eine Unbesonnenheit zu begehen. Am zweiten September war es, in
Havre. Zu Hause bei uns feierte man den Gedenktag von Sedan, hier
schleifte ein Haufe halbtrunkener Gassenjungen eine Strohpuppe im
Straßenkot, die wie ein deutscher Soldat ausstaffiert war mit ein paar
bunten Fetzen. An der Spitze schritt ein Bengel, der ein freches
Spottlied auf die '=sales Prussiens=' sang. Die andern grölten den
Refrain. Da mußte ich mich mit Gewalt zusammenreißen, um dem Lümmel an
der Spitze das Maul nicht mit einer Ohrfeige zu stopfen ... Und ein paar
Tage später war ich in dem Städtchen Kerdesac. Auf einem Hügel in der
Nähe lag eine verfallene Ruine ... ein Rest des alten Gemäuers war
wohnlich eingerichtet, ein weißbärtiges Männchen hauste darin ... Der
Letzte der Foucar der französischen Linie. Ich machte ihm meine
Aufwartung, ohne meinen Namen zu nennen, und fragte so nebenher, ob
nicht ein Zweig des Geschlechts in Deutschland lebte. Da richtete der
alte Herr sich auf und spie aus. 'Verflucht sei er und verdorren möge
er! Meine Arme sind vertrocknet, aber wenn wir morgen marschieren
sollten, marschiere ich mit. Und Gott wird mir helfen, die zu züchtigen,
die ihr Vaterland vergessen konnten ...' Ich empfahl mich und ging. War
nicht im geringsten betroffen, hatte nur das Gefühl einer Seltsamkeit
... einen fast schnurrigen Gedanken: daß nämlich anscheinend in jedem
Lande der liebe Gott eine andere Nationalität hat. Und daß er jedesmal
helfen soll, die Leute jenseits der Grenze totzuschlagen ...«

Das Gespräch verstummte. Annemarie holte mit einem leichten Seufzer die
»Gedanken und Erinnerungen« hervor, die sie vorhin beiseite gelegt
hatte, Herr von Foucar griff nach einer Zeitung, und nach einer Weile
schien es so, als wären die drei, die der Zufall für eine kurze Reise
zusammengeführt hatte, einander so fremd wie zu der Zeit, als der
lustige Herr von Lindemann sie noch nicht vorgestellt hatte. Nur ein
kleiner Unterschied war dabei. Nach kurzer Pause hob Annemarie den Kopf
von der Lektüre, Herr von Foucar tat desgleichen, ihre Blicke begegneten
sich und hielten stumme Zwiesprache miteinander. Der eine sagte: »Ist
das nicht ärgerlich, daß unser erstes Beisammensein mit solch einem
Mißklang enden soll?« Und der andere meinte: »Es wäre doch jammerschade,
wenn nun aus der so freundlich gebotenen Jagdeinladung nichts werden
sollte!« Da huschte über das feingeschnittene Gesichtchen ein
schalkhaftes Lächeln. Sie legte das dicke Buch wieder beiseite und
wandte sich besorgt zu dem neben ihr sitzenden Vater.

»Willst Du es Dir nicht lieber ein bißchen bequemer machen, Papa? Ich
kann mich ja ganz in die andere Ecke setzen, Du aber streckst das Bein
auf das Polster.« Und wie zur Erklärung für Herrn von Foucar fügte sie
hinzu: »Nämlich mein Papa hat vor sechs Wochen einen schweren Sturz mit
dem Pferde getan, weil er noch immer so verwegen drauflos reitet, als
sprengte er an der Spitze seiner alten Schwadron. Das ganze Schienbein
war gesplittert, und ich fürchte beinahe, bei aller Kunst des
Königsberger Professors, ganz so wie früher wird es wohl nicht mehr
werden.«

»Unsinn,« brummte Herr von Gorski in seinen kurzgeschnittenen grauen
Spitzbart, »der Mann hat sein Handwerk verstanden! Ist alles wieder in
Ordnung, und, wenn ich ehrlich sein soll, ich muß mich immer erst
besinnen, welcher Fuß eigentlich kaput war, der rechte oder linke!«

Sein Gegenüber pflichtete ihm bei, um ihn bei guter Laune zu erhalten.

»Ja, es ist erstaunlich, was heutzutage die Herren Chirurgen alles
leisten! Einer meiner Kameraden beim alten Regiment hatte von einem
schweren Sturze eine Gehirnerschütterung gekriegt, Schlüsselbein kaput
und das ganze rechte Bein ein einziger schlotternder Lappen ... vier
Wochen Klinik in Tübingen, und er konnte wieder in den Sattel steigen!
Zwei Monate danach aber gewann er sein erstes Rennen.« Die Geschichte
war frei erfunden, aber was tat man nicht einem Paar blauer Mädchenaugen
zuliebe, die einen lustig anlachten?

Der alte Herr sprang prompt auf die kleine Kriegslist ein und nahm die
abgebrochene Unterhaltung wieder auf.

»Siehst Du, da hast Du's! Morgen laß ich mir meinen alten 'Perkuhn' an
die Rampe führen, probier' mal, ob's nicht schon wieder geht!« Und nach
einer kleinen Pause fuhr er fort: »Was aber unseren vorhin
angeschnittenen Hammel anlangt, Herr von Foucar -- also ich möchte da
kein Mißverständnis aufkommen lassen. Ich habe inzwischen nachgedacht.
Ich verstehe zwar immer noch nicht, wie geborene Franzosen in ein paar
Menschenaltern reine Deutsche werden können, aber da ich ein
überzeugendes Beispiel vor mir sehe, muß ich die Tatsache anerkennen.
Und sie interessiert mich sehr, denn vielleicht liegt in ihr irgendein
Fingerzeig verborgen für unsere Arbeit in den Grenzprovinzen, den Kampf
gegen das Polentum. Wenn Sie unsere Parlamentsverhandlungen der letzten
Jahre ein wenig verfolgt haben, werden Sie wissen, daß ich bisher immer
einer der Hauptvertreter der gemäßigten Richtung gewesen bin in der
Behandlung unserer polnischen Mitbürger. Während meiner unfreiwilligen
Muße aber, jetzt in der Klinik, habe ich eine Art von Inventur gemacht
über die Ergebnisse meiner Tätigkeit. Und, wenn man so losgelöst daliegt
von allen verwirrenden Eindrücken der kleinen Tageskämpfe, sieht man
wohl schärfer als sonst. Ja also, da hat sich mir die niederschmetternde
Erkenntnis aufgedrängt, daß all unsere Arbeit bis zur Stunde vergeblich
war. Statt vorwärts zu kommen, haben wir Boden verloren, und da fragt
man sich unwillkürlich, ob die bisherige Methode die richtige war.«

»Verzeihen Sie, Herr von Gorski,« sagte der Rittmeister, »ich habe mich
bisher mit diesen Dingen zu wenig beschäftigt, um ein eigenes Urteil zu
haben. Aber was ich von Ihnen, einem berufenen Sachverständigen, höre,
macht mich stutzig.«

Der alte Herr lächelte trübe.

»In unseren Industriegebieten finden Sie ganze Stadtteile und
Niederlassungen, in denen kaum noch ein Wort Deutsch gesprochen wird.
Und gehen Sie in die Mark, nach Sachsen, Pommern oder Mecklenburg -- die
Leute, die dort auf den Feldern arbeiten, sprechen Polnisch! Das hängt
ja nun mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte
zusammen, aber muß doch mit in Rechnung gebracht werden, wenn man sich
das Gesamtbild vergegenwärtigen will. Und das übrige ... das Ende ...«
Er brach ab und sah sinnend vor sich hin.

Herr von Foucar hatte gespannt und achtungsvoll zugehört. Als der alte
Herr plötzlich schwieg, erlaubte er sich in bescheidenem Tone die Frage:
»Nun und? Wenn all diese Polen den deutschen Gesetzen gehorchen, ihre
Steuern bezahlen und als Soldaten ihre Pflicht und Schuldigkeit tun?
Unsere Armee ist doch noch intakt. Und gerade unsere polnischen
Regimenter haben sich im letzten Feldzuge doch mit Auszeichnung
geschlagen. Geben wir den Polen vollkommene politische Freiheit und
wirtschaftliche Vorteile, die ihnen die Ueberzeugung wachrufen müssen,
unter keiner Herrschaft der Welt könnte es ihnen besser gehen als unter
der preußischen oder deutschen, und sie werden -- unter dem Zwange
dieser Einsicht -- treue und gute Staatsbürger werden.«

Um den bärtigen Mund des alten Herrn flog ein nachsichtiges Lächeln.

»Sehr schön und sehr nobel gedacht, aber das Mittel ist schon längst
versucht worden -- bisher ohne Erfolg! Zu keiner Zeit wurde wohl in
polnischen Kreisen mehr komplottiert, das alte Königreich wieder
auszurichten, als in jenen Jahren, in denen die Polen verhätschelt und
mit Zuckerbrot gefüttert wurden. Das ermutigte die Herrschaften nur, die
bisher im stillen betriebene großpolnische Agitation auf die Gasse zu
tragen! Wie Pilze schossen allenthalben die nationalen Hetzblätter
empor, und ganz unversehens war ein neues Moment in die Bewegung
gekommen: Der bisher indifferente kleine Mann in den Städten und auf dem
Lande war zum Bewußtsein seiner polnischen -- wie heißt doch das
neugeprägte Wort? -- ja richtig, zum Bewußtsein seiner polnischen
'Volkheit' gelangt! ... Aus solchen geschichtlichen Prozessen muß man
lernen, solange es noch Zeit ist. Alles auf dieser Welt verläuft in
Wellenlinien, nicht einmal der Strahl des Lichts fährt in schnurstracks
gerader Bahn dahin, also muß es auch wohl in der politischen Bewegung
der Völker ein Auf und Nieder geben. Es muß nur die gewaltige
Persönlichkeit kommen, die stark genug ist, die Hand zu heben: Halt!«

Der alte Herr schwieg erschöpft, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Herr von Foucar wollte etwas erwidern, aber Annemarie gab ihm ein
heimliches Zeichen, das Gespräch abzubrechen. In dem Coupé war es
plötzlich so finster geworden, daß man Mühe hatte, das Gesicht des
Gegenübersitzenden zu erkennen, eine jäh aufgestiegene dunkle Wolkenwand
hatte sich vor die Sonne geschoben. Die drückende Schwüle wurde schier
unerträglich, da, mit einem Male gleißende Helle, vor der sich
unwillkürlich die Augen schlossen ... in derselben Sekunde ein
schmetternder, kurzer Schlag, ein Reißen und Krachen, daß die
Wagenfenster klirrten. Einen zuckenden leichten Schmerz gab es in den
Gelenken, ein schwefliger Geruch drang zu den Fenstern herein, Annemarie
hob die Hand und deutete nach außen: »Da ... sieh nur, Papa, sieh.« Eine
rank aufgeschossene Kiefer, die mitten in einer abgeholzten Lichtung
etwa hundert Schritt vom Bahndamme stand, leuchtete rot auf, züngelnde
Flammen leckten an dem Stamme in die Höhe, und um die grüne Krone
breitete sich eine weißliche Wolke. Ueber das Gesicht des alten Herrn
aber flog ein heller Schein, seine Augen blitzten auf.

»Das sei ein Zeichen,« sagte er laut, »und so möge sich erfüllen, was
ich eben vorausgesagt habe.«

Die Bremsen an den Rädern zogen kreischend an, der Zug hielt vor einer
Art von ziegelgedecktem Schuppen, neben dem ein Wärterhäuschen aus
Wellblech stand. Und plötzlich kam mit Rauschen und Brausen der Regen
gezogen wie eine graue Wand. Hagelschlossen prasselten dazwischen, der
gelbe Sand des Bahnsteiges spritzte auf, und unablässig schmetterte und
krachte der Donner. Ein triefend nasser Schaffner kam gelaufen, riß die
Tür auf: »Kalinzinnen, eine Minute!«

»Um Gottes willen, schon?«

Annemarie sprang auf, stopfte Buch und Zeitungen eilig in die
krokodillederne Handtasche, der Rittmeister half dem alten Herrn in
einen Gummimantel, ohne für seinen Dienst mehr als ein kurzes »Danke!«
zu ernten. Aus der grauen Regenwand trat ein Diener, einen großen,
aufgespannten Leinenschirm in der Hand: »Willkomm zu Hause, gnäd'ger
Herr,« sagte er respektvoll. »Und der gnä'ge Herr müssen schon so gut
sein, ein paar Minutchen unter die Wartehalle zu treten. Die beiden
alten Kobbeln vor dem Kutschwagen sind von dem großen Blitz rein wie
verrückt geworden. Der Gottlieb mußt sie laufen lassen, aber er is wohl
gleich wieder 'ran.«

Der alte Herr verabschiedete sich von dem Reisegefährten mit kurzem
Gruße, kletterte ein wenig schwerfällig den Wagentritt hinab. Annemarie
rief ihm nach: »Papa, Du hast wohl nur vergessen ...?« Er hörte nicht,
oder vielleicht tat er auch nur so, denn der Zuruf war laut genug
gewesen, und in dem Rollen des Donners hatte es gerade eine kurze Pause
gegeben. Da flog über ihr Gesicht ein trotziger Zug, sie streckte dem
Rittmeister die Hand entgegen: »Entschuldigen Sie, mein Papa ist nur
durch die plötzliche Ankunft ein bißchen durcheinander, sonst hätte er
sicherlich ... jedenfalls sind Sie uns in Kalinzinnen herzlich
willkommen!« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Seien Sie ein
bißchen nett mit meinen beiden Vettern, sie stehen bei Ihrer Schwadron!«

Der Schaffner an der offenen Tür, dem das Wasser vom Mützenschirm über
die Nase rann, hob mahnend die Hand.

»Trautstes Freileinchen, beeilen Sie sich, der Zug hat sowieso all
Verspätung.«

Da gab es noch einen kurzen Händedruck. »Also gut, und auf bald.« Hastig
sprang sie von dem Tritte, der Diener, der den alten Herrn schon nach
der Wartehalle geleitet hatte, eilte mit dem großen Regendache herbei.
Eine Pfeife schrillte, der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Gaston
trat ans Fenster, um vielleicht noch einen Blick oder Gruß zu erhaschen,
aber Annemarie stapfte eilig dahin, zwischen den vom Boden schnellenden
Spritzern. Der über die Knöchel gehobene Rock zeigte ein paar schlanke
Fesseln über schmalen Füßen. Der alte Herr unter der Wartehalle schien
ungeduldig geworden zu sein, sprach lebhaft auf die Tochter ein, nach
dem abfahrenden Zuge sah er nicht mehr hinüber. Die graue Wand schob
sich dazwischen, der ziegelgedeckte, offene Schuppen und ein
heranfahrender Wagen waren noch wie durch einen Schleier zu erkennen.
Dann nichts als unablässig strömender Regen, nach jedem der rollenden
Donnerschläge schien er nur noch stärker zu fallen, als wenn da oben an
irgendeiner himmlischen Talsperre ein Staudamm gebrochen wäre, so
schüttete es hinab.

Gaston hatte das Fenster hochgezogen und setzte sich auf seinen Platz
zurück. Trocknete sich Gesicht und Hände von den durch die offene Tür
gespritzten Regentropfen, und ihm war seltsam lustig und aufgeräumt
zumute. Mit dem alten Herrn schien er's ja gründlich verdorben zu haben,
nach anfänglichem Wohlgefallen hatte es ein ziemlich unverhohlenes
Mißvergnügen gegeben. Aber was lag daran -- dafür hatte die Tochter
einen um so freundlicheren Abschied genommen. Wie hatte sie gesagt? »Auf
Wiedersehen, recht bald.« Na, das konnte ja besorgt werden! Und ein
Vorwand war gar leicht gefunden. Da drüben, zwischen Rückwand und
Wagenpolster blitzte etwas auf, als hätte es spitzbübisch bloß auf den
rechten Augenblick gewartet, sich bemerkbar zu machen. Eine kleine
goldene Zigarettendose, mit einem Saphir als Druckknopf und einem, aus
funkelnden Brillanten gefügten »=A=« auf dem Deckel. Eine siebenzinkige
Krone darüber, deren Zacken in hellem Rubinrot leuchteten. Und allerhand
Widmungen daneben, in Schrift oder figürlicher Darstellung. Ein
blau-weiß-roter Emailschild mit der Umschrift: »Masovia sei's Panier!
Der holden Korpsschwester die Füchse des Sommersemesters 1911.« Viele,
sauber ausgeführte Wappen mit Jahreszahl und Datum, und endlich auf der
Rückseite ein Emailbild der beiden »bösen Buben«, Max und Moritz. Eine
Inschrift besagte, daß unter dieser allegorischen Darstellung die beiden
Vettern Hans und Karl von Gorski zu verstehen wären. Nur eine Ecke auf
dem goldenen Untergrunde war noch frei. Gaston schob mit einem Lächeln
die Dose in die Brusttasche: da war er ja, der gute Vorwand! In ein paar
Tagen überbrachte man das kostbare Fundstück persönlich, und inzwischen
war auf der letzten freien Ecke von einem geschickten Goldschmied ein
Kleinod ganz besonderer Art eingefügt worden zur Erinnerung an die
Stunde der ersten Begegnung. Ein tiefblauer kleiner Saphir von
altertümlich flachem Schliff, der ein winziges Zeichen trug. Man mußte
eine Lupe zu Hilfe nehmen, um es zu erkennen: der gefiederte
Sarazenenpfeil war es aus dem Wappenbilde der Foucar, mit dem sie
zeichneten, was ihnen gehörte. Nach einer alten Familiensage stammte der
Stein von einem Ringe, den ein Ahnherr am heiligen Grabe geweiht hätte,
und sollte seinem Besitzer Glück bringen, ihn vor jeder Art von Gefahr
bewahren. Wem aber wünschte er wohl von Herzen mehr Glück als dem
blonden Mädel, das ihm ein gütiges Geschick hier in den Weg geführt
hatte.

Er brauchte nur die Augen zu schließen, und er sah es wieder vor sich
auf dem Platze da drüben ... die biegsame, schlanke Gestalt, das feine
Gesichtchen mit dem lustigen Grübchen in der Wange und den klaren,
blauen Augen. Ganz dunkel schienen sie in der Abwehr und leuchteten hell
auf, wenn sie lachte. Allmählich aber verwischte sich das Bild. Es hing
eine an seinem Halse, drängte sich ganz nahe an ihn und biß ihn in
bitterem Trennungsweh, daß er sie nie mehr vergessen sollte und immer an
ein Wort denken, das er selbst gesprochen hatte. Sie wäre für ihn die
Herrlichste und Reinste auf der ganzen Welt. In einer Art von
Trunkenheit hatte er es gesprochen, aber es stand da. Wahnsinn war es
doch, zu denken, mit seiner raschen Flucht wäre alles zu Ende. Die
Wirrsal fing jetzt erst an ... die Wirrsal für einen, den die Natur mit
mancherlei Gaben ausgestattet hatte, nur nicht mit einem robusten
Gewissen ...

Das Gewitter war vorübergezogen, kaum eine Viertelstunde hatte es
gedauert. Nur im Westen stand noch eine dunkle Wolkenwand, von der
untergehenden Sonne wie mit Blut und Feuer übergossen. Der Zug hielt im
freien Felde. In der Ferne blaute ein See mit spärlich bewaldeten Ufern,
ein schlanker Kirchturm, dessen Kreuz im Sonnenlicht blitzte, ragte
zwischen roten Ziegeldächern in die Höhe.

Auf dem anderen Gleise rollte ein langer Zug vorüber. Mehr als fünfzig
Wagen zählte Gaston, alle mit Menschen dicht besetzt. An den Oeffnungen
der Türen und Fenster drängten sie sich Kopf an Kopf, schauten mit einer
Art stumpfer Neugierde heraus. Gesichter von fremdartigem Schnitt ...
kleine blaue Augen über breiten Backenknochen, stumpfe Nasen und
blondes Haar. Die Frauen in bunten Tüchern, die Männer in grauen Röcken,
breitschirmige Mützen tief in die Stirn gezogen.

Der aus seinem Bremserhäuschen gestiegene Schaffner gab unaufgefordert
die Erklärung: »Polnische Auswanderer. Jeden Tag kommen vier solcher
Züge von der Grenz'. Alles wegen dem Krieg. Da drüben haben se,
scheint's, noch mehr Angst wie bei uns. Möcht's man endlich losgehen,
sonst reißen se uns noch alle aus.«

Gaston nickte.

Ja, wenn's nur endlich losgehen wollte!

Dann wäre er mit einem Schlage aus aller Wirrsal heraus gewesen -- -- --




6.


Im Lesezimmer des Kasinos der Ordensburger Dragoner saßen nur drei
Herren. Zwei in Uniform, der dritte in Zivil. Ein junger Mann mit langen
Gliedern und breiten Schultern, ein paar tiefe Schmisse auf der linken
Wange. Das schlichte blonde Haar trug er in der Mitte gescheitelt, unter
einer narbenbedeckten hohen Stirn standen ein paar fast immer schläfrig
blickende, blaue Augen.

Die beiden Herren in Uniform sahen einander zum Verwechseln ähnlich.
Zwei Köpfe von gleicher, kugelrunder Form, die weißblonden Haare bis auf
die Haut kurz geschnitten. Hellgraue Augen unter farblosen Brauen,
jeder einen breiten Streif Sommersprossen über der scharf
vorspringenden, gebogenen Nase, und lächerlich wirkende große Ohren.
Kaum zu unterscheiden waren sie, wie Zwillinge sahen sie einander
ähnlich, trotzdem sie im Alter zwei Jahre auseinander waren. Nur einen
Unterschied gab es. Der Aeltere war reich, der Jüngere arm. Der Aeltere
erbte einmal das große Majorat im Johannisburger Kreise, der Jüngere
mußte mit knappem Zuschuß bei der Truppe weiterdienen. Noch ein halbes
Dutzend Schwestern wuchs zu Hause heran. Die mußten von dem Oberhaupt
der Familie standesgemäß ernährt werden, denn auf Versorgung durch
Heirat war wegen Häßlichkeit leider nicht zu rechnen. Auch ihnen standen
die Ohren vom Kopfe ab, sprang unter reichlichen Sommersprossen eine
gebogene starke Nase aus dem Gesicht. »Zeichen eines reingezogenen
adeligen Geschlechts« nannte das der jüngere, zur Spottlust neigende der
beiden Gebrüder Gorski, »aber leider legten die heiratslustigen
Jünglinge im Kreise mehr auf Schönheit Wert als auf die Merkmale echter
Gorskischer Rasse.«

Das Gespräch zwischen den dreien floß zu Anfang nur spärlich dahin.

»Herrschaft,« sagte der Lange, »wenn ich 'ne Ahnung gehabt hätte, daß
bei Euch heute abend so wenig los ist, wäre ich lieber nach Hause
gefahren.«

»Wieso?« versetzte der jüngere Gorski, der den linken Arm in einer
schwarzen Binde trug, »ist da mehr los? Können Deine Mastochsen
vielleicht Skat spielen?«

»Das gerade nicht! Aber wenn man sich auf die Reise macht und findet das
ganze Offizierkorps ausgeflogen?«

»Nächstens werde ich einen Regimentsbefehl veranlassen, daß den Herren
der Reserve vom Bureau aus das Stattfinden einer Nachtfelddienstübung
telephonisch mitgeteilt wird. Aber kannst Dich darauf verlassen, drei
Tage in der Woche wird überhaupt immer Nachtfelddienst geübt! 'n schönes
Wort, was? _Meine_ Erfindung! Unser Alter dressiert uns überhaupt nur
japanisch, seit er damals als Attaché da drüben gewesen ist. Also, wenn
ich hier als Leutnant ausgelernt hab', trete ich als Akrobat im
Wintergarten auf. Klettere über die verschmitztesten Drahthindernisse,
verhaspel mich mit den Sporen und kämpfe mit dem in der Dunkelheit
egalweg vorbeischießenden Gegner Jiujitsu. Falls er mir nicht vorher,
zur Vereinfachung der Angelegenheit, mit dem Kolben über den Kopp haut!«

Der Lange mußte unwillkürlich auflachen.

»Wie Du das darstellst!«

»Von dem einzig richtigen Standpunkt aus! Wer ist wohl mehr zu
sachlicher Kritik berufen als der mißvergnügte Leutnant? Wenn die hohen
Vorgesetzten einen Dienstbetrieb einführen, der den Offizier nötigt,
eine Drahtschere zu tragen statt des Säbels? Das ist was für die
Fußlatscher! Dem Kavalleristen gehört der Tag und das freie Blachfeld.
Abends aber soll er in Ruhe seinen Schoppen trinken dürfen, auf den
Dienst schimpfen und alles besser können. Na prost, Hermann!« Und der
jüngere Gorski griff nach seinem Bierglase.

»Prost, Karlchen.«

Der ältere der beiden Brüder ließ die Zeitung sinken, in der er eifrig
gelesen hatte, und nahm ebenfalls einen tiefen Schluck.

»Prost, Kinder! Da ist doch in Berlin wieder mal was Dolles passiert,
was für den ganzen Stand nicht gerade dekorativ wirkt ... ein Leutnant
hat sich dotgeschossen!«

»Ach ne! Wieso denn?«

»Das steht nich drin. Nur eine ganz kurze Notiz.« Er zeigte sie den
anderen: »In unserer Nachbarkolonie Grunewald erregte gestern abend ein
Selbstmord beträchtliches Aufsehen. Vor dem Tor der Villa des bekannten
Sportmannes R. erschoß sich ein elegant gekleideter junger Mann.
Augenzeugen hatten beobachtet, wie er in gebrochener Haltung von einem
Diener über den Vorplatz zum Ausgange geführt wurde. Gleich danach erhob
er die todbringende Waffe. Aus Papieren, die man bei ihm fand, wurde
seine Identität mit dem Oberleutnant v. W. von den Landsberger Husaren
festgestellt. Seine Leiche wurde nach dem Schauhause gebracht.«

»Scheußlich,« sagte der Lange in Zivil und griff sich in den Halskragen.

»Nicht wahr?« versetzte der ältere Gorski. »Ach, Karl, sieh doch mal in
der Rangliste nach bei den Landsberger Husaren.«

Der Jüngere holte das Buch aus dem Schrank und blätterte nach.

»Da stehen drei Oberleutnants mit »W« drin: von Witten, von Wilding, von
Wodersen.«

»Der letzte ist der berühmte Rennreiter. Und wenn man dazu hält: 'Villa
des bekannten Sportmanns R ...'«

»Wird's schon stimmen. Die Leutchen engagieren sich leider zu oft über
ihre Verhältnisse. Und dann die verfluchten Karten! Na, wie ist es,
wollen wir uns nicht auch gegenseitig das Geld abnehmen? In einem
soliden Halbenpfennigskat? So solid, daß jeder der Teilnehmenden zum
Schluß eine Kleinigkeit gewinnt?«

Der ältere Gorski legte unwillig die in einen Rahmen gespannte Zeitung
auf den Tisch.

»Mensch, gewöhn' es Dir bloß ab, an alles einen Witz 'ranzuhängen! Das
da hier geht einem doch nah! Da werden die Zeitungen einer gewissen
Sorte wieder drauf rumtrampeln und kränkende Schlußfolgerungen für den
ganzen Stand ziehen! Scheußlich ist das ...«

»Sehr richtig, Herr Majoratserbe,« sagte der Jüngere mit ernsthaftem
Gesicht, während er zugleich dabei in komischer Weise die großen Ohren
bewegte. »Sie werden trampeln! Aber bin ich daran schuld? Soll ich
meines Bruders Hüter sein?« Und zu dem Langen gewandt, fuhr er fort:
»Uebrigens was ist das mit Dir, Herr von und zu Brinckenwurff? Heute ist
doch das Jöhr fällig, die Annemarie mit ihrem Vater? Da bist Du nicht
zum Empfang an die Eisenbahn gefahren?«

Der Lange errötete heftig. »Erstens wußte ich's nicht genau, und
zweitens, ich mußte in die Stadt. Den Ingenieur sprechen, der meine
Torflager verwerten will.«

»Mensch, sei ehrlich, wenn es Dir auch schwer fällt! Ihr habt Euch
brieflich verknaxt! Oder hat sie vielleicht das Geheimnis der jungen
Mamsell spitz gekriegt? Die auf Befehl Deiner Frau Mama plötzlich ihr
Köfferchen packen mußte? Angeblich wegen eines ungehörigen
Techtelmechtels mit Eurem zweiten Inspektor?«

»Das ist ein törichtes Gerede ... absolut nichts dran! Der Inspektor
übernimmt zum Herbst da irgendwo weit hinten im Litauischen eine kleine
Pachtung. Dann heiratet er die Mamsell.«

Karl von Gorski steckte sich lächelnd eine Zigarette an.

»Weit hinten im Litauischen? Mein Kompliment an Deine verehrte Frau Mama
-- sie ist eine sehr kluge Dame! Und wenn Du mir nun noch erklären
wolltest, weshalb Du bei meiner harmlosen Frage vorhin rot geworden bist
wie ein beim Mogeln erwischter Sextaner?«

»Das hat bloß so ausgesehen! Aber ich möchte bemerken: Was geht's Dich
an, wie ich mit Annemarie stehe? Bist Du vielleicht ihr Vormund?«

»Nee, aber ihr heißgeliebter Cousin -- wenn wir uns auch manchmal
kabbeln. Und da sage ich Dir, mein Jungchen, wer so ein sauberes Mädel
kriegen will, hat gewisse Verpflichtungen! In bezug auf seinen
Lebenswandel. Wenn er schon nicht die gleiche Sauberkeit prästieren
kann, soll er wenigstens vorsichtiger sein. Sonst fängt die kleine
Annemieze an, über Dich auch im allgemeinen nachzudenken, und eines
schönen Tags geht die ganze Sache aus dem Leim!«

Der lange Herr von Brinckenwurff fuhr auf: »Also, Karlchen, ich muß doch
sehr bitten!«

»Na, was denn? Was ich Dir sagen wollte, hast Du weg -- damit ist der
Fall für mich erledigt! Im übrigen aber könnten wir schon längst Skat
spielen. Ausgang hat mir der Stabsarzt mit meiner verknaxten Hand
gestattet, aber um zehn Uhr muß ich in der Klappe liegen. Und die Zeit
geht hin wie Geld und Wind, mein schönes Kind.«

Hans von Gorski, der Aeltere, reckte die Arme.

»Und ich muß meinen Gefechtsesel besteigen, um elf Uhr zum erstenmal die
Brückenposten am Bahndamm revidieren. Es ist kein Vergnügen. Neulich
hätt' einer von den Kerls beinahe auf mich geschossen. Ein
Masurenjüngling von der Infanterie, der die deutsche Parole natürlich
vergessen und in der Dunkelheit meine Uniform nicht erkannt hatte. Er
hatte den Sicherungsflügel umgedreht und die Knarre schon an der Backe.
Erst als ich ihn gröblich auf polnisch anschrie, beruhigte er sich. Die
Kerls fangen auch schon an nervös zu werden.«

»Kein Wunder! Wir schlafen doch wenigstens ab und zu in der Nacht, aber
diese armen Fußfantristen müssen von dem ewigen Nachtpostenstehen
allmählich blödsinnig werden. Und eine Wut sammelt sich in ihnen an. Da
erzählte doch neulich der Kollege Reuter von der Infanterie beim
Frühschoppen, er hätte zugehört, wie sich ein paar seiner Kerls auf dem
Schießstand unterhielten. Der eine sagte: 'Der erste Ruß', wo ich
gefangen nehm', dem stäch ich das Seitengewehr in die Kaldaunen!' Und
der andere meinte: 'Mänsch, das is nich genuch! Erst würd' ich das Beest
eine ganze Weile lang piesacken und verdreschen, eh' ich ihm im Jenseits
beförder': Da, das is fier die sächs Wochen, wo ich wegen Dir jede
zweite Nacht hab' auf Posten stehen müssen!' Also der Leutnant Reuter
sagte, er wäre jedesmal froh, wenn eine Felddienstübung an der Grenze
ohne Zwischenfall vorüber wäre. Wenn drüben die Russen reiten, kriegen
unsere Kerls immer dunkle Augen vor Zorn. Es braucht bloß eine Flinte
loszugehen, und der Salat ist fertig!«

Hans von Gorski atmete tief aus.

»Gott gäb' es! Die Schamröte steigt einem ja ins Gesicht, wie provokant
sich die Burschen da drüben benehmen. Probemobilmachung nennen sie's,
wenn sie sich fertig machen, um jeden Augenblick losbrechen zu können.
Wir aber getrauen uns nicht mal, ein paar Regimenter mehr unter irgend
einem Vorwand an die Grenze zu legen. Damit könnten wir ja irgendwo
anstoßen! Pfui Deuwel noch mal!«

»Ja,« sagte Herr von Brinckenwurff. »Die Herren in Berlin haben gut
reden! _Ihre_ Saaten werden nicht zerstampft, und _ihre_ Scheunen brennen
nicht, wenn unsere Handvoll Soldaten hier an der Grenze im ersten
Ansturm über den Haufen gerannt wird. Und den Kerl im Generalstab, der
das erfunden hat, daß Ostpreußen im Kriegsfall bis zum Seendefilee
preisgegeben werden soll, den möcht' ich mal unter vier Augen sprechen!«

Hans von Gorski protestierte entrüstet. »Bet'st Du auch das törichte
Gerede nach? Kein Mensch hat die Absicht, auch nur einen Zollbreit
aufzugeben, und am zweiten Mobilmachungstag haben wir hier so viel
Flinten an der Grenze, daß an ein Ueberschwemmen mit Reitergeschwadern
nicht mehr zu denken ist!«

Der jüngere Bruder stieß einen komischen Seufzer aus.

»Na, Kinder, dann wären wir ja wieder mal bei dem alleinseligmachenden
Gesprächsstoff! Ich bin auch sehr für den Krieg. Ihr beide bleibt auf
dem Felde der Ehre, ich kehre als lorbeergeschmückter Sieger nach Hause
zurück. Erb' das Majorat und heirate die Annemarie.«

»Fatzke,« sagte der Aeltere lachend. »Aber wollen wirklich noch 'ne
Weile Skat spielen, was wir hier reden, ist für die Katz. Wir ändern
doch nichts an der Sache!«

Karl von Gorski griff nach der von der Lampe herabhängenden
Klingelschnur, die Ordonnanz erschien in der Tür.

»Ein noch leidlich erhaltenes Spiel Karten, einen Skatblock und einen
frisch gespitzten Bleistift!«

»Sehr wohl, Herr Leutnant. Aber es ist ein fremder Herr in Zivil
draußen, der eben ablegt. Den Namen hab' ich nich verstanden ... er
klang so französ'sch.«

»Etwa Baron Foucar von Kerdesac?«

»So ähnlich, Herr Leutnant!«

»Ei weh,« sagte Hans, »unser neuer Schwadronschef. Ich lasse natürlich
bitten.«

»Einen Augenblick noch,« rief Karl von Gorski, »beeilen Sie sich nicht
so sehr mit dem Reinführen!« Er sprang an den Bücherschrank, kehrte mit
einer Generalstabskarte zurück und breitete sie auf dem Tische aus. »Du
willst mal Feldherr werden, Hans, und ermangelst der bei
Ueberraschungen so notwendigen Geistesgegenwart? Welcher Moment wäre
wohl geeigneter als der erste, um sich bei einem neuen Vorgesetzten ins
rechte Licht zu setzen?«

So sprach er mit übertriebenem Pathos, wartete ab, bis der Rittmeister
von Foucar in der offenen Tür erschien und deutete dann mit dem
Zeigefinger auf irgend eine Stelle der Karte: »Also das, mein lieber
Brinckenwurff, sind die Mondezer Berge! Ein Infanterieregiment, das sich
auf ihnen einbuddelt, ist einfach unangreifbar. Und wenn wir dann, mit
zwei Schwadronen bloß, den bösen Feind in der Flanke fassen -- -- --«

Hans von Gorski empfing den Eintretenden und besorgte die Vorstellung.
Herr von Foucar schüttelte den dreien die Hand und deutete lächelnd auf
die ausgebreitete Karte.

»So fleißig, meine Herren?«

Karl von Gorski machte ein möglichst treuherziges Gesicht.

»Gott, Herr Rittmeister, was soll man anfangen, wenn man notgedrungen
dem Dienst fernbleiben muß? Man strebt und bildet sich.«

»Sie haben eine Verletzung am Arm? Doch hoffentlich nichts Ernstliches?«

»Nur eine leichte Verstauchung des Handgelenks. Als ich vor einigen
Nächten ein Drahthindernis überklettern mußte, sauste ich kopfüber in
einen Graben. Spätestens übermorgen hoffe ich schon wieder Dienst tun zu
können.«

»Charmant! Im Hotel schon hatte ich gehört, daß ich nur wenige Herren im
Kasino treffen würde, weil das Regiment auf Nachtfelddienstübung wäre.
Ich freue mich, daß es gerade zwei Herren von meiner zukünftigen
Schwadron sind.«

»Ganz auf unserer Seite natürlich, Herr Rittmeister.«

Gaston fuhr lächelnd fort: »Und daß Sie so strebsam sind! Ich entsinne
mich aus meiner jüngsten Leutnantszeit: Wenn wir in Karlsburg auf der
Hauptwache den Würfelbecher schwangen, hatten wir auch stets eine
Generalstabskarte unter dem Tableau der lustigen Sieben. Wenn der hohe
Vorgesetzte kam, verschwand das Tableau, und wir übten mit Eifer
Kriegsspiel.«

Der jüngere Gorski blinzelte seinen neuen Schwadronschef dreist und
gottesfürchtig an.

»Merkwürdig, Herr Rittmeister, wie gewisse Unsitten im Leutnantsstande
durch das ganze Vaterland verbreitet sind. Ich fürchte aber, sie werden
sich nicht ausrotten lassen. Solange es nämlich Vorgesetzte gibt, die
den Schwindel noch nicht kennen.«

Gaston mußte unwillkürlich auflachen. Der kleine Frechdachs da mit den
großen Ohren gefiel ihm. Das war einer von den preußischen Leutnants,
die sich eine Zigarette ansteckten und ihre Kerls mit einem Witz
anfeuerten, wenn es galt, gegen eine feindliche Batterie anzureiten.

»Na dann«, sagte er, »wollen wir diesen kleinen Reinfall mit einer
Flasche Sekt begrüßen! Darf ich mir gestatten, meine Herren?«

»Gehorsamst abgelehnt, Herr Rittmeister! Heute sind Sie _unser_ Gast.
Morgen aber, nach offizieller Uebernahme des Kommandos, haben wir nichts
dagegen, wenn Herr Rittmeister sich öfter mal in dem eben erwähnten
Sinne äußern wollten.«

»Na, meinetwegen.«

Die Ordonnanz schenkte ein, Gaston hob sein Glas.

»Also prosit, meine Herren! Auf gute Kameradschaft!«

Er war von seltsam guter Laune. In der neuen Umgebung hatte er seine
Sorgen und Kümmernisse vergessen. Eine nervöse Spannung lebte in ihm,
als könnte jeder Augenblick den heißersehnten Umschwung bringen. Hier an
der Grenze roch es förmlich nach Krieg.

Hinter dem Hotel, in dem er abgestiegen war, dehnte sich freies Feld. Da
kampierte in schmalen, mit Leinenplanen überspannten Korbwagen eine
seltsame Gesellschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die
Männer in langen, bis auf die Schaftstiefel reichenden Kaftanen,
Ringellöckchen zu beiden Seiten der scharfgeschnittenen Gesichter. Die
Frauen in grellfarbigen Gewändern, falsche Scheitel auf dem Kopf. Auf
seine Frage hatte ihm der gesprächige Oberkellner die Auskunft gegeben:
»Russische Juden, Herr Rittmeister. Und wie die in Scharen gekommen
sind, hab' ich auch angefangen, an den Krieg zu glauben. Die Ratzen
verlassen das Schiff. Sie haben nämlich eine scharfe Witterung,
irgendwas is da drüben los. Da reißen sie aus, stehlen sich heimlich
über die Grenz' und versammeln sich hier zum Auswandern nach Amerika.
Nämlich, wenn in Rußland was passiert, werden hinterher immer ein paar
tausend arme Juden totgeschlagen. Attentat auf einen Minister: Pogrom!
Mobilmachung: Pogrom! Sie können nichts dafür, aber es wird Pogrom
gemacht!«

»Was ist das, 'Pogrom'?« hatte er gefragt.

»Na, so 'ne Art von russischem Volksfest. Seit einigen Jahren haben
sie's schon eingeführt. Man plündert die Läden, schändet die Mädchen und
schießt die männlichen Juden tot. Hinterher kommt eine lahme
Untersuchung. Keiner von den Zeugen hat 'was gesehen, und die paar
Juden, die noch am Leben geblieben sind, denen wird nicht geglaubt.
Schreckliche Sachen erzählen diese armen Menschen! Und jetzt wissen sie
ganz genau, was los ist, denn sie haben ihre Verbindungen. Da hab' ich
meine paar Kröten auch locker gemacht auf der Sparkass'. Wenn die Russen
uns hier überfluten, wie es neulich in der Zeitung gestanden hat, rutsch
ich ab -- dritter Klass' nach Königsberg!«

Da hatte Gaston unwillkürlich auflachen müssen: »Sehr richtig, Herr
Oberkellner, das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht!« Zugleich
aber war ihm selbst leichter ums Herz geworden, in kurzer Frist hatte
wohl alle Not ein Ende. Er sprengte mit seiner Schwadron vorwärts an den
Feind, die Kugeln schwirrten und pfiffen. Eine davon traf, man schoß
kopfüber aus dem Sattel. Vorbei war alles. Die Reue um das verpfuschte
Leben und das neue Gefühl, das heute in ihm aufgestiegen war. Ein
schmerzlich-süßes Gefühl. Wie herrlich vielleicht alles hätte werden
können, wenn ... ja, wenn diese letzten Tage nicht gewesen wären!

Die drei Herren im Kasino hatten ihm Bescheid getan, nach der ersten
lustigen Begrüßung rann das Gespräch nur spärlich dahin. Gaston
beantwortete die üblichen Fragen, wie ihm das Städtchen gefallen hätte,
und ob er sich hier nicht wie in der Verbannung vorkommen würde. Wobei
der jüngere Gorski die verblüffende Behauptung aufstellte, es wäre gar
nicht so schlimm. Das kleine Nest Ordensburg besäße nämlich eine große
Aehnlichkeit mit Nizza. Und als die anderen verwundert aufblickten, gab
er lächelnd die Erklärung: »Na ja, sehr einfach. Wenn man sich in der
Stadt langweilt, fährt man in die schöne Umgebung. Dort nach Monte
Carlo, hier bei uns auf eins der Güter in der Nachbarschaft. Da ist es
dann amüsanter.«

Die Herren lachten, Gaston entsann sich infolge einer naheliegenden
Ideenverbindung, daß er ein Fundstück bei sich trug, das er nicht
persönlich abzugeben gedachte. Für ihn und die Verliererin war es
besser, wenn sie sich nach der ersten Begegnung nicht wiedersahen.

Er griff in die Tasche.

»Kommt einer von Ihnen, meine Herren, vielleicht in den nächsten Tagen
nach dem Gute Kalinzinnen?«

»Ich,« sagte der lange Herr von Brinckenwurff. »Ich reite schon morgen
früh hinüber. Heute abend konnte ich zu meinem Bedauern nicht an der
Bahn sein.«

Gaston blickte auf. Das also war der »Hermann«, von dem am Nachmittag
zwischen Vater und Tochter die Rede gewesen war. Wie eine Warnung hatte
der alte Herr den Namen ausgesprochen. Eine Warnung für sie beide, die
gleich in der ersten Stunde vertraut geworden waren ... Der alte Herr
hatte ganz recht, das mußte ein Ende haben, noch ehe es eigentlich einen
Anfang genommen hatte. Er atmete auf und legte die goldene
Zigarettendose auf den Tisch.

»Das da hat Fräulein von Gorski im Coupé liegen lassen. Wenn Sie also
die Liebenswürdigkeit haben wollten, es ihr morgen wieder zuzustellen,
Herr ... pardon, aber vorhin bei der Vorstellung habe ich Ihren
Namen ...«

»Brinckenwurff,« fiel der Lange ein, klappte die Hacken zusammen,
»Leutnant der Reserve im Regiment.« Und Hans von Gorski fügte erklärend
hinzu: »_Hermann_ von Brinckenwurff! Zum Unterschied von seinem jüngeren,
aber noch längeren Bruder Adolf. Der ist bei uns im Regiment aktiv, bei
der zweiten Schwadron.«

Karl von Gorski aber machte große Augen und sah seinen neuen
Vorgesetzten mißtrauisch an. Wie ein Füchslein, das eine Fährte
witterte, über deren Bedeutung es sich nicht recht klar war.

»Herr Rittmeister sind mit meinem Kalinzinner Onkel und seiner Tochter
zusammen von Königsberg gekommen?«

»Ja! Wir haben uns unterwegs recht nett unterhalten.«

»Und meine Cousine Annemarie hat die Tasche da, die sie sonst wie ein
Kleinod hütet, aus Versehen liegen lassen?«

»Es scheint wohl so. Nach ihrem Aussteigen hab' ich sie gefunden. Und da
ich annehme, der Verlust wird ihr recht unangenehm sein, möchte ich
nicht, daß sie sich länger als nötig ...«

Er brach ab, er hatte den geheimen Sinn der Frage verstanden. Vom Herzen
stieg es ihm heiß in die Wangen empor. Absichtlich hatte das liebe Mädel
die kostbare Tasche liegen lassen, um ihm den triftigen Vorwand zu
baldigem Besuche zu geben. Er schlug die Gelegenheit aus, und sie mußte
sich natürlich gekränkt fühlen. Aber es war recht so ... Ein Pflänzlein,
das eben erst im Aufkeimen war, riß man leichter aus, als wenn es schon
seine Wurzeln tief ins Erdreich gesenkt hatte.

Karl von Gorski sah den Langen mit einem ironischen Lächeln an: »Mensch,
Hermann, hast Du einen Dusel! Was wird die Annemieze sich freuen, daß Du
gerade ihr das kostbare Doschen zurückbringst! Wo sie wahrscheinlich
schon gemeint hat, es wär' für immer perdüh gewesen.«

Die Flasche war getrunken, die Herren rüsteten sich zum Aufbruch.
Hermann von Brinckenwurff bestieg sein Fuhrwerk, der ältere Gorski ließ
den Gaul vorführen zum Inspizierungsritt den Bahndamm entlang, wo an
jeder kleinen Brücke die wachsamen Posten standen. Der jüngere geleitete
den neuen Rittmeister nach seinem Hotel. Er hatte zu seiner Wohnung in
der Nähe des Bahnhofs den gleichen Weg. Und während sie im Halbdunkel
dahingingen unter den dichtbelaubten Linden der sogenannten
Bahnhofspromenade, die nur in Abständen von hundert Schritten von einer
kümmerlichen Gaslaterne erhellt wurde, fühlte er das Bedürfnis, seinen
neuen Vorgesetzten angenehm zu unterhalten. Des guten Eindrucks halber.

»Haben Herr Rittmeister die Berliner Morgenblätter gelesen?«

»Gewiß doch. Schon heute mittag in Königsberg.«

»Da faßt man sich doch an den Kopf: hätte der Mensch nicht so viel
Contenance haben müssen, sich anders aus der Welt zu schaffen, als mit
so einem Klimbim und Trara?«

»Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!«

»Na, von dem Landsberger Husaren, der sich da vor einer Villa im
Grunewald erschossen hat. In der Zeitung standen nur die
Anfangsbuchstaben der Namen.«

Gaston blieb stehen. Eine eiskalte Hand griff ihm ums Herz.

»von Wodersen?« sagte er heiser.

Karl von Gorski blickte auf.

»Herr Rittmeister kennen den armen Kerl?«

»Er war mit mir noch vorgestern ...« und er verbesserte sich schnell:
»Das heißt, daß es gerade Herr von Wodersen sein soll, ist nur eine
Vermutung natürlich. Weil es der einzige Landsberger Husar ist, den ich
kenne. Damit ist durchaus nicht gesagt ...«

»Aber es wird schon stimmen. In der Zeitung stand, er wäre in total
gebrochenem Zustande von einem Diener aus der Villa des bekannten
Sportmanns R. geführt worden. Das sieht doch aus, als hätte sich da
vorher irgend eine Tragödie abgespielt.«

Gaston hatte seine Haltung wiedergewonnen. Er zuckte mit den Achseln.

»Vielleicht! Vielleicht war es aber auch eine ganz prosaische
Veranlassung. Die Herren, die alle Woche ein paarmal in den Sattel
steigen, lassen sich zuweilen auf Geschäfte ein, die ihnen über den Kopf
wachsen. Wenn es keine Lösung im guten gibt, greifen sie zu dem letzten,
verzweifelten Mittel.«

»Hab' ich vorhin im Kasino auch gesagt. Na, gute Nacht, Herr
Rittmeister, ich muß um die Erlaubnis bitten, mich jetzt empfehlen zu
dürfen. Hier, rechts ab geht's in mein kümmerliches Junggesellenheim.«

»Gute Nacht, Herr von Gorski, und auf Wiedersehen morgen.«

Gaston ging allein weiter. Nur ein paar hundert Schritte trennten ihn
von seinem Hotel, aber die Füße versagten ihm den Dienst, er mußte
stehen bleiben und sich auf das Geländer eines Vorgartens stützen. Die
Fenster im untersten Stockwerk des Hotels waren hell erleuchtet, Musik
klang herüber. Richtig, er hatte ja vorhin die grellen Plakate gelesen.
Eine Damenkapelle konzertierte im großen Saal auf der Durchreise nach
Rußland ...

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur ein dumpfes Gefühl war in
seiner Brust, sein Schicksal ging weiter. Auch ohne daß er selbst dabei
war ... seine Schuld nur war dort zurückgeblieben, trieb einen
Unglückseligen in den Tod. Wie er's auch drehen und wenden mochte, er
war daran schuld. Weil er im entscheidenden Augenblicke nicht den Mut
zur Wahrheit gefunden hatte, als er mit der Frau allein gewesen war. Und
aus der ersten Lüge sprang die zweite. Der arme Teufel da mit dem Loch
in der Schläfe konnte jetzt noch leben, wenn er ihm einen anderen
Bescheid hätte geben können. »Lieber Wodersen, ich denke ja nicht daran!
Heute reise ich noch ab, die Frau, die sich in einem gewissen
Ueberschwang an mich geklammert hat, wird sich zu trösten wissen. Sie
haben sowieso ja nicht die Bedenken, mit denen ich mich trage, also
bitte, der Weg ist frei. Vielleicht zieht es sich zwischen Euch beiden
zurecht.« Statt dessen hatte er dem Aermsten die letzte Hoffnung
genommen, und als sich dem das bißchen Rest von Vernunft verwirrte, die
Hand gegen ihn gehoben. Und warum nur in aller Welt, warum? Um ein
Nichts, um die Laune eines überspannten Frauenzimmers, das sich just an
ihn gehängt hatte. Grauenhaft war das. Und ein Gefühl des Abscheus
ballte sich in ihm, erfüllte ihn ganz und gar.

In dem Vestibül des Hotels stieß er auf den dicken Herrn von Lindemann,
der sich gerade seinen weißen Staubmantel anzog.

»Eben wollte ich Sie im Kasino aufsuchen,« sagte der, »weil ich von dem
Oberkellner gehört hatte, Sie wären dorthin gegangen. Hier nämlich der
Kunstgenuß ist nur mäßig. Vom musikalischen Standpunkt aus und vom
patriotischen. Sie spielen wie Dorfmusikanten, die kleinen Frauenzimmer,
und morgen fahren sie über die Grenze. Zu den Russen nach Grajewo, den
Herren Offizieren das Lagerleben zu versüßen. Da muß man es doch mit dem
Zorn kriegen, daß deutsche Mädels sich so weit erniedrigen.« Er
unterbrach sich und sah den andern besorgt an: »Aber was ist das mit
Ihnen, Herr von Foucar? Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja aus im Gesicht
wie eine wandelnde Leiche.«

Gaston nahm sich mühsam zusammen.

»Mir ist in der Tat nicht ganz extra, und ich möchte am liebsten zu Bett
gehen.«

Herr von Lindemann faßte ihn unter den Arm.

»Unsinn, Sie haben sich auf der Reise eine kleine Erkältung geholt --
das muß man 'runterspülen! Mit einem alten guten Burgunder. Und den
gibt's hier in der Nähe, also los!«

Da ging er mit, war eigentlich froh, daß er für ein paar Stunden
Anschluß fand. Und eine Ablenkung von seinen zehrenden Gedanken.

Sie gingen die dunkle Bahnhofspromenade entlang, dem Marktplatze zu. Der
dicke Herr von Lindemann erzählte, er hätte das Konzertlokal noch aus
einem anderen Grunde verlassen. Weil dort der Gutsbesitzer Heidereuter
gesessen hätte mit dem polnischen Käufer von Sucholasken. Um den Verrat
an der vaterländischen Sache mit einer Flasche Sekt zu begießen. Ganz
schamlos in aller Oeffentlichkeit. Da wäre ihm die Galle übergelaufen.

Gaston hörte zerstreut zu, seine Gedanken waren ganz wo anders ... bei
einem, der mit durchschossener Schläfe irgendwo auf einem Schragen lag,
in einem Schauhause.

Sie standen vor einem niedrigen Hause am Marktplatze. Die Fensterläden
waren geschlossen. Herr von Lindemann hieb kräftig mit der Krücke seines
derben Eichenstockes dagegen: »Holla, Zapietznick, aufgemacht.«

Schlürfende Schritte näherten sich der Tür, ein Schlüssel kreischte in
eingerostetem Schlosse. Ein Kerl mit lang herabhängendem Schnurrbart
streckte das breitknochige Gesicht durch den Spalt: »Ach Sie sind es,
Cherr Baron? Dann, biete einzutretten!«

Herr von Lindemann ging voran, führte seinen Begleiter in ein
verräuchertes Kneipzimmer, das mit einem gewissen ordinären Luxus
ausgestattet war. Imitierte Holztäfelung an den Wänden, »Makartbuketts«
in den Ecken und Krüge aller Art und Größe auf dem langen Paneel.
Darüber Lithographien von Kosziusko und dem Krakauer Hügel, eine
allegorische Darstellung der Warschauer Legion, die einstmals geschworen
hatte, nur mit Bajonetten anzugreifen. Darüber der weiße Adler Polens.

Sie nahmen in einer Ecke Platz, am entgegengesetzten Ende des Lokals
saßen mehrere Polnisch sprechende junge Leute und tranken Sekt mit den
beiden Kellnerinnen.

Eine von ihnen stand auf, kam lässig näher.

»=Co pan sobie zyczy?=«

Herr von Lindemann lachte.

»Sprich Deutsch, mein geliebter Goldfasan, Du kannst es ebenso gut wie
ich. Eine Flasche Fünfundneunziger Chambertin möchte ich, von der Sorte,
die ich immer trinke.«

»=Tak, tak=«, sagte das junge Mädchen und gab die Bestellung dem Wirte
weiter. Gaston von Foucar sah sich befremdet um, der Dicke aber
schmunzelte.

»Da kriegen Sie einen Begriff, mein Verehrtester, was wir uns in unserer
unsäglichen Gutmütigkeit gefallen lassen. Das hier ist nämlich das
Hauptquartier der Polen diesseits und jenseits der Grenze. Wie oft,
glauben Sie, ist hier wohl das Deutsche Reich zertrümmert und das
großpolnische Vaterland errichtet worden? Für jedes Mal einen Taler, und
ich wäre ein reicher Mann! Aber ich gehe sehr gerne hierher, denn es hat
den Anschein, als wenn das Geschäft des Verschwörens nur bei besonders
guten Weinen gedeiht. Blaubeersaft und saurer Mosel töten die
Begeisterung. Ein feuriger Burgunder aber ... ah, Bruderherz! ...«

Herr von Lindemann hob das blinkende Glas gegen das Licht: »Na prost,
Rittmeister, und jetzt reden Sie endlich auch einen Ton! Wie hat Ihnen
das reizende Fräulein von Gorski gefallen? Ist das nicht ein ganz
herrlicher Mensch?«

Gaston fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Die Lobpreisung hier
erinnerte ihn an einen Tag, da ein anderer ähnlich geschwärmt hatte.
Einer, der jetzt mit durchschossener Schläfe irgendwo hinter einer
Glasscheibe liegen mochte, bis seine Angehörigen ihn abholten.

»Fräulein von Gorski?« wiederholte er. »Sehr nett hat sie mir gefallen!
Soweit ich mir aus den paar Worten, die wir miteinander gesprochen
haben, ein Urteil erlauben darf. Ein bißchen zu einfach vielleicht für
verwöhnte Ansprüche, aber sie macht, was man so einen sympathischen
Eindruck nennt.« So sprach er mit wohlerwogener Zurückhaltung, der Dicke
aber sah ihn ganz erstaunt an.

»Mehr nich? Mannchen, dann haben Sie sich das Mädel nicht richtig
angesehen! Also ich sage Ihnen, das ist ... also kein Wort ist gut
genug, um auszudrücken, was für ein herrliches Mädel das ist! Innerlich
und äußerlich! Ich kann das beurteilen, denn sie ist unter meinen Augen
aufgewachsen, ich bin so eine Art von Onkel in Kalinzinnen. Also ich
sage Ihnen, Herr, der Mann ist selig zu preisen, in dessen Arm sie
einmal, gewährend, das liebe Gesichtchen nach hinten neigt.«

Gaston lachte heiser auf.

»Sie sprechen ja wie ein Verliebter, Herr von Lindemann!«

»Bin ich auch! Rettungslos und hoffnungslos. Das letztere wegen
übergroßer Dicke und mangelnder Körperlänge. Sonst nämlich -- ah,
Bruderchen -- ja sonst würde ich doch nicht ruhig zusehen, wie dieses
herrliche Geschöpfe an einen fällt, der die Himmelsgabe anscheinend
nicht nach ihrem vollen Werte einschätzt.«

»Fräulein von Gorski scheint demnach verlobt zu sein?« warf Gaston ein.
Er mußte sich zusammennehmen, um seiner Stimme einen möglichst
harmlosen Klang zu verleihen.

»Verlobt? Na, noch nicht ganz, aber immerhin so gut wie! An Kalinzinnen
grenzt Orlowen, im Besitz der Familie von Brinckenwurff ... schon seit
ein paar hundert Jahren. Mit das Aelteste, was wir hier haben, rein
gezüchteter ostpreußischer Schlag. Aber mehr nach der Körperlänge hin,
oben weniger. Dem alten Herrn von Gorski war ein männlicher Erbe
versagt, also was lag näher, als die beiden Kinder diesseits und
jenseits der Gutsgrenze zu einer Vereinigung zu erziehen? Kalinzinnen
und Orlowen zusammen, das war ein Wort, das landwirtschaftlich
empfindende Herzen in heller Begeisterung aufflammen lassen mußte.
Zwölftausend Morgen, zum Teil prima Weizenboden. Ich gönn' sie dem
Hermann Brinckenwurff. Er ist in seiner Art ja auch ein ganz braver
Kerl, nur ein bißchen zu pomadig. Und er soll sich beeilen, die kleine
Annemarie Gorski endgültig festzulegen. Ehe sie klare Augen kriegt und
sieht, daß ihr Zukünftiger nur so eine Durchschnittsangelegenheit ist.
Oder ehe ihr ein anderer besser gefällt. In dem Mädel steckt nämlich ein
kleiner romantischer Zug, von ihrer Mutter her ... Na prost, Herr von
Foucar! Der Burgunder scheint Ihnen gut zu tun. Sie haben ordentlich
wieder Farbe gekriegt.«

Gaston leerte das Glas, aber es war nicht so sehr das feurige Getränk,
das sein Blut rascher durch die Adern trieb. Er bestellte eine neue
Flasche, denn ihm bangte davor, der Dicke da drüben könnte vorzeitig
aufbrechen, oder mit seinen Mitteilungen aufhören. Aber die Befürchtung
war grundlos. Herr von Lindemann beugte sich vertraulich über den Tisch
und dämpfte seine laute Stimme.

»Nämlich, da möchte ich Ihnen einen Tip geben, wenn Sie nächstens in
Kalinzinnen Besuch machen.«

»Ich weiß heute noch nicht, ob ich überhaupt dazu kommen werde, Verkehr
in der Nachbarschaft zu suchen.«

»Aber, Mannchen, Sie _müssen_ einfach! Sie können sich doch nicht allein
im ganzen Regiment ausschließen. Und passen Sie mal auf, wie gemütlich
wir's hier im Herbst haben, wenn die Jagden anfangen. Und nachher im
Winter -- da müssen Sie die Tanzstiebel jede Woche dreimal anziehen! Ja
also, wenn Sie nach Kalinzinnen kommen, erkundigen Sie sich nicht nach
Fräulein von Gorskis Mutter!«

»Wieso nicht? Ist sie gestorben?«

»Nee, aber geschieden. Die Sache ist schon fast zwanzig Jahre her, im
Gedächtnis der Zeitgenossen halb vergessen. Nur einer denkt noch daran,
der arme Kerl von Gorski. Daher stammt sein weißer Kopf. Sonst ... er
ist nicht viel älter als ich, so um die Mitte der Fünfzig. Er hat die
Frau wahnsinnig geliebt. Sie aber ... Da verkehrte in der hiesigen
Gesellschaft ein russischer Dragoneroffizier. Ein Baron Totberg. Wegen
übler Streiche von der Petersburger Garde an die Grenze versetzt. Im
übrigen aber einer jener Kerle, auf die die Frauenzimmer fliegen. Ein
Blender. Aber danach geht's ja nicht in solchen Fällen. Elegant, hübsch,
ein glänzender Erzähler, dazu von einem gewissen romantischen Nimbus
umwittert. Man munkelte von einer sehr hochstehenden jungen Dame in
Petersburg, sie hätte seinetwegen den Schleier genommen. In dem kleinen
Drecknest Grajewo drüben langweilte er sich natürlich zum Sterben, da
suchte er hier Anschluß. Das war damals nichts Ungewöhnliches, da
bildete die Grenze kein Hindernis für den gesellschaftlichen Verkehr.

Na also, um die Sache kurz zu machen, eines Tages hatte der damalige
Premierlieutenant von Gorski den unumstößlichen Beweis, daß der Baron
Totberg -- na sagen wir mal -- nicht bloß wegen der guten Weine in
seinem Hause verkehrte. Am nächsten Morgen schossen sie sich. Mein
Nachbar Uhlenburg, der als Unparteiischer fungierte, erzählte nachher,
es wäre die tollste Sache gewesen, die er je mitgemacht hätte. Dreimal
baute sich der Baron seinem Gegner als Scheibe auf, ließ ihm den ersten
Schuß. Und dann schickte er ihm jedesmal die Kugel haarscharf am Kopf
vorbei. Herr von Gorski aber stand mit seiner massiven Gestalt da wie
ein wütender Stier, vor Zorn flatterte ihm die sonst sichere Hand. Beim
vierten Mal traf er. Blattschuß ...

Der Baron Totberg ging koppheister, Herr von Gorski aber schmiß die
abgeschossene Pistole ins Gras und sich selbst dazu. Schlug die Hände
vors Gesicht und weinte wie ein kleines Kind. Die dabei herumstanden,
sagten nachher, es wäre schrecklich gewesen. Aber sie fühlten mit dem am
Leben Gebliebenen mehr Mitleid als mit dem Toten. Der hatte alles aus
dem Kopf, aber der andere hatte einen Geier, der ihm täglich an der
Leber fraß. Er hatte seine Frau übermenschlich geliebt. Man konnte es
begreifen, denn sie war über die Maßen schön. So eine schwüle Schönheit,
wissen Sie. Man spürte in ihrer Gegenwart unwillkürlich ein verrücktes
Verlangen ... ich war auch verliebt wie ein Stint, als der Herr von
Gorski sie hier anbrachte. Er hatte sie in Berlin kennen gelernt, wie er
als junger Offizier dorthin ein Kommando hatte. Ich glaube, auf einem
Ball in der österreichischen Botschaft hat er sie kennen gelernt. Sie
stammte nämlich da irgendwoher aus einem der österreichischen
Kronländer, aus Ungarn oder Böhmen. Wie ein ausländischer bunter Vogel
wirkte sie hier auf unsere, ein bißchen spießige Gesellschaft. Na, sie
ist ja auch rasch genug wieder fortgeflogen, und der liebe kleine Kerl,
die Annemarie, hat anscheinend nicht allzu viel von ihr übergeerbt.«

Gaston hatte in atemloser Spannung zugehört. Ein verrückter Gedanke
bohrte sich ihm ins Gehirn.

»Wo ist nachher die geschiedene Frau von Gorski geblieben?«

Herr von Lindemann nahm einen bedächtigen Schluck.

»In ihre Heimat zurückgegangen. Mit reichlicher Unterstützung ihres
gewesenen Mannes -- er soll mehr als anständig für sie gesorgt haben. Ob
sie aber gestorben ist oder noch lebt, weiß er bloß allein. Ich kann's
mir wenigstens vorstellen, daß er ihr Schicksal verfolgt hat. Er kann's
ja noch heute nicht verwinden, überladet sich mit Arbeit. Wissen Sie,
andere in so einem Falle kriegen es mit dem Besaufen. Er 'bearbeitet'
sich ... vielleicht wirkt das auch wie ein Narkotikum. Jedenfalls -- und
damit kehre ich zu dem Ausgangspunkt meiner länglichen Erzählung zurück
-- Annemarie weiß es nicht anders, als daß ihre Mutter gestorben ist.
Deshalb erlaubte ich mir vorhin den kleinen Ratschlag. Um Ihnen und dem
alten Herrn eine peinliche Minute zu ersparen.«

»Verbindlichsten Dank, Herr von Lindemann, und wenn ich fragen darf, wie
alt ist Fräulein von Gorski?«

Der Dicke lachte behaglich auf.

»Na, das ist eigentlich eine recht ungalante Frage. Aber, da Sie ja
nicht beabsichtigen, dem guten Hermann Brinckenwurff Konkurrenz zu
machen ... also, sie sieht jünger aus, als sie ist. Im August wird sie
einundzwanzig. Die Hellblonden, wenn sie gesund sind, sehen in dem Alter
immer noch aus wie achtzehn. Jedenfalls hat sie sich vorbehalten, die
Entscheidung über die Vereinigung von Kalinzinnen und Orlowen erst an
dem Tage ihrer Mündigkeit zu treffen, und der präsumtive Bräutigam mußte
sich fügen. Ich an seiner Stelle hätte es nicht getan, aber ihm scheint
es nicht allzu schwer gefallen zu sein. Das heißt, auf seine Art liebt
er das Fräulein von Gorski recht herzlich. Aber er sieht keine besondere
Gnade darin, daß sie sich zu ihm neigt. Inzwischen aber lebt er ein
bißchen unvorsichtig, stiebelt der jeweiligen Gutsmamsell nach. Sobald
seine kluge alte Dame es merkt, schafft sie die Person fort mit
angemessener Versorgung -- Geld spielt ja keine Rolle. Aber er soll
sich in acht nehmen, daß Annemarie nicht dahinterkommt. Wie ich sie
kenne, versteht sie in diesen Dingen keinen Spaß ... na prost, lieber
Rittmeister!«

»Prost, Herr von Lindemann.«

Gaston tat reichlich Bescheid. Vorhin, als der Dicke da drüben
Annemaries Alter nannte, hatte er sich mit einem Erleichterungsseufzer
den Schweiß von der Stirn gewischt, den ein jäh aufgesprungener Gedanke
ihm aus allen Poren getrieben hatte. Gott sei Dank, es stimmte nicht.
Die andere in Berlin war um sechs, sieben Jahre älter. Sonst,
wahrhaftig, es wäre zum Verrücktwerden gewesen. Und in dem Gefühl der
Erleichterung lachte er auf.

»Wenn Herrn von Brinckenwurffs Mutter so gescheit ist, weshalb engagiert
sie da für ihr Gut nicht zur Abwechslung mal eine alte Mamsell?«

Herr von Lindemann steckte sich eine neue Zigarre an.

»Das können Sie als Nichteingeborner nicht beurteilen, Herr von Foucar.
Das Institut unserer Mamsells ist von besonderer Art. Alte gibt's keine,
sie heiraten meistenteils recht früh. Nach einem romantischen
Liebesfrühling mit dem jungen Herrn von Stande steuern sie in einen
bürgerlichen Sommer mit reichlicher Versorgung. Aber, um von diesen
Frauenzimmergeschichten endlich auf Wichtigeres zu kommen: Was bringen
Sie, mein lieber Rittmeister, aus Berlin nun mit in den Falten Ihrer
Toga? Krieg oder Frieden?«

Gaston hob sein Glas.

»Wenn es nach mir ginge, Krieg. Ich begehe keinen Vertrauensbruch, wenn
ich im vertrauten Kreise wiedererzähle, was mir mein Abteilungschef zum
Abschied gesagt hat, wir sollten hier an der Grenze noch schärfer
aufpassen als bisher. Aber das kann sich in kurzer Zeit wieder ändern.
Heute sieht der politische Horizont schwarz aus vor drohenden Wolken,
morgen lacht wieder die liebe Sonne.«

Der dicke Herr von Lindemann nahm einen bedächtigen Schluck, in sein
rundes Gesicht trat ein fast feierlicher Ernst.

»Mein lieber Herr von Foucar -- soweit ich mir auf Grund persönlicher
Beobachtungen und nach einigem Denken mit leidlich gesundem
Menschenverstand einen Vers mache, liegt die Sache so: die diesjährige
Ernte werden wir noch in Frieden hereinbringen. Die Wintersaat fürs
nächste Jahr lohnt sich nicht mehr, da brennen hier die Häuser, und auf
den Feldern reiten die Kosakenhorden. Dann sind sie fertig rechts und
links. Im nächsten Frühjahr, hoffen sie, sind sie stärker als wir. Dann
geht's los ohne Erbarmen. Die letzte große Abrechnung vielleicht, die
auf europäischem Boden stattfindet. Für zwei von den Komparenten geht's
dabei um die Wurst. Der dritte im Osten bleibt unberührt, wie es auch
ausgeht. Nachlaufen in seine Steppen können wir ihm nicht ... er ist wie
ein Tier niederer Ordnung, das vergnügt weiterlebt, wenn höher
organisierte unter gleichen Bedingungen längst schon verendet wären.

Und wir täuschen uns, wenn wir glauben, daß der Koloß mit den
sogenannten tönernen Füßen sich nur langsam in Bewegung setzt. Ich habe
ziemlich genaue Nachrichten, dicht hinter unserer Ostgrenze steht eine
schlagfertige Armee. Der Wirt der sogenannten Waldschenke an den
Schießständen im Beldahner Walde -- Sie werden ihn ja auch kennen lernen
-- ist meine Quelle. Er sieht aus, als könnte er nicht bis drei zählen,
aber das ist 'Falle', wie die Berliner sagen. In Wirklichkeit ist er
einer unserer intelligentesten Spione und, weil er mit mir mal hier in
Ordensburg auf der Quinta die gleiche Schulbank gedrückt hat, hält er
mit seinen Wissenschaften vor mir nicht hinterm Berge, wenn ich manchmal
bei ihm ein Glas Bier trinke. Vielleicht auch, weil er weiß, daß ich
luftdicht bin natürlich ... Also er ist ein Sprachengenie, spricht
sämtliche polnischen und russischen Dialekte mit allen Nuancen. Da reist
er denn als Hausierer, Viehhändler oder Weinverkäufer, je nachdem wie es
ihm paßt. Ich wollte ihm einmal nicht glauben, daß er sich da drüben
frei bewegen könnte nach Belieben, ohne erkannt zu werden. Da
entschuldigte er sich mit einer häuslichen Besorgung. Nach einer halben
Stunde belästigte mich ein alter jüdischer Hausierer. Wollte mir
durchaus eine Taschenbürste anhängen und Kragenknöpfe, bei denen der
Schlips nicht in die Höhe rutscht. Ich wurde grob, und da lachte der
Hausierer auf, es war mein alter Schulkamerad Burdeyko. Da glaubte ich
ihm auch, was er von drüben erzählte ... Daß die Russen nicht erst mobil
zu machen brauchen, wenn die Franzosen Fanfare blasen. Sie sind es
schon, soweit es nötig ist, um einen großen Teil unserer Stoßkraft
festzulegen.«

Der dicke Herr von Lindemann legte die grobe Faust auf den Tisch, daß
die Gläser klirrten.

»Die letzten paar Haare könnte man sich ausreißen, daß wir die
Gesellschaft im Westen nicht überrannten vor jenen vier oder fünf
Jahren, wie sie noch nicht fertig war. Oder noch früher, als ihre
vielgeliebten Bundesgenossen im Osten festlagen mit den kleinen gelben
Halbaffen, die uns die Menschheit ablernen in unseren Hochschulen und
Fabriken. Damals hätten wir zuschlagen sollen, ohne die verdammte
zimperliche Humanität. Das haben wir versäumt, und jetzt zieht sich
unaufhaltsam das von langer Hand her gesponnene Netz um unsere Glieder.
So gehen wir in den unausbleiblichen Entscheidungskampf, ob die
Schicksale der Welt im nächsten Jahrhundert deutsch gerichtet werden
sollen oder französisch. Der Welt, soweit sie noch zu haben ist! Ueber
dem Rest liegt der Dritte aus gemischtem Blut, lacht sich eins in die
Zähne. Er kann nur dabei gewinnen, wenn die Konkurrenz auf dem Festlande
sich gegenseitig zerfleischt. Aber vielleicht, wenn die Gelegenheit ihm
günstig erscheint, fällt er uns auch in den Rücken. Trotz aller
Freundschaftsversicherungen ...«

Der Dicke stürzte sein halbvolles Glas hinunter: »Na, kommen Sie, Herr
von Foucar! Die Jünglinge da in der anderen Ecke sehen schon frech
herüber, und ich möchte in Ihrer Gegenwart keinen Krach anfangen. Mir
persönlich wäre es egal, ich bin nicht Reserveoffizier. Ich habe schon
einmal hier der deutschen Sache zum Siege verholfen in männermordendem
Kampfe gegen fremdländische Ueberzahl. Es gab einige blutende Nasen,
wohingegen es mir gelang, mein edles Haupt durch eine geschickte Wendung
vor einer geschleuderten Sektflasche in Sicherheit zu bringen. Seither
genieße ich in diesem Lokal mehr Furcht als Liebe ... Fräulein, zahlen!«

Die Kellnerin, ein hübsches schlankes Mädel mit dunklen Augen, kam an
den Tisch, klimperte in der an der Seite hängenden Geldtasche.

»=Tak rano do domu, Panie?=«

Herr von Lindemann bekam einen roten Kopf. Zu Gaston bemerkte er: »Das
heißt nämlich, sie wundert sich, daß ich schon so früh aufbreche!« Und
zu dem jungen Mädchen fuhr er fort: »Mein Töchterchen, es ist ja eine
unbeträchtliche Kleinigkeit, aber heute bin ich nicht in der Stimmung,
mich mit Dir in Deinem schlechten Polnisch zu unterhalten! Also sprich
Deutsch, mein Kind, sonst erzähl' ich, daß Du keine Polenmaid bist,
sondern die Tochter des deutschen Tischlermeisters Matinat hier aus der
Seestraße.«

Das junge Mädchen wurde rot, warf einen scheuen Blick hinter sich und
sprach halblaut: »Also zwei Flaschen Burgunder macht sechzehn Mark.«

Herr von Lindemann warf ein Goldstück auf den Tisch.

»Da, mein schönes Kind ... Kommen Sie, Herr von Foucar, wir können
nachher abrechnen.«

Sie gingen in der lauen Sommernacht dahin. Die Luft war weich, nur das
blanke Sternengefunkel an dem tiefdunklen Himmel kündete den nicht mehr
weiten Herbst. Herr von Lindemann schwieg eine ganze Weile lang, dann
fing er wieder an zu sprechen.

»Also zum Frühjahr geht es los, daran gibt es kaum wohl einen Zweifel.
Die Sturmzeichen mehren sich, man muß sie nur zu deuten wissen. Und es
ist gut so, daß das Wetter endlich einmal losbricht, die schwüle
Spannung vorher ist auf die Dauer unerträglich. Wir gehen hier sonst
zugrunde. Unsere Sparkassen sind blank, jedes Geschäft stockt. Wer jetzt
Geld braucht, muß umschmeißen, Bankerott ansagen. Da ballt sich jede
Männerfaust in kaltem Zorn: wenn es nur endlich losgehen wollte! Damit
ein- für allemal reiner Tisch gemacht wird zwischen uns und unsern
Nachbarn. Und ich glaube, die täuschen sich, wenn sie auf ihre Ueberzahl
vertrauen. Wir wissen, um was wir fechten. Na, und nun Schluß! Es hat
wohlgetan, sich mal alles gründlich von der Seele zu sprechen, allen
Aerger und Ingrimm. Und besuchen Sie mich recht bald in Borzymmen. Wenn
es Ihnen Spaß macht, können Sie bei mir einen guten Rehbock schießen.
Für meinen Vetter Sternheimb bleiben immer noch genug übrig.«

»Verbindlichsten Dank, Herr von Lindemann. Nur ich weiß nicht, ob mich
der Dienst in der nächsten Zeit loslassen wird.«

»Mein lieber Herr von Foucar, reißen Sie sich kein Bein aus! Ihre
Schwadron werden Sie erst in die Höhe kriegen, wenn Sie zum Herbst den
neuen Rekrutenersatz haben. Aber telephonieren Sie mir tags vorher, wenn
Sie kommen, damit ich Ihnen Fuhrwerk herschicke und mich selbst zu Hause
halte. Manchmal nämlich überfällt mich die Einsamkeit, und dann rücke
ich aus. Irgendwohin unter Menschen.«

»Also gut, ich werde versuchen, mich recht bald einmal für einen
Nachmittag frei zu machen.«

Sie standen schon eine Weile vor dem Hoteleingange. Drinnen in dem
großen Saale fiedelte noch immer die Damenkapelle. Der Borzymmer Wagen
fuhr vor, Herr von Lindemann stieg ein.

»Also, Ludwig, nach Hause, sanftes Reisetempo!« Und als die Gäule
anzogen, rief er zurück: »Sehen Sie, Herr von Foucar, so wird man durch
die Politik auf den Pfad der Tugend geführt. Ich war eigentlich mit der
Absicht hergekommen, hier eine wilde Nacht zu machen. Na, so ist's
vielleicht besser.«

Gaston ging langsam die Treppe zu seinem Zimmer empor. Er war abgespannt
und müde. Für den Brief, den er zu schreiben gedachte, war es auch noch
morgen Zeit. Heute hatte er an Wichtigeres zu denken. Morgen übernahm er
seine Schwadron, stand seit langen Jahren zum ersten Male wieder vor der
Front, unter hundert kritischen Augen. Das war nicht viel anders als bei
einem Schauspieler, der nach langer Pause wieder in einer alten Rolle
aufzutreten hatte. Ehe er vor das Publikum ging, mußte er die Rolle noch
einmal durchsehen.

Er war ein ausnehmend tüchtiger Frontoffizier gewesen, das Zeugnis
hatten ihm alle seine Vorgesetzten ausgestellt. Und die Führung einer
Schwadron war ihm nichts Neues, in Karlsburg hatte er in Vertretung
seines erkrankten Rittmeisters die erste Ulanenschwadron fast ein halbes
Jahr kommandiert. Aber es gab dabei mancherlei Handwerksmäßiges, bei dem
man in der Routine bleiben mußte. Wenn man aus der Uebung kam, verlor
man die Sicherheit. Da war es also notwendig, die Nase eine halbe Stunde
lang in das Exerzierreglement zu stecken, ehe man wieder vor die Front
ritt. Und nach langer Pause zum ersten Mal wieder ruft: »Stillgesessen!
Trompeter, Signal Trab ...«

Als er das Licht ansteckte, lag vor dem Leuchterfuße ein dicker Brief,
dessen Handschrift er nicht kannte. Eine seltsam unbeholfene Handschrift
war es.

»Herrn Rittmeister Baron von Foucar im Ordensburger Dragonerregiment,
Ordensburg, Offizierskasino. Durch Eilboten zu bestellen.«

Unwillkürlich sprang ihn ein beklommenes Gefühl an, er klingelte nach
dem Kellner.

»Wann ist der Brief da gekommen?«

»Wahrscheinlich mit dem Nachtzug, Herr Rittmeister. Der Postbote hat ihn
vor einer Viertelstunde gebracht. Er war erst gar nicht im Kasino, wo
nämlich die Herrschaften, die ein bißchen was sind, doch immer bei uns
absteigen.«

»Es ist gut, ich danke.«

Gaston hielt den von einem Wappensiegel verschlossenen Brief erst eine
Weile in der Hand, ehe er ihn öffnete. Und zuerst sah er nach der
Unterschrift, dann begann er zu lesen. Das Herz schlug ihm bis in den
Hals.

             »Gnädiger Herr Baron!

    Im Auftrage meiner Herrin, die krank zu Bett liegt, teile ich Ihnen
    die Bitte mit, Sie müssen sofort Urlaub nehmen und herkommen. Sie
    ist vor Aufregung krank und ganz hilflos, weint immerfort, läßt sich
    nicht beruhigen. Da können nur Sie allein helfen. Hier ist
    Schreckliches passiert. Der gnädige Herr ist heute früh gestorben,
    jetzt vor einer Stunde. Weil er gestern einen Blutsturz bekommen hat
    nach all der Aufregung.

    Dieser entsetzliche Mensch, der Herr von Wodersen, war gestern hier
    eingedrungen, nicht lange nachdem Sie fortgegangen sind. Und da hat
    er dem gnädigen Herrn ins Gesicht geschrien, er würde betrogen von
    Ihnen und Josepha. Heiraten würden Sie, wenn er tot wär', und Sie
    selbst hätten es ihm gesagt. Der Herr ist aufgesprungen, auf Josepha
    zu, aber sie ist aus dem Zimmer geflohen, in den Park hinaus. Der
    Herr ihr nach, er hatte sich aus dem Gewehrschrank eine Flinte
    geholt, schrie immerfort: 'Du mußt mit, Du mußt mit!' Ich hinter ihm
    her, in Todesangst um meine geliebte Josepha, es war eine
    fürchterliche Aufregung. Da fiel draußen auf der Straße der Schuß,
    weil sich der Herr von Wodersen totgeschossen hatte. Der englische
    Kammerdiener hatte ihn 'rausgebracht. Das war unsere Rettung. Der
    gnädige Herr blieb einen Augenblick stehen, sah sich um, da holte
    ich ihn ein. Und ich fing an mit ihm zu ringen um das Gewehr. Da
    stürzte ihm das Blut aus dem Munde, über mich hin. Noch in meiner
    letzten Stunde werde ich daran denken.

    Die ganze Nacht hat er sich gequält, aber ohne Bewußtsein. Die
    Herren Doktoren haben ihm Morphium gegeben, weil doch nichts mehr zu
    retten war. So ist es rascher mit ihm zu Ende gegangen, als wir
    gedacht hatten. Meine liebe Josepha hat zwei Stunden in Ohnmacht
    gelegen, ich hatte schon Angst, sie kommt nicht wieder zu sich. Aber
    Gott hat geholfen und die heilige Mutter Maria. Jetzt jammert sie
    immer nach Ihnen, Sie sollen kommen. Ich bitte Sie auch darum. Und
    denken Sie an das, was wir beide in Ihrer Wohnung gesprochen haben!

    Von mir aus allein sage ich Ihnen noch, der gnädige Herr ist
    gestorben, ohne daß er sein Testament hat ändern können. Josepha
    erbt sein ganzes Vermögen, nur ein Viertel geht ab an die Verwandten
    von dem gnädigen Herrn selig. Telegraphieren Sie, wenn Sie kommen.
    An mich, damit ich vorsorgen kann, wo Sie sich treffen sollen mit
    Ihrer lieben zukünftigen Frau, ohne daß es auffällt. Es grüßt
    hochachtungsvoll

                                                            Ursula.«

Gaston ließ die Hand sinken und starrte in das flackernde und zuckende
Licht, bis ihn die Augen schmerzten.

Fürchterlich war das alles. Aber er mußte zu einem Entschlusse kommen.
Das hier war jetzt die Stelle, wo der Weg sich gabelte.

Er erhob sich von dem Bettrande, auf dem er sich zum Lesen
niedergelassen hatte, nahm das Licht und ging zu dem Tische hinüber.
Einen Augenblick der Schwäche hatte er noch, dann biß er die Zähne
zusammen und schrieb ohne Besinnen:

                   »Liebe gnädige Frau!

    Es ist ganz ausgeschlossen, daß ich jetzt Urlaub nehmen kann, um zu
    Ihnen zu kommen. Ich könnte es auch nicht, selbst wenn ich ganz frei
    wäre. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, das Sie betrüben wird und
    mir die Schamröte ins Gesicht treibt. Ich habe Sie zweimal belogen,
    und zum Teil mich dazu. Jetzt, wo ich nicht mehr in Ihrer Nähe bin,
    erscheint mir mein Gefühl nicht stark genug, um darauf unsere
    Zukunft zu gründen. Ich müßte um Sie meine militärische Karriere
    aufgeben, und das kann ich nicht.

    Es tut mir in der Seele weh, daß ich eine liebenswerte Frau so
    kränken muß, aber es geht nicht anders, wenn ich wahrhaftig bleiben
    will. Gegen Sie und mich. Also bitte ich Sie, mir mein Wort
    zurückzugeben und mich zu vergessen.

                                 Gaston Baron Foucar von Kerdesac.«

Die Hand bebte ihm, er schrieb seinen Namen nicht so sicher wie sonst.
Und als er den fertigen Brief durchlas, hätte er ihn am liebsten wieder
zerrissen. Erschrecklich banal war das alles, aber was sollte er viel
anders schreiben? Etwa, daß er schon nach der Nacht in dem Ballokal zur
Besinnung gekommen wäre? Oder daß er am Tage darauf aus Mitleid und mit
erregten Sinnen einen Meineid geschworen hätte? Oder gar schließlich,
daß in ihrer Vergangenheit etwas wäre, über das kein Mann hinweg könnte?
Das ging nicht an. Das einzige wäre gewesen, mit der Absendung dieses
brutalen Briefes noch ein paar Tage zu warten, bis sie sich nach den
entsetzlichen Geschehnissen ein wenig beruhigt hätte. Dann aber schickte
er den Brief da vielleicht überhaupt nicht mehr fort, ergab sich mit
einer Art von Fatalismus in sein selbstverschuldetes Schicksal.

Sein Blick fiel auf eine Stelle in dem anderen Schreiben, das vor ihm
lag. »Der gnädige Herr ist gestorben, ohne daß er sein Testament hat
ändern können. Josepha erbt sein ganzes Vermögen.« Der Ekel würgte ihn
am Halse.

Er schloß seinen Brief in ein Kuvert, schrieb die Adresse und trug ihn
selbst nach dem nahen Bahnhof hinüber, steckte ihn in den blauen
Postkasten.

Als er wieder oben in seinem Zimmer saß, war ihm ein wenig leichter
zumut. Nur hätte er viel darum gegeben, wenn er den Brief da eben hätte
schreiben können, ohne an eine andere zu denken, die er seit ein paar
Stunden erst kannte. Immerfort mußte er an sie denken mit zehrender
Sehnsucht im Herzen ...

Unten die Musik spielte einen Walzer, den er vor einigen Nächten getanzt
hatte. Mit einer verführerisch schönen Frau, der er in plötzlicher Laune
den weißen Hals küßte.

Er verstopfte sich mit den Fingern die Ohren und stierte in das
aufgeschlagene Buch. Seite 24 stand da:

»Unter allen Umständen und in jedem Gelände muß die Eskadron, auch
unrangiert, alle reglementarischen Bewegungen sicher und schnell
ausführen können und stets -- auch in aufgelöster Ordnung -- fest in der
Hand des Führers sein.«

Nur seine Augen lasen den Satz, den er ja längst schon auswendig kannte,
seine Gedanken waren ganz wo anders -- -- --




7.


Die fünfte Eskadron des Dragonerregiments Graf Schmettau stand in Linie
zu vier Zügen auf dem großen Ordensburger Exerzierplatze, der sich
zwischen der Eisenbahn und dem Walde der Domäne Mrosen dehnte. Die Gäule
schlugen mit den Schwänzen und schlackerten die Köpfe der vielen Fliegen
wegen, die Mannschaft saß stumpfsinnig dösend da in den Sätteln. Es gab
einen neuen Schwadronschef, von dem ein unbestimmtes Gerücht ging in den
Mannschaftsstuben, er wäre ein besonders scharfer. Aber nur die im
ersten und zweiten Jahrgang verspürten ein leichtes Bangen in der Brust,
die »alten Leute« blickten ziemlich gleichgültig drein. Ihnen konnte
nicht mehr viel passieren in den paar Wochen, bis Reserve Ruhe hatte.
Wenn's aber Krieg gab, pumpte man ganz von selbst das letzte aus den
Knochen. Dazu brauchte man nicht erst »getrietzt« zu werden, um der
Gesellschaft da drüben zu zeigen, was 'ne ostpreußische Dragonerfaust
war.

Die Offiziere hielten in einem Pulk vor der Front und tauschten halblaut
ihre Meinungen. Sie erörterten die auffällige Tatsache, daß ein
Generalstäbler sechs Wochen ungefähr vor der reglementsmäßigen Zeit
seine Schwadron gekriegt hatte. Daraus konnte man zweierlei Schlüsse
ziehen. Entweder hatte man ihn in Berlin vorzeitig »als unbrauchbar
abgegeben«, oder er war eines von den ganz großen Kirchenlichtern, die
eine außergewöhnliche Karriere machten.

»Das letzte, meine Herren, das letzte,« sagte Karl von Gorski, der
jüngere der beiden Brüder. Er hatte sich am frühen Morgen zu dem
feierlichen Anlaß des Kommandowechsels wieder gesund gemeldet, trotzdem
das verstauchte Handgelenk ihm bei der Zügelführung noch arge Schmerzen
verursachte. Und mit pfiffigem Lächeln fügte er hinzu: »Derweil die
Herren noch schliefen, habe ich schon ein informatorisches
Telephongespräch mit jemand gehabt, der sehr gut unterrichtet ist über
unseren neuen Chef. Wir verdanken ihn der väterlichen Fürsorge meines
angeheirateten Onkels Wegener für sein altes Regiment. Er soll uns hier
die Schlachtpläne ausarbeiten, wie wir es fertig kriegen, mit
fünfhundert Mann eine Division Russen aufzuhalten. Und um auch gleich
Ihre Neugierde nach seiner Familie zu befriedigen: sie war vor genau
hundertzwanzig Jahren noch stockfranzösisch. Als man damals in Paris die
unangenehme Gepflogenheit einführte, sämtliche Aristokraten um ein
Stückchen kürzer zu schneiden -- am oberen Ende natürlich --, wanderte
sie nach Deutschland aus, weil das dort noch nicht Sitte war. Wissen Sie
jetzt Bescheid, meine Herren?«

»Vollkommen,« sagte der Leutnant Uhlenburg, wegen seiner Neigung zur
Korpulenz das »Tonnchen« genannt. »Aber von wem haben Sie denn diese
Kenntnisse bezogen?«

»Von wem denn sonst als von meinem alten Gönner Exzellenz von Moltke,
höchstpersönlich? Zuerst war er ein bißchen knurrig, weil ich ihn durch
dringliches Gespräch aus dem Schlaf geweckt hatte und er mit bloßen
Beinen am Telephon stand. Im Generalstab zieht es nämlich. Als er aber
hörte: 'Hier Karl von Gorski, der prominenteste Leutnant der
Ordensburger Dragoner', wurde er wie Zucker! Sie hat er auch grüßen
lassen, Tonnchen. Sie sollten nicht so viel dickes Bier trinken, sonst
würden Sie nie General werden!«

Die anderen Herren lachten, nur der ernsthafte Oberleutnant Gusovius,
der ein paar Schritte abseits hielt, verzog keine Miene. Er hatte die
Schwadron von dem Tage an geführt, an dem der Rittmeister Kaminski sich
krank meldete. Und daß da plötzlich vom Generalstabe einer ins Regiment
schneite, hatte ihm stille Hoffnungen zerstört. Wenn's Glück gut war,
wäre er zum Herbst auch an der Reihe gewesen, eine Schwadron zu kriegen.
Im günstigsten Falle kam er jetzt in ein fremdes Regiment, wer weiß
wohin, und an seiner Seele fraß gekränkter Ehrgeiz.

Auf dem Kamm der leichten Hügelwelle, die den Exerzierplatz von dem
Gartenlande des Städtchens schied, erschien ein einzelner Reiter. Der
Oberleutnant Gusovius wandte sich im Sattel: »Die Herren, bitte, auf
ihre Posten! Stillgesessen!«

Er spornte seinen Gaul und kanterte dem Kommenden entgegen. Auf drei
Schritt Entfernung parierte er und meldete: »Die Eskadron ist rangiert
in vier Zügen zu dreizehn Rotten mit zwei blinden!«

Rittmeister von Foucar streckte ihm die Hand entgegen.

»Danke, mein lieber Herr Gusovius! Und würden Sie es mir übelnehmen,
wenn ich gleich zu Anfang und ohne alle Umschweife ein offenes Wort mit
Ihnen spreche?«

Der Oberleutnant lenkte seinen Gaul an die Respektseite seines neuen
Vorgesetzten.

»Wie sollte ich wohl, Herr Rittmeister?«

»Na also, im königlichen Dienst darf es ja wohl keine Empfindlichkeit
geben, aber wir alle sind doch nur Menschen. Vorhin, als ich mich bei
unserem Kommandeur meldete, glaubte ich aus einer beiläufigen Bemerkung
entnehmen zu dürfen, daß meine Versetzung ins hiesige Regiment gerade
Ihnen nicht besonders willkommen gewesen wäre. Das tut mir leid, aber
die Versetzung ist nur zum geringen Teil durch mein Zutun erfolgt. Es
ist sehr ungewöhnlich, daß ich mich mit Ihnen darüber ausspreche -- ich
weiß es -- aber ich möchte nicht, daß unsere Beziehungen durch eine
leicht begreifliche Verstimmung getrübt werden. Und zwar nicht bloß die
dienstlichen. Also, wollen wir gute Kameradschaft halten?«

Das finstere Gesicht des Oberleutnants Gusovius erhellte sich, jetzt
streckte _er_ dem Vorgesetzten die Hand hin.

»Sehr wohl, Herr Rittmeister, von Herzen gern!«

Gaston von Foucar aber fühlte, daß er in diesem Augenblicke einen Freund
gewonnen hatte, und das gab ihm in seiner Lampenfieberstimmung die
Sicherheit wieder. Er ritt vor die Front, rief laut und fest: »Die
Schwadron hört von jetzt an auf mein Kommando! Guten Morgen, Dragoner!«

»Guten Morgen, Herr Rittmeister,« schrie es wie aus einer einzigen Kehle
zurück. Danach kam das Kommando »Absitzen«, Gaston begrüßte die
Offiziere und ließ sich die Unteroffiziere vorstellen. An jeden richtete
er eine kurze Frage, und jeder von ihnen hatte das Gefühl, der Mann da
mit dem gewinnenden Gesicht und den klaren Augen meinte es gut mit ihm,
würde seinen Namen nicht vergessen.

Hans von Gorski stand neben seinem jüngeren Bruder. Die Offiziere hatten
ebenso absitzen müssen wie die Mannschaft.

»Du, Karl,« sagte er leise.

»Na was denn?«

»Ich kann mir nicht helfen, er gefällt mir!«

»Mir schon gestern, wie er mich mit der Landkarte belapste. Und jetzt,
daß er keine Rede gehalten hat. Besinnst Dich noch auf seinen Vorgänger
Kaminski? 'ne halbe Stunde lang hat er gepredigt von Pflicht und Ehre
und nochmal Pflicht, zum Schluß: 'Seine Majestät der oberste Kriegsherr,
hurra, hurra, hurra!' Nachher war er der erste, der schlapp machte. Aber
erinner' mich nachher, ich hab' Dir was von unserem Cousinchen zu
erzählen! Augen wie Wagenräder wirst Du machen.«

»Warum nicht gleich?«

»Weil die Geschichte zu lang ist. Aber paß auf den Dienst, mein Sohn!
'Er' dreht sich schon nach uns um.«

Gaston ging langsam die Front entlang und musterte eingehend Mannschaft
und Pferde. Jeden einzelnen der Dragoner fragte er nach Namen und
Zivilverhältnis. Wenn ihm etwas Tadelnswertes auffiel an der Sattelung
oder am Anzuge, sagte er nichts, sondern sah nur den neben ihm
schreitenden Wachtmeister mit kurzem Blicke an. Der aber gab den Blick
an die einzelnen Gruppenführer weiter, nur in erheblich verstärktem
Maße. Ein Donnerwetter zog sich über schuldigen Häuptern zusammen, die
da geglaubt hatten, der alte Schlendrian könnte so weiter gehen.

Oberleutnant Gusovius räusperte sich leicht: »Herr Rittmeister!«

Gaston blickte auf, der Regimentskommandeur kam über die Hügelwelle
geritten. Anscheinend ohne jede Inspizierungsabsicht. Seine beiden
Foxterriers jagten kläffend über das schon gelblich gefärbte kurze Gras,
und neben ihm ritt seine jüngste Tochter. Ein blondlockiges Mädel von
sechzehn oder siebzehn Jahren, das im Herrensitze seinen Pony lenkte.

Gaston bestieg seinen irischen Fuchswallach, riß den Säbel aus der
Scheide. Wie eine Fanfare erklang das Kommando: »An die Pferde! --
Fertig zum Aufsitzen! -- Aufgesessen!« Und nach gemessener Pause: »Richt
-- Euch!«

Er ritt an den Flügel, die Richtung stimmte ausgezeichnet, die
Bewegungen hatten geklappt. »Augen -- links!« kommandierte er und
sprengte dem Kommandeur entgegen, die Schwadron zu melden.

Oberstleutnant Harbrecht winkte ab.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Rittmeister, ich bin nur ganz
zufällig herausgebummelt.« Er stellte sein Töchterchen vor und sagte:
»Lassen Sie, bitte, rühren.«

»Rührt Euch!« schrie Gaston über die Schulter zurück, und der Kommandeur
fragte: »Na, zufrieden?«

»Danke, Herr Oberstleutnant, bis auf ganz geringfügige Kleinigkeiten.«

»Sehr nett von Ihnen -- gegen Ihren Herrn Vorgänger! Na, und was haben
Sie weiter vor, Herr Rittmeister?«

»Ich beabsichtige, die Schwadron eine halbe Stunde lang zu exerzieren.
Hauptsächlich, um selbst nach langer Entwöhnung wieder in Uebung zu
kommen.«

Der Oberstleutnant lächelte.

»Bescheidenheit ziert den Ritter. Na, viel Vergnügen.« Er hob grüßend
die Rechte an den Mützenschirm, das Töchterchen verabschiedete sich mit
einem Kopfnicken. Gaston ritt zu seiner Schwadron zurück.

»Stillgesessen -- Eskadron Terab!«

Die Schwadron ritt an, jeder einzelne Mann nahm sich zusammen, in der
hellen Kommandostimme des neuen Führers lag etwas Anfeuerndes.

»Trompeter: Galopp!«

Gaston gab seinem irischen Fuchswallach die Sporen, daß er wie ein
abgeschossener Pfeil über das Blachfeld flog. Hinter ihm kam die
Schwadron wie ein Ungewitter. Nach fünfhundert Schritt ungefähr sprengte
er nach links, schwenkte um und parierte auf der Stelle, blickte prüfend
auf die in einer Linie dahinfegende Schlachtreihe. Die Kerls gaben sich
offensichtlich Mühe, Fühlung und Richtung waren gut.

»Eskadron mit Zügen brecht ab,« rief er, scharf kamen die Kommandos der
Zugführer danach, das Manöver verlief exakt. Bei keinem Garderegiment
konnte es besser gehen.

»Famos,« rief das Kommandeurstöchterchen begeistert. »Papa, ich glaube,
mit diesem Herrn von Foucar haben wir eine glänzende Akquisition
gemacht!«

Der Oberstleutnant lachte.

»Meinst Du?«

»Aber positiv! Der Unterschied gegen früher ... Also den muß doch ein
Blinder mit dem Krückstock fühlen!«

»Na dann komm, Kind, wollen wieder nach Hause reiten. Auch ich hab'
genug gesehen, die Schwadron ist in guten Händen. Und merk' Dir eins:
eine Truppe ist wie ein edles Pferd mit allen Vorzügen und Untugenden.
Unter einem miserablen Reiter im Sattel bockt es, unter einem tüchtigen
gibt es sein letztes her.«

Die Julisonne brannte sengend vom wolkenlosen Himmel herab, die Gäule
warfen Schaum von den Gebißstangen und bekamen nasse Flanken. Die Reiter
hatten schwarze Gesichter von Staub und Schweiß, seltsam blänkerten die
glänzenden Augen daraus hervor. Gaston brach das Exerzieren ab, er
fühlte, er hatte die Schwadron in die Hand bekommen. Mit einem gewissen
Stolz führte er sie in die Stadt zurück, ins Quartier.

Als die Spitze vom großen Platze unter die schattigen alten Bäume
lenkte, die den Weg zum Städtchen umsäumten, drehte er sich im Sattel:
»Wachtmeister, jeder Dragoner kriegt heute abend zwei Glas Bier in der
Kantine auf meine Rechnung. Ich bin mit der Schwadron zufrieden! Und
jetzt bitte ich mir ein Lied aus.«

Durch die in Marschkolonne reitende Truppe ging es wie ein Rauschen, der
neue Rittmeister hatte sie auf Anhieb erobert. Schneid hatte er,
verstand seinen Kram und besaß ein Herz für seine Kerls. Einer der
Unteroffiziere erhob seinen wohlklingenden Tenor, die Mannschaft fiel
mit rauher Kehle ein

    »An der Grenze fern im Osten
    Hält ein Reiter still auf Posten,
    Sieht hinaus ins weite Feld.
    Drüben fahren auf Kanonen,
    Sammeln sich Schwadronen,
    In dem weiten, weiten Feld.«

Gaston von Foucar ritt an der Spitze seiner Truppe. Das Lied schien ihm
wie eine gute Vorbedeutung. Vor Tagen schon hatte er's gehört, als sein
Herz sich aus Skrupeln und Nöten zu lösen begann ...

Karl von Gorski ritt neben seinem älteren Bruder an der Queue der
Schwadron. Er kratzte sich mit der gesunden Rechten hinter dem Ohr.

»Du, Hans, ich glaube, die schönen Tage von Aranjuez sind vorüber.«

»Na Gott sei Dank, das vorher war ja auch zum Speien. Man fängt wieder
an, Spaß am Dienst zu kriegen! Aber Du wolltest mir doch vorhin was von
Annemarie ...?«

»Ach so, ja ... also ich sehe sehr schwarz auf unseren guten
Brinckenwurff. Das dürfte im August an Annemiezens Geburtstag eine böse
Ueberraschung geben. Möglicherweise auch schon vorher. Mit der
Vereinigung von Kalinzinnen und Orlowen sieht es sehr nach Essig aus.«

Hans von Gorski tippte sich respektlos gegen die Stirn.

»Kleiner, ich glaube, Du träumst mit offenen Augen!«

»Ah nein, mein Jungchen, sondern meine bekanntlich in hohem Grade
entwickelte Geistesschärfe gestattet mir einen Blick in die Zukunft, die
gewöhnlichen Sterblichen verschleiert ist. Morgen kaufe ich mir einen
Dreifuß mit einem Pfund Weihrauch und frisier' mich als Pythia.«

»Mensch, red' endlich vernünftig! Was ist passiert?«

»Na dann hör' zu!« Karl von Gorski dämpfte unwillkürlich seine Stimme:
»Also der 'Moltke', mit dem ich heute früh telephonierte, war
selbstverständlich Annemarie. Schon gestern erschien mir die Geschichte
mit der Zigarettendose nicht geheuer. Es war für mich natürlich eine
Kleinigkeit, dem harmlosen Tierchen alles abzufragen, was ich wissen
wollte. Sie ist mit unserem neuen Rittmeister von Königsberg an zusammen
gefahren, ihr gefiel er sehr, dem Alten weniger. Der machte sogar etwas
Krach, bis sie ihn auf seinen geliebten Polenschimmel brachte, da hielt
er Vorträge. Und als Annemarie den Herrn von Foucar nach Kalinzinnen
einlud, bestätigte er die Einladung nicht. Da ließ sie absichtlich ihre
goldene Zigarettendose im Coupé liegen, um ihm einen triftigen Vorwand
zu baldigem Besuche zu geben.«

»Und das hat sie Dir so ganz offen gesagt?«

»Ne, mein Jungchen, aber verschwiegen! Und -- bewundere meinen
Scharfsinn -- das ist das Schlimme bei der Geschichte! Hätte sie mir
nach all dem übrigen ganz harmlos gesagt: 'Du, Karl, denk' Dir bloß, ich
habe dabei meine kostbare Zigarettendose im Coupé verloren, mit all den
himmlischen Widmungen, und ich gräme mich ganz fürchterlich, ob ich sie
wohl wiederkriegen werde', wäre ich ja gar nicht auf den Spurius
gekommen. Aber so liegt es doch klar auf der Hand, daß sie sich in
unseren neuen Rittmeister arg verschossen hat. Und das ist kein Wunder.
Er hat etwas an sich -- also ich kann's verstehen, daß sich die Mädels
in ihn verlieben.«

»Unsinn,« sagte Hans von Gorski, aber es klang nicht ganz überzeugt.
»Und dagegen spricht doch, daß Herr von Foucar anscheinend nicht den
geringsten Wert darauf gelegt hat, das Fundstück persönlich
zurückzubringen!«

Der jüngere der beiden Brüder zuckte mit den Achseln.

»Dafür gibt's 'ne Masse Erklärungen. Vielleicht hat er die
liebenswürdige Absicht gar nicht bemerkt. Das glaube ich nämlich aus
einem ganz bestimmten Grunde, und ebenso bin ich überzeugt, es tut ihm
heute schon leid. Andererseits aber ist es auch möglich, er ist so
maßlos verwöhnt, daß er auf diese neue Eroberung keinen sonderlichen
Wert legt. Aber vielleicht kommt das noch ... Wenn er unser 'trautstes
Cousinchen' erst näher kennen lernt.«

»Hm,« sagte der Aeltere, »Du red'st wie ein Buch! Jedenfalls müßte man
dem Hermann Brinckenwurff einen kleinen Wink geben, damit er die Augen
offen hält.«

»Um Himmels willen! Hast Du Lust, Deinen Daumen in eine Türangel zu
klemmen? Damit knackt man Haselnüsse! Und uns beiden muß doch die
Annemieze näher stehen! Ich bin kein Tugendbold, aber sag' mal selbst:
Wenn Du die Aussicht hättest, eine Annemarie von Gorski zu heiraten,
würdest Du es da fertig kriegen, eine nach übler Pomade duftende Mamsell
auf den Mund zu küssen, mit dem sie kurz vorher -- na sagen wir mal --
Gänseleber mit Zwiebeln abgeschmeckt hat?«

Hans von Gorski schüttelte sich lachend.

»Nicht um tausend Taler!«

»Na also!«

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, dann fragte der
Jüngere unvermittelt: »Du, Hans?«

»Was denn?«

»Kannst Du Dir vorstellen, daß uns beiden so ein Mädel wie Annemarie
blanke Augen machen würde oder zur Ermunterung eine goldne
Zigarettendose im Coupé liegen lassen?«

»Schwerlich!«

»Na siehst Du,« versetzte der Jüngere tiefsinnig, »ich habe es schon
immer gesagt, und die Geschichte eben bestärkt mich von neuem in der
Meinung: wir hätten uns rechtzeitig zusammentun müssen, unseren
Urgroßvater zu erschlagen. Von ihm stammt nämlich, nach dem Bild im
großen Saal zu schließen, in einem grotesken Sprung über Generationen,
das ganze Malheur. Die krummen Beine, die großen Ohren, die
Sommersprossen und der weit vorspringende Nasengiebel. Wobei ich
annehme, der damalige Maler hat in Ansehung des Honorars noch
beträchtlich geschmeichelt.«




8.


Die Wochen vergingen in scharfem Dienstbetriebe, der Oberstleutnant
Harbrecht hielt sein Regiment in Atem. Ob die politische Spannung
schärfer wurde oder schwächer, kümmerte ihn blutwenig. Er tat seinen
Dienst an der Grenze, wie ein Soldat, der mit offenen Augen auf
verantwortungsvollem Posten stand.

Die Aufgabe, die er mit dem Kommandeur des in Ordensburg liegenden
Infanterieregiments zu erfüllen hatte, war einfach, aber anstrengend.
Nachts paßten die Grenadiere an den von Osten kommenden Einfallstraßen,
am Tage die Dragoner. Und dahinter hielten die beiden Regimenter in
einer Art von Bereitschaftsstellung. Felddienst und Exerzieren gingen
ihren Gang wie sonst, nur man war dabei fortwährend auf der Lauer. Um
sich dem Stoß, wenn er endlich von drüben kam, rechtzeitig
entgegenzuwerfen, ihn mit Einsetzen des letzten Mannes so lange
aufzuhalten, bis weiter rückwärts der Aufmarsch vollzogen war. Dieses
dauernde Warten aber auf ein Ereignis, das jede Stunde kommen konnte
oder vielleicht auch ganz ausbleiben, machte mürbe, kostete Nerven. Und
noch etwas anderes kam hinzu, was dem Oberstleutnant Harbrecht Sorgen,
Aerger und schlaflose Nächte bereitete, eine ekle Spionengeschichte.

Von der Division war ihm mitgeteilt worden, die große Berliner Zentrale
für diesen wohl notwendigen, aber wenig dekorativen Dienst hätte
bestimmte Gründe für die Annahme, daß im Ordensburger Kreise eine
Persönlichkeit dem feindlichen Informationsbureau Nachrichten lieferte,
die im Ernstfalle für die deutsche Armee geradezu verhängnisvolle Folgen
haben müßten. Der schimpfliche Verräter verfügte über Kenntnisse, die
auf eine genaue Vertrautheit mit den diesseitigen Mobilmachungsplänen
und der Lage der Sperrforts schließen ließen, und er, der Oberstleutnant
Harbrecht, wurde aufgefordert, sich dazu zu äußern. Ob ihm dienstlich
oder außerdienstlich etwas aufgefallen wäre, was den Verdacht auf eine
bestimmte Persönlichkeit lenken könnte. Da ging er in Sorge und
Aufregung umher, bis ihm eine Art von Erleuchtung kam.

In der Waldschenke, in der Nähe der Schießstände in der großen Beldahner
Forst, hauste der Wirt Burdeyko, von dem er wußte, daß er alle paar
Monate einmal eine geheimnisvolle Fahrt über die Grenze unternahm. Es
wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß solche Kerle zweispännig
fuhren, heute für diese Seite ihr dunkles Handwerk trieben, morgen für
die andere ... Und es gab einen im Regiment, der diesen Burdeyko ein
wenig genauer kannte, weil er schon seit Wochen bei ihm russischen
Sprachunterricht nahm, den Rittmeister von Foucar!

Er schickte eine Ordonnanz ins Revier der fünften Schwadron und ließ ihn
bitten, für ein paar Minuten ins Regimentsbureau zu kommen. Aber auch
diese Unterredung brachte nicht die erwünschte Klarheit. Herr von Foucar
konnte nichts anführen, was den Verdacht des Kommandeurs bestätigt
hätte. Im Gegenteil, er hielt den Wirt Burdeyko für einen durch und
durch patriotisch gesinnten Mann, der seinen gefährlichen Beruf gegen
verhältnismäßig geringe Entlohnung ausübte. Aus einer Art von Passion,
aber er hätte erst unlängst einmal geäußert, er gedächte demnächst
Schluß zu machen. Einmal erwischte man ihn doch da drüben, und er hätte
keine Lust, sein Leben in den Bleibergwerken Sibiriens zu beschließen.

Da sagte der Oberstleutnant ärgerlich:

»Na schön, dann sollen die Herrschaften aus Berlin so einen Sherlock
Holmes herschicken, vielleicht kriegt der es 'raus! Mir sind solche
Geschäfte ekelhaft. Aber Sie, lieber Rittmeister, -- gut, daß ich Sie
einmal unter vier Augen habe! Sie gefallen mir ganz und gar nicht. Sie
muten sich zu viel zu.«

»Verbindlichsten Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich befinde mich
ausgezeichnet.«

»Nee, mein Lieber, so kommen Sie mir nicht weg! Ihr Diensteifer in
Ehren! Sie haben das Kunststück fertig gebracht, aus einer Schwadron,
die -- na sagen wir mal -- zu wünschen übrig ließ, in kurzen Wochen eine
Truppe zu machen, die sich sehen lassen kann. Das soll Ihnen nicht
vergessen und dick angekreidet werden. Aber nun können Sie sich auf
diesen Lorbeeren auch ein bißchen verpusten. Wir haben ja so schon
Dienst zum Ueberlaufen, da ist es -- weiß Gott -- nicht nötig, daß Sie
sich noch 'ne Extraportion einschwenken. Russische und polnische
Sprachstudien, ausgedehnte Ritte ins Gelände -- es ist ja manchmal
verblüffend, wie gut Sie Bescheid wissen in unserem verzwickten Terrain
mit den vielen Einschnitten und Gewässern -- und neulich wurde mir
erzählt, wenn man spätnachts an Ihrem Häuschen vorbeikäme, da draußen
vor dem Tore, könnte man Sie egalweg am Schreibtisch sitzen sehen vor
Ihrer Studierlampe.«

»Nochmals heißen Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich fühle mich bei
dieser angestrengten Tätigkeit sehr wohl! Nur von jetzt an werde ich
abends meine Fensterläden schließen.«

»Na, wie Sie wollen! Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben, ganz
freundschaftlich. Aller Welt fällt es auf, wie Sie sich in diesen Wochen
verändert haben. Sogar meiner Frau fällt es auf, wie spitz Sie im
Gesicht geworden sind. Gestern erst stellte sie mich darauf. Und gab mir
zugleich als sorgsame Regimentsmutter ein kleines Avis: Sie halten sich
zu sehr von dem gesellschaftlichen Verkehr fern in unseren Familien.
Vorige Woche gab unser Etatsmäßiger ein Gartenfestchen -- Sie glänzten
durch Abwesenheit! Herr und Frau von Lüttritz feierten ihren
zehnjährigen Ehekontrakt, die ganze Gentry aus Stadt und Umgegend war
da, bloß Sie nicht! Und ähnliche Klagen sind mir von unseren Herren zu
Ohren gekommen. Mittags essen Sie schweigsam im Kasino Ihr kärgliches
Menü und fertig, Mahlzeit! Abends sind Sie nie zu sehen. Auch nicht in
den bürgerlichen Exkneipen, wo unsere Herren sich mit denen von der
Infanterie treffen und etlichen aus dem Zivil. Das wird Ihnen verdacht,
als Hochmut ausgelegt. Und gerade auf Sie hatte man nach Ihrem Aussehen
und ersten Auftreten hier besondere Hoffnungen gesetzt in
gesellschaftlicher Beziehung! Also -- wenn sich's machen läßt -- nehmen
Sie sich die freundschaftliche Aussprache eben zu Herzen! Guten Morgen,
lieber Herr von Foucar.«

»Empfehle mich gehorsamst, Herr Oberstleutnant.«

Einen Augenblick hatte Gaston gezögert, ehe er mit einer Verneigung das
Regimentsbureau verließ, um in sein Schwadronsrevier zu der
unterbrochenen Besichtigung der Pferde zurückzukehren. Das Wort, das dem
so wohlwollenden Vorgesetzten für sein Verhalten die Erklärung gegeben
hätte, hatte ihm schon auf den Lippen gelegen: »Herr Oberstleutnant, ich
habe innerlich mit etwas fertig zu werden, was mich arg bedrückt. Eine
Angelegenheit, über die ich aus naheliegenden Gründen nicht sprechen
kann. Hoffentlich kriege ich sie unter, und dann will ich den mir so
gütig gegebenen Ratschlag gerne befolgen.« Die Scheu, sein
Allerinnerstes selbst vor noch so teilnehmendem Auge zu entblößen, band
ihm die Zunge.

Als er nach dem Mittagessen in das kleine Häuschen vor dem Tore kam, das
er sich so recht behaglich eingerichtet hatte, ging er geradenwegs in
das Schlafzimmer und musterte sein Gesicht aufmerksam in dem großen
Spiegel. Aehnlich wie vor jenen langen Wochen in Berlin. Nur diesmal
blickte ihm ein anderer entgegen. Ein hohläugiger Kerl mit hagerem
Gesicht, aus dem eine spitze Nase sprang, zwei tiefe Falten rechts und
links. Kein Wunder, denn der Kerl war krank. Zwei Geier fraßen zugleich
an seiner Leber, die Reue und die Sehnsucht. Da »bearbeitete« er sich
nach dem Wort, das er von dem dicken Freiherrn von Lindemann gehört
hatte. Aber das Mittel half nicht immer. Zuweilen fiel ihn die Sehnsucht
nach dem lieben blonden Mädel an wie ein körperlicher Schmerz ... Dann
sah er sie vor sich, die Annemarie von Gorski, wie sie ihm im Coupé
gegenübersaß auf der viel zu kurzen Fahrt damals, oder wie sie mit den
schmalen Füßen durch die spritzenden Regentropfen schritt, ohne sich
umzublicken. Kaum eine Stunde brauchte er zu reiten, und er konnte sie
wiedersehen, aber vor diesem Wege türmte sich ein grobes Hindernis. Das
Wort, das er einer anderen verpfändet, und von dem diese ihn noch immer
nicht gelöst hatte.

Jedesmal, wenn er nach Hause kam, schlug ihm das Herz, heute endlich
mußte doch die Antwort da sein! Aber der Platz auf dem Schreibtische war
leer. Nur zuweilen, alle Woche einmal, lag ein Brief da mit
zweisprachiger Adresse, russisch und deutsch, und dem Poststempel
Warschau. Wenn er ihn ausschnitt, fielen Papierschnitzel heraus, Stücke
einer polnischen Zeitung. Er versuchte, sie zusammenzusetzen, aber sie
ergaben keinen Sinn. Auch sein Lehrer Burdeyko vermochte sie nicht zu
erklären. Da warf er die rätselhaften Briefe ungelesen in den
Papierkorb. Nur ein unheimliches Gefühl beschlich ihn jedesmal dabei.

Als zwei Wochen vergangen waren, ohne daß er von Josepha eine Antwort
hatte, wandte er sich an ein Berliner Detektivbureau, dessen Adresse er
in einer Zeitungsannonce gelesen hatte. Ersuchte mit der Bitte, die
Spesen durch Nachnahme zu erheben, um Auskunft, ob Frau Rheinthaler,
Kolonie Grunewald bei Berlin, Prinz-Handjery-Straße, verreist wäre. Nach
drei Tagen kam die Antwort unter gleichzeitiger Nachnahme von dreißig
Mark: »Angefragte lebt höchst zurückgezogen in ihrer Villa, ganz der
Trauer um ihren, in der Blüte der Jahre verstorbenen Gemahl hingegeben.
Verschiedene Anzeichen lassen darauf schließen, daß sie in nächster
Zeit eine längere Reise anzutreten gedenkt, vermutlich ins Ausland.«

Da schrieb er einen neuen Brief in zwei Ausfertigungen. Einen an
Josepha, den zweiten an diese unheimliche alte Hexe, die ihm den Bericht
über die Ereignisse am Tage seiner Abreise geschickt hatte. Und diesmal
wurde er deutlicher in seinem gerechten Zorn, schrieb sich alles
herunter, was er auf der Seele hatte. Auf dem Papier sah es schroffer
aus, als er es sich zurechtgelegt hatte, aber er mochte nichts ändern.
Er schloß damit, daß er sein Wort unter falscher Voraussetzung abgegeben
hätte. Einer geschiedenen Frau hätte er es wohl halten können, aber
niemals einer, die schon vorher nicht die Anforderungen erfüllte, die
ein anständiger Mann an seine zukünftige Gattin zu stellen berechtigt
wäre. Und an einer flüchtigen Sinnesregung ließ er sich nicht
festhalten. Er wollte endlich wieder reinen Tisch haben in seinem Leben,
innerlich und äußerlich.

Die beiden Briefe trug er persönlich zur Post, ließ sie »eingeschrieben«
an ihre Adressen befördern. Die Tage vergingen, es kam keine Antwort.
Nur ein merkwürdiger Kerl stellte sich ein in der Nähe seiner kleinen
Villa, der ihn anscheinend beobachtete. Ein Kerl mit einem konfiszierten
Galgengesicht, der ihm auf die Dauer unheimlich wurde.

Drüben, auf der anderen Seite der Straße, war freies Feld. Da hatte der
Mann ein Stück von der Größe eines mäßigen Gartens gekauft, grub den
Acker um und ließ von einigen Arbeitern ein kleines Häuschen aufführen.
Jedesmal, wenn Gaston ausritt oder heimkehrte, fühlte er, daß der Mann
ihm forschend nachsah. Auch mit seinem Burschen hatte er sich bekannt
gemacht, stand zuweilen plaudernd am Gartenzaun. Nach näherer
Erkundigung aber stellte sich heraus, der unheimliche Fremde wäre ein
pensionierter Kanzleibeamter aus Königsberg, der sich hier einen
Ruhesitz einrichtete, auf dem er als bescheidener Rentner zu leben
gedächte. Die vermeintliche Beobachtung war nichts weiter als
spießbürgerliche Neugierde.

Da fing Gaston an, allmählich ruhiger zu werden, und zugleich stellte
sich ihm eine Erklärung ein, daß er auf seine beiden Briefe keine
Antwort erhalten hatte. Den zweiten hätte er sich eigentlich sparen
können, der erste war ja schon deutlich genug gewesen. So deutlich, daß
eine Frau wie Josepha darauf nichts mehr zu erwidern brauchte. Und er
zerfleischte sich mit bitteren Selbstvorwürfen, er hätte die notwendige
Befreiung vielleicht mit zarteren Mitteln durchsetzen können. Die
Aermste konnte doch nichts dafür, daß sie aus einem Gefühl
unerklärlicher Sympathie ihre Hoffnung auf einen setzte, der sie
bitterlich enttäuscht und -- weshalb, war gleichgültig -- die
beschworene Treue brach ...

Am eigenen Leibe verspürte er's jetzt, wie es einem zumute war, der sich
in hoffnungsloser Sehnsucht verzehrte. Wie eine Krankheit war das, die
den Befallenen ganz schwach und elend machte. Stundenlang ging man herum
wie ein Gesunder, dann kam plötzlich das bittere Weh über einen, daß man
hätte aufschreien mögen vor Schmerzen und Bangen und Qual.

Einmal vor ein paar Tagen hatte er das Fräulein von Gorski
wiedergesehen. Sie hielt in einem Selbstfahrer mit einem schnittigen
Trakehner Halbblut auf dem Marktplatz, sprach eifrig mit ihrer Freundin
Lüttritz, der Gattin des Rittmeisters der zweiten Schwadron. Er grüßte
respektvoll, sie dankte kurz, blickte kaum nach ihm hin. Wenn sie nicht
gar so kühl zurückgegrüßt hätte, wäre er an den Wagen getreten, hätte
sich entschuldigt, daß er wegen vielen Dienstes leider noch immer nicht
dazu gekommen wäre, in Kalinzinnen seinen pflichtschuldigen Besuch
abzustatten. So ging er weiter und schalt sich einen Narren, weil er
sich im innersten Winkel seiner Seele immer noch mit törichten
Hoffnungen und Wünschen getragen hatte. Die Einladung damals auf der
Reise war nichts weiter als eine belanglose Liebenswürdigkeit gewesen,
stammte aus irgend einer gehobenen Stimmung, die vielleicht mit der
Heimkehr nach langer Abwesenheit zusammenhing oder mit der glücklichen
Genesung ihres Vaters. Da hätte sie jeden anderen an seiner Stelle wohl
ebenso eingeladen. Und das vermeintlich absichtliche Vergessen der
kostbaren Zigarettentasche? Wenn es wirklich Absicht war, war es die
Laune einer verwöhnten jungen Dame, die sich in kindischem Trotz gegen
den Vater auflehnte einen Augenblick lang ...

Ein paar Stunden später war die ganze Angelegenheit wieder vergessen.
Und von seinem russischen Lehrer, der ihm nach beendigter Lektion bei
einer Zigarette zuweilen Neuigkeiten aus dem Kreise erzählte, erfuhr er,
die Verlobung im Herrenhause von Kalinzinnen stände kurz bevor. In der
letzten Augustwoche würde Fräulein von Gorski einundzwanzig Jahre alt,
und dann würde die Verlobung mit dem Besitzer des Nachbargutes Orlowen
veröffentlicht. Schon jetzt träfe man die Vorbereitungen zu dem Fest.

An dem Abend litt es ihn nicht in der Einsamkeit seines kleinen
Häuschens, er mußte sich irgendwie Gewißheit schaffen.

Er machte sich auf und ging ins Kasino. Es waren zehn oder zwölf Herren
da im Spielzimmer, aber er stieß auf frostigen Empfang. Alle gingen sie
nach kurzer Zeit fort, weil sie heim wollten nach anstrengendem Dienst
oder irgendeine Verabredung hatten. Nur sein »Schwadronskücken« blieb
bei ihm sitzen, der jüngere Leutnant von Gorski. Er lud ihn auf eine
Flasche Mosel ein, der Kleine akzeptierte dankend, saß aber dann
verfroren auf seinem Stuhl und blinzelte den Schwadronschef von Zeit zu
Zeit verwundert an, als wenn er fragen wollte, weshalb er gerade zu
dieser plötzlich über sein ahnungsloses Haupt sich ergießenden Ehrung
käme. Zudem war der Mosel sauer wie Essig. Eine jener Sorten, denen,
seiner Ansicht nach, vornehmlich die Zunahme der Temperenzlerbewegung zu
verdanken war.

Erst allmählich wurde der kleine Gorski wärmer, als sein Rittmeister ihm
bei der zweiten Hälfte der Flasche die unerwartete Eröffnung machte, ihm
wäre es leider nicht gegeben, mit leichtem Sinn Anschluß zu finden. Dazu
brauchte er immer erst eine gewisse Zeit, aber von jetzt an würde er
sich öfter zum abendlichen Schoppen im Kasino einfinden. Darauf erklärte
Karl von Gorski, die Ausführung dieser liebenswürdigen Absicht würde im
Kreise der Kameraden allseitige Freude erregen. Als jedoch danach das
Gespräch wieder ins Stocken geriet, begann er, seinem Vorgesetzten die
neuesten jüdischen Witze zu erzählen. Aber es war ein undankbares
Beginnen. Bei Pointen, die jedem an der polnischen Grenze Aufgewachsenen
das Zwerchfell erschütterten, verzog der kaum den Mund. Da beschloß er,
auf einen baldigen Rückzug zu sinnen, gleich den übrigen, die sich vor
dem steifleinenen Gesellen da rechtzeitig gedrückt hatten, in der
gemütlichen kleinen Kneipe am Gerichtsplatze saßen und würziges Bier
tranken statt sauren Mosels.

Unbegreiflich erschien es jetzt auch ihm, wie er an diesem zugeknöpften
und hochmütigen Generalstäbler in den ersten Tagen hatte Gefallen finden
können. Die andern hatten schon recht, dem waren die paar Jahre hier
nichts als eine belanglose Durchgangsstation. Sie aber waren mit dem
Regiment schon seit Generationen verwachsen. Alles, was an 'Cadets'
heranwuchs auf den Gütern um Ordensburg, diente bei den Dragonern.
Plötzlich aber hob der Kleine den Kopf mit den lächerlich großen Ohren.
Und mit einem Male fing es ihm an zu dämmern, weshalb der da drüben
seine Gesellschaft gesucht hatte.

»Was ich schon immer fragen wollte,« sagte der Rittmeister, »wie geht es
eigentlich Ihrem Herrn Onkel in Kalinzinnen? Ich fuhr am Tage meiner
Ankunft mit ihm in der Bahn zusammen, und wenn ich mich recht entsinne,
war damals von einer Operation die Rede, die er glücklich überstanden
hatte. Der alte Herr, glaube ich, war mit dem Pferde gestürzt?«

»Ganz recht,« versetzte Karl von Gorski, »aber es geht ihm
ausgezeichnet. Im Herbst hofft er schon wieder unsere Jagden mitreiten
zu können.«

»Freut mich sehr! Ihr spezielles Wohlsein, lieber Herr von Gorski.«

»Löffle mich gehorsamst, Herr Rittmeister.« Der Kleine leerte tapfer
sein Glas, hüllte sich danach aber in Schweigen. Der andere konnte ja
anfangen, wenn er mehr aus Kalinzinnen zu erfahren wünschte.

»Ich finde, dieser Mosel schmeckt ein wenig säuerlich,« sagte Herr von
Foucar nach einer Pause. Und er erwiderte:

»Mit allem schuldigen Dank für die gütige Einladung, aber ich bin der
Ansicht, man müßte den Kasinovorstand wegen Vorspiegelung falscher
Tatsachen belangen, weil er dieses Getränk mit 'Josephshöfer'
bezeichnet. Vielleicht aber hat bloß eine Verwechslung stattgefunden.
Wir haben nämlich auch ein Faß Essig im Keller liegen, da machen wir
wahrscheinlich mit Mosel den Salat an, während diese Flüssigkeit hier
sich sehr viel besser eignen würde zur Vermischung mit Oel und
Mostrich.«

Gaston lachte auf.

»Weshalb haben Sie das nicht gleich gesagt? Wollen wir ein Glas Sekt
trinken?«

Karl von Gorski klappte die Hacken zusammen.

»Mein angeborenes Disziplingefühl gestattet mir nicht, eine solche
Anfrage aus dem Munde eines Vorgesetzten zu verneinen. Und da ich
persönlich zudem auf dem Standpunkte stehe, der Sekt müßte das
Nationalgetränk des preußischen Leutnants werden, namentlich, wenn er
eingeladen wird ...« Und er beschloß in seinem milder gestimmten Herzen,
sich zu revanchieren. Dem anderen da die Frage zu ersparen, zu der er
sich anscheinend nur schwer entschließen konnte.

Die Ordonnanz hatte den Eiskühler mit der silberbehalsten Flasche
gebracht, der Kleine schenkte nach eingeholter Erlaubnis die Gläser
voll.

»Uebrigens meine Cousine Annemarie hat sich riesig gefreut, als sie ihre
verloren geglaubte Zigarettentasche wiederbekam.«

Der Rittmeister rückte näher: »Wirklich?«

»Kolossal hat sie sich gefreut. Nur sie hat sich -- aber ich bitte um
die Erlaubnis, ganz offen sein zu dürfen ...«

»Aber selbstverständlich ...«

»Also, sie hat sich erheblich gewundert, daß Herr Rittmeister das
Fundstück nicht persönlich überbrachten. Namentlich, da sie sich doch
das Vergnügen gemacht hatte, Herrn Rittmeister aufzufordern, in
Kalinzinnen recht bald Besuch zu machen.«

Gaston fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Zu dumm war das!
Und er nahm sich gewaltsam zusammen.

»Es tut mir selbst am meisten leid, daß ich dieser freundlichen
Einladung wegen zu vielen Dienstes nicht folgen konnte. Und jetzt möchte
ich meinen Besuch in Kalinzinnen verschieben, bis das Fest vorüber ist.
Es wäre mir doch peinlich. Das würde aussehen, als wollte ich dazu
eingeladen sein.«

Karl von Gorski blickte auf. Er hatte wohl bemerkt, daß sein
Vorgesetzter plötzlich Farbe in die Wangen gekriegt hatte, aber noch
tappte er im dunkeln, konnte sich keinen rechten Vers auf die ganze
Geschichte machen.

»Welches Fest meinen Herr Rittmeister?«

»Nun, die ... die Verlobung von Fräulein Annemarie. Erst heute hörte ich
zufällig, sie würde sich demnächst öffentlich verloben. Mit dem Herrn
von Brinckenwurff, den ich am ersten Abend hier kennen lernte, als ich
ankam.«

Der Kleine schwieg darauf, und Gaston mußte weitersprechen. Er fühlte
deutlich, daß der Wein auf ihn zu wirken begann -- seit Wochen hatte er
keinen mehr getrunken. Zu Mittag ein Glas Wasser und abends bei der
Arbeit einen leichten Tee. Er hätte den Kleinen anschreien mögen: 'Gib
mir Gewißheit! Du hast sie doch in diesen Tagen öfter gesehen, weißt
vielleicht, was sie fühlt und denkt.' Statt dessen mußte er höflich
weitersprechen: »Eine sehr passende Verbindung, soweit ich's beurteilen
kann. Nachbarskinder, die Besitz zu Besitz bringen, und dann ... sie
kennen sich von Jugend auf.«

Karl von Gorski nickte. Er wußte Bescheid. Die Worte klangen
gleichgültig, nur das Drum und Dran war verräterisch. Wäre ja auch
merkwürdig gewesen, wenn der da drüben sich in das schöne Cousinchen
nicht verliebt hätte. Alle verliebten sich ja in das herrliche Mädel,
die es kennen lernten. Er selbst fühlte bei allem philosophischen
Gleichmut einen Stachel im Herzen, wenn er daran dachte, daß sie einen
anderen heiraten sollte. Aber er war -- Gott sei Dank -- immer noch in
der Lage, sich mit einem guten Witz darüber hinwegzusetzen. Jetzt hatte
es den da auch gefaßt, ganz wie er's vorausgesagt hatte. Nur es war zu
spät, er hatte seinen günstigen Augenblick verpaßt. In vierzehn Tagen
gab es in Kalinzinnen Verlobung. Und er sann darüber, wie er's ihm am
schonendsten beibringen sollte, daß da nichts mehr zu hoffen war.

»Ja, Herr Rittmeister,« begann er tiefsinnig, »zu dieser Verlobung wäre
manches zu bemerken. Wie zum Beispiel zu der Preußischen Klassenlotterie
... Nicht immer gewinnt der Würdigste das Große Los. Manchmal fällt es
an einen Kommerzienrat, der sich nicht sonderlich viel daraus macht. Und
die anderen stehen 'rum, beneiden ihn -- wie der ergebenst
Unterfertigte. Einer kann es ja nur gewinnen, aber weshalb muß es immer
der andere sein? Das frißt einem am Herzen, namentlich wenn man sich
schmeicheln darf, ein außergewöhnlich begabter junger Mann zu sein ...

Sehen der Herr Rittmeister mich mal an! Haben Sie eben bemerkt, wie
brillant ich mit den Ohren wackeln kann? Zwei Zentimeter Ausschlag nach
oben und nach unten. Im Panoptikum könnte ich damit auftreten unter
riesigem Zulauf, wäre auch in der Lage, das Publikum in den Pausen zu
unterhalten! Durch Humor ... Auf diese glänzenden Eigenschaften legt
mein Cousinchen keinen Wert. Als ich sie unlängst fragte: 'Annemieze, na
wie wär's? Wenn Du mich nehmen wolltest, würdest Du aus dem Lachen nicht
'rauskommen,' zuckte sie mit den Achseln: 'Mein Jungchen, Du hast Deine
Chance verpaßt. Mir ist nicht mehr lächerlich zumute -- in vierzehn
Tagen ist Verlobung und in sechs Wochen Hochzeit. Die Kochfrau ist
schon bestellt aus Königsberg, denn es soll natürlich 'was Feines zu
essen geben.' Da tröstete ich mich ein bißchen, weil ich nämlich eminent
feinschmeckerisch veranlagt bin ...«

Er hob sein Glas: »Gestatte mir gehorsamst zum Wohle, Herr Rittmeister!«

Gaston trank schweigend. Er wußte genug. Und der andere da drüben hatte
anscheinend nicht das geringste gemerkt. Daß er nur deshalb mit ihm hier
zusammensaß, um ihn auszuhorchen. Und jetzt hätte er mit der empfangenen
Auskunft wieder heimgehen können, aber ihm graute vor dem Alleinsein mit
den Gedanken, die aus allen dunklen Ecken gekrochen kamen in seinem
stillen Häuschen da draußen ...

Die Flasche war leer, er griff nach dem Klingelzuge, der von der Lampe
herabhing: »Ordonnanz, noch so eine ... Das heißt, wenn Sie freundlichst
gestatten, Herr von Gorski?«

Der Kleine klappte die Hacken zusammen, verneigte sich lächelnd. Er
selbst vertrug einen Stalleimer voll Sekt, brauchte am anderen Morgen
den Kopf nur fünf Minuten unter die kalte Brause zu stecken, um
vollkommen frisch zu sein. Sein Schwadronschef aber hatte schon die
»Fahne« aufgezogen, glühte im Gesicht wie ein Fieberkranker. Da gelang
es vielleicht, ihm listig noch allerhand abzufragen, was ihn selbst --
nicht bloß aus Neugierde -- interessierte.

Vor jenen Wochen, gleich nach der Rückkehr aus Königsberg, war sein
Cousinchen arg verstimmt gewesen. Schon damals glaubte er zu wissen,
weshalb, und heute war er seiner Sache sicherer denn je. Nur ein Rätsel
gab es noch zu lösen: warum hatte der dumme Kerl da sich am Tage nach
der gemeinschaftlichen Reise nicht auf seinen Gaul geschwungen, war nach
Kalinzinnen geritten? Da wäre manches vielleicht anders gekommen. Und --
ein gewisses Positionsgefühl sagte ihm das wie beim Schachspiel -- die
Lösung war vielleicht in jener Zeitungsnachricht zu suchen, über die sie
damals auf dem Heimwege vom Kasino gesprochen hatten.

Die Ordonnanz hatte sich nach dem Einschenken wieder zurückgezogen,
Gaston hob sein Glas: »Na prosit, Herr von Gorski! Es ist nett von
Ihnen, daß Sie mir Gesellschaft leisten. Die anderen Herren werden über
meine Absentierung vielleicht auch milder urteilen in einigen Tagen. Ich
hatte mir selbst eine Aufgabe gestellt, die mich außerordentlich
beschäftigte. Sie werden natürlich nicht darüber sprechen.«

»Selbstverständlich nicht, Herr Rittmeister.«

»Nun denn: es ist eine Möglichkeit vorhanden, die Herrschaften von
drüben, wenn sie uns ohne Ankündigung überfallen, in eine große
Mausefalle reiten zu lassen. Die Vorbereitungen dazu sind
verhältnismäßig einfach und, wenn ich dem Kommandeur Vortrag gehalten
habe, werden die Herren Kameraden mir hoffentlich Absolution erteilen.
Die Arbeit hat mich in der letzten Zeit ganz und gar in Anspruch
genommen.«

»Vielleicht auch noch etwas anderes,« dachte der Kleine, laut aber sagte
er: »Diese Mitteilung wird alle Mißverständnisse natürlich mit einem
Schlage beseitigen! Aber da auch ich keine Gelegenheit hatte, mit Herrn
Rittmeister außerdienstlich zusammenzukommen: wie hat sich eigentlich
der Fall des Oberleutnants Wodersen aufgeklärt, von dem wir damals
sprachen? In der Zeitung standen allerhand dunkle Andeutungen, er hätte
sich infolge eines amerikanischen Duells das Leben genommen. Vor dem
Hause der Dame, die gewissermaßen den Einsatz bildete. Haben Herr
Rittmeister das nicht gelesen? Ich glaube, die Nummer des obskuren
Wochenblättchens, die einer unserer Herren auf dem Bahnhof gekauft hat,
muß noch irgendwo zu finden sein.«

Gaston sah sein Gegenüber unsicher an.

»Weshalb kommen Sie auf die Idee, daß ich gerade in diesem traurigen
Fall Bescheid weiß?«

»Weil Herr Rittmeister damals sagten, Sie wären mit Herrn von Wodersen
noch kurz vor der Katastrophe zusammen gewesen.«

»So ... habe ich das gesagt? Na ja, es ist ja auch die Wahrheit.«

Gaston spürte, daß er sich nicht mehr so in der Hand hatte wie sonst.
Nur er fühlte unklar, das war vielleicht die Gelegenheit, die junge Dame
in Kalinzinnen wissen zu lassen, daß er sich nicht aus Feigheit
zurückgehalten hatte. Zehn solche Kerle wie dieser Herr von
Brinckenwurff hätten dastehen können, das wäre ihm herzlich gleichgültig
gewesen, wenn er mit reinen Händen gegen sie hätte anreiten können. Er
nahm einen hastigen Schluck.

»Wovon sprachen wir doch eben?«

»Davon, daß Herr Rittmeister mit diesem Herrn von Wodersen noch kurz vor
der Katastrophe ...«

»Ach so! Was in den Zeitungen steht, ist natürlich Unsinn. Ich habe
allen Grund zu der Annahme, er hat sich infolge eines Mißverständnisses
totgeschossen. Freilich nicht mit ganz klaren Sinnen. Ich habe früher
immer darüber gelacht, daß ein Mann sich so 'was in dieser Weise zu
Herzen nehmen könnte -- der Fall da hat mich eines Besseren belehrt. Der
arme Kerl war mit Haut und Haaren in eine vielumworbene Frau verliebt.
Und die machte sich nichts aus ihm. Er aber hoffte immer noch ...

Als er's mir zum ersten Mal erzählte, in einer jener seltenen Stunden,
wo man das Visier hochschlägt, lächelte ich darüber. Er sagte: 'Um die
Frau schieß ich mich noch einmal tot.' Ich aber zuckte mit den Achseln:
'Verstiegene Redensarten!' Sonst vielleicht ... na schön, an dem
verhängnisvollen Tage traf ich ihn. Er war sehr aufgeregt, erzählte mir,
er hätte allen Grund zu der Annahme, daß die schöne Frau sich einem
anderen hinzugeben beabsichtigte. Und da unterließ ich es leider, ihn
trotz besseren Wissens aufzuklären, trotzdem ich diesen anderen und
seine eigentlichen Pläne ziemlich gut kannte. Ich wußte, dieser andere
war -- nicht ohne eigene Schuld natürlich -- in eine Verstrickung
geraten, die ihm bei klaren Sinnen eine Fessel war, nur er besaß nicht
die Rücksichtslosigkeit, sich sofort davon zu befreien.

Zum allergrößten Teil war es Mitleid, denn die Frau lebte in einer
unglücklichen Ehe, klammerte sich an ihn wie an den Heiland. Und jetzt
ist er bei dem ganzen traurigen Handel eigentlich am meisten zu
bemitleiden. Er hatte das Pech, sich hinterher in eine junge Dame zu
verlieben, der er anscheinend auch recht gut gefiel. Aber die alte
Schuld band ihm die Zunge ... Und jetzt --«

Gaston fühlte deutlich, daß er Worte wiederholte, die vor einigen Wochen
ein anderer gesprochen hatte, aber er konnte sich nicht helfen, er mußte
sie aussprechen.

»Jetzt kommt es ihm nicht mehr so lächerlich vor, wenn einer sagt, er
will sich aus unglücklicher Liebe totschießen. Der arme Kerl, der
Wodersen, hat alles aus dem Kopf. Ihm aber frißt ein Geier an der Leber,
daß er manchmal ...« Er brach plötzlich ab, starrte mit weit
aufgerissenen Augen in eine der dunklen Zimmerecken.

Der Kleine erschrak heftig, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Den Zustand kannte er, in dem man allerhand Spuk sah mit wachen Augen.
Er hatte ihn einmal durchgemacht, als er mit Urlaub acht Tage in
Königsberg verlumpt hatte, um auch so 'was unterzukriegen, was ihn
schwer bedrückte. Als er sich daheim aus notwendiger Enthaltsamkeit
wieder ausnüchterte, saß in den ersten Nächten immer ein kleines
Männchen mit einem runden Kürbiskopfe auf dem Fußende seines Bettes. Der
da drüben sah jetzt wohl etwas anderes ... ein blasses Gesicht mit
durchschossener Schläfe ... Und aus anderer Ursache. Weil er sich vor
Kummer die Nerven zuschanden gearbeitet hatte, die der ungewohnte
Alkohol jetzt noch mehr auspeitschte. Da gab es nur ein Mittel: den
Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben! Den armen Kerl so vollzugießen,
daß er bewußtlos wie eine Tümpelkrähe ins Bett fiel, keine Dummheiten
mehr anrichten konnte. Und das war eine Aufgabe nach seinem Herzen. Er
schenkte den Rest der Flasche in die Gläser.

»Hoch zu verehrendes Wohlsein, Herr Rittmeister! Hat mich
außerordentlich interessiert, was Sie da von dem Herrn von Wodersen
erzählten -- überflüssig, zu versichern, daß ich's für mich behalte!
Aber ich meine, er muß wirklich verrückt gewesen sein. Oder er hatte
keine Spur von Pflichtgefühl im Leibe. Wer schießt sich denn tot, wenn
er vom Vaterlande gebraucht wird? Da kann man sich doch in
entscheidender Stunde vielleicht noch ein wenig nützlich machen. Indem
man seinem Zuge bei 'Lanzen gefällt, Marsch, Marsch, Hurra!' mit Gebrüll
voranreitet ...«

»Oder seiner Schwadron,« warf Gaston mit schwerer Zunge ein.

»Ganz recht,« sagte der Kleine, »je nach der Stellung, die man auf der
militärischen Stufenleiter einnimmt. Das Totschießen besorgt dann
nachher die mit Recht so beliebte feindliche Bleikugel. Aber da der
Deutsche schon seit Tacitus' Zeiten einen Lokalwechsel braucht, um immer
noch einen zu trinken, möchte ich gehorsamst vorschlagen, wir tun
desgleichen. Hier in der Nähe gibt es ein vorzügliches Glas Bier. Und da
sitzen noch einige Kameraden, die sich mächtig freuen werden, den Herrn
Rittmeister zu begrüßen.«

»Meinen Sie, lieber Gorski?«

»Aber selbstverständlich! Herr Rittmeister hatten sich -- wenn mir's
gestattet ist, das zu bemerken -- ganz vorzüglich bei uns eingeführt im
Regiment. Bloß Sie müßten sich öfter sehen lassen.«

»Na, dann vorwärts!«

Im Hinausgehen flüsterte Karl von Gorski der Ordonnanz zu: »Marsch, ins
Revier der fünften Schwadron! Der Kutscher vom Krümperwagen soll
anspannen, an der kleinen Kneipe vorfahren, gegenüber vom Landgericht!«

Die Ordonnanz nahm schweigend die Hacken zusammen. Solche Aufträge waren
nichts Außergewöhnliches. Nach einem Liebesmahl fuhren die meisten der
Herren mit dem Krümperwagen nach Hause, um unliebsamen Begegnungen
auszuweichen. Und der Rittmeister von der Fünften wohnte ein ganzes Ende
weit vor der Stadt ...

Auf der Straße hielt Karl von Gorski sich dicht neben seinem
Vorgesetzten, um erforderlichen Falles zur Hand zu sein, wenn dem der
Fuß in unsicherem Tritte stocken sollte. Aber die Fürsorge war unnötig,
der Rittmeister ging ohne Schwanken die Straße entlang. Da stieg seine
Hochachtung gewaltig: der Mann mußte eine fabelhafte Energie besitzen,
um sich so zusammenreißen zu können! Und nach einigen Minuten blieb Herr
von Foucar plötzlich stehen, sagte mit ganz klarer Stimme: »So, das hat
wohlgetan. Aber noch eins, Herr von Gorski ...«

»Herr Rittmeister?«

»Ich bin vorhin ein bißchen zusammengesackt. Ich lege keinen Wert
darauf, daß das in weiteren Kreisen bekannt wird. Ich hatte meinen
Nerven in den letzten Wochen zu viel zugemutet, und vorher die Zeit im
Generalstabe -- ja, das war auch alles andere, nur keine Sommerfrische.«

Der Kleine blickte auf.

»Sehr wohl, Herr Rittmeister! Aber die Mahnung zur Diskretion war etwas
kränkend, nachdem Sie die Güte gehabt hatten, mir ein wenig Vertrauen zu
schenken. Ich mache nicht immer schlechte Witze, ich kann auch manchmal
leidlich ernst sein.«

Gaston legte in einer impulsiven Regung seinem Leutnant den Arm um die
Schulter, zog ihn näher an sich.

»Weiß ich, kleiner Gorski, weiß ich! Und zuverlässig. Sonst wäre ich
wohl nicht so aus mir herausgegangen. Die, denen das sogenannte Herz
immer gleich auf der Zunge liegt, haben es leichter.«

Er ließ seinen Arm wieder sinken und fuhr lächelnd fort: »Aber diese
neue Freundschaft wird mich natürlich nicht hindern, Sie im Bedarfsfalle
unter vier Augen wieder einmal gründlich anzulappen! Falls Sie morgen
nämlich, wie neulich, zehn Minuten zu spät zum Dienst kommen sollten.«

»Es wird mir ein Hochgenuß sein,« sagte der Kleine. »Und noch eine
Frage: die junge Dame, in die sich 'der andere' verliebt hat, von der
Herr Rittmeister vorhin sprachen ...?«

»Die ist mit ihm zusammen in der Eisenbahn gefahren, da lernte er sie
kennen. Leider zu spät. Für ihn selbst. Ein Skrupelloser hätte sich
vielleicht darüber hinweggesetzt, daß er noch an eine andere gebunden
war. Ihm ist es nicht gegeben, das einer Frau verpfändete Wort wie eine
Seifenblase zu behandeln. Aber das ist ja auch egal ... in vierzehn
Tagen verlobt sich die mehrfach genannte junge Dame ...«

Karl von Gorski blickte tiefsinnig vor sich hin.

»Selten ist wohl von einem Weisen ein wahreres Wort gesprochen worden
als der Satz: 'Verlobt ist nicht verheiratet.' Und von allen Sagen, die
ich kenne, erschien mir immer die vom Tannhäuser am vernünftigsten: es
kann alles verziehen werden. Namentlich wenn der Tannhäuser
gewissermaßen nur aus Versehen in den Venusberg geraten war.«

Gaston atmete tief auf, eine verrückte Hoffnung regte sich ihm im
Herzen. Aber das war natürlich Unsinn. Der Kleine da neben ihm hatte
eine Flasche Sekt im Leibe. Da sprach er mehr, als er verantworten
konnte. Genau wie er selbst. Nur der ungewohnte Trunk hatte ihn doch
verleitet, ein sorgfältig gehütetes Geheimnis zu verraten. Dem er's
anvertraut hatte, war ein Edelmann, behielt es bei sich. Wenn nicht, war
es auch egal. Von morgen fing ein neues Leben an, trinken war besser als
arbeiten. Beim Arbeiten saß man allein, beim Trinken in lustiger
Gesellschaft. Und man geriet nicht in den Verdacht, daß man sich
hochmütig und streberisch von den Kameraden absonderte ...

In der von Tabaksqualm erfüllten kleinen Kneipe gab es nach anfänglichem
Stutzen großes Halloh. Der dicke Herr von Schnakenburg, der
unverheiratete Major vom Stabe, erhob seine dröhnende Stimme: »Zeichen
und Wunder! Der Gerechte verirrt sich unter die Gottlosen? Was
verschafft uns denn die Ehre, Herr von Foucar?«

»Die bessere Einsicht, Herr Major,« versetzte Gaston. »Die Einsicht, daß
es verdienstvoller ist, zu trinken, als leeres Stroh zu dreschen. Ist es
gestattet, meine Herren?«

»Aber mit Vergnügen!«

Major von Schnakenburg, der mit dem Rücken zur Wand saß, tippte seinem
Nachbar, dem einzigen Zivilisten in der Tafelrunde, auf die Schulter:
»Sie, junger Brinckenwurff, rücken Sie mal 'ne Rotte weiter nach unten.
Ich möchte den unerwarteten Rittmeister gern an meiner grünen Seite
haben. Vorausgesetzt, daß er noch über den Tisch klettern kann.«

»Wird sofort gemacht!«

Dem Kleinen stand der Atem still, das gab sicherlich ein Unglück. Er
nahm eine Art von Bereitschaftsstellung ein, um bei einem Sturze zur
Hand zu sein, aber die Befürchtung war grundlos. Herr von Foucar stieg
sicher hinüber, nahm auf dem Stuhle Platz, den der lange Brinckenwurff
soeben freigemacht hatte. Und ein paar Minuten später hatte er die
Führung des Gespräches übernommen an dem runden Tische. Plauderte mit
glänzender Laune über alles mögliche, erzählte kleine Anekdoten aus dem
internen Betriebe des Generalstabes, bezauberte die ganze Gesellschaft.
Der allgemeine Aufbruch fand später als sonst statt. Hermann von
Brinckenwurff ging mit den beiden Brüdern Gorski nach dem Bahnhofe zu,
im Hotel zum Kronprinzen hatte er sein Fuhrwerk eingestellt.

»Ich kann mir nicht helfen,« sagte er, »der Mensch ist mir unsympathisch
mit seinem sprunghaften Wesen. Schließlich ist er doch keine Primadonna
im Regiment, die sich den Luxus gestatten darf, Launen zu haben!
Wochenlang hat er uns geschnitten, mit einem Male taucht er auf, spielt
den Liebenswürdigen und Geistreichen ...«

»Entschuldige,« fragte Karl von Gorski, scheinbar harmlos, »wen meinst
Du eigentlich?«

»Na, Euren neuen Rittmeister, diesen Baron von Foucar!«

»So, so! Dazu ließe sich bemerken, geistvolle Leute haben ein gewisses
Recht, launenhaft zu sein, denn der Geist läßt sich nicht kommandieren.
Etwas anderes ist es mit dem Stumpfsinn. Der ist bei seinem Besitzer
immer gleichmäßig vorhanden. Man sagt nur ab und zu einmal 'Prost' --
was keine besondere Anstrengung kostet -- trinkt acht halbe Liter und
fährt mit der Befriedigung, sich glänzend unterhalten zu haben, nach
Hause.«

Herr von Brinckenwurff begehrte auf.

»Karlchen, wahr' Deine Zunge! Schon neulich hatte ich die Empfindung, Du
legst es darauf an, Dich an mir zu scheuern.«

Der Kleine stieß einen komischen Seufzer aus.

»Da wunderst Du Dich darüber? Wo ich in Deine zukünftige Braut so
unglücklich als nur irgend möglich verliebt bin? Mich tröstet nur eins:
daß Du in Bälde nämlich den geliebten Topp Echtes am Abend entbehren
wirst! Samt den Mikoschwitzen Deines Freundes Tonnchen, die Dir so viel
Vergnügen machen. Dann mußt Du als ein gebändigter Herkules bei Deiner
Omphale sitzen, die Spindel drehen und Heines Buch der Lieder
deklamieren. Ich denke es mir wonnig!«

Herr von Brinckenwurff lachte.

»Entschuldige, Karlchen, daß ich Dich einen Augenblick ernst genommen
habe. Aber das mit dem Herkules am Spinnrocken ist Phantasie. Oder
vielmehr ganz richtig für die ersten paar Wochen. Nachher zieht man
langsam die Kandaren an, lebt wieder, wie es einem paßt. Im ersten Jahre
mault sie. Im zweiten hat sie so einen kleinen Quarrsack in der Wiege,
da begibt sie sich.«

»Sehr richtig! Und -- was ich schon immer fragen wollte -- gibt's Krebse
bei Eurem Verlobungsdiner?«

»Selbstverständlich! Schon seit acht Tagen lasse ich in der ganzen
Umgegend sammeln. Kerle wie Hummern -- pro Nase gibt es mindestens ein
ausgewachsenes Dutzend.«

»Dann komme ich bestimmt. Für Krebse lasse ich mein Leben. Außerdem
aber« -- seine Stimme klang plötzlich scharf -- »interessiert es mich
immerhin, zu sehen, wie einer geborenen Gorski die Kandaren angezogen
werden. Das überlegst Du Dir vielleicht noch! Na, gute Nacht, Hermann,
ich muß jetzt nach rechts ab.«

Er bog in eine Seitenstraße, die zu der dunklen Bahnhofsallee im rechten
Winkel stand. Der Lange rief ihm nach: »Manchmal weiß man wirklich
nicht, was man von Dir halten soll!«

»Beruhige Dich,« rief er zurück, »manchmal weiß ich's auch nicht.«

Die beiden Brüder Gorski schritten der gemeinschaftlichen Wohnung zu,
der ältere sagte mißbilligend: »Du wirst den Hermann Brinckenwurff so
lange anulken, bis er Dir eines Tages an den Hals fährt. Diese Anzapfung
eben war doch zum mindesten höchst überflüssig!«

»Vielleicht nicht so ganz! Im Gegenteil! Wenn ich so sagen darf, für
mich eine Gewissensberuhigung. Neulich sagte ich, ich würde mich als
Pythia frisieren. Mit 'nem Dreifuß. Morgen kaufe ich mir eine große
Schere, reite nach Kalinzinnen, um -- möglicherweise -- einen
Verlobungsfaden abzuschneiden!«

»Karlchen, Du bist verrückt!«

»Ah nein, mein Jungchen, sondern der einzig Vernünftige in der ganzen
Pastete. Zwei Leutchen sind da drin, die aneinander vorbeigehen. Aus
Mißverständnis. Die sollen sich aussprechen dürfen. Was sie nachher tun,
ist ihre Sache. Das bin ich beiden schuldig. Ihr, weil ich mal blöd in
sie verliebt war, dem anderen, weil ich vor einer Stunde ungefähr eine
gewaltige Hochachtung vor ihm gekriegt habe. Fast schon Zuneigung. Und
nicht zuletzt handle ich aus Familiengefühl. Es war schon einmal so ein
Skandal in der Familie Gorski, vor jenen zwanzig oder mehr Jahren. Ich
kenne ihn aus mangelnder Anciennität nur vom Hörensagen, aber ich kann
ihn mir nachträglich vorstellen. Hinterher wird geschossen, die
Leidtragende ist das arme Wurm von Frau, das sich ein paar Jahre zu früh
verheiratet hat. Ehe sie den kennen lernte, der vielleicht besser zu ihr
gepaßt hätte. Der nachher Hausfreund wird, weil der Herr Gemahl seine
Zerstreuung in der Kneipe sucht.«

»Und Hermann von Brinckenwurff? Der uns doch als Jugendfreund
nahesteht?«

Der Kleine hob die Achseln.

»Der andere steht mir näher, seit einer Stunde. Einer mit Irrtümern und
Fehlern vielleicht, aber ein Edelmann! Ich habe beschlossen, mir höhere
Stiefelabsätze zuzulegen, weil er mich seiner Freundschaft würdigte. Um
schon äußerlich diese neue Würde zu dokumentieren. Ich werde auch neue
Visitenkarten drucken lassen, wie jener, dadurch berühmt gewordene Herr
Müller: '=Ami de Beethoven!=' Das gibt immerhin ein gewisses Relief.«

»Karlchen, ich glaube, Du bist betrunken!«

»Möglich, Herr Majoratserbe, möglich. Aber was beweist das? Ich bin
immer der Meinung, die genialsten Einfälle sind im Rausch zustande
gekommen. Im Rausch, wo man mit beschwingter Phantasie aufs Ganze geht,
statt sich an allerhand Kleinkram zu stoßen. Und jetzt lese ich auf
Deinen Lippen das Wort 'Philosoph'. Da irrst Du Dich. Ich bin wirklich
nur betrunken. Und morgen nachmittag reite ich nach Kalinzinnen, erzähl'
der Annemieze, daß sie sich fälschlicherweise geärgert hat wegen einer
ausgeschlagenen Einladung. Dann kann sie hinterher immer noch tun, wozu
sie Lust hat. Den einen nehmen oder den anderen.«

»Karlchen, misch Dich nicht in Dinge, die Dich nichts angehen! Neulich
gabst Du mir doch selbst den Rat, den Daumen nicht in eine Türangel zu
stecken!«

»Das war neulich! Inzwischen aber bin ich zu der Erkenntnis gekommen,
daß es unmöglich das Ideal einer Ehe sein kann, wenn der Gatte
allabendlich in die Stadt fährt, um dickes Bier zu trinken. Stumpfsinnig
dasitzt, bis der Leutnant Uhlenburg einen Witz erzählt, und dann sagt:
'Na prost! Sollst leben, Tonnchen!' Dazu ist mir unser Cousinchen zu
schade!«




9.


Die Augustsonne brannte mit sengenden Strahlen vom Himmel herab, auf den
Roggenfeldern stand der liebe Erntesegen schon in Hocken. Nur der Weizen
war noch zu schneiden und der Hafer, aber Gott allein wußte, ob die
reife Frucht noch im Frieden in die Scheuern kommen würde. Allerhand
wilde Gerüchte schwirrten in der Luft, flogen von Mund zu Mund. Und das
abergläubische Landvolk sah unheilkündende Zeichen. Die Kraniche zogen
früher als in anderen Jahren nach dem Süden, in dem Sternbilde des Bären
stand eine feurige Rute. Mit bloßem Auge war sie noch schwer zu
erkennen, aber sie wuchs und wurde größer wie damals im Kriegsjahre
siebzig.

Da ließen auch die Besonnenen sich hinreißen, und ein dumpfer Zorn
sammelte sich allmählich in der Bevölkerung des Grenzlandes gleich einer
Gewitterwolke. Was sollten diese immer neuen Beunruhigungen von rechts
und links, von denen man in der Zeitung las; konnte man nicht in Frieden
nebeneinander leben? Auch dem Langmütigsten lief einmal die Galle über,
und dann gab es Kleinholz ringsum. Aber wenn schon einmal abgerechnet
werden mußte, dann bald! Damit es endlich Ruhe gab. Den ewigen
Alarmzustand hielt niemand mehr aus.

Die fünfte Schwadron der Ordensburger Dragoner war auf Felddienstübung
nach der Grenze zu. Patrouillen ritten im Vorgelände, brachten Meldungen
von dem weitaus stärkeren Feind, der durch einen Rekognoszierungsvorstoß
zu vorzeitiger Entwicklung gebracht werden sollte. Der Befehl, den der
Führer erhalten hatte, war kurz und entsprach dem Ernstfalle, wie alle
Uebungen, die der Oberstleutnant Harbrecht ansetzte. Fliehende
Landbewohner hatten die Meldung gebracht, daß der Feind über die
Dombrowker Berge im Anmarsch wäre. Rittmeister von Foucar bekam den
Auftrag, seine Stärke und Zusammensetzung zu erkunden. Da traf er nach
kurzer Ueberlegung seine Maßnahmen, ließ die Schwadron antraben.

Während er an der Tête ritt, fuhr es ihm durch den Sinn, daß der jüngere
Leutnant Gorski ihm in der vorgestrigen Nacht eine Art von Versprechen
gegeben hatte. Ein Versprechen, das er am nächsten Morgen wahrscheinlich
schon wieder vergessen hatte. Nichts deutete darauf hin, daß er ihm
vielleicht etwas zu sagen hatte. Gelegenheit dazu wäre reichlich genug
gewesen, als die Schwadron noch auf dem Kasernenhofe hielt. Er brauchte
ja nur zu sagen: »Herr Rittmeister, ich war gestern in Kalinzinnen, habe
Grüße zu bestellen.« Statt dessen hatte er, wie ihm scheinen wollte,
geflissentlich zur Seite gesehen, als er mit fragendem Blick sein Auge
suchte. Und es war schließlich erklärlich. Der Tag hatte ein anderes
Gesicht als die Nacht -- in der Nacht versprach man manches, was man im
hellen Tageslichte nicht halten konnte, weil sich dann die kühlen und
nüchternen Erwägungen einstellten. Das wußte er selbst am besten ...

Die Schwadron hatte den Beldahner Wald hinter sich, das Gelände wurde
übersichtlicher. Im Hintergrunde standen die Dombrowker Berge, eine
kahle Hügelkette, über deren Kamm die Grenze führte. Davor Oedland mit
Wacholderbüschen, links im weiten Bogen eine zwanzigjährige
Kiefernschonung, deren Rand von Infanterie besetzt war. Als die linke
Seitenpatrouille der in Zugkolonne reitenden Schwadron auf dreihundert
Schritt heran war, bekam sie Feuer. Eine Reihe blauer Uniformen tauchte
auf, eine helle Kommandostimme klang klar herüber: »Auf die hinter der
Patrouille anreitende Kavallerie ... Visier achthundert Meter ...
Schnellfeuer ...« Leichte Wölkchen hoben sich am Waldrande, ein
seltsames Knattern war vernehmbar wie das Rasseln einer Maschine.

Gaston hob den Säbel, ließ rechtsum Kehrt schwenken, bis die Schwadron
hinter einer Bodenwelle in Deckung war. Der erste Halbzug saß ab,
eröffnete unter Begleitung von drei Flaggen, die die beigegebene
Infanterie markierten, ein heftiges Feuer, das den Feind zur weiteren
Entwicklung nötigen sollte. Aus einer Schlucht zwischen zwei Hügeln in
der Front quoll Kavallerie, formierte sich in der Vorbereitung zur
Attacke in Linie, auf dem Berge halb rechts zeigten sich gelbe Flaggen.
Zwei Batterien Artillerie stellten sie vor.

Da lachte Gaston kurz auf, es gab Gelegenheit, ein schneidiges
Reiterstücklein auszuführen, das durchaus im Sinne der Uebung lag. Nicht
umsonst hatte er in den vergangenen Wochen das Gelände an der Grenze
durchstreift zu Rade oder im Sattel. Rechts von der Senkung, in der er
hielt, führte eine breite Schlucht, die gedecktes Anreiten gestattete,
in die Flanke der feindlichen Artillerie. Nur dreihundert Schritt
ungefähr waren zum Schluß mit »Marsch, Marsch, Hurra!« zu durchreiten in
offenem Feld, um sie zu überrennen und zu vernichten. Und im Ernstfalle
hätte wohl mehr da oben gestanden als zwei plundrige Batterien, ein
Schlag hätte es werden können, der den ganzen Erfolg des ersten
Vorstoßes zum Scheitern brachte.

Die Meldungen über das bisher Gesehene gingen nach hinten an den dicken
Major von Schnakenburg, der auf dieser Seite die Uebung
»beschiedsrichterte«, wie der respektlose Leutnantsausdruck diese
Tätigkeit nannte. Um die in der Front anreitende Kavallerie kümmerte
sich Gaston nicht. Die machte zunächst 'mal einen »Luftstoß«, weil er
mit seinen hundert Männerchen nämlich nicht mehr da war. Weiter hinten
aber geriet sie in das Feuer der Infanterie, das freilich nur durch
einige geschwenkte Flaggen markiert wurde.

Das Kommando ging durch halblaute Zurufe weiter, die Schwadron trabte an
in Zugkolonne, die Schlucht war breit genug. Sie öffnete sich zu einem
Hange, der zu der Bergkuppe führte. Gaston schwenkte den Säbel, ließ die
Eskadron in Linie aufmarschieren, und dann klangen die Kommandos, die
Trompetensignale schmetterten.

»Zur Attacke Lanzen gefällt ... Marsch, Marsch, Hurra!« ... Wie eine
Windsbraut fegte die Schwadron den sanftgeneigten Hang hinan, der
Artillerie in die Flanke, mächtig erklang das Hurragebrüll aus hundert
rauhen Kehlen. Der Rittmeister von Foucar sprengte auf die Kuppe, winkte
mit dem Säbel in einer Art von Siegerfreude nach dem Tal hinab, zum
Zeichen, daß das verwegene Reiterstücklein gelungen war ...

Von der russischen Seite des Hügels kam ein fremdartig klingendes
Hornsignal, der Boden erdröhnte unter Rossehufen. Gaston wandte den
Kopf, eine Schwadron russischer Dragoner kam in Linie den Hang
hinaufgesprengt, die Lanzen gefällt. Dreißig Schritt vor der Grenze hob
der Führer den Säbel: »=Stoi!=« Die Dragoner fielen in Trab, um in Linie
zu halten. Der linke Flügelunteroffizier des ersten Zuges schien jedoch
die Herrschaft über seinen Gaul verloren zu haben, jagte weiter, über
die Grenze. Der preußische Infanterieunteroffizier, der die Flaggen
kommandierte, ein Koloß von sechs Fuß Größe, warf sich dem Gaul entgegen
und riß ihn am Zügel in die Knie, so daß der Reiter kopfüber aus dem
Sattel flog.

Es war einer jener Augenblicke, in denen den Zuschauern das Blut in den
Adern stillstand. Ein kleiner Funke sprang auf in einer mit Elektrizität
überladenen Atmosphäre. Wenn man ihn nicht mit besonnener Hand dämpfte,
konnte es unabsehbares Unheil geben. Aber es war eine höllische
Schwierigkeit dabei. Man stand in diesem Augenblicke vor dem ganzen
Vaterlande, durfte gerechtem Stolze nichts vergeben.

Der Führer der Grajewoer Dragoner schrie mit zornrotem Kopfe etwas auf
russisch hinüber. Gaston verstand genug, um zu wissen, daß der da drüben
ungestüm und mit wenig gewählten Worten die Freigabe seines auf
feindliches Gebiet geratenen Mannes forderte. Er wandte sich im Sattel,
seine Stimme klang ruhig: »Oberleutnant Gusovius!«

»Herr Rittmeister?«

»Lassen Sie scharf laden!«

»Zu Befehl! ...«

Das war ein Bluff, seine Kerls führten nur Platzpatronen bei sich. Aber
er wirkte. Der Offizier auf der anderen Seite verstummte plötzlich, als
die Karabinerschlösser rasselten.

Gaston ritt hart an die Grenze, salutierte mit dem Degen.

»Herr Kamerad, ich bitte um die Mitteilung Ihrer Wünsche. Nur ich muß
Sie darauf aufmerksam machen, auf deutschem Boden verstehe ich nur
Deutsch!«

Der Russe erwiderte den Salut und sprach mit finsterem Gesicht in dem
harten Dialekt, der in den Ostseeprovinzen gesprochen wurde: »Errsuche
höfflichst, meinen Unteroffizier freizugebben. Sein Gaul ist ein
Durchgänger, er hatte durchaus nicht die Absicht, mit Ihnen auf eigene
Faust Krieg anzufangen.«

Gaston verneigte sich leicht im Sattel.

»Das habe ich nicht einen Augenblick lang befürchtet.« Er rief über die
linke Schulter: »Unteroffizier, geben Sie den Mann wieder frei. Er ist
nur aus Versehen über die Grenze geritten.«

Der baumlange Unteroffizier, der den Russen im Genick hielt, nahm die
Hacken zusammen.

»Zu Befehl, Herr Rittmeister!« Und mit einem gutmütigen Schubs gab er
dem Gefangenen den Kragen frei: »Lauf, kleiner Russ', aber komm mir nich
noch 'mal in die Finger! Sonst nehm' ich Dich unterm Arm nach Hause,
mach' Biefstick aus Dir.«

Die Ordensburger fünfte Schwadron lachte hell auf. Der Führer der
Grajewoer Dragoner bekam einen roten Kopf.

»Herr Kamerad, ich bitte, Ihrem Untergebenen diese Redensarten zu
untersaggen!«

»Herr Kamerad, dazu habe ich nicht die geringste Veranlassung,« war die
kühle Antwort. »Es ist ein Zeichen für die gegenseitige Stimmung. Und
jetzt wären wir wohl fertig?«

»Serr wohl! Bis auf eine Kleinigkeit. Für ein ernsteres Zusammentreffen
möchte ich gerne Ihren Namen wissen. Ich selbst heiße Freiherr von
Heidedorff!«

Gaston mußte unwillkürlich lächeln.

»Mein Name ist Gaston Baron Foucar von Kerdesac.«

Der andere stutzte.

»Franzose?«

»Nein, Deutscher! Auf Wiedersehen, Herr Kamerad.«

Er salutierte und ließ seine Schwadron kehrtmachen, in Zügen den Weg
zurückreiten im Schritt, den sie gekommen war. Und er lächelte noch, als
er schon wieder an der Spitze seiner Truppe ritt.

Der Russe da drüben war von Herkunft ein Deutscher. Ihm selbst floß
französisches Blut in den Adern, und er führte eine deutsche Schwadron.
Im Ernstfalle hätte er sie auch gegen die andere Seite geführt, ohne
Wimperzucken. Gegen das Land, das seine Vorfahren vor hundert Jahren
noch Vaterland genannt hatten. Was war da der Name? Wie man fühlte, war
alles. Und in ernsterem Erwägen sprang ihn die Frage an, weshalb wohl
zwischen den Völkern der alten Welt, die doch so viel Gemeinsames hatten
an Blut und Kultur, diese feindselige Spannung entstanden war. Nur, weil
die Franzosen den Verlust zweier Provinzen nicht verschmerzen konnten,
die sie einstmals doch selbst geraubt hatten? Oder weil das große Raufen
anhub um das letzte Stück Erde, das noch zu verteilen war? Oder weil ein
Wettlaufen begonnen hatte, welche Nation am meisten Baumwolle, Kanonen
und Maschinen verkaufte? Oder weil in dem ewigen Kreislauf des
Geschehens nach dem verschwommenen Weltbürgertum vergangener
Jahrhunderte eine Periode aufkam, voll von Egoismus? Müßig war es,
darüber zu grübeln. Vielleicht lag die Lösung in einer Art von
Eifersucht, welche Nation in Zukunft dazu berufen wäre, der Welt den
Stempel ihres Wesens aufzudrücken. Das war ein hohes Ziel. Nur man
konnte sich vorstellen, daß es auch im Frieden zu erreichen war, ohne
daß Hekatomben von Menschen hingeschlachtet wurden ...

Die Schwadron trabte in der breiten Schlucht zurück, die ihr den
gedeckten Anritt ermöglicht hatte. Karl von Gorski spornte seinen
hochbeinigen Trakehner vor, lenkte ihn neben den Fuchswallach seines
Schwadronschefs. Er zitterte vor Begeisterung.

»Verzeihen, Herr Rittmeister -- es ist gegen alle Kleiderordnung, ich
weiß es, aber ich kann mir nicht helfen, und wenn ich dafür eingesperrt
werde.« Er hob den rechten Arm, rief mit heller Stimme: »Dragoner!
Unser Herr Rittmeister Baron von Foucar, unser Führer für Tod und
Leben ...«

Gaston fuhr dazwischen: »Leutnant von Gorski, sind Sie des Teufels?«
Aber der Kleine ließ sich nicht beirren, schrie weiter: »unser Herr
Rittmeister hurra, hurra, hurra!«

In den staub- und schweißbedeckten Gesichtern wurden die Augen blank,
dreimal rollte der Ruf gleich krachenden Salven durch die Mittagsstille
und brach sich im Widerhall an den Wänden der Talschlucht.

Gaston wollte seinem Leutnant eine energische Strafpredigt halten, aber
auch die anderen Offiziere der Schwadron kamen herzugeritten,
Oberleutnant Gusovius streckte seinem Vorgesetzten in impulsiver
Aufwallung die Hand entgegen.

»Nichts für ungut, Herr Rittmeister, unser Kleiner hat nur das
ausgelöst, was uns allen auf der Seele lag. Es war großartig! Und wir
alle sind stolz darauf, daß wir dabei waren!«

»Na also, dann besten Dank, meine Herren! Sie aber, Herr von Gorski,
möchte ich bitten, Ihrem Temperament in Zukunft ein wenig den Zügel
anzulegen, Selbstverständlichkeiten nicht immer gleich mit Hurra zu
begrüßen.«

Der Kleine machte ein zerknirschtes Gesicht, aber der Schalk blitzte ihm
aus den Augen.

»Sehr wohl, Herr Rittmeister! Sonst käme die fünfte Schwadron
Dragonerregiments Graf Schmettau aus dem Hurraschreien überhaupt nicht
mehr heraus.«

Da mußte auch Gaston auflachen und freute sich herzlich, daß seine Leute
an ihm hingen.

Vom Waldrande her kam der Offiziersruf, auf einem niedrigen Hügel hielt
der Regimentskommandeur zur Kritik. Die Schwadron wurde von dem
Wachtmeister weitergeführt, die Herren setzten ihre Gäule in
beschleunigte Gangart, Karl von Gorski ritt neben seinem Chef.

»Herr Rittmeister, ich bitte um Entschuldigung, aber ich konnte vorhin
wirklich nicht anders! Die Begeisterung hatte mich so gepackt.«

»Ist ja schon erledigt!«

»Gehorsamsten Dank! Und es scheint, ich kann heute überhaupt nicht dicht
halten. Eigentlich nämlich hatte ich mir vorgenommen, auch über 'was
anderes nicht eher zu sprechen, als bis ...«

»Na schon raus damit! Was ist los?«

»Also ich war gestern drüben in Kalinzinnen. Ich habe Grund zu der
Annahme, Herr Rittmeister werden demnächst noch mal eingeladen werden.«

Gaston fühlte, wie es ihm ganz licht und weit wurde in der Brust.

»Wahrhaftig?«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister. Ich habe sogar triftigen Grund!«

»Na, dann schön Dank, Kleiner! Heute mittag trinken wir die beste
Flasche, die im Kasinokeller liegt.«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister! Schon am frühen Morgen, als ich aufstand,
sagte ich zu mir selbst: Karlchen, paß auf! Heute gibt es noch einen
Lichtpunkt in Deinem kümmerlichen Leutnantsleben.«

Der Oberstleutnant Harbrecht hielt mit dem Major vom Stabe, seinem
Adjutanten und einem Hauptmann von der Infanterie auf der Hügelkuppe,
die vom Uebungsfelde heransprengenden Offiziere rangierten sich im
Kreise. Gaston trieb seinen Fuchswallach drei Schritt vor, bat um die
Erlaubnis, eine Meldung abstatten zu dürfen, und berichtete kurz über
den Zwischenfall an der Grenze. Der auf demselben Gelände manövrierenden
russischen Schwadron wäre ein Gaul mit dem Reiter durchgegangen auf
preußisches Gebiet. Er habe geglaubt, aus diesem Versehen keine
Staatsaktion machen zu müssen, und befohlen, den Russen wieder
freizulassen, ohne erst an höherer Stelle um Genehmigung nachzusuchen.

»Hat sich der Herr von drüben gebührend entschuldigt?«

»Er bat höflich, seinen Mann, der ein durchgängerisches Pferd ritte,
wieder freizulassen.«

»Dann ist's gut, danke!«

Gaston ritt wieder in den Kreis, und nun kam eine Kritik wie ein
Hagelwetter. Der Oberstleutnant Harbrecht pflegte kein Blatt vor den
Mund zu nehmen. Zunächst bekam die Infanterie ihr Teil, weil sie sich
durch eine einzige Schwadron Dragoner zu vorzeitiger Demaskierung ihrer
gedeckten Stellung hätte verleiten lassen. Dann aber prasselte es auf
die Führer der zweiten und dritten Schwadron hernieder, daß die beiden
Rittmeister wie zwei begossene Pudel dasaßen. Was die Herren sich wohl
dabei gedacht hätten, als sie aus ihrer Bereitschaftsstellung zum
Angriff übergingen, ohne die Stärke des Feindes auch nur annähernd durch
die in diesem Falle gebotene Nahaufklärung festzustellen? Und den Führer
der zweiten, den Rittmeister von Lüttritz, fragte er noch im besonderen,
weshalb er es wohl verabsäumt hätte, der Artillerie eine ausreichende
Bedeckung beizugeben. Wo er sich doch durch einen einzigen Blick auf die
Karte hätte überzeugen müssen, daß ein kurz entschlossener Führer auf
der Gegenseite nicht lange fackeln würde, der feindlichen
Verteidigungsstellung durch einen schneidigen Vorstoß die Zähne
einzuschlagen.

Dem Oberstleutnant Harbrecht war in gerechtem Zorn der Atem ausgegangen,
er mußte eine kurze Pause machen. Karl von Gorski neigte sich nach
rechts, flüsterte leise: »Du, Hans.«

»Was' los?«

»Ein Jammer, daß die Kommandeure nicht befugt sind, die Todesstrafe zu
verhängen. Wenn die verbrecherischen Rittmeister immer gleich geköppt
würden, würde das die Avancementsverhältnisse der unteren Chargen doch
sehr günstig beeinflussen.«

»Sehr richtig, aber halt den Schnabel, -- jetzt kommen wir an die
Reihe!«

»Aber mit Schlagsahne natürlich ...«

Und die Prophezeiung traf ein. Der Oberstleutnant sang einen wahren
Hymnus auf den Führer der fünften Schwadron. Seine Dispositionen wären
klar und richtig gewesen, der plötzliche Angriff aber auf die
feindliche Artillerie ein Meisterstück kavalleristischer Taktik. Den
günstigen Augenblick wahrnehmen und danach kurz entschlossen handeln,
das machte den echten Reiterführer aus! Und er schilderte, wie sich im
Ernstfalle die Affäre weiter entwickelt hätte. Die Artillerie zum
Schweigen gebracht und überritten, die feindliche Kavallerie im Rücken
gefaßt, zu Krautsalat verhauen ... Nach allem Ungewitter schloß der
Kommandeur mit der humoristischen Wendung, es wäre immerhin ein Trost,
daß die »feindliche Armee« die Niederlage bezogen hätte, nicht aber die
eigene.

Der Kreis löste sich auf, die drei Schwadronen, die an der Uebung
beteiligt gewesen waren, ritten ins Quartier zurück. Die Fünfte, als die
Siegerin, hatte die Ehre, hinter der Regimentsmusik zu reiten, aus
nächster Nähe die aufmunternden, lustigen Weisen zu hören. Und auf dem
Heimwege bekam der Führer der Fünften noch eine neue Ladung von
Lobsprüchen auf sein lorbeergeschmücktes Haupt. Karl von Gorski hatte
dem Etatsmäßigen eine begeisterte Schilderung von dem Zusammentreffen an
der Grenze gegeben, der dicke Major von Schnakenburg übermittelte sie
dem Kommandeur, und dieser setzte sich in Trab, lenkte seinen Gaul neben
den Fuchswallach Gastons.

»Hören Sie mal, lieber Rittmeister, Sie haben mich vorhin ein bißchen
beschwindelt. Der Zwischenfall mit den Russen war bedeutend sengeriger,
als Sie ihn mir in Ihrer Bescheidenheit darzustellen beliebten!«

Gaston lächelte.

»Verzeihung, aber ich konnte doch wohl nicht gut melden: Herr
Oberstleutnant, es ist mir soeben gelungen, den Ausbruch des großen
europäischen Krieges zu verhindern?«

»Na,« meinte der Kommandeur, »wenn auch nicht ganz so doll, aber in dem
Augenblick roch es doch sehr nach Pulver! Die Stimmung ist zum Platzen
gespannt, und es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich
auszumalen, was alles hätte geschehen können, wenn Sie die Angelegenheit
nicht in einer so -- ich möchte sagen -- überlegenen Art und Weise in
Ordnung gebracht hätten!«

Gaston verneigte sich leicht im Sattel, die Hand am Helmrande.

»Gehorsamsten Dank! Es erfüllt mich mit Stolz, daß Herr Oberstleutnant
mit mir zufrieden sind.«

»Papperlapapp, 'zufrieden'! Imponiert hat's mir, wie Sie das gemacht
haben! Das glänzendste war, daß Sie mit Platzpatronen scharf laden
ließen. Ich habe hell aufgelacht, als Major von Schnakenburg mir es eben
schilderte! Und jetzt muß ich Ihnen was erzählen. An dem Tage, als Sie
Ihre Schwadron übernahmen, war ich zufällig mit meinem Töchterchen auf
dem Großen Platz.«

»Ich entsinne mich sehr wohl. Die junge Dame hat mich mit ihren blauen
Guckäugelchen recht scharf gemustert.«

»Ja! Und Sie haben ihr sehr gut gefallen. Als Sie mit Ihrer Schwadron
einige wohlgelungene Bewegungen ausgeführt hatten, sagte sie: 'Papa,
ich glaube, wir haben mit diesem Herrn von Foucar eine glänzende
Akquisition gemacht'. Ich stimmte ihr schon damals zu, aber heute möchte
ich's mit besonderem Nachdrucke wiederholen, daß ich ganz und gar der
Meinung meines Töchterchens bin! Und meinem alten Freund Wegener
dankbar, daß er Sie mir ins Regiment gebracht hat. Na, und inzwischen
habe ich ja auch zu meiner Freude gehört, daß Sie sich aufgemacht haben,
den bisher versäumten Anschluß an die Kameraden zu suchen.«

»Sehr wohl, Herr Oberstleutnant! Aber ich möchte gehorsamst bemerken,
dieses Uebermaß von Lob erdrückt mich. Ich bitte, mich Ihrem Fräulein
Tochter angelegentlichst zu empfehlen und hinzuzufügen, daß ihre so klar
prüfenden Augen mir damals ein ganz besonderer Ansporn waren.«

Der Kommandeur lachte.

»Ne, lieber Foucar, den zweiten Teil richt' ich nicht aus. Das Jöhr ist
sowieso schon verschossen in Sie. Meine gute Alte auch. Und aus ihren
Erzählungen entnehm' ich, noch nie hätte sich die gesamte Weiblichkeit
im Städtchen für einen neu ins Regiment gekommenen Herrn so interessiert
wie für Sie. Sie hätten 'so was an sich ...' Na, ich will Sie nicht noch
eitler machen, wie Sie wahrscheinlich wohl schon sind.«

Gaston erwiderte darauf nichts, er spürte einen leichten Stich im
Herzen. Es hatte wohl seine Richtigkeit, daß die Frauen in ihm etwas
Besonderes sahen. Sonst wäre es doch kaum erklärlich gewesen, daß die da
in Berlin ihm schon nach der ersten flüchtigen Begegnung eine Zuneigung
geschenkt hatte, die sonst vielleicht erst nach längerer Bekanntschaft
zustande kam. Ein anderer an seiner Stelle wäre mit dieser Mitgift
wahrscheinlich ein skrupelloser Don Juan geworden. Er aber war, dank der
Erziehung durch Frauenhand, ein respektvoller Jüngling geblieben, der in
jedem Weibe etwas Heiliges sah. Und mit einer gewissen Bitterkeit mußte
er daran denken, wie anders vielleicht alles gekommen wäre, wenn er in
jener Nacht in dem Ballokal gesagt hätte: »Charmant, gnädige Frau, ich
wohne Rankestraße Numero so und so viel. Falls Sie mir dort gelegentlich
einmal Ihr Herz ausschütten wollen, stehe ich Ihnen gerne zur
Verfügung.« Das wäre der richtige Ton gewesen für diese frivole
Gesellschaft. Statt dessen war er gleich mit dem schweren Geschütz eines
veritablen Heiratsantrages herausgerückt. Lächerlich war das gewesen!
Und noch lächerlicher, daß er hinterher die ganze Angelegenheit so
tragisch genommen hatte, daß er darüber sein wirkliches Glück
verscherzte. Aber, Gott sei Dank, noch winkte ja ein Hoffnungsstrahl
nach der finsteren Nacht der Verzweiflung. Und den gedachte er am Zipfel
zu fassen, sich draufzuschwingen, wie das Schneiderlein im Märchen, das
auf einem feinen Lichtfaden in den Himmel kletterte.

Der Regimentskommandeur an seiner Seite traktierte schon eine Weile lang
ernsthafte Angelegenheiten. Daß die Augen- und Ohrenzeugen der
Grenzaffäre nachher auf dem Regimentsbureau zusammenzukommen hätten, um
über den Vorgang ein genaues Protokoll aufzunehmen. Für den Fall, daß
die Sache auf irgend einem Wege in die Zeitungen käme. Man wüßte ja, wie
es in solchen Fällen zuginge. Die Kerls erzählten den Vorfall in der
Kneipe, zwei Tage später stände er, in entstellter Form und auf dem
Umwege über das Ordensburger Blättchen, in den Berliner Zeitungen. Da
gälte es, der Brigade rechtzeitig einen Bericht einzureichen, der ihr
gestattete, erforderlichen Falles mit einem Dementi aufzuwarten.

Und dann kam der Kommandeur auf sein Steckenpferd, den zukünftigen
Feldzug zwischen, gleichermaßen mit allen Errungenschaften der Neuzeit
ausgestatteten Nationen. Grauenhaft müßte der werden -- von der Zeit, in
der er den Russisch-Japanischen Krieg als Attaché mitgemacht hätte,
wüßte er ein Lied davon zu singen! Das Schlachtfeld von einer
unheimlichen Leere, nur die Shrapnells schwirrten in der Luft auf
ausgerechnete Ziele. Und die beiden Heere buddelten sich gleich
Maulwürfen aneinander heran. Zur Nachtzeit überfiel man sich
gegenseitig, wie im Dunkeln schleichende Mörder gingen die Truppen
aufeinander los, statt wie ehrliche Kämpfer im Tageslicht.
Drahthindernisse mußte man zerschneiden, Wolfsgruben überklettern, und
dann gab's ein Ringen in stockfinstrer Nacht, Mann gegen Mann mit
Bajonett und Kolben. Gott allein mochte wissen, wie die Taktik in
zwanzig Jahren aussah, wenn die Vervollkommnung der Kriegswaffen, die
einen Angriff auf gedeckt liegende Infanterie bei Tage schon jetzt fast
unmöglich machte, so weiter ging.

So sprach der Kommandeur, der neben ihm reitende Untergebene hörte
respektvoll zu, aber seine Gedanken waren ganz wo anders. Bei einer,
nach der er sich all diese Wochen in Sehnsucht verzehrt hatte, und die
er jetzt in gemessener Frist wiedersehen sollte. Die ihm zugesagte
nochmalige Einladung war eine Verheißung besonderer Art, da mußte er
sich mit einigem auseinandersetzen, ehe er sie annahm. Und da quoll ein
Gefühl -- wie ihm scheinen wollte -- gesunder Selbstsucht in ihm empor.

Sollte er sein ganzes Leben in Sack und Asche vertrauern, weil eine
unglückliche Frau sich an ihn gehängt hatte? Mit einer Leidenschaft, die
er nicht erwidern konnte? Zum Teufel noch mal, er hatte sie nicht
eingeladen, sich in ihn zu verlieben! Und von dem Wort, das er ihr
gegeben, hatte er sich zweimal gelöst. Damit sollte sie sich abfinden,
wie mit manchem anderen in ihrem bewegten Leben.

Eine Art von Haß stieg in ihm auf. Ohne seine pinselige
Gewissenhaftigkeit hätte er schon seit Wochen vielleicht ein anderes
Leben führen können. Ein Leben, bei dem man fröhlich war mit den
Fröhlichen, wie ein rechter Reitersmann, der sich um das Gestern nicht
quälte und um das Morgen. Und, wenn er schon beim Anreiten gegen den
Feind sein Herz beschwerte, auch wußte, weshalb. Weil daheim im Quartier
eine zurückblieb, um derenwillen er gerne heil wiedergekommen wäre. Eine
Reine und Feine, von der er genau wußte, daß sie in ihrer Vergangenheit
nichts zu verstecken hatte.

Die Schwadronen, die an der Uebung teilgenommen hatten, zogen mit
klingendem Spiel zum Städtchen hinein, auf dem Kasernenhofe wurden sie
vom Kommandeur entlassen. Die Offiziere der Fünften ersuchte er, in die
Regimentskanzlei zu kommen, um dort, noch unter dem frischen Eindruck,
alle Einzelheiten des Zusammentreffens mit den russischen Dragonern
festzustellen, in einem für die Brigade bestimmten schriftlichen
Berichte niederzulegen. Und da ergab es sich, daß Karl von Gorski, weil
er auf dem Heimwege den Vorgang wohl ein halb Dutzend Male mit
Begeisterung erzählt hatte, am besten Bescheid wußte, sich noch jedes
einzelnen Wortes entsann, das von hüben und drüben gewechselt worden
war. Da übertrug der Kommandeur ihm die Abfassung des Berichtes, wie er
mit einem Lächeln hinzufügte, zur Belohnung für den bei der Affäre
bewiesenen Eifer.

Erst als die anderen Herren schon die Treppe hinabgingen mit klappernden
Säbeln, dämmerte dem Kleinen eine Ahnung, daß er diesmal der
Hereingefallene war. Mit einem wahren Dreimännerdurst in heißer
Schreibstube an einem ellenlangen Bericht bauen mußte, während sein
Bruder Hans mit dem Oberleutnant Gusovius in der schattigen Laube des
Kasinogartens jetzt schon das erste Glas Bayrisch über die ausgedörrte
Zunge rinnen ließ. Da verschwor er sich heftig, niemals mehr wieder
vorwitzig mit Kenntnissen zu prunken, deren Anerkennung von seiten der
Vorgesetzten ehrenvoll war, aber mit vermehrter Arbeit verbunden.

Als Gaston durch die schattenlose Hauptstraße ritt, den Burschen hinter
sich, winkte von einem mit Blumen bestandenen Balkon ein Batisttüchlein,
eine helle Frauenstimme rief: »He, Herr von Foucar!«

Er hob den Kopf, Frau von Lüttritz, die jugendliche Gattin des
Kommandeurs der zweiten Schwadron, stand zwischen blühenden Geranien,
lachte ihn fröhlich an. Da ritt er näher: »Gnädige Frau befehlen?«

»Sie möchten mal zu meinem Mann 'raufkommen! Er probiert gerade ein
neues Erfrischungsgetränk, das ich heute erst aus Königsberg bekommen
habe. Melonenextrakt mit eisgekühltem Selter und einem leichten Schuß
Kognak. Davon will er Ihnen großmütig 'was abgeben, trotzdem Sie ihn in
den Dombrowker Bergen so greulich besiegt haben!«

Er rief zurück: »Gnädige Frau, mir läuft das Wasser im Munde zusammen,
aber ich muß leider nach Hause. Ich erwarte eine Nachricht, von der für
mich allerlei abhängt. Außerdem bin ich in einem absolut nicht
präsentablen Zustande ... einen halben Zentimeter Chausseestaub
innerlich und äußerlich.«

»Glauben Sie, mein Mann sieht anders aus? Und manchmal erfährt man schon
unterwegs mündlich, was man erst zu Hause schriftlich zu finden hofft!«

Da lachte er und schwang sich aus dem Sattel und stieg mit froher
Erwartung im Herzen die Treppe empor.

In dem behaglichen Wohnzimmer, dessen Fenster zur Abwehr der draußen
herrschenden Hitze durch dicke Vorhänge verdunkelt waren, empfing ihn
das Ehepaar Lüttritz. Eine junge Dame, die mit dem Rücken zum Fenster
gesessen hatte, stand auf und kam näher. Ihr Gesicht konnte er nicht
erkennen, denn seine Augen waren noch vom hellen Sonnenlicht geblendet
und mußten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Aber er spürte im
Herzen, wer da auf ihn zukam.

Frau von Lüttritz sagte lächelnd: »Die Herrschaften sind sich wohl nicht
mehr fremd. Fräulein von Gorski hatte im Städtchen zu tun und war so
liebenswürdig, mich zu besuchen.«

Gaston verneigte sich schweigend. Eine seltsame Beklommenheit hatte ihn
plötzlich überfallen, wie vor einer kommenden Entscheidung. Annemarie
streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Stimme klang ein wenig unsicher.

»O ja, ich entsinne mich. Ich kam damals mit Papa aus der Königsberger
Klinik.«

Er wollte ihre Hand an die Lippen ziehen, sie aber wehrte ab, und eine
feine Röte stieg in ihren Wangen empor.

Frau von Lüttritz mischte mit Eifer und Sachverständnis das kühlende
Getränk, ihr Gatte, ein gutmütiger, dicker Herr mit blondem,
kurzgestutztem Barte, sah ihr interessiert zu.

»Nimm nicht so viel von dem teuren Kognak rein, Lottchen! Nachdem er
mich schon militärisch geschädigt hat, der brave Foucar, ist es doch
nicht nötig, daß er mich jetzt arm macht.«

Man setzte sich lachend um den Tisch herum, das Gespräch wandte sich den
Ereignissen des Vormittags zu. Und der Rittmeister von Lüttritz bekannte
ehrlich, er wäre heilfroh, nicht an der Stelle seines Kameraden Foucar
gewesen zu sein. Er hätte den ersten zornigen Zuruf des russischen
Schwadronschefs wahrscheinlich mit einer hahnebüchenen Grobheit
beantwortet, und der Ramsch wäre fertig gewesen! Und da Annemarie noch
nicht wußte, um was es sich handelte, schilderte er den Zusammenstoß an
der Grenze, wie er ihm von dem jüngeren Gorski auf dem Heimwege erzählt
worden war. Er wurde ordentlich lebhaft dabei und schloß mit der
neidlosen Anerkennung, er hätte eine so elegante Abfuhr nicht fertig
gekriegt mit seinem schwerfälligen Temperament. Dazu gehörte doch wohl
ein Tröpfchen von dem Blute derer, die gewöhnt wären, das leichte
Florett zu führen statt des schweren Säbels.

Die Damen hatten mit glänzenden Augen zugehört. Gaston verwahrte sich
dagegen, daß man aus einer Unbeträchtlichkeit eine Heldentat machte,
aber sein Protest klang nicht mehr so echt wie noch wenige Stunden
zuvor, als er den kleinen Gorski anschrie. Nun, wer an seiner Stelle
hätte wohl anders gehandelt, wenn vor der heimlich Geliebten sein
Loblied gesungen wurde?

Frau von Lüttritz wurde plötzlich ins Kinderzimmer abgerufen. Sie warf
im Abgehen dem Gatten einen Blick zu. Da entsann sich dieser mit einem
Male, er hätte der im Nebenzimmer wartenden Ordonnanz ein paar eilige
Unterschriften zu geben, und entschuldigte sich mit der Versicherung, er
komme sofort wieder zurück. Gaston merkte, daß freundliche Hände ihm die
Gelegenheit zu einer Aussprache bereitet hatten, und da gab er sich
einen Ruck. Wer mochte wissen, wie lange die Zeit des Alleinseins
dauerte, und dann war der günstige Augenblick verpaßt. Nur, als er zu
sprechen begann, klang seine Stimme heiser vor Erregung.

»Mein gnädiges Fräulein, Sie werden sich gewundert haben, daß ich Ihrer
so freundlichen Einladung bisher nicht gefolgt bin. Das hatte seine
Gründe. Ich schleppte etwas mit mir herum, wovon ich mich erst später
freigemacht habe. Damit wollte ich Ihnen nicht unter die Augen treten.
Ich erschien mir zu unwürdig. Ehe ich aber weiter spreche, müssen Sie
die Güte haben, mir eine kurze Frage zu beantworten. Mir ist erzählt
worden, Sie würden sich demnächst verloben. Ist das wahr?«

Annemarie saß verwirrt da, die Wangen mit Blut übergossen. Sie selbst
hatte ihre Freundin Lüttritz gebeten, den Herrn von Foucar anzurufen,
wenn er vorüberreiten würde, weil sie ihm etwas zu sagen hätte. Jetzt
aber war sie erschreckt von dem Ungestüm, mit dem er auf sein Ziel
losging. Und es dauerte ein Weilchen, bis sie die Antwort fand.

»Nein,« sagte sie leise, »ich habe ihm geschrieben, er dürfte sich keine
Hoffnungen mehr machen. Er würde selbst am besten wissen, weshalb nicht
mehr. Also ich werde mich nicht verloben.«

Da überflutete ihn das Glück, machte ihn übermütig und froh. Er lachte
auf.

»Das wollen wir denn doch nicht verreden! Ich rechne sogar sehr stark
darauf, aber mit mir!« Und als sie ihr Gesicht noch tiefer senkte, griff
er nach ihrer Hand.

»Fräulein Annemarie, das ist wie heute vormittag, wenn der Augenblick da
ist, muß man nicht zaudern, sondern handeln. Seit dem ersten Tage, wo
ich Sie gesehen habe, bin ich krank vor Sehnsucht, und daß ich Ihnen
auch nicht gleichgültig bin -- also sonst wären Sie doch nicht hier! Na
und jetzt ...« Ob er sie nun an der Hand in die Höhe gezogen hatte, oder
ob sie aus eigenem Antrieb aufgestanden war, wußten sie später nicht zu
sagen. Das war wohl ganz von selbst gekommen, daß sie mit einem Male in
seinen Armen lag.

So standen sie eine ganze Weile lang, wie in eine ferne Welt entrückt,
in der lauter Glück herrschte und Seligkeit. Küßten sich stumm und
freuten sich, daß sie zueinander gefunden hatten, als es noch Zeit war.
Und dann saßen sie wieder auf ihren Stühlen, schwatzten törichtes Zeug,
wie es alle Verliebten taten seit Anbeginn der Welt.

Frau von Lüttritz kam wieder ins Zimmer und schlug in komischem
Erstaunen die Hände zusammen.

»Um Gottes willen, Annemieze, wie siehst Du aus! Im Gesicht ganz bemalt
und die Bluse voll Flecken. Ich hatte mir's gleich gedacht, Du hättest
zu der Unterredung mit dem bestaubten Reitersmann 'was Helleres anziehen
sollen.«

Da warf Annemarie sich ihr mit Lachen und Weinen in die Arme: »O Gott,
Lottchen, das ist ja ein ganz schrecklicher Mensch! Meinst Du, er hätte
mich gefragt? Er nahm mich einfach in seine Arme.«

Frau von Lüttritz klopfte ihr den Rücken. »Aber es war Dir nicht
unangenehm! Das ist die Hauptsache. Na, ich gratuliere herzlich.«

Der Hausherr kam aus dem Nebenzimmer, merkwürdigerweise mit einer
eisgekühlten Flasche Sekt in der Linken, während hinter ihm der Bursche
ein Tablett mit vier Gläsern trug. Es folgte eine frohe Viertelstunde,
in der man an nichts anderes dachte als an das Glück des Augenblicks.
Der Rittmeister von Lüttritz hob sein Glas.

»Na prost, junges Brautpaar, von Herzen alles Gute! Jetzt fange ich auch
an, vor Ihren strategischen Talenten Respekt zu kriegen, lieber Foucar.
Das war eben noch fixer als die Eroberung der beiden Batterien. Aber
jetzt würde ich an Ihrer Stelle 'was opfern, wie der hochselige König
Polykrates. So viel Glück an einem Tag war ja noch nicht da.«

Die Gläser klangen aneinander, draußen auf dem Vorplatze schrillte die
Türglocke. Unwillkürlich horchten die Vier im Zimmer auf. Eine barsche
Stimme war zu hören: »Ist Fräulein von Gorski bei Ihnen?«

»Ich weiß nich, Herr Leutnant,« antwortete der Bursche, »ich muß mal
erst fragen.«

»Um Gottes willen,« sagte Annemarie halblaut, »sein Bruder! Er kommt,
mich zur Rede zu stellen.«

Herr von Lüttritz kratzte sich den Kopf.

»Ich hab's vielleicht beschrien. Der Ernst des Lebens meldet sich! Und
was macht man da bloß?«

Gaston richtete sich auf.

»Wenn Sie _mir_ gestatten würden, lieber Lüttritz, den Leutnant von
Brinckenwurff in Ihrem Arbeitszimmer zu empfangen?«

»Nicht um alle Länder, die das Meer umspült. Sie kennen ihn nicht so gut
wie ich. Der riskiert Kopf und Kragen, wenn er sich 'was auf die Hörner
genommen hat. Sie können sich nicht vorstellen, was das Festlein, das
wir eben feierten -- also was für einen Affront das für die Familie
Brinckenwurff bedeutet. Da muß die Angelegenheit diplomatisch behandelt
werden!«

Während die beiden Herren noch sprachen, war der Bursche ins Zimmer
gekommen und hatte gefragt, welchen Bescheid er dem draußen wartenden
Herrn von Brinckenwurff ausrichten solle. Annemarie warf den Kopf
zurück, ihre feinen Nasenflügel bebten vor Erregung, aber ihre Stimme
klang frei: »Erlaubst Du, liebes Lottchen? Dann sagen Sie dem Herrn
Leutnant, ich bin hier!«

Ein baumlanger Offizier trat auf die Schwelle, in dem bartlosen, fast
noch knabenhaften Gesicht stand eiserne Entschlossenheit. Er verneigte
sich in gemessener Haltung.

»Gnädige Frau -- Herr Rittmeister ... ich bitte um Entschuldigung, wenn
ich störe ... mein Bruder sitzt in meiner Wohnung, ganz niedergebrochen
und zerschmettert ... bei dem nahen Freundschaftsverhältnis, in dem Sie
zu Fräulein von Gorski stehen, werden Sie wohl schon wissen, weshalb.
Und da werden Sie es mir vielleicht nachsehen, daß ich hier so formlos
eingedrungen bin. Ich bitte um die Erlaubnis, Fräulein von Gorski unter
vier Augen sprechen zu dürfen.«

Annemarie war zu Gaston getreten. Sie hob den Kopf, aus ihren blauen
Augen sprühte heller Zorn.

»Hat Dein Bruder Hermann nicht meinen Brief bekommen?«

»Allerdings. Aber wäre es nicht besser, wenn wir die Erörterung
darüber ...«

»Ich habe vor keinem Menschen 'was zu verbergen. Und meinem Brief nichts
hinzuzufügen. Er war doch deutlich genug?«

»Nicht ganz. Es fehlte jeder vernünftige Grund. Auf ein paar unbewiesene
Klatschereien hin oder aus einer augenblicklichen Laune macht man einen
anständigen Menschen doch hier nicht vor aller Welt zum Kindergespött.«

Annemarie lachte bitter auf.

»Ach, darum geht es Euch? Und 'Laune' nennst Du das, wenn ich mich
nächtelang gewunden habe vor Qual und Scham? Als ich die Wahrheit
erfahren hatte ... Und jetzt sag' Deinem Bruder, es ist vorbei. Ich habe
mich eben mit Herrn von Foucar verlobt. Weil ich ihn achte und liebe.
Deinen Bruder aber ...«

Frau von Lüttritz schrie auf.

»Um Gottes willen, Kind, bedenk', was Du sprichst!«

Annemarie biß einen Augenblick lang die Zähne aufeinander, dann machte
sie eine heftige Bewegung.

»Er hätte mich nicht herausfordern sollen!« Und vor Erregung bebend
wandte sie sich zu dem jungen Offizier.

»Grüß' Deinen Bruder, die Annemarie von Gorski läßt sich keine Kandaren
anlegen! Und er soll seinem Schöpfer danken, daß ich ihn nur verachte.
Wenn ich ihn lieb gehabt hätte, hätte ich ihn mit der Reitpeitsche vom
Hofe gejagt für den Schimpf, den er mir angetan hat. Während er bei mir
um das Jawort bettelte, dachte er an eine andere. Und an was für eine!
An eine, zu der man im Dunkeln schleicht, und der hat er dasselbe
geschworen wie mir.«

Die Stimme brach ihr, sie tastete mit der Hand rückwärts. Gaston trat
hinzu und fing sie auf.

Der jüngere Brinckenwurff zuckte mit den Achseln. Sein Gesicht blieb
ruhig, nur die Stimme flatterte ihm ein wenig.

»Das sind unbewiesene Klatschereien, ich wiederhole es nachdrücklich.
Mit Dir, Annemarie, kann sich mein Bruder jetzt wohl nicht mehr
auseinandersetzen. Aber es sind ja andere vorhanden, die Deine Worte
vertreten werden.«

Gaston hob die Hand.

»Das letzte war überflüssig, Herr von Brinckenwurff. Es dürfte sich
empfehlen, daß Sie meiner Braut weitere Betrachtungen über die
Empfindungen Ihres Herrn Bruders ersparen. Wir beide werden uns an
anderem Orte aussprechen.«

Der Lange klappte die sporenbewehrten Absätze zusammen.

»Sehr wohl, Herr Rittmeister! Darf ich fragen, wann Herr Rittmeister
heute nachmittag für den Beauftragten meines Bruders zu sprechen sein
werden?«

»Zwischen fünf und sechs. Bis dahin habe ich Dienst!«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister. Gnädige Frau, ich bin todunglücklich, daß
ich in Ihr friedliches Haus eine solche Aufregung gebracht habe -- es
war nicht meine Schuld. Empfehle mich ganz gehorsamst.«

Er schloß hinter sich die Tür, Annemarie lehnte mit geschlossenen Augen
an der Brust ihres Verlobten, die beiden anderen in dem halbdunklen
Zimmer standen schweigend. Wie ein aus heiterem Himmel plötzlich
hereinbrechendes Gewitter war das eben gekommen ...

Nach einem kleinen Weilchen kratzte Herr von Lüttritz sich den Kopf:
»Verflucht, verflucht! Wenn man das hätte voraussehen können.«

Seine Gattin fuhr auf.

»Ah nein! Das alles ist doch Unsinn! Wohin sollen wir denn kommen, wenn
ein junges Mädchen sich nicht mehr frei entschließen kann, ohne daß der
abgewiesene Freier sofort mit der Pistole herumfuchtelt? Aber wir stehen
und schwatzen, und das arme Mädel kommt nicht wieder zu sich.« Frau von
Lüttritz eilte hinaus und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Flasche
Kölnischen Wassers zurück. Gaston hatte die immer noch Bewußtlose zum
nächsten Stuhle getragen, erst unter den Bemühungen der Frau von
Lüttritz kam sie wieder zu sich. Aber es dauerte eine Weile, bis sie
sich entsann, was eben geschehen war. Da entschuldigte sie sich bei
ihrer Freundin wegen der Ungelegenheiten, die sie ihr bereitete. Sonst
wäre es nicht ihre Art, gleich einem nervösen Pensionsfräulein in
Ohnmacht zu fallen. Und mit einem matten Lächeln fügte sie hinzu, das
läge wohl daran, daß sie in den letzten vierundzwanzig Stunden vor
Zorn, Aufregung und Bangen keinen Bissen über die Lippen gebracht hätte.

Herr von Lüttritz lachte geräuschvoll auf, bedeutete dem neben ihm
stehenden Rittmeister von Foucar durch einen heimlichen Rippenstoß das
gleiche zu tun.

»Ha ha, ja natürlich ... und dann auf den nüchternen Magen 'ne Verlobung
... zu komisch ist das! Na dann, Lottchen, sorg dafür, daß unsere kleine
Freundin 'was zu essen kriegt. Wir aber, lieber Foucar, lassen die
beiden Damen wohl jetzt allein. Vielleicht holen Sie Ihr Fräulein Braut
in einer Stunde ab, um mit ihr nach Kalinzinnen zu fahren. Zu dem
zunächst ergrimmten, dann aber in Rührung zerschmelzenden Herrn
Schwiegerpapa.«

Annemarie streckte ihrem Verlobten die Hand entgegen. »Es wird nicht so
schlimm werden -- dazu hat er mich viel zu lieb.« Herr und Frau von
Lüttritz hatten sich diskret abgewandt, da stand sie auf, bot Gaston
ohne Zieren die Lippen. Dann aber raunte sie an seinem Ohr: »Verzeih',
daß ich mich vorhin so fortreißen ließ! Es war viel Angst dabei, sie
könnten uns wieder auseinander bringen. Und weißt Du, wann ich mich in
Dich verliebt habe? Als Du mir in der Eisenbahn damals das Buch
aufhobst. Deine lieben blauen Augen hatten es mir angetan.«

Er nahm sich gewaltsam zusammen, obwohl es ihn wie ein körperlicher
Schmerz durchzuckte. Diese selben Worte hatte vor langen Wochen eine
andere gesprochen. Oder geschrieben, das wußte er nicht mehr genau.
Aber mit diesen sentimentalen Erinnerungen mußte es endlich aus sein.
Er war doch kein Verbrecher, dem bei jeder Gelegenheit das Gewissen
schlagen mußte.

Herr von Lüttritz hatte seinen Gast bis auf die Straße hinausbegleitet.

»Gott sei Dank,« sagte er, »Fräulein von Gorski scheint es gar nicht
gehört zu haben, daß der ältere Brinckenwurff Ihnen ans Leder will. Und
es ist gut so, daß sie sich nicht unnütz beunruhigt. Mein liebes
Lottchen hat mir vorhin den Denkapparat geschärft. In diesem Falle wäre
es wirklich Unsinn, wenn Sie sich ihm stellen wollten. Sie können doch
-- weiß Gott -- nichts dafür, daß Herr von Brinckenwurff sich bei
Fräulein von Gorski einen Korb geholt hat. Also werde ich mir meinen
besten Frack anziehen und zum Kommandeur steigen. Ich schätze, er wird
danach Gelegenheit nehmen, den eigentlich törichten Konflikt im Keim zu
ersticken.«

Gaston hob den Kopf.

»Heißen Dank, lieber Lüttritz, für die gute Absicht, aber ich möchte Sie
bitten, diesen Besuch zu unterlassen. Die zukünftige Baronin Foucar von
Kerdesac hat sich das Vergnügen gemacht, einen Lästigen temperamentvoll
in seine Schranken zu weisen. Mir steht es nicht zu, daran Kritik zu
üben. Es hat ihr so beliebt, und ich habe nichts weiter zu tun, als für
die Folgen einzutreten!«

»Donnerwetter noch mal,« sagte der dicke Rittmeister in ehrlicher
Bewunderung, »ein Standpunkt! Ein bißchen =Ancien régime= ... aber ihr mit
dem französischen Blut: Immer noch '=mon coeur aux dames='!«

»Ja,« erwiderte Gaston, »das ist ein Teil aus dem Wappenspruch der
Foucar. Jedenfalls werde ich Sie bitten, mir bei der kommenden
Auseinandersetzung als Sekundant zur Seite zu stehen.«

»Aber mit Vergnügen! Dem Ehrenrat werden wir dann sagen, es hätten so
triftige Gründe vorgelegen, na und so weiter, =et cetera p. p.=«

»Selbstverständlich!«

Der Bursche, der mit den beiden Gäulen im Schatten des Torwegs auf die
Wiederkehr seines Herrn gewartet hatte, kam herbei, Gaston schwang sich
in den Sattel.

»Na dann, heißen Dank, lieber Lüttritz, für all Ihre Liebenswürdigkeit
und auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

Gaston ritt zum Städtchen hinaus seinem kleinen Häuschen zu, das
inmitten eines großen Obstgartens eine Strecke weit vor dem Tore lag. So
recht heimlich und abgeschlossen. Wenn man sich darin einspann mit
seinen Gedanken, war man allein wie auf einer Insel.

Die Eisen seines Irländers klapperten auf dem holperigen Steinpflaster,
ganz unversehens flog ihn eine Erinnerung an. An die Szene, die ihm vor
Wochen die alte Hexe gemacht hatte in seiner Wohnung in der Rankestraße.
Allerhand Drohungen hatte sie ausgestoßen, wenn er Josepha die Treue
bräche. Darüber lachte er natürlich, heute wie damals. Was sollte sie
ihm anhaben? Das Unheil kam schon ganz von selbst, aber von anderer
Seite. Das liebe blonde Mädel war ein wenig zu temperamentvoll gewesen.
Und er hatte für sie einzutreten, denn sie war seine Braut. Nur er
hätte sich für solche Fälle eifriger im Pistolenschießen üben sollen.
Darin war er kein sonderlicher Held ... genau wie sein Vater damals, als
er für die hohe Dame eintrat, deren Kavalier er war ...

Das Häuschen, das der pensionierte Kanzleibeamte auf der anderen
Straßenseite erbaute, war schon halb fertig. Ueber den unverputzten
Ziegelmauern hoben sich die Dachsparren, eine Richtkrone hing am Giebel.
Der Besitzer stand am Zaun und dienerte mit abgenommener Mütze. Während
Gaston die Rechte dankend an den Helmrand hob, glaubte er in einer der
noch unverglasten Fensteröffnungen ein gelbes Frauenantlitz zu
erblicken, mit einem bunten Kopftuch darüber. Ein eiskalter Schauder
flog ihm über den Rücken in der Glut des Spätsommertages, aber das lag
bloß an seinen überreizten Nerven. Bunte Kopftücher wurden von fast
allen masurischen Bauernweibern getragen. Nur die Art des Bindens war
eine andere, aber darin hatte er sich vielleicht getäuscht. Als er
schärfer hinblickte, war das gelbe Gesicht in der Fensteröffnung da
drüben verschwunden.




10.


Der alte Herr von Gorski auf Kalinzinnen hielt neben einem gewaltigen
Getreidestoggen auf freiem Felde, der langsam in den Rachen einer mit
Dampf betriebenen Dreschmaschine wanderte. Oben fielen die
körnerbeschwerten Garben hinein, die kleinen Hämmer rasselten und
trommelten. In einem einzigen Strom rieselte der grauglänzende
Erntesegen in die bereitstehenden Säcke, die Spreu türmte sich zu
Haufen, und die leergedroschenen Bunde wanderten auf einem Riemengang
zur Seite, um von zulangenden Händen zu einem neuen Stoggen getürmt zu
werden.

Das nach dem alten Preußengotte Perkuhn benannte Leibroß, ein Gaul von
der Größe und Stärke eines Kürassierpaukenpferdes, stand ruhig unter der
schweren Last seines Herrn. Nur von Zeit zu Zeit prustete es schnaubend,
wenn ihm die feinen Getreidespelzen, die der Luftzug von der Maschine
herüberbrachte, in die Nüstern fuhren.

Herr von Gorski sah auf den rieselnden Strom der Roggenkörner, aber er
hatte an dem über alles Erwarten reichlich ausfallenden Segen keine
rechte Freude. Wie lange mochte es noch dauern, so erwog er in sorgenden
Gedanken, daß auf diesem Boden hier in Frieden gesät und geerntet wurde?
Die Sturmzeichen mehrten sich. Von dem Vorstande seiner Partei hatte er
die vertrauliche Mitteilung empfangen, die Regierung bereite eine
Heeresverstärkung vor, die an die Opferwilligkeit des ohnedies mit
Steuern überlasteten Volkes bisher unerhörte Anforderungen stellen
würde. Und es gälte, die Vertrauensmänner im Kreise zu überzeugen, daß
diese Verstärkung nichts anderes wäre als die notgedrungene Antwort auf
im Kommen begriffene Rüstungen der Nachbarn. Vielleicht, daß es dadurch
gelänge, den Zusammenstoß noch um einige Zeit hinauszuschieben. Und das
verdroß den alten Herrn, dem von den reisigen Vorfahren her streitbares
Blut in den Adern floß. Viel würdiger wäre es ihm erschienen und
zugleich richtiger, wenn der Michel mit der starken Faust auf den Schild
gehauen hätte: »Hier heran, so Ihr was von mir wollt! ... Krieg? ... Ist
mir recht! Lieber als diesen faulen Frieden, an dem wir uns langsam
verbluten. Und dieses heimliche Spinnen im Dunkeln wird auf die Dauer
unerträglich!«

Und von den Sorgen um die leidige Politik kam der alte Herr zu denen im
eigenen Hause ... In vierzehn Tagen sollte seine Tochter sich dem Manne
verloben, den er ihr schon vor langer Zeit ausgesucht hatte. Weil er ihn
für tüchtig hielt und an seiner Seite das geliebte Kind nicht zu
entbehren brauchte. Da drüben hinter dem blauen Streif des Waldes hob
sich der alte Turm des Schlosses Orlowen. Zweimal am Tage konnte er
hinüberreiten, wenn ihn die Sehnsucht trieb, die Sehnsucht nach dem
lieben blonden Mädel, das in seinem einsamen Herzen ein Sonnenstrahl
gewesen war. Der zukünftige Bräutigam konnte den Tag kaum erwarten, an
dem er endlich das Jawort erhielt. Sie aber entzog sich ihm, so oft sie
nur konnte. Ging mit verschlossenem und verhärmtem Gesicht herum, als
trüge sie an einem geheimen Kummer, und gab auf besorgte Fragen
ausweichende Antworten.

Ein paar Tage nach der Rückkehr aus der Königsberger Klinik hatte es
damit angefangen. Vorher war sie ein lustiges und unbekümmertes Mädel
gewesen, hatte an seinem mehr langweiligen als schmerzhaften Lager
geplaudert wie ein Starmatz, vorgelesen und gesungen, um ihm die Zeit zu
kürzen, alles in überquellender Laune und Lebensfreudigkeit. Ordentlich
hell wurde es jedesmal in dem nüchternen Zimmer, wenn sie hereinkam, und
jetzt ging sie herum wie ein Schatten von dem, was sie früher gewesen
war. Da forschte er natürlich nach der Ursache dieser Veränderung, aber
der Verdacht, den er zuerst gefaßt hatte, bestätigte sich, Gott sei
Dank, nicht. Aus dem interessanten und so vielbesprochenen Herrn von
Foucar, den sie auf der Reise damals kennen gelernt hatte, machte sie
sich nichts. Im Gegenteil, sie meinte, daß ihr das Verhalten der
Ordensburger Weiblichkeit recht unwürdig und unbegreiflich vorkäme. Von
ihrer Freundin Lüttritz hätte sie gehört, daß verschiedene junge Damen
der Gesellschaft, die Töchter des Gymnasialdirektors, des
Landgerichtspräsidenten und noch etliche andere ihre Spaziergänge jetzt
zum Polnischen Tor hinaus unternähmen, an dem Häuschen des Rittmeisters
von Foucar vorbei, statt wie früher nach dem nahen Beldahner Walde.
Geradezu verächtlich wäre das, sich so anzubieten. Das nahm er mit
Befriedigung zur Kenntnis, aber es brachte ihn der Lösung, weshalb sein
liebes Mädel nun eigentlich das Köpfchen hängen ließ, nicht näher ...

Und seine Gedanken flogen in eine Zeit zurück, in der er an einer
anderen diese augensichtliche Veränderung des Wesens wahrgenommen hatte
von ausgelassener Laune zu Trübsal, bis er nach langer Unsicherheit zu
der trostlosen Gewißheit gekommen war. Aus einer lächerlichen Ursache
war er an jenem Morgen von der Fahrt zur Treibjagd wieder umgekehrt.
Weil er in der Eile des Aufbruches vergessen hatte, sich mit Zigaretten
zu versorgen. Da ließ er den Wagen am anderen Parkende halten, eilte zu
Fuß ins Haus zurück. Und erst das erschreckte Gesicht seines Dieners,
eines schuftigen, bestochenen Kerls, löste in ihm den entsetzlichen
Verdacht aus. Da rannte er nach dem Schlafzimmer, die Tür war
verschlossen. Unter einem Fußtritt brach sie in Splitter, ein Glück war
es, daß er keine Waffe bei sich hatte. Die Frau schrie gellend auf in
Todesangst, der Baron Totberg verneigte sich lächelnd.

»Keine unnützen Emotionen, Herr von Gorski, ich stelle mich Ihnen zur
Verfügung. Ich war im Begriff, Ihre Frau Gemahlin zu fragen, ob sie die
Meine werden wollte. Ort und Zeit sind ein wenig ungewöhnlich, ich gebe
es zu, aber es dürfte sich empfehlen, keine Katastrophe zu veranstalten,
sondern mich in ordnungsmäßigem Verfahren hinzurichten. Andernfalls
würde ich mich zur Wehr setzen, und der Skandal würde zum Himmel
stinken.«

Da ließ er ihn schweigend den Rückzug gewinnen durch das Balkonfenster
in den Park. Die Frau warf sich ihm schreiend zu Füßen. Sie könnte
nichts dafür, wie ein Blitz wäre es in ihre Seele gefahren, als sie den
anderen zum ersten Male erblickte. Sie hätte mit sich gerungen in
namenloser Qual, aber die Leidenschaft wäre stärker gewesen als die
Pflicht gegen Mann und Kind. Und dann hatte er seine Rache genommen. Den
Verführer fraßen schon lange die Würmer, die Frau aber trieb sich als
eine Ausgestoßene in der Welt herum. Herzzerreißend waren ihre Briefe
... Das letzte Geld hatte er nach Rußland geschickt, wo sie bei
Verwandten einen kärglichen Unterschlupf gefunden hatte, das bittere
Brot der Fremde aß und sich noch immer mit Selbstvorwürfen zerfleischte,
daß sie damals nicht genug Charakterfestigkeit besessen, gewissenlosen
Einflüsterungen Widerstand zu leisten. Das waren nachträgliche Ausreden,
gewiß. Doch ab und zu kamen ihm wohl Gedanken, die mit den
altüberkommenen Selbstverständlichkeiten schwer vereinbar waren. Ob es
damals nicht besser gewesen wäre, dem bunten Vogel, der sich bei ihm
langweilte, die Freiheit zu geben? Statt den niederzuschießen, von dem
sie sich aus ungewohntem, einförmigem Dasein eine Erlösung erhoffte. Er
hatte damals vielleicht auch manches verabsäumt bei der an Zerstreuungen
aller Art gewöhnten jungen Frau, die ihm aus geräuschvollem Leben in die
Einsamkeit gefolgt war aus Liebe ... Darum spähte er manchmal sorgenvoll
das Wesen seiner Tochter, ob sie von diesem flatterhaften und unruhigen
Sinn vielleicht etwas geerbt hätte, sich gleich der Mutter einem
posierenden Blender ohne Widerstand gefangen geben könnte.

Und heute sprang ihn zum ersten Mal eine Wahrnehmung an, daß ihm vor
Erregung die den Zügel haltende Hand zitterte: genau so war es damals
gewesen! Da hatte auch eine über die Damen des Städtchens, die sich dem
interessanten Fremden würdelos anboten, höhnisch und verachtungsvoll
gespottet, weil sie selbst sich in Eifersucht verzehrte. Aber das war
doch Unsinn, sein liebes Mädel hatte diesen Herrn von Foucar nur ein
einziges Mal gesehen! Und der hatte es nicht einmal für nötig befunden,
der Einladung von Annemarie zu folgen, der Einladung, mit der er damals
so wenig einverstanden gewesen war, daß er es unterlassen hatte, sie zu
bestätigen ...

Ueber die kahlen Roggenstoppeln kam von Orlowen her ein Reiter gerast,
als gälte es, in einem Jagdrennen den ersten Preis zu gewinnen. Dem
Gaul flog der weiße Schaum von der Gebißstange, auf drei Schritt
Entfernung riß ihn der Reiter zusammen, daß er in der Hinterhand
einknickte, sich rücklings fast überschlagen hätte. Im Sattel saß
Hermann von Brinckenwurff, sein Gesicht war verstört, die Augen lagen
ihm tief im Kopfe.

»Jetzt weiß ich Bescheid, weshalb sie immer nicht mit Ja oder Nein
'rausrücken wollte!« schrie er ohne jede Einleitung neben der
geräuschvoll arbeitenden Dreschmaschine. »Annemarie hat sich eben mit
dem Rittmeister von Foucar verlobt!«

Dem alten Herrn griff eine kalte Hand nach dem Herzen, aber er bezwang
sich mühsam.

»Junge, ich glaub', Du bist nicht recht bei Trost! Sie hat ihn meines
Wissens doch nur ein einziges Mal gesehen?!«

»Das ist in diesen modernen Zeiten vielleicht genug! Die Frauenzimmer
hier rennen ihm ja alle nach, wie verrückt benehmen sie sich. Wie die
Hühner, wenn man einen fremden Hahn zwischen sie gesetzt hat. Da wackeln
sie alle kokett mit dem Pürzel und ersterben in Zerflossenheit, nur weil
er ein paar ausländ'sche Federn trägt!«

Herr von Gorski winkte dem Erregten, ihm ins Feld hinaus zu folgen, und
legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter.

»Na na na, Hermann! Ich will's Deiner Erregung zugute halten, aber so
spricht man nicht von meiner Tochter! Und jetzt klar und deutlich, was
ist los?«

Der Lange, der neben ihm ritt, schluckte auf.

»Da ist nicht viel zu erzählen. Heute früh bekam ich den Absagebrief.
Ich wüßte schon weshalb -- keine Ahnung hatte ich! Ich telephonier' bei
Euch an, der Diener sagt mir, das gnädige Fräulein wär' in die Stadt
gefahren, wahrscheinlich zu ihrer Freundin Lüttritz. Ich lauer' meinen
Bruder Adolf ab, der auf Felddienstübung war, und lass' sie stellen. Da
gibt es eine dramatische Szene. Allerhand Zwischenträgereien sind am
Werk gewesen. Sie sagt, sie müßte mich verachten, und wirft sich diesem
Herrn von Foucar an den Hals. Als seine Braut! Mein Bruder Adolf fand
darauf, Gott sei Dank, a tempo die passende Antwort. Aber ich gedenke
außer diesem interessanten Herrn Rittmeister noch einem anderen an den
Kragen zu fahren. Diesem frechen Lausbub, Deinem Neffen Karl, mit seiner
Kodderschnauze! Der hat das ganze Unglück angerichtet -- ich kann ihn,
Gott sei Dank, auf einem Wort festnageln, das er nur allein der
Annemieze hinterbracht hat!«

Herr von Gorski hob die Hand.

»Was war das für ein Wort?«

»Ach Gott, was man so in gereizter Stimmung hinspricht, wenn man dazu
ein paar Schoppen im Leibe hat. Und noch außerdem gehänselt wird, von so
einem kleinen Frechdachs. Da habe ich gesagt, ich würde ... ja also, ich
würde die Annemarie mir schon bändigen. Das hat er ihr hinterbracht.«

Der alte Herr ritt eine Weile lang schweigend, in Nachdenken versunken.
Endlich -- sie bogen in die lange Allee, die vom Kätnerdorfe zum
Schlosse führte -- fing er wieder an zu sprechen.

»Das mit den Forderungen überlegst Du Dir wohl noch! In Anbetracht
dessen, daß damit jede -- vielleicht noch mögliche -- Einigung im Guten
ausgeschlossen wäre. Ich möchte meine Tochter nicht im Mittelpunkt eines
Skandals sehen. Das mit diesem Herrn von Foucar hoffe ich ihr
auszutreiben. Das ist vielleicht nur eine vorübergehende Laune. Und wenn
Du gesonnen bist, an Deiner Werbung festzuhalten ...«

»Selbstverständlich, lieber Onkel Gorski! Jetzt, wo ich sie verlieren
soll, merke ich erst eigentlich, wie lieb ich sie habe. Weißt Du, vorher
nahm man das als eine Art von Selbstverständlichkeit hin, aber jetzt
bäumt sich mir da drinnen alles auf, wenn ich daran denke, daß
vielleicht ein anderer -- na schön ... da nützt kein Beschwichtigen!
Wenn die Sache nicht restlos aus der Welt geschafft wird, hat dieser
interessante Herr nur noch einen Tag zu leben.«

»Lieber Hermann,« sagte der alte Herr, »das sind frivole Redensarten!
Mir selbst würde ein Lieblingswunsch zerstört, wenn meine Tochter Dich
nicht heiraten würde. Aber sie ist ein ernsthafter Mensch. Ich kann mir
kaum vorstellen, daß sie wegen eines einzigen, unbedachten Wortes ...«

Hermann von Brinckenwurff machte sich etwas an dem Zaumzeug seines Gauls
zu schaffen.

»Gott, lieber Onkel, es wird viel geklatscht. Kleinigkeiten werden zu
Riesenverbrechen aufgeblasen. Ich bin nicht anders als andere junge
Leute von meinem Kaliber. Und den Rittmeister von Lüttritz lang' ich mir
auch einmal bei Gelegenheit. Weil seine Frau zu dieser Kuppelei die Hand
geboten hat.«

Der alte Herr fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Mir ist das eben wie ein Gußregen über den Kopf gepladdert. Du wirst
begreifen, daß ich im Augenblick keinen Entschluß fassen kann. Nur eins
darfst Du glauben: wenn meine Tochter Dich zu Unrecht schlecht behandelt
hat, aus einer unerfindlichen Laune, gibt's kein Erbarmen. Launen gibt's
nicht, wenn Du Dir nichts vorzuwerfen hast ... na, ist gut!«

Auf der Freitreppe, deren schlanke Säulen von hundertjährigem Efeu
überwuchert waren, standen zwei Hand in Hand. Annemarie und der
Rittmeister von Foucar. Herr von Gorski schwang sich aus dem Sattel,
stieg mit finsterer Stirn die Stufen empor.

»Herr von Foucar, ich glaube zu wissen, weshalb Sie hier sind. Ich sage
Ihnen gleich, ich bin dessen nicht froh. Ehe ich Ihnen jedoch die
Antwort gebe, muß ich ein paar Worte mit meiner Tochter sprechen.«

Der wartende Reitknecht hatte den alten Perkuhn nach dem Stall geführt.
Hermann von Brinckenwurff hielt noch im Sattel, die drei anderen standen
auf der Freitreppe. Annemarie preßte einen Augenblick lang die Hand auf
die Brust, dann trat sie vor.

»Lieber Vater, ich glaube, es wird nicht nötig sein, daß Herr von
Brinckenwurff sich hier noch länger aufhält. Ich wundere mich, daß er
die Stirn hat, mir unter die Augen zu treten, nach dem, was ich seinem
Bruder gesagt habe.«

»Liebe Annemarie,« warf der im Sattel ein, »das sind doch törichte
Klatschereien ...«

»Ah nein, sondern die Wahrheit, die schimpfliche Wahrheit! Durch einen
blöden Zufall habe ich sie erfahren von zwei Mägden, die im Garten
Bohnen pflückten, ohne mich zu sehen. Die unterhielten sich über das
Schicksal, das mir bevorstände als Gattin des Orlower jungen Herrn. Und
jetzt helf' mir Gott, wenn ich zwischen Euch Männern nicht zimperlich
spreche wie ein junges Mädchen, das von nichts eine Ahnung hat. Ich bin
ja kein Kind mehr! Mit allem, was lange Zöpfe trüge in Orlowen, hätte
ich die Gunst meines zukünftigen Herrn Gemahls zu teilen, vom
Stubenmädchen bis hinauf zur Mamsell! Ich flog am ganzen Körper, aber
hielt mich still, um noch mehr zu hören. Und eine Stunde später ritt ich
nach Orlowen und fischte mir die Mamsell. Erst leugnete sie, dann wurde
sie frech. Ich sollte mir auf meine Schönheit nur nichts einbilden. Der
junge Herr fände sie viel schöner und hätte ihr versprochen, sie gleich
nach der Verheiratung wieder nach dem Hof zu bringen, wenn seine
unbequeme alte Dame nach der Uebergabe des Gutes nichts mehr zu sagen
hätte! Da spie ich aus und schrieb Dir, Hermann, den Absagebrief. Und
jetzt verantworte Dich, wenn Du kannst!«

Der im Sattel lachte verlegen auf. Das Spiel war verloren, jetzt galt es
nur, einen nicht unrühmlichen Rückzug zu gewinnen.

»Weißt Du, Annemieze, man sollte es kaum glauben, daß Du ein Mädel vom
Lande bist! Das ist doch überspannter Kram, und nenn' mir nur einen der
Herren in unserem Kreise, der als Lediger ...«

Gaston wollte vortreten mit einem heftigen Wort auf den Lippen. Der alte
Herr aber hob die Hand.

»Hermann, ich frage Dich auf Ehre und Gewissen als ein Edelmann den
andern: Was meine Tochter da eben sagte, ist das wahr?«

Der andere blickte trotzig in die Höhe.

»Wozu soll ich's leugnen -- etwas ist schon dran! Nur die Geschichte ist
maßlos übertrieben natürlich. Ich weise es ganz energisch zurück, daß
ich deswegen auf ein Armesünderbänkchen soll. Ich lebe, wie es mir paßt.
Und habt Euch bloß um Gottes willen nicht so! Schließlich bin ich doch
ein Brinckenwurff! Wenn ich Deiner Tochter die Ehre antue, um sie zu
freien, soll sie froh sein, statt hinter mir her zu spionieren!«

Aus der Brust des alten Herrn kam ein Stöhnen.

»O Du ... jetzt habe ich Dich auch erkannt! Aber eins sage ich Dir: Wenn
Du nach denen suchst, die meine Tochter vertreten, zuerst stehe _ich_ da
und lass' mir dieses Recht nicht nehmen! Hörst Du, zuerst! Halt' Dich zu
Hause, damit Dich meine Zeugen treffen! Und jetzt marsch, fort von
meinem Hof!«

Hermann von Brinckenwurff verneigte sich im Sattel.

»Das letzte hättest Du Dir sparen können! Und Gott sei davor, daß ich
mich an Deinem weißen Haupt vergreife. Es sind Jüngere da, an die ich
mich halten kann!« Er wandte seinen Gaul mit einem Schenkeldruck, ritt
in gestrecktem Galopp die lange Allee zurück, die über das Kalinzinner
Kätnerdorf nach Orlowen führte.

Annemarie warf sich mit einem Aufschluchzen an die Brust ihres Vaters.

»Um Gottes willen, Papa, das leide ich nicht, daß Du ... Und was heißt
das, daß er sich gewissermaßen herabgelassen hätte, wenn er um mich
warb?«

Herr von Gorski antwortete mühsam: »Das ist eine gedankenlose Frechheit
gewesen, mein Kind, nichts weiter. Weil die Brinckenwurffs sich
bekanntlich einbilden, sie wären mit dem lieben Herrn Jesus Christus
zugleich in dieses heidnische Land gekommen!« Und nach einer kleinen
Pause der innerlichen Sammlung fuhr er fort: »Herr von Foucar, ich bitte
Sie, mir es nachzusehen, wenn ich Sie jetzt nicht als Gast in mein Haus
lade. Ich muß mich erst selbst zurechtfinden, ehe ich einen Entschluß
fassen kann.«

Gaston verneigte sich respektvoll.

»Sehr wohl, Herr von Gorski. Es wird sich eine Stunde finden, in der Sie
die Güte haben werden, mir zuzuhören. Ihr Fräulein Tochter hatte die
Gnade, meiner Werbung Gehör zu schenken. Morgen werde ich anfragen, wann
Sie für mich zu sprechen sind.«

Herr von Gorski nickte schweigend, Annemarie bot ihm die Hand zum Kusse.
In ihren Augen glaubte er jedoch eine leichte Enttäuschung zu lesen.
Aber er konnte ihr nicht helfen. Es wäre gar leicht gewesen, sich einen
effektvollen Abgang zu sichern. Sich als ein Edelmütiger aufzuspielen,
der es als seine Pflicht ansähe, für den Vater des geliebten Mädchens in
die Bresche zu treten. Das war eine Selbstverständlichkeit, über die
sprach man nicht. Und als ihn der Kalinzinner Sandschneider, aus dem er
jetzt die Zügel führte, in schneller Fahrt zum Städtchen zurücktrug,
überlegte er, wie er am raschesten wohl dem Herrn von Brinckenwurff die
Forderung zustellen könnte, ehe ihm der alte Herr zuvorkäme.

Persönlich nach Orlowen zu fahren und mit ein paar kurzen Worten Ort und
Zeit festzusetzen, ging nicht an. Nach altüberkommenem Brauche, der in
manchen Fällen vielleicht lächerlich sein mochte, aber an dem man nicht
zu rütteln hatte. Und da fiel ihm ein, daß er auf halbem Wege zur Stadt
die Möglichkeit hatte, den Rittmeister v. Lüttritz telephonisch
anzurufen, er möchte ohne jede Zeitversäumnis nach Orlowen reiten, dem
Herrn von Brinckenwurff die Forderung zu überbringen. Wegen einiger
unziemlicher Worte, die er sich Fräulein von Gorski gegenüber
herausgenommen hätte. Dann war die Angelegenheit erledigt, und Annemarie
brauchte sich nicht um ihren alten Vater zu sorgen.

Unter den rostbraunen Kiefern des Beldahner Waldes, zwischen denen die
sandige Straße hinführte, stand die sonnendurchglühte Luft wie in einem
Backofen. Der nur unwillig trabende Gaul hatte nasse Flanken, unter dem
Riemenzeug bildete sich weißlicher Schaum, und Hunderte von blutgierigen
Bremsen schwirrten ihm um die Stellen, an denen er wehrlos war. Gaston
versuchte, ihm mit der Peitsche zu helfen, so gut es ging, sobald er
aber in Schritt fallen wollte, trieb er ihn unbarmherzig vorwärts. Er
hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er dem alten Herrn zuvorkommen
wollte.

Und wie den armen Gaul die Bremsen, stachen ihn die Gedanken. Daß nach
allem menschlichen Ermessen sein Glück nur kurzen Bestand hatte --
morgen um diese Zeit war er schon ein toter Mann. Weil der andere aus
seiner Kaste in der Handhabung der Waffe mehr Uebung besaß. Er selbst
hatte vor wichtigeren Aufgaben dazu keine Zeit gehabt. Ein junger Herr,
dessen reichliche Mußestunden ihm gestatteten, sich zu einem Virtuosen
im Pistolenschießen herauszubilden, schoß ihn morgen über den Haufen.
Einer, dessen Leben für die Allgemeinheit so unbeträchtlich war, als
wenn da um den schwitzenden Gaul eine Bremse mehr flog oder weniger,
streckte einen Mann in den Sand, der in schweren Zeiten dem Vaterlande
vielleicht Nützliches hätte leisten können. Verrückt war das, wenn man
sich die Anschauungen derer zu eigen machte, die, von keiner Tradition
beschwert, an jedem durch Jahrhunderte geheiligten Brauch zersetzende
Kritik übten. Entweder gehörte man zu der Kaste, die den Begriff der
persönlichen Ehre mit besonderen Gesetzen umschrieben hatte, oder man
stand draußen. Ein Aussuchen von Fall zu Fall gab es da nicht. Und eine
unwillige Regung erhob sich in ihm gegen sich selbst, daß er auch nur
einen Augenblick lang eine Anwandlung gehabt hatte, die, genau besehen,
reichlich nach Feigheit schmeckte. Als wenn er nach einem Auswege
gesucht hätte. Eins aber konnte ihm niemand verwehren, daß er mit Trauer
daran dachte, das Leben aufs Spiel setzen zu müssen, als es eigentlich
erst anfing. Das Leben voll von Glück, von dem er zuweilen in müßigen
Stunden geträumt hatte ...

Vor einer kurzen Weile erst hatte er einen Vorgeschmack von den
Seligkeiten bekommen, die seiner vielleicht gewartet hätten. Als er auf
dem Heimwege mit seiner langen und aufrichtigen Beichte fertig gewesen
war. Da hatte die neben ihm sitzende Annemarie geantwortet: »Was soll
ich dazu sagen? Du hast mich damals doch nicht gekannt. Wir alle gehen
durch Irrtümer. Ehe ich Dich kannte, gab es Zeiten, in denen ich mit
meinem Los ganz zufrieden war.« Und, weil sie mit den Zügeln in der Hand
auf den Weg passen mußte, neigte sie sich nur ein wenig zur Seite und
bot ihm die Wange. Ihm aber weitete sich die Brust unter einem bisher
nicht gekannten Gefühl. Von aller Erdenschwere befreit flog man dahin in
einer einzigen Glückseligkeit ...

Zwischen grünen Tannenwipfeln leuchtete ein rotes Ziegeldach. Die
Waldschenke neben den Schießständen, von denen in kurzen Zwischenräumen
gellende Kugelschläge durch die Mittagsschwüle drangen. Wie scharfes
Peitschenknallen. Der Wirt Burdeyko, ein hagerer kleiner Mann mit
ausdrucklosem Gesicht, kam eilig durch den Garten, als das Fuhrwerk mit
dem schaumbedeckten Gaul auf der Straße hielt.

»Guten Tag, Herr Rittmeister. Was steht zu Diensten?«

Gaston vermochte im ersten Augenblick nicht zu antworten. Aefften ihn
seine erregten Nerven, oder war das Wirklichkeit, was er eine Sekunde
lang hinter einem rasch wieder vorgezogenen Fenstervorhang zu sehen
geglaubt hatte? Ein gelbes Gesicht mit einem bunten Kopftuch darüber,
anders geknüpft, als es hier die Bauernfrauen trugen. Er deutete mit der
Peitsche nach dem Hause.

»Was ist das für ein altes Weib in Ihrer Wohnstube, Herr Burdeyko?«

Der andere blickte erstaunt auf.

»Wie meinen der Herr Rittmeister? Ein altes Weib? Da müssen Sie sich
versehen haben. Nur mein Kellnerjunge ist im Hause. Sonst keine
Menschenseele.«

»So, nicht? Na, ist gut! Kann ich bei Ihnen ungestört telephonieren?«

»Aber gewiß doch, Herr Rittmeister. In der Zelle neben meinem
Kontorchen. Ich hab' ja auch manchmal nötig, was zu sprechen, wo kein
andrer was davon hören darf.«

Gaston gab die Zügel dem hinter ihm sitzenden Kutscher und ging über den
kiesbestreuten Gartenweg mit einem Angstgefühl im Herzen, das ihm den
Schweiß aus allen Poren trieb. War er denn im Begriff, verrückt zu
werden, weil er am hellen Tage Spukgestalten sah? Wenn er sich
vielleicht auch beim ersten Male getäuscht haben konnte, diesmal
erschien es ihm fast unmöglich. Wenn er sich eben nicht in einem
Zustande befand, in dem man Halluzinationen hatte? Ganz deutlich hatte
er das Gesicht gesehen, das ihm damals von der Begegnung in der
Rankestraße im Gedächtnis geblieben war ... Da beschloß er, sich
Gewißheit zu schaffen. Ohne sich an das verwunderte Gesicht des Wirtes
zu kehren, durchschritt er rasch die Räume der Schenke, stieg in den
niedrigen Keller und blickte auf den Hof hinaus. Wenn außer dem Gläser
spülenden Kellner jemand im Hause gewesen wäre, hätte er ihn sehen
müssen ... Ein Schauder flog ihm über den Rücken wie am Vormittag,
diesmal aber von anderer Art. Vor sich selbst bekam er Angst und er fing
an zu zweifeln, ob er noch nach klaren Erwägungen handelte ...

Das Fräulein auf dem Amte weigerte sich zunächst, die Verbindung
herzustellen, wegen drohender Gewittergefahr. Es bedurfte erst einigen
Zuredens und des Hinweises, daß es sich um eine wichtige militärische
Meldung handle. Dann aber pochte und knatterte es in dem Apparat, er
vernahm wohl, daß der Rittmeister von Lüttritz am andern Ende sprach,
aber eine Verständigung war unmöglich. Da gab er es auf, die erhoffte
Zeitersparnis war ärgerliche Versäumnis gewesen.

Als er wieder zu seinem Fuhrwerk kam, meldete Herr Burdeyko, soeben wäre
ein ganzer Wagen mit Herren vom Dragonerregiment vorübergefahren,
dazwischen die beiden Herren von Gorski.

»Schade,« sagte Gaston, »den jüngeren hätte ich gerne gesprochen,« und
stieg in den Kutschiersitz. »Na, dann los, Braunerchen.«

Herr Burdeyko lief ein paar Schritte neben dem Wagen her.

»Wann soll ich zur nächsten Stunde kommen, Herr Rittmeister?«

»Weiß ich nicht,« rief er zurück, »ich lasse es Ihnen noch sagen.«

Als Gaston schon ein Ende weit gefahren war, fiel ihm plötzlich ein: wie
kamen die Brüder Gorski eigentlich dazu, ohne Urlaub die Garnison zu
verlassen? Beide hatten doch am Nachmittage Dienst? Der ältere beim
Turnen, der jüngere beim Baden. Aber er vermochte nicht weiter zu
denken. Eine Art von Stumpfheit war über ihn gekommen nach all den
Aufregungen des Tages. Er dachte nur noch einen Gedanken, mit
möglichster Beschleunigung den Rittmeister von Lüttritz aufzutreiben,
damit dieser dem Herrn von Brinckenwurff in Orlowen die Forderung
überbrachte und die blonde Annemarie Gorski ihn nicht für einen Feigling
hielt, der gemächlich abwartete, bis andere vor ihm in die Bresche
sprangen.

In der Wohnung des Herrn von Lüttritz erfuhr er, der Rittmeister wäre
ausgegangen, ohne zu sagen, wohin. Da hinterließ er die Weisung, er bäte
ihn, sofort zu ihm herauszukommen, und fuhr nach Hause, mit ohnmächtigem
Zorn im Herzen. An wen sollte er sich in der Eile wenden? Jedem anderen
hätte er einen langen Sermon erzählen müssen, ohne das Kind beim rechten
Namen zu nennen. Und hinterher wäre die glatte Antwort gekommen, ohne
vorausgegangene Anrufung des Ehrenrates wäre der Auftrag nicht
auszuführen. Da gab es also nichts als warten. Und es gereute ihn fast,
daß er auf der Freitreppe des Kalinzinner Schlosses in vornehmer
Gesinnung mit seinen Absichten hinter dem Berge gehalten hatte.

Im Flur seines Häuschens empfing ihn der Bursche.

»Herr Rittmeister, vor einer Viertelstunde ist eine Depesche gekommen.
Ich hab' sie auf den Schreibtisch gelegt.«

»Eine Depesche? Von wem denn?«

Die Frage war töricht, das wußte er. Mit zwei langen Schritten stand er
im Zimmer, riß das zusammengefaltete Papier auseinander.

»Ihre Frau Mutter schwer erkrankt, ersuche dringend, sofort
hierherzukommen. Ableben stündlich zu erwarten. Justizrat König.«

Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich in den vor dem Schreibtisch
stehenden Lehnstuhl setzen. Stumpfsinnig starrte er auf die mit
Blaustift geschriebenen Zeilen des Telegramms, bis ihn der Schmerz
jählings übermannte. Sein liebes altes Mütterchen, an das er in diesen
letzten langen Wochen nicht mit einem einzigen Gedanken gedacht hatte,
lag im Sterben. Die Tränen schossen ihm aus den Augen, er legte die
Stirn auf die harte Tischkante, und ein Aufschluchzen erschütterte
seinen Körper. Erst ganz allmählich gewann er seine Fassung wieder, fing
er an zu überlegen, was zu geschehen hätte.

Der Justizrat König war der Vermögensverwalter und vertraute Freund
seines Mütterchens schon seit langen Jahren. Allabendlich spielten sie
ihre geruhsame Partie Bézigue, und es war ein rührendes Verhältnis
zwischen den beiden alten Leutchen. Von seiten des Justizrates, der
unverheiratet geblieben war, vielleicht ein wenig Pietät und wehmütige
Erinnerung. An eine vor langen Jahren begrabene Hoffnung. Aber mit dem
Alter war er ein Krakeeler geworden. Fast immer verzankte er sich mit
seiner Partnerin, um am nächsten Vormittag mit einem poetischen
Brieflein wieder um gut Wetter zu bitten, weil er ohne die abendliche
Partie nicht leben konnte. Da war es eigentlich verwunderlich, daß er in
so dürren Worten telegraphiert hatte, was ihn doch nicht minder
schmerzlich treffen mußte als den Sohn der alten Freundin. Aber wer
überlegte wohl in einem so trüben Augenblicke, ob er der notwendigen
Nachricht noch ein Wort der Teilnahme hinzufügen sollte?

Also da galt es, die Vorbereitungen zu einer schleunigen Reise zu
treffen. Alles übrige, was er sich vorgenommen hatte, mußte er bis zu
seiner Rückkehr aufschieben. Und wenn er Annemarie ein paar Zeilen
schrieb, würde sie es wohl verstehen, daß es für ihn im Augenblick keine
andere Sorge gäbe als die einzige, ob er sein Mütterchen noch am Leben
fände. Schier zum Verzweifeln war es, daß er hier noch stundenlang
untätig sitzen mußte, indessen das alte Frauchen da unten im fernen
Schwaben sich gegen den Tod wehrte. Mit keiner anderen Waffe als der
Sehnsucht, den einzigen Jungen vielleicht noch einmal im Arm zu halten,
seinen Kopf an ihrer Brust zu fühlen ...

Der nächste Zug, mit dem er den von Eydtkuhnen kommenden Schnellzug
erreichen konnte, ging erst gegen acht Uhr abends. Bis dahin hatte er
reichlich Zeit, Urlaub zu nehmen, die Schwadron dem Oberleutnant
Gusovius zu übergeben und den Brief an Annemarie zu schreiben. Wenn er
den durch seinen Burschen beförderte, konnte sie ihn in anderthalb
Stunden haben und brauchte keine verwunderten Augen mehr zu machen ...
daß er beim Abschied unterlassen hatte, das Wort zu sprechen, das sie
von ihm wohl erwartet hatte.

Als er die Schublade seines Schreibtisches aufzog, um einen seiner
besten Briefbogen mit der farbigen Wappenprägung herauszulangen, fiel
ihm auf, daß zwischen allem, was er dort aufbewahrte, nicht die gewohnte
Ordnung herrschte. Die Brieftasche mit dem letzten Schreiben seines
Vaters lag nicht auf ihrem richtigen Platz. Ganz ausgeschlossen war es,
daß er selbst sie dorthin gelegt haben konnte, er hielt in allem, was
ihn umgab, eine geradezu pedantische Ordnung. Wenn er an seinen
Bibliothekschrank ging, konnte er im Dunkeln den gesuchten Band
herausholen.

Also es gab keinen Zweifel, hier hatte jemand in seiner Abwesenheit die
Schublade durchsucht. Jemand, der zu dem kunstvoll gearbeiteten Schlosse
einen Nachschlüssel besaß. Den eigentlichen Schlüssel trug er nebst
einigen Anhängseln an einer silbernen Kette. Nachts lag sie auf dem
Tischchen neben seinem Bett, beim Aufstehen befestigte er sie an der
Uniformhose. Die Möglichkeit, daß er den Schlüssel aus Versehen einmal
hätte stecken lassen, war überhaupt nicht zu erörtern. Aber wer sollte
nur ein Interesse daran haben, hier seine Andenken, Briefe und
Familienpapiere zu durchstöbern?

Und plötzlich schlossen sich die Wahrnehmungen des Tages, die er für
Ausgeburten seiner überreizten Sinne gehalten hatte, mit einigen anderen
zu einem Verdacht, den er zunächst nur unklar fühlte. Er griff nach der
Stelle der Schublade, an der er die letzten der seltsamen russischen
Briefe aufgehoben hatte, die Stelle war leer. Da gefror ihm das Blut fast
in den Adern, hier war gegen ihn etwas im Werke, wie es nur ein Teufel
ersinnen konnte -- oder eine im Innersten ihres Herzens gekränkte Frau!
Die Viertelstunde fiel ihm ein, in der er mit dem schon halb verwirrten
Herrn von Wodersen über die sonnenbeschienene Straße im Grunewald gegangen
war. Da hatte der von einer Rache gesprochen, die Josepha an ihrem Gatten
zu nehmen gedachte, weil er sie mit einer Tänzerin oder Schauspielerin
betrog -- dieser Person mit der seltsamen, wie eine geborstene Glocke
klingenden Stimme. Nur das hier war noch teuflischer. Heute nacht, wenn er
längst schon in der Eisenbahn saß, legte man hier in diese Schublade die
entwendeten Briefe, nur mit einem anderen Inhalt. Einem Inhalt, der klipp
und klar bewies, daß der Rittmeister Baron Foucar von Kerdesac vom
Dragonerregiment Graf Schmettau mit dem russischen Geheimbureau in
Warschau landesverräterischen Verkehr hatte. Morgen stand hier in diesem
Zimmer ein von der Division entsandter Kriegsgerichtsrat, fand die
Beweise, und auf telegraphischen Befehl wurde er an dem Sterbebette seiner
Mutter unter dem Verdachte des Landesverrats verhaftet. Selbst wenn es ihm
gelang, sich von diesem Verdacht zu reinigen, war er für alle Zeiten
verfemt. Es blieb immer etwas hängen, selbst wenn er sich in geweihtem
Wasser wusch ... ein unbestimmter Geruch, vor dem sich die innerlich und
äußerlich Sauberen zurückzogen. Und blitzähnlich reihte er alles
aneinander, was gegen ihn sprach, wenn er sich verteidigen wollte. Da war
schon vor seiner Versetzung das merkwürdige Interesse für die
Geheimpapiere im Generalstabe, die von der strategischen Bestimmung
Ostpreußens handelten im Falle eines Krieges nach zwei Fronten. Dann war
da sein auffälliges Absondern von den Kameraden, seine ausgedehnten Ritte
und Fahrten im Aufmarschgelände, und zuletzt der Inhalt der in seinem
Schreibtisch beschlagnahmten Briefe. Die waren in Warschau aufgegeben laut
Poststempel, und in ihnen stand, Gott mochte wissen, was ... Die
Aufforderung vielleicht, noch über diese Position im Mobilmachungsplan
nähere Auskunft zu geben oder über jene ... Und noch etwas anderes kam
hinzu, woran er zuallerletzt, die anderen aber vielleicht zuallererst
denken mochten: sein französischer Name und das Tröpfchen französischen
Blutes, das in zehnfacher Verdünnung noch in seinen Adern floß. Ganz
deutlich entsann er sich der Aeußerung des alten Herrn damals auf der
Fahrt von Königsberg. Den Wortlaut wußte er nicht mehr, aber es war eine
Art von Zweifel gewesen, ob Abkömmlinge einer fremden Nation wohl restlos
im deutschen Volkstum aufgehen könnten. Und das Netz, das sich ihm um die
Glieder schnüren sollte, war schon seit langem gesponnen. Die große
Nachrichtenzentrale in Berlin war ja schon vor Wochen alarmiert, daß hier
an der Grenze ein Verräter saß. Heute kam die Mitteilung, die seine
Persönlichkeit genau bezeichnete, und morgen, während seiner Abwesenheit,
der vernichtende Schlag. Er aber hatte nichts zu seiner Verteidigung
anzuführen, als daß da vielleicht ein Racheakt vorläge. Die Rache einer in
leidenschaftlicher Liebe verratenen Frau. Er _sah_ ordentlich das
ungläubige Lächeln seiner Richter ...

Die Haare sträubten sich ihm, so grauenhaft war das. Nur ein Glied
fehlte noch in der Kette der Voraussetzungen, nämlich daß da die auf dem
Tische liegende Nachricht von der schweren Erkrankung seines Mütterchens
gefälscht war. Dann war das alles kein leeres Hirngespinst, sondern
grausige Wirklichkeit. Da erhob er sich mühsam, ging zu dem an der Wand
hängenden Telephon.

Gott sei Dank, der Apparat funktionierte wieder, das Amt Ordensburg
meldete sich.

»Liebes Fräulein,« sagte er, »wenn ich jetzt dringend nach Eßlingen
telegraphieren würde, mit dringender Rückantwort bezahlt, wann könnte
wohl die Antwort wieder hier sein?«

»Eßlingen in Württemberg?«

»Jawohl!«

»Etwa eine Stunde. Wenn Sie mir nämlich die Depesche telephonisch
aufgeben.«

»So, kann man das?«

»Aber natürlich, schon immer!«

Da diktierte er: »Justizrat König, Eßlingen. Erhalte soeben von Ihnen
Depesche über schwere Erkrankung meiner Mutter. Habe Gründe zur Annahme,
daß diese Depesche nicht von Ihnen herrührt, sondern andere Zwecke
verfolgt. Bitte dringende Antwort. Gaston.«

Das Fräulein auf dem Amte wiederholte den Wortlaut, als sie den Namen
»Gaston« aussprach, bekam ihre Stimme einen schmelzenden Klang.

»Herr Rittmeister Baron von Foucar?«

»Allerdings!«

»Gott, wie interessant! Die Depesche wird noch in dieser Minute
abgeschickt werden!«

Da mußte er, mitten in aller Aufregung, lachen. Die kleine Telephondame
schien eine jener stillen Verehrerinnen zu sein, von deren Existenz er
selbst keine Ahnung hatte.

»Freut mich sehr, mein gnädiges Fräulein! Wenn Sie nun noch die Güte
haben wollten, mir die aus Eßlingen eintreffende Nachricht telephonisch
mitzuteilen, statt durch Boten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Das geht
doch hoffentlich auch?«

»Aber selbstverständlich!«

Gaston hing den Hörer an und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch.
Noch eine ganze lange Stunde hatte er zu warten, bis er die
entscheidende Nachricht bekam. Inzwischen aber mußte er die
Vorbereitungen zur Abreise treffen, um keinen Argwohn zu erregen. Er
rief seinen Burschen.

»Wichotta, ich muß heute abend auf mehrere Tage verreisen. Legen Sie mir
Zivil zurecht, und holen Sie den großen Lederkoffer vom Boden!«

»Befehl, Herr Rittmeister!« sagte der vierschrötige Masur und machte
sich daran, den Auftrag auszuführen. Gaston hatte ihn scharf angesehen,
er traute keinem Menschen mehr. Er hätte darauf geschworen, der Kerl war
mit im Komplott, aber in dem sonnenverbrannten, stumpfsinnigen Gesicht
zuckte keine Muskel.

Der Zweifel sprang ihn an, ob er sich vielleicht nicht bloß mit
selbstgeschaffenen Gespenstern quälte, und er durchforschte sein
Gedächtnis. Aber es gab keinen Irrtum, er wußte genau, er hatte die
letzten aus Warschau gekommenen Briefe hier in der Schublade verwahrt.
Aus einem instinktiven Angstgefühl, er könnte sie vielleicht irgendwie
einmal als Beweismittel gebrauchen. Und diese Briefe waren fort. Von
einem Unbekannten hier aus seinem Schreibtisch entwendet. Dieser
Diebstahl mußte doch einen Zweck haben. Und von neuem überfiel ihn das
Grausen, was geschehen wäre, wenn ein Zufall nicht seinen Verdacht
geweckt hätte.

Der Zeiger an der kleinen Stutzuhr auf dem Schreibtische kroch wie eine
Schnecke; Gaston versuchte den Brief zu schreiben, den er sich
vorgenommen hatte, aber er konnte seine Gedanken nicht sammeln, die
Unruhe fraß ihn fast auf. Draußen erklang die Türglocke, er schrak
unwillkürlich zusammen. Ein eisiger Schauder flog ihm über den Rücken.
Wie, wenn er nun mit seiner Entdeckung zu spät gekommen wäre?

Der Bursche meldete nach kurzer Pause: »Herr Leutnant von Gorski.«

»Ich lasse bitten.«

Der Kleine trat über die Schwelle. Sein Gesicht sah vergnügt aus wie
immer mit den großen Ohren und der keck in die Luft ragenden Hakennase.
Gaston atmete erleichtert auf.

»Na, lieber Gorski, was bringen Sie Gutes?«

Ein kaum merkliches Blinzeln mahnte zur Vorsicht.

»Ich hatte nur die Absicht, dem Herrn Rittmeister im Vorbeigehen
gehorsamst guten Tag zu sagen und, wenn möglich, einen Kognak zu
schinden.«

Gaston hatte verstanden, daß etwas Besonderes vorgefallen war.

»Charmant,« sagte er, »sollen Sie gleich kriegen.« Und zu dem Burschen
Wichotta, der nur zögernd zur Tür schritt, mit gespieltem Selbstvorwurf:
»Herrgott, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen! Sie müssen ja
sofort zum Herrn Oberst gehen mit meinem Urlaubsgesuch. Warten Sie einen
Augenblick!« Er warf einige Zeilen auf einen Bogen in vorschriftsmäßigem
Dienstformat, verschloß ihn in einen Umschlag und mahnte den Burschen
zur Eile. Karl von Gorski fragte respektvoll, aber nicht ohne leichte
Verwunderung: »Herr Rittmeister beabsichtigen, jetzt auf Urlaub zu
gehen?«

»Ja! Ich habe vor einer Stunde ungefähr eine Nachricht erhalten, die
mich nötigt, noch heute für ein paar Tage zu verreisen. Aber jetzt
erzählen Sie, was ist mit Ihnen los?«

»Ach Gott, nichts Besonderes. Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich
vom Herrn Rittmeister zu verabschieden. Man wird mich wohl von morgen an
für längere Zeit einsperren. Wegen Nichtachtung einer ganzen Reihe von
Vorschriften, die der preußische Leutnant zu befolgen hat, wenn er
seinen hohen Vorgesetzten ein Wohlgefallen sein will.«

»Ach nee! Was haben Sie denn so Böses ausgefressen?«

»Ich habe mich soeben mit Herrn Hermann von Brinckenwurff ohne vorherige
Befragung des Ehrenrates im Beldahner Wald geschossen.«

Gaston fuhr auf: »Was haben Sie?«

»Mich mit Herrn von Brinckenwurff geschossen!«

»Und was ist herausgekommen?«

»Nicht allzu viel. Immerhin wird es einige Monate dauern, bis mein
Komparent seinen rechten Arm wieder zum Pistolenschießen gebrauchen
kann. Der Knochen ist gesplittert, und die Kugel sitzt irgendwo in der
Schulter. Der Doktor buddelt noch danach. Vielleicht aber benutzt Herr
von Brinckenwurff die unfreiwillige Muße zu innerer Einkehr und wird
wieder friedlich.«

Gaston schwoll die Ader auf der Stirn.

»Hat er Sie gefordert, oder Sie ihn?«

»Das letztere. Gleich nachdem Herr Rittmeister von Kalinzinnen
abgefahren waren, rief mich nämlich meine Cousine Annemarie telephonisch
an, Herr von Brinckenwurff hätte sich in despektierlicher Weise über die
ganze Sippe derer von Gorski erhoben. Das verdroß mich natürlich als
Mitglied dieser ehrenwerten Familie, und da benutzte ich die
segensreiche Erfindung des Fernsprechers, um meinem ehemaligen
Jugendfreunde auf diesem ungeheuer viel Zeit ersparenden Wege aufs Dach
zu steigen. Er verfuhr am anderen Ende der Leitung auch nicht
sänftiglich mit mir, und da einigten wir uns rasch. Eine Stunde später
trafen wir uns mit dem nötigen Apparat an Sekundanten, Unparteiischem
und so weiter an den idyllischen Ufern des Tatarensees -- das Ergebnis
habe ich Herrn Rittmeister schon gemeldet.«

Gaston hatte mit zornigen Augen zugehört.

»Herr von Gorski, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Sie mir da in
höchst unerfreulicher Weise in die Quere gekommen sind. _Mir_ gehörte der
Mann, der es sich herausgenommen hatte, gegen meine ... gegen eine junge
Dame, die mir nahesteht, also der es sich erlaubt hatte, ungezogen zu
werden. Wie soll ich's jetzt Fräulein Annemarie erklären, daß ich nicht
sofort im Augenblick dazwischentrat? Weil es mir als billige Renommage
erschienen wäre. Jetzt muß sie denken, es hätte mir vielleicht an dem
erforderlichen Mute gefehlt. Und alles nur, weil es mir nicht gelungen
ist, Herrn von Lüttritz zu erreichen, der die Uebermittlung meiner
Forderung ohne lange Auseinandersetzungen übernommen hätte!«

Der Kleine machte ein möglichst zerknirschtes Gesicht.

»Ich sehe ein, Herr Rittmeister, ich bin leider Gottes noch immer ein
vorlauter und unbesonnener Knabe. Aber da ich schon längst die
Befürchtung hegte, diese Untugenden könnten mich vielleicht einmal in
Konflikte stürzen, paukte ich mich in meinen Mußestunden auf Pistolen
ein. Durch Fleiß und Eifer brachte ich's im Laufe der Jahre dahin, daß
ich sogar um ein weniges besser schoß als der lange Brinckenwurff. Und
der konnte es eklig, produzierte manchmal, wenn wir im Park von Orlowen
übten, recht nette Kunststücke. Da sagte ich mir in diesem Falle, es ist
doch nicht gerade nötig, daß er diese Fertigkeit zur Ausrottung meiner
ganzen Verwandtschaft mißbraucht. Nicht nur meines verehrungswürdigen
Onkels in Kalinzinnen, sondern auch eines, allerdings erst
anzuheiratenden Cousins.«

Gaston hatte verstanden, die Augenwinkel wurden ihm feucht.

»Na ja, schön! Aber ich kann nun reden und reden ...«

Karl von Gorski schluckte ein wenig, sah zum Fenster hinaus, vor dem ein
plötzlich einsetzender Windstoß die fruchtbehangenen Kronen der
Obstbäume bog.

»Ja natürlich! Diese kleinen Frauenzimmer ... pardon, ich wollte sagen,
jungen Damen ... ja also, es ist zu merkwürdig. Mit der einen Hälfte des
Herzens zittern sie um den Geliebten, in der anderen Hälfte aber regt
sich allerhand Unklares, Romantisches ... Ich hab' sie gründlich
angebrüllt per Telephon, meine Cousine Annemarie. Und zufällig traf ich
die richtigen Argumente, die ihr einleuchteten: daß Herr Rittmeister
nämlich keiner von denen wären, die gleich einer eilegenden Henne kakeln
und spektakeln würden, wenn sie sich etwas vorgenommen hätten.«

Gaston atmete tief auf, streckte die Hand aus.

»Junge, wie soll ich Dir das alles mal vergelten?«

Der Kleine schnüffelte mit der Nase, aber sein Mund lachte schon wieder.

»Privatdiskursch, Herr Rittmeister, wie unsere österreichischen
Bundeskollegen sagen?«

»Aber natürlich!«

»Dann, lieber Vetter Gaston, machen Sie um Unbeträchtlichkeiten kein
Brimborium! Ein Pistolenvirtuose wie ich, der auf dreißig Schritt und
Kommando Eins 'nen Hosenknopp trifft, hat's verdammt billig, Mut zu
zeigen. Immerhin, wenn ich in Weichselmünde sitze und Ihr auf der
Hochzeitsreise seid im schönen Land Italia, bitt' ich um eine
Ansichtskarte. Die kleb' ich dann mit einem leichten Seufzer an die
kahle Zellenwand und beseh' sie von Zeit zu Zeit mit neiderfülltem
Herzen.«

Das Telephon schrillte an der Wand, Gaston hob den Hörer ab.

»Ja, hier Rittmeister von Foucar.«

»Die Antwort aus Eßlingen ist da,« sagte das Fräulein auf dem Amte,
»darf ich vorlesen?«

»Ja, bitte!«

»Also: Rittmeister von Foucar, Ordensburg. Sehr erstaunt über Anfrage.
Ihre Mutter vor Wochen unpäßlich gewesen, jetzt wieder ganz gesund.
Spielen abends Bézigue wie immer und zanken uns, hoffen, Sie nach
Manöver längere Zeit hier zu sehen. Gruß von Mutter und Justizrat
König.«

»Danke verbindlichst,« sagte Gaston. Seine Stimme klang heiser vor
Erregung. Die Beweiskette war geschlossen. Er deckte die Hand über die
Augen, lehnte sich ein Weilchen lang mit der Schulter gegen die Mauer.
Die überreizten Nerven gehorchten nicht mehr, er schluchzte leicht auf.

Karl von Gorski sprang hinzu.

»Um Gottes willen, Herr Rittmeister, haben Sie eine traurige Nachricht
gekriegt?«

Da sammelte er sich langsam.

»Nein, lieber Kleiner. Nur, ich mache hier eben 'was durch ... das
könnte auch einen Stärkeren umwerfen. Wenn mir nicht der liebe Gott
geholfen hätte, als es vielleicht noch Zeit war, war ich morgen ein
verfemter Mann.« Und er fing an, zu erzählen, wie es angefangen hatte,
was jetzt in einem grausigen Werk der Vernichtung endigen sollte.

Als er alles herunter hatte von der Seele, kehrte auch seine Ruhe
wieder. Ganz kaltblütig traf er seine Dispositionen. Am Abend reiste er
natürlich ab, als wenn er nicht den geringsten Argwohn geschöpft hätte,
stieg auf der ersten Station wieder aus und fuhr mit vorher bestelltem
Wagen zurück. Mit Dunkelwerden rückte die fünfte Schwadron zu einer
Nachtfelddienstübung aus, stellte sich am Eisenbahndamme auf, und dann
gab es ein Kesseltreiben um das kleine Häuschen. Eine einzige
Schwierigkeit war nur zu überwinden. Wie man nämlich einen zuverlässigen
Mann im Hause unterbrachte, ohne daß der Bursche Wichotta argwöhnisch
wurde. Es war vielleicht nur eine Vermutung, daß er dem geplanten
Anschlag Vorschub leistete, aber sicher war sicher. Und irgend jemand
mußte doch da sein, der den weit fort am Bahndamm haltenden Dragonern
ein Zeichen gab, den Ring zu schließen, wenn die Verbrecher am Werke
waren.

Der Kleine hatte in einer Art von Erstarrung zugehört.

»Grauenhaft ist das,« sagte er endlich, »und wenn die gefälschte
Depesche da nicht wäre ... na schön! Den Wagen in Kalinzinnen stelle
ich. Ich will es auch übernehmen, mich nach Dunkelwerden hier in den
Garten zu pürschen, aber einen Rat möchte ich mir noch erlauben: es
dürfte sich doch sehr empfehlen, auch den Herrn Oberstleutnant ins
Vertrauen zu ziehen. Es urteilt sich bedeutend leichter, wenn man schon
vor der Verhandlung Partei ergriffen hat.«

Gaston konnte nicht mehr antworten, der Bursche trat ins Zimmer, brachte
den Bescheid vom Regimentsbureau. Er riß das Kuvert auf und sagte mit
gespieltem Erstaunen: »Denken Sie sich bloß, Herr von Gorski, der
Kommandeur will mich noch sprechen, ehe ich auf Urlaub gehe!«

Der Kleine heuchelte mit: »Wahrscheinlich handelt es sich um den Bericht
wegen des Zwischenfalles an der Grenze. Aber da müssen Herr Rittmeister
sich beeilen. Um acht Uhr geht der Zug.«

»Ja natürlich. Also, Wichotta, packen Sie fertig! Den Krümperwagen
bestelle ich selbst im Vorbeigehen. Und in einem zweiten Koffer
Paradeanzug mit allem, was dazu gehört. Für den Fall, daß ich ihn da
unten gebrauchen sollte.«

Der Bursche machte ein betrübtes Gesicht. Er verriet sich in seiner
Dummheit, ohne es selbst zu merken.

»Ich wünsch' Herrn Rittmeister,« sagte er, »die traurigen Nachrichten
sollen sich nicht bewahrheiten.«

Da wechselte Gaston mit seinem Leutnant einen kurzen Blick. Es stimmte.
Der Schweinehund da war mit im Komplott.

Und ein paar Stunden später kannte der Rittmeister von Foucar alle
Einzelheiten des gegen ihn gerichteten Anschlages.

Der Zug setzte sich schon in Bewegung, da wurde im letzten Augenblick
die Coupétür aufgerissen, ein Reisender stieg noch ein. Gaston blickte
auf, es war der pensionierte Kanzleibeamte, der sich auf der anderen
Straßenseite angesiedelt hatte! Da wußte er Bescheid. Der Kerl fuhr mit,
um seine Spießgesellen zu warnen, falls irgend ein unerwarteter
Zwischenfall einträte. Und in einer Viertelstunde mußte er mit ihm ins
Reine kommen, denn fünfzehn Minuten fuhr der Zug nur bis zu der ersten
Station. Da eröffnete er kurzerhand die Feindseligkeiten.

»Sehr nett von Ihnen, Herr Nachbar, daß Sie sich persönlich davon
überzeugen, ob ich auch wirklich abgefahren bin. Wie weit sollen Sie
mich nun eigentlich begleiten, damit die Schweinerei in meinem
Schreibtisch fertig ist?«

Der andere sah ihn ganz entgeistert an.

»Wie ... wie meinen Sie das, Herr Rittmeister?«

Da mußte er auflachen. Der Kerl sah komisch aus mit dem vor Erstaunen
geöffneten Munde.

»Kommt Ihnen ein bißchen überraschend? Na, dann lassen Sie sich sagen,
wir beide werden schon in Kalinzinnen aussteigen. Und sehen Sie mich
nicht so ungläubig an: Sie werden _wirklich_ mit aussteigen! Nur ich werde
natürlich dafür sorgen, daß Sie mit keinem Telephon in Verbindung
kommen. Um -- na sagen wir mal -- nach der Waldschenke Nachricht zu
geben!«

Das letzte hatte er nur aufs Geratewohl gesprochen, aber die Wirkung war
niederschmetternd. Der angebliche Kanzleibeamte bog sich vor.

»Herr, woher wissen ... Das heißt, ja« -- er nahm sich gewaltsam
zusammen -- »das ist nämlich alles Unsinn. Und ich weiß wirklich nicht,
was Sie von mir wollen. Ich fahr' ganz harmlos nach Berlin, und da
kommen Sie her ...«

»Ganz recht,« sagte Gaston gemütlich, »und da komme ich her, ersuche Sie
höflichst, mit mir schon in Kalinzinnen auszusteigen! Und nun wollen wir
unser Geschäft in Ruhe erledigen. Bitte, greifen Sie nicht immer nach
Ihrer rückwärtigen Hosentasche ... ich kann mir denken, daß Sie da was
bei sich tragen, aber ich glaube, ich bin beträchtlich stärker als Sie.
Ich verdresche Sie unbarmherzig, wenn Sie nicht sofort die Hand wieder
nach vorn nehmen. So! Und nun beantworten Sie mir gefälligst die Frage:
Was haben Sie eigentlich davon, daß Sie mich bis Berlin begleiten,
indessen Frau Ursula Blazitschek mit Herrn Burdeyko die gefälschten
russischen Briefe in meinen Schreibtisch praktiziert? Ich habe Ihnen
persönlich doch nie 'was getan?«

Der andere saß wie vor den Kopf geschlagen da.

»Herr, das ist ... das ist ...«

»Na, über die Bezeichnung des gegen mich gerichteten Anschlages wollen
wir nicht streiten, nennen wir ihn niederträchtig meinetwegen. Aber ich
bin gesonnen, Sie ungeschoren laufen zu lassen, wenn Sie mir
wahrheitsgemäß ein paar Fragen beantworten.«

»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, Herr Rittmeister?«

Gaston mußte unwillkürlich lächeln.

»Damit muß man sparsam sein, Herr Nachbar! Aber so etwas Aehnliches gebe
ich Ihnen. Also: Wer hat nun die Gemeinheit, die ich im letzten
Augenblick noch -- Gott sei Dank -- vereiteln konnte, angezettelt?«

»Das habe ich erst in diesen Tagen erfahren, Herr Rittmeister. Dieses
alte Weib ... So oft sie Ihren Namen nannte, spie sie aus vor Haß. Ich
selbst war vor Wochen von meinem Bureau aus Berlin hierher geschickt, um
Sie zu beobachten. Nichts weiter. Ich kannte Sie nämlich schon. Von der
Königsallee her, wie der Herr von Wodersen sich totschoß. Da stand ich
auch auf Posten. Aber im Auftrage des verstorbenen Herrn Rheinthaler.
Also jetzt gingen die Berichte an die Witwe. Wissen Sie, da stören wir
uns nicht daran. Es kommt oft genug vor, daß wir zwei Parteien
gleichzeitig bedienen. Den Mann beobachten im Auftrag der Frau, und die
Frau im Auftrag vom Mann. Das ist eben unser Geschäft.«

»Kann ich verstehen,« sagte Gaston, »aber, Herr, hat Ihnen nicht ein
bißchen wenigstens das Gewissen geschlagen, als Sie erfuhren, was man
gegen mich plante?«

Der andere zuckte die Achseln.

»Meinen Sie, Herr Rittmeister, ein Berliner Detektivbureau sucht sich
seine Angestellten in den Kreisen der Herren Reserveoffiziere? Und
dieses alte Frauenzimmer aus Berlin schmiß nur so mit dem Geld. Der
Burdeyko kriegt hunderttausend Mark, wenn die Briefe in Ihrem
Schreibtisch liegen, Ihr Bursche sechstausend. Das sind doch Vermögen
für solche Leute! Und der Wirt Burdeyko hat lange mit sich gekämpft.
Aber er hat Kinder, und mit dem Geld kann er sich in Südrußland ein
ganzes Rittergut kaufen. Da fiel er natürlich um.«

»Natürlich! Und nur eins noch: Haben Sie aus den Gesprächen mit dieser
Frau Blazitschek vielleicht erfahren, wer eigentlich den Plan gegen mich
geschmiedet hat? Die alte Hexe allein, oder war auch Frau Rheinthaler
daran beteiligt?«

»Da muß ich ehrlich gestehen, Herr Rittmeister, das weiß ich nicht. Die
Alte hat nur gelegentlich mal erzählt, ihre Herrin hätte tagelang
geweint, als von Ihnen plötzlich der Brief mit der Absage kam.«

»Es ist gut,« sagte Gaston heiser. »Und schließlich ist es auch egal.
Gewußt hat sie jedenfalls darum. Woher sollte sonst wohl das Geld
stammen?«

Die Wagenbremsen zogen kreischend an, der Zug hielt an der kleinen
Station. Der Schaffner lief den Bahnsteig entlang: »Kalinzinnen, eine
Minute.«

Gaston stand auf.

»Kommen Sie, Verehrtester!«

»Ich denke, Herr Rittmeister wollten mich doch laufen lassen?«

»Sehr richtig, hatte ich versprochen. Aber erst, wenn Sie keinen Unfug
mehr anrichten können. Also vorwärts!«

Sie standen auf dem Perron, Gaston rief den rotbemützten Stationsbeamten
an:

»Herr Vorsteher, kennen Sie mich?«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister.«

»Na, dann heben Sie mir diesen Gentleman hier auf, bis Sie von mir
persönlich Nachricht kriegen, ihn wieder freizulassen! Es handelt sich
um eine militärische Angelegenheit von einiger Wichtigkeit, und Sie
haben doch gewiß ein sicheres Gelaß, in dem Sie ihn unterbringen
können?«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister. Einen Güterwagen. Wenn wir von außen die
großen Riegel vorlegen!«

Der »pensionierte Kanzleibeamte« begehrte auf.

»Da protestiere ich! Das ist Freiheitsberaubung.«

»Ganz recht, lieber Freund. Es sieht verdammt danach aus. Aber ich
stelle Ihnen anheim: Wollen Sie lieber mit mir nach Ordensburg
zurückfahren, zu Ihren Spießgesellen? Sie ziehen es vor, in dem
Güterwagen zu übernachten? Ist mir auch recht. Viel Vergnügen.«

Hinter dem ziegelgedeckten Schuppen, der die Wartehalle der Station
Kalinzinnen darstellte, hielt ein geschlossener Wagen. Gaston trat heran
und fragte den Kutscher: »Sind Sie von Herrn Leutnant von Gorski
bestellt? Für den Rittmeister von Foucar?«

Aus dem Wageninnern antwortete eine helle Stimme:

»Zu Befehl! Steigen Sie nur ein, Herr Rittmeister.«

Da schrie er fast auf:

»Annemarie!«

»Ja, ich, natürlich. Aber jetzt rasch. Ich schätze nämlich, mein lieber
Papa hat mittlerweile seinen alten Perkuhn bestiegen, um mich von einem
Schritt zurückzuhalten, den er für höchst unpassend ansehen würde. Ich
hatte unserer alten Repräsentationsdame den Auftrag gegeben, ihn zwanzig
Minuten nach meiner Abfahrt davon zu unterrichten, daß ich im Begriffe
wäre, mich unrettbar mit Dir zu kompromittieren ... Wegen Beschleunigung
des Jawortes.«

»O, Du ... Du himmlischer Kerl von Mädel, Du!«

Sie saßen eng aneinandergeschmiegt in dem dunklen Wagen, der bei der
raschen Fahrt in den Gleisen des holperigen Landweges stuckerte und
schleuderte. Wenn sie sich küssen wollten, stießen sie mit den Köpfen
gegeneinander. Da lachten sie wie fröhliche Kinder. Und es ergab sich,
daß Gaston nicht viel mehr zu erzählen hatte. Das telephonische
Gespräch, das Karl von Gorski mit seiner Cousine geführt hatte, war
ausführlich genug gewesen. Und plötzlich schlang Annemarie ihre Arme um
den Verlobten und drängte ihr Gesicht ganz nahe an das seinige.

»Du, sie tut mir leid! Ich wüßte auch nicht, was ich anfangen würde,
wenn ich Dich wieder hergeben sollte. Vielleicht würde ich mich
ebenfalls rächen! Aber was machen wir nur mit meinem Vetter Karl? Dem
müssen wir eine ganz besonders feine Dedikation stiften, denn ohne ihn
wären wir doch nie zusammengekommen?«

Da zog er sie fester an sich, raunte an ihrem Ohr, halb mit Lachen:

»Bei den Foucars war es Sitte, den Erstgeborenen Gaston zu taufen. Ich
heiße auch noch so, aber das Geschlecht wird immer mehr verdeutscht. Da
dürfte es sich vielleicht empfehlen, den nächsten Foucar Karl zu
nennen.«

Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und schloß ihm mit der kleinen,
festen Hand den Mund. Wohlweislich aber erst, als er ausgesprochen
hatte ...

       *       *       *       *       *

Es ging schon auf Mitternacht, als der Bursche Wichotta dem Wirt der
Waldschenke die Tür öffnete, in dem kleinen Häuschen vor dem Tor. Er
zitterte vor Aufregung am ganzen Körper.

»Ach Gott, Herr Burdeyko, wenn's nu aber schief geht? Sie sind morgen
früh schon längst über der Grenz', aber ich muß hierbleiben. Und dann
fängt die Fragerei an nach allem möglichen! Da bricht nur der
Angstschweiß schon jetzt aus am ganzen Leib.«

Der andere zischelte leise: »Dummer Kerl, zweitausend Taler verdient man
vielleicht im Schlaf? Und wer kann Dir was beweisen, wenn Du nur immer
sagst, Du weißt von nichts? Du hast hinten im Pferdestall geschlafen.
Wie sollst Du da hören, ob hier vorne einer die Tür aufschließt?«

Die alte Frau mit dem bunten Kopftuche löste sich von dem Staketenzaun
wie ein Schatten.

»Vorwärts, vorwärts. Da hinten aus dem Dunkeln zieht sich 'was heran.
Ich riech' es, Pferde sind unterwegs.«

Herr Burdeyko horchte mit angehaltenem Atem in die Nacht hinaus.

»Ach Unsinn, es ist nichts zu hören. Und der Rittmeister ist harmlos
unterwegs nach Eßlingen. Sonst hätten wir doch längst schon Nachricht,
wenn er Verdacht geschöpft hätte.«

Der Bursche Wichotta ging vorsichtig voran, sie standen zu dritt am
Schreibtisch. Eine abgeblendete Kerze verbreitete einen matten Schimmer.
Herr Burdeyko holte den nach einem Wachsabdruck zurechtgefeilten
Schlüssel aus der Tasche.

»Na nu, verehrte Frau Blazitschek ... erst das Geld! Sonst streik' ich.
Es ist eine fürchterliche Schweinerei.«

Die Alte zog ein dickes Paket brauner Scheine aus dem Brusttuche. Herr
Burdeyko fing an, sorgfältig zu zählen. Der Bursche stand dabei, sah mit
gierigen Augen zu.

»Na, das ist doch aber ... Sie sollen so viel kriegen, und ich so wenig?
Wo ich meine Haut doch am meisten zu Markt trag'?«

Herr Burdeyko hob den Kopf und stieß das unter dem Schreibtisch stehende
Licht mit dem Fuße um.

»Sei still, dummer Kerl, da draußen ist wirklich ...«

Weiter kam er nicht. Zu beiden Türen drang es herein. Er griff nach dem
Browning. Ein greller Lichtstrahl blendete seine Augen, eine schwere
Faust flog gegen seine Schläfe. Im Zusammenbrechen hörte er nur wie von
weitem, daß die Alte, die ihn durch ein ungeheuerliches Geldangebot zu
dem Verrate verführt hatte, wie eine vom Teufel Besessene schrie.

Die Gefangenen waren abgeführt. Gaston von Foucar stand mit den
Offizieren seiner Schwadron in dem hell erleuchteten Zimmer. Die Augen
lagen ihnen tief im Kopfe nach der aufregenden Jagd. Der Kommandeur saß
am Schreibtische und las die Briefe, die man dem Gastwirt Burdeyko
abgenommen hatte. Endlich fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.

»Herr von Foucar, wenn ich diese Briefe ohne Vorbereitung gelesen hätte
und in Ihrer Abwesenheit -- ich wüßte nicht, wie ich geurteilt hätte!
Aber jetzt wollen wir ins Kasino gehen, lieber Foucar, und eine
vergnügte Flasche Sekt trinken. Ich spendiere sie mit dankbarem Herzen,
weil meinem geliebten Regiment ein zum Himmel stinkender Skandal erspart
worden ist.«

»Heißen Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich möchte im die Erlaubnis
bitten, eine Viertelstunde später erscheinen zu dürfen. Bei Frau von
Lüttritz erwartet mich jemand.«

»Hab' schon 'was läuten hören, von dem Kleinen da, der in den nächsten
Tagen uns auf längere Zeit verlassen wird. Um allerhand Schandtaten
abzusitzen.«

Karl von Gorski klappte die Hacken zusammen und machte sein
respektvolles Gesicht. Nur die in seiner Nähe stehenden Offiziere mußten
das Lachen verbeißen, weil er in seiner bekannten Manier bei der
Antwort mit den Ohren wackelte.

»Sehr wohl, Herr Oberstleutnant,« sagte er, »ich bin tief zerknirscht.
Aber drei Monate Weichselmünde sind rasch herum. Namentlich wenn man sie
in zwei Hälften absitzen kann. Ich schätze nämlich, wenn ich zur
Hochzeit meines lieben Vetters Foucar ein Urlaubsgesuch einreiche,
werden Herr Oberstleutnant die Gnade haben, dies Gesuch zu
befürworten ...«

Der Kommandeur lachte auf.

»Frechdachs! Aber heute abend sollen Sie mein lieber Ehrengast sein beim
Schoppen im Kasino. Und wenn wir über kurz oder lang zu ernsterem
Beginnen reiten, sollen Sie mit Ihrem Zug die Spitze haben, Leutnant von
Gorski! Vorwärts, meine Herren ...«

       *       *       *       *       *

Anmerkungen zur Transkription:

Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _Unterstrichen_ und
fremdsprachiger Text in Antiqua mit =Gleichheitszeichen= markiert.

Folgende Druckfehler im Original wurden korrigiert:

Er biß sich auf die Lippen und verneigte sich stumm.
    Im Original: 'Lipen'

Na, gute
Nacht, Foucar,
    Im Original: 'Fucar'

Gaston hatte ihr ärgerlich ins Wort fallen wollen,
    Im Original: 'ägerlich'

mit einem himmlischen Kerl
    Im Original: 'himmlichen'

Adieu, Herr von Foucar.
    Im Original: 'vor'

Herr von Gorski zog die buschigen Augenbrauen zusammen.
    Im Original: 'Augenbraunen'

wirklich noch 'ne Weile Skat spielen, was wir hier reden,
    Im Original: 'Was'





End of the Project Gutenberg EBook of Sturmzeichen, by Richard Skowronnek

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK STURMZEICHEN ***

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including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
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Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
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[email protected].  Email contact links and up to date contact
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     Chief Executive and Director
     [email protected]


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