Das Gemeinsame

By René Arcos

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Title: Das Gemeinsame

Author: René Arcos

Illustrator: Frans Masereel

Translator: Friderike Maria  Zweig

Release Date: August 3, 2015 [EBook #49582]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GEMEINSAME ***




Produced by Jens Sadowski





                              RENÉ ARCOS




                            DAS GEMEINSAME


                              ÜBERTRAGEN
                                 VON
                        FRIDERIKE MARIA ZWEIG

               MIT 27 HOLZSCHNITTEN VON FRANS MASEREEL

                      IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG




                              EIN ABEND


Mit ähnlichem Getöse, als wenn in Wäldern gewaltsame Sturmstöße das
Pfeifen des Windes durchbrechen, rollt die Untergrundbahn ihrem Endziel
zu. Wie eine längliche schwarze Perle schlängelt sie sich durch den
Tunnel, um in der Station dann einer großen leuchtenden Perle zu
gleichen. Strahlend und atemlos hält sie inne. In die aquariumartigen
Glashallen fallen schwere und dunkle Gegenstände nieder, andere
leichtere gleiten und heben sich in den Labyrinthen der Stiegen und
Gänge, als bewegte sie die Abendluft, die um den Rachen des Tunnels
flattert. Das Aus und Ein genau scheidend, klappt jede der Falltüren wie
das Holzmesser eines Bäckers unerbittlich und unaufhörlich auf und ab.

Es ist in einem der letzten Züge, zu später Stunde an irgendeinem
Werktag.

In einem der Waggons befindet sich ein einziger Fahrgast, ein junger
Mann, der, in eine Ecke geschmiegt, vor sich hinsinnt. Tagsüber hat es
reichlich geregnet. Noch haften an den Fensterscheiben Tropfen und
Rinnsal des Regens, der den Zug auf den Boulevards, dort wo er aus der
Erde hervorkam, ansprühte. Die Schmutzspuren eines ganzen Tages bedecken
den Fußboden.

Der junge Mann verfolgt die Entwicklung einer Gedankenreihe, die sich in
ihm zu regen begonnen, kaum daß er Platz genommen hatte. In seinen
Gliedern drückt die Müdigkeit eines langen Tages, an dem er viel
gegangen ist und viel gesprochen hat; jedoch die nie aussetzende
Lebendigkeit seines Geistes läßt ihn den Körper und seine Abspannung
vergessen. Er hebt kaum den Kopf in den Stationen, die wie
Illustrationen einer Lektüre sind, zu denen etwa das Hineilen im Tunnel
der Text wäre.

Ein dumpfer dicker Geruch schwelt in den Waggons, die den ganzen Tag
über mit Menschenmassen vollgepackt waren.

Stunde und Ort flößen Ekel ein und stimmen traurig. Der junge Mann aber,
ganz hinter seine Gedanken verschanzt, gibt aus sich fast nichts an
diese augenblickliche Umgebung. Er sieht weder die Orangenschalen und
zweifelhaften Papiere unter den Bänken, noch die Fingerspuren auf den
Scheiben. Er bemerkt weder das plötzliche Aufblinken der elektrischen
Lampen auf den angebröckelten Wölbungen des Tunnels, noch den Namen der
Stationen, die der Zug eben verläßt. Halb unbewußt hören seine Ohren das
Zufallen einer Tür. Leise wird sein Auge von der Vision einer nahenden
Frau berührt, die sich nun setzt, vielmehr ihm gegenüber auf einen Platz
sich hinsinken läßt. Er besieht das neue Bild und kehrt zu den Gedanken
zurück, die ihn beschäftigen. Doch wie der Schwimmer, aus dem Wasser
tauchend, die Barke, die er ergreift, unter seinem Gewicht herabdrückt,
hängt sich eine lebendige Kraft, aus namenloser Stunde und verworrenen
Lauten geboren, an den Rand seiner Gedanken.

Er macht den Versuch, sich zu befreien, aber das fremde Wesen, das sich
plötzlich neben ihm aufhob, dringt gewaltsam mit seiner ganzen Gegenwart
auf ihn ein. Er muß den Kopf wenden. Da überrascht sein Blick den der
Fremden, der auf ihn gerichtet ist.

Der junge Mann sah anfangs nur zwei große sanfte Augen in einem ovalen
Gesicht, das von jener Blässe war, die er liebt. Mit Aufmerksamkeit und
Vergnügen prüft er dies feine Antlitz. Sein Blick begegnet nun oft dem
der jungen Frau, der nicht ausgesprochen gleichgültig bleibt. Es gelingt
ihr nicht, völlig unbeteiligt zu sein. Schon wird der Austausch ihrer
Blicke lebendiger. Frage und Antwort richten die beiden aneinander,
halten Zwiegespräche, von denen der Körper nichts weiß. Der junge Mann,
der bald das aussichtslose Vergnügen dieses Spieles erschöpft hat,
überläßt seinen schweifenden Geist anderen Träumereien. Seine Gedanken
gleichen einem Wolkenhimmel, er ist der Wanderer auf einer Straße und
betrachtet mit zerstreutem Blick das Wechselspiel der Wolken. Da aber
breitet sich weißer Schimmer, ja Helle, über den farblosen Himmel. In
den Körper des jungen Menschen kommt Bewegung, er regt seine Hände, sein
Gesicht verrät plötzlich innere Aufwallung. Alles, was an tätigem Leben
in ihm schlummerte, kocht auf in ihm, steigt unaufhaltsam an,
überschwemmt seinen Geist, der, gleichsam gelüpft, seine Gedanken nun
wie Blasen entflattern läßt. Mit einem Male hat er das Bewußtsein seiner
Existenz. Er denkt: diese Minute bin ich, sie ist mein Leben, sie steht
am Ende einer Ausdehnung, die all dies Leben ist, das ich schon gelebt.
Ich habe mich lange fortgesetzt, ich habe Monate, Jahre gedauert, um
diese Minute zu erreichen. Diese Lampen, über meinem Haupte aufgereiht,
wie Fackeln einer Ehrenwache, diese dicken Mauern, wie eine
Menschenmenge, die den Durchzug eines Helden erwartet, lange warten sie,
auf daß ich ihnen eines Tages begegne. Diese Helle, diese metallischen
Reflexe erwarteten schließlich mich nach so vielen Menschen und immer
wieder nach so vielen anderen. Minuten, ja ihr, erfüllt von mir, äußere
Umkleidung, die du mir Gestalt verleihst, Bewegung ohne Ende, ihr seid
mein Leben! Mit meinen Augen, mit meinem Geist besitze ich euch! Oh, nie
geschlossene Zeit, in dieser weit aufgetanen Minute biege ich meine
Seele vor, meinen Körper spreite ich aus und stürze mich vor das Gewirre
der Geräusche, dem Durcheinander von Schatten und Licht, wie Eroberer
tun, an der Spitze ihrer Horden.

Dem Hineilen des Zuges entlehne ich den wilden Taumel einer im Galopp
bergabwärts stürmenden Armee. Gedrängte Reiterei jagt singend hinter
mir. Wäre ich allein hier, ich glaube, ich würde meine Arme ausstrecken
und laut aus mir herausschreien.

Als seine Augen die junge Frau ihm gegenüber wiederfanden, war sie ihm
keine Fremde mehr.

Er betrachtet sie. Dem reizenden Gesicht mit den weit ausblickenden
Augen legt er ein Bild zu, das seinem Geist schon eigen ist. Er ruft
sich einen Komplex von Erinnerungen wach und stellt sie einer einzigen
Erscheinung gegenüber. Bei fortgesetzter Prüfung entdeckt er neue
Einzelheiten und verbessert sein erstes Urteil. (Er hätte diesen Augen
nicht so viel Sanftmut zugetraut.) Gerne würde er ihre Geistesart kennen
lernen, und wenn er auf dem Deckel des Buches, das sie gegen sich
gewendet hält und das er belauert, den Namen eines ihm sympathischen
Autors entzifferte, wäre er darüber aufrichtig erfreut.

Die schöne junge Frau versucht keineswegs der Eindringlichkeit seiner
Blicke zu entgehen; durfte er aus dieser Unbeweglichkeit, die
Einwilligung scheint, darauf schließen, daß sie dies Betrachten mit
einer scheinbar wollüstigen Geduld über sich ergehen läßt? Eine Art
geheimer Vertrautheit stellt sich zwischen ihnen ein. Über das
Unbekannte, das Trennende hinweg, fühlen sie sich in zarter und
köstlicher Einstimmigkeit als Komplizen. Zwei losgelöste Wesen sind sie,
die eine gleiche Minute umschließt. Irgend etwas, das er sich erträumt,
könnte sie plötzlich vom übrigen Weltall abtrennen; nach einem
furchtbaren Getöse fände er sich heil und sicher mit der zu Tode
erschrockenen Frau, die sich an ihn geklammert hält, in Nacht und Dunkel
wieder. Er erschafft sich das ganze Geschehnis. Sie sind in einem
ausgehöhlten Raum unter der Wölbung von Balken verschüttet, die sie
beschützen, sie hören das Schlagen der Hacken, die an ihrer Befreiung
arbeiten und deren Tätigkeit er gleichzeitig verlangsamen und
beschleunigen möchte. Den Duft ihrer Haare zu atmen, die Wärme ihres
angstbebenden Körpers an dem seinen zu fühlen, berauscht ihn. Seine
Stimme zittert, wie er auf ihre hundertfältigen Fragen antwortet.

Wie viel Anteil er schon an ihr nimmt!

Wenn sie auf der nächsten Station ausstiege, empfände er schmerzlich
eine Verminderung seiner selbst. Jenes Bedauern überkäme ihn dann gewiß,
das man fühlt, wenn man ein Wesen, das einem lieb ist, nach einem harten
Wort von sich hat gehen lassen. Und doch in einer Weile wird sie ja
gehen. Sie wird ihr Schicksal fortsetzen, und er das seine. Niemals wird
er sie mehr wiedersehen. So ist er tausenden und aber tausenden schon
begegnet. Wesen, die lange schon unterwegs sind, um ihn zu treffen,
nähern sich ihm, erreichen ihn, heften zuweilen ihren Blick in den
seinen und gehen über ihn hinaus, um sich im All zu verlieren. An
Straßenecken und Brückenenden, wie viele tauchten da plötzlich auf, wie
vom Himmel gefallen oder aus dem Erdboden erstanden. Sein Blick hat
längst gelernt unter den vielen, die ihm ein Tag vorüberführt, einige zu
erkennen. Im Gedächtnis behält er das Bild der Leute, die er täglich
vorübergehend streift. Er hat nie mit ihnen gesprochen, dennoch sind sie
in seinem Leben mehr als Fremde. Träfe er sie eines Tages anderswo, als
auf den Boulevards, wo er ihnen gewöhnlich begegnet, würde das
Überraschende eine Annäherung ihrer Seelen bewirken, es würde ihn
gelüsten, mit ihnen zu sprechen, sich über ihre Begegnung zu
unterhalten. Unter diesen Leuten ist ein Mann mit einem langen schwarzen
Bart, der einen Zylinder trägt und eine Schriftentasche unter dem Arm.
Er geht langsam und zuweilen mit einknickenden Knien. Dann ist da ein
anderer Mann mit müdem Gesicht, der nachlässig den Fuß schleppen läßt.
Er trägt einen steifen Hut, der allmählich grünlich wird. Zwischen
seinen Zähnen hält er eine oft erloschene Pfeife, und an regnerischen
Tagen trägt er nach Bauernart einen Regenschirm unter dem Arm. Eine Frau
ist da, die immer Eile hat und deren Hüte häufig wechseln. Und eine
andere Frau, deren Lächeln aus einem Kontorfenster ihm wohlbekannt ist.

Jenen allen wird er morgen, übermorgen und in vielen spätern Tagen
begegnen. Aber diese Frau da ihm gegenüber, die wird er niemals
wiedersehen: etwas greift ihm ans Herz.

Wenn er es dennoch wagte! Irgendeinen flüchtigen Vorwand könnte er
benützen, um sie anzusprechen. Wie man eine Besitzung umkreist und
versucht, durch das Gitter und Laubwerk zu spähen, könnte er Schritt für
Schritt das Geheimnis ihres Lebens durchdringen, die ersten Verbindungen
anbahnen, die ihm später ermöglichen würden, ihre Bekanntschaft
fortzusetzen. Doch Schicklichkeit und Brauch hemmen ihn. Was der Zufall
eines flüchtigen Vorgestelltwerdens gestatten würde, ist hier unmöglich.
Sie brauchten die Brücke eines menschlichen Wesens, die sie beide kennen
müßten, um das Geheimnisvolle dieser Hemmung zu überschreiten und
einander ansprechen zu dürfen. Wenn er sie jetzt so anredete, würde er
wohl nur eine Abweisung herausfordern.

Er wird nichts von ihr erfahren. In einigen Minuten wird sie aufstehen,
wie einer, der nie wiederkehrt. Die Mächte, die ihr Schicksal
beherrschen, werden sie in ihren Wirbel ziehen. Ein Wesen, das er jetzt
schon ein wenig kennt, das augenblicklich das einzig Lebendige vor
seinen Augen ist, lebendig bis an den Stoff der Bekleidung, wird in
einer Weile für ihn hinsterben, so sicher wie der Tod selbst. Nein, er
wird nichts mehr von dieser Frau erfahren.

Die Erinnerung an sie wird sich wie eine blasse Wolke am Sommerhimmel
verflüchtigen.

Und er hüllt sie in eine Zärtlichkeit, die voll Bedauern und Trauer ist.

Der Zug hat eine neue Station durchfahren, ohne daß sie ausgestiegen
wäre. Für einige Zeit noch war ihm ein Vergnügen gegönnt, und er fühlt
in sich Zufriedenheit aufstrahlen.

»Oh! Ihr! Vertraute meines täglichen Lebens, augenblicklich lebt ihr für
mich mit weniger Gewißheit als diese Frau, die ich zum erstenmal
erblicke! Eure Worte, eure Gebärden, die Geschäftigkeit eures Daseins
lebt anderswo als hier. Von diesem Augenblick meines Tages gehört euch
fast nichts, eine Fremde ist zwischen uns. Ihr seid mir weit weg in
einer Wirklichkeit. Ich müßte diese Frau hier erst wegstoßen, um euch
die Hand entgegenzustrecken.«

Ein durchdringender und sanfter Blick der jungen Frau war ihm wie die
Berührung einer Hand auf seinem bloßen Herzen. Er dachte nach und
versuchte mit seinen Augen zu sagen: »Ich grüße dich und liebe dich, wie
alle, die ich kenne. Oh, du! die du aus dem weiten All aufstiegst, wie
jene andere aus dem Meeresschaum! Die seltsame Verwirrung, die ich
empfand, als ich auf meiner Stirne die lauen Tropfen empfing wie Tränen
in mystischen Grotten, ich fühle sie in diesem Augenblick wieder, da ich
auf meinem Antlitz den sanften Sommerregen empfange, der aus deinen
Augen taut. Ich kann dir kein Zeichen geben, mit keinem Tuch dir winken,
kein Wort dieser Worte dir sagen, von denen mein Mund voll ist, denn
zwischen uns ist ein neutrales Gebiet, das zu überschreiten mir verboten
ist: Erblicke aber in meinen Augen alle Boten, die ich dir sende, sieh
den Schmetterling, den ich zuhöchst meiner Seele entflattern lasse.
Fürchte nicht, deine Augen in die meinen zu versenken und meinen Ruf zu
hören. Ich empfange dich in allen Bächen meines Blutes.

Tausend Wege kannst du finden, mich zu überwältigen. Oh! Niemals hat ein
Mann, der dir begegnet ist, mit solcher tiefdringender und reiner
Bewegtheit dich begrüßt. Niemals grüßte ein Schiff, trotz Kanonendonner
und Vivat seiner tausend Matrosen, mit solch frenetischer Begeisterung,
als die meine, die Erde, das Ziel nie endenwollender Reise. Sieh, aus
der Zeit komme ich, von der Erde, aus der Geschichte des
Menschengeschlechtes, da ich dich erschaue: Aus einer Zeit kommend, aus
der Erde, aus Vergangenheit, deren Tiefe ich nicht ermessen kann. All
die unzähligen Wege, die du durch Städte, Felder, Länder gezogen, bist
du nur auf mich zugegangen. Die Zeit wallt mit den Schicksalen aller
Menschen weiter, wie unendliches Haar, von Ewigkeitswinden
hinweggehoben, und siehe, heute berührt mein Schicksal das deine! Unter
den tausenden Menschen, die ich schon in allen meinen Lebenstagen
gewesen bin, unter all denen, die ich noch sein werde, ist einer, der
Mensch dieser Minute, der nur dir gehört und den ich dir hinopfere. So
werde ich denn nichts von dir wissen. Selbst den Klang deiner Stimme,
die vielleicht süß zu hören ist, werde ich nicht erfahren. Aber ich
kenne die Farbe deines Haares, und eben, obzwar meine Augen nicht mehr
auf dich gerichtet waren, sah ich doch die geschwungene Form ihrer
Wellen. Ich könnte das Muster der Stickerei auf deinem Kleide auswendig
nachzeichnen . . . oh, ich kann mir den Druck deiner weichen Hände
erträumen.«

Der Zug fuhr aufwärts. Als er aus der Erde kam, um auf der Brücke den
Fluß zu überqueren, wandte der junge Mann den Kopf.

Die Vision der Stadt mit ihren Schatten und tausend Lichtern, die sich
da und dort in den Himmel erhoben und wie Duft sich verflüchtigten,
erfüllten ihn mit neuer Freude. Die Klarheit und die große Zahl der
Lichter entzückte sein Auge. Seine Freude entzündete sich an dem ersten
Leuchten, vermehrte sich an den anderen, wuchs bis zu den Sternen und
vergnügte sich daran, eine Sekunde lang das ganze Gefunkel der Nacht in
sich zu schließen. Große Schatten bewegten sich. Die leuchtenden Wasser
des Flusses zogen majestätisch hin wie die Zeitläufe selbst. Er
überschaute, die Stirne an die Fensterscheiben des Waggons gepreßt, von
der Höhe der Brücke eine riesige Fläche, auf der sich lückenlos das
nächtliche Zauberspiel ausbreitete. Er war ja nur ein Mensch, durch
einen Zug, der unter gestirntem Himmel über einen Fluß hinfuhr, in
Begeisterung geraten, dennoch fühlte er sich voll Größe und trug in
seiner Seele zauberhafte Verzückung.

Er litt, als der Zug in den Tunnel einfuhr. Und aus allen Himmeln
gestürzt, sank er in seine Schwermut zurück. Er betrachtete die Fremde
von neuem. Er fand sie wieder, als hätte er sie schon ein wenig
verloren, und der Schatten einer Befürchtung durchglitt ihn, daß sie in
der nächsten Haltestelle vielleicht sich erheben würde. Zärtlich sah er
sie an und lächelte leise. Das Gesicht der Unbekannten verhärtete sich,
und sie wandte das Gesicht ab. Da -- dachte er andere Dinge.

Der Zug durchfuhr mehrere Stationen, ohne daß sein Gedankengang gestört
worden wäre. Dann wurde der Name einer Station ausgerufen, wo er
umsteigen mußte, und hieß ihn aufstehen. Er trat aus dem Waggon, ohne
auch nur den Kopf nach jener zu wenden, die er zurückließ. Aber auf der
Plattform längs des Geleises schreitend, tauschte er im Vorübergehen
einen verzweifelten Blick mit der Fremden, die er niemals wiedersehen
sollte.




                                WARTEN


Vor dem Landes-Greisenasyl wimmelt schwatzend eine kleine farblose
Menschenschar in Erwartung der »Alten«, die heute ihren Ausgang haben.
Glücklich haben sie es nicht getroffen; denn eine schneidende Brise
bläst vom Norden her, und bleierne Wolken ziehen zuhauf. Es ist einer
jener traurigen Tage, wo die Lider doppelt so schwer über den Blicken zu
lasten scheinen. Sogleich beginnt das Gesindel sein Gebalge bei dem
Kleinkrämer, der am Straßenrand violetten Wein ausschenkt und gebratene,
aufreizend riechende Würste verkauft. Zerlumpte, erschreckend blasse
Kinder jagen einander im schwarzen Kot, und eine unabwendbare Trauer
hängt vom verstürmten Himmel über die Ebene herab, in der kein Baum,
kein Vogel lebt. Eine Glocke ertönt. Der kleine Menschenhaufe an der Tür
drängt sich zusammen, Hände fassen die Stäbe der Gittertür. Aus den
entfernten Höfen schart sich ein blaues Völkchen: die Pfleglinge des
Asyls. Alle wenden sich mit stummen und verschlossenen Mienen dem
Ausgang zu. Freudlos tragen sie die Bekleidung der öffentlichen
Gastfreundschaft. Der erste erreicht nun die Tür. Sein blasses Gesicht
hebt sich wie ein weißes Gebrest von dem schmutzigen Pflaster ab. Er
sieht nach rechts und links, hält den Atem an, um die Gesichter, die
sich vor ihm drängen, zu überprüfen. Es ist niemand da, ihn zu erwarten.
Ein anderer kommt vorbei; er stellt sein Gleichgewicht mittels eines
Krückstockes her. Mißtrauisch und starr wirft er auf mich seinen
Vogelblick. Eine kleine Alte mit roten Bäckchen murmelt vor sich hin.
Der Lärm der Holzschuhe auf dem Pflaster der Höfe erinnert an das Getöse
von Wasser, das Steine mit sich rollt.

Die alten Männer und Frauen kommen jetzt in kleinen Gruppen heraus. Die
Wartenden vor dem Gitter fangen von Zeit zu Zeit einen der Pfründner ab
und führen ihn mit sich fort. Reichliche Umarmungen erfolgen, lärmendes
Hin- und Herrufen, vertrauliches Auf-die-Schulter-Klopfen.

Sogleich beginnt das Gejammer!

»Ach das Elend, da drinnen leben zu müssen! Alles könnte man noch
hinnehmen, wenn nicht das Verbot des Rauchens und die Gicht wäre! Den
Vater Julius, den man im Klosett beim Rauchen ertappte, haben sie heute
zurückbehalten. Ist das nicht zum Erbarmen, mit siebzig Jahren wie ein
Gassenjunge bestraft zu werden!«

Da sind auch einige, die sich umwenden und die Faust gegen das riesige
Gebäude ballen.

»Und dann, Sie wissen ja, was alles über die Suppe gesagt wird! Nun,
meiner Seele, es ist nicht gelogen. -- Letzthin . . .«

Er sieht mich, betrachtet mich mißtrauisch und hält plötzlich inne.

Immer noch kommen neue heraus. Da erscheint die Alte mit der Nase, die
nach allen Weltrichtungen Auswüchse hat. Und dann jene andere, der auf
der Stirn eine riesige Beule steht, rot von allen Röten des Zornes und
der Schande. Ich erkenne sie alle wieder. Das ist Vater Chauffour! Jetzt
hat er mich gesehen! Hurtig wird er mir wieder alle seine Unglücksfälle
erzählen und seinen Kindern fluchen.

»>Schau, daß du abfährst, alter Tagedieb<, haben sie zu mir gesagt. >Laß
dich dort füttern anstatt hier an uns zu zehren, bist schon weißhaarig
genug dazu. Schämst du dich nicht?< Was ist mir da übriggeblieben? Der
Sohn ist nicht schlecht, Herr, der ließe mich niemals ohne mein Päckchen
Tabak weggehen, die Schwiegertochter hat schuld, diese Kreatur!«

Da ist die »Tabaret«, die Alte, die sich immer verfolgt fühlt und an der
der Zorn wie Sauerteig gärt. Sie hat es satt; die Wärterin ist immer
hinter ihr her. Diese Ungerechtigkeit! Alle schmutzige Arbeit muß sie
leisten, auskehren, ausreiben, die Spucknäpfe reinigen und noch Ärgeres.
Was hat sie denn dieser Schlampe, dieser Dirne, die man nur selten
nachts in ihrem Zimmer antreffen würde, getan?

»Aber versuchen Sie nur, sich einmal zu beklagen! Der Unterdirektor
sieht alles nur mit ihren Augen, und der Direktor, das ist der liebe
Gott in seinem Himmel. O Elend, sich so viel in seinem Leben geplagt zu
haben, um so weit zu kommen! Das ist nicht recht!« Und die Alte zieht
weinend ab.

Allmählich werden die Ausgänger seltener. Nachzügler beeilen sich,
fürchtend, daß man ihnen die Tür vor der Nase schließt. Nun tritt noch
ein Alter als letzter heraus. Er sieht sich nach allen Leuten um,
ängstlich und verschämt. Die hohen grauen Mauern, die feuchten Höfe, das
Geräusch seiner Holzschuhe auf den hohlen Pflastersteinen, der Weg über
die langen Gänge, die mit Verordnungen und »Verboten« tapeziert sind,
all das scheint ihn einzuschüchtern, ja zu erschrecken. Er hat
abgewartet, bis alle gegangen waren, um seinerseits allein hinaus zu
kommen, so sehr leidet er unter dem Gedanken, mit diesen Leuten, die
fast alle heruntergekommen und widerlich sind, verwechselt zu werden.

»Vorwärts! Sputen Sie sich, oder ich schließe die Tür«, schimpft ihm der
Torwart mit den runden Spüraugen nach. Der Alte tummelt sich und senkt
den Kopf tiefer. Um ihn wird alles noch feindlicher. Er geht hinaus,
hebt die Augen zum Himmel empor, der geballtes Dunkel aus sich
hervorwälzt; und als er dann wenige Schritte vor sich zwei Pfründner
erblickt, bleibt er stehen und kehrt um. Er tut so, als suche er etwas
in seinen Taschen, um ihnen einen Vorsprung zu lassen. Drei Worte mit
ihnen zu wechseln, ist ihm schon zuviel. Es gelingt ihm, ohne gesehen zu
werden, feldwärts in einen kleinen Pfad einzubiegen. Eine Fabrikesse,
die die ganze Ebene beherrscht, speit unaufhaltsam dicken schwarzen
Rauch aus. Der Alte zieht einen Brief aus der Tasche, faltet ihn
auseinander und liest ihn nochmals. Sein Sohn, den er fünf Jahre lang
nicht gesehen und der ihn vor zwei Monaten im Asyl überrascht hat, sein
wiedergefundener Sohn hat ihn für heute nochmals zu einer Zusammenkunft
eingeladen.

Diese zwei Monate ungeduldigen Wartens sind ihm länger erschienen als
die vorhergegangenen fünf Jahre. Er liest abermals den Brief: »In der
kleinen Buschenschenke, wo wir das letztemal zu Mittag gegessen haben
. . . Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert . . . Dein Sohn, der Deiner
nicht vergißt.« Er faltet das kostbare Papier wieder zusammen und geht
weiter, so rasch es seine schweren Holzschuhe und die Hindernisse des
schmutzigen Weges erlauben. Dieser Sohn war das einzige Wesen auf Erden,
das sich für ihn interessierte. Seine Frau hatte ihn vor mehr als
fünfzehn Jahren verlassen, Johanna, seine sanfte, hübsche kleine
Tochter, war in ihrer frühen Jugend hingestorben. Eine Reihe von
Unglücksfällen waren dann gefolgt. Er hatte den Ozean zweimal überquert
und sich auf beiden Weltteilen umhergetrieben. Die Jahre hatten sich
während dieser Zeit gemehrt, und eines Tages war er mit seinem Gelde auf
dem Trockenen. Wer hätte ihn da mit achtundsechzig Jahren in Dienst
genommen?

Das gab ein Murmeln der Verwunderung im Eßsaal, als man hörte, wie ein
wirklicher »Herr« den »alten Bären« Vater nannte. Geweint hatte der Alte
und abermals geweint, seinen Sohn heftig umarmt und sich an ihn
gehangen, als gelte es, ihn endgültig fremden, beängstigenden Gewalten
zu entreißen. Er nährte jetzt die heimliche Hoffnung, daß sein Sohn ihn
aus dem verhaßten Hause herausnehmen würde. Beim ersten Wiedersehen
hatte er noch nicht gewagt, ihn darum zu bitten, aber heute war er dazu
fest entschlossen. Wie könnte er ihm das verweigern? Er brauchte ja so
wenig, ein kleines Zimmer, die notwendigsten Möbel und etwas über
dreißig Franken im Monat. Das Taschengeld zu verdienen würde er schon
eine Möglichkeit finden, indem er irgendwo arbeitete. Diese Hoffnung
nahm er zu der Begegnung mit.

In starker Gemütsbewegung stößt er eine Tür auf und tritt in das
Gärtchen der Schenke. Ob er schon da ist!? Er blickt die Lauben entlang.
Noch niemand! Er empfindet eine kleine Enttäuschung, beruhigt sich aber
mit dem Gedanken, daß es noch zeitig sei. Er setzt sich an einen Tisch
unter einer Laube. Man hat ihn nicht eintreten gesehen, und in seine
Gedanken vertieft, denkt er gar nicht daran, die Kellnerin zu rufen.
Wahrscheinlich hat er die Straßenbahn benützt und wird von dieser Seite
kommen, in diesem Augenblick denkt er an mich. Wenn er nur nicht gar zu
spät kommt! Der Alte beugt sich vor, um auszuschauen, er nimmt seinen
Brief heraus und liest ihn abermals. Ja, es stimmt: für diesen Tag. Nun
meint er das Warten leichter ertragen zu können, wenn er etwas
inzwischen trinkt, und er klopft auf den Tisch, um auf sich aufmerksam
zu machen. Man hört ihn nicht, und er wiederholt mehrmals seinen Ruf.
Die Magd erscheint endlich, und ihre Züge verhärten sich, als sie in ihm
einen Pfründner erkennt. Diese Schelme haben keinen guten Ruf, sie
gelten als Trunkenbolde und schlechte Zahler. Aber sie spürt doch, daß
dieser da sich von den anderen vorteilhaft unterscheidet, und sagt fast
besorgt:

»Im Saal werden Sie besser dran sein, es wird gleich zu regnen
beginnen.«

Da er aber hier warten will, um dann später mit seinem Sohn allein zu
sein, lehnt er, ein Lächeln sich abringend, sanft ab. Er wäre ja, wenn
es regnete, durch die Blätter geschützt. Man müsse ja auch Luft
schöpfen. Er hat sich einen Schoppen bestellt. Es bleiben ihm noch acht
Sous von den zehn Franken, die ihm sein Sohn anläßlich seines ersten
Besuches gegeben hat. Er hatte einige Kleinigkeiten gekauft, auch ein
wenig Wäsche. Der Rest reicht gerade noch für diesen Schoppen. Sein Sohn
würde ihm wohl noch etwas geben, und schon stellt er ein genaues
Inventar seiner Bedürfnisse auf, um die paar Franken, die er bekommen
wird, richtig zu verwenden. Er hat oft Leibschmerzen; eine flanellene
Bauchbinde wird er sich anschaffen.

Der Schoppen wurde ihm gebracht. Er schenkt sich den dicken Wein ein und
trinkt langsam. Es regnet immer noch nicht. Der Wind entführt die Wolken
ins Weite. Die dürftigen Sträuche und Büsche winden sich unter seinen
Stößen. Lärmend fährt ein Karren vorbei. Der Kutscher läßt zur
Zerstreuung die Peitsche knallen. In diesem Erdenwinkel ist das Leben ja
so eintönig. Regelmäßig zur selben Stunde verschlingen und speien drei
große Fabriken ein freudloses Volk in farblosen Gewändern aus. In der
Ferne schlägt eine Turmuhr. Nicht weit dampft ein Düngerhaufen.

Der Alte wird schließlich unruhig. Wieder zieht er den Brief hervor. Es
war darin keine Stunde bestimmt. Zweimal schon ist die Kellnerin
gekommen. Das erstemal hatte sie gesagt: »Ich dachte, Sie hätten mich
gerufen.« Das zweitemal verhehlte sie ihr Mißtrauen gar nicht mehr. Er
verstand sie und bezahlte.

Er läßt den Blick nicht von der Straße. Wenn er jemanden in der Ferne
sieht, beugt er sich vor und legt die Hand über die Augen. Doch bald
wendet er, enttäuscht von unbekannten Schritten, den Kopf. Die Zeit wird
immer schwerer lastend fühlbar.

Er bemerkt, daß der grüne Anstrich des Tisches, der an manchen Stellen
abgeschabt ist, eine merkwürdige Zeichnung bildet. Der Singsang eines
Händlers, der Hasenhäute feilbietet, entführt ihn weit weg, dann findet
er sich wieder auf die Erde zurück an den Tisch und in die gleiche
peinvolle Beunruhigung. Von Zeit zu Zeit trinkt er einen kleinen
Schluck, um sich das Warten zu erleichtern, macht längere
Zwischenpausen. Um den Wein zu sparen, sagt er sich: Ich werde immer
erst trinken, sobald ich bis hundert gezählt habe, und schlürfend trinkt
er dann nur einen ganz kleinen Schluck. Aber seine Gedanken nehmen ihn
wieder gefangen, und er trinkt und trinkt und vergißt dabei seinen
Vorsatz. Erschrocken bemerkt er, daß ihm nur noch ein kleiner Schluck
bleibt, und seine Traurigkeit steigert sich. Dieser Wein hatte bisher
seine Erwartung begleitet und die Zeit sein Aroma angenommen. Er fühlt,
daß er viel verlassener sein wird, sobald diese Hilfe erschöpft ist.
Neben einem leeren Glas wird jede Sekunde sich unendlich dehnen.

So gelobt er sich, den Rest erst zu trinken, wenn sein Sohn kommt.

Er fröstelt. »Gehen Sie hinein, um sich ein bißchen zu erwärmen«, ruft
ihm der Wirt zu, der eben durch den Garten geht.

»Es geht schon an, mir ist nicht kalt«, antwortet er.

Die Worte dieses Mannes, der ihn in seinem Warten stört, verursachen ihm
ein wirkliches Schmerzgefühl. Er kann es sich nicht erklären, aber es
ist ihm, als betrafen sie irgendwie seinen Sohn. Mit all seiner Kraft
will er ihn erwarten, ohne durch irgend etwas gehindert zu sein.

Die Zeit fließt hin, im Glase hat sich der Wein noch vermindert. Der
Wirt kommt vorbei und fragt dringend: »Noch ein Schoppen gefällig?«

Peinlich berührt, wie es eben einer ist, der ein leeres Portemonnaie in
der Tasche hat, antwortet er. Eine große Angst ist über ihn gekommen.
Lange schon sitzt er so; der Rest des Weines genügt nicht mehr, seine
Gegenwart in der Laube zu rechtfertigen. Er spürte, daß der ausgedehnte
Schoppen dieses wunderlichen Alten aus dem Bürgerspital dem Wirt
Beunruhigung einzuflößen beginnt.

Verlangte er ein neues Glas, so würde dieser sich besänftigen und ihm
Aufschub gewähren. Ach Gott! Soll er sich eines bestellen, das sein Sohn
bezahlen müßte? Nein! Etwas in ihm lehnt diese Möglichkeit ab. Zitternde
Ungeduld erfüllt ihn.

Der Schank, ganz nahe hinter ihm, wird zu einem Ort voll Feindlichkeit.
Und die verdammte Straße, die ihm eigensinnig seinen geliebten Wanderer
vorenthält! Als wollte er einen Widerstand besiegen, bohrt er seinen
Blick ins Weite, als wollte er die teure Erscheinung, die ohne Zweifel
weitab hinter dem Horizont auf dem Wege ist, zu sich herreißen. Er gibt
sich nicht mehr geruhsam der Zeit hin. Er lehnt sich gegen jede einzelne
Minute auf. Seinen Willen möchte er ihr aufdrücken, ihren Lauf hemmen
oder beschleunigen. Mit der einen Hand möchte er gegen den Schank hin
ein Zeichen machen: Wartet es nur ab, beunruhigt euch nicht, mein Sohn
wird kommen; und mit der anderen möchte er eine große Gebärde gegen den
Horizont vollführen: So tummle dich doch, siehst du denn nicht, daß ich
dein Kommen nicht mehr werde abwarten können!?

Immer noch nichts. Der Wind bläst und fegt eine schmutzige Zeitung auf
die Straße hinaus.

Zwei Kutscher, die aus der Schenke kommen, werfen einen schiefen Blick
zu ihm herüber in die Laube. Er schließt daraus, daß man in der
Gaststube über ihn bereits schwätzt. Die Kellnerin geht zweimal
sichtlich ohne Vorwand durch den Garten. Sie will ja gewiß diesen armen
Alten nicht stören, den sie nur ganz harmlos bedrängt, da er ja
schließlich doch hier Gast ist; aber sie ist so auffällig bemüht, ihn
nicht zu bemerken, um ihn nicht zu verletzen, daß sie auf diese Art ihre
heimliche Befürchtung verrät. Da endlich entschließt sich der Alte zur
Auskunft:

»Ich erwarte meinen Sohn, der sich mit mir hier verabredet hat.«

»Ach so«, erwidert die Kellnerin.

»Wir haben ja hier schon einmal zu Mittag gegessen. Vor zwei Monaten,
erinnern Sie sich, Sie hatten uns in den kleinen Saal gewiesen.«

Nun ist alles Mißtrauen geschwunden. Das Mädchen entsinnt sich.

»Ja natürlich, ich sagte mir ja gleich, dieses Gesicht kenne ich. Sie
warten also auf Ihren Sohn. Da sollten Sie sich aber an den Ofen setzen,
es ist nicht warm hier draußen.«

»Mir ist nicht kalt«, sagt der Alte, von Frost geschüttelt.

Nun hat er einen neuen Aufschub, kann dableiben, ohne daß man sich um
ihn kümmert. Aus einer alten abgebrauchten Brieftasche, in der sich
einige Reliquien von unschätzbarem Wert befinden, nimmt er eine
Photographie, dann eine andere . . . seine Augen beginnen zu tränen. Er
verschließt seine Tasche und steckt sie wieder zu sich. Rasch fällt die
Nacht nieder, der Schatten unter den Büschen wird dichter, die Luft
eisig. Wie schwarzes Gewässer breitet sich die Traurigkeit um den Alten.
Sie durchdringt ihn manchmal so sehr, daß sie bis an sein Herz steigt
und es einen Augenblick überwältigt. Er preßt seine Weste zusammen und
richtet sich auf, als müßte er etwas Feindliches abwehren. Jemand eilt
dort auf der Straße hin, aber er weiß wohl, es ist nicht für ihn . . .
die Schritte gehen vorbei, ohne anzuhalten. Er faltet die Hände am
Tisch. Auswendig sagt er den Brief wieder her, und das Fragment eines
Satzes: »Falls nicht Unvorhergesehenes eintritt . . .« läßt ihn
innehalten und bleibt ihm vor Augen. Nun zweifelt er nicht mehr. Seit
langem ist er da, vielleicht schon seit Stunden, aber sein Sohn wird
nicht kommen. _Er wird nicht kommen._

Schon ziehen die Pfründner heimwärts. Immer zahlreicher kommen sie an
dem Gitter vorbei. Einige haben ihn sogar bemerkt, ohne ihn, der sich
durch seine gewohnte Stumpfheit den Titel »alter Bär« eingetragen hat,
anzureden!

_Er wird nicht mehr kommen!_ . . . Es ist gewiß kein Vergnügen für einen
jungen Mann, seinen Vater im Greisenasyl zu besuchen, einen Vater, der
ihm viel Übles angetan und den Namen, den auch er trägt, befleckt hat.
Aus Mitleid hatte er seinen Widerwillen bezwungen und war einmal
gekommen, ein armseliges einziges Mal. Er hat seine Großmut so weit
getrieben, einen zweiten Besuch in Aussicht zu stellen. Aber nun weiß
der Alte, daß es niemals dazu kommen wird, und mit einem Schlag wird ihm
das ganze Elend seines Lebens gegenwärtig. Er fühlt in der Brust eine
plötzliche Aufwallung, die sein Herz erschüttert und bis zum Halse
aufsteigt und sein Gesicht verzerrt, über das mit einemmal Tränen
hinrieseln.

Das kalte Naß auf seinen Wangen versiegt, und mit geschlossenen Augen
sieht er die vergangenen Tage. In seinem Gedächtnis drängen sich mühelos
und wirr die Erinnerungen, und er überläßt sich ihnen mit einer Art
schmerzlicher Wollust.

. . . Da stehen an einem Flußrand schöne Pappeln, die all ihre Blätter
im Winde regen, dann ist da plötzlich ein kleines blasses Mädchen in
einem Bett hingestreckt, die Hände über der Brust gefaltet. Und
flüchtige Erinnerungen: Ein Fleck an einer Wand, das Bruchstück eines
einst vernommenen Gespräches, ein Keller, in dem man Gartengeräte
einordnet, das schöne Antlitz einer Frau, die still in einem Fenster
weint. Nun verdoppeln sich seine Tränen. In die Hände verbirgt er sein
Antlitz und schluchzt laut in die Dämmerung, lange, lange. Allmählich
besänftigt sich das Schluchzen. Seine Hände sinken herab. Er öffnet die
Augen und erwacht in eine Welt, die alle Trauer auf sich genommen hat,
in eine Welt, die still ist wie die Entsagung. Er sieht ein Zimmer
wieder, mit seinen Möbeln, den glänzenden Parketten und den vom Mond
bespülten Fensterscheiben, ein Zimmer, in dem er sich als Kind nachts so
sehr fürchtete. Er hört in blassen Nächten die Hähne krähen, und das
Weltall ist nur mehr Traum. In seinem kleinen Strohfauteuil sieht er
sich wieder, zur Stunde, da der Sonnenuntergang den ganzen Garten
belebte, sieht sich vor einem Fleckchen Sonne, das sich im Hintergrund
des Hühnerstalles verspätet und das wehmütig in ihm Ritter und Könige
aus dem Orient und ganz versunkene Epochen wachruft. Verzweiflungsvolle
Visionen bedrücken ihn nun. Seine Tränen fließen von neuem. Er denkt an
den Rock, den er seinerzeit getragen -- -- -- im Krieg. Verzweiflung
läßt ihn erbeben, wie er sich in Uniform sieht. Glückliche Zeit, wo die
Stunde des Niederganges noch nicht geschlagen hatte. Heute ist er von
aller Welt verlassen, selbst dieser Sohn, den er so sehr liebte, ist,
kaum wiedergefunden, aufs neue verloren. Käme er doch! Wie würde er ihn
umarmen! Wie würde er an seiner Schulter schluchzen! Ein Bild seines
Kummers malte er ihm und fände so erschütternde Worte, daß sein Kind ihm
in die Arme fallen würde, um mit ihm zu weinen. Komm, mein Kleiner, o
komm doch! Er weiß es ja, daß er zu dieser Stunde nicht mehr kommen
wird, daß er nicht mehr kommen kann. Er widersteht dieser grausamen
Wirklichkeit mit der erbitterten Leidenschaft eines Menschen, der eine
letzte Hoffnung hegt. Die unbeugsame Wirklichkeit wird immer fühlbarer.
Er besinnt sich auch, daß er in den nächsten Tagen auf die bescheidenen
Vorteile verzichten muß, die ihm die zehn Franken seines Sohnes
gestattet hatten. Keinen Sous mehr in der Tasche! Verloren die Hoffnung,
dies düstere Haus jemals zu verlassen. Das Weltall zieht sich um ihn
zusammen, unerreichbar scheint ihm alles. Die Wesen strömen hin und her,
ohne einander zu kennen. Er errät, bis zur Verzweiflung getrieben, wie
unendlich fremd die Erde den Gestirnen ist. Er mag rufen, seinen Schmerz
hinausschreien, niemand wird ihn hören. Auf der einen Seite des Lebens
sind die Familien, die Freunde, die glücklichen Gefährten, das ganze
frohlebige Dasein . . . auf der anderen Seite ist er allein: die Kälte,
das dunkelste Elend, das Andenken seiner Mutter, die sanft war, lebhaft
stehen sie vor seinem Geist. Er hängt sich mit aller Kraft daran.
Stotternd murmelte er: Mutter, Mütterchen. Seine Kappe ist
herabgefallen, seine Haare verdecken die Augen. Er möchte in der süßen
Erinnerung versinken oder ihr so viel Wirklichkeit einflößen, daß er ihr
ein heißes Leben erweckte, das dem seinen gliche. Er denkt an zwei
kleine Flammen, die auf dem frisch entzündeten Dochte der Lampe hin und
her schießen, um einander zu erreichen und sich zu vereinen. Doch dem
Bemühen hingegeben, dies kostbare Bild zu verwirklichen, hat er die
Vorstellung, daß die ferne Nacht mit Absicht schwiege und daß seine
Gedanken in einen Trichter rinnen, der sie gänzlich aufsaugt. Die
Vorstellung an Tod und Einsamkeit übermannt ihn so sehr, daß er in
angstvoller Trauer schauert.

Unwillkürlich streckt er die Arme aus.

Die Glocke des Asyls beginnt zu läuten. Dreimal wird sie schlagen, dann
wird das Tor geschlossen werden. Die Nachzügler werden ausgesperrt sein.
Auf! Es muß wohl sein, daß er geht. Er erhebt sich, zögert aber, seinen
Körper so geradeaus in die Verzweiflung zu tragen. Flüchtig und scheu
verläßt er den abscheulichen Garten, den die Nacht schon erfüllt, und
biegt in den kleinen Pfad, der längs der Baracken der Hadernsammler
hinführt. Die Nebelpfeife einer Fabrik zeigt an, daß die Arbeiter die
Werkstätten verlassen. Armselige Lichter leuchten da und dort längs der
Ebene. Der Alte schreitet aus. Kaum, daß er sich auf den Weg gemacht
hat, spürt er wieder den Schmerz im Bein, den er vergessen hatte. So
geht er in die Nacht hin, und seine Holzschuhe schleifen den dicken Kot
mit sich. Der Wind hat nachgelassen. Mit dumpfem Aufklang fallen große
Regentropfen nieder. Er stößt im Vorwärtsgehen an Steine und schluchzt.
Jedesmal, wenn er stolpert, richtet er Beschimpfungen gegen sich:
»Krepier, alter Dummkopf, wer wird nach dir fragen? Krepiere, deine
Geschichte ist zu Ende, alter Lumpensack. Hast dein Leben lang nichts
als Böses vollbracht. Jetzt krepier, daß man dich in dein Loch scharrt,
einsam, ohne Singsang. Ein Haufen Erde auf deinen Leib, das ist das
Beste, was du von nun an erhoffen darfst.« Doch sein heftiges Schluchzen
straft seine Worte Lügen. Viele Fehler hat er zweifellos in seinem Leben
begangen, aber die Strafe nun empfindet er dennoch als zu hart, ihr
Ausmaß erdrückt ihn, und sein Kummer löst sich in neuerliches
Schluchzen, das ihn tief erschüttert.

Nun hört er den zweiten Ruf der Glocke. Eilt er jetzt nicht, so wird er
ausgesperrt, und er muß nun laufend das Haus erreichen, in das er, ach
so gerne, nie wieder zurückgekehrt wäre.

»Tod, heiliger Tod, willst du mich nicht erlösen?«




                              VORAHNUNG


Mitten in der Nacht war er aufgestanden, die Stirne schweißbedeckt, im
ganzen Körper schwere Müdigkeit. Mit offenen Augen starrte er ins
Dämmern der entsetzlichen Vision nach. Er hatte mit aller Kraft
versucht, seine Blicke auf die Gegenstände zu heften, die das Dunkel
mehr ahnen als sehen ließ, dann hatte er sich bis über den Hals in die
Wärme des Bettes zurückgeflüchtet, doch der hartnäckige Traum hatte ihn
von neuem ergriffen.

Er war kein Dutzendmensch, er glaubte an so manches, und um flüchtigste
Dinge stritt er mit Leidenschaft. Es gab Worte, die ihn berauschten; er
lächelte mit Behagen, wenn er sie aussprach. Man wußte, daß er sich mit
Ausdauer Arbeiten hingab, aber das Ziel seiner Bestrebungen und die
Ursache seiner Unruhe war den meisten Menschen unbekannt. Da ihm die
Gesetze der Ökonomie fremd waren, verausgabte er sich ohne Rücksicht auf
Nutzen. Sein Leben verbrannte um nichts, aber es glich einer Kerze vor
heiligem Bildnis in nächtlicher Kirche, denn ein heimliches Feuer wohnte
in ihm.

Wie alltäglich war er aufgestanden und hatte sich angekleidet. Er war
den gewohnten Gefährten seines Lebens begegnet, und sein Mund war stumm,
seine Blicke waren nirgends haften geblieben. Er hatte ein Buch und dann
noch eines durchgeblättert, sich gesetzt und wieder erhoben. Zwanzigmal
hatte er vom Fenster die Straße oder den Himmel nach geheimem Rat
befragt. Immer noch beherrschten ihn beängstigende Bilder.

O Mutter! Welche dunkle verhängnisvolle Macht hat es gewollt, daß du,
die du sanft, und ich, der so voll kindlicher Zärtlichkeit war, daß wir
niemals Seite an Seite leben konnten. Oh, du weißt nicht, wie groß meine
Verzweiflung war, wenn ich nach unseren beklagenswerten Zwistigkeiten
durch die Wand des Zimmers dein Weinen vernahm. Geliebte Mutter, schon
die Erinnerung an dein Antlitz läßt mich Tränen vergießen. Ach, wenn du
doch um die Zähigkeit meiner Reue wüßtest, die Heftigkeit meines
Schmerzes, wenn ich deiner gedenke! Du bist auf Erden das einzige Wesen,
das ich liebte. Und niemals sagte ich es dir, vielleicht auch wirst du
es niemals wissen. Ach, warum? Warum nur! Oft denke ich daran, daß ich
dich eines Tages verlieren muß. Ich sehe mich hinter deinen sterblichen
Resten schreiten, und solch eine Fülle von Trauer drückt auf mich
nieder, daß ich ganz mutlos werde. Wenn du gingest, ehe die letzten
Worte, die wir einander sagten, in der Wärme des Verzeihens auslöschten,
würde mein Schmerz zur Unerträglichkeit.

Aus unabweisbarem Verlangen, seine Unruhe zu überrennen, war er nach dem
Frühstück abgereist.

»Ist Ihnen eine schlechte Nachricht zugekommen?« hatte man ihn gefragt.
»Nein, ich muß meine Mutter aufsuchen, es ist weiter nichts . . . eine
Familienangelegenheit.«

                   *       *       *       *       *

Der Zug fuhr durch die Spätherbstlandschaft dahin, mitten durch tiefen
Schlaf, den er nicht aufstörte.

Es war schon lange her, daß er im Vielerlei der Geräusche und Bewegungen
den Bahnhof verlassen hatte. Seine Aufregung hatte die Blicke der
Zurückbleibenden auf sich gelenkt. Doch ohne Eile und mit aller Kraft
hatte er sie mit sich gezogen, bis sie den Körper dem Zuge nachbogen und
sogar Tränen aus ihren Augen traten. Die Blicke waren pfeilgleich, wie
lange Fäden aus gespanntem Bogen, durch die Luft gefolgt, bis sie einer
nach dem anderen zerrissen.

Ein wenig später hatte das Lokomotivenungeheuer, fröhlich pfeifend, die
offenen Felder erreicht.

Die Reisenden drängten die schon ferne Traurigkeit der Abfahrt in ihr
Gedächtnis zurück und musterten sich gegenseitig. Irgendwelche
Betrachtungen, Dank und Entschuldigung wechselnd, streckten sie ihre
Worte wie Hände einander entgegen. Die Reisenden, die noch eine weite
Fahrt vor sich hatten und die ganze Nacht im Abteil verbringen mußten,
nisteten sich sorgsam ein, standen auf, öffneten Taschen und veränderten
unaufhörlich ihre Lage.

Die Gespräche waren rasch verflattert, hatten sich schließlich auf zwei
oder drei Reisende beschränkt, einige Worte waren noch durch die Tür
entflogen, dann war nichts mehr hörbar, als das Hineilen des Zuges,
Pfeifen, der Lärm der Räder, des Puffers, der Achsen und Bremsen.

Männer und Frauen schlummerten in der drückenden Schwüle des Abteils.

                   *       *       *       *       *

Er war es, der seine Worte sparte und seine ganze Aufmerksamkeit der
Landschaft zuwandte, wie sie ihm der dahineilende, in den Stationen nur
atemholende Zug aufrollte.

Der Strahl des Sonnenunterganges veränderte alle Dinge, als sein Auge
wieder die kleine Haltestelle wahrnahm, die in der Landschaft verloren
dalag. Gewöhnlich kam man nicht mit diesem Zuge, man zog den rascheren
Abendzug vor.

Niemand außer ihm stieg aus, niemand stieg ein. Aus den Türen beugten
sich neugierig einige Köpfe vor, wenige Schritte weit trug er noch die
Erinnerung der Gesichter mit, denen sein Blick begegnet war.

Keinerlei Gefährt wartete am Ausgang. So hatte er denn eine gute
Wegstunde vor sich. Er schloß die Augen und sog diese reine Luft ein,
die ihm nun wiedergegeben war. »Vorwärts also!« Er machte sich auf den
Weg.

Die letzte Abendröte des Himmels kämpfte gegen große Massen violetten
Dunkels. Ein rosiges, hinsterbendes Licht färbte die Straßen, die
Wiesen, die aufgepflügten Äcker und die abgemähten Felder. Die
Landstraße ging bergab, bergan.

Er war bisher gegangen, ohne rings etwas zu sehen, bis die Abendfrische
ihn frösteln machte und er seine Augen hob, um sie selbsttätig
umherschweifen zu lassen. Rasch gab er ihrer Neugier nach. Er stand an
der Flanke eines Hügels, der ein Tal überragte. In der Ebene unten sah
er am Rande eines gelbgoldigen Flußbettes einen Maierhof mit seinen
Nebengebäuden. Ein fast unsichtbarer Rauch stieg langsam gegen den
Himmel, der nun in blassem Blau schimmerte; eine kaum fühlbare Brise
hatte die Wolken hinweggefegt.

Er war ergriffen. Soweit Auge und Ohr reichen konnten, stieg etwas
Lächelndes und Friedliches mit dem durchsichtigen Rauch hinan -- stieg
-- denn es war nichts Bewegungsloses, wie etwa eine lastende Ruhe auf
der Erde, sondern ein Lebendiges, ein Lebhaftes und Strahlendes, das an
eine sehr langsame und feiervolle Himmelfahrt gemahnte. Das ganze
Weltall war nur mehr ein wohl angemessener Rahmen um dieses Schauspiel,
und die Bäume, die in ihre Blätter eingenistet waren, schienen eine
Freude, uralt und unergründlich wie die Welt selbst, in sich zu wahren.

Er setzte sich auf die Böschung, pflückte ein Gras und kaute daran. Dann
glaubte er das Geräusch eines Wagens zu vernehmen und erhob sich.

Er durchquerte einen kleinen Fichtenwald, der so dunkel war, daß er
unwillkürlich seine Hände aus der Tasche zog. Er drehte den Kopf nach
rechts und nach links. Er lebte mit einemmal in einer Art Exzeß im
Innersten seines Ichs. Einmal wandte er sich aufmerksam, horchte auf und
ward lebhaft bewegt. Er hatte schon den Wald verlassen, als er, die
Augen aufschlagend, auf dem Gipfel einer kahlen Erhöhung einen Baum
entdeckte, einsam und riesenhaft, der sich sehr stark von jenem Teil des
Himmels abhob, wo die letzten Strahlen der Sonne verdämmerten, und der
wie in tragischer Geste seine Zweige in alle Richtungen warf. Ein
unangenehmer Eindruck machte sich ihm fühlbar, und er sah die
nächtlichen Bilder wieder. Gelesenes, das von Vorahnungen handelte, die
später die Tatsachen bestätigten und die ihm nichtssagend erschienen
waren, gingen ihm aufs neue durch den Kopf. Sein Urteilsvermögen
beschäftigte sich nicht mit diesen Geschichten, sein Verstand hatte
nichts übrig für sie. Wenn sie auch plötzlich an der Oberfläche seiner
Erinnerungen erschienen, er schenkte ihnen deshalb nicht mehr
Aufmerksamkeit. Aber hinter den Gedanken, die in seiner Stirn lebten,
nahe den Augen oder ferner, vielleicht viel ferner, meinte er unklar das
Vorhandensein einer drückenden Erinnerung zu spüren.

Die Nacht war herabgesunken. Er schritt hin und dachte dabei, daß der
Mensch im Dämmern beseelter sei. Ein Gefühl voll Ernst und Tiefe erregte
ihn. Er fühlte sich einer Majestät zugehörig, die er sich fortan zu
wahren versprach. Er bedauerte, so oft knabenhaft, ja selbst frivol
gewesen zu sein. Wie hatte er sich doch diesen schalen Vergnügungen
hingeben können! Er dachte mit Verachtung und Unbehagen an diese
fraglichen Gefährten seiner Zerstreuungen.

Nun näherte er sich. Hier war es, wo er im dichten Gras, unweit des
Grenzsteines, auf den er sich, um zu lesen, gesetzt, eine kleine Schere
verloren hatte, ein Andenken, das ihm lieb war, und während er so
hinging, forschte er das Dunkel ab. Das Glockengeläute kam bis zu ihm
heran. Er erbebte: schon so nahe war er! Da hatte er Angst, und seine
Brust schnürte sich zusammen. Er horchte erschrocken. Ein Begräbnis oder
eine Hochzeit? Wer kann das unterscheiden! Als er klein war, hatte er,
zum Fenster hinausgelehnt, oft diesen Glocken gelauscht. Er war nur Kind
gewesen, und schon hatte Unzufriedenheit in seinem Gemüt gewohnt. Die
Stirn an die Scheiben gepreßt, hatte er bei Einbruch der Nacht die
Bäume, hauptsächlich jene Akazie betrachtet, die sie alle überragte. Die
Gärten waren voller Schatten gewesen, und wenn er die Augen hob, hatte
er die Unendlichkeit grenzenlos vor sich herfliehen gefühlt. Anders als
mit dem Gedanken hätte er diesen Raum füllen wollen, über den Hügeln
schweben mögen, um für immer sein Leben jenem Zentrum des Weltalls zu
verschwistern, das seine Augen und sein Instinkt da oben im funkelnden
Himmel errichtet hatten. Er hatte vor Traurigkeit gefroren, ein so
Geringes gegenüber dem Großen zu sein, das er ahnte. Seine Mutter hatte
ihn dann gerufen: diese gütige Lampe, die willkommenbietende, der
Anblick der vertrauten Möbel beschwichtigten bald in ihm die Bedrückung,
die die Weite und der Abend ausgeströmt.

Seither hatte er den Vorsatz und dann die Gewohnheit angenommen, sich
zwecklose Betrachtungen zu untersagen. Die Stadtglocken beunruhigten ihn
längst nicht mehr, und er verhöhnte böse jede romantische Schwermut.
Wenn es ihm dennoch manches Abends widerfuhr, unbeweglich im Dunkel am
Fenster zu sitzen, bis er allmählich alle Erdenschwere verlor, so
geschah dies in einer fortgesetzten Steigerung seiner Seele nach oben,
in einem Aufschwellen seines ganzen Wesens, das nach jeder Rückkehr in
sich selbst die Fülle der Gegenwart wieder entdeckte.

Vor ihm strahlten Lichter auf. Dies war der Marktflecken, den seine
Mutter bewohnte. Von seiner Höhe überragte er ein ganzes Gebiet von
Ebenen, Flüssen und weißen Landstraßen. Die Häuser wuchsen mit dem
Felsen zusammen, der sie trug. Die Kirche war ganz oben, Gott so nahe
als möglich.

Er kam durch einen Garten, wo Wäsche aufgehängt war. Die Unzahl der
Sterne machte den Schatten durchscheinend, und man sah, wie die
Grashalme sich regten. Er vernahm ein Geräusch. Ein ihm unbekannter Hund
sprang aus seiner Hütte, schnupperte an ihm, ohne zu bellen. Eine große
Angst übermannte ihn. Mit jedem Blick in diesen Garten, der ihm so
vertraut gewesen, lächelte ihm eine Erinnerung, die in seinem Gedächtnis
schlummerte. Die Dinge schienen ihm da so voll von einem verborgenen,
fremdartigen Leben, das er nie vermutet hatte. Er hielt inne, und
sogleich ward er der unendlichen Stille der Nacht in all ihrer Größe
bewußt. Ja, vielleicht war es die Gewalt dieser Ruhe gewesen, die seinen
Schritten Einhalt geboten. Lange sog er den Duft ein, dem die Kühle der
Stunde eine unirdische Reinheit verlieh.

Als er die Hand auf die Türklinke legte, kam wieder alle Angst über ihn.
Irgend etwas ging für ihn von dieser Tür aus, eine Art feindseliger
Gegenwart. Er öffnete die Tür, durchschritt den von einer Petroleumlampe
erhellten Gang und stieg die Treppe hinan. Der staubige Althäusergeruch
erweckte manche Erinnerung in ihm. Vom ersten Stock vernahm er
Kinderlachen, und er blieb stehen, weniger um zu horchen, als um einen
Augenblick noch zu zögern. Sein Herz schlug sehr stark, und eine
plötzliche Müdigkeit machte seine Knie zittern. Aus Furcht, überrascht
zu werden, schritt er weiter. Die zweite und letzte Lampe des
Stiegenhauses ward sichtbar. Da sie qualmte, drehte er sie herunter. Bei
jedem Schritt wurden ihm die Schuhe schwerer. Er blieb oft stehen und
sah, die Hand auf dem Gitter, in den Schacht der Treppe oder in sich
selbst hinab. Wieder durchlebte er seinen nächtlichen Traum, der gewiß
tragischer war als alle Wirklichkeit. Sicherlich hatte er noch große
Angst vor dem, was er gesehen hatte, aber bald hatte er sich wieder in
der Gewalt; und wenn er es ersehnt hatte, seine Mutter zu sehen, so
geschah das aus Gründen, die schließlich mit jener nächtlichen Episode
nichts zu tun hatten. Eine Gewißheit würgte ihn jetzt. Er würde eine
bedrückende Nachricht vernehmen. Aber was? . . . Was? . . . Oh, was denn
nur?

Aber dies geruhsame Haus, in dem gelacht wurde, schien kein solches
Drama erlebt zu haben. War indes dieser Friede, einzig von der
Unterhaltung der Kinder unterbrochen, nicht ein neuer Beweis? Er stellte
sich in diesem Augenblick die Wohnung seiner Mutter vor. Fremde gingen
von einem Zimmer ins andere und sprachen mit gedämpften Stimmen. Von
neuem erschien ihm ein quälendes Bild. Auf den Fußspitzen stieg er die
letzten Stufen empor. Er horchte, an die Tür gedrängt; unten ging wieder
das Lachen an. Seine Brust war ihm wie in zu enger Kleidung
eingeschnürt, sein Hals, wie umdrosselt, tat ihm weh. Er strich über die
Tür hin, denn es war eher ein Streichen als ein Klopfen und ein so
leises, daß kaum die ängstliche Schwinge eines Vögelchens davor
erschrocken wäre. Er wartete. Nichts. Er war darüber froh, bedeutete es
doch eine Gnadenfrist. Da er nun alles erfahren würde, hatte er keine
Eile. Er atmete leise, mit Methode und besonderem Genuß, so wie man
etwas kostet, das man liebt. Es war finster, aber wenn er den Blick hob,
sah er durch eine Scheibe ein großes Stück gestirnten Himmels und
erkannte das Sternbild der Kassiopeia. Wie Wasser vom Springbrunnen fiel
die unendliche Stille von den vier Türen des Flures, und er blieb
unbeweglich stehen, über sich das Raunen nächtlicher Mächte. Er wußte
wohl, daß man sein Klopfen nicht gehört haben konnte, aber er wartete
noch, um die Zeit, da noch Zweifel gestattet war, auszudehnen. Dies
dauerte kaum einige Sekunden. Nun klopfte er entschlossen und erschrak
über das Geräusch. Da rührte es sich, man kam. Die Tür wurde geöffnet,
und ein großes Viereck von Licht fiel in das Dunkel. Seine Mutter stand
vor ihm. Er zitterte vor Staunen und konnte kein Wort hervorbringen.

»Du bist es!« sagte sie mit leisem Zurückweichen. Und als er mit
gesenktem Kopf verharrte: »So tritt doch ein.«

Sie hatten kaum zwanzig Worte miteinander gewechselt.

Seine Mutter hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen und nähte unter der
Lampe. Sie beobachtete eine scheue Zurückhaltung und wartete auf die
Worte, die er hartnäckig unterdrückte, wie man auf einen Chok wartet.
Und sie sammelte ihre Gedanken zum Widerstand.

Er saß abseits vom Tische. Die Lampe, deren tütenförmiger Schirm das
Licht dämpfte, beleuchtete nur seine Hände und Knie. Sein ganzer
Oberkörper verlor sich im Dunkel, das der unsichtbare Plafond nicht
aufhielt. Und für Augenblicke floh er in dies Dunkel so tief und lange
hinein, daß das Zurückfinden in dies Zimmer, in dem er saß, und vor
diese Dinge, in die Wirklichkeit dieser Lampe, für ihn das Erlebnis
einer tatsächlichen Rückkehr bedeutete. Seine Mutter war da. Er konnte
ihr stilles Antlitz betrachten, ihre schönen grauen Haare, ihre hellen
Augen, die unmittelbar ihre ganze Seele ausdrückten. Von der Lampe
strahlte eine stille Glückseligkeit aus, und wenn er den Blick ihr
zuwandte, war er von einem unvergleichlichen Wohlsein umfangen. Er
rekelte sich vor Zufriedenheit. Im Geist sah er die Gesichter seiner
Freunde. Nie hatte er sie so geliebt. Er lächelte ihnen zu, als ob sie
gegenwärtig wären. Wie freudig hätte er jenem, der ihm so viel Übles
angetan, jetzt einen festen verzeihenden Händedruck gespendet. Sein
ganzes Wesen zerschmolz im Verlangen, gut zu sein.

Er hatte einen lächerlichen Traum gehabt. Seine Mutter! Seine gute
Mutter, die er so sehr liebte! Er konnte sich nicht satt sehen an ihr.
Selbstsüchtig genoß er seine unbegründete Angst. Er schob den Augenblick
des Gefühlsergusses hinaus, ja, er bedurfte nicht mehr dieser Entladung.

Nur mit den Lippen antwortete er auf die Fragen, die ihm seine Mutter
stellte, ohne daß hinter seinen Worten sein heimlicher Gedankengang
unterbrochen wurde.

Aber einen Augenblick schwieg er so andauernd, daß seine Mutter ihn
ansah. Und da er seiner Tränen sich nicht mehr enthalten konnte, da ein
unüberwindliches Schluchzen seinen Hals aufschwellte, streckte seine
Mutter ihm die Arme entgegen: »Lieber Junge! Dir ist vergeben, weil du
heimgekehrt bist.«

Und er verschwieg seinen Traum.




                               ABSCHIED


Er öffnete vorsichtig das Gitter und betrat den Park. Unbeweglich
leuchtete das Laubwerk im Mondlicht. Alle Dinge waren in Traum entrückt,
der Wirklichkeit beraubt. Und der Kronlüster des Himmels trug auf seinen
tausend Armen so viele helle Flammen, daß der junge Mann, als er den
Kopf hob, ihn wieder demütig senkte, so sehr überwältigte ihn das Licht.
Nichts gemahnte an die Menschen. Der Weltenraum hatte selbst die
Erinnerung an sie verloren. Sie waren in die Geschichte zurückgesunken,
aber in der Stille spürte man dennoch etwas von ihrem Schlummer, der
nicht grundlos sich durch ihren versiegelten Mund und ihre ruhenden
Körper kundtat.

Der nächtliche Besucher ahnte irgendwie, daß dieser Stunde nichts
Körperliches gestattet war. Seine Gegenwart in ihr hatte etwas
Unerlaubtes, das ihn seltsam wach hielt. Als einziges Lebewesen mit
offenen Augen in solchem Erdenwinkel, fühlte er sich in dieser
unendlichen Nacht hellsichtig und so unruhig, wie wenn man Verrat übt an
einer Versprechung. Er war sicher, irgendeine Majestät zu verletzen und
mit seinen unwürdigen Schritten eine heilige Stätte gestört zu haben,
über der ein Verbot schwebte.

Aber die Bewegung, die sich in ihm regte, hieß ihn alles für das Wunder
dieser Stunde einsetzen.

Er erreichte die ihm so wohlbekannte kleine Allee, die, von Taxus mehr
als mannshoch eingerahmt, ins Dunkel mündete.

Die Erde war weich, und seine Schritte verursachten keinerlei Geräusch.
Durch das Dickicht erblickte er eine Lärche, schwarz gegen den Rasen
gestellt, ihr Wipfel schimmerte silbern im Mondlicht. Sie war
unbeweglich, als hätte sie endlich das vollkommenste Gleichgewicht
erreicht, das sie so lange im Hin- und Herwiegen gesucht.

Das Haus stand wie ein schweres Schiff in die Stille verankert. Rings
kein Mensch. Der ganze Park, die Wälder, die Ebenen in der Ferne, der
leuchtende Himmel, sie alle erschöpften sich in einer unübersteiglichen
Trauer um ein fernes Wesen. Er setzte sich auf die Bank in der
verschatteten Allee. Eine große Rasenfläche trennte ihn von dem
mondbeschienenen Haus. Alle Läden waren geschlossen. Die Glasscheiben
der Türen leuchteten durch die Eisenstäbe. Die Schornsteine gaben keinen
Hauch mehr.

Warum war sie noch nicht da? War sie inmitten ihrer Träume
eingeschlummert? (Eine Redewendung, die ihm lieb war, entstieg dem
Halbdunkel seines Erinnerns.)

   »Wie ein Sänger in unsagbarer Schwermut,
   Inmitten seiner Lieder, den Tränen erlag.«

Auf dem sehr dunklen Weg, der den See umsäumte, bemerkte er das
Phosphoreszieren eines toten Fisches, und seine Gedanken nahmen eine
andere Richtung.

Die große Stille der Nacht wirkte immer weiter, als gebäre sie sich
endlos aus sich selbst.

Warum, warum kam sie noch nicht? Seit dem Vorabend waffnete er
angesichts des Ereignisses seinen ganzen Wortschatz. Nun begann dieses
Warten seine Vorbereitungen zu zerstören. Durch das häufige Wiederholen
der Worte, die er sich zu sagen vorgenommen, verwirrten sie sich
allmählich, und schon zweifelte er an ihrer Wirksamkeit. Wie um ihr
Kommen herbeizuzwingen, erhob er sich ungeduldig, machte zwei Schritte
und ließ sich auf die Bank zurückfallen. Er litt. So würde er also nicht
mehr genug Zeit haben, um mit Muße diesen letzten Abschied zu genießen,
nicht mehr genug Augenblicke an ihrer Seite verbringen. Es verlangte
ihn, sie noch sehr lange anzusehen. Und wie viel hatten sie einander
noch anzuvertrauen! Wer weiß, was er noch alles hören, welche
einzigartigen Augenblicke er noch erleben würde! Nun wußte er kaum,
warum er sich zu reisen entschlossen hatte. Je mehr die Lösung
herannahte, desto mehr verwunderte er sich, sie erwünscht zu haben und
daß er selbst es gewesen, der mit Geschick ihre Notwendigkeit erwies.
Wie leicht war ihm der Sieg geworden! Nun folterten ihn wirre Wünsche.
Ehe er ging, wollte er wissen, ob denn wirklich im Grunde ihrer Seele
Bedauern war. Ein letztes Mal noch konnten sie einander ihre geheimsten
Gedanken ausliefern. Sie würden beide völliges Reinemachen in ihren
Seelen halten. Natürlich war dies nur eine Genugtuung, die er sich
verschaffen wollte, das Ergebnis einer dunklen Unruhe, die in ihm
wühlte. Denn nichts mehr konnte ihn hindern abzureisen. Das Boot, das
ihn entführen sollte, lag unweit verankert. Der Atem des Meeres flog bis
zu ihm heran, die Seeluft salzte seine Lippen. Wenn die Nacht sich über
einen neuen Tag gesenkt hat, wird er schon weit weg und alles zu Ende
sein. Seine dunkelsten Gedanken werden ihm wiederkehren, und von neuem
wird er diesen großen Ekel empfinden, der ihm so wohlbekannt ist. Er
wird es verwünschen, der Einsame zu sein, der, dem häuslichen Leben
feind, sein höchstes Vergnügen darin findet, immer wieder kaum
genossenen Wonnen zu entfliehen. Wie ein Schleier wird die Traurigkeit
hinter ihm herwehen, dann aber werden erlebnisreiche Tage folgen. Er war
im Vergessen erfahren. Diesmal zwar hatte es ihn tief gepackt. Aber die
Reise forderte ihr Recht. Diese Frau und der Ort hatten alles gegeben,
er selbst alles genommen und selbst alles gegeben. Andere Tage, andere
Geschehnisse warteten nun seiner. Wie in früher Zeit würde er an sich
und die Dinge denken können, frei ohne Bindung, allen Zufällen bereit,
andere Städte, andere Länder, andere Wesen schauen. Er wird den Klang
neuer Stimmen kennen lernen. Da er nirgendwo von irgend jemandem
erwartet wurde und an nichts gefesselt war, durfte er sich
hoffnungsfreudig für alles erwärmen, aller Gemeinsamkeit und allem
Gefühlsüberschwang sich erschließen, grenzenlos sich von neuen Wünschen
treiben lassen.

Und die Vielfalt des Universums kreiste hinter seiner Stirn.

Ein Teil seines Selbst war in diesem Hause gefangen. Er würde es
befreien und singend von dannen ziehen. Er hatte rasch das Sklaventum
der Gewohnheit durchschaut, aber sich feige abgekehrt vor all dem, was
er zerstören mußte, um sich zu befreien. Eines Tages schließlich hatte
er sich gesagt: Was tue ich hier? Wie hat sich dies begeben? Er
verstand, daß er hier die Freude und ihre Hilfsquelle erschöpft hatte.
Er blieb aus Lässigkeit, wie einer, der unbeweglich auf dem Platze
verharrt, zu dem ihn irgendein Antrieb versetzt hat. Da er von den
Renten der Leidenschaft lebte, erwartete er nur mehr Zahltage. »Es ist
gut, daß ich reise,« spottete er. »Ich bin ja frei, ich habe nichts
versprochen, ich habe keine Schwüre getauscht.« Diesen Gedanken hielt er
fest, er erleichterte ihn. »Wahrhaftig, wir haben einander nicht das
geringste Versprechen gegeben.« Vom ersten Tage an mußte sie diese
Lösung vorausgesehen haben. Außerdem hat sie die Notwendigkeit der
Trennung begriffen, sie ohne den geringsten Vorwurf entgegengenommen.

Wenn er an die Zukunft dachte, an all das, was ihm noch bereitet war und
was er noch nicht besessen, litt er vor ungeduldiger Erwartung. Er
dehnte sich ins Unbekannte hin. Diese unausgesetzte Spannung und dunkle
Anziehung war ein Teil seines Wesens. Niemals war er ganz in der
Wirklichkeit der Dinge, aus denen sich sein gegenwärtiges Leben
zusammensetzte. Selbst wenn er mit anderen Menschen sprach oder Taten
vollbrachte, die scheinbar die ganze Aufmerksamkeit seines Geistes
beanspruchten, ließ er den größten Teil seines Wesens anderswo
umherschweifen. Er redete Worte, indes seine Augen sorgsam das Antlitz
des Fragenden musterten, und zu gleicher Zeit entführte sein Geist ihn
zu anderen Visionen.

Zuweilen wurde dies Bedürfnis, seinem inneren Ruf zu folgen, so
unwiderstehlich, daß er sich tatsächlich ganz allmählich von dem Ort
entfernte, den sein Körper eben einnahm. Sein Partner, der gewahrte, daß
ihm nicht mehr zugehört wurde, stellte das Sprechen ein. Erst viel
später bemerkte er selbst das Schweigen.

Er schien nur in der Erinnerung oder Vorausahnung zu leben. Seine
Gegenwärtigkeit, seine lebendige Seele zauberte sich ein lautlos durch
nächtliche Landschaft dahinsegelndes Fahrzeug vor, dessen Fahrgäste alle
in Träumen lagen.

Er wußte, daß er sich niemals irgendwo würde festsetzen können. Sein
Geist hatte eines Tages einen Traum begonnen, den er nicht zu Ende
führen sollte. Von Zeit zu Zeit würde er innehalten, um ihm
nachzusinnen, zu kurzem Ausruhen die Augen aufschlagen und dann wieder
wie von der Strömung eines Flusses erfaßt und hinweggetragen sein.
Mächte seines inneren Menschen hatten ihn immer gehindert, sein ganzes
Wesen hinzugeben. Ein Teil seiner Persönlichkeit blieb der Mitteilung
verschlossen. Niemals würde ihn jemand kennen lernen, wie er war. Ja
selbst neben jener, die er so sehr geliebt, hatte er im Überschwang der
Hingabe, gleichzeitig mit dem großen Wunsch, sich in ein anderes Wesen
zu versenken, in Augenblicken stürmischster Leidenschaft empfunden, daß
ein Teil seines Selbst stumm und kraftlos verharrte und gleichsam seinem
Abenteuer fremd blieb. Kein Mensch, den er gekannt und mit dem er
verkehrt hatte, konnte die Schwelle seiner Seele übertreten. Der
Mittelpunkt seines Wesens lebte geheimnisvoll in dunklen Tiefen. Er
schwor oft jene Zone tätigen Lebens herbei, die er selbst kaum kannte
und in der sich ein wundersames Leben entwickelte.

Er betrachtete das Haus, nichts regte sich. Wieder nahmen ihn seine
Gedanken gefangen.

Vorhin hatte er ein wenig Trauer, ein unbestimmtes Bedauern empfunden.
Jetzt frohlockte er, und Trunkenheit begeisterte ihn. »Dies ganze Leben,
das noch nicht niedergeschrieben ist!« dachte er. Bewegung, Zeit, die
sich verflüchtigt, alle Dinge wandelnd, Glück, ein Mensch zu sein,
rastlos durcharbeitet, ein Mensch, dem jeder Tag etwas nimmt und
beschert! O Baum, der nicht endet im Wachstum, o Buch, in dessen
zahlreichen Kapiteln endlos die Lösung hinausgeschoben ist. Nichts
Abgeschlossenes bin ich, wie ein Kadaver, der zu letzten Grenzen
gelangte. Zwischen meinem lebendigen Sein und den Gefilden, in denen
sich mein eigenes Drama abspielt, hört der Zusammenhang nicht auf. Wie
ein Quell eng von Pflanzen umschlossen, sprudle ich zwischen den
Menschen. Ich setze mich mit jener eigensinnigen Regelmäßigkeit
kraftvoller Meteore fort. Der kommende Tag ist mir immer ein Fenster,
das sich leis auf Täler öffnet, eine Türe, die sich auf- und zutut, um
einen Lichtstrahl einzulassen, den die Augen der Menschen noch nicht
geschaut haben.

Möge der Atem des Weltalls ohne Unterlaß meine Einsamkeit umflügeln.
Peitscht mich, ihr großen Stürme! Nichts wird jemals stark genug sein,
in ein Zimmer mich zu sperren und über mich den Deckel fallen zu lassen.
Ich bin die Spule, die einen Faden nährt, der endlos sich abwickelt.

Selbst mein Schlaf, in dem farbige Lichtbilder kreisen, ist nur Anschein
der Ruhe.

Brenne du mein Leben! Steile und klare Flamme du, sei um sich greifendes
Feuer! Stärke, Kraft du, ganz bereit, sich auszugeben, Ungeduld zu
leben, all die Jugend, all dieser Schwung, für einen Körper, der zu
klein ist, all dies zu fassen!

Wie langsam doch alles hinlebt und wie langmütig die Folgen aller Dinge
sind. Wie doch der Weg zu dem, was verheißen, voll Schlaftrunkenheit
ist! Alles verwirklicht sich so langsam, daß die Bewegung selbst
unsichtbar wird, und das ganze Universum für Augenblicke eine
bewegungslose Ausdehnung zu sein scheint. Hatte er nicht zuweilen das
mächtige Verlangen, den Gesetzen dieses Wachstums zu entrinnen, sich
durch seine Maschen zu winden, die Zeit zu überschreiten, mit einem
Schlage die ganze Wirksamkeit zu erschöpfen, das ganze Kapital zu
realisieren? Oh, nicht mehr von einem Tag zum andern übergehen in
weichlichem Hinausschieben und Hindehnen, sondern plötzlich sein,
aufrecht und bereit, ein Mensch, der neu aus sich selbst hervorsprudelt.

Aus dem Herzen der reglosen Nacht sandte mit einemmal der nächtliche
Sänger, wie zum Vorspiel, einige Rufe.

In der Seele des Menschen, der sich da befand, tat sich eine weite
Stille auf. Das Ohr in das Dunkel gewandt, sich seiner ganz zu erlaben,
horchte er dem wunderbaren Gesang. Der Vogel ließ einige Noten fallen
und hielt inne, bald drängten sich die Töne und reihten sich nun ohne
Unterbrechung aneinander. Sie waren voll und wohlklingend, und der ganze
Park schwelgte mit ihnen. Aus dem Dunkel stieg der Sang gegen die Helle,
und die große Stille der Nacht tauchte ringsum alles in Reinheit. Das
pathetische Schluchzen stieg von den Bäumen, der Erde, von den Wassern
auf. Es wußte um die Märchenträume, die Wassertiefe, die Macht der
Säfte. Alle Blätter zitterten darauf, es zu hören, aus der heißen Erde
strömte es in die Sommernacht, drang längs der verzweigten Äste hinauf,
entriß alle Pflanzen ihrer Schlaftrunkenheit, nährte sich von ihrem
Mark, um dann rasch und stark, wie die großen Wasserfälle, in einem Satz
die kühnen Wipfel der höchsten Pappeln zu überspringen, in den heiteren
Höhen des erleuchteten Himmels sich zu verlieren.

Die Seele des jungen Menschen weitete sich mächtig. Er wuchs in seinen
Tiefen. Mühelos verbreitete er sich in alle niederen Räume seines
Wesens. Sein Herz in der geweiteten Brust nährte sich von einem
strahlenden und herrlichen Leben. Unaufhörlich rieselte die Klage des
verzweifelten Vogels hin. Sie ragte einsam in die Welt. Und der Mann,
feuchten Auges im Dunkel verloren, erlebte sie, als brächte er selbst
sie hervor. Ihm entströmte der Sang, und besser als irgend Worte,
drückte er die Heftigkeit seiner allzu geliebten Trauer aus. Die Töne
quollen bald scharf, bald dumpf, und seine plötzliche Verzweiflung
vereinte sich ganz mit ihrem Wellengang. Er sah nach rückwärts gebogen
die Perlenreihe der Töne endlos gegen die leuchtende Wolke aufsteigen.

»Sang, o Sang, deine unendliche Schwermut erreicht die des traurigen
Mondes und vermählt sich ihr in Tränen. Ich belaste dich mit meinem
unwahrscheinlichen Schmerz, mit meinen unauslöschlichen Wünschen und
jenem unsterblichen Durst, der mich verzehrt. Äußerster Teil meines
Selbst, wie der bebende Stengel eines Kelches bist du, der meine
verzweifelt trunkene Seele der öden Unendlichkeit hinopfert. Steige,
steig an! Höher noch! Verschütte weithin diesen Kelch, und möge dein
bitterer Regen über die ganze Erde fallen. Blähe zornvoll deinen Hals,
du dunkler Sänger, und laß deinen Hauch nicht verklingen. Schon nähern
aus dem Innern der Zimmer sich den Fenstern blasse Gesichter. Männer
kommen, ihre Unruhe in deinem Sang zu kühlen und von ihm Erleichterung
zu erbitten.«

In dem außergewöhnlichen Frieden dieser Stunde ertönten immer wieder die
Triller, und der Gesang erreichte schmerzvolle Fülle und Macht. Der
Mann, der ihm lauschte, fühlte sich durch ihn für Augenblicke wie
emporgehoben, auf Gipfel entführt und sanft in den Höhen gewiegt. Ganz
seiner Verzückung hingegeben, sah er nicht mehr nach dem Hause, bis ein
leises Geräusch ihn erbeben ließ. Die Läden der Tür öffneten sich
langsam, und eine Frau erschien im vollen Licht. Er stand auf, sein Herz
schlug schnell. Es war das letzte Mal! Damit sie ihn sähe, trat er aus
dem Dunkel. Ihn bemerkend, überquerte sie laufend, vorgeschnellt wie ein
Segel, die große Rasenfläche.

Er empfing sie in seinen Armen, die sich unwillkürlich geöffnet hatten.
Auf der Bank sitzend, hielten sie sich in langem Schweigen eng
aneinandergepreßt. Über ihre stummen Lippen hinweg vereinigte sich im
Dunkeln ihr Geist. In der Majestät einer großen Andacht fühlten sie, wie
das gelebte Leben zu ihnen zurückkehrte. Sie erahnten darin selbst den
Augenblick, wo sie wieder zu sprechen beginnen mußten.

Er sog den Duft ihres Haares ein und liebkoste ihren so zarten Hals; sie
aber, an seine Schulter gepreßt, rührte sich nicht. Von fernher hörten
sie das Rollen eines Zuges, den langhingezogenen Schrei einer
Dampfpfeife. Ihre Seelen weiteten sich an der Entfernung, dann
verflüchtigten sich die Geräusche, starben wie ein Röcheln hin, und das
Mondlicht schien noch mit vermehrtem Glanz in die wiedergewonnene Stille
zu gleißen. Lichtpünktchen glitzerten in den Büschen, winzige
Strahlenbündel entstanden und erstarben auf der Wasserfläche des Sees.

Mit kaum wahrnehmbarer Stimme brachte er Worte hervor. Doch wie verloren
in die Bilder des Traumes und Halbschlummers, blieb sie unbeweglich. In
der großen Stille fürchtete er so sehr den Klang seiner eigenen Stimme
zu hören, daß sein Gespräch erstarb. Er machte entfernte Anspielung auf
seine Abreise, unhörbar atmete sie und antwortete nicht. Ein Wort,
deutlich und scharf, stach plötzlich hervor. Beschämt schwieg er, es
ausgesprochen zu haben. Das Schweigen wartete. Sie warf sich zurück und
hob die Augen. Dieser Abend war der letzte Abend. Ganz leise sagte sie:
»Es ist das letzte Mal.« Er antwortete nichts, denn schon quälte ihn der
heuchlerische Gedanke, das Wort in die Stille, aus der es noch
hervorstach, zurückzustoßen. Auch wollte er den Gedanken ersticken, der
sich in ihm zu entwickeln versuchte. Er sprach und sprach, wiederholte
noch einmal die Notwendigkeit seiner Abreise. Man erwarte ihn dort, er
müsse fort, könne sich nicht weichlich in sein eigenes Glück einnisten.
Man durfte nicht alles dem opfern, was nur so neben dem Leben hinging.

Dem Gefühl mußte man widerstehen, dem Verstand die Oberherrschaft
sichern. Wohl verstanden . . . Gewiß . . . Er verlor den Boden und wurde
ungeschickt, weil er ohne Überzeugung sprach.

Und haben wir denn nicht das Beste unserer Selbst getauscht? Was könnten
wir uns mehr noch geben? Sie neigte zum Zeichen der Zustimmung das
Haupt. Man erwartet mich dort. Ja, man wird sich schon über die
Lässigkeit, mit der ich mich in Bewegung setzte, verwundern. Wie rasch
doch die Zeit vergangen ist! Nun sind es schon zwei ganze Monate, seit
ich da bin. Zwei Monate!

Ich werde alle die verlorene Zeit einbringen müssen . . . Verlorene Zeit
. . . O nein, die Worte täten mir unrecht. Ich wollte sagen . . . aber
du verstehst mich ja, du, die feinfühligste der Frauen?

Sie blieb still und schien ihn kaum zu hören. Mit welcher Ruhe nahm sie
diesen Entschluß auf, der ihn jetzt schreckte. Wie wenig schien sie
unter ihm zu leiden. Würde sie ihm auf seiner langen Reise auch nicht im
geringsten nachtrauern? Hatte er die verbrachten Tage einem eitlen
Schein geopfert, so weit sie mißbraucht? Ein bitterer Gedanke prägte
sich in seine Züge ein. Doch nein, sie würde zittern, sich erregen, ihm
in den Arm fallen. Er feuerte sich an, ihre Ruhe zu stören, und begann
von neuem. Weil wir stark sind und es so gewollt haben, zerreißen wir
lächelnd die leisen Bande, die uns vereinen. Wir werden nichts mehr
gemeinsam haben. Du wirst selbst die Erinnerung an mein Gesicht
verlieren. Wenn wir uns eines Tages begegnen, werden wir vorgeben,
einander fremd zu sein. Wir werden uns nicht selbst betrügen und,
allgemeine Gesetze verachtend, es verstehen auseinander zu gehen, wenn
wir das Vergnügen erschöpft haben. Ich weiß nicht, was für ein Mensch
ich später sein werde, und derjenige, der heute mit dir ist, hat
keinerlei Recht auf jenen. Auch werde ich nicht anteilloser Zuschauer
des Verfalles sein, der dem zerbrechlichen Bau deiner Schönheit droht.
Ich trage von dir ein vollkommenes Bild, das die Zeit vergeblich
schwärzen wird, mit mir fort.

Zorn entflammte ihn. Er verausgabte sich vor dieser stillen und
abwesenden Frau. Verzweifelt konnte er aus seinem Kummer keinen Ausgang
finden und verwundete sich an seinen eigenen Worten. Oh, daß sie doch
spräche, daß sie ihm diesen Schrei entgegenschleuderte, den er mit aller
Kraft ersehnte. Dieser Schrei, der aus ihrem auf immer gespendeten Sein
entspränge und sie ihm für immer einen würde! War dies nicht wichtiger
und wünschenswerter als alles andere? Wenn sie es zu wollen verstände,
würde er nicht abreisen. Wenn sie sagte: Mein Freund, geh nicht fort, du
bist ja in meinem Leben solch eine Notwendigkeit, daß ich mir ohne dich
kein Dasein vorstellen kann. Meine Furcht und meine Freuden, all meine
Gedanken und mein zu empfindsames Herz, all das, was ich bin, hat es so
gut vermocht, in dich das Netzwerk zarter Wurzeln zu versenken und sich
von dir zu nähren, daß ich wie eine Pflanze, die man abreißt, sterben
werde, wenn du gehst. Du bist der stets gegenwärtige Gefährte, der
Horizont, hinter dem es mir gleichgültig ist, ob Land ist oder nicht. Du
bist an meiner Seite der Freund ohne Geheimnis, der immer bereit ist,
die Gedanken zu empfangen, die sich eben in mir bilden. Du bist immer
wieder der Beweis, aus dem sich mein Glaube nährt, der mich leben macht,
und der Vorwand für jeden meiner Tage bist du! Mein Leben ist der Vasall
des deinen, und ich lege meinen Kopf an deine Schultern, zum Zeichen
meiner treuen Ergebung. Wie könnte ich ohne dich mich des Übels auf der
Welt, und dem Tode anheimgegeben zu sein, erwehren? Nein, nein, du mein
wachsamer Ritter, du wirst nicht ohne mich ziehen. Ich hänge mich an
dich, ich werde dir durch alle Lande folgen. Ich hefte mich an deine
Fersen, bis ans Ende der Welt.

Er berauschte sich heimlich an diesen Worten, die er so gerne aus ihrem
Munde empfangen hätte. Er bemühte sich, sie hervorzurufen, und ließ
gleichzeitig seinen Entschluß als unerschütterlich erscheinen. Er
wollte, daß sie plötzlich aus unaufhaltsamer Notwendigkeit hervorbrächen
und nicht aus der Fähigkeit, sich seinem Wunsche anzupassen. Aber das
Beben seiner Stimme, das ihm für Augenblicke den Hals zuschnürte,
verriet ihn. Vielleicht kannte sie seinen verzweifelten Wunsch und
erwiderte ihn nicht? und er wiederholte sich: Sprich, sprich, du siehst
ja schon, daß ich die Ketten trage, die du um meinen Körper legen
willst. Soll ich hinknien, soll ich mich demütigen? Sprich, und wenn du
es willst, werde ich geringer sein, als die Erde unter deinem Fuß. Gib
nur ein Wort mir, ein armseliges Wort des Bedauerns vom Saum deiner
Lippen. Durchdringe mein Schweigen, fühle mein Elend, das nicht Ausgang
weiß. Warum habe ich diesen Abschied gewollt? War es nicht mein
eigensinniger Hochmut oder mein geheimer Wunsch, der sie dazu gebracht
hat, sie verführt hat, mich erst das ganze Ausmaß des Glückes erkennen
zu lassen, das ich eben durch diese Handlung verlieren sollte! O du
Spieler, den nichts verhindern kann, das Beste seiner Güter im verhaßten
Spiel zu wagen. Freundin du, lies in meinen Augen! Laß mich nicht gehen!
Ich bin schon jetzt in Verbannung geraten. Über den unendlichen Ozean
trauere ich dir nach! O wie weit bist du, und ich werde dich niemals
wiedersehen. Halte mich zurück, noch ist es Zeit. Eine schmerzvolle
Traurigkeit überkommt mich, wie ich diese Einsamkeit dort drüben mir
bereitet sehe. Liebe, kleine sanfte Freundin, höre mich doch!

Sie verharrt wortlos gesenkten Hauptes, scheinbar in Unkenntnis des
Ortes und des Vorgangs. Kein Zweifel mehr, sie ahnt nicht einmal diesen
Schmerz, der ihr so nahe ist. Er sah ein Zimmer vor sich mit vielen
Tapeten. Eine Lampe verschmolz in warmer Helle die Dinge, Winter war es
und Abend. Es war sehr kalt draußen. Sie las, nahe dem Kamin.

Tränen trübten seine Augen.

Seine Angebetete gab ihn auf. All seine Kraft verließ ihn und schien
sich in die Erde zu verlieren. Schwach und ängstlich war er wie ein
Kind. Er glaubte an nichts mehr. Er wünschte nichts mehr. Das einzige,
was ihm irgend wert gewesen wäre, er hatte es nicht besessen. Er würde
es nie besitzen. Die Welt schien ihm verabscheuungswürdig. Alle
Erinnerungen des Lebens, die ihm wiederkehrten, stießen ihn bis zum
Abscheu ab. Der Ekel malte sich in seinen Zügen. O wie war er der Welt
müde, durch die so viele Menschen gegangen waren, in der so viele noch
sich aufhäufen. O Welt, von aller Befleckung der gebrauchten Dinge
gezeichnet, die du kein Plätzchen hast, das nicht die Spuren irgendeiner
Anwesenheit aufweist, Erde, aus der die Reinheit verbannt ist, Erde,
über und über beschmutzt mit Ungeheuerlichkeiten, Luft selbst, die ich
atme, auch du vergiftet vom Hauch der Menschen und Tiere durch diesen
schrecklichen Geruch des Magens! Azur, der jungfräuliche Azur, wie man
dich nennt, auch du bist nach allen Richtungen durchstreift und
durchnarbt von ihren schmutzigen Gedanken, wie fette Fleischsülze.

Er unterbrach sein Schweigen, um sehr leise zu sagen: »Die Nacht ist
kalt, friert dich nicht?« Der Klang seiner Stimme war so seltsam, daß
sie die Augen hob. Sie blieb lange nachdenklich und sagte, als ob sie
laut weitersänne: »Gewiß, du hattest nicht das Recht, die Vergnügungen
des Augenblicks deinen großen Hoffnungen zu opfern. Ich weiß, daß es
wichtigere Dinge gibt, als die kleinen Fügungen unseres eigenen Lebens,
und ich denke wie du, daß es gut ist, daß ein jeder von uns sich einen
Teil für unbekannte Forderungen der Zukunft vorbehalte.« Wie sie sich
seine Worte gut gemerkt hatte!

Er antwortete: Solch ein Glück, wie es immer wieder neu aus ihm erstand,
forderte eben seinen Preis! »Aber meine Freude konnte nur aus der deinen
entstehen. Die aber mochte spärlich gewesen sein.«

»Freund, o Freund!«

Er fühlte, wie sehr sie noch an ihm hing, und fühlte, wie sich eine
Entspannung in ihm vollzog. Mit diesen süßen Gedanken würde er
hinweggehen.

»Du nimmst mich ganz mit dir. Du läßt von mir nichts, als die Stätte der
Erinnerung. Ich weiß, daß du mich mit jener Heftigkeit geliebt hast, die
man nicht lange empfinden kann. Die Leidenschaft brennt, ohne sich
aufzusparen. Auch ich liebte dich, du mein einziger Freund auf dieser
Welt. Wie oft bin ich abends, ganz angekleidet, nach einer langen
Träumerei, die nur von dir erfüllt war, eingeschlummert, vergaß die
brennende Lampe und erwachte des Morgens durch das Sonnenlicht. Die
ersten Tage werden sehr traurig sein. Kummervoll werde ich mich durch
das Haus schleppen, in den Park gehen, um einem Phantom nachzujagen, und
auf dieser Bank die Augen schließen, um dich zu sehen. O wie qualvoll
die ersten Tage sein werden. Du tatest, was du wolltest. Ich mache dir
keinen Vorwurf. Wenn es dir eines Tages gefällt, hierher zurückzukehren,
wirst du mich so wiederfinden, wie du mich verlassen hast, immer noch
deiner Laune ergeben.«

In langen Zügen erquickte er sich an ihren Worten, aber trotz alledem,
es waren nicht die, welche er gerne gehört hätte. Sie sprach leise
weiter. Er trank den Wohllaut dieser Stimme, die er niemals ohne
Bewegung hatte hören können.

-- »Ich bin deinem Leben nicht unentbehrlich. Wie viele Jahre reicher
Geschehnisse hast du erlebt, ehe du mich trafst. Du wirst ebenso schöne,
ebensolcher Fülle erleben, wenn du mich vergessen hast.«

-- »Niemals werde ich wieder glücklich sein.«

-- »Die Nacht beginnt zu bleichen, und die Frische der Morgendämmerung
durcheist mich. Sieh, die Nacht, die den Raum verläßt, ist das Ebenbild
selbst des notwendig gewordenen Abschieds. Die Dinge müssen hinsterben
oder sich verflüchtigen, damit andere erscheinen können. Der erste Tag,
den ich allein zu leben haben werde, steigt bleich und trauervoll auf.
Mein Gott, womit werde ich diesen ersten Tag erfüllen?«

»Wie werde auch ich ihn hinbringen? Nichts wird mir dies Glück
aufwiegen, das sich durch dich unaufhörlich erneute.«

-- »Süß ist es, dein mitleidvolles Bedauern zu hören.«

-- »Es ist mein selbstsüchtigstes Bedauern.«

-- »Du hattest bisher immer über dich gesiegt!«

-- »Ich bin des Sieges über mich, das heißt gegen mich, müde. Ich
beginne die süße Niederlage zu ersehnen.«

Er wußte, daß er feige das verlangen würde, was man ihm nicht gegeben
hatte, und daß ihn daran nichts hindern konnte.

Trotzdem bemühte er sich, diesen Gedanken zurückzudrängen. Er suchte ihn
zu ersticken, ihm zu entfliehen, aber jedes Wort, das er sagte, brachte
ihn unwillkürlich näher. Er fühlte den Gedanken schwer und lastend
werden in seinem unbeweglichen Körper. Um ihn an diesen Ort zu binden,
fiel er unaufhaltsam langsam abwärts, wie der gewichtige Anker ins Meer
hinabsinkt.

Er sagte:

-- »Ich habe schon an viele Dinge geglaubt und entsinne mich manchen
Irrtums. Bin ich dessen wahrhaftig sicher, anderswo den wahren Weg zu
finden? Kann man etwas vorausbestimmen, und soll man sich nur von der
Vernunft leiten lassen?«

Er zitterte, während er sprach. Niemals war sie ihm so schön, seiner
Liebe so würdig erschienen.

-- »Ich gehe . . . Wohin aber? . . . Ich weiß es nicht und habe nicht
mehr die geringste Sehnsucht darnach.«

Seine Stimme senkte sich nach diesen letzten Worten. Alles war nun
gesagt. Eine wollüstige Müdigkeit bemächtigte sich seines Körpers und
Geistes.

. . . Zwei Wesen, so lange beflissen sich zu kennen, sich zu
verschmelzen, konnten sie daran denken einander zu fliehen, da das
Unermeßliche und unbekannte All sie in einem gemeinsamen Bedürfnis, sich
gegen die öde Verlassenheit zu verteidigen, zueinander drängte?

»Du bist der Meister unserer beiden Schicksale. Ich bin nur das Echo
deiner selbst, ich bin deine Sache. Bestimme denn.«

Sie legte ihren Arm um seinen Hals und lehnte ihr kühles Antlitz gegen
das seine.

Er verleugnete alles, was ihn vordem begeistert hatte. Fortgehen sollte
er? Das Liebste, was er hatte, verlassen und sich ärmer denn je
wiederfinden! Die Welt durchwandern, Erinnerungen häufen, als ob er
nicht schon genug mit sich schleppte! Er spottete der großen Arbeiten,
der Eroberungen, des Ruhmes. Es gab genug Werke zur Befriedigung der
Menschen. Und konnte er nicht überdies neben ihr im glücklichen Frieden
ihres Daseins seine Seele besser als irgendwo von dem befreien, was ihn
bewegte, Tag für Tag ein unvergleichliches Werk verrichtend? Aber von
dem allem abgesehen, wog nichts die höchste menschliche Freude auf, nur
in ihr zu verharren. Die ersten Pflichten, waren es nicht die gegen sich
selbst und dann gegen die, die ein Teil seines Selbst ausmachte, da ihr
Schicksal an das seinige gebunden war. Er würde bleiben.

O keusche Freundin, wie bist du schön in dieser Nacht! Wie konnte ich
daran denken, dich zu fliehen. Seite an Seite werden wir bis zum letzten
Tag verbleiben, wir werden auf unserem Antlitz diese Erleuchtung tragen,
die der Tod nicht auslöschen wird. Ich werde dich an der Hand nehmen und
mit dir die Welt durchlaufen. Wir werden dieselben Seltsamkeiten
erleben, und dieselben Eindrücke sollen uns bewegen. Unter fremden
Rassen werden wir uns noch enger aneinander geschlossen fühlen. Der
nächste Winter wird mit dir verbracht sein und das Frühjahr und all die
kommenden Jahre.

Die Sterne erloschen allmählich. Die wieder erweckten Dinge trugen die
Farbe des Traumes und des Todes. Sie hielten sich umschlungen und sahen
den Tag herandämmern. Sie war beglückt, aber in ihm blieb ein leiser
Geschmack von Niederlage bestehen. Er hatte diesen großen Schrei, der
alle Entschlüsse umwirft, nicht erlebt. Er selbst hatte es nicht
verstanden, dieses Wunder heraufzubeschwören.

So hatte er denn seine Ansprüche vermindern und schüchtern um ein
Almosen betteln müssen. Alle Kosten des Festes hatte er getragen; er
scheuchte diese Gedanken und wiegte sie in zärtliche Worte ein, um sie
zu betäuben. In dieser Schwäche, wie sie ihn zuweilen befiel, sprach er,
über sie gebeugt, unaufhörlich weiter. Sie lächelte und hob von Zeit zu
Zeit ihre Augen zu ihm auf. Seine Stimme wurde leiser. Ein Kamm entfiel
ihr, als ihr Kopf sich ein wenig mehr neigte. Da verstand er, daß sie
eingeschlafen war. Ein langsamer, regelmäßiger Atem hob ihre Brust.

Er betrachtete sie wie eine Unbekannte.

War es wirklich diese hier, gab es nicht anderswo eine Vollkommenere,
eine andere, die ihm diesen unschätzbaren Beweis gegeben hätte.

Die Morgenröte stieg herauf. Ein rosiges Leuchten durchzog die Höhen des
Himmels. Ganz nahe blies die Sirene eines Schiffes.

Der Name des Kontinents, den er zu bereisen sich vorgenommen hatte,
brannte in seiner Stirn. Eine Stadt, die in der Glut des Juli brodelte,
erfüllte sein inneres Auge. Mit allergrößter Vorsicht und Sorgfalt
verließ er seine süße Bürde; sie schlief immer noch. Er lehnte sie an
den Baum, der hinter der Bank stand, und erhob sich langsam ohne
Geräusch. Er setzte einen Fuß vor, dann den andern. Leise streckte er
das Bein, machte einen Schritt. Um seine Arme legten sich Stricke. Sein
ganzer Körper bebte. Eine Schwere wollte ihn unbeweglich machen, aber
eine unbesiegbare Kraft stieß ihn nach vorwärts. Wie ein Blinder
streckte er die Hände vor sich aus.

Jede seiner Bewegungen war ein Losreißen, seine Füße hatten starken
Widerstand niederzudrücken, als ob er durch Wasser ginge . . . der Atem
ging ihm aus. Ein belaubter Ast streifte ihn; er blieb stehen und ging
dann wieder, so kam er durch die ganze Allee, dann durch eine nächste
und schließlich schon mit festem Schritt durch eine dritte. Er öffnete
das Gitter, das schrecklich kreischte, begab sich auf die Straße und
begann, die Hände fest an die Ohren gepreßt, damit er nichts höre, zu
laufen, um das Schiff nicht zu versäumen, das bald abfahren sollte.




                      ÜBER DEN TOD EINES KINDES


Ein großer Schrei erschreckte das Kind inmitten seiner Träume. Es
horcht. Nichts . . . Dämmerung und Stille und der Pulsschlag der Uhr.
Wie spät kann es sein? Zwei Uhr? Drei Uhr? Es hört im Nachbarzimmer
umhergehen und denkt an seinen kranken Bruder, der seit acht Tagen dort
liegt, denkt an das unterbrochene Spielen, an das veränderte Leben im
Haus.

»O, mein Gott! Ich flehe zu dir, nicht dies! Nur dies nicht!« Er erkennt
die Stimme seiner Mutter, aber ihr verzweifelter Ausdruck erschreckt
ihn. Was ist geschehen? Von Angst durchschauert springt er aus seinem
Bett. Er horcht, das Ohr an die Mauer gepreßt. Nichts mehr? Sein Auge
gewöhnt sich an die Dunkelheit, er erkennt die Dinge. Er geht ans
Fenster und hebt den Vorhang. Es sind einige Sterne am Himmel, und die
wandernden Wolken verbergen sie für Augenblicke. Grau ist die
Landschaft. Alle Gärten schlafen. Der weiche, leise Wind wiegt die
entblätterten Bäume.

Ihn friert, er kehrt ins Bett zurück, bleibt aber aufrecht sitzen, weil
er jenseits der Wand Wimmern und Schluchzen hört. Das Geräusch eines
fallenden Stuhls und das Öffnen einer Tür läßt sein Herz sehr rasch
schlagen; die Klinke bewegt sich, die Tür seines Zimmers öffnet sich nun
auch. Seine Mutter erscheint. Sie nimmt ihn in ihre Arme und drückt ihn
fest an sich. »Mein Kleiner! Mein Kleiner!« Dann hüllt sie ihn in einen
Schal und trägt ihn ins andere Zimmer. Das Kind versucht zu sehen. Das
Lampenlicht schmerzt ihn in den Augen. Von Schluchzen durch und durch
geschüttelt, neigt ihn seine Mutter seinem Bruder zu, dessen Augen
blicklos geworden sind. Ein rasches Röcheln kommt aus seinem
halbgeöffneten Mund: »Küß ihn, und sag ihm adieu; er geht von uns, du
wirst ihn nicht mehr sehen.« Das Kind bricht in Schluchzen aus und weint
so, wie es noch nie geweint hat. Ohne viel zu begreifen, schreit es aus
Angst, indem es bald seine im Schmerz gebrochene Mutter, bald den im
Bett hingestreckten Körper, dessen aufgequollener Leib die Decke wölbt,
anblickt.

                   *       *       *       *       *

Bleich färben sich die Fensterscheiben. Nachdem er im Fauteuil
geschlafen hat, öffnet er plötzlich die Augen. Wo ist seine Mutter? Hat
sie ihn mit dem Toten allein gelassen? Das Kind hat solche Angst, daß es
sich keine Bewegung zu machen getraut. Es könnte ihn sehen, wenn es ein
wenig den Kopf wendete, aber dieser bloße Gedanke erfüllt es mit Furcht.
Eine Kerze, deren unbewegliche Flamme wie der Stahl einer Lanze aufragt,
vergoldet das Antlitz des Leichnams. Er schaut auf das Fenster, der Ast
eines Kastanienbaumes bewegt sich vor den Scheiben. Alle Menschen
schlafen noch, und kein Geräusch kommt aus dem Hause. Er hört auf das
Zinkdach Tropfen fallen. Der Regen beginnt von neuem. Seit acht Tagen
hat er kaum aufgehört. Gestern hat seine Mutter gesagt: »Wir haben einen
verregneten März.« Sie hat es gestern gesagt, und es ist ihm, als wäre
es lange schon her, daß er diese Worte gehört. Diese Nacht, in der er
mit offenen Augen denkt, ist nicht wirklich wie andere Nächte. Sie ist
einzig in seinem Kinderleben. Jäh ist er erwacht, die Nacht hatte keinen
Anfang und kein Ende.

Das Kind horcht in die Stille; es ist ihm, als werde es sowohl vermöge
seiner Augen als seiner Ohren durch ein Raunen von Erinnerungen
überflutet. Dann läßt es seine Blicke schweifen. Der Schatten, der die
Winkel des Plafonds einhüllt und sich unter den Möbeln anhäuft, ist
nicht von dieser Art Schatten, die es bisher gekannt hat. Er weiß von
allerlei, vergrößert die Stille, lebt sein Leben. Es ist, als ob die
Dinge mit Gewalt ruhig gehalten würden, sie scheinen von einer innern
Kraft besessen, die sie verzerrt. Der Regen fällt zur Erde, und die
Nacht blaut mehr und mehr. Das Kind hört Pfiffe und fernes Rollen. Was
werden die andern zu dieser Nachricht sagen? Die in der Schule? Wie man
ihn ansehen wird! Auf der Stiege hat man eine Tür geschlossen; mit aller
Kraft horcht er hin. Wo ist denn seine Mutter? Wird sie nicht kommen,
ihn zu befreien? Oh, wie würde er aufatmen, wenn er plötzlich an die
Eingangstür gelangen könnte! Aber da müßte er sich bewegen, Lärm machen,
Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er müßte das ganze Zimmer
durchschreiten, dann noch das unbeleuchtete Speisezimmer, und »er« würde
hinter seinem Rücken sein. Er könnte sich vielleicht an ein Möbel
stoßen, weiße Gestalten in der Küche erblicken. Wenn er da blieb,
beherrschte er sie, beobachtete sie, ohne sich den Anschein zu geben.
Wenn er aufstünde, würde nicht der Bann gebrochen werden und er in seine
Macht fallen?

So denkt er eifrig, ohne sich zu regen. Allmählich nimmt ihn wieder der
Schlummer gefangen. Sein Bewußtsein geht leise unter zwischen
Erinnerungsbildern aus der Geschichtsstunde. Doch, o welche
Erleichterung, er hört einen Schlüssel umdrehen. Stimmen, Schritte.
Seine Mutter ist es mit Leuten . . .

                   *       *       *       *       *

Es ist nicht spät, sieben oder acht Uhr vielleicht. Den ganzen Tag über
ist es dunkel gewesen, und nun ist schon völlig Nacht. Zerstreut hüpft
das Kind über die Stufen und ist, über das Gitter sich vorbeugend, an
das Ende der Treppe gelangt, die von Wasser und Kot beschmutzt ist. An
der Loge des Hausmeisters ist es auf den Knien vorbeigerutscht, um nicht
gesehen zu werden, dann war es laufend auf die Straße gelangt.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die feuchte, duftbeladene Luft führt die
Botschaft entfernter Wälder mit sich. Ein mäßiger Wind bewegt zuweilen
die Gasflammen und gibt dem Dunkel der Straße Leben. Die Lichter des
großen Krämerladens leuchten in allen Wasserlachen. Das Kind gelangt auf
den verlassenen Boulevard, der es anzieht und ihm zugleich Furcht
einflößt. Bei jedem Windstoß vermengen sich die langen Schatten und
beschreiben große Gebärden. Das Kind wagt nicht auf dem Fußsteig zu
gehen, wo der Efeu des Gitters allzu geheimnisvoll Park und Garten
verbirgt. Es schreitet auf der kotigen Straße und wendet sich
unaufhörlich um. Der schwarze und blaue Himmel ist in dunkle Inseln
zerrissen und düster gleich einem großen Moorland. Die Luft ist lau wie
menschlicher Atem. Ein leiser Brodem steigt von der Erde auf. Jenseits
des Schmutzes und der Öde des Jahres ist der Frühling schon in Humus und
heißer Fäulnis bereit. Das Fieber der Säfte teilt sich dem weiten Raum
mit, irrende Winde, die schon grünende Wiesen durchquert haben, flechten
sich um die feuchten Stämme der Bäume. Die Landschaft ist noch wie eine
alte Frau in Lumpen, aber unter dem Boden lächeln bereits Gesichter mit
geschlossenen Augen; bald werden tausend Stimmen am Saum der Erde
hinsummen, ungezählte Augen im Grase sich öffnen. Die Sonne wird die
Erde zwingen, ihr Geheimnis preiszugeben, Pflanzen werden wie
Geständnisse aufsprießen und gleich großen Worten hervorstrahlen. Das
Kind geht nun an dem schönsten Besitz des Boulevards entlang. Es bleibt
stehen, um durch den kleinen freien Raum, wo das Gitter sich an die
Mauer schließt, in den Park des Kommandanten zu blicken. Es sieht in
unerklärliche Verwirrung, in die mit faulem Laub bedeckten Alleen, den
Weg zum Haus, wo die Erde gelblich leuchtet, und das Wasserbassin, in
dem sich der Mond und die Wolken spiegeln. Sicherlich ist das Gehölz
voll toter Vögel, es weiß bestimmt, daß die Kinder mit ihren bebänderten
Kinderfrauen niemals mehr auf dem Rasen spielen und umherspringen
werden. Es sieht auf die beiden Löwen aus Stein, die die Pfeiler des
Eingangstores zieren. Vor kurzem hat er mit seinem Bruder Schneeballen
auf sie geworfen. Das wird er nie mehr tun. Wenn man einen Bruder hat,
der gestorben ist, darf und kann man nicht mehr dergleichen tun.
Plötzlich fällt ihm ein, daß man ihn vielleicht sucht. »O Mütterchen,
ich sehe dich in deine Hände weinen.« Er sagt sich, daß er heimkehren
muß. »Ich werde den Weg nehmen, den ich so gerne gehe.« Da ist das
Waisenhaus, seine fahlen Säulen sehen durch das Gitter, Goldlettern
leuchten im Dunkeln. Eine Glocke läßt Tropfen klingender Töne fallen,
die der Wind der Nacht vermengt. Hier ist das Kloster zur Heimsuchung
Mariä. Als er einmal mit seinem Bruder aus der Schule kam, hat hier aus
diesem vergitterten Fenster eine sehr schöne Dame in Trauer mit ihnen
gesprochen. Sie hatte gefragt, ob sie Zwillinge wären und ob sie ihre
Mutter auch recht liebten. Er, der Kühnere, hatte geantwortet, den Blick
gesenkt; denn diese Dame war nicht so wie andere. Hier ist das
Türschild, auf das sie auch Schneehallen geworfen hatten. Eine andere
Glocke tönt. Er erkennt sie; es ist die des Klosters der englischen
Fräuleins. Dann begannen andere Glocken, alle Klöster des Neullyer Parks
läuten zum Segen.

Das Kind ist am Rand des Baches stehen geblieben, der sein Schmutzwasser
dem Kanal entgegenführt, in den es mit dem zauberhaften Klang reiner
Quellen abstürzt. Er geht jetzt rasch. Auf den Bänken blicken ihn
Erinnerungen an.

Dort am Ende der Straße, durch diese Lichtung, dem Himmelstor, wird er
eines Tages wie ein Engel davonfliegen. Er weiß sehr gut, daß sich
später _etwas_ ereignen wird.

Er ist bereit und wird nicht zittern, wenn man ihm sagen wird, daß die
Stunde geschlagen hat. Die Hände wird er falten und sich in die Wolken
erheben. Seine Mutter wird auf der Erde knien und vor Stolz weinen. Er
hebt den Kopf und geht festen Schrittes: »Gallien, Carolus Magnus, die
alten Reiche Neustra und Australia.« Wenn plötzlich dort aus dem Dunkel
ein Auerochs spränge, würde er auf einen Baum steigen und ins Hifthorn
blasen, die Gefährten herbeizurufen, die in den Wäldern umherjagen.

                   *       *       *       *       *

Die arme Mutter geht aus einem Zimmer ins andere und hört nicht auf zu
weinen. Sie läßt sich in einen Sessel fallen und weint, weint!

»Viel Kummer hatte ich und kannte manche traurige Stunde, aber ich
vergaß alle Kümmernis, wenn ich in das lächelnde Antlitz meiner Kinder
sah. Dieser Gewohnheit habe ich mich hingegeben. Ich war ganz Vertrauen.
Niemals habe ich an die Möglichkeit eines solchen Erwachens gedacht. Wie
sorglos war ich und wie schuldig fühle ich mich. Der Arzt, der mein
armes Kind behandelt hat, ist ein Dummkopf. Man hätte es retten können.
Der Kleine von Benoit hat dieselbe Krankheit gehabt, und man hat ihn
geheilt. Ich hätte mich wehren sollen.

Meine Lebenskraft ist erstarrt, und meine Augen haben sich in mein
Innerstes gewendet. Ich hatte die Wunder vergessen, und nun bin ich wie
einer, der tastend in der Nacht in einem großen fremden Hause
umhersucht, in dem niemand ist. Nein, mein Gott, das ist nicht der
gewohnte Gang der Dinge; es durfte nicht vor mir dahingehen. Mein Gott!
Mein Gott! Warum hast du mir mein Kind genommen? Es scheint, daß sich
ein fremdes Leben dem meinen zugesellt hat. Wenn ich an mich denke, so
ist es nicht wie früher. Viele Dinge, die ich vergessen hatte, kommen
mir fast täglich ins Gedächtnis. Ich sehe die Pension, in der ich die
schönen Jahre meiner Jugend verbrachte, mein Zopf fliegt mir auf dem
Rücken. Ich hatte seit meiner Verheiratung keine Erinnerungen mehr. Ich
habe diesen Mann geheiratet, ohne ihn recht zu kennen. Er ist fort. Er
hat mich mit seinen beiden Kindern verlassen. Wird er wenigstens zum
Begräbnis kommen? Tot ist mein kleines Kind, tot. Ist es denn möglich?

Einmal, ich war gerade nervös, da hab ich ihm einen Schlag gegeben, und
es hat lange geweint. Seine Verzweiflung war darüber so groß, daß ich
darob ganz bestürzt war. Ich habe es nicht genug umarmt und an mein Herz
gedrückt.

Niemals werde ich mehr glücklich sein. Nur mit Mühe kann ich meine
Gedanken sammeln. Wo ist es jetzt? Gibt es etwas nach dem Tode? Ja oder
nein? Wie traurig wäre es, wenn es nichts gäbe. Die Welt ist so groß,
daß sie mir Furcht einflößt. Hier in der Nähe sind Bäume, die sich
bewegen, und gleichzeitig sind, sehr weit in den Tiefen des Meeres,
Ungeheuer, die sich geräuschlos durch die gelben Algen schlängeln. Hier
ist ein Kind gestorben und drei Häuser weiter eines geboren. Wer kümmert
sich um meinen Schmerz, und was bedeutet er in dieser großen Welt? Wie
doch alles dunkel und schwierig ist! Ich bemühe mich zu verstehen, in
mich aufzunehmen; ich beuge mich in Demut, aber mein Kopf ist zu
schwach, daß ich verstehen könnte. Weinen ist leichter, o weinen! Nur
weinen kann ich. Unerschöpflicher Kummer! Kummer, der du mit vollen
Eimern aus allen Brunnen des Lebens steigst.

Ich kann dem Schlaf, der mich hindern wird, an ihn zu denken, nicht mehr
widerstehen. Mehrere Nächte habe ich fast nicht mehr geschlafen. Ich
darf mich nicht mehr unterwerfen. Ich habe noch ein zweites Kind
aufzuziehen. Was täte es ohne mich? Oh, wie bin ich doch müde!

Wie lange habe ich doch geschlafen? Ich werde mir ein wenig Kaffee, sehr
starken Kaffee machen, und dann werde ich die ganze Nacht bei ihm Wache
halten können. Frau Benoit wird dann gleich kommen. Es ist nicht gerade
warm. Ich glaube, das Feuer geht aus. Nun ist es schon einen Tag her,
daß es gestorben ist! Ich kann mich nicht besinnen, wohin ich das Paket
Kerzen gelegt habe, das ich gestern gekauft habe. Ich werde noch eines
kaufen müssen. Ich weiß nicht mehr, was ich tue. Ich würde ein wenig
lüften, um frische Luft einzulassen, aber mir ist, als könnte es mir die
Nacht entführen, und es stürbe noch mehr. Seine Nase wird spitzer. O
Entsetzen, mein Kind, mein Kindchen! Was suchen wir hier auf Erden? Was
tu ich hier, worauf warte ich? Wie können wir in dieser Wohnung leben,
mit dieser Gewißheit über uns? Und doch, es gibt in diesem Augenblick
Gegenden, wo die Leute jetzt lustig sind und singen. Es gibt welche, die
sich verheiraten, und manche bauen sich eben Häuser. Einige spielen
Karten, und andere schreiben ihr Testament.

Ich glaube, das Wasser kocht, ich höre die Pfanne singen. Wohin habe ich
denn nur die Kaffeebüchse gestellt? Mein Kopf versagt. Ah, da ist sie!

Bei allem, was ich sehe, höre oder berühre, finde ich seine Gegenwart
wieder. Jedes Ding ruft mir wieder eine seiner Gesten wach, eine seiner
Mienen. Warum hast du, o Gott, den man den Allgütigen nennt, mir ihn
gegeben, um ihn mir so rasch wieder zu nehmen? Diese Treppe, die ich
tagtäglich mehrmals herunterging, ohne nur an sie zu denken, die ich mit
geschlossenen Augen hätte hinaufsteigen können, ist mir vorhin wie ohne
Rampe erschienen, und mein Fuß hat eine Stufe verfehlt.

Nichts ist mehr auf seinem Platz, und jedes Ding hat eine neue Bedeutung
für mich. Ich bin ganz von meinem Schmerz umschlossen, ich bin nur
Schmerz. Die Welt dehnt sich um mich her, und ich fühle sie wie einen
Ozean von Gleichgültigkeit um meine kleine Trauerinsel.

Ich kann mich nicht sattsam genug der Stille anvertrauen.

Ich verliere mich in den Tiefen, und alles erschreckt mich. Jedesmal,
wenn ich die Augen hebe, trägt mir die Mauer, die Decke, der Rücken des
Fauteuils, gleich dem Schweißtuch der Veronika, sein Antlitz zu. Das
Licht meiner Lampe ist nicht das gleiche mehr. Etwas ist in ihre Flamme
übergegangen und ist darin geblieben. Auf dem Parkettboden ist ein
dunkles Feld, das an eine lichtere Zone stößt und unter dem Bett so
schrecklich wird, daß meine Augen, wenn ich daran denke, ihm nicht zu
begegnen trauen.

Teurer Kleiner! Ich werde nicht mehr für dich zu sorgen haben. Ich werde
nicht mehr die tausend Fragen hören, die er an mich richtete, wenn ich
ihn des Morgens anzog. Seine kleinen Hände werden mein Antlitz nicht
mehr liebkosen. Er nannte mich »Mutter«. Er schlang die Arme um meinen
Hals und sagte mir ins Ohr: Mutter! Du bist mein kleines Mutti, du. Und
nun liegt er so da.

Noch ist er da und ist nicht mehr da. Es scheint, daß er seinen Leib für
einige Zeit verlassen hat und wiederkommen wird. Er sieht sich nicht
mehr ähnlich. Er hat das Lächeln, wie man es auf den Malereien der
Museen sieht. Morgen werde ich sagen müssen: Zur Zeit, als mein kleiner
Raymond lebte . . . Als ich noch meine beiden Kinder hatte . . . Der,
der gestorben ist!

Es ist ein Datum mehr in meinem Leben. Wie er so auf dem Rücken daliegt,
scheint es, als würde er wie ein Boot, mit seinen Rudern von der Flut
getrieben, hinweggleiten.

Wenn ich auf der Straße stehen blieb, um den Leichenzug eines prächtigen
Begräbnisses zu betrachten, dachte ich nicht, daß ich eines Tages den
ersten Platz hinter dem traurigen Karren einnehmen würde.

Morgen werde ich hinter ihm in die Kirche eintreten. Die Kerzen werden
durch die Schleier der Weihrauchdämpfe erstrahlen, und die große Stimme
der Orgel wird seinen Einzug in das Reich Gottes verkünden. O Kleiner,
mein Kleiner!

Wie ist doch das Schweigen, das von dir aufsteigt, beredt. Ein Schweigen
der ganzen Menschheit, die mit all ihren Königen und all den lauten
Begebnissen wie unterirdisch sich hindehnt.

Mein Gott, antworte mir, wo bist du? Ich stehe vor dir demütig in
gläubigem Eifer, bereit, dein strengstes Gesetz anzunehmen, aber gib mir
nur ein Wort, irgend etwas für meinen Schmerz, der nicht vergeblich sein
kann.«

                   *       *       *       *       *

Das Kind geht nicht in die Schule, und man zieht ihm tagtäglich das neue
Kleid an. Man hat den Tisch verlängert, weil sein Onkel und seine Tante
jeden Tag zum Essen da sind. Bei Tisch spricht seine Mutter nicht drei
Worte und läßt alles auf ihrem Teller stehen. Manchmal erhebt sie sich
so plötzlich und bleibt so lange im Nebenzimmer, daß seine Tante
aufsteht, um sie zu holen. Jeden Nachmittag geht er mit seinem Onkel und
seiner Tante spazieren. Alle Tage sind Sonntage geworden. Mit großer
Sanftmut spricht man zu ihm, und er wird niemals mehr ausgezankt. Zwar
ist er viel vernünftiger geworden. Die Stirn an die Scheibe gelehnt,
sieht er auf der Straße seine von der Schule heimkehrenden Kameraden. Er
fühlt, daß er von nun an ihnen sehr überlegen ist.

Er sagt zu seiner Mutter: »Ich habe seine Spielsachen genommen und mir
sein kleines Federmesser ausgeborgt. Wirklich, Mama, es ist nicht
dasselbe, selbst wenn ich sein schönes Pferd nehme, das im Wandkasten
steht, wird es nicht das gleiche sein. O Mütterchen, ich bitte dich!
Nein, nein, nicht seine Schuhe, sie gehören ihm.«

Und er sagt auch: »Wird Papa niemals wiederkommen? Warum ist er fort,
warum kommt er jetzt nicht wieder?«

Und seine Mutter antwortet ihm, daß sie einen Brief erhalten habe. Sein
Vater sei weit, sehr weit am anderen Ufer des Meeres. Vielleicht wird er
eines Tages wiederkommen . . .

Der Vater kam eines Abends, viele Tage nach dem Ereignis. Das Kind
schlummerte eben in seinem kleinen Bettchen ein, und seine Mutter saß
neben ihm. Beide hörten einen Schritt auf der Stiege und sahen einander
an. »Horch, Mütterchen,« und sie antwortete: »Ja, gewiß, er ist es!«

Der Schritt hielt vor der Tür an. Er war es!

Die Mutter sagte zu ihrem kleinen Jungen, indem sie einen Finger auf den
Mund legte: »Rühr dich nicht, ich werde gleich wiederkommen.« Sie trug
die Lampe weg und schloß die Tür seines Zimmers.

                   *       *       *       *       *

Der verlassenen Gattin ward das Dunkel, aus dem sie ihre Träume
schöpfte, plötzlich wahrnehmbar, und ein Antlitz erschien in ihm. Der
Mann trat ein, alle Stille lastete nun auf ihm. Das traumhafte Schweigen
der Gegenstände wurde nun augenblicklich unterbrochen. Dann setzte es
wieder ein, als fliehe es den Tiefen zu.

Die Lampe, die vor einem Bilde des Gekreuzigten mit seinem geöffneten
Herzen flammte, verbreitete den Schein alten Elfenbeins, und er senkte
den Kopf und sagte nicht ein Wort, überließ dem Pendel der Uhr die
Unterhaltung. Die schweren Fenstervorhänge mit den tiefen Schatten waren
wie das weit geöffnete Memorial ihres Lebens. Der Zweig eines
Buchsbaumes schien sich über das Bild zu neigen, und es war als regte
sich die Ewigkeit in seinen Blättern. Von Zeit zu Zeit wurde die Tür
durch den Wind geschüttelt, und das Fenster krachte.

Sie hielten den Kopf geneigt, denn ihre Blicke konnten das Schwere, das
aus ihrer Seele kam, nicht emporheben.

Da plötzlich fesselte ein Gegenstand ihre Augen. Ein Leuchter aus
Kupfer, der auf dem Tisch stand, nahm eine seltsame Bedeutung an. Sie
schienen mit Aufmerksamkeit den Konturen und Verzweigungen zu folgen,
und sie gewöhnten so ihren Blick, sich anderswo als in ihren Augen zu
begegnen.

Und ihre Blicke stiegen zusammen längs des Leuchters auf, blieben einen
Augenblick an seiner Spitze unbeweglich, dann, als ihre Gesichter sich
zueinander aufhoben, verschmolz ihr Blick . . .

Im Nebenzimmer zitterte das Kind vor Unruhe. Mit weit geöffneten Augen
versuchte es das Mysterium der Dunkelheit zu durchdringen.

Was ging hier nebenan vor? Es hörte nichts. Sein Vater war
zurückgekehrt. Bedeutet das Glück? Unglück? Auf den Fußspitzen näherte
es sich der Tür und floh, als es Geräusch hörte.

Seine Eltern betraten das Zimmer. Sein Vater hob es von der Erde auf und
drückte es so stark gegen seine Brust, daß das Kind sein Herz gegen das
seine schlagen fühlte.




                      SPAZIERGANG UND BEGEGNUNG


Das Wetter war schön und die Luft sehr milde. An einem Sonntag war es.
Der Nachmittag rückte vorwärts, und seit Stunden wälzte sich
unaufhörlich die Menge über den Hauptboulevard der Stadt. Ein
Menschenstrom flutete abwärts, ein anderer wieder zurück. Wie im Meere
eilige Strömungen die bewegte Flut durchqueren, ohne sich in ihr zu
verlieren. -- Junge Leute folgten einander und drängten durch die
widerstrebende Masse. Von Zeit zu Zeit blieben Spaziergänger stehen, und
ihr Rücken zerteilte wie ein Fels die menschliche Flut. Sie wurden
heftig gestoßen und bald wieder vom Wirbel erfaßt. Da und dort öffnete
ein Geschäftsladen seine Höhlung und nahm etwas von diesen Wellen in
sich auf. Bei jeder Straßenüberquerung, wo der Sturzbach der Wagen sich
gewaltsam staute, rückte der Menschenstrom zurück, schwoll an, wurde
lebhafter und brandete dann in die freigelegte Hauptstraße. Die Fassaden
der Häuser stießen farbige Schreie aus, und gewaltsam prägte sich die
Lichtreklame, die von den Dächern in den Himmel hinaufgeschleudert
wurde, den aufwärts gerichteten Blicken ein. Die Spaziergänger waren
zahlreicher als die Buchstaben einer Zeitungsspalte. Fadenartig
umwickelten sie Plakatkioske. Vor den Auslagen bildete sich eine Wand
von Menschen. Wie Adler, die sich auf eine Herde stürzen, kreisten Wagen
umher, schienen ihre Beute zu suchen, stürzten an die Masse heran und
flohen mit ihrem Fang. Immer noch ging der Strom hin. Er floß über und
schwoll durch den unablässigen Zuwachs seiner Nebenflüsse, der Straßen
und Durchgänge; ohne sich sonderlich auszubreiten, kam er durch die Seen
der Plätze, um sich dann an seinem Ziele, in dem Fächer einiger Vororte,
zu verströmen.

Über all dies unterhielt sich unter diesen vielen Menschen ein junger
Mann. Schon seit dem Morgen begeisterte ihn eine außergewöhnliche
Freudigkeit. Sein Herz saß, wie er sich gern ausdrückte, am Ende einer
Rakete, bereit loszugehen. Das Ereignis dieses schönen Tages, nach einer
langen Reihe trauriger Tage, hatte ihm Vertrauen und Freude am Leben
wiedergegeben. Aus dem fröhlichen Windhauch, der die grünen Blätter der
Bäume bewegte, und von dem Geruch der eben frisch besprengten Alleen
flog ihn ein Zauber an. Alles schien ihm verändert. Die Frauen waren
fast alle begehrenswert, und die streitsüchtigen Männchen, die
Gottesfriede beschlossen hatten, begegneten einander mit ungewohntem
Wohlwollen. Schon am Morgen hatte er in einer kleinen Bar den
allgemeinen Optimismus auf dem lachenden Antlitz eines guten, dicken
Kerls leuchten sehen. Sogar der Werkelmann, dem er an seiner Straßenecke
begegnet war, war ihm nicht so elend erschienen; lächelnd leierte er mit
himmelwärts aufgeschlagenen Augen; er dachte nicht mehr daran, die Hände
auszustrecken, und spielte sichtlich nur zum Vergnügen. Er sah noch
immer den Mann dort neben der Haustüre mit seinem geröteten und dabei
sanften Schnapsgesicht und bedauerte es, ihm nichts gegeben zu haben.

Zerstreut ging er dahin, ließ unbesorgt und ziellos seine Blicke
umherschweifen und lockerte die Trense seiner Gedanken. Er wurde nicht
böse, wenn man ihn anstieß. Alles interessierte ihn und schien ihm
zuzurufen: die Farbe eines Kleides, der Klang einer Stimme, die Klarheit
eines Antlitzes, die Spur eines Parfüms. Er blieb oft stehen und wandte
den Kopf, ohne der Gewalttätigkeiten zu achten, denen er sich dadurch in
jedem Augenblicke aussetzte. Er glich dem sorglosen Kinde, das während
der Schlacht unter dem Kugelregen der Kämpfenden Blumen pflückt. Wenn
ein Ellbogen in seine Rippen drang, ein ungeschickter Fuß auf den seinen
trat, sagte er sich: »Geschieht dir schon recht, warum gibst du auch
nicht acht, eben wärst du beinahe wieder unter diesen Autobus geraten,
als du über den Boulevard gingst, aber schon hast du es wieder
vergessen; eine ganz gelungene Quetschung mit krachenden Knochen und
verspritzten Eingeweiden steht dir ja auf der Nase geschrieben und ist
dir ganz sicher.« Aber er war seinen Leidenschaften gegenüber wehrlos
und setzte seinen Weg fort, indem er, abenteuerlich gelaunt, voll wirrer
Ideen die Augen rechts und links umherschweifen ließ.

Es gab hier um ihn her so viele Dinge zu sehen, daß er mit seinen
Blicken den Himmel, das Jagdgebiet der Götter, verschonte.

Leute nähern sich ihm. Alle denken sichtbar an etwas Bestimmtes. Aber
ihre Gedanken vermengen sich nicht. Jeder Vorübergehende schlägt seinen
Weg ein und trägt die kleine geschlossene Welt seiner ihm allein
vertrauten Gedanken, sein undurchdringbares Geheimnis in sich verborgen.
Jeder ist ein geschlossenes Buch, das eine Geschichte enthält, die
niemand lesen kann. So gehen sie auf dem wohlbekannten Boulevard mit der
Sicherheit blind Geborener dahin. Was könnte sie in Erstaunen versetzen?
Alles befindet sich an seinem Platz, und der gewohnte Anblick
verschleiert mitleidig die tiefern Dinge. Wozu auch sich immer um den
Anfang und das Ende sorgen, wenn der gegenwärtige Augenblick so
freundlich ist. Jeder fühlt sehr stark, daß schönes Wetter und er frei
ist. Sonntags läßt es sich gut leben. Die Erde gehört jedem, und keiner
vermag ihr etwas zu rauben. Man existiert ohne jede Mühe. Der Hauch der
Lungen, die Maschinerie der Beine funktioniert, ohne daß man sich darum
bekümmern muß. Man braucht sich nur laufen zu lassen. Jeder
Vorübergehende weiß, daß er den ganzen Tag um seiner selbst willen leben
wird, daß er Herr eines Körpers ist und ihn zu seinem eigenen Gebrauch,
zu seinem eigenen Vergnügen verwenden kann. Bis zum Morgen werden die
Minuten sich aneinanderreihen und mit vollen Händen eine der andern
Freiheit spenden. Auch ist es nicht nötig, eine neue Art des Fühlens und
des Schauens zu erfinden. Die Freude ist allüberall, und man braucht
sich nur zu bücken, um sie aufzuheben. Wir haben ein für allemal die
Dinge bei ihrem Namen genannt, und das Weltall mag sein Geheimnis, das
uns nicht interessiert, für sich behalten; wir werden uns nicht mehr
verfolgen lassen. Der Tod? -- laßt uns lachen! --: eine Erfindung der
Pfaffen. Und wenn es ihn schon wirklich gibt, so ist er ein Verhängnis,
das so entfernt und unwahrscheinlich ist, daß man es nicht nötig hat,
daran zu denken, und dann . . . bis dahin kann so mancherlei passieren;
weiß man es denn?

Großer Gott, diese Menschenmassen! Woher kommen sie denn alle, diese
Köpfe, dies wandelnde Gewirr von Globussen.

Er wurde nicht müde, alle diese Unbekannten zu betrachten, die plötzlich
vor seinen Augen erschienen und sich in einer gänzlich von Menschen
erfundenen Dekoration hin und her drängten. Nichts, rein gar nichts war
hier von der primitiven Natur übrig, und doch hatte ohne Zweifel an
dieser Stelle früher einmal ein Wald in seinem Dämmerzustand gestanden.
Das wilde Tier hatte hier, gewiß oft von Jägern verfolgt, mit seinem
Schrei das finstere Echo geweckt, und er dachte an einen alten Stich,
der eine Auerochsenjagd darstellt. Eine ängstliche Hirschkuh hatte
vielleicht hier mit ihren Jungen geschlafen, während der Mond die Wipfel
der Bäume beleuchtete. Täglich sangen tausend Vögel, wenn der Hauch der
Morgenröte sich erhob, und nachts war die wundersame Stille nur gestört
durch das Brechen von Ästen, das die behaarten Ohren des Wildes und die
traumschweren Schwingen der Vögel aufschrecken ließ. Nun aber sind da
Steinpflaster und Häuser und der Horizont geradliniger Fassaden. Selbst
der zwischen den Dächern sichtbare Himmel hat sein Geheimnis verloren,
er ist geordnet, gleichsam gezähmt.

Mit neuem Blick betrachtete er ein glänzendes Automobil, das am Rande
des Fußsteigs stehen geblieben war, er betrachtet es so, als wenn es,
ganz ausgestattet und geputzt, eben aus den Tiefen der Erde
herausgekommen wäre. Seine glänzenden Kupferbestandteile, seine
Laternen, die an riesige Juwelen erinnern, seine wie ein geschmeidiges
Tier gewundene Sirene, alles, woraus es sich zusammensetzte, hatte lange
in der unterirdischen Nacht als ungeformte, aufgehäufte Materie
geschlummert, und die Menschen waren vorbei gekommen, ohne ihren Schlaf
zu stören. Heute knatterte es am Rande eines Fußsteigs. Die geduldige
Arbeit vieler tausend Jahre hatte eines Tages eine Vereinigung von
Zusammenhängen geschaffen, aus denen dieses Wunder erstanden war; und
doch würde, Stück für Stück zerlegt, diese merkwürdige Maschine
unfehlbar in ihren primitiven Zustand zurückkehren. Er gewährte sich den
Zauber, sie mit den aufgerissenen Augen eines Steinzeitmenschen zu
betrachten, und sah, wie sie losfahrend ihre Kraft unter dem Befehl
eines Chauffeurs bändigte. Dann nahm er wieder seinen Weg auf, die Leute
musternd, die ihm begegneten. Er traf seine Wahl unter den Gesichtern
und interessierte sich hauptsächlich für einige Vorübergehende. Auf
deinem Gesicht, mein Lieber, kann ich ohne Brille dein ganzes Register
ablesen. Zylinder, Zigarre, Gewohnheitsraucher könnte man sagen, üppige
Lippe, volle Wangen, stubenhockerisches Gesicht, ein großer
wohlgenährter Körper, der sich nichts versagt. Ich weiß, daß du Sklaven
hältst und daß du in der Tasche den Schlüssel zu deinem Geldschrank
trägst. Und nun wieder dieser dort? Begrenzter Blick, Gutmütigkeit des
gebrannten Kindes, der Gewohnheit des Gehorsams unterworfen; ausgelaugte
Hautfarbe, tägliche Haft in irgendeinem obskuren Büro. Dieser da hatte
es schwerer, vielleicht ist er ein Dilettant irgendeiner Art, ein
Müßiger, der sich die Illusion einer Tätigkeit zu schaffen verstand. Und
wohin geht diese Frau? Wird sie irgendwo erwartet? Ruft sie Pflicht oder
Vergnügen? Dieser Austräger, eben auf einem Geschäftsweg, der da am Band
des Fußsteigs hingeht? Regelmäßiger und ruhiger Schritt, rhythmisch,
fast wie ein Tänzer, keinerlei Anzeichen von Sorgen im Gesichte, also
festes Gehalt Ende jedes Monats. Ein Kenner des Kartenspiels und des
Weines. Ich sehe seine Frau in einer Portierloge. Vollständige
Sicherheit, eine gewisse Leichtigkeit, sich zu verändern! Seine
Prinzipien: sich um nichts zu sorgen und weit vom Schuß sein, wenn die
Bombe platzt.

Eine Modedame in hellen Farben entflattert einem Geschäftsladen und
entflieht den Blicken der Männchen, die ihre Nase nach ihr heben.

Er spaziert immer weiter. Seine namenlosen Zeitgenossen umkreisen ihn
und streifen ihn wie Erscheinungen. Wohl hört er manchmal Worte durch
diese halbgeöffneten Türen, unter denen sich Geheimnisse dieser
Lebewesen auftun, aber sogleich verschlingt der Raum um ihn die Menge
mit ihren Beschwernissen, die ihm ewig weiter unbekannt bleiben werden.

Dieser ist heute morgen in der Stadt angekommen, und jener wird sich
heute abend einschiffen, um niemals wiederzukehren. Dieser Ingenieur
trägt hinter seiner Stirn das Bild einer merkwürdigen Maschine, über
deren Bau er nachsinnt. Die Frau dort bemüht sich, nicht an die noch
unbezahlten Rechnungen der Lieferanten zu denken. Von all diesen
Boulevardspaziergängern werden, wenn auch keiner eine unabsehbare Zeit
überleben wird, mehrere, dafür kann er einstehen, schon vor Ende des
Monats tot sein. Jeder in Bewegung begriffene Körper, und auch der
seine, wird endlich nach langem Hin- und Herschwanken das vollkommenste
Gleichgewicht erlangen. Viele haben schon ein kleines Zimmer aus Stein,
das sie irgendwo geduldig erwartet . . . Und alles spaziert am Ende
einer Leine, die eine gewisse Hand nicht losläßt. Aber glücklicherweise
schwebt ihnen die Zukunft als ein herrlicher Golf vor, in dem sich der
eingeengte Strom ihres gegenwärtigen Lebens schön ausbreiten wird. Einer
von ihnen träumt: noch zehn Jahre guter Arbeit, und wenn mir nichts
Böses zustößt, werde ich mein Geschäft verkaufen und mich aufs Land
zurückziehen können. Ein anderer: ach, wenn ich im Ruhestand sein werde,
dann sollen sie erfahren, was ich über sie denke. Wie einen das
erleichtert! Und ein dritter: wenn ich eine bessere Stellung ausfindig
gemacht haben werde, will ich mich verheiraten und ein Heim gründen, das
muß doch endlich so kommen. Und ein vierter noch, der über seine eigenen
Gedanken lächelt: sobald meine Geschäfte besser gehen werden . . . usw
. . . .

Sie kommen vorbei und verschwinden wieder, damit ist es zu Ende, und er
wird sie nicht wiedersehen.

Plötzlich denkt er an diese Frau, die an einem der letzten Abende in
einem Zug ihm gegenüber gesessen hatte. Wenn er sich in diesem Gewühle
plötzlich wieder ihr gegenüber fände. In dem Maße, als er sich das
Abenteuer neuerdings vergegenwärtigte, vergnügte er sich, diesen
unmöglichen Zufall herbeizusehnen. Er erinnerte sich, daß sie recht
hübsch und ihr Blick keineswegs der einer dummen Person gewesen war. Mit
einer neuen Zähigkeit machte er sich wieder Vorwürfe. Ich hätte es doch
wagen sollen. Jeder Tag hat so seine Launen; wenn ich ihr heute begegnen
würde, spräche ich sie gewiß an. Warum habe ich damals gar nichts
versucht? Wer weiß, welch glückliche Möglichkeiten ich mir an jenem
Abend entgehen ließ? Es war eine seiner großen Versuchungen und zugleich
seiner großen Befürchtungen, die Ereignisse vorwegzunehmen, um ihnen zu
ihrer Verwirklichung zu verhelfen. Neue Wesen aus einer unbekannten Welt
anzusprechen, hatte immer eine besondere Erregung in ihm hervorgerufen.
Vor wieviel Türen hatte er nicht, die Hand an der Klingel, gezögert und
war schließlich gegangen, um am nächsten Tag mit einem verspäteten Sieg
über sich selbst wiederzukommen. Wer konnte die vielleicht seltsamen
Folgen der geringsten Begegnung voraussehen? Dies hieße schließlich sein
Leben in zu kleiner Münze verausgaben, wenn man so wenig Herr über sich
selbst war, daß man es zur Beute des erstbesten Zufalls machte, der um
die Ecke bog. Es gab so viele Menschen, die er nach seinem Willen kennen
lernen konnte oder nicht. Eine einzige Begegnung mochte seinem Leben
eine neue Richtung geben. Denn jedes Ereignis ist reich an
unvorhergesehenen Verknüpfungen. Wie sollte man unter den unzähligen
Erwägungen jedes Tages wählen? Durfte er leichthin Freundschaft und dann
Haß in Blicken erwecken, die heute zum erstenmal auf sein Antlitz
gerichtet waren? Sollte er diese lange Folge von Enttäuschungen
herbeilocken, die ihn bei jener Frau erwarteten, die zu rasch ihm sein
Lächeln erwidert hatte?

Zögern des Spielers vor der Wahl des Wagnisses!

Begegnungen, neue Beziehungen über ihn verhängt oder von ihm gesucht, o
all dieser Aufbau der Zukunft, der zwischen Gebundensein und Freiheit
schwankt! Begegnung! Ist sie nicht stets für den immer fortbestehenden
Menschen wie eine feierliche Geburt? O schöpferische Begebenheiten! Als
ich jenem Unbekannten die Hand drückte, entstand plötzlich in mir der
Mensch, der ich erst später einmal sein werde.

Werde ich also kraft einer unbescheidenen Sicherheit mich ohne Furcht
und Demut den tausend Abenteuern entgegenwagen, die jeden meiner
Schritte belauern? Werde ich nicht zumindest die Erregung des Jägers
erleben, der auf den Fußspitzen in den geheimnisvoll belebten Wald
dringt, in dem ich gegen mich selbst vorschreite, der ich mir in eigener
Person vielfach und doch einzigartig begegne?!

Er ließ sich von anderen Gedanken entführen und wechselte das Spiel.

Er musterte jetzt die Augen der Vorübergehenden. Dies war, wenn er durch
die Straßen spazierte, eine seiner alltäglichen Vergnügungen, die Augen
der Frauen und Männer zu befragen. Er trug aus der Antwort, die er
erhielt, immer irgendein Wunder davon.

Man geht in einer wenig belebten Straße hin. Vor uns ist nichts als der
unbekannte und seelenlose Raum, Bewegungen überflüssig wie vergebliche
Axtschläge, und dann Häuser mit ihren Fenstern und die leuchtenden
Auslagen der Geschäfte. Da plötzlich nähert sich uns jemand auf dem
Fußsteig, z. B. eine Frau. Von weitem ist sie vorerst nur ein Körper,
der sich bewegt. Im Hintergrund der Straße, viel weiter, regen sich ja
noch viele andere Wesen. Aber die Frau nähert sich, ihr Gesicht wird
deutlicher. Unter den Bogen der Brauen lugt ein fremdes Leben hervor,
die Augen. Selbst kommt man gleichfalls heran. Der äußerste Punkt der
Blicke beginnt nun an uns zu rühren. Irgend etwas leuchtet aus diesem
nahenden Antlitz. Die Linien des Körpers halten das Wesen nicht mehr
versperrt. Das Leben der Augen ist größer als das sie einschließende
Antlitz. Die Vorübergehende wird uns erreichen, wir suchen ihren Blick,
und plötzlich findet die übliche Verschmelzung statt. Aus den Tiefen des
Alls kommt uns durch diese Augen eine flüchtige Botschaft, und wir
vereinigen uns in ihnen mit dem ganzen fremden Leben.

Die zwei Vorübergehenden deren Blicke sich begegnen, haben beide das
Gefühl einer Besitzergreifung. Aber weder der eine noch der andere
könnte sagen, wer besitzt und wer besessen wird. Wie viel zärtliche,
ironische und hochmütige Worte habt ihr für den müßigen Spaziergänger,
der euch in aller Unschuld sucht, ihr Blicke, die ihr zahlreicher als
die Kiesel des Meeres, zahlreicher als die raschen Strahlen der großen,
sich drehenden Leuchttürme aus dem Antlitz der Vorübergehenden
hervorzielt!

Alle Blicke gewähren sich nicht dem ihnen auflauernden Blick. Es gibt
Blicke, die überrascht sich sogleich abwenden. Es gibt auch solche, die
uns durchdringen, als ob sie uns nicht zu sehen scheinen, und andere,
die sich mit solcher Zähigkeit an uns anlehnen, daß wir Mühe haben sie
zu ertragen. Wenn sie vorbei sind, fühlt man sich verarmt, und manchmal
hat man nach ihnen zurück schauen müssen.

Die Menschenmenge war ihm jetzt nichts mehr als Tausende von Augen, die
er unermüdlich befragte. Er war manchmal so stark betroffen, daß er als
erster den Kopf wenden mußte. Die Seele jedes Vorübergehenden erfloß aus
dieser Doppelquelle, und er fühlte sich bald mit Höflichkeit empfangen,
bald verächtlich in ein unwiderrufliches Nichts verwiesen. Es gab da
auch Augen, die auf das Antlitz nur gemalt waren, und es war fast
unmöglich, in ihnen die geringste Spur eines Innenlebens zu entdecken.

Das ist ein Antlitz, ein Antlitz . . . das ihm nicht unbekannt ist. Und
dieser Gang! Nur den Körper erkennt er nicht, der muß sich verändert
haben. Wer mag es doch sein? Der Blick des Vorübergehenden prüft ihn mit
Dringlichkeit. Er ist voll Leidenschaft und scheint eine Frage zu
enthalten. Worte stehen hinter ihm bereit. Es ist offenbar, daß man ihn
nicht wie einen Fremden anblickt. Auch er zögert vielleicht, ihn zu
erkennen. Er selbst schaut mit der ganzen Kraft, mit dem inneren Auge
seines Gedächtnisses. Wenn er sich nicht sehr eilt, wird es in wenigen
Sekunden zu spät sein. Er leidet vor Ungeduld. Aber da er nichts findet,
bleibt ihm keine andere Möglichkeit, als seinen Weg fortzusetzen. Der
Fremde ist vorübergegangen und hat nicht einmal seinen Schritt
verlangsamt. Er aber, der seinen Blick nicht von dem Manne abwenden
kann, bleibt stehen. Ohne Zweifel irre ich mich; wer könnte es denn
sein? Nun entfernt er sich, aber der Zusammenprall war so stark gewesen,
daß er noch immer sein Gedächtnis durchforscht. Einige Gesichter, auf
die er den passenden Namen finden könnte, schaltet er aus. Dieser ist es
nicht, jener auch nicht, wer denn also? Wer war dieser Mensch? Solange
er seine Persönlichkeit nicht festgestellt hat, wird ihm ein
unangenehmer Eindruck den Spaziergang verleiden. Irgendwie fühlt er, daß
es für ihn wichtig sein würde, diese Spur aufzufinden. Der Mann ist
jetzt in der Menge verschwunden. Vielleicht könnte er ihn noch laufend
erreichen, unwillkürlich beugt sich sein Körper vor. Er wird immer
ungeduldiger, und sein Gesicht verändert sich. Wer ist es, wer mag es
nur sein? Es ist ihm unmöglich, sich zu erinnern. Er forscht in die
Vergangenheit, von dem nicht geklärten Wunsche beeinflußt, diesen Mann
wiederzusehen. Wie er so seine Nachforschungen pflegt, fühlt er, daß es
»brandelt«. Er muß sehr weit in seinem Leben zurücksuchen, und plötzlich
ist kein Zweifel mehr, er fühlt in sich einen starken Chok, und er
erkennt endlich den, der eben an ihm vorübergestreift ist. Er hat sich
allerdings verändert. Aber ein Irrtum ist ausgeschlossen, er war es
sicher. Daß er ihn hat vorübergehen lassen! Einen seiner liebsten
Menschen, der einmal sein täglicher Vertrauter gewesen war. Er eilt
seiner Spur nach, stößt an jedermann an, aber die Menge ist plötzlich
feindlich geworden und richtet sich hart vor ihm auf. Hat er denn mehr
Eile als die andern? Nun sitzt er ganz fest in einem Knäuel von Leuten.
Er will sie abschütteln, heimst aber nur ärgerliche Bemerkungen ein. Da
er einen Streit voraussieht, schweigt er. Schließlich entkommt er, und
es gelingt ihm, sich durch die Gruppen durchzudrängen. Die Hoffnung, den
Mann noch zu entdecken, erscheint ihm plötzlich so märchenhaft, daß er
die Suche aufgibt. Wie sollte er ihn in dieser zahllosen Menge wieder
auffinden? Eine leichte Trauer befällt ihn, wie Ermattung. Er ist es
müde, zwischen den Leuten so hinzugeben, er möchte sich auf eine Bank
fallen lassen und lange nachdenken.

So nahe ist er an mir vorübergegangen, daß ich ihn hätte berühren
können! Wird er ihn jemals wiedersehen? Schmerzliche Umstände hatten
diesen Freund seinerzeit gezwungen, auszuwandern. Er erinnerte sich des
Abends, wo er fortgegangen. Viele Menschen waren auf dem Bahnhof
gewesen. Während die Abteiltüren zuklappten und die Angestellten hin und
her liefen, hatten sie einander umarmt, dann war der Zug abgefahren.
Einige Monate hindurch hatten sie einander geschrieben, dann waren sie
beide lange ohne Nachricht gewesen, bis eines Tages ein Brief
unbeantwortet geblieben, und da der letzte Verbindungsfaden auf diese
Art zerriß, war einer für den andern nicht mehr gewesen als eine
Erinnerung, die auf einer stummen Insel hinstarb. Jahre waren darüber
hinweggegangen.

Und doch, welchen Kummer hatte er zur Zeit jener Trennung empfunden. Die
neuen Freundschaften hatten ihn nicht hindern können, oft an den zu
denken, der ihm verloren war. Im Geheimen seines Herzens bewahrte er ihm
eine von Schwermut genährte Zärtlichkeit. Sie hatten den gleichen
Enthusiasmus gefühlt, sie hatten wie Brüder gelebt, während einiger Zeit
dieselbe Wohnung geteilt. Und heute hatten sie sich nicht wiedererkannt.
Wo würde er ihn wiedersehen können? An welche Tür sollte er pochen? Er
kannte weder seine Familie noch irgendeine seiner Beziehungen. Er sah
keinerlei Ort, wo er ihm begegnen könnte. Niemand konnte ihm helfen,
seine Spur zu verfolgen. Und dabei hatten seine Augen auf ihm geruht.
Diesen Mann wiederzufinden, koste es was immer, war ihm die wichtigste
und dringendste Sorge geworden. Aber wie, wie nur? Er wird ihn nicht
wiedersehen. Das ist ganz sicher. Und dieser Gedanke war ihm
unerträglich.

Die Menschen fluteten noch immer vorbei. Aber ganz in seine Gedanken
verloren, sah er sie nicht mehr. Ja, die Berührung mit dieser Masse war
ihm sogar unangenehm. Er bog um eine Ecke und schlug die Richtung nach
seiner Wohnung ein. Mit gesenktem Kopf und unzufrieden mit sich selbst,
schritt er hin. Wie konnte er auf den Zufall hoffen, ihm wieder zu
begegnen? Sein früheres Leben erschien ihm wieder, kalt und wie dem
Geschmack der erloschenen Zigarre vermengt, an der er zerstreut kaute.
Sein Herz empörte sich.

Er erblickte den Mann wieder, wie er an ihm vorübergekommen war. Ganz
deutlich sah er sein Gesicht, seine Krawatte und die Art, wie er ihn
angeblickt hatte. Ein Staunen begann sich in ihm zu regen. Seltsam, er
selbst hatte sich kaum im Lauf dieser Jahre verändert. Darüber waren
alle Leute einig, und seine Porträts bewiesen es. Hatte sein alter
Freund ihn wirklich nicht wiedererkannt? Ein Zweifel, der sich mehr und
mehr bestärkte, setzte sich in ihm fest. Aber ja, ganz sicher hatte er
mich erkannt. Ich sehe ja noch das Erstaunen in seinem Blick, aber ohne
mit mir zu sprechen, ist er vorübergegangen. Er hat mich erkannt, aber
mit Gleichgültigkeit, das ist die Wahrheit. Ob er denn auch in meinem
Zögern die Absicht vermutet hat, ihn nicht erkennen zu wollen? Immerhin
hätte ihn die Freude unserer Begegnung in meine Arme drängen müssen. Er
hat Zeit gehabt, zu überlegen, aber er hat die Sachlage ganz kalt
beurteilt. Er hat sich vielleicht gesagt: die zehn Jahre haben aus
diesem früheren Freund einen Fremden gemacht, den ich nicht mehr
anzusprechen wage. Was für ein Mensch mag er geworden sein? Welche
Sorgen beschäftigen, was für Ziele locken ihn? Ich selbst habe ja nicht
mehr die Wünsche von damals, und ich lächle, wenn ich an die Ideen
denke, die ich früher verteidigte. Ich habe mich sehr verändert. Und er?
Wenn er derselbe geblieben ist wie vor zehn Jahren, haben wir nichts
Gemeinsames mehr. Und wenn er sich so sehr verändert hat, daß er ein
ganz neuer Mensch geworden ist, ist er auch nur mehr ein Fremder für
mich.

Er ist vorübergegangen, ohne stehen zu bleiben. Ohne Freude hat er mich
wiedergesehen. Zweifellos hätte er mich angesprochen, aber meine Haltung
entmutigte ihn. Er hat wohl einen Augenblick des peinlichsten Zögerns
gehabt, als sich sein Schritt dem meinen näherte. Sollte er mich
ansprechen, sollte er sich den Anschein geben, mich nicht zu erkennen?
Er hat vielleicht meine Augen gierig belauert. Zwei Ströme haben sich
berührt, ohne ihre Wasser zu vermengen. Zwei lebendige Menschen haben
sich angeblickt, und jeder von ihnen hatte hinter sich einen toten Mann.
Wie zwei Phantome haben sie sich einander genähert, um sich dann wieder
in ihrer Nacht zu verlieren.

O Trauer, Trauer! Du alter Freund, der du, mich erkennend, nicht
gedrängt warst, deinen Arm um den meinen zu schlingen, nie wirst du die
Bitternis ahnen, die dein Vorübergehen in mir zurückgelassen hat. Und
dennoch hätten wir vielleicht nicht lange gebraucht, um wieder die alten
Gefährten von einst zu werden! Mit einigen guten Gesprächen und
gegenseitigen Retouchen hätten unsere Seelen sich wieder gefunden. Du
hast es nicht gewollt. Und diese Gewißheit ist mir jetzt so eingeprägt,
daß vielleicht ich jetzt derjenige sein werde, der als erster den Blick
senken würde, um dich nicht zu sehen, wenn ich dir an einem der nächsten
Tage begegnen würde.

Als er die Straße erreichte, in der er wohnte, kehrte er nochmals um, um
den Augenblick, wo er sich in seinem Zimmer mit seiner Traurigkeit
allein befinden würde, hinauszuschieben. Er schlenderte noch einige Zeit
in der Gegend seines Hauses umher, dann kam ihn die Lust an, alte Briefe
zu lesen, gewisse Reliquien hervorzunehmen, die er fromm bewahrte.

Er schritt über die Schwelle seiner Wohnung mit der Absicht, demjenigen
seinen einsamen Abend zu widmen, der beladen mit einem früheren Leben
aus dem Vergessen und dem All herausgetreten war und sich dies eine Mal
sogleich wieder, diesmal aber wohl für immer, darin verloren hatte.




                                TRÄUME


Du bleicher Nachtwandler, gefoltertes Phantom, fern deinem Bette, wo
dein schlummernder Körper, wie von dir selbst losgelöst, ausgestreckt
liegt, irrst du um Mitternacht durch die Räume der schlichten Behausung.
Die Mauern, die Decke, die Möbel, sie alle schlafen, aber du? Du hast
dein Lager verlassen, um bis zum Morgenrot im Schattenreich des
Schlummers und der Toten ein unruhevolles und wirres Leben zu führen.
Unter deinen Füßen hat sich der Boden aufgetan, um tief in die Traumwelt
zu sinken, und welch alte Dinge, -- o wie alt sind sie -- rauschen und
weben in deinen Ohren. Wie ängstigst du dich doch, das Nebenzimmer zu
betreten, wo das Dunkel mächtig ist wie ein Geist. Unter dem Teppich des
Tisches ist es so stark und lebendig, daß du ein Unbekanntes nahen
fühlst.

Wie spät mag es sein? In welches Jahr deiner Jugend bist du
zurückgerückt? In Nebeln blitzt eine Klinge auf, und du denkst an
Menschenmord. Aber du liebst deine Furcht und machst einen Schritt vor,
um noch besser in sie einzudringen. Hier ist der Schlupfwinkel. Die Türe
weitet sich, als könnte sie nicht länger mehr das geheime Schrecknis
bewahren. Dort ist das Vorzimmer, das ganz mit Kleidern angefüllt ist.
Ist denn die Türe geschlossen? Keineswegs, sie ist gegen die Stiege weit
geöffnet, und zögernd steht dort eine gequälte Gestalt. Wie konnte die
Tür sich öffnen? Unter welcher Blicke Macht? O wie gerne möchtest du
imstande sein, sie zu schließen, es wagen hinzugehen, den Riegel
vorzuschieben, um dann, an den Türrahmen gelehnt, tief Atem zu holen. Du
weichst gegen die Küche zurück, läßt den Eingang nicht aus dem Auge. Nun
schließt du die Türe und schiebst den Riegel vor. Aber die Küche ist von
dem anderen Raum nur durch ein schwaches Eisengitter getrennt, und du
fühlst dich nicht in Sicherheit. Du spürst, daß man dich nebenan
belauert. So öffnest du denn das Fenster und suchst zu deiner
Verteidigung im Freien einen Verbündeten.

Da draußen aber liegt nur ein armseliger Hof, und es ist tiefe Nacht.
Zwischen zwei Mauern sieht man allerdings die dunklen Gärten und
Schatten dort, die du zu erkennen versuchst. Am Fensterrand, den man mit
einem Brett verbreitert hat, steckt ein Pinsel in einem mit Wasser
angefüllten Gefäß und ein Blumentopf mit kärglichem Gartenkerbel, den
der gefühllose Wind hin und her bewegt. Schnüre sind von der
Schutzstange eines Fensters zu der eines andern gespannt; an Waschtagen
hängt man daran Wäsche auf. Du erinnerst dich des Geruches nasser
Leinentücher. An einem solchen Tag, abends, hatte sich die Frau aus dem
Fenster gebeugt, um ihre Wäsche dort auszubreiten. Der Wind bewegte
hinter ihr eine Kerzenflamme, und im Dunkeln hörte man sprechen. Etwa:
»Das Wasser war so kalt, daß mir die Nägel zum Weinen weh taten.« Oder:
»Diese schmutzigen Schornsteine werden mir noch alles verrußen.« Und
dazu klatschte die feuchte Wäsche im Winde.

Da plötzlich streifte nun wie eine Hand ein Hauch deine Wange; eine
zerbrochene Fensterscheibe war durch ein Stück Zeitungspapier ersetzt
worden und wurde nun zeitweise vom Winde bewegt. Zwischen der Mauer und
dem Büfett sitzest du, von irgendeiner Angst festgenagelt. Deine Beine
sind nackt und du frierst. Der steinerne Ausguß ist sehr schmutzig,
seine Quadern sind so ausgelaugt, daß sie einem alten Schwamm gleichen.
Dem Wandkasten, wo Zwiebeln, Kartoffeln und Gewürze in Tüten aufbewahrt
sind, entströmen Gerüche. Mit dem Blick biegst du den verbeulten Boden
der Kasserolle gerade und besserst die abgeschabte Malerei der Mauer
aus. Wenn du das Auge hebst, bemerkst du auch, daß die Blechschachteln
auf ihrem Gestell nicht nach der Reihenfolge aufgestellt sind, und
leidest an dieser Unordnung. Auch entsinnst du dich, daß eben noch auf
der Straße das Gaslicht brannte; so wird denn die Nacht noch lange
währen.

Von der sandsteinernen Wasserleitung, mit dem Relief eines
Wasserträgers, fällt von Zeit zu Zeit ein Tropfen. Jetzt schüttelt der
Wind, nahen Regen kündend, dir Tränen ins Gesicht.

Und du verharrst in deiner kindlichen Hilflosigkeit.

Die Stille hat alles eingefroren, und es ist dir, als wären in ihr die
Menschen wie in einem Eisblocke und blickten nun daraus hervor. Du
würdest alles, was du besitzt, dafür geben, diese Prüfung, die dein Herz
grausigen Mächten in die Hände spielt, überstanden zu haben. Vor
Tagesanbruch aber wirst du ihnen nicht entkommen. Vergeblich versuchst
du, auf deinem Sessel einzuschlummern. Aber die Stille ist zu groß, als
daß du dich dem Schlafe anvertrauen könntest: denn es ist eine Stille,
in deren Inneres du wie in eine ausgestorbene Wüste schaust, in der sich
keiner der Götter findet, die Furcht und Eitelkeit der Menschen erfunden
haben. Du erschrickst über die Wichtigkeit deiner Entdeckung. Dies ist
nun die Wahrheit, die so sehr gesuchte. Nichts ist da! Nichts! Was
werden die Leute morgen dazu sagen, wenn du ihnen diese Nachricht
entgegenschreien wirst? Welche Umwälzungen in der Welt! Es gibt nichts
als das Nichts! Der Beweis ist erbracht. Der unwiderlegbare Beweis!

Die Schatten haben sich bewegt. Der bleiche Vorhang ist zurückgeschoben.
Wie verbringst du jetzt deine Zeit? Den Schritt vorauszuspüren, der
plötzlich die Stiege streifen, die genaue Stelle zu erraten, die das
Papier am Fenster, wenn der Wind es in die Höhe hebt, berühren wird?
Wie? Mache du vor allem keine Bewegung! Lenke die Aufmerksamkeit nur
nicht auf dich! Verringere das Gewicht deiner Anwesenheit durch
Unbeweglichkeit. Zieh dich im Raum zusammen! Schrumpfe in dich zurück!
An der Wurzel schon schneide deine Blicke ab! Verschwinde in
vollkommener Starrheit! Nun bist du nicht mehr und bist dir dessen
bewußt. Oh, warum hast du mit diesem kleinen Geräusch deine Lippen
genetzt? Der Zauber ist gebrochen; tausendfach läuft Furcht über deine
Haut hin. Überall finden deine Blicke Nahrung der Angst. Du bist
verloren. Das Ereignis wird eintreffen. Durch einen Windstoß hat sich
das Fenster fast gänzlich geschlossen. Nie wirst du den Mut finden, es
wieder zu öffnen. Jetzt klammern sich Finger an die Klinke der Tür
. . . sie öffnet sich!

                   *       *       *       *       *

Erwachen! Es ist schon hellichter Tag. Reich an Verheißungen ist dieser
Frühlingsmorgen. Unzählige Vögel zwitschern in den Bäumen. Flinke Räder
geben den Wünschen eine Art Aufschwung. Die Glockentürme ragen auf, die
Dome wölben sich, und die ganze Stadt wächst sichtlich unter dem Himmel
empor. Was ist denn geschehen? Warum diese übernatürliche Freudigkeit in
den Lüften?

Ich denke an den trüben Niederschlag, den die Nacht in mir
zurückgelassen hat.

O du meine Seele, die ich nicht kenne und die mir kaum angehört, wohin
hast du mich diese Nacht gezerrt? Viele dieser Erinnerungen, die du mir
in den Nebeln des Traumes gezeigt, hatten vergessen in meinem Gedächtnis
geschlummert; es gab solche, die mir seit vielen Jahren nicht mehr
erschienen waren. Andere schließlich waren so verstümmelt, daß ich mich
jetzt am Morgen frage, durch welchen bösen Zauber ich sie des Nachts so
gut zu erkennen glaubte. Warum hast du den von Bildern bevölkerten
Schlamm aufgestört, der sich wie ein tiefes Bett unter meinem
Lebensstrom ausbreitet, warum hast du diese Dinge und nicht lieber
andere an die Oberfläche aufsteigen lassen? Du, Herrin meines Körpers,
nun bin ich voll schwerer Unruhe. Ich vermag fast nichts über dich. Du
hast über meine Hellsichtigkeit ein tragisches Übergewicht. So entführst
du mich oft in unbekannte Kellerräume, die aber immerhin noch Räume
meines Wesens sind. Ja, ja, ich erkenne jetzt sehr gut diese armselige
Wohnung mit ihrer Dunkelheit und diesen Hof, ich erkenne auch diese
Frau, aber ihre Augen waren nicht so traurig und ihre Kleider verrieten
nicht so viel Elend. Ich erinnere mich ihrer Worte, jene aber, die sie
sprach, hatte nicht diese schmerzvolle Stimme. Du Unbekannte, die du
hinter meiner Stirn eine Welt zu errichten vermagst, die nicht des
Raumes bedarf, um zu bestehen, ich fürchte dich, da ich dich größer weiß
als mich selbst. Wenn ich mich bezeichnen will, wenn ich, auf mich
zeigend, _ich_ sage, krampft sich meine Hand sogleich an meine Brust,
und niemals berührt sie eine andere Stelle meines Körpers, niemals
greift sie an die Stirne, die dein Sitz ist. Aus dieser Stelle, die
meine Hand bezeichnet, aus diesem Mittelpunkt meines greifbarsten Ichs,
fühle ich dich so seltsam fremd. Aber werde ich jemals wissen, was ich
bin und wie weit mein Wesen reicht, was in mir mit sich selbst identisch
bleibt, zwischen all dem täglichen Werden und Vergehen? Hier sind meine
Hände, die Dinge greifen können, meine Augen sie zu umfangen, dies ist
meine Stimme, die eine Folge von Tönen ist, in denen ich mich erkenne,
aber du, wer bist du denn, die ich nicht in eine Form zu kleiden vermag,
die sowohl ins Ungewisse mich hinstreuen, als auch in die zwiefache
Vision des tiefsten Abgrundes oder des fernsten Sternes mich entsenden
kann!?




                            DAS GEHEIMNIS


Es war nichts Sonderliches an ihm, nichts unterschied ihn von anderen
Menschen; sein Leben glich in allem dem der anderen. Er hatte eine
schlechte Wohnung, deren Fenster auf einen Hof gingen. Auf der Straße
war er ein Passant unter vielen, und niemand achtete seiner. Um sein
Äußeres war er wenig besorgt, und selbst am Sonntag kleidete er sich
ohne irgendwelche Phantasie. Seine Heiterkeitsausbrüche blieben diskret,
er lächelte wohl manchmal, lachte aber niemals wirklich so recht
herzlich.

Wie so viele Menschen verdingte er sich an einen Dienstgeber. Jeden
Morgen stellte er sich ihm zur Verfügung und erhielt dafür ein wenig
Geld, das ihm ermöglichte, sich ihm weiterhin zu verdingen. Im Grunde
genommen war das zwar eine Art Fopperei, aber das Beispiel der anderen
und auch die Gewohnheit ließen ihn darüber gar nicht nachdenken. So
lebte er mit seiner Frau seit Jahren. War er glücklich? Er wußte es
nicht und fragte sich niemals darüber. Er lebte einfach deshalb, weil er
eines Tages geboren war, und beklagte sich nicht.

Aber seit einiger Zeit war er derselbe nicht mehr. Seinerzeit, vor
vielen Jahren schon, hatte er sich hinreißen lassen, eine gemeine Tat zu
begehen, deren er sich immer schämte, wenn er ihrer gedachte. Noch heute
war es ihm unerklärlich, daß er so verächtlich hatte handeln können, war
er doch ein anständiger Mensch, dem jeder niedrige Gedanke fremd war.
Lange hatte ihm das Kummer bereitet, und eine Art traurige und erquälte
Ernsthaftigkeit blieb davon in ihm zurück.

Zwei Personen hatten von der Sache gewußt. Die eine war verstorben, die
andere hatte das Land verlassen und man hatte sie nie wieder erblickt.
Eine dritte . . . aber wußte die wirklich etwas? Kürzlich hatte diese
dritte Person allerlei seltsame Anspielungen gemacht. Zuerst hatte er an
einen Irrtum geglaubt. Sie wußte sicher nichts, und hätte sie etwas
gewußt, so würde sie es doch bei sich behalten haben. Was für ein
Interesse konnte sie daran haben, ihn zu quälen? Diese Geschichte war
begraben. Alle, die sie möglicherweise angehen mochte, waren
verschwunden. Man konnte sie ihm vorwerfen, doch niemand besaß den
geringsten Beweis, er brauchte bloß zu leugnen. Außerdem war er imstande
gewesen, den verursachten Schaden teilweise wieder gutzumachen, und sein
Opfer hatte ihm selbst vor dem Tode vergeben.

Aber diese Frau war schlecht und ließ es sich angelegen sein, Böses zu
tun. Wozu wäre sie nicht imstande, wenn sie das Geheimnis besaß und sich
daran berauschte, es mit ihm allein zu besitzen! Eines Tages war er fast
sicher, daß sie es wußte. Wie hatte sie die Sache erfahren können?
Vielleicht durch denjenigen, der ins Ausland gegangen war, und den sie,
wie er glaubte, gekannt hatte.

Sie wußte es, und sie würde es seiner Frau sagen, seiner Frau, die er so
sehr liebte und die ihn ohne Zweifel verstoßen würde, wenn sie seine
Missetat erkundete. Vor allem würde sie es ihm nicht verzeihen, das
Vertrauen verletzt zu haben, ihr nichts gesagt zu haben. Und sie besaß
genügend Stolz, sich von ihm zu trennen. Jeden Tag beobachtete er sie
sorgsam, ob sie noch nichts ahnte, ob die andere nicht schon Andeutungen
gewagt hatte. Oh, er wußte sehr gut, daß die schreckliche Frau nicht auf
diese Art sein Geheimnis preisgeben würde. Mit einem Schlage würde sie
sich gewiß nicht dessen entäußern, was ihr wochenlanges Vergnügen
bereiten konnte. Sie würde eines Tages so leichthin einige ausgesuchte
Worte fallen lassen, einen Satz mit alltäglichem Tonfall, aber mit
vieldeutigem Nachhall. Nachher würde sie über die Wichtigkeit erstaunt
tun, welche die Angeredete ihren Worten beilegte. »Nein, sie hatte
wirklich nichts sagen wollen, ach, welcher Einfall!« Und die von ihr
aufgestörte Seele würde sich wieder ganz und gar beruhigen. Dann, an
einem anderen Tage, würde sie zwischen zwei süßliche Phrasen neuerdings
einige Gifttropfen träufeln. Eines Tages dann würde entweder seine Frau
sie zwingen, alles zu sagen, oder sie würde selbst, unfähig länger zu
schweigen, die ganze Sache dummerweise viel früher erzählen, als sie es
beabsichtigt hatte.

Seine Frau würde es wissen!

Täte er nicht besser daran, es ihr noch heute zu sagen. Seine Vergehung
war nicht solcher Art, daß man sie nicht vergeben konnte. Sie würde ihm
sicher Absolution erteilen. Doch nein, er hatte zu lange geschwiegen, er
hatte zu sehr gezögert. Ja, er hatte es an Ehrlichkeit fehlen lassen,
denn der Mann, den sie geheiratet hatte, war ihrer Ansicht nach kein
Mensch, der dieses Unrecht hätte begehen können. Hätte sie, wenn sie es
gekannt hätte, ebenso gehandelt? Er hätte es ihr gestehen sollen. Er
erinnerte sich nicht mehr, daß eine sehr lebhafte Liebe und große Angst
ihn davon zurückgehalten. Wie hatte er denn nicht daran denken können?
Wie es vermocht, diese andere Unehrlichkeit zu begehen? Er hatte sich
statt seiner einen neuen Menschen unterschoben. Niemals würde er den Mut
haben, mit ihr zu sprechen. Aber er mochte auch nicht, wenn es eines
Tages notwendig wäre, den Mut finden, zu leugnen oder zu lügen.

Die Dinge, die er liebte, verloren ihre Köstlichkeit. In ihm wuchs Leid.
Abends bei Tisch, seiner Frau gegenüber, nach langem Tag, an dem er
unaufhörlich sich gesagt hatte: Vielleicht heute abend -- erlebte er
alle Phasen der Beängstigung, der Beichte. Würde sie etwas sagen?
Jedesmal wenn ihre Lippen nach einem Augenblick der Stille sich
bewegten, griff Angst ihm ans Herz. Der Abend dehnte sich hin. Er sprach
mit seiner Frau über die kleinen Ereignisse seines Lebens. Dinge, die
ihre Wirtschaft betrafen, und plötzlich sagte sie, daß jene Nachbarin,
die er so sehr fürchtete, sie besucht hatte und am nächsten Tag
wiederkommen würde.

Manchmal brauchte er tausenderlei Vorwände, damit sie früher schlafen
gehe als er. Er sagte, daß er ein wenig lesen, Ordnung in seine Papiere
bringen wolle, einen Brief suchen müsse, auf den er zu antworten hätte.
Sie hatte Ruhe nötig. Er riet ihr dringend, nicht auf ihn zu warten. Er
bestand darauf, er sei nicht schläfrig und würde ziemlich lange
aufbleiben. Er blieb dann stundenlang allein in seine Gedanken
versunken. Die Lampe brannte auf einer Etagere, von der aus sie das
ganze Zimmer beleuchtete. Der Herbst rückte vor. Es war noch nicht sehr
kalt, aber in den Häusern war es feucht und abends heizte man ein. »Nur
ein kleines Feuerchen«, sagte seine Frau. »Um das Blut ein wenig in Gang
zu bringen.«

Er kauerte sich neben dem Ofen in eine Ecke und ließ von der Wärme
eingelullt seine Gedanken schweifen. Der Wecker auf der Kommode schien
irgendeinem Ziele zuzueilen. Im Hause war keinerlei Geräusch. Es war von
Leuten bewohnt, die früh schlafen gingen und früh aufstanden.

Ohne seinen Traum zu unterbrechen, betrachtete er die Dinge, die ihn
umgaben. Die unbeweglichen Stühle, den Tisch, die Nähschatulle seiner
Frau, einen Fingerhut, die Zwirnspule. Sie hatte ihm heute nach dem
Frühstück auf dem Flur gesagt: »Bring mir eine Spule von D. M. C. mit.«
(Dies war die Marke, die sie benützte.) Sie hatte ihm so herzlich
zugelächelt, als sie um diese geringfügige Sache bat, daß er inmitten
der dunklen Tage, die er jetzt durchlitt, eines der stärksten
Glücksgefühle seines Lebens empfand. Er hatte ihr dann auch, als er sie
verließ, um seiner Arbeit nachzugehen, den leidenschaftlichsten Kuß
gegeben, den sie jemals von ihm empfangen hatte. Diesen Abend war es ihm
auch wieder gelungen, allein zu bleiben. Es war spät, und er sann in der
Stille des Hauses vor sich hin. Im Ofen erstarb das Feuer.

Seine Blicke fielen auf einen eingerahmten Stich, der an der Mauer hing.
Peinlicherweise sah er ihn immer wieder, weil er sich an einem Platz
befand, wo er ihn schwerlich vermeiden konnte. Er hatte immer
dagehangen. Er sah ihn täglich, und vielleicht war dies der Grund,
weshalb er ihn niemals gesehen hatte. Woher kam er eigentlich? Er
erinnerte sich dessen nicht mehr. Immer war er ein Bestandteil ihres
Hausrates gewesen. Wenn sie umgezogen waren, hatten sie ihn mitgenommen
und neuerdings an die Mauer gehängt, ohne ihn eingehender zu betrachten,
als eben nötig, um ihn nicht verkehrt anzubringen. Seit einigen Tagen
betrachtete er ihn hartnäckig. Auf einem Hügel befand sich da eine
Hündin von mehreren Jungen umgeben, zwei andere junge Hunde versuchten
ihr zuzuschwimmen, kämpften im dunklen Wasser, das den Hügel umgab.
_Überschwemmung_ war der Titel. Er wurde nicht müde, den Stich zu
betrachten. Die Verzweiflung der Hündin, die gegen den fahlen Himmel
anschlug, wurde ihm für Augenblicke unerträglich.

Seine Frau erwachte, bemerkte durch die halbgeöffnete Tür das Licht und
rief ihm aus dem Nachbarzimmer zu:

»Komm doch schlafen, du wirst morgen müde sein.«

»Ja, ich komme schon, ich bin bald fertig.«

Und er blieb sitzen, unfähig, seinen Gedanken zu entfliehen. Nach
längerer Zeit erwachte seine Frau von neuem und rief ihm in ärgerlichem
Ton zu: »Du bist wirklich unvernünftig.«

Er legte sich schlafen, ohne zu einem Entschluß gekommen zu sein.

Ein Leben umfing ihn, in dem der Traum die Wirklichkeit beherrschte. Die
Leute, die mit ihm verkehrten, sahen, wie sein Blick sich mit neuen
Dingen füllte.

Eines Tages, in der Dämmerung, kehrte er aus seinem Bureau heim. Er ging
einen Boulevard entlang, der von Privatbesitzungen gesäumt war. Ein
Straßenräumer fegte den dicken Teppich der Blätter und sammelte sie zu
einem rauschenden Haufen. Er blieb stehen, um ihm zuzuschauen, empfand
wieder eine aufrichtige Freude, die Erde, die so lange unter den
Blättern begraben gewesen war, zu erblicken. Der Boulevard würde bald in
seiner ganzen Länge so rein aufgekehrt sein, wie auf diesem Platz. Die
wieder aufgedeckte Erde war feucht und wie zernagt von den unzähligen
Insekten, die er umherlaufen sah. Er verfolgte den Kampf einer Ameise
mit einem ungeheuren Gegenstand. Er blieb so lange unbeweglich, daß der
beunruhigte Straßenkehrer sich näherte, um zu sehen, was er mit so viel
Aufmerksamkeit betrachtete. Aber schon seit einigen Minuten sah er weder
die Tiere noch die Erde mehr. Das Antlitz, das er dem Manne zuwandte,
war so leidvoll, daß dieser sprachlos stehen blieb.

Er dachte daran, zu verschwinden, sich zu töten.

Das Antlitz seiner Frau blieb so friedlich, wie er es immer gekannt
hatte. Sie widmete sich mit derselben Sorgfalt dem Haushalt und schien
nichts von ihrer früheren Fröhlichkeit eingebüßt zu haben. Wenn er
abends heimkehrte, sah er sie unter der Lampe nähen. Sie tauschten den
Begrüßungskuß. Sie erhob sich, stellte wieder die Lampe auf die Etagere
und deckte den Tisch. Während sie das tat, sprach sie mit ihm, blieb
zuweilen einen Augenblick still und erwartete mit aufmerksamem und
lächelndem Blick seine Antwort. In ihrer Haltung war ganz und gar
nichts, woraus man hätte schließen können, daß sie das Geheimnis kannte.
Ja, vielleicht bewies sie ihm mehr Zärtlichkeit als früher.

Und dennoch hatte die andere gesprochen, dennoch wußte sie!

Es war anfangs sehr hart für sie gewesen, diese Sache zu tragen.
Plötzlich war ihr das Wesen, mit dem sie seit Jahren lebte, wie ein
Fremdes erschienen. Als sie ihn so plötzlich für verächtlich und niedrig
gehalten, hatte sie sich gesagt: ich werde morgen von ihm gehen. Er
hatte kein Vertrauen gehabt! Er hatte ihr nichts gesagt, und doch mit
welcher Freude hätte sie ihm verziehen. Warum hatte er geschwiegen?
Warum sie getäuscht? Dann hatte sie die Überlegung zu einer richtigeren
Auffassung seines Benehmens geführt. Er hatte nichts gesagt, weil er sie
so sehr liebte und Furcht gehabt hatte. Daran konnte sie nicht mehr
zweifeln. Zweimal war er schwach gewesen, nichts als schwach. Und wenn
sie an die liebevolle Feigheit dachte, die er ihr bewies, stieg
Freudenröte ihr ins Antlitz. O teurer Freund, sei ohne Angst. Sie, die
du erwählt hast, mit ihr ein Leben zu verbringen, sie verdammt dich
nicht. Sie zürnt dir kaum, daß du an dem Reichtum ihres Herzens
gezweifelt hast. Du kennst sie so wenig, und doch hast du sie erwählt.
Ich erinnere mich, mit welch rührender Schüchternheit du in den ersten
Tagen unserer Begegnung mit mir gesprochen hast. Und ich habe das Beben
nicht vergessen, das dich durch und durch bewegte, als du mich um das
batest, was mein Herz dir längst geschenkt hatte.

Wenn sie sich ihm gegenüber befand, dachte sie: Du magst mich ansehen
soviel du willst, du wirst nicht die mindeste Spur meiner
Mitwisserschaft entdecken. Drücke meine Hände, schließe mich in deine
Arme, du wirst nichts in mir finden, was dir fremd geworden ist und dir
entfliehen will. Diese dumme Person hat ihre Zeit verloren, als sie
versuchte, dich in meinen Augen herabzusetzen. Damit du nicht aufmerksam
wirst, werde ich sie nicht hinauswerfen. Einige Zeit werde ich sie noch
herkommen lassen, dann werde ich sie nach und nach entfernen, und es
wird von all dem nichts mehr übrigbleiben. Freund, treuer Freund, du
mein unentbehrlicher Gefährte, erkenne deine Frau besser. Noch ganz
andere Dinge hätte sie dir verziehen. Sei denn beruhigt. Du wirst es
nicht erfahren, daß dein Geheimnis in mir begraben ist. Niemals wird
zwischen uns davon die Rede sein.

                   *       *       *       *       *

Tage vergingen, ohne daß der Friede des Haushaltes durch irgend etwas
gestört wurde. Er entfernte sich morgens, um ins Bureau zu gehen, kam
zum Mittagessen nach Hause und blieb dann wieder bis zum Abend aus. Sie
räumte die Wohnung auf und ging dann einkaufen. Sie nähte, bügelte, las
ein wenig. Zu den Mahlzeiten fand er sie sorgsam frisiert, mit bloßen
Armen und Hals und in einem immer reinlichen, hübschen Schlafrock.

Die »Andere« kam von Zeit zu Zeit, um den Gang der Dinge auszuspüren.
Sie hoffte immer, daß auf dieses glückliche Paar die Endkatastrophe
hereinbräche, die ihr eine Freude bedeuten würde. Aber sie wurde mit
demselben Lächeln empfangen wie früher und verstand nicht. In dem Maße,
als ihr selbst dieses Unternehmen langweilig wurde, verringerten sich
ihre Besuche.

Aber er! Er!

Er verlebte düstere Tage. Der Verurteilte in seiner dumpfen Zelle, nicht
endenwollende Stunden damit verbringend, in Gedanken seine eigene Gruft
zu bauen, war weniger unglücklich als er. Das konnte so nicht andauern.
Alles war einem solchen Leben vorzuziehen.

Jeden Morgen sagte er sich: ich lasse mir noch einen Tag Zeit zu
überlegen, um einen Entschluß zu fassen. Wenn ich morgen, nach dem
Nachtessen, nichts gesagt haben werde, wenn ich nicht den Mut gehabt
habe zu gestehen, werde ich fortgehen und mich ins Wasser stürzen. Der
nächste Tag kam. Er dachte von neuem wie am Abend zuvor. Da sie nichts
weiß, wird sie vielleicht nie etwas wissen. Ist es also nötig, zu
versuchen? Zweifellos nein. Überdies bin ich es nicht mehr imstande. Oh!
Elend. Wie aus dieser Situation herauskommen? Wäre denn nicht seine
einzige Rettung die Selbstvernichtung? Eine banale Zeitungsphrase, die
ihm beim Lesen der vermischten Anzeigen aufgefallen war, kam ihm
unaufhörlich in Erinnerung:

»_Er hatte ein Unrecht begangen, aber er hat es bezahlt._ Breitet den
Mantel des Schweigens über ihn.«

Ich werde mich ins Wasser stürzen, und damit wird es ein Ende haben. Der
Abend kam. In Augenblicken, wo sie beide still blieben, sagte er zu sich
selbst: nun so fang doch an, jetzt ist der Augenblick. (Die Stille
dehnte sich hin.) Beginn doch, Feigling. Auf was wartest du? Seine Frau
hob den Kopf und sprach irgend etwas. Er antwortete eilig und leichthin,
glücklich, einen Vorwand gefunden zu haben, um den Augenblick seines
Geständnisses verzögern zu können. Und er sagte zu seinem Gewissen:
dieses Mal ist es nicht meine Schuld. Du bist mein Zeuge, daß ich den
Mund soeben öffnete, als sie zu mir zu sprechen begann. Ich mußte ihr ja
doch antworten. Ein neues Schweigen setzte ein. Er sagte immer noch
nichts. Und er blieb so bis zu dem Augenblick, wo er aufstand, von
Verzweiflung übermannt. Sie ganz in ihrer Rolle aufgehend, ihn nur ja
recht gut zu behandeln, ja innerlich glücklich, daß ihr das so gut
gelang, so glücklich, daß sie zuweilen wie ein Kind in die Hände
klatschte, sobald er gegangen war. Sie ahnte nichts von dem Drama, das
sich in ihm abspielte. Sie sagte sich: wie leicht fällt es mir, dieses
Geheimnis zu bewahren. Ach, er wird niemals etwas erfahren! Der arme
Schatz!

Und sie sagte ihm Worte der Zärtlichkeit, die sie noch niemals gesagt
hatte.

Diesen Abend wird er sprechen oder sich töten. Er wußte, daß ihn diesmal
nichts mehr verhindern konnte. In seiner Westentasche befand sich ein
Brief, den er nachmittags in seinem Bureau geschrieben hatte. Er setzte
darin seiner Frau die Gründe seines Selbstmordes auseinander. Er hatte
geweint, als er ihr schrieb. Den ganzen Tag über hatte er sich am Rande
des Wassers gesehen. Wie würde er es anstellen? Wird er sich nach
vorwärts, seiner ganzen Länge nach, mit großem Lärm ins Wasser werfen,
oder wird er sich über die Böschung lehnen, um mit geschlossenen Augen
sanft hinunterzurollen? Er könnte auch hinknien . . . Wie schwer mußte
es einem werden, sich in dieses Wasser zu werfen. Er empfand das Gefühl
der ersten Berührung mit dem Wasser. Würde er bis zum letzten Augenblick
an seine Frau denken können? Würde er die letzte Klarheit seines
Bewußtseins ihrem Gedächtnis widmen? All dies beunruhigte ihn sehr.

Er hatte sich eine Taktik ausgedacht, um zu erfahren, was sie über eine
Verfehlung wie die seine denken mochte. Er würde ihr ungefähr seine
eigene Geschichte erzählen, jedoch so, daß er sie einem seiner
Bureaukollegen zuschrieb. Er würde ihre Meinung mit einer
vorgespiegelten Teilnahmslosigkeit einholen. So würde er erfahren, ob er
die Maske fallen lassen könnte, oder ob er sterben müsse.

Sie saßen einander am Tisch gegenüber. Er hatte darauf bestanden, daß
die Lampe zwischen ihnen stehen blieb. (In dem Schatten, der über dem
Lampenschirm herrschte, würde er mehr Mut haben zu sprechen.) Seine Frau
aß langsam ihre Suppe, indem sie gemächlich über jeden Löffel hinblies.
Er blieb unbeweglich, den Hals wie zugeschnürt, er streckte sich, und
wie man gewaltsam ein Tier am Halse nimmt, überwand er sich und zwang
sich den Mund zu öffnen. Irgend etwas stach ihm über das ganze Gesicht.

»Weißt du, dieser Mensch, der da neben mir im Bureau arbeitet und von
dem ich dir so oft erzählt habe?«

»-- Nun? Nun?«

»Schöne Sachen hat man über ihn gehört. Eine unglaubliche Geschichte!«

»Ach!« Sie sah ihn an, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Er sprach
mit gesenktem Haupte.

»Seine Frau wird ihn verlassen. Sie hat recht. Denk dir nur, bevor er
sich verheiratete . . . dieser Elende.« (Er zitterte so sehr, daß er
kaum sprechen konnte.) . . . »wie kann man nur so seine Frau
hintergehen! . . . hat dieser unanständige Mensch eine Niedrigkeit
begangen, von der ich dir jetzt erzählen werde --«

Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Der Schweiß perlte ihm schon aus der
Stirne. Die große Stille ließ ihn den Kopf emporheben. Er sah, wie sich
seine Frau vom Sessel erhoben hatte und, beide Hände auf den Tisch
gestützt, ihn betrachtete. Die Lampe erhellte ihr Gesicht von unten nach
oben her. Auf ihren Wangen lagen Schatten und Ränder roten Lichtes um
ihre Augen, aus denen seltsame Blicke fielen. Diese Blicke flehten ihn
an, inne zu halten.

Er verstand augenblicklich. Sie wußte es und hatte nichts gesprochen.
Nun? So hatte sie ihm denn verziehen! Er stand auf, sie trat einen
Schritt zu ihm und umarmte ihn mit aller Kraft.

Nach einem langen Schweigen flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Wir werden niemals mehr darüber sprechen.«




                          ER LEHNT SICH AUF


Er war des Morgens viel früher erwacht als gewöhnlich, hatte in seinem
Bette lange gesonnen, sich hin und her gedreht und sich nicht
entschließen können, aufzustehen.

»Elende Schindmähre, wie widerlich ist doch dein Leben! Jahr um Jahr
rackere ich mich nun zu Tod für andere, ohne nur einen Schritt weiter
gekommen zu sein als am ersten Tage. Jeden Morgen setze ich mich gezäunt
und aufgetakelt, mit gut geöltem Kopf und Gliedern für mein Tagewerk in
Bewegung. Dieses Kalb von einem Hausmeister wirft mir im Vorübergehen
(er vergißt es nie) die wenigen Worte zu, die er mir schuldig zu sein
glaubt: >Der Herr ist heute spät daran<, oder auch: >Der Wind hat sich
gedreht, wir werden wieder Regen bekommen<. Mit welchem Hochgenuß würde
ich ihn mit meinem genagelten Absatz zerquetschen, diesen kriechenden
Hund! Jeden Tag durchquere ich dieselben Straßen und begegne denselben
Dummköpfen. O Schrecken, mehr Schilder, als mir lieb ist, kenne ich
auswendig. Ich setze mich auf den Stuhl, der mich an meinem Schreibtisch
erwartet, und ärgere mich, wenn man ihn mir ausgetauscht hat. Ich hasse
denjenigen, der mich angestellt hat, weil meine Armut ihm Macht über
mich gibt, und er seinerseits verachtet mich, weil ich von ihm abhänge.
Nur abends lerne ich ein wenig Vergnügen kennen, wenn ich für einige
Stunden meine Fron verlasse. Ich schleppe mich durch die Straßen, bleibe
vor den Auslagen stehen, dränge mich hinzu, wenn Menschen sich irgendwo
ansammeln. Ich gestehe, daß ich zuweilen ein angenehmes Kitzeln
empfinde, sobald ich allein in meinem Zimmer bin. In meinen vier Mauern
bin ich Buddhist, Herr eines Besitzes, der nur mir gehört. Ich lese. Ich
kann nachdenken. Endlich fühle ich, daß ich lebe, für kurze Zeit zwar
nur und beinahe wie durch Betrug, aber doch lange genug, um diese
Annehmlichkeit zu genießen. Der Kaffee, den ich mir selbst zubereitet
habe, hat einen besonderen Geschmack. Er hat das Aroma meiner Freiheit.
Aber bald flutet mir wieder die unendliche Traurigkeit meines Lebens zu.
Wird es sich denn niemals wandeln? Werde ich immer Sklave sein? Ich
verzögere den Augenblick, mich schlafen zu legen, um die Zeit meiner
Freiheit vor der Sklaverei des kommenden Tages zu verlängern. Wenn ich
in mein Bett gehe, habe ich den Eindruck, daß dieser verhaßte kommende
Tag bereits da ist. Wird es mein Los sein, zu krepieren, ohne gelebt zu
haben? Ich war für Abenteuer geboren, für kühne Unternehmungen, und ich
verkomme allmählich in verelendender Geruhsamkeit. Als ich jung war,
erwartete ich dumpf etwas. Nun sind es bald vierzig Jahre her, daß ich
mich um tägliches Brot mühe. Wofür? Nichts Gutes ist gekommen und wird
jemals kommen. Ich langweile mich. Ich langweile mich bis zum äußersten.
Immer allein, allein, allein. Kein Frauenzimmer, keinen Trinkkumpan.
Vorzeiten habe ich eine Freundin gehabt; als ich ihr das letztemal
begegnete, fühlte ich, daß sie mir ebenso fremd geworden war wie jener
Stern, dessen Licht noch nicht bis zu uns gedrungen ist. Diese Tausende
von Lebewesen, die sich um mich her bewegen, vermehren nur meine
Einsamkeit. Ich bin und bleibe für jeden von ihnen isoliert. Es gab
Monate, wo ich auch nicht einen Brief bekommen habe. Nicht einmal
irgendeinen kleinen Prospekt hatte man den Einfall, mir zu senden. Es
würde mir wohlgetan haben zu wissen, daß mein Name irgendwo bekannt ist.
Jedesmal, wenn jemand auf dem Gang geht, halte ich den Atem zurück, denn
ich glaube immer, daß man zu mir kommt. Ah, da bin ich aber schön
hineingefallen! Hundedasein! Ich habe es satt. Das muß anders werden.
Koste es was immer. Und zuvörderst, um damit zu beginnen, bleibe ich im
Bett. Ich werde zu spät kommen, und sie werden mir Geschichten machen;
meinetwegen, pfeife drauf. Versteht ihr: Ich pfeif auf euch!« Er machte
es sich noch bequemer im Bett. »Schließlich und endlich bin ich ja frei.
Wenn sie mich während fünfzehn Jahren gehabt haben, geschah es mit
meinem guten Willen. Heute verweigert der Narr den Dienst und wird
widerspenstig. Bréhaigne & Lecoultres, Maschinenwerkzeugfabrik? Kenn ich
nicht. Kenn ich nicht, sage ich und pfeife darauf. Ich verantwortlich?
In dieser Gott-sei-bei-uns-Fabrik? Ihr irrt euch, meine Freunde. Ich bin
freier Mensch; um es euch zu beweisen, werde ich den ganzen Tag
spazierengehen. Gestern war erst Sonntag, sagt ihr? Nun, heute wird
wieder Sonntag sein. Und wenn einer unter ihnen ist, der sich räuspert,
trotz des Respektes, den ich euch schulde, wird man ihn, wohlverstanden,
von der Höhe des Eiffelturmes von oben bis unten begießen.«

Er hatte vormittags blauen Montag gemacht, sich dann sorgfältig
angekleidet, nachdem er zuvor mit den Fingern jedes Stäubchen auf seinem
Rock wegschnippte.

Nach einer Tramwayfahrt, die ihm schier endlos erschien, war er an die
äußerste Stadtlinie gelangt und hatte an der Straßenkreuzung nach
einigem Zögern schließlich jenen Weg gewählt, den bereits andere
Personen eingeschlagen hatten.

                   *       *       *       *       *

Am Rande des Dorfes, fast schon am Eingang des Waldes, liegt eine kleine
Herberge mit braun geziegeltem Dache, wo man zu Fuß oder zu Pferd
absteigt. Sie ist fast nur von den Fuhrleuten der Ostgegend besucht.
Während der Woche ist selten jemand im großen Saale, denn die Stammgäste
essen im Schankzimmer, wo es mehr Leben und Heiterkeit gibt.

Er hatte in diesem Saal gefrühstückt und schien nicht mehr weggehen zu
können. Er blieb da vor seiner geleerten Kaffeetasse in seine Gedanken
vertieft. Auf dem Wachstuch des Tisches sammelte er sorgfältig
Brotkrümchen zu Formen und Buchstaben, zerstreute sie dann mit dem
Finger und begann dieses kindliche Spiel von neuem. Er hob den Kopf.
Seine Blicke liefen über die Fläche der Mauer, senkten sich aber rasch
wieder, denn er kannte schon alles, was dort hing. In einer Ecke des
Raumes lagen auf einer Nähmaschine einige Zeitungen. Er stand auf, nahm
eine, dann eine andere und legte sie zurück, kaum bemerkte er, daß sie
ein altes Datum trugen.

Schließlich verlangte er die Rechnung, zahlte und ging fort.

Bei schönstem Sonnenschein hatte er die Herberge betreten. Nun war der
Himmel mit Wolken bedeckt. Alles hatte seine Farben verändert. Ein
Unbehagen lastete auf der Landschaft. Er schlug den Weg zum Wald ein.
Über kleine Pfade ging er, drang ins Dickicht, wo die Blätter des
vergangenen Herbstes faulten, umging kleine Teiche, fand Pfade wieder,
als ihm plötzlich der Weg durch einen Fluß gesperrt war. Er sah klares
Wasser fließen und ging weiter seinem Lauf entlang.

»Ich werde ihnen sagen, daß ich krank gewesen bin.«

Er war gewiß der einzige Spaziergänger in diesen öden Wäldern und fühlte
sich von Einsamkeit und Stille bewegt. Mit vollen Zügen atmete er den
Waldesduft und freute sich an dem Geräusch seiner Schritte, die trockene
Blätter aufrauschen machten und Zweige zerknackten. Das Wasser wurde
bald dunkler, da der Fluß hier schon viel tiefer war.

»Wenn ich es wollte, wäre es bald vorüber.«

Ein Teppich frischen Grases breitete sich vor ihm aus, er setzte sich.
Bäume wölbten sich über seinem Haupte, und Äste streiften die Wellen.
Ein irdisches Geheimnis schien an diesem Orte zu wohnen. Hier war das
Leben nicht eine Folge verschiedener Zustände, die Dinge schienen in
Unbeweglichkeit versteinert, die sich bis ins Unendliche dehnte.
Allerdings empfand er, seitdem er seine Wohnung verlassen hatte, sein
Leben gleichsam zurückgedrängt und von Träumen niedergehalten. Die Luft
war milde und ohne jegliche Regung, der Himmel grau. Alle Bewegungen
waren von einer gewissen Müde erfaßt. Die Menschen, denen er begegnete,
zeigten düstere und resignierte Gesichter; keinerlei Schwung, keinerlei
Plötzlichkeit war in ihren Gesten. Das war wirklich so ein Tag, wo alles
sinnlos wird und die Zuversicht so tief gesunken ist, daß niemand mehr
an seinen Beruf glaubt. Das Leben scheint an seine Grenze gelangt und
nur aus Gewohnheit fortzudauern.

Der Montag allerdings ist ein trauriger Tag. Er ist wie die Bahre, auf
die man den Leichnam des schönen Sonntags hinbettet. Er ist der erste
der sechs Tage, die man Stunde für Stunde hinzubringen hat, der sechs
Stahlblocke, die man mit der Feile in Staub verwandeln soll. Endlos sind
die Minuten, aus denen er sich zusammensetzt. All jenen, die für andere
arbeiten, ist der Montag ein Tag, an dem Freude fast ausgeschlossen.
Selbst freie Menschen können sich diesem Eindruck nicht entziehen.

Er lag auf dem Rücken ausgestreckt und sah durch das Blätterwerk die
lässigen Wolken vorüberziehen. Um ihn war ein großer Kreis von Stille,
dessen Grenzen von Zeit zu Zeit durch entfernten Lärm getrübt wurden.
Frische hüllte ihn ein, und der schwere Duft des Humus berauschte ihn.

»Seltsam. Seltsam. Ich bin doch so oft Sonntags spazieren gewesen, ohne
diese Wirkung zu verspüren. Ich glaube, ich bin ein anderer Mensch
geworden. Bei Gott, ich weiß warum. Der Sonntag ist ein Tag unbestimmter
Freiheit und ohne besondere Köstlichkeit. Ein öffentliches Glück. Ich
gehe noch weiter: der Sonntag ist nichts weiter als eine dicke
Allerweltsdirne. Ein Vergnügen, das jedermann zugänglich ist, hat mich
immer abgestoßen. An einem Wochentag spazierenzugehen, während die
anderen Sklaven an der Arbeit sind, dies allein ist ein Zeichen der
wahren Freiheit, der Freiheit des Luxus, der Freiheit des Reichen, des
selbständigen Menschen.«

Aber man ist nicht ungestraft während fünfzehn Jahren ein pünktlicher
und untergebener Beamter gewesen. Und ohne daß er es wußte, begann ein
Vorwurf sich in ihm zu rühren. Er hatte einen Gewaltstreich gemacht, den
er ohne Zweifel zu bereuen haben würde. Gerade an diesem Tag erwartete
ihn heikle Arbeit in seinem Bureau, eine Arbeit, die niemand so gut
verrichten konnte als er.

»Und das Aktenstück Dumas«, rief er aus, und schnellte auf. »Mein Gott!
Sie werden sicher vergessen, es abzusenden. Das wird eine schöne
Geschichte geben. Ich hätte vielleicht meinen Streich auf morgen
verschieben sollen. Dumm, daß ich nicht daran gedacht habe. Dieses
leidige Schriftstück wird mir meinen Tag verderben.«

Da ließ sich weiter nichts mehr tun. Diese Dummheit war nicht mehr
gutzumachen.

»Na, und wenn schon, ich wette, sie werden einen Ausweg finden. Schade
darum. Warum denn schade? Ich scher mich nicht darum. Ich scher mich
einen Schmarren darum.«

Er fühlte sein wohl bestelltes Portemonnaie in der Tasche und hatte den
Einfall, sich irgendwo, einerlei wo, ein wenig zu amüsieren. Er trat aus
dem Walde, überquerte den Fluß und ging an seinem Ufer hin. Eine
unglaubliche Anzahl von Anglern sah er dort und eine noch viel größere
Zahl müßiger Zuschauer, die längs der Böschungen im Grase lagen und
aufmerksamen Auges die von der Strömung mitgeführten Schwimmer an den
Angelschnuren verfolgten. All diese Leute arbeiteten gleich ihm nicht
und widmeten sich nur ihrem Lieblingsvergnügen. Er hatte niemals
gedacht, daß es deren so viele gab.

»Der Montag ist also doch nicht für jedermann ein trauriger Tag, es ist
so wie in allem und jedem, es gibt auch hier Ausnahmen. Ich bin bis
heute immer ein richtiger Idiot gewesen.«

Die Töne eines Orchesters zogen ihn an.

Er befand sich schließlich vor einer großen Gastwirtschaft, die sich
längs des Flusses hinzog. In schönen gelben Lettern auf grünem Grunde
las er:

                       Ball der Artilleristen.

Und dann darunter:

                 Weinfisch und gebackene Seinefische.
                          Möblierte Zimmer.

Auf einem Wandbild war ein prächtiger Artillerist in Gala aufgemalt.
Seine weiß behandschuhten Hände waren über dem Säbel gekreuzt, den er
zwischen den Beinen hielt. Er trat ein und durchquerte einen großen
Garten, der durch Lauben geteilt war, unter denen ein glückliches
Völkchen lachte, trank und aß.

»Hier gibt es doch noch mehr, als man glauben würde, von solchen, die
sich nichts daraus machen!« Vor ihm war eine lange Bretterbaracke, an
den Seiten gegen den Garten geöffnet, auf einer Estrade ein Orchester,
Paare, die sich heftig nach dem Rhythmus der Polka der kleinen
»Pierrots«, die er wiedererkannte, bewegten, und der Ballsaal. Dirnen
minderer Gattung, junge Arbeiter mit Mützen und einige Soldaten bildeten
die Gesellschaft. Die müde waren, Polka zu tanzen, tranken an den
Tischen längs des mit Wappen und Fahnen geschmückten Saales. Er sah den
Tänzern zu, die wie in Spiralen ineinander gewunden waren. Die Beine der
Männer keilten sich frech in die Frauen, die, den Kopf nach rückwärts
geworfen, die Augenlider hoben und senkten. Die runden Brüste bebten.
Die Röcke flogen weit hin, entblößten die Strümpfe, und zuweilen blitzte
ein weißes Stück Fleisch unter einem Gewirr von Spitzen hervor. Er stieg
wieder in den Garten hinab und suchte sich eine abgelegene Laube. Eben
wurde eine frei, die ein Liebespaar auf dem Wege nach dem möblierten
Zimmer verließ. Sie stellte eine Champagnerflasche im großen dar. Das
Gitter, woran die Schlingpflanzen hinaufkletterten, ahmte recht deutlich
ihre Form nach, und die Spitze, die in einem Holzpfropfen auslief, der
aus einer Blechmanschette hervorkam, täuschte die Flasche ausreichend
vor. Er ließ sich nun eine Flasche Wein und einen Backfisch geben.
Nachdem er die Kartoffeln verzehrt hatte, zündete er sich einen Stumpen
an und zog die Uhr. Erst drei Uhr! Er war erstaunt, wahrzunehmen, daß
die Zeit im ganzen weniger schnell verging als im Bureau.

»Da schau her, da wird nach Schweizer Art getrunken? So gehört sich's ja
gar nicht!«

Ein Soldat, ein Artillerist, steht, noch vom Tanze schwitzend, vor ihm.
Recht sympathisch sah er aus, und so freute er sich denn seiner
Vertraulichkeit.

»Allein trinken schlägt nicht an, da geht das Beste verloren.«

»Ich kenne niemand hier.«

»Stimmt, ich habe Sie noch niemals gesehen. Wir sind hier im
Artilleristen fast alle Stammgäste, man kennt sich untereinander, wissen
Sie! Ist es erlaubt?«

Und der Soldat setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Ein Glas Wein gefällig?«

»Nein, ich danke, ich setze mich nur hierher, weil ich mir hier in der
>Flasche< Rendezvous gegeben habe; sie wird gleich da sein.«

»Ist wohl Ihre Liebe?«

»Ah, nein, nur so zum Amüsieren, fürs Herz habe ich eine vom Land, die
mir jede Woche schreibt. Wenn man Dreijähriger ist, darf man sich nicht
unterkriegen lassen. Ich bin Magazinwärter, das ganze Bataillon ist
heute auf Felddienst, und weil ich nicht mittun muß, benützte ich gleich
die Gelegenheit, davonzusegeln. Ich muß auf der Hut sein, daß ich nicht
abgefaßt werde.«

»Einen Schluck können Sie doch mit mir trinken.«

»Wenn Sie darauf bestehen!«

»Was sind Sie im Zivil?«

»Rechnungsführer!«

»Rechnungsführer? Das ist stark, ich auch! Ich bin bei Bréhaigne &
Lecoultres.«

»Maschinenwerkzeuge? Das ist mein Fall«

»Sie kennen sie? Feine Sache! Das ist einmal ein Zusammentreffen!«

»Ich habe einen Spezi, der dort sitzt, Charles Courolle, Karlchen, ein
kleiner Brünetter mit unruhigen Augen. Wissen Sie, welchen ich meine?«

»Was arbeitet er?«

»Aufsteller!«

»Wie Sie wissen, sind bei Bréhaigne & Lecoultres 600 Arbeiter, da kann
ich nicht alle kennen!«

»Das tut mir für Karlchen leid. Ein verbitterter und grindiger Kerl!
Wenn er es auf jemand abgesehen hat, steigt's ihm gleich in den Schädel.
Wie ein Halunke sieht er aus, trotzdem aber ist er ein guter Kamerad.
Ihn geht man bestimmt nicht vergeblich um einen Freundschaftsdienst an,
er läßt einen nicht im Trockenen.«

»Noch ein Glas, aber die Flasche ist ja leer! Kellner!«

»Jetzt bin ich dran!«

»Aber nein, lassen Sie doch.«

»Nicht zu machen, Kellner, eine Flasche Rotwein, Bouteillenwein vom
feinsten, an jeden kommt die Reihe, ich bin für Gleichheit. Na, ist es
also das erstemal heute, daß Sie in den >Artilleristen< kommen?«

»Mein Gott, ja.«

»Und Sie ergeben sich da dem stillen Suff. Haben Sie denn kein Mädel?
Nein so etwas! Da staune ich. Armer Kerl! Da muß Ihnen geholfen werden.
So etwas braucht ja der Mensch, man muß doch auch etwas Tröstliches
haben im Leben, man kann nicht immer wie ein Wilder allein in seinem
Winkel sitzen. Und dann auch aus Gesundheitsrücksichten! Auf die Ihre!
Trinkkumpan, was! Wir sind jetzt Trinkkumpane -- da ist schon meine
kleine Kröte. Ein gutes Ding und nicht zu derb, sie kommt da mit zwei
Kommißknöpfen.«

Das Mädel näherte sich, von zwei Soldaten begleitet. Nach der üblichen
Vorstellung ließ man für die neu Hinzugekommenen Gläser bringen, stieß
miteinander an und machte ein Höllengelächter. Eine Flasche für vier
Personen war bald nicht genug, zwei andere rückten nacheinander auf.

»Backfisch,« rief das Mädchen dem Kellner zu, »aber recht resch.«

»Auf Ihr Wohl, mein Herr, und auf die Dreijährigen.«

»Die Erde ist kugelrund«, sagte mit Ernst einer der Soldaten, der
plötzlich von seltsamen Gedankenfolgerungen heimgesucht wurde.

»So rund ist sie denn doch nicht.«

»So bist es also du, der so rund ist!«

»Wieso, zum Teufel! Der Herr ist nicht sehr liebenswürdig!«

Allgemeine Zufriedenheit. Das Mädel lachte laut und stemmte die Brust,
die sich unter der leichten Seidenbluse bauschte. Wohl tauchte der Akt
Dumas zuweilen auf, aber man schob ihn gewaltsam in Vergessenheit mit
einem daraufgeschütteten großen Schluck Wein.

»Adolf, sag ihnen dein Rätsel!«

»Ah, ja, also raten Sie nun, Sie Gescheiter! Mein Erstes sieht zum
Verwechseln meiner Hose gleich, mein Zweites ist ein Getränk für den
Abend, und mein Ganzes bin ich, wenn ich mein Erstes angezogen habe, was
ist das nun?«

»Na, was denn nur?«

»Keine Ahnung!«

»Nun, ist euch die Zunge angewachsen?«

»Ich habe nichts verstanden!«

»Also, Brüder, das heißt: Culotté, Culotte, das ist Hose, té -- Getränk.
Wenn ich die Hose anziehe, bin ich Culotté, verstanden?«

»Nein, aber das macht nichts.«

»He, Getränke her, hier gibts Durst. Ich habe Sand im Hals.«

Die Gesichter begannen wie Rosenkohl oder gar wie Pfingstrosen
aufzublühen.

»Ich pfeife auf sie, sie haben mich fünfzehn Jahre zum Narren gehabt,
jetzt ist an mir die Reihe, sie zum Narren zu halten.«

»Heda Sie, ärgern Sie sich nicht!«

Ein Soldat begann zu summen, und ein anderer begleitete ihn sogleich,
man stand auf, das Glas in der Hand.

   »Trinken wir auf das Wohl
   Der, die schon drei Jahre dienen,
   Daß es bald vorbei,
   Liest man in ihren Mienen.
   Bald sind wie zuvor
   Sie im gewohnten Loch,
   Drum singen wir im Chor:
   Die Freiheit lebe hoch!«

»Sag, Väterchen, bist du nicht etwas angeheitert?«

»Ich, angeheitert? Ihr wißt nicht, was ich vertragen kann. Es hat mich
nur diese elende Zigarre etwas müde gemacht. Angetrunken? Glaubt ihr
das? Nun, ihr werdet ja sehen, Kellner, noch zwei Flaschen. Das nenne
ich Glück, daß wir einander getroffen haben. Ihr seid alle fesche
Kerle.«

»So gibt es also noch welche, was?«

Seit einigen Augenblicken tuschelten das Mädchen und ihr Freund
miteinander.

»Was denn nicht gar! Du brauchst ihn doch nur selbst darum anzugehen,
für mich gehört sich das nicht.«

»Spiel nicht das Täubchen, du weißt sehr gut, daß eine Frau sich besser
auszudrücken versteht; er wird es begreifen, weil er ja auch
Dreijähriger war, wie er selbst gesagt hat.«

»Du kannst deine Geschäfte selbst ausrichten.«

»Dann frage ich dich vielleicht, ob deine Mutter . . .«

»Na, wie gehts?«

»Auf zur Masurka!«

Das Orchester ließ mit einemmal all sein Blech erschallen. Die
Militaristen fühlten den Geist der Musik und des Tanzes in ihre Glieder
fahren und begannen sich hin und her zu wiegen.

»Na, wollen wir eins runterwalzen, Bertha bleibt bei dem Herrn zurück,
wir finden uns dann alle wieder ein.«

»Gehen wir.«

Die drei Soldaten entfernten sich durch den Garten. Adolf steckte, bevor
er ging, dem Mädel ein Portemonnaie zu.

»Er ist drinnen«, flüsterte er ihr zu.

                   *       *       *       *       *

Die Wellen fluteten zurück und gaben den Sand frei, diesen traurigen
Sand, auf dem in schwarzen Buchstaben geschrieben stand: »Sie werden
gewiß nicht daran gedacht haben, den Akt Dumas wegzuschicken«, aber
hinter einem häßlichen Felsen kam ein hübsches Segelschiff hervor und
tauchte ganz nahe auf.

Das schöne Mädchen saß da und pickte auf dem fettigen Teller nach den
Krumen des genossenen Backfisches.

»Sie würden vielleicht noch eine Portion nehmen?«

»Wenn ich aufrichtig sein soll, so sage ich nicht nein.« Man aß, man
trank, man plauderte.

»Ihr Freund sieht ja recht nett aus, Sie haben ihn gewiß gern?«

»O ja, den da schon, der sitzt mir im Blut, aber Sie können halt nicht
beurteilen, wie er sonst mit mir umgeht, weil er jetzt eben Sorgen hat.«

»Sorgen, was für Sorgen denn?«

»Er ist ein bißchen beengt, was das Geld betrifft.«

»Das ist leicht begreiflich, ein Soldat! Was wollen sie auch mit einem
Sou per Tag anfangen.«

»Sein Vater, der sitzt im Vollen, er hat ein gutes Geschäft, ist geizig
wie eine Kirchenratte; wenn er aus einem Rettich drei machen könnte,
würde er es sich nicht überlegen. Mein armer Adolf ist es schon müde, er
lehnt sich schließlich auf. Er hat doch Bedürfnisse, ist doch kein Kind
mehr, er ist ein ausgewachsener Mann und braucht Geld.«

»Er hat allen Grund, sich zu beklagen.«

»Nicht wahr? Sie finden auch! Ich wußte, daß Sie es begreifen würden.
Adolf hat es mehr als satt, immer zu seinem Alten betteln zu gehen. Er
möchte sich selbst aus der Affäre ziehen. Eben jetzt hat er einen Ausweg
gefunden. Er hat einen goldenen Ring in der Tombola gewonnen, einen
herrlichen Ring mit einem Diamanten, einen echten, ich wollte, Sie
würden ihn sehen! Man hat ihn auf mindestens 400 Franken geschätzt, --
da sehen Sie, da ist er, sagen Sie einmal, ob der nicht schön ist. Sie
können sich denken, daß er den nicht beim Regiment braucht -- er würde
damit auffallen. Für ein Butterbrot gibt er ihn weg, für 150 Franken.
Wenn man aber darauf bestehen würde, möchte er ihn für 100 Franken
lassen, 100 Franken! Der ist schön dumm, was? Das ist eine Sache, auf
die man nur so hinspringen müßte, aber er will seinen Ring natürlich
nicht dem ersten besten verkaufen, er hat so seine Gedanken darüber und
hat recht. Aber ich wette, daß er froh wäre, Sie daraus Nutzen ziehen zu
lassen. Das ist also eine gute Gelegenheit, die Sie nicht auslassen
sollten. Unter uns gesagt, da sehen Sie nur, wie der glänzt! Ein wahrer
Sonnenschein! Sie haben doch Vertrauen zu mir, nicht wahr; ich stelle
mich eher auf Ihre Seite, mit Freunden muß man ein offenes Spiel führen,
und andererseits bin ich Adolfs so sicher wie meiner selbst. Sollten Sie
die 100 Franken nicht bei sich haben, können Sie ihm ja einen
Schuldschein ausstellen und ihm das übrige nach und nach bezahlen. Man
setzt Ihnen ja nicht dabei das Messer an die Kehle, wenn Sie ihm nur
etwas daraufhin borgen könnten, würden Sie ihm sicher eine Freude
bereiten.«

                   *       *       *       *       *

Gewölk! Finsteres Gewölk, das die Sonne verbirgt und gleichzeitig die
ganze Landschaft entfärbt. Du armer Einfaltspinsel, du hast nicht
bemerkt, wohin dich die Leute haben wollten. Ein Vierzigjähriger, der
allein lebt, der muß wohl Ersparnisse haben. Du siehst übrigens auch
recht wohlbestallt aus mit deinem neuen Anzug und deiner goldenen Uhr
und verdienst die freundliche Aufmerksamkeit Adolfs; der Lump hat eine
gute Nase! Man muß schon sagen, die Hälfte der Menschheit verbringt ihre
Zeit, die andere Hälfte zu verschlucken und auszuplündern. Deshalb also
schlug er mich so herzlich auf den Rücken. Einen Wein hat er mir sogar
bezahlt, der Lump. Schau, daß du so rasch als du kannst nach Hause
kommst, du alter Dummkopf -- hättest besser getan, gar nicht fortzugehen
. . .

»Haben Sie ihn gut angesehen? Wie denken Sie darüber?«

»Ich habe Schmuck nicht gern, Sie sehen, ich trage keinen, das ist einer
meiner Grundsätze!«

»Sie könnten jemand ein Geschenk damit machen oder ihn mit großem Nutzen
verkaufen.«

Er schüttelt den Kopf. Sehr angeheitert kamen die drei Artilleristen
zurück.

»Nun?«

»Ihr seid zu früh zurückgekommen. Aber ich glaube, es wird sich nichts
machen lassen.«

»Das ist stier!«

Das Wort wurde gehört und schlug überall ein.

»Hast du nicht einmal zwanzig aus ihm herausgezogen? du Eselin du?«

»Wie wäre es, wenn wir zahlen würden und eine Kahnpartie machten?«

»Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich muß fort . . .«

»Aber was denn -- wir wollten doch zusammen nachtmahlen?«

»Ja, ja, alle zusammen!«

»Bitte entschuldigen Sie mich, ich muß unbedingt fort, ich habe eine
wichtige Verabredung«, und sich zu dem Mädchen wendend, sagte er ihr:
»Was Ihre Sache betrifft, kann ich wirklich nicht, ich besitze diese
Summe nicht, bedaure . . .«

»Bringen Sie auf, was Sie können, man wird sich schon einigen, wir sind
hier jeden Abend zwischen fünf und sechs Uhr.« Der Kellner zählte die
Flaschen. Die Soldaten begannen Gebärden zu vollführen, deren
Überflüssigkeit sehr deutlich war; einer von ihnen rückte mühevoll
seinen Gürtel zurecht, der vollständig an seinem Platze saß, und Adolf,
der sein leeres Glas gegen das Licht gehoben hatte, sagte mit
hochgezogenen Augenbrauen: »Dieser Wein ist sehr tanninhaltig, er hat
einen Satz.«

Die Rechnung war bezahlt, man fühlte sich wieder sehr wohl. Die Blicke
senkten sich zur Erde, Adolf tat sehr böse.

»Ja, was haben Sie denn da eben gemacht, Sie haben ja alles bezahlt.
Zwei Flaschen kamen mir zu, wieviel macht das nun für mich aus?«

»Lassen Sie das, gehen Sie doch, beunruhigen Sie sich nicht.«

Adolf zog seine Hände, die auf nichts anderes gewartet, aus seiner
Tasche und beharrte nicht weiter.

»Sie geben ihm zwei Franken Trinkgeld? Das ist viel zuviel, das ist
Verschwendung.«

»Hat keine Bedeutung, lassen Sie, das macht mir Vergnügen. Meine Herren,
ich verschwinde, entschuldigen Sie mich, ich muß mich beeilen.«

Er sah, wie das Mädchen Adolf eines der Zwanzigsoustücke, die er auf dem
Tische zurückgelassen hatte, zuschob.

»Vergessen Sie nicht unsere Angelegenheit, wir sind jeden Tag nach dem
Abendessen hier, wir würden uns gern mit Ihnen darüber einigen.«

»Grüß Gott, alles Schöne zu Hause, auf Wiedersehen!«

Adolf, der nicht nachträgerisch war, preßte herzlich die Hand in der
seinen.

»Also auf baldiges . . .« und er fügte einen kleinen Scherz hinzu, der
ihm geläufig war. »Wenn du den kleinen Buckligen triffst, so sage ihm,
daß er sich strecken soll.«

                   *       *       *       *       *

Die Tramway raste von einer Station zur andern, die Fahrgäste
schüttelnd, wie Korn im Sieb. Ein plötzliches Halt, und die Körper
stießen aneinander, ein Hut rutschte auf eine Nase herunter. Der
durchdringende Schrei einer Pfeife ließ sich hören, und die teuflische
Maschine nahm wieder ihren Lauf. Wie sie so blitzeschleudernd, klirrend
mit den Scheiben und dem Eisenwerk daherkam, schien sie einer großen Wut
anheimgegeben. Sie sprang über die Nieten der Schienen, zeigte sich bei
den Biegungen widerspenstig und bewies bei jeder Gelegenheit einen
lebhaften Hang zur Unabhängigkeit. Für Augenblicke bemächtigte sich
ihrer ein solcher Zorn, daß sie von epileptischen Zuckungen geschüttelt
schien. Aber trotz allen ihren Bemühungen ward sie dennoch in den Bahnen
der Ordnung festgehalten, ihre Räder gehorchten den Schienen, die ihr
nicht das geringste an Extravaganz gestatteten. Ein temperamentvoller
Ruck, und die Bremse ließ sie sofort ihren eisernen Willen verspüren.

»Spiel doch nicht den Dummkopf«, sagte der kleine stählerne Hebel, »es
nützt dir ja doch nichts.«

Die Tramway war nichts als eine fanatische Begierde, von einer Disziplin
niedergehalten, die immer das letzte Wort behielt.

»Da ist nichts zu machen, meine Liebe, da heißt es gerade hinfahren wie
jedermann.«

Die Tramway wird ihr Leben aufbrauchen, indem sie so jeden Tag zwischen
zwei Endpunkten hin und her läuft. Gelb bemalt, fast in Uniform, genau
in eine Liste eingetragen, einem Stundenplan unterworfen, wird sie trotz
ihres zornigen Aufbegehrens dennoch ihrem Schicksal nicht entlaufen. Wie
alle ihresgleichen, ist sie für einen bestimmten Weg geschaffen, und
alle Wege kreuzen sich, ohne sich zu verwirren; so ist es auch mit den
menschlichen Wesen.

Leute stiegen aus, andere stiegen ein. Joppen, Taillen, darüber ein
Kopf, ein wenig nacktes Fleisch in Form von Händen am Ende der Ärmel,
manchmal eine Faust, ein Hals, ein Schimmer von Büsten.

Stoffiguren, Zierpuppen aus Seide mit schönen Augen! Diese einander
fremden Wesen, aus allen Winkeln des Alls herbeigelaufen, saßen da,
Schulter an Schulter, auf Bänken, einander gegenüber und stellten wie in
einem Spiel so eine Art vorübergehender und überflüssiger Symmetrie dar.
Jede Haltestelle schied einige Stücke, die rasch wieder von anderen
ersetzt wurden, aus dem Spiele aus, so mir nichts dir nichts, nur gerade
um die Zeit totzuschlagen. Die lebendige Welt ist immer im Kommen und
Gehen begriffen. Unzählige Bewegungen, die sich seit langem zu suchen
scheinen, treffen sich endlich, um sich aber sogleich wieder zu
zerteilen. Hände schlagen auf das einzige Kartenspiel, verteilen nach
einer scheinbaren Ordnung die Figuren und vermengen sie von neuem.

                   *       *       *       *       *

Und die Unterhaltung setzt sich so endlos fort. Komisch!

An alles dies dachte der Mann. Der Schaffner verteilte an die Fahrgäste
Scheine.

»Schon um 5 Uhr morgens beginnen diese Leute ihr Tagwerk, was für ein
Leben! Da habe ich mich nicht zu beklagen. Allein bin ich zwar, das ist
ja wahr, aber zum mindesten lebe ich ruhig und habe keine
Verpflichtungen. Ich kann tun, was ich will, und bin niemandem
Rechenschaft schuldig. Wenn ich meinen Tag verlor und dreißig Franken
mit dieser elenden Bande ausgegeben habe, so bin nur ich es, der darum
weiß, und niemand anderem als mir ist damit etwas geschehen.«

Als ein Soldat aufstieg, zuckte er ein wenig zusammen.

»Ich hatte schon Angst, ich glaubte, es sei einer von ihnen dort. Diese
Flegel!«

Die Sonne ging unter, wie sie es jeden Tag zu tun verpflichtet ist.
Sogleich werden die Sterne zu strahlen beginnen, indes sich zur selben
Stunde alle Gaslichter der Stadt entzünden. Das war gewiß: Auch von
dieser Seite war keine Überraschung zu erwarten.

Ich sage mir oft: »O Freiheit! Hätte ich doch meine Freiheit! Und was
dann? Man sagt, es gäbe Rentner, die sich langweilen wie tote Ratten.
Die Welt ist wohlgeordnet, und es handelt sich bloß darum, sie
bürgerlich zu bewohnen und bemüht zu bleiben, die anderen Mieter nicht
allzusehr zu stören. >Weder Hund noch Katze<, wie es in Pachtverträgen
heißt. Bei mir stimmt alles, nicht einmal einen Vogel verdränge ich. Da
fällt mir ein, daß ich einen Schlauch für den Wasserhahn in meiner Küche
kaufen muß.«

Er zog seine Uhr. »Ein Viertel vor sieben. Hoffentlich komme ich
zurecht, ich werde an der Straßenecke, bei der kleinen Kneipe, Lemoine
abpassen. Der wird mir sagen, ob sie nicht vergessen haben, den Akt
Dumas abzusenden.«




                                INHALT


   Ein Abend                    5
   Warten                      19
   Vorahnung                   39
   Abschied                    55
   Über den Tod eines Kindes   81
   Spaziergang und Begegnung   99
   Träume                     121
   Das Geheimnis              131
   Er lehnt sich auf          149

Dieses Buch wurde in einer Auflage von 3400 Exemplaren in der
Spamerschen Buchdruckerei zu Leipzig gedruckt; 100 Exemplare wurden auf
echtem Büttenpapier abgezogen.




Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 10]:
   ... waren sie, auf daß ich ihnen eines Tages begegne. ...
   ... warten sie, auf daß ich ihnen eines Tages begegne. ...

   [S. 36]:
   ... im Bein, den er vergesssen hatte. So geht er in die ...
   ... im Bein, den er vergessen hatte. So geht er in die ...






End of the Project Gutenberg EBook of Das Gemeinsame, by René Arcos

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GEMEINSAME ***

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from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.