Der Weg nach Heilisoe

By Paul Steinmüller

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Title: Der Weg nach Heilisoe

Author: Paul Steinmüller

Release date: November 1, 2024 [eBook #74665]

Language: German

Original publication: Stuttgart: Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WEG NACH HEILISOE ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion
des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche
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                         Der Weg nach Heilisoe




                         Der Weg nach Heilisoe

                                 Roman

                                  von

                           Paul Steinmüller

                           ~Vierte Auflage~

                            [Illustration]

                   Verlagsanstalt Greiner & Pfeiffer

                            Stuttgart 1926




               Druck von Greiner & Pfeiffer in Stuttgart




                            [Illustration]




                          Das neue Geschlecht


Vom St.-Niklas-Turm fielen drei helle Glockenschläge. Gleich darauf
antworteten aus der Ferne Maria zum Rosenhag und der Heilige Geist.
Dann war es wieder still. Das Abendgeläut, das um diese Zeit über
Märkte und krumme Gassen wogte, setzte nicht mehr ein. Der Lobgesang,
in den St. Jakob, St. Jürgen am Strande, die Katharin und der
Evangelist Johannes einzustimmen pflegten, schwieg, seit der Krieg den
Türmen die erzenen Zungen ausgerissen hatte.

Jörg stieß den Fensterflügel weit auf und lehnte sich hinaus. Der
Abendhimmel war von hellstem Grün und wie von Silber durchflossen;
hinter den Giebeln im Osten stand wohl schon der wachsende Mond. Vom
Meer herüber drang ein Geruch, wie er dem März eigentümlich ist, wenn
das angeschwemmte Seegras zu sprießen beginnt. Der ganze Treßhof,
den fast zu einem Viertel die alte Kastanie mit dunklem kahlem Geäst
überbreitete, war von diesem herben Ruch erfüllt.

Der alte Treßhof! Ein zärtlicher Blick des jungen Mannes umfing dies
alte backsteinerne Vätererbe. Von den abgewetzten Prellsteinen war
die kleine Güldenfey in seine geöffneten Arme gesprungen. Rechts der
Kellervorbau, der zu Mellins Wohnung führte und der einer kleinen
Kapelle glich; links die überdachte Treppe. In der Tiefe aber, aus
der er ausschaute, das alte Wohnhaus, das die stolze Inschrift trug:
Treßhof. 1525. Balzer Treß hatte es zwar erst etwa hundert Jahre später
gebaut, aber der Handelshof selbst war damals gegründet, als die Hanse
schon von ihrem guten Ruf und nicht mehr von Taten zehrte. Was tat
das! Er hatte vier Jahrhunderte und eine Wallensteinsche Belagerung
überdauert und würde auch durch diese Elendszeit kommen.

Die Sperlinge lärmten noch in dem dürren Rankelgewächs, das bis in die
vermoosten Dachpfannen hinaufwuchs. Aus dem verblassenden Grün der
Himmelswiese wuchsen die ersten Sterne. Jörg schloß das Fenster.

Gleichzeitig wurde die Tür geöffnet, und die alte Schaffnerin trat
mit Harro ein. Der Raum war plötzlich in grelles Licht getaucht, der
lange Beratungtisch, die tiefen braunen Stühle an seinen Seiten, der
Schreibtisch, auf dem seit des Vaters Tod nichts verändert war, alles
schimmerte blank und gepflegt.

»Sieh, du bist hier, Jörg!« Und Harro begann in seiner etwas lauten Art
sofort auf ihn einzureden. Ob Malte und Frauke noch nicht hier seien.
Und Onkel Rolf. Es sei gleich sechs Uhr. Onkel Rolf lasse sich immer
Zeit, wenn er gerade einen Klienten bei sich habe.

Man spürte ihm die Unruhe an. Warum nur? dachte Jörg. Eine
Testamentsverlesung ist doch ein feierlicher Vorgang. Aber Harro
redete immer, als ob er seine Mannschaft zum Sturmangriff riefe und
das Knattern des Feuers überschreien müsse. Vielleicht war ihm dies in
seiner Tätigkeit als Rufer im Parteienstreit von Nutzen.

Er wartete eine Antwort Jörgs nicht erst ab, sondern ließ sich gleich
von etwas anderm fesseln. Die Alte war um den Tisch gegangen und hatte
Papier und Bleifedern ausgelegt. Jetzt trat sie an die Fenster, um die
Vorhänge zu schließen, und spähte eine Weile angestrengt hinaus.

»Was ist, Ose? Kommen sie?« fragte Harro.

Sie schüttelte den Kopf, schwieg und blickte wieder aus.

Da trat er neben sie. »Was geschieht denn dort?«

»Sie ist wieder da«, sagte sie und wies auf die Torfahrt, wo Harro am
Prellstein etwas Schattenhaftes zu erkennen glaubte.

»Wen meinst du nur?«

»Nun, sie, die Frau! Sie ist wieder in der Stadt, Kind.«

Harro starrte hinaus. »Wirklich, Ose? War sie schon hier? Wie denkst du
...?«

Aber Ose antwortete ihm nicht, legte den Finger an den Mund, trat
zurück und griff die Schnur der Gardine.

Güldenfey kam die Treppe herab, die von den Wohnräumen in das untere
Stockwerk führte. »Guten Abend, Jörg, guten Abend!« sagte ihre helle,
klingende Stimme. Dann erblickte sie erst die andern. Sie blieb
stehen und lehnte sich grüßend über die Brüstung. Das schwarze Kleid
der Trauer hob ihre blonde überschlanke Schönheit, die strahlenden
Blauaugen hatten durch die Tränen der letzten schmerzreichen Wochen
nichts von ihrem Glanz verloren. Wie sie da stand auf der alten
Wendelstiege aus nachgedunkeltem Holz, deren Wandung eine kunstfertige
Schnitzerhand vor zweihundert Jahren mit Bildern aus Christi Leiden
geziert, erschien sie Jörg wie das Licht jungen Tages, das spät in
verschattete Gründe steigt.

Er sagte nichts, er hob nur die Hand und ging ihr einige Schritte
entgegen. Sein linker Fuß schleifte nach. Er empfand die Behinderung,
die ihm die Verwundung hinterlassen, jetzt angesichts des lieblichen
Bildes als einen Mangel.

»Ach, Güldenfey,« sagte er, »ich wartete auf dich hier am Fenster. Es
war so schön draußen, und ich mußte, als ich die Prellsteine sah, an
unsre Jugend denken.«

Sie errötete wie eine Braut. »Du erwartetest mich? Doch das wußte ich
nicht.« Sie legte ihre Hand in seine und sah ihn zaghaft an. Jörg war
der Gespiele ihrer ersten Jahre, aber er war ihr soviel ferner gerückt
als die andern Brüder. Sie sann nach, wie es doch kam, daß sie in
diesen Tagen, da er zum Begräbnis des Vaters gekommen, immer etwas
wie Scheu in seiner Nähe empfand. Er war ernster als selbst Malte und
stiller als Harro. Hatte er viel erlebt, was er verborgen trug? Von der
Schule auf die Universität und nach dem ersten Semester in den Krieg.
Während der leidvollen Jahre war er selten daheim gewesen, und danach
hatte er wieder sein Studium aufgenommen.

»Liebe Schwester, liebe Güldenfey!« sagte Jörg.

Seine Zärtlichkeit verwirrte sie noch mehr, und sie blickte ihn
befangen an.

»Wir werden uns schon verstehen, denn du und ich, wir gehören
zusammen«, sagte er. »Hilf mir, wenn es not tut, Güldenfey.«

Sie wollte etwas entgegnen, um eine Erklärung bitten, aber da kamen die
andern, und nun war es plötzlich ein andres Zimmer. Onkel Rolf trug
unter dem Arm die schwere Aktentasche, ohne die man den Justizrat und
Ratsherrn Glöden nie sah; sein Gesicht drückte den Kummer aus, unter
dem er seit dem Kriegsausgang litt. Seine trübselige Stimmung umgab ihn
wie ein Gewölk und verfinsterte jeden Raum, den er betrat.

Malte, vollendet gekleidet, schien ernst und bleich. Keine Linie
seines Gesichts veränderte sich, als Harro ihn mit einem derben Wort
begrüßte. Er wußte genau, was er dem Ernst der Stunde schuldig war.
Und Frauke! Während sie ein paar Worte mit Güldenfey wechselte,
musterten ihre Augen, die grau wie Seewasser im Wind waren und immer
ein wenig spöttisch blickten, die andern. Nun, sie war eine Poppelmann,
Tochter des Josias Poppelmann, der Aus- und Einfuhr des amerikanischen
Warenverkehrs regelte. In Harvestehude war sie daheim und fühlte sich
in dieser kleinen Stadt, die wie eine ärmliche Stiftsdame vom Glanz der
Vergangenheit lebte, in der Fremde.

Gewiß, gewiß, die Treß waren ein ehrwürdiges Geschlecht, aber was
bedeutete das für eine Zeit, die sausende Räder an den Schuhen trug.
Das leise Rauschen ihrer seidenen Kleider, das feine Klirren der
goldenen Ringe an ihrem Handgelenk war ihr wie eine ferne Musik aus dem
verlassenen Königreich ihrer frühen Jugend.

Sie reihten sich um den langen Tisch, Onkel Rolf saß an der Stirnseite,
ihm zur Rechten Malte. Sie hatten die Schriftstücke vor sich
ausgebreitet. Auf was warten sie noch? dachte Jörg und blickte fragend
auf Frauke. Aber die saß königlich in einem hochlehnigen Sessel, hatte
den Kopf gegen die Hand gelehnt und sah abwartend vor sich hin.

Die Tür tat sich auf, und Ose trat mit zwei Mädchen ein, die auf
silbernen Platten Weinflaschen und Gläser trugen und sie vor den
Versammelten aufstellten. Malte erhob sich und füllte die Kelche
mit dem alten duftenden Traubenblut. »Liebe Geschwister,« sagte er,
»unser teurer seliger Vater hat mir aufgegeben, Sorge zu tragen, daß
wir in dieser Stunde seiner freundlich und liebevoll bei den letzten
Flaschen seines Hochzeitweins gedenken. Ich erfülle seinen Willen. Dem
Gedächtnis unsers Vaters und unsrer lieben Mutter!«

Sie hoben die Kelche und tranken andächtig. In Güldenfeys Glas fiel
eine Träne. O du Gute, Ungekannte, die sterben mußte, damit ich lebe!
dachte sie. Das Heimwehgefühl überkam sie. Sie beschloß, mit Ose einmal
wieder von der Seligen zu sprechen.

Sie hatte die Hände in ihrem Schoß gefaltet und bemühte sich,
achtzugeben auf das, was Onkel Rolf vorlas. Ihres Vaters Stimme! Ja,
war denn das seine freundliche, tiefe Stimme, die so zärtlich klang,
wenn er ihr Gesicht zu sich niederbog: Liebe, kleine Güldenfey! Das
waren trockene Formeln, Zahlen, die Onkel Rolf sehr ausdrucksvoll
betonte, und wenn er etwas Besonderes hervorhob, strich er mit
dem Zeigefinger über sein Kinn. Sie verlor, während sie auf die
Wiederholung dieser Eigentümlichkeit wartete, den Faden. Ach, warum auf
langweilige Dinge achten, die sie nichts angingen!

Harro gingen sie an und Malte, der jetzt an Vaters Stelle stand.
Sie blickte auf ihn. Er saß kerzengerade da, mit festgeschlossenen
Lippen und sehr bleich. Erregte ihn das Lesen dieses väterlichen
Vermächtnisses? Zuweilen glitten seine Blicke zu Frauke, suchend,
fragend. Aber die saß kühl und abgekehrt da, und in ihren Augen war das
Lächeln, dies seltsame fremde Lächeln.

Es fiel Güldenfey auf, wie edel das strenge, marmorweiße Gesicht ihres
ältesten Bruders war. Irgend etwas war in ihm, das sie früher und an
anderm Ort gesehen. Wo nur und wann? Sie sann nach und fand es nicht.

Aber plötzlich blieben ihre Augen an dem Bilde haften, das gerade über
Malte an der Wand hing, dem Bild des Ahnen, jenes rätselhaften Balzer
Treß, durch den der Reichtum einmal in das Geschlecht gekommen war und
der auf seltsame Weise verschollen sein sollte. Das Bild war sehr alt,
aber jetzt im scharfen Licht der Deckenkrone deutete Güldenfey in
ihm Zug um Zug aus. Sie verglich und wußte es plötzlich: in Malte war
Balzer Treß wiedergebildet.

Sie seufzte auf, als die gleichförmige Rede Onkel Rolfs jäh abbrach.
Also nun waren sie am Ende!

Maltes Hand griff hastig schlichtend in die Papiere. Er war erregt und
bemüht, es zu verbergen. Er hob das Glas an die Lippe und setzte es,
ohne daß er getrunken hatte, wieder nieder. Dann stand er auf.

»Wenn ich als Ältester zu dem Vermögensstand unsers Hauses, wie er eben
dargelegt ist, mich äußere, so spreche ich kein Urteil über unsern
Vater aus. Er trägt nicht Schuld, daß wir viel verloren. Mehr als vier
Jahre Krieg! Schlimmeres wartet unser. Aber ich verspreche euch: ich
werde unser Geschlecht wieder heben, daß es angesehen dastehen wird.
Und mit ihm unser Vaterland. Deutschlands Throne sind leergefegt. Wer
wird sie wieder besteigen?« Er machte eine Pause und hob die Hand:
»Deutschlands, Europas, der Welt Herr wird das Geld sein!«

Er wurde durch ein Geräusch unterbrochen. Jörg hatte seinen Stuhl
zurückgeschoben und bückte sich, als wolle er Herabgefallenes aufheben.

»Sagtest du etwas?« fragte Malte.

»Ich sagte nichts. Obgleich ... Aber, bitte, sprich nur weiter.«

Malte sah ihn erstaunt an, dann fuhr er fort. Die feierliche Stunde,
die Erregung, das Bewußtsein, der verantwortliche Erste dieses Hauses
zu sein, das alles ließ ihn große Worte finden.

Jörg zog ein Blatt Papier heran, nahm den Stift und begann zu
zeichnen. Er zog einige Striche hinauf und hinab, dann gestaltete sich
das Bild. In die Nacht wuchs ein schmaler Warenpalast, wie ihn die
Neuzeit aus Stein, Stahl und Glas baute. Die Vorderseite bestand nur
aus Fenstern. Rechts und links erhoben sich zwei gleich aussehende,
aber höhere Häuser. Diese drei bildeten einen ungeheuren Thron, zu
dem eine breite Treppe führte. Auf diesem Thron, der mit straffen
Geldsäcken ausgepolstert war, saß breit und prahlend ein Mann mit
feisten Gliedern. Seine Weste straffte sich um den gerundeten Leib.
Er hatte die Augen wie ein Blinder geschlossen, aber von jedem seiner
krallenartigen Finger liefen Fäden in das Dunkel. Vor der Treppe auf
dem Pflaster lag die Menge. Der Stift zeichnete Könige, die sich
bückten, Richter und Krieger, die sich neigten; Minister, Künstler
und Bürger, die niederknieten; Frauen, die sich entblößten. Es war
eine schamlose Anbetung des frech sich flegelnden Menschen auf dem
Häuserthron, der die Huldigung annahm, ohne die Huldigenden zu
beachten.

»Es ist aber nicht genug, daß eure Vermögensanteile in der Handlung
mitarbeiten«, fuhr Malte fort. »Du, Harro, freilich stehst im Dienst
einer Partei, deren Aufkommen die neue Blüte unsers Handels verbürgt.
Doch wirst du darauf denken müssen, dich mit einer Erbin zu vermählen,
damit unser Haus bald entlastet wird.«

Harro lächelte vielsagend und nickte.

»Du, Jörg ... hörst du mich denn?«

»Ich höre«, sagte Jörg, schob das Blatt zurück und sah den Bruder an.

»Du wirst bald deine Prüfung bestehen und hierher kommen. Von einem
tüchtigen Anwalt werden wir Nutzen haben. Onkel Rolf wird dich zunächst
in seine Praxis aufnehmen und will sie dir später überlassen.«

Onkel Rolf strich mit dem Finger über sein Kinn. Malte sah Güldenfey an
und wollte fortfahren. Da geschah es.

Jörg legte den Stift hart auf den Tisch und sagte: »Auf mich rechnet
nicht!« Es war etwas in dem Ton, der alle aufsehen hieß.

Maltes Stirn verschattete sich. »Was heißt das, Jörg: Auf mich rechnet
nicht?«

Doch bevor er antworten konnte, hatte Frauke die Zeichnung an sich
gezogen. »Sieh, sieh!« sagte sie lächelnd. »Ich wußte gar nicht, daß du
so geschickt zeichnest. Was stellt das denn dar?«

»Den Götzen der Welt, den Malte soeben als den kommenden König ausrief.«

Frauke begriff, sie lächelte geheimnisvoll. Die andern erhoben sich und
betrachteten das seltsame Bild. Harro lobte es: »Ganz richtig, Jörg!«

Aber Malte fand die Unterbrechung unschicklich, und sein Knöchel pochte
auf. »Erlaubt, wir sind nicht hier, um Bilder zu betrachten. Jörg, du
schuldest mir noch eine Erklärung.«

Jörg strich sich mit der flachen Hand über das Haar. »Ich habe mein
Studium bereits aufgegeben«, sagte er.

Malte sah ihn fest an: »Davon weiß ich nichts.«

»Ich wollte es dem Vater ersparen, Malte. Es ist ja auch gut, daß ihn
mein Entschluß nicht mehr beunruhigt hat. Er ist unabänderlich.«

»Du willst Kaufmann werden?«

»Nein. Ich will nichts werden, sondern nur sein, was ich bin: ein
Musiker oder, wenn das besser klingt, ein Künstler in der =musica
sacra=.«

Er sagte es völlig ruhig. Von seiner Linken, wo Güldenfey saß, spürte
er eine tastende Hand. Er nahm sie und drückte sie im Dank.

»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte Malte, »so willst du Organist
werden. Nun, du bist musikalisch, aber ungeachtet, daß dazu doch
vermutlich etwas mehr gehört -- ein Treß sitzt nicht auf der
Orgelpritsche und spielt Choräle.«

Es ballte sich irgend etwas zusammen, etwas, das quälend und
ängstigend war. Güldenfey zog den Amethyst, den sie wie ein Amulett
an feinem Kettlein immer bei sich trug, hervor und drückte den Stein
an die Lippen. Harro musterte starr die beiden Bildnisse, die ihm
gegenüber an der Wand hingen: Behrend Treß, Oberst im schwedischen
Gyllenstiernaschen Regiment, und Karl Heinrich, den Major bei den
Bohuslehnschen Schützen. Nein, wirklich, das ging nicht! Jörg war im
Felde Offizier geworden, und jetzt Tastenschläger?

Jörg schien das, was sich um sein Haupt zusammenzog, nicht zu berühren.
Er stand auf, war Malte gerade gegenüber, fast so groß wie der, und
völlig gesammelt. »Malte,« sagte er, »ein Treß tut das ganz, was er
einmal vor seinem Gewissen verantworten muß. Wenn du aber meinst, ich
hätte nicht das Zeug dazu, so kann ich ja den Beweis erbringen. Ich
lade euch auf morgen vormittag zehn Uhr, in St. Niklas mir zuzuhören.«

Onkel Rolf legte seine Hand breit auf den Tisch. »Ihr Treß seid
allesamt Hartköpfe. Ihr wollt euch die Schädel aneinander einrennen.
Muß das just in dieser schlimmen Zeit geschehen?«

Aber Malte legte die Hand auf seinen Arm. »Es ist jetzt nicht die
Stunde, davon zu handeln. Gut, Jörg, wir kommen! Und danach reden wir
davon in meiner Wohnung.«

Der Zwischenfall war erledigt. Malte fuhr fort, Vorschläge zu machen.
Man müsse daran denken, Einschränkungen sich aufzuerlegen. Vaters
Motorboot könne verkauft werden. Schließlich könne man das Fährschiff
benutzen, wenn man nach Heilisoe fahren wolle. Damit wäre auch Telge,
der Bootsmann, erübrigt.

Er sah plötzlich zu Frauke hinüber. Hatte sie nicht eine Bewegung
gemacht? Aber Frauke saß still und unbewegt da, die Hand an der Wange.

Und dann der Garten hinter der Mauer! Er trug nichts, es war in ihm
nur ein kurzes sommerliches Blühen. Hans Olrogge hatte jüngst anfragen
lassen, ob er feil sei.

»O meine Armen!« sagte Güldenfey und hob beide Arme, als müsse sie
diesen lieben Fleck Erde verteidigen. Wieviel Freude wuchs in ihm!
Wenn Güldenfey mit ihrer Gartenschere durch seine Beete und Büsche
ging, um aus seinem Blütenreichtum Sträuße für die alten Frauen des
»Räucherbodens« zu binden, war ihre Seele ganz sommerlich hell. Ihr
Taschengeld reichte nie für die Bedürfnisse der Darbenden aus, und in
ihren Sträußen trug sie stets einen feinen Duft in die engen Gelasse.

»Wir wollen es erwägen, Güldenfey«, sagte Malte und nickte ihr
beruhigend zu.

»Aber Engelke bekommt doch ihren Stiftsplatz im Heiligen Geist!« rief
sie. »O, sie kann nicht mehr. Vierzig Jahre hat sie auf dem kalten
Estrich unsrer Küche gestanden und für uns alle gekocht. Der Vater
hatte es ihr versprochen. Ist Engelke im Testament nicht genannt?«

Harro sprach ein paar Worte leise zu Malte. Dieser nickte. »Sei
unbesorgt, Güldenfey. Wenn auch wir uns manches versagen müssen, für
unsre treuen Dienerinnen wird gesorgt. Engelke soll ihre wohlverdiente
Ruhe haben und später auch unsre alte Ose.«

Güldenfeys Augen glänzten. Nun ging sie alles andre nichts mehr an.
Sie hörte kaum noch auf das, was Malte sagte, sie war gewiß, daß sie
auch ihren Garten behalten dürfe. Auch bei dem gemeinsamen Essen, das
man nach der langweiligen geschäftlichen Aussprache oben einnahm,
merkte sie nichts von der gehaltenen Art, in der die Geschwister
untereinander redeten. Ein Stuhl stand leer am Tisch; aber es war nicht
die Rücksicht auf den, der auf ihm gesessen, die alle veranlaßte, die
Worte vorsichtig zu wählen. Einmal fiel ihr ein: Jörg! Doch als sie zu
ihm hinübersah, fand sie ihn, wie er unbekümmert mit Frauke sprach. Was
war nur mit ihm? Ob er wirklich etwas Besonderes leistete? Ob Malte
nachgeben würde?

Nach dem Essen verabschiedeten sich, die nicht im Treßhof wohnten.
Malte und Frauke gingen in ihr Haus am Markt, Onkel Rolf hatte noch in
seiner Schreibstube zu tun; Harro wollte ihn begleiten.

Güldenfey lief, noch früher, als die Tür sich hinter den Fortgehenden
geschlossen hatte, zu der alten Köchin, die in ihrer Bibel las. Sie
setzte sich neben sie und faßte die beiden arbeitrauhen Hände, ehe
diese die Hornbrille von den Augen heben konnten.

»Engelke, es ist ganz gewiß, die Stelle im Heiligen Geist ist frei, und
du kannst hinein, wann du willst.«

Engelke nahm die Brille ab, legte das Lesezeichen in das Bibelbuch und
klappte dieses zu. Sie sah Güldenfey an, schüttelte langsam den grauen
Kopf und fing an zu weinen.

»Du, du!« Güldenfey strich an ihr auf und nieder. »Ich freue mich so
darauf, es dir zu sagen, und du weinst.«

Nun, da das ersehnte Ziel erreicht war, ängstete die Alte der Abschied.
Was sollte im Treßhof ohne sie werden? Man wußte ja, wie die Mädchen
der neuen Zeit waren: frech und üppig traten sie einher, von Treue
wußten sie wenig.

»Laß nur, Engelke, wir werden schon fertig werden, und geht es nicht,
so kommst du und siehst ein. Denk' jetzt an die niedlichen warmen
Stübchen, deren Fenster auf den Säulenhof sehen. Wenn ich dich dort
besuche und wir Kaffee trinken, während der Regen fällt! Und der Weg zu
deinen Gemeinschaftabenden ist von dort so kurz!«

Ja, das war ein Trost. Die Stunden in der Winkelgemeinschaft waren
Engelkes heimliche Freude, sie glaubte an die nahe Wiederkehr des
Herrn: alle Zeichen dieser bösen Zeit deuteten darauf hin. Aber daneben
war doch der Gedanke an Güldenfey und Jörg. Wenn der in die Ferien kam,
wer würde ihm die Kartoffelkuchen recht backen!

Jörg! Güldenfey fiel es plötzlich schwer auf das Herz. Sie wollte doch
noch mit ihm reden. Über ihrer Freude hatte sie ihn vergessen. Sie
drückte der Alten die Hand und lief durch die Zimmer.

Aber Jörg war nicht mehr da. Er hatte hinterlassen, er gehe zum
Kirchenvogt, um mit ihm alles wegen morgen zu besprechen. Nun, da kam
er bald wieder, und Güldenfey konnte schnell noch einmal zu Mellins
hinuntersteigen.

Der alte Packmeister des Treßhofes -- er erschien Güldenfey alt, weil
er einen langen Bart hatte, der ihm über die Brust bis zum zweiten
Rockknopf herabhing -- gehörte zum Hof wie Ose zur Familie. Es wird
erzählt, daß er dem Freier der einzigen Tochter, einem übrigens
erwünschten Beamten in ansehnlicher Stellung, in fast einstündiger
Sitzung erklärt habe, welche Ehre ihm widerfahre, daß er gewissermaßen
in das Haus Treß einheirate.

Es war da unten so viel Geheimnisvolles zu sehen: ein Glasschrank mit
gläsernen Hirschen und Schweizerhäuschen, Klingelschnüre aus silbernen
Perlen, Tassen mit verblichenem Goldrand und gefühlvollen Widmungen und
uralte Ostereier voll wunderlicher Schnörkel. Und über allem ein leiser
Duft nach Holländer Knaster und Anis.

Mellins hatten einen Brief von Marie bekommen und besprachen
umständlich die Vorgänge im Tageslauf der Tochter, als Güldenfey
eintrat. Sie mußte ihren Ehrenplatz einnehmen im geblümten Lehnstuhl
mit den vielen Kissen, vor dem der silbergraue Kater Murr schlief; sie
mußte die Nachrichten von Mariechen und ihren Kindern hören. Mellin
wollte seine Pfeife ausgehen lassen, wie er immer tat, wenn Güldenfey
auf Besuch kam, aber sie duldete es nicht. Nein, sie mußte nach oben
und Jörg erwarten. Der Gedanke an ihn ließ sie heute nirgendwo seßhaft
werden. Sie sagte, sie sei müde, und wünschte gute Nacht. --

Ose war im Eßzimmer und zählte das Silber ab. Güldenfey stellte sich an
das Fenster und sah in den Hof, wo in den Lichtschein des Mondes die
gezackten Schatten der Speicher glitten. Der Kastanienbaum füllte sich
mit jungem Saft, leise trat hinter die Nächte, denen der Reif noch das
glitzernde Kleid schenkte, der fröhliche Lenz.

Jörg kam noch immer nicht.

»Kind, du bist blaß vor Müdigkeit«, sagte Ose. »Komm, ich helfe dir
beim Auskleiden.«

»Ach, Ose, wenn ich ihn heute nicht mehr sehe! Und ich sollt' ihm doch
helfen und weiß nicht wie!« Ihre Stimme lallte schwer wie die eines
schlaftrunkenen Kindes.

Ose faßte mütterlich ihre Hand. »Siehst ihn ja morgen, ich sag's ihm,
wenn er heimkommt.«

Aber als Güldenfey die Decke ihres Lagers über sich zog, war alle
Müdigkeit verflogen. »Ose, ich muß es dir sagen von Jörg, ich habe
sonst keine Ruhe. Er will Künstler werden. Morgen in der Kirche spielt
er. Malte ist dagegen.«

Die Alte saß auf dem Stuhl am Bett und faltete die Hände. »Wird Malte
nichts nützen. Wenn Jörg sagt: Ich will!, so wird es. Er hat es von
deiner Mutter, Kind. In ihr war lauter Klingen. Es ist seltsam um die
Erbschaft des Blutes. Wem sie zufällt, muß sie antreten.«

»Wie wenig fiel mir von ihr zu!« Güldenfey seufzte und fühlte den
Stein, den sie am Halse trug.

»Dir? Kind, du hast doch ihre Art geerbt: wie sie mußt auch du
jedermann Liebes tun. Als sie dir den Namen gab ...«

»Ose, bitte, erzähl' es mir.«

Und die Alte erzählte aufs neue, was sie wohl tausendmal schon
berichtet hatte. »Als du geboren warst, sah ich, daß ihre Kraft
zerging, und sie wußte es auch und war ganz still und gefaßt. Dein
Vater lag an ihrem Bett auf den Knien, und ihre Hand strich über sein
Haar. Dann wandte sie plötzlich den Kopf: ›Bringt mir das Kind!‹ Da
nahm ich dich, weiß gebündelt wie du warst, legte dich in ihren Arm,
und sie sah dich lange an. Dann sagte sie mit ganz hoher Stimme, so
wie du immer sprichst: ›Güldenfey, liebe, kleine Güldenfey, lebe!‹ Ich
wußte nicht, was sie meinte, und sah sie verwundert an. ›Ist sie nicht
wie eine kleine goldene Fee?‹ Und sie sagte zu deinem Vater: ›Otto, ich
weiß, daß die erste Tochter in jeder Generation der Treß Myrrha genannt
wird, und wenn du willst, mögt ihr sie mit dem Namen ins Kirchenbuch
eintragen lassen, aber ihr Name ist Güldenfey, und so soll sie genannt
werden!‹ -- Siehst du, Kind, und dann hing sie dir das Kettlein mit
dem Stein um, etwas mühsam, denn Gottes Engel winkten schon, aber ich
half ihr. Und als ich dich in die Wiege gelegt hatte und mich wieder
umwandte, da winkten sie wieder, und sie ging mit ihnen.«

»O du Liebe, Süße!« sagte Güldenfey. Sie hatte den Stein an ihrem Mund
und küßte ihn andächtig.

»Du hast ihr Wesen geerbt und Jörg ihre Musik. Beide habt ihr das
Beste von ihr. Ich sage dir, sie konnte singen! Nicht so laut und
mit verzerrtem Gesicht wie die Frauen, die sich am Flügel aufstellen
und tun, als wollten sie auf der Stelle sterben, sondern leise und
lächelnd. Und immer ganz seltsame Melodien. Als sie Jörg trug, hab' ich
nebenan beim Wäscheordnen oft lange stillgestanden und ihr zugehört.
Mir wurde dann ganz sehnsüchtig um das Herz.«

»Und Harro und Malte? Haben die nichts von ihr?«

»Die sind Tresse, Kind! Harro ist Soldat, Seefahrer wie der Oberst bei
den Gyllenstiernaschen Söldnern.«

»Und Malte?«

»Ja, Malte!« Ose zuckte die Schultern.

In diesem Augenblick fiel es Güldenfey ein, wie sie ihn unter dem alten
Bild von Balzer Treß gesehen, wie sein schönes blasses Gesicht Zug um
Zug dem des Ahnen geglichen hatte. »Malte ist Balzer, dessen Bild unten
hängt!« rief sie.

»Der fliegende Holländer? Gott bewahr' uns, Kind!«

Güldenfey richtete sich auf. »Der fliegende Holländer? Heißt er so? Was
ist's mit ihm?«

Der Alten Lippen wurden schmal und herbe, als müßten sie etwas
verschließen. »Nichts ist mit ihm. Ich weiß nichts!«

Sie erhob sich und trat an das Fenster. Die Teiche, die die Stadt
umgürteten, lagen im Mondlicht. Der Duft der lenzenden Erde floß um die
alten Weiden.

»Es ist hell draußen, und unter den Bäumen nebelt es. Du sollst jetzt
schlafen, Kind.«

»Ach, Ose, erzähle, bitte!«

»Was? Die Unglücksgeschichte? Die bringt müden Menschen den Schlaf
nicht.«

»Ich finde vorher doch nicht Ruhe.«

Wer konnte widerstehen, wenn Güldenfey bat! Die Alte schüttelte den
Kopf, setzte sich am Bette wieder nieder und begann.

»Die Treß sind von Heilisoe als Fischer in die Stadt gekommen und
haben den Handel angefangen. Es ging recht und schlecht mit ihnen,
und ihr Wohlstand wuchs, und sie bauten die Kornspeicher. Aber dem
Balzer, der nach hundert Jahren aufkam, ging das In-die-Höhe-Kommen
nicht schnell genug. Damals war schon der Neid auf die Olrogges und
deren Mißgunst gegen uns. Der Balzer fing also den Handel mit Holland
an. Das alte Abenteurerblut brauste in ihm, er rüstete eine Kogge aus
und fuhr selbst nach Amsterdam. Er hatte, ich weiß nicht wie viele,
Söhne und Töchter zu Hause, aber das Goldfieber gewann solche Macht
über ihn, daß er nur selten heimkam. Der Reichtum floß ihm zu, und er
leitete ihn her, aber er verfiel der Gier mit Leib und Seele. Immer
neue Besitztümer raffte er an sich. Aber als er nun so viel besaß,
daß er es kaum noch übersah, da packte ihn das Heimweh in der fremden
Stadt. Er belud eine neue schöne Kogge und segelte heimwärts. Er fuhr
und fuhr und kam doch nicht an sein Ziel. Es war nicht stürmisch,
doch er konnte die Einfahrt in den Sund bei Heilisoe nicht finden.
In Häfen und auf der Fahrt fragte er stets aufs neue: ›Wo geht der
Weg nach Heilisoe?‹ Sie beschrieben ihn dem Frager, doch er fand ihn
nicht. Sein Kompaß wies ihn in die Irre. Seitdem fährt er rastlos durch
die Meere bei Tag, bei Nacht, in Wintern und Sommern, immerfort. Sie
nennen ihn den fliegenden Holländer. Viele haben seine Kogge mit der
Glücksfee, die ein goldenes Füllhorn ausschüttet, als Gallion gesehen;
auch mein Vater, der als Kapitän oft bis ans Nordkap fuhr. In stillen
Nächten hört man auch den Anruf: ›Wo geht der Weg nach Heilisoe?‹ Dann
werfen sie das Schiff nach Steuerbord herum, denn von Backbord gleitet
es immer auf sie zu. Können ihm ja den Weg doch nicht weisen, und wenn
schon -- den Kurs findet der fliegende Holländer nicht.« --

Güldenfey lag ganz still. Ose glaubte, sie sei eingeschlafen. »Kind,
schläfst du?«

»Ach nein, Ose. Wie sagtest du, das Gallion der Kogge sei eine Fee mit
goldenem Füllhorn?«

»Ja, so erzählt man.«

»Ob das Mutter wußte, da sie mich Güldenfey nannte?«

Die Alte stand auf und strich über die gefalteten Hände. »Nein, nein,
was hat sie mit dem alten Spuk zu schaffen! Du heißt so ... Ja, es ist
seltsam, vielleicht kannst du ihn erlösen.«

»Und fährt noch heute ruhelos durch die Meere?«

»Ist ja nur eine Sage, Kind. Gott weiß alles, und bei ihm ist
Vergebung. Schlaf jetzt!«

Güldenfey lag noch lange wach und sah das Mondlicht in das Zimmer
gleiten. Sie hörte Jörg heimkehren und später Harro, aber ihre Gedanken
waren bei dem Ahn draußen auf der See, der den Weg nach Heilisoe suchte
und nicht fand.




                           An der Wegscheide


Seitwärts führte in die Kirche des St. Niklas eine kleine Tür, durch
die die Treß zum Gottesdienst gingen. Sie war von eigenartiger
Schönheit. Als der Vogt sie aufschloß, um die Herrschaften einzulassen,
blieb Frauke Treß stehen und bewunderte das feine Maßwerk, das ein
Spitzbogen in erhabener Arbeit krönte. Auch Malte sah flüchtig hin.
Er hatte wenig Zeit und war nur gekommen, um vor den andern als
gerechtfertigt dazustehen. Von der Musik verstand er nichts, und er
betrachtete die Stunde, die er darangab, als ein Opfer.

»Was ist das?« fragte er und deutete flüchtig auf die Figuren in den
beiden oberen Winkelfeldern, die gegeneinander die Posaunen hoben.

»Irgendwelche Wesen, die Musik machen«, erwiderte Frauke leichthin.

Er glaubte die Geringschätzung zu hören, die die Poppelmanns für alles
empfanden, was nicht zu den führenden Handelshäusern zählte. Schmuck
des Lebens, o ja! Aber wer ihn darbot, stand auf andrer Stufe. Und sein
leiblicher Bruder! Wohlan, er mochte spielen! Wie Malte urteilen würde,
stand bei ihm.

Pastor Thomasius war da, der feine Redner und gewinnende Mensch, der
anläßlich des Todesfalls allen nahegetreten war. Als er die Geschwister
begrüßt hatte, bat er um die Erlaubnis, dem Spiel lauschen zu dürfen.
Er sagte nicht, daß Jörg am vergangenen Abend bei ihm gewesen war; er
gab sich, als wäre er zufällig gekommen.

Seine Anwesenheit war Malte nicht willkommen. Er fürchtete, man möchte
voreilig von Jörgs Plänen sprechen. Doch Thomasius' Worte verrieten
nicht, daß er darum wußte, und schließlich war man hier bei ihm zu Gast.

Sie betraten den Treßschen Kirchenstuhl am Lettner, der im Volksmund
der goldene Präsentierteller hieß. Er lag der Kanzel gegenüber. Der
silberne Präsentierteller an der andern Seite des Altars war der Sitz
der Olrogges.

Das hohe Mittelschiff war vom Sonnenlicht durchgossen. Die
Säulenbündel, der buntbemalte Umgang, das hohe Chor mit dem funkelnden
Altarschnitzwerk, die Barockfiguren, die in gezierter Haltung den
Laienaltar umstanden, die Ambone, alles war von den fröhlichen
Strahlengarben belichtet und beglänzt, die der Frühling einer blut- und
tränengesättigten Erde schenkte.

Inmitten dieses heiteren Lichtspiels erschien die dunkle Menschengruppe
in Trauerflor und schwarzem Tuch wie eine düstere Mahnung des
Unvergeßlichen. Wären nur die strahlenden Augen Güldenfeys nicht
gewesen! Thomasius, der im Hintergrunde saß, beachtete, mit welchem
Entzücken diese Augen die reiche Fülle in sich tranken.

Auf dem Chor, wo die ihrer blanken Pfeifen beraubte Orgel türmte, regte
sich nichts.

Malte wurde ungeduldig. »Ich hoffe, er wartet nicht auf Onkel Rolf. Ob
er überhaupt hier ist?« wandte er sich an Harro.

Dieser antwortete mit einer Gebärde und blickte zur Orgel auf. In
diesem Augenblick setzte das Spiel ein. Ein Schrei, vor dem die Wolken
barsten, und noch einmal und noch einmal, hallend wie Gottes Stimme.
Und darauf die Antwort der Gründe, aufbrausend, sich überschlagend,
ein Donner in Tiefen, wo entfesselte Brände heulend die Felsenbande
sprengten.

Pastor Thomasius beugte sich vor und raunte den Namen des Tonstückes.
Niemand verstand ihn. Harro zog die Brauen in die Höhe. In Fraukes
Gesicht, das in seiner kühlen Gelassenheit gleichgültig dreingeschaut,
trat ein gespannter Zug. Güldenfeys Augen weiteten sich und wurden
ganz von ihrer Seele ausgefüllt. Sie sahen hilflos drein, als das
ungeheuerliche Widerspiel der Stimmen begann: das Auf und Nieder, die
Empörung und ihre Bewältigung, das brausende Halleluja des Sieges.

Malte stand auf, sprach einige Worte zu Frauke. Ihm war eingefallen,
daß er den Prokuristen, Herrn Häberle, mit den dringendsten
Unterschriften bestellt hatte. Er hatte in bezug auf Jörg seinen
Entschluß gefaßt.

Als seine Schritte verhallten, begann droben das Spiel aufs neue. Jetzt
war es etwas durchaus andres. Eine schmerzliche Klage ohne heldenhaften
Schwung. Die wehreiche wunde Zeit öffnete ihren Mund, das deutsche
Leid tat sich kund. Güldenfey preßte die Hand gegen die Brust: alles,
was sie während des verflossenen Winters empfunden, sprachen die Töne
aus. Die schmerzhafte Spannung bedrängte sie. Da quoll es von andern
Stimmen dagegen: O Lamm Gottes unschuldig, tröstlich beschwichtigend.
Sie weinte. Plötzlich fragte sich Güldenfey: Ist das wirklich Jörg,
der dort oben spielt? Ja, sie hatte ihn gehört, wenn er am Flügel
saß und stundenlang phantasierte, doch dies war mehr als Spiel. Sie
reckte den Kopf, doch der Spieler war von hier aus nicht sichtbar. Kurz
entschlossen verließ sie das Gestühl, ging leise im Seitenschiff bis
zum Orgelchor, die Treppe empor, tastete sich über Stufen bis an die
Ecke des Gehäuses und spähte.

Da saß Jörg, die Arme zu den Tasten erhoben, die Augen in eine
Ferne gerichtet. Er spielte, ohne auf die Noten zu sehen, und unter
seinen Fingern schwoll jetzt lauter der Bittgesang an, das =Agnus
Dei=. Eine süße Freude erfüllte sie. Sie war nie hier oben gewesen
und blickte nun scheu in die Fülle der Säulen, Bogen und Wölbungen.
War es nicht, als erwache unter den Klängen alles da unten, was in
steinernem Schlaf ruhte, die starren Heiligenbilder, die Kapitelle
und Schmuckstücke, die Grüfte in den Seitenkapellen und die gezierten
Altäre? Wer so hoch, dem Licht und dem Klang so viel näher, weilte, dem
mußte das Leben anders erscheinen.

Erbarme dich unser! Gib uns deinen Frieden!

Kränzten nicht die Strahlen den mißhandelten Leib des Herrn, der
am Triumphkreuz über dem Lettner schwebte? Hob nicht alles, was
Menschenhand drunten geformt, die Hände zu ihm empor? O ja, Güldenfey
verstand jetzt ganz. Sie hatte sehen wollen, ob Jörg diese Tonfülle
wirklich hervorrufen konnte, aber sie hatte mehr empfunden: sie hatte
einen Blick in seine Seele getan. Langsam kehrte sie zu den andern
zurück.

»Malte bittet euch, daß ihr zu uns kommt«, sagte Frauke, als Jörg die
Treppe verließ und zu ihnen trat.

»War Malte auch hier?«

»Er saß bei uns. Sahst du uns nicht?«

»Nein. Ich habe niemand gesehen. Ich habe eigentlich nur für mich
gespielt, Frauke.«

Sie entgegnete nichts. Harro äußerte seine Anerkennung in lauten
Worten, aber Jörgs Gesicht drückte Abwehr aus. Da schwieg auch
Thomasius.

Güldenfey hielt ihres Bruders Hand: »Du Lieber! -- Soll ich mit euch
gehen? Ich hätte wohl für Engelke noch etwas zu besorgen, aber wenn sie
dich nun bestürmen ...«

»Warum solltest du?«

»Du sagtest gestern, ich sollte zu dir stehen.«

»Bin ich dessen sicher?«

Sie nickte ihm zweimal bedeutsam zu.

»Dann geh ruhig deinen Weg, kleine Güldenfey. Mit alledem werde ich
schon allein fertig«, sagte er herzlich.

Pastor Thomasius schickte sich an, Güldenfey zu begleiten, und die drei
traten in das Haus am Markt.

In dem unteren Stockwerk, wo die Schreibstuben lagen, war ein
gedämpftes lebhaftes Treiben. Der alte Chef war begraben, es wehte
frischer Wind. Zwar bot die Zeit des Geschäftlichen nicht allzuviel.
Man stand abwartend, mit geneigten Köpfen da: Gesetze wurden über Nacht
aus der Erde gestampft, und hinter besetzten Grenzen plante feindlicher
Sinn das Verderbliche. Dennoch zitterte die Erregung in jedem Wort und
Tritt.

Malte entließ Herrn Häberle, als die Brüder eintraten. Er war sehr
freundlich und führte sie hinauf. Die Zimmer lagen im Sonnenlicht, das
sich durch die Spalten der resedenfarbenen Vorhänge schob. Malte zeigte
sich als der liebenswürdigste Wirt.

»Nein, setz' dich hierher, Jörg, dieser Stuhl ist bequemer! Und du,
Harro? So, du hast schon gewählt. Wollt ihr etwas genießen?«

Harro, der ewig Durstige, schien nicht abgeneigt, aber Jörg sagte so
bestimmt nein, daß er keinen Wunsch äußerte.

»Also reden wir zuerst!« fuhr Malte fort. »Dein Spiel! Es war einfach
packend, mein Junge. Ich versteh' nicht viel davon, aber das erste
Stück, das ich leider nur hörte, überzeugte mich, daß du etwas kannst.
Was war es denn?«

»Die =D-Moll-Tokkata=«, sagte Jörg.

»Wir wußten es ja, daß er etwas darin leistet!« bemerkte Harro.

»Doch das erwartete ich nicht. Woher hast du das nur?«

Harro strich mit den flachen Händen über die Armlehnen seines Stuhls.
»Mutters Erbteil!«

»Angenommen, ja! Aber dennoch ...« Malte erging sich weiter in lobenden
Worten.

Jörg saß still und hörte ohne ein Zeichen befriedigten Stolzes
zu. Ein Abglanz von der Ergriffenheit, die ihn während des Spiels
durchschüttert, war noch auf seiner Stirn. Er wartete auf das, was
kommen würde. So leicht gab Malte seinen Vorsatz nicht auf. Und es kam.

»Wir geben zu, lieber Junge, daß du in dir trägst, was dich zum
Künstler befähigt. Ich nehme auch den Zweifel zurück, daß es dir an
technischer Fertigkeit mangle. Ja, ich glaube, du besitzt beides. Aber
das wird jetzt nicht gefordert. Die bedrängte Zeit fordert Arbeit,
rechtschaffene Arbeit, die man in Verruf getan. Von Menschen deiner
Art aber, die sich in glücklicheren Tagen zu ihrer und andrer Freude
ausleben durften, fordert sie Opfer. Jeder, auch ich soll es bringen.
Von dir fordere ich es ebenfalls.«

Jörg hatte auf das Spiel der Stäubchen im Sonnenstrahl geachtet,
solange Malte sprach. Es waren gute Worte, die an ihn gerichtet waren;
sie machten ihm die Antwort schwer.

Jetzt richtete er sich auf und sah den älteren Bruder gerade an. Es
war, als wolle er sein Innerstes vor ihm aufschlagen. »Danke, Malte. Du
versuchst mich zu verstehen, das freut mich. Das Opfer, das ~du~
forderst, kann ich nicht bringen. Morgen kehre ich nach Schlesien
zurück, aber nicht zum Jus. Ich studiere Musik.«

»Ist das deine ganze Erklärung?« fragte Malte.

»Nein, Malte! Ich werde dir erklären, warum ich so handle. Versuch'
auch das zu verstehen. Auch ich will Deutschland helfen. Ich will aber
nicht, daß, wie du prophezeitest, das Geld der kommende Herrscher
wird. Dagegen werde ich wirken mit aller Kraft, denn das machte unsern
Untergang gewiß.« Er richtete sich herrisch auf. »Deutscher Geist unter
der verknöchernden Faust des Mammons! Wer beide kennt, sagt: Das ist
undenkbar! Jedoch ... Ich will dem deutschen Menschen zu seiner Seele
verhelfen. Weil er sie verlor, darum ist das alles über ihn gekommen,
diese Hetze, diese Verlassenheit, dieses Elend.«

»Hör' einmal!« rief Harro. »Warum wirst du nicht Theologe?«

Malte machte eine Bewegung, die ihm Einhalt gebot.

»Ich tu' es auf die Art, die mir gemäß ist«, fuhr Jörg fort.
»Wahrhaftigkeit, Einfachheit lehrt die alte Musik, sie wird von den
Leuten auch so verstanden. Mit meinen Mitteln will ich ihnen predigen.«

Malte stand auf, ging einige Schritte und setzte sich wieder. »Wie
kamst du eigentlich auf diese Idee?« fragte er.

»Darauf muß ich dir die Antwort schuldig bleiben. Das ist ein Erlebnis,
das mir sehr teuer ist.«

Etwas erschütterte Malte, etwas, über das er sich nicht Aufschluß geben
konnte. Es war nicht der Widerstand. Ein Treß ohne den eisernen Willen
wäre ihm undenkbar gewesen. Aber dieser Gegensatz! Diese bis in die
äußersten Wurzelfasern andre Art! Seit vierhundert Jahren sann man im
Treßhof auf Erwerb und Mehrung des Besitzes, und jetzt kam einer, der
von der deutschen Seele sprach. Kaufleute waren sie und als Nebenreiser
waren Seefahrer, Soldaten, Juristen dagewesen, aber nie Bücherhocker
und Phantasten.

»Deine Zeichnung bezog sich wohl auch auf meine Worte von Deutschlands
Zukunft?« fragte er.

Jörg nickte.

»Und du meinst, wir sollten arm bleiben?«

»Wir sollen mit Stolz tragen, was uns das Schicksal gab. Aber lieber
arm als unfrei.«

Wieder spürte Malte die Kluft vor seinen Füßen. Wie geriet der fremde
Geist in dieses Haus! Ob der Vater das geahnt hatte? Gewisse Anzeichen
deuteten darauf hin.

In diesem Augenblick trat Frauke ein. Sie blieb auf der Schwelle stehen
und sah kühl über die Brüder hin. Es war etwas in ihrer Erscheinung,
was Jörg reizte. Ihr seidig umrauschter Gang? Ihr nicht schönes,
aber in seiner Unbeweglichkeit sphinxhaftes Gesicht? Die unbeirrbare
Sicherheit ihres Auftretens? Er wußte nicht, was es war, er fühlte nur
bei ihrem Anblick, daß etwas in ihm sich angrifffreudig erhob.

»Ich glaubte, ihr wäret fertig«, sagte Frauke.

Malte ging ihr entgegen. »Noch nicht ganz. Aber, bitte, bleib hier!«
Er rückte ihr ritterlich den Stuhl. »Wir geraten in einen Streit über
die soziale Frage«, fuhr er fort. »Bleiben wir bei der Sache! Deinen
Standpunkt in Ehren, Jörg, doch ich sage dir, ein Treß kann nicht
Künstler sein. Ich bitte dich: gib es auf.«

Wie kommt ihm jetzt, da Frauke hier ist, dieser andre Ton? dachte Jörg.
Deckt er erst sein Innerstes auf, oder erstickt der Respekt vor seiner
Frau das brüderliche Verstehen?

»Nachdem ich dir Grund und Ziel meines Entschlusses dargelegt, ist es
unrecht, das geringzuachten, was ich sein will«, sagte er. »Du willst
mich bereden, daß ich mir untreu werde.«

»Du kannst deinen Idealen in jedem Berufe leben«, entgegnete Malte
knapp.

»Nein!« Jörg stand auf und reckte sich unwillkürlich. »Sag' es doch
getrost, Malte, es ist der ›Künstler‹, der dich ärgert.«

»Nun also, ja!«

»Danke! Du bist eben von den Ansichten deines Standes beengt. Wärst
du das nicht, würdest du wissen, daß der Name Treß vielleicht gerade
dadurch in eine höhere Rangklasse aufrückt.«

Harro lachte auf, auch um Maltes ernsten Mund glitt der Schein eines
Lächelns.

»Verzeiht, das soll kein Dünkel sein,« sagte Jörg, »doch ihr rubriziert
nun einmal, und darum sag' ich euch dies: Wir Künstler, die wir unserm
Beruf folgen und das Göttliche offenbaren, sind doch die Könige auf
Erden. Lacht bei euren fetten Suppen über unsre Wunderlichkeiten!
Schreit uns mit euren Autohupen an: Platz für uns! Laßt uns in Lumpen
hinter den Hecken verkommen! Wir sind doch die Träger dessen, was ihr
Kultur nennt. Keiner von euch kann uns unsre Würde entreißen, solange
wir dem Heiligen in uns treu bleiben.«

Er war wieder in den Sonnenstreifen getreten, sein Gesicht war von
außen und von innen durchleuchtet. Er trug in Wahrheit eine Krone.
Fraukes Augen staunten, Malte schien bewegt.

»Morgen in der Frühe fahre ich. Werden wir uns noch sehen?« Jörg war zu
ihm getreten und streckte ihm die Hand hin: »Ich weiß, du hast wenig
Zeit.«

Malte wußte jetzt: hier sind Worte übrig. Man sprach noch von
gleichgiltigen Dingen, etwas, das den Abgang vermittelte und
Unwiderrufliches abseits ließ. Dann gingen die Brüder. --

Malte stand am Fenster und blickte auf den mittaglich hellen Platz.
Drüben in der Reihe der Staffelgiebel die schwarzrötlichen Zacken des
Wülflamhauses. Hatte er nicht schon als Knabe geträumt, das Erbe dieses
trotzigen Geschlechts antreten zu wollen? Nicht einmal den störrigen
Knaben von zweiundzwanzig Jahren konnte er zur Vernunft bringen.

Er fühlte sich unterlegen wie noch nie. Die Kluft im Blut? Die neue
Zeit? Nein, da war noch etwas andres, ein Geist, den er bisher nicht
gekannt, der plötzlich Gestalt angenommen hatte. Wir sind doch die
Könige! Wir tragen allein das, was ihr Kultur nennt.

»Es ist ja Unsinn!« sagte er laut.

Ein Lachen kam aus dem Zimmer hinter ihm. Er wandte sich überrascht um.
Da saß Frauke, die Hand an die Wange gelehnt. Er hatte sie vergessen.
»Ich dachte, ich sei allein. Verzeih!«

»Es ist Unsinn,« sagte sie, »aber recht hat er doch!«

»Du meinst Jörg?«

»Ja, an ihn dachtest du doch.«

Malte erstaunte. »Du sagst, er habe recht?«

»Was er werden wird, ist nebensächlich. Eigentlich mag ich diese Leute
nicht. Ich kannte einige, die wuschen sich nicht genug. Aber daß Jörg
für das eintritt, wofür er die Fähigkeit besitzt, ist ehrenhaft. Du
wirst ihn auf seiner Bahn nicht aufhalten.«

Malte erstaunte noch mehr. War das nicht gegen sie gesprochen, was Jörg
da vorgebracht? Und sie achtete dessen großmütig nicht. Er empfand
diese Gerechtigkeit als ein Eintreten für seine Familie, auf die sie
immer ein wenig herabsah.

»Frauke!« sagte er dankbar und streckte die Hand nach ihr aus.

»Was ist?« fragte sie kühl. Nun, sie war jedem Gefühlsüberschwang
abhold. Augenblicke wie diese kamen, aber sie gingen schnell vorüber.
Immer hielt sie ihn auf Armeslänge von sich fern. Es ernüchterte ihn
nicht einmal mehr. Ihre Art war eben so frostig.

Er ließ die Hand, die sie nicht ergriffen, wieder sinken, aber er
begann zu ihr zu sprechen. »Ach, Frauke, es dringt jetzt zu viel auf
mich ein. Unser Vermögen stark verringert, die Brüder beide andrer
Arbeit zugewandt. Wir müssen wieder hochkommen, und ich bin allein!«

Das geringe Zeichen von Fraukes Anteilnahme öffnete ihm den Mund. Sie,
die eigentlich in einer andern Zone lebte und immer mehr betrachtend
als teilhabend auf das Treiben um sie blickte, ermunterte ihn nie.
Jetzt aber schien es Malte, als müsse er ihr als Dank geben, was jede
Frau als ihr Recht gefordert hätte.

Der Kornhandel, die Erwerbsquelle der Treß, war nicht mehr förderlich.
Die Zwangswirtschaft knebelte ihn, und das konnte noch lange andauern.
Man mußte andres versuchen. Eine Bank. Herr Häberle kannte die Art
der Geschäfte, und Onkel Rolf riet dazu. Man mußte Kenntnis haben von
dem Rinnsal des Geldes, das aus geheimen Gründen floß. Diese waren
wie Trichter, die zuzeiten alles in sich sogen und dann wieder eine
unersättliche Fülle von sich spien. Ein paar Dutzend Köpfe, vielleicht
nur drei oder einer, leiteten Flut und Ebbe, in der Völker ertranken
oder verschmachteten, die das Steigen oder Fallen der Verhängnisse
hervorriefen.

»Usadel! Julius Usadel! Hast du von ihm gehört?« Er sprach den Namen
leise und wie etwas Ehrwürdiges aus.

»Ich kenne ihn«, sagte Frauke. »Der Vater ...«

Sie vollendete nicht. Wer war er? Woher kam er? Keiner wußte es. Er war
da und herrschte. Herrschte lautlos, aber jeder sprach mit Scheu von
ihm, in Kalifornien wie an der chinesischen Mauer. Wenn es gelänge, mit
ihm anzuknüpfen! Es mußte gelingen. Freilich mußte das Haus, das er
würdigen sollte, auf breiterer Unterlage stehen.

Frauke sah verwundert auf ihren Mann, der, von seinem Gedanken
durchglüht, im Zimmer auf und ab schritt. Wie kamen ihm diese
weitreichenden Pläne? Er sah stattlich aus wie damals, als er in
Harvestehude um sie warb, seine Schönheit trug etwas Gebieterisches. So
mußten die Männer ausschauen, die die Töchter der Hanse freiten.

»Wir sprachen doch von Jörg«, sagte sie.

»Die Linie läuft hierauf aus«, entgegnete er. Er blieb vor ihr stehen,
sah sie an, und sie verstand sofort.

»Das heißt, du gebrauchst Geld für das Unternehmen?«

Er bejahte nicht, doch seine Haltung sagte alles.

»Ich werde mit meinem Vater reden!«

»Und du glaubst ...« fragte er zaghaft. Der genau bedingte Ehevertrag
fiel ihm wieder ein.

»Über mein Mütterliches habe ich freie Verfügung«, sagte sie.

»Frauke!« rief er überwallend und ergriff ihre Hand.

»Wie?« fragte sie. Sie sah ihn wieder kühl an und zog ruhig ihre Hand
zurück. Ein Schwärmer? fragten ihre Blicke. Sie neigte den Kopf ein
wenig und ging. Auf der Schwelle wandte sie sich noch um: »Du weißt,
Torheit in Geschäftswagnissen würden Vater und ich nie verzeihen.«

»Sei unbesorgt«, erwiderte er und lauschte beglückt auf das Klingen der
feinen Ringe, als sie den Arm hob, um die Perlfäden des japanischen
Türvorhangs zu spalten.

Er trat noch einmal an das Fenster und sah zum Wülflamhaus hinüber. Er
fühlte es, wie frei seine Stirn war. Ein Ausfall in seiner Berechnung!
Aber auf der Haben-Seite war ein Glücksfall zu verbuchen. Würde er die
Aussicht auf einen Erben bald danach eintragen können? --

                   *       *       *       *       *

Harro und Jörg gingen, um Güldenfey zu treffen. Es wehte ein herber
Wind, doch der goldene Sonnenmantel, der auf der einen Straßenhälfte
lag, wärmte angenehm. Harro war in Aufregung. »Dein Plan ist ja
verrückt. Statt ein sicheres Brot zu wählen, Musik machen und
Menschen bekehren! Diese Gesellschaft! Nun, du wirst sie bald richtig
einschätzen lernen. Und Malte hast du auch vor den Kopf gestoßen, daß
seine Pläne wanken. Aber alle Achtung! Geltend hast du dich gemacht.
Ein Treßscher Kopf bist du!«

Jörg ging neben ihm, hörte ihn an und sagte nichts. Harros Entzücken
kam schnell und brauste bald ab, das wußte man. Sie schritten an Sankt
Johannes Evangelist vorüber.

»Geh voran, Harro!« bat Jörg. »Wir treffen uns am Tor wieder.«

»Was hast du vor?«

»Entschuldige, ich muß einige Minuten allein sein.« Und er trat in die
Pforte, die zum Kreuzgang führte. Mochte Harro den Kopf schütteln, er
bedurfte der Sammlung. Das Spiel, in das er sich ganz verströmte, die
Auseinandersetzung, während der ihn die Kluft der Gegensätze nicht
minder als Malte erschüttert hatte, und jetzt ein fades Geschwätz!
Unmöglich.

Er ging unter den Arkaden des Kreuzganges auf und nieder. Der rankende
Efeu hatte das Dunkel der langen Winternächte angenommen, aber schon
reckten sich die jungen Triebe lebensdurstig auf die sonnenwarmen
Dachpfannen, und in den vier kahlen Lindenstämmen, die ihre Wurzeln
durch die Gräber namenloser Franziskanerbrüder trieben, pochte der
junge Saft des wachsenden Jahres. Nach wenigen Minuten der Stille
fühlte Jörg sich gesammelt und ging, den Bruder zu treffen.

Der stand am Tor im Gespräch mit Hans Olrogge. Er reckte seine breite
Hauptmannsgestalt, das Eiserne Kreuz am Gürtelstrich funkelte, sein
unbekümmertes Lachen scholl durch die Gasse. Die Werkleute, die zum
Mittagsmahl gingen und sich auf dem schmalen Steig an der Gruppe
vorüberzwängten, sahen mißtrauisch auf den Lauten, in dem sie den
einstigen Offizier witterten.

»Nun, Jörg, hast du dein stilles Gebet beendet?« fragte Harro, als sie
dem Hafen zuschritten.

Ob wohl in das Leben dieses Rauhen jemals etwas treten wird,
was sänftigend auf ihn wirkt? fragte sich Jörg. Vier Jahre
Landsknechtdienste in Blut und Rauch verhärteten den Besten, und nun
brauste das schartig machende Treiben der Partei auf ihn ein. Es war
schade um Harro.

Die kleinen Wellen liefen spielend gegen die Bohlenverkleidung des
Hafendammes, die Sonnenblänke lag glitzernd auf dem leise bewegten
Wasser. In der Ferne zog die Rauchfahne eines Dampfers, und einige
Fischerboote mit braunen Segeln strebten halb wider Wind auf die Stadt
zu. Eine Möwe stieß in den glänzenden Spiegel der See.

»Da kommt Güldenfey«, sagte Harro.

Sie hatte die Brüder bemerkt, und es schien, als winke sie ihnen, zu
eilen. Das Kopfsteinpflaster erschwerte das Gehen, aber Güldenfey ließ
sich davon nicht hemmen. Ihr frisches Gesicht glühte im Eifer.

»Ich habe etwas Seltsames erlebt«, rief sie. »Kommt, ihr sollt
teilnehmen; es ist so traurig.«

Und sie begann zu erzählen. Ein Schiff, aus den Ostseeprovinzen
kommend, war heute eingelaufen und hatte Deutschbalten mitgebracht.
Männer und Frauen, von allem Notwendigen entblößt, Kinder nur
notdürftig bekleidet.

»Denkt euch, die Seefahrt im Märzwind!« Güldenfeys Stimme zitterte. »O,
wie glücklich sind sie, daß sie deutschen Boden erreichten!«

Da waren zwei Frauen, mit denen hatte sie gesprochen. Sie waren den
Schrecken der Kerker entflohen. An der Grenze waren sie zurückgewiesen
aus kleinlichen Bedenken eines Formelkrämers. Wer trägt den
Geburtschein bei sich, wenn er der Gefangenschaft entweicht! Sie hatten
bei zwölf Grad Kälte die Nacht auf freiem Bahnsteig zugebracht, bis
sich ein Beamter ihrer erbarmte und sie an den nächsten Hafen brachte.

»Ich möchte ihnen gern helfen«, sagte Harro gutmütig. »Ich fürchte nur
...« Er griff dahin, wo seine Brieftasche steckte.

»Aber Harro!« sagte Güldenfey. »Es sind Damen. Die Junge ist die
Tochter des Professors Honterus; die Ältere ist ihre Tante. Sie
wissen nicht, wohin sie sollen. Jörg, hilf mir doch! Wir müssen sie
aufnehmen.« Sie hob bittend beide Hände. »Wir haben doch im Treßhof
Raum. Neben Oses Stube. Oder ...«

»Sei ruhig, Güldenfey«, sagte Jörg. »Geht es dort nicht, so bleibt noch
mein Zimmer. Wir nehmen sie sicher bei uns auf.«

Die meisten der Angekommenen, die ein kleiner Dampfer von der großen
Insel hergeführt hatte, zogen schon Quartieren zu, einige hockten
noch auf schmalen Kisten, in denen sie dürftige Reste des schnell
Zusammengerafften mit sich führten. Die beiden Frauen standen ein
wenig abseits; die ältere lehnte müde gegen den Haltstein, um den das
Schiffsseil geschlungen war. Die königliche Haltung der andern verriet
nichts von den Leiden, die sie belastet hatten. Sie hielt ein winziges
Päckchen, das man den Habelosen zugesteckt hatte.

»Ariadne!« sagte Harro.

Güldenfey eilte auf sie zu. »Meine Brüder!« erklärte sie.

Die Junge wandte sich und sah mit fragenden Augen auf die Herren.
»Ich heiße Marfa Honterus, dies ist meine Tante, Frau Staatsrat
Honterus. Wir sind auf der Flucht hierher ...« Sie sprach das wie ein
eingelerntes Sprüchlein mit etwas kläglichem Tonfall. Ungezählte Male
hatte sie das gleiche an Schaltern, Speisestätten und in Schreibstuben
gesagt, immer bittend, immer angstvoll, immer um die Antwort bangend.

»Ich hab' ihnen schon alles erklärt«, sagte Güldenfey und legte ihre
Hand mit dem Pelzhandschuh auf Marfas Arm. »O, Sie frieren, Ärmste!«
fuhr sie plötzlich fort, als sie die nicht bekleideten Hände ihrer
Schutzbefohlenen bemerkte, zog die Handschuhe ab und drängte sie ihr
auf.

»Liebes Fräulein!« sagte Marfa. Ein verirrtes Lächeln ging flüchtig um
ihren Mund. Es war in der Tat unmöglich, diese Gabe anzunehmen. Die
feingliedrige, schlanke Güldenfey und dieses Mädchen, deren Leib die
Natur mit den Formen einer Walküre ausgestattet hatte!

»Wickeln Sie sie um Ihre armen Finger«, sagte Güldenfey. »Bitte!« Wer
vermochte zu widerstehen, wenn Güldenfey bat!

»Wir haben schon alles besprochen. Sie gehen mit uns und bleiben fürs
erste bei uns. Sie müssen warm werden. Unsre alte Ose wird herrlich für
Sie sorgen, und ich auch ein wenig.«

»Liebes Fräulein!« sagte Marfa aufs neue. »Dieses Übermaß an Güte ...
Wir wissen wirklich nicht ... Sie haben Trauer ...« Ihr kleiner Mund,
der zaghaft mit dem harten Wortton der Balten das Deutsch formte,
verzog sich wie im Weinen.

Jörg trat vor. »Kommen Sie ohne Bedenken mit uns. Sie wissen nicht,
welche Freude Sie meiner Schwester machen. Wir alle freuen uns.«

Er sah sich nach Harro um. Warum schwieg der beharrlich? Harro stand
da und blickte das fremde Mädchen an. Seine laute Wortfertigkeit
versagte völlig. Der Wind nahm die Enden ihres Schleiertuches und hob
sie in die Luft. Sie griff danach und zog sie nieder. Ihm war, als
habe er sie schon einmal gesehen. Dieses dunkelbraune Haar mit den
bronzehellen Streifen, das ihr in schwerem Knoten gebunden im Nacken
lag; diese hohe schöne Stirn, die ein Paar nach innen schauende dunkle
Augen verschattete, diesen ragenden Wuchs, der den Frauen unvermischter
Geschlechter eignete. Wo lag die Stunde, aus der das Erinnerungbild
aufstieg?

Verträumtsein war Harros Sache nicht. Der Blick Jörgs rief ihn zurück.
Er besann sich auf die Pflicht als Kavalier, die er schutzlosen Frauen
schuldig war, und sagte ein paar verbindliche Worte.

Frau von Honterus war von Güldenfey die Einladung wiederholt worden.
In ihren Augen haftete das Entsetzen über das Furchtbare, das sie in
den letzten Monaten hatten sehen müssen: die Gewalttaten der zur Bestie
gewordenen Masse, die grausame Ermordung ihres Schwagers vor einem
Fleischerladen. Abels Blut schrie laut in ihrer Seele. Ihre Lippen
zitterten, da sie dankte. Güldenfey strich erbarmend über ihren Arm.

»Ihr Gepäck?« fragte Harro.

Marfa hob ein wenig das Bündelchen: »Dies und die Handtasche meiner
Tante ist alles, was wir retteten.«

»Und das Leben!« scherzte er.

»Ja, dies Leben!« entgegnete sie bitter.

Sie schritten voran. Jörg und Güldenfey, die Frau Honterus führten,
folgten ihnen. Harro machte seine Begleiterin auf die Schönheiten
der Stadt aufmerksam. Sie sah auf das, was er ihr wies, aber sie
antwortete selten mit einem Wort. Ihre Blicke gingen immer nach innen.
Er verspürte plötzlich ein starkes Verlangen, diese Seele, die sich
furchtsam in einem Winkel des herrlichen Körpers verborgen hatte,
hervorzulocken und sie in das Leben zurückzuführen.

Als Marfa in das Zimmer trat, das Güldenfey ihr bestimmt hatte, blieb
sie mitten im Raum stehen und blickte sich nicht um. Erst als das
Mädchen von außen die Tür einklinkte, fuhr sie auf, wie eine, die
ein Ton aus dem Schlaf schreckt. Da war ein Bett, da lag Wäsche
ausgebreitet, da war ein Ofen, der wärmte. Sie fiel in die Knie und
schluchzte hemmungslos. --

»Und nicht wahr, Ose,« sagte Güldenfey, »du hilfst mir für sie sorgen?
Denke nur, alles verloren. Du hättest sie sehen müssen, wie sie da so
verlassen standen! Alles vom Besten für sie.«

Die alte Schaffnerin nickte. Sie wollte dem Kind alles zuliebe tun, und
auch den armen Vertriebenen. Dieser Blick der Jungen hatte so etwas
Rührsames. Und wie gütig sie gesagt hatte: »Ich danke für Ihre Mühe,
liebes Fräulein Fink!« Was bedeutete nur dies, daß die eine Diele auf
dem oberen Flur seit heute wieder knarrte, wenn man auf sie trat?
Damals, als Güldenfey geboren wurde, war es so gewesen, und jetzt, kurz
vor der Krankheit des Herrn; sonst gab sie keinen Laut. Und nun heute
wieder. Klopfte der dunkle Bote schon wieder an? --

Als Jörg am nächsten Morgen sich anschickte, zum Bahnhof zu gehen,
erbot sich Harro, ihn zu begleiten. »Ich sollte wohl mit dir fahren,«
sagte er, »die Geschäfte der Partei werden dringlich, und sie rufen
schon nach mir. Aber ich kann nicht, weiß Gott, ich kann nicht!«

Jörg schwieg. Wenn Harro, der gewissenhaft seine Pflicht tat, sagte:
Ich kann nicht! so würde er Grund haben, zu zögern. Er spürte aber auf
dem Weg etwas Andrängendes, als wolle ihm Harro etwas sagen, für das er
nicht das treffende Wort fand.

Endlich stand er im Wagen am geöffneten Fenster und sah auf Harro
nieder, der sinnend vor sich hinblickte. Der Beamte, der das
Abfahrtzeichen geben sollte, ging vorüber.

»Wir werden uns bald wiedersehen, Jörg.«

»Schwerlich. Ich werde jetzt viel arbeiten müssen, Harro.«

Der Beamte hob die Scheibe. Die Brüder reichten einander die Hand.

»Trotzdem, mein Junge, du wirst bald wieder hier sein.«

»Warum?«

»Ich werde meinerseits Malte auch einen Strich durch seine Rechnung
ziehen. Du entsinnst dich, welchen Rat er mir gab: ich müsse eine
reiche Frau wählen. Nun, ich heirate keine andere als Marfa Honterus.
Bewahre dies noch für dich! Für den Sommer aber lade ich dich zur
Hochzeit ein.«

Er blieb lachend, winkend zurück. Der Raum zwischen ihnen wuchs. Trat
das Sänftigende so bald in Harros Leben?




                               Heilisoe


In Harro brauste plötzlich etwas vom Blut seiner Väter. Die stürmende
Welle kam aus entlegener Vorzeit, aus Tagen, da seefahrende Männer
die Frau von einer Insel raubten und ihr die Liebe und die Pflichten
des Herdes aufzwangen. Er war stets den Frauen gegenüber erhaben
aufgetreten: Bewundert mich, wie ich mit euch scherze! Mich mit einer
von euch verbinden, das liegt mir fern.

Jetzt brannte seines Lebens Saft und schuf ihm die Gewißheit, es müsse
etwas in ihm zerreißen, wenn er das fremde Mädchen nicht gewänne, das
in seinem Vaterhaus Zuflucht gesunden. Mit Wort und Blick umwarb er
sie, und die ihm selbst fremde Zärtlichkeit, die anfangs schonend auf
die hilflose Lage der Armen sah, wurde bald ein stürmischer Wettkampf.
Arbeit, Zeit und Raum waren für ihn keine Hemmungen: fast an jedem
Sonntag erschien er im Treßhof.

Und Marfa? Das Glück, aus der Hölle der russischen Gefängnisse erlöst
zu sein, nicht mehr stündlich die Hefe der Lebensbedrohung trinken zu
müssen, hatte nichts Beseligendes für sie. Sie war wie eine, die aus
der Flucht finsterer Schächte in das überströmende Licht des Mittags
tritt und die von der Blendung so überwältigt wird, daß sie für alle
Reize unempfänglich bleibt. Die bis in ihre Tiefen erschöpfte Seele
fand weder Wort noch Lächeln.

»Fräulein Fink, wie lieb Sie sind! Ach, so gut tun Sie mir, liebe
Güldenfey!« Aber das kam bewußtlos von den Lippen einer, die noch
abwesend war.

»Die Augen sehen noch rückwärts,« sagte Güldenfey, »wir müssen sie ins
Leben locken, Ose.«

»Ja, Kind, das kannst nur du. Ich saß gestern bei ihr und ließ sie ganz
in der Stille von guten Gedanken streicheln. Fragt sie plötzlich:
›Gibt es Brunnen in dieser Stadt?‹ Sah ich sie an und wußte nicht,
was sie meinte. ›Hat nicht jede deutsche Stadt fließende Brunnen?‹ Da
erzählte ich ihr, daß wir einmal auch quellende Brunnen hatten. Bei
der Apollonienkapelle, die als Sühne für den Pfaffenbrand gebaut war,
hat einer sich aufgetan, zu dem sie wallfahrteten. Aber das ist jetzt
vorbei. Fragt sie nach einer Weile: ›Ob versiegte Brunnen wohl wieder
aufwachen, Fräulein Fink? Ich meine hier drinnen?‹ Und zeigt auf ihre
Brust. Nun, da hab' ich sie trösten können. Aber was der alte Mensch
dem jungen sagt, das geht spät auf. Helfen magst du allein.«

Am Palmsonntag brach der Brunnen in Marfa Honterus auf. Sie hatte neben
Güldenfey im goldenen Präsentierteller gesessen. Pastor Thomasius hatte
machtvoll gesprochen, vom bitteren Leidensweg, auf dem sich stets einer
einstelle, der dem Gequälten das Kreuz eine Strecke weit abnehme.

Als sie die Kirche verlasen hatten, griff Marfa ihrer Gefährtin Hand.
»Ich wollte sie küssen, diese Hand, die mein Leid abnahm, doch es wäre
wohl nicht schicklich gewesen.«

»Ich?« fragte Güldenfey. »Ich?«

Da stand Harro vor ihnen. Er war früher gekommen, als er sich
angesagt hatte, und in seinem Gesicht glänzte die Freude, als er die
Überraschung der Mädchen sah. Während er mit Güldenfey sprach, blickte
er Marfa an. Eine Blutwelle färbte ihre blasse Stirn, und sie wandte
sich ab.

Was half es, daß sie sich ihm entzog und ihre Seele vor ihm floh! Was
bedeuteten alle Einwände der Vernunft: Sollte ich Mittellose mich in
das begüterte Haus drängen und Bedenken erregen? Das Schicksal hatte
längst seinen Spruch gefällt, und sie mußte gehorsamen. Harro nahm sie,
und der Frühling war sein Helfer. Noch am Abend dieses Tages sprach er
mit ihr, und zitternd, willenlos ergab sie sich. Eine Stunde später
weinte sie in Güldenfeys Schoß ihre Bangnis aus.

Güldenfeys Hände glitten leise über das braune gewellte Haar. »Warum
nur klagen?« sagte sie innig. »Es ist ja so schön, ganz wunderschön!
Wie freue ich mich, daß ich eine Schwester habe!«

»Es kam so jäh, es hat mich erschreckt.«

Die feinen Hände strichen auf und ab. In diese Stunde gehört eine
Mutter, nur sie vermochte zu sagen, für das keins das einzige Wort
fand. Wie fern lag das versunkene Grab!

»Aber ...« Güldenfey nestelte an ihrem Hals und zog den blauen
Veilchenstein am Kettlein hervor. »Den mußt du tragen diese Nacht und
wirst ruhig werden«, sagte sie. »Er ist von meiner Mutter. Es sind
heilende Kräfte darin.«

Und sie streifte Marfa das Angebinde über.

Der Brunnen brach auf. Waren wirklich Segensmächte in dem Amulett?
Löste das Ereignis verborgene, verirrte Ströme in dem jungfräulichen
Blut? Marfa ward eine andre. Ihr Blick wagte sich in das Leben, das vor
ihr lag, und fand hier und dort ein wenig Glanz. Und allmählich kam ein
schüchternes Lachen in ihr auf. Vor allem: ihre Liebe, die lange des
Anhauchs aus Menschenmund gewartet, brannte wie eine Fackel. Endlich
war gekommen, für das sie leuchten durfte, ein Zweck, eine Aufgabe
war da. Hemmungslos legte sie sich in der Gewißheit des Geborgenseins
in die werbenden Arme und wirkte an ihrer Hingabe wie an einem bunten
Teppich, den sie vor Harro ausbreitete.

Wenn die Rosen blühten, sollte Hochzeit sein, so hatte es sich Harro
gewünscht, und so geschah es. Güldenfey hatte alles vorbereitet, und
Ose sorgte wie eine Mutter. Seit dem Augenblick, da Marfa sich mit
Jawort und Kuß Harro verlobt hatte, war sie für Ose eine Treß.

Malte nahm die Mitteilung von des Bruders Entschluß schweigend auf.
Es war etwas in Harro erwacht, das jeden Einwand ausschloß. Malte
hatte Frauke um ihre Meinung befragt; Frauke hatte nur stillschweigend
die Schulter gehoben. Es lohnte nicht, feststehenden Dingen andre
Möglichkeiten zu geben.

Aber die Hochzeit! Daß Marfa sich ausgebeten, die Feier möge ganz
schlicht vor sich gehen, wollte ihm nicht gefallen. Ja doch, die Zeit
gebot Beschränkung, und was hinter der Braut lag, verlangte Stille.
Überdies war das Trauerjahr geltend. Doch dieser Zwang quälte ihn.
Gern hätte er der Welt gezeigt, daß es sich die Treß leisten konnten,
eine arme Verstoßene zu freien. Er sah von seinem Fensterplatz zum
Wülflamhaus hinüber. Wieviel Ellen flandrisches Tuch hatte der zähe
Bertram dem Ratsverbot zum Trotz von seiner Tür bis nach St. Niklas
legen lassen für seines Sohnes Hochzeitsgang?

Jörg kam, und Engelke hatte sich ausgebeten, als letzten Dienst im
Treßhof das Festmahl herzurichten. Am Tage darauf sollte sie ihr
Stübchen im Heiligen Geist beziehen.

»Und habe ich sie dort untergebracht, dann fahren wir nach Heilisoe«,
sagte Güldenfey. »Du sollst ein paar Ferientage haben, Jörg, du siehst
angestrengt aus. Wir beide streifen durch die Insel, und wenn wir bei
den verlorenen Steinen unter den Klippen sitzen, erzählst du von deiner
Arbeit.«

Die kleine Kapelle von St. Annen und Brigitten war ein Rosenhag. Gelb
und weiß und rosa und blutrot lag es auf dem Altar, wand es sich um
Sessellehnen und Empore, quoll es aus Gläsern und Behältern. Konnte der
Garten Güldenfeys diese Fülle von Rosen hergeben?

Sie lächelte, als man sie fragte. Die Herkunft der Rosen war ihr
Geheimnis. Die Schwester, die Harro heut verbunden wurde, sollte durch
eine Wolke von Duft in das neue Leben schreiten.

Frau Honterus saß wie im Traum unter denen, die des Paares harrten. Sie
hatte eine Heimat bei Verwandten im Süden des verstümmelten Deutschland
gefunden, die Kinderlose würde das Kind hier zurücklassen, mit dem sie
gemeinsam den bitteren Bodensatz des Lebens getrunken. War es Glück?
War es eine neue Stufe in tränenschwerem Läuterungsweg? Sie sahen alle
so fremd darein, diese nordischen Menschen. Freundlich waren sie, und
keiner stand hinter dem andern an Beflissenheit zurück. Und doch! Eine
sorgende Angst stieg wieder in ihr auf. Da sah sie, wie Güldenfey ihr
zunickte. Ja, es würde alles gut werden.

Nun zog das Paar ein. Jörg blickte etwas unruhig zu der alten Orgel
empor, die sich mühte, mit ihren pfeifenden Lungen und verstaubten
Zungen einen fröhlichen Hymnus anzustimmen. Aber der Anblick des
bräutlichen Paares fesselte ihn so, daß sein Ohr die Kränkung schnell
verwand. Wie gingen die beiden heiter durch den Gang, der mit Blumen
und Sonnenlichtern bestreut war! Wo du hingehst, da will ich auch
hingehen; dein Volk ist mein Volk; wo du bleibst, da bleibe ich auch!
Selbst Frauke hob das Tüchlein an ihre Augen, und Malte, der heute die
Abzeichen seines Konsulamtes trug, wurde unruhig, als Pastor Thomasius
seine Rede begann und mit warmen Worten an verborgene Saiten rührte.

Jörg mußte lächeln. Güldenfey saß so hingegeben da, als erlebe sie
ihre Vermählung voraus. Ihre Blicke hingen mit dem Ausdruck völligen
Vertrauens an dem Sprechenden, ihr Mund blühte wie aller Rosen
schönste. Wo du hingehst ... Sah sie in der Ferne schon den Faden ihres
Weges? --

Am nächsten Tag sammelte Güldenfey die frisch erhaltenen Rosen aus.
Diese bekam Telge zum Schmuck des Bootes, das Harro und Marfa nach
Heilisoe brachte; diese trug sie in das Alterstübchen Engelkes, in
das sie die Alte mit Jörg gegen Abend führte. Drunten am Binnenhafen
hinter kleinen Häuschen, vor denen Wagnergerät den Weg sperrte, lag
der Heilige Geist, ein Gewirr von spitzgiebligen Dächern, Rasenflecken
und Fachwerkgemäuer, das nach einer Seite die hohe Mauer der einstigen
Befestigung abschloß, und auf das der kleine Turm der Geistkirche
überlegen und keck herabsah. Gleich hinter dem Tor aber war der
Klosterhof, dieser stille, einsame Gang mit den hölzernen, einen Umgang
stützenden Säulen, mit den für den Ablauf des Regenwassers schräg
gelegten Steinplatten und der Doppeltreppe. Immer strich ein kühler
Wind durch diesen Hof, immer traten, sobald Schritte in ihm erklangen,
die Alten an ihre Tür.

Jörg blieb vor der Tür stehen und las, was darüber eingemeißelt war.
»Sieh doch, Engelke, du trittst aus einem alten Haus in das andere«,
sagte er. »Dort oben steht: Diese Wohnungen des Heiligen Geistes seindt
erbaut 1643. Was sagst du jetzt?«

Doch die Alte erwiderte nichts, sondern nickte nur und folgte Güldenfey
in den Säulenhof. Sie achtete auch der neugierigen Gesichter nicht,
die rechts und links erschienen, blieb vor ihrer Tür stehen, bis Jörg
umständlich aufgeschlossen hatte, und trat dann durch den halbdunklen
Vorraum in die freundlich geschmückte Stube, wo sie sich in dem
Lehnstuhl am Fenster niederließ.

»In Gottes Namen denn!« sagte sie und legte feierlich das Neue
Testament auf den Nähtisch.

»Gefällt es dir?« fragte Güldenfey, die Kammer und Stübchen
hergerichtet hatte.

»Viel zu fein für mich«, sagte sie und sah sich um. Sie behielt
den kleinen Hut mit dem ewigen Veilchenstrauß, der im Sommer den
Strohkapott und im Winter den Samtkapott zierte, auf dem Kopf, als sei
sie nur auf Besuch hier.

»Wenn ihr mich einmal hier forttragt, braucht's so viele Rosen nicht«,
fuhr sie fort und streichelte dankbar Güldenfeys Hand.

Sie mußte nun alles beschauen, was Güldenfey eingerichtet. Sie tat es,
ohne eine Miene zu verziehen. Ja, es war sehr schön, die Liebe, die
ihre Treue geweckt, würde sie hier wärmen, aber heimisch würde sie sich
nicht fühlen. Ihr Mutterboden lag da, wo der Treßhof an die Stadtmauer
stieß, wo der Blick aus dem Mansardenstübchen über die Teiche ging und
die Sperlinge in wildem Wein und Efeu lärmten. Vierzig Jahre tagaus,
tagein auf der gleichen Stelle. Wen zöge es nicht beständig dahin
zurück!

»Ihr fahrt nun nach Heilisoe?« sagte Engelke.

Ja, sie wollte auf der Insel, wo sich jetzt der Sommer auftat, eine
Woche verweilen, bis Harro und Marfa von Schweden zurückkehrten.

»Ich bin so glücklich, daß wir unser Sommerhaus in Heilisoe behalten«,
sagte Jörg. »Malte wollte auch das aufgeben.«

Engelke horchte auf. »Wollte der Konsul das? Nun, es ist gut, daß er es
nicht getan. Es wäre eine Sünde.«

»Warum Sünde?« fragte Jörg.

Sie berichtete, was Fräulein Fink ihr erzählt: Vor langer Zeit sei die
Herrschaft von Heilisoe in die Stadt gekommen. Die Vorfahren seien dort
Fischer gewesen, deshalb wären im Wappen der Herrschaft zwei Fische bis
auf den heutigen Tag.

»Aber warum sollte es Sünde sein, wenn Malte das Haus verkauft hätte?«
fragte Jörg.

Die Alte schüttelte den Kopf, als begriffe sie die Frage nicht.
Plötzlich legte sie die Hand auf das Testament. »Es ist dort eure
Heimat«, sagte sie. »Von Heilisoe seid ihr gekommen, nach Heilisoe müßt
ihr immer wieder zurück. Die Heimat darf keiner aufgeben.«

Güldenfey fiel es erst, als sie zum Aufbruch liebevoll mahnte, auf, daß
Jörg vor sich hinsann. »Er hat wieder eine Melodie gefunden«, sagte sie.

»Die schönste, Güldenfey«, entgegnete er.

Es war ein Abschied, als sollten sie sich nimmermehr wiedersehen.
Engelke stand in ihrer Tür, hatte den Mund hart geschlossen und sah den
beiden mit starren Augen nach. Da gingen sie hin, und sie blieb hier.
Sie würden wiederkommen, doch sie würde immer hier stehen und ihnen
nachblicken ...

»Wirst du mir deine Melodie vorspielen?« fragte Güldenfey.

Aber Jörg antwortete nicht.

»Nach Heilisoe müßt ihr wieder zurück. Hast du sie dabei angesehen,
Güldenfey? Sie sah aus wie eine Sybille.«

                   *       *       *       *       *

Telge stand am Steuerrad und lenkte das Motorboot aus dem stillen
Hafen. Es ging wieder auf Fahrt, es gab wieder zu tun. Dieser
vergangene Winter und die Krankheit des alten Herrn hatten ihn seinen
Bootsmannsberuf nicht ausüben lassen, seit er im Dezember aus dem Felde
heimgekehrt war. Diese Handlangerdienste und Notknechtsarbeiten hatten
ihm wenig behagt. Daß du die Motten kriegst! Er blickte verstohlen nach
seiner jungen Herrschaft und spie über Bord.

Mellin sagte, er habe sich das Lügen abgewöhnt, wenn er von seinen
Heldentaten erzählte: Marne, Galizien und Verdun! Was half's! Man
hatte doch etwas erlebt. Die Brocken von Volksbeglückung und sozialer
Befreiung, die durch alle Mäuler gingen und denen jeder Schwätzer seine
Weisheit beimengte, waren nicht nach seinem Geschmack. Zeigt erst, was
ihr könnt, sorgt vor allem, daß Brennstoff für den Motor da ist. Daß
ihr die Motten kriegt! Und Telge spie wieder über Backbord und strich
dann zärtlich seinen neu sprießenden Bartkranz.

»Sieh doch, Jörg!« sagte Güldenfey. »Nein, vor uns.«

Er hatte das Bild der hinter ihnen versinkenden Stadt betrachtet,
dieser trutzenden Stadt mit den gewaltigen Massen der Backsteingotik,
die Bürgerfleiß in wenig Jahren aufgetürmt hatte.

»Vor uns?« fragte er.

Ja, das Gewölk, das Güldenfey immer wieder betrachtete! Am westlichen
Teil des Sehkreises dieser ernste bläuliche Streifen wie eine drohende
Not und darüber als tröstliche Verheißung der helle Wolkenfächer,
über den die Sonne blitzende Speere schleuderte. Links tauchte schon
Heilisoe auf. Die Insel ruhte weit gestreckt wie eine Badende auf der
schimmernden Flut.

Die weißen Hütten der Fischer von Neudorf, ängstlich gegen die Winde
an den kargen Boden gepreßt und umduftet vom Würzhauch der Heide, ohne
Busch und Baum. Weiter die roten Dächer des zweiten Dorfes, und hinter
diesem das Kloster und das hoch aufschwellende Dünenland, das die
Gräber vergessener Hünen mit ihrem sagenhaften Goldschmuck barg.

Güldenfey stand vorn im Boot. Stets aufs neue empfand sie den Zauber
des Eilands, immer löste der Anblick das gleiche Entzücken in ihr
aus. »Ach, Jörg, sieh doch nur! Engelke hat recht, und du hast recht:
Heilisoe darf uns nicht genommen werden.«

Telge lachte, als er das Wort hörte, das der Wind ihm zutrug. Man hatte
im Hof schon davon gesprochen, daß der Konsul das schöne Landhaus auf
der Insel verkaufen wolle. Dann wäre er übrig gewesen. Doch wenn die
beiden jungen Herrschaften dagegen waren, war seine Stellung gesichert.
Zufrieden nickte er und ließ das Boot in kühnem Bogen an das Bollwerk
laufen.

Es war alles wohlhergerichtet im Inselhaus, das zwischen Erdwällen
im Schutz des Nadelwaldes lag. Von seinen Fenstern sah man nach drei
Richtungen die blauen Augen des Meeres leuchten, und gegen Mitternacht
harfte der Wind in den Föhren.

Aber Jörg und Güldenfey waren nicht oft im Haus, denn der Himmel war
voller Gnaden und segnete mit Sonnenschein des Eilands kurze Blütezeit,
aus deren Nächten selbst das Dunkel floh.

Wie war jetzt die Zier dieses nordisch-armseligen Pflanzenlebens
so reich! Von der Ginsterblüte ganz zu schweigen, deren Gold an
allen Hängen, in jeder Sandmulde prahlte. Aber da blühten heimlich
zwischen kriechendem Wacholder und stachligem Ölweidenstrupp die
winzigen Erdbeeren und unendlich zarte blasse Federnelken. Da, wo die
silbernen Möwen rasteten, stand starr die glänzende Strahlenkrone der
Stranddistel, und Gräser neigten ihre Rispen unter dem Flug des Windes.
Die Fetthenne lag wie ausgestreutes Gold auf dem Sand; um Hundszunge
und Natterkopf flogen winzige Schmetterlinge, blau wie Lapislazuli, und
die Schaumflöckchen der Zikaden schimmerten wie Schnee.

Vor allem aber die Rosenbüsche! Güldenfey kniete ehrfürchtig bei einem
jeden nieder, den sie in den Tälern des welligen Geländes traf. Diese
seltsamen Rosen der Steppe, die von der herben Feuchtigkeit der Seeluft
lebten und deren Duft nicht aus dem blaßroten Kelch, sondern aus den
Flächen der grünen Laubblätter stieg, sobald man an sie rührte.

»Sind sie nicht wie ein Wunder, Jörg?«

»Das Wunder der heiligen Armut«, sagte er.

Sie sah verwundert zu ihm auf. »Jörg, du sagst oft so seltsame Worte.
Hinter ihnen ahnt man immer etwas Feines oder Tiefes. Ist dies das
Geheimnis der Kunst?«

Er schwieg einen Augenblick, dann reichte er ihr die Hand zum
Aufrichten.

Sie stand vor ihm und sah ihn erwartend an, und seine Augen glitten
über das lichte Blond ihres Haares, über das schmalfließende weiße
Mädchenkleid. Du Rose! dachte er.

»Komm mit!« sagte er. »Du sollst das Geheimnis meiner Kunst wissen, du
ganz allein. Ich strebe, das zu werden, was du bist.«

»Jörg!« rief sie erschreckt.

»Höre mich an, Güldenfey! Meinst du, die Technik des Handgelenks macht
es oder der kühne Gedanke? Das kommt ganz von selbst. Aber ich muß ein
von Liebe zur Menschheit glühendes Herz haben, sonst klingt unrein
wieder, was Gott in mich hineinsprach. Eitelkeit, Ehrgeiz ersticken;
darum ist so viel Papier und Lärm in der Welt. Verstehst du das?«

Sie schüttelte ängstlich den Kopf.

»Du bist ein höherer Mensch, du bist ganz Liebe«, sagt er. »Dein Wesen
ist wunderschöne Musik. Wenn ich meine Kunst nicht mehr üben, sondern
sie wie du leben kann, dann ist sie echt.«

Güldenfey sah mit abgewandtem Gesicht über das Meer. »Und das ...?«
fragte sie.

»Das ist das Wunder der Armut«, antwortete er. »Losgelöst vom Schein
und Scheinhaften, fern von dem, was diesen kläglichen Reichtum des
Erfolgs verspricht; nur der Liebe dienen, weil sie verpflichtet.«

Sie legte beide Hände auf ihr klopfendes Herz. Sprechen konnte sie
nicht. Wie weiß er das alles? dachte sie. Wie kommt das alles in ihn?
Uns Menschen des werkenden Blutes liegt das doch fern. --

Diese Abende auf Heilisoe waren unbeschreiblich. Der Himmel war das
Spiegelbild der Zeit: eine große klaffende Wunde, und unter ihm
lagerte tiefblaues Gewölk wie eine steinerne Schale, deren Rand in
gehämmertes funkelndes Silber gefaßt ist, die feierlich das tropfende
Blut empfängt. Der Wind wellte die Wasser wie ein zartes Frauenkleid
und schrieb auf die Fläche krause Zeichen, die bald zerrannen. Dann
spaltete sich das Licht des Abends in flammendes Orangengelb und
dunkles Veilchenblau, und die Schatten verdichteten sich um die Segel
der Fischerboote, die in der Ferne wie große Vögel schwammen.

So sahen sie es von den Hünenhügeln aus, wo um die Stelle, da der
Opferstein gestanden, am Fuße eines uralten verkrüppelten Weißdorns die
Sternmiere blühte.

»Weißt du es auch, Jörg?« fragte Güldenfey leise.

»Was soll ich wissen, Kind?«

»Das von Balzer Treß, dem Fliegenden Holländer?«

»Ich habe einmal flüchtig davon gehört«, sagte er zerstreut. »Es ist
lange her. Erzähle!«

Aber Güldenfey verschloß sich. »Morgen gehen wir an das Grab der
goldenen Heiligen, dort will ich sagen, was ich von Ose darüber hörte.
Man muß gesammelte Sinne dafür haben.«

Der Hügel, den sie das Grab der goldenen Heiligen nennen, lag mitten
im bestellten Acker. Wildbirne, Ahorn und Eiche boten den Vögeln
Nistzuflucht, und gelbe Wicken wuchsen am Fuß der Erdhöhung, unter der
die besonders Erwählten der Zisterzienserbrüderschaft ruhten.

Im Schatten dieses in Stille gebetteten Gehölzes lagen sie, und dort
erzählte Güldenfey. Jörg hatte den Kopf in die Hand gestützt. Der rote
Ampfer auf dem fernen Hügel, der blaue Saum der See erregte sein Auge,
aber seine Seele fuhr mit dem Ruhelosen durch die Wüste der Meere ...
Irgend etwas gestaltete sich in ihm. Er atmete tief. Wo geht der Weg
nach Heilisoe?

»Es ist wunderbar, Güldenfey«, murmelte er.

Sie schob sich näher an ihn. »Das Wunderbare ist dies, Jörg: Malte
sieht ihm ähnlich. An dem Abend hab' ich es gefunden. Er hat auch
soviel Unruhe in sich, er will erwerben, immer erwerben. Du kennst
seine neuen Pläne. Glaubst du, daß Vorgänge in einem Geschlecht sich
wiederholen können?«

»Alles wiederholt sich.«

»O Jörg, wie furchtbar! Möchtest du nicht mit ihm einmal reden?«

Er richtete sich auf. »Ich, Güldenfey? Nein. Wir verstehen einander
nicht, besonders würde er mich nicht begreifen. Äußerlich ist ja
zwischen uns alles geschlichtet. Wir Treß halten zusammen. Doch in
seinen Augen bin ich ein Narr.«

Seit diesem Morgen war etwas über Jörg gekommen, das Güldenfey endlich
auffiel. Warum sah er sie so fragend an, als sie ihm am Strand, wo
zwischen den großen Blöcken das Wasser quirlte, den honiggelben
Blasentang wies, der sich an einen winzigen Kiesel klammerte, um diesen
als Lot und Ballast für seine Fahrt zu benutzen?

Sie fragte, was er denke.

»Ich dachte an dich, Güldenfey«, sagte er. Und als sie ihn erstaunt
betrachtete: »Ich fürchte, es könnte sich einer so an dich klammern.
Malte mag seinen Weg gehen und Harro auch. Du aber hast deine eigene
Richtung. Sie sollen dich nicht um irgendwelcher Pläne willen
herausdrängen.«

Er faßte zärtlich bittend ihre Hand. Sie verstand ihn nicht und zuckte
hilflos die Schultern.

Da sagte er ihr, daß Onkel Rolf nach dem Hochzeitsmahl in erwärmter
Stimmung Malte den Vorschlag gemacht habe, seinen Sohn Klaus, der als
abgedankter Hauptmann neue Tätigkeit suche, in die Firma aufzunehmen.
»Er sprach unumwunden aus, Klaus wolle dich heiraten.«

»Und was sagte Malte?« fragte sie.

»Malte äußerte sich vorsichtig wie bei jedem neuen Geschäft.«

Plötzlich begann Güldenfey zu lachen. Sie stellte sich Klaus vor, wie
er in seinem tadellosen Zivil durch die Straßen ging, mit verdüstertem
Gesicht sorgfältig um jede Wasserlache herumstieg. Seine schlaffen
roten Wangen, seine niedergezogenen Mundwinkel! Sah er nicht aus wie
ein Schauspieler, der in seiner Glanzrolle ausgepfiffen war und der nun
die Welt ob ihres Undanks verklagte?

»Was meinst du?« fragte er.

Sie lachte noch immer. »Laß doch das, du großer Junge! Verlohnt es sich
denn, davon zu reden?«

Er war beruhigt. »Aber ruf mich, wenn sie dich bedrängen«, sagte er.
»Die eines Geistes sind, sollen beieinanderstehen.«

Jörg ging, etwas zu holen, was er im Hause vergessen hatte. Güldenfey
sah ihm nach, wie er auf dem schmalen Steig in der Svantevitbucht die
Dünen emporklomm.

Wir, die eines Geistes sind! Ja, waren denn Jörg und sie wirklich andre
als die älteren Brüder? Hatte alle nicht ein Schoß getragen? Waren sie
vier nicht unter dem gleichen Herzschlag dem Leben zugewachsen?

Das glasgrüne Wasser spülte über die Kuppen der Blöcke und fuhr
gurgelnd um die kantigen Flächen. Wie von Riesenfäusten geschöpft, floß
der Gischt über sie hin. Die sich wider ihn stemmten, schliff er in
geduldiger Arbeit glatt, die abgewandten blieben rauh. Es war hier wie
im Menschenreich.

Sie sah auf, ob der Bruder bald wiederkehre. Das Gefühl einer
zärtlichen Verbundenheit erwärmte sie. Ja, sie und er gehörten
zusammen, sie spürte es ganz deutlich. Sie mußte ihn fragen, wie es
möglich war, daß er dieses Unterschieds sich bewußt geworden.

Doch als er kam und von andern Dingen sprach, hielt sie die Frage
zaghaft zurück. --

Und an einem Nachmittag trafen Harro und Marfa ein. Telge hatte die
große Flagge gehißt und sah bewußt auf die junge Herrschaft, die das
Boot am Bollwerk erwartete, als erwarte er besonderes Lob.

Wie hatte ihr junges Frauentum Marfa verändert! Ihre Hingabe an den
Mann prägte jedes Wort und jeden Blick, und sie ging nicht von seiner
Seite. Sie sollten im Treßhof wohnen, aber Harros Wirkungsfeld war die
Hauptstadt. Er sprach davon, daß er bald abreisen müsse. Die Angst, sie
solle ohne ihn sein, stand wie ein Gespenst hinter jeder ihrer blumigen
Stunden.

»Nicht wahr, Güldenfey, du wirst sie trösten?« fragte Harro.

»Aber ja!« sagte Güldenfey und liebkoste Marfas Hand. »Denk nur, Marfa,
er kommt oft herüber. Und jedesmal die Freude des Wiedersehens!«

»Und jedesmal ein Abschied!« sagte Marfa.

Harro war in fröhlichster Laune. Es gefiel ihm, daß er die Seele seiner
Frau ganz erfüllte, und seine Worte wurden wieder von dem lauten Ton
getragen, den während der Brautzeit ein bittendes Werben gesänftigt
hatte.

»Marfa kann jetzt richtig lachen, ich hab' es sie gelehrt«, rühmte er.
»Paßt auf, ich will es euch beweisen.«

Sie standen auf der überdachten Terrasse, Harro ging und kam bald
darauf mit Telge zurück.

»Telge wird uns den Panitzenschuhtanz vorführen«, erklärte er. »Nun,
Telge, zeigen Sie, daß Sie noch mehr können als steuern.«

Und Telge hockte nieder, sprang und sang in seiner Mundart, wobei er
fortwährend seine Schenkel schlug: »Juchhe, Panitzenschauh! Juchhe,
Panitzenschauh!«

Er war sehr komisch, und Marfas Lachen erscholl wirklich herzhaft, aber
sie blickte dabei Harro an, ob er nun zufrieden sei. --

Ein selbstverständliches Gefühl ließ Jörg und Güldenfey am nächsten
Tage weiter ihre stillen Wege suchen. Auf dem Vogeleiland, einer
Heilisoe vorgelagerten flachen Erdwelle, waren sie noch nicht
gewesen, dorthin wollten sie, bevor Jörg abreiste. Der dürre Sand
war mit bleichen Kieselbrocken durchmengt, der Wind bog das harte
Strandgras und schrieb mit den Spitzen wie mit Griffeln seltsame
Zeichen in den Sand. Strandläufer und Kiebitze schrien kläglich, und
emsige Spinnen, winzig klein, hasteten über Vogelspur und um die Reste
braungesprenkelter Eierschalen.

Soll ich ihn fragen? dachte Güldenfey. Aber auch in dieser weltfernen
Abgeschiedenheit schloß etwas, das warnte, ihren Mund.

»Ob Telge morgen zeitig genug hier sein wird?« fragte Jörg, als sie am
Strand zurückgingen. Malte hatte das Boot durch Fernspruch zur Stadt
befohlen.

»Also wirklich morgen?« sagte Güldenfey. »Jörg, ich muß ... glaub' mir,
ich ~muß~ dich etwas fragen.«

»So frag' doch, kleine Güldenfey.«

»Es ist etwas, das nur dich angeht, aber nach diesen herrlichen Tagen
der Gemeinsamkeit ... Und glaub' mir, ich hüte es heilig.«

Sie waren bei den verlorenen Steinen angelangt, zwischen denen farbige
Algen schwammen.

»Ich habe kein Geheimnis vor dir«, sagte Jörg. »Laß uns niedersitzen.
Was willst du wissen?«

Güldenfey faltete die Hände um ihre Knie. »Du bist für die Musik
bestimmt, Jörg. Doch da ist noch etwas andres in dir, das, was du die
große Liebe nanntest, das, was den meisten, auch in unsrer Familie,
fremd ist. Mutter hat es gehabt. Wie aber hast du es in dir gefunden?«

Er sah lange auf das Meer, als suchten seine Augen ein Bild, das in
weiter Ferne lag.

»Es ist mein größtes Erlebnis«, sagte er endlich innig und ungewöhnlich
zart. »Es war, als es mich draußen haschte. Die andern waren
zurückgeflutet oder tot. Ich war in eine Sandmulde gekrochen. Seltene
purpurrote Blumen standen in der Dürre, große Steine lagen umher. Wie
hier. Mein zerrissenes Bein brannte wie im Feuer, die Sonne stach.
Meine Sinne vergingen und wachten wieder zur Klarheit auf. Dann spürte
ich Hunger und den fürchterlichsten Durst. Ich versuchte, mich
fortzubewegen -- es war unmöglich. Die Nacht mit ihren Kälteschauern
brachte keine Erfrischung. Als die Sonne wieder aufging, wußte ich,
daß ich, von allen verlassen, sterben sollte. Noch deckte mich der
Schatten einer fernstehenden Baumgruppe. Aber ich glaubte, daß die
Sonnenstrahlen, wenn sie mich erreichten, den letzten Rest von Kraft
aus mir saugen würden.«

Güldenfey rührte ihn an. »Jörg, Jörg! Und hier tranken wir und aßen wir
und haben das nicht gewußt.«

»Plötzlich bäumte sich alles in mir gegen den Tod auf. Leben, um jeden
Preis leben! Ich hatte ja noch viel zu tun, ich wollte den ungesungenen
Liedern nachgehen! Da sah ich unter den Bäumen einen Mann stehen;
hinter ihm hing die Sonne ihren Strahlenmantel auf. Ich weiß nicht
mehr, wie er gekleidet war: anders, als wir uns kleiden, war er und
doch nicht fremdartig. Ich wollte ihm winken und konnte nicht, und kein
Ruf kam mir vom Mund. Ich bemerkte, daß er mich nicht sah. Er blickte
über mich hin. Als ich den Kopf in die Richtung wandte, sah ich auf
dem Stein neben mir einen andern sitzen, den schaute der Mann an. Der
andre sah aus ... hast du meine Zeichnung von dem Götzen des Geldes
gesehen? Das war er! Als ich den andern betrachtete, redete er mich an:
›Du willst leben? Wohlan, sage zum Stein, daß er Wasser gebe. Er wird
es tun, sobald du mir deinen Hunger und Durst verpfändet hast.‹ -- Nimm
hin! wollte ich rufen; aber in der Fülle meiner leiblichen Qual empfand
ich doch die Warnung: Du gibst Unwiederbringliches hin. Was sollte ich
tun? Ich blickte mich nach dem Mann unter dem Baum um, als müsse mir
Rat von ihm kommen, und mir war, als sage sein Blick: Was wärest du
ohne Hunger und Durst! Ich schüttelte den Kopf.

›Du willst nicht‹, sagte der andre. ›Aber Ehre für deine Tapferkeit
willst du ernten. Ich verspreche dir Unsterblichkeit, wenn du mir
erlaubst, dein Gewissen umzubringen. Es ist eine Kleinigkeit!‹ -- Ich
fühlte es heiß in mir ringen. Da blickte ich auf den stillen Mann, der
wiegte langsam das Haupt. -- ›Geh!‹ rief ich den andern an, aber er
ging nicht, er stand nur auf.

›Ich sehe, dir ist es um Glück zu tun‹, sagte er und machte eine
herrische Gebärde. ›Alles Glück verschaffe ich dir -- nur erlaube, daß
ich dort, wohin du Tag und Nacht vergebens geschaut hast, einen winzig
kleinen leeren Raum schaffe. Nur so groß wie ein Stecknadelkopf, aber
völlig leer.‹ -- Als ich sein starres Lächeln sah, da ... ich weiß
nicht, was ich tat. Ich glaube, ich habe mich aufgerichtet und nach dem
Mann unter den Bäumen meine Arme weit ausgebreitet. Der kam ruhevoll
auf mich zu. Als ich im Feldlazarett erwachte, sah ich meinen Weg vor
mir liegen und wußte, daß ich ihn gehen würde.«

Die Wellen spülten an den Strand. Sie saßen beide am Saum der
Unendlichkeit und schwiegen.

Endlich seufzte Güldenfey tief auf. »Ja, du sollst ihn gehen, Jörg, und
ich halte zu dir. Aber erkläre mir ...«

»Heute nicht mehr, Kind.«

Er deutete den Strand hinunter: da kamen Marfa und Harro, und der neben
ihnen ging, war das nicht Malte? Er war es, sein Gesicht war bleich
und völlig verschlossen. Harro schien sehr erregt und hieb einige Male
heftig durch die Luft.

»Habt ihr es gehört, das Schändlichste, was je die Hölle ausgeheckt?«
rief er schon von weitem. »Wir sind verurteilt ohne Verteidigung,
vergewaltigt, hingerichtet, für alle Zeit geschändet.«

Was war geschehen? Was sollten sie gehört haben? Seine Erregung schlug
wie ein Lavaausbruch in die Stille.

»Malte hat die Nachricht gebracht. Sie haben unserm Volk die
Bedingungen diktiert, unter denen wir leben, was sage ich! verrecken
dürfen. Mit gebundenen Händen mußten wir es anhören. Maul zu, oder wir
schlagen! Gekreuzigt und verlästert, um endlich erstochen zu werden.«

So hatte Harro noch keiner gesehen. Aber in der Glut dieses flammenden
Zorns erschien er schön und von allem Schlackenhaften seiner Art
gereinigt. Marfas Hände umschlossen seinen Arm. Wie sie ihn anblickte,
schien es, als fürchte und liebe sie ihn zugleich.

»Malte, sag' es ihnen. Ich will es wieder und wieder hören. Mein Haß
ist gefräßig und soll satt werden.«

Malte war sachlich, er zählte das Schandregister auf: Entmannung,
Überwachung, Aussaugung, diese zerquälende Folge der den
Menschheitgesetzen hohnsprechenden Gewalttaten, dieses Saatbeet der
Angeberei, des Verrats, der niedersten menschlichen Triebe.

Der Wind war aufgekommen, der die Wellen heftig gegen den Strand warf.
Es war ein wildes Schäumen um die Blöcke. Tat die Natur ihren Mund auf,
um wider die sich zerfleischende Menschheit zu zeugen?

»Man weiß nicht, was das Ärgste darin ist!« stöhnte Harro, als Malte
geendet hatte.

»Das weiß man wohl«, sagte Jörg. »Daß wir die Lüge, die wider uns
ersonnen ist, als Wahrheit ausgeben sollen.«

Güldenfey trat plötzlich mit erhobener Hand vor: »Jörg, das ist es, was
du erzählt hast: der Mord des Gewissens.«

»Halt, Güldenfey, sag' das noch einmal!« rief Harro. »Mord des
Gewissens. Das will ich mir merken. Ich hab' es mir zuweilen gewünscht,
daß es hier innen still sei. Es gibt Dinge ... Einmal lag ich morgens
draußen in einem Loch. Da kam einer von drüben, der sich im Nebel beim
Essenholen verlaufen hatte. Er sang laut vor sich hin. Ich ließ ihn,
Gewehr im Anschlag, näher kommen; dann fiel der Schuß. Er hatte einen
leichten Tod. Wie viele in meinem Feuer lagen, das weiß ich nicht, will
es auch nicht wissen. Aber dieser eine Mann macht mir oft Unruhe. Es
ist unbequem, aber es ist doch wohl gut.«

»Quält dich die Erinnerung auch jetzt noch?« fragte Marfa.

»Seit ich dich habe, nicht mehr«, sagte er. »Malte, was können wir
jetzt tun?«

»Tätig sein«, erwiderte Malte knapp.

Er war während der Erzählung des Bruders zur Seite getreten. Jetzt zog
er die Uhr. »Ich bin nur gekommen, weil ich dachte, die Nachricht sei
sehr wichtig für dich. In einer Stunde fahre ich.«

»Natürlich«, sagte Harro. »Man wird mich in Berlin erwarten.«

Er war so erregt, daß er nicht daran dachte, mit Marfa sich zu
besprechen. Es war ja alles aufs beste geregelt: sie blieb im Treßhof,
ihn forderte das Leben.

»Ich fahre mit ihnen«, sagte Jörg zu Güldenfey.

»O Jörg! So enden unsre schönen Tage!«

Aber sie erkannte, daß, nachdem dieser Schlag gefallen war, auch auf
den Dünen von Heilisoe kein Platz für die Freude mehr sei.

Die überstürzte Abreise der Brüder glich fast einer Flucht. Die
beiden Frauen standen am Bollwerk und winkten dem Boot mit matten,
hoffnunglosen Händen nach.

In der Ferne tauchte die siebentürmige Stadt auf. Jörg stand vorn
am Steven und nahm das Bild in sich auf. So blickten einst die
heimkehrenden Hanseaten stolz der Heimat entgegen, wenn sie von
reichen Fahrten zurückkamen. Was sie heimbrachten, sollte der Stadt
Zierde sein, der Heimat Ruhm. Heute? Die Jetzigen dachten nur an
Selbstbereicherung. Das war der Weg zur wahren Freiheit nicht. Aber wo
war der zu suchen, der Rückweg nach Heilisoe?




                            Das Volk in Not


Was für ein Treiben begann jetzt im Haus am Markt? Die Herren vom Rat
staunten, man sprach bei den sonntägigen Zusammenkünften im alten
verräucherten Weinkeller davon; die Olrogges machten runde Augen. Der
alte Aldermann des Schneidergewerks wartete nach einer erregten Sitzung
im Vorsaal auf Onkel Rolf, um ihn zu begleiten.

»Herr Justizrat, ist es wahr, was ich hörte? Ihr Neffe wird eine Bank
eröffnen?«

»Sie sind recht berichtet, Herr Hofmeister.«

Der weißbärtige Herr schüttelte den Kopf: »Sehr schön, Herr Justizrat,
ich bewundere Malte Treß. In dieser Zeit, da keiner weiß, was uns
widerfahren kann, wie sich alles auswirkt ...«

»Ich bewundere ihn auch. Ich habe immer etwas übrig für Leute, die den
Kopf in Zeiten der Not hoch tragen. Jetzt erst recht! Wir Alten sind
mürbe geworden und verstehen das nicht mehr.«

Als er seinen Weg allein fortsetzte, verdüsterte sich sein Gesicht
wieder. Er würde es keinem sagen, daß er Malte doch ernstlich abgeraten
hatte.

Maltes Mund war fester geschlossen als bisher, die Züge seines Gesichts
waren gestrafft, seine Blicke gingen immer, wenn er sprach, über den
Angeredeten fort. Herr Häberle hatte den Eindruck, als sähe sein Chef
auf einen Punkt, den er unter keinen Umständen aus dem Auge verlieren
dürfe. Nur wenn jemand etwas sagte, das entfernt einer Warnung vor
allzu kühnen Wagnissen glich, konnte er den Sprecher so erstaunt
anblicken, daß dieser jeden Einwand aufgab.

Die Schreibstuben waren in den Treßhof verlegt. Im unteren Stockwerk
des Hauses am Markt klopften und hämmerten Maurer und Zimmerleute. Das
Vorderhaus war neuzeitlich, aber von dem einstigen Giebelhaus ragte
in den Hof noch der alte Flügel mit den Kemladen, jenen Gemächern im
Halbdunkel, zu denen man über unzählbare Stufen, hinauf und wieder
hinab, gelangte. Alles wurde jetzt nutzbar gemacht.

Malte trieb die Arbeitenden an, da der Umbau mit dem Ausgang des
Winters beendet sein mußte, doch bei ihnen stieß sein fieberndes
Eilen auf eine starre Wand. Er mußte verdrossene Worte hören, und die
verwundert-gebieterischen Blicke prallten wirkunglos ab.

»Herr Häberle, die Leute arbeiten zu langsam!«

Häberle rückte seine Brille gerade. Verstand denn der Chef die Zeit so
wenig? »Herr Konsul, die Menschen können sich nicht an den Gedanken
gewöhnen, daß wir arm sind und Arbeit unser einziges Kapital bleibt.
Sie glauben an den großen Wechsel in ihrer Tasche.«

Malte zuckte die Schultern. Sein Beispiel mußte sie anstecken, er würde
sie schon mit sich reißen. Er selbst arbeitete unermüdlich. Ausruhen?
Wozu? Nach wenigen Stunden Schlaf lag er doch wach, und im Dunkel und
in der horizontalen Lage arbeiteten die Gedanken ungestümer denn je.
Erholung? Bah, er war aus altem Holz geschnitzt! Der Weg vom Markt zum
Treßhof, vier-, sechsmal am Tage, genügte ihm vollauf.

Die in den Schreibstuben saßen, mußten mit. Sie stöhnten, sie schalten,
aber sie fügten sich. Wer nicht mitlaufen konnte, wurde abgelohnt. Es
waren genug brotlose Leute da. Zehn für einen.

Auch Herr Häberle stutzte. Arbeit wurde ihm so leicht nicht zuviel,
aber er vermißte den Ausblick auf die Weite des Weges, den der junge
Chef eingeschlagen. Warum tat der so geheimnisvoll? Er versuchte zu
erkennen.

Malte besprach einmal mit ihm ein Vorhaben. Häberle riet ab.

»Warum fehlt Ihnen seit einiger Zeit das Vertrauen?«

»Herr Konsul, diese ungeheuren Wertmassen, die auf dem Papier stehen,
deren Verzinsung allein den Geldvorrat der Welt übersteigt, werden uns
in eine Sackgasse jagen, aus der keiner herausfindet.«

»Wollen Sie gegen den Strom schwimmen?«

»Nein, aber ich denke an unsern Namen. Die Valuta beruht auf dem
Glauben, daß der Schuldner einlösen kann. Das muß mehr als eine Annahme
sein, es wird aber allmählich zum Begriff.«

Er machte sich an seiner Brille zu schaffen. Malte überlegte und stand
plötzlich auf.

»Sie haben recht, Herr Häberle. Aber wir tragen keine Verantwortung,
denn wir müssen mitmachen. Gedulden Sie sich noch ein wenig, und Sie
werden sehen, daß ich in dieser Wirrnis erkannte, was zu tun nötig
war.« --

Endlich waren die Werker im Haus am Markt fertig, und die Schreiber und
Rechnungführer hielten in die Räume, in denen es nach Kalk, Farbe und
frischem Holz roch, ihren Einzug.

Frauke kehrte zurück, Frauke, die vor dem Lärmen der Hämmer nach
Hamburg geflüchtet war. Sie war fast während des ganzen Winters dort
gewesen, und nur in den Weihnachttagen hatte Malte sie besucht.
Natürlich, er war zu Hause unentbehrlich gewesen, aber es litt ihn
auch sonst dort nicht lange. So gern er auch die alte Hansestadt
aufsuchte und seine Brust in ihrer Luft weiten mochte -- war er dort,
zog es ihn wieder heimwärts. O ja, man begegnete ihm freundlich im
Hause Poppelmann, man schätzte seine ruhig wägenden Urteile; der alte
Poppelmann mit den scharf geschnittenen Zügen schien ihn zuweilen
auszeichnen zu wollen, und doch -- nirgendwo als in diesem Luftkreis
fühlte Malte so stark, wie fern ihm seine Frau war. Zu Hause hatte sie
schließlich nur ihn. In Hamburg lebte sie in einer ihm fremden Zone,
ihr Denken drehte sich in fernen Kreisen. Er war Gast in ihrem Hause.

Frauke also kehrte heim, und Malte erwartete sie auf dem Bahnhof. Als
sie aus dem Portal auf die Straße traten, stand da ein funkelnd neuer
Kraftwagen, dessen Schlag Malte ihr öffnete.

Sie blickte ihn verwundert an. Der Mann am Steuerrad grüßte. Das war ja
doch Telge!

»Mein Geschenk für dich«, sagte Malte.

Sie ließ einen gurrenden Laut der Überraschung hören. »Du? Für mich?«

Malte nickte zufrieden. Sie konnten den Wagen hier nicht betrachten.
Schon sammelten sich die Gaffer.

»Ich danke dir!« sagte sie. Und der freudige Ton schien ihm Lohns genug.

Frauke war froher denn je. Ja, diese Vorfrühlingstage an der Alster,
die so eigen waren, wenn das Eis brach! Aus den Fleten stieg dann ein
ganz besonderer Duft, und der herbe Wind, der über die Elbe strich,
trug bis in die Gassen am Gänsemarkt etwas mit sich, das es nirgendwo
gab: Geruch von der Erdkraft der Lüneburger Heide, Rauchduft vom Reisig
niedersächsischer Herde.

»Willst du gleich die Geschäftsräume sehen?«

Ja, sie wollte. Die Köpfe der Emsigen fuhren in die Höhe.

»Bitte die Herren, sich nicht stören zu lassen!«

Und die Stirnen senkten sich über die Tischplatten, auf deren weiße
Buchblätter die grünumschirmten Lampen helle Kreise warfen. Federn
scharrten leise, Papiere knisterten, die Luft war erfüllt vom Atem der
Arbeit.

Frauke stand auf der Stelle, von wo sie die Flucht der geschaffenen
Räume überschaute. Ihre Nasenflügel witterten. Etwas Helles
durchlichtete sie und trat in ihre Augen. Sie war stolz auf ihren Mann;
ihre abwägende Vorsicht schwieg.

Unumwunden drückten es ihre Worte aus, als sie und Malte oben am
Teetisch beisammen waren. »Du sprachst einmal von anzuknüpfenden
Verbindungen.«

»Ich bin auf dem besten Wege, Frauke. Noch ein paar Monate, und alles
wird geregelt sein.«

»Ich habe gestern noch einmal mit Vater gesprochen.«

»Ich bin dir sehr dankbar, Frauke. Kann ich mich, sobald es not tut, um
Rat an ihn wenden?«

»Er rät ungern. Du kennst ihn ja: Selbst ist der Mann! Doch empfiehlt
er dringend Vorsicht bei Abschlüssen von Verbindlichkeiten auf lange
Dauer. Er sagt, die Zukunft sei undurchdringlich.«

War das alles? Ja, mehr hatte er nicht gesagt. Malte rückte auf seinem
Sitz. Jawohl, selber ist der Mann.

»Also Güldenfey geht es gut, und Marfa erwartet ein Kind? War Harro oft
hier? Und der Benjamin Jörg?«

Malte berichtete. Über kurze Andeutungen, die Familie betreffend,
war er in den eiligen Briefen, die nach Hamburg geflogen, nicht
hinausgegangen. Gottlob, sie waren ja alle gesund.

»Klaus ist jetzt im Geschäft?«

Ja, darüber war mancherlei zu sagen. Malte erzählte.

Klaus war gekommen und hatte gesagt: Hier bin ich, gib mir zu tun.
Malte hatte ihn aufmerksam betrachtet. Er trug sich selbst auch
gewählt, doch nicht in der Weise, daß er die Sonderung betonte. Hier
aber: Lackschuhe, Gamaschen, das feinste Tuch und über allem der Duft
teurer Blumenseife. Klaus hatte sich draußen tapfer gezeigt, war
wochenlang im Sud versumpfter Gräben gelegen. Weibisch-Verderbtes lag
seinem mannhaften Wesen fern. War dies das Dürsten nach Kultur, das
sich übersteigerte? Viele konnten sich jetzt im Ausleben nicht genug
tun und verloren das Maß.

»Du willst also arbeiten?«

»Gewiß will ich das.«

»So komm! Ich werde dir das Gefüge des Betriebs erklären.«

Klaus hatte gut achtgegeben, vernünftige Fragen getan, sich
aufnahmefähig erwiesen.

»Dein Platz ist hier, gegenüber von Herrn Häberle. -- Herr Häberle, Sie
leiten freundlichst Herrn Hauptmann an!«

Eine Stunde später war Klaus bei ihm eingetreten. »Hör' mal, Malte,
einen andern Platz mußt du mir anweisen.«

»Blendet die Sonne oder zieht es dort?«

»Nein, aber unter den jungen ungedienten Leuten kann ich nicht sitzen.
Und dann: Häberle gibt mir ja richtige Schulaufgaben. Auszüge aus dem
Kurszettel. Ich dachte doch, ich gehöre ins Chefzimmer.«

»Du bist ein Lernender. Hier muß ich allein sein, und keiner kann dich
so gut einführen wie Häberle. Sei zufrieden!« --

»Und er ist dort geblieben?« fragte Frauke. »Nun, mich wundert, daß er
sich fügte. Ist es ihm ernstlich um Güldenfey zu tun?«

Malte bejahte. Klaus selbst hatte es angedeutet. Er konnte sein Heil
versuchen. Malte war damit einverstanden.

»Baue darauf keinen Plan«, sagte sie. »Du wärst ein übler
Menschenkenner, nähmst du an, Güldenfey finde sich dazu bereit.«

»Unser williges Kind, Frauke!«

Sie machte eine bedauernde Gebärde und erhob sich. »Du wirst noch
hinabgehen wollen, ich habe die Jungfer für das Auspacken bestellt.«

War die heimliche Stunde schon verstrichen? Geschwätz von Geschäften
und Familie? Mußte nicht noch etwas Besonderes kommen?

»Frauke!« sagte er und streckte beide Hände nach ihr aus. »Hätten wir
uns heute nichts mehr zu sagen?«

»Was nur?« fragte sie. Als er schwieg, blickte sie ihn prüfend an und
errötete leicht.

»Ich war lange allein, Frauke.«

»Es ist ja nun gut. Im Sommer will ich mit dem Vater und Johns auf Sylt
zusammentreffen. Bis dahin bleibe ich hier.«

Sie neigte die Stirn gegen ihn, daß er sie mit den Lippen berühre;
dann ging sie. Er blieb stehen und lauschte entzückt auf das feine
metallische Klingen der Reifen an ihren Handgelenken, das durch das
Nebenzimmer läutete und sich in der Ferne verlor. Dann atmete er
glücklich auf. --

Klaus schlenderte durch die Bechermeistergasse der unteren Stadt zu. Es
war noch nicht Zeit, zum Essen zu gehen, und er bedurfte der frischen
Luft. Das Hocken in dem abgesperrten Raum, diese Zahlen, die von Mund
zu Mund flogen und denen er keine Teilnahme abgewann, ermüdeten ihn.
Er hatte Herrn Häberle etwas von einer Verabredung gesprochen und war
gegangen.

Die Hauptstraße vermied er; dort konnte ihm Malte begegnen. Der nahende
Lenz spürte sich auch in der engen Gasse, die so schmal war, daß
Sperrbalken die einander gegenüberliegenden Häuserwände absteiften und
die Gangsteine nur für einen Gehenden Raum boten. Der Entgegenkommende
mußte zur Seite treten.

Eigentlich seltsam, dieses Leben! Wie oft war er vor dem Kriege durch
die Straßen dieser seiner Heimatstadt geritten, den Burschen auf
dem zweiten Pferd hinter sich, nach rechts bald und bald nach links
grüßend. Als einziger Sohn des vermögenden Ratsherrn Glöden hatte er
eine bevorzugte Stellung eingenommen. Und jetzt? Der beste bürgerliche
Anzug ersetzte nicht die Uniform, und er zwängte sich durch die
Bechermeistergasse, um seinem Vetter aus dem Wege zu gehen. Warum war
er nicht wie tausend andre draußen geblieben, irgendwo eingescharrt?
Jetzt mit fünfunddreißig Jahren Kaufmann! Es war so sinnlos.

Er war bis zur alten Sachsenbastion gekommen, da erblickte er plötzlich
Güldenfey. War sie krank? Ihr Gesicht war seltsam gespannt, und ihr
federnder Gang trug eine Hemmung.

»Güldenfey!«

Sie blieb stehen und reichte ihm die Hand. Im Arm trug sie ein großes
Paket. Er machte Miene, es ihr abzunehmen.

»Nein, nein«, wehrte sie. »Ich gehe zu Engelke. Hier ist es schon.«

Er zeigte ein enttäuschtes Gesicht. »Aber du bleibst ja nicht lange«,
sagte er. »Ich werde dich erwarten und begleite dich nach Hause.«

Sie wäre viel lieber allein geblieben, doch sie besann sich, daß sie
ihn bei dem letzten Sonntagskaffee unfreundlich behandelt hatte und
deshalb von Gewissensbissen geplagt war. Sie wollte wieder gutmachen.
»Wenn du Geduld hast --«

Nun, die Geduld wollte er beweisen. Und während er auf und nieder
ging, überlegte er, wie er gefällig erscheinen konnte. Von seiner
Kupferstichsammlung mochte sie nichts hören. Hat man in dieser Zeit
wirklich etwas für so kostspielige Liebhabereien übrig? hatte
sie einmal gefragt und ihn eigentümlich angesehen. -- Du mußt den
onkelhaften Ton aufgeben, wenn du mit Güldenfey sprichst, hatte sein
Vater geraten. Es ist nicht gut, deinen Vorsprung an Jahren zu betonen.
Gut, gut; also kameradschaftlich!

Er eilte ihr freudig entgegen als sie erschien; ihn freute im
besonderen, daß sie das gräßliche Paket nicht mehr im Arm hielt.
Merkwürdig, Güldenfey sah so gut aus und hatte bei aller Natürlichkeit
viele Reize, aber auf solche entstellenden Dinge achtete sie nicht.

»Du besuchst wohl eure Engelke oft?« begann er. »Ich fürchte, das
strengt dich an. Du siehst nicht so wohl wie früher aus.«

Sie lächelte ein wenig.

»Fühlst du dich krank?« fragte er besorgt. »Ich begreife nicht ...
Aber Malte bemerkt ja jetzt überhaupt nichts mehr außerhalb seiner
Geschäftsräume. Ich werde mit ihm reden.«

»Bitte, nicht«, sagte sie. »Wozu das? Es würde ihn beunruhigen. Ich bin
nicht krank, ich leide nur.«

»Ist das nicht dasselbe? Oder kränkt, benachteiligt man dich?«

»Mich? Ach, Klaus!«

Ja, was dann? Klaus war am Ende und blickte sie ratlos und bekümmert
an. Sie lächelte wieder. Was hinter diesem in Gesundheit geröteten
Gesicht lebte, wußte wohl nichts davon. Trotzdem wollte sie es sagen.

»Ich leide an dieser furchtbaren Zeit, schon lange, seit jenem Tage
in Heilisoe, da Malte uns die Schreckensnachricht brachte. Es ist
entsetzlich!«

Klaus machte eine zustimmende Bewegung. Ja, natürlich entsetzlich.
Diese zerbrochenen und verkrüppelten Existenzen, diese Vergewaltigung
dessen, das zu Besserem bestimmt war.

Güldenfey merkte, wie ihn seiner Enttäuschungen Bitternis überkam.
Sie schwieg, in ihr verkroch sich etwas ängstlich. »Das wäre wohl
das geringste Übel«, sagte sie endlich leise. »Aber das andre, die
Verderbnis, der Hunger.«

Sie blieb stehen, ihr Arm machte eine weite kreisende Bewegung. Die
Vorübergehenden blickten verwundert auf sie.

»Komm doch!« sagte Klaus. Es war ihm peinlich, in dieser Weise
Aufmerksamkeit zu erregen. Er redete weiter, heftig, hastig, sein Ärger
gegen alle, die er für die Verderber hielt, entlud sich in starken
Worten. Hätte er gewußt, wie weit er sich von ihr fortredete!

Güldenfey hörte ihn nicht mehr. »Wohin sind wir gegangen?« sagte sie
und sah sich um. »Ich wollte zu bestimmter Zeit zu Hause sein. Ich muß
die Bahn benutzen.«

Sie hatte erwartet, daß er sie jetzt verlassen würde: sie redete ihm
zu, daß er um ihretwillen nicht seinen Spaziergang verkürze. Er bestand
darauf, sie begleiten zu wollen. Als der elektrische Wagen vor ihnen
hielt, bestieg er ihn nach ihr.

Die Plattform war um diese Zeit von Fahrenden leer. Die Schaffnerin
kam und reichte ihnen die Scheine. Klaus machte eine gleichgiltige
Bemerkung, Güldenfey wollte antworten. Plötzlich fuhr sie zurück. Das
Gesicht der Frau, die die grüne Dienstmütze trug, näherte sich dem
ihren und blickte sie dreist, mit einem häßlichen Lächeln an.

»Nun, schönes Fräulein Güldenfey! Einen vergnügten Spaziergang gemacht?«

»Verzeihen Sie, ich kenne Sie nicht«, stammelte Güldenfey erschrocken.

Die Frau lachte rauh. »Das will ich glauben. Es ist lange her, seit wir
beide unter einem Dach wohnten.«

Güldenfey erbebte. Was war das für ein unangenehmer Geruch, den die
Frau ausströmte? »Ich weiß nicht --«

Da griff Klaus ein: »Bitte, uns nicht zu belästigen!«

Jetzt wandte sich die Frau ihm zu. Ihre glitzernden Augen wurden dunkel
im Groll. »Sie? Was hätte ich denn mit Ihnen zu schaffen?«

»Schweigen Sie! Lassen Sie sofort den Wagen halten. Sofort, oder --«

Klaus' Stimme schnarrte, als stände er auf dem Exerzierplatz. Als die
Frau noch nicht Miene machte, ihm zu willfahren, riß er das Glockenseil
so heftig, daß der Wagen gleich darauf stand. Er sprang ab und reichte
Güldenfey die Hand. Noch einen Blick warf diese auf die Frau. Das
Gesicht war verwüstet, verwildert, aber hinter der rauhen Schrift lag
die Glätte einer versunkenen Schönheit, und etwas wie ein Erschrecken
ließ sie jetzt erstarren.

Güldenfeys Glieder zitterten. »O Klaus, wer war das?«

Klaus murmelte vor sich hin: »Unglaublich! Jetzt drängt sie sich uns
schon öffentlich auf.«

»Kennst du sie? Sie sagte, sie habe bei uns gewohnt!«

Es schien, als besinne er sich. »Das ist törichtes Gewäsch. Ich kenne
die Person nicht, will sie nicht kennen. Sie ist eine Verworfene. Hast
du nicht bemerkt, daß sie betrunken war?«

Das war also der widerliche Geruch. Und doch -- Güldenfey fühlte, er
verbarg ihr etwas. Ihr Blut wallte warm in Mitleid, Tränen stiegen ihr
auf. »Eine Verworfene? Und du konntest so hart sein, Klaus!«

Er schwieg betroffen. Er fühlte, daß er etwas in Güldenfeys Sinn
eingebüßt habe, was nicht leicht gutzumachen war.

Als sie zu Hause eintraf, rief sie nach Ose. Die Alte stand im oberen
Flur vor den Leinenschränken und bündelte Wäsche ein. Atemlos erzählte
Güldenfey ihr Straßenerlebnis.

Oses Lippen wurden schmal und herbe. »Laufen viele Frauen jetzt durch
die Welt, die einst guter Herkunft waren; habe jüngst erst eine
gesehen, die einstmals in Seide ging und nun Lumpen trägt. Was soll die
Schaffnerin mit uns zu schaffen haben, du liebe Seele!«

Güldenfey trat vor sie hin: »Sieh mich an, Ose! So, und nun sag': Was
hat es mit der Frau auf sich?«

Die Alte schluckte mühsam. »Kind, ich kenne sie doch nicht. Und wenn
ich wüßte, wer sie wäre, glaubst du, ich würde reden, wenn ein Verbot
meinen alten Mund versiegelt hält?«

Da flossen Güldenfeys Tränen. »Es ist soviel Not da, die wird verdeckt
mit Schweigen. Ich möchte helfen und kann nicht, weil ich ihr nicht auf
den Grund sehe. Hilf du mir doch, Ose.«

Aber Oses Gesicht blieb verschlossen und war fast hart, und der Mund,
der immer willfährig war, wo es zu trösten galt, blieb dieses Mal
stumm. --

Ja, Güldenfey litt mehr, als alle wußten.

Frau Mellin war mit einem Brief zu ihr gekommen, das älteste Kind der
Tochter siechte dahin. Die Kinder in den großen Städten starben in
Menge, weil ihnen das Nötigste fehlte: Milch und Brot.

»Lassen Sie das Kind kommen«, riet Güldenfey. »Wir werden es
herauspflegen.«

Doch Frau Mellin wußte, daß die Not hier die gleiche sei. »Sehen Sie
sich doch die Kinder auf der Straße an, gnädiges Fräulein!«

Seitdem achtete Güldenfey in der Stunde, da sich die Schulen schlossen,
auf die Scharen, die sich in die Straßen des Sachsenviertels ergossen.
Sie ging hinter den Trupps her, sie stellte sich mit ihnen vor die
Ladenfenster, wo hungrige Blicke die märchenhaften Dinge der Auslage
prüften. Sie wollte hören, und sie hörte. Ach, was hörte sie!

»Mutter sagt, wir verkaufen jetzt unsre Milchkarten. Was nützt die
Karte, wenn wir die teure Milch nicht bezahlen können.«

»Grete ist gestern gestorben.«

»Der Otto von nebenan auch.« Es klang, als werde ein Trumpf ausgespielt.

»Der Doktor sagt, sie hat die Grippe gehabt. Mein Vater sagt: Unsinn,
sie ist einfach verhungert.«

Hunger! Wie furchtbar klang das Wort vom Kindermund! Welche Anklagen
stiegen aus den vielen kleinen schmucklosen Särgen, die man heimlich,
wie verschämt, in der Dämmerung zum Friedhof trug!

»Kinder, wartet hier. Ich kauf' euch etwas.«

Sie warteten. Ihre Blicke hinter der dicken Scheibe hafteten an dem
Fräulein drinnen, das mit dem Bäcker verhandelte.

»Brot, natürlich, und Semmeln. Und die trockenen Küchlein im Glas.
Packen Sie nur ein. Und bitte, schnell noch etwas von dem Zuckerwerk.«

Sie trat aus der Ladentür, beide Arme befrachtet mit Gebäck. Ein
Dutzend blasser Kindergesichter -- oder waren es mehr? -- hob sich ihr
entgegen. Das verlegene Lächeln derer, die nicht zu glauben wagten,
schnitt in ihr Herz. Es tat so weh, dieses Lächeln, weil es nicht
glücklich war.

»Seht, das ist für euch. Nehmt nur, nehmt!« sagte Güldenfey. Sie stand
da wie die heilige Elisabeth und legte ihre Gaben in die geöffneten
Hände.

»Nehmt es, nehmt das liebe heilige Brot!«

Wie schauten sie nur aus, diese Menschlein, um deren entkräftete
Körper die zerstörenden Fieber des Lebens wie nächtige Schakale um
niedergebrannte Feuer schlichen: ungepflegt, rauhe, vertragene Stoffe
auf dem hageren, von keinem Hemdlinnen geschützten Leibe tragend und
ohne Glauben an die große Güte, die des Hungernden sich erbarmt. Sie
konnte das stumme Elend nicht ertragen, sie ermunterte: »Ihr lieben
Kinder, erzählt mir etwas.«

Da und dort begann einer der essenden Münder zu sprechen. Ein Mädchen
erzählte, daß man heute das Bild des Kaisers aus der Schulstube
entfernt habe. Krampfte nicht das Herz, wenn man das hörte? Papierne
Bestimmungen jagten einander: die Bilder ausgetrieben, der Heiland
ausgetrieben -- und Reihen hungernder Kinder saßen da, denen man etwas
nahm und statt des nötigen Brotes eine neue Rechtschreibung gab. Es
war, daß sich Steine erweichen konnten!

Wenn Güldenfey jetzt um die Mittagsstunde durch die Straßen schritt,
liefen ihr die Hansen und Greten schon entgegen, und die Menge wuchs,
die draußen vor dem Bäckerladen harrte, in dem sie Brot einhandelte.
Sie mußte die Stücke verkleinern, denn oft reichte ihr Geld nicht aus.
Und immer begleitete ihre Gabe ein segnendes Wort. Nehmt hin, nehmt das
liebe Brot!

Wenn Güldenfey heimkam, wußte sie zu erzählen.

»Kind, du ißt so wenig«, mahnte die Alte und rückte ihr die Schüssel
näher.

»Ach, Ose, wenn man dem nachdenkt, was man heut wieder sah.«

»Hast ja deine Pflicht getan, so darf's dir auch schmecken. Nimm noch
ein wenig, nachher such' ich auch noch nach altem Leinen.«

Es war nicht allein Deutschlands Not, die sich ins Herz fraß, es war
vielmehr der Übermut, der dieser Not spottete.

Als Güldenfey einmal aus dem Laden trat, ihre hungrige Schar zu
speisen, stand da eine Gruppe Herren und Damen, die sich das seltsame
Ereignis betrachten wollten. Es waren solche, die mit funkelnd neuen
Koffern durch die Geschäfte zogen, um die Waren des geschmähten Landes
aufzukaufen. Ihrer Sprache nach kamen sie von jenseits des großen
Wassers.

Güldenfey schämte sich. Die Fremden, schwatzend und lachend, standen
wie beim Beginn einer Tierfütterung.

»Kommt ein wenig weiter, Kinder!«

Doch die Hungrigen waren zu ungestüm, und sie mußte austeilen. Die
Fremden gafften und schwatzten. Zog keiner die Kamera hervor? Spitzte
kein Berichterstatter den Stift zu interessantem Bericht: Speisung
hungernder Kinder auf der Straße? O Deutschland!

Ein Kind ging leer aus, ein flachshaariger Bub mit tiefliegenden Augen.

»Warte, Kind, ich hole für dich!«

Güldenfey hatte kein Geld mehr, sie mußte borgen. Aber um alles nicht
sollte der Junge darben. Als sie sich der Tür zuwandte, griff einer
der Fremden in die Tasche und warf ihr einen schmutzigen Schein zu. Es
war, als hätte er sie geschlagen. Blutrot war ihr Gesicht. Dann hob sie
das Papier auf und schritt auf ihn zu. Unter ihrem Blick erstarrte das
gutmütige Grinsen. »Danke! Wir bedürfen der Almosen nicht!«

In Güldenfeys Seele brannte eine Wunde neben der andern.

Hans Olrogge kam in den Treßhof. Es hätten sich Kreise von wohlhabenden
Erwachsenen gebildet, die fremdländischen Tänze zu studieren; ob
Fräulein Treß teilnehmen möge.

Als sie ihn ansah, fühlte er, daß es vergeblich sei, von seinen
Erklärungen für die so lange unterbundene Lebensfreude Gebrauch zu
machen.

»Ich sollte jetzt tanzen?« fragte sie. »Ich würde den Gedanken an die
nicht los, die vor den erleuchteten Fenstern stehen und auf die fremden
Weisen hören. O nein, Herr Olrogge!«

Es war angstvoll gewesen, in einer Zeit zu leben, die nach Blut und
Eisen schmeckte. Der Dunstkreis dieser gärenden Zeit war gesättigt mit
verderblichen Keimen, die wie geistiger Meltau auf die Willensschwachen
fielen. Die Angst um das kleine Ich verschattete völlig die Sorge um
das Ganze.

Was war es nur, das diese unvereinbaren Gegensätze schuf, die das
deutsche Wesen zerrissen: Verzagtheit und frecher Übermut, Darben und
Verschwendung? Es mußte etwas im Dunkel des Hintergrundes stehen, das
mit frevelnden Händen an den Drähten zerrte, in denen das Wohl und Weh
der Menschheit hing. Aber was war es, daß man es packen konnte!

Wäre nur Jörg einmal gekommen; Güldenfey verlangte es nach ihm,
er würde ihr antworten können. Aber Jörg war jetzt ganz der Musik
verfallen, seine Arbeit litt keine Unterbrechung, und seine Briefe
waren in der knappen Pause, die zwischen zwei Stunden lag, geschrieben.

Malte? Ach nein! Sein Ernst erweichte vor Güldenfey noch immer zu einem
Lächeln, aber das kam nicht aus seiner Seele. Seine Seele war immer
zerstreut; wenn er nicht im Geschäft war, flog sie stets als Wolke vor
dem Sturm der Zeit. Nur Pastor Thomasius war stets für sie bereit.
In seinen Augen war ein Schein froher Zuversicht, und nie klang eine
Stimme so jugendhell wie seine, wenn er vor dem Altar die Bibel in
beiden Händen hob: Wir wollen bekennen!

»Welches ist der Geist, der uns zerstört?« fragte ihn Güldenfey.

»Der Haß!« entgegnete er.

Sie sann ein wenig. »Aber warum haßt man? Es muß etwas sein, weswegen
man haßt.«

»Vielleicht, ja! Doch warum fragen Sie danach? Es ist die Welt frostig
geworden, weil die Liebe fehlt. Wir müssen sie suchen.«

Es war ein wunderbarer Klang in seiner Stimme. Hob er das alte Buch?
Sein Blick umfing warm ihre Gestalt. Güldenfey wandte das Gesicht zur
Seite und begann, ihm von Marfa zu sprechen.

Marfa verließ das Haus selten. Sie hütete ihre Mutterhoffnung, doch
Güldenfey wußte, das war es nicht allein, was sie in der Verborgenheit
festhielt: sie sehnte sich nach Harro, sie litt, weil er fern war.
Ihre jäh erweckte Liebe, die stürmisch nach ihm drängte, wußte in ihm
ihren einzigen Halt. Sie hatte alles verloren, nun klammerte sie sich
mit verzweiflungähnlicher Sorge an den Trost, den ihr das Leben als
Ersatz gegeben. Kam er, so lebte sie auf; ging er, so krankte sie.

»Hier versteht mich keines, nur du, Güldenfey«, sagte sie. »Es fehlt
allen hierzulande der sechste Sinn, der ahnt und erfühlt. Auch Harro
fehlt er, sonst ließe er mich nicht so oft allein.«

»Wie sollte ich ihn denn besitzen!« zweifelte Güldenfey.

»Deine Seele ist wie das Geheimnis des Kristalls«, antwortete Marfa.

»Ich bleibe bei dir«, tröstete Güldenfey. Und sie begann zu erzählen,
daß sie beide im Sommer auf Heilisoe wohnen und unter Sonnenschein und
Seewind froh werden wollten.

»Wir liegen am narbigen Rand der Dünen, wo die blauen Glockenblumen
wachsen, denn an den Strand darfst du nicht so oft hinabsteigen.
Wir bleiben dort, bis der Abend alles Grün der Königsgräber in Grau
verwandelt.«

»Ob wohl Harro dann eben Ferien hat?«

Harro und nur Harro! Aber Güldenfey war nicht gekränkt. Sie wußte, daß
in Marfa die Vergangenheit nicht zur Ruhe kam und sie quälte, wenn sie
zur Nacht wach lag und lauschte, wie der Wind der Januarnächte in den
Luken der Speicher umging und Mellins silbergraue Katze klagend über
die Dächer stieg.

»Du sollst dich jetzt auf dein Kind freuen. Ich glaube fest, daß deine
Freude es froh machen wird.«

»Ja, du Herzlieb, ich will mich freuen. Wenn es da ist, wird Harro
häufiger kommen.«

Diese zitternde Liebe ist vielleicht gar keine Liebe mehr, sondern
nur ein Bangen vor grauenvoller Verlassenheit, dachte Güldenfey und
sann auf Tröstungen andrer Art, die Marfa erfreuen sollten. Sie
begriff, warum sich Marfa in Monaten, da sich alles in der Frau auf das
Mütterliche sammelte, doch an Harro klammerte.

Es liefen schon lange dunkle Gerüchte durch die Stadt: eine Bande
derer, die Eigentum und Leben des Nächsten nicht schonen, hätte sich
die Hilflosigkeit der für die Sicherheit verantwortlichen Macht zunutze
gemacht und triebe ihr Unwesen seit Wochen ungeahndet. Einer aus dieser
Raubgesellschaft war beim Einbruch von einem Bürger getötet, die andern
aber setzten in gutem Vertrauen auf die Ohnmacht der Gesetzesschützer
ihr Handwerk fort.

In einer Nacht, da der rieselnde Regen in den Gossen seine einförmige
Weise sang und das Dunkel vor jeder Tür lag, stieg aus dem Innern des
Treßhofes ein schreckhafter Schrei, der selbst die Schläfer in den
Kellerräumen aufstörte.

Güldenfey fuhr empor. Gehörte der Ruf in den Traum, den er zerbrochen
hatte? Aber er war doch von außen gekommen und hatte geklungen, als
stieße ihn Marfa aus. Jetzt zitterte er nur noch nach; draußen war die
Stille des Regengeriesels. Die alte Uhr unten schlug die dritte Stunde.

Sie warf ein Morgenkleid um sich und eilte hinaus.

Die Tür zu Marfas Zimmer war halb geöffnet. Marfa saß aufgerichtet
in ihrem Bett, beide Arme als Stützen hinter sich gestemmt. Ihr von
der Nachttischlampe hell beleuchtetes Gesicht war linnenweiß, ihre
geweiteten Augen starrten auf einen Punkt. Sie saß, als sei sie gelähmt.

Auch Güldenfey stand in der Türöffnung wie gelähmt. Ein riesiger
Schatten füllte fast den Raum, und plötzlich erkannte sie hinten
am Fenster, durch das es feuchtkalt hereinwehte, stand ein Mensch,
breitschultrig, die Schirmmütze in die Stirn gezogen, die Faust um
etwas gekrallt. Seine wölfische Wildheit war erstarrt unter dem
Entsetzensblick der erwachenden Frau, die das Licht entzündete, um das
Furchtbare zu entdecken.

Wie der Regen murmelte!

Von Güldenfey wich die Starre zuerst. Ihr Fuß stieß an einen Sack,
in dem Werkzeug klirrte. Der Ton löste alles auf. Der Mann warf sich
blitzschnell herum. Nun er nicht mehr die Lampe verdeckte, war alles
hell.

Güldenfey fühlte einen Stoß, sie sank gegen die Wand, und es hastete an
ihr vorüber. Sie eilte auf Marfa zu und umschlang die Regungslose mit
barmherzigen Armen: »Liebste, Liebste, welch ein Traum!«

Erst nach langem Zureden fand Marfa die Sprache. »Ein Traum? -- Ich
glaubte -- der Henker -- sei -- eingetreten -- mich -- zu holen.«

Vom Hof herauf drang wilder Lärm; der Flüchtling war den Erwachenden in
die Arme gelaufen. Telge schlug furchtbar auf ihn ein. Das Blut auf der
Schwelle wusch der Regen nicht fort.

Was half das? Der Räuber war ohne Schlag zum Mörder geworden.

Als das Morgenlicht einfiel, brachte Marfa einen toten Knaben zur Welt.
--

Wie hieß die Hand, die Macht, die alle Begierden aufpeitschte und jede
Bändigung lähmte? Malte stand am Fenster und sah auf den Markt, als es
anhob. Es war ein geringfügiger Anlaß.

Die feilgebotenen Fische waren klein. Sie fingen doch auch große!
Wo blieben die? Schob man sie dahin, wo der aufgemästete Wucher
märchenhafte Preise zahlte? Sind Gräten und Schuppen und Schwänze für
uns gut genug?

Die beißenden Reden fielen wie Funken in Zunder.

Plötzlich eine grelle Stimme: »Nehmt sie ihnen doch fort!«

Eine rauhe antwortete: »Tretet sie in den Dreck!«

Vier, sechs, acht Hände griffen zu, stießen, schlugen. Tische stürzten,
Wagschalen klirrten. Ein Gelächter flog wie eine Lästerung in die helle
Luft, als grobe Stiefel die toten Fische zerstampften.

Die Händler waren geflüchtet. War nicht im Rathaus die Wache? Es
rasselte kein Säbel.

Aber die Zerstörer hatten Zulauf an Frauen und Unbärtigen. Man erzählte
von der Heldentat mit großen Gesten. Eigentlich war ja jetzt alles
getan, aber sollte die kochende Wut schon verdampfen? Nein.

Jetzt ein Wort, das wie ein Schüreisen in die Glut stieß. »So betrügen
sie uns alle, die Schufte!« Wer rief das? Die Vorderen sahen sich um:
überall heiße Augen, verzerrte Münder. Einen Augenblick Stille!

»Schlagt ihnen doch die Fenster ein!«

Das war das Wort, auf das alle Triebe lauerten; nun sprangen sie an.
Ein vielstimmiges Gebrüll antwortete. Es bedurfte keiner weiteren
Weisung. Dort lag der nächste Kaufladen, Mehl und Teigwaren in der
Auslage; dahin wälzte sich die Masse.

Eine Hand warf hart die Tür zu und drehte den Schlüssel. Im Haufen
lachte es roh auf. Eine Stange stieß gegen die Scheibe, ein Stein flog:
splitternd barst das Glas, die vorragenden Zacken brach man nieder.
Hände, besudelt von Blut und Schmutz, griffen hinein, zerrten heraus,
warfen den andern zu, die schreiend auffingen. Das meiste geriet unter
die Füße.

»Herr Häberle,« sagte Malte, »wir müssen sofort schließen. Sie fangen
an, regelrecht zu plündern.«

Als Herr Häberle, nachdem er selbst die Tür verriegelt und Wache
gestellt hatte, an das Fenster trat, war schon der zweite Laden
erbrochen.

Aber nein, nach Geld gelüstete es sie nicht. »Nach den Warenhäusern!«
rief es. Die Masse flutete ab. Es war ein Ziel gesteckt, die Lust auf
Beute war wie ein fressendes Feuer, das gierig um sich leckte.

Gerade als die ersten des abziehenden Zuges die Bogenhalle des
Rathauses erreichten, erschienen zwischen den Säulen zwei bewaffnete
Polizisten. Drohworte flogen ihnen entgegen. Der eine hob Halt
gebietend den Arm. Glaubten sie wirklich, durch ihren bloßen Anblick
den rasenden, leidenschaftlichen Strom zu hemmen? Sie wurden lachend
zur Seite gedrängt.

Die Straßen boten bald ein seltsames Bild. Geifernde Zerstörungswut
war bald in lachendes Berauschtsein gewandelt. Man hatte plötzlich,
was man lange entbehrt und ebenso lange verlangend in den Läden
betrachtet hatte. Über die Glassplitter zerstörter Fenster fort eilten
vergnügt ausschauende Männer und Frauen, die Beutel, Kisten, Tücher und
Bekleidungsstücke im Arm trugen. Sie wollten den Raub in Sicherheit
bringen, doch keiner hielt es für nötig, ihn zu verbergen.

»Hast du auch was erwischt, Gevaddersche?«

Die Alte öffnete ihre Schürze und ließ hineinsehen. »Geht zum
Apollonienmarkt, dort gibt es Schuhe!«

Leute, die sich nie einen Faden unrechtmäßig angeeignet hatten,
prahlten mit den geraubten Dingen wie mit vorteilhaften
Jahrmarktseinkäufen. Woher kam diese Verwirrung des Sinnes für
Gerechtigkeit? Oder war dieser Sinn nie in Schichten gedrungen, deren
Gesittung nur in der Furcht vor Strafe bestand?

In der Tat, als um Mittag die bewaffnete Gewalt anrückte, wurde es auf
den Trümmerstätten ruhig.

Frauke und Güldenfey konnten den Besuch bei einer alten Verwandten am
Nachmittag ausführen. Sie saßen eine Stunde lang unter altfränkischem
Hausrat und bewunderten die feinsten Spitzen, die unter den kleinen,
mit zahllosen dünnen Ringen geschmückten Händen des ergrauten Fräuleins
hervorwuchsen.

»O, ich bin so furchtsam!« sagte sie zum drittenmal in das Gespräch
hinein und sah besorgt auf das leere Bauer, in dem der letzte
Kanarienvogel während des dritten Kriegssommers trotz ihrer Fürsorge
verendet war.

Güldenfey trat an das Fenster und sah hinab; die breite Straße war
völlig menschenleer, nur aus der Ferne drang das Geräusch tobender
Kinder. »Du kannst beruhigt sein, Tantchen«, sagte sie. »Die Gefahr ist
vorbei. Oder soll ich dich zu uns mitnehmen?«

Frauke und Güldenfey gingen. Die Straße war freilich ruhiger denn je,
doch nach wenigen Schritten erkannten sie die Ursache dieser Stille:
an beiden Enden war die Straße durch Postenketten abgesperrt. In ihrer
Mitte standen auf dem Damm Maschinengewehre, die nach links und rechts
drohten.

Ein Hauptmann im Stahlhelm trat auf sie zu: Ob die Damen nicht lieber
in das Haus zurückkehren wollten; die Straße mußte gesperrt werden,
hinter den Posten staue sich die Menge.

»Aber wir müssen nach Hause«, sagte Güldenfey.

»Wir gehen!« fügte Frauke schroff hinzu.

Der Hauptmann zuckte die Schultern. Diese wohlgekleideten Damen sollten
ungefährdet durch die tobenden Menschen kommen? dachte er. Sein Befehl
schrieb ihm nichts vor. Sie würden schon umkehren!

Je näher sie der Sperrkette kamen, um so mehr vernahmen sie den
wüsten Lärm. Das also waren die tobenden Kinder! Die Soldaten standen
unbeweglich, die Waffe mit aufgepflanztem Bajonett im Arm. Die auf sie
niederströmenden Beschimpfungen, denen sie wehrlos ausgesetzt waren,
trieben ihnen das Blut ins Gesicht. Besser war feindliches Trommelfeuer
als diese Schmähung der Volksgenossen.

»Henkersknechte seid ihr. Schießt doch, ihr feigen Hunde!«

Das waren die Plünderer, die so schalten.

Zaghaft blieben die Frauen stehen. »Können wir wohl hier weitergehen?«

Ein Soldat trat ein wenig vor. Die Menge wich nicht.

»Bitte, dürfen wir durch?« fragte Güldenfey. »Wir waren hier auf Besuch
und wollen nach Hause.«

Schweigen, Trotz. Ein unflätiges Wort drang aus der Menge, eine Lache
schlug auf. Güldenfey erbleichte.

»Pöbel!« sägte Frauke mit zusammengebissenen Zähnen.

»O bitte!« Güldenfey hob die Hände. Bat sie um den Durchlaß oder um
Verzeihung wegen des bitteren Wortes?

Allein die Männer fletschten grinsend die Zähne. Die Verlegenheit der
feinen Damen befriedigte sie aufs höchste.

Plötzlich rief eine helle Kinderstimme: »Vater, laß sie doch gehen. Das
ist ja Güldenfey.« Ein blasses Mädchen schob und zwängte sich durch die
Menschenwand. »Sie hat uns doch Brot geschenkt!«

»Kennst du mich, Kind?« Güldenfey kniete nieder und legte einen Arm
um das Mädchen. In ihrer Stimme jauchzte etwas, nicht befreite Angst,
sondern Freude. Sie streichelte das verwirrte Haar. »Wie heiß du bist.
Bist du nicht das Lieschen vom Katerberg?«

Wie waren sie alle so still! Soldaten, rauflustige Männer und zeternde
Frauen blickten jetzt betroffen, entspannt auf das zärtliche Bild.

»Kommen Sie!« sagte die Kleine und ergriff Güldenfeys Hand.

Die Wand spaltete sich. Kein Wort fiel auf sie. Das Kind leitete sie
sicher durch die Menge, die ihnen stumm Platz machte.

»So wären wir also durch den Mob vom Mob gerettet«, sagte Frauke, als
sie durch das Tor schritten.

Güldenfey antwortete nicht. Frauke hätte sie doch nicht verstanden. Auf
dem Markt nahm sie eiligen Abschied.

Sie eilte wie auf Flügeln nach Hause. Ein Sieg, ein Sieg! Die Menschen,
die an ihr vorübergingen und mit einem Blick ihr Gesicht streiften,
wunderten sich über den strahlenden Glanz dieser Augen. Sie konnten
freilich nicht wissen, daß es der verklärende Schimmer war, den ein
feierliches Gelöbnis um den Gelobenden breitet.




                               Das Tier


»Nein!« sagte Güldenfey. »Nein, Klaus.«

Klaus zupfte an seinen Handschuhen und sah verlegen zu Boden. »Warum
nein? Weißt du denn, was ich will?«

»Ich weiß es. Bitte, sprich nicht mehr.«

Sie saßen in Güldenfeys Zimmer, das voll warmen herbstlichen
Sonnenscheins war. Des Mädchens Augen wanderten über die glänzend
gebohnerten Möbel aus hellen Hölzern, die schon in der Mutter
Mädchenstube gestanden. Was sagten diese lieben Biedermeierdinge zu
dem, was hier gesprochen wurde, diese Säulenuhr unter dem Glassturz,
deren Pendel emsig die Sekunden zählte, der Rundtisch mit dem
vierfachen Fuß, dieser kleine Spiegelschrank, der die Sammlung alter
Seltsamkeiten barg, und das mit Fadeneinlagen gezierte Sofa? Alles,
alles hatte für sie Laut und Stimme, wenn sie allein hier war. Warum
schwieg denn jeder Gegenstand heute?

Als Güldenfey noch hängende Zöpfe trug, hatte sie sich zuweilen die
bunte Stunde ausgemalt, die ihr den ersten Antrag brachte. Jetzt war
sie da. Was sollte sie sagen? Keiner half, und sie wollte doch nicht
weh tun.

»Nun denn: ja, ich kam, dich um deine Hand zu bitten, Güldenfey. Warum
soll es nicht gesagt werden?«

»Ich hätt' es dir gern erspart«, entgegnete sie. Ihre Hände strichen
zart über die Lehnen ihres Stuhls.

»Was? Die Abfuhr? Nun, man hat ja schon allerlei erlebt«, fuhr er fort.
»Aber vielleicht hast du die Güte, deine Ablehnung zu begründen. Ich
habe fast fünfzehn Jahre vor dir voraus, denkst du. Das ist richtig.
Ich glaube kaum, daß mir die Rolle des jugendlichen Liebhabers
sehr liegt.« Er schwieg und machte eine bedauernde Gebärde. Sein
vollwangiges Gesicht war noch tiefer gerötet als gewöhnlich.

Güldenfey wehrte ab. Nein, das war es nicht. Er durfte sie nicht erst
daran mahnen, daß sein Haar an den Schläfen ergraute und das Wohlleben
seinem Körper die Beweglichkeit vorzeitig genommen hatte. Sie wollte im
Mann das Väterlich-Behütende finden, nicht das Stürmisch-Begehrende.
Wie hatte Jörg jüngst an sie geschrieben? »Wenn man einen Menschen
liebt, findet man nur Liebenswertes an ihm.« Sie mußte plötzlich an die
Worte denken, die Jörg auf Heilisoe gesprochen. Sie stellte ihn sich
vor, wie er mit aufzehrendem Eifer arbeitete. Und der dort ...?

»Gründe, sagst du?« sagte sie leise. »Es ist nur einer, Klaus. Willst
du wirklich, daß ich ihn nenne?«

»Ich bitte, Güldenfey.«

»Ich kenne nur zwei Arten des Menschen«, fuhr sie fort. »Die einen
wollen, daß das Leben ihnen diene; die andern dienen dem Leben, nicht
nur mit Hingabe, sondern auch mit Opfern.«

Er sah sie betroffen an. »Und du?«

»Ich gehöre zu den letzten.«

»Aber das ist ja jugendlicher Überschwang!« fuhr er erregt auf. »Das
verliert sich mit den Jahren.«

»Nein, das ist Wesen«, sagte sie fest. »Meine liebe Mutter ... Doch
warum davon reden! Es sollen Menschen, die im Innersten so verschieden
geartet sind, nicht an gleichem Strang ziehen.«

In diesen Worten lag etwas, das wie eine Schranke Halt gebot. Sollte
er jetzt noch versuchen, Malte zu Überredungskünsten anzueifern? Es
wäre doch vergeblich gewesen. An Klaus' Augen zog das Bild einer
wohlhabenden, dunkelhaarigen Witwe vorüber, deren Blicke schon lange
lockten. Etwas ganz andres als dieses süße lichte Blond. Und dennoch ...

Er stand auf. Der Rückzug ist für den Soldaten in jedem Falle peinlich,
der Rückzug vor einem Mädchen ist doppelt unangenehm. Er bewahrte
Haltung, doch die gekränkte Miene war nicht zu verleugnen.

»Vergib mir, Klaus!«

Er beugte sich über ihre Hand, und in diesem Augenblick ward ihm klar,
was sie meinte. Ja, es war besser so. --

Güldenfey ging mit ausgebreiteten Armen durch das Zimmer, als sie
allein war. Wie glänzten die Dinge um sie her! Sie tauchte ihr Gesicht
in den bunten Herbstlaubstrauß auf der Kommode und ging wieder von
einem zum andern.

Du hast recht getan! wiederholte fortwährend die kleine Säulenuhr. Wir
bleiben bei dir, und ich zeige dir neue, versteckte Heimlichkeiten,
sagte der Schrank mit dem verborgenen Fächerwerk; und der Spiegel
schien ihr freundlich zuzunicken. Da lachte sie fast übermütig und
strich die Delle auf dem Sofa, die Klaus hinterlassen hatte, glatt.

Sie hätte gern einem Menschen erzählt, daß sie frei bleiben dürfe, aber
Harro hatte Marfa abgeholt und war zu ihrer Aufmunterung mit ihr in den
Harz gefahren. Und Frauke? Nein, was hätte Frauke davon verstanden! So
ging Güldenfey zu Engelke.

Die Alte war krank gewesen, befand sich jetzt aber in der Besserung.
Ihre Schwester, die Schusterswitwe Friedchen Waterström, die auf dem
Räucherboden von St. Johannes eine Altersstube bewohnte, war bei ihr.

»Was hat dir nur gefehlt?« fragte Güldenfey erschrocken.

Das mundfertige Friedchen, das man nie ohne ihre mit Siegellack
geflickte Brille sah, nahm sofort das Wort. »Was wird's gewesen sein,
gnä' Fräulein! Rheuma. Als Singen und Beten nicht halfen, haben wir ein
Pechpflaster aufgelegt, das hat gezogen. Pechpflaster ist das Beste!
sagte mein seliger Waterström.«

»Aber Sie hätten mich rufen sollen«, sagte Güldenfey.

»Ach, gnä' Fräulein,« rief das Friedchen, »hier im Heiligen Geist
wohnt sie ja so gut, da ist ja das Kranksein schon eine Lust. Wenn ich
dagegen an den Räucherboden denke! An den Geruch gewöhnt man sich und
auch an die schwarze Rußfarbe, aber die Enge --«

Es war nicht leicht, wenn die Waterström diesen Vergleich zog, durch
ihren Wortschwall bis zu Engelke vorzudringen, die matt und ein
wenig lächelnd im Ohrenlehnstuhl saß. Sie war noch geduldiger und
freundlicher als vorher und wartete, bis die Schwester gegangen war.

»Ich wollte nicht, daß sie dich beunruhigte«, sagte sie. »Ich nahm
die Schmerzen als Gottes Strafe für meinen Undank. Ich hab' es doch
wirklich hier so gut und murre, weil ich nicht den Treßhof vergessen
kann.«

»Du hast dich noch nicht eingelebt, Engelke?«

»Nie, nie!« sagte sie und wischte hastig ein paar Tränen fort.

Güldenfey hatte viel zu streicheln und zu trösten. »Ich möchte dir
etwas ganz Besonderes schenken, Engelke. Hast du einen Wunsch?«

»N--ein.«

Aber auf längeres Zureden gestand sie, wie leid es ihr sei, daß die
dumme Krankheit sie verhindert habe, in den herbstlichen Wald zu
kommen. Ein Ausgang in den mailichen Wald, einer, wenn die Blätter
fielen, das waren seit ihrer Jugend die freien Tage des Jahres, die die
alte Magd für sich begehrt hatte.

»Es ist aber nicht zu spät«, sagte Güldenfey. »Das Laub färbt sich
erst. Ich hole dich im Wagen ab. Sage nur, wann.«

Wie fein war der Tag, da die beiden ausfuhren! Sämtliche Bewohnerinnen
des Heiligen Geist bildeten Spalier, als Engelke von Güldenfey zum
Wagen geführt wurde, der vor dem Portal wartete. Güldenfey nickte
strahlend nach rechts und links, und die welken, zahnlosen Mäulchen
dankten ein wenig säuerlich. Engelke war verschämt.

Allerseelen war vorüber. Wo der Schatten den Weg deckte, knisterte um
den Mittag noch die silberne Reifspur der Nacht, aber die Sonnengarbe
stand leuchtend über leeren Feldern und smaragdgrüner Wintersaat.

»Sieh, Engelke, wie braun noch das Laub ist!«

Die Alte nickte stumm über gefalteten Händen. Ach Gott, daß ihr
das noch wurde! Im Wagen durch diese Pracht. Sie hätte immerfort
danke, danke sagen mögen, aber das litt Güldenfey nicht. Dann ein
Kaffeestündchen in der Waldschenke, ein kurzer Spaziergang unter
dunklen Tannen, und schon verschwelte die Sonnenglut des kurzen Tages.

»Ist es schon zu Ende?« fragte Engelke.

»Denk' an dein Rheuma.«

»Ach, nun kann ich wieder viel ertragen«, seufzte die Alte.

Güldenfey ließ den Wagen einen Weg einschlagen, den sie liebte und
der durch jungen Wuchs führte. Der westliche Himmel war gänzlich mit
Purpurflöckchen bestreut, der östliche aber, an dem die nahezu volle,
grünlich-blasse Mondscheibe hing, war glatt und funkelnd wie polierter
Stahl. In dieser kurzen Frist, da Tag und Nacht zu seltsamem Zwielicht
ineinanderflossen, erschien der junge Trieb wie ein Märchen. Die
wenigen starken Eichen trugen ihr rostiges, gekräuseltes Laub wie eine
dunkle Wolke. Das Braun der Buchenheister hob sich fein von dem ernsten
Grün der Jungtannen und Wacholder ab, und die Lärchen streuten ihre
gelblichen Nadeln über bemooste Baumstümpfe am Wegrand.

Güldenfey ließ den Wagen halten. Engelke murmelte aus ihren Tüchern:

       »Wie ist die Welt so stille
      Und in der Dämmrung Hülle
      So traulich und so hold
      Als eine stille Kammer,
      Wo ihr des Tages Jammer
      Verschlafen und vergessen sollt.«

»Verschlafen? Ja; aber vergessen? Ach, Engelke!«

Mitten in der Schönheit der flammenden Wälder fiel auf Güldenfeys
liebendes Herz die schwere Not der Zeit, die alle Häuser des Landes
bewohnte. Gab es denn nicht einen Ort, dahin man vor ihr fliehen konnte?

Die Schönheit der Natur bot auch keine Zuflucht. Wie sollen die
Menschen, die beständig gegen das große Gesetz der Liebe fehlen, in ihr
Frieden finden, deren Wesen auf strengste Gesetzmäßigkeit gegründet
ist!

Die Pferde trabten der Stadt entgegen, der Wald versank im bläulichen
Atem der Nacht.

»Engelke, du bist fromm«, sagte Güldenfey. »Weißt du, was der Grund
unsrer herzbeklemmenden Not ist?«

»Das wißt ihr wohl besser als ich einfältige Magd, die Gott auf ihre
Weise dient«, wehrte die Alte ab.

»Ich habe viele gefragt; doch weiß es keiner«, sagte Güldenfey.

Engelke schwieg eine Weile, dann begann sie: »Ich find' es auch nicht.
Aber wenn du es fertigbrächtest, einmal unsre Versammlung zu besuchen
...! In einigen Wochen kommt ein erleuchteter Mann zum Vortrag.«

»Ich komme, Engelke.«

»Ach, Fräulein Fink wird es dir noch ausreden. Sie hält mehr vom Spuk-
und Teufelskram als vom Glauben.«

Als Güldenfey der Alten am Tor des Heiligen Geist vom Wagen half, sagte
sie: »Nun vergiß nicht diesen schönen Tag. Ich komme bald, um die
Ankunft eures Redners zu erfragen. Dann begleite ich dich.«

                   *       *       *       *       *

An dem Abend im späten November lag schwer und feucht der Seenebel
über der Stadt. Das Leckwasser tropfte träge in den Gossen, die
Straßenlaternen bildeten gelbe Lichtflecke in dem trüben Dunst.
Güldenfey tat einen alten Mantel um, setzte ein verschrobenes Hütchen
auf und ging zu Ose hinauf.

»Jetzt geh' ich, Ose, und du leistest also Frau Doktor Gesellschaft.
Aber, bitte, erzähle ihr keine gruseligen Geschichten.«

Ose stand schon bereit. »Frau Doktor will immer solche Geschichten
hören«, sagte sie.

»Aber nicht wieder von Mariakron, wo sie im Klostergrund die
Kinderskelette fanden«, bat Güldenfey.

»Gut, gut!« sagte Ose. »Du gehst also wirklich?«

»Natürlich, Ose.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Diese Winkelfrommen! Nimm doch einen
Schleier, daß dich nicht jeder erkennt.«

Aber Güldenfey winkte ihr nur zu, öffnete eine Tür, um Marfa noch einen
Gruß zuzurufen, und ging.

Das Pflaster der Straßen war feucht und von einer dünnen Schicht
klebrigen Schmutzes bedeckt. Einzelne Menschen liefen hastig durch das
Dunkel der kaum erhellten Häuserzeilen, als strebten sie, so bald als
möglich unter Dach zu kommen. Der Nebel dämpfte jeden Laut. Die Sirene,
die im Hafen zuweilen aufschrie wie ein hungerndes Wüstentier, schien
ihren Ruf aus entlegenen Weiten zu senden. Die Glockenschläge der
Kirchen klangen gedämpft.

Zuweilen wurde die Tür eines Hauses geöffnet, die Steinstufen herab
huschte eine Gestalt, die über die Straße lief, um jenseits im Schatten
einer Beiwacht, eines Hauswinkels wieder zu verschwinden. Es lag etwas
Gespenstisches in diesem lautlosen Eilen schweigsamer Menschen, deren
Geschlecht, Alter und Art unkenntlich war, und Güldenfey mußte an Oses
Erzählung von den Schatten vergangener Geschlechter denken, die durch
die lichtlosen Straßen der Stadt irren, weil sie die Tür von St. Niklas
zur Mitternachtmesse nicht geöffnet finden.

Vom Binnenhafen drang der Geruch im Wasser faulenden Unrats. Die
Fenster der Schenken, hinter denen das Lärmen der Zecher und die
Klänge einer Harmonika durcheinanderbrausten, waren vom Niederschlag
menschlicher Dünste getrübt. Eine heisere Stimme rief hinter Güldenfey
drein.

Endlich hatte sie den Heiligen Geist erreicht. Engelke stand schon
bereit.

»Mein altes Herz hat in Angst um dich geschlagen. Dieses Wetter! Ich
hätte dir den Gang doch nicht vorschlagen sollen.«

Güldenfey beruhigte sie, und sie gingen, gingen durch Winkel und
Gäßchen, von deren Vorhandensein Güldenfey nichts wußte.

»Wo sind wir eigentlich, Engelke?«

Die Alte murmelte etwas, was Güldenfey nicht verstand. Es gab hier
Mörderstraße und Diebsteig; warum das Kind erschrecken!

Endlich standen sie vor einem schmalen Vorstadthäuschen, aus dessen
Pforte ein Mann trat. Engelke begrüßte ihn, und er geleitete sie die
Stiege empor auf einen Flur, wo er ihnen beflissen eine Tür öffnete.

»Es wird gleich beginnen«, sagte er leise. »Hier rechter Hand ist noch
Platz.«

Sie betraten einen länglichen, mäßig großen Raum, der schwach
beleuchtet war. An der einen Schmalseite standen ein Rednerpult und
ein Harmonium; die hell getünchten Wände waren kahl. Auf hölzernen
Bänken und Stühlen saßen die Angehörigen dieser Gemeinschaft, Männer
mit harten Arbeiterhänden, Frauen mit welken Gesichtern, Mädchen, die
mit der Nadel oder im Hausdienst erwarben, ein paar Burschen; aber alle
waren mit sauberer Schlichtheit gekleidet, ernst und gesammelt.

Es kamen noch einige. Die Art, wie sie die schon Anwesenden begrüßten,
hatte etwas Eigenes. Es lag im Blick, den sie tauschten, im Neigen
des Kopfes nichts Steifes, Hergebrachtes, sondern der Ausdruck
gegenseitigen Verstehens und Gelobens. Diese Menschen, die aus ihrer
Tagesnot hier Entlastung suchten, erschienen Güldenfey wie die Glieder
der ersten römischen Gemeinden in den Katakomben, wie die Gottsucher,
die vor dem Zorn der Kirche flüchten mußten.

Seltsam! Keiner musterte sie mißtrauisch oder neugierig. Jeder schien
ohne weiteres ihre Zugehörigkeit anzuerkennen.

Und da waren ja auch Bekannte. Unter den schlichten Leuten saß schlicht
und unscheinbar Oberst Helf, der Kriegsverstümmelte, und etwas
schamhaft im Winkel Frau von Ebel, die ihre drei Söhne verloren hatte
und deren Augenlicht durch Tränenströme fast erloschen war.

Güldenfey sah sich freier um. Sie wurde sogar gegrüßt und dankte
mit einem gewissen Stolz. Kannte dieser junge Beamte von einem der
zahllosen neuen Ämter sie wirklich wieder? Sie hatte seine freundliche
Art einmal in der Amtsstube laut gerühmt, um die aufgeblasenen
Unehrerbietigen zu strafen, die grob mit den verängsteten Rat- und
Hilflosen verfuhren.

Die Tür war wieder geöffnet und ein Mann eingetreten, der sich durch
nichts auszeichnete. Er trat hinter das Pult auf eine Erhöhung, legte
ein Buch auf den Pultdeckel und neigte für kurze Zeit den Kopf.

»Das ist er!« flüsterte Engelke.

Also das war er! Vielleicht ein einstiger Beamter, vielleicht auch ein
Geistlicher, den es im Schatten der Kirche nicht gelitten hatte.

Er hob das Gesicht, seine Blicke wanderten über die Harrenden dahin.
Jeden schien er zu prüfen; jeden schien er zu fragen: Was gebe ich dir?
Was verlangst du von mir? Dieser Mann bot den Eindruck unbegrenzter
Freiheit, die sich durch nichts, was Menschen schreckt, beirren läßt.

Er nannte ein Lied, das gesungen werden sollte. Eine junge Lehrerin
saß am Harmonium. Eine Weise, feierlich-getragen und doch seltsam
rhythmisch bewegt, ward angestimmt. Alle sangen mit. Dem Oberst reichte
eine Hand das geöffnete Buch. Güldenfey lauschte. Sangen so nicht die
verfolgten Gläubigen auf den russischen Strömen, wenn sie am Abend auf
verankerten Flößen saßen?

Das Lied war verklungen.

»Was jeder dem Vater an Not der Sorge oder der Schuld zu sagen hat, das
tue er jetzt und entlaste sein Herz.«

Stirnen senkten sich, Hände suchten sich; zuweilen klang eines halb
erstickten Seufzers Laut durch den Raum.

Und wieder ging das Fragen der Augen da vorn von Gesicht zu Gesicht.
Sie waren bereit, und er begann zu reden.

Vor sechseinhalb Jahren, sagte er, sei er das letzte Mal an einem
warmen Juniabend durch diese Stadt gegangen, die voll fröhlicher
Reisenden war. Gesang, Gelächter, Musik, auf dem Balkon des Artushofes
bunte Lampen und Gläserklirren. Aber hinter diesem glänzenden Vorhang
habe eine dämonische Macht unheimlich gelauert: sechs Wochen später
hätten wir die Kriegserklärung gehabt.

Der Oberst hob witternd den Kopf. Ja, damals!

Heute sei er wieder durch die Stadt gegangen. Winterliches Dunkel,
Schweigen, Nebel auf den Dächern wie ein Deckel auf dem Sarg, eilige
stumme Menschen. Und wieder habe er hinter dünner grauer Wand eine
dämonische, menschenfeindliche Macht lauernd stehen sehen: die bange
Sorge.

Güldenfey spürte einen kühlen Hauch im Nacken, als sie an die Schauer
ihres Weges dachte. Ja, so war es! Die Sorge.

»Aber Krieg und Sorge sind die Namen des Dämons nicht, der jetzt
die Welt beherrscht, es sind nur Geißeln, mit denen er zuschlägt.
Die Menschen haben Gott verlassen, aber da sie ohne einen Herrscher
nicht sein wollen und nicht leben können, haben sie sich einen
Beherrscher des Abgrunds gewählt, der viel verspricht, aber dafür seine
Untergebenen peinigt und quält.«

Er sah wieder über die Reihen hin.

»Schon vor fast zweitausend Jahren ist von diesem Dämon geweissagt
worden. Hört, was das Wort von ihm sagt!«

Er schlug das Buch, das auf dem Pult lag, auf. Es war eine Stelle, die
auf den letzten Blättern verzeichnet war.

»Ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, und der ganze Erdboden
verwunderte sich des Tieres und betete es an und sprach: Wer ist dem
Tier gleich, und wer kann mit ihm kriegen? Und es tat seinen Mund auf
zur Lästerung gegen Gott. Und ihm ward Macht gegeben, zu streiten mit
den Heiligen und sie zu überwinden. Und es macht, daß die Kleinen und
Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte sich ein Mal
geben an ihre rechte Hand oder Stirn, daß niemand kaufen oder verkaufen
kann ohne dieses Mal des Tieres oder die Zahl seines Namens.«

Er hielt bedeutsam inne und fuhr dann lauter fort: »Hier ist Weisheit
not! Wer Verstand hat, der überlege des Tieres Zahl, denn es ist eines
Menschen Zahl.«

Der Mann schloß das Buch. Die Augen, die sich auf ihn richteten, waren
heiß und voll Begehren.

»Freunde, soll ich euch jetzt noch den Namen nennen, vor dem die
Welt im Staube liegt? Kennt ihr die dämonische Macht, die allen, die
Liebe und Glauben fortwerfen, Glück verheißt, die der Inbegriff des
Unpersönlichen und Niedrigen ist? Es ist das Geld! Ihr alle kennt den
Namen des Tieres.«

Es ging ein Aufatmen durch die Versammlung: Ja, so ist's! Geld hat den
Krieg entfesselt, Geldsucht der Erpresser schafft diese Not. Güldenfey
horchte angespannt. Würde der Mann ihrem Herzen Antwort geben?

Er sagte: »Das ist das Erniedrigende, Vertierende dieser unheimlichen
Gewalt, daß sie mit einem gemeinen Betrug wirkt: Ich mache dich zum
Herrn. Jawohl, Herr der Dinge, aber ihr unentronnener Knecht. Das Geld
besitzt den, der sich ihm unterwirft, eher, als er das Geld besitzt.
Die Gier, zu besitzen, ist das Knechtmal.«

Wie füllte sich die Stimme des Sprechenden mit Glut und Gewalt, die
seine Hörer aus diesem Haus entrückten! Er war in dem großen Erdteil
jenseits des Ozeans gewesen, wo das Tier aus dem Wasser stieg. Vor 425
Jahren hatte Europa seine Schiffe ausgesandt, einen Seeweg, ein Land zu
entdecken. Da fanden sie das Tier, den Fluch Gottes, und unterwarfen
sich ihm.

Wie ein Magnet zog es die Menschen an und vertierte sie. Die
eingesessenen Völker mit Schwert und Branntwein ausgerottet! Das von
Blut und Frevel dampfende Land an sich gerissen! Dann die Hetzjagd nach
Besitz! Man betete das Tier an, das seinen Mund gegen Gott auftat und
sein Werk lästerte.

Dann kam es über das Meer nach Europa. Man wollte es hier denen da
drüben gleichtun. Ein Volk entriß dem andern den Vorrang: Holland den
Spaniern, England den Holländern. Dann fiel die Gier Deutschland an;
das Volk mit der Kindesseele warb um das Mal des Tieres an der Stirn,
kaufen und verkaufen zu können. Da stand Gott auf und gebot Halt. Und
wir verloren den Krieg.

Mein Gott! dachte Güldenfey. Mein Gott! War es so? Hatte die glitzernde
Bahn des Verderbens diesen Verlauf genommen? Sahen das nur wenige,
waren die andern mit Blindheit geschlagen?

Wo hatte sie schon Ähnliches gehört, gesehen? Balzer Treß, der
fliegende Holländer, der die Heimat verspielte. Und dann Jörgs Bild von
dem ungeheuerlichen Menschen auf den Geldsäcken. Ja, die wußten darum.

Sie zwang sich, der Rede weiter zu folgen. Was war das, was er soeben
sagte? Wir sind noch nicht am Ende, wir haben die letzten, bittersten
Hefen noch nicht getrunken? Was käme uns noch?

Der Sprecher war völlig hingenommen von dem, was er aus seiner Seele
schleuderte. Er glich einer steil steigenden Flamme.

»Wir sind so der Starre verfallen, daß wir Wahrheit und Notwendigkeit
nicht mehr kennen«, rief er. »Wir haben das, was wir gewannen, mit dem
Verlust unsrer Seele bezahlt. Erst wenn uns das Grauen anwandelt über
das, was wir verloren, werden wir erkennen, werden wir umkehren.«

Ein Seufzer stieg irgendwo wie eine wortlose Klage auf. Ein Mütterchen
fuhr mit dem Handrücken über nasse Augen. Ach, sie erkannten; sie
wollten nur ihre stillen abseitigen Wege gehen. Wann endeten sie nur?

Es war, als hätte sie die Gründe der Seufzenden erschaut. Diese alle
waren doch gekommen, Trost zu hören. Und dann die Irrenden, die wie
der fliegende Holländer durch die Wildnis der Wasser fuhren. Es waren
so viele, von denen sie wußte, daß sie Deutschland den Geist, der dort
drüben regierte, einblasen wollten. Malte hatte erst jüngst davon
gesprochen. Malte! Sie sah ihn vor sich, sein ernstes, blasses Gesicht.
War seine Schöpfung, diese neuen Räume am Markt, diese vielen Tische
mit den Lichtkreisen, das Bild der Fieber, die ihn verzehrten?

Eine plötzliche Angst überfiel sie und jagte eine heiße Blutwelle in
ihre Stirn. Wußte der Mann dort um das Tier, so mußte er auch um die
Rettung vor ihm wissen. Warum schwieg er davon?

Sie wußte nicht, was sie tat, aber sie stand plötzlich.

Engelke sah seitwärts an ihr hinauf und zupfte sie verlegen.

Der Redner dachte wohl, sie wolle den Saal verlassen; er sprach weiter.
Doch die Dringlichkeit, mit der sie ihn ansah, beirrte ihn. Er zögerte,
fuhr wieder fort und brach plötzlich ab.

»Wünschen Sie etwas zu bemerken?« fragte er.

Alle Gesichter wandten sich ihr zu, sie fühlte sich unwillig angesehen.
Das Blut in ihren Ohren brauste, vor ihren Augen drehte sich ein
Kaleidoskop, und die Kniee lähmte eine seltsame Schwäche.

»Wo ist der Weg nach Heilisoe?« fragte ihre flackernde Stimme.

War der Nebel vor ihren Augen, oder floß er um den Mann? Aber sie sah
doch, daß er sie freundlich anblickte.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte er.

»Ich meine die Hilfe«, sagte sie. »Was sollen wir tun?« Ihre Stimme war
jetzt hell.

Der Sprecher lächelte. »Ich danke Ihnen, liebes Fräulein«, sagte er.
»Ich wollte darüber eigentlich erst morgen sprechen, aber vielleicht
sind Sie dann nicht hier. Sie haben recht. Ich werde sogleich auf Ihren
Wunsch eingehen.«

Er sprach einige überleitende Worte und öffnete dann sein Buch.

»Ich las in dem gegebenen Text ein Wort nicht, das auf die ängstliche
Frage Antwort gibt. Hört es jetzt: So jemand ins Gefängnis führt, der
wird in das Gefängnis wandern; so jemand mit dem Schwert tötet, der muß
mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen
not.«

Güldenfey saß wieder und lauschte.

»Alle ihr, die ihr die tägliche Notdurft höher schätzt als die
Anhäufung des Reichtums, die ihr eure Hand von Wucher rein hieltet und
unrecht Gut nicht nehmt, ihr seid frei vom Mal des unsauberen Tieres.
Aber ihr müßt Not und Schuld eures Volkes mittragen in Glauben und
Geduld. Keine Gewalt! Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert
fallen. Glaube und Geduld!«

Und die Erlösung? dachte Güldenfey. Es muß doch eine Erlösung sein.

Seine Worte schlugen wie Hammerschläge. Die Hörenden packte es wie ein
Schauer, in dem sie fröstelten.

»Gelobt ihr, euch frei zu halten von der Befleckung des Ungerechten und
das Gebot eures Königtums zu erfüllen?«

Er blickte sich fragend um. Die Menschen hatten die Köpfe gesenkt.

»Sagt, daß ihr es wollt!«

Plötzlich rief Frau von Ebel: »Ja, wir wollen es!«

»Ja, ja! Amen!« sagten die andern.

Sie waren in heiliger Verzückung, sie hätten sich wie die
Geißlerscharen der großen Pestzeiten inbrünstig mit knotigen Stricken
blutiggeschlagen, um ihr Volk zu erlösen. Einige warfen sich auf die
Knie, andre vergruben ihr Gesicht in gefaltete Hände. Schluchzen,
Stöhnen füllte den Raum.

War dies die Erlösung? Güldenfey dachte an Jörgs Erzählung von der
Versuchung. Er mußte erst nahen, der Stille, Wartende, der unter den
Bäumen harrte, bis seine Stunde reifte. Bis dahin durfte man nur auf
das Winken seiner Augen achten. --

Leise, wie sie gekommen, entfernten sich die Versammelten. Beim
Hinausgehen nickte mancher Güldenfey freundlich zu.

»Wie liebenswürdig sie sind, Engelke!« flüsterte Güldenfey.

Die Alte, die mit jemand gesprochen, wandte sich Güldenfey wieder zu.
»Hast du nun erfahren, was du wissen wolltest?« fragte sie.

»Das Tier! Ja, nun kenn' ich es.«

Engelke ergriff die Hand eines blassen Mädchens, das neben ihr stand.
»Das ist Hanna Wilkens, unsre fleißige Näherin«, sagte sie. »Sie geht
den gleichen Weg wie du und wird dich begleiten.«

»Und du, Engelke?«

»Ach, mich alte Person läßt schon jemand einhaken, und bis zum Heiligen
Geist ist's nur eine kleine Strecke.«

So ging Güldenfey an der Seite des kleinen Nähmädchens durch die
Straßen. Der Nebel war noch schwerer geworden, er hüllte die dürftigen
Straßenlampen wie mit abblendenden Händen ein. Vor den Fenstern der
Häuser lagen die Läden fest verklammert. Nur selten klangen ferne
Schritte durch die Nacht.

Es lauert etwas dahinter, dachte Güldenfey. Ich kenne es: das Tier, das
aus dem Meer stieg, bedroht uns.

Sie versuchte mit ihrer Begleiterin ein Gespräch anzuknüpfen; die
antwortete leise und bescheiden. Sie arbeitete in dem Anfertigungraum
eines Geschäftshauses, einer großen Stube, deren Fenster auf einen
tiefen Hof sahen und zwischen dunkelnden Wänden standen. Ihre Mutter
war Witwe; sie hatte zwei unversorgte Geschwister und versuchte, noch
außer ihrer Arbeitszeit zu verdienen.

»Und obgleich Sie so müde vom Tage sind, besuchen Sie noch abends die
Versammlungen?« rief Güldenfey erstaunt.

»Es ist fast die einzige Freude, die ich mir gönne«, sagte das Mädchen.

»O!« Güldenfey fühlte sich sofort beschämt, und ihr Herz wallte auf.
»Besuchen Sie mich doch Sonntags. Sie wissen, der Treßhof.«

»Ich habe sehr wenig Zeit, auch am Sonntag«, erwiderte die kleine
Näherin. »Ich bin aber schon für die gütige Einladung dankbar.«

»Nein wirklich, Sie müssen kommen«, sagte Güldenfey herzlich. »Wir
wollen nachdenken, wie wir Ihre Lage verbessern.«

Die andre lächelte. Nach einer Weile fragte sie: »Sie werden in unsre
Gemeinschaft nicht mehr kommen?«

»Ich glaube nicht!« sagte Güldenfey leise. Es war, als hüte sie sich,
mit ihrer Antwort dem Mädchen weh zu tun.

Mellin in seinem Wettermantel stand vor der Torfahrt und schaute nach
Güldenfey aus.

»Wir sehen uns gewißlich wieder«, sagte Güldenfey und drückte dankbar
die Hand der Freundlichen.

Mellin steckte die Schlüssel in das Türschloß. Sie aber stand noch
und sah der Fortgehenden nach, bis ihre Schritte im Nebel der dunklen
Straße verhallten.




                                Usadel


Um den Tag der heiligen drei Könige setzte ein scharfer Frost ein, der
in Kürze über alle Wasser gläserne Brücken schlug. Nach wenigen Nächten
war das Eis auf den Teichen für tragfähig befunden, und auf Schlitten
und Stahlschuhen glitt die Jugend hinüber und herüber, während die
befransten Enden buntfarbener Wollschals um die vor Eifer geröteten
Köpfe wie Puttenflügel flatterten.

Eine Woche nach der Ankunft des Frostes war die Brücke über den Sund
bis zur großen Insel fertig. Schlitten und Lastwagen fuhren hinüber,
und die Koithans, jene alten schmalen Personenschlitten mit den zu
beiden Seiten weit hervorragenden, quergelegten Sitzbrettern, läuteten
auf der abgesteckten Fahrtlinie hin und her. Vor den Dampffähren aber
sägten die Eisbrecher die Schollen, die Wasserrinne offen zu halten.

Der Sonntag war der Tag, an dem auch die Werkenden sich das Besondere
leisten konnten, die Insel zu Fuß zu erreichen. Ein dunkler Strom
Wandernder schob sich über die bläulich-graue Eisdecke. Stellenweise
beulte sich diese, denn der Ostwind hatte in den Frostnächten mit
vollen Backen geblasen. Die Pfähle der Badebrücken hatte das Eis schief
gerückt. Es war ein Geruch nach Schnee in der Luft. Am Himmel lagen
zottige Wolkensäcke, rötlich gegen Westen, von unsichtbar verglimmendem
Sonnenbrand gesprenkelt.

In der Kette der von der Insel Heimkehrenden schritten der Justizrat
Glöden und sein Sohn. Onkel Rolf ohne Aktentasche! Es war ein Ereignis.
Aber Klaus hatte es für nötig gefunden, den Vater, der sich in
Geschäften aufrieb, in frische Luft zu bringen. Also zur Insel, wenn
sich Klaus in diesem Massenbetrieb auch nicht am rechten Platz dünkte.

Der Alte glaubte, Klaus wolle eine leidige Geldangelegenheit
besprechen, aber Klaus redete von ganz andern Dingen.

»Wie steht es eigentlich um dein Verhältnis zu Güldenfey?« fragte der
Vater nach einer Gesprächspause.

Klaus winkte bedeutsam ab und schwieg.

»Stillstand?«

»Erledigt. Endgiltig aus.«

»Aber --« Der Justizrat blieb überrascht stehen.

»Verzeih, Vater; ich habe nicht davon gesprochen. Schon im Oktober hab'
ich mich ihr erklärt. Es kam, wie ich es voraussah.«

»Ich warnte dich, Klaus --«

»Ja, ja, mein onkelhafter Ton! Nun, den hatte ich schon abgelegt. Es
ist eben eine Verschiedenheit da.«

Er gab etwas von dem wieder, was Güldenfey damals gesagt hatte.

»Unsere Verhältnisse erzogen uns doch zu der Aufgabe: Verdiene gut, daß
du dich anständig kleiden und geschmackvoll essen kannst. Das ist die
Hauptsache. Sie aber spricht von den Opfern.«

Der Justizrat rieb mit dem Zeigefinger das Kinn. Hatte er das den Sohn
gelehrt? Essen und Kleidung der Sinn des Lebens? Alle diese Menschen
hier auf ein paar Zoll dünner Eisrinde über Meerestiefen -- wenn sie
plötzlich versinken würden! Ja, man redete das so hin, doch im Grunde
...

»Ist dir kalt, Vater?«

»Ja, die Eisfläche. Laß uns schneller gehen.«

»Es gibt zwei Arten von Menschen, sagt sie. Nun denn, ich bin hüben,
und sie ist vielleicht drüben. Trotzdem --«

»Doch! Es ist schade!«

Es lag ein besonderer Ton auf dem Wort. Klaus sah den Vater an. Aber
in dem hatte der Wirklichkeitssinn schon wieder jede andre Regung
verdrängt.

»Deine Stellung zu Malte wird das nicht beeinflussen?« fragte er. »Die
Heirat und dein Eintritt in die Firma bedingten einander.«

»Das ist das Angenehme in Güldenfeys Korb,« sagte Klaus, »ich kann
jetzt mit gutem Grund das Geschäft aufgeben.«

»Was fällt dir ein!«

Onkel Rolf war außer sich, er vergaß, den Grüßen zu danken, die ihm
dargeboten wurden. Malte ein Streber? Nun ja, der wußte, was er seinem
Namen schuldig war. Es gab in dieser Zeit keinen andern Weg als den,
etwas kühn zu wagen.

»Etwas sagst du«, fiel Klaus ein. »Gut, meinethalben soll er etwas
wagen. Aber darf er alles aufs Spiel setzen?«

»Was heißt das?«

»Den Besitz, den Ruf, seinen Namen?«

»Er ist zu klug, um das zu tun.«

Klaus zuckte die Schulter. »Vielleicht bin ich als abgedankter Offizier
mit zu engen Begriffen ausgestattet. Aber diesen erstrebten Anschluß an
den internationalen Ring der Geldleute halte ich für verderblich.«

»Warum soll Deutschland außen stehen?«

Klaus schwieg eine Weile, dann sagte er: »Mein mütterliches Erbteil
stecke ich nicht in dies Geschäft. Du weißt, Malte hat dies gewünscht.«

»Du bist der Mann stiller Beschaulichkeit«, knurrte Onkel Rolf.

»Was bliebe einem Menschen, der seinen Beruf verfehlt, sonst noch
übrig, Vater? Aber verlaß dich darauf: von dem, was mir dieses
klägliche Leben schuldig blieb, erliste ich mir dennoch soviel als
möglich.«

Und seine Gedanken spielten wieder um das behagliche Haus, in dem die
dunkelgescheitelte Witwe lebte. Noch einen Monat oder zwei! Es war gut
in diesem Fall, sich ein wenig rar zu machen.

Onkel Rolf ging schweigsam. Es bedurfte nicht umstürzender Ereignisse,
um das trübe Flämmlein seines Mutes dem Erlöschen nahe zu bringen.
Wieder ging ein Plan in Trümmer. War Klausens Urteil über Malte
berechtigt? Ach was! Er kannte des Sohnes Abneigung gegen geschäftliche
Dinge zur Genüge. Und doch, man sollte aufmerken. Man war schließlich
beteiligt.

                   *       *       *       *       *

Malte Treß saß einige Tage später in seinem Arbeitzimmer und vollzog
einige Unterschriften. Ein Buchhalter stand neben seinem Stuhl, legte
die Briefe vor und trocknete die Schriftzüge, die der Chef mit kurzem,
kräftigem Strich unter den Schriftsatz zog. Ein Schreiben erregte
Maltes Aufmerksamkeit.

»Sagen Sie, wann wollte Herr Häberle in Berlin sein?«

»Heute, Herr Konsul.«

Malte rechnete nach. Die Besprechung auf dem Wirtschaftamt mußte an
einem Tag erledigt werden. »Also wird er morgen abend spätestens hier
sein. Legen Sie bis zu seiner Rückkehr den Brief zurück.«

Es war ein viertes Werbeschreiben an ein Glied des heimlichen Ringes.
Die Angelegenheit gedieh nicht weiter. Maltes Tatendrang zerrte an den
Widerständen wie ein stallmutiges Pferd an der Halfterkette. Dennoch --
den Inhalt dieses Schreibens mußte er mit Häberle noch einmal erwägen.

Der Buchhalter trat zurück.

»Sobald die amtlichen Berichte einlaufen, bitte.«

»In einer halben Stunde, Herr Konsul.«

Die Tür schloß sich. Malte lehnte sich in den Sessel zurück. Was
nun? Den Aktenstapel über eine Fabrikgründung? Die Bilanz einer
Genossenschaft? Die neue Gesetzsammlung? Immer Neues wälzte jeder
Morgen herbei. Er sah gelangweilt über die Papierstöße auf seinem
Schreibtisch hin. Oder war das Müdigkeit? Nein, nur Langeweile. Er
straffte sich. Nur ein seltsames ziehendes Schmerzen über der Braue.

Malte stand auf und zog den Fenstervorhang zu. Die Wintersonne gleißte
wie blankes Messing. Also die Bilanz!

Plötzlich hörte er den singenden Schlag der Standuhr auf seinem
Schreibtisch. Als der letzte Schlag erklang, ließ die Figur des Todes
den Arm mit der Hippe fallen. Wieder eine Stunde fortgemäht! Es war ein
altes Stück, das der Großvater aus England mitgebracht hatte. In der
Linken trug der Todesbote eine Sanduhr. Auf einem Spruchband stand:
=Carpe diem!=

Malte griff nach dem Stundenglas und kehrte es um. Wenn der Sand
abgelaufen war, sollte die Arbeit beendet sein.

Sie war fertig, als es klopfte. Die Berichte wurden überreicht.

Mit diesen fertig zu werden, war nicht die leichteste Aufgabe des
Tages. Jede neue Verfügung war ein Zeugnis für die Hilflosigkeit und
Unentschlossenheit der Spitzenmänner, die das Gedeihen lähmte. Pflanzt,
reißt aus! Pflanzt neu, reißt wieder ab! Kaum war der letzte Stein in
die Mauer gefügt, sah man, daß sie unzweckmäßig war. Also fort mit
ihr! Ein Spiel der Kinder am Sandhaufen. Aber die Drossel an der Kehle
des Volkslebens waren ein gewagtes Spielzeug. Eines Tags ... Nun, dann
würde eben jemand den Erstickungtod feststellen.

Die Uhr klang; der Arm mit der Hippe erhob sich gleich darauf wieder
für den nächsten Schlag.

Malte stand auf. Er wollte auf das Gericht gehen, wo er Onkel Rolf zu
treffen hoffte. Als er den Pelz überzog, pochte es wieder.

Eine endlose Drahtnachricht. Von Häberle? Sie war unterzeichnet von
Usadel. Malte traute seinen Augen nicht. »Wie ist dies gekommen?«
fragte er.

Der Bote wandte sich auf der Schwelle um: »Mit der Post, Herr Konsul!«

Malte winkte. Natürlich! Seine Frage war töricht. Und doch! Als
Aufgabeort zeichnete ein schwedischer Hafen. Wie das? Die letzten
Berichte ließen Usadel in Amerika weilen.

Er las: »Treffe mit dem Schwedenzug heute nachmittag auf dem
Stadtbahnhof ein. Verspätung infolge des Eisganges wahrscheinlich.
Unterbreche die Fahrt dort auf kurze Zeit, um mit Ihnen Rücksprache
wegen der von Ihnen gewünschten Geschäftsverbindung zu nehmen. Da
ich wenig Zeit habe, ersuche um Bereitstellung alles Nötigen. Bitte,
Aufsehen zu vermeiden. Usadel.«

Malte las aufs neue und ein drittes Mal.

Er setzte sich im Pelz an seinen Schreibtisch, ein tiefes Aufatmen hob
seine Brust. War es die Entlastung von einer Sorge? Gewiß. Aber auch
das Auflehnen gegen eine neue beängstigende Spannung. Usadel kam. Die
Entscheidung war ganz nahe gerückt.

Die Entscheidung! Er fühlte sich plötzlich hilflos, entleert,
aufgesogen. Wie ärgerlich, daß Häberle nicht da war! Malte vergaß ganz,
wie oft ihn die besorgliche Vorsicht seines Prokuristen verdrossen
hatte. Jetzt empfand er den leeren Platz draußen als einen Mangel. Die
ruhige Sicherheit, die von dem Manne ausging, fehlte ihm.

Was bedeutete das: Bereitstellung alles Nötigen? Wollte Usadel Einblick
in die Bücher nehmen? Natürlich, er mußte sicher gehen.

Malte trat an die Tür: »Herr Braun, bitte!«

Der älteste Buchhalter trat ein.

»Die Geschäftsbücher mit einem vorläufigen Abschluß müssen bis vier Uhr
vorliegen. Dringende Angelegenheit.«

»Es soll geschafft werden.«

»Gut! Haben Sie alles zur Hand?«

»Gewiß, Herr Konsul. Wo sollen die Bücher ausliegen?«

Malte überlegte. Sein erster Gedanke war: hier! Es schmeichelte
ihm, den Beherrscher des Geldwesens durch die neuen Räume und den
eindrucksvollen Betrieb zu führen. Doch sie waren hier nicht vor
Störung sicher. Aufsehen vermeiden! Der Treßhof erzwang schon wegen
seines Alters Ehrfurcht.

»Im Beratungzimmer des Treßhofes«, bestimmte er.

Das Telegramm in der Hand haltend, stieg Malte in die Wohnräume hinauf.
Frauke saß am Schreibtisch und schrieb in ihrer spitzen Perlschrift
einen Brief. Er legte das Blatt vor sie hin.

»Entschuldige Frauke! Ich denke, es wird dich freuen.«

Sie las und sah dann ruhig auf. »So, Usadel! Nun, ich wünsche dir
Glück!«

Der Panzer ihrer kühlen Gelassenheit war doch undurchdringlich. Malte
schritt im Zimmer auf und nieder. »Es handelt sich um den Beitritt,
Frauke. Ich muß mich entscheiden. Was rätst du, das ich tun soll?«

Sie legte die Feder nieder und wandte sich ihm zu. In ihrem Blick war
Erstaunen, das ihn beschämte: Soll ich sagen, was deine Sache ist? »Das
mußt du selbst wissen, Malte. Oder frage Onkel Rolf.«

»Gewiß«, murmelte er. »Du solltest nur sehen, daß ich Wert darauf lege,
deine Meinung zu hören.«

Ob man einen Imbiß vorsetze? Frauke stimmte zu, sie werde dafür Sorge
tragen. Und der Wagen? Natürlich, der Kraftwagen stand bereit.

Malte verließ das Haus ein wenig bekümmert. Etwas in seinem Innern lag
brach, ein umhegter Fleck inmitten bestellter Felder, der ohne Blühen
war, der immer den Anblick winterlicher Starre bot.

Auf der Straße grüßte man ihn ehrerbietig, der Aldermann Hofmeister
redete ihn zutraulich an. Die Achtung, die man ihm erwies, belebte sein
Selbstbewußtsein wieder. Wenn sie wüßten, welche Pläne er auszuspinnen
im Begriff war! Die Alten würden Augen machen.

Onkel Rolf war noch auf dem Gericht. Malte fragte, ob jener sich ihm
als Beisitzer zur Verfügung stellen wolle.

»Als Beisitzer, mein Lieber?«

Da der Name Usadel fiel, zeigte er ein erstauntes Gesicht.

»Der kommt hierher? Das ist unmöglich. Er schickt einen seiner
Direktoren.«

Malte legte die Drahtnachricht vor.

»Hast du mit Klaus schon gesprochen?«

»Mit Klaus? Du siehst, die Sache ist vertraulich. Übrigens setzt dein
Sohn seine Mittagszeit schon recht frühzeitig an.«

Rolf wurde bedenklich. Der Zeigefinger mit dem Siegelring rieb das
Kinn. »Ja, eigentlich, da es eine rein geschäftliche Sache ist ... Wird
denn ein Vertrag zu schließen sein?«

»Du begreifst, lieber Onkel, daß ich darüber nichts sagen kann. Ein
Vertrag? Nein, es handelt sich zunächst um eine Rücksprache.«

Malte, der eine lebhafte Zustimmung erwartet hatte, wurde etwas
ungeduldig. Schließlich war sein Vorschlag doch ein Vertrauensbeweis.

»Du magst es nicht gern tun, Onkel?« sagte er knapp.

»Offen gesagt: nein, Malte. Ich würde vielleicht als zudringlich
empfunden werden. Man wünscht mit dir allein zu verhandeln.«

»Gut! Du kannst recht haben.«

Er verabschiedete sich, ohne Empfindlichkeit zu zeigen. Eigentlich war
es ihm lieb, daß der Onkel sich ihm versagte. Nun er sich auf sich
selbst gestellt sah, fand er seine alte Zuversicht wieder.

Also zum Treßhof, wo er Mellin und Telge die Herrichtung und Heizung
des Beratungzimmers anempfahl. Dann nach Haus.

Nach dem Essen ging er wieder in sein Arbeitzimmer. Er wollte sich
sammeln, alle Möglichkeiten erwägen, denn er sollte in entscheidender
Stunde allein seinen Mann stellen. Malte wußte, wieviel vom ersten
Eindruck abhing, zumal bei den Gewaltigen des Geldwesens.

Die Zeitungen! Sie konnten warten. Aber da war eine mit Rotstift
aufdringlich bezeichnete Stelle. Er las und erschrak.

Es war ein aufreizender Artikel gegen das Treiben der
Treuhandgesellschaften, den Harro geschrieben. Andeutungen, die auch
den Uneingeweihten nicht in Zweifel ließen, wer gemeint sei, waren
reichlich vorhanden. Die Absicht, den Vorstoß einer Partei damit
anzukündigen, war offenbar.

Wie peinlich! Wenn Usadel dies gelesen, konnte es übel auslaufen, denn
Maltes Zusammenhang mit dem Politiker Doktor Treß war ihm sicherlich
bekannt. Man mußte Harro verständigen.

Auf eine Anfrage war vom Bahnhof mitgeteilt worden, der Schwedenzug
habe eine halbe Stunde Verspätung. Als Malte eintraf, ward eben eine
volle Stunde Versäumnis gemeldet. Malte betrat den Bahnsteig.

Der Wintertag ließ sich sanft in den weiten Mantel der kommenden
Nacht hüllen. Den westlichen Himmel deckte eine brandige Glut, deren
Widerschein der Schnee der Dächer auffing. Der Rauch der Schlote stieg
kerzengerade in die flimmernde Luft.

Die Geräusche des Fahrtbetriebes klangen in das leise Summen unruhig
schreitender Menschen vor den Schranken: der Pfiff einer Maschine,
das Kreischen der Räder am Bremsklotz. Ein Personenzug fuhr ein und
entleerte sich; Frauen mit Lastkörben schoben sich an Malte vorüber.
Dann schleppte eine Maschine die leeren Wagen aus der Halle.

Endlich erging die Meldung, der erwartete Zug werde einlaufen. Die
Post- und Gepäckkarren wurden vorgefahren, und Reisende strömten herzu;
die ganze Unrast des Verkehrs, die durch das Warten gesteigert war,
flutete um Malte. Dann schob sich mit glühenden Augen, unter stoßenden
Atemzügen der rollende Zyklop herein, der die lange Kette vereister
Wagen schleppte.

Malte hatte sich so aufgestellt, daß er die Aussteigenden überschauen
konnte. Es waren nicht viele, die meisten fuhren weiter. Keiner von
denen, die an ihm vorübereilten, konnte der Erwartete sein. Der
Bahnsteig wurde leer. Sollte eine Versäumnis eingetreten sein? Lag auf
seinem Schreibtisch zu Hause schon die Nachricht? Zögernd ging er am
Zug entlang.

An dem Fenster eines hell erleuchteten Abteils zeigte sich ein kahler
Kopf. Die Lippen bewegten sich mechanisch, nicht wie im Gespräch,
sondern als sagten sie etwas her. Über die Platte des Klapptisches
beugte sich schreibend oder lesend ein gekräuselter Mädchenkopf. In der
Nähe stand auf dem Bahnsteig eine Gruppe schwatzender Menschen: vier
oder fünf Männer und ein Mädchen, dessen Gesicht in dem umgelegten Pelz
verschwand.

Aus dieser Gruppe löste sich ein Herr und trat, als Malte sich näherte,
auf ihn zu: »Herr Konsul Treß vielleicht? Sie erwarten --«

Malte bejahte: »Herrn Usadel.«

Der Herr hob den Hut und nannte einen Namen. »Bitte, einen Augenblick
Geduld. Herr Usa--del -- der Name betont sich auf der letzten Silbe --
diktiert noch.«

»Im Zug? Doch der wird sofort abfahren.«

»O, der Schaffner weiß Bescheid.«

Malte erfuhr, daß die Wartenden das Gefolge waren: ein Kanzlist, ein
Geheimpolizist, ein paar Berichterstatter und die zweite Schreiberin.

»Dort kommt Herr Usadel schon!«

Dem Wagen entstieg jener Mann, den Malte am Fenster beobachtet hatte.
Das also war der vielgenannte Große! Einfach gekleidet, ein wenig
unbehilflich und scheu. »Freut mich, Herr Konsul. Ich habe warten
lassen. Bedaure. Haben Sie einen Raum für eine einstündige Besprechung
bereit?«

Die Worte kamen kurz, in etwas heiserem Ton. Er streckte ein paar
Finger zur Begrüßung von sich. Der weitkrempige Hut verschattete das
Gesicht. Er wandte sich zu seinen Leuten.

»Haben wir heut' noch Verbindung nach Berlin?«

Der Kanzlist meldete, daß nach dem Fahrplan keine Verbindung möglich
sei.

»Also einen Extrazug, Herr Direktor!«

Er schickte sich an, zu gehen; Malte und der Herr, der sich ihm
vorgestellt hatte, traten an seine Seite, die andern blieben zurück.
Einen Extrazug! dachte Malte. Wenn er so viel draufgibt, was mag er
dann fordern! Als sie auf die Straße traten, ließ Telge den Motor
anlaufen, und sie stiegen ein.

Malte war ein wenig beunruhigt. Es war ihm peinlich, daß Usadel einen
Zeugen bei sich hatte, während er den beiden allein gegenüberstand.
Also galt es, aufs höchste gesammelt sein, jedes Wort zweimal wägen. Er
fragte nach dem Ergehen seines Gastes, nach dem Befinden während der
Reise. Doch Usadel schien ermüdet zu sein, er antwortete einsilbig,
und Malte erfuhr nur, daß jener tatsächlich aus Amerika über Schweden
komme. Als sie auf dem schmalen Damm zwischen den Teichen fuhren,
lehnte sich Usadel vor und schaute einen Augenblick auf die dunklen
Gestalten der Schlittschuhläufer, die sich noch auf dem Eis bewegten.

»Das sind die Teiche, denen die Stadt zu Wallensteins Zeit ihre Rettung
dankt, Herr Usadel«, sagte Malte beflissen.

Er sah im Licht einer Laterne, wie sich Usadels Lippen ein wenig
verzogen. War es Spott? Oder Verlegenheit?

»Der hat auch seinen Vorteil nicht verstanden«, sagte er. »Um diese
Jahreszeit wär' es ihm besser geglückt.«

Gleich darauf wandte er sich an Malte: »Der Politiker Treß ist Ihr
Bruder?«

Jetzt kommt es! dachte Malte, als er bejahte.

Aber Usadel nickte und sagte nur: »Sie haben den Artikel gelesen?
Er kam just zur Zeit und hat das Gegenteil von dem erreicht, was er
wollte.«

Malte atmete erleichtert auf. Da glitt schon der Wagen in die Torfahrt
des Treßhofes und hielt gleich darauf vor der Tür. Mellin stand bereit
und öffnete den Schlag.

Was würde Usadel sagen, wenn er den alten Beratungraum betrat, diesen
Raum mit den historischen Bildern, der geschnitzten Treppe, dem schönen
Gestühl? Es schimmerte alles blank und vornehm. Usadel sagte nichts, er
legte den Mantel und den Hut ab, rieb die Handflächen aneinander und
sah sich nach einem Sitz um. Was für ein Mensch war das! Seine Gestalt
gedrungen und doch nicht feist, seine Farbe von einem eigentümlichen
blassen Gelb, seine Gebärden nicht auffallend und doch durchaus
bestimmt. Die hohe Stirn, die in den kahlen Schädel hineinwuchs,
gab ihm etwas Überragendes, die Augen waren nicht zu bestimmen; sie
waren von den Lidern halb verdeckt. Er trug keinen besonderen Zug des
Rassefremden. Das war der Mann, der wie ein Schweifstern, von dem
keiner wußte, plötzlich aufgetaucht war und in seltsamem Licht über
der Menschheit funkelte, von einigen gepriesen, von andern als böses
Zeichen gedeutet.

»Die Herren sind erschöpft«, sagte Malte, auf den Tisch deutend, der
seitwärts hergerichtet stand. »Darf ich einige Erfrischungen anbieten
lassen?«

»Unsre Zeit ist sehr beschränkt, Herr Konsul.«

Es klang drängend. Des Begleiters Augen fuhren begehrlich über die
Kristallflaschen, in denen dunkles und goldenes Rebenblut glänzte, aber
er setzte sich an Usadels Seite. Malte nahm den beiden gegenüber Platz.

»Sie haben um Anschluß an uns nachgesucht«, begann Usadel. »Es ist
nicht unsre Gepflogenheit, kleine Häuser in der Provinz heranzuziehen.
Doch in diesem besonderen Fall wäre eine Vereinigung zu erwägen, wenn
Sie auf unsre Bedingungen eingehen. Herr Direktor, entwickeln Sie
unsern Plan.«

Der Angeredete begann zu sprechen. Jetzt erst betrachtete ihn Malte
genau. Sein wulstiges, fahles Gesicht mit den winzigen Bartflecken auf
der Oberlippe war das Muster für die Gesichter aller Geldmenschen,
die von jagender Arbeit zerrissen sind und deren Unstete den Geist
zerpflückt. Malte mußte an die Worte denken, die ihm der blühende Hans
Olrogge jüngst über sein Aussehen verwundert zugerufen hatte. War der
Mann dort sein Zukunftbild?

Er hatte nicht Zeit, darüber zu grübeln. Sammlung, Sammlung! Nach
den ersten Worten begriff er, um was es sich handelte: man wollte
den Getreidehandel eines weitreichenden norddeutschen Bezirks in die
Hand bekommen; Mittelpunkte sollten geschaffen werden; hier sollte
eins dieser Zentren, vielleicht das vornehmste, entstehen. Ob er
Sicherheiten dafür biete.

Malte griff nach den Geschäftsbüchern, die ihm zur Hand lagen.

Der Direktor winkte etwas geringschätzig ab. »Darüber sind wir völlig
unterrichtet. Sagen Sie uns, ob Sie es sich zutrauen.«

»Wir haben hierzulande viele Genossenschaften«, wandte Malte ein.

Wieder die geringschätzige Geste. »Die bekommen wir alle. Mut,
Entschlossenheit, Herr Konsul! Zu haben ist jeder. Nie fragen: Ob?,
sondern nur: Wieviel?«

Er machte die Gebärde des Geldzählens und lachte ein trockenes
Lachen. Malte blickte auf Usadel. Der saß mit halbverdeckten Augen
da und schien gänzlich unbeteiligt wie eine regunglose Amphibie im
Sonnenschein. Und doch mußte er Obacht geben. Denn als Malte ihn
ansah, verzog sich wieder seine Lippe, nicht zum Lächeln, sondern zu
einer eigentümlichen Verzerrung.

»Sie haben sich unlängst neue Geschäftsräume eingerichtet,« fuhr der
Dritte fort; »das wäre ja für die Vereinigung recht zweckmäßig.«

Das war ihnen auch bekannt? Malte erkannte, daß sie bis ins Kleinste
vorbereitet kamen. Aber wie sollte er sich zu dem vorgelegten Plan
stellen? Gewinnbringend war er, zu befürchten war nichts, wenn Usadel
dahinterstand. Aber schließlich war mancherlei zu bedenken. Er bat um
Bedenkzeit.

Plötzlich erwachte Usadel aus seiner Unbeteiligtheit: »Wie lange, Herr
Treß? Zehn Minuten, fünfzehn? Ich habe meine Reise nur unterbrochen, um
Ihre Entscheidung zu hören. Die Sache ist eilig.«

»Ich erkenne noch nicht klar meinen Vorteil,« sagte Malte etwas
bedrückt.

»Das ist mir verständlich«, erwiderte Usadel. »Sprechen Sie weiter,
Herr Direktor.«

»Ihr Geschäftsvermögen wird dadurch sichergestellt für die nächste
Zeit, daß wir es in unsern Ring mit aufnehmen«, sagte dieser.

»Wäre es nicht ebenso sicher bei mir?«

»Keinesfalls. Geben Sie acht!« Er blickte sich um, ob kein Lauscher
da sei. »Man will wieder geregelte Verhältnisse in der Welt schaffen.
Deshalb müssen wir Deutschland von den ärgsten Schulden befreien. Man
tut das, indem man Geld macht, ganze Wellen von Geld. Wie, fragen Sie?
Man wird Papier machen, das nicht da ist, und Gold und Silber nehmen,
das noch da ist.«

»Das ist gegen das Gesetz«, warf Malte ein.

Der Direktor zuckte mitleidig die Schulter: »Gesetze!« sagte er. Es
klang, als bedaure er einen Verstorbenen.

»Das läßt sich doch niemand gefallen!«

»Meinen Sie! Die Revolution hat gelehrt, daß die Menschheit auf alles
Neue geht wie der Fisch auf den Köder. Zahlen verblüffen. Sagen Sie
jemandem, er verdiene das Dreifache, keiner fragt, ob Sie ihm Metall
oder Papier geben.«

Malte fühlte eine seltsame Beklemmung auf seiner Brust. War das alles
ernst gemeint oder ein wirres Spiel?

»Ich kann mir nicht denken --« murmelte er.

»Ja, die Luftzone, in die wir treten, ist sehr ungewöhnlich«, sagte der
andere. »Ich verstehe, daß es Sie schwindeln macht. Doch verlassen Sie
sich darauf, sie kommt.«

Ja, es war alles klar, was dieser Mensch da vortrug. Wenn es gelang,
der Menschheit das Fieber der Gewinnsucht in diesem Maße einzuimpfen,
sie mit der Geldmasse über den Geldwert fortzutäuschen, dann war sie
blind für alles. Malte gestand sich, daß es der einzige Weg zur Rettung
und ein genial erdachter Plan sei, und doch -- es war ein höllischer
Plan, der ihn, den Kaufmann alten Blutes, erschauern machte.

Er sah Usadel an; der saß da, als sei er unbeteiligt. Seine Hand lag
auf dem Tischrand. Plötzlich fiel es Malte auf, wie brutal diese Hand
war, wie ungeformt, zum Zupacken geschickt; die kurzen fleischigen
Finger wie Krallen. Sah Usadel Maltes Blick? Die Hand fuhr zurück und
zog die Uhr. Das war ein nicht mißzuverstehendes Zeichen.

»Ich verstehe alles«, sagte Malte. »Die Sache ist gut erdacht. Aber,
vergeben Sie, Herr Usadel, sie ist doch ein großartig angelegter
Betrug!«

Der Direktor fiel ein: »Vielleicht! Was geht das uns an? Wir sind keine
Beichtväter für das Gewissen.«

Usadel verzog die Lippe: »Wenn in dieser Zeit das Gewissen wirklich
noch da wäre, müßte man es totschlagen.«

Mord des Gewissens! Wo hatte Malte das doch gehört? Der Strand mit den
schäumenden Wellen trat ihm in die Erinnerung. Irgendwo dort hatte es
jemand gesagt. Sein Blick haftete mit einem Male an dem Schnitzwerk
der Treppenbrüstung, haftete an einem Bild. Was war das doch? Der
Judaskuß im nächtigen Garten. Was sollte das hier? Er riß sich
gewaltsam los. Mit dem allen hatte er ja nichts zu tun. »Man« machte
das, und ihm konnte es gleich sein, wer der rätselhafte »Man« war,
ihm war verheißen, daß in der hereinbrechenden Sintflut sein Vermögen
gerettet werden sollte, alles andre konnte ihm gleichgültig sein. Der
Ehrenschild der Treß blieb unbefleckt.

»Es wird Zeit für uns«, sagte Usadel und schob den Stuhl ein wenig
zurück. »Herr Konsul, wie ist Ihre Meinung?«

Ein Aufbäumen war in Malte, ein Zurückweichen. Aber zwang er es nicht
nieder, so lag all sein stolzes Planen zerstört da. Die Ehre! Und
Frauke! Und die Poppelmanns! Er hätte sich für alle Zeit lächerlich
gemacht, und das verzieh Frauke am wenigsten. »Ich gehe auf Ihre
Vorschläge ein, ich danke Ihnen«, sagte er.

Usadel nickte gleichmütig. »In weniger als einer Woche trifft ein
Herr bei Ihnen ein, der die nötige Vollmacht hat. Er wird Sie über
die nächsten Maßnahmen unterrichten. Verträge schließen wir nicht. Es
bleibt Ihnen wie uns überlassen, mit dreimonatlicher Aufsage unsre
Verbindung zu lösen. Wenn Ihnen dafür die Geltung des Ringes nicht
genügt, so kann es schriftlich festgelegt werden.«

Ja, Malte wünschte das Schriftstück. Der Direktor lächelte.

Die Herren erhoben sich, ein paar Reden wurden noch getauscht. Der
Direktor sandte noch einen sehnsüchtigen Blick nach den Flaschen, Malte
lud nochmals ein, aber Usadel lehnte ab. Dieser Mensch schien keiner
Nahrung zu bedürfen.

Der Wagen fuhr vor, man stieg ein, und der Treßhof blieb zurück.

Auf dem Bahnhof erwartete das Gefolge die Ankommenden: die
Berichterstatter schrieben eifrig auf einen Bogen irgendeine
Mitteilung, die noch in der Nacht einer Zeitung zugehen sollte. Die
beiden Schreibmädchen blickten aus ihren Pelzen neugierig auf Malte,
der Kanzlist meldete, daß der Zug bereitstehe.

Sie hatten auf dem Weg nur wenige Worte gewechselt. Usadel hielt die
Angelegenheit für erledigt. Hinter seinen verdeckten Augen zuckten
wahrscheinlich schon wieder neue Pläne, denen er nachsann. Malte suchte
höflich eine Unterhaltung zu pflegen, aber auch der Direktor, der so
geschwätzig gewesen war, verhielt sich schweigsam.

Usadel schob wieder einige Finger vor und faßte dann an den Rand seines
Hutes. Wozu noch viele Worte, da der Zweck erreicht war!

»Nun?« fragte er seinen Begleiter, als er sich in das Polster des
Wagens fallen ließ.

Der machte eine Gebärde des Zweifels. »Der Mann wurzelt in alten
Anschauungen«, sagte er.

»Taugt also nicht für uns.«

»Wenn er sich nicht mausert, nein, Herr Usadel. In Deutschland jedoch
gibt es viele von der Art; man muß mit ihnen rechnen, und dieser
scheint mir versprechender als mancher andere -- er ist ehrgeizig.«

Malte stand draußen am Wagen und wartete, daß der Zug abfahre. Er
grüßte, als sich die Räder in Bewegung setzten; von innen kam kein
Dank. Sie arbeiteten wohl schon wieder.

Er ließ sich von Telge nach dem Treßhof fahren, Mellin mußte im
Beratungzimmer das Licht andrehen. Dort saß er lange und erwog.
Aber seltsam! Immer wieder fand er seinen Blick auf jenem Bild der
Treppenbrüstung: wie der bärtige Mann, dessen Hand den gefüllten
Geldbeutel umspannt, dem Meister den verräterischen Kuß darbietet. Was
hatte das alte Bild zu schaffen mit den Vorgängen dieser wilden Zeit?
Er wußte es nicht, er wollte dem nicht nachdenken, und doch trat es ihm
aufdringlich nahe.

Und noch eins. Er sah Jörg vor sich, wie er nach dem Spiel in St.
Niklas in jenem Zimmer des Hauses am Markt stand, innerlich in
Begeisterung erglühend, sein Gesicht besonnt: Wir sind doch die Könige!

Er hatte bei sich gedacht: Welchen unbändigen Stolz trägt doch der
arme Wicht! Wir königlichen Kaufleute und dieser Tastenschläger! Jetzt
beneidete er ihn. Ihm war, als dürfe er das Recht des königlichen
Menschen heute nicht für sich in Anspruch nehmen. Seufzend erhob er
sich und verließ das Haus. --

In Fraukes Zimmer fand er Klaus, der eine Mappe mit Stichen mitgebracht
hatte, die Blätter ausbreitete und einige Feinheiten erläuterte.
Malte stellte sich hinter ihn und hörte zu. Er wußte, daß Frauke, die
den Vetter wegen seiner Sucht, sich etwas stutzerhaft zu kleiden,
verspottete und ihn leicht als einen gutmütigen Hausnarren behandelte,
in Kunstfragen sein Urteil gelten ließ.

Plötzlich sah Frauke zu Malte auf. »Weißt du schon, daß Klaus uns
verlassen will?« fragte sie.

Klaus legte die Stiche zusammen. Es war ihm sichtlich peinlich, daß
Malte ihn so verwundert betrachtete.

»Er will heiraten«, fügte Frauke hinzu.

Güldenfey? dachte Malte. Hat er mit ihr gesprochen? Hat sie sich
vielleicht in Rücksicht auf mich bereit erklärt? Er fühlte ein
lebhaftes Bedauern.

»Er hat eine kleine Witwe gefunden, die ihn bezaubert«, fuhr Frauke
fort.

Klaus lachte verlegen. Was würde Malte jetzt sagen? Doch Malte sagte
nichts, er ging zur Wand und drückte auf den Klingelknopf. Als das
Mädchen erschien, bestellte er Schaumwein. Ein plötzlicher Rausch war
über ihn gekommen, seine Augen glänzten. Frauke blickte ihn erstaunt
an: er war leuchtend wie damals in Harvestehude.

»Wir wollen dem Glück Willkomm bieten«, sagte er, als er die Gläser
füllte. »Dir, Klaus, und uns! Ich habe heute mit Usadel abgeschlossen!«




                         Das Skelett im Hause


Harro kam nicht. Marfa saß am Fenster ihres Zimmers, das neben
Güldenfeys Zimmer lag, sah über die Teiche hin und wartete. Ihr Leben
war nur ein Warten. Die alten Weiden dort drüben begrünten sich,
standen in vollem Laub, wurden fahl, starben ab. War es die Zeit, da
die Primeln ihre Augen aufschlugen? Flossen die schweren Ströme des
Lichts über die dürftigen Erdwellen von Heilisoe? Ging der Herbst in
knisterndem Brokat oder standen die Bäume in winterlichem Rauhfrost wie
arme bettelnde Waisenkinder? Sie wußte es nicht, sie achtete dessen
nicht. Sie zählte nicht mehr nach Jahreszeiten, sie zählte nur noch
Harros Besuche.

Seit ihr das Leben ihres Kindes entglitten, hing sie sich mit einem
Verlangen, das sie verzehrte, an ihn, den Einzigen, den sie noch besaß.
Haushaltssorgen hatte sie nicht, andre Beschäftigungen befriedigten
sie nicht. Alles, was die Frau in dieser nothaften Zeit die Hände
regen ließ, um den Schwestern zu helfen, schien Marfas Seele in jenem
Kasernensaal in Riga verloren zu haben, wo täglich der Tod in die
Schar der gefangenen Frauen griff und die auf ihn harrenden mehr quälte
als die fortgeführten.

Harro! Warum mußte er fern von ihr sein? Während einer Zeit schrieb
sie endlos lange Briefe an ihn. Sie gab es auf, als sie merkte, daß
er nur die ersten Seiten las. Stieg er aus dem Bahnwagen, den sie,
seit einer Stunde auf dem windigen Bahnsteig stehend, erwartet hatte,
so überströmte sie ihn mit einer kindlich-stürmischen Freude. Doch am
Abend schon begann sie die Stunden zu zählen, die sie noch von seiner
Abfahrt trennten.

Er wurde warm, aber seine Zerstreutheit fand kein Ausruhen bei
ihr, solange er den heftigen Puls ihrer Unruhe empfand. Von seinen
politischen Dingen mochte er nicht zu ihr reden: sie duldete es,
aber er wußte, daß sie alles haßte, was ihn von ihr trennte. Tröster
ihres Leides konnte er nicht sein; vielleicht verstand er es nicht,
jedenfalls konnte er nicht trösten, wo er selbst getröstet sein wollte.

»Marfa ist eine von denen, die suchen und sich darüber selbst
verlieren«, sagte einmal Frauke.

Güldenfey sah sie überrascht an. Zuweilen tat Frauke einen Ausspruch,
der wie ein Spalt in ihrer kühlen, verhaltenen Art erschien und Tiefen
ahnen ließ. Aber man konnte nie hinabblicken, weil immer gleich wieder
eine hochmütige Gebärde, ein frostiges Wort sich wie eine kalte Schicht
darüberbreitete. Güldenfey allein ahnte, daß dieses hastige Zudecken
nur Scham sei.

Frauke kam zuweilen, um Marfa zu besuchen. Es zog sie etwas in dieser
Frau, die der Zukunft nicht froh ward, weil sie nicht vergessen konnte,
an. Sie saß Marfa gegenüber, und wenn nach den ersten Worten das
Gespräch stockte, betrachtete sie das schöne Gesicht in dem dunklen
Flechtenrahmen grübelnd. Dann stand sie plötzlich auf und ging unter
einem nichtssagenden Vorwand wieder fort.

Ja, wäre Güldenfey nicht gewesen! In die Tage eines aufreibenden
Wartens trug sie Leben.

»Marfa, heut stäubt's um die Haseln im Teichwald, und der Haubentaucher
schwimmt im gelben Rohr. Du mußt mitkommen und es sehen.« -- »Marfa,
gestern ist einer armen Frau im Sachsenviertel ein Kind geschenkt; komm
mit mir, es wird dich freuen.«

Und Marfa, die nur ungern das Haus verließ, ging mit, stand wortlos
daneben, wo Güldenfey bewunderte und lobte, und in ihre Wangen stieg
ein leises Rot. Wie konnte Güldenfey an den langen Winterabenden
erzählen! Nicht wie Ose, die in der Vergangenheit Bescheid wußte,
sondern aus der Gegenwart: sie streute immer Blumen in die grauen
Stunden, und ihre tröstenden Worte waren die goldenen Schlüssel, die
die verschwiegensten Kammern erschlossen.

Sie war es, die auf den Postboten wartete und dann leuchtenden Auges
ins Zimmer trat: »Marfa, hier ist ein Brief von Harro!« Und so kam sie
auch an dem Morgen, da man die Osterpalmen aufgestellt hatte und alle
Räume vom Duft jungen Wuchses voll waren.

Marfa las mit flimmernden Augen, das Papier zitterte in ihrer Hand.
»Harro kommt,« sagte sie, »er kommt heute gegen Mittag.«

Und sie begann sich für den Gang zum Bahnhof zu rüsten, obgleich noch
Stunden sie von dem Augenblick des Wiedersehens trennten.

Harro kam. Er sah angegriffener aus als sonst und war zerstreut. Sie
merkte, wie ihre Zärtlichkeit an ihm abglitt und sah ihn besorgt an.

»Verzeih, ich bin achtlos«, sagte er und blickte dabei starr auf eine
Menschengruppe, die sich mühte, einen Handwagen mit vielem Gepäck zu
beladen. »Ich muß dich bitten, allein nach Hause zu gehen. Ich will
Malte aufsuchen.«

Ihr ahnte nichts Gutes, sie wollte fragen, aber sein verschlossenes
Gesicht drängte jedes Wort zurück. Sie ging allein nach Hause und sah
mit zuckenden Lippen auf die Schneeglöckchensträuße, die sie zu seinem
Empfang hingestellt hatte. --

Malte sah den Bruder verwundert an, als der eintrat. Es war die Stunde,
da keiner vorgelassen wurde.

»Ja, ja, Häberle hat mich beschworen, zu warten,« sagte Harro, »aber es
duldet keinen Aufschub. Ich komme deshalb schon früher, als ich darf.«

Er nahm erschöpft Platz und begann zu berichten. Er hatte für einen
Parteifreund gutgesagt, die Forderung war ihm jetzt zugestellt, es
mußte in kürzester Frist für Deckung gesorgt werden.

»Wieviel?« fragte Malte.

Als Harro eine namhafte Summe nannte, legte er entschieden den
Bleistift auf die Tischplatte. »Ich bedauere, ich kann dir jetzt nicht
helfen.«

Harro blickte erstaunt auf: »Du, der Mann, durch dessen Hände täglich
ungeheure Summen laufen? Der Verbindungen hat wie keiner in unserer
Stadt?«

»Das verstehst du nicht, Harro.«

»Gut, so schaffe Rat!«

Malte hob die Schultern. Er sagte, daß es leichter sei, eine Torheit zu
begehen als sie gutzumachen.

Da wurde Harro erregt. »Du vergißt, daß es mein Geld ist, was ich
fordere, und nicht das deine.«

Es war kein freudiges Wiedersehen. Malte warf dem Bruder
Leichtfertigkeit vor, dieser berief sich auf sein Recht der freien
Verfügung. Sie standen einander mit zornigen Augen gegenüber wie
Kämpfer. Es war bei Malte beschlossen, daß er dem Bruder helfen
müsse, doch daß dieser seine törichte Handlung nicht reuig ansah, das
versteifte seinen Trotz. Mochte er doch die bitteren Folgen seines
Leichtsinns schmecken! Er war auch in täglicher Bedrängnis. Unerhörte
Forderungen drängten auf ihn ein.

Plötzlich griff Harro nach seinem Hut. »Du willst also nicht?«

Es war etwas in des Bruders Gesicht, das Malte erschreckte, eine
Entschlossenheit, die vor dem Letzten nicht haltmachte. War er denn
so benommen gewesen, daß er über die Ängste fortsehen konnte, die in
Harros Seele ihre Zähne gruben? Er sah den kleinen Jungen vor sich, mit
dem er den Ball geworfen hatte. Er hob die Hand. »Ich will dich nicht
in Unehre kommen lassen, Harro«, sagte er. »Aber versprich mir: Nie
wieder! Setz' dich hin! Wir wollen überlegen, was sich tun läßt.«

Als Harro gegangen war, trat Häberle ein und berichtete. Die Tretmühle
drehte sich, aber Malte mußte sich heute anstrengen, die Gedanken bei
der Sache festzuhalten. Nein, Harros Angelegenheit ließ sie nicht
mehr unruhig flattern. Aber immer aufs neue verloren sie sich in dem
Grübeln darüber, wie es möglich sei, daß er über diesem Täglichen die
Empfindungen für den Bruder verloren hatte. Er sah sich im Spiegel, und
sein Wesen erschien ihm sonderbar verändert.

»Noch etwas, Herr Häberle?« fragte er, als dieser seine Schriftstücke
in die Mappe tat und zögernd stehenblieb.

»Ja, Herr Konsul, sie war wieder hier.«

Malte sann nach.

»Die Frau Jobst. Sie hat abermals gefragt, wann sie vorgelassen werden
könnte.«

»Ich bin für die Frau nicht zu sprechen. Auf keinen Fall!«

»Sie will wiederkommen.«

»Verbieten Sie ihr das Haus. Entfernen Sie sie, drohen Sie ihr mit der
Polizei!«

Häberle versprach es, doch seine Miene verhieß keinen Erfolg.

Malte stand auf und ging durch das Zimmer, sobald er allein war. Was
bedeutete dies wieder? Schon einmal hatte Häberle ihm diese Frau
gemeldet, und er hatte sie abweisen lassen; nun war sie wiedergekommen!
Was mochte sie wollen? Sicherlich betteln. Er war erschrocken gewesen
wie selten, als er erfahren, daß sie in der Stadt wieder aufgetaucht
war. Der Schreck hatte sich wiederholt, als Klaus ihm erzählt, wie
sie sich an Güldenfey gedrängt. Er hatte sich erkundigt, ob es keine
Möglichkeit gebe, sie aus der Stadt unter irgendeinem Vorwand zu
entfernen. Onkel Rolf hatte sich vergeblich bemüht. Nein, es war
unmöglich. Sie lebte unbescholten, ihr Mann -- irgendein Arbeiter --
war krank, und sie ernährte ihn und ein fünfjähriges Kind. Am besten
war es, man übersah ihr Dasein, ließ sie gewähren, solange sie die
andern in Ruhe ließ.

Darüber war eine längere Zeit vergangen. Vielleicht wußten Leute in
der Stadt darum und munkelten von alten Zusammenhängen. Man mußte es
stillschweigend dulden, man hatte eben wie viele andre auch ein Skelett
im Hause. Nur es nicht berufen! Nur nicht daran denken!

Aber nun war sie von selbst gekommen, ging um und störte die Ruhe des
Hauses. Er hätte in ihr mehr Stolz vermutet. Aber solche Geschöpfe
-- wer wußte, wie tief die gesunken war! Klaus hatte gesagt, sie sei
damals betrunken gewesen.

Was nun? Sie würde wiederkommen, o ja, sie würde wiederkommen, Malte
wußte es. Wohl wäre es das einfachste, ihr Geld zu geben, um sie fürs
erste loszuwerden, aber Geld stachelt die Begehrlichkeit an, sie würde
wieder und wieder pochen, und was seit zwanzig Jahren begraben war,
würde wieder in aller Leute Mund sein. Und dann das väterliche Verbot!
Nein, sie von sich fernhalten, war das beste. Landgraf, werde hart!

Malte setzte sich nieder und begann etliche Schriftstücke durchzusehen.

Als er eine Stunde später das Haus verließ, trat ihm am Fuß der
Treppe eine Frau entgegen. In diesen groben Kleidern und mit dem
gealterten Gesicht unter einem zerdrückten Mützchen hätte er sie nicht
wiedererkannt. War das die stolze Schönheit von einst? In seiner
Erinnerung lebte ein Bild, das war biegsam schlank, trug ein seegrünes
schillerndes Kleid und hatte rötliches Nixenhaar. Doch er hatte immer
in heißem Groll daran gedacht und jeden Gedanken an diese Verführerin
gewaltsam zurückgedrängt: ihr Bild hatten die Jahre undeutlich gemacht.
Als jetzt sein Blick sie streifte, wußte er trotzdem, daß sie es war.

Sie trat auf ihn zu und grüßte. Er beachtete es nicht und wollte
vorüber; da vertrat sie ihm den Weg. »Ich bin Frau Jobst«, sagte sie.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte er hastig. »Bedauere, ich habe keine Zeit.«

»Wenn Sie mich nicht kennen, so ist das begreiflich«, erwiderte sie,
ohne den Weg freizugeben. »Ich werde mich etwas verändert haben. Kurze
Zeit hieß ich Frau Treß.«

Er blickte sie hochmütig an, dann glitt sein Blick an ihrer dürftigen
Erscheinung nieder. Wie, wagte sie es, ihn daran zu erinnern? »Wenn
Sie mich daran mahnen, so werden Sie wissen, daß wir nichts mehr
miteinander zu schaffen haben.«

»Ich weiß es«, entgegnete sie fast demütig. »Aber ich will Sie
sprechen, und man hat mir den Zutritt verweigert.«

»Meinen Sie, die Straße sei der passende Ort für ein Gespräch mit
Ihnen?«

Sie machte eine schnelle Bewegung, als hasche sie etwas, das ihr
entgleiten wolle. »Wenn es Ihnen unangenehm ist, mit mir gesehen zu
werden, so bestimmen Sie die Stunde, in der ich Sie im Hause treffe.
Mein Anliegen ist so dringend, daß ich darum bitten muß.«

»Ich sagte Ihnen, daß davon keine Rede sein kann«, sagte Malte.
»Erlauben Sie, bitte!« Er trat zur Seite und ging schnell davon.

Aber sie blieb neben ihm. »Ich komme wieder und bitte: Schicken Sie
mich nicht fort«, sagte sie. »Es würde nichts nützen, denn ich käme
doch wieder und käme so oft, bis ich vorgelassen bin. Verlassen Sie
sich darauf!«

Der Platz an seiner Seite war leer. Er atmete auf, als sei er einer
Gefahr entronnen, bog nach einigen Schritten ab und blickte zu den
Fenstern seines Hauses auf, um zu sehen, ob von dort aus Frauke Zeugin
dieser Begegnung gewesen sei. --

Am folgenden Tage zögerte Häberle wieder vor dem Hinausgehen. Malte
tat, als bemerke er nichts. Als er aber das Haus verließ, stand die
Frau wieder an der Tür. Sie stand am Abend dort, sie erwartete ihn
früh am Tage. Sie schritt vor dem Hause auf und nieder; er hörte ihre
Schritte auf dem Pflaster, hielt sich die Ohren zu und vernahm sie
doch. Er dachte daran, die Hilfe der Polizei anzurufen, gab aber den
Gedanken sofort wieder auf. Man trieb sie fort, aber keiner konnte
diese Beharrlichkeit tilgen, die neue Wege finden würde. Am dritten
Tage war sein Trotz gebrochen. Er konnte sich nicht überwinden, sie
rufen zu lassen, doch als er ihre Stimme vor seiner Tür hörte, wie sie
Häberle zum ungezählten Male bat, sie zu melden, ging er hinaus und
winkte.

Er preßte die Lippen fest aufeinander, als sie eintrat; er war mit Zorn
bis zum Überlaufen angefüllt. Er, der jeder Dienstmagd den Sitz geboten
hätte, ließ sie an der Tür stehen. Er hielt sich weit von ihr entfernt.
»Ich will diese Komödie beenden«, sagte er. »Was wollen Sie? Aber,
bitte, kurz!«

Sie nickte. In dem kalten Morgenwind, der über den Markt strich, mußte
sie gefroren haben, denn ihre Hände waren rot und sie barg sie unter
dem eng angezogenen Tuch. »Es ist mir damals eine Abfindungsumme
gerichtlich ausgesetzt, die ich nicht annahm. Ich habe mich ohne sie
durchgebracht. Ich würde auch heut nicht danach fragen, wenn ich allein
stände und die Zeit nicht so drückend wäre. Ich habe keine Möglichkeit
zu verdienen mehr.«

»Sie haben das Recht darauf verwirkt.«

»Man hat mir das bereits gesagt. Ich suche auch bei Ihnen nicht mein
Recht, aber vielleicht geben Sie der Notleidenden, was Sie der Frau
Ihres Vaters ...« Sie verstummte vor der heftigen Gebärde Maltes.

»Davon kein Wort, bitte, wenn Sie nicht wollen, daß dies Gespräch
sofort beendet sein soll«, rief er.

»Der Haß sitzt sehr tief bei den Treß,« sagte sie; »so tief, daß sie
selbst unumstößliche Tatsachen tilgen könnten.«

Malte zog ein Schubfach auf und entnahm ihm eine Brieftasche.

»Lassen Sie das!« sagte sie rauh. »Ich will kein Almosen! Ich erwarte
von Ihrem Gerechtigkeitgefühl, daß Sie mir das zubilligen, was Ihr
Vater zu geben für nötig fand.«

Malte wollte etwas entgegnen, doch er hielt an sich. Er mochte die
letzten Worte seines Vaters vor ihr nicht preisgeben.

Die Frau lockerte ihr Schultertuch und zog eine Rolle von Papieren
hervor. »Ich lasse auch nicht mit mir handeln«, fuhr sie fort. »Ich
weiß, Sie haben mich gehaßt von dem Augenblick an, da ich den Treßhof
betrat. Ich habe es dem Jungen, der das Andenken an seine tote Mutter
damit zu ehren glaubte, nicht verdacht. Damit Sie aber jetzt verstehen,
wie alles kam, wollte ich es Ihnen erzählen. O, ich weiß, Sie haben
für dergleichen Dinge keine Zeit, deshalb hab' ich hier den Hergang
aufgeschrieben. In den kommenden Feiertagen werden Sie Zeit zu lesen
finden. Am Tage nach Ostern hole ich mir die Schrift ab und erwarte
Ihren Bescheid.« Sie legte die Rolle auf seinen Schreibtisch und zog
das Tuch um die Schulter.

»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Malte; »ich habe andres zu tun, und
vorlassen werde ich Sie nicht wieder.«

»Sie werden lesen und Sie werden sich sprechen lassen«, sagte sie
bestimmt. »Glauben Sie mir, wer so weit in das Elend kam wie ich,
dem ist es gleich, wenn er nach tagelangem Warten auf dem Pflaster
umfällt.« Sie grüßte mit einer hastigen Kopfbewegung und ging.

Malte wollte sie zurückrufen, sie bewegen, daß sie die Schrift mitnahm,
doch das war zu spät. Sollte er sie ihr nachsenden? Aber er wußte ihre
Wohnung nicht. Mochte sie uneröffnet liegen, bis sie sie abholte; lesen
wollte er sie nicht. Mit spitzen Fingern ergriff er die Rolle und
verschloß sie in seinem Schubfach. --

Seltsam! Es war Malte, als sei ein Fremdes in seinem Zimmer, wenn er
allein war. Er empfand die Gegenwart eines andern, wie man sie fühlt,
wenn jemand ungesehen in den Raum getreten ist. Das leise Rauschen
einer Kleiderfalte, das Wehen eines Atemzugs! Mitten im Schreiben eines
Wortes blickte er auf. Sahen von dort, aus dem Dunkel neben der Tür,
nicht zwei Augen auf ihn?

Nervenüberreizung, sagte er sich und fuhr in seiner Arbeit fort. Doch
das spukhafte Gewißsein einer fremden Gegenwart blieb. Er war endlich
überzeugt, daß ihn die Papiere in der Lade erregten, und wußte doch,
daß er sie nicht loswerden konnte. --

Den Stillen Freitag hatten die Geschwister im Treßhof zugebracht. Es
waren seltsam gehaltene Stunden gewesen. Man hatte von Jörg gesprochen,
dessen Wirksamkeit Aufsehen zu erregen begann, trotzdem er sich noch
immer als ein Lernender bezeichnete. Dann -- wie war es nur dahin
gekommen? -- hatte Marfa begonnen, Lieder ihrer baltischen Heimat, die
sie in das Deutsche übertragen, mit leiser müder Stimme zu singen. Eins
hatte Malte unerträglich schwermütig geklungen:

      Wenn ich sterbe, werden keine
      Klageglocken um mich gehn,
      Wird an meinem Grab nicht eine
      Seele weinend stehn.

Auch Harro war von der trübseligen Stimmung dieses Liedes angesteckt
worden. »Laß das, Marfa!« hatte er unwirsch gesagt. »Wir haben genug,
was unsre Stimmung verdüstert.«

Erschrocken hatte Marfa abgebrochen, und Frauke hatte bald danach Malte
zum Aufbruch gemahnt.

Der Ostersonnabend verging in der üblichen Unruhe und Arbeitsunlust
derer, die an die Vergnügen der Festtage denken. Malte sah das rege
Treiben auf der Straße, hörte die Glocken, die das Fest einläuteten.
In den Schmuckrosen des Rathausgiebels verglomm das Abendrot des
Frühlingstages. Er erschien sich so verloren, so ausgeschlossen von
der geringen schalen Freude, die den Menschen da draußen trotz aller
Not verblieben war. Solche stimmunghaften Stunden taugten nicht für
ihn. Mit dem Entschluß, zu arbeiten, ging er, als Frauke sich zur Ruhe
zurückgezogen hatte, noch einmal hinab.

Aber da war wieder dieses unhörbare Atmen der fremden Gegenwart. Er
kämpfte dagegen an und wurde doch des unbehaglichen Gefühls nicht Herr.
Endlich, da es schon auf Mitternacht ging, schob er die Hefte zurück,
entnahm dem Schließfach das Bündel und begann zu lesen:

Ich habe mich entschlossen, aufzuschreiben, wie alles kam. Wenn es
andern nichts nützt, so gibt es vielleicht mir Klarheit und dient
ihnen, ihr Urteil über die Verlorene zu mildern.

Ich habe nichts von Glück oder dergleichen erwartet, als ich
verheiratet wurde. Im Gegenteil. Aber für die Neunzehnjährige war das
Elend zu Hause unerträglich, und da es aus ihm keinen andern Ausweg
gab als die Heirat, so griff ich zu. Unter welchen Bedingungen die
Verbindung zustande kam, wußte ich freilich nicht. Mein Mann war der
reiche Treß, das genügte. Er war bürgerlich -- das war mir gleich;
er war fünfundzwanzig Jahre älter als ich -- damit hoffte ich mich
abzufinden. Jedenfalls besaß er jugendliche Frische, war Kavalier und
maßlos verliebt. Dies schmeichelte mir so, daß ich darüber vergaß, wie
mein Herz andre Wege gegangen war. Was wußte ich denn damals von Welt,
Menschen und ihren Herzen!

Mein erstes Ehejahr -- ja, davon muß ich jetzt reden. Es gefiel mir
eigentlich recht gut. Um die Kinder, besonders um die kleine Myrrha,
durfte ich mich nicht kümmern, überhaupt an nichts rühren, was an die
verstorbene Frau meines Mannes erinnerte. Doch das wollte ich ja auch
nicht. Ich sollte mich putzen, mich vergnügen und ihn vergnügen, wenn
er kam, um mit mir zu spielen. Das war im Anfang häufig, dann seltener.
Als es seltener war, gefiel es mir besser. Denn obwohl mein eitles,
unerfahrenes Herz daran Gefallen fand, merkte es doch unbewußt, daß ich
wie eine Puppe gehalten wurde, die man aus der Hand legt, sobald es an
ernsthafte Dinge geht. Wäre mein Mann zu mir wie ein Vater gewesen --
es hätte mir vielleicht anfangs weniger behagt, aber ich wäre später
nicht so leer dagestanden, als ich nach meiner Empfindung entscheiden
sollte.

Das trat bald genug ein. Nach einem Jahre war ich einmal widerspenstig.
Mein Mann wollte mich bestrafen und verreiste. Vor seiner Abreise kam
er zu mir und sagte mir den Grund.

»Ich hoffe, du bist zur Vernunft gekommen, wenn ich nach einer Woche
wiederkehre«, sagte er weiter. »Denke über dich nach. Willst du deinen
Vater besuchen, so habe ich nichts dagegen.«

Er ging und ließ mich wie ein ausgescholtenes Kind zurück. Zu meinem
Vater hatte mich während des ganzen Jahres nichts gezogen, dort
erinnerte zuviel an eine freudlose Jugend. Doch als ich mich am zweiten
Tage langweilte, lockte mich der Gedanke, es sei vielleicht recht
hübsch, meinen Glanz im Lichte meiner früheren Umgebung zu spiegeln,
und ich fuhr nach Hanneshof.

Es war das alte liederliche Treiben dort, dem entrückt zu sein eine
Tante mich glücklich gepriesen hatte: mein Vater befand sich viel auf
der Jagd; war er im Hause, so fanden sich Kumpane zu Trunk und Karten
ein. Die Wirtschaft war jedoch wie früher in gutem Stand.

An einem Abend waren wir allein. Mein Vater begann von meiner Ehe zu
sprechen. Ich glaubte, er wolle mich über das Verhältnis zwischen mir
und Treß ausfragen, und malte meine Tage in glänzenden Farben. Aber das
war es nicht. Schließlich kam es heraus: ich sollte bei meinem Mann für
die Dargabe von Geld an meinen Vater eintreten.

Entrüstet lehnte ich ab und erregte den Vater, der ohnehin getrunken
hatte. Er befahl, ich widersprach. Er wurde maßlos heftig, und nun
sagte er es: er habe mit meiner Heirat ein gutes Geschäft gemacht.

Der Gedanke, verkauft zu sein, weckte in mir Ekel und Abscheu, Ekel vor
dem Verkäufer, Abscheu gegen den Mann, der es gewagt hatte, mir eine
Kaufehe zuzumuten. Ich stand auf und bestellte selbst den Kutscher, daß
er anspanne. Ich wollte in die nächste Stadt und in einem Gasthause die
Nacht zubringen.

Als ich dort eintraf und dem Kellner meinen Auftrag gab, erblickte ich
durch die Spalte einer halbgeöffneten Tür den Baron Usfeldt, der dort
einsam bei der Flasche saß. Ich wich zurück, doch er hatte meine Stimme
erkannt und stand plötzlich neben mir.

»Bekomme ich keine Hand?« fragte er.

»Rühren Sie mich nicht an, Muck!« sagte ich. »Ich weiß jetzt, daß ich
verhandelt bin.«

»Ich weiß es lange und habe Sie darum nicht einen Augenblick lang
geringer geachtet«, erwiderte er. »Nehmen Sie, wenn Sie durchaus einen
Sündenbock brauchen, mit mir vorlieb, Tessi; denn hätte ich Mut genug
besessen, trotz meiner verzweifelten Lage um Sie anzuhalten, so wäre
dies alles nicht über Sie gekommen.«

Er führte mich an seinen Tisch und schloß die Tür. Ich war wie betäubt,
hatte nur den Wunsch, mich mit einem Menschen, der mich verstand,
aussprechen zu können und bedachte nichts. Nein, ich hätte es nicht
tun sollen; aber was weiß ein ungeschultes Herz in solchen Stunden!
An jenem späten Abend lernte ich das erstemal die alle Not betäubende
Wohltat des Rausches kennen.

Das Gerücht traf vor mir im Treßhof ein. Wäre ich reuig gewesen, was
in diesem Falle klug heißt, vielleicht daß sich alles anders gewendet
hätte. Aber ich wollte nicht. Mein Stolz forderte das ganze Leben
heraus.

Ich ging nach Westdeutschland; eine Freundin hatte mich, während meine
Ehe geschieden wurde, zu sich eingeladen. Ich blieb dort kaum so lange,
bis die Trennung ausgesprochen war. Ihres Gatten Blicke gingen mir oft
sonderbar nach, ich duldete das. Ich duldete auch, daß er mich zur
Vertrauten seiner Nöte machte: er war nicht glücklich.

Am nächsten Tage reiste ich ab.

Was blieb mir übrig? Ich mußte verdienen. Also trat ich in ein
Geschäft, wo ich vornehmen Käuferinnen ihre Kleider vorführen durfte.
Der Chef hatte mich lange gemustert und dann zufrieden gelächelt.
Mir graute, aber es gab keinen andern Weg. Sollte ich Klavierstunden
erteilen, Puppen ausstopfen oder Blumen auf Gläser malen? Die Auswahl
war nicht groß, und vielleicht saß ich doch noch eines Tags an einem
der langen Tische, an denen zwanzig Mädchen Fäden zupfen oder Federn
sortieren. Vorläufig trug ich noch seidene Kleider, die andre kauften,
und wohnte in einer Dachkammer.

Die Freude dauerte ein Jahr. Da verließ die erste Verkäuferin das
Geschäft, und eine Woche später ließ mich der Chef in sein Zimmer rufen.

»Ich glaube, Sie verdienen hier nur recht wenig«, sagte er. Merkwürdig,
daß ihm dies plötzlich einfiel!

»Sie können sich besser stehen, wenn Sie wollen«, fuhr er fort.

Ich schwieg und wartete. Plötzlich griff er nach meiner Hand.

»Nein!« schrie ich und riß mich zurück. Damit ging ich.

Einen Monat darauf stand ich wieder auf der Straße. Menschenströme
liefen an mir vorüber, ich aber war allein, wußte nicht, wo aus noch
ein. An diesem Abend betrank ich mich wieder bis zur Bewußtlosigkeit.

Wie viele Sprossen hat die Leiter, auf der man abwärts steigt, in das
Dunkel, tiefer, immer tiefer? Ich habe sie nicht mehr gezählt, aber
ich weiß, daß der Abstieg endlos ist. Ich saß nach nicht allzu langer
Zeit wirklich mit neunzehn Mädchen an einem Tisch und falzte Papiere.
Ekelhafte Luft, erniedrigende Reden, der ganze Brodem einer gärenden
Lebenszone schlug mir Tag für Tag entgegen. Ich atmete ihn und stumpfte
allmählich völlig ab, wurde eine andre und vergaß ganz, was ich gewesen
war und wie ich hieß.

Aber eins hielt mich, daß mir der Schlamm nicht bis ans Herz stieg:
der felsenfeste Vorsatz, meine Brotrinden mit meiner Hände Arbeit zu
verdienen. Nicht mehr wollte ich, als satt werden. Alles andre war
käuflich: Vergnügen, Ehre, Stellung, man mußte nur zahlen können.

Seit jenem Tage, da meine Ehe in die Brüche gegangen war, haßte ich das
Geld, und jeder Tag hat es mir bestätigt, daß die Geldherrschaft der
größte Fluch ist, der jemals über die Menschheit gekommen ist; daß die
wahnsinnigen Eroberer, die Millionen Menschen opferten, und die großen
Pestzeiten nicht halb so verderblich gewesen sind wie der Mammonismus.
Es ist nicht wahr, daß er die Triebfeder von Arbeit und Kultur ist. Er
züchtet die Genußsucht, den Zerfall und verdirbt jede Arbeit, weil er
ein Geschäft daraus macht!

Das sage ich, Therese Jobst, Frau des schwindsüchtigen Monteurs Jobst,
verehelicht gewesene Frau Treß, geborene Freiin Horn, die durch alle
Schichten des Lebens ging und keine, keine sah, die Erlösung bot.

Während des Krieges trug ich Zeitungen aus, half in Hausständen,
flickte, nahm an, was sich fand. Dabei lernte ich meinen Mann kennen,
als er auf Urlaub heimkam. Er war ein edler Mensch. Als er mir die Ehe
mit ihm antrug, war ich gewiß, daß er es nicht seinetwegen tat, sondern
um mir zu helfen. Was hätte er sonst an mir gefunden! Solche, die ihm
Kartoffeln kochten und das Arbeitzeug flickten, hätte er in Menge haben
können.

Ich schenkte ihm ein Mädchen, und dies Kind wird, wenn er längst nicht
mehr ist, für mich die Erinnerung an die schönste Zeit meines Lebens
sein.

Nun habe ich ausgesprochen, wie alles wurde. Vielleicht sind Lücken da,
daß nicht jeder alles versteht, aber das ist nicht schade. Wer noch
Ohren hat zu hören, der wird mich verstehen und auch das Leben dieser
Zeit, von dem ich nur ein winziges Bruchstück bin. -- --

                   *       *       *       *       *

Kling! sagte die Glocke der alten Uhr. Der Arm des Mannes, der die
Hippe trug, fiel herab und hob sich wieder. Es war ein Uhr.

Malte faltete die Bogen zusammen und lehnte sich in den Stuhl zurück.
Durch die Osternacht ging ein Wind aus West, der strich hörbar an den
Scheiben vorüber. Malte legte die Hand über die Augen, die vom Lesen
brannten und das blendende Licht nicht vertrugen.

Was nun? Es war etwas in diesen Zeilen, das an sein Herz griff: ein
Mensch, der redlich gerungen und in harter Fron seine Fehler und
Schwächen gesühnt hat. Was sie hier geschrieben, war wohl ein echtes
Bekenntnis, das keine Pose entstellte. Aber sie war nun einmal das
Skelett im Hause, und das durfte man nicht durch Verbindlichkeiten an
sich fesseln.

Und noch eins: das väterliche Gebot! Wie war es doch gewesen?

In den letzten Tagen vor seinem Ende hatte ihn der Vater zu sich
beschieden. Alle andern hatten das Zimmer verlassen müssen, auch
Güldenfey, die er sonst nicht von seiner Seite ließ. Irgendeine
dringliche geschäftliche Verfügung! hatte Malte gedacht; doch es kam
nichts von Geschäften.

»Pastor Thomasius wird heut nachmittag kommen, Malte, du weißt! Was ich
ihm nicht sagen kann, will ich dir, meinem Ältesten und Nachfolger,
beichten. Ich habe gegen euch und eure liebe Mutter ein schweres
Unrecht begangen, als ich so bald nach ihrem Tode diese -- Person in
das Treßhaus führte.«

»Es ist ja alles gut geworden, Vater,« hatte Malte gesagt; »du hast
darunter genug gelitten und gesühnt.«

»Gelitten, ja; ob gesühnt, das weiß ich nicht. Es quält mich jetzt
wieder stündlich. Wie konnte ich als ein reifer Mann einen so
unbegreiflichen Schritt tun! Ich suche meiner Kinder Verzeihung, mein
Sohn!«

Malte hatte die unruhigen Hände gefaßt und ihm trostreich zugesprochen,
doch der Vater war danach nicht ruhiger geworden.

»Versprich mir noch eins!« hatte er weiter gesagt. »Ich mußte die
Folgen meines Leichtsinns tragen, aber mit mir soll es begraben sein;
ich will nicht, daß ihr noch darunter leidet. Wenn jemals jene Frau
wieder auftauchen, sich an euch drängen sollte -- versprich mir, daß
du nichts tust, was die Erinnerung an jene schmachvollen Tage wieder
weckt. Laß tot sein, vertilge alles, was unsern Namen verunehrte.«

Es war ein heftiges Flackern in den Augen des Sterbenden gewesen, das
war mehr als Selbstanklage, das war Haß. Sein war die Leichtfertigkeit,
die ein unfertiges Mädchen zur Gattin wählte, aber jene hatte den ihr
angetragenen alten Namen durch den Schmutz geschleift. Sie hatte recht:
der Haß saß tief in den Treß. Weh dem, der ihn weckte!

Malte hatte in jener Stunde dem Vater alles gelobt, was er verlangte.
Er verstand ihn so gut. Nun aber saß er hier, ein Richter, in dessen
Brust die Ehrfurcht vor dem, was er versprochen, sich mühsam gegen die
Menschlichkeit behauptete. Was sollte er tun? --

Als am ersten Werktag nach dem Fest das Nötige mit dem Prokuristen
besprochen war, sagte Malte: »Herr Häberle, es könnte sein, daß jene
Frau wiederkommt, die uns seit Tagen belagert.«

»Sie steht schon draußen vor der Tür, Herr Konsul.«

Schon? Sie war seiner sehr sicher, nachdem er sich einmal nachgiebig
gezeigt hatte. »So lassen Sie sie eintreten.«

Häberle ging. Lächelte er nicht? Malte schämte sich seiner schnellen
Bereitwilligkeit, die dem andern auffällig war. Sein Stolz versteifte
sich. Er nickte hochmütig, als die Frau grüßend eintrat, und sah an ihr
vorüber.

»Setzen Sie sich!« Seine Hand wies flüchtig auf einen Stuhl, der in der
Nähe der Tür stand.

»Heute bin ich noch nicht ermüdet«, entgegnete sie.

Er wiederholte die Aufforderung nicht, so standen sie sich wieder
räumlich getrennt gegenüber. Malte hatte ihre Blätter sorgsam
gebündelt, man sah ihnen nicht an, daß er darin gelesen hatte. Mit
einer Handbewegung schob er ihr die Rolle entgegen. »Sie geben selbst
zu, daß Sie ein Recht, zu fordern, nicht haben«, sagte er. »Eine
Forderung würde ich auch stets unbeachtet lassen. Was ich Ihnen sage,
gilt nur Ihrer bedrängten Lage.«

Sie blickte ihn unentwegt an, und unter ihren Blicken wurde es ihm
unbehaglich. Was redete er nur, wo jemand auf Brot wartete!

»Ich will Ihnen, der Frau Jobst« -- er hob das Wort bedeutsam --,
»eine einmalige Unterstützung zuwenden, wenn Sie sich vertraglich
verpflichten, auf meine Forderungen einzugehen.«

»Bitte«, sagte sie kurz.

»Sie versprechen auf ... Sie versprechen vertraglich sich nie wieder
an mich oder an ein Glied meiner Familie mit einem Anliegen zu wenden
oder sich auf alte Beziehungen zu berufen. Sie versprechen ferner,
niemandem gegenüber Ihres früheren Zusammenhangs mit dem Hause Treß
Erwähnung zu tun.«

Der Schein eines Lächelns glitt um ihren Mund, aber sie schwieg
abwartend.

»Sie verpflichten sich weiter, die Stadt unverzüglich zu verlassen.«

»Das ist unmöglich«, sagte sie. »Mein Mann ist schwer krank, und ich
verlasse ihn nicht. Und selbst wenn das nicht wäre -- wer nimmt uns
denn auf? Jeder ist froh, wenn er einen Raum hat, wo er bleiben kann.
Wenn ich ginge -- jedes Wohnungsamt ist imstande, meinen leidenden Mann
auf der Straße umkommen zu lassen.«

Malte zuckte die Schultern: »Das ist das, auf das es mir eben ankommt.«

»Sie wissen genau, daß Sie Unmögliches fordern«, sagte sie. »Sie lassen
mir die Wahl zwischen dem Hungertod und dem Tod im Gassenwinkel. Was
soll ich tun? Wenn ich allein stände, gäbe es für mich kein Besinnen.
Ich bin ja auch nur in diese verwünschte Stadt zurückgekommen, weil es
für meinen Mann einst keine andre Verdienstmöglichkeit gab.«

Ihre Stimme zitterte unter Tränen. Malte sah verlegen vor sich nieder.
Er wußte, daß diese Forderung ihr Pein bereiten mußte. Dennoch wollte
er darauf bestehen. Es galt, sie dem Gesichtskreis der Seinen ein für
allemal zu entrücken.

»Ich würde mich für Ihr Unterkommen an einem entfernt gelegenen Ort
verwenden«, wandte er ein.

»Vor dem Wesen oder Unwesen von heute gilt das Wort des Konsuls Treß
nichts mehr«, entgegnete sie schneidend. »Und wenn es etwas gälte --
ich kann einem, der nicht fern vor der letzten Reise steht, keinen
Umzug zumuten. Oder geben Sie mir -- bis dahin Frist?«

»Sie müßten sofort gehen. Verstehen Sie mich: Sie allein!«

Sie stand unschlüssig im Widerstreit der Gedanken. Plötzlich ging es
wie ein Aufzucken durch ihren Körper. Sie trat auf ihn zu. »Geben Sie
mir meinen Brief!« sagte sie hart.

Malte blickte sie erstaunt an.

»Geben Sie mir den Brief wieder! Ich sehe, es ist vergeblich.
Vielleicht findet er auf einer Behörde mehr Verständnis als bei Ihnen.
Oder ich stehe morgen mit ihm an der Rathaustür, um zu betteln. Es
lohnt nicht, zu verhandeln, während Menschen Hungers sterben.«

Sie nahm die Rolle und hielt sie hoch. Malte blickte sie jetzt wie
gebannt an. Nun, da eine Glut sie durchströmte, erschien sie wie mit
einem Schlag verändert; diese welken Gewänder ihres ärmlichen Aufzugs
verschwanden völlig unter dem Glanz, der von ihrem Gesicht ausging.
Das stolze Blut ihrer Ahnen war in der Dienenden aufgestanden und
verschönte sie auf eine eigene Art. Mit der herrischen Gebärde einer
aus dem Kerker kommenden Königin warf sie den Arm gegen Malte.

»Bisher war ich Ihre Schuldnerin, jetzt sind die Treß meine Schuldner!«
rief sie. »Sie werden mich nicht wiedersehen, deren Freiheit Sie kaufen
wollten, aber diese Stunde wird Ihnen keine Ruhe lassen, nie, nie, nie
Ruhe lassen. Hier draußen auf dem Pflaster wird es auf und ab gehen,
täglich, und wenn Sie glauben, das Glück, Ihr Glück zu ergreifen --«

Sie schwieg plötzlich. Eine Hand legte sich leise auf ihren Arm. Auch
Malte war so benommen, daß er erst jetzt bemerkte, wie Güldenfey neben
ihr stand.

»Bitte, sagen Sie ihm nichts Böses«, sprach Güldenfey. »Um Ihretwillen!
Flüche fallen immer auf den zurück, der sie ausschickt.«

Beklommenes Schweigen.

»Malte, wer ist diese arme Frau?« fragte Güldenfey. »Können wir ihr
nicht helfen?«

Sie erhielt keine Antwort. Malte hob wie abwesend die Schultern.

»Sagen Sie mir doch, ob ich etwas für Sie tun kann«, bat Güldenfey.
»Wir haben uns schon einmal gesehen, ich erkenne Sie wieder.«

Die Frau starrte sie wie eine fremdartige Erscheinung an. Güldenfey
lächelte ihr ermutigend zu. Und dieses ängstlich-herzliche Lächeln,
das wie ein Geschenk war, zerschmolz Zorn und Starre zu gleicher Zeit.

Die Fremde wandte sich Güldenfey voll zu, beugte sich tief, tief vor
ihr, wie man sich vor priesterlichen Menschen neigt, ergriff den Saum
ihres Kleides und hob ihn an ihre Lippen.

Dann, ehe die Treßkinder sich ihres Erstaunens bewußt wurden, war sie
verschwunden.




                         Der vergessene Garten


»Ose, ach, Ose!«

Die Alte stand unter leeren irdenen Töpfen und Glashäfen und bedachte,
wie geringe Vorräte man in dieser Zeit habe und wie wenig im kommenden
Sommer eingemacht werden könne. Da trat Güldenfey ein. Ose hörte es
im Schwingen der hohen Stimme, sie sah es an der Röte auf des Kindes
Wangen: es mußte Außerordentliches geschehen sein. Sie winkte gegen den
Hinterraum der Kammer zu, wo ein Mädchen hantierte, band die Schürze ab
und verließ mit Güldenfey den Vorratsraum.

»Was ist geschehen?« fragte sie.

Aber Güldenfey führte sie in ihr Zimmer und schloß hinter sich die
Tür. »Die Frau!« sagte sie. »Ich traf sie bei Malte. Sie wollte etwas
Schlimmes sagen, aber ich bat sie, es nicht zu tun.«

»Es geht ihr nicht gut«, murmelte Ose erschrocken.

»Und nun will ich wissen: Wer ist sie?«

Ose kniff die Lippen zusammen. Die kleine, sanftmütige, stets bittende
Güldenfey, wie selbstbewußt und fast zornig stand sie da!

»Dein Bruder Malte kam aus deines Vaters Sterbezimmer zu mir«, sagte
Ose. »Da hab' ich's ihm hoch und heilig versprechen müssen, daß ich es
dir nie sagen werde.«

»Das ist nichtig!« rief Güldenfey. »Ich bin ja Zeugin gewesen von dem,
was sie gesprochen haben. Sollen meine Ahnungen mehr sagen, als in
Wirklichkeit geschehen ist? Und dann: Ich habe Malte bedrängt, es mir
zu sagen, und Malte hat mich an dich gewiesen.«

»So, das hat er getan?« sagte die Alte. »Und was wird, wenn ich nicht
will?«

»Dann, Ose,« sagte Güldenfey und hob die Hand, ihre Worte bekräftigend,
»dann suche ich so lange durch die Stadt, bis ich sie gefunden, und
frage sie selbst. Es ist etwas Dunkles da, das geht uns nach, und ich
weiß jetzt, daß es mit ihr zusammenhängt. Ich will es sühnen.«

Ose wußte: wenn sie so spricht, dann gibt es kein Entrinnen. War die
Stunde da, die die Erfüllung bringen sollte? Sie blickte lange durch
das Fenster in den blauenden Himmel.

»Sie ist deines Vaters zweite Frau gewesen«, sagte sie dann im
Flüsterton.

Güldenfey sah sie sprachlos an. Sie hatte immer auf dem Weg hierher
die Furcht vor Schreckhaftem gehabt, dies hatte sie nicht erwartet,
und sie erlag ihm. Langsam sank die erhobene Hand nieder und tastete
nach der Lehne des nächsten Sessels. Ihr geliebter Vater! Wann war das
geschehen? Doch vor der Zeit, da ihr Denken begann. O Mutter!

Ose kniete vor der Sitzenden und umschloß Güldenfeys Hände, die kalt
wurden, mit den ihren. »Kind, Kind, nimm es nicht so arg, es ist ja
längst Vergangenes! Du kennst die Männer noch nicht. Gerade jene,
die am glücklichsten in der Ehe waren, sind nach dem Tod der Frau
hilfloser und verwaister als die Lebensklugen. Sie können sich nicht
zurechtfinden, lassen sich betören und werden unglücklich.«

»Ja, ja«, sagte Güldenfey langsam. »Nun, erzähle, Ose.«

»Ach, Kind, da gibt es viel zu sagen. Du sollst aber nicht denken,
daß dein Vater das Andenken der lieben Mutter nicht geehrt hat. Er
verzehrte sich völlig darin, ging täglich nach dem Friedhof, konnte
sich nicht genugtun, ihre Briefe zu lesen und in ihrem Zimmer zu
sitzen. Wir sorgten uns um ihn, wir dachten, er würde daran zugrunde
gehen. Aber wir wissen alle wenig voneinander. Was Trauer heißt, ist
oft nur aufgesammelter Lebenshunger.«

»Sprich doch weiter, Ose!«

»Ja. Du warst noch nicht ein Jahr alt, als er eines Tages sich ganz
erregt zu Tisch setzte. Ich bekam einen großen Schreck, dachte: Um
Gottes willen, er wird doch nicht anfangen, zu trinken! Es war wie ein
Rausch über ihn gekommen. Später hat mir Mellin erzählt, wie alles
gekommen ist und was an jenem Tage begann. Es kam damals fast täglich
der Baron Usfeldt in die Stadt, ein Spieler und Abenteurer, dessen
wilde Streiche im ganzen Lande erzählt wurden. Für nichts hatte er Sinn
als für Pferde, und so fuhr er denn seine glänzenden Gespanne in unsern
Straßen zur Schau. An diesem Tage kutschierte er auch wieder hier
herum, und neben ihm auf dem hohen Selbstfahrer saß die junge Baroneß
Horn. Es ist viel gesprochen worden von ihr und ihm und ihr und ihrem
Vater. Ich weiß nichts mehr, hab' auch damals nicht darauf geachtet.
Was gingen uns die fremden Leute an!

An jenem Tage begegnete ihnen dein Vater und muß von Stund an behext
gewesen sein. Sie hatte rotes Haar, und wenn sie lachte, dann glitzerte
etwas in ihren Augen, das war nicht von dieser Erde. Engelke hat gesagt
... Doch das gehört nicht hierher. Kurz, dein Vater war wie von Sinnen.
Auf der Straße ist er stehengeblieben, sie hat ihn angelacht, und er
hat dem Wagen nachgestarrt. Dann ist er in die Krone gegangen, wo der
Muck Usfeldt ausspannte, hat sich mit ihnen in der Weinstube bekannt
gemacht; danach ist er, den Kopf voll wirrer Gedanken, nach Haus
gekommen.

Einige Tage ist er zerstreut umhergegangen, jeder von uns war daran
gewöhnt und fand nichts dabei. Aber dann hat er sich aufgemacht nach
Hanneshof zum alten Baron Horn. Dort hat er leichtes Spiel gehabt, denn
es hat nicht acht Tage gedauert, bis er versprochen war.«

»Der arme Vater«, sagte Güldenfey. »Aber das Ende, Ose.«

»Das kam schnell genug, Kind, nach kaum einem Jahr. Sie taugte nichts.
Vielleicht wäre sie an anderm Platz etwas Rechtes geworden. Bei uns
war sie nicht am Platz. Der Reiz, daß der erste Mann der Stadt um
ihretwillen sich und andres vergaß, verflog bald. Laß es genug sein!«

»Doch dies, dies!« sagte Güldenfey. »Sie ist arm und elend.«

»Sie hat geerntet, was sie gesät«, entgegnete Ose hart.

»Nein, das ist es nicht, Ose. Du kennst soviel vom Leben und bist doch
so hart. Du solltest sie sehen, und du würdest Mitleid mit ihr haben.«

Die Alte schüttelte den Kopf. »Mitleid? Es gibt viel unverschuldetes
Elend heute, das man bemitleiden muß. Diese aber, die sich für Geld
verkaufte --«

Güldenfey erhob sich und nötigte Ose damit, auch aufzustehen. »Jörg
hat mir einmal geschrieben: Wessen Liebe völlig sein soll, der darf
nicht richten«, sagte sie leise. »Wenn sie sich verkaufte, so wurde sie
auch gekauft. Und wir alle ... Ach, Ose, mir ist zuweilen so bang um
uns! Wie oft Malte sich wohl verkauft und Harro und alle von uns, die
ihre Geschäfte machen. Ich glaube, es ist viel Schuld da, nicht nur
von alter Zeit -- du weißt, Balzer Treß, der fliegende Holländer! --,
sondern auch aus jüngster Zeit, von Großvätern, Vätern und uns. Und das
schwärt nun in dieser bösen Zeit aus.«

»Ja, ja«, sagte Ose. »Wolle Gott uns gnädig sein!«

»Ach, Ose, das sagen sie jetzt alle und seufzen und ringen die Hände.
Aber das allein tut's nicht.«

Die Alte öffnete die kleinen Augen weit und blickte Güldenfey lange an.
Ihr schien, als sei das Kind gewachsen und sei eine ganz andre, als sie
vor kurzem war. »Was soll man tun?« fragte sie. »Was willst ~du~
tun?«

»Ich?« antwortete Güldenfey. »Ich werde gehen und die Frau suchen. Ich
weiß nicht, was sie von Malte wollte, aber wer so ausschaut wie sie,
der ist in Not.«

Ose hatte Einwände. Man müsse vorher Malte fragen; man dürfe sich jener
nicht aufdrängen; sie sei es vielleicht gar nicht wert. Güldenfey käme
in unliebsame Berührung. Endlich machte sie geltend, daß man doch nicht
Haus bei Haus absuchen könne. Und den Namen der Frau? Ja, sie habe ihn
wohl gehört, aber sie könne sich nicht besinnen.

Güldenfey schüttelte zu allem den Kopf. Sie fürchtete nichts, sie sah
nur auf ihren Weg. --

Wenig später stand sie drunten in Mellins Wohnung. Der Packmeister
stellte schnell die Pfeife, die er sich vor Tisch vergönnte, aus der
Hand. Aber als Güldenfey die entscheidende Frage an ihn richtete,
blinzelte er unsicher und gab vor, von nichts zu wissen. Um Dinge, die
die Herrschaft angingen, kümmere er sich grundsätzlich nicht. Telge zu
fragen, war nicht nötig. Aber Engelke! Doch auch Engelke versagte. In
ihre klösterliche Abgeschiedenheit war wohl auch kaum etwas von diesen
Ereignissen des Treßhauses gedrungen.

Aber als Güldenfey beim Fortgehen unter dem Torbogen des Heiligen Geist
stand und etwas bänglich auf die volkreiche Straße am Binnenhafen
hinaussah, kam ihr plötzlich das Gedenken an jenen nebelerfüllten
Abend, da sie mit Engelke die Versammlung der Gemeinschaftsbrüder
besucht hatte. Hanna Wilkens!

Sie fragte in dem Geschäftshaus, in dem die Näherin arbeitete, nach
ihr. Nein, die Wilkens war hier nicht mehr tätig, doch man wußte ihre
Wohnung. In einer halben Stunde hatte sie sie gefunden und ihr Anliegen
vorgebracht.

Ja, die Blasse wollte ihr helfen und wußte auch sofort Rat. Die
Straßenbahnverwaltung! Und dort sagten sie Güldenfey Namen und Wohnung
der entlassenen Schaffnerin, auf die die Beschreibung zutraf.

Einkaufen, vieles einkaufen! dachte Güldenfey. Aber sie verwarf den
Gedanken gleich wieder. Gab das nicht zu Mißdeutungen Anlaß, wenn sie
als Spenderin mit gefüllten Armen eintrat? Sie wollte zuerst Vertrauen
gewinnen.

Als sie klopfenden Herzens die unsaubere Stiege des von häßlichen
Küchendüften erfüllten Hauses emporstieg, lehnte sich eine Frau
in unordentlichem Anzug über das Geländer und musterte sie in
aufdringlicher Neugier.

»Nicht wahr, hier wohnt Frau Jobst?« fragte Güldenfey freundlich.

Die Musternde wurde zugänglich und gab mit lauter Geschwätzigkeit
Bescheid. Die Jobsten! Ja, ja! Noch wohne sie hier. Ob sie zu Haus sei,
wisse man nicht, sie habe seit gestern wieder eine Stelle. Aber der
Jobst sei da und das Kind.

Güldenfey hielt dem Redestrom tapfer stand und blickte die Frau ruhig
an. In ihr krampfte sich etwas zusammen. Wie roh die Gesichtszüge
waren, wie rauh die Worte und wie wüst das armselige Haar! Das waren
die Hausgenossen der Frau, die einst mit glänzendem Gespann durch die
Straßen fuhr und im Treßhof ein und aus ging, die erste Dame der Stadt!

Sie dankte und tappte in den dunklen Gang, den jene ihr gewiesen. Es
waren viele Türen hier. Auf gut Glück pochte sie an eine, hinter der
ein lang anhaltendes hohles Husten hörbar war. Eine zerbrochene Stimme
sagte etwas, dann näherten sich trippelnde Kinderfüße der Tür.

»Wohnt hier Frau Jobst?« wiederholte Güldenfey ihre Frage.

Das Kind führte den Finger zum Mund und sah den Besuch unschlüssig an.
Aus der Tiefe des Raumes drangen wieder Laute der zerbrochenen Stimme.

»Darf ich wohl eintreten?« fragte Güldenfey und schob sich durch den
Türspalt in die Stube.

Daß es Gott erbarm! Der Raum war kalt und wirkte darum in seiner
Kahlheit noch frostiger. Zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett, ein Gestell,
das wohl zur Herrichtung eines zweiten Lagers diente. Kisten, in
denen einiges Geschirr aufgestapelt war. Von einem Kochofen stieg ein
seltsamer Brodem auf. Durch kahle Fenster sah der blaue Frühlingstag.

Auf dem Bett lag ein Mann mit wirrem blondem Kopf- und Barthaar. Seine
dürre Hand hielt ein blau und weiß gestreiftes rauhes Hemd über der
Brust zusammen. Auf dem Stuhl am Bett stand ein Trinkgefäß mit braunem
Trank gefüllt.

»Ich suche Frau Jobst«, sagte Güldenfey, als sich ihr das wächserne
Gesicht fragend zuwandte. Es kostete sie Mühe, mit ihrer Stimme die
Lasten der Beklemmung zu heben, die dieser Anblick auf sie legte.

Der Mann machte eine bedauernde Gebärde. »Meine Frau ist auf Arbeit
gegangen«, sagte die zerbrochene Stimme mühsam. »Sie wollen sie wohl
zur Aufwartung. Das ist unmöglich. Sie ist fast den ganzen Tag über
fort, und die Zeit, die ihr übrigbleibt --«

Eine Handbewegung deutete auf die kärgliche Umgebung und das Kind. Ein
Hustenanfall riß wütend die ausgehöhlte Brust auf und nieder. Und
dich, du Armer, begreift deine Gebärde nicht einmal mit ein, dachte
Güldenfey. Sie wartete, bis er Ruhe fand, sie anzuhören. Etwas in ihr
warnte sie, zu sagen, warum sie gekommen sei.

»Kann man denn nichts für Sie tun?« fragte sie.

Er gab weder durch Gebärde noch Miene Antwort. Sein Schweigen war
durchaus abweisend: Laß mir meine Ruhe und frage nicht!

»Ich hätte Ihre Frau gern gesprochen«, begann sie zaghaft aufs neue.
»Wann könnte das wohl sein, wann darf ich wiederkommen?«

»Heute nicht«, sagte der Kranke.

»Also morgen! Gut, ich komme morgen. Und um welche Zeit? Bemühen Sie
sich nicht mit Reden. Nicken Sie nur, wenn es zutrifft. Mittags? Nein,
schön! Nachmittags etwa gegen fünf Uhr? Auch nicht! Also des Abends?«

Jobst wandte plötzlich das Gesicht Güldenfey zu; aus seinen
erlöschenden Augen traf sie ein forschender Blick. »Schreiben Sie Ihre
Adresse auf«, sagte er. »Meine Frau wird sich schon bei Ihnen melden.«

O nein, sie würde nie kommen; in den Treßhof würde sie nimmermehr gehen!

»Es ist besser, ich komme morgen selbst wieder«, sagte Güldenfey
hastig. »Ihre Frau ist am Abend müde und findet hier mancherlei zu tun.
Ja, morgen abend komme ich und wünsche herzlich, daß es Ihnen bis dahin
besser gehe.«

Ihre Augen grüßten; mit unbeschreiblich lieber Bewegung neigte sie sich
zu dem Kind und streichelte es. Ach, was alles ihm fehlte! Dann ging
sie.

Und dann kam ein Tag voll aufgeregten Wartens, voll guter Vorsätze und
heimlicher Pläne. Was sich Güldenfey alles ausdachte, und wie ihr Herz
einem gesegneten Brunnen im Frühling glich, der seine Wasser von einer
Schale in die andre sprudeln läßt! Malte? Nein, sie ging nicht zu ihm,
sie wollte ungehemmt alles allein tun. Auch Ose teilte sie sich nicht
mit.

Aber dann kam die Enttäuschung.

Als sie am Abend vor dem Hause eintraf, das ihre Gedanken während des
ganzen Tages umkreist hatten, stand da vor der Tür ein kleiner Wagen,
mit einem müden Pferdchen bespannt, von dem Leute einen geringen
Hausrat abluden. Kinder schleppten vor ihr her Besen und Eimer die
Treppe empor und in den dunklen Flur hinein. Auf dem Treppenabsatz
stand mit einer andern schwatzend die unordentlich gekleidete Frau,
zottig wie gestern, obschon es spät am Tage war. Güldenfey grüßte und
schickte sich an, den Gang zu betreten.

»Jobstens sind fort«, rief ihr die Frau zu.

Güldenfey blieb stehen. »Fort?« fragte sie staunend.

»Sie sehen ja. Es ziehen doch schon andre ein.« Die Auskunft wurde fast
kränkend hingeworfen.

»Ja, aber ... Wo sind sie denn hingezogen?«

»Das kann ich nicht wissen.«

Es war augenfällig: sie waren vor ihr geflohen, sie wollten nichts mit
ihr zu schaffen haben. Am Vormittag mußte es geschehen sein, und schon
nahmen andre von dem traurigen Raum Besitz. Güldenfey sprach auf die
Frau ein, aber die wiederholte in ihrer derben Art, daß sie nichts
wisse. Also vergeblich! Güldenfey blickte in das unwohnliche Zimmer.
Einige Burschen standen dort und ließen die Flasche kreisen.

Der Wirt konnte keine Auskunft über den Verbleib der Familie Jobst
erteilen, auch die Polizei konnte es nicht. Güldenfey war enttäuscht.
Was hatte sie geben wollen! Und man nahm es nicht an, man zeigte, daß
man trotz alles Elends der Hilfe nicht bedürfe, die so spät kam.

Und dennoch sollte sie ihnen kommen! Güldenfey beschloß, so lange zu
suchen, bis sie gefunden hätte. Hanna Wilkens mußte ihr helfen. Und sie
ging und fragte unermüdlich und fand mehr als sie suchte.

                   *       *       *       *       *

Was für ein furchtbares Gesicht war es doch, in das Güldenfey blickte!
War dies das Antlitz des deutschen Volkes? Wie Metalle in der Erde die
Gewächse des Bodens in Form und Farbe anders gestalten, so hatte die
Not verändernd auf das Gepräge der Menschen gewirkt. Die Starre war da,
das Seelenlose.

Stieg Güldenfey, einer gewiesenen Spur folgend, die düstere Stiege
eines Hinterhauses in der Sachsenvorstadt empor, dann grinste es sie
teuflisch an.

Aus der Tiefe des Treppenschachtes drangen die rauhen Laute eines
Zwiegesprächs bis zu ihr empor, während sie Atem schöpfend vor einer
Tür stand.

»Kommst du morgen mit uns?«

»Nein. Am Sonntag muß ich die Papierhaufen durchzählen, die ich in der
Woche verdient habe.«

Ach ja, sie trugen den Verdienst in Geldbündeln, mit denen sie die
Taschen vollstopften, heim, warfen es für Nichtigkeiten wieder aus und
lebten in den Tag hinein.

»Mach, daß du es los wirst«, riet die erste Stimme. »Wer weiß, was es
am Montag noch gilt!«

Eine grelle Musik setzte ein. Im Untergeschoß befand sich eine
Filmbühne; in dem Saal des Nachbargrundstücks wurde getanzt. Die
Melodien der beiden Spielbanden schrien widereinander; dazwischen das
jauchzende Aufkreischen einer Frauenstimme.

Güldenfey klopfte an. Schlurfende Schritte; dann wurde geöffnet.

»Können Sie mir wohl sagen, ob eine Frau Jobst hier im Hause wohnt? Der
Mann ist krank, ein kleines Mädchen gehört zu ihnen.«

Wie oft hatte sie diese Frage getan!

Der bärtige Mann schob den Kopf vor, um die Fragende zu mustern. »Kenne
ich nicht!«

Güldenfey gab genauere Angaben: der Mann sei Monteur, das Kind trage
einen blonden Zopf.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Machen Sie um diese Zeit noch
Nachfragen, Fräulein? Lassen Sie das lieber! Wenn Sie auch von der
Fürsorge sind, es könnte Ihnen was passieren.«

Güldenfey dankte und ging. Die Tür wurde geschlossen. Im Hinabsteigen
blieb sie an dem Treppenfenster stehen und blickte in den schmutzigen
Hof hinab. Tanzmusik und Bühnenmusik schrillten noch immer
widereinander. Die Hinterwand des Hauses stand buntscheckig wie ein
Bühnenstück unter dem erlöschenden Abendhimmel: der Verputz war in
großen Stücken abgebröckelt, und keine Hand hatte sich gerührt, die
großen Wunden der Wände zu verstreichen.

Und was zerbröckelte erst hinter den Türen dieser vielen Wohnungen, in
die jetzt Güldenfey so oft schaute! Ja, wäre es nur der Hausrat allein
gewesen! Doch die seelischen Werte, die verloren gingen, zu zählen,
fand sich keiner. Die Starre, das Seelenlose nahm überhand, das Leben
wurde mechanisiert.

War das der Giftodem des Tieres, das aus dem Meer stieg? Die große
Lüge, von der die Schreier selbst glaubten, daß es die Sorge um
das Wohl eines entrechteten Standes sein sollte, war nichts als
Gottesfeindschaft und Streit wider den belebenden Geist?

Traurig kam Güldenfey an jedem Abend heim, wenn sie wieder nicht
gefunden hatte, was sie suchte. O, sie wußte wohl, daß sie trauriger
wurde durch das, ~was~ sie fand.

Einmal traf sie Oberst Helf auf der Straße. Er trug eine Blechkanne und
war ausgegangen, um für seine kranke Frau etwas Milch zu kaufen. Er war
von einem Laden in den andern gewandert und hatte nichts erhalten. Da,
wo Milch vorrätig gewesen, hatte man unerschwingliche Preise gefordert.

»O kommen Sie mit mir, wir wollen sehen«, sagte sie, fühlte in ihrer
Tasche, ob die Geldmappe darinnenstak, und erwog, ob Ose wohl Milch
übrig hätte, wenn sie nicht fänden.

Sie suchten, und nach einer Stunde hatten sie ein wenig Milch
eingehandelt und sie sogar bezahlen können. Der Oberst war glücklich
und trug seine Kanne so stolz, als sei sie eine erbeutete Standarte.

»Nun darf ich mit Ihnen gehen und Ihrer Kranken einen guten Tag
wünschen«, bat Güldenfey. Im stillen hoffte sie, daß sie Gelegenheit
finde, ihm zu helfen.

Der freundliche alte Herr lehnte das Anerbieten nicht ab, aber die
Blechkanne, die sie ihm abnehmen wollte, gab er nicht her. »Welche
liebenswürdige Miene hat dieser Tag dadurch gewonnen, daß ich Sie
traf!« sagte er. »Es fing heute morgen so verheißunglos an.« Und er
erzählte, daß er unlängst ein Möbelstück verkauft habe, was man ja
von Zeit zu Zeit tun müsse, um das Dasein zu fristen. Aber da sei
das Steueramt gekommen und habe seinen Anteil an dem geringen Erlös
gefordert. Heute morgen sei er dort gewesen, um vorzustellen, daß er
das Geld nötig zu einer Anschaffung brauche; es war vergebens gewesen,
man hatte ihm den Anteil entrissen.

Er blieb an einer Straßenecke stehen. »Lassen Sie mich hier Ihnen
danken und Lebewohl sagen«, fuhr er fort. »Ich darf Sie doch nicht
bitten, uns um diese Zeit zu besuchen. Meine Frau würde es vielleicht
peinlich empfinden, weil noch nicht fertig aufgeräumt ist. Solange sie
krank ist, muß ich für Ordnung sorgen, und da ich früh fortgegangen bin
...«

Güldenfey dachte: Welche Not spricht er mit diesen paar Worten aus! Ihr
Herz lag ihr schwer wie Bergeslast in der Brust. »Wann werden diese
Zeiten enden?« fragte sie.

Der alte Herr lächelte: »Weltnebelspanne, wissen Sie, was das ist? Das
ist die Epoche des Drucks und der Pressung, in der sich im Weltenraum
ein neuer Himmelskörper bildet. So vollzieht sich wohl jetzt eine
Neubildung der Menschheit. Was tut es, daß wir wenigen den Wechsel
mit unserm Herzblut bezahlen? Wir müssen glücklich sein, wenn wir ein
bißchen Freude am Wege finden, wie ich sie heute durch Sie finden
durfte.« Er verneigte sich ritterlich vor ihr, wie ein Junger vor der
Dame seines Herzens: »Tragen Sie Ihr köstlich Gut weiter, Fräulein
Treß. Bringen Sie auch andern noch ein bißchen Freude.«

Ein Kraftwagen fuhr schnell durch die Straße, hart am Fußgängersteig
entlang. Die Pfeife schrillte brutal die Menschen an: Platz, Platz für
mich! Der Wagen stieß an den Oberst, der ihn nicht sah; um ein weniges
hätte er den alten Herrn umgeworfen.

Der Mann am Steuer warf das Gefährt herum und brachte es zum Stehen.
»Zum Donnerwetter! Können Sie nicht aufpassen?«

Alle Männer im Wagen, die die Ledermütze in den Nacken geschoben und
ihre Pelzmäntel geöffnet trugen, schalten auf den Mann, der ihre Fahrt
verzögerte. Dann fuhren sie weiter.

Der Oberst sah ihnen still nach. Womit wucherten jene, die sich so
breitmachten und die Straße für sich allein begehrten, mit Zucker oder
mit Fetten? Oder verschoben sie Vieh? Es lohnte nicht, zu fragen, auf
welche Art die Leute in dieser Notzeit reich wurden. -- Geschmeiß!

»Wir werden kein Volk mehr sein, wenn es so fortgeht, nur eine
Masse«, sagte der alte Herr. »Aber trotzdem« -- und nun verklärte das
freundliche Lächeln wieder sein im Schreck erbleichtes Gesicht --,
»trotzdem tragen Sie ein wenig Freude weiter aus, mein liebes Fräulein!«

Ja, das wollte Güldenfey, und sie suchte weiter und ließ ihren Mut
nicht verkümmern, als Woche um Woche verging, ohne daß sie Frau Jobst
gefunden hatte. Sie würde sie schon entdecken, und es lag ja so viel
am Wege, was auch des Findens wert war. Nur ein bißchen Freude!
wiederholte sie täglich, wenn sie am Morgen ausging.

Es wurde ihr schwer, die Stadt auf einige Wochen im Sommer zu verlassen
und nach Heilisoe überzusiedeln. Aber Harro hatte sie gebeten, Marfa
zu begleiten. Er reiste in einer politischen Sendung nach Norden, und
Marfa war stiller als je. Es war undenkbar, daß man sie allein auf der
Insel gelassen hätte, das sah Güldenfey ein.

Doch Heilisoe bot ihr nicht die Ruhe wie einst. Nein, gewiß nicht,
sie schaute nicht nach den gewaltigen Türmen aus, die an sonnenhellen
Tagen im Süden aus dem Dunst der Ferne auftauchten; sie bemühte sich,
nicht an ihre Armen dort zu denken, und war um Marfa eifrig bemüht.
Doch alles, was sie einst so erfreut und was ihr Jörg gedeutet hatte,
weckte in ihr die Sehnsucht nach dem Bruder, der seit drei Jahren nicht
heimgekommen war.

Was hatte er an dieser Stelle gesagt, wo sich die blauen Glockenblumen
über den Rand der narbigen Dünenwand neigten und die silbergrünen
Ölweidenbüsche sich fest an den Abhang klemmten? Und hatte er nicht
die Insel mit einer Brücke, aus der Zeit in die Ewigkeit führend,
verglichen, als sie am Abend droben auf den Königsgräbern standen und
das unruhige Zucken des Blinkfeuers über das Land huschte? Und die
Käuzchen schrien um die Dämmerungzeit wie damals, und der Wind griff
wieder mit lichtfrohen Händen in das Gewölk und zerrte den grauen
Flaus, den er zerrissen, auseinander.

Ja, es war alles wie einst, aber es fehlte Güldenfey der Mund, der
diese Sprache gedeutet hätte. Es wäre so gut gewesen, wenn sie das, was
sie empfand, hätte ausdrücken können, schon um Marfas willen, die so
schweigsam wurde.

Marfa liebte nicht den nördlichen Strand, wo sich die hohen zerrissenen
Dünenwände gegen die brausende Flut stemmten, von wo aus man in die
ungemessene Ferne blickte, aus der vor vielen Jahrhunderten auf
hochgeschnäbelten Schiffen die Väter gekommen waren. Marfa suchte viel
lieber das südlich gelegene Flachland auf, um das der Gesang des Meeres
gedämpfter klang.

Da war die Heide, deren Färbung, blaßviolett wie in der Sonne
verblichener Samt, dem Lande ein kränkliches und doch ehrwürdiges
Aussehen verlieh. Wo die Narbe des dürren Pflanzenwuchses fehlte,
schimmerte grell der weiße Sand, von harten silbernen Gräsern gesäumt.
Oder es blinkten wie verschlossene Augen tintenschwarze Wassertümpel
aus dem Binsenkranz. Ganz vereinzelt drückten sich in Sandmulden
zwerghafte verbogene Föhrenbüsche oder winzige Weiden, die wie silberne
Myrten erschienen, und denen der immer hastige Wind kein Wachstum
gestattet, sondern nur ein bescheidenes Vegetieren.

Hier fühlte Marfa sich wohl, hier konnte sie tatenlos liegen und in die
Ferne schauen. Iphigenie! dachte Güldenfey.

      Und an dem Ufer steh' ich lange Tage,
      Das Land der Griechen mit der Seele suchend.

War das immer noch ungestillte Sehnsucht nach dem Manne, den sie in
dieser Fremde gewonnen hatte und doch nicht besaß? Güldenfey erschien
es zuweilen, als sei dies Verlangen nach Harro nur der Name für
Tieferes, Unausgesprochenes, was die Seele dieser Frau in sich barg.

Es war gut, daß Hanna Wilkens da war. Ja, das hatte sich Güldenfey
ausbedungen: dieses kleine verblichene Nähmädchen sollte zu seiner
Erholung einige Wochen in Sonnenschein und Seewind gebadet werden.
Malte hatte Bedenken geäußert, aber Frauke hatte in ihrer Art die
Schultern gehoben und gesagt: »Warum nicht?« Damit war es entschieden
gewesen.

Hanna Wilkens blühte auf, daß es eine Freude war. Sie wollte durchaus
etwas arbeiten, doch das litt Güldenfey nicht; sie sollte stilliegen
und höchstens Güldenfey Rat erteilen, was man tun könne, um den Armen
in der Stadt zu helfen.

»Die Armen!« sagte sie. »Ach, die wohnen nicht allein in den Häusern
der Sachsenvorstadt, die Sie aufsuchen, Fräulein Treß. Aber die alten
Stiftsdamen in den Klöstern und die Weiblein und Männlein in ihren
verräucherten Stuben leiden bittere Not. Sie leiden vor allem darunter,
daß niemand sich um sie kümmert.«

Güldenfey hob beide Hände: »Ich wollte ihnen allen helfen, aber ...«

»Sie, Fräulein Treß?« sagte Hanna und sah Güldenfey gläubig an. »Sie
dürfen nur lächelnd und mit einer Blume zu ihnen ins Zimmer treten, und
alles ist gut.«

Ein wenig Freude! dachte Güldenfey. Und sie dachte an den Garten
hinter der Mauer. Hatte sie nicht schon früher die Blumen in ihm für
arme sonnenlose Zimmer gepflückt? Sie konnte es kaum erwarten, bis die
Stunde schlug, in der Telge mit dem Boot kam, um sie abzuholen.

                   *       *       *       *       *

Sie nannten ihn den vergessenen Garten, weil er, von wenigen gekannt,
in einem abseitigen Winkel der alten Stadt lag. Gegen das Meer zu
deckte ihn der Rest der wehrhaften Stadtmauer, und der Chor der alten
Klosterkirche St. Johannes Evangelist sah von der andern Seite aus
altersdunklen hohen Fenstern auf ihn herab. Dann war noch eine Hauswand
da, aber von Süden her hatte die Sonne ungehindert Zugang zu ihm.

Wer ihn aufsuchen wollte, mußte die Winkelgänge des alten
Klostergebäudes kennen und sich in dem Gewirr der Stiegen und Häuschen
zurechtfinden, die willkürlich und nach jeweiligem Bedarf hier
errichtet waren. Der Großvater Treß hatte ihn von der Stadt übernommen;
keiner hatte sich um ihn gesorgt, bis Güldenfey ihn entdeckt und als
Ziergarten mit Mellins Hilfe hergerichtet hatte.

Mellin, der etwas von der Gärtnerei verstand, wirkte hier unermüdlich.
Zwar war er in den mageren Jahren wiederholt an Güldenfey mit dem
Vorschlag herangetreten, man müsse Gemüse bauen. Doch dann hatte sie
ihn nur angeblickt.

»O, Mellin, meine Blumen, meine Freude!«

Im Frühling, wenn die Sonne die Höhe ihrer Bahn noch nicht beschritten,
war das Blühen in dem vergessenen Garten spärlich. Aber welche Zier
begrüßte Güldenfey, als sie von Heilisoe zurückkehrte! Das wilde,
inbrünstige Blühen des Sommers war zu ihrem Empfang bereit: Löwenmäuler
schwefelgelb, purpurn und elfenweiß; Strohblumen von tiefem Blutrot;
Rudbeckien, Astern und Georginen schufen ganze Wolken von Bunt um
den violenfarbenen Phlox; Stiefmütterchen, späte Rosen und besondere
Veilchen blühten, und die zarten Lackfarben der Gladiolen schimmerten
wie fließendes Wachs.

In der tauigen Frühe des Sonntagmorgens war Güldenfey schon dort. Sie
hatte sich Hanna Wilkens und eine ihrer Schwestern bestellt, die die
Sträuße binden sollten, die man später austragen wollte. Sie selbst
schritt wählerisch unter ihrem Reichtum umher und schnitt Verbenen,
Zinnien und Studentenblumen, dunkelblauen Eisenhut und Honiggold. Und
jede Blume, die sie schnitt, empfing einen Wunsch, den sie weitertragen
sollte.

»Hanna, hier müßten Sie noch eine brennend rote Salvie dazutun, damit
es leuchtender wirkt. Und dieser Levkoienstrauß sollte noch ein paar
Kosmeen oder Geißblumen tragen.«

Kresse, Astilben und die Wicken am Zaun, deren bunte Blüten wie
Schmetterlinge in der Luft schwebten, gaben unerschöpfliche Reichtümer
her.

Dann gingen die Mädchen, und Güldenfey blieb allein, während das Geläut
der Glocken wie Bienensummen über die Stadt zog. Nur die Klänge von
St. Johannes sanken hallend auf die Blumen des vergessenen Gartens und
überließen sich hier erst dem Wind, der von der See kam.

Der vergessene Garten! Güldenfey setzte sich auf die Bank und sann.
Dort oben hinter den Fenstern der Häuschen und der Klosterräume wohnten
die alten Männer, deren Leben lautlos verrann. Einige von ihnen
erhoben sich noch am Morgen von ihrem schlaflosen Lager, rückten den
binsengeflochtenen Stuhl zurecht und strickten Strümpfe und Netze.
Andre aber zogen die Ärmelweste an und saßen, ihre Arme auf die Knie
gestützt, den Tag über auf dem Bettrand, und während sie das bärtige
Gesicht in den Falten ihrer schwieligen Hände verbargen, warteten sie
auf den Tod. Zuweilen erhoben sie sich und schauten mit unbewegten
Mienen in den blühenden Garten hinunter, der ihnen seine Düfte und
Farben entgegenhob. Was an Gedanken mochte durch diese altersweißen
Köpfe gehen? Oder ob sie mehr nicht dachten als das eine, daß der Tod
sie vergessen habe, wie das Leben diesen blühenden Gartenfleck?

Und ergraute Damen waren dort drüben mit Löckchen vor den Ohren, dünnen
Ringen, die verschlissene Türkisen faßten, auf den welken Fingern und
mit erloschenen Augen. Das Alter hatte ihren Gestalten die Zierlichkeit
jugendlicher Jahre wiedergegeben, aber die Not der Zeit hatte ihre
schwarzen Abendmahlsgewänder fadenscheinig und grau gemacht. Und auch
sie saßen, wenn der Wind vom Meer nicht durch die morschen Rahmen
blies, auf ihrem Fensterplatz, und an warmen Sommerabenden öffneten sie
einen Flügel und lehnten sich ein wenig hinaus, um in ihr welkendes
Dasein etwas von dem Nelkenduft ihrer blumigen Mädchenzeit fließen zu
lassen. Aber sie waren wie die rostigen Schlüssel der weihnachtlichen
Bescherungstuben, die man von außen verschließt: sie sehen, wenn sie
in das Schlüsselloch gesteckt werden, alle Herrlichkeiten dort innen
und kommen doch selbst nicht hinein. Wenn die Sonne sank, schlossen sie
das Fenster wieder, wanden die Gewichte ihrer Uhren auf und lauschten
auf die blechernen Schläge bis Mitternacht. Und vielleicht kam dann
zögernd der Schlaf und schenkte ihnen einen Traum.

Es ist alles nur ein Warten, dachte Güldenfey, bei diesen und jenen,
bei Marfa und den hungernden Menschen. Auch bei mir? Nur ein Warten?

Güldenfey horchte auf. Kamen da nicht Schritte, und hatte die Pforte
nicht geknarrt? Als sie den Kopf wandte, erkannte sie Thomasius, der
hell und grüßend auf sie zukam.

»Störe ich auch nicht Ihre Sonntagsfeier?« fragte er.

»Aber Sie?« fragte Güldenfey. »Es ist doch die Zeit des Gottesdienstes!«

Er erklärte, daß er heute frei sei und die Alten besucht habe, denen
der Gang zur Kirche beschwerlich war.

»O das ist schön!« rief sie. »Gerade habe ich an die Altersschwachen
gedacht und was ihnen das kümmerliche Lebensrestchen noch bedeutet.
Wir haben für sie die Blumen dieses vergessenen Gartens gebunden.« Sie
deutete auf die Sträuße, die im beschatteten Gras lagen.

Thomasius sah nicht die Blumen, er blickte Güldenfey an, und in
seinem bewundernden Blick war etwas, das sie verwirrte. Was er nicht
aussprach, das sagten seine Augen: Du selbst bist der vergessene
Garten, aus dem vielen eine reiche Labe fließt. »Ich besitze etwas, das
ich Ihnen bringen wollte«, sagte er. »Nun sah ich Sie hier vom Fenster
aus und dachte, es Ihnen gleich zu geben. Es ist mir eine Genugtuung,
der Freudespenderin einmal auch Freude machen zu können.« Er entfaltete
ein Zeitungsblatt und reichte es ihr. »Von Jörg Treß wird über sein
letztes Konzert berichtet. Lesen Sie, wie warm und anerkennend!«

Er beobachtete heimlich ihr Gesicht, während sie las. Die rote Welle
der Freude stieg in ihre Wangen und höher, bis an die Wurzeln ihres
lichten Haares. Es war, als teile sich ihm ihre Empfindung mit und
ziehe seine Seele an die ihre. Du Feine, du Güldene! dachte der Mann.

Als sie am Ende war und tief atmend aufblickte, nahm er das Blatt und
wandte es um. »Noch etwas«, sagte er.

Ein Artikel: Vom ungelebten Leben! Und Jörg Treß zeichnete als
Verfasser.

Ja, sie wußte darum, wie Jörg seine Kunst ausübte; aber hier sprach
er es klar und schön aus und stellte es allen als sein hohes Ziel
vor: Keine Folge blendender Musikvorträge in den Konzerten, bei deren
Anhören sich einige etwas, die meisten nichts dachten, sondern die
Perlen großer Meister ausgereiht auf das vermittelnde und bindende
Wort des Vortragenden in gewählter Form. Erst wenn die Kunst wieder
gottesdienstliche Handlung wird, erst dann werden wir ihr Wesen erleben.

»Wie wahr ist alles, was er sagt!« rief Güldenfey. »Er hat große
Gedanken und ein reines Herz. O, ich liebe ihn!«

Sie sagt es inbrünstig wie eine Braut, dachte Thomasius, und eine
kleine eifersüchtige Regung schwoll in ihm auf. »Sagen Sie das nicht«,
bemerkte er lächelnd.

Sie blickte ihn verwundert an.

»Es könnte eines Tages jemand des Weges kommen,« fuhr er ohne
scherzenden Beiklang fort, »der stillsteht, wenn er Sie sieht, und
anklopft. Ich glaube, er wäre traurig, wenn er die Tür verschlossen
fände, in die er einzutreten wünscht.«

Güldenfey sah in ihren Schoß. An ihrem Kleid haftete noch ein
Stiefmütterchen; sie nahm es und drehte den Stengel zwischen ihren
schlanken Fingern. Dann schaute sie auf und erkannte, daß seine Worte
bedeutsam waren. »Wer glaubt, hier anpochen zu müssen,« sagte sie
ruhig, »wird wissen, daß er alle, die schon darinnen sind, nicht
ausweisen darf.«

»Nicht ausweisen!« entgegnete er zögernd. »Aber --«

Sie wiegte langsam den Kopf. »Es hieße an dem Reichtum der Liebe
zweifeln.«

»Sie haben völlig recht!« sagte er überzeugt. »Wollen Sie mir das
Stiefmütterchen wohl schenken?«

Güldenfey reichte ihm die Blume und erhob sich. Sie ging den
Gartensteig entlang und bückte sich nach den Sträußchen. Dann kam sie
wieder zurück. Seine Blicke umfingen zärtlich diese schlanke, lichte
Mädchengestalt, die voll reifen Frauentums war.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie, und er erhob sich, um sie zu
begleiten.




                                Advent


So voll Sorge und Bangigkeit war noch kein Winter gewesen wie dieser,
der jetzt anhob, auch jener nicht, da deutsche Heere in bitterem
Streiten vor dem vielköpfigen Feind lagen und die in der Heimat
Darbenden von Rüben lebten. Es war jetzt alles unsicher, und keiner
konnte von heute auf morgen sehen, weil ein Dunkel, ärger als der
dickste Nebel, die nächste Zukunft verbarg.

Und trotzdem nahte Weihnacht, und ein zaghaftes Gefühl der Hoffnung
schlich sich schüchtern in die trostlose Welt; ein ferner Glanz
aus alten Weihnachtstagen kam und hängte sich an die Ketten aus
Silberschaum in den Schaufenstern, und der deutsche Wald sandte seine
jungen Bäume, daß sie am Lichterfest in den Stuben dufteten, und die
Glocken ließen ihr Klingen über die Stadt gehen, arm und einstimmig,
aber doch in der alten Weise.

Der vergessene Garten lag unter Frosthauch und Schnee und gab nichts
mehr her, was Güldenfey hätte in die Stübchen der Alten tragen können,
in denen sie nun dicht vermummt neben dem kalten Ofen saßen, und wo der
Hauch am Mund gefror. Wärme und Licht, ja, das schuf sie ihnen, soweit
ihre schmalen Mittel reichten. Aber ein wenig festliche Freude!

»Was könnten wir ihnen bringen?« fragte sie Hanna Wilkens.

Doch die kleine Näherin wußte keinen Rat. Es ging alles nur auf die
Geldmittel, die schon für den nötigsten Bedarf nicht zureichten.

Plötzlich kam Güldenfey ein glücklicher Gedanke, der sie mitten in der
Nacht vom Lager auftrieb. Sie hatte wach gelegen und auf das Heulen
des Windes gelauscht, der in dem Speicher rumorte. Wie wäre es, wenn
wir ihnen etwas singen könnten? Es hatte sich um Hanna Wilkens ein
Kreis Jugendlicher gebildet, der die alten Weihnachtlieder übte, um sie
bei der Bescherung vorzutragen. Sollten sie nur einmal gesungen werden?

In der Frühe der beiden letzten Adventsonntage zog durch die Straßen
der Stadt ein seltsamer Zug: sechs verhüllte Gestalten, von denen eine
die buntfarbene Laterne trug; die andern hielten Tannenzweige wie
Palmenwedel in den Händen. Der Zug ging trotz der Schneewehen, die
der Wind aufgehäuft, durch Düsternis und heimliches Grauen durch die
Stadttorbogen dahin, wo die verbogenen Häuschen der Armen standen,
und machte an einer Ecke halt. Plötzlich klang es von jungen Stimmen
gesungen:

      =In dulci jubilo=,
      Nun singet und seid froh!

Zwischen den hohen Häusergiebeln kreischte und stöhnte der Wind, der
Kreuzgang von St. Johannes war erfüllt vom Rauschen des Meeres. Aber
die Stimmen, die den alten Christgesang trugen, waren stärker und
füllten die Straße.

Es war ein staunendes Horchen hinter den Fenstern; dann tastete eine
Hand nach dem Zündholz, eine schwache Kerze flammte auf, und während
vorsichtig der Vorhang des Fensters zurückgeschoben wurde, erschien ein
greiser Kopf zwischen den Spalten, spähte in das Dunkel, wo ein bunter
Laternenschein zwischen dunklen Wesen glomm, und verschwand wieder. Die
Kerze erlosch, der Ruhende kroch wieder in das wärmende Bett. Hände
falteten sich, Augen flossen über.

      =Ubi sunt gaudia?=

Dann zogen sie weiter, zum Heiligen Geist, zum Kronswinkel, zum
Kurhof, und überall, wo sie standen, sangen sie von Marienweh und dem
Trost, den der bringe, der in der Weihnacht als unscheinbares Reis
einer großen Gnade entsproß. Es kamen Prasser, die die Nacht an den
Zechtischen zugebracht hatten, des Weges; aber das trunkene Wort
wollte nicht von ihren Lippen; sie gingen im Bogen um die singende
Schar. Es kamen Schichtarbeiter, die die Arbeit schon zeitig in
ihr Gewerk trieb: sie blieben stehen und holten die Versäumnis in
schnellerem Gehen ein und nahmen ein wenig Blankes in der Seele mit.

In den Mauervorsprüngen der Gassen kauerte noch die Nacht, die
Strebepfeiler von St. Niklas griffen wie erstarrte Arme in die Luft und
stemmten sich gegen das Gewände des Mittelschiffes. Im Osten stieg der
späte Wintermorgen in einem fahlen Lichtstreifen herauf. Er brachte nur
die Dämmerung der nordischen Sonnenwendzeit. Jene aber, die jetzt mit
leisen, vom Schnee gedämpften Tritten heimwärts gingen, das Licht in
der farbigen Laterne ausbliesen und ihre Zweige an die Türklinken der
Häuser steckten, hatten Kerzen entzündet, die noch lange flammten.

                   *       *       *       *       *

Es war der vierte Advent. Thomasius redete mit besonderem Eifer
heute: Tröstet, tröstet mein Volk! Güldenfey, die etwas fröstelnd in
dem goldenen Präsentierteller saß, blickte verstehend zu ihm auf. Es
erschien ihr zuweilen, als rede er nur zu ihr. Doch das empfand sie
nicht als etwas Besonderes, denn er pflegte seit einiger Zeit sich beim
Sprechen dem goldenen Präsentierteller zuzuwenden.

Als sie die Kirche verließ, schritt sie über den Markt, wo wenige
Verkaufsstände das Überbleibsel eines Weihnachtmarktes andeuteten.
Einige große Schirme über Kramtischen glichen riesigen weißen Pilzen.
Der Wind hatte nachgelassen, der eindringende Nebel war gefroren,
Häuser und Türme erschienen wie wunderbares Zuckergebäck.

Sie müßten doch einen Pfefferkuchen haben, dachte Güldenfey, als sie
die Kinder bemerkte, die um die Buden strichen. Im Treßhof duftete
es schon seit acht Tagen nach dem würzigen Backwerk, und wenn auch
Ose an Mandeln, Rosinen und Honig sparte, es wurde zur Weihnacht doch
gebacken, und der Duft war da, der von dem Harzgeruch der Tannen
unzertrennlich ist. Aber diese --!

Sie griff schon in die Tasche; ja, sie hatte etwas Geld bei sich, zu
wenig, um alle lüsterne Mäulchen zu stillen, aber genug, um den guten
Willen zu zeigen. Und siehe, sie bekamen alle und wurden satt und
zufrieden, wenn auch keine Brocken übrigblieben.

Also hatte Güldenfey ihre Adventfreude. Und wenn sie auch am liebsten
die Schar mit sich genommen und ihnen die Vorräte des Treßhofs
vorgesetzt hätte, sie hatte das Tröpflein auf dem heißen Stein doch
zischen gehört. Leise summte sie das Lied, das sie in der dunklen Frühe
des Tages mitgesungen, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinanstieg:
=Ubi sunt gaudia?= Mellin kam hernieder, staunte sie an und grüßte.

»Sind Sie nicht auch ein wenig froh, Mellin?« fragte sie. »Ich hörte,
Ihr Mariechen kommt mit den Kindern. Und denken Sie doch: Weihnachten!«

Mellin strich gedankenlos durch seinen Bart. »Ach, gnädiges Fräulein,
Weihnachten und diese Zeit, wie paßt das zusammen!«

»Doch, doch, es paßt schon, Mellin. Wissen Sie, am dritten Feiertag muß
Mariechen mit den Kindern bei uns Kaffee trinken.«

Mellin lächelte geschmeichelt und bedankte sich.

Ich werde ihn schon dahin bringen, daß er sich freut, dachte Güldenfey.

Das blasse Licht des Mittags wurde von Graugewölk verdunkelt, hinter
dem die lange Nacht, die kaum gegangen, schon wieder harrte. Marfa
hatte sich nach dem Mahl zurückgezogen, und Güldenfey, die früher als
alle aufgestanden, wollte es sich in ihrem Zimmer für ein Stündchen
behaglich machen. Plötzlich horchte sie auf.

War das ein Geräusch? Nein, kein Geräusch, vielmehr ein Seufzen. Doch
wer sollte geseufzt haben, den sie nicht hätte sehen können? Sie blieb
stehen und lauschte. Es war nichts. Und doch, da hörte sie es wieder.
Kam der Laut aus ihrem Inneren?

Leise öffnete sie die Tür, die die Treppe zum Beratungzimmer vom Flur
abschloß, und stieg hinab. Als sie sich über die Brüstung lehnte, sah
sie einen Mann am Tisch sitzen. Die Dämmerung in dem Raum war schon
so vorherrschend, daß sie ihn, der ihr den Rücken zuwandte, nicht
erkannte. Er hatte den Kopf in die linke Hand gestützt, die andre
hielt ein Blatt aus der geöffneten Mappe, die auf dem Tisch lag, zur
Betrachtung vor das Gesicht. Es war die Zeichnung, die Jörg am Abend
der Testamentsverlesung entworfen: das Tier, vor dem sich alle Stände
neigten. Sie blieb lautlos stehen.

Da stieg wieder jenes schmerzliche Seufzen auf, und nun wußte sie, wer
es war. Sie eilte hinab. »Malte, wie kommst du um diese Stunde hierher?«

Er fuhr erschreckt empor und wollte sich erheben, sie setzte sich
schnell an seine Seite. Wirr und etwas verlegen blickte er sie an.
»Ich?« fragte er. »Ich bin spazierengegangen, ich mußte an die
Luft. Und da ging ich hier vorüber und trat ein. Es ist zuweilen so
sonderbar; die alten Erinnerungen ...«

»Ja, jetzt in der weihnachtlichen Zeit«, sagte Güldenfey.

Er machte einen Versuch, zu lächeln, doch der mißlang. Und in diesem
Augenblick erkannte Güldenfey, wie anders Malte geworden war. Das
schöne Gesicht mit den edlen Zügen hatte sich gänzlich verändert, der
Ernst war zur Schärfe geworden, und um die Augen, die so gütig blicken
konnten, lag die Düsternis langer Winternächte. Nur seine Blässe war
ihm verblieben und leuchtete wie Marmor in dem verschatteten Raume. Sie
legte ihre Hand auf seinen Arm. »Malte, sag' doch, was fehlt dir?«

»Nichts! Ich habe ja alles, was ich brauche.« Wieder brach sein
Versuch, zu scherzen, zusammen. »Nur, ich sagte schon, die
Erinnerungen.«

Er wollte sich verschließen. Nein, auf diese Weise konnte sie ihm
nicht helfen. »Ich weiß, du denkst an die Kinderzeit«, sagte sie
sanft. »Ja, damals, als der Vater vor uns so geheimnisvoll tat und es
ein Verstecken und Tuscheln und bei jeder Gelegenheit bedeutungvolle
Blicke gab. Aber, weißt du noch, hier durften wir ein paar Tage vor dem
heiligen Abend stets sitzen und die Fäden an Kringel und Zuckersterne
für den Baum befestigen. O welch ein Berg süßer Herrlichkeit da vor
uns aufgeschüttet lag! Und Jörg verstand es so gut, die Netze aus
Goldpapier zu schneiden. Er war schon damals ein Künstler.«

»Es kam anders, ganz anders«, sagte Malte.

»Und wir wurden andre, Malte.«

»Das weiß Gott, Güldenfey. Das heißt: du nicht! Du bist das unbesorgte
Kind geblieben. Du könntest noch heut Zuckersterne auf Fäden ziehen.«

»Du nicht?« fragte sie gläubig. »Wenn hier der große Berg vor dir
aufgeschüttet läge, du nicht?«

»Ich glaube nein«, sagte er. Seine Stimme bekam einen weichen Klang.
»Der Kinderglaube und die Freude jener Jahre ... Ach, Kind, zuweilen
möchte ich das alles aussprechen dürfen, was über einen dahingeht;
ich wünschte nicht mehr als dies, vor einem sitzen zu können, der
mich anhörte, oder wenn das nicht möglich ist, nur mich an irgendwen
lehnen zu können und vor ihm zu schweigen. Bewußt sich vor jemandem
ausschweigen, das ist auch eine Wohltat. Das hat mich in unser altes
Haus getrieben.«

Und Frauke? dachte Güldenfey. Doch sie sprach es nicht aus. Sie legte
ihre Hand auf seine und ließ sie da liegen.

»Es gibt etwas Merkwürdiges,« fuhr er fort, »eine Kühle, eine Leere,
oder wie soll ich es nennen; es ist nur ein winziger Punkt, aber er
wächst sehr schnell, und was man anfangs die Regung eines Stolzes
nannte, ist plötzlich eine weite Wüste, und man ist so allein.«

»Warum kommst du nicht zu mir, Malte?«

»Ach, du liebe kleine Güldenfey!« sagte er. »Ich wäre wohl dazu da,
dich vor allem Rauhen zu beschirmen, nachdem Vater dich mir so an
das Herz gelegt hat. Und nun soll ich gar zu dir kommen. Aber es ist
zuviel, es ist zuviel, und zuweilen mein' ich, es sei gar nicht zu
schaffen.«

Wie ein großer Junge, den seine Schulaufgaben quälen, dachte Güldenfey,
und tröstend strich sie über seine Hände. »Mußt dir nicht so viele
Sorgen machen, Malte. Wir haben doch genug, und wenn wir wenig haben,
so schadet's auch nicht. Wir sind ja alle zufrieden, wenn unser großer
Bruder nur froh ist.« Sie strich an ihm auf und nieder, und er, Malte,
saß still da und ließ es sich gefallen.

Wie gern hätte Güldenfey ihn bewogen, sich alles von der Seele zu
sprechen, doch sie wußte, daß behutsames Abwarten das beste Mittel sei.
Vielleicht wollte Malte ...

Doch die weiche Regung war schon vorüber. Sein Blick fiel auf das
Blatt, das auf dem Tische lag, und er richtete sich auf. »Verzeih,
Güldenfey!« sagte er. »Da komm' ich nun und mache dir das Herz schwer
mit dem, was ich da schwatze, nicht wahr? Was für sentimentale
Anwandlungen es doch gibt!«

»O Malte, es war ja so gut!«

Doch er war schon weit fort, und dieser Ton berührte ihn nicht mehr.
»Laß es gut sein, Kind,« sagte er, »du darfst dich nicht sorgen, denn
es ist alles vortrefflich.«

Sie geleitete ihn bis zur Tür und sah ihn davongehen, aufrecht, stolz
in dem Gefühl, der ersten einer in dieser alten Stadt zu sein und der
argen Zeit die Stirn bieten zu dürfen. Langsam ging sie auf ihr Zimmer.

Was hatte diese beiden Menschen zusammengehen heißen? Er, der die
Überlieferung eines alten Hauses trug, ob sie schon nichts mehr galt,
und sie, die Frau dieser Zeit mit dem heimlichen Rauschen und Klirren
der Seide und edler Metalle; er, gehalten und in Wort und Handlung das
Wesen des königlichen Kaufherrn ausprägend und doch dabei immer ein
wenig unsicher auf seine Frau schauend, ob seine Haltung ihr gefalle.
Was hatte diese verschiedenen Menschen verbunden?

Der Vater hatte diese Verbindung einst willkommen geheißen. Der Name
Poppelmann klang wie Gold. Und doch -- Güldenfey glaubte nicht, daß
Malte aus rein rechnerischer Erwägung um Frauke angehalten habe. Es war
etwas in dieser Frau mit den hochmütigen Augen, die grau wie Seewasser
im Wind waren, das ihn immer aufs neue anzog und fesselte. Vielleicht
dies, daß sie nicht wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm lag, sondern
sich verschloß und Rätsel aufgab.

Und Frauke? Sie hatte keine gute Meinung bei den Brüdern genossen.
Warum galten ihr die Treß nichts? Warum war ihr drittes Wort
Harvestehude? Nicht laut ausgesprochen. O nein, dazu war sie zu
vornehm; aber doch mit jeder Gebärde unterstrichen. Eigentlich machte
sie nur vor Güldenfeys natürlicher Sicherheit halt, und Güldenfey
wußte, daß sie anders war als das, was sie zu sein vorgab: weit mehr
Verstehen, weit mehr Güte.

War das ein Verhängnis der neuzeitlichen Frau, verkannt zu werden, weil
sie ihr Wesen verleugnete und ihre natürliche Tonart mit der Melodie
des Überlegenen vertauschte? Ach, dieses Scheinenwollen dessen, was gar
nicht war! Wieviel Falsches kam doch damit in die Welt! Gewiß, das war
die große Leere, die frostige Kühle, in der die Menschen einsam litten
und verdarben. Was nützte es Malte, wenn er diese Leere sah und sie
doch nicht überbrücken konnte!

Güldenfey hatte nicht gehört, daß an die Tür gepocht war. Sie wandte
sich um, als sie das Mädchen auf der Schwelle sprechen hörte. Das
Zimmer war ganz in das Dämmergrau des Abends getaucht, und nur durch
die Fenster drang die Schneehelle. Güldenfey wollte fragen, da sie das
Mädchen nicht verstanden hatte, da hörte sie die Stimme Thomasius'. Er
stand schon in der Tür, und sie erhob sich, um das Licht einzuschalten.

»O nein!« bat er. »Wollen Sie mir, wenn ich recht sehr bitte, das
Geschenk einer Dämmerstunde machen? Ich kann nicht sagen, wie lange ich
sie habe entbehren müssen, und heute ...«

Thomasius fand seinen Platz in dem Ohrenlehnstuhl, Güldenfey saß auf
dem hochlehnigen Sofa. Sie sahen einander kaum, nur die Umrisse ihrer
Gestalten hoben sich aus dem Dunkel. Aber ihre Stimmen, die gedämpft
klangen, trugen hin und her, was das unsichtbare Fluidum zwischen ihnen
vermittelte. Wie eigen das war!

»Sie fahren schlecht bei diesem Zwiegespräch im Dämmerlicht«, sagte
Güldenfey. »Hätten Sie mir erlaubt, Licht zu machen, so würde ich Ihnen
wahrscheinlich Äpfel und Nüsse angeboten haben.«

»Das ist bedauerlich«, erwiderte Thomasius heiter. »Ich bin gerade
gekommen, um Nüsse zu knacken, doch ist es so besser. Vielleicht
erlauben Sie trotzdem, daß ich mir einen Paradiesapfel mitnehme.«

»Wenn Sie die Dämmerstunden so lieben, warum verschaffen Sie sich
solche nicht in Ihrem Pfarrhause?« fragte Güldenfey. »Es ist so alt wie
der Treßhof und voll spukhafter Winkel.«

»O Fräulein Güldenfey,« sagte er und nannte sie damit das erstemal mit
ihrem Rufnamen, »es liegt das nicht am Gebäu, in dem man sich aufhält,
es ist eine innere Angelegenheit des Träumenden. Sie freilich sind
wohl von guten Geistern besonders gern heimgesucht. Wissen Sie, ich
fand Sie schon einmal so in dem vergessenen Garten, und heut wieder im
Dämmerlicht dieses Stübchens. Aber allein in dem großen Pfarrhause?
Nein, mich würde dort kein Traum besuchen. Ich muß Zwiesprache halten
dürfen mit guten, lieben Genossen. Früher ...«

Plötzlich war er in seiner Jugend und sprach von seinem Elternhause.
Der Vater war ein namhafter Gelehrter gewesen und früh verstorben, die
Mutter war mit sieben Kindern in Dürftigkeit zurückgeblieben. Die vier
Jungen besaßen einen Wintermantel und zwei Sonntagsanzüge. Sie mußten
sich abwechselnd je nach Bedürfnis darin teilen. Und die Mahlzeiten?
Oft genug nur Kartoffeln in Salz getunkt. Aber alle waren in diesem
kärglichen Leben rotwangig und frisch und vor allem heiter. Das lag an
der Mutter. Ja, welche Mutter war das, die sich für das Wohl der sieben
Raben verzehrte und aus einem schier unerschöpflichen Lebensquell immer
noch darzureichen fand! Seine Stimme war voll verhaltener Zärtlichkeit.

Wie glücklich muß er sein! dachte Güldenfey. Er hatte eine Mutter lieb.

»Glauben Sie mir,« fuhr er fort, »das Darben in unserer Zeit fällt
dem nicht schwer, der durch diese Schule schon so früh schritt. Und
wenn mich zuweilen die Verzagtheit packen will, dann denke ich nur an
die Dämmerstunden daheim. Die ließ sich die Mutter nie nehmen. Wir
saßen um den grünen Kachelofen, und sie sagte uns unvergeßliche Worte.
Keiner durfte sich schämen, denn das barmherzige Dunkel war da und
bedeckte unsere Gesichter, und der gütige Liebestrom der mütterlichen
Rede umfing alle. Nicht wahr, nun begreifen Sie, warum mir diese
Zwielichtstunden so wert sind?«

Ja, Güldenfey begriff es.

Thomasius sprach weiter, von seinen Plänen und seiner Arbeit und wie
ihn das Alleinsein hindere, sein Bestes zu geben. Mit wem konnte er
sprechen? Die Freunde waren weit. Und wer half ihm hier nicht nur mit
Rat, sondern mit der Tat! Es gab so vieles, dem er nicht näher kam,
weil nur weibliches Empfinden das durchdringen konnte, was männlicher
Tatkraft sich versagte.

Güldenfey fühlte es auf sich zuschreiten, bittend, werbend, mit
ausgestreckten Händen. Sie wußte, daß alle Worte ihr galten und hinter
ihnen die große Bitte des Lebens stand: Sei mein! Es erregte sie nicht,
sie blieb ganz ruhig, und nur die warme Freude an neuen blühenden
Feldern war stärker in ihr.

Er hat der Armut zu Füßen gesessen, dachte sie, er wird mich verstehen.

Thomasius blickte auf die Stelle im Raum, wo im Kranz des hellen Haares
das Gesicht schimmerte, dessen Züge er nicht erkannte. Aber er fühlte
es, wie man die in den Gewändern haftende Wärme spürt, daß sie sich
ihm zuneigte. Er war glücklich. Dieser Feinen nahte sich keiner damit,
daß er die roten Wellen ihres Blutes beschwor. Man mußte den silbernen
Nachen der Seele besteigen, der auf der warmen Flut ihres Lebens
schwamm, um bei ihr landen zu können.

Langsam glitten ihre Seelen zueinander, näher, näher; es war nur noch
eines Wortes schmaler Raum, der ihre Hände trennte.

Doch, noch eins! dachte er.

»In der Frühe der Sonntagmorgen haben junge Menschen die alten Lieder
gesungen; ist es wahr, daß Sie auch unter ihnen waren?« fragte er. Und
als sie fröhlich bejahte, fuhr er fort: »Ich wollte Sie doch warnen, zu
vertrauend zu sein. Es gibt da so viel Häßliches, das fern von Ihnen
bleiben muß.«

Sie sah überrascht aufhorchend in die Richtung, wo er saß.

»Man kann sich auch in der Liebe verschwenden«, setzte er ratsam hinzu.

»Wäre das nicht zu loben?« fragte sie.

»Vielleicht nicht, wenn diese Verschwendung dem Nächsten nähme, was
seines ist«, sagte er.

Seine Worte waren gut und zärtlich, doch Güldenfeys feines Ohr vernahm
den leisen eifersüchtigen Beiklang, der ihnen anhaftete. Hatte sie den
nicht schon einmal aus seinem Munde vernommen? »Meinen Sie wirklich,
daß einer dadurch entbehren müsse, weil dem andern reichlich gegeben
wird?« fragte sie heiter.

Thomasius erkannte nicht, daß Güldenfey stutzte. Er war von denen,
die die Stärke einer Liebe darum schätzen, weil sie hoffen, sie
ausschließlich, uneingeschränkt besitzen zu können. »Es gibt vieles,
was Sie unbedenklich tun können«, sagte er. »Doch da Sie nun einmal das
Fräulein Treß sind, ist auch vieles da, von dem Sie sich fernhalten
müssen, zum Beispiel dieses Ziehen von Haus zu Haus. Auch unser Name
kann uns verpflichten!«

Güldenfey schwieg, denn was er da sagte, verstand sie nicht. Sie würde
Malte ohne Scheu bekannt haben, was sie getan, und sich durch seinen
Einwurf nicht haben hemmen lassen. Was sollte ihr nun das Wort von
Thomasius bedeuten? Wollte er ihr sagen, was er von ihr erwarte? Liebe,
wie er sie maß?

Und während sie dem nachdachte, erschien es ihr, als kämen seine Worte
aus größerer, immer größerer Ferne. Sie sah ihn vor dem Altar stehen,
wie er das Buch gleich einer Waffe hob; sie sah sein freundliches
Schaffen, das ihn in die armseligen Stübchen der Armen trieb. Und
doch, und doch ...! Rücksicht auf den Namen, Beschränkung auf eine
unanstößige Art der Hilfeleistung? Nein, wer das tat, das war keiner
von den geistlich Armen, die das Himmelreich ihr nennen!

Der schmale Raum von eines Wortes Breite hatte sich erweitert. Ihre
Seelen glitten voneinander, weiter und weiter. Etwas Fremdes hatte sich
in diese Stunde einer Gnade gemischt und sie verdorben.

Auch Thomasius spürte es jetzt. Er sprach noch mit Menschen- und
Engelzungen und wußte doch, daß er der Liebe nicht mehr mächtig war.
Plötzlich verstummte er. Das Schweigen in dem Zimmer, das soeben noch
voll von gedämpfter Zärtlichkeit war, wirkte wie der Luftzug, der von
einem geöffneten Fenster in die Wärme bläst: erkältend. Eins blickte
dahin, wo das andre saß, und erkannte es nicht mehr.

»Wie völlig dunkel es doch geworden ist!« sagte Güldenfey. Sie rührte
den Knopf der Lampe an, der elektrische Strom kreiste, und das Zimmer
war voll Helle. Sie schauten einander an, geblendet von dem grellen
Licht, ein wenig verlegen lächelnd, und wußten, daß die soeben
zerronnene Stunde nie wiederkehren würde. Güldenfey trat an das Fenster
und zog die Vorhänge zu. Die Glocken, die zur Adventandacht riefen,
begannen zu tönen.

Thomasius straffte sich. Das Amt forderte ihn. »Haben Sie herzlichst
Dank für die Dämmerstunde, Fräulein Treß«, sagte er und bot ihr die
Hand. War er wirklich so bleich, oder erschien er ihr in der Helle so?

Sie wollte ihm etwas sagen, was in das Gewohnte eine Brücke schlug, und
fand das Wort nicht. Suchend ging ihr Blick durch das Zimmer und traf
die Schale, die mit rotwangigen Äpfeln gefüllt war. Sie reichte sie ihm
dar.

»Der Paradiesapfel«, sagte er. »Sie aßen ihn und mußten den Garten Eden
darum verlassen! Es trifft zwar nicht ganz zu, doch in etwas. Danke;
heute abend werde ich ihn allein verspeisen.« --

Die Tür schloß sich hinter ihm, Güldenfey war allein. Nein, nicht jetzt
allein sein! Marfa würde sie erwarten. Sie schickte sich an, das Zimmer
zu verlassen, als das Mädchen wieder eintrat und ihr eine Depesche
übergab. Es war die Nachricht, daß Jörg morgen eintreffen werde.

                   *       *       *       *       *

War die Luft erregt vom Rufen der Kinder, die Weihnachtsschäfchen
feilboten, vom Schnarren der Knarren und vom Summen der Waldteufel?
Nein, dies alles war es nicht, und war doch so viel Musik in ihr. So
erschien es jedenfalls Güldenfey, als sie zum Bahnhof ging, um Jörg
abzuholen. Malte hatte ihr den Wagen zur Verfügung gestellt, aber nein,
das wollte sie nicht. Sie allein mußte den Heimkehrenden ohne Prunk
empfangen.

Der Marienturm ragte wie der Arm eines Riesen in den grünen
Abendhimmel, der Tritt klang hell auf dem frostharten Boden der
Fußsteige in den Anlagen, die Luft war gesättigt von Freude und
Erwartung. Es war eine Lust, durch die stahlscharfe Kälte zu wandern.

Der Bahnhof war gefüllt von erregten Menschen. Kommende und
Fortstrebende drängten aneinander vorbei. Was sich sonst scheu
verborgen hielt, das zeigte sich in diesen Tagen: ein Lachen, ein
freudiger Zuruf, wenn Harrende den Erwarteten trafen. Güldenfey preßte
die Hand mit dem Pelzmuff gegen die Brust, als der Zug einfuhr. Wie ihr
Herz klopfte! Der Menschenstrom floß an ihr vorüber. Grüße hin und her;
etwas erkältete in ihr: Jörg war nicht gekommen!

Ein Beamter tröstete sie, es werde bald ein zweiter Zug eintreffen.
Wirklich? In dieser Zeit der Verkehrsnot? Güldenfey wartete. Der zweite
Zug kam, ein Arm winkte, eine Stimme rief hörbar durch das Brausen:
»Güldenfey!« Ihr zaghaftes Herz strömte in Jubel über.

Er sprang aus dem Wagen und hielt sie mit beiden Armen umfaßt, und sie
preßte sich an ihn. Verwunderte Blicke Vorüberhastender fragten: Habt
ihr Liebenden euch so lange nicht gesehen?

»Also wirklich, wirklich hier, Jörg?«

»Wahr- und leibhaftig.«

»O welche Freude! Nun erst ist Weihnacht.«

Arm in Arm schritten sie dem Ausgang zu. Da stand Telge, der das Gepäck
besorgen wollte, und verzog im vergnügten Lachen das bärtige Gesicht.

»Wolltest du fahren, Jörg?«

Er wehrte lächelnd ab, und nun schritten sie die Straße zwischen den
Teichen entlang, lachten, schwatzten und schwiegen. Es war so seltsam,
nach so langer Zeit wieder heimzukommen. Güldenfey sah einige Male,
Gewißheit suchend, ihn an. War er es denn wirklich? Er erschien ihr so
anders. Nein, gewachsen war er nicht mehr, aber soviel sicherer und
selbstgewisser geworden.

Plötzlich fragte er sie: »Verzeih, Güldenfey, bist du noch immer nicht
versprochen?«

»Nein«, sagte sie und fühlte jetzt, daß sie weniger befangen
geantwortet haben würde, wenn jene Dämmerstunde vor ein paar Tagen
anders geendet hätte.

»Die Männer hierzulande haben keinen Geschmack«, sagte er, und sein
Arm drückte den ihren. »Ah, unser alter Treßhof!« Er blieb vor der
Torfahrt stehen und hob seine Arme in grüßender Gebärde, und dann
stiegen sie hinauf. Ose stand oben auf der Treppe. Und wer war das?
Wahrhaftig, Engelke war aus dem Heiligen Geist herübergekommen, um die
Kartoffelkuchen auf ihre Art zu backen. Und auch Marfa war da, und
ihr verschlossenes Gesicht war hell, denn morgen würde sie ja Harro
abholen! --

Am Morgen des nächsten Tages führte Malte den Bruder durch die neuen
Räume des Hauses am Markt. Er tat es mit einer Beflissenheit, daß
Güldenfey staunte. Aber Malte hatte nicht nur den Verdruß vergessen,
den ihm des Bruders Berufswahl bereitet, er empfand Respekt vor der
sicheren Art, die Jörg zeigte.

»Nun, wie gefällt es dir hier?« fragte Malte zuletzt und deutete auf
die Räume, in denen es wie in einem Bienenstock zur Lindenblüte summte.

Jörg lobte mit einigen Worten, die aber nicht bedingunglos klangen.

»Du machst einen Vorbehalt, Jörg!«

Jörg zögerte. »Wenn du es wissen willst, Malte, ich glaube, du bist
kein -- wie soll ich es nennen? -- kein Wirklichkeitgewahrer.«

Maltes Lippe kräuselte sich. »Ich? Du meinst, ich verstehe nicht, was
um uns vorgeht?«

»Das Gegenteil«, erwiderte Jörg. »Du siehst nur das, was um dich ist,
darum weißt du nichts von dem, was in dir ist. Ein Wirklichkeitgewahrer
setzt seine innere Neigung mit der Außenwelt in das geziemende
Gleichgewicht. Sage, fühlst du dich wahrhaft glücklich hierbei?«

Malte zuckte die Schultern. »Du verlangst zuviel. Glücklich, wer ist
das? Ihr alle werdet mir hoffentlich Dank zollen, daß ich in dieser
schwankenden Zeit euer Vermögen und unsers Namens Bestand gerettet
habe.«

Malte dachte über das Wort nach, während Jörg droben bei Frauke war.
Ein seltsamer Mensch, dieser jüngste Treß! Doch vermochte er darum
nicht wie einst gering von ihm zu denken. --

Die Festtage waren voll Glanz und Freude, wie sie das Treßhaus
lange nicht gesehen. Nicht nur, weil Lichter brannten und der Tisch
wohlversorgt war. Mit Jörg war eine andere Luftschicht eingezogen. Er
beherrschte das Gespräch und schuf Stimmung, und alle ordneten sich ihm
willig unter. Harro war weniger laut und Frauke weniger schweigsam.
Überhaupt Frauke! Wer hatte diese kühle Frau so angeregt und warm über
die Kunst reden gehört? Wer hätte von ihr erwartet, daß sie so lange
zuhören konnte? Immer aufs neue regte sie Jörg an, von seinen Lehr-
und Wanderjahren zu erzählen, und er, der sich gegen Frauke bisher
ablehnend gezeigt, willfahrte ihr gern; nur in einem nicht: er war
nicht zu bewegen, vor ihnen allen zu spielen.

Auch Marfa, die gewöhnlich nur für Harro da war, gab sich jetzt ganz
dem Zauber hin, den Jörgs Wesen ausübte, und ließ wieder seit langem
ihr schüchternes Lachen hören. Es war eitel Freude im Treßhof.

Nur einmal ... Während sie alle beisammensaßen, erschien Ose im Zimmer.
Sie zeigte ein verstörtes Gesicht, doch das bemerkte außer Jörg keiner,
da sie sich, nachdem sie den Kreis der Versammelten überblickt, schnell
etwas zu schaffen machte und das Zimmer gleich wieder verließ. Als
Jörg darauf unter einem Vorwand sich erhob und ihr folgte, fand er sie
verstört auf dem oberen Flur.

»Ist etwas geschehen, Ose?«

Sie blickte ihn einen Augenblick zögernd an, dann sagte sie: »Hörst du,
Jörg? Sie knarrt wieder.«

Die Diele unter ihrem Fuß gab einen seltsam klagenden Laut von sich.

»Und was bedeutet das, Ose?«

Sie wollte nicht sprechen, und er mußte seine Frage wiederholen.

»Kind, laß dir vor ihnen nichts merken, aber denk' an mich! Es ist
wieder einer zuviel hier im Hause.«

»Narretei!« sagte er und kehrte zu den andern zurück. Doch es war
gut, daß die Geschwister so eifrig sprachen und seine Bestürzung
nicht merkten. Scheu sah er auf sie. Wer sollte der Gehende sein?
Einer der Brüder? Plötzlich fiel sein Blick auf Marfa, die seltsam
verloren vor sich hinschaute. Er setzte sich an ihre Seite, und während
er freundlich wie ein Bruder mit ihr sprach, vergaß er Ose und ihr
Sibyllenwort.

Das Schönste für Güldenfey kam, als alle gegangen waren. Da saß sie mit
Jörg in dem oberen Saal. Die niedergebrannten Kerzen des Christbaums
verbreiteten ihren Duft, und knisternd rührte sich im Wipfel der Tanne
das Rauschgold. Die Lampe im Winkelplatz schuf ein sanftes Licht, einen
kleinen Kreis, dahinter lag unbegrenzt das Halbdunkel, aus dem von
einem Tisch her ein silbernes Gerät aufblitzte.

»Nun will ich spielen«, sagte Jörg.

»O Jörg, für mich?«

»Ja, Güldenfey, für dich allein.« Er trat vor sie hin und legte seine
Hände zärtlich um ihren Kopf. »Für dich ganz allein«, wiederholte er.
»Wirst du mich verstehen? Wenn du es nicht kannst, kann es niemand.«

»Ich bin so einfältig«, sagte sie zu ihm aufblickend.

Er beugte sich nieder und küßte andächtig ihre Stirn. »Du weißt
nicht, ein wie hohes Lob du dir damit erteilst, du Einfältige unter
Zwiefältigen«, sagte er. »Es hat einst der Schuster Jakob Böhme, der
doch ein großer Mann war, das Wesen des Göttlichen gefunden, als er
die Sonnenspiegelung in einem Zinngefäß beobachtete. So hab' ich es
entdeckt, als ich es in deiner liebevollen Art sich spiegeln sah.«

Güldenfey traten plötzlich die Tränen in die Augen. Wie kam es, daß sie
jetzt an die Frau denken mußte, die sie noch immer suchte und nicht
fand. Sie erzählte Jörg, was sie wußte und wollte.

Als sie geendet hatte, trat er still an den Flügel und spielte. O ja,
Güldenfey verstand ihn. Es war eitel Trost, was die Töne ihr sagten.
Sie wußte, daß sie finden würde.

Die Töne verklangen leise wie ferne Glocken. Dann erhob er sich und
empfing ihre beiden Hände, die sie ihm entgegenstreckte. »Weißt du es
nun, Güldenfey?« fragte er.

»Ja, ich weiß.«

»Ich glaube, wir Treß tragen schwer an alter Schuld ...«

»Ja, Jörg.«

»Aber mir ist nicht bange, solange ich weiß, daß das Gallion am Schiff
des Fliegenden Holländers unsere Güldenfey ist. Und nun will ich dir
noch eins verraten: Im Frühjahr gebe ich hier in unsrer Stadt mein
erstes Konzert, und was ich dann spielen werde, das hast du soeben
gehört.«




                           Das letzte Warten


Schlaf, du Arzt aller Belasteten, wo bleibst du?

Malte Treß konnte nicht mehr schlafen. Er lag auf seinem Lager; bis
ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen, las er, aber er fürchtete sich,
die Hand nach der Lampe auszustrecken und das Licht zu löschen. Sobald
das Dunkel ihn umgab, stürzten sich die Gedanken feindlich auf ihn und
nagten mit scharfen Zähnen: Kurse, Wechseltermine, Verbindlichkeiten,
der Ring -- Usadel.

Seine Seele wurde im Dunkel zu einem weiten Hohlraum, in dem alle
Geräusche des Tages schrecklich widerhallten, vor dessen gläsernen
Wänden fratzenhafte Gesichter drohend auf und nieder tanzten. Es half
nicht, sie zu beschwören: Was wollt ihr? Alles ist geregelt, und was
noch nicht im Gleichmaß ist, wird es morgen sein. Sie kamen und quälten
und mürbten.

Also wieder Licht machen, wieder die Gedanken in die Fährte eines
spannenden Buches hetzen, wieder der dumpfen Erschöpfung verfallen! Und
wieder begann im Finstern das boshafte Spiel. Es mußte die horizontale
Lage schuld sein; das Blut bedrängte das Gehirn. Er erhob sich,
kleidete sich an und ging in sein Arbeitzimmer hinab.

Wie ein in langer Verfolgung Gehetzter sank er in seinen Stuhl. Doch
die auf dem Tisch gehäuften Schriftstücke widerten ihn an. Ja, Arbeit
in froher morgendlicher Frische! Doch dieses Schleppen von Seite zu
Seite, dieses verdrossene Blätterwenden schaffte nichts. Der Schlag der
Uhr ging durch das Gemach, der Arm mit der Hippe sank herab. =Carpe
diem.= Ach, der nur konnte den Tag wahrnehmen, dem die Nacht den
sänftigenden Mohntrank gereicht hatte.

Was war das? Schritte in der Nacht. Nicht Schritte derer, die nach
Hause eilen, oder tappende Schritte später Zecher; es waren zögernde
Schritte, hin und her, hin und her, Schritte eines Wartenden. Der
Wächter? Nein, der ging durch Hof und Flur. Malte wußte, welche
Schritte das waren.

Er zog den Mantel an und trat hinaus: es war niemand zu sehen. Malte
ging auf den Markt, ging durch die Straßen, war auf der Flucht vor sich
selbst.

Eine kleine Wolke hatte eine feine Schneeschicht auf die Dächer und das
Pflaster ausgebreitet, zwischen weißen Wölkchen und Sternensplittern
stand der volle Mond. Wie schlafende Ungetüme lagen die zackigen
Schatten der Giebel auf dem weißen Straßendamm, und das Dunkel
barg sich in die Pfeilernischen der Mauern. Über dem stumpfen Turm
St. Jürgens spannte sich wie ein funkelnder Kronenzirkel der gelbe
Lichtrand, der die Mondschale umgab, und ein bläuliches Licht spielte
um die Särge im Schaufenster des Tischlers.

In der friedlichen Helle der Straßen wurde Malte ruhiger. Das Leben
selbst war nicht so arg wie sein Spuk. Aber er mußte auch wieder durch
dunkle Nächte wandern, Nächte, in denen die Wolkensäume über die
Häuserfirste schleppten, in denen das einsame Licht auf dem Molenkopf
des Hafens fast von der Finsternis verschluckt wurde und die Stimmen
des Dunkels schaurig vom Meer herüberdrangen.

Kam Malte nach diesen nächtlichen Gängen heim, fühlte er seine Glieder,
als seien sie zerbrochen. Er zerrte seine Kleider vom Leib und warf
sich nieder. Doch der herbeigezwungene Schlaf lähmte ihn mehr, als daß
er erfrischt hätte, und bleicher noch als gewöhnlich, mit schmerzhaft
brennenden Augen erschien er am nächsten Morgen in der Schreibstube.

                   *       *       *       *       *

Auch im Treßhof lag eine, die der Schlaf floh. Harro war verstimmt
abgereist und hatte sie in Unfrieden zurückgelassen. Zerpflückter als
je war er zum Weihnachtfest gekommen, und Marfas Zärtlichkeit hatte
nichts von Wärme in ihm geweckt. Warum mußte sie, da sie ihn in diesem
Zustand sah, auch mit ihrem Wünschen nahen!

»Harro, eine Bitte; die erste! Nimm mich mit dir, laß mich bei dir
sein. Ich ertrag' das Leben hier nicht mehr. Dieses alte furchtbare
Haus, und immer fern von dir. Ich lebe ja nur scheinbar von einer
Rückkehr zur andern. Eigentlich bin ich abwesend, und nur, wenn du
kommst, erwache ich.«

»Sind sie unfreundlich zu dir?«

»Alle sind sehr, sehr gut. Aber ist das Ersatz?«

»Du lebst hier angenehm. In der Hauptstadt müßtest du sehr
vorliebnehmen.«

»Was bedeutet das mir?«

»Ich bin oft auf Reisen.«

»Ich werde dich begleiten.«

Marfa hatte ihn daran erinnert, wie wenig sie verlange. Seine schon
lange pochende Ungeduld hatte die Fesseln abgeworfen, er war heftig
geworden. Was half es, daß sie sich ergab und demütig um Verzeihung
bat! Es blieb ein bitterer Rest: Unwille über unmögliche Ansprüche bei
dem einen; Trauer darüber, daß sie nicht verstanden werde, bei Marfa.

Nun lag sie Nacht um Nacht wach und sann und sann. Sollte sie ihn auch
verlieren, den Einzigen, den sie noch auf der weiten Welt besaß? Oder
hatte sie ihn schon eingebüßt? Der Bruch ihres Lebens, der sich nie
ganz geschlossen, klaffte in ihr auf, ihre Seele blutete.

Ihre ganze Vergangenheit wurde in harter Deutlichkeit lebendig, vor
allem das Entsetzliche, das sie wie eine offene Wunde mit sich trug.
Dagegen half kein Vergessen.

Und dieses Haus mit seinen schreckhaften Geräuschen störte alles in ihr
wieder auf: das von den Speichern rieselnde Tauwasser, die Klagelaute
des Katers Murr, das Ächzen und Pfeifen der Winde, der ganze von Alter
und Spuk gesättigte Dunstkreis dieses Gemäuers mit seinen düsteren
Böden und Gängen und Winkeln. --

Einmal erwachte Güldenfey und erhob sich, um aus dem Fenster zu
schauen. Es war eine jener Januarnächte, von denen man glaubt, daß sie
nie enden, weil ihr Dunkel zu schwer auf der Erde zu lasten scheint,
als daß es die ferne Sonne verdrängen könnte. In die Finsternis grub
sich eine Lichtbahn, die von Marfas Fenster ausging.

Güldenfey blickte auf die Uhr; es war die vierte Stunde nach
Mitternacht. Ob Marfa etwas zugestoßen sein konnte? Sie warf ihr
Morgenkleid über und pochte an Marfas Tür.

Diese lag mit völlig wachen Augen da, hatte die Hände ergeben gefaltet
und versuchte zu lächeln. Güldenfey erklärte ihr Kommen und fragte nach
Marfas Befinden.

»Nein, ich habe noch nicht geschlafen.«

»Aber es ist bald Morgenzeit.«

»O, wenn ich nur vor dem Morgen noch eine Stunde Ruhe finde, bin ich
zufrieden.«

»Aber liebes Herz!« Güldenfey kniete an Marfas Lager nieder, strich
über die fiebrig heißen Wangen und liebkoste das dunkelbraune Haar, das
in zwei schweren Flechten auf den Kissen lag.

»Ich wollte so gern schlafen und kann nicht.« Marfas Gesicht verzog
sich wie das eines weinenden Kindes.

Güldenfeys Hände gingen beruhigend über die Stirn der Klagenden. Wie
war das schrecklich! Man lag ruhig und unbekümmert Nacht für Nacht, und
hinter der Wand war jemand das Opfer quälender Gedanken. Wie da alles
Unwirkliche wirklich werden und jeder Gedanke sich drohend in bleichem
Nachtlicht gestalten mußte! Güldenfeys Ahnungsvermögen ergründete
bereits die ganze Tiefe dieser Not. »Was ist denn, Liebste?« fragte
sie. »Harro ...«

»Nein, nein, nicht Harro«, wehrte Marfa ab.

»Also was? Sag' es mir, mein liebes Herz! Wenn du es aussprichst, bist
du erleichtert.«

Mit zärtlichen, geduldigen Worten entrang Güldenfey es Marfa: es war
die erwachte Vergangenheit, die sie ängstete. Sie hatte nie davon
zu ihr gesprochen, sie fürchtete, damit die schrecklichen Gesichte
heraufzubeschwören. Nun aber waren sie doch ohnedies gekommen, und
Marfa fühlte, daß vielleicht das Sprechen sie erlösen könne.

Dieser Kasernensaal im obersten Stockwerk, durch dessen Fenster die
Sonne während der Mittagsstunden bis in den fernsten Winkel stach!
Diese rohen, betrunkenen Weiber, die den gefangenen Frauen als
Hüterinnen gesetzt waren, und dieser Mann im Mantel, der nächtlich an
das Tor pochte. Und Gänge ohne Ende, und Mauern ohne Tor.

»Das ist ja nun alles überwunden«, sagte Güldenfey zart. »Du bist bei
uns, und nichts darf dich anrühren.«

Sie tröstete, wie eine Mutter ihr Kind tröstet; sie wußte: Hier helfen
nicht verständige Reden, sondern nur Erweise völligen Hingegebenseins.
Die Kälte stieg in ihr hoch, sie schlug eine Decke um ihre Schulter und
blieb vor dem Lager in ihrer knienden Lage. Und Marfa wurde still.

»So,« sagte Güldenfey, »jetzt versuchen wir es noch einmal, ob der
Schlaf nicht kommen will. Hier -- warum hab' ich nur nicht eher daran
gedacht! -- ist der Amethyst mit unsrer Mutter Segen, den trägst du auf
der Brust, wie schon einmal. Jeden Abend will ich zu dir kommen und ihn
dir umhängen.« Sie löste das Kettlein von ihrem Hals und streifte es
Marfa über, dann löschte sie das Licht und suchte ihr Lager auf. Aus
dem Landhause von jenseits des Teiches ertönte der erste Hahnruf.

Haftete der mütterliche Segen so sichtbar an dem blauen Kristall, den
Marfa jetzt während der Nacht und Güldenfey am Tage trug, daß er auch
der Zugewanderten half? Marfa fand von nun an die entbehrte Ruhe wieder.

Nachdenklich betrachtete Güldenfey den Stein, den sie doch schon so oft
beschaut. Wie weißes Moosgeflecht, das mit goldigem Gekörn bestreut
war, wuchs der Bergkristall, der die veilchenfarbenen zehn Blüten trug.
Wo war der geheime Sitz der Kraft, die sich dem Träger mitteilte?

An einem Abend, da Güldenfey ihn wieder auf Marfas Zimmer trug,
weigerte diese sich, ihn zu nehmen. Sie sah heiter und glücklich aus.
»Laß ihn jetzt wieder an deinem Herzen ruhen«, sagte sie. »Wenn ich
seiner bedarf, bitte ich um ihn.«

»Aber wenn es nun heute wiederkommt?« sagte Güldenfey.

Marfa zog sie an sich und sagte geheimnisvoll: »Vor den Schrecken hat
er mich nicht bewahrt, aber ich habe, seit ich ihn trug, eine seltene
Kraft in mir wachsen gespürt.« Sie zog Güldenfey an sich und sprach
dicht an ihrem Ohr: »Weißt du, was allem Bösen von außen in mir keinen
Widerstand bot, das war das Bewußtsein meines unfruchtbaren Lebens:
viel gelernt haben und es nicht verwerten können; viel erduldet haben
und nicht trösten dürfen; Mutter geworden sein und kein Kind besitzen;
einen Mann mein nennen und immer fern von ihm sein -- ist das nicht ein
Dasein ohne Frucht und Ernte? Ach, wie bitter haben mich immer meine
gebundenen Hände geschmerzt! Und durfte sie doch nicht regen.«

»Ach, Marfa, wir können nicht alle so regsam sein wie Malte und Harro,
und vielleicht ist das nicht einmal gut«, sagte Güldenfey.

»Nein, das ist gewiß nicht gut; aber unfruchtbar sein ist etwas andres,
Güldenfey! Denke nur, hingehen müssen mit der Gewißheit: Du hast nichts
vollbracht! Ich habe nicht allein an mich gedacht, auch an die vielen
Helden, die im Kriege gefallen, an die vielen frühverstorbenen Kinder.
Warum? Warum?«

»Ach du armes gequältes Herz!« rief Güldenfey.

»Ja, aber nun bin ich so fröhlich und dankbar, daß ich die Antwort
erhalten habe. Du kennst doch das Lied, das Harro nicht leiden mochte:

      Wenn ich sterbe, werden keine
      Klageglocken um mich gehn ...

Das sing' ich nun nie mehr!«

Güldenfey sah Marfa überrascht an. Welcher jubelnde Ton trug plötzlich
ihre Stimme! »Und das gab dir der Stein, unser Stein?« fragte sie.

»Seit ich ihn trug, bin ich ruhig geworden, und in der Ruhe ging mir
auf, was mir Trost gab. War es ein Traum, war es ein Gesicht? Ich
weiß es nicht. Aber ich stand drüben am Teich und sah auf das dunkle
Gewölk, das den Himmel bedeckte und ahnungschwer über der Erde lag. Mit
einem Male tat es sich auf wie ein großes Tor, und ein langer Zug von
Erntewagen, die hoch mit Garben beladen waren, fuhr heraus. Jeden der
Wagen lenkte ein Soldat, der eine Wunde trug, und kleine Wägelchen voll
Frucht kamen, die wurden von kleinen blassen Kindern geführt. Der Zug
wuchs und dehnte sich unabsehbar, und der Wagen waren so viele, daß es
nicht zu sagen ist.«

»Und dann?« fragte Güldenfey.

»Sie fuhren alle bis zu einem Platz; dort begannen sie ihre Garben
abzuwerfen. Eins half dem andern, und sie schichteten einen
Ernteschober so hoch, daß ich noch jetzt nicht weiß, wie es möglich
war, daß meine Augen eine solche Höhe absehen konnten. Und dann, ja,
dann begannen die Körner zu rinnen, ohne daß eine Hand den Dreschflegel
rührte, und sie rannen wie ein weizengelber Strom. Und allmählich ward
der Fluß weiß, und ich erkannte, daß das Korn sich in Mehl gewandelt
hatte. Ganz am Ende aber regten sich Hände, die formten daraus Brot,
wundervolles edles Brot, Güldenfey, wie wir es heute nicht mehr
genießen. Und andre Arme waren da, die reichten das Brot der Erde. Dort
aber strömten die Darbenden zuhauf und empfingen die kostbare Labe und
aßen und wurden satt und froh.«

Es war ganz still in dem Zimmer, als Marfa schwieg. Die Hände der
beiden Frauen lagen ineinander. Nach einer Weile näherte Marfa ihr
Gesicht Güldenfeys Ohr. »Mein kleines Kind hab' ich auch gesehen«,
flüsterte sie. »Ich wußte, daß es meins war. Es konnte seine schweren
Garben nicht abwerfen, da half ihm ein Soldat, der eine Herzwunde
trug.« --

Von diesem Tage an war Marfa heiter. Sie ging mit Güldenfey in die
Stadt und hatte Teilnahme für alles, was ihr begegnete. Frauke zeigte
erstaunte Augen, als Marfa sie in dem Hause am Markt besuchte.

                   *       *       *       *       *

Es war Tauwetter eingetreten. Ose stand am Fenster und sah besorgt auf
die Teiche, wo, unbekümmert um die Risse im Eise, die Jugend fortfuhr,
auf Schlittschuhen zu laufen.

»Sie treiben es wieder so lange, bis sich der Teufel sein Opfer geholt
hat«, sagte sie.

»Nicht doch, Ose!« bat Marfa.

»Ich treibe keinen Spott mit so ernsten Dingen, Frau Doktor«, sagte die
Alte und wandte sich um. »Sie kennen das nicht, aber das ist gewiß,
er muß jedes Jahr sein Opfer haben.« Als sie Marfas ungläubige Miene
erblickte, begann sie zu erzählen. »Vor vielen hundert Jahren hat
der Böse in St. Niklas rumort. Da haben ihn die Priester mit ihren
Weihwedeln in den Teich gebannt. Aber bevor er untertauchte, hat er
gedroht, sich jährlich einen Menschen herabzuziehen, und das hat er
treulich gehalten. Jetzt haben wir schon Mariä Lichtmeß, das ist die
schlimmste Zeit.«

Güldenfey holte Marfa ab, die über einem Brief an ihre Tante Honterus
saß.

»Ich werde ihn später beenden«, sagte sie und erhob sich.

Der Rauhreif hatte Büsche und Bäume geziert, fern über Heilisoe ballte
sich Gewölk, das Schnee verhieß.

»Ich begleite dich heute auf deiner Suche«, sagte Marfa. »Wir müssen
uns wieder einmal nach Frau Jobst umtun.«

»Ach, Marfa, das ist nichts, was dir Freude macht«, entgegnete
Güldenfey. »Diese Gassen in der Sachsenstadt! Und wir finden sie doch
nicht. Du glaubst nicht, wie verzagt ich bin.«

Aber Marfa sprach ihr so freundlich zu, daß Güldenfey wieder Mut faßte,
und sie suchten Häuser auf, in denen Güldenfey noch nicht gewesen war.

Es war vergeblich. Überall die gleiche nichtssagende Auskunft, das
gleiche stumme Verneinen.

»Sie wohnt wohl gar nicht mehr in der Stadt«, klagte Güldenfey. »Aber
auf den Ämtern wissen sie auch nichts.«

»Nun, du wirst sie finden«, tröstete Marfa. »Laß uns jetzt noch zu
Engelke gehen.«

Auf dem Heimweg erzählte Marfa, was Ose ihr von dem Opfer, das der
Teich jährlich fordere, mitgeteilt hatte.

Güldenfey, die jetzt, da sie Marfa froh sah, so gern lachte, wurde
ernst. »Die Gefahr, die den Leichtfertigen von den Teichen droht, muß
schon lange bestehen, sonst wäre jene Sage nicht entstanden«, sagte
sie. »Wirklich verunglücken hier jährlich Menschen.«

Sie schritten durch die Anlagen, die den Stadtteich umgaben. Ein
Sicherheitwachmann ging, die Hände auf den Rücken gelegt, in gemessenem
Schritt vor ihnen her. Als sie den Mann erreichten, blieb dieser
plötzlich stehen und spähte scharf auf den Teich hinaus. »Also da haben
wir das Unglück«, sagte er laut.

»Welches Unglück?« fragte Güldenfey, gleichfalls stehenbleibend.

»Ein Junge ist eingebrochen«, sagte er ärgerlich. »Da sind nun ein
Dutzend Warnungtafeln ausgehängt, und trotzdem müssen sie auf das
brüchige Eis gehen. Schadet ihnen gar nicht.«

Auf dem Eise liefen die Leute zusammen und umstanden die Stelle, von
der aus jetzt klägliche Hilferufe ertönten; keiner aber wagte sich dem
Spalt zu nähern, in den der Verunglückte geglitten war. Man sah ihn,
wie er sich an den Rand des Eises klammerte.

»Helfen Sie doch«, bat Güldenfey dringlich.

Der Mann blickte sie strafend an und schüttelte den Kopf. »Das ist
nicht meine Aufgabe«, sagte er. »Überdies, helfen kann da keiner.«

War denn unter dem Beamtenrock keine menschliche Regung mehr?
Güldenfeys Gesicht rötete der Zorn. »Es ist ein Mensch in Not, und Sie
können fragen, ob es Ihres Amtes ist, ihm zu helfen? Schämen Sie sich!«

Der Mann sah an sich nieder. Es war nicht Scham; er erwog wohl, ob er
seine Uniform der Möglichkeit, naß zu werden, aussetzen könne. Aber er
verharrte in seiner Untätigkeit.

Als Güldenfey sich von ihm abwandte, sah sie Marfa nicht mehr an ihrer
Seite; sie war die Uferböschung hinabgestiegen und lief jetzt über das
Eis der Unfallstelle zu. Güldenfey folgte ihr, sie rief ihren Namen,
doch Marfa hörte nicht. Immer eiliger strebte sie fort. Himmel, sie
würde doch nicht ...!

Da Güldenfey in den Kreis der Gaffer trat, sah sie Marfas Hut und
Mantel auf dem Eise liegen, sie selbst schob sich kriechend dem Knaben
zu, dessen erstarrte Hände den Kopf mühsam über Wasser hielten.

»Halt aus, ich komme!«

Die umherstehenden Menschen rührten sich nicht. Aber plötzlich schrien
sie auf und wichen erschreckt zurück. Das Eis war geborsten und die
Retterin in das Wasser gestürzt. Der Knabe war verschwunden.

Jetzt vollzog sich alles blitzgleich. Marfa tauchte wieder auf, sie
hatte den Knaben im Arm, sie stieß sich auf das Eis zu. Aber sie hatte
sich und das Kind zu halten. Wie lange sollte das währen? In Güldenfeys
Herz preßte sich alles Blut zusammen.

»Marfa!« rief sie. »O Marfa!«

Sollte dies das Ende sein? Noch nicht. Es vollzog sich jetzt für
Güldenfey alles wie hinter Schleiern. Ein Brett, ein beherzter Mann,
ein Arm streckte sich. Das Eis hielt, gottlob, es hielt. Der Knabe
erschien. Wie lange es währte! Jetzt wurde auch Marfa heraufgezogen.

Man legte sie dahin, wo das Eis fest war, und deckte den Mantel über
sie. Zwei Augenblicke lag sie wie bewußtlos, nur schwer keuchend, dann
sprang sie auf und schüttelte das Wasser von sich. »Der Knabe!« sagte
sie. Sie ergriff ihn, hob ihn in ihren Arm, und in triefendem Haar und
schleppendem Kleid trug sie ihn an das Ufer. Güldenfey ging an ihrer
Seite. Nach Hause, dachte sie, nur schnell nach Hause! Doch Marfa
schien die Kälte der durchnäßten Kleider nicht zu spüren.

Am Ufer stand der Wachmann, sein Schreibbuch in der Hand haltend. In
seiner Dienstanweisung war wohl gefordert, daß er den Vorfall mit den
Namen der Beteiligten zu verzeichnen habe. Der Zuschauer wollte sich
plötzlich im Mittelpunkt wichtig fühlen.

»Gehen Sie!« sagte Güldenfey. War es das Wort, war es ihr Blick -- der
Mann trat bestürzt zurück und steckte sein Buch ungenützt ein.

Endlich, endlich lag Marfa in den Kissen. Ose lief mit Wärmbecken und
Teetassen ab und zu, und Güldenfey rieb und bürstete unaufhörlich
das feuchte Haar. Draußen läutete es: Blumen wurden hereingebracht,
Grüße gesagt. Im Vorzimmer stand Malte und wartete auf den Bescheid,
ob er Harro benachrichtigen solle. Nein? Güldenfey würde ihm gleich
schreiben? Gut; es war ja alles glücklich abgelaufen. Weshalb Harro
beunruhigen?

»Sieh, Liebste«, sagte Güldenfey und wies ihr einen prunkenden Strauß.
»Von Olrogges.«

Marfas Hand glitt zärtlich über die Blumen. »Komm nahe«, bat sie, und
da sich Güldenfey zu ihr neigte: »Was meinst du, werde ich jetzt wohl
auch einen Erntewagen fahren dürfen?«

»Einen großen und sehr vollen,« erwiderte Güldenfey; »doch dein Korn
ist ja noch lange nicht reif.«

»Glaubst du nicht?« fragte Marfa. Und nun ging ihre fast übermütige
Heiterkeit, die sie seit ihrer Tat gezeigt, in ein sinnendes Schweigen
ein. --

Sie wunderten sich, daß Marfa am nächsten Tage nicht aufstehen mochte.
Es hatte begonnen zu schneien; sie lag, ohne zu sprechen, und sah in
die langsam niedersinkenden Flocken. Am Abend brannte ihr Leib im
Fieber. Der Arzt kam und ging. Der folgende Tag brachte die Gewißheit,
daß die entzündete Brust nicht mehr genug Lebenskraft hergeben konnte.

Frauke kam und stand mit weiten Augen auf der Schwelle. So sah es also
aus, das Sterben! Als Marfa ihr winkte, kam sie zögernd näher und
setzte sich neben dem Krankenlager nieder.

»Ihr waret alle so freundlich zu mir«, sagte Marfa leise. »Jeder
wollte mir helfen, jeder mir Gutes tun. Wieviel Unleidliches habt ihr
liebevoll übersehen! Ich danke euch.«

Frauke nickte und wußte nichts zu entgegnen. Wann wäre sie wohl so
freundlich gewesen, daß es eines Dankes wert war! Sie hatte Marfa
eine beobachtende Teilnahme geschenkt; sie wollte erkennen, wie sich
die Fremde, die wie sie aus ganz andrer Lebenszone in diese Familie
gekommen, mit ihrem Los abfinden werde. Das Ergebnis war für Frauke
tröstlich gewesen: auch Marfa war vereinsamt geblieben. Das freilich
hatte Frauke in ihrer Gleichstellung vergessen, daß die andre eine
Wunde trug, von der sie, die vom Glück Verwöhnte, nichts wußte, und daß
jene nach anderm verlangte als sie.

Frauke sprach einige Worte, wie man sie zu Kranken spricht: es werde
bald besser werden. Marfa lächelte geheimnisvoll.

Als Frauke gegangen war, setzte sich Güldenfey wieder zu der Kranken.
Langsam, leise fiel der Schnee.

»Wir haben Harro gerufen, liebstes Herz, er wird bald hier sein.«

Marfa lächelte wieder. Wie kam ihr nur dieses seltsame Lächeln? Warum
fragte sie nicht einmal nach dem Mann, ohne den sie bisher nicht einen
Tag leben zu können vermeinte? »Ich warte jetzt mein letztes Warten«,
flüsterte sie. »Aber ... Pastor Thomasius ...«

Telge trat bekümmert zu Frau Mellin ein und berichtete, nun sei es
ganz gewiß, daß Frau Doktor sterbe; man habe schon nach dem Pastor
geschickt. Dann ging er in seine Stube und sah trübselig in die
Lampe. Wie lange war es her, daß sie noch so herzlich gelacht, als
er auf Heilisoe gesprungen hatte: Juchhe Panitzenschauh, juchhe
Panitzenschauh! Ach, was war doch das Leben!

Droben im Krankenzimmer war der Tisch für das letzte Mahl gedeckt.
Die Kerzen brannten, und die Ahnung von der Gegenwart des Größten
heiligte den Raum. Thomasius, der das nahe Ende voraussah, blieb bei
der Wartenden. Am Bett kniend, sprach er von Zeit zu Zeit ein Wort des
Unvergänglichen.

Marfa lag ergeben und heiter da. Sie war zu gehen bereit. Die alten
Worte kamen wie Kindergespielen, die ihre Hände faßten. Wie war das
Land ihrer Jugend ihr so nahe gerückt: die runde Kirche mit dem
nüchternen Gestühl, in der sie eingesegnet war; der Weg mit den
Kopfweiden zur Frühlingszeit. Dufteten da nicht Veilchen?

Ein Geistchen, eine der grasgrünen Florfliegen, wie sie in den Zimmern
überwintern, flog herbei und ließ sich auf ihre Hand nieder. »Ei, wie
lieb!« Und wie treu diese Guten sie alle umgaben! Güldenfey, Ose,
Thomasius. Er betete:

      »Wann endlich ich soll treten ein
      In deines Reiches Freuden ...«

Als er innehielt, winkte Marfa Güldenfey zu sich. »Liebste, deinen
Stein, bitte.«

Und Güldenfey nahm den Amethyst von ihrem Halse und legte ihn auf
Marfas Brust.

                   *       *       *       *       *

Harro trifft nach einer Nacht, die er im Zuge zugebracht, in Berlin ein
und betritt müde seine freudlose Wohnung. Ein ansehnliches Häuflein
Postsendungen erwartet ihn. Die Durchsicht muß warten, bis er
ausgeruht ist. Aber die Depeschen. Er öffnet eine, liest, erschrickt,
öffnet die andern und zuckt zusammen.

In diesem Augenblick schellt es. Er geht selbst und erfährt jetzt, daß
es höchste Zeit ist.

Der Zug steht schon zur Abfahrt bereit, als er den Bahnhof keuchend
erreicht. Wird er genügend Geld bei sich haben? Die Preise schnellen
von Tag zu Tag in die Höhe. Ein Bruchteil fehlt, und der Mann am
Schalter will ihm die Karte nicht aushändigen.

»Bitte, ich muß zu einer Sterbenden.«

Der Mann hinter dem Glas zuckt bedauernd die Schultern. Eine unsagbare
Bitterkeit steigt in Harro auf. Zurück? Dann erreicht er den Zug nicht
mehr. Und wer leiht in dieser Zeit einem Fremden?

»Meine Frau!« stammelt er.

»Ihre Frau?« fragt eine Stimme hinter ihm, und ein Herr erbietet sich,
ihm auszuhelfen. Nie sind Dankesworte inniger gewesen.

Mit schmerzendem Kopfe sitzt er im Zuge und schließt die Augen. O
dieses langsame Kreisen der Räder! O diese sich endlos hinzögernden
Aufenthalte! Er muß sie noch lebend treffen, er muß! Wenn es wahr ist,
daß es eine Fernwirkung der Gedanken gibt, so wird sein Wille das
entrinnende Leben aufhalten können. Oder ist es vielleicht so, daß jene
in übertriebener Ängstlichkeit ihre Nachrichten sandten? Eine Ahnung
sagt ihm, daß er Grund habe, sich zu eilen.

Hätte er doch Marfa erhört und sie mit sich genommen, als sie ihn darum
bat! Dann wäre ihr dies nicht widerfahren. O über diese kleinliche Art,
die wägt, mißt und zählt und dabei das Eigentliche übersieht!

Leise fällt der Schnee. Zu beiden Seiten des Bahndamms wachsen die
Schanzen. Und die Nacht dunkelt. Um alles in der Welt, man wird
doch nicht einschneien! Auf der nächsten Haltestelle ruft Harro den
Zugleiter an. »Werden wir wohl durchkommen?«

Der Mann gibt eine verheißende Zusicherung. Wieder weiter, wieder
die Kreuz-und-Quer-Hetze der Gedanken. Wie sich die Stunden dehnen!
Harro blickt unaufhörlich nach der Uhr. Jetzt ist der trennende
Zwischenraum nur noch zwanzig Kilometer weit, jetzt fünfzehn, jetzt
zwölf. Er erhebt sich und holt den Koffer aus dem Netz. Da steht der
Zug mitten auf freiem Felde, nein, rechts und links wachsen die Wände
eines Hohlweges auf. Die Zugbeamten rennen hin und her, kostbare Zeit
verstreicht. Endlich der Bescheid, daß man unrettbar festgefahren und
ein Aufenthalt von mehreren Stunden unvermeidlich sei.

Äfft ihn das Schicksal auf diese Art? Was nun beginnen? Harro kennt
sich in der Gegend aus. Drüben flimmern Lichter. Ein Gutshof. Er
schultert sein Gepäck und geht querfeldein, versinkt in schneegefüllte
Gräben, wird von Gebüsch zerfegt, gleitet, erhebt sich wieder und kommt
schweißgebadet an sein Ziel.

Als er, das aufwartende Mädchen überholend, in den Familienkreis tritt,
der um die Lampe sitzt, starren ihn alle wie einen Unterweltlichen an.
Sein Aussehen muß erschreckend wirken.

Er erklärt stammelnd dem Hausherrn seine Umstände und bittet um einen
Schlitten.

Aber natürlich. Er ist ja bekannt, Bruder des Kornkaufherrn Treß und
nennenswerter Politiker. Es wird sogleich angespannt. Harro beantwortet
die teilnehmenden Fragen der Hausfrau wie im Traum, schüttet etwas
Heißes herab wie im Traum, läßt sich in Pelze und Decken hüllen, hört
gutmeinende Wünsche hinter sich dreinrufen.

Die Schellen läuten durch die Winternacht, und der Schnee fällt. Die
Pferde haben schwere Arbeit, sie dampfen bald, und der Dunst zieht
wie eine Wolke vor den knirschenden Kufen her. Neben dem Kutschersitz
flackert das Licht einer Laterne. Wie seltsam rot das leuchtet!

Schwebt dort nicht ein Seelchen vor ihm hin? Er müht sich ihm nach und
kann es nicht erreichen, er streckt stöhnend die Hand aus, und immer
wieder entgleitet es ihm. Er bittet: Warte noch ein Weilchen! Doch es
läuft unfaßbar vor ihm her, weiter, immer weiter.

Harro fährt aus dem Schlaf auf. »Kutscher, haben wir noch weit?«

»Eine gute halbe Stunde, Herr.«

Ach, dieser endlose Raum! Wie er sie das erstemal sah drunten am Hafen,
vereinsamt, verstört, von Räuberhänden ausgeplündert, nichts besitzend
als ein geborstenes Leben. Wie er mit ihr auf Heilisoe weilte; sie
aufglühend in der Glut hingebenden Frauentums, er nehmend und immer
nehmend und voll dankbarer Vorsätze! Wie er sie in seine Arme schloß
bei dem Wiedersehen nach jener schreckvollen Nacht, die ihr das Kind
und die Hoffnung auf Mutterschaft raubte. Von jetzt an will ich
ihr mehr gehören, ihr besseren Ersatz bieten. Vorsätze, nichts als
Vorsätze. O dieses verfluchte Parteitreiben! Marfa, vergib!

»Kutscher, geben die Pferde nicht noch mehr her?«

»Herr, wir fahren schnell, sind auch gleich da.«

Endlich die Lichter der Stadt, die ersten Häuser, dunkle Straßen,
bernsteingelbe Lichter hinter den Fenstern. Die Schellen läuten, der
Schnee fällt.

Der Treßhof. Droben gedämpftes Licht.

Er hat sich längst ausgeschält und stürzt hinauf. Keiner begegnet ihm.
Er tritt in das Zimmer. Güldenfey richtet sich auf und hebt die Hand.

Auf dem Lager zwei blasse Hände, die ruhen; ein lächelndes Gesicht
zwischen dunklen Flechten. Er weiß alles.

»O Marfa!«




                        Der Mord des Gewissens


Malte saß an seinem Schreibtisch, schrieb Ziffern zu Summen, die
keiner, ohne zu stocken, lesen konnte, legte den Stift aus der Hand und
sann. Er erwartete Häberle zum Bericht, aber es war ihm lieb, daß er
noch aufgehalten wurde.

Die Zeit geriet ins Gleiten, und mit ihr glitt alles, aber auch alles,
was Menschen, die geordneten Zeiten entwachsen waren, als unumstößlich
gegolten hatte: Geld, Verdienst, Vermögen, Treue, Vertrauen.

Das Leben erschien von jeder Wirklichkeit losgelöst. Die kühnste
Phantasie hätte den Zustand nicht ersinnen können, der jetzt
eingetreten war. Das ganze Volk, die gesamte Menschheit schien von
unbekanntem Gift durchseucht zu sein. Wo nahm es seinen Ausgang? Wer
spielte auf zu dieser Orgie, die Verzweiflung und Hybris feierten?

Waren es die großen Zerstörer, die sich die Aufbauer nannten? Nun,
wahrlich, das Heil Deutschlands konnte von jenen nicht kommen. Jeder
Tag vergrößerte die Strecke derer, die am Wege fielen; Frauen sanken,
von Hunger und Entbehrung erschöpft, auf der Straße um; Heilstätten
verschlossen den Siechen ihre Türen; man wußte nicht, wie man die Toten
beerdigen sollte. Man fluchte dem Mammon und hetzte doch wie gebannt
hinter ihm drein.

Immer wieder tauchte in Maltes Erinnerung die Zusammenkunft mit Usadel
auf. Man müßte das Gewissen totschlagen! War je ein solches Wort im
Beratungzimmer der Treß gesprochen worden? Nun erlebte man diesen
frevelhaften Mord und schwieg und tat mit.

In diesem Augenblick trat Häberle ein. Sein Gesicht trug die Spuren
einer Erregung. Sie erledigten die täglichen Posteingänge, soweit Malte
es für nötig hielt.

»Hatten Sie Ärger, Herr Häberle?«

Der Prokurist zögerte, zu antworten, dann faßte er sich zusammen. »Es
ist nicht der Rede wert, Herr Konsul«, sagte er. »Ich habe auf meine
Verantwortung den Lewrenz entlassen. Es ist festgestellt, daß der
Jüngling auf eigne Hand spekulierte. Verschiedene andre auch, doch er
vor allen. Ein Beispiel zu geben war nötig.«

»Lewrenz war ein tüchtiger Arbeiter«, sagte Malte nachdenklich.

»Gewiß, Herr Konsul, einer von denen, die gut schaffen und toll
genießen. Da es zu letzterm nie langt, wird spekuliert, und geht
dies einmal fehl ...« Eine Gebärde vollendete und ließ unabsehbare
Möglichkeiten ahnen.

»Sie haben wohl recht getan«, sagte Malte. »Und doch ... diese Zeit ...
Sagen Sie, Herr Häberle, spekulieren Sie nicht?«

»Ich, Herr Konsul?« Häberle trat einen Schritt zurück. »Ich halte das
für unvereinbar mit meiner Stellung.«

Malte begütigte ihn schnell, er wußte, daß Häberle strenge Grundsätze
hatte, das war bei einem Beamten schätzenswert. Jedoch ... Der Zweifel
stand merkbar hinter Maltes Worten. »Sie sind doch ein tüchtiger
Kaufmann, Herr Häberle.«

»In dieser Zeit aber höre ich auf die Stimme hier innen, Herr Konsul.
Geld bedeutet kein Abgelten der Arbeit mehr und erlaubt vor allem kein
Umsetzen toter Werte in ideelle. Wo das aufhört, fängt der Abgrund an.«

Malte sah ihn scheu an, sein Blick flüchtete von dem redlichen Gesicht
des Mannes zu irgendeinem Gegenstand im Zimmer. Ein unbehagliches
Gefühl quälte ihn. »Bitte, setzen Sie sich doch. Wie denken Sie sich
den Ausgang?«

»Sie erlauben mir, meine besondere Meinung zu äußern, Herr Konsul. Nun,
unsre Verbindung mit dem Ring gefällt mir nicht. Uns ist eine böse
Rolle von jenem zuerteilt. Dieses Lauern von einer Ernte auf die andre,
in dem wir den ehrlichen Makler abgeben, ist ein Verbrechen. Tausende
können nicht das Geld für Zichorie, Gerstenkaffee oder gar Brot
aufbringen, und die Getreidebörse spielt mit dem Allernotwendigsten.
Daß sich die Menschen dies Spiel internationaler Federstriche gefallen
lassen, zeugt von ihrer Verdummung, und auch das, daß sie den Bauern
dafür hassen. Als ob der schuld hätte!«

»Sie sprechen sehr kühn«, sagte Malte. »Wollen Sie nicht mehr
mitmachen?«

»Ich diene dem Hause Treß«, entgegnete Häberle einfach. »Und weil ich
das aufrichtig tue, so würde ich es wie keiner bedauern, wenn die
Beteiligung an diesem Spiel uns unglücklich machen sollte. Besser, sich
zeitig zurückziehen, als plötzlich ausgeschieden werden.«

Malte horchte auf, als Häberle von einer Handlung berichtete, die
dem großen Ring angeschlossen gewesen sei und die man unter einem
nichtigen Vorwand abgelöst hatte. Er spürte alle Bedenken, die ihn
nachts umtrieben, sich regen. Doch nur einen Augenblick gewann der
nächtliche Spuk über ihn Gewalt. Balzer Treß! dachte er. Überhaupt wir
Treß! Verzagtheit ist der Vorläufer der Niederlage. Er straffte seine
Gestalt. »Es besteht wirklich kein Grund zur Sorge«, sagte er fest.
»Sie sind ein Schwarzseher, lieber Häberle. Geben Sie acht: wenn Sie
aus Ihrem Urlaub zurückkommen, werden Sie anders denken.«

Häberle dankte und erhob sich. »Ich mußte meine Bedenken aussprechen«,
sagte er. »Im übrigen werde ich meine Pflicht tun wie bisher.«

Malte blickte lange auf die Tür, die sich hinter dem Treuen geschlossen
hatte. Die Gedanken zerrten an ihm. Da hörte er über sich den leichten
Schritt Fraukes. Er tauchte die Feder ein, um den angefangenen Brief zu
beenden. Es gab kein Zurück mehr.

                   *       *       *       *       *

»Kind,« sagte Ose zu Güldenfey, »drunten bei Mellins sind sie in
Aufregung. Es ist irgend etwas bei ihrem Mariechen nicht in Ordnung.
Wolltest du nicht hören, wo es fehlt?«

Mellin erhob sich aus seinem Stuhl, als Güldenfey eintrat. Er strich
unaufhörlich seinen langen Bart, was bei ihm ein Zeichen war, daß er
den Sturm seines Inneren besänftigen wolle.

Frau Mellin kam herbei und nahm Strickstrumpf und Wollknäuel vom Sofa,
um für den Gast Platz zu schaffen. Also Fräulein Fink hatte es oben
schon erzählt. Es war ihr lieb, daß das gnädige Fräulein kam, so hatte
sie doch eine Bundesgenossin gegen den Mann.

Mariechen war krank. Ein verjährtes Leiden war zum Ausbruch gekommen;
der Arzt verlangte schnelle Überführung in das Krankenhaus. Es war ein
gefährlicher Eingriff nötig. Die alte Frau weinte in ihre Schürze.

»Aber was ist denn dabei zu bedenken?« fragte Güldenfey. »Trauen Sie
den Ärzten nicht, Mellin?«

Mellin winkte abwehrend mit beiden Händen, und seine Frau fuhr jammernd
fort: »Es ist wegen des Geldes«, sagte sie. »Mariechens Mann kann es
nicht beschaffen. Ich bitte Sie, gnä' Fräulein, ein Beamter, und in
dieser Zeit! Und nun hat er das alles geschrieben und uns vorgestellt,
und Mellin hat doch gespart, und es liegt auf der Kasse.«

»Aber Mellin, bedenken Sie doch!« sagte Güldenfey. »Es handelt sich ja
um Ihre Marie und scheint doch gefährlich zu sein.«

»Gnädig Fräulein,« sagte der alte Packmeister, »die Sache ist nicht
mit einem Wort abgetan. Für meine Marie geb' ich alles, was ich habe,
auch meine Glieder und mein Leben, wenn es not tut. Solche Ausgaben wie
diese gehören aber zu den laufenden, und dafür muß der Mann sorgen.
Ich habe für unser Kind gespart, daß es, wenn wir tot sind, Vermögen
besitzt. Das ist mein Stolz, dafür hab' ich gelebt, und das wird mich
im Tode trösten, daß unser Mariechen es einmal besser hat als ich.«

Was sollte Güldenfey darauf entgegnen? Sie kannte den Stolz Mellins.
Deshalb hatte der Beamte um das Mädchen angehalten, weil er wußte,
daß es in bescheidenem Sinne vermögend war; deshalb hatte Mellin die
genehme Werbung zögernd angenommen, weil er wußte, daß die Ersparnis
sein Kind in den Augen der Freier erhöhte. O, sie verstand ihn. Aber
zugleich fühlte sie die Augen der Frau hilfewerbend auf sich gerichtet.

Sie trat an den Glasschrank, der die Wunder ihrer Kindheit barg: die
verblaßten Ostereier mit den farbigen Seidenbändern, die gläsernen
Hirsche und die zierlichen Schweizerhäuschen. »Mellin,« sagte sie,
»wissen Sie noch, wie wir Kinder vor diesen herrlichen Dingen standen
und uns freuten? Glauben Sie, es ist besser, Mariechen freut sich an
diesem, wenn sie gesund wieder einmal herkommt, als daß sie siech wird
oder gar der Krankheit erliegt?«

»Gott bewahr' uns!« rief die Frau.

Mellin blickte Güldenfey unsicher an. Seine Hand fuhr erregt durch den
Bart. Jetzt machte er eine energische Bewegung. »Gut!« sagte er fast
heftig. »Das Geld wird abgehoben.«

Warum erschrak Güldenfey plötzlich? Das Wort traf sie wie ein
Stoß. Oder schlug sie ein jäh auftauchender Gedanke? Es gab so
seltsam-fürchterliche Überraschungen in dieser Zeit. Wie kam ihr die
Erinnerung an Frau von Ebel in diesem Augenblick? Das war doch ein ganz
andrer Fall.

Sie war dem Oberst Helf gestern begegnet. Nein, er trug keine
Milchkanne, aber er war sehr niedergeschlagen gewesen.

»Sie haben eine so sichere Art, wohlzutun«, hatte er nach einigen
Worten gesagt. »Wollen Sie einer Bedrängten nicht helfen? Denken Sie,
die arme Frau von Ebel! Man hat sie wegen ihres leidenden Zustandes
in die Schweiz geschickt. Als sie nach etlichen Wochen abreisen will,
sind die Fahrpreise derart gestiegen, daß das Geld für die Heimfahrt
nicht ausreicht. Freundliche Schweizer leihen es ihr. Als sie nach
einer Woche die Schuld abtragen will, ist der Marksturz so furchtbar
geworden, daß sie ihr ganzes Vermögen gebraucht, um ihre Gläubiger zu
befriedigen. Die arme Frau ist völlig vernichtet, denn sie weiß nicht,
von was sie leben soll.«

Güldenfey war zu ihr gegangen. Sie hatte eine Verzweifelte gefunden.
Warum mußte sie jetzt daran denken?

»Hören Sie, Mellin,« sagte sie, »bevor Sie das Geld abheben, sprechen
Sie mit Herrn Konsul. Es gibt jetzt so eigne Bestimmungen.«

Mellin versprach es, und Güldenfey ging beruhigt nach oben.

Doch als am nächsten Morgen Mellin einen Blick in den Geschäftsraum
schickte und das unruhige Treiben derer sah, die für nichts Zeit zu
haben schienen, kehrte er um und betrat die Sparkasse.

Menschen aller Art drängten sich um die Schalter: dürftige Frauen in
Umschlagetüchern; ergraute Herren in fadenscheinigen Röcken, in deren
Aufschlägen das vertragene Ordensbändchen prangte; Männer, die ein Tuch
um den Hals geschlungen hatten. Die Schreiber an den Pulten blätterten
in gewaltigen Büchern, stießen die Federn in die Tintenfässer, daß
es spritzte, und schrieben lange Zahlenreihen nieder. Der Mann am
Kassenschrank trug eine Perücke über dem spitzen Gesicht; hinter ihm
saßen einige Leute, die schmutzige Scheine zählten und bündelten. Eine
schwerdunstige Luftschicht füllte den Raum.

»Wieviel?« fragte der Mensch, dem Mellin das Sparbuch reichte.

Mellin nannte die Summe. Der Mensch blickte in das Buch, sah den
Langbärtigen an und begann in seinen Registern zu blättern.

»Wollen Sie nicht alles abheben?« fragte er.

Mellin schüttelte den Kopf: »So viel, wie ich sagte.«

»Es hat gar keinen Zweck«, sagte der Schreiber. »Morgen sind Sie doch
wieder hier, und wir haben doppelte Arbeit.«

»Ich dächte, das sei Ihr Amt«, sagte Mellin. »Übrigens werde ich morgen
nicht hier sein.«

Der Schreiber hob die Schultern und schrieb. Mellin reihte sich in
die Kette derer, die sich zur Kasse schoben. Es dauerte lange, bis er
darankam; endlich stand er vor dem Zahltisch. Die brauenlosen Augen
des Kassierers musterten ihn flüchtig, dann händigte er ihm Buch und
Scheine aus.

Mellin verwahrte das Geld in seiner Tasche und trat tief Atem schöpfend
ins Freie. Eigentlich dauerten sie ihn, diese armen Leute, die Tag für
Tag von ihren Tischen aus den Andrängenden das Geld zuschoben. Ein
unbefriedigender Beruf. Er schritt langsam die Hauptstraße hinab und
blieb vor seinem Tabakgeschäft stehen. Der Pfeifenknaster ging auf die
Neige, es wäre gut, den Vorrat zu ergänzen. Er trat ein und forderte
seine Sorte.

Als der Verkäufer das Paket vor ihn hinlegte, nannte er eine Summe, die
Mellin stutzig machte. Er hielt die Brieftasche geöffnet in der Hand
und sagte, daß er mit dem Preise nicht gerechnet habe und sich erst mit
Geld versehen müsse.

»Aber Sie haben ja genügend bei sich«, sagte der Verkäufer, der einen
Blick in die Tasche getan hatte.

»Sie irren sich,« entgegnete Mellin; »das ist Vermögen, das ich eben
von der Sparkasse geholt habe.«

Der Verkäufer sah ihn verwundert an, und Mellin verließ den Laden,
ohne den Tabak mitzunehmen. Nach wenigen Schritten traf er seinen
Freund, den Zimmermeister Baß. Sie gingen miteinander und sprachen von
der elenden Zeit. Mellin erzählte, was er vorhabe und was ihm soeben
begegnet war.

»Ja, was verstehst du eigentlich unter Vermögen?« fragte ihn Baß. »Geld
ist Geld.«

Mellin erstaunte über des Freundes Auffassung, er erklärte ihm seinen
Fall noch einmal. »Es ist doch ein Unterschied zwischen dem Papier, das
man heute umherwirft, und dem Geld, das ich mir in dreißig Jahren sauer
erspart und bei der städtischen Kasse zurückgelegt habe.«

»Aber dein Geld ist dir doch in den heutigen Papieren zurückgezahlt.«

Es nützte nicht, daß Baß ihm die Lage erklärte; Mellin hielt an seiner
Meinung fest. Als sie sich trennten, sah der Meister dem Freunde
mit einem mitleidigen Blick nach. Mellin ging nach Hause, verschloß
die Brieftasche in das oberste Schubfach der Kommode und zog den
Straßenrock aus. Als er den Arm in den Werktagkittel steckte, hielt er
inne und sann nach.

Vielleicht war es doch besser, die Angelegenheit sofort zu ergründen,
als sich mit den quälenden Gedanken herumzuschlagen. Er zog den Rock
wieder an, steckte das Geld zu sich und begab sich zur Kasse.

Der Mensch, der ihm geraten, den vollen Betrag abzuheben, stieß bei
seinem Eintritt seinen Pultnachbar an. »Nun, Sie haben nicht einmal bis
morgen gewartet«, sagte er, als Mellin ihm nahe kam. »Ich wußte es ja.«

Mellin antwortete nicht. Was ging ihn der vorlaute Mensch an? Er
trat zur Kasse, wo der Spitzgesichtige die Geldscheinbündel häufte.
»Ich bitte um Auskunft«, sagte er. »Sie haben mir soeben Papiergeld
ausbezahlt, für das man mir ein Tabakpaket anbot. Meine Einzahlungen
bestanden in gutem, ehrlich verdientem Geld. Ich verlange das wieder,
was ich gab: ~mein~ Geld.«

Die nackten Augen sahen ihn kalt an. »Zeigen Sie mir das Buch. So, hier
steht die Einzahlung fünfundzwanzigtausend, Sie wollten zehntausend,
wie? Haben Sie die erhalten oder nicht?«

»Aber mein Geld ist ein Haus wert, euer Geld ein paar Pfund Tabak.«

»Darüber hab' ich nicht zu befinden«, erklärte der Perückenträger.

»Sie sind hier noch nicht lange angestellt,« sagte Mellin, »der
Vorgänger kannte mich. Wo ist er? Er soll mir bezeugen, daß ich
richtiges Geld einzahlte!«

»Ist überflüssig. Die Zeiten der Einzahlung ersehen wir aus dem Buche.
Halten Sie uns nicht auf. Es sind noch andre da, die abgefertigt werden
sollen.«

Mellins Gesicht färbte eine Röte. »Behandelt man auf diese Art alte
Bürger dieser Stadt?« rief er. »Ich weiche nicht vom Fleck, bis ich
mein richtiges Geld erhalten habe.«

Der Kassierer hob die Schultern und wandte sich dem nächsten Wartenden
zu.

»Bitte, ich bin noch nicht abgefertigt«, rief Mellin.

Jetzt wurde auch das Spitzgesicht heftig, und maßlos schalt er auf die
Menschen, die seine Zeit stehlen.

Mellins Hand strich den langen Bart. »Begeben Sie sich, Herr«, sagte er
hart. »Wenn Sie sich beklagen, daß man Ihre Zeit stiehlt, so vergessen
Sie nicht, daß wir hier allesamt Bestohlene sind.«

»Beamtenbeleidigung!« sagte der Kassierer. »Mende, laufen Sie hinüber
aufs Polizeibureau. Der Mann muß verhaftet werden.«

Unter denen, die der Abfertigung harrten, erhob sich ein Murren.

Mellin reckte sich in der Brust. »Verhaften? Mich, seit zweiundzwanzig
Jahren in der Firma Treß als Packmeister beschäftigt, unbescholten,
als Schöffe wiederholt tätig gewesen, vor Gericht als vereidigter
Sachverständiger gestanden, desgleichen ehrenamtlich in der
Gewerbekammer, im neunundsechzigsten Regiment bis zum Sergeanten
gedient -- mich wollen Sie verhaften lassen, weil ich fordere, was mir
gehört?« Er nahm die Scheine und warf sie auf das Zahlbrett, das Buch
daneben. »Hier, nehmen Sie zurück, sofort zurück! Ich will Ihr Geld
nicht, ich verlange das meine. Stellen Sie den alten Stand wieder her.
Mit Ihnen will ich nichts mehr zu schaffen haben, der Sie nach der
Polizei schreien, sobald einer die Dinge beim rechten Namen nennt.«

Man erkannte, mit dem Manne war nicht zu scherzen; seine Fäuste waren
wie Schmiedehämmer, und die andern ergriffen für ihn Partei. Die
Polizei aber ...! Man beschwichtigte ihn am besten, indem man ihm den
Willen tat.

Mellin steckte das Buch in die Brusttasche und verließ das Rathaus. Er
ging über den Markt und trat in die Bank, wo er ohne weitere Fragen bis
zu Herrn Häberle vordrang.

Häberle sah flüchtig auf, als Mellin zu ihm trat. »Einen Augenblick,
lieber Mellin!«

Endlich war Häberle bereit. »Nun, Mellin?« Er rieb die arbeitmüden
Augen. Was fehlte dem Alten? Er stand da, zitternd, bleich, verstört.
Er wies auf den nächsten Stuhl. »Setzen Sie sich doch, Mellin. Was ist
denn geschehen? Sie schauen ja aus ...«

Mellin, der stets auf Schicklichkeit Bedachte, der sich nie in
Gegenwart Höherstehender gesetzt haben würde, wankte fast auf den Stuhl
zu und ließ sich haltlos fallen. »Herr Häberle,« sagte er jämmerlich
wie ein Kind, »helfen Sie mir doch. Man will mir drüben im Rathaus
weismachen, daß ich umsonst gearbeitet habe.«

Es bedurfte großer Langmut, um von dem verstörten Manne den Sachverhalt
zu erfahren. Häberle war erschüttert. Solche Fälle wiederholten
sich täglich, die Verzweiflungausbrüche der Verratenen, Betrogenen
brandeten mit wilder Gewalt auch wider ihn. Es gehörten Nerven
besonderer Art dazu, um dem standzuhalten. Und nun auch dieser Brave,
dem Ehrenhaftigkeit die tägliche Speise war! Und er sollte ihm die
Gewißheit bringen. »Lieber Mellin,« sagte er milde und legte seine Hand
auf ihn, als müsse er den Anprall seiner Worte lindern, »ich kann nur
raten, heben Sie sogleich Ihr Geld ab und bringen Sie es her; ich will
sehen, was noch mit ihm zu beginnen ist.«

»Aber sie geben mir doch andres Geld, nicht meins«, beharrte Mellin.
»Ich verlange ~mein~ Geld zurück.«

Es kostete Häberle unbeschreibliche Mühe, das rechte Wort zu finden.
Er setzte ihm so zart wie möglich auseinander, wie alles gekommen, daß
alle Ersparnisse so gut wie verloren seien. Der einzige Trost sei, daß
alle unter dies Verhängnis fielen.

»Sie wollen mir also die Behauptung des Fuchses dort drüben bestätigen,
daß alles verloren ist?«

Häberle nickte.

Mit einem Ruck erhob sich Mellin. »Verzeihen Sie, Herr Häberle, ich
habe alle Hochachtung vor Ihnen, doch das glaub' ich Ihnen nicht; nein,
nein, das glaub' ich nicht. Das kann nicht sein. Ich darf wohl Herrn
Konsul sprechen.« Seine Stimme splitterte wie Glas.

»Lieber Mellin, Herr Konsul ist beschäftigt. Er kann nur wiederholen,
was ich gesagt ...«

»Herr Häberle, ich bin im Dienste des Hauses grau geworden ...«

»Kommen Sie«, sagte Häberle. Er war aufgestanden und pochte schon an
die Tür des Chefs.

Der gleiche Eindruck auf Malte, die gleichen Worte Mellins. Häberle
gab seine Erklärungen. Maltes Blicke flohen wieder dies aschfarbene
Gesicht, aus dessen Höhlen die blutunterlaufenen Augen zu quellen
schienen. Diese Augen waren flehend und drohend zugleich auf ihn
geheftet, schienen zu betteln und anzuklagen, waren Richter und Henker.
Das Urteil konnte nur eins sein.

»Ihre Tochter ist erkrankt?« begann Malte, als die beiden schwiegen.
Seine Stimme klang unwirklich, heiser. »Sie sollen keine Sorge um sie
haben, Mellin, ich helfe Ihnen; die Angelegenheit ordne ich.«

Mellins Hand machte eine Bewegung, als schiebe sie etwas von ihm fort.
»Herr Konsul ist sehr gütig, aber, Verzeihung, darum handelt es sich
für mich im Augenblick nicht. Wollen Herr Konsul mir kurz und bündig
sagen, ob meine Ersparnisse verloren sind oder nicht?«

»Ich fürchte, ja, Mellin.«

Es war gesagt. Was halfen nun noch Zweifel und Zögern! Mellin wendete
ein paarmal die Mütze, die er in den Händen hielt, seine Blicke irrten
durch den Raum. Das Schweigen war fürchterlich. »Danke!« sagte er und
wandte sich um.

Er ging durch die Straßen wie ein Trunkener. In dieser Zeit, die
aller Menschen Gedanken in ihren Fängen hielt, fiel der Anblick des
verstörten Mannes doch so auf, daß sich viele nach ihm umwandten. Man
kannte den Packmeister, man grüßte ihn. Er dankte nicht und sah keinen
an. Hatte er getrunken? Er trug die Mütze schief im Nacken.

Telge, der den Wagen wusch, zeigte ein verwundertes Gesicht, als Mellin
in den Hof wankte. Er streifte die Ärmel herab und ging auf ihn zu,
wagte aber keine Frage, als er genauer in dies zerpflügte Gesicht
blickte. Er ergriff Mellins Arm und leitete ihn die Treppe zu seiner
Wohnung nieder. Frau Mellin erschien in der Küchentür, sie hatte einen
Vorwurf auf den Lippen, das Essen werde kalt; doch auch ihr erstarb das
Wort im Munde.

Mellin fiel auf einen Stuhl. Sie wollten wissen, was geschehen sei.
Ihre Angst entriß ihn endlich seiner Benommenheit.

»Mariechen muß sterben«, sagte er heiser. »Ich kann das Geld nicht
schaffen, es ist alles verloren!«

Allmählich kam es in abgerissenen Erklärungen aus ihm heraus, was
geschehen war. Telge redete in kräftigen Worten, die Frau rang die
Hände.

Mellin saß stumm da. Erst als sie sich um ihn mühten, fand er die
Sprache wieder. Ganz verändert wie ein klagendes Kind begann er zu
reden. »Laßt doch, laßt! Ich passe nicht mehr in die Welt. Ich bin groß
geworden zu einer Zeit, in der es hieß: Mit Gott fang an, mit Gott hör'
auf; da man uns lehrte, daß es Gut und Böse gäbe, daß man das eine üben
und das andre hassen müsse. Heute gilt nur noch eins: der Götze, die
Gier, der Mammon; und wer ihm nicht opfert, der ist verloren. Ich tauge
nicht mehr, ich gehe weg, mache Platz für die, die klüger sind als ich,
der Dumme, der noch an Gut und Böse glaubt.«

»Mann, um Gottes willen!« rief die Frau. »Versündige dich nicht!«

Er sah sie aus leeren Augen an. Plötzlich erhob er sich, seine
verronnene Kraft schien in den schlaffen Körper zurückzuströmen und ihn
zu straffen. Er hob drohend die Hand. »Aber ehe ich gehe, verfluche
ich das, was uns soweit gebracht hat. Ich verfluche die Schurken, die
die Schätze der Erde an sich reißen, um die Beraubten zu knechten. Ich
verfluche die Spekulanten, die uns Brot und Rock verteuern, damit sie
sich mit dem Verdienst mästen. Und Fluch, dreimal Fluch auf die, die
es zugelassen haben, daß der Fleißige um seine Spargroschen geprellt
wird und im Alter verkommen muß. Ist das sozial, dann verflucht dieser
Gedanke, der nichts als Schwindel ist!«

Seine Stimme war wie ein drohender tierischer Laut aus Urwäldern, sein
ganzes Gebaren glich einem schrecklichen Brand, dessen Flammen der
Sturm jagt. Telge und die Frau hingen sich erschreckt an ihn, suchten
ihn zu beruhigen. Endlich sank er erschöpft zusammen.

                   *       *       *       *       *

Das Gerücht lief um, der Packmeister sei fort. Keiner wußte, wo er
geblieben war, aber jeder dachte bei sich das Ärgste und wagte es doch
nicht laut werden zu lassen. Frau Mellin saß weinend in ihrer Stube:
die Sorge um ihr krankes Kind, und nun der Mann!

Er hatte verweigert, zu essen und zu trinken, er hatte in dumpfem
Brüten dagesessen. Als sie von einem kurzen Gang heimkehrte, war
er verschwunden. Wohin? Telge hatte die Speicher und den Bodenraum
abgespürt. Bei ihm stand es fest: Mellin hatte sich ein Leid angetan.
Aber sein Suchen war vergebens gewesen, nirgendwo eine Spur. Man
fragte, aber niemand wußte um den Vermißten.

Der Abend dunkelte herein, in Mellins Wohnung brannte während der
ganzen Nacht das Licht: er kam nicht.

»Wir müssen gehen und ihn suchen«, erklärte Güldenfey am Morgen. »Sie,
Telge, und wer frei ist. Ich gehe auch.«

Güldenfey suchte hilflos; sie fürchtete sich vor dem Finden, doch
es mußte sein. Der Kirchenhof von St. Niklas mit seinen versteckten
Winkeln neben den winzigen Häuschen, die ganz in Stille gebettet waren
und um die immer ein dumpfes Dunkel war. Aber die helle Frühlingssonne
leuchtete in jeden Winkel, und der Märzenwind blies hinein, und der
Turm trug seine Krone aus feinstem Licht. Vielleicht der Räucherboden
in Sankt Johannes! In der unermeßlichen Höhe des Dachraumes konnte sich
verbergen, wer dem Leben abhold war, und die spähenden alten Frauen
wußten vieles. Also dorthin!

Aber Friedchen Waterström wußte von nichts, und die andern hatten
Mellin nicht gesehen. Sie standen jammernd, und Güldenfey mußte immer
das gleiche wiederholen. Ja, diese furchtbare Zeit! Keiner konnte
wissen, wie er noch enden würde. Dann fiel ein Wort: Der Hafen.
Natürlich, der Hafen!

Güldenfey ging. Als sie an der Mauer vorüberschritt, hinter der ihr
vergessener Garten lag, löste ihre Angst sich in Tränen. Welche Hand
würde nun sorgsam in ihm walten? Auf den Kais standen Fischer, die die
Hände in ihre weiten Hosentaschen vergruben. Sie fragte, und die Männer
gaben dürftigen Bescheid. Nein, sie hatten keinen gesehen. Jawohl, sie
kannten Mellin; wer würde den nicht kennen! Warum war er fortgegangen?
Ach so! Ja, das konnte geschehen. Diesen Krippensetzern war nicht zu
trauen. Jemand meinte, man müsse abwarten: nach drei Tagen kämen die
Leichen ans Land.

Güldenfey langte um Mittag hoffnunglos zu Hause an. Sie schlich
heimlich über den Hof, daß Frau Mellin sie nicht sähe, aber kaum, daß
sie ein wenig gegessen, machte sie sich wieder auf den Weg. Wohin nun?
In der Stadt suchte Telge. Es blieb ihr nur die Strecke gegen Westen
zu, am Strand entlang.

Die kleinen Vorstadthäuser mit ihren Gärtchen lagen besonnt da. In
den Bündeln welker Gräser zeigten sich jungfrische Halme, die ersten
Maßliebchen waren da, und um die Stachelbeersträucher flimmerte es
grün. Sollte es wirklich schon lenzen? Ach, wer konnte das glauben! Das
Leben riß immer neue Lücken. Jetzt Mellin, und wer war der nächste?

Zur Schwedenschanze wollte Güldenfey, jawohl, zur Schwedenschanze. Wie
eine Erleuchtung kam es über sie. Dort waren tiefe Schluchten, Gehölze
und Erdfalten, und keiner kam um diese Zeit dahin. Das war so recht
der Platz für Lebensflüchtige. Aber vielleicht konnte sie in einem der
Häuschen nachfragen, ob man den einsam Gehenden gesehen hatte. Einer,
der wie Mellin ging, fiel doch auf.

Sie trat in das nächste Haus ein und blieb im steingepflasterten Flur
wartend stehen. Eine kleine Glocke lärmte unermüdlich durch das Haus.
Eine Tür wurde geöffnet, eine Frau trat heraus. Güldenfey stockte das
Wort: die vor ihr stand, war Frau Jobst. Sie erkannten einander zur
gleichen Zeit, die Frau machte eine Bewegung, als wollte sie zurück,
dann richtete sie sich kerzengerade.

»Frau Jobst?« sagte Güldenfey zaghaft und fast erschrocken. »O Himmel,
wie hab' ich Sie gesucht und finde Sie nun, da ich Sie nicht suchte.«

Die andre sah sie abwartend an und erwiderte nichts. Das steigerte
Güldenfeys Verlegenheit. »Sie wohnen hier. Darf ich wohl zu Ihnen
eintreten?«

»Bemühen Sie sich nicht«, sagte die Frau und stellte sich abwehrend vor
die Tür.

»Ihr Mann --?«

»Den muß man auf dem Kirchhof suchen.«

»O! Und Ihr kleines Mädchen. Es war so lieb!«

»Meine Tochter ist nicht hier. Bemühen Sie sich nicht. Sie und wir
haben nichts miteinander zu schaffen.« Sie sprach ruhig, aber jedes
Wort bedeutete eine Absage.

Güldenfey trat einen kleinen Schritt vor. Sie streckte bittend eine
Hand aus. »Ich weiß, mein Bruder Malte ... Er war ungerecht und hat Sie
sehr verletzt. Ich konnte nicht dafür, es tat mir so leid. Ich wollte
wieder gutmachen und suchte Sie. In der Sachsenvorstadt bin ich durch
fast alle Häuser gegangen ... Es war so traurig, dieses vergebliche
Suchen.«

»Es war gut«, sagte die Frau hart. »Ich wollte nicht gefunden sein. Ich
beging eine Torheit, als ich zu Malte Treß ging ... Die Not ... Das ist
nun vorbei.«

»Ach, das freut mich, daß Sie nicht mehr Not leiden«, sagte Güldenfey.

Die Frau strich mit einer undeutbaren Gebärde über ihre Stirn.

Güldenfey sah, sie war sauber gekleidet, doch die Dürftigkeit hatte
ihren Rock gezeichnet. »Ich komme Ihnen heut nicht gelegen,« sagte sie,
»und ich habe es auch eilig. Wie ich sagte, ich trat nur ein, um eine
Frage zu tun. Doch nun, da ich weiß, wo Sie zu finden sind, darf ich --«

Die Hand, die schon einmal ins Leere gestreckt war, hob sich wieder,
doch die Frau ließ sie wieder unbeachtet.

»Nein, Sie dürfen nicht«, sagte sie. »Kommen Sie nicht wieder, ich
will es nicht. Ich will, daß das Vergangene vergessen wird. Würden Sie
wiederkommen, so wäre das ein Grund, mich aus dieser Behausung ebenso
zu verdrängen, wie es schon einmal geschah.«

Güldenfey war trostlos. Was wäre darauf noch zu sagen? »Begreifen Sie
denn nicht, daß ich den Wunsch habe, Ihnen ein wenig zu helfen? Und daß
dies Wiederfinden eine Fügung ist --?« Ihre Stimme zitterte und brach.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ja, daß Sie Ihr Gewissen entlasten
wollen, das versteh' ich. Nicht Sie, aber ...« Sie deutete nach
der Stadt. »Doch ich will nichts annehmen, nichts, auch keine
Freundlichkeit. Ich bin arm, und zufrieden, wenn man mich in Ruhe läßt.
Sie sind reich. Wir passen nicht zueinander. Und nun ...« Sie machte
eine Gebärde, die das Gespräch beenden sollte, und ergriff die Klinke.

»Ich will Sie gewiß nicht quälen«, sagte Güldenfey zart und voll
verhaltener Traurigkeit. »Nein, wenn ich Ihnen weh tue ... Aber es
könnte sein, daß auch ich einmal arm bin; nicht wahr, dann darf ich
wiederkommen?«

Die Frau blickte sie starr und entwaffnet an. Güldenfey neigte den Kopf
zum Gruß und ging. Die kleine Glocke läutete ungestüm hinter ihr drein.

Ihr Herz lag schwer wie Erz in ihrer Brust; sie wußte nicht, was sie
vorhatte, und blieb einen Augenblick überlegend auf der Straße stehen.
Ach ja, die Schwedenschanze!

Als sie dort ankam, stand die Sonne schon tief. Sie schritt in die
Schluchten und Gänge, suchte mit den Augen und fühlte doch, daß ihre
Seele weit von ihr fort war. Schälten sich dort nicht die Bäume unter
dem Druck des brausenden Saftes? Hing es nicht im Birkengeäst wie eine
Verheißung, und zogen nicht reihende Enten durch die Luft? Von fern kam
der heisere Ruf der Reiher. Sie nahm das alles wie im Traum wahr. --

Dort! Güldenfey schrak zusammen. Dort unter dem Geäst niedriger Tannen,
dicht an den Boden gedrückt, lag es dunkel und geballt. Ein Mensch?
Nein, ein Bündel von irgend etwas Menschlichem, das ausgeworfen,
verloren, vergessen sich hier verkrochen hatte. Sie blieb stehen, von
Grauen geschüttelt. War er das? Sein langer Bart, seine Kleidung?
Sie konnte nichts erkennen, denn vor ihren Augen bewegte sich ein
Flimmerspiel.

Das Etwas rührte sich nicht. Der Reiherruf kam wieder vom Wasser her.
Da erwachte Güldenfey, das Erbarmen war mächtiger als die Starre der
Furcht. Sie trat näher. Ja, er war es. Leise rief sie: »Mellin!« Dann
lauter, zuletzt wie in Angst: »Mellin!« Da rührte er sich.

Gottlob, er lebte. Und schon kniete sie neben ihm. Er hob den Kopf. O,
dieses Gesicht! Der Tod hatte ihn nicht genommen, doch er mußte durch
alle Grade des Sterbens gegangen sein und furchtbar gelitten haben.

»Mellin, was für Sorgen haben Sie uns bereitet!« sagte Güldenfey.

Er blickte sie abwesend an; nichts verriet, daß er sie erkannte.

»Aber jetzt ist alles gut, und wir gehen heim. Denken Sie doch an Ihre
arme Frau! Können Sie sich aufrichten?«

»Nein!« Er schüttelte den Kopf, mühsam, wie heraufgestoßen klang seine
Rede. »Ich will nicht mehr, ich mag nicht mehr. Lassen Sie mich doch
umkommen.«

»Aber, Mellin!« Güldenfey wußte nicht, was sie sagte, sie dachte: nur
auf ihn einreden, nur den Faden zerreißen, der ihn an das andre Ufer
band. Und sie sprach von Mariechen und ihren Kindern; von der sorgenden
Frau; sie sprach von ihm und dem Leben im Treßhof. Ach, was redete sie
nur!

Sie wußte nicht, ob die Worte in den dunklen Grund seiner Seele fielen.
Er hatte das Kinn auf die Brust gestützt, in Bart- und Haupthaar
hafteten dürres Gezweig und grüne Baumnadeln, die Augen lagen blicklos
wie versunken in ihren Gruben; aufgerissen klaffte der Rock.

»Mellin!« Ach, es war ganz gleichgiltig, was sie sagte. Aber das, was
ihr die Worte eingab, war stärker als der Tod, dem er nachlief, das
fand die irrende Seele und rief sie aus den Gefilden der Verzweiflung
zurück. Sie sah es, er merkte auf, und dann kamen ihm die Tränen.

Durch die Dämmerung des zeitigen Frühlingsabends führte Güldenfey
Mellin in den Treßhof zurück.




                         Das Konzert der Armen


Jörg also wollte kommen und spielen.

Alle, zu denen Güldenfey davon sprach, hatten abgeraten. Wie viele
Künstler irrten von einer Stadt zur andern, zogen den schäbig
gewordenen Frack an, lächelten, verneigten sich dankend, gaben ihr
Bestes und zählten aus dem Ertrag nur so viel heraus, daß sie die
Unterkunft und vielleicht noch die Weiterfahrt bezahlen konnten.
Ihr Lächeln und Verneigen war nur die stumme Bitte: Laßt mich nicht
verhungern! Doch satt wurden sie selten.

»Aber es ist ihm ja nicht um den Verdienst zu tun«, sagte Güldenfey zu
Onkel Rolf, dem sie den Plan vorgetragen hatte, denn mit Malte, der
mehr denn je in der Siedehitze der Geschäfte steckte, war davon nicht
zu reden. »Bedenke doch, er will die Menschen erfreuen und beschenken!«

Onkel Rolfs Finger strich bedächtig das Kinn. Ein Künstler, der nicht
verdienen wollte, war ein Unding. »Es hat jetzt keiner die Zeit, sich
zerstreuen zu lassen«, entschied er. »Was macht ihr, wenn niemand
erscheint?«

Ja, das war freilich zu erwägen. Am liebsten hätte Güldenfey allein
gelauscht. Doch Jörg ...

Sie ging zu Klaus, der jetzt mit der Witwe verehelicht war und in der
kleinen Villa an den Teichen nach flüchtigen Honigwochen und längeren
Reisen das übliche Rentnerdasein dieser Zeit führte. Sein etwas
mürrischer Rat war noch weniger tröstlich. Sie teilte ihre Besorgnisse
Jörg mit.

Nach wenigen Tagen erhielt sie seine Antwort: er werde trotzdem kommen
und das Cembalo mitbringen. Genaue Anweisungen waren beigefügt, und er
bat Güldenfey, alles vorzubereiten. Güldenfeys Herz erglühte. Ja, das
war Jörg! Und wie er es vorgeschlagen, so sollte es werden.

An einem Morgen trugen viele Straßenecken der Stadt eine gedruckte
Bekanntmachung, zu der die Leute die Hälse aufreckten.

»Alle Armen und alle, die diese Zeit müde und traurig gemacht, ladet
Jörg Treß zu einer ruhigen Feierstunde ein.« Zeit und Ort waren
darunter bezeichnet.

Es ging ein Raunen durch die Stadt. Die Einladung lockte, begrenzte und
schloß aus. »Schade!« sagte Frauke. »Ich hätte gern mitgemacht. Nun
aber ...«

Malte verließ sein Haus, schritt über den Markt und las. Etwas in ihm
empörte sich, aber er verschloß sich. Das da war keine ausgeklügelte
Anpreisung, sondern ehrlich gemeint. --

Der große Saal lag im Dunkel spärlichen Kerzenlichts, nur auf dem Chor
vor der Orgel und auf der Erhöhung am andern Ende des Raumes war es
hell. Hier stand ein Pult neben dem Cembalo. Es duftete nach Veilchen
und frischem Grün. Lange vor dem Beginn stand Güldenfey, schlicht
gekleidet, aber im Schmuck ihrer lichten Schönheit, an der Tür, die
Gäste zu empfangen.

Sie kamen leise die weite Treppe herauf und traten scheu spähend an die
Tür. Es war ziemlich dunkel darinnen, sah gar nicht nach den funkelnd
prahlenden Sälen aus, in denen man festete und feierte; aber so war
es gerade recht: eins sah nicht das andre. Man war keinen neugierigen
Gafferblicken ausgesetzt, man fühlte sich allein mit den schweren
Gedanken, die man am liebsten aus einem Dunkel in das andre trug, und
konnte doch des Kommenden harren, dem man alle Sorgen preiszugeben
entschlossen war.

»Ist hier das Konzert?«

Wie wußten sie nur, daß sie zu einem Konzert geladen waren? Davon hatte
die Verkündigung doch nichts gesagt.

»Gewiß, gewiß; kommen Sie!«

Und Güldenfey führte sie ein und wies ihnen die Plätze an. In Scharen
kamen sie! Wenn Onkel Rolf das gesehen hätte! Alte Mütterchen und
gebückte Greise; Frauen im Schulterschal, die Schürze vorgebunden;
Männer, die das Tuch um den mageren Hals geknotet trugen und denen ein
wenig Armeleuteduft aus den Kleidern stieg; magere Gesichter, die in
dem Dunkel sorgenvoller Nächte gebleicht waren, und gefaltete Stirnen,
die den narbigen Mauern lange belagerter Städte glichen. Doch nicht die
offen Gezeichneten kamen nur. Da waren auch die Rentner aus den kleinen
Landhäusern, die ihre Öfen mit dem Sammelreisig heizten, das sie im
Stadtwald schamhaft auflasen, und die auf den kleinen Blumenbeeten
ihrer Gärten mühsam eine geringe Kartoffelernte hüteten. Da waren auch
die Frauen, die das verjährte Festkleid, das ihnen kein Händler mehr
abkaufte und das sie doch einst in Glanz und Schimmer getragen, aus dem
Schrank genommen hatten, um sich für diesen Abend zu schmücken. Ihre
Armut war nicht augenfällig; man mußte auf die Falten um die Augen,
auf den eigentümlichen Zug ihres Lächelns achten, um die Wunde zu
entdecken, die die zerknitterte Seide verbarg.

»O Herr Oberst, Sie auch!« rief Güldenfey.

Er führte seine Frau am Arm, der Kavalier einer vergangenen Zeit,
dessen Gruß immer eine Huldigung war.

»Die Feierstunden sind rar«, antwortete Helf. »Man darf sich keine
entgehen lassen.«

Zaghaft wie jemand, der heimlich unterschlüpfen will, erschien auch
Frau von Ebel. Ihre Augen irrten an den andern vorüber: O, so viele
Fremde! Aber Güldenfey empfing sie und leitete sie behütend an einen
verborgenen Platz.

»Wieviel kostet es?« fragte eine dürftige Frau. Ihre Hand suchte emsig
in der Tasche.

Güldenfey brauchte einen kleinen Aufwand an Worten, um sie zu
überzeugen, daß wirklich nichts gefordert würde.

Der Saal war gefüllt, sie standen an den Wänden und in den Gängen und
warteten geduldig. In dem schwachen Kerzenlicht fühlten sie sich schon
in ausruhender Geborgenheit, und der Atem der Erwartung durchdrang den
hohen Raum. Dann kam Jörg. Er trat nicht auf, sondern ging schlicht zum
Pult und grüßte die Lauscher mit natürlicher Bewegung.

»Es freut mich, in meiner Vaterstadt zum erstenmal meine Kunst ausüben
zu dürfen«, sagte er. »Aber diese Freude wäre nicht völlig, wenn ich
Ihnen damit nicht ein Geschenk machen dürfte: ich möchte Sie ein wenig
aus dem sorgenvollen Dasein führen.

Es gibt in Flandern alte Städte, um deren Dome und prächtige
Gildehäuser immer eine leise Angst und Bangnis ist. So ist auch die
große Stadt, die wir Zeit nennen, voll von Ängsten um unser Bestehen,
und die meisten sagen, das ist die Wirklichkeit. Die Fieber unsers
Blutes erregen uns so, daß wir den großen Pulsschlag des Ewigen nicht
mehr vernehmen. Aber glauben Sie mir: das Wirken des Geistes ist allein
die Wirklichkeit, und unsre Ängste, Bekümmernisse und Sorgen, das ist
nur spukhafter Schein. Folgen Sie mir aus dem Scheinhaften in das
wirkliche Leben, und Sie werden glücklich sein.«

Das Cembalo sang in leisen silbernen Tönen, freundlich und heiter wie
eine fröhliche Kinderstimme. Ist es wirklich nicht wahr, daß die Sorgen
unsrer Tage und Nächte, denen alle diese willenlos überliefert sind,
das Wirkliche darstellen? dachte Güldenfey. Liegt das wahre Leben
doch jenseits des Täglichen, das mit seinen Geräuschen unser Blut
beunruhigend füllt?

Sie blickte in die Gesichter der ihr zunächst Sitzenden; ihr schien
es, als glätte sich alles, was ihre Züge verhärtet hatte. Sie hörten
freilich nur eine feine Musik, aber in ihnen klang das gesprochene Wort
nach, das die Töne zur Brücke gestaltet hatte.

Eine Frauenstimme sang ein Lied, das Jörg geschrieben und vertont
hatte. Die Sängerin war mit ihm gekommen, und Wort und Ton gingen wie
Sterne über die Stadt der Zeit.

Ein Paar blasse Hände lagen in einem Schoß. Sie hatten unruhig gezuckt
und wurden nun sanft und gelassen. Ein Mund war hart verschlossen
gewesen, als Jörg gesprochen, er war jetzt halb geöffnet wie bei einem
Marmorbild, dem der Bildner die Gebärde andächtigen Lauschens verlieh.
Stand der Mann vor einem Feuer und schaute im Spiel der Flammen etwas
Unsagbares, Fernes? Etwas, das in der Brust dieses Menschen seit vielen
Jahren das Lachen verkrampft gehalten, löste sich.

Als die Orgel zu spielen begann, blickte Güldenfey nach der Tür. Eine
Frau in glatt gescheiteltem Haar -- war das nicht Frau Jobst? So war
auch sie gekommen, spät, um nicht bemerkt zu werden. Sie preßte sich in
den Schatten des Pfostens, sie wollte verborgen bleiben. In Güldenfey
jubelte etwas, doch sie schaute zur Seite, um die Scheue nicht zu
vergrämen.

Der erste Teil war beendet. Jörg trat wieder an das Pult. Er sprach
davon, daß das Reich, in das er seine Freunde führe, allen unverlierbar
bleiben müsse; sie hätten auch ohne die Musik täglich freien Zutritt
zu ihm, denn sie trügen es in sich. »Jeder Mensch trägt das wirkliche
Reich des Ewigen in sich wie ein Bild in der Mauernische, doch wir
sitzen wie gewinnhungrige Bettler auf den Schwellen fremder Häuser,
sorgen uns um Schmutz und Staub der großen Straße und vergessen, daß
ein Wind die Düfte unsrer Blütenbüsche verstreut. Von der Heimkehr zu
uns und dem Reich, das in uns ist, sollen jetzt die Töne zu euch reden,
meine lieben Freunde.«

Ach, wie sie redeten! Da und dort hob sich scheu eine Hand zu den
Augen, um die nassen Lider zu trocknen. Nun das Erstaunen vor dem
Neugearteten in ihnen verwunden war, ruhten sie aus, und verdorrte
Brunnen begannen zu fließen. Türen gingen leise auf, und sie wunderten
sich, was alles so lange verborgen war. Träume sprachen, und sie sahen
in der Ferne das Gesicht Gottes, das nicht die Härte trug, von der die
Menschen immer fabelten.

Wie war es möglich, daß Jörgs Hände den großen Frieden über diese
Mühseligen und Beladenen strömen lassen konnten, diesen Frieden, der
schwere Lasten in einem Seufzer löste!

Ja, Jörg spielte mit einer Hingabe, wie er sie noch nie in seinem Leben
verspürt. Als ob seine Seele in seine Hände floß, so war es. Es war
ihm seltsam ergangen. Während er gesprochen, war es in der dämmerigen
Tiefe des Saales plötzlich wie eine Erscheinung vor ihm aufgetaucht:
unter der Orgelempore ein Gesicht, das sich aus der Menge weißleuchtend
hervorhob. Er hatte immer auf dieses Gesicht blicken müssen.

Malte! Er konnte ihn nicht erkennen, doch er wußte, daß er es war. Der
erste Kaufherr der Stadt im Konzert der Armen. Regte sich etwas in ihm,
was trotz seiner überragenden Stellung von der großen Armut in seinem
Inneren zeugte? Eine Rührung hatte Jörg gepackt, ja, das war die größte
Armut: einsam im Glanz frieren. Er spielte nur für ihn. Und ob Malte
vorgab, die Sprache der Töne nicht zu verstehen -- was diese beseelten
Klänge sagten, würde er begreifen.

Ehe Jörg das vorletzte Stück begann, sah er noch einmal auf: das
bleiche Angesicht war noch da, aber er sah es nicht mehr, wie es ihm
zugewendet war, sondern von der Seite, als neige es sich einem zu.
Dann war es verschwunden, und Jörg entdeckte es auch nicht, als er zur
Empore schritt, um zum Schluß die Orgel klingen zu lassen. Genug, Malte
war gekommen.

Der letzte Ton verhallte. Die Zuhörer blieben auf ihren Plätzen.
Jörg trat noch einmal vor und sprach einige abschiednehmende Worte.
Dann erhoben sich zögernd einige und schickten sich an, den Saal zu
verlassen. Aber sie schritten durch den Mittelgang bis zur Standbühne
vor, blieben vor Jörg stehen und sagten ein Dankwort. Und die andern
folgten. Es begann ein Zug an ihm vorüber, und alle schenkten ihm
einen freundlichen Blick. Das war der Dank der Armen: kein rauschender
Beifall, kein lärmender Zuruf, aber ein stilles Grüßen und Neigen. Jörg
hätte sich keinen besseren Dank gewünscht.

Als er neben Güldenfey heimschritt, legte er seinen Arm in den ihren.
Sie traten in das Haus am Markt, daß er sich von Malte und Frauke
verabschiede, denn er wollte in der Frühe des nächsten Tages reisen.

Aber Malte war nicht da, obgleich Jörg sich angesagt hatte, und Frauke
war seltsam kühl und zerstreut. Ja, Malte war fortgegangen, war
wiedergekehrt und aufs neue gegangen; vielleicht war er im Treßhof, sie
wußte es nicht.

Verargt sie es uns, daß wir sie ausschlossen? dachte Güldenfey. Doch
sie hing dem Gedanken nicht nach; sie fand es auch nicht auffallend,
daß Malte im Treßhof nicht mehr erschien. Sie hatte so viel Grund zur
Freude und wollte das Zusammensein mit Jörg auskosten.

                   *       *       *       *       *

Malte hatte im Schatten des Orgelüberbaues gestanden und gelauscht.
Unerklärliches hatte ihn hergetrieben. Nun kam die feierliche Ruhe auch
über ihn, und dies Ausruhen war schöner als die schweigsame Stille, die
er auf seinen nächtlichen Gängen genoß.

Nein, er verstand nichts von der Musik und hatte diesen Mangel nie
bedauert. Doch dieses Ausruhen in Tönen war etwas Besonderes. Hier
war keine neuerunglüsterne Menge: diese alle waren gekommen, um wie
Flüchtlinge die Verborgenheit zu suchen. Im Grunde trug er die gleiche
Wunde wie sie, etwas verband ihn mit diesen geladenen Armen, ihn, den
ungeladenen Reichen.

Er fühlte sich von einem seltsamen Staunen befangen, als er Jörg hörte:
das war kein Werben um die Gunst der Menge, das war Mitteilen eines
königlichen Guts, zu dem er sich verpflichtet fühlte. Wie überragend
hoch war dieser jüngste Treß gewachsen, den vor vier Jahren er, Malte,
noch so gering bewertete!

Plötzlich fühlte er es kühl auf sich zudrängen wie einen frostigen
Luftzug. Eine Bewegung neben ihm entstand. Malte sah unwillig zur
Seite. Wer schob sich da heran? Häberle!

»Herr Konsul,« sagte Häberle leise, »ich glaubte, Sie aufsuchen zu
müssen. Ein dringendes Telegramm. Usadel.«

Der Name schnitt wie ein Messer in die Stille. Etwas zerriß.

»Ich komme.«

Vorsichtig schob sich Malte durch die enge Zeile, die ihm Häberle
bahnte, dem Ausgang zu. An der Tür blickte er noch einmal zurück wie
einer, der von einer großen Stunde Abschied nimmt. Wie zärtlich das
Cembalo tönte! Wie andachterfüllt diese Menschen in das ferne Reich
hineinlauschten! In uns sollte es sein? Nein, es war sehr weit, und in
uns war der Unfriede.

Wem gehörten die Augen, die ihn feindlich musterten? Ach, diese Frau
Jobst! Ihre Blicke irrten zur Seite, da sie sich begegnet sahen. Er
hätte sie ansprechen mögen, ihr irgend etwas sagen können, doch sie
wandte sich von ihm ab. Wie hatte Jörg zu ihm gesagt? Du bist kein
Wirklichkeitahner. Das Wort brannte plötzlich in ihm.

Doch, doch! Die Wirklichkeit rief ihn. Usadel. Es strömte etwas von
diesem Namen auf ihn über, das ihn frösteln machte. Hastig schritt er
durch die Straßen seinem Hause zu.

»Sie kommen wohl mit mir, Herr Häberle. Es wäre möglich, daß wir noch
eine Bestimmung treffen.«

Das Licht in Maltes Stube brannte. Da lag die Depesche. Malte streifte
den Mantel ab, ergriff das Papier und öffnete es nicht; er wog es in
der Hand. Dann fühlte er Häberles Blick, und er riß den Heftstreifen
auf.

Er las, setzte sich und las wieder.

»Die Interessen unsers Ringes fordern, daß das Gesetz, das die Partei
Ihres Herrn Bruders zu fördern sucht und für das sie im Volke Stimmung
macht, nicht getätigt wird. Wir erwarten von Ihnen, daß alles
aufgeboten wird, ein Zustandekommen zu verhindern. Sie werden wissen,
was Sie zu tun haben. Ich bitte um schnellsten Bericht, daß Sie Ihren
ganzen Einfluß aufgewendet haben.«

Der Name Usadel stand wie ein drohendes Handzeichen unter diesen
Worten. Malte wandte das kleine Blatt, las noch einmal, dann wurde ihm
Häberles Anwesenheit wieder fühlbar.

»Nichts, was augenblickliche Entscheidung verlangt«, sagte er. »Wir
sprechen noch darüber. Morgen früh verreise ich auf zwei Tage.«

                   *       *       *       *       *

Er war in Berlin und suchte Harros Behausung, in der er noch nie
gewesen war. Sie lag irgendwo im westlichen Stadtteil, der eine Welt
für sich bildete und mit dem alten Berlin eigentlich nichts zu tun
hatte. Endlose Straßenzüge von der Gleichförmigkeit des triebhaft
Gewachsenen, hastende Menschen, Tropfen eines namenlosen Stromes.

Endlich hatte er das Haus an der Grenze eines andern Gemeindewesens
gefunden. Er klomm in das dritte Stockwerk empor und fand Harros Karte
an eine Tür geheftet. Er läutete.

»Ich möchte Herrn Doktor Treß sprechen.«

Er erhielt den Bescheid, daß Harro nicht daheim sei; es sei unbestimmt,
wann er zurückkehre.

»Kann ich ihn nicht erwarten?«

Die Stimme, die ihm aus dem Dunkel eines mit Schränken vollgestopften
Flurs antwortete, belehrte ihn, daß Herr Doktor nicht wünsche, daß
jemand während seiner Abwesenheit sich in seinem Zimmer aufhalte.

»Ich bin der Bruder, Konsul Treß.«

Ein kurzes Zögern, dann wurde er eingelassen.

Das also war Harros Hausung! Malte empfand eine mitleidige Regung.
Konnte jemand sich wohlfühlen in diesen beiden Räumen, mit dem
Blick auf die Straßenzeile, durch die in kurzen Abständen lärmend
die elektrischen Wagen brausten? Zwischen diesen abgenutzten
unpersönlichen Mietmöbeln, die mit den Resten eines schäbigen
Putzes bestanden waren, wo alles die Anzeichen des Ungepflegten,
Unbedachtsamen trug?

Es war nur denkbar, wenn man erwog, daß der Bewohner dieser Räume
ganz seiner Arbeit hingegeben war und den Blick für die Dinge seiner
Umgebung eingebüßt hatte. Druckhefte, Zeitungen aller Bekenntnisse
waren auf Tischen und Ständern gehäuft; daneben waren Papiere und
Stifte zerstreut, um in jedem Augenblick zur Hand zu sein; eine
Schreibmaschine stand gebrauchsfertig da, eine begonnene Schreibarbeit
lag auf der Tischplatte.

Es war allerdings nicht ratsam, die spähenden Augen Unberufener in
diesem Zimmer schweifen zu lassen.

Malte war unruhig umhergegangen, jetzt sah er ein, daß er vielleicht
lange werde warten müssen. Er räumte von einem Stuhl Mappen und Bücher
fort und setzte sich. Er mußte überlegen, wie er Harro sein Ansuchen
nahebringen konnte. Als er in der Bahn das Telegramm zum wer weiß
wievielten Male gelesen, war er sich erst der gebieterischen Form
der Forderung bewußt geworden: es wurde befohlen, und er hatte zu
gehorchen. Gleichzeitig hatte er erkannt, daß Unerhörtes gefordert
wurde. Sein Rechtsempfinden empörte sich für kurze Zeit, dann hatte er
sich gesagt, daß Befehle nicht nur im Heeresverband ausgeführt werden
müßten, sondern in jeder Berufsart. Aber die Schwere seines Auftrags
erschien ihm doch drückend. Es war das beste, Harro unumwunden die
Sachlage zu erklären.

Er hatte längst seinen Rundgang auf dem Muster des verschlissenen
Teppichs wieder aufgenommen, als er des Bruders Stimme draußen vernahm.
Man bereitete ihn auf den Besuch vor; ein ärgerliches Wort Harros fiel,
dann beschwichtigende Gegenrede, und die Tür wurde geöffnet.

»Malte, ist es möglich!«

Die Gegenwart des Bruders hatte plötzlich seine Empfindlichkeit für das
Unzulängliche dieser Umgebung geweckt; er begann mit einigen Griffen
aufzuräumen, gab es aber sofort wieder auf.

»Wir hätten uns wie bisher am dritten Ort treffen sollen«, sagte er.
»Diese Bude ...«

Malte bedeutete ihm, daß es sich um dringende Angelegenheiten handle.
Er bat den erregt umherlaufenden Harro, sich zu setzen, zog seine Mappe
zu sich und erklärte, um was es gehe.

Harro hatte erst zerstreut gelauscht, allmählich wurde er aufmerksam.
Als Malte endete, bat er sich das Telegramm aus.

»Unverschämt«, murmelte er. »Und darauf gehst du überhaupt ein? Kommst
deshalb nach Berlin?«

Malte legte ihm die Bedeutung des Ringes dar, erschöpfte sich in
Ausführungen. Er war erleichtert, als er Harro nachdenklich sah.

Dieser sprang auf und lief im Zimmer umher, hob Gegenstände auf und
legte sie wieder aus der Hand. Endlich blieb er vor Malte stehen.
»Kurz, lieber Malte, ich kann nichts in der Angelegenheit tun, gar
nichts. Und könnte ich es, so würde ich es nicht tun. Es geht gegen
meine Überzeugung. Das Schutzgesetz ist nötig.«

Diese Tonart kannte Malte. Er raffte sich zusammen. »Du weißt, wir sind
mit unserm Vermögen dem Ring angeschlossen«, sagte er. »Vergiß dies
nicht: wenn man die Machthaber reizt, könnten sie uns preisgeben. Was
das in dieser Zeit bedeutet, weißt du.«

Harros Hand strich aufgeregt über seine Stirn. »Malte, was ist
mächtiger, das Gesetz oder das Geld?« fragte er.

»Das Geld«, antwortete Malte, ohne sich zu besinnen.

Harro sah ihn einen Augenblick starr an. »Wie?« sagte er. »Das meinst
du auch? Ja so, in gewissem Sinn: es hat in seinen Fängen Presse und
Gesellschaft, es bemächtigt sich der Technik, der Wissenschaft, der
Kunst. Doch die Partei ...«

»Der Partei nicht?«

»Meinethalben auch der Partei, ja. Aber Ehre und Gewissen stehen über
ihm.«

Malte machte eine vielsagende Gebärde.

»Nein, tausendmal nein! Mögen die Lumpe wie Pilze aufschießen, die
sich kaufen lassen, es gibt noch genug im Volke, denen ihre innerste
Überzeugung etwas gilt. Wir haben einen Krieg verloren, aber Gewissen
und Ehre nicht.«

»Ist es unehrenhaft, wenn wir unser Vermögen zu erhalten und zu retten
trachten?« fragte Malte.

»Erhalte, doch fordere nicht, das zu tun, was dem Charakter zuwider
ist.« Harro erregte sich, seine Stirnadern schwollen an, seine Gebärden
wurden unbeherrscht.

»Erhalte, erhalte! Ihr habt mich bisher allein sorgen lassen und
zufrieden eure Erträge eingesteckt«, erwiderte Malte bitter. »Nun ihr
mir helfen sollt, seid ihr nicht zu finden.«

Plötzlich stand Harro vor ihm, breit, fast drohend. »Ich verstehe dich
jetzt erst ganz«, sagte er dumpf. »Du verlangst, daß ich mich vor euren
Wagen spanne, du bist mit jenen eines Sinnes, nicht wahr? Ja, sind
wir denn noch Brüder? Tragen wir noch den gleichen Namen, den alten
ehrenhaften Namen Treß?«

Malte machte eine abwehrende Bewegung.

»Sage, daß ich falsch verstand, daß ich mich irrte, fürwahr, sonst ...«

»Was heißt das, sonst?«

»Ich würde irre an dir werden, Malte, ich würde glauben müssen, du
habest dich jenen Verderbern mit Leib und Seele verkauft.«

Malte hatte sich erhoben, sie sahen einander in die Augen. Keiner wagte
nachher das, was von einem zum andern sprühte, bei seinem Namen zu
nennen.

»Ich muß jede Verantwortung ablehnen«, sagte Malte. »Denke daran, wenn
du hörst, daß eine alte Verbindung scheiterte.«

Harros Hand tastete am Rock hernieder bis zu der Stelle, wo das Eiserne
Kreuz saß, dann wandte er sich ab. »Mit meinen Werturteilen treibe ich
keine Geschäfte«, sagte er schroff.

Malte ergriff seinen Hut. Die Brüder schieden ohne Gruß voneinander.

Zu Usadel, dachte Malte, als er aus dem Hause trat. Er rief einen
Wagen an. Doch wo wohnte Usadel? Er gab die Straße auf, in der das
Geschäftshaus des Ringes lag; dort war er bereits gewesen.

Man sah ihn erstaunt an, als er begehrte, Herrn Usadel sprechen zu
wollen. Als ob er begehrt hätte, den Erzengel Michael zu sehen! Herr
Usadel, ja, wo war denn der? Man kannte seinen Namen, man arbeitete für
ihn, doch gesehen hatte ihn noch keiner.

»Also, Herr Direktor ...«

Malte besann sich auf den Namen nicht und mußte sich ihn erst sagen
lassen. Er fühlte, daß seine Zerstreutheit ihn nicht empfehle, und
gab sich Haltung. Der Direktor befand sich in einer Beratung; es war
unmöglich, ihn zu rufen.

Nach mehrstündigem Warten wurde Malte vorgelassen. Der Direktor ließ
sich den Mantel anziehen, als er eintrat, und schien gesonnen, den
späten Besucher stehend abzufertigen. Seine verschwommenen Züge waren
noch mehr von Arbeit und Vergnügen heimgesucht als damals, da ihn
Malte im Treßhof gesehen hatte. Seine mürrische Miene wandelte sich
gewohnheitmäßig in glatte Verbindlichkeit, und in übersprudelnder Rede
berichtete er, was heute noch seiner warte.

»Man hat von mir schnellen Bescheid gewünscht, und ich komme, ihn zu
geben«, sagte Malte. »Sie wissen, um was es geht? Also, ich war bei
meinem Bruder: es ist vollkommen aussichtlos, etwas zu erreichen.«

»So, so; schade! Nun, da müssen wir eben andre Wege gehen.«

Der Direktor tat, als wäre der Ausfall dieses Plans ganz unerheblich.
Malte stutzte. Verbarg man so die Bestürzung, oder hatte man ihn zu
einer peinlichen Sendung befohlen, ohne ihre Bedeutung zu würdigen?

Lächelnd stand der feiste Mann vor ihm und erkundigte sich nach andern
Dingen.

»Der Ernst, mit dem das Telegramm abgefaßt schien, hat mich sofort
hierhergetrieben«, sagte Malte. »Sie meinen also, die Sache sei für
mich erledigt?«

»Nun, da Sie nichts erreicht haben«, sagte der Feiste liebenswürdig
lächelnd. »Berichten Sie jedenfalls. Wir sind gewöhnt, mehr als ein
Eisen im Feuer zu halten.«

Malte verließ ihn in dem Bewußtsein, sich unnötigen Befürchtungen
hingegeben zu haben.




                      Die Flucht vor den Flammen


Froh gegrüßte Gäste -- wo traten die jetzt noch in eine Tür? In den
Taschen der Boten, die zweimal täglich von Haus zu Haus gingen,
waren unheilbringende Nachrichten, die die Stirnen der Empfänger
verdüsterten. Scheu folgten die Blicke den Trägern: Was wird er jetzt
bringen? Und öffneten sie die Papiere, so lasen sie, was ihr Herz mit
neuem Kummer füllte.

Häberle blickte mit geheimem Kummer der Post entgegen, seit sein Chef
von der Reise zurückgekehrt war. Malte schien freier denn vorher, doch
Häberle verharrte in schweigendem Mißtrauen. Es kam, wie er's erwartet
hatte.

An dem Samstag vor dem Osterfest trat der Bote gewichtig ein und lud an
Brauns Tisch seine Schreiben ab. Häberle rückte seine Brille zurecht,
tat, als summiere er die Gehaltliste, und spähte doch durch die Spalten
seines Verschlags aus. Es gab ein langes Verhandeln, endlich ging der
Briefträger.

Warum kam Braun nicht? Warum zögerte er die Durchsicht so lange hin?
Endlich war es so weit. Den ersten Brief des Stapels, der Häberle
in die Hände fiel, erkannte er als das versiegelte Schreiben des
Ringes. Er wußte, was darin stand, und fand seine Ahnung bestätigt:
der Ring kündigte dem Hause Treß die Arbeitgemeinschaft. Was nun in
dieser Zeit beginnen! Häberle hatte das Unheil auf sich zuschreiten
sehen. Nicht allein vermöge seines kaufmännischen Scharfblicks. Er
war Mitglied eines astrologischen Vereins, und das Horoskop hatte
Unheil vorausgesagt. Was nun? Er scheute sich, das Zimmer des Chefs zu
betreten, er konnte den Anblick nicht ertragen, wenn er Malte vor dem
Zusammenbruch seiner Hoffnungen sah.

»Herr Häberle!«

»Herr Konsul?«

Es mußte sein. Häberle raffte die Briefe zusammen und trat ein. Er
zwang seinem Gesicht einen sorglosen Ausdruck auf. Malte erschien ganz
unbekümmert. Um so schwieriger!

»Nun, nichts von Bedeutung da?«

Malte wunderte sich, daß Häberle nicht antwortete, sondern sich mit
den Briefen zu schaffen machte. Er blickte ihn an. Warum bebten dem
Mann die Hände? Er sah auf den Kopf des Briefes, den jener vor ihm
ausbreitete, und wußte alles.

Schweigen, Schweigen. Wie erdrückende, atembeklemmende Mauerwände
stiegen die Sekunden auf und wurden lang und lastend. Malte bewegte
sich zuerst. Er nahm das Schreiben und las; nein, er las es nicht, er
suchte nur das Wort Kündigung, das genügte.

Nur den Kopf hochhalten, solange Häberle zugegen ist, dachte er, nur so
lange! Wenn das Schiff leck geht, darf der Führer nie gelten lassen,
daß Gefahr besteht. Und die Brigg geht leck vor dem Sturm. Er strich
sich mit der Hand nicht über die Stirn, er seufzte nicht einmal.

»Nun, Herr Häberle?« sagte er fast heiter.

Häberle nickte einige Male bedächtig. »Haben Sie für diesen Fall
bereits Bestimmungen getroffen, Herr Konsul?«

Malte verneinte; er war voller Zuversicht gewesen, daß der Vertrag
gehalten werde. Wie hatte Harro gesagt? Wir haben einen Krieg verloren,
aber nicht Ehre und Gewissen. Auch nicht Treu und Glauben, das
kostbarste Kaufmannsgut? Doch, doch! Im alten Treßhaus war das Wort
gesprochen worden vom Totschlag des Gewissens, und er, Malte Treß,
hatte dazu geschwiegen.

»In diesem Falle rate ich, das Anerbieten sofortiger Rückerstattung des
Kapitals anzunehmen«, sagte Häberle. »Die Entwertung schreitet weiter
vor, keiner weiß, wie weit wir gleiten.«

Malte war andrer Meinung, doch er hielt sich zurück. Da war die
Kündigung, aber sie stellte weitere Erklärungen in Aussicht. Gleich
nach dem Fest wollte er Usadel aufsuchen. Er mußte ihn sprechen, koste
es, was es wolle. Man würde verhandeln, vielleicht ließe sich alles
schlichten. Dies war doch wohl nur eine Drohung, deren Folgen sich
vermeiden ließen.

Er äußerte etwas Ähnliches.

»Jeder Tag ist äußerst kostbar«, warnte Häberle. »Soll ich nicht schon
heute vorfühlen?«

Ja, das könnte man tun, nur nicht Verbindlichkeiten eingehen.

»Es ist eine große Verantwortlichkeit uns auferlegt«, fuhr Häberle
fort. »Herr Konsul, ich würde raten, mit dem Hause Poppelmann in
Verbindung zu treten und Rat zu erbitten.«

Malte empfand jetzt erst die Weite dieses Geschehens, da Häberle ihn
auf Hamburg verwies. Sollte er dort als Bittender erscheinen, wo
man ihn stets als Gast empfing? Schwiegersöhne als Fordernde waren
unbeliebt, und man wäre im Hause Poppelmann sehr geneigt gewesen,
hinter der Bitte um Rat einen andern Hilferuf zu wittern. Dennoch --
wenn Gefahr in Verzug war, konnte das Richtwort der Poppelmanns: Selbst
ist der Mann! nicht beachtet werden.

Häberle verließ seinen Chef einigermaßen verwundert. Dieser die Tat
über alles Schätzende zögerte. Unterlag er einem Schreck über die
unerwartete Wendung oder war der Kraftstrom am Versiegen? Häberle
versuchte, sich sofort mit befreundeten Großbanken in Verbindung zu
setzen. --

Solange der Tag lärmte, war es in Maltes Innerem ruhig. Doch es kam die
Nacht. Die Schatten huschten dann, die die Lawinen wälzten.

Er saß mit Frauke zu Tisch, und sie redeten von fernliegenden
Geschehnissen wie gewöhnlich, kühl und verbindlich. Mellin.

»Verzeih, du sprachst von Mellin?«

Frauke sah ihn verwundert an und wiederholte etwas gedehnt ihre Frage.

»Ja, er scheint sich in sein Los zu finden. Er ist sehr still, seltsam
verschlossen, aber er verrichtet seine Arbeit ohne Murren. Er dauert
mich, der arme Wicht!«

»Seltsam, wie er das so bald verwinden konnte. Ich ...«

Frauke brach ab und schenkte Tee in ihre Tasse. Sie liebte es nicht,
von ihren Gefühlen zu reden.

Malte spähte zu ihr hinüber. Hätte sie doch gesagt, was sie empfand!
Vielleicht wäre das Wort eine Brücke geworden.

»Es gibt viele, die arm aus dieser Zeit hervorgehen«, sagte er.

Aber Frauke hob nur die Schultern und schwieg. Armut war ihr ein nicht
auszudeutender Begriff.

Er war wieder allein, nachdem er die kühle Hand zur guten Nacht geküßt.
Sollte er sich jetzt dem Dunkel ausliefern? Nimmermehr. Er ging
hinunter und entflammte das Licht über seinem Arbeitplatz. Wieder kam
die Osternacht herauf, und in sein Sinnen stieg die Erinnerung an die
Festrüste des vorigen Jahres. Da hatte er auch hier gesessen und auf
die Schritte vor den Fenstern gelauscht. Damals war er auf der Schwelle
fremder Not gestanden, hatte in die dunkle Kammer geblickt; heute ...
War da eine Beziehung? Es gab so rätselhafte Zusammenhänge in diesem
wunderlichen Leben.

Malte fühlte, wie seine Stirn feucht wurde. Er stand auf und trat an
sein Bücherbord. Ein zierliches Bändchen blieb in seiner Hand. Faust.
Ach ja, Jörg hatte ihm das Buch zur Weihnacht verehrt, und er hatte es
unbedenklich zwischen Handelsrecht und Warenkunde gepflanzt. Nun, warum
nicht Faust!

Er schlug auf und las:

      O sähst du, voller Mondenschein,
      Zum letztenmal auf meine Pein.

Weiter, weiter bis zur Erlösung. Gewißheit einem neuen Bunde? Die Träne
quillt, die Erde hat mich wieder? Malte schloß das Buch, die Erde hatte
ihn noch gar nicht losgelassen, sie sog sich an ihm fest. Wie fern das
klang, wie unendlich fern!

Es galt jetzt, sich mit den irdischen Hemmungen abzufinden, ruhig und
klar abzuwägen, denn in ihm klaffte ein schrecklicher Zwiespalt: Weg
zur Rechten und Weg zur Linken, aber wo lag das Heil? War das schon ein
Zerbröckeln der Kraft, daß er zögerte rechts oder links?

Ach ja, am Bühnenhelden tadelte man, wenn er nicht wußte, was er
sollte: Schwächling. Und doch war das Heldentum dieser Erde nichts als
ein Ringen mit Zweifeln, ein Vergehen in qualvoller Ungewißheit.

Ach ja, jene, die tagsüber da draußen über den Zahlen saßen, neideten
ihm, das wußte er, sein Herrendasein. Wenn sie wüßten, welche gezähnten
Mächte an ihm fraßen, während sie sich, aller Verantwortung bar,
vergnügten oder zufrieden auf ihr Lager streckten!

Ein Mensch, ein Mensch, gegen den er sich hätte aussprechen können!
Freunde hatte er nicht, die ihm durch dick und dünn gefolgt wären; er
hatte nur sogenannte Freunde. Und Verwandte, die ihn und seine Lage
verstanden hätten? Harro, Onkel Rolf, Klaus etwa? Jörg; ja, der trug
etwas vom Wikingerblut in sich, den Tropfen des sich durchsetzenden
Trotzes. Aber das war eine andre Welt.

Plötzlich stand er auf, herrisch schob er das Buch zurück: seine Frau;
wozu hatte er eine Frau? Was nützte es, wenn zwei nebeneinander und
nicht miteinander lebten! Sie wollte er fragen, sie mußte ihm Rede
stehen. Er löschte das Licht und begab sich nach oben.

Leise betrat er Fraukes Schlafzimmer, in das der Mond schien. Sie
erwachte nicht. Sie lag da, die Decke bis unter das Kinn heraufgezogen;
eine Locke hatte sich verschoben und krauste sich wie ein Fragezeichen
auf ihrer Stirn. Ihre rechte Hand, die den Ehereif trug, war unter
der Decke hervorgeglitten, und durch die feinen Ringe am Gelenk ging
die leise Bewegung des tiefen Atmens. In dem Gelöstsein des Schlafes
erschien sie verändert, eine fast kindliche Weichheit lag versöhnlich
um Mund und Braue.

Malte zog einen Stuhl herbei und setzte sich, um sie zu betrachten.
Das war die Frauke, die er als erste mit dem Wunsch, sie zu besitzen,
angeblickt hatte, damals in Harvestehude, beim Reifenspiel auf glatt
geschorener Rasenfläche, zwischen Agaven und Lorbeerkübeln.

Nein, Erwägung und Stolz hatten nicht vorangestanden, die waren erst
später zu Wort gekommen. Als erstes war der Wink gestanden, der sich an
die Tiefen der Seele richtete.

Wie wunderbar ging das Spiel der Mächte, die Mann und Weib
aneinanderbanden! Warum gerade diese ihm wurde, ihm, der im tiefsten
der Frau so sehr bedurfte! Warum diese, um die immer ein leises, nein,
ein spürbares Abwehren und deutliches Versagen war?

Plötzlich erwachte Frauke. Er hatte nicht geseufzt, nur seine Nähe
konnte sie aufgestört haben.

Sie hob den Kopf und sah ihn an, dann entzündete sie die Lampe. Im
Strom künstlicher Helle zerfloß auf ihren Zügen alles, was in Malte die
rührenden Gedanken geweckt hatte.

»Du?« fragte sie.

»Erschrick nicht«, sagte er gedämpft.

»Ist etwas geschehen?«

Es klang so hilflos. Er rückte seinen Stuhl näher und nahm ihre Hand,
die die Nestwärme eines jungen Vogels hatte.

»Nichts Besonderes«, erwiderte er. »Ich saß lange drunten, konnte
wieder nicht schlafen ...«

»Ein Pulver«, sagte sie.

Malte schüttelte den Kopf. »Das hilft ja nicht, Frauke. Ich habe
Sorgen, und keiner ist da, dem ich mich mitteilen kann. Da trieb es
mich herauf, ich wollte dir nahe sein.«

Sie blickte ihn forschend an. Die Gefilde, aus denen sie kam, waren so
weit von allem Zeitlichen.

»Ist dir nicht wohl?« fragte sie.

»Wohl? Nein, Frauke. Doch der Grund dafür, der ist es.«

Er war gekommen, sein Recht zu fordern, zu verlangen, daß sie ihn
anhöre. Nun beherrschte ihn wieder die alte Verzagtheit, die nichts von
der Gemeinsamkeit in Freud' und Leid wußte, der Zwang ihrer Nähe.

»Welches ist der Grund?«

Doch kaum hatte er zu sprechen begonnen, da warf sie sich unmutig
zurück und entzog ihm die Hand. »Ist es nötig, mich deswegen weit nach
Mitternacht zu wecken? Ist der Tag nicht lang genug dafür?«

»Frauke, ich brauche dich gerade jetzt.«

Warum dieser bittende Ton? Sie war gänzlich verwandelt, auch in dieser
Stunde die beherrschte Frauke Poppelmann. Sie zog die Decke hüllend
wieder bis an das Kinn. »Bitte, ich bin müde!«

Malte stand auf, er schob den Stuhl wieder auf den Fleck, da er
gestanden. »Ich glaubte bei dir zu finden, was ich nirgendwo finden
kann«, sagte er bitter.

Sie antwortete nicht; er zögerte noch ein paar Sekunden. Da streckte
sie die Hand nach der Lampe aus, als wolle sie diese verlöschen. Malte
ging.

                   *       *       *       *       *

Bald nach dem Fest reiste Malte nach Hamburg. Als er zwei Tage später
heimkehrte, wußte er, daß diese Bemühung umsonst gewesen war: er war
wieder der freundlich bewillkommnete Gast gewesen. Das, was er gewollt,
hatte er nicht erreicht.

Hinter der Wohlerzogenheit der Poppelmanns stand immer das behende
Mißtrauen der Goldwäscher oder Jäger des fernen Westens, die in reger
Bedachtsamkeit darüber wachen, daß keiner in ihre Spuren tritt, die
aber auch ebenso ängstlich jede Teilnahme an der Fährte des andern
verdecken.

Der alte Josias mit den weißen Bartstreifen auf den Wangen, dem
glattrasierten, schmeckenden Mund und den eigen gewölbten Brauen, die
er oft so verweisend in die Höhe zog, hatte ihn natürlich angehört.
In seiner jetzt etwas vorgeneigten Haltung hatte er Maltes Bericht
gelauscht. Doch seine Antworten waren spärlich wie die Weisheitsprüche
eines morgenländischen Heiligen gekommen und fast erzwungen worden.

Ja, die Lage war fatal, das mußte zugegeben werden. Man mußte zunächst
verhandeln, unbedingt. -- Ob er Usadel kenne? -- Nun ja, wie man eben
solche Leute kennt; Verbindungen mit ihm bestanden nicht.

Aber wenn der Ring ablehnte! Würde das Haus Poppelmann bei der
Verbindung mit andern Großbanken behilflich sein?

Die Brauen hatten sich strafend gehoben, und die Hand hatte abgewinkt.
In dieser Zeit! Nein, nein!

Malte hatte behutsam darauf hingewiesen, daß Frauke beteiligt sei, daß
ein Fehlschlag ...

O, das wäre Fraukes Angelegenheit, aber -- eine bedeutungschwere Pause
hatte sich eingeschoben -- es war nicht gut, Frauke zu schädigen. Sie
hatte besondere Ansichten.

Er verstand die Drohung, die hinter dem scherzhaften Wort kauerte.

So war die Unterredung mit dem alten Poppelmann gewesen, und die
bedächtige Frage, wann Malte wieder abzureisen gedenke, hatte den
Schlußstrich gezogen. Er hatte es noch bei den Brüdern versucht;
es hatte ihn etwas gekostet. Denn diese Männer waren trotz ihrer
alttestamentlichen Vornamen ganz jetztzeitige Menschen, mit Elbwasser
getauft, von den erstarrten Überlieferungen der Familie gesteift, ohne
Bewußtsein, verkrustet in gärender Neuzeit zu stehen, aber ausgerüstet
mit der Witterung für erstklassige und zweitklassige Wesen. Zu welchen
sie sich zählten, drückten sie nie in Worten aus.

Das Gespräch mit ihnen war noch fruchtloser verlaufen. Malte reiste
ohne Hoffnung ab.

Unter ihm murmelten einförmig die Räder. Was summten sie nur? Dann
fielen ihm die Worte zu der Weise ein, alte törichte Worte:

      Verlassen, verlassen, verlassen bin i
      Wie der Stein auf der Straßen ...

Die Worte wurde er nicht wieder los, bis er in den Bahnhof der
Heimatstadt einfuhr.

Frauke blickte ihn an, als er eintrat, fragte aber nicht. Da schwieg
auch er. Die pflichtgemäßen Grüße waren bald ausgerichtet. Dann einige
Besprechungen mit Häberle. Er erfuhr, daß jede Annäherung mißglückt
war. Also nach Berlin!

Malte graute vor dem Weg, den er beschreiten wollte, dem Weg der
Demütigungen. Ihn allein gehen müssen, das war das Fürchterliche.

An dem Abend vor seiner Abreise ging er noch in den Treßhof, um aus
dem Geheimschrank einige Akten zu nehmen. In Güldenfeys Zimmer brannte
Licht, er stieg hinauf.

Güldenfey war allein, sie war oft seit Marfas Tod allein. Ein
flüchtiger Gedanke streifte Malte, daß es nicht recht sei, das Kind
sich selbst zu überlassen. Ose war freilich da, aber ... Der Treßhof
war so still geworden; wie ein totes Gewölbe umschlossen seine alten
Wände dies junge Leben.

»Ist es dir nicht zuweilen unerträglich, hier zu hausen?« fragte er sie.

Güldenfey sah ihn verwundert an. »Warum, Malte?« fragte sie. »Es ist ja
unsre Heimat.«

»Aber dieses Alleinsein!« Er stand auf und wanderte planlos umher. »Und
wenn es zehnmal die Heimat ist, wer in ihr vereinsamt, müßte der nicht
leiden?«

Er hielt ihr sein Gesicht wie ein geöffnetes Buch entgegen, und sie las
darin, las, daß seine Worte gar nicht ihr galten. »Malte,« sagte sie,
»willst du ...«

Aber er unterbrach sie, fing an, von anderm zu sprechen, von Berlin,
von seiner Reise dorthin. Dann fragte er, ob sie wisse, wo Harro seinen
Ferienaufenthalt genommen habe.

»Wolltest du dich mit Harro treffen?« fragte sie.

Malte zuckte die Schultern. »Der ist mir auch nicht freundlich
gesonnen; ich werde alle Gänge allein erledigen müssen.« Er grub die
Zähne in die Lippe, dann schüttelte ihn etwas wie ein Frost. Er riß
sich zusammen, doch er fühlte, daß sich der Zwang in ihm löste und die
Maske sank. Ein weinerlicher Zug veränderte sein strenges Gesicht.

Plötzlich stand Güldenfey an seiner Seite, ihre Arme legten sich um
seinen Hals, und nun fiel sein Gesicht schwer auf ihre Schulter.
»Armer, du Armer!« sagte sie. Ihre Hände strichen an ihm nieder, der
wie ein Knabe vor ihr stand. »Ich gehe mit dir, ich begleite dich.
Nein, sag' nichts dawider. Ich tu' es ganz gewiß, keiner hält mich
davon ab. Morgen? Natürlich morgen. Ich bin bereit. Wir Treß müssen
doch zusammenstehen.«

Malte mußte sich fügen.

                   *       *       *       *       *

Sie waren in der Hauptstadt Deutschlands. Güldenfey ließ es sich nicht
nehmen, Malte auf seinen Gängen zu begleiten, und er, der Älteste des
Hauses, der Vaterstelle vertrat, ließ es sich gefallen. Wer konnte
Güldenfey widerstehen, wenn sie bat! Und sie bat so beweglich.

Ehemals -- nein, da hätte Malte sich dagegen ernstlich verwahrt. Doch
er war ein andrer geworden: weich, nachgiebig und ein wenig hilflos. Er
war in der Verfassung, angesichts derer Frauen den ganzen Segen ihrer
erbarmenden Mütterlichkeit ausströmen dürfen, ohne zu verletzen.

»Güldenfey, ich habe wahrscheinlich während des ganzen Vormittags
auf der Bank zu tun; es ist sehr anstrengend, die Luft, das Warten.
Möchtest du nicht wenigstens heute hierbleiben?«

Sie hielt ihren Hut schon in der Hand und blickte ihn lächelnd an.
»Vergißt du unsern Pakt?« fragte sie.

Malte schwieg und ließ sie gewähren. Es war ihm ja lieb, wenn er sie
an seiner Seite schreiten sah, es flößte ihm Zuversicht ein, wenn ihm
während der zermürbenden Aussprache mit irgendeinem Verantwortlichen
hinter gepolsterten Türen der Gedanke kam: Draußen sitzt Güldenfey,
ihre Gedanken gehen behütend und sorgend auf dich.

Ach, dieses Warten in den großen Sälen der Banken, durch die unablässig
der Strom einer unbegreiflichen Geschäftigkeit brauste! Diese Flut von
Angst und Erwartung, die an den Schaltern vorüberrann, dieses Wühlen
in Papieren und Zahlen! Sonnenlicht drang nicht in diese Räume, deren
Decken marmorverkleidete Säulen stützten, und doch waren sie von
zahllosen elektrischen Glühpunkten erleuchtet. Wenn man eintrat, war
es, als tauche man unter die Erde, in das Getriebe eines Bergwerkes,
wo ungeahnte Metalle in den Basalt eingeschlossen ruhten, und tausend
Hände gruben nach ihm, schürften, schleiften, hämmerten mit verzerrten
Mündern und schweißnassen Stirnen.

Sie mußten früh altern, diese Schaffer, die schon in ihrer Jugend die
herbstliche Welke auf den Wangen trugen. Nicht durch die suchende
Arbeit allein, mehr noch durch das rastlose Bemühen, ohne Mut und
Aussicht dem Widersinn Frondienst zu leisten.

Endlich kam Malte.

»Bist du zufrieden, lieber Malte?«

Er zwang sich ein Lächeln ab und sprach ein paar nichtssagende Worte.
Güldenfey unterließ es bald, ihn zu fragen. Warum ihn nötigen,
seine Enttäuschungen zu verstecken? Von nun an begann sie, heiter
zu erzählen. Aber auch das sollte mit Vorsicht geübt sein, denn er
brauchte Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Nur nicht stören, denn dann
schickte er sie fort! --

»Kind, ich muß noch einen Besuch in einem Privathause erledigen und
kann dich nicht mitnehmen. Du erwartest mich zu Hause.« Malte hob schon
den Arm, um einen Wagen heranzuwinken.

»Darf ich nicht die hübschen Dinge in diesen Schaufenstern betrachten?«
fragte Güldenfey.

Er sah sie zweifelnd an, und sie nickte ihm, ihre Worte bestätigend,
zu. Als ob sie dem Tand viel nachfragte! Doch er gab nach. Es war so
trostreich, zu wissen, daß sie ihn erwartete.

»Auf der Straße und allein? Wenn ich mir das hätte vor einem Jahr noch
zutrauen sollen«, sagte er.

»Wer sollte mir etwas tun!« sagte sie strahlend.

Nein, nach den bunten Dingen der Läden sah sie nicht, nur nach den
Menschen, die an ihr vorüberfluteten. Ihr Blick suchte auf den
Angesichtern nach den Wunden, die unter ihnen bluteten, nach der
tiefen Wunde der Heimatlosigkeit, die alle trugen, deren Wurzeln aus
dem Mutterboden gerissen waren, und die wie verschleppte Blumen in dem
Zierglas Großstadt siechten.

Der Abend brach herein, die Fenster wurden erhellt. Funkelnde
Mädchen, deren Schritten ein aufdringlicher Duft folgte, strichen an
ihr vorüber; ergraute Männer, die wie zerwetzte Steine rastlos sich
drehender Mühlen erschienen; Gebückte mit erloschenen Augen, von
Not und Mühsal völlig ausgehöhlt. Hier im künstlichen Licht dieser
unbegreiflichen Stadt stieg das Leprosentum der Zeit schamlos und
unverhüllt empor.

Was waren diese Straßen und Höfe und Häuserflure? Nichts als ein großes
Nachtasyl, das ausströmte und aufnahm, das verbrauchte und zerbrach,
in dem man großsprecherisch von Fortschritt redete und die Kultur
pries, die Kultur des kalten Metalls und des durchsichtigen Glases.
Der gewaltige Sturm, der durch die Zeit fuhr, fegte durch diese Gassen
nicht, und keiner verstand ihn.

Das Tier, dachte Güldenfey. Die Starre, die Lebensleere! Sie empfand
plötzlich Furcht. Nicht vor den Menschen, deren Blicke sie musterten
oder übersahen, nein, vor dem unaussprechlichen Ahnungsschweren, das
sich wie ein Wüstenbrand durch die Welt wälzte, vor dessen Flammen die
Menschen flüchteten, und denen sie doch nicht entrannen. War Malte,
waren sie alle diesem fressenden Feuer auch verfallen?

Für den Morgen des nächsten Tages war eine Ratssitzung angesetzt, an
der Malte teilnehmen mußte. Güldenfey blieb ungern allein, aber seinem
Vorschlag, in dem nahen Tiergarten frische Luft zu genießen, konnte sie
nicht folgen. Um Mittag wollte Malte zurück sein. Sie beschloß, ihn auf
ihrem Gastzimmer zu erwarten.

Ihr Fenster ließ sie auf den weiten Platz blicken, über den vom Morgen
bis in den Abend der hastige Fluß der Fußgänger und Wagen rann. Der
gegenüberliegende Bahnhof, auf dem die Vorortzüge mündeten, füllte zu
gewissen Zeiten den Platz für Minuten mit zuströmenden Menschen, die
außerhalb der engen Mauern ihren Wohnsitz hatten.

Hastig und erregt kamen sie an, aufgepeitscht von der Hetze, den
nächsten Wagen, ihre Wirkungstätte zu erreichen. Der Ruch frischer
Luft, den sie noch in ihren Kleidern mit sich trugen, verrann schnell
im Dunst lärmender Straßen, und die Unruhe ihrer Fahrten verdrängte die
Stille, die eine Nacht in ihnen aufgespeichert hatte.

Ach, wie schwer und schlecht lebten sie alle in dieser versteinten
Welt! Diese Betten in den dunklen Zimmern! Diese Tische voll Hast ohne
festliches Genüge, von denen man aß, um nur satt zu werden.

Und draußen ging der Frühling, und seine Winde spielten im Gezweig der
weißen Birken und trugen den Weihrauch der Föhren und die Würze junger
Beete jedem, der kam, entgegen.

Güldenfey erschrak, als eindringlich an die Tür gepocht wurde: ein
Bediensteter rief sie heraus. Als sie in den Gang trat, sah sie, wie
Malte bleich und verstört die Treppe emporgeleitet wurde.

Er lächelte, da sie ihn in ihre Arme schloß. Es war nichts, gewiß
nichts. Die Dumpfheit des Beratungzimmers. Er hatte es verlassen
müssen. Auf der Straße waren ihm die Sinne geschwunden, ein Wagen hatte
ihn hergebracht. Er war bemüht, ihren Schreck zu mildern, und ließ sich
auf das Ruhebett strecken.

Er werde sich gehörig ausruhen, mit Güldenfey am Nachmittag unter die
grünenden Bäume des Tiergartens gehen. Morgen müsse er ohnehin auf
einen Tag verreisen. Nein, Güldenfey solle sich nicht sorgen: keine
geschäftliche Reise! Er wolle einen Bekannten zu treffen suchen,
der unweit wohnte; die Abwechslung komme ihm eben recht nach diesen
verzehrenden Tagen.

Güldenfey hörte ihm zu, während sie neben dem Ruhebett saß und kühlende
Umschläge auf seiner Stirn wechselte. Das Erschrecken über Maltes
Aussehen war ihr bis ins Innerste gedrungen. Wie er verändert war, als
er die Treppe emporwankte! Sie haßte diese Stadt, die alles aus Maß und
Gleichgewicht warf und an den Wurzeln der Starken zerrte.

»Ob wohl Harro zu erreichen wäre?«

»Laß es uns erwägen, Malte.«

Und während sie berieten, kam Güldenfey eine Gewißheit. Warum tauchte
diese Frage nach Harro immer wieder auf? Was wollte Malte von ihm, der
ihn doch nicht verstand? Sie begriff, daß es Malte nicht um Harro zu
tun sei, er wollte eine starke Kraft an seiner Seite haben. Sie selbst?
Ach, die gute Erziehung steckte ihm zu tief im Blut, als daß er nur
einmal vergessen hätte, Rücksicht auf sie zu nehmen.

Scheinbar ging sie auf seinen Vorschlag ein: morgen, wenn sie allein
war, wollte sie die Verbindung mit Harro herzustellen suchen. Sie
war entschlossen, es nicht zu tun. Harro aus dem Ferienaufenthalt
herbeirufen, ihn unwirsch oder laut mit Besserungvorschlägen auf Malte
eindringen sehen? Das hätte keinem genützt und allen weh getan.

Als sie am Abend allein war, überzählte sie die Barschaft, die sie
für alle Fälle zu sich gesteckt hatte. Es würde reichen. Ihr Plan war
gefaßt. --

Malte war abgereist; scheinbar erfrischt. Doch den Zug, der sich um
seinen Mund eingeschliffen, diesen drohenden unheimlichen Zug der
Starre, den trug er mit sich. Güldenfeys Herz klopfte hörbar, als er
sich grüßend nach ihr umwandte. Dann kehrte sie hastig in ihr Zimmer
zurück, raffte ein paar Dinge zusammen und verließ das Haus.

Nach dem Bahnhof! Sie wollte zu Jörg, ihn herbeirufen. In Ungewißheit
harren, ober käme, einen Tag allein in dieser gärenden Stadt zubringen,
das hätte sie nicht vermocht. Sie mußte handeln.

Wie war der Tag zum Verschmachten heiß, wie unruhig ging das Gespräch
der Reisenden! Liefen die Räder nicht schneller? Zuweilen war es, als
sogen sie sich an den Schienen fest.

Wälder, in denen Stürme gewütet, Flüsse, auf denen sich müde
Deutschlands Schiffahrt wieder regte, Städte von ehrwürdigem Klang.
Endlich Jörgs neue Heimat. Es war Abend geworden.

Güldenfey eilte durch die unbekannten Straßen, ging an dem alten
Rathause vorüber, vor dem das Standbild des Großen Friedrich stand, den
gezückten Degen in der Hand, gebieterisch in das Feld der Tat weisend.
Ja, du!! ... Endlich war die Wohnung erreicht.

Jörg war nicht daheim. Eine freundliche Wirtsfrau, die in Güldenfey
sofort die Schwester erkannte, tröstete sie: der Herr Treß werde bald
kommen, er befinde sich noch in einer Probe. Ob sie etwa Tee ...

Güldenfey dankte. Nein, nur nicht warten! In drei Stunden fuhr ihr Zug.
Sie ließ sich das Haus beschreiben, in dem er sein mußte, und ging.
Es war bald gefunden, sie vernahm schon von weitem das Spiel eines
Klaviers und wußte, das konnte nur er sein.

Sie öffnete leise eine Tür und trat auf die Schwelle eines mittelgroßen
Raumes. Im Hintergrund am Flügel saß Jörg, um ihn eine Schar Junger,
etwa zehn. Er brach nach einigen Takten das Spiel ab und trat vor seine
Schüler. »So etwa also sollte es klingen. Doch ich sage euch: die
glänzendste Passage ist nicht halb soviel wert wie der gute Gedanke
während des Spiels. Glaubt's oder glaubt's nicht: das Edle wirkt
ansteckend wie das Böse. Darum, treibt ihr Kunst um der Menge willen,
seid ihr tönendes Erz, und treibt ihr Kunst um der Kunst willen, seid
ihr klingende Schelle. Euch selbst muß sie im tiefsten veredelt haben,
bevor ihr wagt, vor andre zu treten ...«

Er hielt plötzlich inne und beugte den Kopf vor, seine Blicke bohrten
sich in das Halbdunkel, das um die Tür war. Güldenfey trat einen
Schritt vor, und jetzt war er bei ihr.

»Jörg,« sagte sie, als er ihre Hände hielt, »kannst du in einigen
Stunden mit mir fahren?«

»Gewiß, Güldenfey,« murmelte er zögernd, und dann sicher: »Natürlich,
Güldenfey!« Er sprach einige Worte zu seinen Leuten, gab einem Älteren
eine Weisung, dann nahm er ihren Arm.

»Nach Berlin, Jörg«, sagte sie. »Ich bin mit Malte dort.« --

Sie fuhren durch eine warme Nacht, die von Düften des blühenden
Faulbaumes getränkt war, nordwärts. Am Morgen waren sie am Ziel.

                   *       *       *       *       *

Was war über Nacht aus Jörg geworden? Malte staunte. Wie schnell
erfaßte Jörg, um was es gehe, wie findsam sah er neue Wege, wie
unermüdlich stand er dem Bruder zur Seite! Das verwirrende Treiben auf
den Banken beirrte ihn nicht, die vorsichtig ablehnenden Ausflüchte
der kühlen Geschäftsleute, die stets einen luftleeren Raum zwischen
sich und den andern legen, schreckten ihn nicht. Er ging unbeirrt mit
zupackenden Worten auf sein Ziel los. Es war, als hätte er seit langem
die Taktik der Krebsgänger studiert.

»Sie sind Kaufmann?«

»Nein, Musikbeflissener.«

Der feiste Direktor mit den Bartflecken auf der Oberlippe staunte.

Jörg winkte beruhigend: »Trotzdem altes Kaufherrenblut. Vielleicht geht
mir auch die Befangenheit Ihrer Zünftigen ab. Jawohl, Befangenheit
sagte ich. Denn trotz Ihrer künstlichen Ruhe fiebert doch in Ihnen
allen die Beflissenheit vor dem, der auf einer höheren Steuerstufe
steht.«

Malte machte eine unruhige Bewegung. »Verzeihen Sie die Abschweifung,
Herr Direktor. Ich glaube, wir kommen nicht zum Ziel. Mein Bruder
bittet, Herrn Usadel sprechen zu dürfen.«

»Herr Usadel ist nicht zu sprechen«, sagte der Feiste streng.

»Man könnte es versuchen. Haben Sie die Güte, uns seine Wohnung zu
nennen?«

»In seiner Wohnung empfängt Herr Usadel nicht. Mir ist verboten, die
Adresse aufzugeben.«

»Doch er ist in Berlin?«

Der Feiste hob die Schultern und geleitete die Herren höflich, aber
spöttisch lächelnd zur Tür.

»Es ist doch vergeblich, Jörg«, sagte Malte. »Morgen noch ein Versuch,
dann fahre ich nach Hause.«

Ja, es war vergeblich, das erkannte Jörg. Er konnte nicht helfen, und
diese erfolglose Hetze in der Zone des Geldwesens, in der sich alle
Gifte der Zeit ausschwärten, erschöpfte Maltes Kraft bis zur Neige.
Dennoch -- diesen Usadel hätte er gern aufgesucht, nicht um etwas zu
erreichen -- das war Maltes kranke Idee --, nur um ihn zu studieren.

Am Abend dieses Tages schon wußte er, wo Usadel wohnte. Das Haus lag
in nächster Nähe, in einer jener ehemals stillen Straßen, die zum
Tiergarten führen, in die aber jetzt der sich stauende Verkehr der
Hauptstraße seine Überfülle abwälzt.

Jörg ging mit Güldenfey am folgenden Morgen vorüber: es war ein kleiner
Palast, dessen blankpolierte Tür und verhüllte Fenster wie die Häuser
der Gewalthaber in der Renaissancezeit eine sehr entschiedene Ablehnung
gegen das Öffentliche der Straße bekundeten.

»Hier wohnt er, der Maltes Unstern ist«, sagte Jörg.

»Usadel?« fragte Güldenfey. »Aber Malte sucht ihn doch seit Tagen!«

»Vielleicht ist es gut, er findet ihn nicht. Wir aber wollen versuchen,
ob wir zu ihm dringen können.«

»O Jörg!« sagte Güldenfey erschreckt, da er stehen blieb.

»Du darfst dich nicht vor diesem Menschen fürchten«, sagte Jörg und zog
den Glockenknopf. »Ich will reden, aber deine Nähe sänftigt.«

Er mußte noch häufig das Glockenzeichen geben, bis von innen sich
Schritte näherten. Eine Stimme fragte, wer da sei.

»Öffnen Sie!« entgegnete Jörg.

Wer da und was das Begehr sei.

»Machen Sie auf und Sie werden es hören.«

Eine Pause unschlüssigen Wartens, dann wurde umständlich ein dreifaches
Schloß geöffnet, und eine schmale Spalte klaffte, in der das
glattrasierte Gesicht eines Bedienten erschien.

»Wir wollen zu Herrn Usadel.«

»Herr Usadel ist nicht zu sprechen.«

»Er wird zu sprechen sein.« Jörgs Arm preßte die Tür, die sich schon
wieder schließen wollte, zurück. »Erlauben Sie,« sagte er, »man darf
eine Dame nicht auf der Straße warten lassen. Güldenfey, bitte!«

Sie betraten den Hausflur, der wohl als Warteraum gedacht war. Man
blickte durch hohe Fenster auf den Hof und auf alte Bäume eines
dahinterliegenden Gartens. Jörg überhörte geflissentlich die Lüge des
hochmütig, gekränkt Dreinblickenden, Herr Usadel sei gar nicht anwesend.

»Wollen Sie melden: Herr Treß. Fräulein Treß wird mich erwarten. Oder
...« Er bot Güldenfey den Arm und schritt an dem Bedienten vorüber den
Stufen zu, die zu den Gemächern führten.

Geschmeidig wie ein Panther glitt jener voraus und verschwand hinter
einer halbgeöffneten Tür. Man hörte ihn in dem zweiten Zimmer, in das
man blicken konnte, leise, doch erregt sprechen. Eine Stimme antwortete
ihm, dann erschien er in der Tür und machte eine Handbewegung. Jörg
trat ein; Güldenfey blieb in dem ersten Zimmer zurück.

Hinter einem breiten Tisch saß ein Mann in einem Anzug aus
ungefärbter Seide, Morgenschuhe an den Füßen; die massigen Hände
lagen ineinandergelegt auf einem ausgebreiteten Briefe. Er sah nicht
überrascht, sondern völlig gleichmütig auf den Eintretenden.

Jörg nannte seinen Namen und fragte, ob er Herrn Usadel sprechen dürfe.
Eine kaum merkliche Bewegung, die nicht verneinend, nicht zustimmend
gedeutet werden konnte, antwortete. Jörg bat um die Erlaubnis, sich
setzen zu dürfen. Wieder die unbestimmbare Bewegung.

»Ich bin im Namen meines Bruders Malte hier, er hat Sie nicht erreichen
können. Er ist durch die Kündigung des Vertragsverhältnisses in
Verlegenheit gekommen und bittet, diese rückgängig zu machen.«

Während Jörg sprach, betrachtete er Usadel. Das also war der
Allmächtige, der die Geschicke der Welt mit einigen andern gemeinsam
lenkte. Welche Gedanken mochten hinter den verdeckten Augen sich
kreuzen? Unbeweglich wie eine Amphibie lauschte er. Oder hörte er gar
nicht? Doch, er hatte verstanden!

»Sie sind nicht an die richtige Stelle gegangen«, erwiderte er, als
Jörg innehielt. »Ich habe mit der Sache nichts zu schaffen.«

»Aber mit meinem Bruder schlossen Sie doch den Vertrag.«

Usadel bewegte bedauernd die Hand. »Unser Ring ist sehr umfassend.«

Jörg machte eine Bewegung, die Augenlider schnellten hoch. Trug der
Mensch dort eine Waffe bei sich?

»Sie haben aber Einfluß, den Sie ausüben könnten.«

»Bedaure, nein.«

»Sie ~wollen~ ihn nicht wahrnehmen.«

Die fleischigen Hände machten wieder die nichtssagende Bewegung; dabei
erblickte Jörg die abgestumpften Daumen des Mannes, diese kurzen
kralligen Glieder, die Kennzeichen versklavter Abstammung oder Reste
tierischen Herkommens sind. Plötzlich erhellte sich ihm die Erscheinung
dieses in träger, abwehrender Ruhe verharrenden Menschen: sein brutales
Kinn, die Unbeweglichkeit dieses verdeckten faltigen Gesichts. Usadel,
was besagte dieser unwirkliche Name? Welches Stammes Siegel trug diese
Stirn? Der Mann war auf keine Formel zu bringen; wie alle großen
Menschheitverderber war er eine fleischgewordene Idee des Bösen, ein
vermenschlichter Fluch.

»Sind Sie fertig, Herr Treß?« fragte er. »Ich habe wenig Zeit.«

»Ich bin allerdings am Ende«, erwiderte Jörg. »Könnte ich Ihnen
menschliche Empfindungen zutrauen, so würde ich Sie daran erinnern,
daß Ihr fluchwürdiges Gewerbe, das Menschen wie die Blätter eines
Kartenspiels benützt und sie nach dem Gebrauch auf den Kehricht wirft,
Ihnen den wohlverdienten Lohn einmal heimzahlen wird. Aber Sie stehen
unter unserm Maß, Sie gehören nicht zu uns.«

Er sah, wie eine seltsame Bewegung den Mund Usadels verzog. Dann wandte
er sich grußlos und ging.

Im Vorzimmer stand lauernd, wie ein Raubtier zum Sprung bereit, der
Diener.

»Komm, Güldenfey!« sagte Jörg.

Auf der Straße klammerte sich Güldenfey an seinen Arm. »Jörg, ich habe
ihn unausgesetzt betrachtet, er schien mir so bekannt. Sahst du ihn
schon einmal? Der Mann deiner Zeichnung, der auf dem Häuserturm sitzt
und angebetet wird, das ist er!«

»Du hast ihn erkannt«, sagte Jörg. »Ja, ich habe ihn schon erblickt,
damals als ich verwundet im Felde lag. Der mir den furchtbaren Tausch
anbot, das war er!«




                        Der fliegende Holländer


Prasselnd fuhr der Sturm durch die Gassen und Märkte der alten Stadt.
Sie hatten manchen Sturmtag erlebt, die alten wehrhaften Türme, die als
Wahrzeichen gegen Land und See blickten. Aber wenn er wie an diesem
späten Novembertag schneidend kalt aus Nordost blies, die Dohlen von
den Schalluken verjagte und die Möwen zu Land trieb, dann fingen sie an
zu klagen.

Ssssiii -- jüh! Die Sturmflut kommt. In den fünffachen Böden der alten
Giebelhäuser polterte, knackte und stöhnte es, als seien die Geister
aller derer, die während sechshundert Jahren hier gehaust, erwacht und
träten einen Rundgang an. Fenster bogen sich unter dem Anprall des
Sturmes; was in morschem Rahmen saß, ward herausgepreßt und klirrend
hinabgeschleudert. Die Läden vor!

Ssssiii -- jüh! Die Böen schlugen wie Fäuste gegen die Schlote und
knickten sie, als sei es dürres Rohr. Dachziegel, Gossen und Rinnen
flogen polternd hinter ihnen drein auf die Straße unter schreckhaft
flüchtende Menschen, denen das höllische Hohngelächter des wilden
Gejaids nachklang.

Wo der Sturmesruf nicht so nachdrücklich vorherrschte, vernahm man das
ferne dumpfe Brausen, das grollende Zornesgeschrei der aufgewühlten
See, die zwischen Insel und Festland herandonnerte, ihre Pranken gegen
die Bollwerke schlug und in die Kaimauern Loch neben Loch brach.

Wie verdunkelt der Himmel herabhing, und war doch Mittagszeit! Das
gelblichgraue Gewölk war wie Rauchschwaden eines giftigen Brandes, der
irgendwo in der Ferne schwelte. Darunter hasteten Wolkenflocken als
eine unheimliche Flucht sich lösender und wieder ballender Schatten.
Der Sturm trug Schaumfetzen und den herben Geruch des Meeres über
Dächer und Türme.

Malte verließ am frühen Nachmittag das Haus am Markt. Auf der Schwelle
der Geschäftsräume blieb er stehen und schaute zurück. Über den
Pulten und Tischen flammten die Glühkörper, die heute vom Morgen an
Licht gespendet hatten. Die Arbeitenden hoben zuweilen die Köpfe, als
lauschten sie dem Brausen, das jeden Raum erfüllte. Hatte sich jetzt
schon die straffe Zucht gelockert? Ach, es war ja alles gleichgiltig!

Auf dem Flur zögerte er. Frauke? Nein, sie hatte so bestimmt geäußert,
sie wolle allein kommen; es war besser, er ging.

Aber die Stunde, in der man über ihn zu Gericht sitzen sollte, schlug
noch nicht; er hatte noch Zeit. Er wollte, er mußte in die freie Luft,
sich durchwehen lassen, im Trotz der Elemente die Fassung gewinnen, die
ihnen die Stirn zu zeigen wagte. Er wandte sich dem Hafen zu.

Keiner beachtete heute den andern. Die Menschen gingen, mit der
Hand den Hut fassend, in den seltsamsten Haltungen, teils vom Sturm
getrieben mit eingedrückten Rücken, teils mit vorgeneigtem Kopf gegen
ihn ankämpfend; sie glichen gekräuselten Spänen, die ein wildes Feuer
ausgestoßen hat.

Das Getöse wuchs, je näher er der See kam. Das Sprühwasser wurde in das
Land geworfen: auf den Dämmen wogten breite Lachen, die man umgehen
mußte. Die Keller der nächsten Häuser füllten sich.

Die Menschen verständigten sich durch Zeichen. Zuweilen versuchte es
einer, die Stimme der See zu überschreien; doch der rasende Sturm
riß den Hall fort, bevor er das Ohr erreichte. Man klammerte sich
aneinander, um nicht fortgeschleudert zu werden.

War dieser kochende Riesentiegel das Meer? Wogende Abgründe, stürzende
Hügel, schäumende, langmähnige Wasserrosse, die schnaubend an das Ufer
sprangen und zerschellten. Ungesehen und lautlos konnte in diesem
Tumult verschwinden, wem das Leben leid war.

Das Gebrüll der Wasser war ohrbetäubend, der eisige Wind dämpfte den
Atem. Malte wandte sich der Stadt zu, wo Möwen schreiend durch die
Straßen flogen.

Der Treßhof lag dunkel und zusammengekauert wie ein Fossil der
Urzeit, das sich um die Erregungen zahmer Zeiten nicht mehr kümmert.
Im Beratungzimmer zeigte sich ein Licht. Aber in den Speichern trieb
der Sturm sein Unwesen, zerrte an den Lukenläden und stieß gegen die
Mansarden. Ssssiii -- jüh!

Als Malte eintrat, unterbrach sein Erscheinen ein Gespräch zwischen
Harro und Ose. Die Brüder begrüßten einander kühl. Malte blickte Ose
fragend an: sie hielt in bebenden Händen das Bild des Balzer Treß,
dessen Rahmen zerborsten war.

»Der Sturm«, sagte sie tonlos. »Er hat es von der Wand geworfen.«

»Erzähle doch!« drängte Harro.

»Wolle Gott allen Seelen heute gnädig sein, vor allem ihm, dem
fliegenden Holländer«, entgegnete sie scheu.

»Und du sagst, er fahre heut noch draußen umher?« begann Harro wieder.

Ose blickte zu Malte hinüber, der sich am Wandschrank in der Tiefe des
Raumes zu schaffen machte. »Gott allein weiß, ob nun, da das Bild fiel,
seine Prüfung beendet ist«, sagte sie halblaut. »Wenn nicht -- ja, dann
fährt er noch. Und immer steuert er in den wildesten Sturm hinein, weil
er seinen Untergang sucht. Aber er soll erst Erlösung finden, wenn die
goldene Fee an dem Galion der Kogge ihren Platz verläßt und sich zu ihm
kehrt.«

Malte horchte auf. Was sagte sie? Aber es blieb keine Zeit zu fragen:
die andern kamen, und Ose ging, das beschädigte Bild in der Hand, nach
oben.

                   *       *       *       *       *

Es war wie vor vier Jahren. Onkel Rolf legte seine gefüllte Aktentasche
vor sich auf den Tisch. Frauke saß in der gleichen Haltung im
Lehnstuhl. Güldenfey, Harro ... nur Jörg fehlte. Nein, es war nur
scheinbar so. Er, Malte, der sich damals vermaß, den geschädigten
Vermögensstand zu bessern, den alten Glanz des Treßhauses wieder zu
erneuern, er saß hier als ein Geschlagener. Man trank keinen Festwein
auf frohes Gelingen, man klagte ihn des Leichtsinns an. Es war nicht
mehr Frühling, sondern die Welt ging in spätherbstlicher Sündflut
unter. Der Sturm regierte: Ssssiii -- -- jüh!

Was bedeutete das? Güldenfey setzte sich an seine Seite, nickte ihm
ermutigend zu und berührte ihn tröstend. Sah man es ihm an, wie er
litt? O, er wollte diesen Gang allein gehen. Onkel Rolf sah ihn an; er
erhob sich.

Als er stand, Auge in Auge vor den Geschwistern, die schwere Last der
Selbstverantwortung auf der Seele, da überkam ihn die grauenvolle Öde
des Alleinseins. Seine Stimme splitterte und brach, er mußte noch
einmal beginnen. Er wußte nicht, was er sagte. Seine Verteidigung
war eine Anklage gegen die Zeit. Hatte er nicht klüglich hin und her
erwogen? -- Doch die Zeitläufte hatten jeder Berechnung gespottet.
Hatte er nicht um Rat gefragt? -- Die Klugen waren selbst zuschanden
geworden. Hatte er sich nicht in Arbeit verzehrt? -- Was bedeutete
heute ehrliche Arbeit! Hatte er nicht gelitten -- --?

»Ja, du hast gelitten«, sagte Güldenfey leise.

Malte setzte sich. Onkel Rolf rieb sein Kinn: jetzt hatte er das
Wort. Seine Aufgabe war wahrlich nicht beneidenswert, den Treßkindern
mitzuteilen, daß sie so gut wie nichts mehr besaßen. Fast täglich hatte
er den bei ihm Rat Suchenden ihren Ruin zu bestätigen, gestern erst
seinem Klaus!

Mit trockener Gründlichkeit entledigte er sich des Auftrags. Jetzt
horchten sie auf. Was Malte gesagt, war Spiel mit Gefühlen, ja doch, ja
doch! Aber man wollte doch die Tatsächlichkeit kennen.

Malte blickte nur auf Frauke, ob sich in ihren Mienen etwas zeige, was
ihrer Seele Regung offenbare. Er gewahrte nichts. Wie ein Bild aus
Stein saß sie da, die Hand an der Wange. Er hatte, als der Abschluß
geschehen, mit ihr zu sprechen versucht, hatte ihr klargemacht,
daß ihm der Ring die Gelder ausgezahlt, ja, mehr als er gegeben,
zurückerstattet habe, und daß trotzdem dieser Berg von Papier nichts
wert sei. Sie hatte ihn starr angesehen und geschwiegen. Geschwiegen,
immer nur geschwiegen! Jetzt ...

Onkel Rolf hatte geendet, eine peinvolle Pause dehnte aller Not ins
ungemessene. Warum reden sie nicht, warum entrüsten sie sich nicht?
dachte Malte. Ihre Blicke, die mich fliehen, sind furchtbarer als ihre
Anklagen. Warum ist Frauke noch immer so erstarrt?

Harro war der erste, der die Qual endete. »Habe ich recht verstanden?
Unser Barvermögen ist also völlig dahin, und das Grundvermögen ...?«

Onkel Rolf entgegnete umständlich, daß Verbindlichkeiten da seien, die
getilgt werden müßten; vielleicht sei der Treßhof zu retten, vielleicht!

Es ging wie ein Schlag durch alle. Vielleicht? War das Leben denkbar
ohne den Hof? Ihn einbüßen -- hieß das nicht, die Lebenswurzel
ausreißen?

»Also, das wäre das Ende!« sagte Harro heiser. »Wir arm, der Treßhof in
fremder Hand. Es ist herrlich weit gebracht.« Er lachte plötzlich wild
und ungezügelt auf, aber das war das Schreckliche nicht. Schrecklich
war der flammende Blick, der wie ein Schwert auf Malte zufuhr, der
Blick und das Wort, das wie ein Auswurf war: »Erbärmlich!«

Malte saß starr da. Nur schweigen, sonst reißt etwas, dachte er.

Aber Güldenfey fing wie eine Schildjungfrau das Verwundende auf.
»Harro, wie magst du ihm so weh tun!«

»Ist es nicht wahr?« schrie Harro, der sich jetzt entschränkt fühlte.
»Alles ...«

Doch er sprach nicht weiter. Güldenfey hatte sich erhoben und schützend
ihre Hände ausgebreitet. »Sprich nicht weiter, Harro. Erst höre uns
an.« Sie zog ein Papier heraus und entfaltete es. »Von Jörg,« sagte sie
feierlich, »und ich bin befugt, es hier auszusprechen: er verzichtet
auf seinen Vermögensanteil. Hier, Onkel Rolf! Und ich, Malte, schließ
mich ihm an. Du kannst unsertwegen unbesorgt sein, Malte. Willst du es
von mir auch schriftlich haben?«

Alle blickten Güldenfey an, auch Frauke.

»Ja, Jörg!« rief Harro unmutig. »Der verdient sein Brot und ich
schließlich auch. Aber du, Güldenfey!«

»Auch das darf euch nicht Sorge machen«, sagte sie. »Jörg und ich haben
beschlossen, daß ich zu ihm gehe.« -- --

                   *       *       *       *       *

Ssssiii -- -- -- jüh! rast der Wind. Zwei Menschen kämpfen sich durch
die Straßen, zwei Menschen, die nichts mehr miteinander gemein haben,
die sich unter dem zerfegenden Druck des Sturms nicht die Hände
reichen, sondern die voneinander streben. Ein Dachziegel wird vor
ihre Füße geschmettert. Malte ergreift unbewußt Fraukes Arm, um sie
zurückzuziehen, fühlt ein deutliches Widerstreben und zieht schnell die
Hand wieder an sich.

Eine Tür tut sich vor ihnen auf und schließt sich hinter ihnen, sie
sind in ihrer Wohnung. Frauke legt ab und tritt zu Malte. Jetzt wird
es kommen, denkt er, will ihren Namen nennen und verstummt, da er sie
ansieht.

»Es ist das beste, ich verabschiede mich jetzt von dir«, sagt sie. »In
zwei Stunden fährt mein Zug.«

»Du willst nach Hamburg reisen?« fragt er, und als sie nickt, fährt er
fort: »Ich dachte es mir, es gibt hier allerlei Bitteres zu kosten.
Natürlich, es ist besser für dich.«

»Lebewohl!« sagt sie. »Wir haben uns wohl jetzt weiteres nicht zu
sagen.«

»Nein«, erwidert Malte. Er erfaßt den Sinn ihrer Worte nicht.

»Was zwischen uns zu erledigen ist, kann schriftlich geschehen.«

»Gewiß.«

Frauke merkt, daß er noch immer nicht versteht, um was es geht. »Meines
Vaters Anwalt ...« Sie hält inne, denn der Blick, der sie trifft, ist
entsetzlich. Jetzt hat er begriffen. Sie sieht, wie die Erkenntnis in
ihm wühlt.

»Ich hätte es wissen können, wäre ich nicht von zu hohen Erwartungen
beseelt«, sagte er endlich bitter. »Frauke Poppelmann kann nur im Glanz
des Reichtums atmen; Opfer bringen, nein, das liegt fern von ihrer Art.«

»Es ist nicht nötig, daß du mich kränkst«, sagt sie.

»Kränkt die Wahrheit?«

Plötzlich erwacht das alte Treßblut in ihm, das Seeräubergeblüt, das
die Männer ehedem anstachelte, sich die Frauen der Inseln zu rauben und
mit gewaltsamer Hand zuzupacken. Wahrlich, es hat bei dieser da wenig
gefrommt, abzuwarten und zu werben! Was ist der Lohn? In der Stunde, da
Mann und Weib eins sein müssen wie nie, geht sie davon und überläßt ihn
den wilden Hunden. O, er war immer allein, immer allein! Jetzt es ihr
sagen, sie die Wahrheit bis zum Bodensatz kosten lassen. Und er sagt es
ihr.

»Du hast mich nie geliebt, Frauke, nie, nie!«

»Wie wenig du mich doch kennst!« Frauke scheint ganz gelassen, ganz
kühl, ihre Augen blicken etwas spöttisch und sind grau wie Meerwasser,
das vom Wind bewegt wird. Aber in ihrem Inneren ist eine Flamme
entzündet, unter deren Ansturm ihre Brust mühsam ringt. »Wie wenig
du mich doch kennst, Malte Treß!« wiederholt sie bebend. »Meinst du
wirklich, ich hätte dich genommen damals in Harvestehude, wenn ...
ohne daß ich dich geliebt hätte? Nein, nein! Aber die Liebe hat mir
freilich jemand genommen: du; und das konnte ich dir nicht vergessen.«

Ist das noch Kälte, oder ist es verhaltene Leidenschaft, die unter
ihren Worten klingt?

»Und da wir nun voneinander gehen, kann ich es dir auch sagen, wie es
kam, nicht um mich zu rechtfertigen, sondern damit du einsiehst, was
deines Unglücks Grund ist. Ich liebe nur den Mann, der darstellt, was
er seinem Wesen entsprechend ist, Männer wie Jörg, die ihren innersten
Beruf erkennen und sich durchsetzen. Du aber wolltest immer anders
erscheinen, als du warst, du wolltest mehr sein, als du bist, immer
ein wenig Poppelmann, immer etwas neuzeitlicher Mensch. Du heißt Treß
und warst zu besonderem Handeln verpflichtet, doch das war dir nicht
genug. Wohl weiß ich, du tatest das, um mich zu gewinnen, und du
ahntest nicht, daß du dich dadurch von mir entferntest; denn wenn wir
Poppelmanns auch nicht eine so alte Familiengeschichte besitzen wie
ihr, wir schätzen darum doch nur, was echt ist.«

Er starrt sie an und weiß nichts zu entgegnen. Er berührt die
Hand, die sie ausstreckt, und senkt die Augen. Er hört das Klingen
ihrer Armreifen, das seidige Rauschen ihrer Kleider; die Fäden des
Perlvorhangs klirren hinter ihr aneinander: er weiß, daß sie ihm
verloren ist. --

Frauke steht im Zimmer und überschaut ihre Koffer: dies soll ihr
gesandt werden und dies; und jenes nimmt sie mit sich. Morgen ...
Sie hält in ihrem Hin- und Herschreiten plötzlich inne. Es wird eine
Leere morgen hier sein, die er schmerzhaft empfindet. Sie rafft sich
zusammen: es wird auch für ihn ein Übermorgen geben, und er wird
vergessen.

Sie wendet sich um, als sie eine Bewegung der Tür wahrnimmt, denn sie
erwartet Telge. »Güldenfey? -- Es ist gut, daß du kommst, Güldenfey;
ich wäre am Treßhof vorgefahren, dir Lebewohl zu sagen. Ich will ...«

Ist es nötig, das auszusprechen? Die strahlenden Augen Güldenfeys sind
ganz verändert, voll Dunkel und Schweigsamkeit und reden doch so laut,
daß Frauke, die überlegene, ihrer selbst so sichere Frauke, den Blick
senkt.

»Du willst fort? Jetzt willst du fort?«

Frauke bejaht. Sie wappnet sich mit Trotz. Will diese Junge, die nichts
von Männern und von der Ehe weiß, ihr Vorhaltungen machen und sie
meistern? Sie wendet sich ab, spricht ein paar abgerissene Worte, in
denen sie ihren unabänderlichen Entschluß kundtut, ballt den Verdruß
der letzten Wochen, den sie in sich aufgespeichert, zusammen und
schleudert ihn von sich.

Güldenfey erwidert nichts, ihr Blick wird nur um einige Schatten
dunkler. Habe ich mich in Frauke doch geirrt? Las ich die Schrift nicht
recht, wenn in kurzen Augenblicken ihre Seele offen vor mir lag? ...
Aber sie, die in allem Gottes Odem spürt, findet auch jetzt das Rechte.

»Frauke, ich weiß, du hast durch uns viel verloren. Es ist mir leid.
Malte würde dich gewiß beklagen, aber denk', wieviel jetzt durch seine
Seele geht. Glaube mir, er wird dir alles ersetzen, und kann er es
nicht, so stehen wir andern für ihn ein.«

Frauke will auflachen, doch vermag sie es nicht: etwas ist da, das sie
verstummen läßt.

»Jetzt« -- Güldenfeys Augen leuchten wieder in dem sieggewissen Glanz
-- »jetzt freilich kann ich dir nichts geben als dies. Es ist nur ein
kleiner Stein und doch sehr wertvoll: der Segen unsrer Mutter haftet an
ihm.«

Sie hat das Kettlein von ihrem Hals gelöst und reicht ihr den Amethyst
dar.

Lächelt Frauke nicht ihr altes spöttisches Lächeln, hebt sie nicht
die Schultern in der ihr eignen Bewegung? Nein, sie steht unbeweglich
und blickt Güldenfey starr an. Es rührt sich eine Bewegung in ihr,
die nur darin ihren Ausdruck fände, daß sie ihre Arme um des Mädchens
Hals schlänge. Doch das hat sie nie getan, sie, die Tochter Josias
Poppelmanns.

»Ich danke dir, Güldenfey«, sagt sie abweisend, und Güldenfey steckt
den Stein traurig wieder ein.

»Erfüll' mir wenigstens eine Bitte, Frauke, und erlaube, daß ich
während dieser Nacht in eurer Wohnung bleibe.«

»Gewiß. Aber warum?«

»Wegen Malte. Er darf jetzt nicht allein bleiben. Mir ist bange um ihn.«

Wieder spürt Frauke diese elementare Bewegung in sich, und wieder hat
die Poppelmannsche Gehaltenheit die Oberhand. Sie nickt, sie will etwas
sagen; da kommt Telge, und sie scheiden wortlos voneinander.

                   *       *       *       *       *

Malte sucht sein Arbeitszimmer auf. Die Plätze vor den Pulten sind
jetzt leer, nur im Hintergrund flammt noch eine Lampe, und Häberle hebt
den Kopf von seiner Arbeit.

»Sind Sie noch hier, Herr Häberle?«

»Ich wollte nur den Auszug noch fertigstellen, Herr Konsul.«

»Ich danke; aber nun ist es genug.«

Häberle erhebt sich, grüßt und wendet sich zur Tür.

»Herr Häberle!«

»Herr Konsul!«

Malte kommt auf ihn zu und reicht ihm die Hand. »Sie haben mir immer
treu beigestanden wie meinem Vater. Ich danke Ihnen. Jetzt ...«

Häberle ist bewegt und rückt an seiner Brille. Die Worte klingen so
sonderbar. Ist das ein Abschied? »Herr Konsul,« sagt er und gibt seiner
Stimme eine heitere Färbung, »wir haben Unglück gehabt wie andre auch.
Das kommt vor, aber es ist zu verwinden. Wir kommen wieder hoch. Das
Haus Treß hat manchen Stoß ertragen.«

»Ich danke Ihnen, lieber Häberle.« --

Häberle geht, jetzt ist er allein. Abschließen? Warum? Es wird niemand
kommen. Malte betritt sein Zimmer und läßt sich nieder. Die Uhr klingt,
der Arm mit der Hippe sinkt: =carpe diem=! Malte stöhnt leise auf.

Ssssiii -- -- jüh! fährt es über den Markt, verfängt sich in Kaminen
und Schloten und hohnlacht zwischen den Giebeln. Draußen tobt die
See, und zorniger Geifer flockt von ihren Kiefern, man schmeckt den
salzigen Odem bis hierher. Der fliegende Holländer jagt mit vollen
Segeln vor dem rasenden Sturm. Wird nicht endlich der Kiel der Kogge
auf knirschenden Sand laufen und das bis zum Bersten geladene Schiff
brechen? Wie sagte Ose? Er steuert in das wildeste Gebraus hinein, er
will den Untergang, den Tod, die Erlösung.

Ach, er kennt die Sage von Balzer Treß zur Genüge, wie oft hat Ose sie
dem aufhorchenden Knaben an stürmischen Abenden erzählt! Aber nie bis
heute hat er gewußt, daß zwischen jenem und ihm geheime Fäden sich
spannten, daß Balzer ihm unbewußt Vorbild war: der Drang, das Haus
Treß zu altem Glanz zu erheben; die Jagd hinter der Glücksgöttin her;
die Sorge um das Sichverlieren und den Heimweg. Wo ist der Weg nach
Heilisoe?

Alles wiederholt sich, alles. Die Spindel, um die das Leben kreist, ist
so eng. Wer aber wagt ihm zu sagen, daß er unrecht tat? Harro? Frauke?
Onkel Rolf oder die Poppelmanns etwa? Sie alle, wären sie an seiner
Stelle gestanden, hätten nicht anders gehandelt als er. Entscheidend
allein ist der Erfolg, das Glück, den Heimweg zu finden.

Ssssiii -- -- jüh! Wer dem Sturm verfällt, der ist verloren, wer den
Kurs verliert, der muß irren und zugrunde gehen. Aber die Glücklichen,
die ihm entrinnen, die preist die Welt und feiert sie als Helden! Ich,
Malte Treß, bin unschuldig an dem, was unserm Haus widerfuhr, jawohl,
unschuldig!

Er hat es laut gerufen, und wie zur Antwort prasselt es draußen auf
das Pflaster nieder, als habe eine Riesenfaust das Dach abgedeckt und
werfe die Last sprühend auf den Markt. Malte fährt zusammen, doch
nicht im Schreck über das Geräusch. Von außen und aus allen Winkeln
des Zimmers klingt ihm das Echo seines letzten Wortes entgegen:
Unschuldig, wirklich unschuldig? Der Mann mit der Hippe ruft es, und
sein Schreibtisch ruft es und die Bücher, und alles hat plötzlich Augen
und starrt ihn seltsam an: Unschuldig?

Ist da nicht Frauke? Er vernimmt ganz deutlich ihre Worte: Ein andrer
wolltest du sein als du bist. Steht dort nicht die Frau an der Tür,
die Frau in ihrem zerknüllten Anzug? Und Usadel? Wahrhaftig, das ist
Usadel, das kaltblütige Geschöpf, das nicht lächeln kann, in dessen
Hirn tausend Feuerfunken kreisen, die eine Welt in Brand setzen. Und
alle stehen sie da und zeugen wider ihn: Du hast deine Art nicht
gewahrt! Du hast die Ehrenschuld deines Hauses nicht abgetragen! Du
hast gegen dein besseres Wissen geschwiegen, als ich die Lästerung
gegen Gott und Menschheit ausstieß -- und rühmst dich deiner Unschuld?

Malte hebt beide Hände abwehrend, schützend -- es nützt ihm nicht. Aus
der Tiefe seines Inneren kommt eine Antwort, vor der es kein Entrinnen
gibt, und sie sagt nur das eine Wort: Mitschuldig!

Plötzlich fühlt er es in unheimlicher Deutlichkeit: Ja, ich bin
mitschuldig. Mitschuldig nicht, weil ich die Not verursacht, sondern
mich fern von ihr hielt; mitschuldig nicht, weil ich den über das
Volk hereinbrechenden Jammer heraufgeführt, sondern mich durch das
Glücksverlangen betören ließ, am Seil der Unredlichkeit mitzuziehen.
Der gerechte Richter wird uns einmal nicht verurteilen nach dem, was
wir taten, sondern nach dem, das wir unterlassen haben.

Alle die Schreier, die sich über das Unrecht in der Welt entrüsten,
wird er fragen: Was hast du ~dagegen~ getan? Und stehen sie dann
schweigend da, wird er nur das eine Wort finden: Mitschuldig!

Malte tastet nach dem Stift. Wie seine Hand flattert! Wie widerwillig
die andre, die schwer wie Blei lastet, gehorcht! Mühselig zieht der
Stift in krausen Zügen die Wörter auf das Papier: Frau Jobst ...

Ssssiii -- -- jüh! Das Haus erbebt unter dem Anprall der Sturmbö.
Vor Maltes Augen dunkelt es, als entrolle sich ein endloser
scharlachfarbener Mantel. Der fliegende Holländer steht am Mast: Wo
geht der Weg nach Heilisoe? Ein Gedanke zuckt durch Maltes Hirn: Auch
du bist mitschuldig. Der Fluch des alten Blutes spukt in dir wieder.
Hinein in die Brandung, in den Untergang, in die Erlösung!

Ja, die Erlösung. Das Galionbild, die güldene Fey, kommt auf ihn zu, er
sieht sie wie durch Nebel. Dann schließt der Scharlachmantel alles zu,
und er gleitet langsam vom Stuhl zur Erde. --

Güldenfey kniet neben ihm und hält seinen Kopf in ihrem Arm. Sein edles
Gesicht, das völlig entblutet erscheint, ist eigentümlich schmerzhaft
verkrampft, als habe es ein furchtbares Ereignis mit dem Brandeisen des
Schrecks gezeichnet. Ist er schon durch das erhabene Tor gegangen, oder
steht er noch davor? Sie neigt das Ohr auf seine Brust und hört sein
Herz wie fernes Brunnenrauschen gehen.

Zart legt sie ihn nieder und eilt, um Hilfe zu holen. --

Als sie ihn droben gebettet haben, geht sie noch einmal in die
Schreibstube zurück, das Licht zu löschen. Da erblickt sie seine
letzten Schriftzüge. Frau Jobst? Was wollte er schreiben? Und plötzlich
enthüllt sich vor ihrem schauenden Blick die letzte Stunde Maltes an
seinem Schreibtisch, was er empfunden und was er gewollt. Sie geht nach
oben und setzt sich neben seinem Lager nieder.

Seine Seele irrt auf nächtig verschleierten Wiesen, die ohne Pfade
sind, seine geöffneten Augen suchen über den Rand der Zeit hinaus. Aber
vielleicht suchen sie die Versöhnung!

Güldenfey wagt es und senkt ihren Mund auf ihn. »Malte,« klingt ihre
hohe Stimme leise und doch eindringlich, »du schriebst Frau Jobst. Soll
sie etwas? Ich weiß sie zu finden.«

Ein Zucken läuft über das verzogene Gesicht, eine leise Bewegung des
Lides zeigt, daß er verstanden hat.

»Sei ganz ruhig,« tröstet sie, »ich gehe zu ihr.«

Als sie das Zimmer verlassen will, tritt ihr Ose entgegen. »Du, Ose?«

»Ich bin gekommen, daß du dich nicht ängstigst«, sagt die Alte. »Er
wird nicht sterben. Ich habe die Probe gemacht: die Diele im Treßhof
gibt keinen Laut!«

                   *       *       *       *       *

Am Morgen, als sich zwischen das Graugewölk im Osten fahle gelbe
Lichtstreifen wie die Brände verschwelender Fackel schoben, hatte der
Sturm sich ausgetobt. Wie ein mißhandeltes und verstoßenes Weib lag
die Erde da: Wege verweht, Bäume verwüstet, Menschenwerk zerstört. Ein
feiner Regen sprühte hernieder und hing sich wie Tränengeriesel an
die geknickten Zweige der Sträucher. Es war ein leises Weinen in der
geschändeten Natur.

Güldenfey ging, sobald es ihr an der Zeit schien, den Weg gegen die
Schwedenschanze zu. Oses tröstliche Verheißung war gut, aber Malte
schien von großer Unruhe hin und her geworfen zu werden.

Im trüben Licht des Morgens schien ihr die Straße verändert; sie fand
sich nicht zurecht, und eine Sorge schreckte sie, daß sie wieder
vergebens den Weg hinter der Frau her suchen müsse.

Doch dort drüben das Haus, das mußte es sein. Als sie eintrat,
erinnerte sie das stürmische Läuten der Türglocke, daß sie gefunden
habe, was sie suchte. Jede ängstliche Besorgnis war von ihr gewichen,
als sie an die Stubentür pochte. Sie kannte die Stimme, die von innen
zum Eintritt aufforderte.

Frau Jobst stand zum Ausgang gerüstet in der Stube und sah verwundert
dem frühen Gast entgegen. Sie erkannte Güldenfey nicht; als diese ihren
Namen nannte, hob sie erschreckt die Hand.

»Ja, ich bin Güldenfey Treß. Sie sagten damals, ich dürfe erst wieder
zu Ihnen kommen, wenn wir auf gleicher Stufe ständen, weil arm und
reich nebeneinander sich nicht schicke. Nun trete ich als eine Arme bei
Ihnen ein. Haben Sie es schon gehört? Wir haben alles verloren.«

Die Augen der Frau weiteten sich. Es war keine frohlockende Genugtuung,
es war Entsetzen, was sie ausdrückten. »Mein Gott!« sagte sie. »Ist es
wahr?«

»Ja, es ist wahr. Und nun dürfen Sie auch nicht fürchten, daß ich Sie
mit etwas, das ich bringe, beschämen will; nein, ich möchte von Ihnen
holen. An Ihren Edelmut wende ich mich.«

Frau Jobst blickte Güldenfey an wie eine, die aus schweren Träumen
erwacht; ihre Finger tasteten unsicher an den Säumen ihrer Jacke
entlang. »Ist es wahr?« stammelte sie. »Es gibt eine Gerechtigkeit? O
Gott, mir ist jetzt bange vor ihr.«

»Es gibt eine Gerechtigkeit,« sagte Güldenfey; »sie ist nur höher und
größer als die unsre. Doch warum erschreckt Sie das? Arm sein ist keine
Strafe, und die geistlich Armen sind selig, weil sie die Empfänglichen
sind.«

»Bitte, setzen Sie sich doch«, stammelte die Frau.

Aber kaum hatte sich Güldenfey auf den nächsten Brettstuhl
niedergelassen, als durch den Leib der Frau ein Schüttern ging, wie
wenn sich der Wind auf eine einsame Weide wirft. Ganz ihrer seelischen
Erschütterung überlassen, warf sich Frau Jobst vor Güldenfey in die
Knie und barg ihr überströmendes Gesicht in des Mädchens Schoß. Aus
ihrem Schluchzen drangen verwirrte Worte. »Vergeben Sie mir, vergeben
Sie mir! Ich habe es verschuldet. Mein Haß hat so lange böse Wünsche
ausgeschickt auf das Treßhaus, bis sie zur Tat wurden und das Unheil
herbeizogen. Aber Sie hat es nicht treffen sollen, Sie nicht. Und nun
...«

Es war unmöglich, gegen diese wilde Verzweiflung anzureden. Güldenfey
strich beruhigend über das verunehrte Gesicht.

»Damals, im Hause am Markt, sagten Sie mir: ›Fluchen Sie nicht,
denn jeder Fluch fällt auf den zurück, der ihn ausschickt.‹ Das hat
mich ergriffen. Aber als mein Mann so elend starb, da hab' ich es
doch getan, nicht einmal, sondern hundertmal. Und als Sie mich hier
im Frühjahr fanden, schickte ich Sie fort, weil ich mich vor Ihnen
schämte. Nun müssen Sie mir sagen, daß alles sich erfüllt hat, und auf
mich fällt es zurück, und mich zerschmettert es.«

In dem Bett im Winkel richtete sich ein Kinderkopf auf, und eine
schlaftrunkene Stimme sagte: »Mutter!«

»Das Kind!« raunte Güldenfey.

»Sie soll es wissen, was danach kommt«, schluchzte die Frau.

»Sie sollen sich nicht so erregen lassen«, sagte Güldenfey heiter, und
ihre Hand strich sänftigend über das rauhe Haar. »Meinen Sie denn, Ihre
Wünsche, die aus einem verbitterten Herzen kamen, hätten etwas über
unser Schicksal vermocht, wenn dieses Schicksal nicht zu unserm Besten
gedient hätte? Und wenn Sie schon sich schuldig fühlen wollen, so biete
ich die Gelegenheit, daß Sie Böse in Gut wandeln können.« Ruhig begann
sie zu erzählen, von Maltes Not und Zusammenbruch, von seinem Verlangen
nach beruhigender Vergebung.

Das Weinen der Frau wurde leiser, wie eine Klage über ihr zerstörtes
Leben und ihr zerronnenes Selbst klang es. Was bedeutet alles Regen
des zügellosen Blutes und das Aufbegehren eines entschränkten Willens,
wenn beide dem Zeitlichen entwuchsen und nur auf Zeitliches zielten!

»Und was kann ich dem Kranken bestellen?« fragte Güldenfey endlich.

»Sagen Sie ihm, was Sie gesehen haben«, antwortete die Frau. »Unser
Wollen ist nichts als ein Wollenmüssen. Ich bitte, daß er mir vergebe.«
-- --

                   *       *       *       *       *

Güldenfey saß an Maltes Bett, strich über seine erblaßte Stirn und goß
Balsam in seine Unruhe. Sie jubelte innerlich, als sie bemerkte, wie
die Ruhe seine wunde Seele sättigte. »Nun quält es dich nicht mehr?«
fragte sie.

Er wandte ihr dankbar sein Gesicht zu und machte eine Bewegung, die
sie als Zustimmung deuten konnte. Seine Blicke glitten von ihr fort,
hefteten sich auf einen Punkt, füllten sich mit kinderhaftem Staunen,
und ihre Starre löste sich in einem freudigen Glanz.

Was ist ihm nur? dachte Güldenfey und wandte sich um, daß sie erkenne,
was ihn fesselte. Da sah sie, daß Frauke in der Tür stand.

»Ja, ich bin es«, sagte Frauke. »Es hat mich nicht in Hamburg gelitten,
ich bin gleich wieder zurückgefahren. Was du mir sagtest, Güldenfey ...
oder besser, daß du mir nichts sagtest, das ließ mir keine Ruhe.«

Sie trat schnell auf das Lager zu und beugte sich darüber, stutzte aber
erschreckt, als sie Maltes entstelltes Gesicht sah.

»Das?« fragte sie.

Güldenfey nickte bedeutsam.

Da hatte Frauke Poppelmann sich schon gefaßt. »Sei ganz ruhig, Malte«,
sagte sie. »Ich weiß jetzt, daß ich zu dir gehöre.«

Ihre Stimme war verändert, weich, wie durch ein großes Geschehen
geklärt und gesänftigt.

Eine gelähmte Hand tastete sich mühsam auf die dargebotene Frauenhand
zu.

Und es war eine wundersame Stille um alle.




                         Der Weg nach Heilisoe


Abschied!

Was verbirgt und offenbart dieses Wort? Ströme von Tränen; Abgründe
des Schmerzes; seelische Landschaften, zerklüftet und vereinsamt unter
hoffnungslosem Wolkengrau; einen Riß durch quellende Adern, einen Damm
aus fruchtlosem Gestein gegen das wandelnde Leben. --

Was Güldenfey in der Stunde durchlebt, da sie abschiednehmend den Steig
des vergessenen Gartens auf und nieder schritt -- keiner hat es je
erfahren. Tausend farbige Blumen voll Duft waren im Werden begriffen,
aber sie sollte keine von ihnen mehr pflücken und in die Häuser der
Armen tragen, daß sie ein wenig Freude darböten. Ja, der Abschied von
dem vergessenen Garten war das schwerste! Ihr hilfreiches Denken und
Planen war von hier ausgegangen, hatte sich hier als heimlicher Same in
die Erde gesenkt und Frucht getragen, hundertfach und tausendfach!

Harro hatte geraten, daß sie ihn nicht wiedersehe, aber ... nein, das
verstand Harro nicht. Sie hatte sich die Stunde ungestörten Alleinseins
zwischen den alten Mauern ausbedungen. Sie wollte die Schwere des
Opfers, das ihr diese Preisgabe war, auskosten. Alle trugen und litten,
sie aber sollte mit Jörg in ein fruchtbares Leben gehen; sie forderte
ihren Anteil an dem allgemeinen Leid, dessen Härten sie nicht wie die
andern empfand.

Nun ging sie zwischen den Beeten auf und nieder und sann. Es würde hier
anders werden, ganz anders. Bauende Hände würden schaffen, was sie
für nützlich hielten, und im Hochsommer würde um die Mittagszeit der
Würzduft der Suppenkräuter zwischen diesen Mauern aufsteigen.

Doch vielleicht gefiel gerade dieser Geruch den alten Männern dort
oben, die verdämmernd auf der Kante ihrer Lagerstatt saßen, besser als
der Blumenduft. Und in den verwitterten Fräulein, die um den Abend ihre
Fenster öffneten, ihre Wanduhren aufzogen und von den Veilchenwochen
ihres Lebens träumten, weckte wohl der Duft der nützlichen Gewächse
auch Erinnerungen, die ihnen lieb waren.

Das war die große Gnade, die Güldenfey zuteil geworden, daß ihre
Gedanken immer den Weg in sonnige Hellen fanden. Sie blieb an der
Pforte stehen und blickte träumerisch über den geliebten Fleck Erde.
Nie wieder, nie wieder! Doch das Bewußtsein schnitt nicht mehr wie ein
scharfes Messer. Als sie abgeschlossen hatte und den Schlüssel in die
Tasche steckte, war nur noch ein freundliches Lächeln da und war ein
Dank an die Erde, die sie so oft froh gemacht hatte.

Als sie den Treßhof erreichte, sah sie gerade, wie Telge die alte
Wohnstatt verließ. Er trug sein Bündel unter dem Arm. An der Torfahrt
blieb er stehen und sah zurück. Dann spie er heftig von sich. »Daß du
die Motten kriegst!«

»Aber, Telge,« sagte Güldenfey, »Sie wollten doch nicht gehen, ohne mir
Lebewohl gesagt zu haben!«

Telge war erschrocken, dann faßte er sich. »Doch!« sagte er voll Trotz.

»Aber warum? Habe ich ...«

Sie hielt inne, da sie bemerkte, wie ein gewaltsames Zucken durch sein
bärtiges Gesicht spielte.

»Von den andern, ja. Aber von Ihnen, gnädiges Fräulein -- nein; das
konnte ich nicht. Und jetzt kommen Sie doch gerade an.« Er konnte sich
nicht meistern. Große Tränen rollten in seinen Bartkranz.

»Telge, alter treuer Telge!« sagte Güldenfey. Und nun weinte sie auch.
--

Abschied, Abschied!

Die Räume des Hauses waren entleert, die Dinge, die sie geschmückt und
traulich gemacht hatten, rollten einem fernen Lande zu oder standen in
den Schatten der Böden. Man mußte Raum für Malte und Frauke schaffen,
die nach ihrer Heimkehr aus dem Bade hier einziehen wollten. Nur einige
Zimmer waren unberührt in ihrem Zustande erhalten geblieben.

Ose ging wie der gute Geist der alten Zeit durch das Haus und schaltete
in allem. Die Geschwister waren in einen edlen Wettstreit geraten, wer
von ihnen die Alte zu sich nehme. Sie hatten ihn schlichten wollen,
indem sie Ose die Wahl ließen, doch damit hatten sie die Alte vor
die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Ihr Herz zog sie
zu Güldenfey und Jörg, und doch -- die Heimat! Schließlich hatte sie
sich entschieden, während des Sommers zu den Jüngsten zu gehen und den
Winter im Treßhof zuzubringen.

»Nun, war er hart, der Abschied von deinem vergessenen Garten?« fragte
sie, als Güldenfey heimkam. »Der Weg, den du jetzt gehst, hat viele
böse Stufen und ist nicht leicht.«

»Man darf gar nicht daran denken, Ose«, erwiderte Güldenfey. »Es ist
noch soviel Grund zur Freude da: daß uns der Treßhof verbleibt, und daß
Malte wieder gesundet.«

Sie dachte daran, wie sie vor kurzem Malte und Frauke zur Bahn
begleitet hatte. Er konnte schon an zwei Stöcken gehen und war voll
dankbarer Milde. Und Frauke ... ja, wenn man an sie dachte, dann wurde
man wundergläubig, wenn man es nicht schon gewesen war.

»Du Glückskind!« sagte die Alte kopfschüttelnd.

»Ja, das bin ich«, erwiderte Güldenfey und berührte dankbar den Stein
auf ihrer Brust.

Sie erfuhr von Ose, daß Jörg und Harro im Beratungzimmer seien, und
ging hinab. Die Brüder standen betrachtend vor den alten Bildern, vor
Behrend Treß, dem Oberst des Gyllenstiernaschen Regiments, und vor Karl
Heinrich, dem Major bei den Bohuslenschen Schützen.

»Ob die alten Herren nicht auch manche Schlappe im Leben erlitten, wie
jetzt wir?« fragte Harro. »Sie schauen wie echte Treß drein, die darum
den Kopf nicht hängen lassen, sondern frisch das Leben bei einem andern
Zipfel packen. Ja, die äußeren Dinge lassen sich alle meistern, Jörg;
aber es gibt andre ...«

Er wandte sich um und sah Güldenfey, wie sie die Treppe herabkam.

»Güldenfey ist unser Treßsches Gewissen, vor der darf man die feinsten
Bedenken aussprechen«, fuhr er fort. »Ich wollte sagen, es gibt
Erinnerungen, über die kommt man einfach nicht fort: der Soldat, den
ich auf einer Streife abschoß; Malte, der hier unter der Last der
Verantwortung saß, und den ich noch kränkte. Und dann Marfa, vor
allem Marfa. Jetzt, da wir das Haus räumen, wo ihre verängstete Seele
trauerte, fällt es mich hart an, wie wenig ich ihr gab. Und hatte sie
doch lieb!«

»Vorbei, vorbei!« sagte er nach einer Weile und schüttelte sich, als
wolle er die Erinnerungen gewaltsam von sich lösen. »Ein Neues liegt
vor uns: wir bauen einen neuen Staat, nicht wahr, Jörg?« Seine Hand
legte sich stark auf Jörgs Schulter.

»Ach, Harro,« entgegnete dieser, »vergiß nicht das Eine, was not
ist. Wir bedürfen neuer Staaten, neuer Wirtschaftsweisen und neuer
Religionen nicht, aber wir bedürfen des neuen Menschen. Haben wir
den, so wird alles andre von selbst kommen. Doch von dieser Aufgabe
wollen die Weltverbesserer nichts wissen, und darum bleibt ihre Arbeit
Stückwerk.«

»Du hast recht«, sagte Harro. »König Midas bekam Eselsohren, weil er
die Musik der menschlichen Flöte, nach der sich alle drehen, schöner
fand als die Töne der göttlichen Harfe. Ach, zuweilen erscheint es mir,
als trügen die meisten Menschen die Eselsohren der Verblendung.« --

Noch eine schwere Stufe mußten Jörg und Güldenfey auf ihrem
Abschiedsweg überwinden, als sie in den Heiligen Geist gingen, um
Engelke zum letztenmal die Hand zu reichen.

Engelke war klein und gebückt geworden. Ihr Gesicht sah verschrumpft
aus wie der Winterapfel, den man um Ostern in einem Winkel der Lade
entdeckt. Sie sagte wenig, sie blickte von einem ihrer beiden Besucher
zum andern, als wolle sie sich das Aussehen der beiden unvergeßlich
in die Seele prägen. Sie hatte sie nicht unter ihrem Herzen getragen,
aber ihr einsames Magdtum hatte diese Kinder mit einer starken
Mütterlichkeit umfangen, und da sie ihnen diente, lange und treu, hatte
sie ein Anrecht auf sie erworben. Nun wollten sie in unausdenkliche
Fernen ziehen. Wie unfaßbar doch Gottes Wege sind! Erst mußte sie den
Treßhof verlassen, nun stieß es die Jungen gar aus der Stadt.

Engelke sah auf das Neue Testament, das aufgeschlagen vor ihr auf dem
Tische lag, und Güldenfey verstand ihre Gedanken.

»Wir kommen im nächsten Sommer wieder, Engelke«, sagte sie. »Und
bedenke, wir sind ja nicht weit. Einen Tag Bahnfahrt! Und du tröstest
dich doch auch deines Gottes, der über allen Sonnen ist.«

»Da irrst du, Kind«, sagte die Alte streng. »Gott ist immer bei mir.
Jawohl, hier in dieser dürftigen Altersstube ist er.«

»Und unsre Gedanken, sind die nicht um dich?« fragte Jörg.

Engelke wiegte den Kopf. Sie mochte nicht sagen, daß die guten Gedanken
aus der Ferne nicht genügenden Ersatz für den Verlust boten.

»Als wir dich hierherbrachten, Engelke,« sagte Güldenfey, »da gingen
Jörg und ich nach Heilisoe. Dorthin wollen wir morgen auch fahren, uns
noch ein paar Tage des jungen Sommers freuen und dann das Haus dem
neuen Besitzer übergeben.«

Engelke nickte und blickte Güldenfey bedeutsam an. Ja, man mochte
sprechen, was einem nur in den Sinn kam, vom Abschiednehmen wurde jedes
Wort durchtränkt. Sie erhoben sich.

Und als sie durch den Säulenhof schritten, stand die Alte gebückt und
mit schlaff herabhängenden Armen in ihrer Tür und sah ihnen ein letztes
Mal nach. Sie schluchzte nicht, sie weinte nicht, aber sie fühlte das
Schwert durch ihre altersmüde Seele gehen.

                   *       *       *       *       *

Spuren der Sturmflut tilgt die Zeit von Häfen und Gärten; Leidspuren
wischt sie von den Angesichtern der Menschen. Auch Heilisoe wies kaum
noch etwas von den Beschwerden eines mehr als harten Winters auf, als
der nordische Sommer es zu zieren begann. Zwar erschienen die Dünen
noch wilder zerklüftet als bisher und trugen Risse, Narben und Falten
wie ein hundertjähriges Greisenantlitz. Und neue Steine waren aus dem
Erdreich gebröckelt und zu Strand gestürzt, freuten sich des Lichts und
lauschten den Erzählungen des Windes und der Wellen von Geißeljagden
zorniger Sturmtage und schwimmenden Tangwiesen draußen auf der See, um
die stumme Fische auftauchten.

Ja, es war ein wenig anders geworden auf Heilisoe. Aber das übersah
man bald, denn der fröhliche Wuchs überkleidete alles. Der kriechende
Wacholder sproßte wieder, die stachligen Ölweiden schimmerten blank,
der Ginster begann goldig zu knospen, und die Rose des Tals blühte. Und
vor allem: die einzige Bläue, die das Eiland umgab, hatte sich wieder
aufgetan, die Meeresbläue, die eine ganze Klangfolge vom Lichtgrün
bis in das dunkelste Violett durchlief, erdhaft durchblutet, von
unerforschlichen Gründen angedunkelt; und die Himmelsbläue, von Gold
und Milch durchmengt, aufquellend und doch unbewegt und voller Ahnungen.

Jörg und Güldenfey hatten sich ein wenig vor diesen traumschweren Tagen
auf Heilisoe gefürchtet. Sie waren zu innig mit diesem Eiland des Heils
verwachsen -- wie schwer mußte der Abschied von ihm fallen!

Doch es war anders. Jetzt, da sie keine Fußbreite Landes von der Insel
mehr besaßen, war sie ihnen nicht Verlust, sondern ein Ziel. Sie hatten
den großen Frieden der Insel, der höher war als das Treiben der lauten
Welt, bisher empfunden als etwas, das ihnen zustehe. Nun erkannten sie,
daß es Erringenswertes sei.

»Der Weg nach Heilisoe, den Balzer Treß suchte, ist das Heimweh«, sagte
Jörg. »Wir werden es auch lernen müssen, Güldenfey, aber es wird uns
nicht in langes verzweifeltes Suchen hetzen, denn wir wissen, wo unser
Eiland liegt.«

Sie klommen durch die schmale Schlucht hinter der Svantewitbucht
aufwärts. Droben empfingen sie blaue Glockenblumen unter niedrigem
Gebüsch, vor ihnen aber stürzte in jähem Fall die narbige Dünenwand
zur schäumenden See hinab. Sie sahen stumm und ergriffen zu, wie der
Feuerball, der unsrer Erde Leben gibt, in das Meer tauchte. Dann
wandelte sich der Himmel in eine blaßgrüne Fruchtschale, an deren Rand
sich purpurnes Gewölk sammelte.

Und hier begann Jörg zu Güldenfey von den Aufgaben des Lebenskreises zu
sprechen, den sie beschreiten wollten. O, er hatte ihr schon oft davon
gesprochen, doch immer wieder fand er einen neuen Ausdruck dafür. Ja,
die Jugend wollten sie sammeln, die nach der Bitternis dieser Zeit ihre
Wurzeln tief in das Erdreich grub, um edle Früchte für die Zukunft zu
reifen.

»Sieh, Güldenfey, das ist der Segen dieser Zeit«, sagte er. »Sie
wollten uns arm an äußeren Dingen machen und haben es ja auch erreicht,
aber sie weckten zugleich die schlafende Empfänglichkeit der Seele,
das, was man geistige Armut nennt. Und das wird unser Heil sein.«

»Sind denn aber auch leiblich Arme in deiner Stadt?« fragte Güldenfey
besorgt. »Du weißt ...«

Er ergriff fröhlich lachend ihre Hände. »Ja, ja, ja! Arme sind überall,
und du sollst ihrer pflegen. Du und ich, wir wollen Gottes Reich bauen.
Denn Gottes Reich ist nichts als Gott selbst mit seinem Reichtum, und
es schaffen, heißt, das Göttliche auf der Erde darstellen.«

Als die Erde den letzten Tropfen des himmlischen Glanzes aufgeschlürft
hatte, gingen sie heim, kamen über das weiße Feld der Wanderdüne,
wo der Sand junge Föhren erstickte und sich vom Weidengeflecht der
Faschinen nicht hemmen ließ. Eine Stätte des Todes? Nein, wo es
wandert, ist Leben, wenn auch das regsame Element nur dürres Gekörn
ist. --

Diese Morgenfrühe des letzten Sonntags auf Heilisoe!

Sie hatten sich zeitig erhoben, um den Tag voll auszukosten, und
gingen ihm durch den Wald entgegen. Die hellen Nadelbüsche der Föhren
schwankten leise im Wind, und die gelben Kelche des Hahnenfuß streckten
sich der Sonne entgegen; eine Grasmücke sang, und der Wanderfalk
strich geschäftig um die Büsche, hinter denen das Flügelschlagen eines
Fasans erklang. Das Meer aber lag unter der Last des Lichts träge und
gesättigt da: der Wind schlief noch zwischen den Hügeln.

Jörg und Güldenfey schritten die Kante der Dünen entlang, die wild und
zackig wie eine chromatische Tonfolge verlief.

»Thors Wagen hinterließ hier seine Räderspur«, sagte Jörg.

»Aber diese wilden Spuren bahnten dem friedlichen Leben die Straße«,
erwiderte Güldenfey. »Sieh doch, Jörg!«

Und sie wies auf die vielen Erdschwalben, die über der Tiefe in den
Dünenrand ihre Nistlöcher gegraben hatten und jetzt zwitschernd ab und
zu flogen.

Hand in Hand schritten sie fort, in Schweigen und Reden glücklich, weil
keines von ihnen wußte, wer Gebender und wer Empfangender war.

Wie viele Orte wollten sie noch besuchen! Die alte Kirche auf dem
Klostergelände, die immer den Eindruck einer verwahrlosten Alten
machte, zwischen deren rohem Holzschnitzwerk und zerbrochenen
Abtsteinen aber jenes merkwürdige Epitaph des um 1611 ertrunkenen
Schiffers stand, von dem Güldenfey behauptete, er sei mit dem
fliegenden Holländer gefahren; das Grab der goldenen Heiligen und
das Vogeleiland, wo der Wind Runen schrieb; den Hünenhügel mit dem
verkrüppelten Weißdorn und die Steinblöcke im Meer, zwischen denen die
farbigen Algen hausten. O, es war noch viel zu schaffen!

Es war Abend geworden, als sie auf den Königsgräbern saßen; die während
des Tages leuchtenden Farben erloschen, und das unruhige Aufzucken der
Blinkfeuer fuhr über den nächtigen Himmelsbogen. Güldenfeys Fuß klopfte
auf den warmen Erdboden.

»Welche Schätze vielleicht unter uns in der Erde ruhen, Jörg!« sagte
sie.

»Wollen wir sie heben?« fragte er.

Güldenfey wiegte den Kopf. »Nicht diese, Jörg; es haftet zuviel Angst,
Not und Sorge an ihnen. Ach, das Gold ist wie andres eine kostbare
Gabe, doch was machte die Gier der Bösen aus ihm! Das verelendende
Treiben der Geschäfte, das Verlumpen der Gesinnung machte es zu etwas
Fluchwürdigem. Jörg, wo beginnt der Weg nach Heilisoe?«

Ein sanfter Wind strich kühl um die Hügel, unter denen die sagenhaften
Herrscher schliefen. Er war wie ein Hauch längst vergessener Zeiten,
und er empfing die ewig sich wiederholende Frage aus dem Munde des
Mädchens und trug sie weiter und wird sie vielleicht nach tausend
Jahren Wanderern, die hier rasten, wieder zuwehen und in ihnen
Unendliches wecken.

So dachte Jörg, und nach einer Weile begann er zu sprechen: »~Der Weg
nach Heilisoe beginnt nicht da, wo der Mensch nach Geld oder Ehre oder
Herrschaft strebt, sondern dort, wo tief im Menschen der erste Laut der
Sehnsucht nach dem Ewigen anklingt.~«

Er fühlte, wie sich sanft die Hand der Schwester in die seine schob.

»Wir haben den Ruf vernommen,« sagte Güldenfey, »und nun fängt die
schöne Straße an.«

                   *       *       *       *       *

Telge und das Motorboot erwarteten sie nicht am Bollwerk, als sie am
nächsten Morgen zur Abfahrt hinabstiegen. Sie bestiegen den kleinen
Dampfer, der die Überfahrt vermittelte.

Hinausgehoben über die Insel stand der Leuchtturm da, er, der in
der Einsamkeit der Winde sich wohlfühlte und nur mit den Schwärmen
kommender und gehender Vögel Zwiesprache pflegte. Sein müdes Auge war
geschlossen, aber um den Abend würde er wieder erwachen und denen
Warnung und Hilfe sein, die den Weg nach Heilisoe suchten. Lebewohl, du
Treuer!

Es versank vor den rückschauenden Blicken das Kloster; es versanken
die strohgedeckten Fischerhäuser, die hinter ihrem Wall von
Seedorn schliefen; es verschwand die einsame hohe Pappel, die alle
Krähengeschlechter der Insel kannte. Schließlich war nur noch das
Hochland von Heilisoe sichtbar. Leise schloß sich eine Tür. Jörg und
Güldenfey wandten ihre Augen vorwärts.

Auf der blauen schaumgesäumten Schleppe des Meeres bildeten sich in der
Fahrtrinne große weiße Kreise wie Perlenkränze, wurden und vergingen.
Ach, es verging alles so bald auf dieser hastigen Fahrt.

Mehr und mehr wurden die Linien der siebentürmigen Hansestadt sichtbar.
Endlich glitt das Schiff in den Hafen und näherte sich der Anlegestelle.

Was bedeutete das? Am Ufer standen viele Menschen, die nicht denen
glichen, die sich mit Koffern und Gepäck auf die Reise begeben, nein,
sie hielten Blumen in den Händen. Ein Willkomm? Güldenfey blickte sich
um und musterte erst die Mitfahrenden. Es waren oft Tagesgrößen auf
Heilisoe, die gefeiert und bestaunt wurden.

»Aber das ist ja Oberst Helf, Jörg, und dort -- Hanna Wilkens, und die
Frau, die links steht, ist Frau Jobst.«

Sie wußten noch immer nicht, daß der Empfang ihnen galt. Aber da sie an
das Land traten, umringten die Wartenden sie.

»Es haben sich ohne Verabredung alle die hier eingefunden, die Sie
liebhaben und mit Trauer scheiden sehen«, sagte der Oberst. »Unser
Abschied soll ein geringes Zeichen unsrer Dankbarkeit sein.«

»O!« sagte Güldenfey. Sie war so erschüttert, daß sie keine Worte
fand. »Ist es denn möglich? Für das Wenige, das wir ihnen erweisen
durften! Und wir taten doch nur, was wir mußten.« Ihre hohe Stimme,
ihre strahlenden Augen waren von Tränen verdeckt. »Auch Sie, liebe Frau
Jobst? Und Frau von Ebel? Ach, Mellin!«

Es waren auch solche da, die sie gar nicht nach Namen kannte: Kinder,
denen sie einmal Brot gereicht; Männer und Frauen, die sie, da sie
krank gelegen, in der Sachsenvorstadt besucht; alte Stiftfräulein,
denen sie Blumen aus dem vergessenen Garten gebracht hatte. Selbst
Fridchen Waterström war von ihrem Räucherboden gestiegen und
überbrachte knicksend einen Blumenstrauß und einen Gruß von Engelke.
Wie hatten diese alle nur von ihrer Abfahrt gewußt?

Der Zug schloß sich ihnen an, sie zur Bahn zu geleiten. Wie im Triumph
zogen Güldenfey und Jörg durch die Stadt. Es war kein prunkendes
Geleit, es war das Geleit der Armen. Aber seliger ist kein Hoher
einhergezogen, und nie ist ihm ein innigerer Dank gefolgt, als er diese
beiden umgab.

Am Bahnhof erwarteten sie Ose und Thomasius. Ose kniff die Lippen
ein, um ihre Rührung zu verbergen, dem Mann aber flossen die Augen
über. Wortlos beugte er sich über die segensreichen Frauenhände, die
er begehrt und doch nicht ergriffen hatte, die sich ihm nun auf immer
entzogen. Seine Huldigung war Dank und Bekenntnis und Bitte zugleich.

Die Schar füllte den Bahnsteig und schmückte das Abteil, das Jörg
und Güldenfey bestiegen, mit den Blumen. Blicke gingen bangend und
tröstend, dankend und verheißend hin und her. Was sollten in dieser
Stunde noch Worte sagen können!

Dann hörte man das Abfahrtzeichen. Arme hoben sich und Tücher winkten.

»Dank! Dank!«

Güldenfey lehnte aus dem Fenster. Was blieb hinter ihnen zurück?
Ihre Armen, die siebenfach getürmte schöne Stadt, das Eiland im
unvergleichlichen Blau des Himmels und der See, die Heimat! Sie aber
hatten gefunden, was wertvoller als alles war: ~sie waren auf dem Weg
nach Heilisoe~.




                           Paul Steinmüller


  ~Die Rhapsodien von der Freude~ / 251.-280. Tausend. 12°. 56 S.
  Steif geh. _M_ 1.--, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.90,
  in Leinwand _M_ 2.20.

  ~Die Rhapsodien des Lebens~ / 191.-220. Tausend. 12°. 84 S.
  Steif geh. _M_ 1.30, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 2.20,
  in Leinwand _M_ 2.50.

  ~Die Rhapsodien vom verlorenen Königreich~ / 51.-80. Tausend.
  12°. 64 S. Steif geh. _M_ 1.--, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.90,
  in Leinw. _M_ 2.20.

  ~Der Heiland~ / Ein Dank / 51.-65. Tausend. 12°. 98 S.
  Steif geh. _M_ 1.40, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 2.30,
  in Leinwand _M_ 2.60.

  ~Trosteinsamkeit~ / Wanderweisen / 51.-80. Tausend. 12°. 51 S.
  Steif geh. _M_ --.90, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.80,
  in Leinwand _M_ 2.10.

  ~Alltägliches im Licht~ / 1.-25. Tausend. 12°. 63 S.
  Steif geh. _M_ 1.--, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.90,
  in Leinwand _M_ 2.20.

  ~Gottesnähe~ / 1.-15. Tausend. 12°. 61 S.
  Steif geh. _M_ 1.--, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.90,
  in Leinwand _M_ 2.20.

  ~In Allmutters Garten~ / Gr. 8°. 87 S.
  Steif geh. _M_ 2.50, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 3.50.

  ~Von Zeit und Ewigkeit~ / Ein Tagebuch / 16.-21. Tausend. 8°. 113 S.
  Pappband _M_ 2.--, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 2.50,
  in Leinwand _M_ 3.--.

  ~Die Lieder des Kommenden~ / 11. Tausend. 8°. 122 S.
  Gebd. in Pappe _M_ 2.50, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 3.--,
  in Leinw. _M_ 3.50.

  ~Das Zehn-Jungfrauenspiel~ / Drama / 2. Auflage. 8°. 111 S.
  Steif geh. _M_ 2.--.

  ~Der Novellenkranz einer Liebe~ / 20. Auflage. 8°. 160 S.
  Gebd. in Pappe _M_ 2.50, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 3.--,
  in Leinw. _M_ 3.50.

  ~Selige Sehnsucht~ / 8°. 150 S. Geheftet _M_ 3.--,
  in Ganzleinen _M_ 4.75.

  ~Die sieben Legenden von der Einkehr~ / 11.-25. Tausend. 12°. 128 S.
  Steif geh. _M_ 1.90, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 2.80,
  in Leinwand _M_ 3.10.

  ~Als Leid ging und Freude kam~ / Novelle / 11.-15. Tausd. 12°. 53 S.
  Steif geh. _M_ --.90, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 1.80,
  in Leinwand _M_ 2.10.

  ~Untrüborn~ / Novelle / 1.-10. Tausend. 12°. 122 S.
  Steif geh. _M_ 1.80, gebd. in Halbpergamenters. _M_ 2.70,
  in Leinwand _M_ 3.--.

  ~Der Richter der letzten Kammer~ / Roman / 5. Auflage. 8°. 207 S.
  Gebd. in Halbleinen _M_ 4.--, in Leinwand _M_ 4.50,
  in Halbleder _M_ 8.--.

  ~Jesus und sein Evangelium~ / 8°. 110 S.
  Geheftet _M_ 3.50, in Ganzleinen _M_ 5.50.

  ~Spielmannslieder~ / Mit Lautenbegleitung / Der singenden Jugend
  gewidmet. 6.-15. Tausend. 8°. 28 S. Steif geh. _M_ --.20.

  ~Sendschreiben an das deutsche Volk~ / 8°. 64 S. Steif geh. _M_ --.20.

  ~Feuerrufe in Deutschlands Nacht~ / 1.-5. Tausend. Gr. 8°. 45 S.
  Steif geh. ~M~ 1.50.

  ~Deutscher Seele Aufbau~ / 24 Spruchkarten aus Paul Steinmüllers
  Werken.   Gezeichnet von Walter Jacobs. ~M~ --.75.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER WEG NACH HEILISOE ***


    

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