Der schmale Weg zum Glück

By Paul Ernst

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Title: Der schmale Weg zum Glück

Author: Paul Ernst

Release Date: June 12, 2015 [EBook #49199]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHMALE WEG ZUM GLÜCK ***




Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
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                Paul Ernst / Der schmale Weg zum Glück




                           Der schmale Weg
                              zum Glück


                                Roman
                                 von
                              Paul Ernst

                      Einmalige Ausgabe für die
                        Deutsche Hausbücherei
                               Hamburg

    Der Roman ist einzeln nur in der Originalausgabe des Verlages
        Georg Müller Aktiengesellschaft München zu haben / Die
       Hausbüchereiausgabe wurde gedruckt bei der Hanseatischen
   Verlagsanstalt A.-G., Hamburg 30 und Wandsbek / ^Printed in Germany^
        / Copyright 1921 by Georg Müller Verlag A.-G., München




                             Erstes Buch


Es war in den ersten Wintertagen, wo um sieben Uhr schon Dunkelheit in
den Stuben ist. Die Großmutter saß still in ihrem Lehnstuhl am Ofen und
träumte im Halbschlummer von ganz alten Zeiten, als sie ein junges
Mädchen war und einen ungeschickten Freier auslachte. Pollux lag auf der
Seite vor dem warmen Ofen und schnarchte plötzlich, wachte davon auf,
klopfte mit dem Schwanz auf die Dielen und legte sich wieder um. Ganz
laut tickte die Wanduhr, wie sie es am Tage nicht wagt. Der kleine Hans
saß mäuschenstill unter dem Tisch und stellte sich vor, dieser Tisch sei
eine Stube, die von allen Seiten verschlossen wäre, und da säße er in
der Mitte, und dann müßte nichts weiter auf der Welt sein wie diese
Stube.

Dorrel ging in den Stall, und die Laterne warf schnell einen Schein über
die Decke und dann die Wand entlang über die Spitzen der Rehgeweihe und
über die Gewehrläufe. Dann hörte man, wie der Melkeimer klirrte und wie
sie mit der Kuh zankte, die Elsbeth hieß, und zuletzt hörte man das
Melken.

Die Tür ging auf, und die Mutter trat mit der Lampe herein. Die
Großmutter nahm schnell ihr Strickzeug in die Höhe und sagte, daß sie
gar nichts mehr habe sehen können, denn sie wollte es nicht Wort haben,
daß sie geschlafen. Dann deckte die Mutter mit dem leinenen Tischtuch,
das aus selbstgesponnenem Flachs gewebt war und in der Mitte eine Naht
hatte, und der kleine Hans unter dem Tisch saß jetzt viel heimlicher,
sah auf die raschen Füße der Mutter und betrachtete, wie der Rock sich
bewegte. Und so klapperten die Teller, braune, irdene Teller, und die
Schüssel mit dem Haferbrei wurde auf den Tisch gesetzt; sie war auch ein
irdenes Geschirr und war inwendig das Vaterunser mit Grün und Rot
hineingeschrieben, dann kamen die blanken zinnernen Löffel und die
Messer und Gabeln mit Hirschhorngriff, und ein Stück Schinken und ein
Schinkenbrett für jeden, nur nicht für den kleinen Hans, denn dem wurde
sein Teil zugeschnitten, und er kriegte es in ganz kleinen Würfeln, aber
die Großen aßen ihren Teil in Streifen.

Die Uhr hob aus zum Schlagen, und der kleine Hans kroch unterm Tisch
hervor, um die Zeiger zu betrachten, wie sie zitterten während des
Schlagens. Da waren mit einem Male laute und schnelle Schritte des
Vaters vor dem Haus; Pollux sprang auf und stellte sich winselnd vor die
Tür, der Vater kam eilig herein und langte nach der Schrotflinte; Pollux
sprang an ihm hoch; die Mutter warf sich ihm entgegen und rief: »Bleib,
bleib, ich habe eine Ahnung, sie bringen dich tot nach Hause!« Er aber
schob sie von sich, pfiff dem Hund und ging wieder eilig hinaus; seine
Wange blutete stark von einem langen Riß. Die Mutter warf sich laut
weinend auf einen Stuhl, der kleine Hans trat vor sie, legte ihr die
Händchen in den Schoß und blickte zu ihr auf. Die Großmutter aber in der
Ecke mit ihrer alten Stimme sprach tadelnde Worte und erzählte, wie ihr
selbst vor vierzig Jahren die Arbeiter ihren Mann auf zwei jungen Tannen
tot nach Hause gebracht, mitten durch die Brust geschossen, aber sie
habe nicht geweint, obwohl sie ein junges Weib gewesen damals und erst
ein halbes Jahr verheiratet, und Hansens Vater sei nach ihres Mannes
Tode geboren; denn wer in seiner Pflicht stirbt, der hat einen guten
Tod, und Gott verläßt nicht seine Hinterbliebenen; und wenn ein Förster
sein richtiges Geld kriege, so müsse er auch sein Leben einsetzen gegen
die Wilddiebe. Da weinte die Mutter noch stärker, der kleine Hans aber
faßte ihren Arm und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, denn er wollte
sie trösten.

Zuletzt wischte sie sich die Tränen von den Backen, damit die Magd
nichts merken sollte von ihren Sorgen, und ging in die Milchkammer, die
Milch in Satten zu tun, indessen Dorrel der Kuh Futter aufsteckte. Und
wie beide ihre Arbeit beendet, kamen sie zurück in die Stube, und alle
setzten sich an den Tisch zum Abendbrot; nur des Vaters Platz blieb
leer, und die Mutter sah nicht hin nach der Stelle, denn sie hatte
Furcht, die Tränen möchten ihr wieder in die Augen steigen. Jedem tat
sie auf seinen Teller von dem Haferbrei und auf sein Brettchen ein Stück
Schinken; dann betete sie mit lauter Stimme das Tischgebet.

Der Mond war draußen aufgegangen über den schwarzen Tannen, und es
schien heller durch die Spitzen der dick beschlagenen Fensterscheiben.
Dorrel sprach davon, daß in der Nacht ein scharfer Frost kommen werde;
die andern schwiegen; plötzlich sagte Hans mit seiner hellen Stimme:
»Die Großmutter hat doch recht, wenn ich das Geld nehme, so muß ich auch
alles dafür tun, sonst darf ich das Geld nicht nehmen.« Aber niemand
antwortete auf seine Rede, bloß die Magd verwies ihm, er solle nicht
sprechen, wenn die Erwachsenen unter sich Dinge zu ordnen hätten. Dann
beredete sie mit der Mutter, was am andern Tag getan werden mußte.

Nach dem Essen räumte die Mutter das gebrauchte Geschirr ab; nur das
Gedeck für den Vater ließ sie liegen, hob ihm auch in der Ofenröhre
seinen Haferbrei auf. Dann war Hans wieder allein mit der Großmutter in
der Stube.

Da hatte sich die Katze hereingeschlichen, ging leise vor den Ofen,
putzte sich mit Sorgfalt, und dann setzte sie sich mit rechter
Behaglichkeit, schloß die Augen halb und spann; Hans lag vor ihr auf der
Erde und sah ihr ins Gesicht, so daß sie verlegen wurde; er hätte gern
gewußt, wie sie das Spinnen machte. Dann betrachtete er die beiden
großen Bilder über dem Sofa; das waren der Beerdigungszug des Jägers und
der Beerdigungszug des Fischers. Dem Sarg des Jägers folgten alle Tiere
auf der Erde, der Hirsch, das Reh, die Sau, der Fuchs, und alle Vögel,
und ein kleines Eichhörnchen; und bei dem Fischer folgten die Fische,
denn es floß da ein Wasser. Er dachte sich immer, wie das sein müßte,
wenn er auch ein Tier wäre und folgte da mit in dem Bilde; man sah recht
tief in einen schönen und saubern Wald hinein, in dem mußte es sich ganz
gut lustwandeln lassen, und die Bäume waren ganz andrer Art, wie man sie
sonst sah. Allgemach kam der Sandmann, und er rieb sich die Augen. Da
ging er zur Großmutter, die sich die Lampe ganz nahe gerückt hatte und
ihr Strickzeug ganz dicht vors Gesicht hielt, und bettelte, daß sie ihm
die Geschichte von der weißen Schlange erzählen sollte.

Da erzählte die Großmutter, wie ein Vorfahr der Grafen, denen die Wälder
hier gehörten, ein Prasser und Schlemmer gewesen sei und ein böser Mann;
der habe einen guten und frommen Diener gehabt, der ihn oftmals zum
Bessern ermahnt, aber niemals zur Umkehr habe bewegen können. Eines
Tages habe der Diener dem Grafen eine verdeckte Schüssel müssen auf sein
verschlossenes Zimmer bringen, und wie er, von besonderer Neugierde
bewegt (das zwar nicht ehrbar von ihm gewesen), die Schüssel aufgedeckt
habe, sei eine gekochte weiße Schlange darin gelegen, in viele Stücke
zerschnitten. Da habe er sich nicht mehr bezwingen können und sei ihm
gewesen, als werde ihm befohlen, daß er eins der Stückchen heimlich habe
nehmen müssen. Der Graf aber habe alles andere gegessen und nichts
gemerkt. Wie nun der Diener am Fenster steht und in den Schloßgraben
hinuntersieht, schwimmen da zwei weiße Enten, und er merkt, daß er ihre
Sprache versteht, und sie erzählen sich, daß das Schloß noch diese Nacht
untergehen soll; der Herr aber stand auch am Fenster und lachte. Daraus
merkte der treue Diener, daß der Graf etwas Falsches verstanden hatte
für seine Sünden, verfiel rasch auf eine List und sprach, er habe sich
eine lustige Jagd ausgedacht für diesen Abend; nämlich alles
Schloßgesinde solle mit Fackeln kommen, und der Herr mit seinem einzigen
Töchterchen, denn seine Gemahlin war schon seit langem verstorben, solle
auch kommen, und dann wollten sie Krebse fangen in einem Waldbach, den
er wisse, weil es jetzt Zeit sei zum Krebsen. Dies gefiel dem Grafen und
wurde so gemacht. Und wie alle aus dem Schloß gezogen waren und sich
erlustigten und fröhlich waren, kamen Blitze und Donnerschläge und ein
Erdbeben, und das Schloß versank, und an der Stelle ist jetzt die
Elsgrube. Da wurde der Graf ganz blaß und ging in sich und ging in ein
Kloster; vorher aber verheiratete er seine Tochter mit dem frommen
Diener und gab dem sein ganzes Gut, und von dem stammen in männlicher
Reihenfolge die jetzigen Grafen ab, wiewohl der Name nicht gewechselt
und noch der alte ist.

Unter dem Erzählen war Hans fast eingeschlafen. Jetzt kam die Mutter, um
ihn zu Bett zu bringen. In der schrägen Dachkammer, unter den
kalkverputzten Ziegeln zog er sich aus, dann faltete er die Hände und
betete mit der Mutter zusammen sein Kindergebet:

   Abends, wenn ich schlafen geh,
   Vierzehn Engel bei mir stehn,
   Zwei zu meiner Rechten,
   Zwei zu meiner Linken,
   Zwei zu meinen Häupten,
   Zwei zu meinen Füßen,
   Zwei, die mich decken,
   Zwei, die mich wecken,
   Zwei, die mich weisen
   In das himmlische Paradeischen.

Dann schlief er ein, und der Mond zog langsam weiter hinauf über den
stillen Wald; die Kuh klirrte einmal mit ihrer Kette und brüllte leise
und behaglich, und dann legte sie sich schwer nieder zum Wiederkäuen;
kein Geräusch war im Haus wie zuweilen ein Klappern mit dem Geschirr aus
der Küche, wo Dorrel abwusch.

Wie die Mutter wieder in die Stube trat, hatte die Großmutter den Kopf
auf den Tisch gelegt und schluchzte, daß das Licht der Lampe sich
bewegte durch die Erschütterung. Die Mutter setzte sich still ans
Fenster; und so warteten die beiden Frauen in der Nacht, ob sie
vielleicht einen Schuß hörten. Lange warteten sie so allein; denn Dorrel
kam nicht in die Stube, wie sonst immer nach der Abendarbeit, sondern
sie tat, als habe sie heute mehr in der Küche zu verrichten wie
gewöhnlich; sie wußte, daß die beiden Frauen in Sorge saßen und wollte
sie schonen; sie selbst aber dachte immer hin und her: >Was soll mit dem
Kind werden, die Mutter kann den Jungen nicht erziehen, der braucht
einen Vater<; und über ihrer nassen Planenschürze faltete sie ihre
schwieligen Hände zu einem wortlosen Gebet für ihren Herrn. Es mochte
gegen Mitternacht sein, da hörte man den schweren Tritt des Vaters vor
dem Hause. Die Mutter eilte, die Haustür aufzuschließen. Er trat ein,
bot die Zeit, hängte die Flinte an die Wand und setzte sich an den
Tisch. Sie brachte ihm das Essen; der Hund ging still zu seinem Lager,
denn nur in Abwesenheit seines Herrn wagte er vor dem Ofen zu liegen,
drehte sich im Kreis, legte sich und schlief scheinbar ein, indem er
doch aufmerksam das Gespräch verfolgte.

Es war ein Schreiben von der gräflichen Güterverwaltung gekommen, in dem
ihm mitgeteilt wurde, daß der Bocksklee abgetrieben werden solle. Der
Förster wurde tief erregt und sprang auf. Er hatte immer verlangt, daß
der Bocksklee ungestört bliebe, weil er den Westwind abfing und dadurch
ein großes Gebiet vor Windbruch schützte. Aber der Herr hatte Geld
nötig, und da war es ihm gleichgültig, was geschehen mochte.

Der Graf war ein sehr freundlicher und liebenswürdiger Herr; er gab dem
Förster die Hand und sagte zu ihm: »Guten Tag, mein lieber Werther«; er
fragte nach seiner Frau und dem Jungen und lobte ihn wegen seines
Eifers. Aber der Förster hatte keine Achtung vor ihm, weil er
leichtfertig war in Worten und Werken und sein Gut vertat, anstatt zu
sparen und zu wirtschaften. Deshalb wollte er den kleinen Hans später
auch nicht in Herrendienst geben, wiewohl ihm das Herz blutete, wenn er
dachte, daß sein Junge einmal nicht das grüne Tuch tragen sollte, in dem
Großvater und Urgroßvater stolz gewesen waren; aber er sollte einmal ein
freier Mann werden, daß er seinem Gewissen folgen durfte und nicht
gehorsamen mußte, wenn ihm unkluge Befehle gegeben wurden; deshalb
wollte er ihn studieren lassen, denn er dachte, ein Studierter brauche
niemandem zu dienen und könne immer tun, was recht ist. Abends, wenn er
einmal ein Halbstündchen Zeit hatte, nahm er das Kind zuweilen auf den
Schoß und sprach mit ihm, daß er fleißig sein müsse und lernen, dann
müsse er einmal nicht mit krummem Rücken dastehen in der Welt, sondern
könne seinen geraden Weg gehen als ein aufrechter Mann. Der Graf war
nicht böse, aber er hatte keine langen Gedanken. Auf der Jagd war er so
einfach wie einer von seinen Leuten; aber wenn er in der Stadt lebte, so
hätte er sich geschämt, wenn er es nicht andern hätte gleich tun sollen,
die reicher waren wie er. Einmal hatte er im Försterhause eingesprochen
und mit der Frau Werther geredet über Haushalt, Wirtschaft und
Kindererziehung; da schienen seine Meinungen so verständig und
ordentlich, daß die Frau sich immer noch wunderte, wie so ein Herr
solche Einsichten haben konnte in Dinge, die ihm doch ganz fern lagen;
aber in seinem Hause bekümmerte er sich nicht um Einteilung, Ordnung und
Einrichtung. Er nahm nur aus den Kassen das Geld, das er brauchte, ohne
sich zu überlegen, ob er Einnahmen verzehrte oder Vermögen. Seine Kinder
wuchsen auf, ohne daß er sich klar machte, zu welchem Ende und unter
welchen Einflüssen, denn auch seine Frau hatte keine Hausgedanken.
Deshalb trieben sich die beiden Söhne am liebsten in den Ställen und
Küchen herum und lernten wenig trotz teurer Hofmeister; und die Tochter,
die einen besonderen Trieb zum Lernen hatte und ganz unpassende Lehrer
bekam, wie sie eben für ein ganz gewöhnliches Mädchen geeignet gewesen
wären, suchte verstohlen in der vernachlässigten Bibliothek Bücher für
sich und bat den alten Pfarrer, bis er sie im Lateinischen
unterrichtete. Einmal nahmen ihr die Brüder heimlich ihre lateinischen
Bücher fort und bauten sie auf ihrem Platz am Kaffeetisch auf; da hörte
der Vater zuerst von ihren Studien, schüttelte den Kopf und sagte, daß
ihm ihre Wege nicht gefielen. Sie preßte die Lippen zusammen und fuhr
fort in ihrer Weise, und bekümmerte sich niemand darum. Es ging dem
Grafen, wie es heute vielen reichen und vornehmen Leuten geht; er hatte
weder Amt noch Dienst, sorgte nicht für seine Angelegenheiten, noch für
seine Familie, fand kaum einmal ein wirkliches Vergnügen, und doch hatte
er nie Zeit; sein Leben zerfloß ihm zwischen den Fingern, wie wenn ein
Kind eine Handvoll Sand vom Boden hebt.

Die Söhne kamen schon frühzeitig auf schlimme Wege. Da war ein Bursche
im Stall, an den hingen sich die Jungen, der war ein tüchtiger Knecht;
machte seine Arbeit sauber und ordentlich und hielt sein Geschirr gut,
aber war ein Schürzenjäger; durch den lernten sie frühzeitig viel, und
weil ihnen das Gegengewicht der harten Arbeit wie sauren und einfachen
Pflicht fehlte, so wurde das Unkraut in ihrer Seele üppiger, wie es bei
dem Verführer gewesen, der später ein ordentliches Weib kriegte, das ihn
gehörig in die Kandare nahm und zu einem braven Manne machte. Noch ärger
war es, daß die Knechte zum Scherz ihnen von ihrem Branntwein gaben und
lachten, wenn sich die Jungen schüttelten nach dem Trunk und doch wieder
von neuem begehrten; und wie sich einmal die Leute untereinander
rühmten, welcher den schärfsten Schnaps getrunken habe, und allerhand
beizende Mittel erzählten, gestoßenen Pfeffer, Schwefelsäure, die den
Branntwein perlen macht, und Tabaksbrühe, krähten die Jungen auch
dazwischen und verredeten sich, daß ihnen das Schärfste das
Wohlschmeckendste sei, tranken auch von dem gepfefferten Branntwein.
Endlich fand sich ein uralter Mann, der früher Taglöhner gewesen war und
nun aus Gnaden auf dem Hofe erhalten wurde, wofür er die Gänse hüten
mußte, der war schon in jungen Jahren ein schlechter und liederlicher
Bursche, und nun, in seinem Hochalter, verwirrten sich ihm vollständig
alle Begriffe von gut und böse, daß er in seinen Begierden schlimmer
wurde wie das Vieh, nämlich nicht bloß schamlos, sondern rühmerisch und
frech. Wohl suchten die ehrbaren und ordentlichen Leute unter dem
Gesinde dem Übel Einhalt zu tun, indem sie den Böswilligen verboten und
die Jungen zu sich ziehen wollten; aber wo keine Zucht ist, da gewinnen
die Schlechten und Liederlichen die Oberhand, auch wenn sie in der
Minderzahl sind, und ungezogene Jugend geht lieber zu der übeln Seite,
wo geprahlt und geschmeichelt wird, wie zu ruhigen und sittsamen
Menschen und bescheidenen und strengen Worten; denn nicht das Laster ist
verführend, das ja meistens mehr mit Unbehagen und Schmerz verbunden ist
wie mit Freude und Wollust, sondern die lasterhafte Gesellschaft
verführt durch freche und unbotmäßige Reden, übertreibende und
lügnerische Erzählungen und falsche Scham.

Viele Leute sehen auf ein Haus wie des Grafen; und kaum eine geringe
Kleinigkeit kann in ihm geschehen, die nicht in einem großen Kreise
besprochen würde und weite Wirkung ausübte; das Wesen der Vornehmen wird
genau erkannt und beurteilt, und mancher Taglöhner wußte von Art und
Schlag des Grafen, seiner Gemahlin und seiner Söhne mehr wie er selbst.
In unserer Zeit ist die Gesellschaft bis in ihre letzten Tiefen
aufgerüttelt, und alle alten Bande sind gesprengt, die bewirkten, daß es
ein Unten und Oben gibt. Manche Menschen meinen, daß dieser Zustände
Ende eine völlige Gleichheit aller Menschen sein werde; wer aber genau
zusieht, der wird merken, daß diese allgemeine Ungebundenheit im
Gegenteil eine neue und tiefere Scheidung der Gesellschaft bewirkt,
indem die Tüchtigen sich zu den Tüchtigen scharen und die Schlechten zu
den Schlechten; viele sinken so und viele steigen; viele der Gestiegenen
sinken wieder, denn sie können sich nicht oben halten; manche aber
bleiben oben, und auch einer gesunkenen Familie gelingt es wieder, zu
steigen, wenn sie sich doch als tüchtig erweist. In solchem Vorgang übt
der Anblick einer Familie wie des Grafen eine außerordentliche Wirkung,
denn die Schlechten werden bestärkt im Leichtsinn oder in
aufrührerischer Gesinnung, die Guten aber werden desto trotziger und
stolzer; und bei beiden wird der Freiheitssinn gemehrt, bei den einen
der Sinn für die Freiheit der Zuchtlosigkeit, die sie und ihre Kinder in
das wohlverdiente und notwendige Verderben treibt; bei den andern der
Sinn für die Freiheit der Zucht und Ehre, die sie tüchtig machen, sich
zuoberst zu setzen in die verlassenen Stühle; denn nachdem sie gelernt,
in Ehre zu gehorchen, vermögen sie auch in Ehre zu befehlen.

Der Förster hatte seinen Abscheu vor der Wirtschaft auf dem Schlosse
immer mehr vertieft. Zwar durfte er seinem Herrn nichts sagen von seiner
Meinung; aber wenn die beiden zusammenkamen, so äußerte sich in ihrem
Wesen dennoch deutlich ihre wahre Beziehung, die seelische, die
wichtiger ist wie die äußerliche der zufälligen Verhältnisse. Der
Förster war ehrerbietig, aber wortkarg, und schritt als ein großer,
magerer Mann in weiter und fester Gangart, der Graf, der klein und durch
sein fröhliches Leben fett war, ging flüchtiger und schneller, indem er
ein wenig zurückblieb, und sprach oft Sätze, mit denen er seinen Förster
zum Lächeln bringen wollte. Der Förster behielt wohl, was sein Herr
sagte, aber er bezog sich später nie wieder auf seine Worte, wenn sie
nichts Dienstliches betrafen; der Graf aber erinnerte den Förster oft an
frühere Aussprüche. Doch je liebenswürdiger der Graf war, desto bitterer
wurden des Försters Gedanken, denn er gedachte des alten Herrn, der ein
rauher und fester Mann gewesen war, der von jedem seine gebührende
Ehrenbezeigung verlangte; der hatte ihm einmal ein Trinkgeld gegeben,
als er noch Jägerbursche war, und dazu gesagt: »Bleib ein ordentlicher
Kerl«; wie er tot war und aufgebahrt lag, war er in Uniform und hatte
den Helm auf dem Kopf; aber wie sie ihn einsargten, mußten sie ihm den
Helm unter den Arm geben, das hatte er so angeordnet vor seinem Ende.
Dann mußte er auch immer den Bocksklee bedenken; das war ein Vorwerk
gewesen mit schlechtem Boden, das sein Urgroßvater aufgeforstet hatte,
und von seiner Hand war noch der Plan da, wie es mit dem Umtrieb
gehalten werden sollte, des Windbruches wegen; und wenn er sich die
viele Mühe und Sorge, die durchwachten Nächte und arbeitsreichen Tage
vorstellte, die seine Vorfahren verbracht hatten, bis der Wald so stolz
und wertvoll war, so kam ihm der Groll bis an die Kehle und hinderte ihn
zu sprechen. Keinen Stand gibt es, der so mit der Arbeit der
Vergangenheit zusammenhängt und so mit der Hoffnung auf die Zukunft
verwachsen ist wie der Försterstand; denn was ein Förster erntet, das
haben die Toten gepflanzt, deren Gräber längst eingesunken sind auf dem
Kirchhof; und was er pflanzt, das wird man ernten, wenn die Söhne seiner
Urenkel als Männer im grünen Rock durch den Wald gehen. Deshalb ist
etwas Adeliges in einem rechten Förster, denn er weiß, daß der Mensch
nicht ein haltloses Gesindlein ist, das morgen lebt mit dem Taglohn von
heute und sich dick tut mit seinem Elend und lumpigen Verdienst, sondern
der Mensch lebt durch die Liebe der Vorfahren in Pflicht für die
Nachkommen, nicht von seinem Verdienst, sondern nach seinem Gewissen.

Ein Kind, das in solchen Lebensumständen aufwächst, bekommt etwas
Besonderes mit. Es lernt früh die Beziehung seines eignen Lebens als
eines fast zufälligen zu Vergangenheit und Zukunft seines Geschlechtes;
aber doch nicht in der Form des harten Erwerbsinns und des Stolzes auf
den Besitz, wie im Bauernstand, sondern in der Form des Gefühls für
reine Ehre und strenge Pflicht; denn nicht für sich und seine Kinder
pflegt der Förster sein Gut, sondern für andere.

Kein Mensch weiß, wie sich das Wesen eines Kindes bildet und wie
Erbschaft und Einfluß einander bestimmen. Ganz kleine Kinder haben in
viel höherem Maße wie Erwachsene die Fähigkeit, aus Miene und Haltung zu
erfahren, was in einem andern ist; und in viel höherem Maße haben sie
auch den Trieb, nachzuahmen, Äußerliches wie Innerliches. Kaum hatte der
kleine Hans gehen können, da legte er schon die Hände über den Rücken
und ging ernsthaft in der Stube auf und ab mit steifen Schultern, wie
sein Vater tat am Sonntagnachmittag, sagte er sein Nein oder sein Ja mit
derselben Betonung wie der Vater; und da seine gesamte Umgebung dieselbe
war, in der sein Vater und Großvater aufgewachsen waren, so nahmen alle
seine angeborenen Triebe dieselbe Richtung, wie sie bei Vater und
Großvater genommen hatten, und seine Art wurde noch stärker, wie die
seiner Vorfahren gewesen.

Und was erzog ihn alles. Da erwachte er des Morgens, und sein Hauch war
sichtbar in der kalten Luft unter dem kalkverputzten Ziegeldach, und die
kleinen Fensterscheiben waren dick gefroren. Und unten in der Stube saß
er dann am Fenster, sah, wie die Schneeflocken niedertanzten und sich
sanft auf Zweige legten und auf Bretter und auf den Erdboden, der mit
kleinen Steinchen bedeckt gewesen; aber wenn die großen Flocken ans
Fenster wehten, so vergingen sie schnell, indem sie niederglitten. An
manchen Tagen, wenn es nicht schneite und sehr kalt war, taute auch in
der Stube das Fenster nicht ab; dann hauchte er an die Scheibe und
schmolz sich ein rundes Loch zum Ausschauen; im Augenblick war es wieder
mit einer dünnen Eishaut bedeckt, die war aber nicht weiß. Im Walde war
ein Krachen, Tönen und Donnern; und der Wald stand doch ruhig und
unbewegt mit seinen schneebedeckten Zweigen in der hellen Sonne. Wenn
die Kälte so groß war, so wurde das Herz leicht und lustig und verlangte
nach Gefahren; dann dachte er an den letzten Luchs, den sein Großvater
hier geschossen, und seine Fäuste ballten sich; und an die Franzosenzeit
dachte er, wie da das ganze Dorf in den Wald gezogen war, und er schämte
sich, daß alle solche Furcht gehabt hatten. Denn wer recht hat und Gott
fürchtet, der muß ausharren, wie im Buch der Makkabäer erzählt ist von
den sieben Brüdern und ihrer Mutter; wie die Mörder sechs zu Tode
gemartert hatten, da sprach der letzte, der noch ein Kind war: »Worauf
harrt ihr? Gedenket nur nicht, daß ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein
will«, und ließ sich auch martern, trotzdem er noch klein war.

Abends las die Großmutter oft lange vor aus der alten Bibel, deren
Blätter braun geworden waren durch die Finger so vieler Vorfahren, die
jetzt lange vergessen lagen in ihren rasenbedeckten Gräbern; aus den
Geschichtsbüchern im Alten Testament las sie und aus den Evangelien und
der Offenbarung Johannis, von dem himmlischen Jerusalem und von der
Schale des Zorns, von den vier Reitern und von dem Tier, das über den
Gewässern sitzt. Wenn Hans dann mit ihr sprach über das Gelesene, so
wunderten sich beide über die Verstocktheit der Juden und freuten sich,
daß wir die Offenbarung haben, und daß unser Herr Jesus für uns
gestorben ist, an den wir glauben müssen, und können nicht irren. Und
wir sehen alle Tage, daß der Gerechte siegt und der Ungerechte vergeht;
denn wenn auch ein schlechter Mensch scheinbares Glück hat, so verrinnt
das doch bald, wie es Klaus Hörgen geschah, der aus der Fremde heimkam
mit einem großen Vermögen, sich ein Haus kaufte und nichts mehr tat; was
geschieht? Nach ein paar Jahren wurde ihm sein Haus wieder verkauft, und
kam in Schimpf und Schande. Daß es aber einem guten Menschen schlecht
ginge, das ist noch nie geschehen; es müßte denn sein wie bei der
frommen Genoveva, weil der Herr sie prüfen wollte und ein Beispiel geben
für andre.

Im Sommer streifte der kleine Hans viele Stunden lang allein im Wald. Da
lagen die Tannennadeln glatt und ungestört auf dem Boden, und die hohen
Stämme standen regungslos; nur wenn er zuweilen auf dem Rücken lag und
in die Wipfel schaute in der tiefen Stille, spürte er ein leises Wiegen
der Stämme und wie die spitzenbehangenen Äste sich kreuzten, hoch oben.
Das war eine andre Welt, hoch oben; wenn man ein andres Wesen wäre, ein
Vogel oder ein Eichhörnchen, so lebte man da, hüpfte von Ast zu Ast, und
alles, was unten ist, sähe ganz klein aus und ginge einen nichts an. In
die Stille kam plötzlich das Klopfen oder das Hämmern eines Spechtes,
ganz von weitem, oder ein unmerklich leises Geräusch von einer kleinen
Meise mit blitzenden Augen. Und Moos war da, das drängte sich dicht, und
eine Art sah aus wie ein Tannenwald im kleinen, der Berg und Tal
überzieht und alles rund macht. Ameisen auf einem solchen Moosberge
kamen sich wohl vor wie wir im Hochwald; vor Gott aber waren wir gleich
den Ameisen und ein Wald von vielen Meilen wie ein Häufchen Moos. Das
war wunderbar, wenn man auf der anderen Seite die Würdigkeit der
Menschen bedachte, denn alle unsre Gedanken kannte ja Gott; dieses war
auch der Grund, weshalb wir um ein reines Herz beten, weil wir uns nicht
gern schämen, wenn Gott in uns hineinsieht. Einmal hatte Hans gemerkt,
wie Gott in ihn hineinsah, aber da hatte er gerade ein reines Herz, und
das machte ihn sehr froh, und es war ihm, als müßte es sich innerlich
ganz ausbreiten vor Gott, wie ein Buch mit der ersten Seite
aufgeschlagen hingelegt wird; er war im Walde und in einer sehr großen
Stille.

Wir haben seltene Augenblicke im Leben, wo uns unser inneres Wesen
symbolisch gezeigt wird, wie wir ja auch im Traum, statt Begriffe zu
denken, Symbole sehen. In einem solchen Augenblick, da er zudem auf der
äußersten Spitze seines Lebens stand und sich in solcher
Schicksalsstunde für immer nach links wenden mußte oder nach rechts,
hatte er in seinem späteren Leben einmal ein schnell vorüberhuschendes
Schattenbild eines hohen und ernsten Tannenwaldes, und sein Gefühl war
wie Glockenklang. Da entschied er sich nach der rechten Seite; und dann
wurde ihm klar, daß der Wald ein treuer Lehrer seiner Jugend gewesen
war; und er wußte genau, daß er ein andrer Mensch geworden wäre, wenn er
unter Buchen oder Eichen aufgewachsen, statt unter Tannen.

Ein treuer Lehrer war ihm auch Dorrel, das Dienstmädchen. Er war bei ihr
im Stall, wo das trübe Licht in der großen alten Laterne brannte, und
Dorrel melkte, gleichmäßig und in langen Zügen, indes die Kuh behaglich
ihr Kleeheu aus der Krippe zupfte; ein ganz besonderer Ton war in dem
Melken, der nach Ordnung, Ehrbarkeit und Fleiß klang; auch die Kuh steht
bei einer faulen und hochmütigen Melkerin nicht so ruhig und behaglich,
denn das liebe Vieh merkt wohl den Unterschied im Wesen der Menschen und
benimmt sich danach.

Dorrel hatte eine besondere Kunst; sie konnte Schutzkrausen aus buntem
Papier für Talglichter machen; die schnitt sie zuerst mit der Schere
zurecht, und dann drehte sie mit der Schürze sie so, daß sie schöne
Falten bekamen. Wenn sie dem kleinen Hans etwas ganz besonders Gutes
antun wollte, so versprach sie ihm, daß sie ihm eine solche Krause
machen wolle, und dann freute er sich sehr. Sehr oft nahm sie ihn mit,
wenn sie aufs Feld ging, und besonders wenn sie im Herbst aus der
Elsgrube Kartoffeln holte. Da zog sie den Schubkarren aus der Scheune,
legte den Sack auf und ließ dann den kleinen Hans sich setzen; der saß
da mit geknickten Beinen und sah glücklich in Dorrels rotes, strahlendes
Gesicht, die den Sielen über die Schulter geworfen hatte und rüstig den
Karren vor sich hinschob. Denn auch für sie war es eine große Freude,
wenn sie Kartoffeln herausholte. Während sie schob, gab sie ihm Rätsel
auf, alte Rätsel, die sie selbst als Kind von ihrer Großmutter gelernt:

   Es ging ein Männchen über die Brücke,
   Es hatt' ein Körbchen auf dem Rücken;
   Hatte drinne Sich sich,
   Hatte drinne Stich stich,
   Hatte drinne Weißgewaschen,
   Ohne Seif' und ohne Wasser.

Das wußte Hans natürlich nicht, was das war, nämlich: Spiegel, Nadeln
und Eier. Sehr merkwürdig war das. Auch das war ein schweres Rätsel:

   Der König von Ägypten,
   Der hatt' ein Ding, das wippte,
   Er konnt' es nicht verkaufen,
   Er mußt' es selber brauchen.

Das war nämlich seine Zunge.

Und in der Elsgrube war in der Mitte ein rundes Wasser, das war ohne
Grund. Vor vielen Jahren hatten die Leute einmal drei Heuseile
aneinandergeknüpft und unten einen schweren Stein angebunden und den
hinabgelassen, aber sie konnten keinen Boden finden. Hier hatte früher
das Schloß des Grafen gestanden, das untergegangen war, als der treue
Diener von der weißen Schlange gegessen; jetzt aber lagen hier die
Äcker, die zum Forsthaus gehörten.

Dorrel machte dem kleinen Hans eine Schleuder, indem sie eine schwibbe
Rute von einer Weide abschnitt und die vorn zuspitzte. Auf die Spitze
steckte Hans die Kartoffeläpfel und schleuderte sie in die Luft; so hoch
flogen sie, daß er sie beinahe nicht mehr sehen konnte. Ein anderer
hätte gedacht, sie flögen in den Himmel, aber Hans wußte aus seinem
Lesebuch, daß der Himmel unendlich hoch über uns ist, denn es gab
Sterne, deren Licht brauchte viele tausend Jahre, ehe es zu uns kam, so
hoch standen die; und der Himmel mußte doch natürlich noch höher sein;
aber das glaubte Dorrel ihm nicht, denn die meinte, es würde viel Unsinn
gedruckt, und man müßte nicht alles glauben, was in den Büchern steht.

Während er spielte, machte Dorrel Kartoffeln aus; und fast über jeden
Busch freute sie sich, daß er so viele Knollen hatte, und meinte immer,
das sei doch ein sichtbares Zeichen von Gottes Güte, daß man eine
einzige Kartoffel steckt, und nachher sind so viele da; wenn sie einen
besonders großen Busch fand, so rief sie den kleinen Hans, und dann
suchten sie zusammen die Knollen aus der Erde und zählten sie. Bei jedem
Busch war sie immer von neuem gespannt, und Hans stand dann wohl neben
ihr, und sie rieten vorher, wieviel Knollen der wohl hätte; dabei
behauptete Hans dann etwa, er müsse hundert haben oder zweihundert, und
wollte nicht glauben, daß das gar nicht möglich war; wenn er dann
ärgerlich wurde, so gab sie ihm ein neues Rätsel auf:

   Ule, Ule,
   Er saß bei mir auf dem Stuhle,
   Er winkte mir, ich wehrte mich,
   Er winkte mir so süße,
   Daß ich vergaß die Augen und die Füße.

Da mußte Hans wieder betteln, denn er wußte nicht, was das war und war
doch recht neugierig. Dorrel aber ließ ihn lange zappeln, bis sie ihm
zuletzt sagte: das ist der Schlaf.

Die fromme und treue Magd sprach nur aus ihrem braven und rechten Gemüt.
Sie wußte, daß es nicht gut ist für ein Kind, wenn man ihm Zeit läßt,
ärgerlich und ungezogen zu werden, auch wenn man es alsdann straft,
sondern es ist besser, wenn man seine Gedanken ablenkt durch etwas
Neues, daß es seinen Ärger vergißt; denn leicht hinterläßt ein häßliches
Benehmen Spuren in der Seele eines jungen Kindes.

                   *       *       *       *       *

Der kleine Hans wachte an einem Morgen auf, weil die Vögel auf den
Ziegeln gerade über seinem Bett ein großes Klabastern und Schreien
anstellten. Ein Stückchen Kalk vom Verputz war ihm auf die Bettdecke
gefallen. Die Morgensonne schien durch das Fenster, und die Blüten des
Spalierapfels waren aufgebrochen. Ein vollbesetzter Zweig zog sich
schräg vor den Scheiben hin. Hans dachte, wenn die alle ansetzten, dann
würde es eine Menge Äpfel geben, und sehr bequem waren sie vom Fenster
aus zu pflücken. Indessen aber lag er in seinem warmen Bett und hielt
die Augen behaglich geschlossen. Auf dem Dach waren jetzt auch Tauben,
das hörte man am Gurren und an dem Trippeln. Die warteten, daß Hans in
die Haustür trat und ihnen das Futter streute; sie kannten ihn ganz
genau und ließen sich nicht irre machen, wenn ein andrer kam und sie
anführen wollte. Von den Äpfeln konnte er übrigens im Herbst, wenn sie
reif waren, immer jeden Abend einen mit ins Bett nehmen; dann zog er die
Decke über die Ohren und aß ihn heimlich für sich. Die Sorte war auch
gut.

Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe: ganz geschwind kniff er die
Augen zu, aber sein Gesicht lachte. Die Mutter trat ein, warf ihm ein
Kissen aufs Gesicht, faßte ihn darunter und hielt ihn fest; dazu sang
sie:

   Hab' ein Vögelchen gefangen
   Im Federbett,
   Hab's in'n Arm 'nein genommen,
   Hab's lieb gehätt!

Hans strampelte und lachte, die Mutter aber hob ihn aus dem Bett,
schwenkte ihn und sang:

   ^Quibus, quabus,^
   Die Enten gehen barfuß,
   Die Gäns' haben keine Schuh,
   Was sagen denn die lieben Hühner dazu?

Dann küßte sie ihn recht herzlich, und er wischte sich den Mund ab und
rutschte aus ihrem Arme auf die Erde. Ob er heute den Tauben wohl Erbsen
streuen durfte? Aber es war ein ganz besonderer Tag. Die Mutter kriegte
ihn vor und wusch ihn außergewöhnlich gründlich, daß er mit den Zähnen
klapperte über das nasse Wasser und ganz blankgescheuerte Backen bekam.
Dann kämmte sie ihm das Haar glatt, das ihm sonst borstig und hell in
die Höhe stand; erst bearbeitete sie es mit Wasser, nachher mit Pomade.

Hans fragte mit großer Neugierde, was denn heute geschehen werde; aber
die Mutter lachte nur und antwortete ihm nicht. Sie holte den guten
Anzug aus dem Schrank, und auch seinen Kragen und die Manschetten
kriegte er; die waren zwar recht ausgewaschen, und einem verwöhnten
Stadtkind wären sie nicht mehr ganz anständig erschienen, für Hans aber
waren sie eitel Prunk und Herrlichkeit. Und wie er nun so fein angezogen
war, ermahnte ihn die Mutter, daß er sich fromm in die Stube setzen
sollte und ein Buch vornehmen, damit er den guten Anzug schonte und sich
nicht unordentlich machte. Da holte er seine Lesebücher zusammen: den
Preußischen Kinderfreund, drei Bände Spinnstube und die Bibel, und
begann für sich zu lesen; denn eigentlich war ihm das Lesen doch das
Liebste, und vollends, wenn der Vater nicht da war, der immer wollte,
daß er etwas Nützliches studierte; die Mutter aber meinte, es sei alles
nützlich und gut, was in seinen Büchern stand. So las er im Kinderfreund
seine Lieblingsgeschichten von der gnädigen Frau von Paretz, und das
Gedicht: Als Kaiser Friedrich lobesam ins heil'ge Land gezogen kam (bei
dem er immer meinte, lobesam müsse mit großem Anfangsbuchstaben
geschrieben werden, weil es doch der Nachname Kaiser Friedrichs sei);
und in der Spinnstube las er die Geschichte von Wittington und seiner
Katze, der dreimal Bürgermeister von London wurde, welche
Stadt anderthalb Meilen lang und fast eine Meile breit ist,
achttausendeinhundertundeinundneunzig Straßen hat, hundert freie Plätze
von großer Ausdehnung, zweimalhundertundfünfzigtausend Häuser, und zwei
Millionen Einwohner. Das war einmal eine Stadt!

Zuletzt sagte die Mutter dem Hans, was bevorstand, denn der Herr Graf
mit seiner Gemahlin und den Kindern wollten eine Lustfahrt durch den
Wald machen und dabei im Forsthause einsprechen. Denn es waren noch
nicht die Zeiten, die im vorigen Kapitel geschildert sind, und die bösen
Zustände im gräflichen Hause wurden noch nicht äußerlich bemerkt.

Da kam der erste Wagen, der von stolzen Pferden gezogen wurde, welche
die Beine tänzelnd hoben und den Kopf hochhielten; nachher, wie sie
standen, spielten sie mutwillig mit dem Gebiß; man sah es ihnen wohl an,
daß sie in Herrendienst waren und in Wohlleben. Der Kutscher trug eine
sehr stolze Livree und saß hochmütig auf dem Bock, als gehe ihn die
ganze Welt nichts an; und die Frau Gräfin mit der kleinen Komtesse
lehnten im Wagen und sahen gar nicht so stolz aus wie der Kutscher und
lächelten beide freundlich, indem die Mutter den Schlag aufmachte. Hans
hörte, wie die Frau Gräfin immer lobte und sagte: »Schön, sehr schön,
ausgezeichnet, liebe Frau Werther.« Er mußte eine Verbeugung machen, die
ihm die Mutter vorher eingeübt hatte, und war sehr verlegen; am liebsten
wäre er ganz weit weg gewesen.

Da die Frau Gräfin ihm auftrug, daß er der kleinen Komtesse alles zeigen
sollte, was zu sehen wäre, so faßte er die bei der Hand und ging mit ihr
aus der Stube; sie war wohl ein Jahr jünger wie er, aber er war fest
entschlossen, sie mit »Sie« anzureden; solange es ging, wollte er sich
indessen um die Anrede drücken, weil er doch nicht wußte, ob es nicht
komisch war, wenn er »Sie« sagte. Sie sprach zuerst und erzählte, daß
sie ihr weißes Kleid nicht schmutzig machen dürfe. Sie hatte ein weißes
Kleid, das war ganz aus Spitzen, wie aus Luft, und in der Mitte war ein
blauseidenes Band. Er wußte nicht recht, was er antworten sollte, da
fielen ihm seine Manschetten ein, die zog er von den Händen und zeigte
sie ihr; das war ihr sehr merkwürdig, und sie sagte, daß bei ihren
Brüdern die Manschetten aus einem Stück seien mit den Hemden, aber so,
wie er es habe, sei es gewiß viel vernünftiger, weil man sich dann nicht
so schrecklich viel umzuziehen brauche.

Nun führte er sie in den Stall, die Treppe hinauf, zum Heuboden. Hier
hatte er im Heu sich einen langen Gang gegraben, und am Ende hatte er
eine Höhle, deren Decke war mit Brettern gestützt, daß sie nicht
einstürzte. Eigentlich war das eine Höhle der alten Deutschen, aber man
konnte hier auch Mann und Frau spielen, dann war die Höhle der Raum, wo
die Frau blieb und Mittagessen kochte, oder flickte, und der Mann kam
nach Hause aus dem Wald. Die Komtesse war einverstanden, daß sie so
spielen wollten. Deshalb kroch er erst in den Gang hinein, und wie er
hinten in der Höhle saß, rief er ihr, daß sie nachkommen sollte, damit
er ihr das Innere zeigte, das war freilich ganz dunkel. Sie kroch auch
ganz tapfer nach, wie sie aber in der Mitte des Ganges steckte, hielt
sie plötzlich still und fing ganz jämmerlich an zu weinen, weil sie mit
einem Male Angst kriegte. Er tröstete sie und sagte, die Mädchen hätten
immer Angst, und sie solle nur weiter kriechen, dann käme sie zu ihm;
aber sie weinte immer lauter und rief nach ihrer Mama. Da kroch er
zurück, und sie schob sich auch rückwärts aus dem Gange, und wie sie
draußen standen, sahen sie recht unordentlich aus und waren voller Heu.
Dann wurde beschlossen, sie sollte den Mann vor dem Hause erwarten, denn
es müßte Sommer sein, und in der Stube müßte es heiß sein. Deshalb ging
er fort, die Treppe hinunter, aber mit dem Kopf durfte er nicht
verschwinden, sonst wollte sie wieder weinen, dann kam er wieder,
trampelte laut mit den Füßen, rief: »Kusch, Pollux!« und sagte: »Guten
Tag Frau, was macht der Junge?« Sie antwortete: »Er ist artig gewesen,
darum muß er auch einen Kuß kriegen.« Diese Antwort brachte ihn aus dem
Konzept, weil sie ihm ungewohnt war, deshalb fragte er weiter: »Hast du
auch was Gutes gekocht?« -- »Nein,« sagte sie, »ich habe in der
>^Semaine des Enfants^< gelesen.« Nun wußte er wieder nicht weiter,
deshalb sagte er: »Ach, das ist ein dummes Spiel, wenn du nicht so eine
Heulliese wärst, so könnten wir jetzt durch die Heuluke durchklettern in
die Kuhkrippe.« Da versprach sie ihm, daß sie auch ganz gewiß nicht
wieder weinen wollte, und dann machte er die Heuluke auf, sie legten
sich auf den Boden und sahen, wie unten die Kuh in die Höhe guckte, mit
den Lippen bettelte und durch die Nasenlöcher pustete. Das war so
komisch, daß sie lachen mußte. Hans zeigte ihr, wie man sich durch die
Luke in die Krippe niederlassen konnte; die Kuh pustete neugierig und
leckte mit der Zunge ihn an, weil sie dachte, er sei ein Heubündel; das
war noch komischer wie das andre; aber mit in die Krippe steigen mochte
die Komtesse doch nicht.

Unten bei der Kuh waren Hansens Kaninchen. Die wollte die kleine
Komtesse gern sehen. Sie gingen hinunter, und die Komtesse bewunderte
den langen, kleinen Gang an der Wand, der aus Brettern gezimmert war,
und das Schlupfloch, das ein Arbeiter schön blau und rot bemalt hatte.
Hans fing ein ganz weißes Kaninchen und reichte es ihr an den Ohren hin;
es hielt ganz still, wie sie streichelte, und plötzlich fing es stark an
zu zappeln, daß sie zuerst erschrak; nachher mußte sie aber selber
lachen über ihre Furcht, wie sie die niedlichen roten Augen sah. Dann
nahm Hans das Brett am Ende des Laufganges weg, wo das Nest war; da
lagen sechs kleine Kaninchen bei ihrer Mutter, die waren ganz zahm und
ließen sich auf die Hand nehmen, und ihre Mutter machte ein Männchen und
schnupperte nach oben. Über das alles war sie so entzückt, daß Hans
zuletzt strahlte vor Stolz und Freude; und nachdem er sich lange
überlegt, ob er wohl nicht Zanke bekäme von der Mutter, wenn er ihr ein
Geschenk anböte, fragte er, ob sie ein Pärchen haben wolle. Da war sie
ganz glücklich, und mit immer neuem Vergnügen suchte sie sich zwei von
den kleinen Tieren aus, nahm sie in ihr Kleid und sprang zu ihrer Mutter
in der Stube. Die sagte mehrmals, die Tiere seien sehr schön, aber als
das Kind sie bat, ob es sie mitnehmen dürfe, antwortete sie, daß es doch
zu Hause keinen Raum hätte, wo es sie lassen könne; und die Kleine, die
schon wußte, daß auch noch eine leichtere Ablehnung endgültig war, gab
dem Hans mit Tränen in den Augen und ohne Worte die Tierchen wieder
zurück und setzte sich dann still ans Fenster. Die Frau Gräfin sagte
dann, sie sei wohl recht wild gewesen, und sie müsse jetzt artig sein,
ihre Brüder würden bald kommen. Hans stand da mit den beiden kleinen
Kaninchen, eins in jeder Hand, und wußte nicht, wo er hingehen sollte;
in seiner Verlegenheit bot er sie der Komtesse noch einmal stumm an; die
schüttelte das Köpfchen und sah durchs Fenster. Seine Mutter stand auf,
öffnete die Tür, schob ihn hinaus und sagte ihm, er solle die Kaninchen
wieder in den Stall bringen; das tat er auch; und weil er nicht recht
wußte, wie er wieder in die Stube gehen solle, so blieb er draußen unter
der Toreinfahrt, steckte die Hand in die Hosentaschen und pfiff mit
erkünsteltem Gleichmut ein Lied. Ganz wohl war ihm nicht, denn er hatte
wohl gesehen, wie die Frau Gräfin böse geworden war, nur daß sie es
nicht so zeigte, wie seine Mutter es pflegte.

Nach einer Weile aber kam die kleine Komtesse wieder heraus, trat neben
ihn hin und sagte: »Ich danke dir auch schön, und du mußt nicht böse
sein; wenn wir einen Raum hätten für die Kaninchen, so hätte ich sie
nehmen dürfen.« Dann zog sie ein Albumbildchen hervor, das stellte
Dornröschen dar, wie der Prinz es gerade wachküßt, das schenkte sie ihm.
Er steckte das Bild gleichmütig in die Tasche. Sie sagte dazu: »Ich
hätte es gerne selber behalten, unser Küchenmädchen hat es mir
geschenkt, aber dir will ich es geben.«

Indem sie noch so sprachen, fuhr ein andrer Wagen vor, in dem saß der
Graf und die beiden Jungen, die ungefähr in dem Alter waren wie Hans;
und auch der Förster saß im Wagen. Der Vater sprang schnell heraus und
war der Herrschaft behilflich beim Aussteigen. Der Herr Graf faßte die
kleine Komtesse beim Zöpfchen, sie warf sich ihm in die Arme und hätte
wohl gern noch einmal gebeten wegen der Kaninchen, wenn sie gewagt
hätte.

Nun trat die Frau Gräfin aus dem Haus und gab der Försterin freundlich
die Hand. Die kleine Komtesse umfaßte ihren Rock und bat: der kleine
Hans soll mitfahren. Sie bat so herzlich, daß die Frau Gräfin fragte, ob
die Eltern das erlaubten; die sagten natürlich ja, die Mutter zupfte
Hans noch einmal zurechte, und dann stiegen alle ein. Die Kinder durften
in dem einen Wagen für sich bleiben, nachdem sie dem Kutscher auf die
Seele gebunden waren, der Graf war mit seiner Gemahlin in dem andern,
und nun ging die Fahrt fort in den Wald.

Dem Hans war sehr befangen zumute, denn er hatte das Gefühl, daß er ganz
anders saß und sich bewegte und sprach wie die jungen Grafen; die sahen
so aus, als dachten sie gar nicht an ihre Bewegungen, und er meinte, daß
sie wohl heimlich über ihn lachen möchten. Das Mädchen erzählte von den
Kaninchen, und wie reizend die gewesen seien; da sprachen die beiden
Brüder geringschätzig und meinten, Kaninchen seien gar nichts
Besonderes, und wenn sie nur wollten, so könnten sie Hunderte haben; und
wie die Kleine erzählte, daß sie die beiden geschenkten Jungen nicht
hatte mitnehmen dürfen, da lachten sie und sagten, sie verstehe das
nicht, wie man seinen Willen erreiche; da müsse man so lange heulen, bis
einem erlaubt werde, was man wolle. Hans kriegte runde Augen über diese
Ansichten und sagte zwar nichts; die Brüder aber merkten wohl, daß ihm
ihre Reden unrecht vorkamen, deshalb machten sie sich gefaßt, ihren Spaß
mit ihm zu treiben, denn sie hielten ihn für einen Duckmäuser.

Sie sagten nicht »Vater« und »Mutter«, sondern »der Alte« und »die
Alte«, und rühmten, welche Taten sie mit ihrer Schnappschleuder
begingen, wie sie da den Bauern die Fensterscheiben entzweischossen,
ohne daß jemand merkte, von wem der Schuß kam. Noch nahmen sie scheinbar
keine Notiz von Hans, weil sie keine rechte Anknüpfung hatten, aber sie
knufften sich heimlich, um sich auf ihn aufmerksam zu machen, wie er
dasaß mit seinen hellen Augen in dem blankgescheuerten Gesicht. Wie ihre
Schwester von den Manschetten erzählte, prusteten sie los mit Lachen und
sagten, das seien Sparröllchen, wie sie Herr Müller trägt, der
Hofmeister; gestern hatten sie gehört, wie ihre Mutter zum Vater gesagt
hatte, Herr Müller mit seinen Sparröllchen sei doch zu unterirdisch.

Hans wurde feuerrot und schämte sich sehr und hätte fast angefangen zu
weinen; aber er bezwang sich noch. Der älteste von den Brüdern fragte
ihn: »Kannst du auch schon reiten? Wir haben jeder einen Pony, auf dem
lernen wir reiten, ich darf schon allein.« Hans schüttelte den Kopf;
dann erzählte er, daß ihre Elsbeth einmal wochenlang jeden Tag
zweiundzwanzig Liter Milch gegeben habe. Da prusteten die Brüder wieder
los, das kleine Mädchen aber sagte zu ihm: »Du mußt dich nicht ärgern
über sie, das sind dumme Jungen.« Ihm aber war, als ob sie im
Einverständnis sei mit den beiden, die ihn auslachten, und das kränkte
ihn am meisten; aber er wußte nicht, was er antworten sollte.

Indessen erzählten die andern weiter, wie sie schon geraucht hatten und
sich Geld borgten von den Leuten; und wie den einen der Vater einmal zur
Rede gestellt, hätte er einfach alles abgestritten, und der Vater hätte
gelacht und gesagt, er könne sich gut herauslügen, aber er, der Vater,
merke doch die Wahrheit; aber getan hätte er ihm nichts. Dann fragten
sie Hans, ob sein Vater seiner Mutter auch zuweilen etwas vorlog. Er
schüttelte mit dem Kopf. Sie antworteten, er sei noch zu dumm, da merke
er das nicht. Da kam ihm plötzlich ein neues Gefühl in die Bewunderung
der Ruhmredigkeit der andern, die Stimmung von Zuhause und der Stolz,
den er gegenüber den Tagelöhnerkindern hatte, und er sagte: »So einen
Vater wie ich hat auch keiner.« Der älteste von den beiden antwortete
überlegen: »Das denkt man immer, solange man noch klein ist.« Dann
fragten sie, ob sein Vater ihn schlug, und Hans erzählte, daß er eine
Peitsche hatte mit neun Riemen, das war die neunschwänzige Katze, mit
der kriegte er, wenn er ungezogen gewesen war. Da kam ihm wieder vor,
als sei bei ihm zu Hause alles dumm, und er selbst sei ganz dumm, und
die beiden erschienen ihm wieder hoffnungslos überlegen. Die Wagen
fuhren zu einer Waldblöße, die war von allen Seiten eingeschlossen durch
die hohen Tannen, und war der Boden etwas abhängig und mit braunem Gras
bedeckt von vorigem Jahr; schon kamen die ersten grünen Grasspitzen aber
hervor, und die Primeln blühten. Auf dem untern Teil hatten sich einige
Birken angesiedelt, die etwa mannshoch waren; über denen schwebte eben
ein hellgrüner Hauch. Aber an der trockensten und sonnigsten Stelle lag
ein großer flacher Stein. Auf diesem deckten die Leute, denn die
Herrschaften wollten im Freien vespern. Die Kinder durften im Walde
spielen. Hans war aus Schüchternheit ungeschickt; weil er bei dem
kleinen Mädchen die einzige Zuneigung verspürte, so hielt er sich immer
zu dieser, wiewohl er dadurch das Spiel oft störte. So versteckten sie
sich hinter den Bäumen, und es war in seiner Nähe kein starker Baum, und
er blieb hinter einem ganz dünnen stehen, obwohl er selbst wußte, daß
ihn die andern gleich sehen mußten. Wie er selbst suchen sollte, war er
zu schüchtern, die Jungen zu fangen, die er fand, und ließ sie
entkommen, wiewohl er sich heftig ärgerte über diese Schüchternheit;
hinter dem kleinen Mädchen dagegen lief er sehr eifrig her. Über alles
dieses wurden die Jungen ärgerlich und zankten mit ihm; er aber lächelte
bloß entschuldigend und konnte sich nicht verteidigen, und die beiden
kamen zu dem Schluß, er sei dumm. Daß er sich immer an ihre Schwester
heftete, merkten sie bald, und da verspotteten sie diese, sie habe einen
Verehrer bekommen, der Dumme sei in sie verliebt. Darüber wurde die
ärgerlich und war kurz gegen Hans; und wie der, obgleich er das merkte,
doch nicht abließ von seiner Art, sagte sie ihm endlich ganz grob, er
solle sie in Ruhe lassen, er sei dumm. Da stand er traurig für sich
allein da und sah zu, wie die andern spielten, und mußte mit aller
Gewalt die Tränen zurückhalten. Mit einem Male aber kam es über ihn,
nämlich plötzlich, bei einer ganz geringen Gelegenheit, als es ihm
schien, der ältere Bruder sehe spöttisch nach ihm hin, da lief er wütend
auf den zu, packte ihn bei den Haaren und schlug kräftig auf ihn ein;
der jüngere Bruder eilte herbei und griff Hans an, aber der ließ sich
nicht irre machen: fühlte wohl gar nichts von seinem Angreifer. Endlich
kamen die Kutscher und trennten die drei.

Wie sie vor die Herrschaften gebracht waren, klagten die Brüder mit
geläufigen Worten über Hans, der habe das Spiel schon von Anfang an
gestört, dann sei er brummig zur Seite geblieben, und endlich habe er
ohne Grund sie überfallen. Hans stand niedergeschlagen da, denn das war
alles richtig, was die sagten, und er wußte selbst nicht, weshalb er
plötzlich so wütend geworden war. Der Herr Graf sagte zu seinen Söhnen,
sie würden gewiß schuld haben, aber wenn sie denn nun einmal keinen
Frieden untereinander halten könnten, so solle der Försterjunge nach
Hause gehen. Nun dachte Hans, daß er sich wohl erst bedanken müsse; aber
das konnte er nicht; deshalb drehte er sich um und ging langsam einige
Schritte; und wie er dachte, daß er weit genug sei, lief er aus
Leibeskräften, bis er atemlos nach Hause kam.

Hier fand er nur die Großmutter vor; er ging zu ihr in die Stube und
weinte in ihren Schoß.

Wie der Vater nach Hause zurückkehrte, wußte er schon von dem
Geschehenen, rief den kleinen Hans zu sich und fragte ihn. Der
antwortete, daß alle sehr artig gewesen seien und besonders die kleine
Komtesse, aber ihn habe plötzlich eine Wut gepackt, er wußte nicht
woher, daß er habe den einen schlagen müssen. Mehr konnte er nicht
sagen, und keine weitere Vorhaltung nutzte etwas. Endlich fragte ihn der
Vater, ob er wisse, daß er sehr ungezogen gewesen sei und Hiebe verdient
habe. Da sagte er ja, holte auch die neunschwänzige Katze herbei. Wie
ihn der Vater schlug, bezwang er sich zuerst und muckste nicht, nachher
aber weinte er doch, denn die Katze tat sehr weh.

Am Abend setzte er sich in der Dunkelheit ans Fenster; der Vater saß
still in der Sofaecke. Da stand er leise auf, ging zu seinem Vater,
stieg dem auf den Schoß und weinte an seiner Brust. Der Vater dachte, er
müsse ihn trösten der Schläge wegen und sagte, er sei doch ungezogen
gewesen, und einem Vater tue das selbst weh, wenn er seinen Jungen
schlagen müsse, und das wisse er doch selbst, daß er die Schläge
verdient habe. Da nickte Hans und sagte: »Das ist es nicht, das hat
manchmal schon weher getan.« Wie ihn der Vater nun weiter fragte, faßte
er sich zuletzt ein Herz und sprach: »Nicht wahr, du lügst doch nicht?«
Hierüber wurde der Vater ganz erstaunt, antwortete, daß er allerdings
nicht lüge und fragte dann, wie Hans auf solche Gedanken komme. Hans
schluchzte von neuem und erzählte endlich, was die beiden Jungen auf der
Fahrt und nachher gesprochen hatten. Der Vater wurde recht nachdenklich
und begütigte ihn, indem er ihm sagte, daß die jungen Grafen vorlaute
Jungen seien, die überall zuhörten, auch wo es ihnen verboten sei, und
nun in ihrer Dummheit allerhand falsche Meinungen ausheckten. Damit gab
sich Hans am Ende zufrieden, hörte allmählich auf zu weinen und schlief
zuletzt auf seines Vaters Schoße ein. --

                   *       *       *       *       *

Der Großmutter war es den Winter hindurch schlecht gegangen; sie klagte
über ihre Beine, daß die sie nicht mehr recht tragen wollten und
fürchtete sich vor Zug; abends ging sie früher zu Bett wie sonst, und am
andern Morgen erzählte sie, daß sie nicht habe schlafen können. Dafür
geschah es, daß sie am Tage unversehens einschlief, wenn sie in ihrem
Lehnstuhl am Ofen saß und strickte; das Strickzeug sank ihr in den
Schoß, und sie wachte auch durch lautes Geräusch nicht auf. Man mußte
aber tun, als ob keiner etwas merkte hiervon, sonst wurde sie böse; wenn
sie die Augen wieder aufschlug, so sah sie sich um, ob jemand sie
beobachtete, und dann nahm sie ihr Strickzeug vor das Gesicht.

Gegen den Frühling kam der Tischler, der die Fenster in Ordnung bringen
sollte, denn deren unterer Riegel war faul geworden, und das Wasser lief
auf die Fensterbank. Mit dem sprach die Großmutter über Särge, fragte,
was die verschiedenen Arten kosteten, und wunderte sich, daß alles so
teuer geworden war, und erkundigte sich genau nach der Haltbarkeit. Es
zeigte sich, daß bei Särgen sehr viel Betrug unterlief, denn die
Handwerker hatten keine Furcht vor Gott und keine Scham und glaubten,
bei einem Begräbnis müßten sie mehr verdienen wie bei andern Arbeiten.

Als die Kraft der Sonne zunahm, stand sie oft am Fenster und sah, wie
der Schnee in sich zusammensank, und dann kam Tauwind und Regenwetter,
und in den Schlittenspuren auf der Landstraße schoß das Wasser bergab.
Jetzt sagte die Großmutter oft: »Nun schlagen die Bäume bald aus«; sie
dachte aber bei sich, wenn die Bäume ausschlügen, so würde sie sterben;
auch sagte sie: »Die Schneeglöckchen erlebe ich noch.« Das sprach sie
alles für sich hin, wenn sie allein in der Stube war oder nur der kleine
Hans auf seinem Fußbänkchen still saß. Einmal faltete sie die Hände und
sagte: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt,
achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit
gewesen.«

Wie sie noch Kind war, hatten ihre Eltern sie in eine Sterbekasse
eingekauft, und achtzig Jahre lang hatte sie ihre Pfennige gesteuert.
Jetzt las sie viel in dem alten, abgegriffenen Quittungsbuch, in dem
vorn die Satzungen der Kasse abgedruckt standen und hinten auf leeren
Blättern so viele Jahre hindurch der Empfang des Beitrags bescheinigt
wurde; sie las und rechnete für sich alle Kosten und Ausgaben zusammen.

Ein schöner Frühlingstag kam. Das Stubenfenster stand lange
auf, und eine Frühlingsluft drang herein, eine frische und
sonnenscheindurchtränkte. Draußen war es schon ganz trocken, und die
kleinen Vögel machten allerhand Zwitschern, Pfeifen und Tirilieren; die
Großmutter saß lange am Fenster und hatte diesmal gar keine Furcht vor
der Erkältung. Dann sprach sie mit der Mutter wegen des Grabes ihres
toten Mannes, das um diese Jahreszeit besorgt werden mußte, und endlich
sagte sie, daß sie sich jetzt zu schwach fühle, um noch aufzubleiben;
sie wolle sich legen; aber auf ihrer Kammer sei es ihr zu einsam; ihr
Bett solle hier in der Stube aufgeschlagen werden, in der Ecke, wo ihr
Lehnstuhl gestanden.

Die Mutter verspürte wohl, was sie meinte, und daß sie wußte, sie werde
von diesem Lager nicht wieder aufstehen; so antwortete sie, daß heute
abend, wenn der Mann zu Hause sei, alles so gemacht werden solle, wie
die Großmutter es wünsche.

Das geschah auch, und nun war die Großmutter unten in der Stube im Bett;
sie hatte viele Kopfkissen im Rücken, so daß sie halb saß; deshalb
vermochte sie auch noch zu stricken wie früher. Wenn der Vater abends
nach Hause kam, ging er erst zu ihr, gab ihr die Hand und sprach ein
paar Worte. Es war, als sei sie jetzt viel wichtiger geworden wie
vorher; die Mutter fragte sie um manches, davon sie ihr sonst nichts
mitgeteilt, und recht oft erhielt sie ein besonderes Leckerbißlein, das
die andern nicht bekamen.

Einmal rief die Großmutter die Mutter zu sich ans Bett. Die kam und
fragte, was sei. Da sagte die Großmutter nach einer Pause: »Ich wollte
dir nur sagen, daß du immer gut zu mir gewesen bist, so sind nicht alle
jungen Frauen. Ich bin gewiß manchmal wunderlich gewesen, aber ich habe
es immer gut gemeint.« Da sah Hans, wie seiner Mutter die Tränen kamen,
daß sie die Schürze vor die Augen nahm und schnell fortging.

Dem kleinen Hans erzählte die Großmutter jetzt viel; und wiewohl er gern
draußen war und mit dem schmelzenden Schnee spielte, Flüsse leiten und
Dämme bauen, daß sich große Teiche bilden, und dann wieder Kanäle graben
und Wasserfälle machen, so blieb er doch viel lieber in der Stube bei
der Großmutter und hörte ihre Erzählungen aus der alten Zeit.

Sie sprach aber von ihrem Vaterhaus, das schilderte sie ganz genau von
außen und innen und zählte die Stuben und Fenster und Türen, und die
Öfen beschrieb sie, und die Treppe und die Haustür; und alles wurde
prächtig und märchenhaft in ihrer Erinnerung. Dann sprach sie von der
Wiese, und wie sie alle ins Heu gingen mit großen Hauben aus Kattun, und
vom Garten erzählte sie und von den Obstbäumen; da war ein Apfelbaum,
der trug Borsdorfer, solche Äpfel gab es nicht mehr; und von Kirschen
hatten ihre Eltern alle Sorten, und im Herbst, wenn die Abende länger
wurden, dann holten sie immer eine große Schüssel Pflaumen vom Boden,
die wurde auf den Tisch gesetzt. Der Urgroßvater war Silberbote gewesen,
das war ein Bergmann, auf den man besondere Stücke hielt, der mußte
zweimal in der Woche das ausgebrachte Barrensilber zur Münze bringen. Da
ging er denn abends zum Herrn Bergrat, der packte die Barren in einen
Tornister, den versiegelte er; dann kam er wieder nach Hause und
verschloß den Tornister in seinem Koffer und nahm den Schlüssel in die
Tasche; denn früh am andren Morgen um drei Uhr mußte er sich auf den Weg
machen und acht Stunden weit gehen durch den dicken Wald: zur Winterzeit
war oftmals der Weg verschneit und keine Trappe Bahn; dazu war damals
der Wald noch gefährlich wegen der Wölfe, und in der Franzosenzeit gab
es auch Räuber. Deshalb holte der Vater die Bibel und das Gesangbuch aus
dem Schapp und las vor, ein Stück aus den Evangelien, von dem Mann, der
unter die Räuber fiel, oder ein andres, dann knieten alle nieder und
beteten zum lieben Gott, daß er ihn beschützen möge, und am Ende sangen
sie ein frommes Lied. Wenn die Kinder dann am andern Morgen aufwachten,
so war der Vater schon lange auf dem Wege; und erst am Abend um neun kam
er wieder mit dem leeren Felleisen und der Quittung, das mußte ein Kind
beides gleich zum Herrn Bergrat bringen. Wenn es aber um die Zeit war,
daß der Vater heimkehren mußte, so harrten alle in Angst, und oftmals
gingen sie ihm entgegen, weil sie Furcht hatten, es möchte ihm etwas
geschehen sein. Aber Gott hat ihn immer behütet, und er hat ein hohes
Alter erreicht.

In diese Erzählungen mischte die Großmutter Mahnworte und fromme Reden,
indem sie begann: »Und wenn ich tot bin, so vergiß nicht, was ich dir
jetzt sage.« Sie erzählte aber, sie habe gefunden, daß in heutiger Zeit
die Menschen mehr Angst hätten um ihr tägliches Brot wie früher und sich
viele Sorge machten um Irdisches. Als sie ein Kind gewesen, haben die
Menschen andre Gedanken gehabt; indessen sei es möglich, daß die Ursache
der Sorgen in dem beschlossen sei, daß die Menschen heute nicht mehr so
ordentlich und gut seien wie früher. Es sagt aber der Psalmist: »Ich bin
jung gewesen und alt geworden und habe noch nie gesehen den Gerechten
verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen.« Diesen Satz gab sie dem
kleinen Hans ganz besonders und schärfte ihn dem Kinde vielmals ein und
fügte hinzu: »Strebet zuerst nach dem Reiche Gottes, so wird euch dieses
alles zufallen«, und sagte nochmals: »Hieran denke, wenn ich tot bin,
und vergiß nicht meine Worte.«

Weiter erzählte sie von ihrem Großvater, den sie noch gekannt als einen
eisgrauen kleinen Mann, der schon ganz in die Erde gewachsen war. Der
war weit in der Fremde herumgekommen als ein Bergmann, in Ungarn und
Böhmen, aber dann wieder in die Heimat gekehrt mit seinem Ersparten und
hatte das Haus gekauft und die Wiesen. Der las viel in einem alten
Buche, das hieß die »Insel Felsenburg«, darin waren Lebensbeschreibungen
von allerhand Menschen und merkwürdige Schicksale, Reisen und
Schiffbrüche, bis alle endlich zusammenwohnten auf einer einsamen Insel
im Meer, wo sie in Ehrbarkeit und Sitte lebten, sich freiten und Kinder
kriegten und die Insel bevölkerten. Sie, die Großmutter, hatte er am
liebsten, die damals noch ein kleines Mädchen war und zu seinen Füßen
saß auf dem Fußbänklein, »gerade wie du, mein lieber Hans. So vergehen
die Jahre, und die Menschen werden groß, und die Alten sterben, und
junge kommen auf, und ist mir, als sei es gestern gewesen, daß ich
aufhorchte, wie er mir erzählte von den Silbergruben in Ungarn und von
den großen Meerschiffen. Und ist zu denken, daß auch mein Großvater
dereinst als kleines Kind aufgeschaut hat zu seinem Ahn, und geht die
Reihe der Geschlechter fort durch die Jahrhunderte, und auch du, mein
liebes Kind, wirst einst Kinder haben, und Enkel werden zu deinen Füßen
sitzen und du wirst denken: >War es nicht gestern, daß ich hörte, wie
die Großmutter mir erzählte?< Aber dann werde ich schon lange in der
Erde liegen neben deinem Großvater, der so jung hat sterben müssen, daß
er deinen Vater nicht mehr gesehen hat, und habe ich an fünfzig Jahre
die Stelle betrachtet, wo ich einstens neben ihm liegen werde.«

Der kleine Hans saß still und horchte auf der Großmutter Worte. Noch
verstand er nicht, was sie meinte, denn ein Kind kennt nur den Tag und
ist wie ein Schmetterling in der Sonne, der nichts weiß von gestern und
morgen; aber er verschloß ihre Reden treu in seiner Seele, und später
haben die ihn getröstet und beschützt, als er keinen Trost von Menschen
hatte und keinen Schutz. Auch sagte die Großmutter: »Du bist zwar noch
ein Kind, aber du sollst doch schon jetzt wissen, was du sonst später
erfahren hättest, denn du bist ja mein Blut und meines lieben Mannes.
Deshalb will ich dir erzählen, wie ich und dein Großvater uns lieb
gewonnen haben; denn auch du wirst einmal ein Mädchen lieb gewinnen und
heiraten.«

Die alte Großmutter, die jetzt mit ihren achtzig Jahren strack in ihrem
Bette saß, mit schneeweißem und glattem Scheitel, die Augen nach
vorwärts gerichtet in ein neues Land, war einst ein junges Mädchen
gewesen, hochgewachsen und schlank wie ein Tannenbaum, mit gelbem
Ringelhaar und lustigen blauen Augen. Da sie so schön war und ihre
Eltern eingesessene Leute, die ein Stück vor sich gebracht hatten, so
fehlte es ihr nicht an Bewerbern. Nach der Art der jungen und
unerfahrenen Dinger, die nicht wissen, wie das Leben ein gar schweres
Wesen ist, erschien ihr das als ein Scherz und Spiel und vermeinte, sie
dürfe stolz sein auf solche Menge der Freier, und äußerte den Stolz in
allerhand Mutwillen, den sie mit ihnen trieb aus Gedankenlosigkeit; denn
sie hatte noch nicht erfahren, was Liebe ist. Ganz besonders war ihr
aber zugetan der junge Jägerbursche, der später ihr Mann werden sollte,
der war ihr indessen zu ernsthaft, wiewohl ihre Eltern es gern sahen,
daß er sich um sie bewarb. An einem Abend ging er mit ihr zusammen einen
Weg nach dem Dorfe zu, und wie sie auf der Anhöhe standen und unter sich
die Lichter blinken sahen, sprach er zu ihr, daß er sie lieb habe, und
wenn sie wolle, so werde er sie heimführen als seine Frau und sie lieben
und ehren, wenn sie ihn lieben und ihm gehorsamen wolle; aber er sei
noch nicht angestellt, und es sei recht möglich, daß sie ein paar Jahre
warten müßte, bis sie heiraten könnten.

Auf dieses erwiderte sie schnippig, denn sein ernster Ton hatte sie
verdrossen, und daß er sprach von Gehorsamen. Sie sagte aber, daß sie
einen Mann nicht nehmen möge, der schwarzhaarig sei, sondern sie wolle
einen Blonden; und zudem begehrten sie so viele zur Frau, daß sie nicht
nötig habe, zehn Jahre zu warten als Braut, sondern wenn sie wolle, so
könne sie schon übers Jahr heiraten. Da sagte er, sie spreche wie ein
unverständiges Kind, und vielleicht sei sie auch noch zu jung, um schon
eine rechte Meinung in solcher ernsten Sache zu haben. Aber ihre leichte
Art habe ihn sehr gekränkt, und deshalb bitte er, sie wolle denken,
seine Worte seien ungesprochen. Aber wenn er sie nicht zur Frau bekommen
könne, weil sie ja nicht wolle und auch er ein so gedankenloses Wesen
nicht in sein Haus führen möge, so solle sie doch immer auf ihn rechnen,
weil er sie trotz allem lieb habe, denn die Liebe kehrt sich nicht an
die Vernunft, ja sie streitet mit ihr. Es sei aber sehr möglich, daß sie
später einmal seine Hilfe irgendwie gebrauchen könne; und auch einen
Groll wollten sie nicht auf einander behalten. Dieses stieß ihr wieder
an die Krone, so daß sie noch törichter antwortete und ihn gänzlich von
sich abwies.

»Aber merke dir, mein liebes Kind,« sprach sie von ihrem Bett zu dem
kleinen Hans, der vor ihr saß, »wir Frauen sind andern Wesens wie die
Männer; und wenn du nicht vergißt, was ich dir jetzt erzähle, so sparst
du dir später viel Herzeleid und Kummer. Vorher habe ich deinen
Großvater nicht lieb gehabt, aber wie ich ihm so leichtfertig
antwortete, und er war ernst und streng, aber zugleich doch gut zu mir,
da kam plötzlich die Liebe zu ihm in mein Herz. Nur daß mich die
Schamhaftigkeit hinderte, ihm davon zu sagen; ja es war, als triebe es
mich, ihn jetzt gerade zu kränken. Das merke dir, denn wir Frauen sind
ein schwaches Geschlecht, und die Männer sind stärker als wir, und
gerader.«

So geschah es, daß sie einen andern Bewerber offenkundig bevorzugte,
einen Bergmann, der lustig die Zither zu schlagen verstand und Lieder
dazu sang und fröhliche Streiche anzustellen wußte. Mit dem lachte sie
viel, und es war ihr lieb, wie sie sah, daß der andre finster wurde,
wenn er sie mit ihm erblickte. Und einmal ging sie denselben Weg mit
diesem, den sie vorher mit dem andern gegangen, und sprachen ähnliche
Gespräche zusammen, und kamen an dieselbe Stelle auf der Höhe, wo das
Dorf unter ihnen lag mit seinen hellen Fenstern. Da fragte er sie, ob
sie ihn lieb haben wollte, und zugleich umfaßte er sie und wollte sie
küssen. Wie sie aber seinen Arm verspürte, tat sie einen Schrei und lief
fort, hinab ins Dorf und kam unten an in großer Angst, wiewohl sie nicht
kindisch war und schon einmal sich mit einem andern herzhaft abgeküßt
hatte, welches jedoch gewesen war, ehe der Jägerbursche mit ihr
gesprochen.

Von der Zeit an war sie verändert und wurde ernster, tanzte nicht und
lachte nicht mehr mit den jungen Leuten, und kamen wohl mehrere Freier,
aber sie wies alle ab. So ging es drei oder vier Jahre. Da begann sich
Hansens Großvater wieder langsam an sie zu machen; er besuchte ihre
Eltern am Sonntagnachmittag, spielte mit ihren jüngeren Geschwistern und
sprach mit ihr selbst viel. Von seinen damaligen Worten redeten sie
nicht wieder, aber sie wußten beide, auch ohne daß sie es sich sagten,
daß sie jetzt verlobt seien, und daß sie warten wollten mit dem
Heiraten, bis er eine Anstellung habe. »Und siehst du,« sprach die
Großmutter zu dem Enkel, »das danke ich deinem Großvater noch heute, daß
er nie wieder von dem Früheren gesprochen hat, obwohl er hätte über mich
triumphieren können, denn ich hätte schweigen müssen, wenn er gespottet.
Aber dein Großvater war ein Mann, wie er sein muß, er war hart und
ernst, aber er war auch mild und gut. Dein Vater ist auch so geworden,
und du mußt dir Mühe geben, daß du ihnen nachschlägst.« Da sagte Hans:
»Ja, Großmutter, das will ich.«

Und die Großmutter mit ihren Augen, die schon über das Grab hinaus
suchten, schwieg eine lange Weile; sie dachte an ihren Mann, den sie nur
wenige Wochen gehabt und über ein halb Jahrhundert betrauert hatte, und
daß sie ihn bald wiedersehen werde; das machte ihr eine sonderbare
Freude und heftiges Heimweh.

In Hans war eine wunderliche Ernsthaftigkeit, und in sein Wesen kam eine
größere Reife durch diese Gespräche, wie seinem Alter gewöhnlich ist; in
aller sonstigen Erfahrung aber blieb er kindlich und unwissend, und
wurde seine Erziehung gerade entgegengesetzt, wie die Erziehung heute
gewöhnlich ist, da die Kinder viel Fremdes sehen und manches Neue
erfahren, früh Furcht und Achtung verlieren und gewitzt werden; dabei
aber in ihr Wesen keinen Ernst bekommen und oft noch im wesentlichen
kindisch bleiben, wenn sie schon Männer sein sollten.

In der Küche saß Dorrel, Kartoffeln schälend, mit einem bekümmerten
Antlitz. Hans setzte sich ihr gegenüber. Wie sie ihn ansah, stand sie
auf, stellte ihre Schüssel ab und rumorte mit den Herdringen. Sie wollte
aber verbergen, daß sie weinte. Hans fragte: »Weshalb weinst du?« Da
antwortete Dorrel nach langem Zögern und vielem Drängen, sie weine um
die Großmutter, daß die nun im Sterben liege.

Hans wiegte den Kopf, dann sagte er: »Darüber muß man nicht weinen. Wir
müssen alle sterben, und das wissen wir. Die Großmutter aber ist eine
alte Frau, die in ihre Jahre gekommen ist; sie hat keine Sorge hinter
sich, sondern weiß, daß sie meine Eltern in guter Ordnung verläßt; dazu
leidet sie keinerlei Schmerzen, sondern ihr Leben lischt aus wie ein
Licht. Deshalb hat sie selbst auch nicht Kummer über ihren Tod, vielmehr
freut sie sich, weil sie jetzt wieder mit dem Großvater zusammenkommt.«
Dorrel hörte diesen Worten mit großer Verwunderung zu und bekam eine
sonderliche neue Achtung vor Hans, die sie bis dahin noch nicht gespürt.
Deshalb sagte sie nach einer Weile: »Wenn du es so nimmst, so hast du
recht, aber ich weine um meinetwillen, denn sie ist mir immer eine gute
Frau gewesen, und ich habe sie lieb.«

Hiernach war Hans wieder eine Weile nachdenklich, dann sprach er: »Ich
habe sie auch lieb, aber ich bin nicht traurig und will auch nicht
weinen.«

Dorrel mußte auf den Boden gehen, um Räucherware zum Abendbrot aus der
Rauchkammer zu holen. Sie bedachte sich, wie sie es machen sollte, daß
sie nicht allein war. Endlich befahl sie dem kleinen Hans, daß der die
Laterne tragen mußte; sie ging hinter ihm her mit Furcht. Als sie oben
waren, merkte Hans, daß sie Angst hatte; und weil er nicht wußte,
welches der Grund sein konnte, fragte er sie. Sie sagte ihm, sie fürchte
sich, weil ein Sterbendes im Hause sei. Da wurde er wieder nachdenklich
und schüttelte endlich den Kopf über sie, aber er sagte nichts mehr.
Indessen hatte er von nun an das Gefühl verloren, daß Dorrel als eine
Erwachsene über ihm stehe, und empfand sie nur noch als eine
Gleichgestellte, ja als eine solche, die er unter Umständen beschützen
dürfe; und Dorrel ging ohne Klarheit auf dieses veränderte Verhältnis
ein. Ihm selbst war auch nicht bewußt, worin der letzte Grund lag,
nämlich daß Dorrel in Dumpfheit und unwissender Furcht befangen war und
nur nach Trieben lebte, die sie nicht verstand: er selbst aber lebte
schon zu einem Teil in Helligkeit und klarem Denken und Prüfen.

Eine Zeit der Dumpfheit und unwissenden Furcht kam für ihn später, als
in der Großstadt das Fremde und Neue auf ihn einstürmte, das er nicht
fassen und verarbeiten konnte; und wie es gerade schien, daß er in
diesem Meer der Finsternis versinken müsse, da sollte ihm von der armen
Magd ein helles Licht kommen, das ihm das Ufer wies und den Berg, darauf
er zu neuer Helligkeit emporsteigen konnte.

Der Großmutter Zustand wurde immer schlechter; sie schlief des Nachts
sehr unruhig und hatte Atembeschwerden. Daß jemand bei ihr wachte,
wollte sie nicht; aber die Mutter schlich des Nachts mehrmals leise die
Treppe hinunter und horchte an der Stubentür. Der kleine Hans brachte
ihr die ersten Schneeglöckchen an ihr Bett; die sah sie lange mit
glänzenden Augen an, dann stellte sie die Blümchen in ihr Wasserglas,
das neben ihr stand. »Nun geht es bald zu Ende,« sagte sie zur Mutter,
»und für euch ist das auch eine Erlösung.«

In den letzten Tagen sagte der Förster, er wolle nachts auf dem Sofa
schlafen, damit jemand bei ihr sei. Aber sie erwiderte, er müsse früh
aufstehen und in seinen Dienst gehen, da müsse er ordentlich ruhen, und
die Mutter solle bei ihr bleiben, wenn sie es nötig finde; freilich sei
sie eine alte Frau, deren Zeit abgelaufen sei, und halte es nicht für
richtig, daß so großer Umstand um sie gemacht werde.

So brachte die Mutter abends ihre Betten herunter. Und in einer Nacht
richtete sich die Ahne plötzlich strack auf und rief: »Anna, wie ist mir
denn?« Dann begriff sie, daß das der Tod war, der zu ihr kam. Da sagte
sie: »Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist.« Die Mutter war zu
ihr geeilt und hielt sie aufrecht; wie die Ahne diese Worte gesprochen,
fühlte sie plötzlich, daß der Körper ihr schwer wurde in den Armen.
Leise legte sie die Gestorbene zurück auf das Kissen, drückte ihr die
Augen zu und faltete ihr die Hände über der Brust.

Dann war viel Laufen und Besorgen, wie das bei Sterbefällen so ist. Der
Tischler kam wegen des Sarges, und allerhand Umstände mußten gemacht
werden.

Die Gestorbene lag still und ernst da. Sie war sehr schön geworden im
Tode; ein freies, offenes und stolzes Gesicht hatte sie wie eine
Fürstin, und nichts Kleinliches oder Furchtsames war da zu sehen. Denn
der Tod gibt jedem Menschen die Würde, die ihm gebührt; wenn die Muskeln
erschlaffen, die unserm Gesicht den zufälligen Ausdruck verursachen, den
es zwischen den Menschen hat, so treten die Knochen und Sehnen hervor,
die seine Grundlage bilden; wer ein Bettler war, sieht dann aus wie ein
Bettler, und habe er im Leben auch eine königliche Figur gehabt, und ein
tüchtiger und freier Mensch bekommt ein stolzes und vornehmes Aussehen.
Da zeigt es sich, daß alles äußere Geschick nur Zufall ist, unsre Figur
und unser Wandeln unter den Menschen ein täuschender Schein; und unser
wahres Leben, das wir in der unbekannten wahren Welt geführt, gibt hier
ein sonderliches Zeichen von sich.

Wie der Tischler mit seinem Gesellen den Sarg gebracht hatte, legte der
Vater mit dem Meister die Tote hinein und setzte ihr den vertrockneten
Myrtenkranz auf und tat ihr den Brautschleier um, den sie vor fünfzig
Jahren getragen und sorgsam aufbewahrt hatte; denn so wollte sie vor
ihrem lieben Mann erscheinen, an den sie ein halbes Jahrhundert gedacht
hatte, jeden Tag; und für dieses Andenken hatte sie ihren Sohn erzogen,
bis er ein stattlicher Mann geworden, und dann den Enkel, der zwar nach
seinem äußeren Wesen in ihre eigne Art schlug, nach seinem Innern aber
ein Werther war. Wie das geschehen war, bekamen der Tischler und sein
Geselle ein Frühstück, nach alter Sitte, aßen und tranken mit
Bescheidenheit und lobten das Essen. Hierüber empfand Hans einen
heftigen Haß gegen sie, in der Art wie damals gegen den jungen Grafen,
und hätte sich auf sie stürzen mögen.

Ein Junge von den Holzarbeitern, die unweit des Forsthauses wohnten, war
in Hansens Alter, und deshalb hatte der manches mit ihm gemein, wiewohl
keine eigentliche Freundschaft zwischen den beiden bestand. Den fragte
er, ob er solche Gefühle auch habe; denn seinen Vater zu befragen, wagte
er nicht, aus einer gewissen Scheu vor dem Erwachsenen. Der grinste und
schüttelte den Kopf, und wußte nicht, was Hans meinte. Nach längerem
Überlegen kam er auf die Vorstellung, daß er auf diese Geständnisse und
Fragen hin ihn hänseln könne. Aber wie er mit solcher Absicht anfing,
trat ihm Hans gleich mit geballter Faust entgegen, und wiewohl der Junge
viel stärker war wie Hans, wurde er da doch in Angst versetzt und
entschuldigte sich, er habe nichts sagen wollen. Hans ärgerte sich und
drehte ihm den Rücken.

Der Junge lief ihm nach und liebedienerte. Er sprach von einem
Vogelnest, das er gefunden und für Hans aufgehoben habe; Hans erwiderte,
daß er das Nest in Ruhe lassen solle. Dann wies er ihm eine Hand voll
Murmeln, die er ihm schenken wollte; aber Hans schlug alles aus und ging
weg.

Er hatte aber eine Sehnsucht danach, recht fröhlich zu sein, obwohl doch
seine Großmutter gestorben war, die er sehr lieb gehabt; und weil er
niemand fand, mit dem er hätte fröhlich sein können, so ging er traurig,
niedergeschlagen und gereizt umher.

Wenn wir das Leben eines Menschen betrachten, soweit es betrachtenswert
ist, also seine Bildung, so kann es uns einmal so scheinen, als stelle
es eine zusammenhanglose Reihe von Zufällen dar; in andrer
Geistesverfassung erblicken wir in demselben Leben ganz deutlich eine
planmäßige Führung durch Gott; und wiederum mögen wir einen unbeirrbaren
Trieb sehen, der diesen Einzelnen durch die wirre Umwelt mit
untrüglicher Sicherheit vorwärtsstieß, daß er durch diese Kraft sich das
aneignete, das andre zur Seite ließ; endlich ist sogar eine bewußte
Gestaltung des Lebens durch diesen Willen des betreffenden Menschen zu
finden. Wer hätte nicht, wenn er über die Schicksale von Menschen
nachdachte, schon diese merkwürdige Entdeckung gemacht, daß man von
derselben Sache als derselbe Mensch vier so ganz verschiedene Meinungen
haben kann!

Ein solches inneres Erlebnis, wie der Haß gegen manche Menschen und das
unbestimmte Gefühl gegen den andern Jungen, ist gewiß sehr wichtig für
die Bildung. Aber wie soll man es deuten? Es ist wohl am besten, die
Deutung ganz zu lassen.

Zur Schule ging Hans ins Dorf, etwa eine Viertelstunde den Berg
hinunter. Ein Wässerlein rann aus dem Walde hinab auf dem Grunde eines
langen und schmalen Tales; an diesem entlang waren die Häuser gebaut,
und die Felder zogen sich in schmalen Streifen zu beiden Seiten den Berg
in die Höhe. Sehr beschwerlich war das Pflügen auf diesen abhängigen
Feldern, und am schwersten war es, den Dung hinaufzuschaffen; deshalb
sahen die Leute alle verarbeitet aus und waren auch arm, aber sie hatten
einen unverdrossenen Mut. In der Jugend lebte damals ein unruhiger
Geist, denn die, welche gedient hatten und das leichte Leben draußen
gesehen, litt es nicht mehr zu Hause; dadurch kam viel Unfriede in die
Familien, weil die Alten nichts von der Fremde hielten und wollten, daß
die Jungen zu Hause blieben.

Kirche, Pfarrhaus und Schulhaus waren eben solche hölzernen und
unscheinbaren Gebäudlein wie die Bauernhäuser; nur daß in der Pfarre
alle Fenster mit Blumenstöcken besetzt standen und vor der Schule sich
ein schmales Gärtchen mit blühenden Stauden und Sträuchern hinzog. Der
Lehrer war ein alter hagerer Mann mit rasiertem Gesicht und mit straffem
weißem Haar und leuchtenden Augen, und hatte eine aufrechte Haltung.
Wenn er auf dem Katheder saß in seinem schwarzen Rock vor der
weißgetünchten Wand, so sah Hans einen Heiligenschein um seinen Kopf
glänzen, von welchem Gesicht er jedoch zu niemand sprach. Am schönsten
war die Schule in den dämmerigen Winterstunden, wenn biblische
Geschichte erzählt wurde, solche, wie der Engel des Herrn zu Abraham kam
und zu seinem Weibe Sara. Und sprach Abraham: »Herr, habe ich Gnade
gefunden vor deinen Augen, so gehe nicht vor deinem Knechte über. Man
soll Euch ein wenig Wasser bringen und Eure Füße waschen; und lehnet
Euch unter den Baum.« Und eilte in die Hütte zu Sara und sprach: »Eile
und menge drei Maß Semmelmehl, knete und backe Kuchen«, und lief zu den
Rindern und holete ein zart gut Kalb und gab es dem Knaben; der eilete
und bereitete es zu. Und er trug auf Butter und Milch, und von dem
Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor, und traten sie
unter den Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: »Wo ist dein Weib
Sara?« Er antwortete: »Drinnen in der Hütte.« Da sprach er: »Ich will
wieder zu dir kommen, so ich lebe, siehe, so soll Sara, dein Weib, einen
Sohn haben.« Das hörete Sara hinter ihm, hinter der Tür der Hütte. Und
sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohlbetagt, also, daß es Sara
nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darum lachte sie bei sich selbst.
Da sprach der Herr zu Abraham: »Warum lacht die Sara, und spricht:
>Meinst du, daß es wahr sei, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt
bin?< Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich
wieder zu dir kommen, so ich lebe, so soll Sara einen Sohn haben.« Da
leugnete Sara und sprach: »Ich habe nicht gelacht«, denn sie fürchtete
sich. Er aber sprach: »Es ist nicht also, denn du hast gelacht.«

Bei solchen Geschichten hörten alle still zu, wie der Lehrer erzählte,
und keines rührte sich, und die Dämmerung nahm zu in der Schulstube.
Hans wußte alle diese Geschichten auswendig, Wort für Wort, weil er so
viel in der Bibel las, und darüber lobte ihn der Lehrer oft. Auch im
Lesen und Schreiben war er der Erste, nur im Rechnen ging es bei ihm
immer schlecht, und in der Erdkunde.

In des Lehrers Garten stand ein Bienenhaus mit vielen Kasten voll
Bienen, zu denen hatte Hans eine besondere Liebe. Wenn er die Erlaubnis
bekam, so setzte er die Mütze auf, damit nicht ein Bienchen, sich in
seinem Haar verwirrend, böse würde, und hockte auf die Erde nieder neben
den Fluglöchern und sah zu, wie die Bienen eilig herauskamen aus dem
Dunkeln und an den Rand des Flugbrettes liefen und sich in die Lüfte
ließen, und wie die beladenen Arbeiterinnen zurückkehrten und schwer auf
dem Brettchen niederflogen und langsam in den Stock zurückgingen, Honig
und Blütenstaub dort abzulegen. Wenn ein rechter Arbeitstag war und die
Sonne schien warm, und vom Grasgarten her duftete der Klee, so war ein
wunderbares Gesumm in der Luft, dann hätte er stundenlang zuhören mögen;
voll mit fleißigen Bienen waren die Flugbrettchen besetzt, und die
Wachtposten untersuchten eine jede, ehe sie in den Stock durfte, und ein
Lichtstrahl fiel in das Dunkel des Kastens, in dem war gleichfalls ein
Summen und Tosen von fleißiger Arbeit. So saß Hans neben den
Fluglöchern, und mit unbestimmten Träumereien dachte er an das Fliegen
in der funkelnden und blitzenden Luft und stellte sich vor, wie es sein
müßte, wenn er selbst so klein wäre und so flöge, wie unendlich groß und
weit ihm dann alles erschiene, und wie die ganze Welt anders wäre; und
ein sonderliches Behagen überkam ihn durch Sonnenschein, Bienensummen
und Kleeduft.

Der Lehrer hatte ein Buch, darin waren alle Tiere abgebildet. Da war der
Löwe, der Tiger, der Affe, und dann die Meerungeheuer, der Hammerfisch,
der Sägefisch, der Walfisch; da war gezeichnet, wie die Menschen in
einem kleinen Boot zu dem Walfisch heranrudern und die Harpune auf ihn
schleudern; das war grausig anzusehen, wenn man dieses kleine Boot
verglich mit dem ungeheuren Walfisch. Ach, so weit war die Welt, so
weit! Unter den Bergen dehnte sich das flache Land hin mit großen
Städten, Flüsse zogen, und das weite Meer war da und Inseln und andre
Erdteile; hier aber war ein enges Tal, auf dessen Grund ein Wässerlein
plätscherte, in dem wohnten Menschen; und er selbst, Hans Werther,
wohnte oben, im Wald; aber noch höhere Berge gab es, über seines Vaters
Hause, von denen man weit sehen konnte; das Forsthaus aber stand
inmitten der Tannen und hatte keinen Ausblick.

Die Stunden beim Pastor hatte Hans gemeinsam mit Karl Gleichen, des
Pastors Schwestersohn, den der alte Mann zu sich genommen.

Karl Gleichens Eltern waren schon lange tot, nach einem traurigen und
schmerzenreichen Leben.

Der Pastor hatte mit einer Schwester zusammengewohnt, die war dreißig
Jahre jünger wie er, welcher der älteste von den Geschwistern gewesen,
und ein wahres Nesthäkchen, das geboren wurde, als zwei der Geschwister
schon verlobt waren. Von allen der ganzen Familie wurde sie verhätschelt
und verzogen, und sie hatte auch eine schwache Gesundheit; am meisten
aber liebte sie der Älteste, der sie auch zu sich nahm, wie die Eltern
starben, da sie eben aus den Kinderjahren gewachsen; er erzog sie
völlig, wie er es verstand, als ein guter, wunderlicher und unbeweibter
Mann, und sie befahl ihm und führte seine Wirtschaft. Ein reizendes
Mädchen war sie gewesen, immer fröhlich und zwitschernd, wie Milch und
Blut war ihr Gesicht, und die schwere Last ihres Haares leuchtete gelb
wie reifer Roggen. Und am besten stand ihr, daß sie so ein verzogenes
Kind war, dem alles immer nach Wunsch gegangen, und sie wußte das auch,
daß ihr das stand, und daß die Leute sich über sie freuten. Dazu hatte
sie seltene Gaben in ihrem zierlichen Körperchen, das so recht war wie
eine wehende Flocke; zu Weihnachten und zu den Geburtstagen dichtete sie
niedliche und zarte Verschen, welche sie die kleinen Kinder im Dorf
lehrte, daß sie bei einer gemeinsamen Aufführung sie im Pfarrhause
aufzusagen wußten; einmal hatte sie zwei ganz Kleine als Lämmer
verkleidet, die nur mit ihren Schwänzchen wackelten, weil sie noch
nichts sagen konnten. Nun wohnte im Nachbarstädtchen eine
Predigerswitwe, ein beständig klagendes und sich sorgendes armes
Mütterchen. Die hatte einen einzigen Sohn, der ungeraten war und schon
auf der Schule nicht hatte guttun wollen, sondern entlaufen war, und
hatte sich als Schiffsjunge annehmen lassen. Wie es ihm aber auf der See
nicht schmecken wollte, so war er bald in abgerissenem Zustand zu seiner
Mutter zurückgekommen, und da gab sie ihn nach vielen Ratschlägen in ein
Bankgeschäft zur Lehre, aber nach einem halben Jahre mußte sie einen
großen Schaden vergüten, den der Junge angerichtet hatte, und erhielt
den dazu wieder zurück. Nach diesem trieb sich der eine Weile in dem
Städtchen herum, dann war er plötzlich verschwunden; und am Ende, nach
Jahren, kriegte die Mutter einen Brief von ihm aus Amerika, daß er in
einer großen Stadt als Kaufmann lebe und zu guten Verhältnissen gekommen
sei; dann kam er selbst auch zum Besuch seiner Mutter, als ein
hochgewachsener Mann mit blondem Kinnbart, der einen grauen Zylinder
trug. Er sah nicht gerade wohlhabend aus, aber auch nicht armselig, und
wenn er zwar wohl viel log und aufschnitt, so glaubten die Leute doch,
daß er sich gebessert habe und zu derjenigen Ehrbarkeit gekommen sei,
die einem Solchen erreichbar werde. Es stellte sich auch heraus, daß er
drüben Soldat gewesen war und in einem Indianergefecht einen Schuß durch
die Hand bekommen hatte, wofür er jeden Monat eine Pension bezog. Wie es
sich mit seinen eigentlichen Geschäften verhielt, wurde nicht recht
klar, indem er erklärte, die Verhältnisse seien drüben anders, und sein
Geschäftszweig, der eine Art Vertretung auswärtiger Häuser sei, könne
nur Jemandem erklärt werden, der wie er in der Welt herumgekommen sei
und nicht immer zu Hause gesessen habe.

Dieser Mann lernte des Pfarrers Schwester, die Friederike hieß, bei
einem winterlichen Tanzvergnügen in der kleinen Stadt kennen und faßte
gleich eine heftige Zuneigung zu dem Mädchen; und da er selbst auch
etwas ganz Absonderliches war, und vornehmlich weil er einen bösen Ruf
hatte, so erwiderte diese die Zuneigung in kurzer Zeit und ohne daß er
viele Mühe aufwenden mußte. Dem guten Pastor wurde wohl hinterbracht,
daß die Zwei Heimlichkeiten miteinander hatten; aber der lachte bloß und
sagte, die Friederike sei ein Kind, und er kenne sie besser wie alle
andern. Indessen ließ den Amerikaner sein böses Blut nichts auf
ordentlichem Wege betreiben, und deshalb ging er nicht zum Bruder, wie
es sich gehörte, ihm seine Pläne und Verhältnisse mitzuteilen, sondern
er beredete die kleine Friederike, daß sie mit ihm heimlich entfloh, bis
sie beide nach Hamburg kamen; und wie sie inzwischen Besinnung erlangte,
so schrieb sie von da einen traurigen Brief an den Pastor, bat ihn um
Verzeihung für das Leid, das sie ihm zugefügt, und gab als einzige
Entschuldigung an, wie er ihr die Flucht vorgeschlagen habe, da sei es
ihr gewesen, als ob sie ihm folgen müsse, und über nichts habe sie mehr
nachdenken können, was solche Flucht denn bedeute und nach sich ziehe.
Der gute Bruder reiste gleich und traf die beiden auch in der großen
Stadt, wie sie auf ihr Schiff warteten. Da hatte er mit dem Amerikaner
eine Unterredung, wie es nun mit ihm und Friederike werden solle; und
zeigte sich, daß der Mensch gar nichts hatte, wovon er selbst und seine
künftige Frau leben konnten, denn er war als ein Habenichts auf dem
Zwischendeck nach Deutschland zurückgekommen, und jetzt lebte er von
dem, was er von seiner Mutter mitgenommen, die ihm hatte sein geringes
Erbteil auszahlen müssen. Er entschuldigte sich aber, indem er sagte,
nachdem ihn das Schicksal als einen armen Menschen in die Welt geworfen,
dürfte ihm doch niemand Vorwürfe machen, wenn er wenigstens Liebe
begehre, auf die doch jeder Mensch Anspruch habe. Dem frommen und
treuherzigen Pastor war es recht schwer, sich in die Geistesverfassung
des andern hineinzudenken, indessen er fand, daß er selbstsüchtig sei;
wie er aber das Friederike sagte und sie mit Tränen in den Augen bat,
sie solle mit ihm zurückkehren, wurde die gekränkt über den geringen
Vorwurf, den er dem Amerikaner machte, und sagte, wenn ihr Liebster arm
und unglücklich sei, so sei ihr Platz erst recht an seiner Seite, und
sie wolle ihm schon helfen und ihn fördern. Dergestalt erreichte der
treue Bruder nichts, außer daß er sie wenigstens noch vor ihrer Abreise
nach Amerika trauen durfte, nachdem sie sich vor dem Standesamt
zusammengetan hatten.

Es verging nur eine ganz geringe Zeit, da kam aus Amerika ein
schmerzensreicher Brief von der armen Friederike, und machte sich der
Pastor wieder auf, fuhr selbst über das Wasser und holte sein
Schwesterchen nach Hause, denn jetzt folgte sie ihm willig. Sie sah
krank aus, wie sie kam, mit hohlen Backen und ungesund glänzenden Augen;
die Haare trug sie kurz, denn ihre schönen Zöpfe hatte ihr der schlechte
Mensch abgeschnitten und verkauft. Bald gab sie einem Kinde das Leben,
einem gesunden und starken Jungen, der gleich recht unbändig schrie;
aber von dem Kinde erholte sie sich nicht wieder, und nach einigen
Monaten starb sie in gänzlicher Erschöpfung aller Lebenskräfte; wie sie
im Letzten lag, rief sie in Liebe und Sehnsucht immer nach ihrem bösen
Mann und bat, er solle ihr verzeihen, sie habe ihn lieb gehabt. Den
Jungen behielt der Pastor und zog ihn auf, in Liebe nach Spuren von
seiner Mutter Wesen in ihm suchend, und in Furcht, daß seines Vaters Art
auf ihn vererbt sein könne. Dieser Junge war Karl Gleichen, der mit Hans
zusammen in des Pastors Studierstube saß und die Anfänge des Lateins
lernte.

Karl Gleichen wird den Hans Werther eine lange Weile begleiten, deshalb
ist so ausführlich über seine Eltern geredet; denn aus deren Schuld und
Art entstand sein Wesen, das in allem anders war wie Hansens Wesen. Karl
war ein anmutiges und liebenswürdiges Kind, jeder Güte zugänglich und
leicht nachgebend bei scharfem Zureden, offenherzig und gutmütig, und
gern hätte er Allen geschenkt; sein Verstand faßte leicht auf und
behielt schnell, und ohne Mühe zog er Schlüsse: jeder hatte ihn lieb und
war gütig gegen ihn, weil er ein so begabtes, gut geartetes und sonniges
Kind schien; aber er war erzeugt durch Schwäche und Selbstsucht, und ein
ernster Mann hätte in seinen Vorzügen vielmehr Fehler gesehen. Seine
Güte entsprang nicht aus einer Stärke, sondern aus einer Kraftlosigkeit,
weil er sich nicht wehren konnte gegen den Einfluß fremden Willens und
schnell gerührt wurde und mitlitt; seine leichte Auffassung entstand
dadurch, daß in ihm selbst nichts Eigenes und Starkes war, das sich
gegen die fremden Gedanken wehrte, sondern leicht hielten diese fremden
Gedanken bei ihm ihren Einzug, nahmen Besitz von den Kammern seines
Verstandes und zeugten hier Kinder; zwar blieben sie immer nur Fremde,
und wenn eine neue Einwanderung kam, so mußten sie bald weichen. So
geschah es, daß er selbst Auswendiggelerntes nach längerer Zeit, wenn er
es nicht gebraucht, plötzlich spurlos verloren hatte, als habe er es nie
gehabt. Seine Offenheit hatte denselben Grund, denn weil nichts Eigenes
und Unbewegliches in ihm war, so entwickelte sich nicht die Scham des
Gedankens, die oft scheinbar törichte Äußerungen von sich gibt, aber
auch bei der größten Torheit immer Eignes und Starkes anzeigt. Solche
Menschen sind dann leicht anmutig, weil sie so ohne Zwang und Not im
Innern leben, und liebenswürdig sind sie, weil sie sich einem
freundlichen Entgegenkommen sogleich öffnen. Auf solcher Schwäche ruhen
aber zuletzt die Selbstsucht wie die Eitelkeit, denn weil die nötige
Kraft nicht genügend vorhanden ist, muß ein solcher Mensch mit seinem
Wollen haushalten, um nur bestehen zu können; während dagegen ein
starker Mensch überflüssige Kraft hat und daher selbstlos ist, indem er
in Stolz und Freude von seiner Kraft andern mitteilt, mag er in äußeren
Dingen dem Oberflächlichen auch karg scheinen, weil er keine leichte
Hand hat. Aber Liebe bei den Menschen haben mehr die Kinder vom Schlage
Karls; Hans war verschlossen, unliebenswürdig, ängstlich im Verkehr,
hart, hielt seine Sachen fest und spendete nicht, lernte schwer und zog
schwer Schlüsse aus dem Gelernten, und außer seiner Eltern befolgte er
niemandes Ermahnungen.

In des Pastors Studierstube saßen die beiden Jungen. Hans übersetzte,
mit oft stockender Stimme und in großer Anstrengung, die Stirn finster
faltend; Karl dachte träumend an Hansens Kaninchen und bedachte bei
sich, ob der Oheim ihm wohl erlauben werde, daß er sich auch ein Pärchen
halte; denn wenn er nur die erste kleine Erlaubnis hatte, so wollte er
wohl mit der Zeit noch mehr bekommen und einen Stall haben, der viel
schöner wäre wie Hansens.

An den Wänden herum standen auf den Gestellen viele alte Bücher, denn
der Pastor war ein Freund ehrwürdiger Folianten in Schweinsleder und
Pergament; da waren des teuren Gottesmannes Luther sämtliche deutsche
Bücher in acht Foliobänden, des Tabernämontani Kräuterbuch und Gesneri
Tierbuch; daneben Spangenbergs Adelsspiegel und Mansfeldische Chronika,
und noch manche andre alte Chronik. Das war ihm eine Freude, wenn er dem
kleinen Hans diese Bücher zeigte; langsam holte er den Band aus dem
Börd, strich liebkosend über den gepreßten Pergamentdeckel, auf dem etwa
ein sächsischer Kurfürst oder eine menschliche Tugend abkonterfeit war;
dann öffnete er die Schließen und schlug den Band auf vor Hans, dem das
Herz klopfte. Oft wunderte er sich, woher der Junge diese Freude an
Büchern geerbt habe, denn der stammte von Förstern und Bergleuten ab und
nicht wie er, der Pastor, von einer langen Reihe von Gelehrten und
Dienern des Wortes; war doch in den Lutherschriften vorn eine Eintragung
eines Vorfahren, der auch Pfarrer gewesen, und hatte diese Schriften
gekauft und binden lassen, und kam ihn der Band auf einen Karolin zu
stehen nach damaliger Münze, was für einen armen Pfarrherrn mag eine
stattliche Ausgabe gewesen sein. Dafür aber hatten so viel Jahrhunderte
diese Bücher in den Studierstübchen der Nachkommen gestanden und hatten
viele geistliche Moden erlebt, Bärte und Perücken und rasiertes Gesicht
und eignes Haar; und die letzten Pfarrherren waren alle starke Raucher
gewesen, davon die Bücher endlich ganz mit Tabakrauch durchdrungen
waren, also daß er einem in die Augen biß, wenn man sie aufschlug.

Noch andre Freuden hatte der Pastor, die er mit Hansen teilte, weil der
so nachdenklich war. In einem Glasschrank stand ihm ein Straußenei und
eine Kokosnuß und viele fremde Muscheln; dazu Pfeile von wilden Völkern,
ein großer Bergkristall und die Fingernägel eines vornehmen Herrn in
Siam; denn die adeligen Siamesen beschneiden ihre Nägel nicht, aus
Stolz, sondern lassen sie lang wachsen, daß sie wohl fünf Zoll erreichen
und mehr und sich wunderlich krümmen. Zu Winterzeiten hielt der Pastor
allwöchentlich eine Missionsstunde ab, in welcher er vieles erzählte von
dem Leben der Wilden, daß die nackt herumlaufen, wie sie Gott geschaffen
hat, und sich gegenseitig verzehren und Götzen anbeten, die sie selbst
gemacht aus Stein oder Holz; so elend ist der natürliche Mensch. Da
zeigte er dann auch seine Seltenheiten herum, das Straußenei und die
Kokosnuß, die Pfeile und die grausamen Fingernägel aus Siam; und war um
diese Missionsstunden eine große Liebe für die armen Heiden in der
Gemeinde, und viel wurde geopfert. An Hans hatte der Pastor eine große
Freude, daß er so offenen Herzens war für alle solche Kenntnis, und
deshalb erzählte er ihm vieles, was ihm auf dem Herzen lag. Er erinnerte
ihn aber ganz an seinen Vater, den Förster. Der war zu ihm gekommen, wie
er selbst Student war, als ein armer Junge, der eine Waise war und schon
in den Wald gehen mußte auf Arbeit, um das Brot für sich und seine
Mutter zu verdienen; denn das Gnadengeld, das die Mutter bekam für ihren
toten Mann, betrug nur zehn Silbergroschen die Woche, und das reichte
nicht aus für die beiden; hatte also den Studenten gebeten, er möge ihm
Stunden geben in der Mathematik, des Abends, wenn er aus dem Wald nach
Hause käme, weil er nicht Arbeiter bleiben wollte, sondern wollte einmal
Förster werden, und gestand, daß er nur einen halben Groschen zahlen
könne für die Stunde. So war er denn ins Pfarrhaus gekommen um acht Uhr
in der Dunkelheit und hatte sich in des Studenten Dachstübchen an den
Tisch gesetzt und gelernt. Aber weil es warm war in dem Studierstübchen,
und er hatte den Tag über fleißig gearbeitet in der Kälte, so wurde er
müde, und die Augen fielen ihm zu wider Willen, mitten während eines
Beweises. Da hatte der Student Mitleiden gehabt mit dem armen Jungen,
hatte ihn schlafen lassen und derweilen, eine lange Pfeife rauchend, in
Bengels Gnomon studiert, bis der wieder aufwachte, sich besann und
weiterhin aufmerksam folgte, wie sein Meister lehrte. So lange war das
nun her, und jetzt wollte der Sohn dieses armen Jungen selbst einmal
Student werden und später ein Prediger, und das geschah darum, weil der
Junge von damals so fleißig und treu gewesen war. Auch für des Pastors
Blumen hatte Hans viel Liebe und Staunen. Vornehmlich an Topfpflanzen
hatte sich der Pastor gefreut, wenig am Garten, als ein rechter
Stubenhocker, der den lieben Sonnenschein so recht genoß durch die
kleinen Scheiben seiner blumenbestandenen Fenster und zu Winterszeiten
im warmen Schlafrock sein geheiztes Stübchen liebhatte.

Da standen merkwürdige Pflanzen, besonders viele Kaktuspflanzen; dabei
war auch eine Königin der Nacht, die nur einmal im Jahr blühte, und dann
nur eine Nacht. Wenn diese Nacht war, so lud der Pastor den Förster, den
Lehrer und den Amtmann zu sich ein, die Frau Pastorin setzte Wein und
Torte vor, und dann wurde abgewartet, wie sich die Blume öffnete. Eine
ganz sonderbare Geschichte erzählte der Pastor von einer andern Pflanze,
die er »japanische Rose« nannte. In früheren Jahren hatte er einen
solchen Topf von einem Amtsbruder geschenkt bekommen, der zwei Stücke
besaß, die er selbst aus Stecklingen großgezogen. Lange Jahre wuchs,
grünte und blühte das Gewächs; aber mit einem Male fing es an zu
kränkeln, nahm ab und ging endlich ein; und zu der gleichen Zeit starb
der Amtsbruder, von dem der Pastor den Topf erhalten. Diese Geschichte
durfte Hans nicht weitererzählen wegen der menschlichen Schwachheit,
weil Manche in der Gemeinde sich noch mit abergläubischen Gedanken
trugen.

Der Pastor war ein Letzter einer langen Reihe, und weil er mit seiner
Frau keine Kinder hatte, so schien es, als wolle die Natur nicht, daß er
seine Art fortführte. Was so viele Generationen seit Jahrhunderten in
innerlicher Arbeit erstrebt hatten, das war in ihm ein wirkliches Bild
geworden; er wußte nichts von Schlechtigkeit oder bösem Wesen, und kam
ihm etwas Schlimmes nahe in seiner Gemeinde, so machte er ein
erschrecktes und betrübtes Gesicht, und dann lächelte er ungläubig, und
seine Mienen zeigten an, daß er vor einem Fremden und Unverständlichen
stand und keinen Rat wußte; bald aber fand er sich wieder und meinte,
ein Irrtum sei das und eine falsche Auslegung der Wirklichkeit. Zwar, er
predigte von der Erbsünde und von der natürlichen Bosheit des
Menschengeschlechtes; aber in seinem Herzen wußte er nichts von diesen
Lehren, er sprach da nur Worte, die er nicht verstanden. Mitten unter
einer harten Bevölkerung lebte er, unter kleinen Bauern und
Holzarbeitern, die wohl tüchtige und ordentliche Leute waren, unter
denen keine Liederlichkeit oder Faulheit vorkam; aber ihr Leben floh hin
bei dürrer Berechnung von Besitz und Erwerb, bei zähem Halten am kleinen
Vorteil, der nicht ohne geringe Betrügereien war, wie sie bei solchen
Leuten als ordnungsmäßig betrachtet werden. Die fanden bald heraus, daß
der Pastor vom wirklichen Leben nichts wußte und keine Ahnung hatte von
dem, was in ihnen vorging; deshalb hielten sie ihn für dumm, oder wie
sie sich das vorstellten, für »überstudiert«; und in dem sie nun mit
allem, was sie unmittelbar anging, sich fern von ihm hielten, vermehrten
sie noch seine Täuschung über die Wirklichkeit, die ihn umgab.

Aber auch in der Seele solcher Menschen, die ganz beschränkt auf
Irdisches und Bürgerliches sind, gibt es doch ein höheres Leben. Zwar
gewinnt es scheinbar keinen Einfluß, denn es wird rasch bedeckt durch
das Überwuchern des Wirtschaftlichen; aber vielleicht ist das ganz gut
so, und wenn es anders wäre, würden solche Menschen Schwätzer und
scheinheilige Salbader. Deshalb hatte der Pastor doch eine große und
segensreiche Bedeutung für seine Gemeinde; sie wußten alle, daß er nicht
an sich dachte und das Evangelium vom Rock erfüllt hatte; ja es gab
sogar eine Geschichte über ihn von einem Paar neuer Stiefel und einem
wandernden Handwerksgesellen; sie wußten, daß hier keine Lüge, keine
Gier, kein Betrug war, keine Habsucht und kein unlauteres Wesen, sondern
ein reines und frommes Herz und ein klarer und guter Sinn; und in dem
bedrängten und beladenen Leben, das sie führen mußten, bei harter Arbeit
und schweren Sorgen um das tägliche Brot und Kämpfen um die Ehrbarkeit
des Wandels hatten sie an dem Pastor ein Bild wie das eines glücklichen
und frohen Engels, der auf Erden wohnt, nichts weiß von Sünde und Schuld
und Sorge und mit dem Finger zum Himmel weist, als zu einem freien und
leichten Leben, das als Ziel uns allen vorschweben sollte. Und was
bedeutet das für einen beladenen Menschen, der mühselig dahin geht, den
Blick auf die Erde gerichtet! Aber es ist gut für uns, daß solche
Menschen selten sind.

In ihrer Art ebenso merkwürdig wie der Mann war die Frau Pfarrerin.

Sie war frühzeitig Waise geworden und hatte von ihren Eltern ein
ziemliches Vermögen geerbt; ihres jetzigen Mannes Vater, der alte
Pastor, der ein entfernter Verwandter war, wurde ihr als Vormund
bestellt und nahm sie zu sich ins Haus, sie mit seinen Kindern zusammen
zu erziehen.

Schon als kleines Mädchen faßte sie eine Neigung zu dem ernsten
Ältesten, weil er ein liebes und gutes Wesen hatte und in vielen kleinen
Dingen besorgt werden mußte wegen seiner Zerstreutheit. Das hatte ihm
eine Schwester einmal gesagt, da war er rot geworden und schämte sich,
denn er dachte, sie wolle ihn hänseln. So behielt sie ihre stille
Neigung, wie er von Hause fortkam auf die Schule, und wie er erwachsener
wurde und auf die Universität ging; aber weil sie eine herbe und
verschlossene Natur war und ohne Zutunlichkeit, so verspürte niemand
etwas von dem, was sie heimlich bei sich dachte. Und auch der Student
seinerseits, der durch seine Jahre selbstbewußter geworden war, wie er
als Junge gewesen, dachte viel an sie mit Liebe und Hoffnung, nur hatte
er noch so viel Schüchternheit, daß er ihre Begegnung mied, und spann
sich noch mehr in seiner tabaksqualmigen Dachstube ein, wie er es sonst
getan hätte ohne seine liebende Gesinnung.

Wie er seine Examina bestanden und hoffen durfte, daß er in wenigen
Jahren eine Pfarre bekommen werde, da dachte er wohl, daß er nun wagen
dürfe, mit ihr zu sprechen über das, was er im Herzen hatte. So geschah
es, daß er einst an einem Sonntagnachmittag nach der Predigt mit ihr
durch die Felder ging, und auf beiden Seiten stand der hohe Roggen,
untermischt mit Kornblumen und roten Kornrosen. Und wiewohl er ihr nur
ganz alltägliche Dinge erzählte aus Scheu, so spürte sie doch durch ein
geheimes Überfließen seines Herzens, was er sagen wolle; aber da
überfiel sie mit einem Male eine namenlose Angst und eine heftige Scham,
und das spürte er sofort, und zwar hatte er in seinem Herzen eine
Bewegung, die das richtig deutete, und er hatte Lust, sie in seinen Arm
zu nehmen und an die Brust zu drücken, aber da überkam ihn aus einem
andern Winkel seiner Seele plötzlich ein lähmendes Mißtrauen und eine
Furcht, so daß sich alle Gefühle in ihm zurückzogen als erschreckt und
ihm ganz starr wurde im Herzen.

So redete er mit stockender Aussprache weiter, was er Gleichgültiges
angefangen, und ging neben ihr her; und ihre bebende Hand streifte
einmal über das hohe Korn; da sah er, daß ihre Hand bebte, und es begann
wieder lebendig zu werden in ihm; aber die Erstarrung war bei dem feinen
Menschen zu groß, er wurde ihrer doch nicht wieder Herr, und so blieben
die Worte ungesprochen zwischen den beiden, nach denen ihrer Beider
Herzen sich sehnten, und sie gingen stumm nach Hause.

Da war aber eine Schicksalsstunde versäumt, die in langen Jahren nicht
wiederkam. Sie dachte, daß sie sich wohl geirrt habe in ihrem Gefühl,
daß er zu ihr neige, und er habe überhaupt keine wärmere Liebe für sie,
nur für die andern; und er meinte traurig, für sie, die große, feste und
herbe Jungfrau mit den geschlossenen Lippen sei er zu gering, und sie
könne ihn nicht lieb haben, sondern müsse ihre Liebe auf einen andern
richten. Ohne Eifer dachte er das und mit tiefer Trauer.

So vergingen Jahre ihnen beiden in stillem Sehnen, bis jenes Unglück
über ihn kam mit seiner Schwester. Wie er von Hamburg zurückkehrte, da
trieb es ihn, daß er zu ihr gehen mußte, die schon längst für sich
gezogen war und allein hauste; sie waren aber nun beide Menschen weit
über die vierzig; da erzählte er ihr alles, davon er doch manches gar
nicht recht verstand, weder die blinde Leidenschaft der Schwäche seiner
kleinen Schwester, noch die rohe Habgier der Schlechtigkeit bei dem
Manne. Und wie er geendet und sie anblickte, ohne Rat und Trost, da sah
er, daß in ihren Augen Tränen standen, die sie vergeblich zurückhalten
wollte. »Weinst du über sie?« fragte er. »Nein, über dich!« rief sie in
Selbstvergessenheit. Da vergaß auch er alles und fragte, als ob er
träume, und lächelte dabei wie ein Kind: »Hast du mich denn lieb?« Aber
eine Erwiderung in Worten wurde nicht gegeben, sondern sie kamen
zusammen mit ihren Herzen, und ihr Gesicht, das sonst unbeweglich und
fest war, lag an seiner Brust und wurde von vielen Tränen überströmt.

So hatten sich die beiden gefunden, nachdem sie des Lebens Höhe schon
überschritten und sich seit frühen Jahren nacheinander gesehnt; und als
sie sich dann heirateten, da war es, als ob alles Glück, das für sie
bestimmt gewesen und nicht verbraucht war in den langen Jahren, als ob
das sich angesammelt habe und nun um sie sei, und verging kaum ein Tag,
daß sie nicht darüber staunten, wie glücklich sie waren, und machten
sich selbst aufmerksam auf dieses oder das in ihrem Leben, und freuten
sich über sich selbst.

Und das war sonderbar, daß, wer die beiden allein sah, hätte gemeint,
diese ernste Frau mit dem festgeschlossenen Mund müsse dem kindlichen
Mann überlegen sein, auf dessen reiner Stirn nur die einfachen Gedanken
zu lesen waren, die ihn bewegten; und sie konnte auch nicht gut mit
Kindern umgehen, während dem Mann alle Kinder anhingen und ganz mit ihm
sprachen wie mit ihresgleichen, welches der stärkste Ausdruck kindlicher
Zuneigung ist. Wenn aber die beiden zusammenstanden, dann kam niemand
mehr auf den Gedanken, der Mann könne schwächer sein wie die Frau,
sondern das natürliche Verhältnis von Mann und Weib war offenkundig
vorhanden, obwohl sie in vielen Dingen für ihn sorgte, daß er hätte ganz
unselbständig scheinen müssen; so schnitt sie ihm bei Tisch das Fleisch
vor.

Das Pfarrhaus hat für die Leute auf dem Lande etwas Festtägliches, durch
die Ruhe, die wenigen Menschen in den vielen Räumen, die blitzenden
Fensterscheiben mit den weißen Gardinen dahinter, die sandbestreute
Diele und die frommen Sprüche, die im Flur angebracht sind. Und die
beiden Leute waren festtägliche Leute dazu, das empfanden die Arbeiter
und Bauern; und noch mehr empfand es der kleine Hans. Wenn sich die
Haustür in der Pfarre hinter ihm geschlossen hatte und die Klingel lange
nachschellte und er auf den Zehenspitzen über die Diele ging mit dem
knirschenden Sand, der ein so lautes Geräusch zu machen schien, so
schlug ihm jedesmal das Herz; und in Freude verwandelte sich die
Ehrfurcht erst dann, wenn er dem freundlichen Pastor die Hand gab. Was
sollen wir viel erfahren von dem, was äußerlich vorging in diesen
Jahren? Auf Hans wirkte das Wesen der Alten, und das Wesen Karls hatte
Einfluß auf ihn, zu den Wirkungen und Einflüssen, die er zu Hause hatte
und im Wald; ganz wenig wirkten auf ihn die Jungen in der Schule und die
Schule überhaupt, obwohl die einen großen Raum in seinen Erlebnissen
einnahm; aber was er hier hatte, war nur ein Kennenlernen der Dinge, die
ein Mensch gebraucht zu seinem äußeren Leben; diese aber sind für unsere
Absichten gleichgültig.

                   *       *       *       *       *

Wie Hans in sein zwölftes Jahr kam, mußte er des Pastors Unterricht
verlassen und in die Stadt gehen, das Gymnasium zu besuchen; mit ihm
ging Karl Gleichen.

Hans wurde auf den Löwenhof gebracht, zu einem Ackerbürger, namens Löwe.
Hier bekam er ein Dachkämmerchen mit einem Bett zum Schlafen, den Tag
über mußte er sich in der Wohnstube der Leute aufhalten, an deren Tisch
aß er auch; nur die Woche über war er hier. Sonnabends, wenn die Schule
beendet war, pilgerte er durch das alte Stadttor hinaus, durch die
Felder hinauf in den Wald nach Hause, und Montag früh ging er wieder
zurück in die Stadt. Seine Mutter hatte abgemacht, daß sie für die Woche
einen Taler bezahlen wollte an die Wirtsleute, den trug er Montags in
der Tasche bei sich.

Diese Löwes waren alteingesessene Leute, deren Voreltern fleißig und
sparsam gewirtschaftet hatten, bei ihnen aber ging alles auf, und es war
wohl zu sehen, daß sie ihrer einzigen Tochter einst nichts hinterlassen
würden. Das geschah aber so, daß sie nicht eigentlich liederlich waren,
auch nicht wirklich verpraßten; nur war der Mann von langsamer Art und
ein Schläfer, und die Frau, wiewohl flink und gewandt, liebte sehr das
Essen, mehr aus Liebe zur Kochkunst wie aus Leckerei, denn es freute sie
am meisten, wenn es andern schmeckte. Sonst aber waren sie ordentliche
und gute Leute.

Um vier Uhr des Morgens weckte die Frau den Mann; der öffnete dann die
Kammerfenster und rief die Knechte und die Magd wach; darauf sagte er,
daß er erst wieder warm werden wolle und ging ins Bett zurück, aus dem
er dann nicht vor sieben Uhr aufstand. Da pflügten die beiden Knechte
schon lange auf dem Acker, und die Magd hatte längst gemolken; wenn aber
des Herrn Auge nicht wacht, so geht der Pflug nicht tief und wird das
Euter nicht leer, und vieles wird vertan und verworfen in der
Wirtschaft. Die Frau ging in die Küche und sagte, sie fühle sich so
schlecht im Magen, ihr sei, als müsse sie etwas Besonderes genießen; und
so briet sie schon am frühen Morgen sich allerhand Leckerbißlein, davon
sie auch, als eine kleine Person, dick und rund wurde, indessen der Mann
mit dem verschlafenen Gesicht mager und lang war.

Wohl sahen sie selbst ein, daß sie auf diese Weise immer mehr
zurückkamen, und namentlich an den Quartalsterminen wurde ihnen das
klar. Aber sie vermochten nichts an ihrem Leben zu ändern; wenigstens
muß man rühmen, daß sie sich nicht gegenseitig Vorwürfe machten. Nur
heimlich klagten sie wohl einem andern ihr Leid, und zu solchem
Vertrauen erwählten sie sich ihren Kostgänger Hans. So rief ihn etwa die
Frau in die Küche, briet eine schmackhafte Gänseleber, schob ihm die zu
und sprach: »Iß, sie ist mit ungesalzener Butter gebraten«, und erzählte
dann von ihrem Leben, daß sie viele Anbeter gehabt habe, die sie zur
Frau gewollt hätten, aber sie habe nun zu ihrem Unglück diesen Mann
genommen; der sei zwar gut zu ihr und trinke auch nicht, aber er sei
träge und schlafe zu viel, und sie könne allein das Wesen nicht halten,
so viel Mühe sie sich auch gebe; dazwischen erzählte sie, daß sie in die
Nudeln, mit denen die Gans gestopft wird, buchene Asche nehme, rühmte
auch wohl die gebratenen Kartoffeln und erzählte, von welchem Landstück
man die Kartoffeln zum Braten nehmen müsse, und von welchem sie als
Salzkartoffeln oder in der Schale am besten schmeckten; und am Ende
weinte sie in die blaue Schürze und sagte, wenn sie noch einmal heiraten
sollte, was ja Gott verhüten möge, denn ihr Mann sei ja gesund und wohl,
aber unmöglich sei doch nichts, so werde sie sich besser in acht nehmen.
Und der Mann rief den Hans zu sich, nahm die kurze Pfeife aus dem Mund,
tippte ihm damit auf die Brust und erzählte, was er für ein Kerl gewesen
sei in seinen jungen Jahren, und was er für Mädchen hätte heiraten
können, lobte dann seine Frau, daß sie ja gut sei und auch flink, aber
sie sei zu sehr auf das Essen und Trinken, und darüber gehe das Haus
zugrunde. Aber, meinte er, man könne ja nicht wissen, wenn seine Frau
einmal sterben sollte, so werde er sich in seiner zweiten Ehe ganz
besonders vorsehen; und so waren beide schon recht in die Jahre gekommen
und meinten doch, nach unbedachter Leute Art, daß sie ihr Leben immer
noch vor sich hätten und es nach ihrem Gefallen lenken könnten.

Die Tochter der beiden war wenige Jahre älter wie Hans, gutmütig und
still, und hatte der beiden Eltern Eigenschaften in sich vereinigt,
schlief viel und aß gern und war in ihren jungen Jahren auch schon artig
aufgegangen zu einem kugelrunden und zufriedenen Fräulein.

Hans aber hatte es gut in der Familie und wurde rechtschaffen gefüttert
für seinen Taler.

In der Schule war ihm das Einleben recht schwer. Da bestand eine
allgemeine Verschwörung gegen die Lehrer: alle Schüler hielten zusammen,
logen sich gegenüber dem Lehrer heraus, betrogen diese auch,
untereinander aber logen und betrogen sie nicht. Hätte einer sich dieser
Ordnung nicht gefügt, so hätten sie ihn alle verachtet.

Karl fügte sich sehr schnell in die Verhältnisse, sah in seines Nachbars
Hefte und hatte beim Abfragen ein Buch unter der Bank liegen; und wie
der Lehrer einmal eine Aussage von ihm wollte, log er mit offener und
heiterer Miene. Hansen war es nicht möglich, sich so zu geben,
gleichwohl aber sah er wohl ein, daß er nicht gegen die andern auftreten
konnte, und so stritten das alte Pflichtbewußtsein und das neue, das er
hier bekam, eine lange Zeit in ihm miteinander, bis er endlich einen
Ausweg fand, indem er selbst zwar keine Betrügereien mitmachte, aber
willig seine Hefte und Bücher hergab, wenn die andern sie benutzen
wollten. Als einmal sein Nachbar beinahe ertappt wurde und der Lehrer
ihn befragte, wurde er sehr rot und verlegen und sagte ängstlich, er
wisse von nichts.

Die Lehrer hatten allerhand Spitznamen, mit denen die Schüler sie unter
sich nannten; allmählich gewöhnte er sich auch daran, sie so zu nennen,
immer aber behielt er dabei noch eine gewisse Scheu und Unbehaglichkeit.

Zwar nahmen die Schüler im ganzen und großen seine Art ruhig hin ohne
besonderes Nachdenken, einmal aber kamen sie doch auf den Gedanken, sie
möchten ihn hänseln, weil er anders war wie sie, und fiel ihnen ein, sie
wollten ihn auf den Klassenschrank setzen. Da wich er erst zurück und
zog seine Arme fort, an denen sie ihn anfassen wollten, aber wie sie ihn
endlich umringt hatten, und weil er sich aus Verlegenheit nur
ungeschickt und schwach wehrte, da hoben sie ihn bald unter lautem
Geschrei auf den bestimmten Thron. Wie er da saß, standen ihm vor Kummer
die Tränen in den Augen, aber wie er auch Karl unter der Schar seiner
Peiniger erblickte, da faßte ihn ein heftiger Gram, und es überkam ihn
eine besinnungslose Wut, und er ergriff eine zusammengerollte Landkarte
mit Stäben, die da oben lag, und hieb unbarmherzig mit aller Kraft auf
die Köpfe unter ihm ein. Die Jungen schrien auf, und der Schwarm
wickelte sich schnell auseinander, er aber sprang mit seiner Waffe vom
Schrank herunter und verfolgte die andern, die vor ihm flohen, bis sie
zuletzt alle zur Tür hinausliefen und diese von außen zuhielten, damit
er ihnen nicht nachkommen solle, denn sie waren in heftige Furcht
gekommen. Nach diesem Vorkommnis ließen sie ihn in Ruhe, ohne sich
übrigens besondere Gedanken über den Grund zu machen; er aber überlegte
sich das Ganze reiflich und kam zu dem Schluß, daß einer, wenn er sich
nicht fürchtet, gar keine Gefahr läuft und wohl dreißig in die Flucht
schlagen kann.

Fünf Jahre mußte er auf dem Gymnasium verbringen, das waren die fünf
schlimmsten Jahre seines Lebens. Damals fühlte er wohl den Druck und
hatte das unbestimmte Gefühl, als sei er Gefangener in einem Zuchthaus,
aber weil alle um ihn herum in derselben Weise lebten und dieses Leben
ganz natürlich und angenehm fanden, so kam ihm sein Unglück nicht zum
Bewußtsein, und er litt nur dumpf. So hatte er es später leichter, wie
er schwere Zeiten durchmachte, in Gewissenskämpfen und Sorge um das
tägliche Brot, denn da fühlte er sich innerlich doch immer froh, wenn er
dachte, daß das alles, was man als das Schlimmste hinstellt, doch nicht
so schlimm war wie dieses Leben in der Schule, das damals allen
natürlich und angenehm erschien, wenn auch alle litten gleich ihm.

Vieles wurde gelehrt, was ein jugendliches Herz wohl hätte begeistern
können; aber was die Lehrer sagten, und was gelernt werden mußte, war
gleichgültig und eine gemeine Arbeit ohne Sinn, wie sie ein Holzarbeiter
verrichten mag, der denkt: am Sonnabend habe ich meinen Lohn verdient;
und einen andern Sinn hat seine Arbeit nicht für ihn. So war auch in der
Schule alles Arbeiten nur aus dem Zwecke zu verstehen, daß man solche
Dinge wissen mußte, wenn man das Examen bestehen wollte; das mußte man
aber bestehen, sonst durfte man nicht studieren; deshalb freuten sich
auch alle auf die Universität, denn sie hofften, daß sie da das
Zweckvolle und Sinnreiche sehen würden. Aber weil die Arbeit allen
zuwider war, und weil alle das gleiche wissen mußten, Kluge und Dumme,
so kam zu dem noch hinzu, daß die Dinge, die man wissen sollte, so lange
wiederholt wurden und breitgetreten, bis sie auch bei dem Dümmsten und
Gleichgültigsten festsaßen. Traurig und matt saßen die Jungen auf ihren
Bänken, sahen sehnsüchtig aus dem Fenster, wo die Schneeflocken
wirbelten und eine frische Kälte war, oder starrten auf die
tintenfleckigen und zerschnitzten Tische und die beschmierten Bücher,
indessen die gelangweilte Stimme des Lehrers schläfrig an ihr Ohr klang,
der nun schon seit Stunden eine einfache Konstruktion erklärte, die
jeder sofort verstanden hätte, wenn er nur Lust hätte bekommen können,
sie zu verstehen; den einen oder andern ermahnte der Lehrer, er solle
aufpassen und nicht träumen, und wenn er dann einen fragte, ob er jetzt
die Sache wiederholen könne, so zeigte sich der gänzlich verständnislos,
und die Erklärung mußte von neuem angefangen werden. So wurde an einem
einzigen Satz von Cicero eine ganze Stunde übersetzt.

Es ist zu sagen, daß diese Bildung der Schule weder unsern Hans noch
irgend einen andern Jungen gebildet hat, sondern nur die Bedeutung eines
Wissens von allerhand Dingen bekam, das zum Teil sehr schnell wieder
vergessen ward, und so erhielten alle diese Schüler ihre wahre Bildung
neben und außer der Schule, weshalb über diese sowohl wie über die
Lehrer hier weiter nichts zu sagen ist.

Kinder sehen die Dinge nahe, scharf und gewissermaßen in einer einzigen
Fläche; aber wenn ein Junge in die Zeit kommt, die man die Flegeljahre
nennt, so ändert sich unmerklich dieses Sehen, und damit werden auch die
Gefühle verändert, die er in sich hat; denn es legt sich ihm ein
Schleier über alles, daß die Umrisse verschwinden und die Dinge, die
früher allein standen, sich zu einem einheitlichen und untrennbaren Bild
zusammentun, und dieses Bild bekommt dann Tiefe, Vordergrund und
Hintergrund, seine Seele aber erfüllt sich nun mit einer unbestimmten
und undeutlichen Sehnsucht, welche die Bilder immer weiter in den
Hintergrund treibt, damit sie dort goldigere Farben annehmen und
duftigere Umrisse; er kriegt Erinnerung und Hoffnung, und der Gegenwart
vergißt er, und weil so vieles eine neue Bedeutsamkeit erlangt hat, die
er früher nicht geahnt, so geht ihm nun oft bei einer Kleinigkeit das
Herz auf als bei einem tiefsinnigen Symbol, dessen Bedeutung ihm nicht
in Begriffen beifällt, sondern nur in einem dunkeln Gefühl; und kommt
alles das rein und ungestört durch Äußeres aus dem Innern heraus, bei
dem einen so, bei dem andern so. Außerdem, während das Kind noch das
Gefühl hatte, daß alle andern Kinder, ja selbst die Tiere, ihm gleich
seien und deshalb noch keine Scham kannte, überfällt jetzt den Jungen
eine heftige Schamhaftigkeit, weil alles Neue nur ihm allein gehört, und
kann sich diese Schamhaftigkeit aber nicht äußern, wie es ihr
entsprechen würde, weil der Junge sie selbst nicht versteht, deshalb
kommt sie zutage als Trotz, Ungezogenheit und auch als Lüge; so nennt
unsre liebe keusche Muttersprache dieses Alter recht schön die
Flegeljahre.

Welche von den vielen Zügen, in denen sich diese Wandlung äußerte, soll
der Erzähler nun wohl herausheben? Es ist etwa zu erzählen, wie Hans an
einem Mittwochnachmittag in der Stube seiner Wirtsleute sitzt, wo
hinterm Ofen der Bauer im Halbschlaf träumt, und hat eine alte
Zigarettenschachtel, die er geschenkt bekommen, die klebt er an allen
Seiten sorgsam mit Kleister zu, daß kein Licht hinein kann, und träumt
in der Art wie einst, da er zu Hause unterm Tisch saß, wie heimlich es
wäre, ganz klein zu sein und in solcher verklebten Schachtel zu sitzen.
Wäre ein andrer in der Stube gewesen und nicht bloß der verschlafene
Wirt, so hätte er sich geschämt, solches Spiel zu treiben.

Durch Schule und Umgang werden derartige Neigungen auf bestimmte Wege
gelenkt, und so kam Hans darauf, sich eine Pflanzensammlung anzulegen.
Dazu hatte er den stärksten Trieb im Frühling, denn wenn der Rasen noch
überall vergilbt und schmutzig war, so erschienen die gelben Blumen des
Huflattich, die dann im Sommer die großen Blätter nachtreiben, darauf
kamen die Schneeglöckchen, und endlich begrünten sich die Wiesen, erst
an den feuchten Stellen, wo die Dotterblume ihre dicken Knospen aufbrach
und glänzende Blätter entrollte; und wie es überall grün war, da
beblümte sich die Wiese mit Marienblümchen, Veilchen, Männertreu,
Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Frauenmantel, Löwenzahn, Schaumkraut und
Storchenschnabel, in den Wäldern aber wuchsen die Zankblümchen,
Maiglöckchen und blauen Leberblumen. Das alles war so, daß das Herz weit
wurde, und schien, als könne diese Zeit nie aufhören und müsse die Wiese
immer weiter blühen, und der Fuchsschwanz sich heben und Sauerampfer
stehen und Kälberkropf sich breiten, und es werde niemals gemäht. Alle
diese Blumen kannte Hans schon früher, aber jetzt sagten sie ihm eine
Sehnsucht und eine Freude, die ihm bis dahin unbekannt gewesen, und
einmal, wie er ganz allein war, und niemand ringsum zu sehen inmitten
der blühenden Wiesen, da wagte er es, daß er aufjauchzte; aber der Ton
war ihm so sonderbar, daß er gleich wieder verstummte, aus Schrecken.

Aus dieser Zeit blieb ihm ein Erlebnis für sein ganzes Leben in der
Erinnerung, das äußerlich zwar nichtig schien: er war ausgegangen,
Pflanzen zu suchen und trat aus dem Wald und sah vor sich ein
Bauernhaus, bei dem ein großes, abgezäuntes Weidestück war; weil aber
der Frühling eben seine ersten Tage schickte, so lag noch in einem
schattigen Winkel etwas schmutziger Schnee, jedoch mitten durch das
Stück floß ein Wässerlein, eilfertig und geschäftig, wie diese
Wässerlein im frühen Frühling dahinplaudern, und an dessen Rändern war
das Gras schon grün und einige Büschel Narzissen standen da, in deren
einem eine Narzisse aufgeblüht war, diese Blume, die für den
Oberflächlichen kalt und leer scheint und in Wahrheit doch eine fast
unheimliche Leidenschaft in sich schließt. Wie Hans diese einsame Blume
sah, war es ihm, als bliebe vor einer sonderbaren Wonne sein Herz
stehen, und erst viel später, wie er schon erwachsen war, wußte er, daß
da damals ein heftiges Glücksgefühl gewesen, und verspürte einen
goldenen und sanften Abglanz davon auch nachher immer noch, wenn er in
seiner Sammlung die gepreßte Blume betrachtete. Mit geringerer Stärke
hatte er solche Gefühle auf andern Gängen, die er einsam machte und für
sich; so, wenn er am Waldrand dahinschritt, wo knorrige Wurzeln
vorragten und die Zweige sich weit überbogen, indessen das Korn ruhig
stand mit Mohn und Kornblumen, oder er wandelte einen schmalen Pfad
zwischen den Kornfeldern, und rechts und links streiften ihn die
schweren Ähren, die überhingen, und eine Lerche stieg schmetternd in die
Höhe aus der Mitte der unbewegten goldenen Frucht und wurde zu einem
kleinen Punkte oben im Blau, von dem es herabjubelte; ja selbst der
Strohduft in seines Vaters dämmernder Scheune vermochte eine Sehnsucht
und glückliche Freude zu erwecken. Der Grund bei allem diesem aber war
wohl, daß es ihm schien, weil seine Brust sich weitete, so fließe er
zusammen mit dem andern und gehöre zu ihm, so daß alles eins sei.

Nur ein dunkles und drohendes Gefühl stand auch in solchen Stunden immer
im Hintergrund, das sich an die Schule knüpfte; da waren unbekannte
Gedanken, daß er eigentlich arbeiten müsse, und daß er nicht seine
Pflicht erfülle, und daß er niemals das schwere Abiturientenexamen werde
bestehen können, denn trotzdem er unter den Ersten saß, war er sich doch
bewußt, daß er lange nicht wußte, was man wissen mußte; und allerhand
Vorwürfe machte er sich dann, wenn er an seinen Vater dachte, wie
fleißig der war und sich keine Freude gönnte, nur damit er selbst lernen
sollte. So schwer war diese Last, welche die Schule auf seine Seele
legte, daß er auch nach vielen, vielen Jahren sie noch spürte, wie er
schon längst erwachsen war und verheiratet und Kinder hatte.

In der Schule hörte er von Lehrern wie von Schülern etwas ganz anderes
über den lieben Gott, wie er bisher gehört. Die Religionsstunde hatten
die Jungen bei einem Lehrer, dem ein langer, blonder Bart gewachsen war,
und der oft einen kleinen, runden Taschenspiegel vorzog, den er auf den
Katheder legte und darin seinen Bart betrachtete; auch putzte er sich
die Nägel so sorgfältig, daß sie glänzten wie poliert, und wenn er sich
setzte, so zog er vorher mit zwei Fingern die Hosenbeine in die Höhe, um
sie zu schonen, weil sich die Knie sonst aus den Hosen herausarbeiten.
Die andern Lehrer sprachen gar nicht vom lieben Gott, sondern sie
redeten so von den Göttern der alten Griechen und Römer, daß es war, als
glaubten sie an die, was natürlich bloß so schien. Und die Jungen
dachten eigentlich gar nicht an Gott; das war so, daß er sich geschämt
hätte, vor ihnen den Namen Gottes zu gebrauchen, denn er hatte das
Gefühl, daß das nicht hierher paßte.

Mit Karl hatte er einmal ein Gespräch über diesen Punkt. Da sagte
dieser, heute glaubten überhaupt die meisten Menschen nicht mehr an
Gott, und die es doch täten, wären entweder Heuchler wie die Pfaffen,
oder sie seien Dumme. Wie Hans ihn fragte, was dann sein Onkel sein
sollte, verstummte er zuerst, und dann erklärte er, der sei »hinter
seiner Zeit zurückgeblieben«. Solche Meinungen schienen Hans ganz
schrecklich, und er hatte großes Mitleid mit Karl; der aber lachte und
sagte, er wolle ihm ein Buch borgen, in dem sei das alles ganz klar
bewiesen. Zuerst wollte Hans das Buch nicht lesen, dann aber meinte er,
daß er Karl vielleicht auf bessere Wege bringen könne, wenn er ihm
solchen Widersinn klar mache, wie in dem Buche geschrieben sein werde,
und deshalb studierte er es durch.

Da war nun aber plötzlich alles anders geworden. Karl hatte recht, in
dem Buch war ganz klar nachgewiesen, daß es keinen Gott gab und daß nur
die Schlechtigkeit der Menschen, insbesondere der Pfaffen, die von der
Dummheit der Menschen ihren Vorteil zögen, noch die falschen Ansichten
aufrecht erhielte. Gar nichts konnte man gegen die Beweise des Buches
vorbringen. Das fiel ihm nun schwer aufs Herz, denn erstlich sollte er
jetzt in einigen Wochen konfirmiert werden und mußte bekennen, daß er an
die christliche Lehre glaubte, und das konnte er nun nicht. Wie er Karl
fragte, was der tun werde, da konnte ihm der auch keinen Trost geben,
sondern meinte, das sei nur eine Formsache mit dem Glaubensbekenntnis
und man könne es nicht Lüge nennen, wenn einer dazu sein »ja« sage, denn
jeder wisse ja doch, was von diesen Dingen zu halten sei. Diese Meinung
schien Hans nicht richtig und er beschloß deshalb, einen Erwachsenen zu
fragen, wiewohl er eine große Scheu hatte, wie wenn er etwas Verbotenes
getan habe; aber weil es sein mußte, so überlegte er sich lange, wen er
angehen solle, seinen Vater oder den guten Pastor, und er entschloß sich
endlich, zu seinem Vater zu gehen. Der aber erwiderte ihm nichts auf
das, was ihn bekümmerte, sondern wurde nur ärgerlich und sprach, er
solle keine törichten Bücher lesen, sondern sich an seine Schulsachen
halten und die ordentlich betreiben, so werde sich alles Weitere später
schon von selber finden. Das war das erstemal, daß ihm auf eine Bitte
keine Gabe wurde von seinem Vater, wiewohl nur deshalb, weil der ihn
nicht verstanden, und von da an verschloß sich das Herz des Kindes vor
dem Erzeuger und kam viel Kummer und schwerer Kampf aus solcher
Entfremdung. So sehr aber hatte die Antwort ihn zurückgetrieben, daß er
nun noch weniger wagte, zu seinem alten guten Pastor zu gehen.

Wohl wußte er, daß der Satan derlei Anfechtungen schickt, daß wir nicht
glauben können, und daß wir dann siegen, wenn wir recht heftig zu Gott
beten und Gott die Hilfe abringen; aber er sah auch ein, wenn es nun
keinen Gott gab, so war ja auch diese Lehre eitel Torheit; und das
schien ihm so klar, daß es keinen Gott gab, daß kein Mensch mehr
zweifeln konnte, nachdem er das Buch gelesen; es hieß aber »Kraft und
Stoff«.

Und die Sorge um die Konfirmation war nur das Nächste. Weiterhin tat
sich ihm dann die Furcht auf, wenn er nun die Schule zu Ende besucht
hatte, so sollte er Theologie studieren nach dem Willen seiner Eltern;
das konnte er aber doch alsdann nicht, denn er wäre doch dann auch einer
von denen geworden, die das Volk betrügen und die Wahrheit verhehlen.
Auch über diesen Punkt urteilte Karl ganz leichtfertig, indem er meinte,
diese Sorge habe noch lange Weile, und vorerst brauche man sich um sie
nicht zu bekümmern.

Für einen jungen Menschen bedeutet der Glaube an Gott noch wenig; er hat
noch so viel andern Glauben an sich und an die Menschen und an die
Zukunft und an die ganze Welt, daß er jenen entbehren kann, ohne daß
etwas in ihm zusammenbricht. So empfand Hans seine Wandlung im Grunde
gar nicht tief, sondern nur als eine Beunruhigung für seine Ehrlichkeit;
erst in seinem späteren Ringen ging ihm wenigstens ein Teil der großen
Fragen auf, um die es sich hier handelt. Diese erste Anfechtung fand ihn
in der Gedankenlosigkeit, die der glücklichen Jugend eigen ist und
geziemt.

Gerade in den Wochen, wo diese Gedanken einander am heftigsten anklagten
und entschuldigten, kam noch eine zweite Angelegenheit zu ihrem
Höhepunkt. Hans hatte nämlich eine Liebe gefaßt, wie das bei Knaben
seines Alters geschieht, und in dieser ereignete sich etwas über alle
Maßen Grausiges.

Das Städtchen war bis zum Deputationshauptschluß reichsunmittelbar
gewesen; dazu führte bis zu dem großen Umschwung im sechzehnten
Jahrhundert hier der Handelsweg vorbei, und die Bürger trieben wichtige
und weite Geschäfte bis tief nach Asien hinein. So waren sie reich und
stolz geworden und hatten ein Rathaus gebaut noch in den romanischen
Zeiten aus den gewaltigen Blöcken des dort vorkommenden Syenitgesteins,
das Funken sprühte, wenn man ihm einen Stahl anschlug, und waren in der
wuchtigen Wand die kleinen Fenster verteilt, die das Licht von hoch
herab in große Säle warfen, und vorn führte eine steile und schwere
Freitreppe zum Stock; am Eingang stand ein uralter und ungefüger
Steinblock, an dem des Kaisers Schwert und Handschuh hingen. Jetzt
spielten Kinder in luftigen Sommerkleidern auf der alten Treppe. Noch
andre alte Häuser erhoben sich am Marktplatz, stolz und trotzig wie
Burgen wehrhafter Ritter, aber mit hohen Dachräumen, in denen einst
reiches Kaufmannsgut gelagert.

Als der Handel damals andere Wege einschlug, hatten die klugen und
vorsichtigen Kaufherren einen verständigen Ersatz gesucht im
Geldgeschäft und Beteiligung am Bergbau, und war eine zweite Blüte der
Stadt gekommen aus diesen Gewinnen, die noch stolzer war wie die erste;
aber die großen Staatsbankerotte, die Wandlungen des Metallwertes und
die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges hatten diesen Wohlstand von
Grund aus vernichtet. Seitdem kamen kleine Bürger auf in den stolzen
Häusern, die in Läden Handwerksgeräte, Kleiderstoffe und allerhand
geringe Kaufmannswaren verkauften an die Leute aus dem Gebirge oder die
Bauern vom Lande, die an den Sonnabenden zur Stadt kamen, hier
einzuhandeln, wessen sie bedurften bei ihrem kleinen Wesen. Und außer
den alten Häusern zeugten nur noch in der Kirche zu Sankt Blasien alte
Wappen in den Fenstern, finstere Familienstühle mit sonderbaren
Schnitzereien und prunkvolle Grabtafeln an den Wänden von den stolzen
Geschlechtern, die einst hier gelebt, ehe die freisinnig gesinnten
Kleinbürger in der Stadt hausten.

Nur eine der alten Familien hatte sich erhalten in sicherem Reichtum an
Grund und Boden in den Dörfern; deren Letzte bewohnten noch das alte
Haus aus schweren Quadern mit kleinen Fenstern und gewaltigem Giebel,
den oben die große eiserne Rolle zierte, mit welcher einst die fremden
Warenballen heraufgewunden wurden. In den reichsstädtischen Zeiten war
aus diesem Hause immer der regierende Bürgermeister gewählt und der
Iktus, aber wie die Freiheit verloren ging, hatten sich die Herrschaften
von allem zurückgezogen, und nun führten sie ein hochmütiges und
abgeschlossenes Leben, die Männer in Verwaltung ihrer Güter und
allerhand verschollener Gelehrsamkeit, die Frauen in Sorge für das Haus,
Wohltun und Frömmigkeit; seit dem dreizehnten Jahrhundert wies die
Hauptkirche Stiftungen von ihnen auf, angefangen mit einem Stück guten
schwarzen Tuches von acht Ellen, für die Armut bei den Beerdigungen als
Sargdecke zu nehmen. Damals nun lebte Herr Jobst Riemenschneider mit
seiner Frau und einem einzigen Töchterchen Johanna in dem alten Hause.
Herr Jobst war ein durchsichtig blasser und feiner Mann mit einem
verzehrten Gesicht, der Scheu hatte vor Menschen und alles Geräusch
fürchtete, und ganz im verborgensten Winkel des Hauses hatte er seine
Studierstube, deren Türen waren gepolstert, damit kein Laut sie
durchdringen sollte. Hier forschte er in allen Akten und Archivstücken
über die frühere Geschichte seiner Stadt; denn seit langen Jahren schon
arbeitete er an einem Werke, das doch nie fertig zu werden schien, weil
ihm immer neue Zweifel kamen, wenn er glaubte, er habe etwas festgelegt,
und dann mußte er immer von neuem untersuchen. Unterdessen wurde in der
allgemeinen Wissenschaft draußen ein heftiger Kampf geführt über die
Anfänge des Städtewesens und die ersten Zeiten der Gilden und Zünfte und
über die frommen Genossenschaften; das alles betraf seine Arbeiten, aber
er verspürte von diesen Kämpfen nichts, denn seit seinen
Universitätsjahren hörte er nichts mehr von heutiger Wissenschaft,
sondern lebte nur seiner beschränkten Aufgabe, die doch von Jahr zu Jahr
luftiger wurde und weniger zu fassen. Die Frau war bei der Heirat ein
fröhliches junges Ding, von der niemand wußte, woher sie stammte, und es
wurde heimlich erzählt, sie sei eine Schauspielerin gewesen. Damals
lebte noch des Herrn Jobst alte Mutter, eine kalte und fromme Frau mit
scharfen, grauen Augen. Die mag das junge Ding wohl sehr in die Zucht
genommen haben, denn man merkte ihr an, wie sie sich veränderte und
traurig aussah und oft verweint. Das einzige Töchterchen, das sie
Johanna nannten, wurde ihnen erst nach Jahren geboren. Damals, als Hans
seine Berührung mit diesen Menschen hatte, war die Frau schon lange
leidend, und es hieß, sie müsse in den Süden gehen. Johanna wuchs auf in
dem alten Hause, in dem es noch ein Zimmer gab, das ganz mit blauweißen
Kacheln ausgelegt war, auf diesen Kacheln sah sie Schiffe und
Windmühlen, Schlösser, Ruinen, Fischer, Kirchtürme, Chinesen und
allerhand sonstige Dinge abgebildet, die man sich denken mochte. Dann
waren da große, geschweifte Schränke, die vier Türen hatten, und
Kommoden mit wunderlichen Griffen, seltsam geschwungene Stühle, uralte
Bilder, die ganz dunkel geworden waren und etwa einmal ein gespenstisch
blasses Antlitz mit blitzenden Augen sehen ließen; Treppenstufen gingen
zu Zimmern in die Höhe; Kronleuchter hingen seit Jahrzehnten eingehüllt,
und vergoldete Stühle hatten festgebundene Bezüge. Und auf den Böden
stand unter Staub vielhundertjähriges Altertum, eingelegte Truhen,
Spinnräder aus Mahagoniholz mit Elfenbein, alte Bücher in Schweinsleder
mit messingenen Beschlägen, Rechnungen der Urahnen in Bündeln,
Medizinflaschen von längst vergessenen Toten und sonstiges Krankengerät,
Wiegen und Kinderspielzeug, darunter ein Puppentheater aus der
Rokokozeit und ein großer Ballen sorgfältig gesammelter alter Leinwand,
von der an arme Wöchnerinnen geschenkt wurde, wie seit Jahrhunderten
schon geschehen in diesem Hause.

Johanna war ein blasses Mädchen mit schwermütigen, dunkeln Augen und
langlockigem Haar; ihr Mund war schweigsam, aber ihre Augen vermochten
ein tiefes und heftiges Gefühl zu erregen. Als sie Hans zum ersten Male
ansah, war es ihm, als überfalle ihn eine ganz schreckliche Angst; über
die dachte er lange nach, und zuletzt wurde es ihm sicher, daß er das
Mädchen liebe. Wie er darüber klar war, beschloß er, mit Karl zu
sprechen; aber kaum hatte er dem den Namen genannt, da machte er ein
glückliches Gesicht und begann zu erzählen, wie sie die Tochter seiner
Wirtsleute besucht habe, mit der sie zusammen zur Schule ging, denn er
wohnte bei einem Oberlehrer, und es sei eines Sonntagnachmittags
gewesen, und sie hätten Pfänderspiele gespielt; da hätte sie ihn
mehrmals angesehen; und er wisse genau ihren Schulweg und habe eine Rose
abgepflückt und sei vor ihr gegangen, daß sie ihn habe sehen müssen, und
dann habe er die Rose für sie in einen stillen Winkel hingelegt, und sie
habe die Rose genommen, und seitdem lege er ihr jeden Morgen eine Rose
hin, und sie nehme und trage die.

Wie Karl das erzählte, schämte sich Hans für ihn, sowohl um die
Frechheit, daß er die Rose hingelegt, wie auch, daß er ihm das erzählte,
und wurde ihm auch sehr traurig im Herzen, in weiter und unbestimmter
Weise. So sprach er nichts mehr und suchte, daß er bald nach Hause kam,
ging auf sein Dachkämmerchen und begann heftig zu weinen; der Wirtsleute
gutherziges Töchterlein aber, das ein, zwei Jahre älter sein mochte wie
er, als sie nebenan das Schluchzen hörte, kam sie zu ihm und wollte ihn
trösten, riet auch gleich, daß er wohl verliebt sei. Da sprach sie recht
verständig und wie eine ganz erwachsene Person, daß er doch noch ganz
jung sei, und verloben könne er sich noch lange nicht, und überhaupt sei
das alles nur Unsinn. Wie aber Hans, obwohl er sich schämte wie ein
Dieb, doch immer heftiger zu schluchzen anfing, da konnte sie in ihrer
Gutmütigkeit sich nicht mehr halten, denn sie hatte nahe ans Wasser
gebaut, und fingen auch ihr an die Tränen über ihre runden Bäckchen zu
rollen in dicken Tropfen. So saßen die beiden auf Hansens Bettkante; und
kam ihr am Ende eine Erinnerung aus einem Buche, das sie gelesen, und
sagte sie Hans, sie wolle seine Schwester sein, küßte ihn auf den nassen
Mund und ging fort.

Nach wenigen Tagen hatte sie sich schon an Johanna heranzumachen gewußt
und wurde mit ihr recht befreundet. Da dachte sie dann, Hansen guten
Trost zu bringen, denn Johanna hatte ihr gesagt, sie möge Karl gar nicht
leiden und habe Hans viel lieber; aber Hans glaubte ihr nicht, sondern
meinte, sie wolle ihn nur trösten durch solche Botschaften. Einmal
jedoch besuchte Johanna seiner Wirtsleute Tochter, und da sprach sie
auch mit ihm einige Worte und sagte ihm zuletzt, weil es schon so dunkel
sei und das Haus so abgelegen, so möge er sie doch eine Strecke
begleiten, und wie er das tat, sagte sie ihm auf dem Wege dasselbe über
Karl.

Da bekam er einen so wilden Haß auf den, daß er darüber erschrak, denn
er hatte ein solches Gefühl noch nicht verspürt, und war es ihm
besonders heftig, wenn er Karl lachen sah, denn da hätte er ihn mögen
umbringen. Und weil er in diesen Tagen keinen Halt mehr fand in seinem
Gebet, so geriet er in Trübsinn und tiefes Unglück, und ihm war, als sei
er in einem Tal, aus dem es keinen Ausweg gibt, weil er vorher gemeint,
es gebe einen Weg nach oben, der in Wahrheit nicht da war. So geschah es
das erstemal, daß er dieses Gefühl hatte, das ja die meisten Menschen
durch ihr ganzes Leben begleitet; sie wissen es sich nur zu verbergen,
daß sie es haben, denn wenn sie das nicht täten, so vermöchten sie ja
nicht zu leben.

Während diese Dinge nun solchergestalt liefen neben den Dingen der
Erwachsenen, die meinten, daß ihre Dinge wichtiger seien, spitzte sich
in der Heimlichkeit eine andre Sache in Beziehung auf Johanna zu.

In Hansens Klasse war ein Schüler, dessen Jahre weit über den
Durchschnitt seiner Mitschüler hinausgingen, und der von diesen nicht
sonderlich geachtet wurde wegen seines törichten Wesens, denn er ahmte
in geckenhafter Weise die Erwachsenen nach in seiner Tracht, Haltung und
Benehmen; so hatte er dem Religionslehrer abgesehen, daß er eine große
Silbermünze an der Uhrkette trug, was damals neu und elegant war, und
hatte sich einen steifen Hut gekauft, wie die jungen Kaufleute haben,
und trug Stege an den Hosen. Sein Vater war ein reicher Gutsbesitzer,
der wenige Stunden von der Stadt entfernt wohnte, und von dem erzählt
wurde, daß er habsüchtig sei und Geld auf hohe Zinsen ausleihe.

Als Hans an einem Morgen in die Klasse kam, sah er, wie dieser Mensch
allein auf seinem Platze saß und scheinbar eifrig in einem Buche
studierte; alle seine Nachbarn waren von ihm gewichen, und in einer Ecke
des Schulzimmers wurde von einigen heftig gestritten und erzählt; von
denen erfuhr Hans, daß Ecker, denn so hieß jener, bei einem Freunde
einen Ring gestohlen habe, der dessen Mutter gehörte; und diese, in der
Meinung, daß ein Dienstbote die Tat begangen, habe der Polizei Nachricht
gegeben, und als Ecker den Ring beim Goldschmied zum Verkauf bringen
wollte, sei er festgehalten und erkannt worden. Wie der Lehrer in die
Klasse trat, gingen alle schnell auf ihre Plätze; der Lehrer aber rief
Ecker an und sagte, es sei bereits Meldung über ihn eingelaufen, und er
solle bis auf weiteres aus der Schule bleiben. Da richtete sich Ecker
auf mit einem blassen und verzerrten Gesicht, daß alle erschraken, denn
sie hatten ihre Blicke auf ihn gewendet, und machte sonderbare
Bewegungen mit den Händen und stieg unbeholfen auf die Bank und den
Tisch; und indem noch alle erstaunt waren, was dieses bedeuten solle, da
zog er ein Terzerol aus der Tasche, wie es wohl Jungen heimlich für ihr
Taschengeld kaufen, setzte sich das auf die Brust, schoß ab und stürzte
vornüber auf die Bänke und Tische hin, wo die andern entsetzt wegstoben,
ehe sie noch wußten, weshalb sie erschrocken waren.

Hans war es, als höre er einen Fall eines schweren Geschirrstückes auf
die Erde, denn er hatte die Handbewegung nicht verstanden, und wie Ecker
fiel, wußte er noch gar nicht, was das bedeute. Als ihm das aber klar
wurde, stieß er einen lauten Schrei aus vor Entsetzen, und nach einer
kurzen Weile schrie er nochmals und anhaltend. Viele versammelten sich
um ihn, und er wurde nach Hause gebracht.

In den nächsten Tagen wurde erzählt, wie alles zusammenhing. Der Tote
hatte allabendliche Zusammenkünfte mit Johanna gehabt in der
schlechtesten Straße des Städtchens, und hatten sie Leute da zusammen
stehen und sprechen sehen. Um diese Liebe hatte der junge Mensch
allerhand Ausgaben gemacht, die an sich wohl gering waren, aber doch
sein Vermögen überstiegen, und so war er zu dem letzten verzweifelten
Streich gekommen.

Für Hans war es, als ob er das alles in einem schweren Traum erlebe, bei
dem man das Bewußtsein hat, daß doch nichts Wirkliches geschieht,
sondern nur Erträumtes, und daß alles wieder in Ordnung ist, wenn man
aufwacht. Und kam ihm zwar nicht zu rechter Klarheit, was innerlich bei
ihm vorging, aber es ward ihm bewußt, daß alle Neigung zu Johanna
plötzlich erloschen war, und ihm geschah, wie wenn ein verschönender
Schleier plötzlich von ihrem Gesicht weggenommen war; so fiel ihm als
häßlich auf, daß sie über dem Nasensattel kleine Sommersprossen hatte,
die sie vorher ihm besonders liebreizend gemacht, und klang ihm auch
ihre Stimme mit einem Male scharf und widerwärtig. Sie besuchte seine
Wirtstochter und sprach wieder mit ihm, daß über sie viel gelogen werde,
und sie sei jetzt nach jenem Todesfall so allein, deshalb dürfe er sie
nicht auch verstoßen. Aber ihm war das alles abscheulich und ganz kalt.

Wie oft die Letzten untergehender Geschlechter zeigte Johanna das
unheimliche Auftauchen längst vergessener Triebe der Urzeiten, denn
nicht gestorben ist ja in uns das Blut unserer Vorväter, die im
Steinalter und in der Bronzezeit düstere Höhlen bewohnten und mit
bodengesenkten Blicken auf Raub und Vernichtung zogen, und es wird immer
wieder regsam in uns selbst zu gewissen Zeiten, wenn die klare
Vernünftigkeit schwach ist, die unsre Vorfahren errungen im
jahrtausendlangen Kampf um das Freie, Hohe und Gute, und manche Menschen
erfüllt es gänzlich; die wissen dann nichts von sittlichen Geboten und
folgen einer Sehnsucht, die wir nicht glauben, geben plötzlich sinnlos
und ohne Gedanken einer auftauchenden Begier nach und machen uns
vielleicht verwundern durch die Schärfe ihrer Sinne und die merkwürdige
Kenntnis der Regungen in andern Menschen, wie durch die Fähigkeit, diese
Kenntnis zu ihrem Nutzen zu verwenden.

Hans war dem geheimnisvollen Zwange der Natur unterlegen, welche die
ehrbaren und braven Menschen treibt, daß sie sich an solche unehrlichen
und schlechten hängen müssen, und scheint in der frühen Jugend, wo die
Liebe noch ganz geistiger Art und dunkle Sehnsucht der Seele ist, dieser
Zwang noch ärger zu sein wie im späteren Alter der zwanziger Jahre.
Deshalb muß man wohl sagen, daß Liebe etwas Furchtbares und Grausiges
ist, und der Mensch ist glücklich zu preisen, den das Geschick davor
behütet, in ihre Tiefen zu sehen. Aber bei Hansen war das nicht ein
Sehen oder ein Verstehen, sondern ein ganz tiefes, heftiges Gefühl, das
stärker war wie alle klare Äußerung des Geistes; und so tief in ihm war
der Kampf vor sich gegangen, daß ihm nichts davon in sein Bewußtsein kam
und er vielmehr erstaunte, daß seine Meinungen, Gedanken, Träume und
Liebe so plötzlich umgeschlagen hatten. Aber mit einem Male überfiel ihn
nun das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit in der Welt. Das war den
Sonntag vor seiner Einsegnung.

Da wurde ihm zum ersten Male klar, daß wir zwischen den Menschen wandeln
wie zwischen den wesenlosen Larven, welche die Wüste erfüllen; sie
weichen zurück, wenn wir auf sie zugehen, und wenn wir ihre Hände
drücken wollen, so fühlen wir bloße Luft; und ist nichts in der großen
Wüste lebendig, denn wir allein.

Es geschah aber in einem Wäldchen, weil er sich sammeln wollte und ohne
Reden der Menschen sein, daß ihm diese Klarheit kam, und geschah, wie er
eine Ameise betrachtete auf dem Wege, die sich abmühte um etwas, das für
ihn selbst ein Nichts war. Da dachte er an sein Losungsbüchlein, welche
Losung ihm das geben müsse für diesen Tag; und siehe, da stand
geschrieben: »Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.«
Über diese Worte kamen ihm die Tränen und stürzten in großen Mengen aus
seinen Augen, und faltete die Hände, und wiewohl er keine Worte zu sagen
wußte oder denken konnte, so betete er doch, und im Bitten schon hatte
er noch Tröstung, Sicherheit und Ruhe.

Zwar bereits auf dem Heimwege kamen ihm wieder die alten Gedanken, daß
es doch keinen Gott gebe, und daß deshalb solche Erfahrungen, wie er
eben gemacht, ein Selbstbetrug seien; aber da half ihm wieder ein Buch,
nämlich er hatte Doktor Martin Luthers Tischreden zu Hause liegen, die
ihm der gute Pastor geliehen, in einer schönen, alten Folioausgabe,
unbekümmert um die Derbheiten und starken Ausdrücke des Buches; denn er
meinte, was aus einem reinen Munde kommt und in ein reines Herz geht,
das kann keinen Schaden tun, und die heutigen Menschen sind übermäßig
verzärtelt in ihren Worten, da sie doch in Gedanken und Taten unreiner
sind wie früher. In diesem teuern und herrlichen Buche schlug Hans auf
den Zufall hin auf, da stieß er auf die Stelle: »M. Antonius Musa,
damals Pfarrherr zu Rochlitz, hat auf eine Zeit ^D.^ Martino herzlich
geklagt, er könne selbst nicht glauben, was er andern predige. Gott sei
Lob und Dank (hat ^D.^ Martinus geantwortet), daß andern Leuten auch so
gehet, ich meinte, mir wäre allein so. Dieses Trostes hat Musa sein
Lebenlang nicht vergessen können.«

Hierüber wurde Hans fröhlich und zufrieden, und schien ihm alles, was er
Gelehrtes gelesen gegen Gott, dummes Zeug zu sein. Und beim frohen
Blättern kam ihm noch eine andere Stelle unter die Augen:

»Als über ^D.^ Martini Lutheri Tische disputieret ward, wie ein lieblich
Ding der Tau wäre, sprach ^D.^ Martinus: >Ich hätte es nimmermehr
gegläubet, daß der Tau so ein herrlich lieblich Ding wäre, wenn nicht
die Heilige Schrift den Tau selbst hoch gelobt hätte, da Gott saget:
^Dabo tibi de rore coeli^, ich will dir vom Tau des Himmels geben. Ach,
^Creatura^ ist ein schön Ding, wenn wir sollen ^Creationem^ glauben,
^tum balbutimus et blaesi sumus^, und sagen ^Cledo^ für ^Credo^, wie ein
Kindlein spricht Lemmel für Semmel. Die Worte sind wohl stark, aber das
Herz spricht ^Cledo; sed per hoc salvamur, quia cupimus credere^. Ach,
unser Herrgott weiß wohl, daß wir arme Kindlein sind, wenn wirs auch nur
erkennen wollten. Sagen doch die Apostel selbst: ^Dominus adauge nobis
fidem^. Aber wir sind alle klüger denn unser Herrgott, wir könnens nicht
verstehen, ^nisi per filium, id est, Christum^. Das ist alle seine
Predigt, daß er spricht: ^per me, per me, per me^, ihr könntet's nicht
tun, wenn ihr euch gleich zerreißet, durch den Sohn werden wir zum Vater
bracht. Darum, wenn wir nur glaubten, daß unser Herrgott klüger wäre, so
wäre uns schon geholfen.<«

                   *       *       *       *       *

Hans wurde mit Karl zusammen eingesegnet, nicht in der Stadt, sondern zu
Hause in dem kleinen Dörfchen bei dem guten und frommen Pastor, der ihn
in den ersten Jahren unterrichtet.

Es saßen zusammen zehn Kinder auf den Bänken der Konfirmanden, sechs
Knaben auf der einen Seite und vier Mädchen auf der andern; und hatten
die Mädchen das alte Dorfkirchlein mit seinen hellen Fenstern und
weißgetünchten Wänden durch Kränze und Blumengewinde verziert, mit den
vollen und farbigen Herbstblumen, vornehmlich Georginen und Astern, und
der Boden war mit Tannengrün bestreut, das die Knaben den Tag vorher aus
dem Walde geholt hatten unter fröhlichen Gesängen und wichtigen Reden
darüber, wie sie sich morgen würden mit der kurzen Pfeife sehen lassen
auf der Dorfstraße, und daß sie zum Erntefeste tanzen durften. Sie
dachten wohl mehr an die Freuden der natürlichen Menschen bei der Feier;
aber der natürliche Mensch und der geistige waren bei ihnen ja nicht so
getrennt, wie wir meinen; und wenn ein Junge, der jetzt zur Seite
ausspuckt, wie er es bei den erwachsenen Burschen gesehen, und vom
Tanzboden spricht mit überlegener Miene, wenn der erst durch sein Leben
gepilgert ist, durch Jugendtorheiten, Verliebtheit, Heiraten,
Kindererziehen, Sorgen, Arbeiten und Kummer und als ein Greis im
Hochalter vor seiner Hütte in der Sonne sitzt, dann denkt er auch wohl
einmal an seine Einsegnung, und da verspürt er, daß er in Wahrheit doch
noch andre Gedanken gehabt wie an die kurze Pfeife und das Tanzen. Es
ist wohl recht lächerlich, daß auch Hans nicht die rechten Gedanken
hatte; ihm fiel immer die Uhr ein, die ihm der Vater geschenkt, nebst
der stählernen Kette, und der schwarze Anzug beengte ihn, und dann
fürchtete er sich, daß er weinen werde. Karl saß neben ihm und war in
sich versunken und hatte schwere Gedanken.

Die Kirche war ganz voll. Da saßen unten die Frauen, voran die
Bäuerinnen mit ihren Töchtern, dann die Frauen der Holzarbeiter, und
hinten die Tagelöhner. Vorn sah man feste, ruhige und glatte Gesichter,
denen man Sicherheit, Ordnung und Fleiß anmerkte und gute Gesundheit.
Dann kamen Gesichter, in denen man viele Mühe und Not las und Sorge um
das tägliche Leben, aber dabei doch Würde und Ehrbarkeit, und zuletzt
sah man Übermut und niedergedrücktes Wesen, fahrigen Sinn,
Unterwürfigkeit und gedankenloses Dahinleben. Auf dem Rang saßen die
Männer, glattrasiert die alten und mit Bärten die andern, und sie hatten
nicht so ihre geordneten Plätze wie die Frauen unten. Hansens Eltern
waren auch zugegen und saßen im Pfarrstuhl, und der Vater trug die grüne
Gala-Uniform mit dem Hirschfänger an der Seite und sah groß und
stattlich aus, und neben ihm die Mutter, die mit der Frau Pfarrerin die
einzigen Frauen in städtischer Tracht waren.

Wie die Gemeinde das Eingangslied gesungen, kam der gute Pastor und las
das Evangelium, und seine Stimme tönte schön und tiefklingend wie eine
wohllautende Glocke; und nach dem zweiten Lied folgte dann die Predigt.

Die wendete sich fast nur an die Kinder und ihre Eltern; der alte Mann
sagte, daß sich nun das Tor auftat zum Leben, und rühmte Gottes Güte,
daß der uns die Gabe verliehen, durch dieses Tor zu gehen nur mit
Hoffnung und Freude; und siehe da, als er diese Worte sprach, wurden
einer harten und strengen Frau die Augen naß, der reichsten Bäuerin, und
zog ihr Taschentuch hervor und weinte still vor sich hin, und die
Tagelöhnerfrauen hinten stießen sich an und sahen nach ihr mit
Erstaunen. Der Prediger fuhr fort und sprach von der Schuld, wie die
sich jetzt anspinnt, in diesen Jahren, wenn sie nicht schon älter ist,
und wie sie größer wird und größer und unversehens so groß, daß sie uns
überragt und uns beherrscht wie einen Sklaven. An dieser Stelle wurde
Karl bleich und schaute verzweifelt vor sich hin, daß Hans erschrak, wie
er durch Zufall zur Seite blickte und in sein verfallenes Gesicht sah.
Vieles verstanden die Leute nicht in der Predigt, so die Worte, daß das
Gute leichter sei wie das Böse, und daß man das Gute tue als ein froher
Herr und das Böse als ein ingrimmiger Knecht; aber es war auch wohl
nicht nötig, daß die Leute alles verstanden, denn für sie konnten die
Worte ja doch nicht Mahnung sein, sondern nur Trost, und den faßten sie
auch so, selbst wenn zu dem andern ihre Gemüter nicht genug licht waren.
Und nahm jeder den Trost in seiner Weise, denn die stolzen und
lebensklugen Bauern hatten doch einen Winkel in ihrer Seele, wo die
Sicherheit nicht war, der wurde nun erhellt, und die bekümmerten
Holzarbeiter, die sich sorgten, wie sie die Ihrigen rechtschaffen durch
das Leben brachten, fanden eine Hoffnung auf ein Leben, da es keine
Sorgen und Kümmernisse gab, aber die oberflächlichen und prahlerischen
Tagelöhner wurden wohl aus ihrer Selbstzufriedenheit erweckt, doch
schwieg gleichzeitig der Stachel des Neides, der sie sonst quälte, und
auch sie wurden fröhlicher.

Wie der Glauben bekannt wurde, sprachen die andern zaghaft und leise,
Hans aber rief sein Ja laut und jubelnd, daß ihn der gute Pastor
freundlich ansah; und unter bangem Herzklopfen folgte dann die
Abendmahlfeier, bei der ein unbegreifliches Geheimnis unsern Glauben mit
den urältesten Hoffnungen, Furchten und Gedanken der Menschen verbindet
und so auch in Leichtfertigen und Gedankenlosen einen Schauer erzeugt,
der ernst macht.

Danach sang die Gemeinde das Ausgangslied, und währenddem gingen die
Eingesegneten einer nach dem andern zu dem Pastor in die Sakristei,
brachten ihm, eingewickelt in Papier, ihren Beichtgroschen, wie es Sitte
war seit undenklichen Zeiten, und niemand nahm daran einen Anstoß, und
erhielten einen Spruch auf ihren Lebensweg; Hansen aber sah der Pastor
mit einem frohen Lächeln an, dann nahm er seine Hand, legte ihm die
Rechte aufs Haupt und sprach: »Halte, was du hast.« Das war in einer
kleinen Sakristei, die getünchte Wände hatte, und stand da ein Tisch aus
gestrichenem Holz, und darauf lag Bibel und Gesangbuch, davor das
Kruzifix und ein Strauß Herbstblumen in einer blauen Glasvase; das
Fenster war geöffnet, und von draußen kam das Murmeln der gehenden
Menschen und herbstlicher Sonnenschein, der in Tropfen durch das Laub
eines Baumes fiel. Wie Hans in die Kirche zurückkam, wartete da eine
Taufgesellschaft, und war die Mutter früher Dienstmädchen bei der
Herrschaft gewesen, die einen Waldwärter geheiratet und hatten das erste
Kind. Die Frau saß in einem Kirchenstuhl, mit verlegenem und glücklichem
Gesicht, und rosig und lächelnd und hielt das Kindchen auf einem Kissen
im Arm und schaukelte es, damit es nicht schreien solle, das Kind aber
wollte gar nicht schreien, sondern sah erstaunt nach dem großen
Hängeleuchter, der mitten in der Kirche von der blauen, goldgesternten
Wölbung herabhing. Der Vater stand aufrecht daneben in straffer Haltung,
als ein früherer Soldat, und trug einen Bart rund ums Gesicht, in dem
Oberlippe und Kinn ausrasiert waren, so daß nur der Kranz blieb; und
auch er blickte glücklich und stolz auf das Kind, doch suchte er
unbeteiligt auszusehen und wollte seine Gefühle verbergen, als unpassend
für einen gräflichen Beamten. Die beiden Großeltern sollten Pate stehen,
denn die Eltern mochten keine Patengeschenke von Fremden betteln. Die
saßen gleichfalls, und ließ der Großvater seine Uhr an der härenen Kette
baumeln, und wunderte sich, daß das Kind gar nicht auf die
Merkwürdigkeit achten wollte, indessen die Großmutter zur Seite
geschäftig in allerhand Linnenzeug kramte.

Wie der Pastor in die Kirche zurücktrat, erhoben sich die Sitzenden und
traten alle zum Taufbecken. Die Mutter sah den alten Pastor an, der auch
sie einst getauft, dann eingesegnet und endlich getraut hatte, und wurde
noch röter, und ihr frisches Gesicht strahlte und wollte gewiß sagen,
daß er das Kind bewundern solle, wie groß es war und verständig, aber
sie besann sich noch zu rechter Zeit, daß das unpassend gewesen wäre,
und in ihrer Verlegenheit schoß ihr eine ganz feurige Welle über das
Gesicht, und machte einen Knicks vor dem geistlichen Herrn, wie es ihr
früher beigebracht war, wenn sie auf dem Schlosse etwas der Herrschaft
zu übergeben hatte, und reichte ihm das Kind. Der alte Mann lächelte
freundlich, nahm es ihr ab, faßte ihm die Bäckchen und gab es der
Großmutter, indem er der ganz verwirrt gewordenen Mutter zunickte.

Indem goß der Kantor das Wasser in das Taufbecken und prüfte mit dem
Finger die Wärme; dann fand die Taufhandlung statt, bei der das Kind
sich artig und ruhig hielt, dank der unermüdlichen Bewegungen der
Großmutter, denn nur wie es die dreimalige Benetzung verspürte, schien
es erstaunt und schlug die Augen über sich, und der Großvater, welcher
der Stolzeste schien, rühmte es durch ein leises Wort dem Vater; am Ende
kniete die Mutter nieder, und der Pfarrer erteilte ihr den Segen. Karl
erwartete Hansen, denn er hatte ihm Wichtiges zu sagen und wollte seine
Seele erleichtern durch Erzählen. Schon seit etlicher Zeit hatten sich
die beiden entfernt, unmerklich und ohne sichtbaren Grund, wie sich zwei
Baumstämme trennen, die, im Meer treibend, einander gefunden hatten und
zusammen dahinschwammen, eine lange Weile. Wenn sie sich trafen, hatten
sie sich nichts zu sagen, trotzdem doch sonst der Jugend das Herz leicht
überfließt von dem vielen Neuen, das durch Auge und Ohr hereinkommt und
gebildet wird durch den schöpferischen Verstand, und deshalb sprachen
sie Gespräche wieder, die sie vorzeiten geführt, wiederholten Worte, die
damals lebten und nun tot waren, und wunderte sich im stillen ein jeder,
wie wenig er zu sagen wußte. Aber heute war in Karl eine alte Liebe
erwacht, und sein Herz sehnte sich nach einem teilnehmenden Gesellen. So
feinfühlig sind wir, ohne daß wir es ahnen, daß das Fremde, das in uns
gekommen, auf beiden Seiten wirkend, uns trennt; erst als seine Reue die
Schuld hinauswarf, waren sie wieder zusammen wie vorher.

Karl erzählte aber von Johanna und seiner Liebe zu ihr, und wie er sich
bisher nicht frei machen konnte, trotzdem er sich selbst verachten
müsse, und er sehe klar, daß er immer niedriger und schlechter werde
durch seine Zuneigung; heute aber habe er einen festen Entschluß gefaßt,
daß er sich befreien wolle aus seiner Untertanschaft. Nicht so sprach
er, wie hier mit abstrakten Worten geschrieben ist, sondern er redete
als ein Halbwüchsling; und ein Mensch, der nicht weiß, welche Bedeutung
die Handlungen des Menschen haben, hätte seine Erzählung für kindisch
gehalten und sein ganzes Erlebnis. Aber das ist eine oberflächliche
Meinung, die durch die äußere Gestaltung, welche einer Handlung Alter
und Bildung und sonstige formgebende Dinge anziehen, sich bewegen läßt
in ihrem Urteil, und einen sittlichen Kampf belächelt, weil er in dem
siegfriedhaften Wesen eines unerfahrenen Gemütes vor sich geht und um
Dinge, die einem Erwachsenen unbedeutend erscheinen; da doch solche
Vorgänge wichtiger sind, weil sie auf die weitere Bildung des Charakters
einwirken, wie scheinbar bedeutsame Ereignisse in späteren Jahren.

Es kann ja kein Mensch trösten, denn es gibt keinen Trost, außer den
einen, den jeder schon weiß, daß wir Vergangenes nicht ändern können;
aber in der bloßen Erzählung war ein Trost für Karl; denn indem er alles
genau seinem Freunde schilderte, wußte er, daß er ein Zeichen von sich
gab dessen, daß er nicht wieder zurückkehren würde zu dem, was zu
verlassen er sich vorgenommen. So gelangte er ans Ende seiner Geschichte
frohen Mutes, und auch Hans war fröhlich, und beide freuten sich einer
neuen Freundschaft, die ihnen leuchtete wie ein Ährenfeld nach einem
erquickenden Sommerregen, wenn die Sonne sich in tausend frischen
Tropfen spiegelt und die Erde einen nahrhaften Geruch ausströmt, denn
die Gedanken junger Leute laufen noch mit eiligen Kinderfüßen, und
besonders laufen sie eilig vom Trüben zum Trostreichen. Aber wer zu
urteilen wüßte über Menschen und Schicksale ahnen könnte aus ihrem
Wesen, der hätte gesehen, daß Karl wohl guten Willen hatte und einer
guten Leitung folgte; aber in seinem Innern war doch Zuchtlosigkeit und
Schwäche, und auf irgendeine Weise mußte Schwäche einmal sein Schicksal
entscheiden. Jetzt war es so, daß einmal und für einen flüchtigen
Augenblick und unverstanden aus den grauenhaften Tiefen, die wir ja alle
haben, in ihm der Gedanke auftauchte: er möchte Hansen töten; das war
ein nichtiger Gedanke, wie uns Tausende durch den Kopf gehen, ohne
Folgen und selbst ohne Möglichkeiten von Folgen; es war nur ein leises
Lebenszeichen des Bösen in ihm, das sich des Vertrauens schämte und Haß
empfand gegen den Mitwisser der Schwäche.

Die beiden waren im Walde gegangen durch raschelndes Buchenlaub; wie sie
zurückkehrten und zwischen den Bäumen hervortraten, standen sie oberhalb
des Dörfchens, das sich lang das Tal in die Höhe dehnte; die
Kirchenglocke läutete zur Beerdigung, und auf dem Kirchhofe predigte der
Pastor vor einem offenen Grabe, an dem die Leidtragenden standen.

Der Verstorbene war ein recht unglücklicher Mensch gewesen; denn schon
seine Eltern hatten im Armenhause gelebt und als leichtfertiges und
träges Volk, und wie er noch ein ganz kleines Kind war, hatte ihn die
Mutter einmal im Zorn auf die Erde geworfen, davon er sich die Hüfte
verrenkt, und war ihm das Bein verdorrt, so daß er sich nur mit
mühseligem Humpeln weiterschleppen konnte; hierdurch erhielt er den
Namen Hinkeding. Wie er etwa sieben Jahre alt sein mochte, starben seine
beiden Eltern, und die Gemeinde gab ihn dem Abdecker in Kost, der
außerhalb des Dorfes lebte; bei dem hatte er es noch übler wie bei den
rohen Eltern, denn er erhielt nur schlechte Nahrung und geringe Pflege
und mußte trotz seines Gebrechens und seiner Jugend doch viel arbeiten,
das er zwar willig tat. Die böse Dorfjugend beschimpfte ihn um diese
Arbeit noch weiter und nannte ihn Wasenmeister, und mochte sich darum
kein andres Kind mit ihm abgeben, auch hätten die Eltern es denen
verboten, wenn sie es getan hätten. So wuchs Hinkeding roh und tückisch
heran, nur mit dem alten Wasenmeister und seiner bösen Frau hatte er zu
sprechen, die in schlechtem Rufe standen, außer ihrem ordentlichen
Geschäft, daß sie allerhand Zauberei und Aberglauben treiben sollten.
Beim Konfirmandenunterricht mußte er allein auf einer Bank sitzen, denn
der damalige Pfarrer war zu schwach und unverständig, um dem Unwesen zu
steuern, und nach den Stunden fielen oft die andern über ihn her und
schlugen ihn, wiewohl er sich wehrte mit allen Mitteln, indem er trat
und kratzte, und einmal zog er selbst ein Messer. Niemals durfte er auf
den Tanzboden kommen, und auch die geringsten Mädchen wendeten sich von
ihm mit Verachtung, denn selbst einer Gutsmagd uneheliche Tochter, die
bei einem Bauern diente und ein Auge verloren durch einen Stich mit der
Heugabel, mochte nicht mit ihm sprechen. In solchen Lebensverhältnissen
hatte sich in ihm eine besondere Bosheit ausgebildet, daß er die Kinder
erschreckte, indem er plötzlich eins faßte und ihm unheimliche Dinge
sagte, die er vielleicht auch ausgeführt hätte, wenn er es gewagt, oder
daß er den Mädchen bösartigen Schabernack antat, um den er dann wieder
von den andern mit Grund gehaßt und verfolgt wurde. Später warf er sich
darauf, allerhand Bücher zu lesen, die er bekommen konnte, denn wiewohl
er in der Schule nichts gelernt hatte, weil in den Zeiten, wo er jung
war, sich um solche Kinder niemand bekümmerte, wußte er sich allerhand
Künste doch aus seinem eignen Geiste zu lehren und hatte auch ohne
Anleitung das Lesen gelernt. Aus diesen Büchern kam ihm nun viel
verwirrtes Zeug in seinen Verstand, denn er verschmähte einfache und
schlichte Schriften, die er hätte verstehen können, sondern wollte
Bescheid wissen, wie die Welt geschaffen, und weshalb das Böse in die
Welt gekommen, und wie weit der Himmel von der Erde entfernt sei und
solche Dinge, denn es hatte wohl seine arme, umdüsterte Seele ein Sehnen
nach Gott und nach Gerechtigkeit; denn wenn auch die Liebe dem
natürlichen Menschen nicht eigen ist, so hat er doch ein Streben nach
Gerechtigkeit. Dergestalt kam er auf eigne Gedanken, daß es keinen Gott
geben könne, weil da ein Stern war, dessen Licht erst nach viertausend
Jahren zu uns kam, weil er so weit entfernt von der Erde war. Und bei
dieser Meinung blieb er; wie er aber nichts weiter hatte, an das er sich
halten konnte, so wurde er hochmütig auf seinen Verstand und verachtete
alle andern Menschen und verhöhnte sie, und diese hinwiederum beharrten
in ihrem alten Spott und Haß und vermehrten nur ihr Lachen, wie sie von
seinen Ansichten merkten; und wenn er auch allen andern Spott fühlte, so
spürte er hier doch nichts davon, daß sich die jungen Burschen über ihn
lustig machten, wo sie ihn fragten, wie lang und breit der Himmel sei
und ähnliches, sondern erklärte ihnen seine Meinungen, achtete gar nicht
ihres Lachens, sondern hielt dieses wohl gar für Anerkennung und
verhöhnte sie wegen ihrer Dummheit und Unbildung. Und so groß war sein
Eifer, wenn er dergestalt lehren und sich rühmen konnte, daß er gar
nicht merkte, wie er Hinkeding Wasenmeister genannt wurde, welche Namen
ihn sonst zu heftigem Zorne bringen konnten.

Wie der jetzige Pfarrer seines Vaters Stelle erhalten, war es schon zu
spät gewesen, noch auf den armen Menschen einzuwirken, denn die Bosheit
war schon ganz unausrottbar in ihm gewurzelt, und seine Meinungen hatten
sich so in ihm befestigt, daß sie nicht mehr vernichtet werden konnten.
So war es mit ihm denn immer schlimmer geworden, daß er am Ende ein
gefährlicher Mensch war, der nur durch ein Wunder noch kein schweres
Unheil angerichtet, vielleicht weil ihn seine Unbehilflichkeit an vielem
hinderte. Denn weil sein eignes Gemüt schlecht war, und weil gegen ihn
alle Menschen sich schlecht gezeigt hatten, so bildete er sich die
Gedanken, es gebe gar keine Güte im Menschen, und sei auch allen alles
erlaubt, nur daß sich immer einer vor dem andern fürchte.

Dieser unglückliche Mann war nun im Hochalter gestorben; und wiewohl die
Leute im Dorf gewollt hatten, daß er beigescharrt werde wie ein Tier,
wegen seiner Lästerungen und Bosheiten, hatte der Pastor doch verlangt,
daß er ehrbar geleitet wurde, und nun hielt er ihm selbst eine Predigt.

Jetzt stand der Mann vor Gottes Thron und wartete auf sein Urteil. Und
sein Ankläger brachte ein großes Buch vor, in dem standen geschrieben
die vielen Schmähungen und Lästerungen, Bosheiten und schamlose und
niederträchtige Handlungen. Denn als eine im tiefsten Innern böse Person
hatte er sich selbst an den unschuldigen Tieren und an jungen Bäumchen
vergriffen. Aus bloßer Lust hatte er viele hundert junger Bäume
abgeschnitten, die in Fröhlichkeit sich in der Frühlingsluft zu strecken
gedachten, und Tiere hatte er nicht nur geworfen und geschlagen, sondern
einmal hatte er einem jungen Hunde, der ihm treuherzig gefolgt war, ein
Auge ausgestochen, und einem Pferd hatte er brennenden Schwamm unter den
Schwanz gebunden. Nichts konnte sein Verteidiger erwidern, wie daß er
erzählte von seiner elenden Kindheit und jämmerlichen Jugend, und daß er
nur Schlechtes gesehen hatte in seinem Leben und nie Gutes ihm erwiesen
war. Aber vor Gott gibt es keine Entschuldigung aus diesen Dingen, denn
er sagt, daß er den Menschen eine reine Sonne an den Himmel gestellt
hat, zu der sollen sie aufschauen. Da erzählte der Verteidiger zuletzt
eine Geschichte, die einzige, die er hatte aufzeichnen können in seinem
Buch.

Vor langen Jahren, der Mann war noch ein Jüngling gewesen, hatte er
einmal an einem Raine unter einem Quitschenbaum gesessen und an einem
hölzernen Löffel geschnitzt, denn er erhielt sich durch Anfertigung und
Verkauf von allerhand Holzwaren. Da kam ein kleiner dreijähriger Junge
zu ihm, dessen Eltern im Feld arbeiteten und durch einen geringen Hügel
verdeckt waren, nannte ihn und bat, er solle ihm eine Pfeife machen; er
konnte aber noch nicht alle Buchstaben sprechen, deshalb sagte er zu ihm
Inkeding. Da sah Hinkeding das Kind an, stieg auf den Baum, der hoch war
und glatt, schnitt ein passendes Reis ab und machte dem Kind eine
Pfeife, indem er beim Klopfen das Liedchen sang, welches er selbst als
Junge oft gehört, aber nie über seine Lippen gebracht hatte, weil er
allein war und keine Pfeife haben mochte.

Er war noch ein Jüngling gewesen damals, und als er älter wurde, schnitt
er die Bäumchen ab und stach dem kleinen Hund ein Auge aus; aber Gott
sieht nicht in der Zeit wie wir, sondern ohne die Zeit; was wir Menschen
auch tun sollten, wenn wir uns herausnehmen, in sittlichen Dingen zu
urteilen; und weil er keine Seele von sich läßt, die auch nur eine
Ahnung des Guten hat, denn er meint, daß durch Güte sich Güte vermehrt,
was freilich nur für den Himmel paßt, und nicht für dieses irdische
Gefängnis unsrer Seele hienieden, so nickte er dem Manne freundlich zu
und nahm ihn auf in sein ewiges Leben.

In dem Augenblicke hatte der Pfarrer seine Rede am Grabe beendet, und
der eine oder andre der Umstehenden nahm sich vor, er wolle künftig
seinen Kindern verbieten, solche Menschen zu verspotten, und wolle ihnen
selbst ein Beispiel geben. Und die beiden Jünglinge oben am Waldesrande,
die auf den Gottesacker niedersahen, dachten, daß sie eben froh gewesen
waren, und daß ein Mensch begraben wurde, der unglücklich gewesen in
seinem ganzen Leben.

                   *       *       *       *       *

Nun hatte Hans die Schule durchgemacht und das Examen bestanden; so
sollte er jetzt die Universität beziehen. Bis dahin war er nie ganz von
Hause weg gewesen, denn wenn er auch in den Wochentagen im Löwenhof in
einem Dachkämmerchen war und in der Schule auf den Bänken saß zwischen
den andern, so pilgerte er doch jeden Sonnabend nach Hause, durch den
hohen Tannenwald, an stillen Holzhauerdörfchen vorbei zu seinem
Vaterhaus, das auf einer umschlossenen Waldwiese stand, in schwarzen
Schiefern, und krausen Rauch schickte es in die helle Luft. Aber nun
sollte er weit fort reisen mit der Eisenbahn, aus den Bergen in das
ebene Land, und erst nach Monaten kam er wieder in die Heimat; und wenn
er dann seine Studien beendet, wer weiß, in welche Ferne er dann gehen
mußte.

Da rief ihn die Mutter zu sich und ging mit ihm in die Schlafkammer
oben, um ihm ungestört ihre Abschiedsworte zu sagen.

Sie machte ein Gleichnis und sprach: Wenn du einen Tropfen Essig
schüttest in ein Faß edlen Weines, so wird der Essig zu Wein; und
umgekehrt, wenn du einen Tropfen Wein gießest in ein Faß mit Essig, so
verliert er seine Natur und wird zu Essig. Also ist auch der Menschen
Natur, denn wenn ein guter Mensch kommt in böse Gesellschaft, so
verliert er alsbald seine Art und nimmt schlechte Art an, gleichwie ein
Böser, der in gute Gesellschaft kommt, sich zu guter Art schlägt. Dieses
bedenke und hüte dich vor lockeren Buben, die du viele treffen wirst auf
der hohen Schule und in der großen Stadt. Denn wir, ich, dein Vater,
deine Großmutter und unsre Magd Dorrel haben uns getreulich bemüht, daß
du ein guter Mensch werdest; jetzt aber müssen wir dich ziehen lassen,
mit Furcht und Sorgen, daß du uns nicht verdorben werdest und
zurückkehrest als ein nichtsnutziger und verkommener Mensch. Und laß
dich auch nicht verführen durch Neugierde und Eitelkeit, daß du zu tun
bekommst mit solchen Buben, und du meinst, es soll nur auf kurze Zeit
sein, nachher aber gedenkst du sie zu meiden; sondern denke, daß das
Böse sich an den Menschen hängt wie Kletten, auch durch leise Berührung,
und schwer ist es, daß sich einer wieder befreit von dem Unkrautsamen an
seinem Gewande. Besonders aber warne ich dich vor der Eitelkeit; denn du
weißt wohl, daß die Bösen spotten über die Guten und ihnen vorwerfen,
sie seien unfrei, weil sie nicht tun wie sie und hören auf erfahrene
Leute, dahingegen doch die Bösen selbst unfrei sind, denn wohl tun sie
die ersten Schritte ohne Zwang, alle weiteren aber als Knechte ihrer
früheren Taten; ein Trinker kann nicht mehr lassen vom Trinken und ein
Hurer vom Huren, sondern ihr Teufel zieht sie hinter sich her an ihren
Haaren. Du mußt aber wissen, daß dieses die besondere Verblendung des
Satans ist, daß er macht, daß seine Knechte sich für frei halten; denn
sie lügen nicht, wenn sie der andern spotten, sondern reden aus ihrer
wahren Meinung.

Und wirst du nicht bloß böse Buben finden, sondern auch schlechte
Mädchen, die dich verführen wollen zu Unkeuschheit und Werken der
Wollust. Dazu wird deine eigne Begierde wach werden, denn du bist jetzt
in die Jahre gekommen, da der Mann sich nach dem Weibe sehnt, und
geschieht diese Verführung aus dem natürlichen Menschen und ist deshalb
stärker wie die andre zum Trinken, Spielen und Balgen. Deshalb denke,
daß du keusche und reine Eltern gehabt hast, denn dein Vater ist in das
Ehebett gestiegen als ein unbefleckter Jüngling, gleichwie ich als eine
reine Jungfrau. Und denke ferner, daß du einst ehelichen wirst und
Kinder haben; aber was für Kinder wirst du bekommen, wenn du deine
Kräfte ausgibst in jungen und unfertigen Jahren! Wenn du dich
vergleichst mit deinem Vater, so wirst du finden, daß du einmal größer
und stattlicher sein wirst, wenn du in dein Alter kommst, obwohl du viel
in der Stube und über Büchern hast sitzen müssen; dessen Ursache ist das
ehrbare und ordentliche Leben deines Vaters, der sich zusammengehalten
hat in seiner Jugend, damit sein Sohn einst tüchtig sein solle.

Aber wenn du diese beiden Gefahren vermeidest, so wird dir eine dritte
begegnen. Denn du wirst in der Stadt Mädchen finden, die sind zwar
ehrbaren Wandels und ordentlichen Herkommens, und man kann ihnen nichts
nachsagen; aber sie mögen nicht an sich selbst schaffen, sondern sind
leichten Herzens und denken nicht an die Zukunft, und meinen, alles sei
gut, wenn sie nur einen Mann haben, den sie lieb haben können. Hüte
dich, daß du dich mit solchen Mädchen einläßt und etwa denkst: ich will
mich verloben jetzt, und wenn ich fertig bin mit meinen Arbeiten, so
will ich sie heiraten, und denkst: ich habe sie lieb, und sie hat mich
lieb, und wir werden ein gutes, christliches Ehepaar sein, ehrlich leben
und unsre Kinder gut aufziehen. Dieser Liebe sollst du mißtrauen, obwohl
sie mit großer Schmeichelei deiner Natur und Seele daherkommt. Denn ein
junger Mensch hat keine Erfahrung und weiß nicht, wie schwer es ein
Hausvater hat, und was ein Haus kostet, und wie tüchtig ein Mädchen sein
wird als Hausmutter. Deshalb öffne deine Augen und betrachte die
Menschen, die sich frühzeitig verloben und verheiraten; da wirst du
finden, daß das alles ein leichtes Volk ist, das sich freut ein Jahr
lang, und das andre Leben bringt es hin mit Sorgen und Borgen. Auch ich,
deine Mutter, habe eine Liebe gehabt, wie ich achtzehn Jahre alt war, zu
einem jungen Kaufmann, und wie mein Vater nichts wissen wollte von
dieser Liebe und der Bewerber traurig von ihm ging, da meinte ich, daß
ich sterben müßte vor Kummer, und wäre ins Wasser gegangen, wenn ich
nicht Gottes Wort gehabt hätte. Heute segne ich meinen Vater im Grabe,
daß er hart gegen mich war aus Liebe, denn der Mann ist leichtsinnig
gewesen und hat sein Vermögen vertan durch törichtes Bauen und
übermäßige Erweiterung seines Geschäftes, weil er etwas Besonderes
vorstellen wollte. Dann harrte ich sieben Jahre, und da kam dein Vater;
das war eine andere Liebe, die ich zu dem hatte, denn ich ward ruhig
durch ihn und stark. Er hat mir keine süßen Worte gegeben und mich nicht
gerühmt; aber seit ich seine Ehefrau bin, habe ich keine andre Sorge
gehabt als die, welche Gott jedem Menschen auferlegt, nämlich um ihn in
seinem Beruf, daß ihm nicht ein Unglück geschieht, und um dich, mein
geliebter Sohn, daß du gesund und gut aufwachsest; und ein bös Wort habe
ich nie von ihm gehört.

Darum habe ich dir das erzählt, wiewohl es mir eine schwere Aufgabe war,
weil diese dritte Versuchung die schwerste ist. Denke an meine Worte,
wenn du vermeinst, daß du ein Mädchen getroffen habest, von der du nicht
wieder lassen kannst. Vergiß nicht, daß erst das Weib den Mann zum Manne
macht, deshalb darf der Mann kein Jüngling mehr sein, und deshalb soll
er sein Weib auswählen, nicht bloß nach dem Gefühl der Liebe, wie es von
den heutigen Dichtern beschrieben wird, sondern mit Ernst und Furcht.

So sprach die Mutter zu Hans. An manchen Stellen ihrer Rede färbte die
Scham ihre Wangen; aber sie sprach ruhig und sicher, als eine Mutter zu
ihrem Sohn. Und der Sohn ward bewegt in seinem Herzen und fühlte, wie er
seine Mutter liebte, die stattlich und stolz vor ihm stand mit dem
glatten und blonden Scheitel.

Hans antwortete, daß er ihre Worte behalten wolle. Und er glaube, daß er
keine großen Anfechtungen erleiden werde. Denn es ist wohl ein
unchristliches Gefühl, das ich habe, aber ich glaube doch, daß meine
Meinung richtig ist: ich denke nämlich, daß ich besser bin wie alle
andern jungen Leute, die ich bis jetzt gesehen, und deshalb muß ich mich
zusammennehmen, damit ich später auch etwas leisten kann, wenn ich
ausgelernt habe. Und ich will mich auch hüten, daß ich nicht hochmütig
werde, denn ich kann ja nicht so viel für mich, sondern das meiste habe
ich von Natur, nämlich von euch.

Nach diesem Gespräch war ein neues und andres Leben zwischen Hans und
die Mutter gekommen; er war freier gegen sie und offen, wiewohl er ihr
auch früher nichts Besonderes verheimlicht hatte; aber er hatte das
Gefühl, daß er jetzt zu ihresgleichen herangewachsen sei, gleichwie er
vor Jahren zu Dorrel herangewachsen und ihr gleich, bald dann auch ihr
überlegen geworden war. So blieb jetzt nur noch der Vater über ihm.
Gegen den Vater hatte er noch die alte kindliche Scheu; gegen die Mutter
aber hatte er eine neue Scheu bekommen, wie er sie etwa gegen seine
Braut gehabt hätte, und eine neue Liebe seit jener Bewegung im Herzen,
die mehr zärtlich war wie früher. Solches sind die Ringe unsrer
wachsenden Seele; und wenn unsre Seele in Gesundheit und Kraft zunimmt,
so setzt sie solche Ringe einen nach dem andern an, und unser innerer
Kern wird immer heimlicher und verborgener vor dem Ahnen der andern
Menschen.

Aber wie die Mutter mit Hans gesprochen hatte, da nahm ihn auch Dorrel
mit sich auf ihr sauberes Dachkämmerchen, wo ihr hochaufgetürmtes Bett
stand mit rot und weiß gewürfeltem Bezug, und ein blankgescheuerter
hölzerner Stuhl, und ein großer Koffer, mit bunten Blumen bemalt.

Den Koffer öffnete sie, zeigte ihm, was darinnen war, und sprach, daß er
einst erben solle, was sie besitze, denn sie habe nur einen Bruder
gehabt, der sei nach Amerika gegangen und habe dort eine Bauernstelle
erworben, seit langen Jahren aber habe sie nichts mehr von ihm gehört
und wisse gar nicht, ob er noch lebe und Kinder habe; in fremde Hände
aber solle ihr Gespartes nicht fallen. »Aber wenn du einmal heiratest,
so schenke ich dir dieses Tischtuch und zwölf Servietten; dazu habe ich
den Flachs selbst gesät, gezogen, gebrochen, gehechelt und gesponnen,
und vom Weber habe ich ihn mir weben lassen mit künstlichen Figuren von
Bäumen und Tieren und einem Jäger. Jetzt ist das Leinen zwar noch hart
und sieht grau aus, aber wenn es erst ein Jahr lang im Gebrauch gewesen
ist, so wird es weich, weiß und glänzend. Nur hüte dich vor den faulen
Wäscherinnen, die in der Apotheke fressende Gifte kaufen, die verderben
dir deine gute Leinwand, und du hast am Ende nur Lumpen.« Danach zeigte
sie ihm ihr Sterbehemd, das hatte sie auch selbst gesponnen und mit
schönen Spitzen besetzt und wollte sie mit ins Grab nehmen; ihre übrige
Wäsche aber, die gebraucht ist, welche er nicht behalten wollte, sollte
er verschenken, einem armen und ordentlichen jungen Dienstmädchen, das
sich noch nichts hat anschaffen können, und dem damit geholfen ist;
»aber es muß ein ordentliches und fleißiges Mädchen sein, die meine
Sachen trägt mir zu Ehre und sie sauber hält, nicht so ein faules
Bettlergesindel, das in Lumpen umhergeht.«

Am Ende zog Dorrel noch ihre besonderen Kostbarkeiten hervor, an denen
ihr Herz am meisten hing. Da war erstlich ein gestickter Tabaksbeutel,
den hatte ihre Mutter ihrem Vater einst als Braut geschenkt und hatte
derzeit zwei Taler gekostet, war auch nie gebraucht von ihrem Vater, aus
Ehrfurcht, weil er so teuer gewesen. Den hatte ihr Bruder damals
mitnehmen wollen nach Amerika, aber sie hatte ihn nicht hergegeben, weil
sie dachte, in Amerika könne er in schlechte Hände kommen und zu Leuten,
die nicht verstünden, wie kostbar er ist. Er war aber aus grüner Seide
gehäkelt und waren Rosen, Vergißmeinnicht und Veilchen aus Perlen
darauf, und in der Mitte war ein Wort »Souvenir«, das war auch aus
Perlen, aber aus goldenen; gefüttert war er mit guter Schweinsblase.
Dorrel sagte, wenn Hans erst Pastor sei, dann werde er sich das Rauchen
aus einer langen Pfeife angewöhnen, und natürlich hätte er dann seinen
Tabak in einem Kasten, aber wenn er einmal auf Besuch gehe, dann müsse
er einen Tabaksbeutel haben, da solle er dann diesen nehmen; denn für
einen Pastor schicke sich wohl so ein teures Stück, aber nicht für einen
Tagelöhner, und eigentlich sei es ein rechter Unsinn gewesen von ihrer
Mutter, ein solches Geschenk zu machen. Dann zeigte sie ihm einen
geschnitzten Stockknopf aus Knochen. Der stammte desgleichen von ihrer
Mutter her, welche als Mädchen in einem großen Hause gedient. Der Knopf
hatte auf einem Rohr gesessen, das der Herr zu tragen pflegte, und wie
das Rohr einmal zerbrochen war, wurde der Knopf mit fortgeworfen,
Dorrels Mutter aber hatte sich ihn ausgebeten, abgeschraubt und
sorgfältig aufgehoben. Jetzt sollte ihn nun Hans kriegen, wenn er erst
eine Pfarre hatte, und da sollte er sich ein gutes Meerrohr mit
ordentlicher Zwinge beim Drechsler kaufen und an den Knopf andrehen
lassen; denn der Knopf war zwar altmodisch, aber von guter Arbeit, und
weil die Mode sich immer ändert, so kommt es gewiß auch einmal wieder
auf, daß die Männer von Ansehen solche Art Stöcke tragen.

Zuletzt hatte sie noch einen Hund aus Gußeisen, der für einen
Briefbeschwerer dienen sollte, und hatte noch eine ganz andre
Geschichte.

Auch Dorrel war einmal ein hübsches junges Ding gewesen mit prallen
Backen und lustigen Augen, aber brav und ordentlich war sie auch schon,
wie sie erst ihre achtzehn Jahre hatte. Da war da ein junger Knecht bei
der gräflichen Herrschaft auf dem Hofe, der verliebte sich in sie und
sie in ihn, und wie Kirmes war, tanzten sie viel zusammen, und er
bezahlte für sie Himbeerwasser, und weil sie sich so recht glücklich
fühlten, wollten sie sich etwas schenken, was sie später einmal brauchen
konnten in der Wirtschaft. So kaufte Dorrel ihrem Schatz eine Samtweste,
die mit bunten Blumen bestickt war, und er kaufte ihr den eisernen Hund,
denn er sagte, wenn sie sich später erst etwas gespart hätten, so müßten
sie sich einen Glasschrank kaufen, und in dem würde sich der eiserne
Hund gar prächtig machen. Wie sie aber nach Hause ging, hatte sie schon
Angst vor ihrer Frau, denn sie war damals schon bei Hansens Großmutter
von der mütterlichen Seite, was die zu ihrer Liebschaft sagen würde; und
in Wahrheit bekam sie auch starke Schelte, und die Frau hielt ihr vor,
daß sie selbst nichts habe, und er habe zehn Geschwister, und wenn sie
heirateten, so komme Hunger und Kummer zusammen, vornehmlich, wo sie
sich so läppisch zeigten und sich so einfältige Geschenke aufschwatzen
ließen von den Krämern, denn wenn die Dummen zu Markte gehen, so lösen
die Krämer Geld. Darum solle sie ihr nicht wieder kommen mit einer
Liebschaft, ehe sie nicht fünfundzwanzig Jahre alt wäre. Da seufzte und
weinte Dorrel die Nacht durch, aber bedachte sich doch, daß die Frau
recht hatte, und daß ihr Liebster erst noch zu den Soldaten mußte.
Deshalb sagte sie zu ihm, was die Frau zu ihr gesprochen, und versprach,
daß sie auf ihn warten wolle, und sie müßten ihre Zeit ausharren und
sich erst anschaffen und sparen. Da schimpfte der Mann wohl recht auf
ihre Frau und sagte, die solle ihm nur einmal in den Weg kommen, der
wolle er schon die Wahrheit sagen, aber am Ende mußte er sich geben, sah
auch wohl ein, daß Dorrel recht hatte. Weil er indessen wohl ein guter
Kerl war, aber einen leichten Sinn hatte, ließ er sich mit einer andern
ein; als er in der Stadt bei den Soldaten stand, heiratete die auch, zog
fort und kam nachher in großes Elend. Dorrel aber brauchte lange, bis
sie die Gedanken an ihn verwand; und wie sie wieder so weit war, daß sie
dachte, sie möchte wohl heiraten, da schien ihr keiner recht, denn sie
war inzwischen etwas altjüngferlich geworden, hatte große Besorgnis, daß
dieser liederlich werden möchte und jener krank und der dritte faul;
später hätte sie wohl auch einen Witmann bekommen können, aber da
bedachte sie, daß sie es doch zu lange gut gewohnt war bei ihrer
Herrschaft und fürchtete sich vor den Sorgen und der Not; und so geschah
es, daß sie ledig blieb und die Liebesgeschichte mit dem Knechtlein, wo
sie den eisernen Hund geschenkt kriegte, war ihre einzige.

Diesen Hund nahm sie nun hervor, wickelte ihn sorgfältig aus dem Papier
und reichte ihn dem Hans, indem sie sagte, weil er jetzt als Student so
viel schreiben müsse, so solle er den Briefbeschwerer gleich haben, denn
sie schreibe ja doch nicht, weil sie niemand habe in der Welt. Die
Geschichte erzählte sie ihm zwar nicht, wie sie zu dem Hund gekommen,
aber wie sie an die alte Zeit dachte, da kamen ihr die Tränen in die
verrunzelten Augen; sie war aber auch gerührt, weil sie sich recht
lebhaft vorstellte, wie es erst wäre, wenn Hans nicht mehr am Sonnabend
nach Hause käme, da streichelte sie ihm mit ihrer rauhen Hand seine
Backe, und die Hand zitterte; dem Hans aber stieg das Wasser auch in die
Augen, wiewohl er sich schämte und unwillig war; und so brummte er
etwas, schlug seinen eisernen Hund wieder ins Papier und stolperte die
Treppe hinunter.

Den Koffer nahm ein Holzfuhrmann mit nach der Stadt und gab ihn bei der
Eisenbahn ab, indessen Hans selbst den Weg zur Bahnstation zu Fuß machen
wollte; so verabschiedete er sich von der Mutter und von Dorrel, und der
Vater warf die Büchse über die Schulter und sagte, er wolle ihn eine
Strecke begleiten.

So gingen die beiden. Sie sprachen über die neue Art von Tannen, die der
Graf hatte kommen lassen, welche ein sehr schnelles Wachstum haben
sollten, und der Förster zweifelte, ob das Holz so wertvoll sein werde,
wie die gegenwärtigen Arten, das zu Fußbodendielen zersägt wurde, weil
es besonders fest war durch das langsame Wachsen der Bäume auf dem
felsigen Boden. Hans wunderte sich, daß sein Vater so mit ihm sprach.

An einem Seitenwege machte der Vater Halt, weil er zu seinen Arbeitern
mußte, gab dem Jungen die Hand und sagte: »Sei fleißig und schreibe
bald. Wenn dein Geld nicht reicht, so mußt du schreiben.« Dann wendete
er sich zur Seite, und Hans ging weiter.

Aber der Hund, den der Förster an der Leine führte, hatte aus allen
früheren Anstalten gemerkt, daß etwas Besonderes geschehe und Hans auf
länger fortging wie sonst; so legte er sich auf den Boden, stemmte sich
mit aller Kraft fest und begann zu winseln. Der Förster zog ihm das Ende
der Leine über, aber der Hund winselte nur mehr und ließ sich nicht von
der Stelle ziehen. Da wendete sich der Vater zurück und rief hinter Hans
her: »Der Hund will Abschied nehmen.« Da tanzte der Hund bellend und
winselnd auf den Hinterbeinen, und wie Hans zurückkam, leckte er dem
ungestüm die Hände, heulte und bellte. Hans liebkoste ihm den Kopf und
mußte sich zusammennehmen, daß er nicht weinte. Am Ende sprach der
Vater: »Nun gehe, du versäumst den Zug«, und da wendete sich Hans und
ging; der Hund aber wich auch jetzt nicht von der Stelle, bis Hans durch
eine Biegung des Weges unsichtbar wurde, dann beschnupperte er noch
einmal seine Fußspur und dann erst folgte er seinem Herrn auf den
Nebenweg und war traurig und niedergeschlagen.

So schritt nun Hans seine Straße fürbaß. Das war die alte Straße, die er
so manchen Sonnabend heimwärts gegangen war frohen Mutes und in Trauer
stadtwärts Montags früh, wenn die Vögel ihr Morgenlied sangen. Eine
gute, feste Chaussee war es; zu den Seiten standen Ahornbäume, deren
Laub färbte sich schon herbstlich, und Quitschen mit roten Beeren; im
Winter fressen die Drosseln diese Beeren und bekommen davon ein angenehm
schmeckendes Fleisch. Und auf der Chaussee fuhren Holzwagen; an einem
sehr großen Stamm kam Hans vorbei, den zogen zwei schwere Pferde mit
Mühe und war wohl bestimmt zu einem Mastbaum; der sollte auch in die
weite Welt hinaus. Der Fuhrknecht in manchesternen Kniehosen und blauem
Kittel grüßte.

Nicht weit von der Straße war die Elsgrube, Hans bog ab und ging dahin.
Die kleinen, schiefgeschnittenen Äcker waren abgemäht, und die Stoppeln
sollten noch umgepflügt werden; der Kartoffelacker war umgewühlt, und in
der Mitte war ein runder Aschenfleck, wo das Kartoffelfeuer gebrannt
hatte. Merkwürdig trostlos sah das alles aus. Das stille, kreisrunde
Wasser glänzte grün inmitten des kahlen Wesens; einige geknickte Binsen
hielten sich am Rande. Hans dachte, wie gern er als Kind nahe gegangen
wäre an das Wasser, um vielleicht in der Tiefe den Turm der versunkenen
Burg zu sehen; jetzt hätte ihm niemand verboten, so nahe an den Rand zu
treten, wie er wollte, aber er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Turm
in der Tiefe. In kindischem Tiefsinn dachte er: »ja, das ist ein Symbol
unsers Strebens«; und er meinte, das sei wahrhaftig seine Ansicht. Aber
seine wirklichen Gedanken waren ganz anders.

Die waren wie die Tannen, die sich den steilen Bergabhang in die Höhe
strecken gleich einem Heer, das eine feindliche Befestigung stürmt;
mannhaft stehen sie in Reih und Glied, klammern sich mit ihren Wurzeln
über Felsen und Steine. Nach oben streben sie, nach Sonne, Freiheit und
Licht; ihre unteren Zweige lassen sie trocken werden, denn sie mögen
nichts mehr zu tun haben mit dem Dunkel, wo Ameisen geschäftig laufen.
Eilfertig plätschert ein kleines Wässerlein den Berg hinab, aufblitzend
in einem verlorenen Sonnenstrahl; das muß ihre Wurzeln tränken. Aber
tiefer dringen ihre Wurzeln, sind nicht zufrieden mit des muntern
Bächleins klarem Wasser; sie gehen bis zu der Tiefe, von wo die
Bergquelle in die Höhe steigt. Die schaut aus der Erde zwischen Moos und
Tannennadeln, wie ein dunkles Auge, und kleine Sandkörnchen tanzen in
dem quellenden, kristallklaren Dunkel. Rührend ist es, wie diese
Sandkörnchen da tanzen, unermüdet. Wenn man ruhig harrt und hört das
leise Rauschen und Plätschern, so spürt man, wie der Wald wächst, im
Herzen spürt man es, und man weiß, daß man zusammengehört mit dem Wald
und aus einem herauswächst mit ihm, und alles ist eins und gehört zu
einem, die leise wankenden Tannenwipfel und das dunkle Auge des
Bergquelles, der moosbewachsene Felsblock und das spritzende Wässerlein
und das heimliche Wesen der Wälder mit seiner starken, gesunden Luft.
Eine Minute nur währt solche Verzückung; aber für den inneren Menschen
bedeutet die Zeit ja nichts, denn Jahre können träge vorübergehen, ohne
daß sie uns einen Eindruck machen, aber der Eindruck jener Minute ist
immer noch in unsrer Seele. Die Straße ging in Windungen bergab bis zum
Städtchen, wo die Bahnstation war; da wartete der Zug, der bestand aus
zwei Personenwagen und vielen Wagen mit Brettern, Wellen, Stempeln und
Balken, denn Holz war die Hauptware, die von hier verschickt wurde. Ein
häßlicher Kohlengeruch lag über dem Bahnhofe und stumpfe und schmutzige
Farbe, aber für einen Augenblick drang der Duft des frischgeschnittenen
Holzes durch, daß Hansen ein heftiges Heimweh ergriff.

Da fuhr der Zug; und er fuhr erst durch Täler, auf deren Grund Wiesen
waren, die in der Mitte, wo Wasser floß, noch Grün zeigten, sonst aber
schon grau und braun schienen, und auf den Höhen standen Wälder, aber
nur noch vereinzelte Tannen, denn nun begann der Buchenbestand; und
schon waren die Blätter farbig, und eine vereinzelte Eiche leuchtete rot
aus dem stumpferen Braun. Bald aber wurde das Tal breiter und die Hügel
flacher, die Wälder verschwanden, und es zogen sich Stoppelfelder in die
Höhe und ab und zu winkte ein Dörfchen mit einem Kirchturm.

Dann tat sich die Ebene auf, die ganz weit war und durch die Trübe des
Himmels begrenzt wurde. Hier war die Station, wo Hans den Zug verlassen
mußte; die Wagen mit den Brettern und Stämmen blieben zurück, das letzte
von der Heimat; und nun wurde alles anders und wurde fremd, denn selbst
die Wagenabteile waren größer wie die früheren, und es schien, als wenn
in den andern noch etwas heimische Luft und Helligkeit gewesen sei; dazu
sprachen die Leute eine andere Sprache, redeten über andere Dinge, und
ihre Gesichter waren Hansen nicht mehr vertrauter Art.

Dahin raste der Zug. Die Telegraphendrähte an der Seite flogen auf und
ab, die Stangen blitzten vorüber, und lange, schmale Felder tanzten, wie
wenn sie sich im Kreise um einen Mittelpunkt bewegten, der in Hansens
Wagen lag. An großen Rübenbreiten kamen sie vorbei, wo eine Herde
Polenmädchen in nackten roten Beinen mitten in der Nässe stand und Rüben
herausholte, und Wagen mit breiten Rädern wurden beladen, schwere Pferde
zogen mit Anstrengung durch den nassen Acker, und der Wagen hinterließ
eine tiefe Spur. Nun kamen wieder ganz andere Menschen in den Wagen,
Leute, die sich breit machten und über Hansen wegsprachen und unhöflich
drängten. Sehnsüchtig blickte er zum Fenster hinaus, dachte bei sich, er
hätte doch lieber mögen zu Hause bleiben, im Wald, und mit der Flinte
auf dem Rücken gehen, und alle Menschen kannte er da und alle Wege, und
in der Fremde war ihm das Herz schwer und wußte auch nicht, was
eigentlich die Universität war, und was er tun sollte, wenn er nun auf
dem Bahnhof stand in Berlin. Immer weiter eilte der Zug und fuhr über
Sandboden, wo häufige Kiefernwälder kamen, die schienen Hans natürlich
zu sein; dann kamen wieder Äcker und große flache Seen, daß es war wie
eine Überschwemmung; solche Art von Wasser kannte er nicht, das war so
glatt und flach. Bald senkte sich auch die Dunkelheit; ein Reisender
zeigte ihm in der Ferne eine schwere Dunstwolke in der Luft, das war
Berlin. Das war Berlin, was unter dieser Dunstwolke lag. Wie er das sah,
war ihm das Heimweh plötzlich vergangen.

Nun hielt der Zug, die Türen der Abteile wurden hastig geöffnet, und
alle Menschen liefen schnell und hastig, eilten, drängten und stießen
sich, und Hansen überholten sie alle, daß er als letzter eine ungeheuer
breite Treppe hinunterschritt, die von einem Stein war, der Hansen
Granit schien, und waren die sehr breiten Stufen immer aus einem Stück
geschlagen, was sehr teuer gewesen sein mußte. An Hans vorbei eilten
andre in die Höhe, hinter ihm kam ein neuer Menschenstrom herab, und
unten in der Vorhalle wimmelte und kribbelte es von eilfertigen
Menschen. Diese Vorhalle war außerordentlich hoch, aber eine häßliche
Luft war da, und schien alles schmutzig, so daß Hansen ein plötzlicher
Ekel ankam, denn ihm war, als sei auch er mit einem Male ganz schmutzig.

So stand er am Ende draußen auf dem Platz, und vor ihm war Berliner
Leben.

Einen Rock trug er, den der Schneider in der kleinen Stadt verschnitten
hatte, denn er war ihm vorn zu eng; auch sahen seine langen und
knochigen Hände weit aus den Ärmeln, und sein Hut war von ganz alter
Mode, denn er hatte ihn sich bei einem kleinen Hutmacher zu Hause
gekauft, und Kragen und Schlips paßten nicht zueinander und verschoben
sich beständig, und seine Füße waren in großen, plumpen Stiefeln, und
die Hose hatte ausgeweitete Knie. In der einen Hand trug er einen
baumwollenen Regenschirm, in der andern eine gestickte Tasche, auf der
stand: »Glückliche Reise«; sein Großvater hatte sie gekauft, wie er als
junger Mensch zum ersten Male von zu Hause weg mußte. So beschaffen
waren Hans Werthers Kleider, wie er zum ersten Male auf dem Berliner
Pflaster stand. Dazu war seine Gestalt unglaublich mager, lang und
knochig, und aus seinem hageren Gesicht, das mit langen, blonden
Stoppeln dicht besetzt war, starrten ratlos zwei hellblaue Augen. Im
Bergwald war Hans eine schöne und jugendlich männliche Erscheinung; aber
hier, auf der Königgrätzer Straße, sah er recht komisch aus.

Eine ganz auffallend gekleidete junge Dame ging dicht an ihm vorüber,
blickte ihm verwundert ins Gesicht und lachte ihn aus. Er sah hinter ihr
her und wunderte sich, daß eine solche Dame so unpassend sein konnte,
denn sie trug einen Hut mit so großen Federn, wie Hans noch nie gesehen,
schwang einen nadeldünnen Schirm in der Hand und trällerte vor sich hin.

Dem Hans wurde schwach im Herzen, und seine Sehnsucht nach der Heimat
war mit einem Male wieder ganz heftig, daß sie ihm weh tat, denn er
fühlte sich gänzlich verlassen von diesen eiligen Menschen, die nur alle
gerade vor sich hinsahen.

Da aber gedachte er, daß er ja keine unrechten Dinge vorhatte, und fiel
ihm der Gesangbuchvers ein, den er oft mitgesungen in der kleinen
Dorfkirche, vor deren Fenstern die Linden standen:

   »Befiehl du deine Wege
   Und was dein Herze kränkt,
   Der allertreusten Pflege
   Des, der den Himmel lenkt.
   Der Wolken, Luft und Winden
   Bestimmte Ziel und Bahn,
   Der wird auch Wege finden,
   Da dein Fuß gehen kann.«

Eine wunderbare Tröstung und Zuversicht überkam ihn, so daß er rüstig
ausschritt durch das Treiben und Ziehen der Menschen hindurch, denn es
schreckte ihn nicht mehr die Leere ihrer Gesichter, und daß sie
gestorbene Seelen hatten, welches ihm bewußt geworden war, ohne daß er
Klarheit über dieses Wissen hatte.




                             Zweites Buch


Die erste Zeit in Berlin war für Hansen recht traurig, denn sie brachte
ihm große Enttäuschungen, weil er gemeint, auf der Universität müsse
ganz Besonderes und Herrliches sein, und unter der Wissenschaft dachte
er sich etwas Befreiendes und Beglückendes, das ihm in unklarer Weise
als das höchste aller irdischen Hoheit vorschwebte; er konnte noch nicht
wissen, daß dieses Besondere und Herrliche nicht ein greifbar
Vorhandenes ist, sondern vielleicht nur eine Gemütsverfassung sein kann,
die einige begabte Menschen mit der Zeit durch ihre Beschäftigung mit
wissenschaftlichen Dingen erhalten. Und nun fand er ein großes und
graues Gebäude, das nach Staub aussah, dann eine Diele, in der sehr
viele Studenten standen und gingen, die gar nicht der Vorstellung
glichen, die er sich von Studenten gemacht, sondern eher wie recht
unelegante Kaufmannskommis schienen und fast alle außerordentlich
spießbürgerliche Gesichter hatten; und endlich war da ein niedriger
Kollegsaal mit vielen Bänken, mit einem muffigen Geruch. Der Professor
trat ein und wurde mit Trampeln begrüßt, und war ein ganz kleiner Mann
in einem dicken Pelz und mit einem recht abgenutzten Zylinder; wie er
diese Stücke an den Kleiderhaken hängte, machte er eine komische
Hüpfbewegung, und dann trat er auf den Katheder, nickte mit dem Kopf und
entfaltete ein uraltes, gebräuntes Heft, aus dem er mit monotoner Stimme
außerordentlich lange Perioden vorlas, indessen sein schwarzer Rock
speckig glänzte. Die Studenten schrieben mit heftigem Eifer nach, ohne
daß einer den Kopf hob, und nachdem Hans zuerst immer gedacht hatte, es
müsse noch etwas kommen, schrieb er am Ende auch nach; weil er aber
langsam mit der Feder war, so kam er bald zurück und konnte nicht mehr
folgen, und so saß er zuletzt recht ratlos und unglücklich da. Wie die
Glocke zum Schlagen aushob, ließ der Professor plötzlich seine Stimme zu
einem Murmeln sinken, hörte mit dem Ende des Satzes auf, klappte das
gebräunte Heft zusammen, hüpfte nach seinem Pelz und Hut und ging
hinaus. Die Studenten aber schnappten ihre Tintenfässer zu, steckten die
Hefte in die Mappen und gingen gleichfalls.

Das war die erste Vorlesung, und die weiteren hatten einen ähnlichen
Charakter. So wurde Hans niedergeschlagen und bekümmert, denn wie er nun
mit seinen Heften unterm Arm zum Essen ging und sich bedachte, was er
gelernt habe in diesen Stunden, da fand er gar nichts in seinem
Gedächtnis, außer die Vorstellung von einem ungeheuren und wüsten Raum,
in den er hineingestoßen war, damit er weitergehen solle, und sah weder
Weg noch Wegweiser.

Gleich hinter der Universität, am Kastanienwäldchen, war damals ein
Speisehaus, wo ein sehr großer Teil der Studenten aß. Hans folgte der
Menge und kam in kleine Stuben, wo an Tischen dichtgedrängt die jungen
Leute saßen und eilig ihre Speisen verzehrten, indessen Kellner in
jägergrünen Joppen mit Hirschknöpfen geschwind mit Schüsseln und Tellern
herumliefen und der Strom der eintretenden Gäste dem Strom der
herauskommenden begegnete. Wie Hans einen Platz gefunden an einem Tisch,
dessen übrige Stühle besetzt waren, und die fleckige Speisekarte
genommen, kam hastig ein Kellner im Vorbeilaufen heran und fragte, so
daß Hans erschreckt aufs Geratewohl bestellte, denn er war schon durch
die Eile und Menschenmenge geängstigt. Dann aß er und trank mit der
Schnelligkeit, die er bei den andern sah, denn hinter dem einen
Tischgenossen wartete bereits einer auf dessen Platz; und wie er fertig
war, kam der Kellner wieder, zählte zusammen, und Hans bezahlte, und
weil ihm gesagt war, daß man in Berlin den Kellnern Trinkgeld geben
mußte, so legte er ihm fünf Pfennige in die Hand mit einem höflichen und
verlegenen Murmeln, denn er scheute sich und fürchtete, der Kellner
würde beleidigt sein. Wie alles abgemacht war, hatte er ein leichtes
Herz und ging durch die gedrängten Zimmer zurück aus dem Hause. Da
fühlte er sich recht einsam und verlassen; denn einige gelbe Blätter
hingen an den Kastanienbäumen, Sperlinge zankten sich auf der Straße,
ein grauer Dunst war in der Luft, und häßliche Farbentöne hatte alles,
schmutzige und stumpfe; nichts Leuchtendes war da, welches das Herz
leicht macht. Er wunderte sich, daß das Studentenleben so aussah; ganz
anders hatte er es sich vorgestellt.

Seine Stube war ein langer und schmaler Raum, der eine Form hatte wie
ein Handtuch; oben am Fenster stand der Schreibtisch mit einem Stuhl
davor, dann kam ein Sofa mit einem Sofatisch, dann das Bett, endlich der
Waschtisch; und bildeten diese Möbel eine Reihe, so daß man sich an
ihnen allen vorbeidrücken mußte, wenn man zum Schreibtisch gehen wollte.
Auf dem Waschtisch hatte er seine neue Spiritusmaschine aufzustellen
gedacht; denn das hatte er sich so schön ausgemalt, wie er sich den
Kaffee nachmittags selber kochen werde, und dabei wollte er dann fleißig
studieren; aber die Wirtin sagte, das könne sie nicht erlauben, weil es
ihre guten Möbel ruinieren werde, und er solle den Kaffee bei ihr in der
Küche bereiten. So ging er jetzt mit der Kaffeemaschine, der Mühle und
dem andern Gerät in der Wirtin Küche, und hatten die Leute nur die
beiden Räume, also die vermietete Stube und die Küche, in der sie
kochten, wohnten und schliefen, nämlich eine sehr dicke und schmutzige
Frau, ein finsterer Mann, über den die Frau meistens schimpfte, eine
Tochter von achtzehn und einen Sohn von zwölf Jahren.

Hans fand die Frau allein vor, die ihm seine Sachen abnahm und sagte,
sie wolle ihm den Kaffee schon bereiten, und obzwar ihm die Leute
widerstrebten, ohne daß er freilich den Grund recht wußte, so tat doch
diese Freundlichkeit seinem einsamen und bedrückten Gemüt wohl, daß er
in dem Augenblick eine Zuneigung zu der dicken Frau faßte und sich nach
ihrer Einladung auf den Stuhl setzte, den sie vorher mit der Schürze
abgewischt. Die Frau begann gleich zu klagen, daß ihr Mann oft keine
Arbeit habe und alles vertrinke, und daß die Ferien über das Zimmer leer
stehe, und seien die Studenten meistens unsolide und meinten, die Stube
sei ungeniert, aber was wolle sie machen, sie sei eine arme Frau; und
nachdem sie sich die Augen mit der schmutzigen Schürze gewischt, fuhr
sie fort, daß ihre Tochter ihr auch Sorgen mache, die sei hinter den
Herren her, mit der werde es noch einmal ein schlimmes Ende nehmen, aber
sie könne es nicht halten. Wie sie noch so im Klagen war, kam die
Tochter nach Hause und trug einen neuen Hut und fragte ihre Mutter, wie
der ihr stehe; die schlug die Hände zusammen und jammerte über den Hut,
da antwortete das Mädchen, den habe sie geschenkt bekommen von einem
Herrn, und was sie treibe, das gehe die Mutter gar nichts an. Darauf zog
die Frau Hansen in den beginnenden Streit und fragte ihn, ob wohl eine
Tochter so antworten dürfe, das Mädchen ließ ihn aber gar nicht zu Worte
kommen, sondern sagte, sie wolle essen, und schalt darüber, daß so
weniges im Eßschrank lag. Inzwischen war der Kaffee fertig geworden, daß
Hans gehen konnte; er hörte aber noch eine höhnische Bemerkung der
Tochter, die auf ihn zielte, die verstand er zwar nicht, indessen machte
sie ihn verlegen, und er wußte nicht recht, wie er sich benehmen solle,
wenn er wieder in die Küche gehen mußte; durch die Tür drangen dann noch
Worte der Mutter zu ihm, die eine Zustimmung zu den Reden der Tochter zu
enthalten schienen. Da fühlte er sich wieder recht elend und
unglücklich, und mit Sehnsucht dachte er an seine Heimat und an den
Wald, und selbst sein Dachkämmerchen auf dem Löwenhof war ihm jetzt
vertraulich in der Erinnerung, wiewohl er nie ein heimliches Gefühl
darin gehabt, sondern es immer nur als bloße Unterkunft betrachtet
hatte. Denn alles erschien ihm namenlos scheußlich, weil er sich auch
eine Studentenbude immer ganz anders gedacht hatte, nämlich als ein
Mansardenstübchen, niedrig und klein, aber von quadratischem Grundriß,
mit einem alten ledernen Sofa und einem kleinen eisernen Ofen, in dem
ein lustiges Feuer brannte, und mit einem großen Bücherbrett voller
Bücher.

Nach dem Plane, den er sich von seiner Tagesarbeit gemacht, mußte er nun
die gehörten Vorlesungen durcharbeiten. So nahm er das erste Heft vor,
das enthielt lauter Literaturangaben über den Gegenstand, und er wußte
nicht, was er mit diesen beginnen sollte, dachte, er müsse sie wohl
auswendig lernen und schreckte dann zurück vor den vielen fremden Namen,
an die sich ihm keine Vorstellung knüpfte; und bei dem zweiten Heft ging
es nicht besser, denn hier hatte der Professor ganz weit hergeholte
Dinge als Einleitung behandelt, die mit dem Gegenstand nichts zu tun
hatten, und weil Hans nicht genau nachschreiben konnte, sondern hatte
Lücken lassen müssen, so wurde er aus dem Ganzen gar nicht klug. Derart
stieg seine Betrübnis auf einen solchen Gipfel, daß er gar nichts mehr
mit sich anzufangen wußte, und weil er gegen seine Unruhe doch irgend
etwas tun wollte, so verließ er seine Stube und ging durch die Straßen.
Er wurde bald müde, denn das Gehen auf dem harten Pflaster war ihm
ungewohnt, und das Geräusch und die Menge der Menschen strengten ihn an,
und wenn er die lange Straße hinuntersah, so erblickte er nur himmelhohe
Häuser, Drähte und Steinpflaster, und nirgends ein Fleckchen Erde, wäre
es auch nur so groß gewesen wie eine Hand. Nirgends war ein Fleckchen
Erde, alles war mit Steinen bedeckt. Über eine Brücke ging er, aber auch
die Ufer des Flusses waren mit Steinen vermauert. Da fiel ihm ein, daß
in dieser Stadt ein Kind geboren werden konnte und aufwachsen, das gar
nicht wußte, wie Erde aussieht, und wie ein Wald und ein Kornfeld und
eine Wiese aussieht; und als er das dachte, hatte er ein großes Mitleid
mit sich selbst.

So ging er, und die Füße taten ihm weh und die Schultern, und ein Ring
lag ihm um die Stirn, und war ihm, als habe er sich ausgeweint und könne
nicht mehr weinen. In solcher Verfassung blieb er, indem es begann zu
dunkeln, und die Laternen wurden angesteckt und die Läden mit stechendem
Licht erleuchtet, und die Menschen rasten immer gleichgültig vorbei. Am
Ende trat er aus Müdigkeit in eine Wirtschaft, und weil er sich graute
vor seinem Zuhause und es zudem doch noch am Anfang des Semesters war,
so beschloß er, hier in der Wirtschaft zu Abend zu essen und nicht zu
Hause, und wollte hier so lange bleiben, bis es spät genug war, daß er
zu Bette gehen konnte.

Eine Kellnerin brachte, was er bestellte und setzte sich dann zu ihm an
seinen Tisch, indem sie sagte, er sei gewiß erst seit kurzem in Berlin,
und dann erzählte sie, ihr gefalle es sehr gut hier. Hans antwortete in
der Weise, wie er gewohnt war, mit allen Menschen zu sprechen; da stand
sie plötzlich auf, mitten in seinem Satze, in einer Art, als sei er ihr
ganz verächtlich, und nachher war sie ganz fremd zu ihm, als habe sie
nie freundlich an seinem Tische gesessen.

Inzwischen füllte sich die Wirtschaft mit Gästen und die meisten taten
sonderbar vertraulich zu den Kellnerinnen, und es war als ob alle, die
hier in dem rauchigen und niederen Raum saßen, miteinander nahe bekannt
seien. Nach einer Weile setzte sich an Hansens Tisch ein junger Mann,
der aussah wie ein Künstler; dem brachte die Kellnerin ein Glas Bier und
zwei Butterbrote, die aß er gierig, als sei er sehr hungrig. Wie er mit
dem Essen zu Ende war, knüpfte er ein Gespräch an und erzählte, er wolle
eine Operette komponieren und spiele hier in der Wirtschaft abends
Klavier, wofür er fünfzig Pfennige und das beschriebene Abendbrot
erhalte; aber von diesem Erwerb könne er nicht leben, und wenn nicht die
gutherzigen Kellnerinnen wären, so müßte er verhungern, und seine
Operette würde viel besser werden wie der »Zigeunerbaron«. Wie Hans
antwortete, daß er dieses Werk nicht kenne, vertiefte sich der andre in
musikalischen Erörterungen, und zwischenhindurch klagte er bitter über
das Los der Künstler in der heutigen Gesellschaftsordnung. Am Ende
verbeugte er sich mit großer Eleganz vor Hans, daß dieser sehr verlegen
wurde, und ging zum Klavier, setzte sich, fuhr mit den Fingern durch
sein langes und dichtes Haar und begann mit großer Geläufigkeit Tänze zu
spielen; sein Spiel schien Hansen aber ganz seelenlos, obschon das
Pianino viel besser war wie des Lehrers im Dorfe altes Klavier.

Bald darnach fragte die Kellnerin Hansen, ob sie dem Klavierspieler ein
Glas Grog bringen solle, weil er sich doch mit ihm unterhalten habe, und
indem Hans dachte, das müsse wohl so sein, bejahte er die Frage, aber er
schämte sich doch sehr für den Musiker. Dieser nahm das Glas, wendete
sich zu Hans, nickte ihm dankend zu, führte es an den Mund und fing dann
gewandt einen neuen Tanz an.

Den ganzen Abend quälte sich Hans mit dem Gedanken, daß er nachher der
Kellnerin ein Trinkgeld geben sollte, denn das kam ihm unzart und
beleidigend vor, weil es nicht mit Herzlichkeit geschehen konnte und
deshalb keine Freundlichkeit war, die den Empfänger zu ihm in solche
menschliche Beziehung brachte, daß dessen menschliche Würde die gleiche
blieb, sondern er hatte das Gefühl, daß er das Mädchen dadurch unter
sich drückte, ebenso wie am Mittag den Kellner und vorhin den Musiker.
Viel Schmutz muß ein Mensch erst an seinen weißen Kleidern haben, bis er
gleichmütig das Geldstück in die vorgestreckte Hand eines dienernden
Menschen gleiten läßt und unbewußt jede Liebenswürdigkeit, die ihm ein
Niedrigerstehender erwiesen, durch eine kleine Münze vergilt, statt
durch einen einfachen Dank; und nicht nur seinen Bruder zieht er herab,
sondern auch sich selbst.

Wie Hans den peinlichen Augenblick überstanden hatte und sich zum Gehen
wendete, verspürte er mit den geschärften Sinnen, die ein Mensch
innerhalb einer feindlichen Umgebung hat, daß die Kellnerin sich hinter
seinem Rücken gegen eine andre über ihn lustig machte, wie schon einmal
an dem Tage die Wirtstochter gegen ihre Mutter getan. So wurde immer
stärker das Bewußtsein in ihm, daß er lächerlich und dumm sei, und alle
andern Leute waren viel gewandter, klüger und erfahrener wie er; denn
solange wir die Welt noch nicht kennen, wissen wir die sittlichen
Gegensätze nicht zu verstehen und beurteilen und halten sie für
Gegensätze des Verstandes und der Erfahrung, und ist das einer der
Gründe, weshalb mancher junge Mensch schlecht wird, der von Natur nur
oberflächlich war.

Langsam und müde ging Hans heimwärts, und war es eben nach zehn Uhr, wie
er an sein Haus kam, und deshalb war es schon dunkel auf den Treppen,
aber er tastete sich schnell am Geländer nach oben. Als er fast oben
angekommen, trat er auf einen Menschen, der dalag. Wie er schon ohnehin
in erregter Verfassung war durch alles vorige, so stieß er einen Schrei
aus und prallte zurück, daß er fast die steile Treppe hinabgefallen
wäre. Auf das Geräusch wurde die Korridortür geöffnet und Hansens
Wirtsleute, später auch die Nachbarn erschienen mit Lichtern, und da
zeigte sich, daß eine betrunkene Weibsperson von etwa fünfzig Jahren auf
den Stufen lag, die sich hatte auf den Hausboden schleichen wollen, um
dort zu nächtigen, und nun hier von Trunkenheit und Schlaf übermannt
war.

Der finstere und schwarzbärtige Wirt Hansens stieß das Weib mit dem Fuße
an, bis sie sich halb erhob in ihren stinkenden Lumpen, und starrte mit
dem aufgedunsenen Gesicht sinnlos in die Lampe, die der Mann in der Hand
hielt; er brüllte, er wolle die Polizei holen, und gab ihr allerhand
gemeine Schimpfworte, das Weib aber schien nichts zu merken, sondern
hockte da und sah zwinkernd mit rotgeränderten und tränenden Augen in
die Lampe. Deshalb versetzte der Mann ihr wieder Fußtritte, um sie zum
Aufstehen zu bewegen; aber da empfand Hans einen wilden Schmerz im
Innern und rief, er solle das lassen und die Frau menschlich behandeln.
Hierüber war der Mann erstaunt und erwiderte, wenn er selber betrunken
sei, so werde er auch so behandelt, und das noch dazu von den
Schutzleuten, die doch von den Steuern lebten, die er zahle, diese
Person jedoch zahle keine Steuern. Über diese Worte aber schien seine
Frau sich zu ärgern, denn die rief ihm verächtlich zu, er verdiene doch
nichts und bezahle auch keine Steuern, und da lachten die andern Leute.
Das brachte den Mann in Wut, so daß er sich nun mit seinen Schimpfworten
an seine Frau wendete, und die Tochter griff mit in den Streit ein,
indem sie in derselben verächtlichen Weise zu ihm sprach wie die Mutter.
Da wollte der Mann die beiden schlagen, aber indem nun die Tochter
kreischend fortlief und die fette Frau, die Arme in die Seite stemmend,
ihn mit wackelndem Busen erwartete, hielten ihn die Nachbarn fest und
suchten ihn zu beruhigen. Inzwischen hatte sich die Betrunkene unsicher
erhoben, und weil sie noch ihren alten Plan in dem umnebelten Gehirn
festhielt, so wollte sie höher steigen, sie trat aber auf ihre Lumpen,
fiel halb, hielt sich mit den Händen an den schmierigen Stufen und
starrte wieder in die Lampe. Nun erschien ein Schutzmann, den ein andrer
geholt hatte. Der packte die Betrunkene und stieß sie vor sich her die
Treppe hinunter, daß sie hätte kopfüber stürzen müssen; aber sie
klammerte sich am Geländer fest und wimmerte. Hans konnte den Anblick
nicht mehr ertragen, denn ihm wurde, als sei er krank, deshalb ging er
in seine Stube, schloß hinter sich zu und schob den Riegel vor. So
verlief der erste Tag von Hansens Studentenleben, und noch nie war er so
unglücklich gewesen wie an dem Abend. Weshalb er ein so heftiges Gefühl
von Jammer hatte, konnte er sich nicht klarmachen, und es war auch gut,
daß er es sich nicht klarmachen konnte, denn sonst wäre er gänzlich
verzweifelt. Denn dieser Tag führte den ersten und heftigsten Streich
gegen seinen Glauben, und von heute an wurde ihm, Stück für Stück, Gott
geraubt, denn alle diese Menschen, die er getroffen hatte, waren ohne
Würde gewesen: der Lehrer, der mechanisch sein Pensum ablas, und der
Kellner, der gleichmütig seine Speisen brachte, und die Wirtin, und der
Musikant, und die Betrunkene endlich. Und wenn es Menschen gibt, die
keine Würde haben, so müssen wir an unsrer eignen Würde zweifeln: nicht
mit dem Verstande, denn das ist alles über den Verstand, aber wir können
nicht mehr den reinen Glauben und die klare, unschuldige Zuversicht
haben.

Und wenn wir an unsrer Würde zweifeln, so können wir an keinen Gott mehr
glauben, der über uns ist, und durch den unser kleines Leben einer
Eintagsfliege am Sommertage eine Bedeutung bekommt, die höher ist wie
die Bedeutung von Millionen Welten; und auch dieser Zweifel kommt nicht
aus dem Verstande, denn dieser ist noch weit mehr über allem Verstande;
aber er kommt aus unserm ganzen Menschen.

Dergestalt bereitete sich bei Hans der Glaube vor, daß er ein Rad sei
neben andern Rädern in einem großen Räderwerk, das für sich keinen Sinn
hatte, welches die allgemeine Ansicht der Menschen war, mit denen er nun
zusammenkam.

                   *       *       *       *       *

In einer philosophischen Vorlesung fand Hans seinen Platz neben einem
älteren Studenten, der ihm durch seine eigne Art sehr auffiel, denn er
hatte seine Stelle genau ausgemessen und durch Bleistiftlinien
bezeichnet und erklärte Hansen, wie er das unumschränkte Recht innerhalb
dieser Linien habe, außer daß er seine Nachbarn zur andern Seite müsse
bei sich vorüber zu ihren Plätzen gehen lassen, und wenn jemand Bücher
oder Hefte über die Linien hinaus neben ihn lege, so dürfe er die
zurückschieben. Mit diesem jungen Mann wurde Hans schon beim zweiten
Wiedersehen näher bekannt, indem sich die beiden nach jugendlicher Art
über die philosophischen Fragen unterhielten, welche die ihre Generation
beschäftigenden waren; und indem sie nicht wußten, daß das, was jeder
für sich gedacht, von vielen Altersgenossen geteilt wurde, waren sie
recht verwundert über häufige Übereinstimmungen ihrer Ansichten und
empfanden die als Veranlassung zu engerem Verkehr; und es bewirkte der
Jahresunterschied gleich, daß Hans als der Nehmende erschien und Heller,
denn so nannte sich der andere, als der Gebende, der ihm lehrte mit
Freude und Genugtuung. Dieses war das erste Mal, daß Hans das Gefühl der
Freundschaft empfand, welches der Liebe verschwistert ist, und so folgte
er mit Bewunderung, Glauben und Zuversicht allem, was ihm Heller sagte;
der aber stand völlig, wie er sich ausdrückte, auf dem modernen
Standpunkt und hatte auch einen Kreis von gleichgesinnten Freunden, die
zu bestimmten Zeiten zusammenkamen, das waren Studenten, junge
Kaufleute, junge Schriftsteller, Maler, Musiker und ähnliche. Bei diesen
führte er Hansen ein, wiewohl der eine große Besorgnis hatte, daß er
werde vor solchen Leuten nicht bestehen können mit seinem kleinen Wissen
und Vermögen, und saßen sie in einem engen Hinterzimmer einer geringen
Wirtschaft, das an den übrigen Tagen von Gesellschaften und Vereinen
kleiner Bürger eingenommen war, die sich in sonntäglicher Gewandung und
mit Bierfässern hatten photographieren lassen, um die Wände des Zimmers
zu schmücken.

Hans fand seinen Platz zwischen zwei jungen Mädchen, die sich mit großem
Eifer an den Reden beteiligten. Die eine war eine Russin und hatte einen
russischen Studenten als Begleiter, mit dem sie in freier Liebe lebte;
das war ein schweigsamer Mensch, von einer leuchtenden Blässe des
Gesichtes, mit hoher Stirn und ganz dunklem Haar und langem schwarzen
Bart, den er unablässig strich. Der lange Bart, den bei uns einer als
Vierzigjähriger haben würde, sah sehr merkwürdig aus in dem ganz
jugendlichen Gesicht. Eine Zeitungsnotiz wurde in der Ecke gelesen und
besprochen, die mitteilte, daß des Russen Bruder, der als ein
hervorragender Revolutionär galt, in Petersburg gefangen genommen war
und in Schlüsselburg untergebracht; und wie über den Tisch herüber der
Russe nach der Art des Gefängnisses gefragt wurde, machte er mit
unverändertem Gesicht eine Handbewegung, die bedeutete, daß sein Bruder
dort sterben werde, dann bat er mit fremdartiger Aussprache seinen
Nachbar um eine Zigarette. Er war ärmlich gekleidet, und es wurde
erzählt, er sei sehr wohlhabend und gebe fast alles für die
Unterstützung der Arbeiterbewegung aus; auch die Frau trug sich sehr
einfach und schien dazu unordentlich und sollte von sehr vornehmer
Abkunft sein und aus Überzeugung ihre Familie verlassen haben.

Hans kam in eine weihevolle Stimmung, und ihm war, als sitze er neben
Aposteln; denn diesen Leuten erschien ihre Pflicht einfach, und sie
taten sie ohne Ruhmredigkeit. So erzählte der Russe, er wolle mit seiner
Frau bald in sein Vaterland zurückkehren und hoffe, daß er etwa ein Jahr
lang wirken könne, bis man ihn nach Sibirien schicke. Am allgemeinen
Gespräch beteiligte er sich sehr wenig und hatte eine sonderbare Art,
verächtlich über Menschen und Gedanken zu reden.

Die andere Dame, welche Helene genannt wurde, hatte die Begleitung ihres
Bruders, und waren die beiden das erstemal in der Gesellschaft und wurde
von ihnen erzählt, daß sie soeben sich von ihren Eltern getrennt hätten
und allein lebten; der Vater der beiden war ein kleiner Kaufmann, dessen
älterer Sohn war befreundet mit einem Mitglied des Kreises, der
offiziell zur sozialdemokratischen Partei gehörte; der hatte ein Paket
verbotener Schriften bei seinem Freunde hinterlegt, weil bei dem niemand
einen Verdacht haben werde, der Vater aber hatte die Schriften gefunden,
wie er in argwöhnischer Besorgnis seines Sohnes Sachen durchsuchte, und
war mit ihnen gleich auf die Polizei gegangen aus Angst und aus
unbedachtem Ärger über seines Sohnes Verkehr. Weil nun einige der
Schriften in mehreren Stücken vorhanden waren, so nahm die Polizei an,
das Paket sei zur Verbreitung bestimmt, und verhaftete den Sohn des
Angebers zu dessen großer Bestürzung, und weil sich bei weiterem
Nachsuchen der eigentliche Besitzer leicht ermitteln ließ, nachher auch
den sozialdemokratischen Freund. Der andre Sohn und die Tochter waren
über die Handlung ihres Vaters so entrüstet, daß sie erklärten, sie
wollten nunmehr nicht mehr in ihrer Familie bleiben, gingen von Hause
fort und mieteten sich zwei Zimmer, um für sich zu leben, was ihnen
dadurch möglich war, daß sie beide Geld verdienten, nämlich der junge
Mann als Reisender und das Mädchen als Buchhalterin in einem Geschäft.

Der junge Mann, der sich in der fremden Gesellschaft einsam fühlte,
begann ein Gespräch mit Hans, weil der gleichfalls hier unbekannt war,
und als ein redegewohnter Herr fing er bald an zu erzählen, und Hans
hörte zu. Er erzählte aber mit Stolz, welche Kunstgriffe er auf seinen
Geschäftsreisen anwende, um den Bürstenbindern, denn sein Artikel war
Schweineborsten, Ware zu verkaufen; so habe er auf einer Tour dem jungen
Mann eines Konkurrenten alle Aufträge vorweggenommen, indem er sich mit
ihm angefreundet habe und ihn abends eingeladen und so betrunken
gemacht, daß er sein Notizbuch durchsehen konnte. Über diese Erzählung
erstaunte Hans sehr und sagte, eine solche Handlungsweise sei doch nicht
redlich, der andre aber erwiderte, im Geschäft sei das nun einmal nicht
anders, und wer ein guter Geschäftsmann sein wolle, der er selbst auch
wirklich sei, der müsse so handeln. Die Schwester aber nickte Hansen zu
und gab ihm recht; und indem sie sagte, daß sie zu ihrem Bruder schon
immer ähnlich gesprochen habe wie er, setzte sie ihre Worte so, daß
gleich eine freundliche und vertrauliche Beziehung zwischen ihr und
Hansen entstand. Dann sagte sie zu ihm, er dürfe es nicht unpassend
finden, daß sie zwischen so vielen jungen Herren sei, denn die seien
doch alle Männer, die das Höchste wollten, und zudem werde sie ja auch
von ihrem Bruder beschützt.

Inzwischen hielt jemand einen Vortrag darüber, ob man wohl auf der Bühne
das wirkliche Leben ganz genau darstellen könne, und kam zu dem Ende,
daß das nicht möglich sei, weil man ja auf der Bühne immer eine Wand
fehlen lassen müsse, nämlich nach dem Zuschauerraum hin; über diesen
Vortrag bezwangen die meisten ein Lachen, Heller aber lobte den Redner
laut, das Hansen sehr von seinem Freunde verdroß, denn es schien ihm
unehrlich. So folgten noch allerhand Reden und Gespräche.

Hans brach mit den Russen zugleich auf, und wiewohl es schon recht spät
war, nahmen ihn die beiden doch noch mit sich in ihre Wohnung. Dieselbe
bestand aus drei recht elenden Räumen, die hatten aber eine besondere
Bedeutung, denn ein großer Teil der Freiheit, welche das Paar genoß,
wurde durch diese Wohnungseinrichtung erzeugt. Sie wollten nämlich wie
zwei gute Kameraden zusammen leben, nicht so, wie es in der heutigen Ehe
sei, daß das Weib vom Manne unterdrückt und ausgebeutet wird; deshalb
hatte der Mann eine Stube für sich, und die Frau hatte eine Stube; und
nur in wichtigen Fällen und nach besonderer Anfrage und Einwilligung
durfte einer des andern Raum betreten; in der Mitte aber lag ein Zimmer,
das ihnen beiden gemeinschaftlich gehörte und vornehmlich für die
Einnahme der Mahlzeiten bestimmt war. Hatte einer Lust, mit dem andern
zu plaudern, so ging er in dieses Zimmer und klopfte an der Tür des
andern, und wenn der wollte, so kam er heraus, wenn er aber nicht
wollte, so beachtete er das Klopfen nicht, und jener ging wieder in
seine Stube zurück.

Auf dem Tisch in diesem Mittelzimmer stand eine russische Teemaschine,
deren Schlot der Mann mit Kohlen füllte, die er schnell zum Glühen
brachte, und unterdessen legte die Frau einen Hering, in Zeitungspapier
gewickelt, auf die Tafel, ein Brot und ein Messer. Das geschah beim
Schein einer alten Petroleumlampe, der die Glocke fehlte. Der Mann ging
mit weiten Schritten in dem Stübchen auf und ab, und indem er seinen
weichen und schwarzen Bart langsam strich, blickte er gradeaus ins
Leere, wie wenn er in weiter Ferne ein Ziel sehe, das für andre
unsichtbar war durch die Wände mit den schmutzigen Tapeten; dazu
erzählte er in abgebrochenen Sätzen mit fremdartigen Tönen von
Schlüsselburg, daß dort die Zellen der Gefangenen unter dem
Wasserspiegel lägen, und die Gefangenen würden nach zwei oder drei
Jahren wahnsinnig. Die Lampe flackerte durch den Luftzug, wenn er
vorbeiging. Seine Frau saß auf dem verdrückten und lumpigen Sofa und
hatte die Beine auf den Sitz gezogen und die Arme um die Knie
geschlagen; sie starrte unbeweglich vor sich hin.

Der Bruder war ein Künstler gewesen, ein Musiker. Ganz zarte, weiche
Hände hatte er gehabt, die schonte er ängstlich seiner Kunst wegen, daß
er sogar im Bette des Nachts Handschuhe trug. Ein merkwürdiges Leben
hatte er in seinen Fingerspitzen; einmal durchblätterte er ein Buch, da
sagte er plötzlich, das Blättern mache ihn krank, und war ganz blaß
geworden und hatte fieberige Augen. Wie nun sein erstes Werk gedruckt
wird und er der Korrekturen wegen in der Druckerei zu tun hat, da sieht
er, wie die Bogen von der Maschine gebracht werden, in hohen Stößen, an
einen Tisch, wo Kinder sitzen, welche die Bogen falzen müssen; ganz
kleine Kinder waren das, von neun Jahren höchstens, Knaben und Mädchen,
die sahen blaß aus und hatten fieberige Augen, und griffen eilfertig ein
jedes zu, nahmen den Bogen vor sich und falzten. Als er sie befragte,
antworteten sie, daß sie oft Kopfschmerzen haben, weil sie vierzehn
Stunden lang jeden Tag gedruckte Bogen von einem Stoß nehmen müssen,
knicken und falzen; aber es war nicht wegen der Fingerspitzen, die waren
hart geworden. Zum Spielen hatten sie keine Lust, sondern sie wollten
Geld verdienen und hofften, wenn sie erst erwachsen waren, so wollten
sie sich Branntwein kaufen, jetzt nahmen ihnen die Eltern immer ihr Geld
weg. Wie er das gehört hatte, da warf er seinen kostbaren Pelz ab und
schenkte den einem Kinde, es solle ihn seinem Vater geben, und dann
setzte er sich zu den Kindern, nahm einen Stoß Notenbogen und falzte
Bogen, und wie seine Fingerspitzen bald rot wurden und feurig, da begann
er plötzlich irr zu reden und wurde nach Hause gebracht in einem Wagen
und verfiel in eine schwere Krankheit, in der er nichts von sich wußte,
sondern schrie beständig, daß er Kinder gemordet habe, und einmal schrie
er auch, er habe Kinderfleisch gegessen. Wie er wieder aufstand, mochte
er nichts mehr von seiner Kunst hören, sondern kleidete sich in Lumpen
und ging ins Volk, pilgerte auf der Landstraße, arbeitete, was seine
schwachen Kräfte konnten, und sagte den Leuten, der Kaiser und die
Beamten und die Reichen müßten ermordet werden. Einmal banden ihn die
Arbeiter, die ihm zuhörten, und führten ihn vor den Richter, aber er
entsprang wieder aus dem Gefängnis. Ein verlorenes Mädchen lachte ihm
zu, eine ganz niedrige Dirne, die von den Soldaten geliebt wurde. Zu der
sagte er, daß er sich vor ihr schäme, weil sie ein größeres Leiden
trage, wie einem Menschen möglich sei, da weinte sie, ging mit ihm und
diente ihm. Zuletzt wollte er sich als Arbeiter verdingen bei einem Bau,
wo er Gelegenheit hatte, etwas gegen den Kaiser zu unternehmen, da wurde
er verhaftet, und nun wird er bald sterben, denn er ist ganz krank.

Eine Zeitlang ging der Mann stumm auf und ab. Dann sagte seine Frau:
»Ich weiß, woran er sterben wird, an der Lüge. Denn wir sind alle krank
an der Lüge.« Darauf sprach sie ein heftiges Schimpfwort gegen die
Deutschen. »Ich habe uns durchforscht«, erwiderte der andre, »und ich
glaube, wir lügen nicht. Aber wir sind feige. Das ist das Verzehrende.«
Nun begannen die beiden einen Streit und erniedrigten jeder sich selbst
und einer den andern, und ein sonderbarer Haß war in ihnen, und ihre
Augen leuchteten voll Feindseligkeit. Auf Hansen nahmen sie gar keine
Rücksicht, als sei er nicht vorhanden, und begannen russische Sätze zu
sprechen, und plötzlich, inmitten einer großen Erbitterung, sprang die
Frau vom Sofa und warf ihre Arme um den Hals des Mannes und redete ihn
mit heftigen Liebkosungen an; da strömten aus seinen Augen die Tränen,
und sie beklagte ihn, wollte ihn begütigen und war glücklich und froh.
Indessen kam unter dem Sofa ein Kätzchen hervor, das dehnte sich, sprang
auf das Polster und machte einen krummen Rücken, da eilte Natascha zu
ihm und liebkoste es stürmisch.

In übler Verfassung verließ Hans das Haus der Russen, und mochte es
gegen drei Uhr in der Nacht sein, wie er durch die verödeten Straßen
fröstelnd ging. Straßenreiniger mit einer sonderbaren Maschinerie
begegneten ihm. An der Ecke stand ein Mann, der in einem blankgeputzten
Kessel warme Würstchen zum Verkauf bot, dessen Kundschaft bestand
vornehmlich aus Studenten, die in später Nachtstunde nach Hause gingen,
und von diesen sowie in Erinnerung an vorige Tage, die besser waren,
hatte er sich ein eignes Wesen angewöhnt. Hans blieb vor der
jammervollen Gestalt mit dem aufgedunsenen Gesicht zerstreut stehen.
»^Dic, cur hic?^« redete ihn der Mann an, dann holte er mit der Gabel
ein Würstchen hervor und begann mit Berliner Redensarten seine
Anpreisung. Hans nahm und bezahlte, und wie der Mann sein Gesicht sah,
fuhr er mit Erzählungen und Ruhmredigkeit fort und sagte, Hans habe wohl
keinen Sinn für das studentische Leben, und ein jeder müsse der Gottheit
folgen, die ihn antreibt; so habe er für seine Person immer eine
besondere Neigung zur Germanistik gehabt, und wenn er nicht durch den
Trunk so heruntergekommen wäre, so könnte er jetzt wohl auf einem
Lehrstuhl sitzen mit mehr Recht wie mancher andre, der weniger wisse wie
er. Aber auch so, wie er jetzt nachts an der Straßenecke stehe, sei noch
ein Drang zum Höheren in ihm, wie in jedem Menschen, denn er sei
Volksanwalt und setze für das Volk Klageschriften und Gesuche auf, und
wenn er freie Stunden habe, so lese er; so habe er Claurens sämtliche
Schriften durch studiert, weil der Mann heute unterschätzt werde, denn
keiner von den gelehrten Herren gebe sich die Mühe, ihn durchzulesen.

Über diesem Geschwätz befiel Hansen ein heftiger Widerwille und zugleich
eine sonderbare Angst, daß er sich von dem Manne losmachte und
weiterging; und es war nun das erstemal, daß ihn die Angst befiel, die
ihn von dieser Zeit an immer begleiten sollte. Sie war ganz unbestimmt
und richtete sich auf nichts nach vorwärts noch nach rückwärts, aber ihm
war, als begehe er ein großes Verbrechen. Jetzt schien ihm das Gefühl
noch sonderbar, und er suchte nach Gründen oder Ursachen; und wie er in
seinem Verstande nichts fand zur Erklärung, so wurde sie immer heftiger,
daß er am Ende Furcht hatte vor dem Alleinsein und nicht nach Hause
gehen mochte. In solcher Verfassung traf er einen jungen Dichter namens
Krechting, den er vorher in der Gesellschaft gesehen; den begrüßte er
und folgte ihm in ein Café. Krechting war ein kleiner und verwachsener
Mensch, der schweigend mit langen und dünnen Beinen rüstig ausschritt,
bis sie an ihren Ort kamen. Da setzten sie sich, und Krechting blickte
finster vor sich hin; ganz unvermittelt fragte er dann Hansen, ob er bei
den Russen gewesen sei, und wie der bejahte, pfiff er leise und
trommelte mit den Fingern auf dem Marmortischchen. In dem hellen Raum
saßen viele verlorene Mädchen, die sich geschminkt und geputzt hatten,
und deren Augen glänzten; einige suchten die Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen, viele aber waren müde und ausdruckslos. Hans hatte den Drang,
von sich zu erzählen und hätte mögen über seine Angst klagen, wenn der
andre ihn nicht so kalt und zerstreut angesehen hätte, daß er nicht
sprechen konnte. Auf der Schule hatte er den Namen Krechtings gelesen
und eine undeutliche Kunde von ihm war zu seinen Ohren gedrungen, daß er
eine große Achtung vor ihm gehabt; aber dieser Mensch hier entsprach gar
nicht seiner Vorstellung. So stieg seine Angst und Unruhe, bis er aus
Verlegenheit eine gleichgültige Erzählung begann, der Krechting eben mit
so viel Aufmerksamkeit zuhörte, indem er flüchtig eine Zeitung überflog,
daß Hans nicht verstummte; einmal machte er eine bissige Bemerkung über
einen Schriftsteller, dessen Namen in dem Blatt erwähnt war, dann legte
er es weg und sah trübsinnig vor sich hin. Endlich begann auch er zu
reden und sprach abgerissen und fast für sich selbst, daß er nun zehn
Jahre so lebe, indem er die Nächte durch irgendwelches Geschwätz anhöre,
dann an solch ekelhaften Ort gehe wie hier, und in der Frühe komme er
nach Hause; den Tag verbringe er mit sinnlosem Tun, und er wisse gar
nicht, wozu das alles sei. Unterdessen seien alle seine Freunde zu Ruhm
und Reichtum gestiegen, um ihn aber bekümmere sich kein Mensch. Deshalb
habe er sich immer gewünscht, wenigstens einen Hund möchte er halten,
damit ihn doch ein lebendes Wesen erwarte bei seiner Heimkunft, indessen
seine Wirtsleute hätten ihm das nicht zugegeben. So habe er sich denn
ein Glas mit zwei Goldfischen gekauft, aber die seien ihm langweilig.
Hans fühlte, wie aus dem andern ein Haß gegen ihn strömte, und in ihm
erhob sich ein Widerwille, wie vorher gegen den Menschen auf der Straße.
Indessen erklärte Krechting sein Wesen, daß er einen Jugendfreund
gehabt, mit dem habe er alle Gedanken geteilt, und seit der tot sei,
bleibe für ihn die Welt leer und kalt, denn er brauche einen Menschen,
von dem er zehren könne, und für sich allein sei er nur ein Schemen.
Hans solle das nicht für Eitelkeit halten, wenn er ihm solche
Geständnisse mache, denn ihm sei es gleich, daß er gerade zuhöre, nur
habe er ein Bedürfnis, zu irgendeinem Menschen zu sprechen.

Ein Mädchen setzte sich an den Tisch der beiden, indem sie ihnen den
Rücken drehte, und es fiel Hansen auf, wie durch die dünne Seidenbluse
sich die Bewegungen ihrer Schulterblätter bemerkbar machten bei den
Gesten, durch die sie einen Eindruck in einem verschlafenen jungen
Menschen erwecken wollte, der in ihrer Nähe saß. Krechtings Augen waren
wunderlich trübe geworden, wie er sie auf den Rücken des Mädchens
geheftet hielt; und indem sein Gesicht eine große Anstrengung des
Überlegens aufwies, fuhr er fort, daß er den Russen beneide, trotzdem
der ein unreinlicher Mensch sei, ein Stück Heiliger, ein Stück Narr und
ein Stück Schuft; aber dem sei es doch möglich geworden, sich die
letzten Zwecke zu verschleiern durch seine sozialistischen Banalitäten,
und dadurch sei der glücklich; er jedoch, Krechting, könne sich nicht
blind machen, denn er wisse, daß es ein Ziel geben müsse jenseits des
banalen Glückes für sich selbst oder für andre; aber er vermöge nicht zu
erkunden, welcher Art und Natur dieses Ziel sei, denn er sei kein
vollständiger Mensch und ihm fehle irgend etwas, das sein Jugendfreund
gehabt, und den habe er verzehren müssen. Indem fühlte das Mädchen die
Augen Krechtings im Rücken, drehte sich um und lächelte den beiden zu.
Über Hansen kam ein Schauer als vor etwas Grausigem und
Gespensterhaftem; eilig stand er auf, entschuldigte sich verwirrt und
ging fort, denn es war ihm plötzlich gewesen, als sehe er zwei leblose
Masken und als sei Vernichtung und Nichtsein hinter dem gedankenlosen
Lächeln der Dirne und hinter den trüben Augen und den gespannten Zügen
Krechtings.

Lange irrte er noch durch die Straßen, die bereits wieder lebendig
wurden durch die Menschen, welche in der Frühe ihre Geschäfte betreiben
müssen, bis er endlich todmüde war, und seine Gedanken waren gänzlich
verschwunden; so ging er nach Hause und legte sich zu unruhigem Schlaf.
Aus dem erweckte ihn am andern Morgen Heller, der unerwartet zu ihm kam;
und indem er auch im Schlummer noch unter dem Eindruck des Abends
gestanden, fuhr er erschreckt in die Höhe durch den Anruf des Besuchers.

Heller begann damit, daß man vor wichtigen Entscheidungen des Lebens das
Bedürfnis habe, sich einem Freunde mitzuteilen, weniger, um dessen Rat
einzuholen, denn ein jeder tue ja doch, was er schon vorher gewollt
habe, als um selbst zur Klarheit des Willens zu kommen durch die
Aussprache. Nach dieser Einleitung erzählte er, daß Helene, die er
gestern zum ersten Male gesehen, einen sehr starken Eindruck auf ihn
gemacht habe, vornehmlich durch eine gewisse Kühnheit und Überlegenheit
des Willens, die er in ihren Zügen bemerkt, wozu dann noch der Gedanke
gekommen sei, daß sie sich dieselben Gedanken errungen habe, die er
selbst vertrete und voraussichtlich, denn ganz sicher könne man ja nie
wissen, ob man seine Meinungen nicht ändern werde mit den älter
werdenden Jahren, auch immer vertreten werde; und sei sein Geist so sehr
mit diesem allen beschäftigt gewesen, daß er wohl gemerkt, dieses seien
die Anfänge der Liebe. Nun halte er es für eine große Verschwendung von
Kraft, wenn sich jemand einem solchen Gefühl hingebe, das durch die Zeit
und die Hoffnung immer stärker werde, und dann vielleicht am Ende
erfahre, daß die geliebte Dame seine Gefühle gar nicht erwidern könne
oder möge; denn nicht nur die Zeit, die in der Hoffnung verbracht, sei
alsdann für eine andere Tätigkeit verloren, die vielleicht mehr beglückt
hätte, und wir sollten doch immer in unserm Leben das größte Glück zu
erringen suchen, das uns möglich sei, ohne unsern Mitmenschen zu
schädigen; sondern auch nachher, wenn er die Enttäuschung gehabt, komme
eine verlorene Zeit, die je nach der Persönlichkeit des Betreffenden
länger oder kürzer sei, in der einer sich nicht glücklich fühle und für
alles andre unzugänglich bleibe. Aus diesen Gründen habe er sich
entschlossen, schon jetzt dem Fräulein seine Gefühle zu entdecken,
obgleich dieselben noch gar nicht bis zur Liebe gediehen seien, sondern
nur die Möglichkeit böten, daß sich aus ihnen Liebe entwickle, welches
er ihr genau und psychologisch auseinandersetzen werde, und sie dann nur
fragen, ob sie meine, daß unter Umständen, wenn nämlich er sich so
entwickle wie er denke, auch sie sich so entwickeln werde, daß sie seine
Liebe erwidern könne; über das sie ihm ja wohl keine ganz sichere
Antwort geben werde, denn durchaus Gewisses vermöge in psychologischen
Dingen kein Mensch zu sagen; aber einen ungefähren Anhalt könne sie ihm
wohl bieten. Sollte alsdann die Antwort so ausfallen, wie er annehme, so
wolle er ihr vorschlagen, daß sie öfters zusammenkämen, vielleicht eine
Stunde täglich, und in dieser Zeit wollten sie über Literatur,
Psychologie oder Sozialismus sprechen, wobei sie sich dann genauer
kennen lernen würden, und so werde sich ihre Liebe nicht in
phantastischer Weise entwickeln, sondern in genauem Zusammenhang mit der
Wirklichkeit und den beiderseitigen psychologischen Tatsachen.

Dieser Plan erschien Hansen sehr schön und würdig solcher neuen und
vollkommenen Menschen, wie Heller und Helene waren, deshalb lobte er ihn
sehr und wunderte sich viel im Innern über die Menschenkenntnis und
Klugheit seines Freundes. Da er aber durch seine häusliche Erziehung
gewöhnt war, immer an die notwendigen Unterlagen des Lebens zu denken,
so fragte er, wie der Freund sich nun seine Absichten weiter ausgedacht
habe, wenn alles so eintreffe, nämlich er zu Helene und Helene zu ihm
eine Zuneigung fasse.

Hierauf erwiderte Heller, daß allerdings an eine bürgerliche Ehe nicht
zu denken sei, indessen könnten sie beide als gleichberechtigte und
freie Menschen einen Vertrag abschließen, da sie ja ihre Gesinnungen
hätten, und er selbst verdiene durch Stunden, die er Gymnasiasten gebe,
so viel, daß er seinen eigenen Lebensunterhalt bestreite, und Helene
habe gleichfalls ihr Auskommen, da sie einen Beruf und eine Stellung
habe; indem sie aber zusammenlebten, würden sie in manchem noch
sparsamer wirtschaften wie jetzt jeder einzelne, wie sich ja im
kleinsten schon der Vorteil des Großbetriebes erweise; so würden sie zum
Beispiel das Mittagessen zwar wie vorher in einer Gastwirtschaft zu sich
nehmen, aber das Abendessen würden sie sich zu Hause bereiten, wobei sie
nicht nur mehr Glücksempfindungen in sich auslösen könnten, sondern auch
sehr viel sparen. Nach diesem fuhr er fort, was Hans in seiner Antwort
noch gar nicht beachtet habe, das sei, daß hier einmal eine der seltenen
Gelegenheiten gegeben werde, wo zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes
in durchaus sittlicher Weise zusammenleben könnten. Denn in der auf
Unterdrückung und Ausbeutung beruhenden bürgerlichen Ehe, wie wir
wissen, ist ein wirtschaftlicher Zwang da für die Frau, daß sie beim
Manne bleibt, auch wenn sie aufgehört hat, ihn zu lieben, denn sie würde
ohne Unterhalt sein, wenn sie von ihm ginge. Dagegen in dem vorliegenden
Falle halte nur die Liebe die beiden Gatten zusammen, und wenn bei dem
einen das Gefühl erlösche, das doch das Natürliche sei, weil alle unsere
Gefühle eine Kurve beschreiben bis zu einer Höhe und von da wieder bis
zum Nullpunkt, so könne dieser dem andern ruhig seinen Zustand
enthüllen, und die Trennung des Verhältnisses, das alsdann ja unsittlich
sein werde, sei sehr leicht.

Nachdem Heller sich durch seine Erzählung und Darlegung Klarheit über
seine Absichten verschafft, machte er sich gleich ans Werk, seinen Plan
durchzusetzen, ging zu der Speisewirtschaft, wo Helene in ihrer
Mittagspause ihr Essen einnahm, und traf sie dort allein an einem Tische
sitzend. Es war eine Wirtschaft, wo man für billiges Geld ißt, und die
Tischtücher hatten viele Flecken, und ein häßlicher Geruch war in der
Luft, und eilfertige Kellner liefen hin und her, indem sie ein großes
Klappern mit den Tellern machten.

Wie Heller seine Rede ungefähr in der Art vortrug, mit der er zu Hansen
gesprochen hatte, wurde Helene ziemlich verlegen, denn in Wirklichkeit
wußte sie gar nichts von den Ansichten, die er bei ihr voraussetzte, und
hatte nur öfters über manche Reden ihres Bruders lustig gelacht, der
jetzt im Gefängnis war, denn sie hielt den für etwas töricht. Nun
verstand sie zwar nicht alles von dem, was Heller ihr erklärte, und
wußte auch nicht recht, welche Absichten er ihr ausdrücken wollte, weil
sie aber sich nie andres gedacht hatte, als daß sie einmal nach ihres
Kreises Sitte heiraten werde, etwa einen elegant gekleideten
Geschäftsreisenden, der ihr jeden Sonntagvormittag einen Blumenstrauß
schickte, solange sie mit ihm verlobt war, so fand sie doch aus der
Verwirrung heraus, daß Heller sich mit ihr verloben wolle, aber das
solle noch eine Weile geheim bleiben. Deshalb sagte sie unter häufigem
Stocken ihrer Rede, sie könne ihm auf seinen Antrag nicht recht
antworten und wolle sich das überlegen, was er gesagt habe; denn da er
ein Student war und ihr feiner erschien wie ein Kaufmann, so hatte sie
wohl eine gewisse Zuneigung zu ihm. Auf diese Worte erwiderte Heller,
daß er keinen andern Bescheid gehofft habe, und sehr zufrieden mit
diesem sei; nur bitte er sie alsdann, daß er sie nun täglich zu einer
bestimmten Stunde besuchen dürfe. Auf dieses antwortete Helene, daß ihr
Bruder, mit dem sie zusammenlebte, augenblicklich nicht auf einer
Geschäftsreise war, und sie verbrächten die Abende immer zusammen in
ihrer Stube, und wenn es ihm recht sei, so würden sie beide sich sehr
freuen, wenn er sie da besuche; sobald ihr Bruder aber reise, was in
etwa zwei Wochen geschehe, weil da die Saison für den Einkauf der
Schweineborsten anfange, so dürfe er nicht mehr kommen, weil sie alsdann
allein bleibe, und die Leute würden ihr Übles nachreden, wenn sie ohne
Beschützer seinen Besuch empfinge, obwohl er ja ein gebildeter Mann sei.
Zwar schien diese Rede Heller nicht ganz das zu sein, was er gemeint
hatte, trotzdem aber war er voller Freude und Hoffnung, verabschiedete
sich von ihr mit Liebe und erwartete mit Zuversicht den Abend.
Unterdessen besuchte Hans den Bruder Helenens, der Kurt hieß, und tat
das nicht aus einer besonderen Zuneigung, sondern aus Bescheidenheit,
weil er gern die andern näher kennen wollte und doch nicht wagte, an sie
heranzutreten, mit Kurt aber hatte er an dem Abend manches besprochen.
Er traf ihn im Geschäft in einem kleinen Stübchen, wo er einem
Arbeitsgenossen gegenüber an einem Schreibpult stand und an
Geschäftsbriefen schrieb. Im Zimmer war nur noch der Telephonkasten und
ein großer Geldschrank, in dessen offener Tür steckte der Schlüssel, und
an dem Bund hingen noch andre Schlüssel. Es war die Zeit der
Mittagspause, und wie Kurt Hansen begrüßte, richtete sich auch der andre
Herr von seiner Arbeit auf, schloß den Geldschrank ab und steckte die
Schlüssel in die Tasche und bereitete sich zum Essen. Kurt sagte ihm, er
werde noch einmal ein Unglück erleben, wenn er die sämtlichen
Geschäftsschlüssel, von der Haustür angefangen bis zum Geldschrank, so
leichtsinnig behandle. Inzwischen machte auch er sich straßenfertig und
wanderte mit Hans zu der Wirtschaft, wo die beiden zusammen Mittag essen
wollten. Wiewohl Hans zu Kurt keinerlei geistige Verwandtschaft spürte,
wurde er in der Folge doch weiter mit ihm bekannt, und weil seine
Wohnung nicht weitab vom Geschäft des andern lag, so machte es sich wie
von selbst, daß er ihn öfters zum Mittagessen abholte, bei dem sie dann
über allerhand gleichgültige Dinge mit einer gewissen Behaglichkeit
redeten. Auch den Besitzer des Geschäftes lernte Hans kennen, der ein
recht wunderlicher und altväterischer Mann jüdischer Abkunft war,
welcher zu Hause unterdrückt wurde durch seine Frau; die hatte allerhand
Bildungsinteressen und ließ ein verstiegenes Wesen schauen. Diese traf
Hansen einmal im Geschäft, redete ihn an, und nachdem sie schnell
allerhand aus ihm herausgefragt, lud sie ihn zu sich ein, weil er ihren
Kindern Freude machen werde. Sie hatte eine hohe Haarfrisur und rauschte
stattlich mit einem schwarzseidenen Kleide in dem engen Raume.
Unterdessen nahm Hellers Liebschaft ihren weiteren Verlauf. Er war mit
Zolas Buch über den Experimentalroman angekommen und hatte den
Geschwistern vorgelesen und erklärt, was für Kurt zwar recht langweilig
war, aber Helene faßte eine stärkere Zuneigung zu ihm, wiewohl auch sie
nur wenig von dem begriff, was er vortrug; und da einem Verliebten
solche Zuneigung nicht verborgen bleiben kann, so kamen die beiden bald
zu einer Aussprache, wobei Helene jedoch immer noch in ihrem Irrtum
verharrte, daß es sich bei Heller um regelmäßige und bürgerliche
Absichten handle. Unter solchen Umständen, und da ihr schien, als wolle
Heller aus Zartgefühl nicht mit ihren Eltern reden wegen der
Handlungsweise ihres Vaters, ging sie zu ihrer Mutter, um der ihr Herz
auszuschütten und ihren Rat einzuholen, und die, welche niemand aus dem
ganzen Kreise kannte und sich keine rechte Vorstellung von allem machen
konnte, teilte alles dem Vater mit. Dieser war zwar im Grunde
einverstanden mit Helenens Wahl, weil er dachte, daß ein Studierter,
wenn er erst angestellt sei, ein angesehenes Amt und sicheres Einkommen
habe; aber weil er über Hellers Studien und Aussichten nichts wußte, so
beschloß er, seine Zustimmung erst noch zurückzuhalten und vorerst den
Bewerber um alles zu fragen, was ihm nötig erschien.

Er kam deshalb am Sonntagvormittag im Besuchsanzug und mit dem Zylinder,
der von sehr alter Form war, in Hellers Wohnung und begann in
freundlicher Weise mit dem zu reden, indem er Helene lobte und erzählte,
daß er selbst immer sehr viel Sinn für Bildung gehabt habe und auch das
Konversationslexikon in Lieferungen beziehe, und für eine Ehe sei
natürlich das Wesentliche gegenseitige Liebe und Hochachtung, er aber
als Vater habe doch die Verpflichtung, außerdem noch einen Punkt zu
bedenken; und bei diesen Worten machte er die Gebärde des Geldzählens
und sah Heller erwartungsvoll an. Der war recht verlegen über das
Mißverständnis und schwieg, denn es fiel ihm nichts ein, was er hätte
sagen können. Der Alte schob sein Schweigen auf die natürliche
Schüchternheit eines jungen Mannes, der vor dem Vater seiner Braut
steht, wollte ihn zutraulich machen und sprach deshalb weiter, indem er
die Macht der Bildung rühmte und die Neuzeit lobte, welche die Bildung
auch dem Volke zugänglich mache, wodurch Aberglaube und schlechte Sitten
ausgerottet würden. Wie er sich bei dieser Gelegenheit erkundigte,
welchem Studium sich Heller im besonderen zugewendet habe, fand der eine
Möglichkeit, aus seinem peinlichen Schweigen herauszukommen, indem er
ausführlich erklärte, daß er ursprünglich Theologe gewesen sei, aber
nachdem er sich aus seinen ersten Ansichten heraus entwickelt habe, so
verzichte er jetzt auf das theologische Studium und wolle zunächst seine
Persönlichkeit bilden dadurch, daß er die verschiedensten Dinge auf sich
wirken lasse. Hierüber wiegte der Alte den Kopf und hielt ihm entgegen,
daß doch die theologische Laufbahn sehr viele Vorteile biete, besonders
indem ein junger Mann in ihr rasch zu Brot komme, was eine sehr wichtige
Sache sei, zumal wenn einer daran denke, einen Hausstand zu gründen.
Hierauf sprach Heller wieder von seinen Überzeugungen, und der Vater im
schwarzen Rock wurde hingegen noch dringender mit den Anspielungen auf
die künftigen Erwerbsverhältnisse; da erschien es Heller plötzlich als
eine Rettung, wenn er diese als recht schlecht hinstellte, und so
erzählte er, daß er nicht gesonnen sei, einen bestimmten Beruf zu
ergreifen, sondern er gedenke vornehmlich für seine Ansichten zu wirken.

Nachdem der Streich mit der Übergabe der verbotenen Schriften so übel
abgelaufen war, hatte der Alte seine Sicherheit verloren, und deshalb,
wiewohl er aus allem verspürte, daß Hellers Absichten und Verhältnisse
ganz anderer Art waren, wie er gedacht, wurde er doch nicht ärgerlich,
wie ihm wohl sonst geschehen wäre, sondern er machte ein bekümmertes
Gesicht, seufzte, und gab Heller die Hand zum Abschied, indem er sagte,
die Welt sei heute anders wie früher, und ein Vater mit erwachsenen
Kindern habe viele Sorgen; er vertraue aber Heller, daß er nicht
schlecht an seiner Tochter handeln werde; darauf ging das alte Männchen
unter vielem Dienern aus der Tür.

Nach diesem Besuch dachte Heller in einer neuen Gesinnung über seine
Liebe nach und kam zu dem Schluß, daß bei dem Verhältnis doch auf beiden
Seiten ein Irrtum gewaltet habe, indem Helene eigentlich noch gänzlich
in den bürgerlichen Anschauungen befangen war und sich nicht, wie er
vorher gemeint, zu den modernen Ideen durchgerungen hatte, und ihn auch
nicht richtig verstanden hatte, und auch sie hatte sich etwas andres von
ihm gedacht. Dazu kamen psychologische Erwägungen, denn es war ihm nicht
entgangen, daß sie in ihrem Anzuge sehr ordentlich, aber recht einfach
war und keinerlei Reiz entfaltete, wo doch offenbar ein Mädchen, wenn es
liebt, den Wunsch hat, dem Mann auf jede mögliche Weise, namentlich aber
durch den Anzug, zu gefallen; deshalb, wenn sie in Wahrheit eine Neigung
für ihn hätte, so müßte sich ihr Gefühl irgendwie in kleinen Koketterien
der Haartracht, oder eines einfachen Schmuckes, oder einer gefälligen
Bluse, oder sonstwie äußern, aber weil nichts dergleichen geschehen, so
mußte er zu dem Schluß kommen, daß ihre Zuneigung zu ihm nur auf einem
Irrtum beruhte, der ja erklärlich war, daß sie unter ihren
eigentümlichen Umständen sich das einreden konnte, sie liebe ihn,
während sie vielleicht nur Achtung empfand.

Wie Heller sich das klar gemacht, beschloß er ohne Zögern so zu handeln,
wie es die Umstände forderten, denn für sie beide schien es ihm das
beste, wenn sie nunmehr, nachdem sie diese Einsicht gewonnen, in den
gewöhnlichen Zustand zurückkehrten, in dem sie sonst gelebt hätten;
deshalb schrieb er gleich in diesem Sinn an Helene einen Brief. Diese
aber war sehr traurig, als sie Hellers Meinung erfuhr, und weinte
heftig, denn sie dachte, daß sie durch irgend etwas seine Zuneigung
verscherzt habe, prüfte alle ihre Handlungen und fand endlich als
einzigen Grund, der möglich war, daß sie die Angelegenheit ihrer Mutter
erzählt, und daß vielleicht von ihrem Vater Schritte geschehen seien,
die ihn verletzt hatten. So ging sie zu ihren Eltern, um sich zu
erkundigen, und wie sie alles gehört, machte sie unter vielen Tränen
ihrem Vater heftige Vorwürfe und sagte, er habe gegen sie ebenso
gehandelt wie gegen ihren Bruder, und der alte Mann geriet in große Not
und versuchte sie mit allerhand Versprechungen und Liebkosungen zu
beruhigen, aber sie sagte immer, ihr Leben sei zerstört, und keinerlei
Trost wollte helfen. Es muß aber in solchen Fällen auf einen immer alle
Schuld geworfen werden, und so vereinigte sich bald die Mutter mit der
Tochter gegen den Vater, und am Ende kam Helene derart zu einer gewissen
Beruhigung, weil sie beides, Vorwürfe machen und Klagen auslassen
konnte. Wie Heller den üblen Erfolg seines Planes vernommen hatte,
geriet er in große Verlegenheit und beschloß, daß er Helene weiterhin
besuchen und scheinbar ganz in der früheren Weise mit ihr verkehren
wollte, dabei aber sollte sein Zweck sein, sie sowohl durch Gründe wie
durch Erregung von Stimmungen zu andern Gefühlen zu bringen, so daß sie
ihre gefaßte Liebe vergäße. Indem er nach diesem neuen Plan handelte,
geschah es indessen, daß die beiden als zwei junge und harmlose Leute
sich immer weiter in dem Netz der Liebe verstrickten; und wie es öfter
geschieht, so kam es auch hier dazu, daß der weibliche Teil schnell ein
Übergewicht erhielt, nachdem erst einmal eine gewisse Klarheit in den
Beziehungen eingetreten war, und da Helene als ein braves und
ordentliches Wesen keine Neigungen für Hellers neue Theorien aufwies, so
endeten die beiden zuletzt mit einer gewöhnlichen und bürgerlichen
Verlobung. Und dieses Ende machte zwar Heller manche Unruhe, denn er
vermochte nur schwer seine Gedanken auf solche unerwartete
Handlungsweise einzurichten, im Grunde aber hatte er doch ein großes
Glück durch diesen Ausgang, denn nun wurde seinem Bedenken und Reden ein
Schluß gemacht, und er mußte sich auf einen Broterwerb einrichten, was
für einen solchen Mann doch nötig ist, sonst wird er mit den Jahren
anstatt klüger, immer läppischer, und zuletzt gelangt er vielleicht
sogar zu Bösartigkeit.

Diese geschilderte Entwicklung von Hellers Liebe ging naturgemäß in
einem längeren Zeitraum vor sich, währenddessen unser Held Hans
verschiedenes kennen lernte, von dem er vieles noch nicht gewußt. Die
Berichte Hellers vom Fortgang seiner Geschichte hörte er zuletzt mit
Kopfschütteln an, denn wiewohl der andre älter war wie er, kamen ihm
doch jetzt Bedenken über ihn, und er schätzte ihn nicht mehr so sehr
hoch wie anfangs. Da sich eine solche Wandlung aus der größten
Hochachtung nicht verbergen läßt, so verspürte sie Heller wohl, und
indem er durch sie an einer Stelle getroffen wurde, wo er am leichtesten
verwundbar war, nämlich in der besonderen Achtung, die er vor sich
selbst hatte, so wurde er merklich kühler. Hans aber wurde inzwischen
durch die Zufälle solcher unbestimmten Situationen des Lebens, wie er
sich jetzt befand, zu einem weiteren Verkehr mit Krechting getrieben und
zu einer Bekanntschaft in der Familie von Kurts Herrn.

                   *       *       *       *       *

Über diesen Geschäftsmann und seine Frau ist nichts Wichtiges zu sagen,
denn sie sind ganz gleichgültige bürgerliche Personen gewesen. Der Mann
hatte sich von unten in die Höhe gearbeitet, und weil er nicht Zeit
gehabt, bei steigendem Wohlstand sich geistig weiterzuentwickeln, so
hatte er nun immer ein Gefühl der Scheu und Befangenheit in seinem neuen
gesellschaftlichen Leben; dazu hatte er seine alten Gewohnheiten zum
Teil beibehalten, die er als ganz armer Mensch gehabt, und hielt viel
von dem alten Aberglauben fest, der sich bei den Juden aus dem Osten
untrennbar mit ihrer Religion gemischt hat. Dergestalt trat er in seinem
Hause nicht hervor, denn die Frau, die er geheiratet, als er schon
wohlhabend war, mochte im Grunde wohl auch nicht mehr Bildung besitzen
wie er, hatte sich aber die äußeren Formen angeeignet und zeigte eine
verwirrte Freundschaft zu vielen unzusammenhängenden Dingen, mit denen
man sich in der gebildeten Gesellschaft beschäftigt, und leitete nach
diesen Wünschen das Haus.

Unter solchen Verhältnissen waren zwei gute und brave Kinder
aufgewachsen, ein Sohn und eine Tochter, und hatte der Sohn, der jetzt
ein junger Student war wie Hans, schon von Kindheit an eine sonderbare
Neigung für ganz entlegene Gelehrsamkeit gehabt und vermochte es
durchzusetzen bei dem bekümmerten Vater, der in seines Herzens Grunde
alle Leute, die nicht viel Geld verdienen, trotz vieler Mühe zum
Gegenteil für dumm halten mußte, daß er Vorlesungen über orientalische
Sprachen hören durfte; die Tochter aber, die vor Fremden Luise genannt
wurde, war ein fünfzehnjähriges Mädchen von früher Entwicklung, die eine
große Liebe für die Dichtung aufwies. Bei diesen Leuten war Krechting
sehr bekannt, und als Hans hier das erstemal einen Besuch machte, mit
großer Schüchternheit, und empfangen von einem erstickten Lachen der
lustigen Luise, da traf er den dort an.

Krechting war gleichfalls jüdischer Abkunft und mochte damals
achtundzwanzig Jahre zählen. Vor etwa zehn Jahren war er als Student
nach Berlin gekommen und hatte sich einer Gesellschaft gleichalteriger
Schriftsteller angeschlossen, in der er nach kurzem berühmt geworden als
ein Dichter von ganz besonderer Begabung, indem er auf eine neue und
unerhörte Art sah und darstellte. Dann hatte er ein Büchlein drucken
lassen, und weil dieses gerade in die Zeit kam, wo immer Neues sich
ablöste, und die Kunstrichter, einmal aus ihrer alten Ruhe geschreckt,
gegen sich mißtrauisch geworden waren und begannen, alles Neue und
Unerhörte ebenso hoch zu preisen, wie sie es bis vor kurzem verhöhnt
hatten, so fehlte es ihm nicht, und der verwachsene junge Mann wurde als
der Begründer einer besonderen Richtung gepriesen und als ein solcher
sogleich den übrigen jungen Größen der Dichtkunst beigezählt. Seit
dieser Zeit aber hatte er kein weiteres Buch geschrieben; und zwar
folgten ihm nun andere Neutöner und wurden neben ihn gestellt, aber sein
Name war befestigt und blieb, gerade durch sein Schweigen, indem die
Leute zwar mehr und mehr vergaßen, was er eigentlich damals gesagt
hatte. Dann sammelte von den jüngeren Kunstrichtern, die zu jener Zeit
den Ton angegeben, allmählich einer nach dem andern seine Aufsätze, und
in jeder solcher Sammlung war auch ein Aufsatz über ihn, darauf
erschienen zusammenhängende Bücher über die geistige Bewegung jener
Zeit, und in jedem hatte er eine besondere Stelle; und so bekam sein
Ruhm bereits eine gewisse geschichtliche Art, und war anzunehmen, daß
man auch weiterhin über ihn schreiben werde wie bis jetzt, und nach
langer Zeit, etwa einige fünfzig Jahre später, würde dann ein jüngerer
Gelehrter Quellenstudien über sein Leben machen, seine Briefe
herausgeben und auch sein alsdann sehr selten gewordenes Buch (denn nur
wenige Abzüge waren verkauft) neu drucken lassen.

Seine Eltern hatten ihn nach Berlin geschickt, damit er
Rechtswissenschaft studiere und dann Anwalt werde und als solcher einen
großen Namen bekomme und viel Geld verdiene, er aber hatte das
Berufsstudium bald aufgegeben und allerlei anderes getrieben, um seine
Persönlichkeit auszubilden. Da er von ärmlichem Herkommen war, so
blieben endlich die Zuschüsse von zu Hause aus, und indem er trotz
seiner Berühmtheit und seiner vielen und verschiedenen Kenntnisse und
Fähigkeiten doch nicht viel verdienen konnte, außer etwas Geringes durch
Musikstunden, so gelangte er zu der Meinung über sein Schicksal, die er
mit der Redewendung ausdrückte, er sei unter den Frachtwagen gekommen.
Den meisten Menschen war es wunderbar, wie er sich zu ernähren
vermochte, indessen hatte er sich doch immer durchgeschlagen bis jetzt,
vornehmlich durch Bekanntschaft in wohlhabenden Kaufmannsfamilien, dann
durch Unterstützungen, die er sich so geschickt zu verschaffen wußte,
daß sie nicht kleinlicher Art waren und von vielen kamen, denn geringe
Summen, die er geliehen, zahlte er pünktlich zurück.

Unter solchen Umständen hatte er jene zehn Jahre verbracht, die in eine
wichtige Lebenszeit fielen, wo sich Wesentliches im Menschen bildet. Als
er noch Kind war, machte einmal auf ihn eine Stelle aus dem Talmud einen
besonderen Eindruck, wo geschrieben stand: Wer eine gerechte Handlung
tut, ist ein Geselle Gottes in der Weltschöpfung. Solange er an Gott
glaubte, hatte er diesen Gedanken als seinen Mittelpunkt, und
seinetwegen glaubte er später nicht mehr an Gott, denn solches Wort ist
ja nur ein mythischer Ausdruck der Gottlosigkeit, die aus dem Hochmut
kommt. Deshalb hatte er nachher überhaupt keinen Mittelpunkt mehr für
sein Selbst, und das einzige Feste in ihm war der Hochmut. Seiner Eltern
schämte er sich bald, die ordentliche Leute waren nach ihres Volkes Art,
denn er schämte sich auch seines Volkes, ja er legte den Namen seiner
Eltern ab und nahm einen fremden an. Dabei fühlte er aber wohl, daß er
immer mit sich tragen mußte, was er hierdurch fliehen wollte, nämlich
das Erbteil der Schlechtesten unter ihm, den Sinn eines frechen
Knechtes. Dem hatte das Schmarotzerleben seine besondere Farbe gegeben,
indem es seine innere Verlogenheit so vergrößerte, daß er endlich selbst
bei ganz unmittelbaren Äußerungen seines Gefühls nicht mehr wußte, ob es
wahr sei. So kam es, daß er scheinbar unvereinbare Eigenschaften
vereinigt, nämlich Bosheit und Empfindsamkeit. Etwa, als er einmal nach
seiner Weise über sich selbst, seine Figur und seine Art bei diesen
bürgerlichen Leuten Späße gemacht hatte und sich umblickte mit unruhigen
Augen, um ganz die Wollust seiner Hanswurstdemütigung zu genießen, sah
er die kleine Luise mit unmutigen Tränen kämpfen zwischen den lachenden
und sich schüttelnden Menschen, denn einem edlen Herzen mag solche
Niedertracht als eine bittere Kränkung seiner selbst erscheinen; da
trieb ihn die Bosheit, sich immer mehr preiszugeben, und weil er
zufällig Schillers Schrift über die Schaubühne als sittliche
Erziehungsanstalt bei ihr gesehen, so zog er auch Gedanken aus dieser
Schrift mit in seine Gemeinheit; hier ging das Mädchen aus dem Zimmer,
mit krummem Rücken, und als er diese Bewegung eines unschuldigen und
hochgesinnten Kindes sah, hörte plötzlich die Bosheit auf zu wirken, und
über ein jammervolles Bedauern mit sich selbst hinweg gelangte er in
eine empfindsame Stimmung, schlich dem weinenden Kinde nach, legte
seinen Arm um sie, die sich zornig sträubte, und weinte mit ihr.

Außer jenen Leuten, wo er Parasit war, hatte er zwei Arten von Freunden
und Bekannten. Die erste Klasse waren seine Altersgenossen, gleich ihm
Zerstörte oder Gescheiterte, Menschen mit Instinkten, die gegen sie
selbst gerichtet waren, die große Worte machten und an ihnen zweifelten,
ja sie selbst verlachten, wenn man sie nur fest ansah, Menschen mit
unruhigen Augen und Vogelprofilen, ungleichem Gang und verwirrtem
Sprechen, liederlich und schmutzig angezogen; und die meinten, sie seien
die Herren des geistigen Lebens, und über alle war in jenen
Aufsatzsammlungen und Geschichtswerken geschrieben, und untereinander
verachteten, haßten und verleumdeten sie sich. Die zweite Klasse bestand
aus ganz jungen Leuten, nämlich treuherzigen Studenten, reichen
Jünglingen und unruhigen Menschen von allerlei Begabung, die hochkommen
wollten, das heißt zu einer Stellung, wie die erste Klasse sie hatte.
Und diesen Männern entsprachen die Mädchen und Frauen des Kreises. Mit
unordentlichem Haar und schlecht sitzenden Blusen waren sie zwischen den
Männern und redeten mit denen ohne Scheu. Alle diese Menschen wähnten
frei zu sein, aber sie waren nur losgekettet von den Banden, in denen
die Gesellschaft die Schwachen hält, und hatten sich schnell härtere
Fesseln selbst geschaffen durch ihre leichtfertige und unbehütete erste
Jugend. Nach jenem Vorfall mit Luise geschah es, wie Krechting das
nächste Mal zu ihren Eltern kam, daß sie verwirrt war und gab ihm die
Hand nicht zur Begrüßung. Er rief: »Und Sie geben mir die Hand nicht?«
Sie sah ihn unwillig an und legte flüchtig ihre Hand in seine; die war
ganz kalt vor Aufregung. Da wurde er verlegen und begann sehr schnell zu
reden, vom Wetter und den vielen Leuten auf der Straße, und sie lachte
und lief aus der Tür, daß die Mutter tadelnd hinter ihr her rief und sie
entschuldigte. Als er allein mit ihr war, sprach er ganz anders, wie er
sich vorgenommen. Er wußte, daß sie eine schwärmerische Vorstellung von
ihm hatte als von einem reinen und edlen Dichter, und daß er für sie ein
Ideal war, wie sich junge Mädchen oft aus der Unschuld und Größe ihres
Herzens ein Bild schaffen, das sie einem beliebigen Mann vorhängen,
ihrem Lehrer, oder einem jungen Offizier, einem Schauspieler oder
ähnlichen. Mit spöttischem Hohn hatte er bei sich hierauf ein Gespräch
aufgebaut; aber wie sie nun jetzt schüchtern und demütig vor ihm saß,
fühlte er unerwartet Mitleiden mit sich selbst, und um das zu
unterdrücken, fing er gleich mit Reden an, die noch mehr gelogen waren
wie seine beabsichtigten Lügen und zugleich so ungeschickt in Beziehung
auf das Kindchen, daß dieses gar nichts zu antworten wußte und immer nur
dasaß mit gesenktem Köpfchen, und er fühlte dann einen Zwang, immer
weiterzureden, daß er immer läppischer wurde. Er sprach: »Sie müssen
mich sehr verachten, daß ich so über mich selbst spotte und auch über
Schiller, aber diese beiden Dichter verehre ich am höchsten, nämlich
mich und Schiller, und welchen Sinn hätten Götterbilder, wenn man sie
nicht von ihren Sockeln stürzte? Und haben Sie nicht schon bemerkt, daß
man ein eigenes Machtgefühl bekommt, wenn man sich selbst der Verachtung
preisgegeben hat und sieht die Gesichter der Höflichen ringsum, die
ihren Ausdruck zu Liebenswürdigkeit zwingen? Daß das Gefühl mehr wert
ist wie sein Gegenstand, wissen Sie am besten« -- hier spürte er
herzklopfend seine Schamlosigkeit wie die eines dritten -- »nämlich aus
der Liebe. Und ich will nicht Macht, ich will nicht Liebe, ich will nur
den flüchtigen Rausch einer Sekunde genießen, denn dieser enthält alles
Wertvolle aus ihnen; jeder Besitz ist Enttäuschung, deshalb lebe ich als
Chambregarnist nicht nur mit meinem physischen Menschen ...«

Luise war aufgestanden, schwer wurde ihr das Sprechen. »Sie sind so
unglücklich«, sagte sie schamhaft; er spürte plötzlich ihre Lippen auf
seiner Stirn wie einen kühlen Hauch; dann war sie unversehens aus dem
Zimmer. Da kam Scham über ihn, und er wußte nicht, daß er sich nach ihr
sehnte, so zerstört war er, daß er das nicht wußte. Hans wurde um eben
jene Zeit mit der Familie befreundet, als sich diese Dinge abspielten.
So erlebte er auch den weiteren Verlauf.

Zu Krechtings größerem Kreise gehörte ein junger Dichter, den wir hier
Peter nennen wollen; den hatte er schon vor langem mit der Familie
bekannt gemacht, und war der merkwürdigerweise der einzige von den
jungen Genies der Frau, zu welchem der Mann in eine Art von Beziehung
geriet, indem er nämlich gelegentlich kleine Scherze über ihn machte,
die der harmlos erwiderte, denn in so verschiedenen Welten lebten die
beiden, daß sie sich gar nicht kränken konnten.

Peter war gleichfalls vor etwa zehn Jahren nach Berlin gekommen, in
einer freilich unbekannten Absicht, und hatte eine Anzahl seltsam
ungeschickter und kindischer Gedichte mitgebracht, die recht töricht
schienen, wenn man sie für sich las, obschon zwar aus dem wirren und
gleichgültigen Zeug zuweilen einmal ein Wort, besonders ein Beiwort oder
ein Satz auffiel, der dem Leser ans Herz rühren mochte. Las er aber
selbst vor, so bekamen diese schülerhaften Reime ein ganz neues Leben,
denn seine guten und sanften Augen leuchteten, und sein Gesicht hatte
einen Schein von innen heraus, und die abgenutzten Worte und Wendungen
erhielten ein frühlingsmäßiges und feines Gefühl. Dann sagte jeder
lächelnd: »Er ist ein großes Kind«, aber alle wurden sonderbar froh,
glücklich und gut, als wenn seine bescheidene Seele mächtig geworden
wäre über sie, und lächelten auch über ihn und dachten: >Er ist doch ein
Dichter<; und das war mit einer Freude empfunden, wie gegenüber einem
kleinen Kinde geschieht.

Auch dieser Jüngling hatte in jenen früheren Zeiten sein Bändchen
herausgegeben; nur kein Kritiker beachtete es, weder in feindlicher noch
in freundlicher Gesinnung, und so schrieb niemand etwas über seine
Gedichte; aber alle jene scharfsinnigen und klugen Schriftsteller
liebten ihn und sagten: »Er ist doch ein Dichter«, oder sie sagten: »Er
ist ein großes Kind.« Und so lebte auch er zehn Jahre lang in einer
Weise, die sich keiner erklären konnte, denn niemand nahm und druckte
seine Arbeiten, und er borgte von niemand, außer etwa einmal eine
rührende Kleinigkeit, zehn oder zwanzig Pfennige. Es fand sich aber, daß
er Unterkunft hatte bei ganz armen Leuten, bei denen er als Student
gewohnt; die gönnten ihm ein Plätzchen umsonst, am Tage auf einem Stuhl
in der Werkstatt, denn der Mann war Schuhmacher, und des Nachts in der
Küche in einer alten eisernen Bettstatt, die am Tage zusammengeklappt
wurde; sein weniges Essen aber fand er bei Freunden, wenn er die zur
Abendbrotzeit besuchte, oder die Schuhmachersleute gaben ihm auch wohl
von ihrer Suppe ab. Weil der nun in seiner Armut unterstützt werden
sollte und ihm doch niemand ein Almosen bieten mochte, so war er von der
Frau angenommen, der Tochter und einigen ihrer Freundinnen Unterricht in
der Literatur zu erteilen, wodurch er dreißig Mark im Monat verdiente;
und weil er seit langen Jahren nicht so viel Geld gehabt hatte, so
schöpfte er jetzt neue Zuversicht und hatte neue Kraft zu schaffen,
sagte auch, wie wohl es einem Dichter tue, wenn er eine feste Einnahme
habe, die ihn vor der Not schütze und ihm auch erlaube, sich zuweilen
ein gutes Buch zu kaufen. Bei seinen Schülerinnen hätte er wohl einen
recht schweren Stand gehabt, denn die hatten bald gemerkt, daß er vieles
Sonderbare glaubte, was man ihm aufbinden mochte, und daß sein Urteil
und Wissen in der Literaturgeschichte recht wunderlich schien; aber er
merkte es gar nicht, wenn sie über ihn lachten, sondern lachte fröhlich
mit, sagte auch wohl, wie gut es tue, so zwischen Jugend zu leben und
ihre glückselige Heiterkeit in sein Herz aufzunehmen. Und bald
entwickelte sich etwas Merkwürdiges, daß seine Schülerinnen ganz
mütterliche Gefühle für ihn zu bekommen schienen, und er folgte ihnen
treulich, wenn sie ihm dieses oder jenes richteten oder anbefahlen für
seine Kleidung oder seine Lebensweise, und wurden die Mädchen dabei dann
ganz ernsthaft und umsichtig, und zuletzt kamen sie auf den Gedanken,
weil er doch ein so guter Mensch sei, wenn auch nicht ganz klug, so
müsse er heiraten, weil ein solcher wie er bei den gegenwärtigen Zeiten,
wo die Männer meistens selbstsüchtig und ungebildet seien, eine Frau
sehr glücklich machen werde durch die Bildung seines Herzens, und er
selbst müsse auch jemand haben, der für ihn sorge, aber sehr reich müsse
die Frau sein, da er ja niemals viel verdienen werde. Dabei stellte sich
denn heraus, daß ihn alle diese zwitschernden und lachenden Mädchen so
herzlich lieb hatten, daß ihn jede genommen hätte, wenn nur die Eltern
einverstanden gewesen wären: denn um seine eigene Einwilligung machten
sie sich keine Sorgen.

Am nachdenksamsten aber wurde durch ihn Luise und faßte eine besondere
Neigung zu ihm, und geschah das so, daß Peter einmal mit ihr allein war,
und da sie zu ihm Vertrauen hatte, so erzählte sie ihm, daß in ihrer
Familie etwas vorgefallen sei, wie ja öfter geschah durch den Gegensatz
der beiden Eltern, und daß man ihr nichts davon mitteile. Auf diese
Klage antwortete er, daß den Eltern doch viel Trost im Leben fehle, wenn
sie die Kinder an ihrem Kummer nicht teilnehmen lassen, und den guten
Kindern machen sie auch das Herz schwer, denn sie spüren doch von dem
Unheil, aber müssen dann ihre Lust am Helfen und Trösten in ihrer Brust
verschließen; das nahm sie ihm nun zwar übel, daß er sie für ein Kind
hielt; aber wie er dann fortfuhr, daß den Erwachsenen die Kinder gegeben
seien, damit sie besser und heiterer würden, und wie sie ihn fragte, ob
er selbst durch sie besser geworden sei, lachte er freundlich und
sprach: »Ja, ich habe Sie doch lieb«; da fiel sie ihm um den Hals und
küßte ihn, und dann lief sie schnell weg. Nach Wochen aber sagte sie
ihm, daß sie ihn geküßt habe, sei geschehen, weil er doch ein
erwachsener Mann sei und sie noch ganz jung, und er sei doch ihr Lehrer.

Peter teilte ihr auch mancherlei Pläne und Wünsche mit, so vor allem
seinen Gedanken, eine Zeitschrift zu begründen, die nur der reinen Kunst
und dem Schönen dienen solle und nicht abhängig sei von Rücksichten auf
Gewinn und Verdienst, und meinte, da er selbst jetzt doch für sich eine
passende Einnahme habe, die für seine Bedürfnisse genüge, so könne er
die Leitung dieser Zeitschrift ohne Belohnung übernehmen, und solche
Dichter, die wohlhabend seien, würden ihre Werke umsonst zum Abdruck
geben, und die ärmeren Dichter müßten sehr viel bezahlt bekommen. Dann
müßte sich ein Reicher finden (oder es gebe vielleicht auch mehrere
reiche Leute, die der Kunst helfen wollten, man kenne sie nur nicht, und
sie wüßten nicht wie, weil sie vielleicht in entlegenen Schlössern
wohnten, und es sei auch noch nicht eine solche Zeitschrift da), der
sehr viel Geld schenke; das müsse man dann natürlich recht sorgsam
verwalten, damit auch das gewollte Ziel erreicht werde und es nicht
Unwürdigen zugute komme. Wenn dann die Zeitschrift recht viele Leser
habe, dann könne man das Volk zur wahren Kunst erziehen, daß es sich
nicht mit den schlechten und dummen Büchern abspeisen lasse, die ihm
heute gegeben würden, sondern gute Kost wolle, und dadurch würden auch
wieder in Rückbeziehung die Dichter gehoben, denn die würden mehr Freude
an ihrem Schaffen haben, und manche gebe es, von denen er für seinen
Teil glaube, wennschon er keinen Namen nennen wolle, die gewiß Schöneres
und Edleres schaffen würden, wie sie jetzt täten, wenn sie sehen, daß es
seine Leser fände.

Durch solche gegenseitige Vertraulichkeit kamen sich die beiden immer
näher, und wie nun in den Kindern der Plan entstanden war, daß sie Peter
verheiraten wollten, so kam sie zu dem Entschluß, sie selbst wolle ihn
zum Manne nehmen, wenn sie zu ihrem Alter gekommen wäre, welche Gedanken
sie aber noch verschwieg aus Scham und Bedenken.

Es hatten aber die Eltern der jungen Mädchen am Ende gespürt, daß in den
Literaturstunden mancher Unfug getrieben wurde, und daß die Kinder
seltsame Ansichten und schlechte Kenntnisse erwarben. Hierdurch kam
zuletzt Zwistigkeit und Ärger mit dem Lehrer, und so wurden am Ende die
Stunden aufgekündigt, und Luise erhielt von ihrer Mutter noch außerdem
viele Vorwürfe über ihre besondere Vertraulichkeit mit dem Dichter, und
wurde häßlich über ihn gesprochen. Gegen solche Reden wehrte sie sich
zuerst und verteidigte ihn, aber endlich, wie sie spürte, daß sie durch
ihre Widerworte das Übel nur ärger machte, schwieg sie und ersann einen
Plan. So erwartete sie ihn auf der Straße, sprach ihn an und sagte ihm,
daß er wohl gemerkt haben werde, welche Wünsche sie habe, nämlich später
einmal seine Frau zu werden; aber jetzt sei ihr das Leben bei den Ihren
so unerträglich geworden, daß sie nicht mehr so lange zu Hause bleiben
wolle, bis sie sich ihnen, weil sie dann ganz erwachsen sei, offenbaren
könne, sondern sie wolle mit ihm von Hause fliehen. Sie würden aber
sicher schon einen Ort finden, wo gute Menschen sie aufnähmen, und sie
seien doch beide auch nicht hochmütig, sondern würden gern jede Arbeit
übernehmen, um sich ihr Brot zu verdienen. Peter erwiderte ihr, daß das
zwar sehr schwer sei, was sie vorhabe, aber wenn sie nicht mehr bei
ihren Eltern bleiben könne, welches er glaube, wenn er ihrer beider Art
betrachte, so wolle er ihr helfen und mit ihr entweichen, und denke er
aber, sie zu seiner alten Mutter zu bringen, die weit weg in Westfalen
lebe in einer kleinen Stadt und zwar recht arm sei, aber sie habe ihn
sehr lieb und mache ihm nie Vorwürfe, daß er in den Augen der Welt kein
großes Wesen geworden sei, wenn er ihr freilich auch immer erzählt habe,
daß er viel Geld verdiene, welches man als Schriftsteller ja könne,
indem mancher für einen kurzen Artikel, den er in einer Stunde schreibe,
hundert Mark oder noch mehr bekomme. Dieser Mutter solle sie dann
behilflich sein, weil sie nämlich außerdem, daß sie für Leute wasche,
einen kleinen Laden halte mit Schreibwaren für die Schulkinder, und so
könne sie ohne Sorge und in Liebe leben.

Wie das Mädchen einverstanden war, machten sie sich gleich auf den Weg
nach dem Bahnhof und kauften Fahrscheine, und da sie nicht genug Geld
hatten, konnten sie freilich nicht bis zum Ende fahren, aber Peter
tröstete sie und sprach, daß sie nur eine ganz kurze Strecke gehen
müßten, acht oder zehn Stunden, durch einen schönen Wald. Und so fuhren
sie nun, und am Ende stiegen sie aus, machten sich auf die Füße und
gingen; und wie sie zu dem Walde kamen und hochwipflige Bäume sie
empfingen, da faßten sie sich freundlich an die Hand und schritten
weiter fröhlichen Mutes wie zwei Kinder. Laub raschelte unter ihren
Füßen, und hoch über ihren Köpfen bogen die Zweige sich wölbend zur
Höhe, und durch grünes Laub leuchtete Sonnenschein, und Tropfen des
Lichtes fielen auf den Boden voll goldbraunen Laubes. Und allerhand
geheimnisvolle Märchenlaute waren da hinter den Bäumen, ein Klopfen und
Zirpen, und ein leises Huschen, und ein Knistern; eine blitzende Fliege
summte in einem schrägen Sonnenstrahl, und ein ganz großer Käfer flog
mit tiefem Gebrumm rund um einen Baumstamm. Der Dichter erzählte von den
Waldvögelchen, von den kleinen Meisen, die so klug schauen, und von den
Finken, vom Zeisig und Hänfling, und von den wunderlichen Spechten, und
das kleine Mädchen schmiegte sich an ihn, ängstlich und voll Liebe, und
das Herz tat sich ihr auf, denn sie hatte bis dahin den Wald noch nicht
gekannt, weil ihre Eltern immer mit der Eisenbahn an vornehme Orte
gefahren waren, bei denen es Bäume auf Rasenplätzen gab und sorgfältig
geharkte Wege.

Viele Stunden gingen die beiden, und sie wurde recht müde, denn sie war
solcher Wege nicht gewohnt, er aber schritt immer freudig und
zuversichtlich weiter, und deshalb mochte sie ihm nichts klagen, denn
von selbst merkte er nicht ihre Ermüdung; und so kamen sie am Ende vor
das kleine Städtchen, wo Peters Heimat war, und gingen durch das alte
Tor die große Straße hinunter, wo neugierige Gesichter hinter blitzenden
Fensterscheiben ihnen nachsahen, und in Nebengäßchen, und in einem ganz
versteckten Winkel da stand ein uraltes Häuschen, ganz schmal und
niedrig, unter einem blühenden Lindenbaum, und war die obere Hälfte der
Haustür geöffnet, und man konnte durch den dämmerigen Hausflur in ein
Gärtchen sehen, wo rote Rosen an hohen Stöcken blühten. Da traten sie
ein, und da kam Peters alte Mutter aus ihrem Stübchen, und trug ihre
alten mageren Arme nackt, und legte die Hand über die Augen, um die
Fremden zu betrachten, da umarmte sie schon ihr Sohn und küßte sie, und
in ihrem ehrlichen Gesicht ging die Freude auf.

Wie sie nun alle drei in dem heimlichen und sauberen Stübchen saßen, auf
dem schwarzledernen Kanapee unter den bunten Öldruckbildern, und Peter
erzählte seine Geschichte und Vorhaben, da schlug die alte Frau wohl
immer nur die Hände zusammen vor Verwunderung und wiegte den Kopf und
sah liebevoll das zarte Mädchen an; aber nicht einmal kam ihrem braven
Herzen der Gedanke, daß ihr großer Junge doch noch ein rechtes Kind sei,
denn sie hatte eine besondere Hochachtung vor ihm. Deshalb war sie mit
allem einverstanden, und jetzt lief sie nun eilfertig hinaus in die
Küche, einen kräftigen Kaffee zu bereiten auf die Anstrengungen der
Reise. Aber als die beiden jungen Leute allein waren, begann Luise
plötzlich heftig zu weinen, und wie er sie trösten wollte und
streichelte ihr die schwarzen Haare, da machte sie eine unwillige
Bewegung mit der Schulter, daß er ganz ratlos dastand. Bald blickte sie
wieder auf und sah in sein Gesicht, und da mußte sie plötzlich hell
auflachen, aber das Weinen war noch nicht ganz vorüber, und das Böckchen
stieß sie mitten im Lachen, und ihre Augen füllten sich wieder mit
Tränen. Indem kam die gute alte Mutter wieder in die Stube und trug auf
einem Präsentierbrett den Kaffee in einer sehr großen Kanne, und zwei
Tassen, denn sie selbst wollte nicht mittrinken, weil sie sich für zu
gering hielt, und eine rotlackierte Zuckerdose aus Blech stand bei der
Kanne; und wie sie die Weinende erblickte, fing auch sie an zu trösten
und empfahl den Kaffee, indem sie eine lange Geschichte begann, wie er
eine wunderbare Heilung einer Lahmen bewirkt hatte; da lugten durch die
Türspalte die beiden Mieterinnen, die sie in ihrem Häuschen hatte, das
waren zwei uralte Weiberchen, sauber und ordentlich und über die Maßen
neugierig. Wie die Mutter die beiden bemerkte, nötigte sie, daß sie
hereinkommen mußten; die entschuldigten sich vielmals, und standen
hintereinander, dann aber kamen sie in die Stube, indem sie sich die
blanken Hände an den reinlichen blauen Schürzen abwischten und neugierig
das Pärchen betrachteten. Aber bald wurden sie recht vertraut, prüften
mit den Händen den Stoff von Luisens Kleid und fragten nach dem Preis,
tranken vergnügt von dem schwachen Kaffee aus der großen Kanne, nachdem
sie zuerst vielmals abgelehnt, erzählten von ihren Krankheiten und
fragten, ob Luise auch die Kaiserin recht oft sehe. Peter war fröhlich
und unbefangen zwischen den drei gutherzigen alten Frauen, lachte viel
und erzählte so, daß die drei nicht aus dem Verwundern kamen; Luise aber
hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt, zog Peter auf die Seite und bat
ihn, daß er ein Telegramm an ihre Eltern schicke, das denen ihren Ort
anzeige, welches der sehr richtig fand, und tat sofort, was sie
begehrte.

So geschah es denn, daß am nächsten Tage die Eltern des Kindes kamen, in
großer Aufregung und Sorge; aber wie sie den frohmütigen und harmlosen
Dichter, die geschäftige und saubere alte Mutter und die braven andern
Weiberchen um ihre Tochter versammelt fanden, die lachend ihrem Vater an
den Hals flog, da vermochten sie nicht die empörten Reden an Peter zu
führen, die sie sich vorgenommen, sondern die Mutter machte nur ein
gekränktes und kaltes Gesicht, und der Vater brummte etwas, das nicht
deutlich wurde durch die Liebkosungen der lachenden Tochter, und
zuletzt, weil sie ganz ratlos waren, was das Ganze bedeutet habe, nahmen
sie das Mädchen mit sich in ihr Gasthaus und luden den Dichter zum
Mittagessen ein, das er ohne Schuldbewußtsein auch freundlich annahm.
Nach diesem Anfang fanden die Eltern bald, wie sie das ganze Begebnis
als einen Kinderstreich auffassen konnten, was die ihrem Wesen
angemessene Art einer Erklärung war, und so überwanden sie leicht ihren
Groll, und am Ende lachten sie mit ihrer Tochter zusammen, indem die
Fröhlichkeit des unbefangenen Kindergemütes auf sie überstrahlte.

Wie sie alle in dem Gasthause versammelt waren, sprach Luise, daß sie
gedacht habe, sie wolle später, wenn sie in ihre Jahre gekommen wäre,
den Dichter heiraten; aber nun sei ihr doch klar geworden, daß sie ihn
zwar immer noch so lieb habe wie früher, und vielleicht noch lieber,
aber seine Frau könne sie nicht werden. Das wolle sie ihm gesagt haben,
und weil sie sich noch nicht geküßt hätten bis jetzt, so wolle sie ihm
nun, zum Abschied von ihrem gemeinsamen Plane, einen Kuß geben; als sie
das gesprochen hatte, faßte sie sein Ohrläppchen, beugte seinen Kopf zu
sich nieder und küßte ihn auf die Lippen; dann lächelte sie, indes ihr
eine Träne in die Augen trat; und auch der Dichter lächelte. So endete
der beiden Liebesverhältnis.

                   *       *       *       *       *

Indem Hans immer weiter in die Gedanken hineinkam, die in dem Kreise der
Menschen um ihn herrschten, gelangte er bald zu dem Entschluß, daß er
sein Studium ändern müsse. Aber Scheu vor den Eltern und Furcht vor dem
Ungewissen hielten ihn eine Zeit in einem peinigenden Zustande, bis er
sich am Anfang des zweiten Semesters zu einer schnellen Tat entschloß;
denn durch Zufall war die Tür der Amtsstube in der Universität einmal
offen, wie er gerade vorbeiging: da trat er ein und erklärte, daß er
sich in eine andere Fakultät umschreiben lassen wolle, und wie ihn der
Beamte fragte, was er denn zu studieren gedenke, da sagte er ohne
Besinnen und ohne daß er vorher eine Absicht gehabt hatte, er wolle
Historiker werden. Dann belegte er seine neuen Vorlesungen, faßte sich
auch ein Herz und besuchte einen der Lehrer; der empfing ihn freundlich
und hatte bald Hansens Meinungen erkundet, denn er hatte selbst in
jungen Jahren freiheitlich gesinnte Ansichten gehabt, und wie damals
gerade die Revolutionszeiten gewesen waren, hatte er als junger
Gymnasiallehrer seinen Schülern lateinische Aufsätze aufgegeben über die
Vorzüge der Republik vor der Monarchie und darüber, daß die Verbrennung
der Leichen richtiger sei wie das Begraben. Wegen solcher Betätigung
seiner Gesinnungen hatte die Behörde ihn damals abgesetzt, aber später
wurde er an die Universität berufen. Dieser alte Mann bekam eine Freude
an Hans, und der gewann so einige geringe Aussichten für seine Zukunft.

Inzwischen war sein Jugendgenosse Karl gleichfalls nach Berlin gekommen
und zeigte sich als von gleichen Ansichten. So beschlossen die beiden,
eine nähere Bekanntschaft mit wirklichen Arbeitern zu machen, und da sie
keinen andern Weg wußten, so dachten sie eine Volksversammlung zu
besuchen, und gerieten in die Versammlung eines großen Fachvereins, in
der ein Vortrag über die materialistische Geschichtsauffassung gehalten
wurde; denn damals, wo das Sozialistengesetz noch bestand, hatten diese
Fachvereine in Wahrheit eine Art politischer Bedeutung, die zwar nicht
ausgedrückt war, aber sich doch mit Notwendigkeit von selbst aus den
Umständen ergab. Mit einer großen Furcht wie vor etwas Außerordentlichem
hielten sich die beiden bescheiden im Hintergrund, wo neben ihnen am
Tisch einige Arbeiter saßen, ein alter Mann und zwei junge Leute, die
sie zuerst mißtrauisch betrachteten, und endlich sagte der eine junge
Mann gerade heraus, sie seien doch keine Schuhmacher, es war nämlich der
Fachverein eine Verbindung der Schuhmacher, und sie sollten ihm ihre
Absichten sagen. Darauf erwiderte Hans, daß sie Studenten wären und gern
die Verhältnisse der Arbeiter kennen lernen wollten. Hierüber wurden die
Gesichter der andern freundlich und bewillkommten die beiden und zogen
sich noch weitere Arbeiter an ihren Tisch, die alle fröhlich und
liebenswürdig waren. Dabei stellte sich heraus, daß sie Hans und Karl
für zwei Spitzel gehalten, weil man an ihren Daumen gesehen, daß sie
keine Schuhe machten, und Hans trug Stiefel, die zu Hause von einem
schlichten Schuster genau in der Form gearbeitet waren wie die
Kommißstiefel, an denen die Geheimpolizisten erkannt wurden.

Hans war recht erstaunt über die braven und ordentlichen Gesichter der
Leute und über ihre sonntägliche Kleidung und fröhliche und ruhige Art.
Einen gewissen Ernst hatten sie wohl alle, aber der war mehr ehrbarer
und bürgerlicher Art, und sie zeigten nichts Düsteres oder Trauriges,
sondern schienen, als wenn sie alle zufriedener und glücklicher Hoffnung
lebten. Die meisten der Anwesenden waren jung, und man sagte Hansen, daß
die Älteren, weil sie verheiratet seien, gewöhnlich das Geld nicht
aufwenden könnten, welches das Gehen in die Versammlung koste, weil man
doch sein Glas Bier trinke, oder auch zwei, und seine Zigarre rauche.

Ganz vorn, auf einer Erhöhung, saßen an einem langen Tisch die
Vorstandsmitglieder und an einem Tischchen daneben ein Polizeioffizier
mit einem Schutzmann. Nach einiger Zeit eröffnete der Vorsitzende die
Versammlung, und es wurden einige Angelegenheiten des Vereins erledigt
in merkwürdig förmlicher und formelhafter Weise, indem der Vorsitzende
häufig erklärte, so oder so sei die parlamentarische Sitte: denn das
schien als besondere Hauptsache betrachtet zu werden, daß alles bis ins
kleinste parlamentarisch zuging. Bei einem Punkte fragte Hansen sein
Nachbar leise, indem er annahm, ein Student wisse diese wichtigen Dinge,
ob das so richtig sei. Man verspürte bei allen, daß sie einen freudigen
Wunsch nach Form und Regel hatten und nach Kräften eine Ordnung suchten,
um sich ihr zu unterwerfen. Dann stand der Vortragende auf, der über die
materialistische Geschichtsauffassung reden wollte. Der war ein älterer
Arbeiter, in dessen Gesicht sich eine merkwürdige geistige Anstrengung
zeigte, wie er redete, denn er holte mit schwerer Arbeit die Gedanken
herauf und drückte sie mit Mühe in Worten aus, und deshalb sprach er
sehr langsam und eindringlich; alle aber folgten ihm mit eigner großer
Anstrengung. Was er sagte, hatte eigentlich mit der Marxschen Theorie
wenig zu tun; es kam aber seine Herzenssehnsucht heraus und die
Herzenssehnsucht der Hunderte von Arbeitern, die ihm lauschten, denn er
meinte, die Arbeiter seien heute von der Bildung abgeschnitten und
müßten sich die Bildung erwerben, dann seien sie die Herren der Welt,
und jeder von diesen Männern dachte bei seinen Worten, daß er die
Bildung haben wolle, und malte sich ein Gedankenbild zukünftigen Lebens
der Menschheit, wo alles Leid verstummte, Haß, Neid und Unterdrückung
verschwand und die Menschen in gegenseitiger herzlicher Freundschaft
lebten und sich bildeten.

Wie der Vortrag beendet war und einige aus der Versammlung nacheinander
auf die Stufe traten und ihre beistimmende oder abweichende Meinung
sagten, sprachen Hans und Karl weiter mit den Männern, die an ihrem
Tische saßen. Der eine war erst vor kurzem aus dem Osten nach Berlin
gekommen, nachdem er zu Hause eine mehrjährige Gefängnisstrafe abgebüßt
hatte wegen Geheimbündelei. Der erzählte seinen Prozeß und stellte seine
Sache so dar, daß er mit seinen Freunden, die das Gesetz wohl kannten,
keinerlei Geheimbund gehabt, indem sie sich immer nur freundschaftlich
zu Ausflügen oder Zusammenkünften getroffen hatten. Dann fuhr er fort,
daß er zuerst der Meinung gewesen, er sei ungerecht verurteilt, nicht,
daß die Richter gegen ihn besonders etwas gehabt hätten, aber sie seien
durch ihre Klassenvorurteile verblendet; dann aber habe er sich die
Sache weiter bedacht und sich im Geiste auf den Standpunkt des Richters
gestellt, denn wenn einmal ein Gesetz sei, und wenn es auch ungerecht
ist, so müsse doch der Richter danach entscheiden, und da habe er sich
denn gesagt, daß er und seine Freunde eigentlich nur eine Umgehung des
Gesetzes begangen hätten, denn alles, was das Verbot des Geheimbundes
bezwecke, hätten sie doch getan und sich nur gehütet, die äußeren Formen
eines Vereins anzunehmen, und das habe der Richter wohl eingesehen, und
darum müsse er sich jetzt selber sagen, daß er gerecht verurteilt sei,
und wenn er selbst Richter gewesen wäre, so hätte er auch nicht anders
gekonnt.

Über diese Worte entstand eine Meinungsverschiedenheit, indem einige
sagten, wenn kein wirklicher Verein mit Satzungen und Vorsitzenden und
festen Versammlungen gewesen sei, so wären sie in unrechtmäßiger Weise
bestraft, und es könnten ja dann alle andern Menschen auch verurteilt
werden, weil doch jeder einen Kreis von Bekannten habe, die mit ihm
einer Gesinnung seien; die andern aber schlossen sich der Meinung des
Erzählers an, den sie Jordan nannten, und sagten, Recht müsse sein, und
wenn sie selbst erst die politische Macht errungen hätten, was wohl
schon in zehn oder zwanzig Jahren sein könne, so müßten die Gegner auch
den Gesetzen gehorchen, die sie selbst dann geben würden; zwar würden
diese freilich auf keine Unterdrückung ausgehen, und deshalb würden auch
die Gegner wohl willig sich ihnen fügen.

Sie fragten auch Jordan nach dem Aufenthalt in seinem Gefängnis, denn es
war eine Nachricht durch die Zeitungen gegangen, daß er und seine
Freunde sehr viel hatten erdulden müssen. Da streifte Jordan seine Ärmel
hoch, zog die Manschette ab und wies an seinem mageren Arm einen
geröteten Streifen um den Knöchel, denn man hatte ihnen Ketten angelegt;
aber wie die Zuhörer Ausrufe machten, erzählte er, daß das Tragen der
Ketten nicht so schlimm sei, wie man sich vorstelle, denn man habe ja
ohnehin nicht viel Bewegung; nur müsse man immer Vorkehrungen treffen,
daß die Haut nicht durch das Eisen gescheuert werde, denn solche Wunden
heilten sehr langsam und seien schmerzhafter wie manche gefährliche
Verletzung. Und wie einige darauf wieder über den Leiter der Gefängnisse
schalten, daß er sie unnützerweise mit diesen Ketten gequält habe,
entschuldigte er von neuem, indem er sagte, man habe sie erst nach einem
Fluchtversuch von zweien unter ihnen geschlossen, und wenn er selbst
auch die Ketten für ein sehr wenig wirksames Mittel gegen die Flucht
halte, so sei doch der Leiter der Anstalt andrer Meinung gewesen und
habe gedacht, daß er auf diese Art weitere Fluchtversuche unmöglich
mache. Der Erzähler schloß dann, indem er auseinandersetzte, ein jeder
Mensch stehe auf seinem Posten, den er ausfüllen müsse, und anders könne
er nicht, und er selbst glaube, daß unter den niederen Gefängnisbeamten
mancher sei, der ihre Meinungen teile, aber er müsse doch seine Pflicht
tun. Und deshalb kämpfen ja auch sie, er und die andern, nicht gegen die
Menschen, sondern gegen die Verhältnisse, und man müsse auch nicht
glauben, daß es in den höheren Ständen nur lauter rohe und gefühllose
Menschen gäbe, vielmehr lebe da mancher, der selbst in großer Bedrängnis
sei.

Dieser Jordan war ein langer und hagerer Mann, dem man in seinem
kummervollen Gesicht deutlich seine früheren Leiden ansah, und sprach
langsam und gemessen und mit einer kindlichen Wichtigkeit. Die Zuhörer
schienen alle recht ernst geworden; als aber ein neuer sich zwischen sie
setzte, wurden plötzlich alle heiter und begrüßten den lachend, denn
auch der hatte zwar erst vor kurzem das Gefängnis verlassen, wohin er
wegen einer Majestätsbeleidigung gekommen, aber sie fingen an, ihn zu
necken, und erzählten, er sei bis über beide Ohren verliebt in ein
Mädchen, die ganz außerordentlich zielbewußt war, denn so nannten sie
es, wenn jemand ihre Anschauungen teilte, und die habe ihm einmal
gesagt, sie könne ihn nicht lieben, weil er noch keine Opfer gebracht
habe und sei nicht ein einziges Mal verurteilt; das habe er sich so zu
Herzen genommen, daß er noch denselben Abend in einer Versammlung eine
Rede mit den heftigsten Majestätsbeleidigungen gehalten, für die man ihn
sofort arretiert habe. Über diese Geschichte lachten alle, und wie er
selbst den Erzähler zum Scherz mit dem Ellbogen stieß, entstand unter
Gelächter und Späßen ein allgemeines scherzhaftes Schieben und Stoßen um
den Tisch wie bei fröhlichen Jungen, daß der ernste Polizeileutnant
seinen gesträubten Bart von dem Papier, auf dem er fleißig die Reden
niederschrieb, nach der Richtung wendete und der Vorsitzende eine Glocke
erklingen ließ und zu parlamentarischer Ordnung mahnte.

Auf der Bühne stand gerade ein Redner, der seine abweichende Meinung von
den Gedanken des Vortragenden mühsam in recht unklaren Sätzen erklärte,
die doch von den Versammelten mit musterhafter Geduld und Ruhe angehört
wurden; seine Meinung aber war, daß die Arbeiter die Bildung schon
errungen hätten, weil sie »aufgeklärt« seien, aber es gäbe noch eine zu
große Menge von »unaufgeklärten« Arbeitern, und die seien der wahre
Feind, gegen den man kämpfen müsse. Zum Schluß trug er einen Vers vor,
der gegen den »Unverstand der Massen« gerichtet war und großen Beifall
erhielt.

Inzwischen erzählten die jungen Leute mit leiser Stimme wieder andere
Scherze. Auf einen gewissen Polizeibeamten, den sie den Spitzohrigen
nannten, hatten sie einen besonderen Ärger, und deshalb wurde ihm zum
Verdruß regelmäßig die neue Nummer des »Sozialdemokrat« in den
Briefkasten gesteckt, ohne daß er je den Täter ausfindig machen konnte;
der »Sozialdemokrat« war damals das anerkannte Blatt der Partei und
wurde in England gedruckt und heimlich nach Deutschland gebracht und
hier im stillen verbreitet, und besonders stolz waren die Leute darauf,
daß das Blatt immer mit der pünktlichsten Regelmäßigkeit in die Hände
der Leser kam. Über den Spitzohrigen erzählten sie noch andere
Geschichten; der hatte bei einer Haussuchung in einer gipsernen
Kaiserbüste wichtige Schriftstücke der Partei entdeckt, die der Besitzer
an ihrem Ort ganz sicher geglaubt; aber nach einigen Tagen, wie des
Kaisers Geburtstag war, hing bei ihm eines Morgens eine blutrote Fahne
aus dem Fenster statt der schwarz-weißen, und hier vermochte er den
Mann, der ihm diesen Streich gespielt, nicht aufzufinden. Mit besonderer
Freude erzählte diese und andre Geschichten der junge Mann, der mit
seiner zielbewußten Geliebten geneckt war und Weiland genannt wurde, und
seiner Lustigkeit merkte man wohl an, daß er nicht unbeteiligt war an
derartigen Späßen.

Während diesem hatte der Redner auf der Bühne eine unvorsichtige
Äußerung getan; über die erhob sich der Polizeileutnant, setzte seinen
Helm auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Da standen sofort
alle auf, und indem sie sich mit Ruhe zum Gehen bereiteten, stimmten sie
die Marseillaise an, der ein besonderer, für ihre Verhältnisse passender
Text untergelegt war.

Das machte auf Hans und Karl einen gewaltigen Eindruck, wie die mutigen,
leidenschaftlichen und jubelnden Töne dieses Liedes, von Hunderten
begeisterter Männer gesungen, in dem vorher so nüchternen Saale
ertönten, und es war, als wollten diese Leute jetzt alle gleich zum
Kampf eilen, und als müßten sie siegen, und die beiden Studenten waren
so hingerissen von der Wucht, daß sie sich gleich dem Haufen
angeschlossen hätten, wenn die zu einer Barrikade gezogen wären, denn es
war, als sei ihnen die eigene Überlegung geraubt und als folgten sie nur
dem gemeinsamen Impuls der Menge, so schritten sie im Takt mit den
andern, und ihre Herzen schlugen hoch, und nur ein Trieb war ihnen, nach
vorwärts zu gehen.

Indessen währte das wunderliche Gefühl nur wenige Augenblicke, denn auf
der Straße verstummte das Lied; vor der Tür standen zwei Reihen
Schutzmänner, zwischen denen alle hindurchgehen mußten. Eine Stimme
rief: »Laßt euch nicht provozieren«; daraufhin war es mit einem Male,
als sei jetzt alles harmlos, kleine Gruppen schwenkten nach
verschiedenen Richtungen ab, ein Schutzmann mahnte einmal zum
Weitergehen, und willig gingen alle weiter und zerteilten sich, es war
nicht anders, als seien alle von einem einfachen Vergnügen gekommen.
Ohne weitere Überlegung hatten sich die beiden Studenten den Leuten
angeschlossen, mit denen sie zusammengesessen und gingen, die einen
fragend und die andern erklärend, durch die Straßen, welche so
gleichgültig aussahen wie sonst, nur war es Hansens angestrengten
Nerven, als hallten ihre Schritte ganz besonders auf dem Pflaster. Nach
kurzem Bereden traten sie in eine Wirtschaft, in der die Arbeiter
bekannt waren, denn der Wirt begrüßte sie mit Vertraulichkeit; die
Vertraulichkeit von dem ungesunden und dicken Mann war Hansen
unangenehm.

Es stellte sich heraus, daß der ältere Arbeiter von den beiden Studenten
eine Belehrung haben wollte, denn er erzählte, daß er viel gelesen habe,
und besitze zu Hause eine Menge Bücher, deshalb habe er auch keine Frau
genommen, und ihn beschäftige vornehmlich eine Frage, die sei ihm aber
noch in keinem Buch beantwortet, wiewohl er keine Mühe gescheut, denn er
sei doch nur ein Arbeiter und besitze nicht die rechte Vorbildung;
nämlich, es werde gesagt, daß unsre Gedanken und auch das, was wir
wollen, durch die Verhältnisse bestimmt werde, in denen wir leben, und
daß also die Verhältnisse schuld sind an allem Übeln, das geschieht.
Wenn das richtig sei, dann könne man also dem Menschen, der Böses tut,
mit Recht keinen Vorwurf machen und dürfte ihn auch nicht strafen, und
auch dieser Schluß werde von vielen für richtig gehalten. Er aber meine,
das alles könne nicht so sein, denn dann verlohne es sich ja gar nicht,
daß man lebt, und er für sein Teil wolle lieber tot sein als leben, wenn
es so sei.

Der Mann, der zu Hans das sagte, mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und
war ein Schuhmacher, und seine Gestalt und Gesicht waren auch die eines
armen Schuhmachers, der vielleicht nach seines seßhaften Gewerbes Art
zuweilen wunderliche Gedanken hat. Aber diese Worte rührten Hans ans
Gewissen, denn plötzlich merkte er, daß er ein ganz andrer Mensch
geworden war wie früher, und daß er früher gedacht hatte, er wolle
lieber tot sein als so leben, wie der Mann schilderte, und daß er jetzt
so lebte. Und dazu wurde ihm klar, daß er jetzt viel log; denn der
fröhliche Weiland redete wohl die Wahrheit, und der ernsthafte Jordan
redete die Wahrheit, und dieser Mann; aber er selbst hatte sich in Lügen
gefangen und war dadurch in Gewissensangst geraten.

Er wußte aber nicht, was er antworten sollte; denn nicht nur gibt es ja
keine Antwort auf die Frage, sondern er selbst war auch so verwirrt, daß
er auch sonst nichts Rechtes zu sagen gewußt hätte. Deshalb sprach er
nur, daß das eine Sache des Glaubens sei; wenn einer glaube, daß er in
seinen Gedanken und Entschlüssen durch die Verhältnisse bestimmt werde,
so sei es so, und wenn er das nicht glaube, so sei es nicht so. Hiermit
war dem Mann nun wohl nicht sonderlich gedient; aber er merkte wohl, daß
Hans ihm nicht mehr zu sagen wußte, und deshalb forschte er nicht
weiter.

Jordan hatte mit Anstrengung zugehört. Jetzt sagte er, es sei richtig,
daß die Verhältnisse unser Denken und Wollen bestimmen; denn wenn wir
alle in der herrschenden Klasse geboren wären, so würden wir so denken
und handeln wie die, und die Arbeiter verurteilen, und doch wären wir im
übrigen genau solche Menschen wie jetzt. Hierüber versuchte Karl zu
bemerken, daß sie beide als Studenten doch der höheren Klasse
angehörten; es zeigte sich aber, daß die Arbeiter die beiden gar nicht
recht ernst nahmen, sondern sie mit einer liebenswürdigen Nachsicht
betrachteten, etwa wie ein alter Förster einen jungen Herrn mit auf den
Anstand genommen hat, und dieses Urteil ergab sich nicht aus den Worten,
die sehr zartfühlend waren, aber man merkte es doch in der Gesinnung.
Der alte Mann jedoch sagte zum Schluß, wenn die Gerechtigkeit nur ein
Rauch sei, so sei die ganze Welt sinnlos; damit erhob er sich zum Gehen
und war erregt wie einer, der einen heftigen Kampf für sein Liebstes
streitet und dabei doch das Gefühl hat, daß sein Kampf nutzlos ist.

                   *       *       *       *       *

Karl hatte sich mit Weiland angefreundet und mit dem verabredet, daß sie
gemeinsam am Sonntag einen Ausflug in einen Vorort machen wollten, der
berühmt war durch seine Tanzgelegenheiten, und Hans ließ sich bereden,
mitzugehen. Sie kamen in einen niedrigen und sehr großen Saal, der mit
Zigarrenqualm und Menschengeruch angefüllt war; ein Lärmen, Lachen und
Schwatzen stieg in die Höhe, auf einer Bühne saß eine kleine Kapelle,
und die Paare drängten sich durch die Menge zum Antreten. Nach vielem
Suchen fand Weiland seine Braut, die mit zwei andern Mädchen
zusammensaß, welche von verlegener Freude ergriffen wurden, wie sie die
drei sahen; aber die Lustigkeit Weilands und der leichte Sinn Karls
überwanden bald die Befangenheit der ersten Minuten, und nur Hans fügte
sich nicht so recht ein, wofür er auch der besonderen Aufmerksamkeit der
Mädchen teilhaftig wurde. Bald begann Weilands Braut mit Geläufigkeit zu
erzählen und redete mit Verachtung von ihren Eltern, deren Anschauungen
zurückgeblieben seien, denn ihr Vater war ein alter Achtundvierziger,
der immer noch auf dem Standpunkt der bürgerlichen Demokratie stehe, und
der habe ihr ein Sparkassenbuch angelegt und gehöre zur freireligiösen
Gemeinde. Ihr Wunsch wäre, daß sie mit Weiland in freier Liebe
zusammenleben wollte, aber ihr Vater verlangte, daß sie sich der
bürgerlichen Trauung unterzögen. Hans sprach am meisten mit der einen
Freundin, einem stillen und blassen Mädchen, das ein schwarzes und oben
geschlossenes Kleid trug und ihre Hände mit einem eigenen schwermütigen
Ausdruck lässig im Schoß liegen hatte. Die erzählte, daß sie Weißnäherin
war und für ein Geschäft arbeitete; sie konnte nicht tanzen, und ihre
Reden waren sonderbar müde und unfroh. Einmal antwortete sie auf eine
Bemerkung: »Ach, was hat man vom Leben, den ganzen Tag sitzt man vor der
Maschine, und wenn man heiratet, so hat man dazu bloß noch Sorgen und
Kummer.« Etwa achtzehn Jahre mochte sie alt sein. Auch klagte sie in
ihrer Art darüber, daß sie sich nun schon so lange gewünscht habe,
einmal einen feinen Herrn kennen zu lernen, und nun, da sie das
erreicht, sei sie in solcher Verfassung, daß sie ihn von sich
abschrecke. Über diese Reden bekam Hans bald ein peinliches Gefühl und
war ihm, als müßte er eine Schuld haben, und zugleich war er aber auch
gereizt gegen das Mädchen; die begann in klagender Weise weiter zu
erzählen von ihrem Leben und von ihren Verhältnissen; da zeigte es sich,
daß ihre Eltern sich ganz jung geheiratet hatten, weil ihr Vater in
Schlafstelle gewohnt bei den Eltern der Mutter, und daß sie von
Leichtsinn schnell in Sorge geraten waren und ihren Körper noch nicht
hatten entwickeln können, wie sie auch keine Ersparnisse gehabt hatten
für die Einrichtung des Hausstandes, und wie dann in schlechter und
lichtloser Wohnung viele schwächliche und freudlose Kinder gekommen
waren, die aufwuchsen in Bitterkeit und ohne Kraft, mit blassen Backen
und hinschmachtendem Leib. Über alle diese Umstände urteilte das Mädchen
mit wunderlicher Klarheit, und am Ende sprach sie, die armen Leute
hätten sehr unrecht, wenn sie immer mehr Freiheit haben wollten, denn
sie seien wie die Kinder, die von guten Menschen beaufsichtigt werden
müßten, damit sie sich nicht schädigten durch ihre eignen Torheiten, und
dieses Urteil hätten unter ihnen viele Frauen, aber die Männer
verhöhnten sie deswegen und sagten, sie seien nicht aufgeklärt.

Wie das Gespräch diese Wendung genommen hatte, verschwand ihnen beiden
die peinliche Stimmung, und es entstand bald eine gewisse Behaglichkeit
zwischen ihnen, indem sie auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens kamen
und das Mädchen eine ernsthafte Mütterlichkeit gegen Hansen entwickelte,
gegen ihren Willen, denn sie hatte sich die ganze Woche darauf gefreut
gehabt, ein leichtes und fröhliches Liebesband zu knüpfen mit einem
Studenten, den sie sich als einen besonders lustigen und ganz
außergewöhnlichen Menschen vorgestellt; aber nun erzählte sie, wie sie
und ihre Mitarbeiterinnen kochendes Wasser geliefert bekamen für ihren
Kaffee, und daß sie sich Geld gespart zu einem neuen Kleid, und wenn er
sich nicht schäme, mit ihr auszugehen, so wolle sie dieses Kleid tragen,
denn sie wisse bereits eine billige Gelegenheit für einen guten Stoff,
der ihr auch zu ihrem Gesicht und Figur stehe.

Inzwischen tanzten die andern, und die dünne Musik tönte durch das
Lärmen; Zigarrenrauch ringelte sich in die Höhe zu der allgemeinen Wolke
und Kellner drängten sich eilfertig und aufgeregt durch die Menge; wie
Hans sie nach schüchternem Bedenken zum Trinken aufforderte, nippte sie
zart an ihrem Glase und klagte dann, daß sie wenig vertragen könne.

Die andre Freundin war ein übermütiges, gesundes und rotbackiges Wesen,
deren Augen in Fröhlichkeit blitzten, die hatte solche Lust zum Tanzen,
daß sie nicht still sitzen mochte, wenn die Musik ertönte, und Karl, der
ein geschmeidiger und leichter Tänzer war, führte sie immer mit heiterer
Aufforderung in den Reigen. Bald fand sie heraus, wie sie Hansen und die
Freundin necken konnte, und Karl, der durch alles gleichfalls in frohe
Laune geraten war, stimmte mit ein; aber obschon beide eine gutherzige
Gesinnung dabei hatten, wußten sie doch nicht eine gewisse Taktlosigkeit
zu vermeiden, die durch das Dissonieren der Meinungen ja leicht in dem
lebendigeren Teil erzeugt wird, und so entstand ein nicht ganz
behagliches Gefühl bei allen, durch das besonders Hansen plötzlich die
schlechte Luft, der Menschengeruch und der unfeine Lärm häßlich
auffielen, so daß er stiller wurde und in sich versank.

Wenn Leute aus dem Volk recht gesund und in ihrer Art wohlgeordnet
leben, so haben sie einen zutraulichen Glauben an sich selbst und an
alles, was sie tun, der sie sehr glücklich macht. Von dieser
Beschaffenheit war Karls Freundin. Die diente bei einer vornehmen
Herrschaft und war recht tüchtig in ihrer Tätigkeit, und indem sie aus
diesem die Überzeugung herausnahm, daß alles, was sie tat, überhaupt
nicht besser getan werden könne, hatte sie in ruhiger Zuversicht bald
die Herrschaft über den kleinen Kreis gewonnen, daß selbst Weilands
Braut sich ihr unterordnete. Es war für Hansen recht unbehaglich, daß er
sich dieser an sich harmlosen Herrschaft nicht zu erwehren vermochte,
wenn er nicht eine Mißstimmung schaffen wollte; und so hatte er hier zum
ersten Male das Gefühl, daß doch eine Kluft zwischen den verschiedenen
Klassen der Gesellschaft ist, die nicht überbrückt werden kann, und wenn
jemand den Versuch dennoch machen will, so begeht er vielleicht eine
schlechte Handlung, denn er zerstört die Wurzel des Dranges nach
Höherem.

In der Folge stellte sich heraus, daß Karl bei dieser Zusammenkunft mit
dem Mädchen eine Liebschaft angeknüpft hatte, die man mit dem Berliner
Ausdruck als Verhältnis bezeichnet. Er bewegte sich in den seltsamsten
Vorstellungen, indem die modernen sozialistischen Ideale mit alten
romantischen Bildern vom Volk bei ihm zusammenschmolzen, und so erschien
ihm dieses Mädchen aus dem Volke mit ihrem Drange nach Freiheit und nach
ungestümem Glück zugleich als eine kräftige und ursprüngliche Natur und
als ein Erstling einer großen Zukunft. Es kamen die beiden aber zusammen
an Sonntagen, die das Mädchen frei hatte, und indem zu der Zeit der
Frühling begann, daß er die Menschen aus den kahlen und grauen Straßen
hinauslockte in helles Grün, fuhren sie aus der Stadt, bis sie an Orte
kamen, wo sie allein waren und sich auf heimlichen Wegen ergingen unter
Kiefern, welche die ersten hellgrünen Spitzen vorsteckten. Da sah sie
viele Dinge, die ihr früher nicht bekannt gewesen waren, weil sie vorher
die nicht beachtet, Vögel von allerlei Art und Frühlingsblumen und einen
reinen, klaren Himmel; und zuerst war sie einem gedankenlosen Drange
gefolgt, der sie nach Glück und Genuß trieb, wie sie aber ein Vögelchen
gesehen hatte, das einen Halm im Schnabel trug zu seinem Neste, und ein
Himmelschlüsselchen, das schüchtern sein Köpfchen beugte auf einer
großen Wiese, da verschwand ihr das laute Lachen, und ihre Augen wurden
ernster, und ihr war, als müsse Karl ein Halt sein für sie, und das
Leben schien ihr nicht mehr eitel Jubel wie vorher. Aber wie sie sich so
änderte, da begann Karl seine Seele vor ihr zu verschließen, denn auch
ihn hatte nicht Liebe zu ihr getrieben, sondern Leichtfertigkeit und
eine falsche Vorstellung, die er sich selbst geschaffen; aber bei ihm
wandelte sich der leichte Sinn nicht in Treue und Zuneigung. Das merkte
sie gar bald, und da seufzte sie heimlich und kehrte bei sich ein; aber
schon war ihre Liebe zu groß geworden, als daß sie hätte sich entfernen
können von ihm, und so hing sie ihm weiter an in bitterer Demütigung,
und ihr Kummer machte sie besser, wie sie gewesen, und ihr Gesicht
verlor zwar seine jugendliche Frische, aber es bekam edlere Züge, und
selbst ihre Bewegungen erhielten etwas Vornehmes, das ihren Bekannten
auffiel, daß sie es dem Einfluß Karls zuschoben. Dieser aber lebte in
Haltlosigkeit; schämte sich seiner selbst und war deshalb hart gegen
sie; denn schwache Menschen können es nicht leiden, daß sie geliebt
werden und müssen den Liebenden plagen. Unter solchen Umständen geschah
es, daß sie sich gesegneten Leibes fühlte; da erschrak sie heftig und
hatte zugleich eine heimliche Freude, und außerdem überkam sie, wie aus
einer Nacht, die Erinnerung an ihre Heimat und an ihre Eltern, und wie
sie sich schämen mußte zu Hause, wenn dort jemand etwas von ihr wüßte;
vor ihren Freundinnen in Berlin aber schämte sie sich nicht, auch hatte
sie keine Freude auf das Kind, wenn sie bei denen war. Wie Karl die
Neuigkeit erfuhr durch Weilands Braut und nicht durch sie selber, da
hatte auch er einen starken Schrecken, und indem sich verwirrte
Gewissensbedenken in ihm erhoben, die nicht auf klaren und verständigen
Gefühlen ruhten, sondern auf Unwahrheit, so beschloß er bei sich, daß er
sie heiraten wolle. Wie er ihr diesen Entschluß mitteilte, sprach sie zu
ihm: »Wenn du mir solche Worte gesagt hättest in unsrer ersten Zeit,
bevor ich dich wirklich lieb hatte, so wäre ich sehr stolz geworden
durch sie und hätte mich ohne weitere Gedanken gefreut, deine richtige
Frau zu werden. Nun aber weiß ich, daß es ein Gefühl gibt, das ich
damals nicht kannte, und das wahrscheinlich viele Menschen nicht kennen,
und vielleicht hätte ich unter andern Verhältnissen auch selbst bis zu
einem späten Tode nichts von diesem Gefühl erfahren; da ich es nun aber
kenne, so kann ich nicht mit dir zusammenleben, denn du kannst mich
nicht so ehren, wie es nötig wäre, weil ich geringer Herkunft bin und
mir nicht feine Art angewöhnen kann, auch nicht der rechten Bildung
fähig bin; was alles wohl jetzt in unserm Kreise und so lange wir jung
sind nicht so schlimm erscheint, aber mir viele schmerzliche Stunden
erzeugen würde, wenn ich erst älter bin und du in eine andre
Gesellschaft gelangt bist.« Wie sie das gesagt hatte, spürte Karl, daß
sie aus übergroßer Liebe ihm mehreres verschwieg, von dem sie gedacht
hatte, daß es ihn kränken könne, und es war ihm, als ob er sich recht
schämen müsse vor ihr. Damals zog zuerst Bitterkeit in sein Herz, denn
er sah plötzlich ein, daß er ein niedriger Mensch war, und er begann
sich selbst zu hassen und versuchte, ob er andre verachten könne; denn
solche Hölle entbrennt in unedlen Leuten, wenn ihnen durch die
Betrachtung Edler ihr Unwert klar wird; deshalb begann er lügnerische
Worte zu machen, die sie schmerzten und in ihm am Ende eine große Leere
schufen.

Wie nun ihre Zeit herannahte, mußte sie ihre gute Stelle aufgeben, und
indem sie unwillig abwehrte, daß er ihr in irgend etwas half, nahm sie
ihr erspartes Geld von der Sparkasse und zog zu einem alten Kunkelweibe,
das in solchen Fällen Mädchen Unterkunft gewährte; hier saß sie in einer
großen Hinterstube, die ein Fenster in der äußersten Ecke auf den Hof
hinaus hatte, und saß an dem Fenster im trüben Winterlicht und nähte
Windeln, Binden und Hemdchen für das Kind, das sie erwartete. Und daran
dachte sie, daß das ein kleines Wesen sein werde, das sie sich an die
Brust legen wollte, und alle andern Gedanken waren ihr versunken; nur
stellte sie es sich immer wieder mit Absicht recht klar vor, wie klein
das Kind sein werde, weil sie es sich sonst zu groß gedacht hätte, etwa
wie es auf einem Stühlchen sitzt und nach seinem Schüsselchen verlangt.
Mit Kraft und Anstrengung vergaß sie, daß sie es nicht bei sich behalten
konnte, sondern sie mußte nach ein paar Wochen wieder in Dienst gehen,
und das liebe Kind mußte bei der Frau bleiben; denn wenn sie daran
gedacht hätte, dann hätte sie immer weinen müssen; so aber konnte es ihr
vorkommen, als gehöre ihr diese Stube, und sie sei verheiratet, und am
Abend komme ihr junger Mann, und zuweilen bedachte sie bei sich, wie sie
die Möbel anders stellen wolle und alles recht reinlich halten. Aber
dann tat sich die Tür auf, und das alte Kunkelweib kam herein und
erzählte ihre Geschichten, wie sie sich mit den Leuten gezankt hatte. Da
mußte sie sehr an sich halten, daß sie nicht weinte; denn wenn Karl sie
besuchte, so war ihr das auch kein Trost, weil sie sah, daß er nur um
sich ängstlich war und an sie dachte er eigentlich gar nicht; ja es war
zuzeiten, als sei es ihm ein besonderes Opfer, welches er ihr brachte,
daß er sie besuchte.

Wie es oft geht, daß Verhältnisse, die eigentlich längst sinnlos
geworden sind, doch noch fortbestehen, weil keine äußere Gelegenheit
kommt, die sie zum Aufhören bringt, so geschah es auch hier. Denn
nachdem das Mädchen wieder eine neue Stellung erhalten hatte, schien es
äußerlich, als sei zwischen beiden alles wie vorher, da sie doch beide
mit Mühe und Verdruß ein drückendes Joch trugen, und Karl war oft heftig
und ungerecht gegen sie, und sie schwieg voller Sanftmut. Da bat sie
ihn, es war gerade am Jahrestag ihrer ersten Begegnung, daß sie wollten
wieder an jenen Ort hinausfahren, wo sie sich kennen gelernt. Sie kamen
an, und es schien äußerlich alles unverändert, denn wie im vorigen Jahre
war der große und niedrige Raum vollgedrängt mit Menschen, und spielte
auf der Erhöhung die geringe Kapelle, und es war fast, als schlage der
Lärm der Gespräche, des Klapperns, des Gehens und Kommens, des Tanzens
und der Musik im gleichen Zeitmaß an ihr Ohr, nur saßen sie jetzt allein
und ohne die Freunde.

Aber da wurde ihnen klar, wie sie selbst sich verändert hatten, denn sie
wurden von Widerwillen und heftiger Langeweile befallen, und wo im
vorigen Jahr ihnen die Hoffnung einen weiten Raum gezeigt hatte hinter
diesen tanzenden Paaren, da war es jetzt, als sei das alles hier nicht
räumlich, sondern geschehe in einer Fläche, und sie hätten fliehen
mögen, weil das Gewühl ihnen nahe kam. Mit einem erzwungenen Lächeln
führte Karl sie zum Tanze, aber ihre Hände lagen schlaff ineinander, und
sie beide dachten an den ersten plötzlichen Händedruck, den sie sich
damals beim Tanz gegeben, der sie beide elektrisch durchzuckt hatte.

Während diesem überlegte sie sich eine Absicht, führte ihn aus dem Saal
in den winterlichen Garten und sprach zu ihm: »Ich sehe ein, daß es für
uns beide am besten ist, wenn wir nun auseinandergehen. Wohl haben unsre
Eltern recht gehabt, daß sie uns warnten vor der Leichtfertigkeit und
sagten, gleich gesellt sich zu gleich. Ich habe geglaubt wie viele
heute, das Leben sei leichter geworden und die Alten seien altfränkisch,
und unter den Menschen herrsche mehr Gleichheit wie früher. Aber jetzt
verspüre ich, daß ich einem falschen Scheine gefolgt bin, denn in
Wahrheit ist das Leben schwerer geworden, weil ein jeder allein steht in
der Welt und keinen Menschen hat, noch Meinung, an die er sich halten
kann; und in Wahrheit ist eine tiefere Ungleichheit unter die Menschen
gekommen, wie sie früher war; denn als du versuchtest, wie du es
nanntest, mich zu bilden, da verspürte ich eine tiefe Kluft, die nicht
überbrückt werden kann; und wenn ich redlich sprechen soll, so muß ich
sagen, ich weiß nicht, welches mehr wert ist, deine Bildung oder das,
was ich für mich habe und auch behalten will. Und vielleicht ist das der
einzige Unterschied gegen früher, daß ich als ein Dienstbote solche
Gesinnungen habe und ausspreche. Aber wir wollen nicht in Haß und
Erbitterung voneinandergehen, denn wir haben doch einmal gedacht, wir
gehören zusammen, und ich wenigstens bin durch dich ein andrer Mensch
geworden. Und wie ich dir schon sonst sagte, will ich das Kind für mich
behalten und will mich seiner auch allein freuen, du aber sollst keine
Furcht haben durch uns beide. Und denke auch nicht, daß ich ein
trauriges Leben haben werde; denn ich will suchen, daß ich einen guten
und tüchtigen Mann bekomme, der für mich paßt, und will heiraten und ein
rechtschaffenes Leben führen.«

Nach diesen Worten geschah nur noch Unbedeutendes; und so trennten sich
am Ende die beiden, nachdem einer den andern sonderbar beeinflußt hatte
und dessen Leben in eine neue Bahn geleitet.

Bei Karl kam es in den folgenden Wochen, daß eine dichterische Begabung,
die sich bis dahin nicht hatte zu äußern vermögen, einen ihr
angemessenen Ausdruck fand. Freilich war seine Dichtung nicht ein Kind
der Kraft und Gesundheit und ein freiwilliges Überfließen, sondern wie
bei so vielen Menschen unsrer heutigen Zeit war sie ein Kind der
Schwäche, die hier dem Seelenunkundigen durch scheinbar scharfe
Wiedergabe der Natur gerade als Stärke zu erscheinen vermochte. Zu jener
Zeit kam aus dem Auslande der Einfluß gleichgestimmter Seelen, und weil
der leere Nachton früherer Kunst, der bei uns damals vornehmlich zu
hören war, die Ohren und Geister nicht gegen die fremden Klänge
einzunehmen vermochte, so geschah es, daß gerade die Dürftigen und
Schwächlichen zu einer besonderen Entfaltung kamen und ein seltsames
Gaukelspiel vortäuschen konnten. Karls Geschick wollte, daß er mit in
diese Bewegung geriet. Aber weil er ein schwacher Mensch war, so hatte
er nicht die Liebe zu den Dingen und Menschen, die ein Dichter haben
muß, der die Welt in sich aufnimmt in Heiterkeit und Ruhe und sie
vergoldet durch seine Freude, Hoffnung und Willen zum Guten und dann
wieder aus sich heraus stellt in einen Rahmen, damit die Menschen das
Bild anschauen mögen und glücklicher und besser werden, sondern er
beobachtete das einzelne und zerfaserte es und wollte aus den
untersuchten Stücken des Leichnams wieder lebendige Körper schaffen, und
zerfaserte sich selbst in Hochmut und Selbstverachtung und wollte neue
seelische Wahrheiten bilden aus diesen Quellen der Eitelkeit. Und dieses
alles bedeutete für die Geschichte seines Wesens einen weiteren Schritt
in die Auflösung. Wie aber eine Frucht, die sich aus der Blüte
entwickelt hat zum Fruchtansatz und allmählich gereift ist zum
rotbackigen Apfel und dann vom Baum gepflückt wird und aufgehoben im
dunkeln Raum, wie solcher Frucht alles weitere Geschehen als eine
weitere Entwicklung erscheinen muß, nicht nur, daß sie noch reift auf
dem Stroh und schmackhafter wird, sondern auch, daß sie endlich vom
Kernhause aus zu faulen beginnt und die Fäulnis sich immer mehr
ausdehnt, bis der ganze Apfel verfault ist und der Schimmel ihn bedeckt,
so muß auch solchem Menschen seine Auflösung als eine Weiterentwicklung
erscheinen, und er mag sich sogar als einen Erstling preisen der
künftigen Zeiten, wo eine neue Art Menschen leben wird, die ihm gleich
sind, da er doch nur ein fauler Apfel ist und nicht mehr wert, als daß
ihn die Hausfrau ausliest und wirft ihn auf den Mist.

                   *       *       *       *       *

Es ist schon früher berichtet, daß die Gräfin viele Jahre lang
bettlägerig gewesen ist. Welche Krankheit sie haben mochte, das konnten
die Ärzte nicht bestimmt sagen, denn es wechselten die Schmerzen und die
Stellen des Leidens und alle Anzeichen, und nur das war immer das
gleiche, daß sie nicht ihr Bett verlassen konnte.

Sie war eine harte Frau und hatte einen unruhigen Verstand, der zu allen
Dingen schweifte, und seit ihrer Krankheit vornehmlich aber zu den
verschiedenen Angelegenheiten des Haushaltes. Diesen wollte sie
beständig von ihrem Lager aus leiten, und die Dienstboten mußten ihr
alles genau berichten und erklären, und indem sie in ihrer Einsamkeit
nach diesen Antworten und Erzählungen sich ein vollständiges Bild von
allem machte, befahl sie ihnen genau alles bis in das geringste, was
getan werden sollte. Aber da die Dienstboten sich sehr häufig nicht an
ihre Befehle kehrten und nach ihrem Belieben wirtschafteten und ihr dann
später trügerischerweise Falsches berichteten, bildete sie sich doch
eine unrichtige Vorstellung von allem, was vorhanden war und was
geschah. Dann kam es, daß die Leute ihre früheren Lügen vergaßen und
nach dem wirklichen Stande erzählten, auch sonst sich Widersprüche
herausstellten zwischen ihrem Bilde, das sie sich gemacht, und den
wirklichen Zuständen. Hierüber geriet sie immer in großen Zorn, schalt
viel und klagte dann das Geschehene ihrem Mann, der sich hierdurch noch
mehr von ihr entfremdete, als ohnedies durch ihre Krankheit geschah. Wie
sie das verspürte, machte sie ihm Vorwürfe und trieb sich und ihn immer
weiter in den Unfrieden hinein.

Die beiden Söhne, die mit alten und in der Familie erblichen Namen Bolko
und Ivo genannt wurden, hatten sich inzwischen in der bereits früher
geschilderten Art entwickelt und waren von Hause fortgekommen als
Offiziere. Die ganze Zeit über verlangten sie von ihrem Vater immer sehr
viel Geld, der zwar für sich selbst leichtfertig und unbedacht war, für
seiner Söhne zielloses Leben aber doch einen klaren Blick hatte; auf
seine Ermahnungen freilich hörten sie nicht, sondern hielten ihm keck
sein eignes Beispiel vor; und indem er Furcht hatte, über seine
Verhältnisse selbst klar zu werden, vermochte er ihnen auf diesen
Einwurf nicht eindringlich zu antworten, denn sie lebten in der Meinung,
daß das elterliche Vermögen viel größer sei, als es in der Tat war. So
war er dahin gelangt, daß er schon Geld auf Wechsel genommen hatte, und
war in die Hände der Wucherer geraten; nun befiel ihn zuzeiten eine
heftige Angst und sinnlose Reue; und während solche Stimmungen früher
von selbst wieder verschwunden waren durch die Wirkung seines leichten
Gemütes, kostete es ihn jetzt Anstrengung, sich von ihnen frei zu
halten. Die Frau durfte von allen diesen Sorgen nichts erfahren, und
wenn sie in ihrer Unwissenheit oft Verfügungen traf, die ihm in seinem
Mangel schwierig wurden, so mußte er allerhand Ausflüchte ersinnen,
Lügen erzählen und lange Geschichten vorbringen und zuweilen sich
gekränkt stellen oder Vergeßlichkeit heucheln.

Die Tochter, die allein zu Hause geblieben war, stand ohne eine rechte
Bedeutung an der Seite, denn sie merkte wohl, daß der Vater Geheimnisse
hatte, und aus Scheu und Mitleid wurde dadurch ihr Benehmen fremd gegen
ihn, was er nach seinem bösen Gewissen ausdeutete, als wisse sie vieles
und zürne ihm; und die Mutter hielt sie von den Angelegenheiten des
Hauses entfernt aus Eifersucht, weil sie selbst die Leitung behalten
wollte, und auch aus geheimer Furcht, daß ihre Unzulänglichkeit
aufgedeckt werde. So brachte die junge Dame ein freudeloses Leben hin in
Sehnsucht nach einer Tätigkeit und Wirkung.

Indem die Dinge so lagen, kam plötzlich der älteste Sohn Bolko
unvorbereitet zu einem kurzen Besuch: der Vater erschrak, als er das
Telegramm erhielt, und wie des Sohnes sporenklirrender Schritt auf dem
Gange hörbar wurde, stockte ihm das Blut. Er führte ihn zur Mutter, die
den Ältesten immer besonders geliebt hatte, indem sie von seinem wahren
Leben gar nichts wußte, sondern ihn immer nur kannte, wie er als ein
hübscher und schlanker Mensch mit offenem Gesicht ehrerbietig in ihrem
dämmerigen Krankenzimmer stand. Sie freute sich mit einem glücklichen
Gesicht, wie er ihr die Hand küßte, und mit großer Zärtlichkeit
streichelte sie seine blonden Haare. Dann ließ sie sich von ihm
erzählen, und er mußte Bälle beschreiben und Schlittenfahrten, und auch
von seinen Pferden sprach er. So hörte sie immer mit glücklichem Lächeln
zu, und als sie selbst einmal einiges sprach, suchte sie seinen Gedanken
eine leise Richtung zu geben, denn sie hatte eine Heirat für ihn im Sinn
und hätte gern gewußt, welches seine Meinung sei; und in dieser kurzen
Zeit erschien ihr plötzlich ihr eignes Leben gar nicht so unglücklich
wie sonst, und ihres Sohnes künftiges Leben war ihr heiter und sonnig.
Er lachte aber über ihre Anspielungen und machte Scherze, so daß sie ein
wenig gekränkt wurde; aber nur ein wenig, sie verzog den Mund, wie sie
als junges Mädchen getan, und ganz schnell wurde sie wieder zufrieden
und heiter; seit sehr langer Zeit war sie nicht in solcher Verfassung
gewesen. Nach einer Weile stand er auf, um das Zimmer zu verlassen; groß
und stattlich war er vor ihr, und sie blickte in ein ungetrübtes und
lachendes Gesicht. Da überkam sie eine besondere Zärtlichkeit und gab
ihm einen Wink, daß er sich über sie beugen mußte, und sie selbst hob
ihren Kopf und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn; dabei überflog Röte
ihr ganzes Gesicht, und ihre Augen glänzten. Wie er zum Vater
zurückkehrte, fand er den in einer Ecke seines großen Lehnstuhls, da sah
er ganz verfallen und grau aus; schweigend wies er dem Sohn einen Platz
an. Die Furcht vor dem Gespräch lastete auf beiden, und um die Stille zu
brechen, sagte der junge Mann endlich gleichgültige Sätze über die
Ernte. Der Vater nickte nur, denn ihm verschloß die Angst den Mund noch
fester wie dem Sohne, zuletzt aber fragte er doch nach dem Grund des
Besuches, unvermittelt. Da schwieg der junge Offizier zuerst lange, und
endlich erzählte er, daß er Abschied von den Eltern nehmen wolle, weil
er am andern Tage einen Zweikampf habe, in dem er fallen werde. Nichts
weiter sagte er, aber der Vater merkte, daß sein Sohn sich schämen mußte
über die Ursache, und daß alles unabwendbar war, und saß da mit
entsetztem Ausdruck und offenem Munde, und den Sohn überkam ein Ekel vor
dem gedunsenen und schlaffen Schlemmergesicht; deshalb fügte er in
härterer Sprache hinzu, daß er seine Schulden und andre Verpflichtungen
aufgeschrieben habe und ihm das Verzeichnis geben wolle, damit der Vater
später alles begleiche.

Da war es, als sei dem Alten das Wichtigste gar nicht klar geworden, und
nur das Geringere berühre ihn, und fing an, mit heftigen Worten auf den
Sohn zu schelten, daß der Schulden gemacht habe, und in seiner
Verstörtheit gebrauchte er ganz gemeine Ausdrücke. Hierdurch geriet der
Junge in eine feindliche Erregung und sprang ungestüm von seinem Stuhl
auf und erwiderte die Vorwürfe und sagte dem Vater, daß er keine Eltern
gehabt habe, und auch sein Bruder habe keine Eltern gehabt und auch
seine Schwester nicht; niemand habe sich um sie gekümmert wie bezahlte
Leute, denn den Eltern waren sie zur Last, weil die andre Dinge
vorhatten; nur wurden sie zuweilen der Mutter vorgeführt in geputzten
Kleidern und mit einstudierten Reden; nie haben die Eltern ein Herz
gehabt für die Kinder, deshalb seien die nie mit einer Bitte zu ihnen
gekommen; ein einziges Mal habe er erlebt, daß die Schwester gebeten,
sie möchte gern Kaninchen haben, da sei ihr von der Mutter geantwortet,
daß kein Raum vorhanden sei. Viele Vorwürfe habe er sich selbst schon
gemacht über sein verkehrtes Leben, das nun jetzt in jungen Jahren zu
Ende sei, und er wisse wohl, daß er selbst schuld habe, denn trotz allem
hätte er ein andrer Mensch werden können; aber außer ihm selbst seien
die Verursacher seines Unterganges sein Vater und seine Mutter. Und
nicht lange könne es dauern, dann werde sein Bruder Ivo nach Hause
kommen in derselben Weise wie jetzt er. Damit warf er das Verzeichnis
der Schulden auf den Tisch und sagte, sein Erbteil müsse hinreichend
groß sein, daß diese Summen nur eine Kleinigkeit dagegen ausmachten, und
dann ging er aus der Tür; erleichterten Herzens, denn er war ein
schwacher und schlechter Mensch und war nun beruhigt in seinem Gewissen,
weil er sein Unrecht einem andern aufgeladen hatte. Wie nun die
Nachricht kam von dem Tode des jungen Herrn, da ereignete sich das
Sonderbare, daß die alte Gräfin plötzlich von ihrem Lager aufstand, auf
dem sie fünfzehn Jahre lang verharrt, und war, als sei sie nie krank
gewesen. Sie ließ sich die Kleider kommen, die sie damals zuletzt
getragen, als sie sich gelegt, und wählte sich ein dunkelfarbiges Gewand
aus; es schien aber, als sei sie größer geworden, und ihre Figur hatte
sich verschmälert, so daß das Kleid in sonderbarer Weise auf ihr hing,
und indem es gleichzeitig unmodern geworden war und für einen
jugendlicheren Menschen gearbeitet, machte sie einen seltsam
unheimlichen Eindruck in ihrem Aufzug. Mit Leichtigkeit stieg sie die
Treppen und besuchte alle Räume und Winkel und betrachtete Vorräte und
Einrichtungen und fand alles ganz anders, wie sie es sich auf ihrem
Lager gedacht, und geriet in heftige Erregung über die Dienstboten; und
so schalt sie im Hause herum und zankte mit Bosheit, während die Leiche
des Erstgeborenen gebracht wurde und der alte Herr verstört in seinem
verschlossenen und verriegelten Zimmer saß. Nach dem Herkommen wurde der
Tote in einem großen Saal aufgebahrt, der mit Tannengrün geschmückt war;
in dem Saal hatten seit vielen hundert Jahren die Toten des Geschlechtes
gelegen, von Lichten auf alten Leuchtern ihre wachsfarbenen Gesichter
beschienen. Die Leute aus der Gegend und die Bedienten und die Arbeiter
von den Gütern kamen, die Leiche anzusehen; sie kamen mit ihren Frauen
und den schüchternen Kindern und hatten ihre Sonntagskleider angezogen.
Da sahen sie die Gräfin in wunderlicher Kleidung, die über die Leiche
des Sohnes ausgestreckt lag und schluchzte, daß ihre Gestalt erschüttert
wurde. Viele Stunden lag sie so, und wie sie sich erhob, begann sie
wieder ihr mißtöniges Schelten mit den erschreckten Leuten und eilte
aufgeregt durch alle Räume, Kommodenschubladen aufziehend, in denen sie
vor fünfzehn Jahren alte Flicken aufgehoben, in Schränken wühlend und
nach längst vertragenen Kleidern forschend, das Porzellan und Glas
betrachtend, das die Wirtschafterin mit zitternden Händen auf den großen
Ausziehtisch stellen mußte, und das Silber nachzählend, das sie selber
putzen wollte.

Der alte Herr hatte mit schweren Sinnen gerechnet und gezählt; zum
ersten Male kam ihm jetzt eine Art Klarheit seiner Lage, und er fühlte
sich gänzlich hilflos. Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinab,
und gebeugt bestieg er den Wagen, um nach dem Orte zu reisen, wo sein
Sohn gestanden. Hier suchte er den Wucherer auf in seinem Hause, das
erst neu gebaut war, denn der Mann war ein Bauunternehmer; eine marmorne
Treppe erstieg er, die mit einem teuren Teppich belegt war, und kam in
ein prunkvolles Gemach; es war ihm, als verlasse ihn alles
Selbstbewußtsein, das ihm sonst immer natürlich gewesen war, wie er dem
stiernackigen Menschen gegenüberstand, der seine gewöhnliche und gemeine
Art mit Kaltblütigkeit hinter einer eignen Höflichkeit verbarg, welche
der Graf in den Kreisen, welche er sonst gekannt, noch nie getroffen
hatte; vielleicht war der Mensch erst vor kurzem aus dem Zuchthause
entlassen, und trotzdem wußte er sich so zu haben, daß der adelige Mann
verwirrt wurde vor ihm. Vergeblich versuchte der in einer vornehmen und
nachlässigen Manier zu sprechen, er mußte abbrechen und nach einer
andern Weise suchen; am Ende legte er dem andern mit Schüchternheit
seine Verhältnisse offen dar, als sei der gegen ihn ein alter und
würdiger Herr, dem er vertrauen müsse, und der ihn ermahnen und tadeln,
aber auch unterstützen werde. In diesen Minuten, als ihm der künstlich
erhaltene Stolz vor der Kraft eines ehrlosen Menschen zusammenbrach,
begann in dem Grafen eine Verstörtheit, die ihn am Ende kindisch machte.
Der andre, der seinen Vorteil bald bemerkte, wußte ihn zu den Absichten
zu bestimmen, die er selbst sich gesetzt, und so wurden die Schulden
derart geordnet, daß der Graf ihm kaum je wieder aus den Händen kommen
konnte. Ivo, der zweite Sohn, wurde zu der Beerdigung erwartet; er
verspätete sich aber in auffälliger Weise und kam erst, als die Träger
den zugeschraubten Sarg eben auf die Achseln nehmen wollten. Nachdem die
Feierlichkeit beendet war, saßen die vier Familienmitglieder in trüben
Gedanken beisammen. Am Ende begann der Sohn mit einem Scheine, als
handle es sich nur um Unbedeutendes, daß er den Vater auf andre Gedanken
bringen wolle, und habe er in der letzten Zeit Unglück im Spiel gehabt,
und brauche er bis zum übernächsten Tage eine bestimmte Geldsumme, die
ihm der Vater gewiß geben werde; absichtlich brachte er die Bitte in
Gegenwart der beiden Frauen vor, weil er dachte, daß für das erste sein
Anliegen dadurch geringfügiger erscheinen müsse.

In dem alten Herrn wurden durch diese Worte längst vergessene
Erinnerungen lebendig, und deren Drang übertäubte in seinem geschwächten
Geist das Verständnis dessen, das er gehört. So begann er von seiner
Jugend zu erzählen, und wie man damals anspruchsloser gelebt habe, denn
nur an Königs Geburtstag habe man Wein getrunken, und sonst Kofent, und
er selbst habe einmal seinem Vater kleine Schulden beichten müssen, da
habe ihn der übel aufgenommen und ihm vorgerechnet, was er selbst
arbeite und verbrauche, und habe ihm dann Hausarrest gegeben vier Wochen
lang. Heute aber sei die Jugend leichtfertig, und das Eindringen der
reichen Bürgerlichen in die Armee habe die Zeiten vornehmer Einfachheit
verdrängt. Ivo saß da in großer Besorgnis, denn in Wahrheit hatte er
große Schulden und wußte nicht, wie er seines Vaters Reden auffassen
sollte. Und wie der Vater geendet hatte, begann die Mutter, schalt auf
die heutigen Zeiten, in denen es keine treuen und sorgsamen Dienstboten
mehr gäbe, und erzählte weitläufig von ihrer Leinenaussteuer,
wieviel Dutzend sie von jeder Sache gehabt, und wie das alles
auseinandergerissen sei, so daß sie nichts Vollständiges mehr vorfinde,
und das Wenige, das noch in den Schränken liege, sei übel gewaschen.
Dabei war, als seien die fünfzehn Jahre ihres Krankenlagers gar nicht
gewesen, und sie verwechselte die Zeiten, denn indem sie von einigen
Leuten sprach, dachte sie an deren Eltern, die in den Jahren, welche sie
im Sinn hatte, so aussahen wie die jetzt. Dem Ivo wurde es unheimlich
durch seine eigne Angst und durch das wirre Sprechen der Eltern, und er
blickte hilfesuchend auf seine Schwester; die aber hatte ihren eignen
Gedanken nachgehangen und seine Bitte überhört, weil sie im Ton nicht
auffällig gewesen war, und da sie den Verfall der Eltern allmählich
hatte vor sich gehen sehen, so waren ihr auch diese Reden nicht
auffällig gewesen. So saß sie da im schwarzen und geschlossenen Kleid,
die Hände im Schoße liegend und ins Leere blickend; sie bedachte aber,
wie sie es erreichen könne, daß sie diesem Leben entfliehe, denn bis zur
Unerträglichkeit hatte sich der Überdruß in ihr gesteigert.

Aber wie der junge Offizier sich derart ganz allein zwischen diesen drei
Menschen fühlte und seine Sorge ihm mit Schwere auf das Herz fiel, stieg
es ihm heiß in die Augen, und zwei Tränen rannen ihm über die Backen und
in die Winkel des zuckenden Mundes. Hierdurch wurde die Schwester
aufmerksam, und indem ihr nun seine früheren Worte in klares Bewußtsein
traten, fragte sie erschreckt, ob seine Schuldenlast vielleicht sehr
hoch sei; er aber war so bekümmert, daß er nicht zu reden vermochte, und
so nickte er nur mit dem Kopfe. Dann, während sich inzwischen unter den
Eltern ein Streit entspann um ein silbernes Salzfaß, das die Mutter
vermißte, klagte er mit abgerissenen Worten der Schwester, daß es ihm an
Mut fehle, um seinem Leben ein Ende zu machen, denn das sei ja doch der
einzige Ausweg. Als er das sagte, schrie sie laut auf und verhüllte ihr
Gesicht; der Vater wendete sich langsam zu ihr und fragte sie nach der
Ursache ihres Schreiens, und indem er an den Wortwechsel über das
Salzfaß dachte und in seinen trüben Gedanken meinte, daß es sich bei
diesem um etwas Wichtiges handle, das auch seine Tochter schwer betrübe,
suchte er mit der alten Gewohnheit liebenswürdiger Gesinnung sie zu
trösten, indem er sagte, daß dieses Salzfaß sich schon noch wiederfinden
werde, und sie als ein Kind brauche sich nicht solche Sorgen zu machen
wie die Erwachsenen. Bei diesen Reden wurde dem jungen Ivo der Zustand
seiner Eltern endlich ganz klar, und er verspürte mit Erschrecken, daß
er zu seinen eignen verworrenen Verhältnissen nun auch noch das Bedenken
der Familienangelegenheiten auf sich nehmen müsse, und nur geringer
Trost war es ihm, daß er jetzt die Möglichkeit in der Hand habe, seine
Lage in die Richte zu bringen, denn es ahnte ihm wohl, wie arg alles
verwickelt war. Indessen besprach er sich nun mit der Schwester, was zu
tun sei, und beruhigten die beiden die Eltern und brachten die mit
Schonung dahin, daß sie ungestört von ihnen blieben und sich mit Ruhe
beraten konnten.

Die ganze Nacht brannte in dem Arbeitszimmer des alten Grafen eine
schlechte Lampe ohne Glocke, die sie sich aus der Küche hatten
heraufbringen lassen; bei ihrem Schein lasen sie Aufzeichnungen,
Ausgabenberechnungen, Einnahmenverzeichnisse und allerhand Aufstellungen
über die Vermögensverhältnisse, und als letztes fiel ihnen das Blatt
Bolkos in die Hand und die Urkunden über die Unterhandlungen mit dem
Wucherer. Es war den Ungeübten nicht möglich, ein klares Bild aus dem
Wirrwarr zu gewinnen, in dem sich der alte Herr selbst ja schon seit
langen Jahren nicht mehr zurechtgefunden hatte; aber eine recht
deutliche Vorstellung von ihrer Lage gewannen sie doch vornehmlich aus
einem Schreiben, in welchem der frühere Vermögensverwalter um seine
Entlassung bat, der eine andre Stellung angenommen hatte. Indessen
drängte die Zeit, denn Ivos Hauptschuld war fällig, und er hatte seine
Ehre verpfändet, und so ersparte die Notwendigkeit eines schnellen
Entschlusses ihnen die Verzweiflung, die sie überfallen hätte, wenn sie
sich länger hätten bedenken können, und es blieb kein weiterer Ausweg,
als daß sich Ivo an den Wucherer seines Vaters wendete, da dieser die
Verhältnisse am besten kannte und deshalb am leichtesten geneigt sein
mußte zur Aushilfe. Was dann weiter geschehen sollte, insbesondere mit
dem Vater, und wie Ivo die Ordnung und Verwaltung der Geschäfte in die
Hand nehmen würde, das mußte man nachher bedenken.

Eine kurze Zeit war noch bis zur Abfahrt des Wagens für den Zug, den Ivo
benutzen mußte. Er trat zu seiner Schwester, und sein Gesicht, das
gestern noch leichtfertige und leere Züge aufgewiesen hatte, erschien
gealtert und männlicher geworden; und indem er ihre Hand erfaßte, sprach
er zu ihr in einem neuen und tiefen Ton, den sie bis dahin nicht von ihm
gehört.

»Liebe Schwester, wir sind die letzten von einem alten Geschlecht, zu
dem viele Menschen durch Jahrhunderte aufgesehen haben. Nun gehe ich
einen schweren Weg, denn ich weiß nicht, ob ich bekommen werde, was ich
suche; bekomme ich es aber nicht, so muß ich sterben, denn wenigstens
liegt mir das ob, zu achten, daß unser Name nicht in Unehren erlischt.
Du bleibst dann allein zurück, aber ich habe um dich keine Sorgen, denn
du wirst schon eine Stelle für dich finden in der Welt; das sehe ich
jetzt mit ruhigen Augen, denn seit mir offenkundig geworden ist, vor
welcher Entscheidung und Ernsthaftigkeit ich stehe, habe ich plötzlich
einen neuen Blick bekommen, Leben und Menschen zu betrachten, über die
ich vorher gar nicht nachgedacht. Ich weiß, daß mein Bruder meinte,
unsers verfehlten Lebens Ursache seien unsre Eltern, und ich selbst habe
wohl dieser Meinung beigepflichtet in Stunden, wo das Gewissen mich
mahnen wollte; aber dabei wußte ich doch immer im Herzen, daß ich nur
eine schlechte Ausflucht meiner Angst suchte, und im Innern wußte ich
mit großer Furcht, meines verfehlten Lebens Ursache sei ich selbst, denn
ich gab mich hin an schlechte Menschen und war gedankenlos und überlegte
nicht meiner Schritte Folgen, und alles, was ich tat, verstrickte mich
immer mehr in das Netz, dessen Maschen mich nun so eng umschnüren; und
schon daraus, daß ich bisher immer mehr gefesselt wurde, würde ich
annehmen, wie auf die Stimme eines Dämons hörend, daß mein Suchen
vergeblich sein wird und meines Lebens Ende unabwendbar nahe ist. Nicht
wenig aber hat die heimliche Gewissensangst selber zu meiner
Verstrickung beigetragen, denn sie selbst machte blind, und
gleicherweise das Streben, ihr zu entgehen, indem ich sie mir leugnete,
machte blind. Nun aber, in dieser Nacht der Verzweiflung, habe ich ein
neues Licht gesehen, und ich weiß nun, daß niemand eine Schuld hat,
nicht meine Eltern und nicht ich, sondern wir sind getrieben durch eine
Macht zu dem Ende, das sie gewollt hat, und ich glaube, daß ihr Wille
gut und nützlich ist. Denn wenn die Macht den Willen hat, daß einer ins
Licht kommen soll und sein Geschlecht in die Höhe führen, so ist der
pflichtlos und heiter, sorgt nicht und ringt nicht, und ohne sein Zutun
wächst er, wie der Baum wächst, hoch wird und breit, und seine Form ist
ebenmäßig; aber wer ringt, und wessen Gewissen kämpft, und wer will und
wessen Verstand ein Ziel sieht, der ist ein Mensch, der zerfällt, denn
er hat sein Band nicht mehr; und was er auch tut, das gereicht ihm alles
zum Unsegen; und zum schlimmsten Unsegen gereicht es ihm, wenn sein
Gewissen ein eifriger Mahner ist. Den andern aber treibt es ruhig und in
Kraft zur Höhe, durch kluge Handlungen und törichte, und durch gute
Taten und schlechte. Und nun ist das sonderbarste, daß mir jetzt
plötzlich die Fähigkeit geworden ist, durch meinen Blick die Menschen zu
unterscheiden, ob sie von dieser Art sind oder von jener; denn zwar hat
unsre gegenwärtige Weise des Lebens die Kraft, die Menschen stärker zu
zersetzen und aufzulösen wie frühere Zeiten, und so entgehen auch die
zum Glück Bestimmten nicht solchen Jahren, wo es scheint, als haben sie
ihr Band nicht mehr, und ihre Gedanken klagen einander an, und ihre
Handlungen scheinen keinen guten Ausgang zu haben; aber dennoch kann ich
diese Guten deutlich unterscheiden von den Geringen; und indem ich die
Augen schließe, sehe ich deutlich vor mir, wie meine Freunde und
Bekannten sich teilen in die beiden Lager. Diese Worte wollte ich dir
hinterlassen zu einer Erinnerung an mich, und auch als einen Trost, wenn
du über mein Schicksal bekümmert sein solltest, was ich zwar nicht
denke, denn ich habe dir nichts erwiesen, aus dem du eine Liebe gegen
mich hättest schöpfen können, und nun ist es ja für solches zu spät.
Aber denke nur, daß ich ohne Bekümmernis und in Ruhe den Pfad schreite,
der mir vorgeschrieben ist.«

Nach dieser Rede ging Ivo und machte denselben Weg, den sein Vater
gemacht zwei Tage vorher; aber wie er vorausgesehen, hatte sein Suchen
nach Geld keinen Erfolg. Und so kam die Kunde in die Heimat, daß der
zweite Sohn seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe, und mit dieser
Kunde kam eine verwirrte Erzählung von einem Mädchen, die zu derselben
Zeit in den Tod gegangen sei. Das war ein blutjunges Wesen, das kaum zur
Jungfrau herangereift war, die wohnte mit ihrer Mutter in einem kleinen
Stübchen, das ein schräges Dach hatte und ein einziges Mansardenfenster,
aus dem man über die Dächer und in den rauchverhängten Himmel der
Großstadt sah. Zwei weiß bezogene Betten, ein ärmlicher Tisch und zwei
schlechte Stühle waren in dem Kämmerchen, und ein herrlicher großer
Spiegel aus geschliffenem Glas in kunstvollem Glasrahmen aus Venedig,
der das Licht tausendfach widerblitzte.

Die Kleine war eine Schauspielerin, die zu einem großen Theater gehörte,
aber wegen ihrer Jugend, und weil sie sich auf der Bühne befangen und
eckig zeigte, erhielt sie keine großen Rollen, sondern wurde immer nur
zu ganz unbedeutenden Nebenfiguren verwendet, und meistens zu
Dienstboten, wo sie dann einige unwichtige Worte zu sprechen hatte. Es
lebte aber eine große Sehnsucht in ihr nach der Kunst, und es berauschte
sie, wenn sie an die Lampen dachte und an den dunkeln Zuschauerraum, und
an eine Leidenschaft, die ihr das Herz überfließend machte, daß sie
hätte die Arme öffnen mögen, und an den schönen Klang voller und tiefer
Worte. Deshalb lernte sie eifrig für sich und studierte, und wenn sie
einen Abend frei hatte, so zündete sie Lichte an, daß der herrliche
Spiegel blitzte und funkelte, und trat im Kostüm ihrer Rolle vor den
Spiegel und spielte, was sie am meisten liebte; vornehmlich aber war das
die Ophelia. Da trug sie ein weißes Kleid, das durch einen goldenen
Gürtel gehalten wurde, und ihre gelben Locken flossen über ihren zarten
Nacken. So stand sie vor dem blitzenden Spiegel und sprach:

»Da ist Rosmarin, das ist zur Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz,
gedenket meiner! Und das Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue. Da
ist Fenchel für Euch und Aklei, da ist Raute für Euch, und hier ist
welche für mich, wir können sie auch Reue, Gnadenkraut nennen -- Ihr
könnt Eure Raute mit einem Abzeichen tragen. Da ist Maßlieb -- ich
wollte Euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein
Vater starb. Sie sagen, er nahm ein gutes Ende.«

Währenddem stand die alte Mutter in der Ecke, und Tränen des Glückes
liefen über ihr blasses Gesicht, und sie freute sich der lieblichen und
schön klingenden Stimme und der gelben Locken und zarten Gestalt. Und
die Tochter umarmte sie, küßte sie und fragte: »Wann werde ich die
Ophelia spielen dürfen? Meinst du, noch diese Spielzeit?« Und vor
Sehnsucht und Glück weinte auch sie klare Tränen.

Und an dem Abend, da Ivo auf seiner einsamen Stube saß und an sie einen
Brief schrieb voll schmerzlicher Worte des Abschiedes und der Sehnsucht
nach Glück, und dann holte er seine Waffen hervor und machte sie bereit,
da geschah es ihr, daß Hamlet gegeben wurde, und kurz vor dem Aufziehen
des Vorhanges fiel die Darstellerin der Ophelia, die eine berühmte
Künstlerin war, über einen vergessenen Bohrer, und verletzte sich den
Fuß derart, daß sie nicht auftreten konnte; und wie der Inspizient und
die Schauspieler in großer Verlegenheit standen, denn durch einen
besonderen Zufall war die Darstellerin, der die Rolle sonst in der
zweiten Besetzung anvertraut wurde, für den Abend krank gemeldet, da
trat die Kleine mit klopfendem Herzen vor und bot sich an, und in der
allgemeinen Kopflosigkeit nahm man ihr Anerbieten an, das in einem
ruhigen Augenblick wohl lächelnd abgewiesen wäre. Und nun stellte sich
die Kleine vor die Lampen und den dunklen Zuschauerraum, im weißen Kleid
mit dem goldenen Gürtel, wie sie so oft vor dem strahlenden Spiegel
gestanden. Wie Laertes sie ermahnt: »Schlaf nicht, laß von dir hören«,
antwortet sie in süßer Verwirrung ihr »Zweifelst du daran?« Und in den
drei Worten klang ihre Angst und Hoffnung, ihre Liebe und Furcht so
wunderbar an die Ohren der Hörenden, daß alle zusammenzuckten, als in
Ahnung des angeknüpften Unheils dieser lieblichen Gestalt; und in einem
Nu war ein Faden gesponnen zwischen ihrem Munde und den Herzen der
Zuschauer, den spürte sie immer stärker werden, wie sie dem Bruder ihre
kindliche Ermahnung gibt und ihrem Vater antworten muß, bis zu dem »Ich
will gehorchen, Herr.« Da war erst eine atemlose Stille, wie der
Zwischenvorhang fiel, und ihr schien, als müßten alle ihre Herzschläge
hören, und dann kam ein sonderbares Geräusch, das sie erst gar nicht
verstand, wiewohl sie schon oft den Beifall für andre gehört hatte, und
wie sie noch so zweifelnd harrte, da ging der Vorhang wieder in die Höhe
und ihre Mitspieler führten sie mit dankbarer Verbeugung vor die Rampe.
Dann sprachen andre mit ihr, und sie antwortete und fühlte, daß sie
beglückwünscht wurde, und trat wieder auf, und das Stück hatte seinen
Fortgang, und auch die Stelle sprach sie: »Da ist Rosmarin, das ist zur
Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner! Und da ist
Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue.«

Schwankend und mit unsicheren Schritten ging sie nach Hause, wo ihre
Mutter sie erwartete, die noch nichts ahnte; und wie sie in das helle
Kämmerchen trat, wo das dürftige Abendbrot auf dem Tische stand und die
Mutter fleißig an einem Kleid für sie nähte, da konnte sie sich zuerst
gar nicht verständlich machen, aber die Mutter erriet schon und jubelte,
und eine Lustigkeit kam ihr über das verhärmte Gesicht, und sie wurde
beweglich und geschwätzig als eine alte Schauspielerin, die freilich nie
zum Höheren gekommen war, und indes die Tochter munter aß, erzählte sie
alte Bühnengeschichten und die Legenden, wie diese entdeckt war und
jener seinen ersten Erfolg gehabt hatte, fragte dazwischen und
beantwortete selbst ihre Fragen, und hatte endlich in allem ein so
wunderliches Wesen, daß die Tochter zuletzt in ein lautes und herzliches
Lachen ausbrechen mußte.

Erst spät gingen die beiden schlafen unter vielen Plänen und Hoffnungen,
und früher wie sonst wachten sie wieder auf, wie die helle Wintersonne
auf die gefrorenen Fensterscheiben schien. Lachend vor Kälte sprang sie
aus dem Bett, heizte schnell den kleinen Eisenofen an und kroch wieder
in das warme Lager, um noch in behaglichen Gesprächen abzuwarten, bis
das Stübchen sich erwärmte und das dicke Eis des Fensters abtaute. Dann
erhoben sich die beiden, kleideten sich an und bereiteten sich das
Frühstück; wie sie sich setzen wollten, klingelte der Briefträger; sie
kam jubelnd zurück; da war ein Brief von Ivo, der war gewiß gestern im
Theater gewesen und hatte gleich geschrieben.

Aber wie sie den Brief aufgerissen hatte, wurde sie totenblaß; hastig
kleidete sie sich für die Straße an und eilte in Ivos Wohnung. Da
standen schon Neugierige auf der Straße und Schutzleute bewachten den
Eingang des Zimmers, damit nicht Unberufene eindringen sollten, aber
durch ihren Anblick wurden sie bestürzt und ließen sie durch. Da lag Ivo
auf dem Fußboden, unentstellt, denn seine Kugel hatte gut getroffen, und
nur die Tischdecke war ein wenig verschoben. Der Pistolenkasten stand
auf dem Schreibtisch; sie nahm die andre Waffe heraus, ehe den
Schutzleuten ihre Bewegung klar wurde, und indem sie gegen sich
abdrückte, fiel sie neben ihrem Geliebten zur Erde.

Wie die Unglücksfälle über die gräfliche Familie hereinbrachen, bemühten
sich bereitwillige Verwandte um Hilfe. Ein Vetter erschien, ein älterer
und unverheirateter Mann, der als ein Sonderling galt, der ordnete, was
zunächst notwendig war, denn die junge Gräfin Maria war zu unerfahren,
und die alten Herrschaften schienen beide ihrer Sinne nicht mehr ganz
mächtig zu sein. Deren Schicksal war nun bestimmt und unabänderlich, und
so bemühte sich der Vetter vornehmlich, für die junge Dame etwas
auszudenken.

In der ersten Zeit erschien die recht verschlossen und ohne Teilnahme
für irgend etwas, bis an einem Abend der Vetter im Ärger aus sich
herausging und sie schalt, daß sie wohl auch nur so sei wie alle, die
etwas musizieren, etwas malen, englische Romane lesen und Konversation
machen. Auf die Vorwürfe erwiderte sie, daß sie gar keine besonderen
Talente gehabt habe und wohl gern die Hauswirtschaft geleitet hätte,
aber das habe sie nicht gedurft; aber wenn es möglich sei, daß sie etwas
nach ihrem Willen tun dürfe, so möchte sie wohl Krankenpflegerin werden.
Hierüber wurde der Verwandte recht erstaunt und fragte sie, ob sie denn
fromm sei; das verneinte sie und sagte, sie habe vieles gelesen, und
wenn sie sich auch kein Urteil anmaßen wolle, so müsse sie doch sagen,
daß sie nicht kirchengläubig sei; und wie der Verwandte weiter forschte,
stellte sich heraus, daß sie gänzlich atheistisch gesinnt war, und
wollte aber Menschen nützlich sein und eine Beschäftigung haben, die sie
befriedigte.

Da wurde der Verwandte gerührt und erzählte, daß er als junger Mann eine
große Neigung zur Medizin gehabt, und weil das damals nicht als
standesgemäß gegolten, ein solches Studium zu beginnen, so habe er sich
von seiner Neigung abwenden lassen; dadurch aber habe er sein Leben
eigentlich zugrunde gerichtet, denn indem er zu dem andern, das er nun
wirklich getrieben, keine innere Neigung gehabt, sei er nie zu
Befriedigung und rechter Arbeit gekommen. Deshalb, weil er selbst das
durchgemacht habe, wolle er ihr helfen bei ihrem Vorhaben, und es freue
ihn, daß sie ihrem jetzigen Leben entsagen wolle, denn das Leben der
Vornehmen werde im Grunde doch nur durch die Furcht vor den Leuten
bestimmt, die trotzdem nicht so schlimme Dinge verhüten könne, wie sie
eben mit Vater und Brüdern durchgemacht. Nach solchen Worten schloß er
sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirn; und dann ermahnte er sie
nochmals, sie solle bei ihrem Mute verharren, denn der komme aus einem
guten Gewissen; und wenn Ängstliche ihr vorstellen würden, daß es ihre
natürliche Pflicht sei, daß sie ihre Eltern pflege, so solle sie nicht
darauf hören, sondern solle ruhig tun, was sie sich vorgenommen.

                   *       *       *       *       *

Weiland hatte sich bald nach dem letzten Zusammentreffen mit Hans und
Karl verheiratet. Um wenigstens äußerlich zu zeigen, welche geringe
Bedeutung sie der bürgerlichen Eheform beilegten, waren das Brautpaar
mit den beiden Zeugen, welche Freunde von Weiland waren, in
Alltagskleidung zum Standesbeamten gegangen; da hatten sie in einem
staubigen und leeren Vorzimmer gewartet und waren dann zu dem Beamten
eingetreten, der hinter einem gelbpolierten Tisch saß und einen
Federhalter im Mund hielt und in der Rechten ein Lineal hatte. Der
prüfte die Papiere der Zeugen, nahm die Aushangsbescheinigung zu seinen
Akten, füllte das Formular in seinem dicken Buche aus, las dann seine
Niederschrift laut vor und ließ die Anwesenden unterschreiben, indem er
mit ärgerlichen Worten mahnte, daß sie keine Kleckse machen und nichts
durchstreichen, auch ihre Vornamen nicht abkürzen sollten. Dann
unterschrieb er selbst, und indem das Paar und die Zeugen noch in
Erwartung weiterer Geschehnisse standen, winkte er ungeduldig mit der
Hand, daß sie entlassen seien und gehen müßten. Im Vorzimmer wünschten
die beiden Zeugen mit verlegenen Mienen Glück, und das Brautpaar lud sie
der Verabredung gemäß zum Mittagessen ein. So gingen die vier mit leerem
und verwirrtem Gemüt in eine Gastwirtschaft, da bestellte der junge
Ehemann nach der Karte das Essen, und die üble Stimmung besserte sich
ganz allmählich, indem alle zuerst die Speisen lobten und dann die
Unfreundlichkeit des Standesbeamten tadelten; nur die junge Frau blieb
fast stumm, und man sah, daß sie sich bezwang, um nicht zu stören. Nicht
lange verharrte die Gesellschaft an dem unbehaglichen Ort, sondern
nachdem sie gegessen hatten, standen sie auf und gingen, und auf der
Straße verabschiedeten sich die Freunde mit Danksagungen und nochmaligem
Glückwunsch, und dann faßten die Eheleute sich unter den Arm und gingen
ihrem Heim zu, das sie sich schon vorher eingerichtet hatten.

Sie gingen durch die Haustür und über den Hof und sahen die neugierigen
Gesichter der Mitbewohner an den Fenstern und erstiegen die schmalen
Treppen und gingen an den verschlossenen und mit Namenschildern
versehenen Türen der Wohnungen vorbei in die Höhe, und immer
niedergedrückter wurden sie, wie sie so immer höher stiegen auf der
schmutzigen und ungastlichen Treppe. Nur wie sie vor ihrer Tür ankamen,
an der bereits das neue Namenschild befestigt war, hatten sie ein
glücklicheres Gefühl, aber wie sie dann aufgeschlossen hatten und in dem
engen und dunklen Korridor standen, fiel sie ihm um den Hals, schluchzte
und weinte heiße Tränen aus dem tiefsten Herzen herauf, und die
Erinnerung an die schmutzige Treppe, die sich eintönig an den
gleichmäßigen Türen vorbei in die Höhe wand, bewirkte ihnen beiden eine
heftige Vorstellung von dem einförmigen, freudeleeren und gedrückten
Leben, das heute armen Leuten bevorsteht, wenn sie ihre Jugend verlassen
und die Sorgen der Ehe auf sich nehmen. Und wiewohl sie ja jetzt noch
jung waren und selbst die Sorgen noch nicht erlebt hatten, und ein
fröhliches Stübchen hatten mit neuen Möbeln und frischen Gardinen, und
die Sonne schien hier oben in ihre Fenster, so standen doch vor ihrem
Sinn die vielen beladenen, mißmutigen, vergrämten und besorgten
Menschen, die sie in ihrem Leben schon gesehen, und sie wußten, daß
nicht lange mehr ihre Heiterkeit und roten Backen andauern würden.

Aber wie den armen Leuten gegeben ist, daß sie die Gegenwart zu genießen
vermögen, so kamen auch die beiden bald über ihre Verstimmung hinweg,
freuten sich ihres Stübchens und ihrer Küche, des neuen Sofas und des
Salontisches, auf dem eine Visitenkartenschale stand, und des Vertiko;
und wiewohl Sofa, Tisch und Schränkchen, neben dem Teppich und den
Stühlen und allem anderen, ja neben den bunten Bildern von Marx und
Lassalle an den Wänden, genau gleich waren tausend andern Sofas und
Tischen, Schränkchen und Stühlen, die in tausend andern Wohnungen junger
Leute standen, so schien ihnen ihr Stübchen doch etwas Besonderes und
Schönes zu sein, das kein anderer Mensch hatte; und wenn sie zwar der
festen Meinung lebten, daß die Zukunftsgesellschaft auch das häusliche
Leben viel vernünftiger ordnen werde, wie es jetzt ist, so waren sie
doch jetzt glücklich und zufrieden, wie sie ehrfurchtsvoll vor ihrem
Salontisch saßen, auf dem die Visitenkartenschale aus bronziertem
Zinkguß in der Sonne blitzte.

So führten sie ihre erste Zeit in harmloser Freude und genossen beide
das Glück der jungen Ehe und die Vorstellung von einer besonderen
Freiheit in ihr, die sie durch ihre Anschauungen und Gesinnungen hatten,
daß nämlich die Frau nicht unterdrückt und ausgebeutet werde, und daß
sie so in Wahrheit in freier Liebe lebten.

Derart hatten sie ausgemacht, daß sie des Morgens abwechselnd früher
aufstehen wollten, denn beide mußten um sechs Uhr auf ihrer
Arbeitsstelle sein, und nun sollte den einen Tag der Mann und den andern
Tag die Frau zuerst das Bett verlassen, um für beide den Morgenkaffee
herzurichten. Nach dieser Verabredung begann den ersten Tag die junge
Frau, und mit sonderbarem Behagen erwachte der Mann von einem leisen
Huschen auf den Dielen, da sah er durch die halboffene Tür, wie sie den
neuen Petroleumapparat instand setzte und Wasser in das Blechgeschirr
mit prasselndem Geräusch aus der Wasserleitung ließ, und während das
heiß wurde, maß sie den Kaffee ab in die Mühle, nahm die zwischen die
Knie und begann zu mahlen. Dann wischte sie den sauberen Küchentisch
noch einmal ab und rückte die Stühle davor, holte den Frühstücksbeutel
herein und setzte den Topf mit der Milch zurecht. Und wiewohl das alles
nur ganz einfache Dinge waren, die nun von jetzt an jeden Tag geschehen
sollten, so kam ihm doch ein sonderbares Glücksgefühl ins Herz, indem er
zufrieden in seinem Bette lag.

Am andern Tag war die Reihe an ihm; da stand er vorsichtig auf, um seine
Frau nicht zu wecken, die indessen mit verbissenem Lachen sich nur so
stellte, als schlafe sie noch; mit ungeschickten Händen brachte er die
Kochmaschine in Ordnung, wie er es gestern gesehen; aber schon als der
das Wasser in die Kasserolle ließ, war er irr, und wie er die Bohnen
mahlen sollte, wußte er nicht, wie viel er nehmen durfte. Da mußte er zu
ihr gehen und sie fragen, sie aber antwortete, daß er ganz ungeschickt
sei und nie die Handgriffe lernen werde, und daß die Männer überhaupt
solche Sachen nicht verstünden, und dann sprang sie geschwind aus dem
Bett, nahm alles in ihre flinken Hände und besorgte mit Schnelligkeit
das Frühstück, indessen der Mann gehorsam zuschaute.

In solcher Weise geschah es, daß nach einiger Zeit die rasche Frau doch
alle frauenhafte Arbeit in ihre Hände nahm, indem sie freilich ihren
Mann häufig ausschalt; dieser aber, der sich schnell zu großer Geduld
entwickelt hatte, nahm solches Schelten nicht übel, da es ja nicht böse
gemeint war und eigentlich eine Zärtlichkeit ausdrücken sollte.

Wenn am Abend die Arbeit beendet war und das Abendbrot verzehrt und das
Geschirr aufgeräumt, so begann für die beiden der schönste Teil des
Tages, denn der Mann nahm vom Büchergestell an der Wand ein aufklärendes
Buch, etwa Bebels »Frau« oder Zimmermanns »Wunder der Urwelt«, las vor
und erklärte; die Frau aber, die fleißig stopfte und flickte, hörte
eifrig zu, fragte und widersprach, und recht oft kam zwischen beiden
eine lehrreiche Diskussion zustande. In den meisten Fällen drehte sich
der Streit darum, was die Arbeiter unter den gegenwärtigen Verhältnissen
tun könnten, indem der Mann meinte, daß sie sich aufklären müßten und
Bildung erwerben, die lebendige Frau aber schalt, daß die Männer träge
und mutlos seien und zu Taten vorgehen müßten, und wenn sie selbst ein
Mann wäre, so würde sie gewiß suchen, die Arbeiterklasse durch ein
Attentat von einem besonders schlimmen Bedränger zu befreien, damit die
andern Furcht kriegten. Hierauf erwiderte der Mann, daß sie durch solche
Handlungen ja Ausnahmegesetze rechtfertigen würde und den ruhigen
Fortgang der Entwicklung stören, von dem man alles erwarten müsse.

Indem die beiden dergestalt für sich lebten, geschah es ganz natürlich,
daß sie weniger in Versammlungen gingen und der Mann auch geringeren
Anteil nahm an der geheimen Tätigkeit seiner Freunde in Verbreitung
verbotener Schriften oder im Sammeln von Geld; er sagte ihnen aber, daß
er seinen Mann stehen werde, wenn es nötig sei; und wenn etwa die
zunehmende Macht der Arbeiter die Regierung zu weiteren
Unterdrückungsmaßregeln treibe und diese dann in einer bewaffneten
Erhebung antworteten, um die soziale Republik zu begründen, das etwa in
zwei oder drei Jahren geschehen könne, so wolle er selbstverständlich
sogleich mit in die Reihen der Kämpfenden treten.

Inzwischen zeigte es sich zu ihrer großen Freude, daß die Frau ein Kind
erwartete, und nun machten sie neue Pläne und Hoffnungen, wie sie das
nicht wollten taufen lassen und als ein freies Wesen auferziehen ohne
den Glauben an alle die Erfindungen, welche die herrschenden Klassen
benutzten, um das Volk niederzuhalten, und dazwischen erzählte die Frau
von einem schönen Kinderwagen, auf den sie jetzt schon sparte, denn er
sollte Gummiräder haben, und auch von Jäckchen und Mützchen sprach sie;
diese Gedanken schienen zwar dem Mann töricht, allein er mochte doch
nicht recht etwas gegen sie vorbringen, denn sie konnte viel schneller
sprechen wie er und auch viel mehr. Er selber trug sich indessen mit
noch andern Absichten; denn es war damals zuerst die Sitte aufgekommen,
daß die Spekulanten ihre unbenutzten Grundstücke, die zu Bauplätzen
bestimmt waren, in kleinen Abteilungen an Arbeiter verpachten, die
allerhand Gemüse und Blumen auf dem sandigen Boden zogen, und sich eine
Laube bauten, und am Feierabend mit Weib und Kind sich hier in
ländlicher Arbeit erfreuten. Einige Arbeitsgenossen von Weiland hatten
sich zusammengetan zu einer solchen Ansiedelung, die sie »Klein-Kamerun«
nannten; diesen dachte er sich anzuschließen, wenn er seine Frau von der
Vortrefflichkeit des Planes überzeugte, und die Frau sollte das
Abendbrot in der Laube zurichten, und da würden sie dann im Freien
essen, und das Kind sollte auch im Wagen anwesend sein und die frische
Luft mit genießen, und nach dem Essen wollte er dann immer graben,
pflanzen und jäten. Derart lebten die beiden als zielbewußte und ganz
umstürzlerisch gesinnte Arbeiter doch in allerhand Wünschen, wie sie
wohl kleine Bürger haben mögen, und es zeigte sich auch an ihnen, daß
die Gedanken der Menschen immer viel weiter greifen, wie ihr
eigentliches Streben ist, das für einen Arbeiter in Wahrheit ja doch
immer nur auf ein größeres Behagen gehen kann und auf die Art von
Freiheit und Sittlichkeit, welche er versteht, nämlich des kleinen
Bürgers, weil er den gerade über sich sieht.

So nahte sich die Zeit, wo die Frau entbunden werden sollte. Als eine
fleißige und rische Person ging sie noch bis in die letzten Tage auf
ihre Arbeit, und weil sie jung und gesund war, so geschah alles ohne
besondere Unfälle und in richtiger Weise. Und nun war das Leben und das
Glück, das sich jedesmal wiederholt, wo eine Familie wenigstens nicht
mit allzu großem Leichtsinn gegründet ist, wenn das Erstgeborene kommt;
zwar hatten sie nur ein Mädchen, aber doch war der Vater so stolz, daß
er meinte, er sei fast allen seinen Arbeitsgenossen überlegen, und die
Mutter dachte, ein so kräftiges, gesundes und kluges Kind sei doch eine
sehr große Ausnahme; den Namen gaben sie ihm nach den drei von ihnen am
meisten verehrten Männern, nämlich Marx, Lassalle und Bebel, als
Karoline Ferdinande Auguste. Es stellte sich naturgemäß heraus, daß die
Frau zunächst ihre Arbeit lassen mußte, und so hatten die Ehegatten
jetzt wieder viele Gelegenheit, über die bessere Organisation solcher
Dinge in der künftigen Gesellschaft zu reden, wo eine gelernte und
geübte Pflegerin eine Menge Kinder versorgen kann, indes die Mütter
ihrer Arbeit nachgehen, die wegen ihrer geringen Kenntnis und Übung,
auch wegen des bekannten Nachteils jeden Kleinbetriebes, doch gewiß
ungeeignetere Pflegerinnen wären wie jene, und meinte die Frau, sie
würde sich sehr gern von der Gesellschaft an solche Stelle als Pflegerin
setzen lassen, denn dabei hätte sie ihr Kind doch immer bei sich, das
sie auch nicht bevorzugen wolle. Inzwischen erwies sich das Kind als
kräftig wachsend und froher Gemütsart und bekam einen sehr schönen Wagen
mit Gummirädern, um den vorher die Frau eines Amtsrichters vergeblich
gefeilscht hatte, er war der aber zu teuer gewesen, und auch alle seine
Wäsche war sehr schön.

Hans und Karl hatten die Freundschaft mit den beiden aufrecht gehalten,
und obschon sie zwar kein rechtes Verständnis für kleine Kinder hatten,
so freuten sie sich doch des Glückes der Eltern mit. Zuweilen kamen sie
am Sonntagnachmittag in die kleine Wohnung mit den ängstlich geschonten
Möbeln, brachten allerhand Zugebröte in Papier gewickelt, wie Wurst und
Käse, und aßen dann mit der Familie unter fröhlichen Gesprächen zu
Abend; und erzeugte die Annäherung der Klassen in dem Schuhmacher und
den Studenten auf beiden Seiten ein besonderes Hochgefühl und eine
gewollte Freude, als kämen sie alle in eine neue Freiheit, indem es
ihnen freilich oft mit Schwere auffiel, daß es eigentlich wenig war, was
sie einander sagen konnten, und daß sie fast sich gegenüberstanden wie
Menschen verschiedener Sprachen, die durch einige allgemeinverständliche
Laute und Zeichen einander ihre Freundschaft versichern.

Auch Jordan war oft zu Besuch bei den jungen Leuten, jener ruhige Mann,
der damals in der Versammlung ihnen die Spuren der Ketten an seinen
Knöcheln gezeigt hatte. Einmal, als er mit den beiden Studenten zusammen
von dem Ehepaar wegging, war er in sehr trüber Stimmung und in jener
Verfassung, die zu Klagen und Erzählungen treibt. So sprach er von
seiner Heimat, wo er bei einem alten Meister gelernt, der ihn lieb
gewonnen hatte, weil er Sonntags nicht zum Tanzen ging und zu Biere,
sondern zu Hause blieb und Bücher las; der hatte ihm gesagt, wenn er
seine Wanderschaft beendet habe, so solle er wiederkommen, dann sei er
selbst so weit, daß er nicht mehr arbeiten könne, dann solle er seine
Werkstätte übernehmen und seine Kundschaft bekommen. Nun hatte er aber
gesehen, wie überall das Handwerk durch die Fabriken verdrängt wurde,
und auch die Schuhmacher konnten sich nicht lange mehr halten, und wenn
jetzt ein junger Mensch sich in einem kleinen Ort als Meister
niederließ, so mochte er ja wohl noch ein paar Jahre lang sein Auskommen
haben, aber dann ging das Handwerk doch zugrunde, und da war es besser,
gleich in jungen Jahren in die fabrikmäßige Produktion zu gehen, solange
man sich noch gewöhnen konnte, und vielleicht bekam er eine bessere
Stellung. Weshalb Jordan das erzählte, wurde nicht klar; aber der Grund
war, daß er Heimweh hatte und sich aus dem großen Fabriksaal mit den
schnurrenden Maschinen und der hastigen Arbeit wegsehnte in die kleine
Schusterwerkstätte mit dem Schemel, dem Knieriemen und der Glaskugel vor
dem Licht. Weiterhin erzählte er, daß er versprochen gewesen sei, kurz
vor seiner Verhaftung, und das Mädchen habe er auch von Jugend auf
gekannt, denn was man so in Berlin sehe von Mädchen, da wisse man bei
keiner, was der schon alles passiert sei, und das sei ja wohl nicht
richtig, wenn man als junger Kerl sein Herz an ein Mädchen hängt, denn
man könne ja tausend haben für eine, aber weil er sie so lange gekannt
und auch ihre Eltern, so sei er doch der Meinung gewesen, er habe etwas
Gutes. Wie er aber wieder aus dem Gefängnis herausgekommen sei, da habe
er sie mit einem andern verlobt gefunden, und sie habe ihm nur gesagt,
die Jugend gehe schnell vorbei, und nachher kommen die Sorgen, darum sei
man dumm, wenn man seine Jugend mit Warten hinbringen wolle. Damals sei
er an allem verzweifelt, und wenn er nicht aus der Schrift von Engels
gegen Dühring gelernt hätte, daß die Handlungen der Menschen durch die
Verhältnisse bestimmt werden, so hätte er vielleicht dem Mädchen etwas
angetan; nun aber sei das lange her, und er sehne sich nach Weib und
Kind, und besonders wenn er bei Weiland gewesen sei, der zwar sehr
leichtfertig gehandelt habe, daß er sich außer der Küche noch Stube und
Schlafzimmer gemietet; wenn er sich jedoch die Mädchen ansehe, so habe
er zu keiner Lust, daß er sie heiraten möchte, denn mit den Jahren werde
man immer bedenklicher, wiewohl ja alles Überlegen doch nicht vor einem
falschen Schritte bewahren könne, denn Heiraten sei immer ein
Glücksspiel.

Aus diesen Reden ging hervor, daß der treuherzige Mann wohl schon seine
Augen auf ein bestimmtes Mädchen gerichtet hatte, aber er scheute sich
vor dem letzten Schritt aus Furcht, wie denn ja auch Personen seines
Schlages, wenn sie nicht ein ganz besonderes Glück haben, übel
anzulaufen pflegen in der Ehe.

Als die Weihnachtszeit heranrückte, beschlossen Hans und Karl, nicht
nach Hause zu reisen, sondern sie wollten das Fest bei ihren Freunden
verleben, die ihrer Meinung nach ihrem Herzen jetzt am nächsten standen.
So besorgten sie in Fröhlichkeit die kleinen Geschenke, die sie für
einander und für die andern Freunde ausgesucht hatten, pilgerten hinaus
zu der entfernten Straße und erstiegen die vielen Treppen der hohen
Wohnung.

Hier zeigte es sich, daß die Frau den Baum herrichtete, und daß der Mann
mit den Gästen in der Küche warten mußte, und war außer den beiden
Studenten noch Jordan anwesend und jenes Mädchen, mit dem Karl sein
Liebeserlebnis gehabt; über dieses unerwartete Wiedersehen schien Karl
verlegener wie sie, denn sie reichte ihm unbefangen die Hand und
schüttelte sie kräftig; Jordan lachte, wie er Karls linkische Gebärde
sah, und die andern merkten wohl, daß zwischen ihr und Jordan
Einvernehmen war. Da wurde die Tür geöffnet und alle traten ins Zimmer,
wo auf dem deckengeschützten Salontisch ein niedlicher Weihnachtsbaum
brannte, und die Frau stand zur Seite und hatte das Kind auf den Armen,
das zwar noch ziemlich teilnahmslos war, und hielt in einem Händchen
seine Kinderklapper und sah mit etwas hängendem Kopf auf den Boden,
ungeachtet aller Aufmunterung der Mutter, es sollte den Weihnachtsbaum
betrachten. Die andern legten verstohlen die mitgebrachten Geschenke an
die passenden Plätze und zeigten dann ihre Bewunderung der Anordnung
durch Ausrufe und Lobpreisungen, welche die Frau mit bescheidenem Stolze
annahm. Der kleine Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen zeigte sich noch
einmal im Spiegel, neben dem die Bilder von Marx und Lassalle friedlich
herabsahen. Aus vielen Wohnungen des viereckigen Hofes glänzten durch
das Fenster andre Bäume, und das Bewußtsein, daß hier überall sich
Menschen freuten, machte noch froher und glücklicher. Da stimmte Weiland
mit heller Stimme die Arbeitermarseillaise an:

   Wohlan wer Recht und Wahrheit achtet,
   Zu unsrer Fahne steht zuhauf.
   Wenn auch die Lüg' uns noch umnachtet,
   Bald steigt der Morgen hell herauf!
   Ein schwerer Kampf ist's, den wir wagen,
   Zahllos ist unsrer Feinde Schar,
   Doch ob wie Flammen die Gefahr
   Mög' über uns zusammenschlagen,
   Nicht zählen wir den Feind, nicht die Gefahren all!
   Der kühnen Bahn nur folgen wir,
   Die uns geführt Lassall'.

   Den Feind, den wir am tiefsten hassen,
   Der uns umlagert schwarz und dicht,
   Das ist der Unverstand der Massen,
   Den nur des Geistes Schwert durchbricht.
   Ist erst dies Bollwerk überstiegen,
   Wer will uns dann noch widerstehn?
   Dann werden bald auf allen Höhn
   Der wahren Freiheit Banner fliegen!

   Das freie Wahlrecht ist das Zeichen,
   In dem wir siegen; nun wohlan!
   Nicht predigen wir Haß den Reichen,
   Nur gleiches Recht für jedermann.
   Die Lieb' soll uns zusammenkitten,
   Wir strecken aus die Bruderhand,
   Aus geist'ger Schmach das Vaterland,
   Das Volk vom Elend zu erretten.

Alle fielen ein, und die mächtigen und jubelnden Töne des Liedes
erfüllten den engen Raum und klangen hinaus über den viereckigen Hof mit
den gleichförmigen Lichterreihen der Fenster; und bald öffneten sich
hier und da Fenster, und neue Stimmen aus den andern Wohnungen fielen
ein, und am Ende sangen alle die armen Leute, die rings um diesen Hof in
dürftigen und engen Stuben wohnten, und ihr Lied stieg in die Höhe aus
der Stätte ihrer täglichen Hoffnungslosigkeit und Sorge zu dem klaren
und sternenfunkelnden Himmel; und unser lieber Vater im Himmel hat es
gewiß gern gehört, wenn es auch nicht fromm war und die großen Kinder
nicht an ihn glauben wollten, und hat sich seines lieben deutschen
Volkes gefreut, daß auch solche Leute, denen so wenig Gutes geschieht,
doch so rechtlich und brav denken. Wie der Gesang beendet, waren alle
tief ergriffen; das waren einfache Arbeiter, die täglich in ihre Fabrik
gehen und Schuhe machen für den gemeinen Bedarf, die ganzen langen
Stunden des Tages hindurch; und Studenten, die eben den ersten Schritt
hinaus taten in die Freiheit des Geistes; die armen Leute, die an die
knechtische Arbeit für die Notdurft gefesselt sind, stehen gewiß auf der
tiefsten Staffel der Leiter, und diejenigen, die zu geistiger Freiheit
zu dringen vermögen, auch wenn sie äußerlich nur bescheidene Stellen
erringen, stehen doch gewiß auf der höchsten Staffel; aber wiewohl die
größte Entfernung zwischen ihnen war, die unter Menschen möglich ist, so
fühlten sie sich doch als wahre Brüder, die sich lieb hatten und sich
nicht einer über den andern erhoben dachten; und wurde so wieder einmal
lebendige Tat, was unsre Vorfahren meinten, wenn sie sagten, daß vor
Gott alle gleich sind, welches Wort heute für die meisten eine sinnlose
Rede ist. In dieser neuen und wunderlichen Stimmung erhielten die armen
Geschenke, die sie einander machten, und ihre Gefühle, die sie hatten,
einen ganz andern und ernsteren Sinn wie vorher, denn es war ihnen wie
frommen Leuten in der Kirche, und nachdem erst ein Schweigen auf den
Gesang erfolgt war, wagten sie eine kurze Weile nicht laut zu sprechen.
Hier begann nun Jordan, ergriff die Hand des Mädchens und sagte, daß er
sich diesen Abend ausgesucht, um ihnen als seinen Freunden mitzuteilen,
daß sie beide sich verlobt hätten. »Zwar weiß ich,« fuhr er fort, und
das Mädchen erglühte rot, »was vorher mit ihr geschehen ist; aber ich
habe bedacht, daß ich selbst sogar mehrere Liebschaften früher gehabt
habe, und deshalb wäre es ungerecht von mir, sie zu tadeln, vielmehr
wollen wir doch alle, daß auch die Liebe frei und ohne Zwang sein soll;
denn freilich wäre jede solche Verbindung unsittlich, die nicht frei
wäre, und wahrscheinlich werden in der künftigen Gesellschaft, wo die
Not und die Gewalt fehlen, die heute alles Böse erzeugen, die Menschen
in Bälde so veredelt sein, daß sie gleich zuerst und ohne einen Irrtum
erkennen, für welchen Gatten ein jeder bestimmt ist, dem sie dann
angehören ohne Wanken, in Freiheit, aber in Treue.« Nach diesen Worten
schwieg er; die andern aber freuten sich und wünschten ihnen beiden
Glück, und als erster gab Karl der Braut die Hand mit frohem Gesicht.

Hierauf mußte zuerst die Kleine zu Bette gebracht werden, und die Braut,
die aus Verschämtheit nicht in der Gesellschaft der Männer ausharren
mochte, ging in die Küche, den Tisch für alle zu decken und das
Mitgebrachte auszupacken, das jeder für das gemeinsame Abendbrot hier
niedergelegt hatte. Und während sie das glänzende Tischtuch ausbreitete
und in die Mitte die Lampe stellte, und das wenige Geschirr verteilte,
das nicht ausreichte für so viel Gäste, besprachen die vier Männer unter
dem brennenden Baum ernste Dinge des Parteilebens, denn bei einer
Haussuchung war eine Abrechnung gefunden, aus der auf die Einzelheiten
der Organisation geschlossen werden konnte, und gleichzeitig mutmaßte
man, daß die Polizei einen Angeber gefunden hatte, der vieles wußte,
weil sie in der letzten Zeit ganz sonderbares Glück gehabt bei ihren
Verhaftungen. Das erfüllte alle mit banger Sorge, und es wurde viel
geraten und gedacht, wo wohl der Verräter zu suchen sei, und Weiland
sagte, er habe jetzt immer ein schlechtes Gewissen, daß er in solchen
Zeiten der Gefahr sich vom Leben der Partei so fern halte, aber die
andern hielten ihm vor, daß es doch besser sei, wenn die Unverheirateten
sich den Gefahren aussetzen, weil diese durch Gefängnis und Ausweisung
ja nicht in ihrer Lebenshaltung bedroht würden wie ein Familienvater,
denn ein solcher könne vielleicht ganz zugrunde gehen durch eine
Verfolgung.

Inzwischen hatte die Frau das Kind besorgt und war dann in die Küche
gegangen, der andern zu helfen, und nun rief sie mit heiterem Gesicht
die Männer in den engen und reinlichen Raum, wo durch die Küchenbank und
den Holzstuhl und umgekehrte Kisten allerhand Sitzgelegenheiten
geschaffen waren um den sauberen Tisch. Aber als sie eben sich unter
allerhand Scherzen setzen wollten, ertönte plötzlich die Klingel im
Flur; die Frau rief noch fröhlich aus, das seien ihre Eltern, die sie
überraschen wollten, trotzdem sie erst für den Feiertag einen Besuch
verabredet hätten, und sprang glücklich zur Tür; doch wie sie ungestüm
öffnete und eben die Draußenstehenden umarmen wollte, prallte sie
erstaunt zurück, denn ein feiner Herr im Zylinder, ein andrer Herr im
gewöhnlichen Anzug, ein Polizeioffizier und zwei Schutzleute traten ein
und gingen in die Stube, wo noch der Weihnachtsbaum brannte; die andern
kamen ihnen aus der Küche entgegen, und so war der enge Raum plötzlich
ganz mit Menschen angefüllt. Da gab sich der Herr mit dem Zylinder als
der Staatsanwalt zu erkennen, der andre Herr war sein Sekretär. Er
teilte Weiland mit, daß er genötigt sei, bei ihm eine Haussuchung
vorzunehmen, und drückte sein Bedauern aus, daß er gerade am heutigen
Abend kommen müsse; Weiland lachte über diese letzte Rede und deutete
ihm an, er solle tun, was sein Amt verlange. Nun wurden zuerst die
Anwesenden nach Namen, Wohnung und Grund ihres Hierseins befragt und
ihre Antworten von dem Sekretär aufgeschrieben, dann begann das
Nachsuchen, währenddessen die Schutzleute die Freunde genau beobachten
mußten, wiewohl sie eine Art freundlichere Stimmung gegen die
Überfallenen zu haben schienen, die freilich durch den Ernst der
Amtspflicht verborgen wurde.

Mit umständlicher Gründlichkeit wurde erst das Schränkchen untersucht
nach etwaigen Schriftstücken; zornbebend mußte die arme Frau zusehen,
wie ihre geringe Wäsche von den Männern hin und her gewendet wurde, und
mit Mühe hielt Jordan sie zurück, daß sie nicht schalt. Endlich fand der
Polizeioffizier ein dünnes Paket Briefe auf, das er dem Staatsanwalt
reichte, aber plötzlich stürzte sich die Frau auf ihn zu, entriß ihm das
Paket und hielt es unter ihrer Schürze. Ein Lärmen und eine heftige
Bewegung entstand, sie rief, das seien ihre Briefe, die sie ihrem Manne
in der Verlobungszeit geschrieben; der Staatsanwalt suchte die
Peinlichkeit durch Beschwichtigungen zu heben, die Freunde redeten ihr
zu, daß sie nicht durch unnützen Widerstand noch etwas Schlimmes
anrichten möge; da gab sie die Briefe zurück, das feurige Rot der Scham
im Gesicht, warf die Schürze vor die Augen und setzte sich weinend in
die Sofaecke, wo die Freundin sie mit unterdrückter Stimme zu trösten
suchte. Unterdessen fuhren die andern mit ihren Nachforschungen fort in
der wunderlichsten Weise, indem sie selbst die Bilder von der Wand
nahmen und hinter ihnen versteckte Schriftstücke suchten, den Teppich
aufhoben und sich an den Dielen bemühten. Mit einem Eifer und einer
Ernsthaftigkeit verfuhren sie, als seien die wichtigsten Dinge hier
aufzufinden, durch welche das Bestehen des Staates in Frage gestellt
werde, und das glaubten sie auch wohl wirklich. Weiland hatte der
Gesellschaft den Rücken gekehrt und sah schweigend durch die
Fensterscheiben, weil er vermutete, daß er einen Ausweisungsbefehl
bekommen werde, wenn auch die Haussuchung fruchtlos verlaufen mußte, und
er wußte nicht, was dann mit seiner jungen Frau und dem Kinde werden
sollte, bis er an anderm Ort wieder Arbeit gefunden hatte; denn durch
die Natur seiner Arbeit war er auf die wenigen großen Städte angewiesen,
wo es Fabriken gab, in denen er arbeiten konnte; die standen aber
meistens unter dem Belagerungszustand. Und wenn er wirklich anderswo
eine Stelle für sich ausfindig machte, wo er vor neuer Ausweisung sicher
war, so dauerte es doch erst eine Weile, bis er wieder zu seinem
gegenwärtigen Lohn kam, denn als ein tüchtiger und erprobter Arbeiter
wurde er besonders gut bezahlt; und dann machte der Umzug noch große
Kosten, die er gar nicht aufzubringen vermochte, weil sie beide ihre
Ersparnisse für die Einrichtung ausgegeben hatten. In Gedanken sagte er
halblaut zu sich: »Das ist doch unrecht, das ist doch unrecht.« Hans,
der neben ihm stand, drückte ihm still in einem überquellenden Gefühl
die Hand. Auf dem Tisch unter dem Weihnachtsbaum lag der erste Band des
»Kapital« von Marx, als ein Geschenk von Hans. Der Sekretär schlug das
Buch auf, wies dem Staatsanwalt eine Seite mit vielen Formeln, die sehr
gelehrt und schwer verständlich schien, und zuckte dabei als ein
hochmütiger Subalterner die Schulter, indem er dabei doch die schuldige
Demut gegen den Vorgesetzten zur Schau trug. Hierauf wurde sehr genau
das kleine Bücherbrett durchsucht und die Bände einzeln herausgenommen
und nach Schriftlichem durchblättert, und weil sich in der kleinen
Sammlung mehrere Bücher und Hefte fanden, die verboten waren, so wurden
die dem einen Schutzmann zum Mitnehmen übergeben. So gedrückt und unfrei
allen zu Mute war, so mußte sich doch Hans fast des Lachens erwehren bei
dem verängstigten Gesicht, das dieser machte, wie er die gefährlichen
Drucksachen in seine braven, dicken Hände nahm. Wie die Nachforschungen
im Schlafzimmer fortgesetzt wurden, erwachte die Kleine und begann
jämmerlich zu schreien; die Mutter trocknete sich das Gesicht ab, ging
zu dem Wagen und nahm das Kind heraus; aber die vielen Menschen und die
ungewohnte Stunde mochten es wohl so erschreckt haben, daß es sich gar
nicht beruhigen wollte. Der Schutzmann, dem die Bücher anvertraut waren,
holte eine Uhr aus der Tasche und suchte die Kleine zufrieden zu
stellen, indem er die vor ihr bewegte, und zuletzt wurde sie auch auf
dieses Spielzeug abgelenkt, versuchte nach ihr zu greifen, fing endlich
an zu lachen, und am Ende packte sie den Mann mit beiden Händen in
seinen dichten, blonden Vollbart, und erst wie er mit ganz tiefer Stimme
zu lachen begann, zog sie erstaunt die Händchen wieder zu sich. Dadurch
aber war die Mutter so aufgeräumt geworden, daß sie gleichfalls lachte,
zu erzählen begann und zu dem Kinde sprach. Plötzlich zwar hielt sie
erschreckt inne, denn es kam ihr alles wieder zum Bewußtsein; aber es
war doch, als sei eine leichtere Stimmung über alle gekommen. Wie als
eine Entschuldigung sagte der Mann: »Wir müssen doch unsre Pflicht tun.«




                             Drittes Buch


Einige Tage nach der Haussuchung bekamen Hans und Karl eine Vorladung
vor den Universitätsrichter, denn die Polizei hatte der
Universitätsbehörde Mitteilung davon gemacht, daß sie die beiden in
Weilands Wohnung angetroffen, auch weitere Angaben über ihren sonstigen
Umgang zugefügt, den sie bereits seit einiger Zeit mit Sorgfältigkeit
beobachtet hatte.

Ein alter Herr empfing sie in seinem Amtszimmer mit ernsten und
bekümmerten Mienen, legte ihnen erst die Anzeige vor und fragte, ob sie
die Nachrichten für richtig anerkannten; da waren allerhand wunderliche
Dinge berichtet, daß die beiden einmal in einer Wirtschaft an einem
Tische mit bekannten Sozialdemokraten gesessen, und daß sie ein andermal
auf der Straße beim Abschiednehmen gerufen: »Auf Wiedersehen am
Wahltage!« Die beiden waren durch die Feierlichkeit der Umstände
befangen und gestanden mit stockender Stimme zu, daß die Nachrichten
alle richtig seien; da begann der alte Herr ihnen herzlich ins Gewissen
zu reden, daß sie doch noch so jung seien und sich mit solchen Menschen
zusammentun wollten, welche die Fürsten ermorden und alles umstürzen
möchten, was uns heilig sei. Über diese Rede kam Hans in einen heftigen
Ärger, daß er die jugendliche Schüchternheit gegen den weißhaarigen und
würdigen Mann überwand und entgegnete, solche Meinungen über ihre
Absichten seien unrichtig und wollte eine lange Auseinandersetzung
beginnen. Diese schnitt der Richter aber kurz ab, indem er mit
verächtlicher Gebärde fragte, ob er sich denn zu der Partei zähle; und
wie Hans mit einem Ja antwortete und in seiner Erklärung fortfahren
wollte, unterbrach er ihn wieder und sagte, es sei gut so. Hierdurch
stieg noch die Empörung Hansens, und er sagte schnell, alle ehrlichen
Leute müßten zu der Partei halten. Wie der Richter diese kecken Worte
hörte, verfinsterte sich sein Gesicht sehr, und er neigte bedenklich den
Kopf.

Auf dem Flur draußen, nachdem sie entlassen waren, machte Karl Hansen
Vorwürfe über seine Heftigkeit und unbedachtsame Rede; aber er
antwortete, er habe nicht anders gekonnt, und ihm sei gewesen, als sitze
plötzlich ein andrer Mensch in ihm, der sich auf den Richter losstürzen
wolle, und er habe den noch zurückgehalten, und nur einmal als Kind habe
er ein ähnliches Gefühl gehabt, wie er mit den Kindern des Grafen habe
spielen sollen; und selbst noch jetzt, wo er vor der Tür stehe und alles
abgetan sei, geschehe ihm innerlich, als treibe ihn der andre,
zurückzukehren und den Richter totzuschlagen. Das erschrecke ihn selber,
denn er sei doch sonst ein sehr ruhiger Mensch.

Nun nahm die Angelegenheit der beiden ihren weiteren behördlichen Gang
mit Vernehmungen, Verhandlungen und Beschlüssen, und am Ende wurde ihnen
»wegen unzulässiger Begünstigung der sozialdemokratischen Bestrebungen«
das ^Consilium abeundi^ erteilt. Für Karl hatte der Schlag eine geringe
Bedeutung, denn der hatte sich in der letzten Zeit gänzlich in
die Literatur begeben und war ohnehin nicht willens, seine
Universitätsstudien fortzusetzen; Hans aber arbeitete an einer
Doktorarbeit und hatte den Gedanken, später durch die Empfehlung seines
Lehrers eine Beschäftigung bei einem großen gelehrten Unternehmen zu
finden; und so war für ihn dem Anschein nach eine große Gefahr
vorhanden, daß sein Leben scheiterte; denn es war wohl schwer, eine
Universität zu finden, wo er nunmehr zur Promotion zugelassen wurde, und
wenn ihm das wirklich gelang, so hatte es gewiß große Schwierigkeiten,
nachher die gewünschte Beschäftigung zu bekommen.

Weiland war aus Berlin ausgewiesen und hatte zunächst seine Familie
zurückgelassen und sich auf die Suche nach einer neuen Stelle in einem
andern Orte begeben; aber mehrmals war es schon geschehen, wenn er bei
seiner Arbeit war, daß Polizeibeamte in die Fabrik kamen und ihn
durchsuchten. Anfänglich schrieb er mit Lustigkeit, wenn er alsdann von
seinem erschreckten Herrn verabschiedet wurde und wieder weiterreisen
mußte; aber zuletzt lauteten seine Briefe ganz verzweifelt; denn er
schämte sich, daß er kein Geld nach Hause schicken konnte. Die junge
Frau hatte das Glück gehabt, daß sie die beiden Zimmer vermietete, und
so schlug sie sich denn ärmlich mit dem Kinde durch, indem sie in der
Küche wohnte; aber sie verbrachte ihre Tage mit manchen heimlichen
Tränen, wenn der eine Mieter ihre geliebten Möbelstücke rücksichtslos
behandelte, etwa mit den Stiefeln auf dem Sofa lag oder mit der Zigarre
ein Loch in die Tischdecke brannte. Sie klagte auch zuweilen dem andern
Mieter, dem, welcher in der früheren Schlafstube wohnte; derselbe war
Aufseher in einer Fabrik, ein ruhiger und ordentlicher Mann von etwa
dreißig Jahren, der verheiratet gewesen und von seiner liederlichen Frau
verlassen war. Dieses Unglück Weilands drückte Hans noch besonders
nieder, und wie er auch für sich so nirgends einen rechten Weg sah, den
er gehen konnte, so erschien ihm sein ganzes Leben in trüber
Zwecklosigkeit. Da bekam er unerwartet einen Brief von seinem Lehrer,
daß er ihn aufsuchen möge; denn wiewohl er dem durch sein Arbeiten
nähergetreten war, hatte er doch nicht gewagt, jetzt zu ihm zu gehen,
weil er sich schämte, wie denn Unglück argwöhnisch macht und die
Menschen zu einem unsinnigen Stolz verhärten kann. Hansens Lehrer war
ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und blitzenden blauen Augen, den
die Jahre nicht versteinert hatten wie die einen, daß er bei seinen
vormaligen Meinungen stehen geblieben wäre, noch hatten sie ihn schwach
gemacht wie die andern, daß er sich zu Gesinnungslosigkeit entwickelt
hätte, sondern als eine nicht auf das Handeln angelegte Natur hatte er
sich zu einer milden Skepsis entwickelt, die in verständigem Zuschauen
ihr Genüge fand, und die Wärme seines Herzens hob er für die einzelnen
Menschen auf, die ihm irgendwie nahetraten, wie unser Hans. So begrüßte
er den mit dem Troste, er wolle dafür sorgen, daß er an einer
schweizerischen Universität promoviere, und alsdann werde er auch eine
Stelle für ihn finden, wo er zuerst in untergeordneter gelehrter Arbeit
tätig sein könne und aber doch Zeit habe, eigenes zu leisten, wenn er es
vermöge. Dann fuhr er fort: »Ich meine, daß für jeden jungen Menschen,
wenn er anders Kraft in sich hat, eine Zeit kommen muß, wo ihm alle
bestehenden Einrichtungen unsinnig erscheinen; denn die haben ihren
Grund ja nicht in den sittlichen Idealen, sondern in der menschlichen
Gebrechlichkeit. Ein junger Mann aber kennt nur die sittlichen Ideale,
weil er die in sich trägt; von der menschlichen Gebrechlichkeit aber
weiß er nichts, die lernt er erst durch das Leben kennen, an sich wie an
andern. So erneuert sich, um nur ein Beispiel zu nehmen, für jede
Generation immer wieder der Zweifel an der bestehenden Eheform, und wie
der junge Mensch an die Stelle der Ehe die Liebe setzen möchte, so soll
auch in allen andern Verhältnissen an den Platz des Rechtes die
Sittlichkeit treten. Bei tüchtigen Personen kommt mit der Zeit die
Erfahrung, die ihnen die relative Vernünftigkeit alles Bestehenden zeigt
und sie bewegt, daß sie von ihrer Schwärmerei ablassen und vielmehr das
Bestehende durch Liebe und Geistigkeit verklären, weil sie anders keinen
Ausweg für ihren guten Willen haben; untüchtige Personen aber lernen
nicht durch die Erfahrung; und indem sie bei der Schwärmerei verharren,
werden sie am Ende aus ursprünglich guten und edeln Menschen zu Narren
und Verbrechern, denn weil sie darin beharren, das Gesetz für
unrechtmäßig zu halten und allein ihrer Sittlichkeit folgen wollen,
verwechseln sie mit der Zeit die Sittlichkeit mit ihren Trieben, weil ja
die Menschen bei zunehmenden Jahren immer selbstsüchtiger werden;
außerdem aber gibt es schon von Anfang an unter euch Verbesserern der
Welt schlechte Menschen, nämlich solche, bei denen nicht das sittliche
Ideal und der Mangel an Erfahrung der Grund ihres Abscheus gegen das
Bestehende ist, sondern ein Mangel an Zucht und leerer Hochmut. In
deinem Falle, mein lieber Hans, kommt noch dazu, daß wir heute in einer
Zeit leben, wo ein jugendlicher Stand, nämlich die Klasse der
industriellen Arbeiter, die erst vor kurzem durch die gesellschaftliche
Entwicklung geschaffen ist, die ihm historisch gebührende Stelle
erstrebt, welche um einiges wenige höher ist wie die, welche er
gegenwärtig inne hat. So vereinigt er mit diesem Streben alle die
jugendlichen Anschauungen von Gleichheit der Menschen, von erhöhter
Sittlichkeit in allen Beziehungen und noch viele andere, die du ja
kennst. Und wende mir nicht eure merkwürdige geschichtliche Auffassung
und eure Entwicklungsvorstellungen ein: denn auch die sind nur eine
jugendliche Illusion neben andern, besonders bezeichnend für unser
braves, nachdenkendes und vielstudierendes deutsches Volk. Wenn erst die
Verfolgung aufhört, so wird mit der Zeit auch die Illusion schwinden,
wenn auch die Terminologie noch beibehalten werden mag.«

Inzwischen bereiteten sich für Karl neue Liebesbande vor. Unvergessen
war noch in seiner Seele die Leidenschaft für Johanna, die ihm die Jahre
seiner angehenden Jünglingszeit verzehrt hatte, und es war nicht selten,
daß ihm ihr eindringliches Gesicht des Nachts in verwirrten Träumen
erschien, die wohl keine Erinnerung zurückließen, aber eine dunkle
Sehnsucht und ein unbestimmtes Fühlen in der Helle des Tages erzeugten.
Nun kam Johanna in diesen Zeiten nach Berlin und hatte bald, wie denn
die Welt ja so klein ist, Beziehungen zu dem Kreise Karls gefunden, so
daß sie ihm unerwartet entgegentrat. Das geschah aber so.

In ihre kleine Stadt war ein Fremder gezogen, ein etwa fünfzigjähriger
Herr, der ein berühmter Geigenkünstler gewesen; der hatte sich ein
altertümliches Haus am Bergabhang gekauft, dessen großer Garten mit
weitschattenden hohen Bäumen sich den Berg hinaufzog. Die alte Mauer um
den Garten wurde durch ein eisernes Staket erhöht, an dem sich im
zweiten Jahre Ranken des wilden Weins zeigten, die in Bälde so dicht und
hoch wuchsen, daß niemand von irgend einem Punkte draußen in den weiten
und schattigen Garten blicken konnte, und das Haus wurde fest
verschlossen und nur auf langes Pochen mit dem alten Türklopfer den
Boten und Geschäftsleuten geöffnet; denn ein Besuch kam niemals an diese
hohe und finstere Tür; und als einzige Bedienung hatte der Herr ein
altes Weib nebst deren gleichfalls nicht mehr jungen Tochter, die beide
abenteuerliche Gerüchte über ihn in dem neugierigen Städtchen
verbreiteten.

Der Künstler hatte ein langjähriges Virtuosenleben geführt, war an Höfen
und in Großstädten herumgereist, zuerst mit Übermut und Stolz, nachher
in Langeweile und Ekel, und wie er alle Künstlereitelkeit bis auf das
letzte befriedigt hatte und der Geschmack auf der Zunge ihm immer
bitterer wurde, war ihm der Gedanke gekommen, sich an diesen stillen Ort
zurückzuziehen und ganz nur sich selbst zu leben, denn in seinen
zerstreuten und verwirrten Umständen zwischen vielen Menschen, die alle
leer waren und ihm schmeichelten, war er auf den Gedanken gekommen, er
sei ein Selbst, und es sei wichtig und sogar nötig, daß er dieses Selbst
in Sammlung und Ruhe rein und groß aus sich herausstelle.

Indessen vergingen ihm in dem alten Hause und stillen Garten die Tage
und Wochen; und zuerst hatte er gedacht, dieses müßige Dahingleiten der
Zeit sei für das Nächste nötig, damit sich sein Geist erhole von dem
zerreißenden Leben, das er geführt. Aber auch späterhin wartete er
vergeblich auf eine Sammlung und Zunehmen der Kraft, vielmehr glitten
die Tage und Wochen wie vorher dahin, wie in einem tiefen Flusse,
schnell und ohne Halt, und auch seine Unruhe vermochte dieses
Unheimliche nicht zu hemmen. Und während er vorher gedacht hatte, er
könne keine Liebe zur Kunst in sich bilden, weil er nach der Willkür des
Zufalls fremden Leuten an verschiedenen und gleichgültigen Orten
äußerliche Musik vorspielen müsse, so zeigte es sich nun, daß er in der
Einsamkeit gar nicht den Bogen anrühren mochte und es ihm ein heftiges
Unbehagen bereitete, wenn er seinen kostbar eingelegten Geigenkasten
ansah.

Unterdessen hatten sich aus den Erzählungen der beiden Weiber in dem
Städtchen viele Legenden um ihn gebildet, von denen er nichts ahnte;
denn er war als ein hochgewachsener und schlanker Mann von
künstlermäßigem Aussehen ganz zu einem Helden phantastischer Bilder
geschaffen. Auf Johanna, die damals gegen ihr neunzehntes Jahr ging,
hatten diese Geschichten und der Anblick seiner Gestalt einen sehr
tiefen Eindruck gemacht, so daß sie eine heftige Liebe zu ihm faßte und
auf Mittel sann, wie sie sich mit ihm bekannt machen könne. Und am Ende
fand sie eines, das freilich sehr gefährlicher Art war, aber dadurch
gerade ihrem erregten Gemüt besonders zusagte. Der Fremde hielt sich
nämlich zwar von aller Gesellschaft des Städtchens zurück, aber im
Winter, wo auf dem großen See eine prächtige Schlittschuhbahn war,
verschmähte er es nicht, sich auf dem Eise zu zeigen, denn er war von
Jugend an ein eifriger Läufer gewesen; und zwar ging er immer des
Morgens auf die Eisbahn, wenn die andern Bewohner der Stadt durch ihre
Tätigkeit verhindert waren, so daß er seine kunstvollen Zirkel fast
allein und ohne lästige Gesellschaft zeichnen konnte. Hierauf baute
Johanna ihren Plan; denn an einer Stelle war das Eis dünn durch einen
Quell, der vom Boden aus das Wasser bewegte, und wiewohl der gefährliche
Punkt durch Tannhecke immer genügend gekennzeichnet war, so hatten sich
an ihm doch schon zwei Unglücksfälle ereignet; die Vorfahren erzählten,
daß durch diesen Quell der See mit dem großen Netz der unterirdischen
Wasseradern in Verbindung stehe, welche den Wassergeistern als Wege
dienen zwischen ihren Städten und Schlössern. Johanna beschloß nun, an
einem Morgen, wenn sie den Fremden auf dem See wußte, gleichfalls zum
Schlittschuhlaufen zu kommen, und wenn er in der Nähe war, mit
scheinbarer Ungeschicklichkeit an die dünne Stelle zu geraten, damit sie
einbreche und von ihm gerettet werde, denn daß er vielleicht nicht so
mutig sein könne, wie sie annahm, das kam ihr gar nicht in den Sinn.

Nach diesem Plane ging sie nun vor, und es geschah alles, wie sie
gewollt hatte, wenn schon ihr zuletzt schien, als handle sie gar nicht
absichtlich, und das Eis gab an der Stelle nach, und sie sank ein, mit
einem wunderlichen Gefühl darüber, daß das Wasser doch nicht so kalt
war, wie sie sich gedacht, und obwohl sie hatte standhaft sein wollen,
schrie sie doch laut nach Hilfe, aber es schien ihr, als habe sie dabei
gar keine Angst. Der Musiker kam eilfertig auf sie zu, und wie sie seine
Figur so von unten sah, erschien er ihr komisch; ohne daß ihr der Grund
recht klar wurde, rief sie dem ratlos Ängstlichen zu, er solle sich
flach auf das Eis legen und ihr von weitem die Hand reichen; unterdessen
hielt sie sich aufrecht im Wasser, indem sie sich an das Eis
festklammerte und die Beine nicht in die Höhe ziehen ließ. Er tat nach
ihrer Vorschrift, und sie sah vor sich eine vornehme und schmale Hand in
feinem Handschuh, die ergriff sie, und so kam sie aus dem Wasser. Wie
sie beide aufrecht auf dem Eis standen und sie sein entsetztes Gesicht
sah, in dem unter grauem Haar sich schon tiefe Runzeln zogen, da wurde
sie so aufgeregt, daß sie ihm um den Hals fiel und ihn mehrmals auf den
Mund küßte. Er brachte sie schnell nach Hause, und indem ihre
erschreckten Leute sie empfingen, ging er mit dem Versprechen, daß er
sich morgen nach ihrem Befinden erkundigen wolle.

Wie er am nächsten Tage kam, war sie gesund und fröhlich, denn der
Unfall hatte ihr nicht im geringsten geschadet, und empfing ihn mit
heiterm Lachen, er aber stand mit einer fremden Verlegenheit vor ihr,
die indessen ihr den schlanken und nicht jugendlichen Mann noch
liebenswerter erscheinen ließ. Und indem an die ersten Fäden sich bald
weitere anspannen, schien es ihm, daß er eine unwiderstehliche Liebe zu
dem jungen Mädchen gefaßt habe, denn in seinem unsteten Leben hatte er
zwar manches verliebte Abenteuer bestanden, aber es hatte noch nicht ein
Weib wirklichen Einfluß auf ihn gewinnen können. So geschah es am Ende,
daß die beiden sich heirateten, wider den Willen des Vaters und zur
großen Verwunderung der kleinen Stadt.

Schon am Hochzeitstage wurde sie ungeduldig über ihn und sprach
verletzende Worte; er schwieg, aber seine Lippen zitterten und sein
Gesicht sah alt aus; da hängte sie sich um seinen Hals und sagte ihm,
daß sie ihn lieb habe. Nun geschahen geheimnisvolle Dinge in dem
stillen, alten Hause. Einmal wurde bekannt, daß der Mann ein junges
Dienstmädchen, das sie angenommen hatten, in ihrer Gegenwart mit einer
Feuerzange geschlagen hatte, und war nachher zu dem Mädchen auf ihre
Kammer gegangen, hatte ihr Geld gegeben und gesagt, seine Frau sei
schuld, er habe nicht anders gedurft, und sie solle heimlich aus dem
Hause gehen. Noch viele andre sonderbare Geschichten wurden verbreitet,
und am Ende, nachdem die beiden noch nicht ein Jahr verheiratet waren,
wurde eines Morgens in der Stadt erzählt, daß der Mann sie
heimlich verlassen habe. Es folgte dann nach einiger Zeit eine
Ehescheidungsklage, in welcher die Frau einen Eid schwor, der mit der
Aussage des Mannes nicht übereinstimmte, aber da dieser seine Aussage
nicht auf seinen Eid nehmen wollte, so wurde ihr von den Richtern
geglaubt, wenn schon die ganze Stadt der Meinung war, daß sie im Unrecht
sei. Nach dieser Scheidung mochte sie nicht mehr zu Hause bleiben, weil
niemand mit ihr verkehren wollte, und deshalb kam sie nach Berlin, wo
sie bei einem Meister Malunterricht zu nehmen gedachte. Hier gewann sie
bald eine gewisse Stellung; denn wenn früher und auch noch jetzt in der
ruhigeren Gesellschaft eine instinktive Abneigung gegen die geschiedene
Frau herrschte, weil in ihr sich eine Verneinung dessen verkörperte, was
der allgemeine Wille der Gesellschaft war, so wird jetzt in den
unruhigeren Kreisen umgekehrt eine Geschiedene mit besonderer Freude
empfangen als eine Verkörperung der neuen Bestrebungen, und auch ohne
daß Johanna selbst Erfindungen zu machen brauchte, wurde von ihren
Mitkämpferinnen gleich angenommen, daß sie eines der Opfer der bekannten
männlichen Untugenden sei und beklagt werden müsse, und auch Männer
schlossen sich der Meinung an.

Inzwischen war jene Luise, welche die kindliche Entführungsreise mit dem
Dichter Peter gemacht hatte, zu weiteren Jahren gekommen, und durch
jenes unklare Streben und den Drang, eine Kraft zu betätigen, welche
damals die Flucht veranlaßt hatten, war sie zu einer Beschäftigung mit
dem getrieben, was man die Frauenfrage nannte, und hatte für sich selbst
einen Ausgang gefunden, denn sie lernte fleißig bei Lehrern, weil sie
das Abiturientenexamen machen wollte und dann in der Schweiz Medizin
studieren; und indem auch hier noch keine Scheidung eingetreten ist
zwischen den tüchtigen Menschen, auf denen die Zukunft ruht, die ja
irgendwie anders sein wird als die Gegenwart, und den zerfaserten und
untüchtigen, die nur aus Schlechtigkeit und Ohnmacht mit allem Neuen
gehen, so kam sie in ihren Kreisen mit Johanna zusammen und gewann eine
Zuneigung zu ihr, wie ja solche innerlich gänzlich zerstörten Personen
von Johannas Art oft die Liebe gerade der Besten gewinnen.

Karl hatte durch seine Natur die Gewohnheit, daß er gern mit Frauen
sprach, und nachdem seine wunderliche und unpassende Liebschaft ein Ende
genommen, besuchte er wieder häufiger eine solche Gesellschaft, wo er
Frauen und Mädchen antraf, die zu seiner Klasse gehörten. So kam er
jetzt auch oft wieder zu Luisen, die ihn in ihrem jungfräulichen
Stübchen empfing, mit ihrem Bruder zusammen, der sich immer mehr zu
einem wortkargen und scheuen jungen Gelehrten entwickelt hatte, und
saßen die drei dann behaglich um den runden Tisch, wo Luise mit
Freundlichkeit als Wirtin waltete, und eine besondere Wärme, die von den
friedlichen Wänden, der reinen Luft des Zimmers und der Stille ihrer
Bewegungen ausging, bewirkte in seinem Herzen ein besonderes Wohlgefühl;
dann wurde nicht gestritten und disputiert, nur Kleinigkeiten wurden
erzählt, oft in Andeutungen, die bloß den drei verständlich waren, und
zuweilen brachte Karl eine Blume mit, und wenn Luise die in einem zarten
Glase auf den Tisch setzte, so freute er sich.

Schon länger hatte er von der neuen Freundschaft gehört, aber wegen des
veränderten Namens war ihm keine Ahnung gekommen. So fand er
unvorbereitet an einem Tage Johanna beim Eintritt in das Zimmer vor, wie
sie an dem Platz gegen das einzige Fenster saß, den er selbst sonst
innehatte, und so kam es, daß er sie bei der Vorstellung nicht erkannte,
sich gleichmütig verbeugte und unbekümmert setzte. Da sprach Johanna zu
ihm: »Ich denke, wir müssen uns kennen.« Dieser Worte Klang trieb ihm
plötzlich das Blut zum Herzen, er sprang auf und zitterte, und war ihm,
als müsse er ohnmächtig werden; sie aber brach in ein silberhelles
Gelächter aus, das von einer wunderbaren Lieblichkeit anzuhören war. Da
schien es ihm, als geschehe das alles meilenweit entfernt von ihm.

                   *       *       *       *       *

Es geschah Karl, daß unter seinem gewöhnlichen Menschen, den er kannte,
sich plötzlich ein andrer und neuer Mensch erhob, den er nicht kannte,
denn der hatte bis dahin unbewegt geschlummert. Ganz plötzlich erhob
sich der und zeigte sich als blind und ganz erfüllt von einer unsinnigen
und leidenschaftlichen Liebe zu Johanna, und während er sonst alle
andern Regungen durch genaue und kranke Selbstbeobachtung in klares
Licht stellen konnte, war an diesem Treiben gar keine Beobachtung
möglich, denn es schien, als sei es ebenso einfach und nicht zu
untersuchen wie der Hunger oder Durst. Gleichzeitig mit diesem verspürte
er einen neuen Wunsch, nämlich, daß er an Gott glauben könnte, und indem
er meinte, daß es keinen lebendigen Gott gibt, betete er zu dem, daß er
ihm Glauben geben möge an ihn. Aber es war ein tiefes Dunkel und
Schweigen, und kein Trost kam herab in sein furchtsames Herz.

Ehe er Johanna wiedersah, hatte er oft an Luise gedacht und sie sich
vorgestellt, und solches Bild hatte ihn dann getröstet. Etwa sie saß
unter einem blühenden Kirschbaum, in welchem die Bienen summten, und ein
Blütenblatt fiel langsam sich drehend in ihren Schoß, oder ihre großen
und dunklen Augen hatten jenen wunderbaren, tiefinnerlichen Ausdruck,
den viele durchweinte Nächte erzeugen, wenn es die Dinge unsrer Seele
gewesen sind, um die wir geweint haben; und ihre kühle Hand lag auf
seiner Hand, Ruhe in ihm verbreitend und den Frieden, den sie sich
erkämpft hatte. Denn auch sie hatte schwere Zeiten in ihrem Innern
gehabt, aber wenn es im Gespräch an diese kam, so glitten die Worte an
ihr ab ohne Wirkung, und nur im Gefühl teilte sie mit von dem, was sie
besaß. Und er wußte, das Leben entflieht, wie der Schatten einer Wolke
dahinzieht über schweigende Wälder und Berge.

Nun waren zu dem noch die Gefühle und Triebe des andern und
untenliegenden Menschen gekommen, die sich um Johanna bewegten.

Sehr merkwürdig war es, welche Übereinstimmung er mit ihr in scheinbar
unbedeutenden Dingen hatte, die doch auf Tieferes in uns weisen; so
liebten sie beide, wenn im Bücherbrett die Bände eng zusammenstanden,
und wo eine Anzahl Werke von geringerer Höhe neben größeren aufgestellt
waren, legten sie andre oben quer über, damit die Lücke ausgefüllt
wurde. Eine eigne Rührung überfiel ihn, als er das bemerkte. Auch schien
es, als seien sie in allem der gleichen Meinung, und eine Uneinigkeit
entstehe nur scheinbar und durch Mißverständnisse. So gelangte er auch
neben Johanna oft zu dem Gefühl der Beruhigung. Zuweilen, wenn seine
Gedanken einander widerstritten, sagte sie ihm, welches seine richtige
Meinung war, ehe er selbst Klarheit gewonnen hatte; bei solchen
Gelegenheiten konnte sie ihm scherzend vorwerfen, er rede oft
doppelsinnig.

Aber plötzlich wurde ihm dann klar, daß sein Kreis enger geworden, und
daß er das frühere Gefühl verloren hatte, hinter seinem Bewußtsein
breite sich noch ein großer und dunkler Raum aus, der ihm gehörte, wenn
er nur seine Schritte in diese Pfadlosigkeit lenken wollte; dann überkam
ihn eine heftige Angst vor ihr, die ihn körperlich peinigte.

Einmal spielte er Schach mit ihr; sie hatte einen Zug getan, der das
Spiel gegen sie entschied, und als es schon zu spät war, wollte sie ihn
zurücknehmen. Er antwortete, daß das gegen die Regel sei, da stand sie
auf und sagte, nun wolle sie nicht zu Ende spielen. Wie er ihren
Gesichtsausdruck sah, wurde ihm plötzlich bewußt: sie brauchte ihn nur;
und wie sie in diese Klarheit hinein noch sprach, daß er ihrem früheren
Mann sehr ähnlich sei, da spitzte sich in ihm plötzlich ein starker Haß
zu, und er empfand fast körperlich, wie sie einen selbstsüchtigen Willen
auf ihn wirken ließ und durch den vieles aus ihm herausholte, was ihm
gehörte, um es sich anzueignen und sich in roher Weise damit zu
schmücken. Unter solchen Umständen gelangten sie zum Einverständnis. Und
zwar geschah das scheinbar unvorbereitet, aber er hatte es
vorhergefühlt. Sie stand von ihrem Stuhl auf, legte die Hände auf den
Rücken und ging im Zimmer auf und ab wie ein Mann. Vorher hatte sie
geraucht, und von dem Ende ihrer Zigarette im Aschenbecher stieg noch
eine dünne Rauchsäule in die Höhe, die jedesmal in Verwirrung geriet,
wenn sie in die Nähe kam. Sie begann damit, daß es doch nötig sei für
sie beide, zu Klarheit zu kommen, und weil für sie selbst die
Peinlichkeit des Anfangens geringer sei, so wolle sie beginnen; denn in
seiner Natur liege es, daß er endgültige Entschlüsse scheue. Und wie sie
so sprach, arbeiteten in ihm Furcht und Scheu, und er sah unglückliche
Zeiten voraus, und doch konnte er nicht aufspringen und ihr
entgegentreten, denn sein Herz bebte in tiefer Sehnsucht zu ihr.

Dämmerung sammelte sich in den Winkeln des Zimmers. Sie ging auf und ab,
sprach stockend und langsam. Es fiel ihm ein, daß er einen Vorwand haben
mußte, um das Gespräch abzubrechen, aber seine Angst fand keinen
Vorwand, und sein Herz schlug ihr entgegen.

Ihr Tonfall war fremdartig; und es wurde ihm plötzlich klar, daß sich
hier für einen Augenblick in ihr der Vorhang lüftete, durch den ihr
eignes Innere sich vor ihr verbarg, und daß sie erschrak vor sich
selbst; hätte er ihr jetzt alles sagen können, was er wollte, seinen
Haß, seine Liebe, seine Furcht und seine Verachtung, so hätte sie alles
begriffen und hätte ihn ziehen lassen. Aber er brachte kein Wort über
seine vertrockneten Lippen, und schämte sich für sie. Und weil sie im
Staube lag und sich selbst verachtete in dieser Minute, so sagte er,
wider seinen Willen und tonlos: »Du hast recht, ich liebe dich über
alles.« Wie diese Worte verhallt waren, sonderbar waren sie verhallt in
dem dunkelnden Raume, und sein Herz krampfte sich zusammen, da war auch
in ihr der Vorhang wieder zugezogen, und sie wußte nicht mehr, daß sie
im Staube gelegen hatte. Karl aber fühlte sich vernichtet, daß er hätte
mögen ohnmächtig werden.

Sie kam zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals; und er mußte sie
küssen; das war eine Heuchelei, daß er sie küßte, und eine Qual war es
für ihn. Sie wich seinem Kuß aus, scheu und befangen; aber auch sie
heuchelte ja, indem sie auswich, nur wußte er, daß ihr das keine Qual
war. Sie hatte jetzt einen Menschen, der ihre Leiden tragen mußte, einen
Feigling, der am Abgrund gestanden hatte und hinuntergesprungen war in
die Tiefe, trotzdem er wußte, daß er unten zerschmettern würde, aber er
sprang hinunter, weil etwas in ihm war, das ihn zwang, sich in dieses
Verderben zu stürzen. Und siehe, jetzt lachte sie schon, mit jenem
melodischen Lachen, das ihm so furchtbar war. Er hätte sie fassen mögen
und weit von sich schleudern, aber er zog sie an sich und flüsterte
Liebesworte. Und an Luise dachte er und ihren ruhigen Blick, und wußte
jetzt mit Klarheit, daß es nur seine Schwäche war, die sie fern von ihm
gehalten. Denn ihre Seele hatte sich zu ihm geneigt und wollte ihm ihre
sanfte Blüte erschließen.

Es folgten die äußerlichen Dinge, Verlobung und Hochzeit, und die
Aufmerksamkeit der Menschen, und inzwischen ging der seelische Kampf der
beiden weiter, denn auf der einen Seite drang sie in ihn hinein als
etwas Fremdes, suchte ihn auszufüllen und sich an Stelle seines Eigenen
zu setzen, so daß er hätte mit ihren Augen sehen müssen und mit ihren
Gedanken urteilen, und auf der andern Seite nahm sie räuberisch von ihm,
paßte das Geraubte sich an, daß es ihr altes Eigentum schien und zeigte
ihm das gelegentlich ganz unbefangen. Dann erkannte er mit Wut Stücke
von sich in fremder Gefangenschaft, die er nicht befreien konnte.

Doch er kam am Ende dazu, daß er sich gegen das erste mit einem Erfolg
verteidigte, und zuletzt wieder allein in sich war; aber gegen das
zweite gab es für ihn keine Waffen. Indessen stellte sich da unerwartet
eine Hilfe für ihn ein, denn je mehr er sich abschloß und sie aus sich
entfernte, desto geringer schien ihre Kraft zum Rauben zu werden,
wiewohl sie den Trieb dazu behielt. Dadurch kam sie in eine
Enttäuschung, die sie jedoch nicht verstand, denn die Lage erschien ihr
jetzt so, daß sie glaubte, sie habe die ganze Welt aufgefaßt, aber die
sei ganz einfach und immer gleichmäßig und verursache ihr eine quälende
Langeweile. Deshalb glaubte sie sich betrogen, weil man doch die
Erwartung habe, daß das Leben mehr sei, und in Haß und Erbitterung über
diesen vermeintlichen Betrug schloß auch sie sich nun immer mehr ab und
wendete die wenigen und geringen Vorstellungen, die sie erobert hatte,
mit Wut immer hin und her, ob sie nicht doch Neues an ihnen entdecke.
Darauf gewöhnte sie sich an, zu klagen, und erzählte in allgemeinen
Ausdrücken, daß sie vom Unglück verfolgt sei und alles fehlschlage, was
sie beginne, und alle andern Menschen mehr Glück haben, und so fort; so
wurde sie endlich auch in ihrer Ausdrucksweise pöbelhaft, denn nichts
zieht Menschen so sehr ins Gemeine wie solches Klagen. Mehr und mehr
wendete sie sich in diesen Reden mit einer Spitze gegen Karl; und am
Ende, nachdem alles, was geschehen war, sich ihr ganz verkehrt hatte,
sagte sie sogar, daß sie gegen ihre eigentliche Neigung und Absicht und
nur aus Mitleid Karls Weib geworden sei, welches Mitleid ihr nunmehr
übel vergolten werde.

Johanna hatte den Plan aufgegeben, eine bei ihr vorhandene geringe
malerische Begabung auszubilden, weil ihr die Beharrlichkeit fehlte,
sich das handwerksmäßige Können anzueignen, das für den Maler nötig ist,
und wie so viele dachte sie, daß der Schriftsteller dieses Könnens
entraten kann; und wie denn damals, als durch eine mißverstandene
Rückkehr zur Natur die Meinung aufkam, durch die Wiedergabe einer
zufälligen Beobachtung könnte man ein Dichterwerk schaffen, viele Frauen
solche Fähigkeiten zeigten, so wendete sie sich nun der Schriftstellerei
zu. Hierdurch entstanden auch äußere Gegensätze zu Karl, denn wenn auch
bei ihm selbst die Begabung nicht zum Kunstwerk ausreichte, so wußte er
doch um diesen Mangel schon bei sich genau, denn er beschränkte als Mann
sein Wollen nicht auf sein Können, und noch deutlicher sah er den Mangel
aber bei seiner Frau, deren Begabung zudem noch geringer war wie die
seinige, da sie noch mehr lediglich Ausdruck einer problematischen Natur
war und von jener Art, wie sittlich geringwertige Menschen sie oft haben
durch ihre Minderkraft.

Aber auch diese Kämpfe der Ehegatten fanden keine rechte äußere und
anschauliche Form, die eine eigentliche Erzählung möglich machen würde,
und so muß es auch hier am bloßen Bericht genügen.

Inzwischen hatten auch Karls frühere Geliebte und ihr Verlobter Jordan
geheiratet, nachdem sie ihren gebührlichen Brautstand gehabt, und hatte
sie wohl große Sehnsucht, daß sie ihr Kind wollte zu sich nehmen, das
sie von Karl bekommen, aber sie scheute sich; wie sie aber am
Hochzeitstage von ihrem Mann in die Wohnung geführt wurde, die sie
zusammen eingerichtet für sich, da fand sie in einem Kinderwagen liegen
und ruhig schlafen das kleine Söhnchen, denn ihr Mann wollte ihr eine
Freude machen. Da weinte sie vor großem Glück, küßte und herzte den
guten Jordan, und weil das Kindchen eben aufwachte und nach einer
Nahrung schrie, ging sie schnell in die Küche, woselbst schon alles
bereit stand, und richtete ihm seine Flasche, und inzwischen spielte der
Mann mit dem Kleinen, indem er ihm seine Uhr vorhielt und mit Schlüsseln
klingelte. Sie aber bei ihrer Hantierung überlegte sich, was sie ihm
sagen wolle, und wie sie wieder in die Stube kam und das Kind besorgt
hatte, sprach sie zu ihm: »Ich bin sonst stolz gewesen und hätte von
einem andern keine Gabe angenommen, auch wenn ich ihn lieb hatte, wie
ich ja in Wahrheit Karl lieb gehabt habe. Von dir aber nehme ich alles
an; und das nicht deshalb, weil ich weniger stolz geworden bin, sondern
weil du ein solcher Mensch bist, daß sich einer nicht schämt, wenn du
ihm gibst. Und nicht eine gewöhnliche Dankbarkeit habe ich gegen dich,
sondern weil ich weiß, daß das Glück, das du andern schenkst, durch
deine Güte wieder reicher zu dir zurückgeht, so liebe ich dich nur mehr
in größerer Fröhlichkeit.«

Nun lebten die beiden in ruhigem Glück, das sie dadurch noch mehr
wärmte, weil sie beide vorher durch schweres Unglück gegangen waren, und
genossen das Glück mit klarem Bewußtsein, daß dieses Unglück notwendig
für sie gewesen war.

Recht bald begann der Kleine aufrecht zu sitzen, und dann wurde er aus
dem Wagen genommen und erhielt ein kurzes Kleidchen und versuchte zu
gehen; und wiewohl er seinen Pflegevater nur eine kurze Zeit zu sehen
bekam des Abends, wenn der von der Fabrik heimkehrte, hatte er ihn doch
besonders in sein Herz geschlossen, sah ihn viel an und hielt sich zu
ihm, denn auch ganz kleine Kinder wissen schon den Gesichtsausdruck der
Erwachsenen zu deuten und haben nach dem ihre Gefühle. Schon in den
ersten Tagen, wo er sich frei auf dem Fußboden bewegen durfte, hatte er
gemerkt, daß der Vater, wenn er gekommen war, seine Schuhe wechselte,
und so brachte er ihm, ohne daß es die Mutter ihm aufgetragen, seine
Pantoffeln. Hierüber erhob sich bei den Eltern eine große Freude und ein
besonderes Rühmen seiner Klugheit, das bewirkte, daß er auch fernerhin
bei dieser Erfindung verharrte. Es bewunderten auch die andern Frauen im
Hause den Kleinen sehr und erzählten ihren Männern von dem Kind, und der
Kaufmann an der Ecke fragte jedesmal die Mutter nach ihm, wenn sie
einholte. Über alles dieses wurde sie noch glücklicher, und ihr Gesicht
war so, daß jeder froh werden mußte, der sie ansah.

Weil sie doch nun einen Mann hatte und sich nach ihrer Vorstellung nicht
mehr des Kindes vor andern zu schämen brauchte, so bekam sie eine
besondere Lust, einmal mit den beiden zu ihren Eltern zu reisen, die auf
einem Dorfe und mit der Bahn nicht allzu entfernt wohnten. So beredete
sie denn eine lange Zeit mit ihrem Mann diesen Plan, und wie die
Witterung passend war und sie beide mit Kleidung wohl versehen, daß sie
den Eltern gefallen mochten, da erbat er sich für einen Montag Urlaub,
und sie fuhren auf zwei Tage nach dem Ort mit großer Freude; der Kleine
war sehr artig unterwegs, und viele, die mitreisten, fragten die Eltern
über ihn, ließen sich erzählen und freuten sich seiner.

Die Eltern der Frau waren Instleute, die zu einem großen Gute gehörten
und ein Häuschen für sich hatten, eine Kuh und zwei Schweine, und ein
Stück Acker bekamen sie von der Herrschaft. Sie verwunderten sich sehr
über ihre Tochter, daß sie so schön gekleidet war, und über den
Schwiegersohn, und über den Enkel, und waren über die Maßen stolz und
fröhlich, und mußten die Kinder von allem erzählen, von der Arbeit des
Mannes, und von seinem Lohn, und von ihrer Wohnung in einem so großen
Hause, daß in dem einen Hause so viele Menschen wohnten, wie hier in dem
ganzen Dorfe, und daß sie polierte Rohrstühle in ihrer Stube hätten.
Über das alles schlug die Mutter die Hände überm Kopf zusammen, und der
Vater sagte nur: »Ei, ei!« Und bei dieser freudigen Verwunderung der
Alten wurde es den beiden erst so recht klar, wie gut sie es hatten, und
wie glücklich sie lebten.

Dann nahm die alte Mutter den Enkel auf den Arm, der ganz fein und
vornehm aussah in seinem großen, weißen Hut neben ihrem verbrannten und
verarbeiteten Gesicht, und ging mit ihm hinaus in den Hof, ließ ihn die
Schweine im Stall sehen und erzählte ihm, daß die zu Martini
geschlachtet würden, und daß dann Wurst gemacht würde, und er solle dann
auch eine kleine Wurst haben, und dann zeigte sie ihm die Kuh, die vor
der Krippe stehend zurücktrat und sich umsah nach den beiden mit ihren
großen, sanften Augen. Und wie die Alte so allein mit dem Jungen war und
keiner sie sehen konnte, herzte sie und küßte den Enkel fortwährend,
denn vorhin hatte sie das nicht gewagt, und das Kind streichelte ihr die
Backe und faßte lachend an ihre Nase. Der Alte aber führte den
Schwiegersohn im Häuschen herum und zeigte ihm alle Einrichtungen, wie
er die Wurst räucherte, und wo er sein Korn aufhob, denn er bekam
Dreschanteil, auch das Dach zeigte er ihm und erzählte, daß es früher
mit Stroh gedeckt gewesen sei, aber er habe jetzt ein Ziegeldach
hergestellt, und zwar habe er Falzziegel genommen, was das Neueste sei
und sehr viel besser als die Hohlziegel, die man früher gehabt, und so
redete er noch vieles Wirtschaftliche und Verständige mit dem
Schwiegersohn. Und weil ihm der so gut gefallen hatte, und er selbst
hatte doch auch seinen kleinen Stolz, so nahm er ihn am Ende beim Ärmel
und sprach zu ihm, er müsse nicht denken, daß die Eltern seiner Frau
Habenichtse wären; und wenn sie einmal starben, so kamen doch auf jedes
Kind etwa hundertundfünfzig Taler, die sie dann erbten.

Wie es gegen den Abend ging und die alte Frau daran dachte, das Essen zu
bereiten, da taten sich die beiden Alten zu einer heimlichen Unterredung
zusammen, und dann brachten sie eine Flasche Wein zum Vorschein, die
hatte die Herrschaft vor Jahren einmal geschickt als eine Stärkung für
die alte Frau, die damals recht krank gewesen war, aber sie hatte aus
eigener Ehrfurcht nicht gewagt, das Geschenk anzurühren, sondern es
aufgehoben, wenn einmal ein besonderer und festlicher Tag sein sollte.
Sie lachten beide viel in Behaglichkeit und in Unruhe über das Ereignis,
daß die Flasche nun entkorkt werden sollte, dann bereiteten die beiden
Frauen am Herde das Essen, und die Mutter freute sich, wie flink ihre
Tochter war, dachte auch seufzend früherer Zeiten, wo ihre Glieder noch
nicht so steif geworden; ganz leichtfertig ging sie an den Speck und
schnitt ein großes Stück ab, auch viele Eier nahm sie und ein großes
Stück Butter stellte sie auf, und wenn sie auch eine heimliche Furcht
hatte, ob nicht zu viel aufgehe, wenn sie den Tisch so üppig bereite, so
freute sie sich doch wieder, daß es ihren Kindern gut schmecken sollte.
Das gute Essen und der Wein machte alle Lebensgeister noch froher und
munterer, und der alte Vater erzählte aus seiner Jugend und rühmte die
heutige Zeit, daß es da jeder besser habe, und wer ordentlich und brav
sei, der erreiche auch etwas, sei es nun in der Heimat oder in Amerika;
und seine Bäcklein röteten sich unter den grauen Stoppeln, und er begann
sogar die alte Mutter an die Zeit ihrer Verlobung zu erinnern, daß die
erst sich schämte und ihm verbot und nachher gerührt wurde und sich mit
dem Schürzenzipfel ein Tränlein aus dem Auge wischte; am meisten lag ihm
jedoch das neue Dach aus Falzziegeln am Herzen, und er wurde nicht müde,
dessen Vortrefflichkeit zu preisen. Die beiden Alten hätten in ihrem
Stolz das Enkelkind gar zu gern ihrer Herrschaft gezeigt, nur wußten sie
nicht recht, wie sie das beginnen sollten, denn sie hatten Furcht, daß
sie aufdringlich erscheinen möchten, und die Herrschaft denke
vielleicht, sie wollten etwas geschenkt haben für das Kind; da kamen sie
am Ende überein, daß die Tochter mit dem Kleinen den alten Vater morgen
auf dem Felde besuchen sollte zu einer Zeit, wo der Herr gewöhnlich
geritten kam, dann würde der fragen, und er wollte ihm alles erzählen
und ihm seine Tochter zeigen und das Enkelkind, und das sähe doch dann
aus, als sei es bloßer Zufall gewesen. Und wie sie so sprachen, begannen
sie allerhand Vergleiche mit diesem Nachbarskind und mit jenem; und
keines, fanden sie, war so prächtig wie das ihre, denn an dem war alles
zu bewundern.

So gingen am Ende alle schlafen, und wie sie in den rundlich gestopften
und weichen Betten lagen, denn die Alten hatten zwei leere Betten stehen
und die Federn waren von ihren Gänsen, die sie selbst gezogen, da waren
alle so froh, daß es gar kein größeres Glück geben konnte, und schliefen
fest und ohne Träume. Und am andern Tage wurde die geplante Begegnung
mit dem Herrn auch durchgeführt, und der Herr fragte auch, und wie er
alles gehört hatte, sprach er freundlich mit der Mutter und dem Kind,
und wiewohl er nur einige gleichgültige Worte gesagt hatte, so
wiederholten die beiden Alten die doch immer wieder und waren froh.

Dann aber ging es an das Abschiednehmen, und die Eltern mit dem Kind
fuhren wieder nach Berlin zurück, unter vielen Versprechungen und
Plänen, daß sie selbst bald wieder kommen wollten, und daß die Eltern
sie in Berlin besuchen sollten, und dem Jungen hatte die Großmutter noch
zwei schöne, große Äpfel heimlich in die Hand gegeben, die vom vorigen
Herbst waren und aussahen wie eben gepflückt, die hielt er mit großer
Sorgfältigkeit fest, bis die Mutter sie ihm abnahm, weil er müde wurde
und schlafen wollte.

Nun geschah es aber, daß das Kind krank wurde, und fiel der Mutter
zuerst eine seltsame Aufgeregtheit auf und besondere Röte des kleinen
Gesichtes, dann wurde der Arzt gerufen und erkannte einen heftigen
Anfall von Scharlach. Wie die Eltern seine Worte hörten, bekamen sie
zwar erst einen Schreck, aber darauf bedachten sie, daß doch die meisten
Kinder von dieser Krankheit befallen werden und wieder genesen, und das
machte sie wieder guten Mutes. Dann folgte ein seltsamer Vorgang,
nämlich das Kind wurde immer kränker, die Eltern aber, als ob sie eine
heimliche Furcht hätten, die sie durch gewollte Hoffnung beschwichtigen
könnten, wurden gleichzeitig immer zuversichtlicher. Aber am Ende
geschah es in einer Nacht, wo die Mutter am Kopfende des kleinen
Bettchens saß, daß das Kind plötzlich schneller atmete, und weil die
Mutter vom Arzt gehört hatte, daß die Entscheidung bevorstand, so dachte
sie bei sich, jetzt überwindet es die Krankheit, das macht ihm Mühe;
plötzlich aber verzog sich der kleine Mund wie zu einer kläglichen
Bitte, und das Gesichtchen sah mit einem Male viel älter aus, und da
blieb der Atem stehen. Das war der Mutter zuerst recht sonderbar; aber
mit einem Male verstand sie, was das bedeutete, und schrie: »Er stirbt,
er stirbt!« Da sprang der Mann vom Lager auf und kam mit einem
ungläubigen Lächeln und wollte beruhigende Worte sagen, indem er die
kleinen Händchen erfaßte; die waren aber ganz anders geworden, und das
Wort stockte ihm.

So standen nun die beiden vor dem Leichnam und verstanden nichts, nur
daß dem Mann einfiel, daß er die Augen zudrücken mußte. Und wie die
Augen geschlossen waren und der Schatten der langen Wimpern sich
abzeichnete, war der klägliche Ausdruck um den Mund des Kindes
verschwunden, und in dem wachsfarbenen Kindergesicht zeigte sich ein
tiefer Ernst und eine wunderbare Entschlossenheit, wie eines Helden, der
einen schweren Gang zu tun hat. Da sank die Mutter auf die Kniee und
begann zu schluchzen. Dem Mann aber zerstreuten sich noch immer die
Gedanken durch den Gram, weil er keine Handlung zu tun hatte, denn noch
eine lange Zeit war ihm, als müsse er verlegen sein und lächeln, und
wunderte sich über sich selbst, denn er hatte das liebe Kind sehr gern
gehabt, und am Morgen geschah ihm wunderlich, wie er seine Hausschuhe
erblickte, die ihm der Kleine abends immer angeschleppt hatte, jeden
einzeln, und drückte ihn ungeschickt an sich; da strömte es ihm
plötzlich aus den Augen, ohne daß ein Aufhalten möglich gewesen wäre,
unaufhörlich, wie eine Quelle, und ohne Schluchzen. Da schonten die
beiden einander und sprachen nicht miteinander und taten ein jedes, was
nötig war.

Am Abend des zweiten Tages sagte die Frau: »Ich habe bis nun nicht an
Gott geglaubt und war stolz auf diesen Unglauben. Jetzt aber weiß ich,
daß es einen Gott gibt, und zu einer Strafe für mich habe ich diese
Einsicht gewonnen, denn ich habe dahingelebt in Leichtfertigkeit und
ohne Gedanken, und wie dieses Kind kam, habe ich es nicht aufgenommen
als eine Bestrafung dafür, daß ich nicht an mich dachte und an die
Aufgabe, die ich erfüllen soll, und auch nicht als ein Geschenk, das
mich zur Besinnung, Liebe und Nachdenken bringen konnte, sondern als
eine zufällige und ungerechte Last, die ich verabscheute, und auch die
Freude, die ich später an ihm gehabt, ging nicht aus einer Belehrung und
Besserung hervor, sondern nur aus derselben alten Leichtfertigkeit und
Gedankenlosigkeit, nach der ich dahin gelebt habe wie ein Tier im Walde.
So ist mir dieses Kind nun wieder genommen, und ich habe meine Strafe
dahin und weiß nun, daß alles das nicht möglich wäre, wenn es nicht
einen Gott im Himmel gäbe. Durch dessen Nachsicht habe ich bis jetzt
gelebt, nun aber kann ich nicht mehr leben. Wenn ich aber das tote
Kindchen ansehe, so ist mir, als habe es alles das gewußt, und wiewohl
es nur eben anfing, die ersten Laute zu sprechen und ganz kindisch war
in seinem Wesen, so hat es mich doch ganz durchschaut, und in seinem
Innern hat es mich gerichtet; das sehe ich an dem Ausdruck seines
Gesichtes.«

An Karl war eine Nachricht von dem Geschehnis gesendet; er kam zu den
beiden, und wie die Beerdigung war, wohnte er der mit seiner Frau bei.
Für das Kind hatte er keine rechten Gefühle gehabt, da er es kaum
gesehen, denn die väterliche Liebe wächst erst, wenn ein Vater in einem
größer werdenden Kinde sein eignes Bild wiedererkennt, und jene
besondere Liebe, die wir zu den ganz Kleinen haben, auch wenn sie uns
fremd sind, in deren großen und unbestimmten Augen noch ihre himmlische
Heimat träumt, die entsteht doch nur im ganz nahen Zusammenleben. Auch
hatte er nicht mehr genug Zuneigung zu seiner früheren Geliebten, um mit
ihr zu empfinden und zu verspüren, was für sie das alles bedeutete. So
überwog bei ihm das Gefühl der Peinlichkeit seiner wunderlichen Lage,
und er hatte eine Empfindung von Leerheit; die aber machte ihn
betroffen, wie er neben den beiden tiefgebeugten Menschen stand; und
seine Frau war von äußerlicher Höflichkeit und zeigte eine gewisse
Neugierde. So kam es, daß sie auf die hochgespannten und empfindlichen
Seelen der andern verletzend wirkten und denen ein häßliches Gefühl
verursachten. Nur einen Augenblick tauchte bei Karl etwas Besonderes
auf, als er sah, wie Jordan mit Zartheit seiner Frau den Arm
streichelte, als könne er sie dadurch trösten; da wurde ihm klar, wie
die beiden zusammengehörten und eins waren, und was in Wahrheit die Ehe
bedeutet, und empfand ein tiefes Mitleiden mit sich selbst.

Auf dem Heimweg sprach Johanna gleichgültige Dinge in kalter und
selbstsüchtiger Weise und erregte in Karl eine tiefe Erbitterung. Jordan
und seine Frau waren schweigend nach Hause gegangen; denn der Mann wußte
nicht, was er zu dem sagen sollte, was in ihr sich jetzt bewegte und
Gestalt annahm, und hatte Scheu und Ehrfurcht vor ihr; ihr aber hatte
dieses Zusammenkommen mit dem früheren Geliebten einen neuen Eindruck
gemacht, dessen Folgen sich erst nach Wochen zeigten. Da sprach sie zu
ihrem Manne: »Ich habe ein herzliches Erbarmen mit Karl, denn er ist ein
ganz unglücklicher Mensch; und das nicht nur durch sein ganz schlechtes
Weib, sondern auch durch sich selbst. Es ist mir aber sein Anblick eine
Tröstung gewesen in meinem gegenwärtigen Leiden, denn durch ihn habe ich
gesehen, daß ich doch nicht verworfen bin. Wir haben die christlichen
Lehren ja alle gehört, aber weil sie uns nur äußerlich gelehrt wurden
und nicht eine Antwort auf das Fragen unseres Herzens waren, so haben
wir sie nicht verstanden und dadurch sind sie uns fast in Vergessenheit
geraten. Jetzt weiß ich, was Gottes Liebe bedeutet, und weiß, daß Gott
mich liebt. Deshalb habe ich keine Unruhe mehr, mache mir auch keine
Vorwürfe und Sorgen, denn ich weiß, daß mir nur Gutes geschehen ist, und
daß mir nie Übles geschehen wird, durch die Liebe Gottes. Diese
Erkenntnis ging mir auf, wie ich Karl beobachtete, denn der gehört nicht
zu den Auserwählten; weshalb das aber so ist, weiß ich nicht, und das
wird wohl ein Geheimnis sein, das Gott sich vorbehalten hat.« So sprach
die Frau; und wiewohl der Mann den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch
später nicht verstanden hat, denn er war ein Mensch, der auf anderm Wege
zu seinem Ziele kam, nämlich durch seine eigne Milde und Güte, so wußte
er doch, daß auch solches gut ist, und ließ sie nach ihrer Art denken.

Und so lebten die beiden sich immermehr ineinander, und am Ende
erreichten sie dasjenige Maß von Vollendung, das bestimmt ist für solche
Leute, wie sie sind, mögen das nun gelehrte und hochmächtige oder schöne
und berühmte Menschen sein, oder ein armes und unbeachtetes
Arbeiterpaar, das nicht unterschieden von den andern in einer
menschenerfüllten Stadt wohnt.

                   *       *       *       *       *

Hans erhielt einen Brief von seiner Mutter, er solle recht schnell nach
Hause kommen, denn sein Vater sei sehr krank, und weil er wußte, daß das
eine gefährliche Krankheit war, denn sonst hätte sie nicht so dringend
geschrieben, so machte er sich eilig und voll Sorge auf die Heimfahrt;
und fuhr denselben Weg wie damals, als er vor Jahren nach Berlin
gekommen war, nur fehlte ihm jetzt der Glanz der Erwartung, und alles
erschien ihm wie einem Enttäuschten, und sonderbar nüchtern war es auch
in der Heimat, die Luft, und die Frische, die wohlbekannte Art von
Menschen mit luftgefärbten Gesichtern, und die Häuser und Wälder. Wie er
den alten Weg zum Forsthause ging, da kam ihm keinerlei freudiges
Gefühl, und nur auf den gemeinen Nutzen waren die Holzstöße, das dünne
Waldgras und die hohen, grauen Baumstämme gestimmt, und das alte Haus
erschien ihm klein und dürftig mit der niederen Haustür und den winzigen
Fenstern, und es war, als hänge alles hier nur von der täglichen
Notdurft ab, in einer kleinlichen, beengenden und drückenden Weise, und
wiewohl das Stübchen genau so war wie früher, so schien es gering und
unwohnlich, und ganz jämmerlich waren die häßlichen Lithographien vom
Leichenzug des Jägers und des Fischers, die über dem schwarzen Sofa
hingen. Der Vater ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab und
begrüßte den Sohn in zerstreuter Weise, ohne nach etwas zu fragen, die
Mutter kam mit verweintem Gesicht aus der Küche; wie alt und gebückt
erschienen die beiden, die er als so stattlich in der Erinnerung gehabt;
waren denn das die wenigen Jahre gewesen, die derart alles verändert
hatten? Der Vater begann gegen Hans gleich über einen Holzarbeiter zu
schelten, der etwas versehen hatte, denn er konnte seine Gedanken nicht
mehr recht bewegen, und weil er den Mann eben im Sinne gehabt, so mußte
er über ihn sprechen; auch vermochte er sich keine Vorstellung zu
machen, welche Sorgen und Gedanken in seinem Sohne sein mochten, den er
früher doch so zärtlich geliebt hatte; und die Mutter fing an zu klagen,
wie sie mit Hans allein war, über Schmerzen und allerhand
Krankheitserscheinungen bei sich und über die Teuerung aller notwendigen
Waren, und daß der Vater so stumpf geworden war; und auch sie schien
über allerlei Kleinigkeiten das Wichtigste zu versäumen, und ihre
Anteilnahme an Hansen zeigte sich nur in Erkundigungen über allerhand
äußerliche und geringe Dinge.

Da kam er sich fremd vor und ganz einsam und verlassen, da fiel es ihm
schwer aufs Herz, wie er die ganzen Jahre kaum an seine Eltern gedacht
hatte und ihnen selten etwas von dem Wichtigen mitgeteilt, und besann
sich, wie sie mochten gelitten haben unter seiner Kälte. Er fragte nach
dem Hühnerhund, den hatte der Vater totschießen müssen, weil er durch
das Alter die Räude bekommen hatte. Wunderlich, der Hund hatte schon
seinen Lebenslauf beendet, den er hatte aufwachsen sehen von einem
täppischen, dickbeinigen und spielerischen Wesen zu einem pflichttreuen
und verständigen Jagdhund, und er selber, Hans, war nahe an das
Mannesalter gekommen und hatte nicht die Arbeit für sein Leben.

Die alte Dorrel faßte seine Hand mit beiden Händen und streichelte sie,
dabei fielen ihr die Tränen aus den Augen, denn sie freute sich, daß er
so groß und stattlich geworden war, und beseufzte, daß sie daraus ihr
Alter erkannte. Dann erinnerte sie ihn, wie sie zusammen Kartoffeln
gerodet hatten, und dabei ging ihm zum ersten Male das Herz auf, und es
war, als ob sich der Panzer lockere, der ihn fest umfing. Aber nur einen
Augenblick war das, dann hatte er wieder das Gefühl, daß er nun an die
Stelle der Eltern treten mußte, die im Absterben waren, und daß er doch
das nicht konnte, denn er fühlte sich noch als ein Kind, das geleitet
wird, und das Leben erschien ihm übermäßig schwer, daß er es gar nicht
tragen konnte. Das kam ihm aber vornehmlich vom Vater, denn der tat wohl
scheinbar alles wie sonst, aber alles, was er tat, hatte einen seltsamen
Anblick fast gespenstiger Art, denn es ging aus einer zwecklosen Unruhe
hervor und nicht aus bedachten Absichten; so stand er morgens lange vor
Tag auf und ging in den Wald, vieles vergessend und sich um
Kleinigkeiten erregend, und kehrte zu wechselnden Zeiten nach Hause
zurück, eine zerstreute Ratlosigkeit mit sich führend. Und indem Hans
seiner Eltern Leben überdachte, fand er, daß sie immer ehrlich und
redlich ihre Pflicht getan, für ihr Kind gesorgt und auch andern
Menschen geholfen hatten nach ihren Kräften. Und wenn nun solches das
Ende war, welchen Sinn und welche Bedeutung hatte dann wohl überhaupt
das Leben? Da überkam ihn eine Furcht, und es wurde ihm klar, daß er bis
dahin gewandert war wie ein Träumender auf einem hohen Gebäude, und
jetzt war er aufgewacht und sah ein, daß man sich in die Tiefe stürzen
muß. In der Nacht stand die Mutter mit dem Licht an seinem Bett, denn
der Anfall des Vaters, wegen dessen sie ihn hatte kommen lassen, war
wiedergekehrt. Da lag der alte Mann in dem engen Bett, unbeweglich, und
ein Auge war geschlossen und war tief eingefallen und das andre rollte
in der Höhle hin und her, als wolle er jeden besonders ansehen, er
konnte aber auch nicht sprechen. Am Fußende stand die Mutter und weinte
still, und in der Tür stand Dorrel, die schluchzte, und das Auge des
Sterbenden rollte stumm in seiner Höhle. Es war, als ob jetzt ganz
besondere Gedanken in dem Vater waren, an die er sonst nie gedacht, die
ganz neu und unerhört waren, und seinem Sohne mußten sie eine besondere
Aufklärung geben. Aber die Zunge war gelähmt, und nur einmal rief eine
besondere Anstrengung ein unverständliches Murren hervor. Kurze Minuten
dehnten sich endlos aus, und das flackernde Licht erzeugte hüpfende
Schatten an der geweißten Wand. Dieser Mann war nun alt und wollte
sterben. Und nun war Hans ein Mann geworden und war so, wie er selbst
vor langen Jahren seinen Vater gekannt hatte, der nun ein alter Mann war
und sterben wollte. Grauenhaft war das. Denn es waren doch auch nur
wenige Jahre, dann war er selber gleichfalls so alt wie dieser Mann, der
jetzt im Sterben lag, und dann mußte er gleichfalls sterben. Da war es
ihm, als verstehe er innerlich, was der Vater dachte und wollte, kniete
nieder vor der niedrigen Bettstelle und legte seinen Kopf auf das Kissen
neben den Kopf des Vaters, und das rollende Auge beruhigte sich, und
Hans verspürte, wie aus seines Vaters Herzen eine heiße Liebe zu ihm
herüberströmte, und die Mutter kniete auch vor dem Bett und hatte seine
Hand gefaßt, und auch auf die Mutter strömte Liebe und freundliches
Wohlwollen. Und Hansens Herz erwiderte die Liebe, und er fühlte
deutlich, daß er zu seinem Vater gehörte, denn alles andre, was ihm
geschienen, war falsche Äußerlichkeit gewesen. Wie er sich dergestalt
glücklich fühlte, ging von dem Sterbenden ein erleichtertes Seufzen aus,
und eine Bewegung ging durch den ganzen Körper; da erhob sich die Mutter
und drückte ihm das Auge zu.

Er lag mit einem friedlichen und beruhigten Gesichte da, und war, als
habe er in den letzten Minuten nicht nur etwas Schönes empfangen,
sondern auch eine große Weisheit, die ihn in ein gläubiges Erstaunen
versetzte und seine Züge hell machte. Hans sprach: »Mutter, ich kann
nicht weinen, denn er ist sehr glücklich geworden.« Die treue Dorrel
aber kam an das Bett, nahm die Hände ihres Herrn und faltete sie; und
dann faltete sie ihre eigenen Hände, die von vieler harter Arbeit
zeugten, und betete leise. Hans sprach zu seiner Mutter: »Ich habe es
nicht um ihn verdient, daß er mich so geliebt hat, aber ich will sein
Andenken lieb haben.«

Viel dachte Hans darüber nach, woher es gekommen sein möge, daß seines
Vaters Liebe erst in den letzten Minuten zu ihm sprach, und daß die Tage
vorher so wunderlich verwirrt gewesen, und am Ende fand er darin eine
Erklärung, daß seines Vaters Jugend zu schwer gewesen war und ohne
Glück. Es muß aber jegliches Lebensalter auch das seiner Art
entsprechende und gebührende Glück haben, sonst gedeiht der Mensch nicht
zu seiner Vollkommenheit, sondern wird wie ein Baum, der in seiner
Jugend nicht nach allen Seiten hat frei wachsen dürfen. Und wie er
weiter nachdachte, fand er, daß dieses Glück viel weniger von der
äußeren Gelegenheit abhängt, wie vom Menschen selber, ob er es aus sich
herausbilden will, so daß also ein Mann wie sein Vater doch in seinem
Innern einen Fehler gehabt hat. Aber diesen Fehler hatte er auch selber,
und glich wohl sehr seinem Vater; das wollen wir bedenken, da unser Hans
doch von deutscher Art und Sorte ist.

Als ein sehr veränderter Mensch kehrte Hans nach Berlin zurück, und es
schien in Wahrheit, als ob er durch den Tod seines Vaters viel älter und
ein Mann geworden sei, und besonders zeigte sich das, indem seine
Gefühle gegen Personen, die ihm bis dahin nahegestanden, plötzlich ganz
anders waren, ohne daß er einen Grund wußte. Am ersten kam es zu einem
Bruch mit Heller. Der war längst in der früher beschriebenen Art
verheiratet und hatte sich ein kleines und bürgerliches Leben begründet,
indem er seine Anschauungen in Zeitungen verbreitete, die von Arbeitern
und kleinen Leuten gelesen wurden. Hans besuchte ihn, wie er einen
heftigen Einsamkeitsgram hatte, und traf ihn in seinem ärmlichen und
sauber eingerichteten Zimmer, wie er in einem großen und gestickten
Schlafrock am Schreibtisch saß; er hatte etwas an Umfang zugenommen, und
im Gesicht war ein Ausdruck eines herablassenden Wohlwollens ständig
geworden, der sehr aufreizend wirkte. Da verspürte Hans zu seiner großen
Verwunderung, wie er ihm die Hand gab, eine tiefe Verachtung gegen den
alten Freund, und ihm war, als sähe er eine unerträgliche und
widerwärtige Maske, die ganz hohl war und unbewegte Züge hatte, und
alles ärgerte ihn, der Schlafrock und der anspruchsvolle lehrhafte Ton,
und besonders einige hochtrabende Worte. Und wie ihm Heller am Ende
erzählte, daß er beabsichtige, sich für den Reichstag aufstellen zu
lassen, und daß sein Wahlkreis ziemlich sicher sei, da entfuhr es Hans,
daß er grob wurde und Heller einen Intriganten nannte, und das
Sonderbare kam ganz gegen seinen Willen und auch gegen seine vorherige
Meinung; aber die Bezeichnung hatte den wunden Punkt des andern
getroffen, den Hans nur unbewußt geahnt hatte, denn er antwortete sehr
gereizt, und das Ende war, daß Hans fortging mit dem klaren Bewußtsein,
daß er für immer mit Heller auseinander war.

Nicht lange währte es, da hatte er einen ähnlichen Vorfall mit
Krechting; der sagte ihm, er sehe aus ganz andern Augen wie früher und
zeige einen besonderen Stolz, und aus diesem erkenne er, daß sich sein
Wesen geändert habe und ein starkes Wollen in ihn gekommen sei, und so
würden wohl ihrer beiden Wege jetzt auseinandergehen. Denn wir erwürben
uns Freunde und zehrten diese innerlich aus, und hierdurch wie durch
anderes würden wir mit der Zeit neue Menschen; dann seien diese Freunde
geschmacklos für uns geworden und wir würfen das Geringe, das von ihnen
übrig sei, gleichgültig zu anderm Unrat, der sich aus unsrer
Vergangenheit um unsre Hütte ansammle; und etwa wie ein neugieriger
Gelehrter die Küchenabfälle vorgeschichtlicher Völker durchwühle, so
könne einmal ein Seelenforscher, wenn einer von uns einmal für einen
solchen interessant wird, den Abfallhaufen studieren und aus ihm die
Geschichte des Mannes erraten.

Krechting saß in seiner Stammkneipe an seinem gewohnten Tisch, und wie
er mit seinem unglückseligen und verkümmerten Körperchen dasaß in seiner
Ecke und verbissen vor sich auf sein Glas sah, da wurde Hans von tiefem
Mitleid ergriffen, der andre aber verspürte seine Bewegung, und sein
Hochmut machte, daß er sich deren schämte, und so wurde seine Stimme
plötzlich heiser und rauh, wie er fortfuhr, daß er keinerlei
Empfindungen von Hans wünsche, denn er selbst habe vielleicht nur einen
gewissen Neid auf ihn, weil er für sich immer an der Seite stehen werde
und bittere Urteile aussprechen, indessen andre sich zu handelnden
Menschen bildeten; aber im Grunde wolle er ja dieses Leben; und nach
einem Jahrzehnt werde Hans ihn immer noch hier in dieser Ecke sitzen
sehen und in der gleichen Weise sprechen wie jetzt, und werde inzwischen
eine neue Anzahl jüngerer Freunde mit ihm zusammengekommen sein und nach
ihrer bestimmten Zeit ihn wieder verlassen haben, und so werde es gehen,
bis er zu alt sei für junge Freunde. Alles das sei ihm ganz klar, und es
müsse wohl so sein; nur grüble er vergeblich, welches doch der Grund
eines solchen Zustandes sein möge; aber wahrscheinlich habe auch der
bezauberte Merlin nicht gewußt, aus welchem Grunde er in seiner
Rosenhecke träumen müsse.

So zeigte Krechting doch wider seinen Willen seine Schwachheit, und
dadurch bewies er, daß er in Wahrheit eine Liebe zu Hans gehabt, die
sich freilich nie geäußert hatte. Aber Hans verspürte das Nichtgesagte,
und eine wunderliche Wehmut befiel ihn, eine Art Gefühl, als trenne er
sich von einer warmen und treuen Heimat, um auf das hohe Meer zu gehen,
und doch wußte er, daß Krechting ganz recht hatte, und es war besser für
beide, daß sie sich in Freundschaft und Ruhe trennten, denn sonst wäre
bald ein Streit zwischen ihnen ausgebrochen, und sie hätten sich
gegenseitig tiefe Wunden geschlagen zum Abschied.

Inzwischen hatte Weiland noch mehrmals seine Stadt gewechselt, weil er
überall durch die Nachforschungen der Polizei und auch durch
Ausweisungen vertrieben wurde, bis er endlich nach gut zwei Jahren in
Süddeutschland einen ruhigen Aufenthaltsort fand, zu dem er hoffte,
seine Familie nachkommen zu lassen, die er in der ganzen Zeit nicht
gesehen; und schon begann sich sein Gemüt wieder zu erheitern durch die
Hoffnung auf ein friedliches und anständiges Leben. Zu Hause aber war
seine Frau mit jenem Zimmerherrn, von dem schon berichtet, immer näher
gekommen.

Das war eine ganz ruhige und einfache Entwicklung gewesen, deren Ende
beiden unerwartet kam; denn der einsame und stille Mann, der bei seinen
Arbeitsgenossen in der Fabrik und im Wirtshaus nicht Gelegenheit hatte,
von dem zu sprechen, was ihn bedrückte, fand in der engen und sauberen
Küche der Frau, wo das Kindchen auf der Erde spielte und sich auch wohl
an seinem Knie hochrichtete, eine Wärme und Zuneigung, und so berichtete
er sein Leben und hörte ihre Geschichte, die sie unter häufigem Weinen
erzählte, und bald teilte sie ihm aus ihres Mannes Briefen mit von den
vielen fehlschlagenden Hoffnungen und Versuchen, und er tröstete sie und
freute sich an der Entwicklung des Kindes; dann machten sie ab, daß die
Frau für ihn kochen sollte, und mit der Zeit besorgte sie alle seine
Angelegenheiten, und wie sie nun immer mehr wirtschaftliche Dinge gemein
bekamen, die besprochen werden mußten, zu den andern Angelegenheiten,
die sie sonst schon besprachen, da geschah es, daß er die ganze Zeit
über, wenn er zu Hause war, bei ihr in der Küche saß. Sie schrieb in
ihren Briefen an ihren Mann vieles von dem Fremden und rühmte ihn sehr,
bis ihr endlich ihr Mann einmal in neckischem Tone antwortete, sie solle
sich nur nicht in den andern verlieben, denn er selbst sei doch so lange
von Hause fort. Über diesen Scherz wurde sie sehr nachdenklich, und wie
sie sich alles überlegt hatte, sagte sie zu dem Fremden, daß die Leute
im Hause Übles reden könnten, wenn sie so oft zusammen seien, deshalb
scheine es besser, wenn er nicht zu häufig zu ihr komme. Aber schon
hatte die Gewohnheit einen zu tiefen Eindruck gemacht, und wenn der Mann
abends nach Hause kam, hatte sie immer etwas, das sie mit ihm bereden
wollte, und so kam sie jetzt zu ihm auf sein Zimmer.

Aber doch hatte sie nun ein Bewußtsein, daß sie etwas tat, das nicht
recht gehörig war, und deshalb fing sie an, sich selbst Entschuldigungen
zu machen; auch erwähnte sie des Fremden nicht mehr in ihren Briefen.
Ihre Hauptentschuldigung aber, die sie sich machte, war die, daß sie
noch jung sei und ihr Leben genießen wolle; denn in dieser kindischen
und offenherzigen Art wissen die Leute sich ihre Vergehen darzustellen.
Und auch der Fremde, der ein braver und ordentlicher Mensch war, hatte
bis dahin aus allem kein Arg gehabt; aber nun, wie ihn die Frau öfter
besuchte und in ihrem geheimen Schuldbewußtsein einen wunderlichen und
verführerischen Reiz ausübte, den sie vorher gar nicht gezeigt, da kam
auch er zu Nachdenken und Verlangen; und so steigerten sich beide
unbewußt immer gegenseitig, bis der Mann eine leichte Zärtlichkeit
wagte, die zwar anfänglich zurückgewiesen wurde, aber wie es denn
geschieht, in solcher Art, daß er Mut bekam für einen neuen Versuch, und
bald ahnten sie jeder, daß sie auf brüchigem Eis wandelten.

Hierüber war der Frühling ins Land gekommen, und die beiden verabredeten
sich zu einem Ausflug am Sonntag und fuhren mit der Bahn in einem
überfüllten Zuge zu einem der Orte, nach dem sich diese Ausflüge
richten, gingen dort im Walde, der von vielen Menschen belebt war, dann
aßen sie in einer Wirtschaft zu Abend und kehrten am Ende zum Bahnhof
zurück, um nicht allzu spät wieder in Berlin zu sein. Es war eine schöne
und etwas strenge Frühlingsluft gewesen, welche die Nerven anspannt und
ein Gefühl in uns weckt, als stehe ein besonderes Glück vor uns. Auf dem
Bahnsteig trafen sie einige andre Paare, die gleich ihnen frühzeitig
zurückfahren wollten, und war ihnen ein eignes und sehnsüchtiges Gefühl,
wie sie so diese heimlich flüsternden und vertraulichen jungen Leute
sahen. In dem Zuge, der wegen der Frühe fast leer war, hatten sie ein
Wagenabteil für sich, so fuhren sie allein durch das Dunkel nach Hause.
Da wurde die Frau von einem neuen bräutlichen Gefühl übermannt, und die
Tränen kamen ihr, sie lehnte sich an die Schulter des Mannes, der faßte
ihre Hände, und so fuhren sie schweigend.

In der Folge entwickelte sich ein Trotz bei der Frau, weil sie ihr
Unrecht fühlte, sie behielt ihren Grund, daß sie ihr Leben
genießen wolle, solange sie jung war, und sagte auch, daß die
Wohnungsverhältnisse Ursache seien, und endlich fand sie sogar, daß ihr
Mann, weil er zu sehr an die Partei gedacht, die Familie vernachlässigt
habe. Wie sie aber ihrem Manne von allem schrieb, erwähnte sie von
diesen Gründen und Ursachen nichts, sondern sagte nur, daß sie den
andern lieber gewonnen habe, und als freier Mensch wolle sie sich von
ihm trennen und sich mit dem verbinden.

Dieser Brief kam gerade in Weilands schönste Hoffnungen und machte ihm
einen sehr tiefen Schmerz, denn es war ihm, als sei er plötzlich wie
eine Pflanze, die aus der Erde gerissen ist, und nachdem er etwa eine
Woche in dieser Stimmung verharrt hatte, wurde ihm in seinem ganzen
täglichen Leben so trostlos zumute, daß er dachte, es könne so nicht
bleiben, sonst werde ihn der Überdruß zum Trinken verführen, deshalb
beschloß er, daß er Deutschland gänzlich verlassen wollte, und nach
Amerika gehen, um in eine völlig neue Umgebung zu kommen und hier durch
die Arbeit der Anpassung vielleicht neuen Sinn zu kriegen, denn er
dachte sich, daß er noch jung war und sein Leben noch nicht verloren zu
geben brauchte, weil er es ja immer noch ganz von neuem zu begründen
vermochte.

Indem er aber vorher noch von seiner Frau und seinem Kinde Abschied
nehmen wollte und besonders das Kind noch zum letzten Male sehen, dachte
er, erst nach Berlin zu fahren, und zwar war er ja dort ausgewiesen,
aber er hoffte, daß die Polizei, wenn er die Reise geheim betreibe, doch
nichts von ihm erfahren werde; und zur besonderen Vorsicht ließ er sich
den Bart abnehmen und das Haar schneiden, um weniger leicht erkannt zu
werden; aber gerade diese Vorbereitung erweckte einen Verdacht, denn da
er aus irgend einem Grunde für einen besonders gefährlichen Menschen
gehalten wurde, so war er sehr genau beobachtet. So kam er in Berlin an
und ging die bekannten alten Wege zu seiner Wohnung, die er früher immer
mit großer Fröhlichkeit gegangen war, und klingelte an der Tür, und weil
ihn seine Frau nicht gleich erkannte auf dem dunkeln Flur, so hieß sie
ihn unbefangen eintreten; da stand er auf der Küchenschwelle, und der
Tisch, der damals ganz neu gewesen, hatte auf der Platte seine Farbe
verloren durch den Gebrauch; aber es war eine weiße Gardine vor dem
Fenster, und plötzlich wurde ihm so wehmütig zu Sinn, daß er hätte
weinen mögen. Seine Frau stand in der äußersten Ecke und sah erschreckt
auf ihn hin, und das Kind war auf ihn zugeeilt und hatte »Papa« gerufen,
in der Meinung, er sei der neue Vater, aber dann hatte es seinen Irrtum
erkannt und war vor dem fremden Manne erschreckt zurückgelaufen und
versteckte jetzt sein Gesicht in der Schürze der Mutter. Das
erschütterte ihn mehr wie das Entsetzen seiner Frau, daß sein Kind sich
vor ihm fürchtete, da rief er mit schluchzender Stimme: »Sehe ich denn
aus wie ein Verbrecher, daß ihr vor mir Angst habt?« Aber die Frau
starrte ihn nur immer besinnungslos an, und das Kind machte das Köpfchen
etwas los und blickte scheu zurück; da kamen ihm die Tränen, und er
wagte nicht, einen Schritt vorzusetzen.

In diesem Augenblick traten Schutzleute durch die Flurtür herein, die in
der Aufregung der beiden offen geblieben war, und einer legte die Hand
auf Weilands Schulter und erklärte ihn für verhaftet wegen Bannbruchs;
zerstreut sah er dem bärtigen Mann ins Gesicht, dann schrie er laut den
Namen seiner Frau, der kamen jetzt auch große Tränen über die Wangen,
aber sie stand noch immer gelähmt. Vor der Tür draußen sammelten sich
neugierige Hausbewohner, ein Murmeln und die befehlende Stimme eines
Schutzmannes wurde gehört. Da wendete sich Weiland langsam um und ging
die Treppe hinab mit den Männern, die ihn verhaftet hatten, und die Knie
zitterten ihm, und seine Frau mit dem Kind waren oben in der Küche.

Wie er zwischen den Polizisten aus der Haustür auf die sonnenhelle
Straße trat, in deren Mitte ein Pferdebahnwagen fuhr, da flüsterten
Leute hinter ihm, er sei betrunken; da ergriff ihn eine unbändige Wut
und eine sinnlose Verzweiflung, daß er sich auf den einen Mann stürzen
wollte. Wie er eben die Bewegung begann, hörte er eine scharfe und
schneidige Stimme rufen: »Achtung!« Das durchzuckte ihn, und das alte,
bekannte Schlagwort, das er selbst vielhundert Mal gerufen, kehrte in
ihn: »Laß dich nicht provozieren.« So ging er denn ruhig mit, nur die
Fäuste hatte er geballt.

Er wurde wegen des Bannbruches zu einigen Wochen Gefängnis verurteilt,
und während dieser Zeit hoffte er immer, daß ihn seine Frau noch einmal
mit dem Kinde aufsuchen werde, aber die schämte sich und so nahm der
Mann von Deutschland Abschied mit Bitterkeit im Herzen. Aber als er vom
Schiff aus New York erblickte, wo sich über dem breiten Lager der
gewöhnlichen Häuser wie gewaltige Türme des Mittelalters die
Riesenbauten erhoben, die mit ihrer obersten Galerie die Wolken streifen
und deren Wände doch blitzen von spiegelnden Fensterscheiben, denn nur
aus Eisen und Glas sind sie erhoben, da war es, als ob in ihm
Begeisterung, Kraft und neue Freude erwachten. Und wie er durch die
breiten Straßen ging, wo die Menschen sich rücksichtslos drängten mit
willensstark geradeaus gerichteten Blicken und jeder ein Ziel verfolgte
und Mut und Hoffnung hatte, da richtete sich auch seine Haltung, nicht
in der militärischen Art wie zu Hause, sondern nach amerikanischem
Wesen, und ein Einheimischer sah wohl verwundert den Einwanderer mit dem
kleinen Bündel an, der gar nicht aussah wie ein gewöhnliches Grünhorn.
Und es glückte ihm, daß er gleich Arbeit bekam in seinem Geschäft, und
schon nach einem halben Jahre, wie er sich an das Neue gewöhnt hatte,
rückte er zu einem Meisterposten auf, dann wurde sein Ehrgeiz immer
lebendiger, und nicht lange währte es, da mußte ihn sein Herr, der einst
gleich ihm als armer Schustergeselle eingewandert war, mit am
Unternehmen beteiligen, und nun hatte er den Weg frei vor sich, der ihn
einst zum Reichtum führen mußte. Ganz sonderbar schnell hatte er sich
seiner Sprache entwöhnt und waren alle seine Manieren amerikanisch
geworden, und weit, weit in den Hintergrund traten ihm seine
jugendlichen Bestrebungen und die Erinnerung an Weib und Kind, denn nur
zuweilen im Traum kam es ihm, daß er die alten Zeiten sah. Später
heiratete er eine amerikanische Frau, die ein schlankes und stolzes
Wesen war mit offenem Gesicht, die ihm erschien wie eine Königin,
trotzdem sie nur Buchhalterin gewesen war in seinem eignen Unternehmen,
und so bereitete er mit die neue Gesellschaft vor, die freilich ganz
andrer Art ist wie die einst von ihm geträumte, und die einmal
unbarmherzigen Krieg führen wird gegen uns Altväterliche.

In Hans begann jetzt allmählich ein Gefühl der Einsamkeit, denn die
Jahre waren vorüber, wo man die Vorstellung hat von vielen unbekannten
Freunden, die man nur anreden müßte, auch verliert am Ende der
Jünglingsjahre das Bewußtsein gemeinsamer Überzeugungen seine Bedeutung,
das leicht Menschen zur Freundschaft zusammenbringt, denn in Wahrheit
fängt jetzt das Alter an, wo die Ehe eintreten muß und die erfolgreiche
Berufsarbeit, in welcher die Fähigkeiten und Kenntnisse verwendet
werden, die suchende Jünglingsjahre erworben haben. Aber weder konnte
Hans an eine Ehe denken, auch wenn er eine Liebesneigung gefaßt hätte,
denn er vermochte nur eben sich selbst zu ernähren, noch erschien ihm
seine Tätigkeit als eine Berufsarbeit für das Leben, denn sein Lehrer
hatte es ihm wohl nach seinem Versprechen verschafft, daß er bei einem
großen wissenschaftlichen Unternehmen mitbeschäftigt wurde, aber die
Arbeit war ihm nur ein gemeiner Broterwerb. Aber welche Tätigkeit er
sich aussuchen sollte, das konnte Hans auch nicht sagen, und so machte
er sich jetzt oft Vorwürfe, daß er sich früher durch zu vielerlei
Interessen zersplittert habe.

Derart sah er nun auch andre Dinge in einem grauen und unerfreulichen
Schein, die ihn früher glücklich gemacht hatten, die unreife
Begeisterung der Jugend war erloschen, und Erfahrung und Verständigkeit
hatten noch nicht ein neues Bild der Welt geschaffen; so wunderte es
ihn, wie er in einer Volksversammlung ein ganz neues Bild bekam, wo er
eine Rede von Heller hörte, in welcher der gehässig über die höheren
Stände sprach und den Arbeitern schmeichelte, und die Versammelten
jubelten ihm Beifall; aber der Hochmut und die kindische Art der Leute
tat ihm weh, und weil er selbst ein Mensch mit Ehrfurcht war, so kamen
sie ihm vor wie freche Knechte. Da erschien ihm plötzlich der Drang nach
Gerechtigkeit und der Wunsch auf Gleichheit als ganz unreif und er kam
sich vor wie das Kind, das den Ozean mit der Nußschale ausschöpfen
wollte, weil er einst geglaubt hatte, er könne durch ein Urteil über
Recht und Unrecht in diesen gesellschaftlichen Vorgängen eine Einsicht
haben, die doch durch den geheimen Lebenstrieb der gesamten Gesellschaft
bestimmt werden; und in Wahrheit hatte er vielleicht die Auflösung und
den Tod der Gesellschaft erstrebt durch seinen Drang und seinen Glauben.
Ganz neu und unbestimmt kam ihm nun zuerst der Gedanke, daß dieser
Maurer oder Zimmermann neben ihm nicht behaglich leben dürfe, wenn er
selbst oder ein andrer sollte höher kommen können, nicht zu Behagen,
sondern zu höherer Wesenheit, und indem fühlte er plötzlich, daß er
diese Menge von dumpfen und selbstzufriedenen Menschen haßte. Aber so
einsam war er, daß er von dieser Unruhe und Verzweiflung niemand
mitteilen konnte, und er hätte auch ein weibliches Wesen haben müssen,
dem er seine Gedanken erzählte. So fühlte er sich nun näher hingezogen
zu Luise; die hatte ihr medizinisches Studium beendet und war nach Hause
zurückgekehrt, und ihre Absicht war gewesen, nun sich als Ärztin
niederzulassen. Aber wie sie das gewollte Ziel erreicht hatte, war
plötzlich eine seltsame Müdigkeit und gleichgültiger Sinn über sie
gekommen, und sie lebte wochenlang und dann durch Monate untätig, und
wie es Menschen in dieser Verfassung geschieht, häuften sich allerhand
Schwierigkeiten um sie, als seien sie durch ihre Stimmung herbeigezogen.
Hans verspürte nichts von dieser Lage und freute sich nur, daß er ihr
manches mitteilen konnte; aber einmal, bei einem recht gleichgültigen
Gespräch sprach sie mit ihrer Stimme, die jetzt müde war, von
Zwecklosigkeit. Da tat er einen erschreckten Blick in die dunkle Tiefe
ihres Überdrusses und ihrer unerklärten Verzweiflung, und für sich
selbst wußte er plötzlich, daß er an demselben Überdruß litt. Und wie er
sich nun so umsah nach andern, da fand er, daß ihr Bruder ein
glücklicher Mensch war. Den hatte er früher immer verachtet, weil er gar
keinen Sinn besaß für die Dinge, die Hans und den andern wichtig
erschienen, sondern er verharrte nur immer mit unverdrossenem Eifer bei
seiner kleinen Gelehrsamkeit. Eben trat er ins Zimmer, als Luise jene
Worte gesagt; der Vater hatte ihm zum Geburtstag eine Geldsumme
geschenkt, und er hatte sich dafür schmutzige Trümmer eines alten Buches
gekauft, ohne Titel und ohne Schluß, das ein Stück eines im siebzehnten
Jahrhundert in Venedig gedruckten arabischen Werkes war; sein ganzes
Gesicht strahlte von innerer Heiterkeit, liebkosend strich er über den
zerfetzten Einband, und Hans wechselte einen schnellen Blick mit Luise,
und beide dachten, sie möchten wohl gern solchen Glückes fähig sein, und
verwunderten sich, weshalb sie das nicht konnten.

                   *       *       *       *       *

Die Ehe von Karl und Johanna hatte sich immer grausiger entwickelt in
Haß und Sehnen; und er gewann bald das heimliche Gefühl des Sieges und
wußte, daß er in Kürze frei sein mußte von seiner Kette, und sie war
gänzlich ratlos und sah sich von Unverständlichem umgeben. Unmerklich
hatte sich eine Wand erhoben zwischen ihnen, deren Wachsen hatte er
gesehen und kannte ihre Fugen, sie aber war erstaunt über die neue
Mauer, denn ganz plötzlich merkte sie von ihr, dann schlug sie zornig
gegen die empfindungslosen Steine, und zuletzt sank sie in sich zurück.

Er hatte schon lange geahnt, daß sie ihn nach einiger Zeit vor andern
lächerlich machen werde, und nun hatte sie damit begonnen, indem sie
über seine Tracht spottete, seine Gangart, seine Art zu sprechen. Und
wiewohl sie wußte, daß er sehr litt und sich in ihm Bitterkeit häufte,
so fuhr sie doch fort in dieser Weise; aber der Grund war, daß sie die
Mauer einreißen wollte, denn sie verspürte wohl, daß sie ihn gar nicht
hatte, weil sie nichts von ihm wußte wegen dieser Mauer, und sie wollte
ihn ja verzehren. Auch stellte sie in seiner Gegenwart Betrachtungen
über seinen Charakter an. So fühlte er zuzeiten deutlich hinter diesen
Roheiten ein Flehen zu ihm, eine Sehnsucht, und einen Willen, der ihn
halten wollte; das machte ihn glücklich durch befriedigte Rache. Ihr
dunkler Trieb suchte weiter und äußerte sich in andrer Form, und dachte,
daß Karl vielleicht nach irgend einer andern Seite eine starke Neigung
hatte, die ihn unangreifbar machte; deshalb suchte sie mit heftiger
Eifersucht in allem, was ihn beschäftigte, und begann Bücher zu hassen,
Bekannte zu verfolgen, gegen Gewohnheiten zu schelten, aber fand nichts,
das ihr eine Erklärung gab. Da bezwang sie ihre Natur zu Freundlichkeit,
zu Entgegenkommen, suchte ihn auf seinem Zimmer auf, indem sie eine
andre Absicht vorschützte, und wollte ihn bewegen, zu ihr zu sprechen,
ja, sie ging zu ihm, der gebückt über seinem Buche saß, und streichelte
ihm die Stirn mit ihrer Hand, und ihre Hand war weich und kühl, und
etwas Seltsames floß aus ihr. Aber sein Haß wurde so heftig, daß er sich
nicht ruhig halten konnte, und er stand hastig auf und ging fort. Da
setzte sie sich und weinte; und wie er zurückkam und sie mit verweintem
Gesicht in seiner Stube fand, mußte er sich zwingen, daß er sich nicht
auf sie stürzte, um sie zu töten.

So war die Vorbereitung zum Ausbruch. Sie hatte eine große Gesellschaft
ihrer Freunde, die ihm alle verhaßt waren, denn er sah in einem jeden
von ihnen einen Teil ihres Wesens lebendig vor sich. An jenem Tage
erschienen ihm alle Gesichter unnatürlich verzerrt, und wie sie um den
runden Tisch sich drängten und verwirrt durcheinander sprachen, da saß
er für sich und war zusammengesunken und vergrübelt. So hörte er wie
durch einen Schleier eine Weile einzelne Worte aus dem allgemeinen
Gespräch, die Johanna mit Krechting wechselte, und langsam wurde es ihm
bewußt, daß sie sich auf ihn bezogen, und wie er aufblickte, nahm er
einen Blick des Einverständnisses der beiden wahr, das auf seine Kosten
ging. Da stand gerade vor ihm ein Tellerchen mit Backwerk, das nahm er
und warf es Johanna ins Gesicht. Er warf mit Absicht so, daß es ihr
Gesicht flach traf, nicht mit der Kante, damit sie nicht verletzt wurde.
Während er das tat, war es ihm, als ob nicht er es sei, der das tue,
sondern ein andrer, der ihn gar nichts anging, denn er war ganz ruhig,
äußerlich wie innerlich, und wunderte sich, wie er den Teller vor ihrem
Gesicht sah. In dem Augenblick, wo er zielte, waren alle stumm geworden
und hatten erstarrt auf ihn geblickt. Das Tellerchen traf, und das
Backwerk fiel wohl vor ihm auf die Erde, aber das Tellerchen traf sie
mitten ins Gesicht. Sie fing es im Herabfallen auf und hielt es in der
Hand, ohne Gedanken, indes sie ihn mit großen und erstarrten Augen
ansah; mit einem Male schrie sie laut auf und warf es auf den Boden, als
sei es glühend. Er aber erhob sich und ging aus der Tür, machte sich in
seinem Zimmer straßenfertig und schritt langsam die Treppe hinunter und
aus dem Hause. Alles ließ er dort, und nie kehrte er wieder zurück.

Ruhe und Frieden suchte er und etwas, das er nicht nennen konnte. So
ging er zu Luise. In ihren Schoß hatte er seinen Kopf gelegt, und
langsam stiegen ihm die Tränen in die Augen, denn er hatte nicht
sprechen müssen, sondern sie hatte ihn angesehen, und dann hatte er sein
Gesicht in ihren Schoß gelegt, und nun streichelte sie ihm die Haare.
Ruhig wurde ihm, wie wenn nun alles Meer glatt wäre, und er dachte an
nichts, nur fühlen konnte er, und er fühlte, wie Ruhe in sein Herz floß.
Dann wußte er, daß er aufstehen mußte, und er stand auf und setzte sich
neben sie; und sie sagte mit gütigem Gesicht, daß er älter geworden war.
Wie sie das sagte mit gütigem Gesicht, strömte ihm das Blut zum Herzen,
und er sah zwei feine Linien um ihre Mundwinkel. Sie lächelte, wie sie
seinen Blick bemerkte und scherzte, daß auch sie nun die Jugend
verlassen habe. So plauderte sie weiter, und er wußte, daß ihr das
schwer wurde, jetzt so sorglos zu plaudern, und einmal fing er einen
besorgten Blick auf, den sie auf sein Gesicht warf; aber er selbst hätte
nichts sagen können, sondern er hörte nur zu, ihrem leisen und
freundlichen Wortfall. Von Bekannten erzählte sie und von Bäumen und
Blumen. Er liebte eine Bewegung an ihr, wenn sie mit beiden Händen
zurück an das Haar faßte. Seine Seele wiegte sich auf ihren Worten, und
er schloß die Augen, damit er nur den Klang allein habe.

Jetzt wußte er, daß er jeden Tag und jede Stunde an sie gedacht hatte,
und daß er zusammengeschreckt war, wenn jemand einmal aus Zufall ihren
Vornamen genannt hatte. Und nun saß sie neben ihm mit ihrer Güte und
wollte ihm Liebes erweisen in Zartheit. Sie hatte die Hände in den Schoß
gelegt, und wie er eine zufällige Bewegung machte, berührte ihn ihr
Kleid. Sie merkte das, und diese Berührung war ihr peinlich, aber sie
beherrschte sich und sah ihn mit gutem Lächeln an, und erst eine Weile
nachher nahm sie ihr Kleid zusammen und von ihm weg, mit einem
entschuldigenden Blick. Dann ging sie zu ihrem Flügel und spielte, und
die Töne fluteten langsam heran und schienen groß, und umgaben ihn weich
und hoben ihn, und er fühlte sie um sich, wie sie weich waren. Dann
begannen sie in ihn einzudringen, und mit einem leichten Schauer rührte
etwas an sein Herz, und dann noch etwas, da wurde es ihm frei im Haupte
und leicht, und es war, als ob alles sich im Herzen befinde, in dem war
eine süße Lust, und es verschwand auch alles um ihn, weil es unbedeutend
war, und er sah nur, wie Luise spielte, und in ihrem keuschen Nacken
kräuselten sich dunkle Löckchen.

Von nun an lebte Karl wieder in der Weise wie vor seiner Verheiratung,
nur daß auch ihn die Einsamkeit überkam und er viel auf seiner stillen
Stube saß, und in seiner Seele bewegte sich herzkränkendes Grübeln, und
es war, als sei ihm das Band lockerer geworden, das die verschiedenen
Eindrücke, Strebungen und Ausflüsse zu unserm Ich vereinigt, denn
hierhin und dorthin begaben sich Teile seines Selbst, und wie von
Schmetterlingen flatterte es bunt und willkürlich um sein Haupt. Aber
das machte ihn nicht unglücklich, sondern es schien ihm, als ob er zu
Frieden und Ruhe wolle, und wie wenn er in einem schweigenden Flusse
schwimme und seine Glieder sich lösten in dem Wasser mit leuchtenden
Spitzen.

In dieser Zeit wurde er vorbereitet auf das Einfließen eines Neuen in
ihn, das schon lange sich um ihn geballt hatte. Denn schon seit einiger
Zeit war er, was ein wunderlicher Zufall in einer Großstadt scheint, auf
seinen Wegen öfters einem Menschen begegnet, der ihm in eigener Art
auffiel, vielleicht hätten ihn andere kaum beachtet; das war ein seltsam
linkischer und verlegener Mann, dessen Kleidung nicht absonderlich war
und dessen Gesicht, Haltung und Gliedmaßen ebenfalls nichts Merkwürdiges
zeigten, und doch war er im ganzen so eigentümlich linkischer und
verlegener Art, wie Karl noch nie einen Menschen gesehen hatte. Wie das
so geht, schien der Mann umgekehrt auch für Karl ein gewisses Interesse
zu haben, denn er sah ihn immer mit einem gewissen Aufleuchten des
Gesichtes aus den andern Menschen auf der Straße hervortauchen. An einem
naßkalten Novemberabend etwa gegen neun Uhr, wo die entlegene Straße
recht einsam war, traf Karl den Fremden, wie er unter dem aufgespannten
Regenschirm mit Verdruß eine kalte Zigarre betrachtete, trat zu ihm und
bot ihm seine Streichhölzer an; der Fremde dankte mit etwas
übertriebener Höflichkeit, und dann begann ein Gespräch daraufhin, daß
sie sich so oft schon auf der Straße begegnet waren; und wie ihnen dann
die ersten gleichgültigen Worte bald ausgingen, da verspürten sie beide
den Wunsch, einander nahe zu kommen, und deshalb setzten sie sich
zusammen in eine Wirtschaft; es stellte sich heraus, daß sie Nachbarn
waren. Der Fremde, der sich Roch nannte, wußte das Gespräch bald auf
einen Weg zu leiten, den Karl mit großer Freude beging.

Er stammte aus einer wohlhabenden und guten Familie und war in
wohlerzogenem und bravem Zustande auf die Universität gegangen, um nach
dem Willen seiner Eltern Jurisprudenz zu studieren. Es entwickelte sich
in ihm damals eine ganz besondere Liebhaberei für Bücher, die fast die
Art einer Leidenschaft annahm, über der vernachlässigte er beinahe seine
Studien, und um die gewöhnlichen Vergnügungen seiner Altersgenossen und
Kameraden bekümmerte er sich gar nicht, so daß er sich zu einem etwas
sonderlinghaften Menschen entwickelte. Hierüber war seine Familie nicht
sehr vergnügt, die wünschte, daß er sich benehmen solle wie Andere, und
ihm auch einige Jugendtorheiten gern verziehen hätte, wenn sie von der
gewöhnlichen Art gewesen wären, denn sie befürchteten, daß er als ein
wunderlicher Mann später keine glatte Laufbahn haben werde, die ihnen
allen als das Erstrebenswerteste erschien. Deshalb wurde er in den
Ferien auf Besuch zu einem unverheirateten Oheim geschickt, der in einer
kleinen Stadt als Kreisarzt lebte und als ein fröhlicher und allen
Lebensgenüssen in Unbefangenheit ergebener Mann bekannt war. Vor dem
hätte man ein leichtes Blut wohl sehr gehütet, diesen jungen und
allzubraven Mann aber hoffte man durch ihn zu der gewünschten mittleren
Art von Führung und Auffassung des Lebens erziehen zu können.

Des Oheims Betragen machte aber einen ganz unerwarteten Eindruck auf den
Jüngling; denn der hatte bis dahin ganz treuherzig alles aufs Wort
geglaubt, was öffentlich von unserm gesellschaftlichen Leben gesagt
wird, und hatte nichts geahnt von den geheimen Veränderungen, durch
welche die einzelnen Stände, Berufe, Klassen und Personen diese
Meinungen ihren besonderen Bedürfnissen anpassen, und nun machte sich
der Oheim, der von altjunggesellenhaftem Zynismus war, einen besonderen
Spaß daraus, den jüngferlichen Neffen aus diesen Vorstellungen zu
entfernen und begann damit, daß er ihm seine sämtlichen
Liebesgeschichten nach der Reihe erzählte. Er war aber ein
hochgewachsener schlanker Mann mit schneeweißem Knebelbart, rötlichem
Gesicht und blitzenden blauen Augen, der so recht herzhaft aus der Brust
heraus zu lachen vermochte über den etwas verkümmerten Neffen. Wie er
noch Junge war, wohnte neben seinem Elternhause eine Hebamme, die eine
einzige Tochter hatte, in seinem Alter, ein schwarzäugiges, rasches und
hübsches Mädchen. Einmal mußte er eine Bestellung ausrichten und traf
sie allein in der Stube; da hängte sie sich um seinen Hals, küßte ihn
stürmisch ab und bestellte ihn auf den Abend in den Garten, und die war
seine erste Liebe gewesen, damals war er zwölf oder dreizehn Jahre alt;
eine Art Rührung huschte über das Gesicht des alten Erzählers, wie er
davon sprach. Vor wenigen Jahren kam er einmal wieder in seine Heimat;
und wie er allein durch das Holz ging, begegnete ihm ein sauberes und
freundliches altes Mütterchen, die sprach ihn an und fragte, er kenne
sie gewiß nicht mehr, und dann nannte sie sich ihm als diese alte
Liebste und sagte seufzend, es seien nun fünfundvierzig Jahre vergangen
seitdem, nun sei sie lange Großmutter, und da wolle er gewiß nichts mehr
von ihr wissen; aber da sei doch die Jugend noch einmal wieder in ihm
wach geworden. Es stand da aber eine schöne alte Buche, die ihre Äste
weithin breitete, daß in einem runden Kreise unter ihr kein Unterholz
war, sondern nur die gerollten braunen Blätter, zwischen denen einige
weiße Blümchen wuchsen.

Dem Jüngling tat sich in diesen Wochen ein zauberischer Garten auf voll
herrlicher Früchte, die ihn lockten, daß er sie pflücken sollte, nur
dürfe er nicht zu zaghaft sein, sondern müsse ohne Furcht den Fuß über
die Schwelle setzen; und so zog eine ganz unbändige und verstandlose
Lebenslust in die fast vertrocknete Seele des Jünglings. Es floß aber am
Ende des Gartens ein Fluß leise und rasch dahin, der sehr tief war und
klardunkles Wasser hatte, und über ihn neigte sich, genau auf der Grenze
des Nebengartens, eine alte Weide mit tiefhängenden gelben Ruten, an
denen der Frühling kleine helle Blättchen hervorgetrieben hatte. Hier
stand der Jüngling oft auf einer vorstehenden Wurzel, hatte den Stamm
umfaßt und sah in das still dahinschießende Wasser, denn in seiner
Klarheit schwammen kleine Fischchen in einem langen Zuge; sie schwammen
gegen den Strom, und oft standen sie unbeweglich, und plötzlich zuckten
sie einmal blitzschnell mit den Schwänzen und flohen auseinander. Diesem
Spiel sah er lange zu mit behaglicher Freude und ohne sich Gedanken zu
machen; denn wie der Frühling unsere Sehnsucht erregt und unsre Lust zum
Leben, so spendet er uns auch eine süße und träumerische Mattigkeit, in
welcher die Stunden rasch dahinfließen mit leisem und gleichmäßigem
Rauschen.

An einem Nachmittage, wie er an diesen Platz gehen wollte, erblickte er
auf der Nachbarseite durch das Gebüsch, das noch licht war, ein Mädchen
in hellen und zarten Kleidern, das ganz in derselben Stellung stand wie
sonst er selbst, denn sie stand auf der äußersten und unterspülten
Wurzel des schrägstehenden alten Baumes und hatte den zarten Arm um den
ausgehöhlten Stamm geschlungen und die Gestalt mit dem Köpfchen
vorgeneigt, und schaute angestrengt in das lautlos fließende Wasser. Wie
sie sein Rascheln hörte, blickte sie sich schnell um, und hatte
kornblumenfarbene Augen und ihre Gesichtshaut sah aus wie ein
Rosenblättchen, und schien verlegen, und es fiel ihm auf, daß unter der
Oberlippe, die etwas zu kurz war, weiße Zähnchen hervorblinkten, das
ganz wundervoll reizend erschien.

Nun wurden die beiden bald miteinander bekannt, und es zeigte sich, daß
sie die Tochter einer Witwe war, deren Mann einen Kaufmannsladen gehabt,
die recht ärmlich und allein in dieser kleinen Stadt ihr Leben
hinbrachte. Das Mädchen hatte viel gelesen aus den Büchern ihres Vaters,
aber nur unsre Klassiker, und zwar neben Schiller und Goethe auch
Wieland und Klopstock, und dann Bulwer und Cooper, und ein Buch, das
hieß das Buch der Natur. Hieraus hatte sie sich ein wunderliches Wesen
entwickelt, das ebenso weltfremd war wie des Jünglings, nur daß in
ihrer Seele sonderbare Phantasiegebilde lebten, in denen die
verschiedenartigen Helden ihrer Bücher sich zusammengeschlossen hatten.

So einigten sie sich bald zu gegenseitiger Liebe, und nachdem sie sich
zuerst am Tage häufig im Garten getroffen hatten, verabredeten sie sich
endlich auch zu Zusammenkünften in nächtlicher Weile.

Indem nun aber in dem Jüngling damals zweierlei entgegengesetzte Wesen
waren, kam er zu widersprechenden Handlungen, denn durch die Reden
seines Oheims war auf der einen Seite seine Phantasie derartig
verändert, daß er in seiner Liebe keine Grenzen mehr innehielt, auf der
andern Seite aber blieb er in seinem eigentlichen Kern doch ein ganz
andrer Mensch wie der Oheim, und wurde durch seine Liebe feinfühliger
und gewann eine mehr edle Gesinnung, so daß ihm nun dessen Gespräche
zuwider wurden, weil es ihm schien, als ob etwas Heiliges durch sie
beschmutzt werde, während er doch selbst nach dem Sinn dieser Gespräche
gehandelt hatte, und dann wurde ihm dieser Widerspruch immer quälender,
so daß er am Ende, trotz seiner immer noch wachsenden Leidenschaft für
seine Geliebte, nicht mehr bei dem Oheim ausharren konnte und Abschied
von ihm nahm. Dabei wußte er keinerlei Rat, wie nun mit seiner
Verbindung mit dem jungen Mädchen geschehen sollte, denn sie als seine
Braut zu erklären, wagte er vor seiner Familie nicht, und so schob er
diese Sorge auf die Zukunft, indem er sich für die Gegenwart nur dem
Gram über die Trennung hingab. Nun geschah es aber, daß die natürlichen
Folgen eintraten. Wie seine Geliebte das merkte, schrieb sie in ihrer
tödlichen Angst an ihn einen Brief und erzählte ihm das, er aber war
inzwischen wieder gänzlich in sein eigentliches Wesen verfallen, indem
er eine heftige Angst vor den Menschen hatte und nicht wußte, was er tun
müsse; aus dieser Verfassung heraus schrieb er an sie zurück, und wie
sie mit ihrem großmütigen Herzen diesen Brief verstanden hatte, da wußte
sie genau, daß sie nun allein stand in der Welt und ihr keinerlei Hilfe
kommen werde, und so gab es nach ihrer Vorstellung denn nur einen
einzigen Weg noch, den sie gehen konnte. Inzwischen war Roch wieder in
seine Universitätsstadt zurückgekehrt, und indem sein unruhig gemachtes
Gewissen ihn zwecklos hin und her trieb in einsamen Wanderungen, wurde
er noch einsamer, wie er schon gewesen, und hatte wenigen Schlaf. Da
geschah es ihm, daß er in einer Nacht ein Gesicht sah, nämlich, er saß
in seiner Stube und ohne Licht, und hatte seit Stunden schon sich in
Gedanken abgegrämt, und es mochte schon gegen Mitternacht sein, da
erblickte er plötzlich deutlich den Weidenbaum, auf dessen schrägem
Stamm jetzt Schnee lag, und unter ihm eine schwarze Stelle des Flusses,
der sonst unter schneebedecktem Eise dahinschoß, aber an dieser einen
Stelle war er frei, und an dem Baum, vor der eisfreien Stelle kauerte
seine Geliebte und hatte nackte Arme und loses Haar, wie sie aus dem
Bett gestiegen, und blickte in das dunkle Wasser, und ganz deutlich sah
er die kurze Oberlippe, welche die Zähnchen sehen ließ, und das rührte
ihn besonders am Herzen, daß er diese Oberlippe so deutlich sah, aber
ganz blaß war das Gesicht und grauenhaft ernst und entschlossen; er
schrie laut auf und stürzte auf das Bild zu, aber indem glitt die
Gestalt nach vorn über in das dunkle Wasser, und noch während er schrie,
war auch schon das ganze Bild verschwunden. Wie er die Nacht verbracht
hatte, erhielt er am andern Morgen einen Brief von ihr, in dem sie ihm
ihre Absicht mitteilte, daß sie aus dem Leben gehen wolle; und so hatte
er nun die Bestätigung, denn bis dahin hatte er noch nicht geglaubt, daß
das Gesicht ihm einen wahren Vorgang geoffenbart. Über dieses verfiel er
in eine schwere Krankheit, und nachdem er die überstanden, kam ein
langdauernder Trübsinn über ihn, er gab alle seine früheren Pläne auf
und verwendete seine Zeit auf die Arbeit in den okkulten Wissenschaften;
denn nach seinem Erlebnis hatte nichts mehr Bedeutung für ihn, was in
dem engen Kreise geschehen war, der durch das Licht erleuchtet ist, und
nur das erschien ihm wichtig, was in der unendlichen Dunkelheit
verborgen ruht, die jenseits dieser nahen Grenze liegt, und so fand er
eine Beruhigung für sein Gewissen, denn in Wahrheit war ja, was er
getan, unwichtig und sinnlos gewesen, und seine Bedeutung war gar nicht
verständlich für den blöden Blick, den wir hier haben. So war es möglich
für ihn, daß er sich am Leben erhielt.

Mit diesem Roch nun freundete sich Karl an, und seine Lehren nahm er mit
großer Begierde auf. Wie die beiden derart vertraut miteinander geworden
waren, da erzählte ihm Roch, er habe sich schon lange einen Freund
gewünscht, mit dem zusammen er einen wichtigen Versuch anstellen könne,
der deshalb zwei Personen erfordere, weil er mit Gefahren verknüpft sei,
denn in einem alten mystischen Buche, das nur handschriftlich vorliege,
habe er eine Vorschrift für ein Räucherpulver gefunden, das früher von
Beschwörern benutzt wurde, um Geister erscheinen zu lassen, und enthalte
das in seinen wirksamen Bestandteilen gewisse berauschende Stoffe, die
wohl geeignet sein möchten, den gewünschten Zweck zu erfüllen, da von
ähnlichen Stoffen bekannt sei, daß ein südamerikanischer Indianerstamm
sich seiner mit den gleichen Absichten bediene, indem die Leute die
Geister ihrer Vorfahren sehen oder zu sehen glauben; denn eben inwieweit
hier eine wunderliche physiologische Wirkung oder wirkliches Hereinragen
andrer Welten stattfindet, das sei zu untersuchen.

Karl ging mit jener gewissen schauerlichen Freude auf den Vorschlag ein,
die wir alle in solchen Fällen empfinden mögen; und nachdem Roch auf
seinem Zimmer die Vorbereitungen getroffen, lud er nun Karl an einem
Abend zu sich. Sein Zimmer war ein sonderbarer Raum, der ganz hoch oben
in einem Hause lag, das nur von Arbeitern, und zwar recht geringen,
bewohnt war. Auf den Treppen spürte man einen namenlos scheußlichen
Geruch, den erklärten die vier und fünf Namenszettel übereinander an den
Korridortüren, indem sie zeigten, wie dicht die elenden Stuben bewohnt
sein mochten durch allerhand Schlafburschen und sonstige ärmliche Leute.
Von einem solchen Korridor ging es auch in Rochs Zimmer, das war etwa
drei Meter lang und zwei Meter breit, so daß schon das Eintreten
schwierig war, weil die Tür auch nach innen ging, und man sich neben dem
Bett durchdrängen mußte. An den Wänden hingen sehr viele Vogelbauer, in
denen Waldvögel auf Sprossen schliefen. Außer dem Bett standen nur noch
eine alte Kommode und zwei Stühle in dem Kämmerchen, das in der Tat für
weitere Möbelstücke keinen Raum aufgewiesen hätte. Nach einer verlegenen
Bemerkung über die Dürftigkeit seiner Wohnung wies Roch auf die Kommode,
wo bereits eine flache Schale mit dem Pulver neben einer Spirituslampe
bereit stand. Die Vorschrift des alten Zauberbuches lautete, nach Abzug
von allerhand Geheimniskrämerei, daß man vorher lebhaft an die Person
denken solle, deren Geist man zu sehen wünsche, wobei es gleich war, ob
man einen Lebenden oder Toten haben wollte, und daß man die Erscheinung
weder anrede noch sich ihr nähere, weil sonst ein großes Unglück
geschehen könne, denn es seien Beschwörer von den erzürnten Geistern
erdrosselt worden. Nachdem sich die beiden fest versprochen hatten, daß
sie dieses erste Mal die Vorschrift genau befolgen wollten, zündete Roch
die Spirituslampe an, welche in dem sonst dunkeln Zimmer mit blauem und
flackerndem Flämmchen brannte, und dann streute er etwas von seinem
Pulver auf.

Eine lange Weile warteten die beiden, indes das blaue Flämmchen hüpfte
und wie unentschlossen zuweilen ganz vergehen wollte. Aber es ereignete
sich nichts Auffälliges; nur war zuweilen ein Knistern hörbar,
wahrscheinlich wenn ein Körnchen von dem Räucherwerk verbrannte;
merkwürdig laut schien den beiden dieses Knistern. Aus dem engen Hofe
schallte in die Höhe, und war verstärkt durch die eng zusammenstehenden
Wände der Häuser, das Brüllen eines Betrunkenen; nach einer Zeit, die
den beiden wohl eine halbe Stunde schien, mischte sich in das Brüllen
das Schreien und Jammern seiner Frau, der hatte er heimlich das Geld
fortgenommen, das sie durch Scheuern verdiente, und sie konnte den
Kindern nichts zu essen geben. Roch und Karl dachten fast nur an den
Vorgang, der sich da unten im Hofe abspielte, aber sie hielten sich doch
noch immer ruhig. Plötzlich hob sich das blaue Flämmchen und erlosch.
Nun zeigte sich, daß der Lichtschein vom Hofe her eine ganz schwache
Helligkeit ins Zimmer verbreitete, so daß nicht gänzliche Dunkelheit
war. Ein schwerer Rauch legte sich den beiden auf die Brust, und die
Stimmen auf dem Hofe schienen sich in immer weitere Entfernung
zurückzuziehen, indessen die Vögel in den Käfigen mit einem Male in
seltsamer Weise flatterten und sich geängstigt zeigten.

Plötzlich war es aus der Erde gestiegen wie eine graue Gestalt; dann
schwebte es langschleppend in der Luft, in der Entfernung von den
beiden, die sie vorher auf dem Boden bezeichnet hatten. Nachdem erhob
sich aus dem Boden ein zweites Wesen, gekrümmt stieg es von unten auf
und mit Anstrengung. Nach einer Weile schwebte es ebenso langschleppend.
Aber ganz undeutlich war das alles, das waren Schatten ohne Wunsch und
Gesicht. Langsam schwebten sie.

Eine lange, lange Zeit währte das; aber es war nicht klar, ob Stunden
dahinflossen oder Minuten.

Da wurde langsam deutlich der ersten Gestalt Gesicht und Wesen und rann
zusammen zu der Figur Luisens. Gramvoll sah sie aus, und in ihren Augen
ruhten schwere Leiden, die keine Form annahmen. Eine heftige Liebe und
tiefes Mitleiden wallten auf in Karls Herzen, er hatte den Willen, auf
den Schimmer zu eilen und dieses schwermütige Gesicht an seine Brust zu
drücken. Aber indem erzitterte schon das schwanke Wesen wie ein Bild im
Wasser, das plötzlich bewegt wird durch eine Blüte, die von einem
überhängenden Baume leise herabfällt auf den glatten Spiegel. So bezwang
er sich und hielt still, und langsam glättete sich wieder das Wesen und
ward ruhig.

Derart verharrte alles eine lange Weile in atemlosem Schweigen; da
geschah etwas in der andern Figur, die bis dahin noch unbestimmt
gewesen, denn eilfertig schoß es in ihr hin und her, ballte sich und
trennte sich wieder; aber die Züge wurden fester und schärfer, und schon
hatte Karl eine heimliche Angst, daß ihm Johanna erscheinen werde; da
tauchten in dem leeren Gesicht auf die Linien von Johanna, und es
erschienen willensstarke Augen, und ein auf Böses gerichteter Blick
wurde klar, und haßerfülltes Gesicht. Bis ins Innerste erschauerte Karl
vor Entsetzen, denn alles Furchtbare, dessen dieses Weib vielleicht
einmal fähig war, hatte seine Äußerung in diesem Gesicht gefunden, in
den Linien sowohl wie im Ausdruck. Wenn im Leben solche Gesichter wären,
so würden alle Menschen Furcht haben voreinander, weil solches Aussehen
möglich ist.

Dann verging wieder eine endlos lange Zeit, und es war Karl, als
verrauschten vor ihm Jahre, während er angstvoll an seiner
vorgeschriebenen Stelle stand und sah; denn wiewohl die Wesen stumm
waren und ohne Bewegung schwebten, und ihre Gesichter rührten sich nicht
wie bei toten Menschen, und wiewohl er bei allem innerlich wußte, daß
diese Gesichte nur Trugbilder eines Rausches waren, den der betäubende
Rauch in seinem Gehirn erzeugt; ja er dachte sogar, daß andre solcher
betäubenden Mittel die Vorstellung eines schnellen Fahrens durch die
Lüfte verschaffen; trotzdem wußte er als ganz gewiß, daß zwischen den
beiden Wesen etwas geschah, und daß Entsetzliches zum Ende kommen mußte.

Siehe, da richtete das Wesen Johanna langsam, wie vom Tode erwachend,
die haßerfüllten Augen auf das schwache Wesen Luise; und erst ging der
Strahl der haßerfüllten Augen neben ihr vorbei, und dann streifte er
sie, und endlich traf er sie ganz, und das Wesen Luise erzitterte wie
ein Bild im Teiche, schwankte und wollte sich auflösen. Da durchfuhr es
Karl, daß er sie retten müsse, und er stürzte vorwärts mit erhobener
Faust auf den Schemen Johanna. Ein sehr lauter Schlag erscholl, dann
fielen Glasscherben klirrend auf die Erde, und das Fenster war gänzlich
zersplittert, auch die oberste Scheibe. Karl sah auf die Scherben vor
seinen Füßen und wußte nicht, wie ihm geschehen. Der andre suchte mit
zitternden Fingern das Licht anzuzünden. Durch das offene Fenster drang
kühle Nachtluft, und plötzlich wurde ihnen bewußt, daß der Betrunkene
unten auf dem Hofe lärmte, das war genau so wie vorhin; und mit einem
Male fiel auch das Jammern der Frau ein, genau so, wie sie es schon
gehört hatten, und der Mann antwortete dasselbe wie vorhin. Karl sah
nach der Uhr; noch nicht eine Minute konnte verflossen sein, seitdem
Roch das Pulver aufgeschüttet, und doch war es ihm wie vor einer ganz
langen Zeit.

Schweigend stiegen die beiden die Treppe hinunter; der Zank des
Betrunkenen und der streitenden Frau verfolgte sie Wort für Wort, wie
sie ihn schon kannten. Karl erschauerte und hielt sich am Geländer fest,
auch des andern Kniee zitterten. Und nachdem sie lange durch belebte
Straßen gegangen waren, sprach am Ende Karl: »Ich weiß, was ich gesehen
habe, und es ist Übernatürliches dabei, aber ich kann es doch nicht
glauben.« Roch schwieg lange, dann antwortete er: »Das eben ist das
Grausigste bei diesen Dingen, daß man immer zweifeln muß, ob man nicht
ein Betrüger ist oder ein Selbstbetrüger. Auch dies hat das Mittelalter
gewußt, das gesagt hat, daß der Teufel ein Lügner und Betrüger ist. Aber
ich muß tiefer hinein, wiewohl ich weiß, daß ich immer nur Lüge finden
werde und Selbstverachtung, und ich weiß es nicht, ob mich nicht das
treibt, daß ich mich nach der Selbstverachtung sehne, denn in der liegt
die tiefste Wollust beschlossen.«

Roch sagte nicht näher, was er mit diesen Worten meine, auch erzählte er
nie, was er selbst gesehen hatte. Und wie es oft geschieht, daß wir
eines Menschen Leben in einem für uns beide wichtigen Punkte kreuzen und
dann wieder so schnell von ihm gehen, wie wir ihn trafen, so kam Karl
recht schnell wieder mit ihm auseinander, durch ein Gefühl der Unruhe
und Nichtbefriedigung; für Karl war dieser einzige Versuch genügend
gewesen, mit den unterirdischen Mächten in Beziehung zu treten, der
andre aber verstrickte sich immer tiefer und fand endlich seinen Kreis,
für den er geschaffen war, in einer Anzahl gleich Zerstörter, die nicht
an Gott glaubten und eine Satansgemeinde gegründet hatten.

                   *       *       *       *       *

Um Luise schloß sich immer enger der Ring des Todes. Wir wissen ja
nicht, durch welche Kräfte am letzten Ende die entscheidende
Willensrichtung gebildet wird, deshalb ist uns auch in den menschlichen
Dingen so vieles unbegreiflich, nämlich alles das, wo wir nicht auf
irgend eine Weise Gründe unterbauen können. Deshalb kann ein Erzähler in
solchem Fall nur die Ereignisse berichten, die ihm irgendwelche
Bedeutung gehabt zu haben scheinen.

Es lebte damals ein früherer Gutsbesitzer mit seiner Frau und einzigem
Sohn in Berlin, der Offizier war. Der alte Mann hatte in jungen Jahren
sein Gut in fröhlicher Hoffnung übernommen, nachdem er seine Geschwister
ausgezahlt und eine brave und schöne Frau geheiratet. Nun war aber
damals eine Zeit, wo der Weizen und die Wolle immer billiger wurden und
die Arbeitslöhne immer stiegen, so daß die Ausgaben sich erhöhten und
die Einnahmen sich minderten. Er ging lange mit sich zu Rate, was er bei
dieser Erscheinung wohl tun könne, fragte auch seine Nachbarn, die zwar
sich in ähnlicher Lage befanden, und zuletzt las er selbst Bücher, wie
wohl er sonst wenig studiert, sondern hatte seine Universitätszeit
vielmehr mit lustigen und treuen Freunden in Heiterkeit ohne
sonderliches Arbeiten verbracht; aber auch aus den Büchern fand er keine
Auskunft, die er nicht zuvor schon selbst verworfen gehabt hätte. Nun
half er sich wohl mit großer Sparsamkeit, und seine treue Frau war sehr
fleißig, daß sie aus ihrer Wirtschaft herauszog, was möglich war, aber
mit der Zeit kam es sogar dahin, daß die Einnahmen geringer wurden wie
die Ausgaben für den Betrieb und Zinsen. Da gelangte er in seiner Not zu
Borgen und Wechselschreiben, und weil nun auch sein Gewissen schlecht
wurde, denn er wußte nicht, wie er den Wucherer einmal bezahlen sollte,
so schloß er die Augen und überlegte gar nichts mehr, sondern lebte wie
einer, der morgen sterben soll und Mut hat und sich heute noch freut; er
beruhigte sich aber immer, indem er sich sagte, daß der Wucherer schon
selbst wissen werde, wie er wieder zu seinem Gelde komme.

Aus dieser Betäubung riß ihn die Rede eines leichtfertigen Handwerkers.
Er mußte nämlich an einem Stall Reparaturen machen, der erst vor nicht
allzu langer Zeit gebaut war, aber weil der Zimmermann betrüglicherweise
frisches Holz genommen, so waren einige Balken stockig geworden. Wie er
den Menschen nun zu Rede stellte und ihn in scharfen Worten an seine
Handwerkerehre erinnerte, erwiderte der patzig, dafür sei ja der Bauherr
da, aufzuachten, daß alles ordnungsgemäß gemacht werde. Diese Worte
gingen dem alten Mann sehr nahe, denn er dachte bei sich, daß er selbst
ja ebenso vernünftelt habe wie dieser unredliche Handwerker, und dabei
war er ein vornehmer und adeliger Mann, der Stolz hatte. Deshalb fuhr er
gleich in die Stadt zu dem Wucherer und erzählte dem alles, der heftig
erschrak und nach Art solcher gemeinen Menschen in häßlichen Worten ihm
Vorwürfe machte. Indessen gelang es doch, das Gut vorteilhaft zu
verkaufen an einen wohlhabenden Herrn aus der Großstadt, dessen Vater
viel Geld verdient hatte, und der sich zu diesem ererbten Gelde nun eine
gesellschaftliche Stellung verschaffen wollte; so blieben dem alten
Herrn sogar noch mehrere tausend Mark übrig.

Mit diesem geringen Gelde zog er nun nebst seiner Frau nach Berlin, wo
sein Sohn schon früher lebte als ein frischer und unbefangener junger
Offizier, der mäßig war und sehr verständig an seine Zukunft dachte. Die
Frau beschloß, eine große Wohnung zu mieten und Fremde bei sich
aufzunehmen um Geld, welcher Plan ihr auch gelang, da sie manche
Familienbeziehungen hatte, der alte Mann aber, welcher einsah, daß er
dergestalt keine Tätigkeit für sich selbst fand, durch die er zum
Unterhalt der Familie beitragen konnte, wollte nicht durch seiner Frau
Arbeit leben, und mühte sich so lange, bis er eine Anstellung bei der
Pferdebahn erhielt als ein Aufseher über die Schaffner, damit die immer
ordentlich alles Geld abliefern und nicht betrügen. Und wiewohl sein
Körper schon gebrechlich war und dieser Dienst ihn recht anstrengte, so
fühlte er sich doch nunmehr glücklich und zufrieden und erzählte seiner
Frau des Abends vieles über die verschiedenartigen Charaktere der
Schaffner, indessen die mit einer Küchenarbeit für das Mittagessen des
nächsten Tages beschäftigt war.

Bei diesen Eltern lebte der junge Offizier, und weil er gesund und
rotwangig war, auch vor seinen Vorgesetzten angenehm und bei seinen
Kameraden beliebt, so dachte er, daß er wohl eine Heirat machen könne,
durch die er seine Glücksumstände wieder aufbesserte. Und wie in Berlin
alle verschiedenen Kreise der Gesellschaft sich in der wunderlichsten
Weise berühren, so hatte er bei einer gewissen Gelegenheit Luise kennen
gelernt und durch ein lange geführtes Gespräch liebgewonnen, denn bis
dahin hatte er nur solche jungen Damen gekannt, die mit ihm über
Beförderungen und Rangliste sprachen. Nun bedachte er zwar, daß sie eine
Jüdin war und wenig angenehme Eltern hatte, auch blieb es ihm nicht
unanstößig, daß sie Studentin gewesen, wenn schon ihr Benehmen nichts
Auffälliges zeigte; indessen wußte er doch, daß sie eine große Mitgift
erhoffen konnte, auf die er ja angewiesen, und dann hoffte er, daß der
Umgang mit den Damen vom Regiment sie bald zu einer richtigen
Offiziersfrau machen werde; über das alles hinaus gab bei ihm aber den
Ausschlag, daß er eine große Zuneigung zu ihr gefaßt hatte, was freilich
verwunderlich schien in Anbetracht der sonderlichen Verschiedenheit
zwischen den beiden. So entschloß er sich denn und schrieb ihr einen
wohlgesetzten Brief, in dem er sie fragte, ob er ihren Vater um ihre
Hand bitten dürfe.

Ihre Eltern hatten aus Anzeichen schon vorher die Werbung geahnt, die
von der Mutter begünstigt wurde, der Vater aber, der früher oftmals
heftig gegen reiche Glaubensgenossen gesprochen, die ihre Töchter an
Christen gaben, war der Verbindung feindlich gestimmt, und so wurde
schon lange bevor der Brief ankam, in der Familie lebhaft und nicht mit
Würde über das Kommende gesprochen, unter tiefem Leiden Luisens, die den
jungen Mann wohl ganz gern sah als einen gesunden und tüchtigen
Menschen, aber keine weitere Neigung zu ihm verspürte; denn durch diese
Gespräche wurde ihr, als werde ihr Innerlichstes und Heimlichstes ans
Licht gezogen und vor den Menschen zu Schau ausgebreitet. Und wie nun
der Brief wirklich ankam, da hatte sie eine heftige Angst vor den
Gesprächen und Reden, die noch folgen würden, und zudem wurde der
Überdruß, den sie schon lange empfunden, plötzlich sehr viel heftiger;
so beschloß sie, daß sie aus dem Leben gehen wollte, ohne daß sie
eigentlich einen augenscheinlichen Grund gehabt hätte. Ehe sie aber ihre
Tat ausführte, schrieb sie noch einen Brief an Hans, der ihrer Seele
wohl am nächsten gestanden haben mochte. In dem sagte sie ungefähr
folgendes:

»Ich sterbe, weil ich auf keinerlei Weise sehen kann, wie ich zu leben
vermöchte, und weiß auch nicht, wie andre Leute leben können. Lange habe
ich nachgedacht, denn ein jeder hat doch einen Willen zu leben; und
vielleicht wäre es am besten für mich gewesen, ich hätte jung geheiratet
und Kinder gekriegt; denn nachdem wir für uns selbst an das Ende
gekommen sind, daß wir nichts mehr zu erstreben sehen, haben wir dann
noch Ziele für die Kinder und ihr Größerwerden. Und so ist meine
törichte Liebe zu Peter wohl noch das klügste gewesen in meinem Leben,
die ich durch zu viele Klugheit zerstört habe, weil ich geistig
hochmütig war und keinen Glauben fassen konnte zu einem Mann. Wenn du
einmal heiraten solltest und Töchter haben, so erziehe sie nicht so, daß
sie viel wissen, denn schon Männer macht das unfroh, aber Frauen
vermögen dann nicht zu leben, weil sie nicht mehr sehen, wie sie das
können.«

Diesen Brief erhielt Hans am Weihnachtsabend, als er allein in seiner
Stube saß und über sein bisheriges Leben nachdachte. Da fand er, daß er
war wie ein Baum im Herbstwinde, denn wie trockene Blätter waren die
Freunde abgefallen, und der Wind trieb sie hierhin und dorthin. Und als
er den Brief gelesen, dachte er sich, daß dieses das Ende aller sei, und
nur einige wenige Jahre waren doch vergangen, daß so viele junge Leute
zusammengewesen waren und Kraft gehabt hatten und einen starken Willen
zu allem, was das Schicksal ihnen auch aufgeben mochte; und nun saß er
selbst am Weihnachtsabend einsam in seiner Stube und dachte nach, wie
Luise nachgedacht hatte, denn auch er hatte einen Willen zu leben; aber
er fand nicht, wie das alles so gekommen sein konnte.

Und indem er angestrengt nachdachte, und es schien ihm zuweilen, als
sehe er ganz von weitem das letzte Ende des Gedankens, den er erreichen
wollte, da öffnete sich die Tür und jener Russe trat ein, den er gleich
in der ersten Zeit seines Berliner Aufenthaltes kennen gelernt; später
war er immer in Beziehung zu ihm geblieben, aber er mochte ihm nicht
wieder so nahe kommen wie in jener Nachtstunde. Dieser trat jetzt ein,
begrüßte ihn und sagte, er habe ein belastetes Herz und suche einen
Mann, zu dem er sich aussprechen könne. Dann erzählte er folgendes:

Vor Jahren, wie er noch in Rußland lebte, hatte er einen Freund, der ein
stiller Mensch war, der von den revolutionären Wünschen und Gedanken
ihres Kreises nichts wissen mochte, sondern sein Studium liebte, nämlich
die Mathematik. Dieser lebte mit seiner Schwester zusammen, einem sehr
schönen Mädchen, das aus Liebe zu einem andern Studenten philosophische
Schriften las und bedachte.

Nun war damals ein neuer Polizeimeister in Petersburg eingesetzt, der
eine heftige Verfolgung solcher Personen begann, die ihm politisch
verdächtig schienen. Bei dieser Gelegenheit wurden auch das junge
Mädchen und ihr Bruder verhaftet, und weil man bei ihr verbotene Bücher
gefunden hatte, so untersuchte man sie besonders genau, und befahl der
Polizeimeister, daß die Jungfrau in seiner Gegenwart nackt ausgezogen
werde, damit man nachsehen könne, ob sie nicht noch heimlich an ihrem
Körper etwas verborgen hatte. Hierüber und wie sie die lüsternen Augen
des Polizeimeisters sah, ward sie von so heftiger Scham ergriffen, daß
sie ein Messer nahm, das da auf dem Tische lag zum Spitzen der
Bleistifte, und es sich in die Brust stieß; und weil sie gerade auf die
Stelle des Herzens getroffen hatte und der Stoß nicht durch Kleider
abgeschwächt wurde, so sank sie gleich um und verschied in wenigen
Augenblicken.

Wie der Bruder, dem nichts Verbotenes nachgewiesen werden konnte, aus
dem Gefängnis entlassen war, bereitete er eine Rache vor, denn seine
frühere Gesinnung hatte sich durch dieses Ereignis gänzlich in ihr
Gegenteil verwandelt, und da er die notwendigen chemischen Kenntnisse
besaß, so gelang es ihm leicht, ein Sprengwerkzeug zu machen, durch das
er den Polizeimeister töten wollte. Er hatte aber das Mißgeschick, wie
er das Kästchen sorgsam über die Straße trug, daß die Masse sich
vorzeitig entzündete und ihm einen Arm wegriß und beide Augen blendete.
So wurde er vom Pflaster aufgenommen und durch geschickte Ärzte wieder
geheilt; dann aber klagte man ihn seines Versuches wegen an und
verurteilte ihn zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe.

Die hatte der Mann nun abgebüßt, und zwar zum Teil in Einzelhaft, und
dann war er aus Rußland fortgegangen und nach Berlin gekommen. Solches
Geschick aber hatte ihn jedoch zu einem ganz merkwürdigen Menschen
gemacht; denn er war damals achtzehn Jahre alt gewesen; und zwar in
seinem Fach recht tüchtig, sonst aber etwas unreif und kindisch. In den
zehn Jahren, die er seitdem in Finsternis und ohne alle Möglichkeit der
Bildung verbracht, war sein Geist dann nicht älter geworden, und auch
seine Erfahrungen hatten sich nicht vermehrt; nur zweierlei war in
seinem Innern geschehen, nämlich erstens, er hatte die revolutionären
Gedanken, die er damals ohne Interesse angehört, in sich befestigt und
in einer Art von mathematischem Sinn und ohne Verständnis für die
Wirklichkeit in sich gestaltet, und zweitens, er hatte sehr viele und
lebhafte Träume gehabt und konnte in seiner Erinnerung nicht mehr
unterscheiden zwischen Erlebtem und Geträumtem; und indem er auch jetzt
noch derart träumte, und zwar häufig Vorgänge in solcher Weise, wie er
sie sich wünschte, so befand er sich in Wahrheit in einer ganz andern
Welt wie seine Umgebung; denn wenn ihm ein Wunschgebilde dieser Art
abgestritten wurde als nicht wirklich, so hielt er den Menschen für
erträumt, der gegen ihn stritt, nicht aber seine Vorstellung, weil diese
sich bereits ganz mit seinem gesamten Weltbilde verschmolzen hatte.

Wie dieser Mann nun eine kleine Weile in dem Kreise der russischen
Freunde in Berlin gelebt hatte, die fleißig zusammenkamen auf ihren
Zimmern und viel disputierten, stellte sich das wunderliche Wesen
heraus, daß er auf alle Mädchen und Frauen des Kreises eine große
Anziehungskraft ausübte, trotzdem er schauerlich anzusehen war durch die
Verstümmelungen an seinem Körper und im Gesicht, und wollten ihm alle
dienen und helfen. Er aber hatte sich besonders an des Erzählers Frau
angeschlossen, bei dem er auch wohnte und aß.

So verging nun eine Zeit, während welcher die Frau nachdenklich und
schweigsam war; dann aber sagte sie zu ihrem Mann, daß sie ja doch beide
sich von den Vorurteilen der bürgerlichen Gesellschaft befreit hätten
und sich als Pfadsucher der neuen Menschheit wüßten, die, wie sie das
oft besprochen, auch eine andre Form der Ehe bringen werde; in dieser
solle die Freiheit der Persönlichkeit gewahrt bleiben; und da die
Persönlichkeiten sich heute immer verschiedenartiger entwickelten, so
werde die neue Ehe viele voneinander abweichende Typen aufweisen. Nun
wisse er wohl, daß sie ihn liebe, aber es sei zu dieser Liebe eine neue
Zuneigung in ihr Herz gekommen, nämlich für ihren gemeinsamen Freund;
und anfänglich habe diese Erscheinung sie recht beunruhigt, denn da die
Gefühle zu ihm als ihrem Mann noch immer die alten seien, so habe sie
ihn doch nicht verlassen mögen um den neuen Geliebten; am Ende aber habe
sie sich gedacht, daß auch solches in der künftigen Gesellschaft möglich
sei, daß eine Frau mit zwei Ehegatten lebe, wie umgekehrt ein Mann mit
zwei Ehefrauen, was wir ja beides auch heute schon bei barbarischen
Völkern in der Wirklichkeit sehen; und da sie doch die künftige
Gesellschaft in ihrer Lebensführung vorbilden wollten, so schlage sie
ihm vor, daß der Freund in ihren Ehebund als Gleichberechtigter
aufgenommen werde.

Auf diese Rede konnte der Mann nichts erwidern, da sie aber eine
Angelegenheit von großer Bedeutung für die künftige Ordnung der
Menschheit betraf, so entschloß er sich, daß er alles seinen Freunden
unterbreitete, damit vorher eine gründliche Besprechung über die
soziologischen und sittlichen Fragen stattfinde, die diesen Fall
betrafen. Dies geschah nun alles, und nach einer sehr genauen Prüfung
kamen die Freunde zu dem Urteil, daß die Frau recht habe und nach ihrer
Rede geschehen müsse. Dem Spruch fügte sich der Mann, und so begannen
die drei ihre neue Ehe.

Nun zeigten sich aber bald Unzuträglichkeiten, die sich aus dem Wesen
des zweiten Gatten ergaben. Durch seine Eigenart war er nämlich allen
Vorstellungen unzugänglich, die bezweckten, ihn zu etwas seinem Willen
Entgegengesetzten zu bewegen; und nachdem zuerst aus Schonung alles nach
seinen Wünschen gegangen war, herrschte er nachher hierdurch
vollständig, zur großen Beschwernis des ersten Mannes. Und während sonst
das neue Verhältnis wohl hätte Dauer haben können, wurde es ihm nun
unerträglich, so daß er aus der Familie ausschied, denn die Frau hing
mehr an dem zweiten Manne wie an ihm. Derart lebte er nun schon seit
Wochen allein. Hans wußte auf diese Bekenntnisse wenig zu antworten;
aber da jemand, der sein Herz erleichtern will, denn der Mann hing noch
an seinem Weibe und sehnte sich nach ihr, nicht verlangt, daß man viel
zu ihm spricht, sondern er ist froh, wenn er selbst ohne Störung seine
Beichte beenden kann, so fiel das dem andern nicht auf.

Nach einer Weile fuhr der fort, nachdem er nun dergestalt allein lebe,
habe er wieder mehr für die Verbreitung ihrer gemeinsamen Ideen tun
wollen. Und da sei ihm Hans eingefallen, daß er es in der Hand habe, der
Sache einen wichtigen Dienst zu leisten.

Er wisse nämlich, daß er gelegentlich noch jenen Kurt besuche, den
Schwager Hellers, den er gleichfalls an jenem ersten Abend kennen
gelernt. Wenn er nun dem auf seiner Schreibstube einmal sage, er wolle
telephonieren bei ihm, so werde er und der andre den Raum verlassen, und
er, nämlich Hans, bleibe allein. Dann könne Hans auf einer Wachstafel
Abdrücke der Schlüssel machen, nach denen er selbst, der solche Künste
gelernt habe, Nachschlüssel anfertigen werde; und wenn dann einmal
gelegene Zeit sei, so würde er mit einem Freunde des Nachts das ganz
unbewachte Geschäft öffnen und aus dem Geldschrank eine Summe nehmen,
die seine Freunde in Rußland brauchten, um eine Druckerei anzulegen; und
da keinerlei Spuren eines Einbruchs zu bemerken wären und man nicht
erfahren könne, auf welche Weise das Geld verschwunden sei, so müsse
dieser Plan ganz sicher auszuführen sein. Bedenken sittlicher Art aber
werde er, Hans, doch wohl nicht haben, da man doch nur einem Ausbeuter
nehme, was er zu Unrecht besitze, und das verwende für die Befreiung der
Menschheit.

Wie Hans diese Rede hörte, wurde ihm wie durch einen Blitz sein eignes
Leben und das Leben aller dieser Menschen erleuchtet, und wurde von
tiefem Entsetzen fast geschüttelt, und war ihm, als müsse er den Russen
niederschlagen in Entrüstung; und so sehr konnte er sich nicht
bezwingen, daß der andre nicht seine Verfassung gemerkt hätte; die war
aber derart, daß er in Angst geriet und verlegen wurde und dann
plötzlich ging. Wie der andre fort war, kamen dem Hans die Tränen über
sein Leben, er legte das Gesicht auf seine Arme und weinte bitterlich.

Aber noch nicht war die Zahl der Boten zu Ende, die ihm an diesem
Weihnachtsabend geschickt wurden, nämlich der Brief der toten Luise, und
dieser Mensch, der sich eben vom Narren zum Verbrecher entwickelte; es
kam noch ein Wort von der treuen Dienstmagd seiner Eltern, und das traf
ihn am tiefsten.

Die Mutter schickte ihm zur Bescherung aus der Heimat ein Kistchen, in
das sie allerlei gepackt, was sie nützlich für ihn meinte, denn
Überflüssiges zu schenken war ihrer sparsamen Art zuwider, und auf dem
Boden lag der Brief, der fest zusammengefaltet war; in dem schrieb sie,
daß Dorrel gestorben war, und erzählte die Art ihres Hinganges, und was
sie ihr aufgetragen für ihn. Denn nachdem sie ihrer Frau alle ihre Habe
nochmals gezeigt und gesagt, daß dies alles Hans erben solle, sagte sie:
»Wie er zuletzt hier im Hause war, zum Tode seines Vaters, da fiel mir
auf, daß sich sein Wesen verändert hat und daß seine Augen anders sind
wie früher. Hierüber habe ich eine große Angst bekommen, aber als eine
ungebildete Dienstmagd, die keine Kenntnis hat von einer Gelehrsamkeit,
wagte ich ihm nichts zu sagen. Nun ich aber fühle, daß ich sterben
werde, und ich hoffe, daß unser himmlischer Vater mich zu sich in sein
Reich nimmt um seines Sohnes willen, so will ich versprechen, daß ich
oben fleißig Fürbitte tun will für ihn bei Gott, damit der sich seiner
erbarme und recht bald ihn frei mache aus seiner jetzigen üblen
Verfassung.«

Es wohnte Hans bei braven und ordentlichen Leuten, die gleich ihm ein
trübes Weihnachten feierten. Der Mann war ein Zuckerbäcker gewesen und
als ein fleißiger und ordentlicher Mann, der auch eine sparsame und
häusliche Frau hatte, war er in seinen Verhältnissen recht
vorwärtsgekommen. Die beiden hatten einen einzigen Sohn, den sie mit
vieler Liebe erzogen, und vielleicht waren sie allzu nachsichtig gegen
ihn gewesen. Sie hatten ihn auf die gute Schule getan, wo er als ein
begabter und leicht auffassender Junge anfänglich rasche Fortschritte
machte, aber wie er in die höheren Klassen kam, wurde er träge, hielt
sich zu den leichtsinnigen und schlechten Schülern, und durch Rauchen
und Trinken vergnügte er sich in einer Weise, die seinem Alter noch
nicht zukam. So geschah es, daß er die Schule nicht beenden und dann
studieren konnte, wie die Eltern gedacht, sondern er mußte aus der
Sekunda abgehen. Da ließen sie ihn eine mittlere Beamtenlaufbahn
ergreifen und brachten ihn bei der Steuerverwaltung unter, und waren
sehr stolz, wenn er sie in seiner schmucken dunkelgrünen Uniform
besuchte, zahlten auch viel Geld für ihn, denn er machte große Ausgaben,
weil er immer fein und vornehm erscheinen wollte. Dann heiratete er
frühzeitig die Tochter eines andern Beamten, die ein sehr schönes
Mädchen war, und es wurde erzählt, sogar ein Offizier habe um sie
anhalten wollen. Die war nun freilich nicht vermögend und wußte nicht
gut hauszuhalten, sondern hatte ihre größte Lust am Putz und Vergnügen;
aber da ihre Art der seinigen zusagte, so lebten sie doch recht
unbekümmert und fröhlich zusammen.

Die alten Eltern gerieten in große Sorgen, wie sie dieses Leben sahen
und die großen Ausgaben merkten, und nachdem sie lange mit sich zu Rate
gegangen, wie sie dem abhelfen könnten, besuchte am Ende der Vater
seufzend seinen Sohn, ermahnte ihn zur Sparsamkeit, warnte ihn und sagte
am Ende, wenn er vielleicht Schulden gemacht habe, so solle er sie ihm
nennen, denn er wolle lieber für ihn bezahlen, als daß er ins Unglück
komme. Und über die herzlichen Worte war der Sohn fast gerührt geworden,
wie es leichtfertiger Leute Art ist, aber im Nebenzimmer hatte die
Schwiegertochter alles gehört, die kam herein und schalt auf den alten
Mann, sagte ihm, daß er ihr Leben nicht verstehe und sie beide beständig
kränke und fügte noch viele bittere Worte hinzu über ihre vornehmere
Herkunft und besseren Gewohnheiten. Über dieses alles wurde der Sohn
beschämt, teils wegen seines Vaters, daß ihm der ins Gewissen geredet,
teils wegen seiner Frau, weil die ihre Geburt gegen seinen Vater
hervorhob; der Zorn aber, der aus dieser Beschämung entstand, richtete
sich gegen seinen alten Vater, als der es gut gemeint hatte, und so
wurde er heftig und verbot dem am Ende sein Haus. Da ging der gute alte
Mann wortlos aus der Stube, küßte noch einmal den Enkel und es flossen
ihm Tränen über die Backen, und dann mied er seinen Sohn; dieser aber,
da er sich schuldig fühlte, mied ihn gleichfalls.

Nun geschah es nach nicht langer Zeit, daß in der Kasse, welche der
junge Beamte verwaltete, Unterschleife entdeckt wurden, denn weil sein
Einkommen bei weitem nicht ausreichte für sein Leben, so hatte er erst
Schulden gemacht, und wie die Schuldleute drängten, hatte er fremdes
Geld angegriffen. So wurde er denn gleich verhaftet und ihm der Prozeß
gemacht und zu Zuchthaus verurteilt. Die junge Frau, die doch
mitschuldig an seinem Verbrechen war, gebärdete sich wie irrsinnig,
beschimpfte ihren Mann vor andern Leuten und ließ sich von ihm scheiden
als von einem Ehrlosen. Dann brachte sie das einzige Kind zu den
Schwiegereltern und sagte denen, sie wolle eines solchen Mannes Sohn
nicht erziehen, denn der schlage gewiß nach seinem Vater, und sie selbst
wolle nun ein neues Leben anfangen, nachdem ihr früheres zerstört,
nämlich sie habe eine große Begabung für den Gesang und wolle Künstlerin
werden. Dann ging sie aus dem kleinen Orte fort, und es wurde erzählt,
daß sie Sängerin in einer großen Stadt in einem jener Häuser geworden
sei, wo die musikalischen Darbietungen nur andre Dinge verbergen sollen.

Auch die Eltern verließen ihre Stadt, in der sie jung gewesen waren und
gearbeitet hatten und alt geworden waren, und nahmen den Enkel mit sich,
denn sie konnten die Schande nicht ertragen und meinten, in der
Großstadt vermöchten sie sich am besten zu verbergen, daß sie niemand
sähe, der sie gekannt, und daß das Kind ohne Vorwurf um seinen Vater
aufwüchse.

Über dem allen waren nun Jahre vergangen, und das Kind hatte zugenommen
an Größe und Verstand und sich zu großer Ähnlichkeit mit seinem
Großvater entwickelt, war auch recht brav in der Schule und saß immer
als einer der Ersten. So kam nun die Zeit heran, daß ihr Sohn entlassen
werden mußte aus dem Zuchthause, dem Jungen hatten sie aber erzählt, er
sei in Amerika. Und wiewohl der Vater ihn noch einmal gesprochen nach
seiner Verurteilung und sie sich Briefe schrieben, so wußten sie nicht,
ob er zu ihnen kommen werde, und hatten zwar große Sehnsucht nach ihm,
aber der Vater wagte doch nicht, nach dem Orte seiner Strafe abzureisen
und ihn dort zu empfangen, denn er fürchtete, daß ihm das wieder
mißfallen möchte und ihn wieder verhärte. Deshalb waren jetzt ihre
Herzen gespannt in Furcht und Hoffnung, denn gleich nach den Feiertagen
waren die Jahre abgelaufen. So hatte nun dieses Weihnachtsfest für sie
eine besondere Bedeutung. Und wie es oft geschieht, daß guten Menschen
Not und Sorge das Herz offen machen für andere, wie bei bösen sie es
verschließen, so sprach die Frau zu dem Mann, er solle zu dem Mieter
hinübergehen und den einladen zu ihrem Weihnachtsbaum, denn sie hatte
wohl gemerkt, daß er ein einsamer Mensch war, um den sich niemand
kümmern mochte an diesem Abend. Aber als der Mann nun in seiner
festlichen Kleidung anklopfte und endlich die Tür öffnete, da fand er
Hansen ohne Besinnung im Zimmer auf dem Boden liegen, und neben ihm lag
das geöffnete Kistchen von der Mutter, welches ein paar Schuhe enthielt,
Strümpfe und Taschentücher, und ein Stück Honigkuchen.

Wie der Arzt kam, erkannte der schweres Nervenfieber, und ordnete an,
daß Hans gleich in ein Krankenhaus gebracht wurde. So geschah, und war
Hans die ganze Zeit besinnungslos, wie er im Krankenwagen gefahren
wurde, und nur für einen Augenblick hatte er eine gewisse Klarheit, wie
man ihn durch einen langen Gang trug, an vielen Türen mit Nummern
vorbei. Der Mann zu seinen Füßen war ganz weiß gekleidet, und wie er
sich umwendete, sah er, daß der andre Mann ebensolche Tracht hatte; das
war ihm wunderbar, was das bedeuten mochte. Auch standen da zwei
Krankenschwestern, von denen sagte die eine: »Und nicht einmal am
Weihnachtsabend hat man Ruhe, das ist hier wie im Gefängnis.« Da
vergingen ihm die Sinne wieder, aber um das Wort »Gefängnis« bildeten
sich allerhand wirre und unfaßbare Phantasien, die ihm eine große Angst
einflößten.

                   *       *       *       *       *

Nach seiner bestimmten Zeit kam Hans wieder zur Besinnung, aber da war
sein Körper sehr schwach, und lag in großer Mattigkeit in einem Bett;
seine Seele indessen war erfüllt von Bangigkeit, Reue und Angst, und
erschien ihm sein Leben nutzlos verschleudert, und er meinte, daß er mit
allem am Ende sei.

Dieses merkte die Pflegerin, die ihn besorgte, daß er nicht die
friedliche und ruhige Stimmung des Gemütes hatte, die nach einer
schweren Krankheit uns trösten soll und wieder ganz gesund machen.
Deshalb fragte sie ihn, weshalb er sich verzehre, und hörte mit Geduld,
wie er sich selbst anklagte. Da antwortete sie ihm, daß er sich
aufrichten müsse und den Willen haben zu Kraft und Freude, und um ihm
Mut zu machen, sagte sie, daß er sie selbst betrachten solle, wie sie
ruhig sei und in Ordnung ihre Pflicht erfülle, und habe doch Schweres in
ihrer Vergangenheit begangen, das sie ihm erzählte.

Ihr Vater war ein einfacher Mann gewesen, der in seiner frühen Jugend
weit in die Welt gekommen war, und hatte da manches gesehen, davon in
seiner Heimat niemand etwas bekannt war. Deshalb kehrte er nach Hause
zurück mit einem wenigen von Geld, das er in der Fremde verdient, und
tat sich mit einem reichen Bürger seines Ortes zusammen, einem
Schlächtermeister, und mutete auf Kohlen. Und so hatte er Glück und fand
reiche Kohlenlager, und war auch weiterhin verständig, indem er sich
nichts abschwatzen ließ, sondern mit seinem Genossen sein Gefundenes
selber ausbeutete, und gelangte auf diese Weise zu großem Reichtum, daß
er viele Zechen besaß und auch Eisenwerke baute und Bahnen anlegte; und
ward seine Heimat durch ihn ganz verändert aus einem grünen und frischen
Lande, wo Holzhauer wohnten und Gebirgsbauern, zu großen Orten mit
düsteren Häusern und Straßen voll schwarzen Staubes und zu Luft voller
Qualm der rauchenden Schlote, und zogen viele fremde Leute zu, und auch
die Einheimischen arbeiteten bei ihm in Schächten und Hütten, mit
Verdrossenheit und Unmut. Er selbst aber ward ein schweigsamer und
stiller Mann, der des Morgens in der Frühe in seine Arbeitsstube ging,
Briefe las und Antworten diktierte, und wenn er einen ansah von seinen
Leuten, so war sein Gesicht seltsam zerstreut, denn er dachte an eine
Zeche oder eine Schwankung der Preise; und seine Erholung war, daß er am
Abend in das Klubhaus ging, wo auch seine studierten und feinen
Angestellten sich erfreuten, da setzte er sich allein in eine bestimmte
Ecke und hatte vor sich ein Glas eines bestimmten Weines, und saß stumm
da, spielte etwa einmal mit seinen Fingern. Dann ging er nach Hause und
wanderte lang auf und ab in seiner Wohnstube, und am Ende legte er sich
schlafen in seinem Schlafzimmer, das war eingerichtet mit fürstlicher
Pracht. Er hatte als junger Bursche geheiratet, ein Mädchen seines
Standes, die war an zehn Jahre älter wie er; von der hatte er zuerst
keine Kinder, aber später bekam er mit ihr eine Tochter. Nun war er
selbst mit der Zeit in Aussehen und Benehmen ein Mann geworden, wie wenn
er immer in seiner jetzigen Lage gelebt hätte, und hatte auch auf seiner
Wanderschaft fremde Sprachen gelernt und redete seine Muttersprache fast
ohne Dialekt; die Frau aber konnte sich nicht recht in die neuen
Zustände passen, denn nur, daß sie prunksüchtig wurde und zänkisch,
sonst behielt sie alle ihre alten Gewohnheiten und Sitten bei. Das hatte
den Mann nicht sehr gestört, solange das Kind nicht da war, denn er
lebte wenig mit ihr zusammen; wie jedoch das Kind geboren war und einige
Jahre alt wurde, da schied er sich von ihr, und sie zog weit weg, er
aber behielt das Kind.

Nun wurde das Mädchen erzogen von teuren Erziehern, und am Mittag, wenn
gegessen wurde, sah sie der Vater immer, denn sie mußte ihm gegenüber
sitzen, sonst sah er sie aber nicht, weil er zu viel zu bedenken hatte.
Da wuchs denn das Kind auf, wie es mochte, denn die Erzieher wagten
nicht, streng zu sein, und der Vater erfüllte ihr alle Wünsche, weil er
sie so wenig sah und doch wollte, daß sie ihn lieb hätte, und wie er
nicht mehr wußte, was einem Kinde recht und passend ist, so schenkte er
ihr viel kostbares Spielzeug. Hierdurch gewöhnte sich das Kind, daß
alles seinen Einfällen gehorchen mußte, und daß es teure Dinge für
nichts achtete und keine Grenze fand für seine Wünsche, und das ganze
Leben erschien ihm langweilig. So wuchs das Mädchen heran zu einem
schönen Fräulein, und ihre Erzieherin redete ihr allerlei vor von der
Liebe und von vornehmen Heiraten. Da kamen auch bald Freier von allerlei
Art. Es wollte aber der Vater gern, daß sie einen jungen Mann ehelichte,
der bei ihm diente in seinem Geschäft und tüchtig war in aller Hinsicht.
Diesen ladete er oftmals zu Tisch ein und fragte seine Tochter, wie er
ihr gefalle; da antwortete sie, daß sie ihn sich gar nicht recht
angesehen habe; und wie er ärgerlich wurde über diesen Hochmut und ihr
sagte, daß er selbst ein armer Arbeitsjunge gewesen, der mit einem
Schnupftuchbündel in der Hand in die Fremde gezogen sei, da zuckte sie
nur die Achseln, und er vermochte nichts weiteres über sie, denn er
mußte zu viel an seine Geschäfte denken und konnte deshalb ihr Wesen
nicht erfassen.

Nun drängten sich um sie viele glänzende und vornehme Herren und
schmeichelten ihr, und da sie unerzogen war und nicht bedachtsam, weil
sie niemals auf Festes gestoßen war, so glaubte sie wörtlich alles, was
ihr Schönes gesagt wurde, und ward noch hochmütiger; lieb gewinnen aber
konnte sie niemand, in der Art, wie ihre Erzieherin ihm das geschildert
hatte, die ein häßliches und armes Mädchen gewesen war, das immer
sehnsüchtig zur Seite gestanden hatte; und am Ende dachte sie, daß sie
ein Wesen von ganz besonderer Art sei, das beglücken könne, wen sie
wolle, wie der Zufall aus den vielen Mitspielern einer Lotterie einen
herausgreift, blindlings und ohne Grund. Da war nun in dem Kreise ein
junger Offizier, der ganz arm war und von bürgerlicher Herkunft und
nicht besonders ansehnlich, aber er hatte ein braves Gemüt und einen
rechtlichen Charakter; der durchschaute wohl ihr Wesen, und weil er
zudem bei so vielen glänzenden Bewerbern doch gar keine Aussichten zu
haben schien, so hielt er sich ganz still und ruhig im Hintergrunde und
bekümmerte sich nicht um sie. Diesen nun, weil er allein von allen
abseits stand, suchte sie gerade aus, denn für so hochstehend hielt sie
sich, daß seine Unansehnlichkeit und der Glanz der andern vor ihren
Augen ein ganz gleiches Verdienst hatten. Der Jüngling, der zuerst
glaubte, daß sie nur mit ihm spielen wolle, zog sich noch mehr zurück,
wie er ihre Annäherungen bemerkte, und das wiederum machte sie nur
hartnäckiger, so daß er am Ende verspüren mußte, es sei ihr Ernst mit
ihrem Entgegenkommen. Da verfiel er der menschlichen Schwachheit, daß
die Hoffnung, welche derart in ihm erweckt wurde, ihm einen glänzenden
Schleier vor ihrem Bilde ausbreitete, daß er die Fehler und Mängel nicht
mehr sah, die er früher recht scharf bemerkt, denn er war auch stolz und
kannte seinen Wert in seinem geringen Äußern, und es schien ihm ein
Besonders von ihr, daß sie ihn unter den andern nun herausgefunden
hatte; so meinte er denn, daß sie in einer glücklichen und redlichen Ehe
ihr voriges Wesen bald ändern werde, das ihr ja nur äußerlich angeflogen
sei. Und auch ihr Vater wurde getröstet über ihre Wahl, denn er hoffte,
daß er aus diesem jungen Mann sich werde einen Nachfolger erziehen
können. Derart wurde dann die Hochzeit der beiden gefeiert; aber schon
an dem Tage der Feier und vor der Trauung kam zwischen den beiden der
erste Streit, um eine geringe Kleinigkeit, und die Braut, die schon
festlich geschmückt war und nur noch des Kranzes harrte und des
Schleiers, zog den Ring vom Finger und warf ihn auf die Erde. Da wendete
sich der Bräutigam und wollte zur Tür hinausgehen; aber schon hatte er
eine zu große Liebe gefaßt, daß er nicht mehr sich trennen konnte,
deshalb kam er zurück, hob den Ring auf und gab ihn ihr wieder mit
bittenden Worten.

Nun führten die beiden eine recht unglückliche Ehe, denn der Mann war
ernsthaft und wollte lernen, damit er später alles leiten könnte, wenn
sein Schwiegervater einst tot wäre; die Frau aber verspottete und
kränkte ihn, und er war ganz weich in ihrer Hand und konnte ihr nicht
antworten, wie er gemußt hätte; und sie selbst war dabei ohne Tröstung
und langweilte sich, weil sie nicht wußte, was sie wollte. Ihr Vater
indessen gewann mit der Zeit den Mann lieb wie seinen Sohn, denn er war
viel um ihn, und waren beide vom gleichen Schlage; deshalb sagte er ihm,
er solle sein Weib gehen lassen, wie sie wolle, denn es sei ja auch eine
Torheit, wenn man sich Ruhe wünsche und Zufriedenheit, weil kein Mensch
die erreichen könne, außer etwa in ganz jungen Jahren, wo man nur seine
Sehnsucht vor sich habe und nicht die Wirklichkeit. So wurde denn der
Mann zu einem Menschen wie der Alte war.

Inzwischen waren noch viele Verehrer um die Frau, die wohl sahen, daß
sie unglücklich war, und ihr weiter schmeichelten und sich kränken
ließen von ihr. Da fiel es ihr ein, aus Hochmut und Überdruß, und weil
sie ihren Vater und Mann beleidigen wollte, daß sie sich einen Liebhaber
aussuchte; das war ein windiger junger Mensch, der ein groß Wesen machte
von sich, aber von Schulden lebte und von niemand geachtet wurde; mit
dem ließ sie sich ein, denn es war ihr recht, daß er sie in wunderlicher
Weise vergötterte, wie es wohl in törichten Büchern beschrieben wird.
Ihr Mann und Vater merkten nichts von dem Wesen, trotzdem sie recht
offen war, denn die hatten ihre Arbeit und dachten nicht an weiteres,
sie aber trieb es so weit, daß sie ein Kind bekam, und ihr Mann meinte,
es sei sein Kind, und freute sich über das Söhnchen, und ihr Vater
hoffte, daß es auf einen von ihnen beiden schlagen möge und nicht auf
die Mutter. Danach entzweite sie sich mit dem leichtfertigen Menschen,
denn der wurde von den Gläubigern gedrängt und war in seiner beständigen
Angst gegen sie nicht mehr so aufmerksam gewesen wie vorher; lieb gehabt
aber hatte sie auch ihn nicht.

Nun geschah es, daß die beiden Männer eine Erholung haben wollten von
ihrer schweren Arbeit, kauften sich eine Lustjacht und machten mit der
Frau und dem Kinde eine Seereise. Wie sie unterwegs waren, bezog sich an
einem Nachmittag der Himmel und kam Regen und stürmisches Wetter, so daß
sie alle nach unten gingen in die Kajüte, indessen die drei Leute,
welche das Schiff bedienten, auf dem Deck arbeiteten. In der engen und
dumpfen Kajüte aber befiel sie alle eine eigne Gereiztheit, und sie
begannen sich untereinander Vorwürfe zu machen, indessen draußen die
Wogen wunderlich gingen; da warf der Vater der Tochter vor, daß sie an
nichts Freude habe und keinen Menschen liebe, und die Tochter sprach
gegen den Vater, daß er immer nur an sein Geschäft denke und sich nicht
um sie bekümmere, und wie der Mann gut zureden wollte, da höhnte sie
den, daß er nichts verstehe, wie in seiner Schreibstube sitzen, und auch
der Mann wurde heftig und sagte, daß er ihr Herr sei; inzwischen war der
Knabe, der damals dreijährig sein mochte, ängstlich geworden und
schmiegte sich an den Vater; die Frau aber geriet in einen maßlosen Zorn
und schrie, niemand sei ihr Herr, und indem der Mann das Kind halten
wollte, weil das Schiff sehr schaukelte und er Furcht hatte, der Sohn
möchte fallen und sich verletzen, da rief sie, das Kind gehöre ihr und
nicht ihm, denn sie habe es von einem andern.

Wie sie diese Worte in blindem Haß hervorgestoßen hatte, taten sie ihr
leid, denn die beiden Männer wurden ganz bleich, aber in dem Augenblick
rief das Kind in großer Angst ihren Namen, und da fielen sie alle um von
einem starken Stoß und rollten durch die enge Kajüte und konnten sich
nur mit großer Mühe wieder aufrichten, aber wie sie sich aufgerichtet
hatten, da waren der festgeschraubte Tisch und Stühle über ihren Köpfen
in der Luft, und das Geschirr, das auf dem Tisch gestanden, lag auf dem
Boden mit samt dem Tischtuch, und nach einer Weile sagte der Vater, daß
das Schiff gekentert war. So trieben sie nun auf der See mit dem Kiel
nach oben und das Deck war unter dem Wasser, und das Wasser drückte und
klopfte gegen die Decke der Kajüte und klatschte gegen die Tür, und in
solcher Lage erhielt sich die Jacht durch die eingepreßte Luft, die
nicht hatte entweichen können, weil sie so ganz schnell umgeschlagen
war, die Männer aber, die oben gewesen, waren fortgeschwemmt und
ertrunken. Erst langsam wurde den Eingeschlossenen das klar, denn sie
hatten eine große Angst. Es quoll auch bald Wasser von unten, denn das
beständige Schlagen der Flut machte die Bretter locker, und so mußten
sich denn die Menschen beizeiten umsehen, wo sie sich besser sicherten,
und da sie nicht hinausgehen konnten aus dem kleinen Raum, denn vor der
Tür war ja Wasser, so blieb ihnen nichts, als daß sie sich recht hoch
machten. Deshalb schwang sich der Mann erst auf den Tisch, der oben
festgeschraubt war in dem früheren Boden und prüfte die Haltbarkeit, und
dann hob er die Frau hoch mit dem Kind und half dem Vater. Wie das
geschehen war, suchte er auf dem Boden nach Essen und fand einige
Brötchen und Zwiebäcke und ein Töpfchen mit Eingemachtem, das reichte er
alles hinauf, und dann las er noch die Messer und Gabeln auf, die
herumlagen, denn mit denen wollte er oben eine Diele entfernen, damit
sie noch höher kommen konnten in den hohlen Kielraum des Schiffes. So
schnitt er erst den Fußteppich durch und machte sich dann daran, mit dem
unpassenden Werkzeug die Schrauben herauszuschneiden, welche die Dielen
auf den Sparren festhielten; denn aufdrehen konnte er sie nicht, weil er
dabei sein Messer zerbrach. Über diesen Anstrengungen verspürten sie,
wie das geringe Licht, das von unten durch das runde Fenster im Wasser
kam, immer geringer wurde, denn es waren ja auch nur wenige
Lichtstrahlen, die durch die schaumbedeckten Wellen bis zu dem Fenster
drangen; und dazu stand unten das Wasser in der Höhe von mehreren Fuß in
der Kajüte, auf dem lustig eine Schachtel mit Streichhölzern und zwei
Korke schwammen; die Luft aber wurde immer verbrauchter und schien immer
schwerer zum Atmen, entwich auch an einer Stelle durch den Druck des
Wassers unten mit einem leisen Pfeifen, und dadurch stieg das Wasser in
dem Raum langsam immer höher. Die beiden Männer arbeiteten fleißig, und
der alte Mann hatte einen Überschlag gemacht, daß bis zum andern Morgen
die ganze Luft aus dem Raume entwichen sein mußte und das Wasser bis
oben stand und sie alle erstickte, wenn sie nicht die Diele bis dahin
gelöst hatten und sich in den Kielraum retten konnten, der aber würde
wohl immer über dem Wasser bleiben, weil er ja durch das viele Holzwerk
unten getragen wurde.

Wie es nun gänzlich Nacht geworden war und sie alle sehr müde waren,
beschlossen sie, daß sie eine kurze Weile schlafen wollten, um neue
Kräfte zu schöpfen, und der Vater erbot sich zur ersten Wache und wollte
inzwischen weiterarbeiten im Dunkeln, und die zweite Wache sollte der
Schwiegersohn übernehmen. So taten sie; aber nach einer unbestimmten
Zeit schreckte der Mann aus dem Schlafe auf und hörte nicht mehr das
leise Geräusch des arbeitenden Messers, das kleine Späne loslöste, da
wußte er, daß der alte Mann ertrunken war, und deshalb arbeitete er
allein weiter. Es erwachte dann auch die Frau durch große Beklommenheit
des Atems, und das Wasser klatschte schon leise an die Platte des
Tisches, auf dem sie saßen. Indessen war es dem Manne gelungen, daß er
die Schrauben der einen Diele an seiner Seite herausgeschnitten hatte,
und nun riß er die Scheuerleiste fort und faßte vorsichtig mit zwei
Gabeln von beiden Seiten, um sie zu biegen, bis er sie mit den Händen
fassen konnte; und indem die Frau half, gelang es auch, daß sich die
Diele so weit bog, und nun ergriff er sie und riß an ihr mit aller
Kraft, daß sie in der Mitte abbrach und über ihnen eine schmale Öffnung
in den Kielraum wurde. Aber durch das Gegenstemmen hatten sich zwei
Schrauben gelöst, durch welche die Tischbeine befestigt waren, und der
Tisch glitt schräg ins Wasser. Die Frau hielt sich noch an der Diele
über ihnen fest und schwang sich durch die gebrochene Öffnung in den
Kielraum, das Kind aber war ins Wasser gerollt, und der Mann wollte das
Kind retten und stürzte sich nach, aber er stieß mit dem Kopf gegen
etwas, tat einen lauten Schrei und kam nicht wieder, und auch das Kind
ist ertrunken.

Nun kauerte die Frau oben im Kielraum vor der Öffnung, und der kalte
Hauch des Wassers drang zu ihr empor. Nach langer Zeit kam eine geringe
Helligkeit in das Wasser unten; da war es noch höher gestiegen, und wie
sie genau zusah, erblickte sie unter sich eine Hand mit gekrampften
Fingern.

Wie sie gerettet war und sich erholt hatte von allem, was sie
ausgestanden, verspürte sie, daß eine Wandlung in ihr vorgegangen.
Vornehmlich hatte sie jetzt den Wunsch, daß sie etwas tun wollte, aber
der war ihr nicht gekommen durch Ängste des Gewissens, Reue und
Absichten von Buße, sondern ohne einen andern Grund, nur weil sie ein
neuer Mensch geworden war. Deshalb überlegte sie sich alles, ihr
früheres Leben und seine Bedingungen, da fand sie, daß ganz notwendig
alles so geschehen mußte, wie es wirklich geschehen war, und sie selbst
hatte keine Schuld und auch andre nicht. Denn ihr Vater konnte nicht
leben, wie er wollte, sondern war einem Zwange unterworfen, daß er immer
an seine Arbeit denken mußte und keine andern Gedanken haben durfte. Und
da er nun in einer andern Klasse der Gesellschaft lebte wie vorher und
sein Kind auch in dieser Klasse leben mußte, so konnte er seine Frau
nicht behalten; deshalb war es nötig, daß er sein Kind Fremden
anvertraute, die aber waren arme Menschen, welche gänzlich von dem Kinde
abhingen, deshalb vermochten sie ihm nicht zu widerstehen. So war sie
denn zu einem solchen Wesen geworden, wie sie bis dahin war, und nur das
blieb zu verwundern, daß sie nicht noch Schlimmeres getan. Nun aber
wollte sie einen neuen Weg gehen, und da schien es ihr das beste, wenn
sie Krankenpflegerin würde, weil sie da wirklich tätig sein konnte, denn
alle Untätigkeit war ihr jetzt ein Ekel. So lebte sie nun schon seit
einigen Jahren und war sehr ruhig und genoß dasjenige Maß von Glück, das
ihrer besonderen Art bestimmt war und wohl freilich nicht sehr groß sein
mochte.

Dieses alles erzählte die Schwester dem Hans, und der wunderte sich sehr
über ihren Frieden. Aber nachdem er ihre Geschichte lange bedacht hatte,
da fand er am Ende doch, daß sie wohl ein andrer Mensch war wie er; denn
wiewohl er sich viele Mühe gab zu Ruhe, so hatte er doch beständig
Gewissensbisse und Selbstvorwürfe, und das Leben erschien ihm ganz
schwierig. So sah er ein, daß die Gottlosen leichter leben wie die, so
an Gott glauben, und ergab sich ihm, daß wir höher kommen sollen
dadurch, daß wir an Gott glauben, denn wenn uns das Leben schwierig
wird, so steigen wir indessen auf einen hohen Berg, wo die Luft härter
und reiner ist, und die Arbeit der Menschen ist tief unter uns, die sie
treiben, damit sie ihr fleischliches Leben erhalten.

Die meisten der Pflegerinnen hatten keine Geschichte gehabt und waren
nur so gewöhnliche Menschen, die mit Widerwillen ihre Aufgabe erfüllen;
aber noch eine andre Schwester wurde für Hans merkwürdig, denn die
bildete ein Gegenstück zu jener ersten. Deren Erlebnis war folgendes
gewesen:

Sie war als Tochter eines höheren Beamten geboren, und ihre Eltern
lebten in beständigen Sorgen, weil ihre Mittel zu gering waren, um den
Aufwand zu befriedigen, den sie für nötig hielten. So wurde sie schon
frühe gewöhnt, überlegend und sparsam zu sein und nach außen doch eine
gewisse Unbefangenheit zu zeigen, und ihr Wunsch war von Jugend an, sie
möchte einmal ein recht tüchtiger Mensch werden, damit sie ihrem
späteren Mann in ihrer Art behilflich sein könne.

Wie sie noch jung war, bewarb sich ein recht gut gestellter Mann um sie,
ein Rechtsanwalt, der sie an Jahren ziemlich übertraf, und auf das
Zureden ihrer Eltern heiratete sie den, wiewohl sie keine besondere und
außergewöhnliche Zuneigung zu ihm verspürte; aber ihre Mutter hatte ihr
in vertraulicher Weise gesagt, daß wohl überhaupt nur wenigen Menschen
das Glück einer wirklichen Liebe werde, die man sich vorstelle in der
Jugend. Sie gewann mit der Zeit den Mann auch in ruhiger und einfacher
Weise lieb, denn er war gut zu ihr und sehr zuverlässig und tüchtig, daß
jeder vor ihm Achtung haben mußte. Kinder indessen bekam sie nicht von
ihm. Nun stellte es sich aber heraus, daß sie einen verschiedenen Willen
hatten über das, was die Frau tun soll, denn sie hatte gemeint, daß sie
eine rechte Tätigkeit haben werde in Leitung des Hausstandes, guter
Wirtschaft und umsichtiger Fürsorge; er aber, da er keine Kinder hatte
und viel verdiente, wollte gar nicht, daß seine Frau so viel Eifer auf
diese Dinge verwendete, denn er mochte lieber, daß sie sich schön putzte
und darauf sann, wie sie ihm allerhand Spiel und Gaukelwerk vormachte,
wenn er von seiner Arbeit kam. Und ferner hatte sie gemeint, daß die
Frau mit dem Mann viel Ernsthaftes reden werde und von ihm manches
lerne, er aber war nicht zu gründlichen Gesprächen mit ihr aufgelegt,
sondern wendete alles zu Scherz und Kurzweil, wenn er mit ihr war.
Hierüber wurde sie recht traurig und fühlte sich ohne Glück und
Befriedigung und empfand eine große Langeweile und zuweilen sogar einen
Ärger über ihren Mann.

Als dieses so ging, kam in das Haus ein Verwandter des Mannes, ein
junger Herr, welcher seine Universitätsstudien beendet hatte und auch
seine ersten praktischen Jahre und nun als junger Assessor bei seinem
geschickten und klugen Oheim noch lernen wollte. Dieser hatte viel Liebe
zu aller Art von Kunst und Dichtung und hatte auch über die Fragen
unsers gesellschaftlichen Lebens nachgedacht und besonders über die
Bestrebungen der Frauen, die heute mehr Selbständigkeit und Beachtung
wünschen. Da geschah es bald, daß er mit der Frau in eifrige Gespräche
kam, und lieh ihr Bücher, erzählte ihr von allem, was heute geschieht
und was viele denken, und sie stritten oft miteinander; und weil sie
beide gute und harmlose Menschen waren und auch der Mann ohne Arg war,
so dachte keiner von ihnen, was aus diesem entstehen konnte. Am Ende
aber kam die Frau als erste zur Klarheit, was ganz plötzlich geschah, es
wurde nämlich ihr Mann unvermutet von einer elektrischen Bahn überfahren
und in solchem Zustand ins Haus gebracht, daß sie zuerst meinte, er sei
tot, da verspürte sie plötzlich, daß sie den Jüngling liebte, und in
heftiger Verzweiflung kamen ihr die Tränen aus den Augen; der Mann war
aber nur leicht verwundet gewesen und genas wieder nach einiger Zeit. Da
beschloß sie, wie er wieder ganz gesund war, daß sie ihm alles sagen
wollte, ging zu ihm und erzählte von Anfang an und schloß, daß sie eine
Liebe zu dem andern gefaßt habe. Hierüber wurde der Mann sehr bekümmert,
wie er aber sah, daß sie selbst so verzweifelt war, tröstete er sie und
machte ihr Mut, sagte ihr, daß er sie liebe und schonen wolle, und sie
werde die Neigung überwinden, und alles werde wieder gut sein, wie es
früher war, und darauf ging die Frau aus dem Zimmer und war in getroster
Hoffnung, daß alles so geschehen müsse, wie der Mann gesagt.

Der aber ließ sich alles noch eine Weile durch den Sinn gehen, und dann
verblaßte ihm die Rede seiner Frau und schien ihm nach einiger Zeit ganz
unwichtig, denn sie schämte sich auch und sprach nie wieder zu ihm von
dem vorigen, und ihre Scheu bemerkte er nicht. Deshalb tat er nichts, um
das Verhältnis zu ändern, das bis dahin bestanden, sondern ließ alles
beim alten, und der Jüngling war nach wie vor in ihrer beider Nähe. Und
sie verschloß sich immer mehr innerlich und hatte eine große Angst und
fühlte sich einsam und ohne Schutz.

Wie sie nun in diesen Gesinnungen sich von dem Jüngling ferner hielt wie
sonst, da kamen auch diesem neue Gedanken, und es wurde ihm bewußt, daß
auch er seinerseits eine Neigung gefaßt habe, und so erklärte er sich
die Zurückhaltung der Geliebten so, daß er meinte, sie habe etwas von
seiner Neigung verspürt und sei etwa gekränkt und beleidigt, und über
diesem Gedanken wurde er recht unglücklich und härmte sich ab mit
Vorwürfen. Und wie sie beide auf solchem Wege waren, da geschah es nach
einiger Zeit mit Notwendigkeit, daß sie zueinander sprachen, und am Ende
wuchs dem Jüngling die Kühnheit, und er gestand mit Worten seine Liebe.
Da erhob sie sich, sah ihn zärtlich an und ging von ihm auf ihre Stube
und hatte da einen Dolch heimlich verborgen, eine altertümliche Waffe,
die sie einmal in Italien gekauft hatte aus Freude an dem kunstvollen
Griff und in romantischer Spielerei, den stieß sie sich in die Brust,
und sie stieß ganz sicher, und um ein Haar wäre sie da gleich gestorben,
aber durch einen glücklichen Zufall und später durch die Kunst eines
geschickten Arztes blieb sie doch am Leben und genas langsam wieder,
indem sie in ihrem Stübchen am Fenster saß und sehnsüchtig in die
frühlingsblühenden Bäume vor ihrem Hause blickte. Und war in dieser Zeit
ihr Mann sehr gut zu ihr, brachte ihr viele Geschenke von kostbaren
Kleiderstoffen und schönem Schmuck und klagte, daß er sich ihr nicht so
widmen könne, wie er möchte, weil seine Arbeit ihn festhielt; von dem
jungen Vetter aber erzählte er nie, der war fortgezogen in eine andere
Stadt.

Wie sie nun wieder ganz gesund war, setzte sich der Mann öfter mit ihr
zusammen und besprach mit ihr solche Dinge, über die sie mit dem
Jüngling geredet hatte, mit ihm aber früher nie, denn mit ihm hatte sie
nur Kindereien getrieben. Aber er war viel klüger und erfahrener wie der
junge Mann und stammte aus einer älteren Zeit, die einen andern Glauben
hatte, und so stimmten seine Worte nicht zu den Worten seiner Frau und
waren wie die eines Lehrers zu einem widerwilligen Schüler. Hierüber kam
es, daß sie einen neuen Entschluß faßte und aus ihres Mannes Haus ging
bei der Nacht und in die Stadt reiste, wo der Neffe lebte in einem
Studentenstübchen unterm Dach. Den suchte sie auf in seiner Wohnung und
sprach, sie wolle mit ihm leben.

Es wurde nun viel Übles geredet, und das Gericht schied sie von ihrem
Manne, und sie dachte, daß sie jetzt den Geliebten heiraten wolle, auch
war alles schon vorbereitet für dieses Ende. Da geschah es, daß sie an
einem Abend mit ihm ausging, und er führte sie an seinem Arm, sie gingen
aber eine breite Straße, wo viele Geschäftsläden waren, in denen große
Spiegel stehen, welche die Auslage sollen reicher erscheinen lassen; und
die Spiegel stehen häufig so, daß man sich in ihnen ganz genau erblickt,
wenn man vorbeigeht, und es ist, als komme man sich selbst entgegen. So
sah sie auch sich selbst am Arm ihres Geliebten, und durch einen Zufall
erblickte sie neben dem ein sehr schönes Mädchen, das etwa einen Schritt
vor ihm ging. Da fiel ihr auf, daß sie älter war wie der Mann, und
dachte, daß sie ein Unrecht tue, indem sie ihn heiraten wollte, und er
werde die Heirat später bereuen. Sie sagte aber nichts, sondern ging
ruhig weiter; nur machte sie sich zu Hause heimlich zurecht, schrieb ihm
einen Brief zum Abschied und reiste von ihm fort, und weil sie
nirgendshin wußte, denn alle hatten sie ausgestoßen, so ging sie in eine
Gesellschaft von Krankenschwestern, lernte bei denen mit großem Eifer
und war nun am Ende in das Haus gekommen, wo Hans jetzt krank lag.

Diese hatte eine ganz andere Gemütsart wie jene erste, denn sie lebte in
beständiger Gewissensnot und tat viel um ihrer Seele willen. Es kam aber
wohl alles, was sie tat, aus ihrer Güte und Liebe, und deshalb übte es
eine gute Wirkung; sie selbst aber hatte dabei immer das Ende vor sich,
daß sie eine Qual und Überwindung haben wollte, deshalb ging sie zu
denjenigen Kranken, welche die widerwärtigsten schienen, und so hatte
sie eine wahrhafte Buße.

Weil nun Hans doch seine Seele gesund machen wollte, so sprach er auch
mit dieser über seine Furcht und Gedanken. Da antwortete sie ihm, daß
sie ruhig sei und keine schweren Gedanken habe, wenn sie etwas
Mühseliges und Widerstehendes tue, das in Wahrheit ein Opfer sei; wenn
sie aber äußerlich wohllebe, so könne sie nach einiger Zeit ihre
Gedanken nicht mehr aushalten, die sich untereinander anklagen und
verteidigen.

Hierdurch wurde es Hansen klar, daß auch diese Frau wohl den Weg
gefunden habe, der für sie selbst gangbar sei, aber für einen andern Fuß
war der nicht geschaffen, denn es war ja klar, daß diese Frau ihre
Geschichte nicht verwinden konnte wie die erste, sondern sie vermochte
sich nur für eine Zeit zu betäuben; er aber wollte ein freier Mensch
werden, der nicht von Furcht, Hoffnung und Geschichte abhing, sondern
jede Handlung wollte er immer als ein Neuer und Frischer tun; nur konnte
er zu diesem Wesen nicht auf die Weise kommen wie die erste Frau,
sondern es mußte eine besondere Weise für ihn geben. Wie er in dieser
Verfassung lag und vieles grübelte hierüber, besuchte ihn der alte Mann,
bei dem er gewohnt, und der ihn hatte einladen wollen zu seiner
Weihnachtsfreude, als er ohnmächtig in seiner Stube auf dem Boden lag.
Der erzählte allerlei mit fröhlichem Gesicht, was sich ereignet unter
den kleinen Leuten, die in dem Hause lebten; und am Ende konnte er es
nicht mehr verschweigen, was er vornehmlich auf dem Herzen hatte und
doch nicht gleich zu Anfang sagen wollen, aus Bescheidenheit, weil er
sich nicht mit seinen eignen Angelegenheiten vordrängen mochte, denn
sein Sohn war zurückgekommen aus dem Zuchthaus, wo er Wolle gesponnen
hatte, und hatte einen kahlen Kopf gehabt und ein rasiertes Gesicht, und
hatte sehr blaß ausgesehen, und die Augen lagen ihm tief. Er war
eingetreten, und die Eltern hatten ihn zuerst nicht erkannt, da sagte
er: »Wollt Ihr mich denn verstoßen?« Da erkannten sie ihn an der Stimme
und sprangen auf vom Stuhl und freuten sich, ihm aber rollten große und
runde Tränen aus den Augen über die abgehärmten Backen, und mußte sich
auf das Sofa setzen, und die Mutter lief gleich in die Küche und kochte
ihm Schokolade, die hatte er als Kind immer gern getrunken, und der
Vater sprach mit ihm von den Ernteaussichten und klagte über die
Fleischpreise, denn er wollte sich anstellen, als sei nichts Bedeutsames
geschehen. Dann kam der Knabe aus der Schule, und wie der seinen Vater
sah, der so lange in der Fremde gewesen war, da freute er sich und
kletterte an ihm in die Höhe, denn er war ein dreister Junge, und von
seines Vaters Schande wußte er nichts. Alles das erzählte der alte Mann
und freute sich über seines Sohnes Heimkehr, der im Zuchthaus gesessen
hatte und hatte Wolle gesponnen, und mehrmals sagte er: »Er hat uns doch
nicht vergessen in den Jahren, und alles wußte er noch, wie es früher
gewesen war, als wir ihn noch bei uns hatten.«

Das war Hansen wunderlich, daß der alte Mann sich so freute und gar
keinen Vorwurf hatte, sondern nur zu rühmen und zu loben wußte. Da fiel
ihm das Evangelium vom verlorenen Sohn ein, der hatte die Säue gehütet
und machte sich auf und kam zu seinem Vater. Wie er aber noch ferne von
dannen war, sah ihn sein Vater, und jammerte ihn, lief, und fiel ihm um
seinen Hals und küßte ihn. Und als Hans an dieses dachte, da ging es ihm
wie Schuppen von den Augen und sank ihm wie eine Last von den Schultern
und sein Herz ward leicht, und er wußte, daß wir einen Vater im Himmel
haben, der uns lieb hat und sich freut, wenn wir zu ihm kommen, keinen
Vorwurf sagt, sondern uns rühmt und lobt und spricht: »Laßt uns fröhlich
sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er
war verloren und ist gefunden worden.« So geschah in einem Augenblick
die Wendung in Hansens Leben und wurden seine Jünglingsjahre
abgeschlossen, denn nun sah er einen ebenen Weg vor sich, der durch Tage
ruhiger Arbeit zu einem friedsamen Alter führt. Da wußte er, daß auch
die Not und Sorge nötig gewesen war, und aller Irrtum und das
überflüssige Grübeln, nicht zu dem Ende freilich, das er damals gemeint
hatte, zu einer abschließenden Erkenntnis zu kommen, denn was half es
ihm, daß er wußte: Nach der letzten Denker Meinung ist mein Ich kein
Wesen, sondern ein Geschehen, eine Beziehung, eine mittlere Linie aus
subjektlosen Willensenergien; sondern zu dem Ende, daß er gänzlich die
jugendbegehrliche Vorstellung von Gott abstreife, als einem Wunschwesen,
von dem man allerlei erbittet, und die neue gewann, daß er so wenig
Wesen ist wie ich selber, und doch mein lieber Vater im Himmel ist, der
sich freut über meine Heimkehr.

Und wie das scheinbar zufällige äußere Wesen das innere umhüllt als sein
rohes Abbild, so kamen nun auch die äußeren Ereignisse, die den Übergang
zum Mannesalter bestimmen.

Die Tröstung, die Hans gewonnen hatte aus dem Evangelium vom verlorenen
Sohne, wirkte darauf, daß er sich schnell kräftigte und von Tag zu Tag
zunahm an Stärke und Freude. So geschah es, daß er bald sein
Krankenstübchen verlassen konnte, dessen Wände eng waren mit einer ganz
hohen Decke, und ging in den allgemeinen Saal hinunter. Hier saß er in
einer seligen Müdigkeit am offenen Fenster, und frische Luft wehte an
seinem lächelnden Gesicht vorbei in das große Zimmer, wo viele saßen und
leise miteinander sprachen.

Da öffnete sich die Tür gegenüber, und in dem Luftzug blähte sich die
Gardine auf, und wie Hans zur Seite blickte, sah er in der Türöffnung
eine Krankenschwester stehen in der schwarz und weißen Tracht, die einen
Blick hatte, der über vieles Nahe und Kleine hinweg in die Ferne zu
schauen schien. Für einen kurzen Augenblick traf dieser Blick in seine
erstaunten Augen, dann wendete sich die Schwester langsam und war wie
unschlüssig und ging wieder zurück, woher sie gekommen, und die Tür
schloß sich hinter ihr; auf deren weißen Fläche aber hob es sich
deutlich ab wie ein leichter Schatten der Entschwundenen, welcher in dem
Geiste Hansens gewesen war und nun von den körperlichen Augen gesehen
wurde.

In Hansens Herz fiel eine schwere Ahnung, daß hier eine
Schicksalswendung des äußeren Lebens begann, und auch das Mädchen hat in
jenem Zusammenstoßen des Blickes ihr Herz erbeben fühlen. Nach der Zeit
erfuhr er, daß das Mädchen jene Gräfin Maria war, mit welcher er als
Kind gespielt hatte in dem Forsthause seines Vaters. Die hatte bei ihrer
Arbeit nicht gefunden, was sie erwartet. Eintönig ging das Leben hin
zwischen gewöhnlichen Menschen, die nur an die kleinen Sorgen des Lebens
dachten, und deren Aufschwung nur etwa einmal ein gemeines Vergnügen
war, in dem sie sich von der Gleichmäßigkeit der täglichen Pflicht
erholten. So kam sie dahin, daß sie ganz allein war und sich fremd
fühlte zwischen den andern, wie sie sich schon zu Hause fremd gefühlt
hatte, und weil sie nichts andres wußte, so meinte sie am Ende, das
müsse so sein, und es gebe keine Gemeinsamkeit mit andern, und ein jeder
Mensch sei ein tiefer Brunnen, den eine Mauer umzieht, der kann die
Wolken wohl spiegeln, und das tiefe Blau des Himmels, und die goldenen
Sterne, aber weiß nichts von den andern Brunnen im Garten, die
schweigen, wie er selbst schweigt, und ihr dunkles Auge blickt
sehnsüchtig in den hohen Himmel. Und so war sie zu der Meinung gekommen,
daß wir zwar in unsrer Jugend glauben, es sei ein Glück und ein Ziel
unsres Lebens für uns bereitet irgendwo, aber das ist nur ein Glaube
unsrer Jugend, der bewirkt, daß wir wachsen und groß werden, und dann
ist er nicht mehr notwendig und verschwindet in Dunst vor unsern Augen.
So war sie zu dem Punkt gekommen, wo die Liebe das größte Glück für sie
werden mußte, denn die zeigte ihr ein Ziel und Ende des Lebens.

Und desgleichen war Hans nun auf diesem Punkt, denn er war ein Mann
geworden, und nun mußte er Weib und Kind haben und eine Stelle in der
Gesellschaft, wo er arbeiten konnte mit den Kräften, die er in den
Jünglingsjahren sich erworben hatte.

                   *       *       *       *       *

Unterdessen fand auch Karl den Hafen, in dem er jene Art von Ruhe haben
sollte, die für ihn bestimmt war.

In Italien traf er ein Kloster, das ganz abseits lag von der Straße, in
einem großen Frieden einer Landschaft, die mit weiten Zügen das Auge
wunderbar beruhigte, daß ein Mensch keine Sehnsucht mehr empfand. Da war
ein heimlicher und stiller Kreuzgang um einen kleinen Hof, in dessen
Mitte wuchs ein uralter Ölbaum in tiefem Frieden, dessen Blätter doch
die salzige Luft atmen mochten, die vom Meere her über das Dach der
Kirche wehte in diese Ruhe und Abgeschlossenheit. Vor vielen
Jahrhunderten war der Baum gepflanzt und waren die zierlichen Säulen des
Kreuzganges gemeißelt von liebevollen Händen nach Gedanken voller
Gestalten und Bilder, und damals war wohl lebendig, jung und bunt
gewesen, was heute so beruhigte und freundlich machte, als ein
abgeklärtes Alter. An drei Seiten, denn auf der vierten lag die Kirche,
führte Tür neben Tür jede in ein kleines und abgeschlossenes Häuschen
mit einem winzigen Garten, umgeben von hoher Mauer; in jedem Häuschen
wohnte ein Mönch still für sich, der die Blumen seines Gartens pflegte
und Bücher las, alte Bücher, in Pergament gebunden und mit großen
Schließen, die auf den Seiten bunte Anfangsbuchstaben hatten, und oft
waren die Anfangsbuchstaben vergoldet. Wenn die Glocke erklang vom Turm
der Kirche herab, dann kam jeder aus seiner Tür, in seinem weißen
Gewande, und mit freundlichem Lächeln begrüßten sie einander durch
wortloses Neigen des Hauptes und gingen in den dämmernden Chor in die
hohen geschnitzten Stühle, beteten und sangen. Und wie über dem
gewundenen Ölbaum die Jahrhunderte still hingezogen waren, daß es
schien, als seien sie kurze Tage gewesen, denn in gleicher Ruhe lächelte
der helle Himmel auf ihn nieder und in gleicher Stille wehte die salzige
Luft über das Dach der Kirche, so war noch heute der Zug der
weißgekleideten Mönche wie zu der Zeit des heiligen Benedikt, und waren
die Jahrhunderte still hingezogen wie freundliche Sommertage, indessen
draußen in der Welt Unruhe gewesen war, Krieg, Aufstand,
Gewissenszweifel, Umsturz, Neues und wieder Neues; nur daß die uralten
Säulchen der Kreuzgänge nicht mehr an Jugendfrische denken mochten und
an bunte Keckheit, sondern an ein friedliches und beruhigtes Alter.

Hier verbrachte Karl erst eine Prüfungszeit, nachdem er zur katholischen
Kirche übergetreten, und am Ende wurde er mit unter die Zahl der Mönche
aufgenommen.

Da sah er, daß auch hier Wirkungen der heutigen Zeit zu verspüren waren.
Denn zwar fand er einige unter seinen neuen Freunden, die kaum etwas
wußten von dem, was ihn bewegt, und die nichts erlebt hatten, wie das
Alte, das in ihren viel gelesenen Büchern stand; aber zwei Männer waren
da, die waren gleich ihm geflohen in diesen Frieden, weil sie zu schwach
gewesen, nur daß ihre Geschichte grausiger war wie die seine und sie
gänzlich gebrochen hatte.

Der eine war ein Deutscher, der aus einer sehr alten und vornehmen
katholischen Familie stammte, die indessen durch viele Unglücksfälle im
Laufe der Zeiten fast gänzlich verarmt war. Seine Eltern lebten in einer
ganz entlegenen Gegend auf einem kleinen Gut, das seit vielen
Jahrhunderten der Familie gehört hatte; und auch jetzt noch, in ihrer
Armut, erschienen sie den Gutsleuten als besondere und höhere Wesen,
denn auch die Leute waren hier seit undenklichen Zeiten ansässig, und
einer jeden Familie Geschichte war in irgendwelcher Art mit der
Herrschaft vielfach verknüpft, und alles, was die Herrschaft tat, war
ihnen bekannt. Noch der Großvater der jetzt Lebenden hatte auf seinem
Sterbebette bestimmt, daß ein Totengericht über ihn abgehalten werden
sollte von den armen Leuten der Gegend, denn er wollte aufgebahrt werden
im großen Saale, und die Leute sollten hereinkommen, und der Priester
sollte sie fragen, was sie urteilten über ihn und seinen Wandel.

Dieser Familie Sohn kam als junger Offizier nach Berlin und sah hier die
Leichtigkeit des Lebens, und wie keiner einen Willen hatte, sondern alle
umgetrieben wurden durch den reißenden Maelstrom, und dabei glaubten
sie, es geschehe durch ihre eigne Kraft, daß sie schwammen, und sei ihr
Wille so. Da wirkte dieser Strudel so auf ihn, daß er unmerklich wurde
wie die andern und ihm das Leben leicht ward, weil er keinen Willen mehr
hatte und nicht mehr dachte, was morgen geschehen werde. So geriet er
schnell in Schulden, und war ihm das gar nicht wichtig, denn er sah, daß
alle andern gleichfalls verschuldet waren. Aber wie er nun wegen der
Bezahlung gedrängt wurde und sich an seinen Vater erinnerte, der bei
Tische abmaß, wieviel Brot er abschneiden durfte, damit der Laib auch
hinreichte, und dann dachte er, daß das gar nicht zu Erzählungen paßte,
welche die andern von ihren Eltern machten, da wurde es ihm unmöglich,
daß er fernerhin so war wie die andern. Nun fand er indessen aber auch
nichts in sich selbst, wie er handeln sollte, und so geschah es, daß er
etwas ganz Neues beging, welches in dem gesamten Kreise noch nicht
erhört war, er hat nämlich das Geld einem Kameraden gestohlen.

Wie er das getan, hatte er keine Ruhe mehr, sondern machte sich heimlich
auf und entfloh nach Holland, weil er dort wollte sich anwerben lassen
für das Heer, das auf Java unterhalten wird. Es glückte ihm aber nicht
gleich, an die rechte Stelle zu kommen, und so hielt er sich eine kurze
Zeit in Antwerpen auf, und in dem Wirtshaus, wo er speiste, ward er mit
einem ganzen Kreise von Abenteurern bekannt, die alle ähnliche Pläne und
Absichten hatten, indem der eine in dieser und der andere in jener Weise
gescheitert war. In dieser Gesellschaft kam einmal die Rede darauf, was
ein jeder früher getrieben, und so wurde auch dieser Jüngling nach
seiner Geschichte gefragt. Da er nach seinem ganzen Aussehen, Manieren
und Haltung sich als früheren Offizier erwies, so mochte er nichts
Ausgesonnenes angeben, wie viele von den andern getan hatten, sondern
erzählte, daß er ein Offizier gewesen sei und wegen eines Ehrenhandels
den Dienst verlassen haben; nur nannte er ein andres Regiment. Wie er
den Namen genannt hatte, da stand ein Mann auf, der rechts zur Seite
gesessen und ihm immer am wenigsten gefallen von allen; er war ein
großer Mensch von soldatischer Haltung, der einen starken Schnurrbart
und gebräuntes Gesicht hatte und über dem einen Auge eine schwarze Binde
trug, vielleicht, weil er sich unkenntlich machen wollte. Der stand auf
und rief, jetzt erkenne er den Sprecher, denn er habe in demselben
Regiment gestanden und sei sein Kamerad gewesen; damit ging er
freundschaftlich auf ihn zu und drückte ihm mit großer Freude die Hand.
Der Jüngling bekam einen heftigen Schrecken über diese Anrede, aber der
Fremde ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern fragte ihn nach allerhand
Namen, Personen und Geschichten, und erkundigte sich und beantwortete
selbst seine Fragen; da wurde dem Jüngling klar, daß der Fremde
ebensowenig bei dem Regiment gestanden wie er selber, aber er hatte
gemerkt, daß seine Rede gelogen gewesen war, und da war er auf die
Meinung gekommen, daß er etwas auf dem Gewissen haben müsse, was
verborgen bleiben solle, und deshalb dürfe er ihn nicht Lügen strafen,
wenn er selber sich auch auf das Regiment und alte Kameradschaft berief
und dadurch vor den andern, die ihm mißtrauten, eine Art Beglaubigung
beibrachte, daß er wirklich der sei, für den er sich ausgab. Und wie dem
Jüngling das plötzlich klar wurde, da sah er des Fremden unverbundenes
Auge mit einem ganz schlechten und widerwärtigen Ausdruck auf sich
ruhen; und wie der wieder seine Hand faßte unter allerhand Beteuerungen,
da war ihm nicht anders, als wenn ihn jetzt der Satan ganz gefangen habe
und ihn nicht loslassen werde; und so begann der Fremde auch schon mit
Vorschlägen, daß sie wollten zusammenziehen und gemeinsame Wirtschaft
machen wegen der alten Kameradschaft.

Durch diese große Angst wurde die Reue in ihm lebendig und er ging in
sich und sah ein, was er begangen hatte. Darauf bedachte er sich, daß er
sein Verbrechen sühnen müsse, denn sonst konnte er sich nicht erretten
aus der Hand des Satans. Da wurde ihm klar, daß er allein keinen Ausweg
finden konnte, weil er zu geringe Erfahrung hatte und noch ohne Umsicht
war, und fuhr deshalb zu seinem Vater, dem alles zu erzählen und um
seinen Rat zu bitten, wie er sühnen solle; er meinte aber, das
angemessenste sei, daß er sich den Gerichten anzeigte und ins Zuchthaus
ging.

Sein Vater war ganz alt geworden, sein Haar war weiß geworden und er
sagte ihm, daß er nicht als einzelner auf der Welt dastehe, sondern er
sei der letzte eines ruhmreichen Geschlechtes, das immer in Ehren
gelebt. Das sei nun schon ein sehr schweres Angehen, daß er nach solcher
Tat das Geschlecht nicht fortsetzen dürfe, sondern es müsse mit ihm
aussterben, denn wenn ein Dieb Kinder kriege, so werden die noch
schlechter wie der Vater, und so müßte der Name ganz in Unehre fallen,
wie so vielen alten und vornehmen Namen heute in unsern Tagen geschieht.
Deshalb dürfe er aber auch das nicht tun, daß er seine Tat anzeige und
vor aller Welt die Buße auf sich nehme, denn wenn die Welt erfahre, daß
einer des Namens gestohlen habe, so sei es ganz umsonst, daß die
Vorfahren gelebt hätten und hätten Ehre gehabt, denn alsdann ziehe er
alle mit sich in seinen Schmutz. Darum solle er eine heimliche Sühne auf
sich nehmen, die gab er ihm an, und die war schwerer, wie der Richter
sie ihm auferlegt hätte. Denn fünf Jahre lang sollte er in einem Kloster
die niedrigsten Arbeiten tun und den andern aufwarten, und dazu mußte er
besondere Fasttage halten und hatte ein schlechteres Lager wie die
andern, und mußte sich mit einer festgesetzten Zahl von Geißelhieben
kasteien.

Dieses alles erfüllte der Jüngling genau, wie es ihm vorgeschrieben war,
und nach einer Zeit wurde er ruhig in seiner Seele und kriegte eine neue
Freudigkeit. So kam das Ende heran, wo er das Kloster verlassen durfte;
aber da hatte er Angst vor der Welt, denn in der Welt hatte er Unrecht
gehabt und Mißmutigkeit, und er dachte, er sei zu schwach, um draußen zu
leben, deshalb blieb er in dem Kloster und war immer ein zufriedener und
heiterer Mensch.

Der andre Freund, den Karl gewann, war ein geborener Protestant, ein
Engländer. Der stammte von strengen und gläubigen Puritanern ab, die
sich alle Lust verboten und nichts haben wollten im Leben wie Arbeit und
Tugend, und reich geworden waren durch harte und kalte Tätigkeit. Von
Geburt an war er blaß und kränklich gewesen und hatte als Kind solche
Augen gehabt, die in den Himmel zu weisen schienen und sich fortsehnten
aus den großen und leeren Stuben seiner Eltern in heitere und hohe Räume
voller Luft und Licht.

Schon frühzeitig hatte er eine besondere Lust zum Zeichnen bewiesen, und
nicht nur traf er immer mit großem Geschick die Ähnlichkeit, die er
wollte, sondern es war auch ein Reiz von Schönheit und Anmut in seinen
kleinen Bildern, der aus den Beziehungen der Linien kam und der
Verteilung des Schwarzen und Weißen. Seine Eltern aber verboten ihm
diese Übungen, wie sie seine heftige Leidenschaft sahen und wollten ihn
zu einem klugen und gebildeten Kaufmann erziehen, der Gewinn finden
konnte, deshalb betrieb er seine Künste im Verborgenen, unter häufigen
Gewissensbissen, aber zuzeiten, wenn er es nicht mehr ertragen konnte,
daß er sich Vorwürfe um seinen Ungehorsam machte, erzählte er seinem
Vater von seiner Verfehlung, und dann wurde er streng bestraft; dann
nach einer Weile konnte er seiner Lust doch nicht weiter widerstehen und
verschaffte sich auf eine neue Weise die Möglichkeit, daß er sie
befriedigte, und zeichnete was er mochte, denn die vorige Weise, die er
seinem Vater gestanden hatte, war ihm unmöglich gemacht.

So wuchs er heran zum beginnenden Jünglingsalter, da veränderte sich
plötzlich die Art seines Zeichnens und seiner Vorwürfe. Denn vorher
hatte er Menschen, die er kannte, auf dem Papier abgerissen und sie
verschönt, so daß sie einen himmlischen Ausdruck bekamen und edler
schienen wie im Leben, und am liebsten hatte er ganz reine weibliche
Gesichter gezeichnet, auf denen Gedanken zu lesen sein mochten, wie sie
ein Engel ihnen in seltenen Augenblicken ins Ohr flüstert. Nun aber
wendete sich alles Himmlische ins Teuflische, und in demselben
Gesichtsschnitt war statt Reinheit und Klarheit wüste Unreinheit und
gemeine Begierde, und nicht auf einfach Sinnliches ging das, sondern auf
etwas Schmerzensvolles und wider alle Natur Scheußliches. Er selbst aber
beharrte in seinem bisherigen Leben und war fleißig in seiner Arbeit,
die ihm aufgezwungen war durch die Eltern, und keine Handlung beging er
von unkeuscher oder unreiner Art; vielmehr war er vor Mädchen und Frauen
von seltsamer Befangenheit und Furcht, und oft errötete er im Gespräch
mit ihnen und schlug die Augen nieder; nur, daß er seinem Vater nichts
mehr gestand von seinen heimlichen Kunstübungen, und so verborgen trieb
er die, gelehrt durch die früheren Jahre und ihre Heimlichkeit, daß der
Vater gar keinen Argwohn mehr hatte und ganz fest glaubte, sein Sohn
habe das Zeichnen endlich aufgegeben. Daß er aber seinem Vater nichts
mehr gestand, war seit dem ersten Bilde in seiner neuen Art.

Nun trieb es ihn indessen immer weiter in seiner eingeschlagenen
Richtung und dachte sich aus, daß er nackte weibliche Körper zeichnen
wolle in wunderlichen Bewegungen, und sollte etwa eine solche Figur
Handschuhe tragen oder einen Schnürleib und strengte seine Gedanken ganz
stark an, daß er sich ein solches Bild denken konnte, indem er nachts
heimlich in seiner Kammer sich nackt auszog und vor dem kleinen Spiegel
über dem Nachttisch seinen eigenen Körper betrachtete, der schmal war
und ganz unreif, und in einem japanischen Bilderbuch, welches er
verborgen aufhob, studierte er die nackten Frauenleiber, und auf der
Straße achtete er auf die Frauen, die ihm begegneten, besonders wenn
etwas Wind war und ihr Körper sich durch die Gewänder beim Schreiten
abzeichnete, und entkleidete sie in seiner Vorstellung, daß sie nackt
dahergingen; und in alledem war eine schmerzliche Sehnsucht und eine
tiefe Lust.

Unter diesem Studieren und Arbeiten bekam er eine Sammlung von
Heiligengeschichten in die Hand, die las er sehr eifrig, und besonders
die Geschichten von den heiligen Frauen, wie der heiligen Katharina von
Siena und der heiligen Rosa von Lima. Denen ahmte er nach in den
Kasteiungen und beschaffte sich eine Kette, schlang sich die um den
Leib, und die Kette rieb ihn blutig und drang ihm ins Fleisch, aber die
Schmerzen taten ihm wohl, und damals wäre er glücklich gewesen, wenn es
ihn nicht zu gleicher Zeit nach dem andern gedrängt hätte; so zeichnete
er die heilige Rosa, wie sie als ganz junges Mädchen auf einer Wiese
steht und von vielen Schmetterlingen umflattert wird, die in ihrer
Heimat Peru wunderbare große Flügel und herrliche Farben haben, und ein
ganz großer Falter hatte schwarze und weiße Flügel, der setzte sich auf
ihre Schulter, und das war eine Berufung für sie, welchem Orden sie
angehören sollte. Dieses Bild zeichnete er, aber die heilige Rosa hatte
er ganz nackt gemalt, als ein dürftiges weibliches Wesen mit langen
Haaren, die in sonderbaren Schlangenlinien gingen, und um ihren Mund
spielte es wie eine schmerzliche Wollust und zugleich eine Unfähigkeit
zur Lust. Solche Bilder aber mußte er immer zeichnen und seine seelische
Unkeuschheit wurde immer stärker.

Am Ende wurde er sehr leidend, und wie ihn die Ärzte untersucht hatten,
sagten sie, daß seine Lungen erkrankt seien und er müsse nach dem Süden
gebracht werden. Da ließ ihn sein Vater gen Italien reisen, und wie er
eine Weile an der Riviera gelebt hatte und gesünder geworden war, erfuhr
er, daß sein Vater plötzlich gestorben sei. Da machte er sich gleich auf
und ging zu dem Kloster und lebte dort eine Weile, bis er es endlich
erlangte, daß er in die Zahl der Mönche aufgenommen wurde.

Außer diesen zwei Männern waren in dem Kloster nur Brüder, die keinerlei
Geschichte gehabt hatten. Ein ruhiges und fröhliches Leben führten sie
unter allerhand sonderbaren Sachen; da hatten sie ein Schränkchen, das
war ganz mit Ruinenmarmor ausgelegt und eine Sammlung von Stücken aller
Holzarten besaßen sie, die geschnitten und behobelt waren wie Bücher,
auch ein Stück Zedernholz vom Libanon war darunter; eine besondere
Kostbarkeit schien aber ein Bildnis der Muttergottes, das aus bunten
Vogelfedern hergestellt war, und ein Kirschkern, auf dem ein Bruder die
ganze Leidensgeschichte geschrieben hatte, daß man sie mit der Lupe
lesen mußte, und fehlte kein Buchstabe.

Sehr selten geschah es, daß Fremde das Kloster besuchten, die alte
Wandbilder aus Giottos Schule betrachten wollten; dann sprachen die
Brüder bei Tische viel darüber, aus welchem Lande die Reisenden wohl
stammen mochten und ob sie Protestanten waren oder Katholiken, wunderten
sich auch, daß sie so wenig Freude an dem Kirschkern und dem
Muttergottesbild zu haben schienen. Zuweilen wurde dann wohl darüber
gestritten, ob die Protestanten bald zur Kirche zurückkehren würden oder
noch lange in ihrer Verstocktheit beharren.

So lebte Karl, und von seiner früheren Welt erfuhr er fast nie mehr
etwas, nur einmal kam zu ihm eine Nachricht über seine geschiedene Frau.
Johanna hatte nach der Trennung ihren Kreis von alten Freunden
beibehalten und auch durch neue vermehrt, und hatte ein Ansehen in ihrer
Gesellschaft, daß viele auf ihre Meinung hörten und sie selbst
hochhielten als eine Vorkämpferin und Befreierin. Alle in diesem Kreise
lobten unsre heutigen Zustände und sagten, daß in unsern Tagen zum
ersten Male das Individuum die Möglichkeit gänzlicher Freiheit erhalten
habe, denn indem die Gesellschaft nicht mehr die volle Person in
Anspruch nehme, sondern nur Betätigungen der Person verlange, so könne
sich jeder zu dem entwickeln, was er werden wolle und unterliege keinem
äußeren Zwange; und so dachten sie, daß aus jedem von ihnen ein Eigner
und Besondrer werden müsse. Indem Johanna in diesen Anschauungen
beharrte, schloß sie einen Liebesbund mit einem jungen Mann aus ihrer
Gesellschaft und lebte mit ihm, und nach einiger Zeit sagten die beiden
einander, daß ihre Liebe erloschen sei, und daß sie unsittlich handeln
würden, wenn sie nun noch länger zusammenlebten, und so gingen sie in
Freundschaft voneinander. Dann folgte eine neue Liebe, und in solcher
Weise führte sie ihr Leben.

Es geschah aber, daß sie sich in diesen Umständen in Hoffnung fühlte,
und hatte ein Kind. Da sagte der Vater zu ihr, daß sie nun sich
gesetzlich heiraten müßten, weil die heutige Welt, obschon sie im Grunde
wohl ganz neu sei, doch noch die alten Formen bewahrt habe, und deshalb
sei in ihr kein Ort für eine solche Gruppe wie er, sie und das Kind,
wenn sie keine Ehe nach der gebräuchlichen Form bildeten. Sie antwortete
ihm jedoch, daß sie ihre Freiheit bewahren wolle und keinem Zwange
unterliegen, und wolle ihr Kind auch allein aufziehen; und so tat sie
auch, lebte für sich und besorgte das Kind, indem sie allen erzählte,
daß sie eine geschiedene Frau sei, und das Kind habe sie von einem
Freund; sie wurde aber sehr stolz und froh, wie sie verspürte, daß sie
von vielen deswegen übel angesehen wurde, und meinte, daß alle Erlöser
der Menschen beständigen Undank geerntet hätten, bis man später erst
ihre Tat richtig erkannt. Dann begann sie und beschrieb ihr Leben von
Kindheit an, und sagte, daß sie genau alles erzählen wolle, wie es in
Wahrheit gewesen sei, und nichts wolle sie verschleiern, und dieses Buch
dachte sie dann herauszugeben, damit jeder es lesen könne.

                   *       *       *       *       *

Die Komtesse Maria bewohnte ein kleines Stübchen, das auf einen stillen
Hof hinausging, mit Möbeln, welche der Vermieterin gehörten, und hatten
wohl deren gute Stube geschmückt, als der Mann noch lebte. Das Mahagoni,
das die über ein Menschenalter gepflegt, war von einer gewissen
Traulichkeit, und die Komtesse hatte durch allerhand kleines Wesen das
Behagliche noch erhöht; so empfing eine gewisse Wärme des Frauenhaften
Hansen beim Eintritt und erzeugte in ihm eine freundliche und friedliche
Stimmung.

Es war einen Augenblick lang, wie sie aus der Kanne in seine Tasse goß;
sie hatte eine nicht allzugroße Figur, und in ihrer Bewegung war etwas
Hausmütterliches; er stand aufrecht da und schien groß und energisch;
einen Augenblick lang hatten sie beide ein Gefühl: wie es wäre, wenn sie
einander angehörten als Mann und Weib, und dieses wäre ihr Heim, das die
Frau freundlich und friedlich machte, damit der Mann Ruhe fände, und der
Mann erhielte es, und die Frau hätte bei ihm Sicherheit. Aber schnell
verschwand das Gefühl durch Demut und Stolz, denn sie meinten jeder, der
andere sei höheren Glückes wert, und er wolle nicht unbescheiden sein.

Dann erzählten sie sich. Zuerst war das Gespräch recht zaghaft, denn als
Menschen, die viel für sich gelebt, verstanden sie nicht die Kunst der
leeren Worte und scheuten sich, formelhafte Reden zu gebrauchen, bei
denen sie nichts empfanden; aber bald wurden sie recht eifrig, denn sie
waren auf etwas gestoßen, dafür sie beide Wärme hatten, nämlich auf
gelesene Bücher.

Da ereignete sich etwas Wunderbares. Sie sprachen von diesem Buch und
jenem, und beide hatten dieselben Bücher gelesen und waren auf die
gleichen Fragen gekommen und hatten die gleichen Gedanken gehabt. Sie
vertieften sich ganz im Zeigen und Wiedererkennen, und vergaßen sich,
und im Eifer geschah es Hans, daß er zu der Gräfin sagte »Du«, worüber
sie rot wurde, er aber merkte nichts. Und dann wieder kam ihnen das
Märchenhafte zum Bewußtsein, daß sie sich gesehen hatten als kleine
Kinder vor vielen Jahren, und jetzt waren sie beide erwachsene Menschen,
und in der Zwischenzeit hatten sie ihre Köpfe über dieselben Schriften
gebeugt, hatten dieselben Lehren ihren Geist erschüttert, dieselben
Fragen sie umhergetrieben, und hatte doch keiner vom andern gewußt, als
daß sie einmal zusammen gespielt im Heu und im alten kleinen Forsthause
im Walde. Und jedem war gewesen lange Jahre hindurch, als sei er allein
in der Welt, und die Menschen waren ihm nur Schatten und Geräusche und
lebten nicht, und nun zeigte es sich, daß es noch einen Menschen gab,
der alle diese Gedanken und Gefühle gehabt hatte; und plötzlich war es
jedem, als sei die Welt nun lebendig geworden aus einem Zauber, und alle
Menschen hätten Seelen bekommen. Hans hatte wohl viele Menschen
getroffen, die ähnlich sprachen und dachten und ähnliches studiert
hatten wie er, aber die waren ihm doch tot gewesen, das wußte er jetzt.
Denn was das Lebendige zwischen ihnen schuf, das merkten sie beide nicht
in Harmlosigkeit, nämlich, es kam zu den gleichen Meinungen und den
gleichen Büchern, daß er ein Jüngling war und sie eine Jungfrau, und daß
sie an seiner Brust liegen konnte und er sie umschlungen halten konnte.
Das war ein Glück in ihnen, das sie noch nie gespürt. Sie überhasteten
sich in ihren Reden, fragten und erwarteten keine Antwort, machten
Pläne, nahmen sich Vorsätze vor, und lachten, ohne daß sie einen rechten
Grund hatten.

Noch vor einer Stunde waren sie einander fast fremd gewesen, und nun
schien es ihnen, als ob sie zueinander gehörten, so hatten sie ohne
Scheu ihre natürlichen Bewegungen, und Maria legte ihre Füße auf einen
kleinen Schemel, wie sie gewohnt war, ohne daran zu denken, daß sie
einen fremden Herrn zum Besuch hatte, nicht einen Bruder oder Gatten;
plötzlich fiel ihr die Unschicklichkeit auf, und sie errötete. Wie ein
kleines Mädchen errötete sie, und so glücklich sah sie aus, wie ein
kleines Mädchen in ihrer Schwesterntracht und glattgestrichenem Haare.
Durch ihre Bewegung wurde er aufgeschreckt, sah nach seiner Uhr und fand
mit großer Bestürzung, daß er ganz unschicklich lange geblieben war, so
stand er hastig auf, und mit einer gewissen Befangenheit trennten sich
die beiden.

Als Hans sie das zweite Mal besuchte, waren sie verlegen und kalt, und
in ihre Worte wollte keine Wärme kommen, und was sie sagten, sagten sie
nicht aus Liebe und Überfluß, sondern um ein schleppendes Gespräch zu
erhalten; und weil alles, was vorher so rosig erschien, jetzt grau war,
so prüften sie nach bei sich und fanden, daß sie eine eigentliche
Belehrung doch das vorige Mal nicht voneinander empfangen hatten, und
daß sie ein jeder das schon gewußt, was besprochen war; aber weder er
noch sie warfen die Schuld davon auf den andern, sondern meinten jeder,
der Grund liege bei ihnen selbst; so trennten sie sich sehr früh.

Nachher machten sie sich schwere Gedanken, wußten sich nicht zu
erklären, woher die Kälte und Verlegenheit gekommen, und meinten jeder,
er selbst sei schuld daran, indem er das erste Mal aufdringlich gewesen
sei. Denn schon hatte in der Zwischenzeit die Liebe ihre seltsame Arbeit
in ihren Seelen ausgeübt, nämlich den Geliebten verschönt und erhöht und
so geschmückt, daß er ein ganz andres Wesen wurde, aus einem kleinen
Menschenkinde mit seiner Angst und Verlegenheit ein zürnender Engel, der
unnahbar ist durch seinen Glanz und Größe. Und so sagte Hans bei sich,
daß er von niederem Herkommen war und später selten vornehme Leute
getroffen, denn die meisten Bekannten und Gleichstrebenden waren
ähnlicher Abkunft wie er, deshalb wußte er manches nicht, was schicklich
war, etwa ob man die Beine übereinanderschlagen durfte, denn in einem
Buche über den feinen Anstand, das er durchstudiert, war das verboten,
und vielleicht habe er die Komtesse durch solche Nachlässigkeit
beleidigt, und sie denke etwa nicht, wie man sie erklären müsse bei ihm,
sondern meine, weil sie Krankenpflegerin geworden sei und ihren Stand
verlassen habe, so glaube er, daß man in solchen Dingen ihr gegenüber
nicht so sorgfältig zu sein brauche, und solche Ansicht müsse sie
natürlich kränken. Und Maria dachte, daß Hans schnell alles spürte, was
unsittlich oder unschicklich sein mochte, denn sie kannte auch seinen
Vater gut und sah ihn in ihrem Geiste neben ihrem Vater hergehen; da
schien ihr, daß sie nicht weiblich gewesen sei, und er könne meinen, sie
sei nicht zurückhaltend, und sie fürchtete, er halte sie für schamlos.

Zu diesen Sorgen kamen noch kleine Mißverständnisse und allerhand solche
Vorfälle, die bei Liebenden eintreffen; so lebten beide recht
unglücklich, wie es ja gewöhnlich ist, auch bei klugen und guten
Menschen, in den ersten Liebeszeiten; denn alles ist da noch trübe,
unbekannt und unausgesprochen, und erst wenn das klar und geordnet ist
und eine ebene Straße sich unter den Füßen hinzieht, kann ruhiges Glück
hereinfließen. Aber je selbständiger zwei Menschen sind, desto schwerer
ist offenbar ein solches Ziel zu erreichen.

Unter solchen allgemeinen Umständen hatten sie an einem Frühlingstage
einen Ausflug gemacht an einen abseits von der begangenen Straße
gelegenen Ort, wo ein See lag inmitten des eintönigen Kiefernwaldes, der
aus dem dürftigen Boden mit Anstrengung hervorwächst, und in dem ruhigen
Wasser spiegeln sich die Kiefern wider und der blasse Frühlingshimmel
mit weißen Wölkchen. Unter einer Birke saßen sie, die am Waldrande
allein stand und sich an den hängenden Zweigen mit ihren jungen
Blättchen schmückte, und wie sich Maria neigte, da wuchsen
Leberblümchen, wie zu Hause in dem hohen Buchenwalde, da pflückte sie
drei Blümchen ab, und Heimweh ergriff ihr Herz, und um ihr Gefühl zu
verbergen, tat sie behutsam die Blumen an ihre Brust. Dabei hatten sie
ein Gespräch über etwas andres, aber auch ihm war das Heimweh gekommen,
und hinter ihren gleichgültigen Worten teilte sich die Herzensbewegung
des einen dem andern mit. Hierüber entstand eine Pause voll
Befangenheit, die süß und sehnsuchtsvoll war, und wie sie so schwiegen,
kam ein ganz kleiner Schmetterling, der den Winter überlebt hatte, denn
er hatte recht abgenützte Flügel, und jetzt hatte ihn die liebe Sonne
gelockt aus seinem Versteck, der suchte nach Blumen, und es fror ihn;
und in ungeschicktem Fluge kam er zu Marias Brust, setzte sich auf ein
Blümchen und schlug freudig und zufrieden seine Flügel zusammen, wie er
früher getan hatte in dem warmen Sommer des vorigen Jahres. Sie sah mit
glücklichem Gesicht auf das Tierlein nieder und hielt sich ganz still,
und durch einen Blick, wie ihn ein Kind haben mag, rief sie ihm, daß er
auch sehen solle. Er neigte sich zu ihr, über die Blümchen mit dem
Schmetterling, und sein Gesicht kam vor das ihre, und beide verspürten
eine Scheu und ein Klopfen des Herzens, da faßte Hans sich Mut und sah
zur Seite, und sah, daß ihre Wangen rot waren und in ihren Augen Tränen
standen, und hierüber geschah ihm, daß er handelte, ohne sich zu
besinnen oder zu überlegen, er legte seinen Arm um sie und küßte sie,
und zwar verfehlte er ihren Mund, aber er verspürte doch, wie sie den
Kuß erwiderte, und sah, wie ihre Augen sich schlossen. Da tat sich ihm
weit, weit das Herz auf und ihm schossen die Tränen in die Augen, und er
warf das Gesicht in ihren Schoß und weinte, weinte; der Schmetterling
war davongeflogen, und Maria strich ihm sein Haar, leise, mit ihren
weichen Händen, und einmal sagte sie »Du Lieber«, mit Anstrengung sagte
sie das.

Und wie sein Haupt in ihrem Schoße lag und seine Augen weinten, und sie
streichelte ihm das Haar, das hell war und starr, und eine kleine Meise
hüpfte über ihnen in dem durchsichtigen Geäst der frühlingsgeschmückten
Birke, da kehrte ein in ihnen Zuversicht und Sicherheit und sie wußten,
daß sie neu geboren waren wie in einem Stübchen bei ihren Eltern, und
daß es nicht mehr Not, Sorgen und quälende Gedanken gab, und alles war
einfach und selbstverständlich, und ihre Gedanken waren, als gehörten
sie schon lange zusammen, seit vielen, vielen Jahren, und vor
undenklichen Zeiten sei etwas Unruhiges und Einsames gewesen, und alles
war eins bei ihnen, wie es natürlich ist bei einem alten Ehepaar. Lange
verharrten sie so; und es war, als ob alles Glück, nach dem sie sich
vergeblich gesehnt, so lange Jahre, jedes allein für sich, als ob das
aufgesammelt gewesen sei und nun auf sie herniederregnete in diesen
Minuten unter dem durchsichtigen Birkengeäst; und alles war ihnen
gleichgültig, ja sie dachten an nichts, und hatten nicht gewußt, ob es
Minuten waren oder Stunden, als ihm die Tränen des Glückes aus den Augen
flossen, unaufhaltsam, aus der Tiefe seines Herzens, in dem das Glück
saß, und sie streichelte sein Haar, das sie lieb hatte, und vielleicht
waren es sogar nur Sekunden gewesen, daß sie so gesessen.

Sie besannen sich auch, sahen sich ins Gesicht und lachten, ganz ohne
Grund lachten sie, Hansens Backen waren noch naß von Tränen. Plötzlich
errötete sie, ein ganz neuer, lieblicher Ausdruck zog sich über ihr
Gesicht und sie errötete bis an die Haarwurzel und an den Seiten bis zum
Ohransatz, und legte die Hand vor das Gesicht und sagte: »Ach, ich
schäme mich.« Da war er ganz ratlos, und es war ihm, als habe er unrecht
gehandelt, daß er sie geküßt, aber sie legte plötzlich ihre Hände um
seinen Hals und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen, einen frohen und
innigen. Dann strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und sagte: »Ich
habe noch keinen Menschen lieb gehabt wie dich.« Hierüber wurde er
wieder verlegen und lachte.

Bald erhoben sie sich und gingen; zuerst schritten sie ganz ohne
Gedanken, dann besannen sie sich, daß sie zur Bahnstation gehen mußten,
suchten den Weg auf und gingen dann wieder in der vorigen Weise.
Plötzlich fiel es Hans ein, daß er Maria den Arm geben wollte, das tat
er aber ganz ungeschickt, und darüber lachte Maria, als wäre das etwas
sehr Komisches, und Hans lachte auch. Darauf trieben sie ganz kindische
Scherze, liefen eine ganze Weile mit untergefaßtem Arm und lachten
wieder, bis Maria die Tränen kamen, das waren zwei runde Perlen, die
nicht zerliefen, sondern rund blieben. Über diese freute er sich so, daß
er sie küßte.

Eine Weile gingen sie dann wieder in Gedanken und still. Da fing Hans
plötzlich an, daß er sich besonders darauf freue, wenn sie viele Kinder
bekämen. Hierüber wurde sie wieder rot, er aber merkte nichts und fuhr
fort in der Ausmalung seines Traumes, wie er dem ältesten Jungen ein
Steckenpferd kaufen wollte und dem kleinen Mädchen ein Korallenhalsband,
und abends wollten sie mit den Kindern in der dämmrigen Stube sitzen und
schöne Lieder singen, und Maria mußte auf dem Klavier begleiten. Auch
von der Erziehung sprach er, daß man hauptsächlich fest sein müsse und
die Kinder nicht verwöhnen dürfe, denn selbst Härte sei besser wie
übermäßige Weichheit. Und allmählich fiel auch Maria ein, und so
begannen die beiden fröhlich ihre Luftschlösser zu bauen. Es zeigte sich
aber, daß Hans ganz bestimmte Ansichten und Pläne hatte in allen diesen
Dingen, über welche sich Maria sehr verwunderte, und wiewohl vieles von
diesen Ansichten und Plänen ihren Wünschen nicht entsprach, so empfand
sie doch keinen Ärger, wie er so bestimmt war und ganz einfach annahm,
daß sie dasselbe wollen müsse wie er, aber sonst war sie immer gleich
erbittert gewesen, wenn sie gespürt hatte, jemand wolle, daß sie etwas
tue, was ihr nicht einleuchtete. So dachte sie jetzt, er sei wohl etwas
tyrannisch, aber sie freute sich heimlich darüber und war gar nicht
traurig, hatte auch gar keine Lust, daß sie sich ihre andre Meinung klar
machte, sondern dachte nur bei sich: >ach, es wird schon schön und recht
sein, wie er es meint<, und er meinte doch viel Törichtes. Plötzlich
aber bemerkte sie, daß sie selbst sich vorstelle, wie sie ihre Kinder
kleiden wollte, und indem sie gar nicht daran dachte, daß die zuerst
ganz klein waren, malte sie sich einen recht schönen Matrosenanzug aus
für den Jungen und stellte sich einen Florentiner Strohhut vor für das
Mädchen.

So gingen sie auf dem schmalen Weg durch den Wald. Und durch den Wald
zog der Atem des Frühlings, herb und streng, die Kiefern reckten sich
und hielten sich in Bereitschaft, ihre Kerzen aufzustecken, ein
Kreuzschnabel saß auf einem Zweige und sah ruhig das Paar an; das ist
ein Vogel, der auf Gott vertraut, denn er baut sein Nest mitten im
Schnee, wenn die andern Tiere allen Glauben verloren haben, und im
Frühjahr sind seine Jungen schon fast erzogen.

Das Stationsgebäude war ein Haus wie alle diese Häuser, und Menschen
warteten da, die sahen gleichgültig und mürrisch aus, wie sie immer
aussehen. Aber der beiden Glück machte das dürftige Haus schimmernd und
den glänzenden Schienenstrang glückverheißend, der sich gerade
hinauszog, weit fort, wer weiß wohin, und alle Menschen, die da warteten
und an den Zug dachten und an ihre kleinen Sorgen und Geschäfte, wurden
froh und glücklich. Die beiden aber dachten, daß das Leben leicht ist,
und wunderten sich, daß sie nicht schon längst das gewußt hatten. Und am
merkwürdigsten war, daß alle Menschen ihnen mit Liebe, Freundlichkeit
und Schonung zu nahen schienen, und es zeigte sich, daß alle Menschen
gut sind. Für den nächsten Tag hatten sie verabredet, daß sie sich im
Tiergarten treffen wollten; denn sie mußten einander viel sagen, und
vorher wollten sie manches bedenken, weil es doch überraschend gekommen
war, wie sie sich gefunden hatten. Hans war zuerst an der Stelle, dann
kam Maria, die hatte ein ernstes und ermüdetes Gesicht und begrüßte ihn
liebevoll, aber mit sonderbarer Zurückhaltung, und gab ihm einen Brief
in die Hand und sprach, während er lese, wolle sie sich auf eine Bank
setzen. In dem sehr langen Briefe stand geschrieben, daß sie viel mit
sich gekämpft, aber sie sei nun zu dem Entschluß gekommen, daß sie
einander nicht angehören dürften; denn gestern habe sie sich durch ihre
Gefühle, die sie nicht leugnen wolle, zu einer Übereilung hinreißen
lassen; ihr Grund aber sei, daß sie sich zu selbständig fühle, um
glauben zu können, daß sie eine gute Gattin sein werde. Dann erzählte
sie, wie sie ihre Jugendzeit zu Hause verbracht habe in den großen
Sälen, und habe keinen Menschen gekannt, denn mit den Offizieren und
Gutsbesitzern, die in ihrem Elternhause verkehrt, habe sie nichts zu
sprechen gefunden, außer ganz gleichgültige Dinge; und wie durch die
Luft sei es angeflogen, daß sie ganz andere Meinungen bekommen wie alle
Leute, die sie kannte, denn sie könne sich nicht entsinnen, daß jemand
ihr etwas erzählt über solche Gedanken. Deshalb habe sie auch immer
gedacht, ihre Gedanken und Pläne seien unrecht, weil sie niemand
gekannt, der sie geteilt, denn erst in ihrem neuen Kreise später habe
sie die Menschen getroffen, die ebenso dachten wie sie. Das erzählte sie
ihm, damit er sehe, wie ihre Gesinnungen nicht zufälliger Art seien und
sich ändern könnten, sondern sie seien aus ihrem Wesen mit Notwendigkeit
entstanden, und deshalb könne sie nicht anders werden, wie sie jetzt
sei. Dann fuhr sie fort, ihm zu schildern, welche große Anstrengung es
sie gekostet, bis sie alle Hindernisse und Vorurteile der Familie
überwunden und habe sich in Freiheit bilden dürfen; wenn sie jetzt an
diese Zeiten zurückdenke, so begreife sie oftmals nicht mehr, wie das
alles möglich gewesen sei. Und nun könne sie das alles nicht mehr opfern
und sich einem andern fügen, eine Hausfrau werden und an ganz neue Dinge
denken; und wenn sie es doch versuchen wollte, so würde sie selbst
unglücklich werden und ihn unglücklich machen, denn der Versuch werde
gegen ihre Natur gehen. Darum sei es das beste, er lasse sie, und sie
trennten sich jetzt, was zwar ihnen beiden schwer fallen werde; aber da
sie nun einmal in solchen unglücklichen Zwiespalt hineingeraten, daß sie
einander lieb gewonnen hätten und doch nicht als Gatten zusammenleben
könnten, so sei es besser, jetzt Kummer zu leiden und, wenn es möglich,
ihre Neigung zu überwinden und dann später in der früheren Art weiter zu
leben, wie eine Ehe zu führen, die sicher unglücklich werden müsse und
vielleicht ihre gegenwärtige Liebe in Haß verwandeln werde.

Mit großer Trauer las Hans diesen Brief; und wie er ihn zu Ende gelesen,
sah er in Mariens Gesicht, das mit einem Ausdruck von unendlicher Liebe
zu ihm gewendet war; da lachte er, und sie hängte sich an seinen Arm und
fragte schüchtern, was er nun denke, und wie er sagte, es werde alles
gut werden, und sie wollten sich trotzdem ehelichen, da drückte sie
seine Hand und war glücklich. In diesem Augenblicke wurde ihm in seiner
ganzen Weise offenkundig, was sie zum Opfer brachte, nämlich die
Freiheit und das Glück eines Blickes von hohen Bergen, und daß sie in
Enge ging und kleine Sorgen auf sich nahm, und das tat sie, weil sie ihn
lieb hatte, nicht für sich, sondern für ihn. Und er wußte wohl, daß er
dieser Liebe unwert war und ihr nicht ein gleiches Opfer bringen konnte,
und in Demut sagte er sich, daß alles Herrliche, das wir erhalten, ein
unverdientes Geschenk ist, und in Dankbarkeit nahm er sich vor, immer an
diese Stunde zu denken. Er freute sich aber, daß er nehmen durfte und
dankbar sein, und schämte sich nicht, daß seine Hände leer waren.
Solches sind die Werke der Liebe in uns, daß sie unsre schlechteste
Eigenschaft überwindet, nämlich den Dünkel, der nichts umsonst empfangen
will.

Nachdem die beiden dergestalt zu einem unumstößlichen Entschluß gekommen
waren, beredeten sie untereinander, wie sie ihr äußeres Leben bilden
würden. Wie die beiden Brüder und die Eltern gestorben, war Maria die
Erbin aller Besitzungen der Familie. Solange sie für sich allein lebte,
blieb ihr das gleichgültig, und sie hatte die Verwaltung einem
Verwandten übergeben, denn sie war zufrieden, daß sie ihren Beruf hatte
und ihre Pflicht erfüllen konnte. Nun aber wurde das anders, denn eine
Familie will mehr Pflichten wie der einzelne. Hansens Tätigkeit war
nicht derart, daß sie ihn selbst auf die Dauer befriedigt hätte,
geschweige daß er auf sie hin hätte mögen mit seiner Familie leben. So
beschlossen die beiden, daß Hans die Verwaltung der Herrschaft
übernehmen sollte, und wußten wohl, wie verschuldet der gesamte Besitz
war, so daß er zurzeit im ganzen sogar eine passive Bilanz aufwies, aber
freuten sich, daß sie dadurch ein Ziel für frohe Arbeit bekamen, denn
sie glaubten, daß wir nur glücklich sein können in einer angestrengten
Arbeit, die einen Erfolg hat. Und nachdem sie dergestalt sich über den
Plan und die Absichten klar geworden waren, setzten sie schleunigst
alles Nötige ins Werk, benachrichtigten die entfernten Verwandten
Marias, die zwar den Kopf recht schüttelten, aber doch keine
Schwierigkeiten machen konnten, vielmehr recht gütig bei manchem halfen,
und dann wurde die Hochzeit bald gefeiert.

So nahmen sie denn die schwere Last fröhlich und guten Mutes auf sich,
zogen in ein kleines Häuschen, das früher eine Beamtenwohnung gewesen
war, und richteten sich ganz einfach ein. Wohl hatten sie einen Besitz,
der auch nach Abzug der Schulden noch Millionen wert war, und doch
lebten sie bescheiden, aber sie waren stolz und froh, daß sie Sparen und
Haushalten, Arbeiten und Sorgen vor sich hatten, dessen Ende doch
Sicherheit und ordentliches Leben für ihre Kinder wurde; denn wenn der
Besitz auch groß und wertvoll war, so blieb ihr Einkommen doch gering
und konnte nur durch langsames Abtragen der Schulden wieder groß werden.

Am frühen Morgen ging Hans schon in den Wald, und am späten Abend kehrte
er nach Hause. Ein unbändiges Frohgefühl überkam ihn, wenn er zwischen
den schweigenden Stämmen wanderte; das alles gehörte ihm, diese
gewaltigen Buchen, deren Zweige hoch oben sich wölbten, und die kleinen
Bäumchen in der Schonung gehörten ihm, wo ein Strohwisch an einer Stange
hing, und das trockne Laub gehörte ihm, und die kleinen weißen Blümchen,
und die flinke Eidechse und der Vogel auf dem Zweige, die waren in
seinem Walde, den er einst seinen Kindern vererbte. Ihm wuchsen die
kleinen einjährigen Pflanzen aus dem Samen, die dereinst über seines
Enkels Haupte mächtig rauschen sollten, für ihn saugten die Blätter
Sonnenschein ein, Luft und Regen. Deshalb forstete er auch nicht mit
Kiefern auf, wo Buchen abgetrieben waren, denn er wollte, daß wieder
Buchen wuchsen, wo Buchen gestanden hatten; wenn er alte Bäume mußte
schlagen lassen, so war es ihm, als müsse ihm das Herz bluten, und nur,
weil er doch Einnahmen wegen der Zinsen nötig brauchte, ließ er
abtreiben; dann schlief er nachts nicht, ging ans Fenster und sah im
Mondschein seufzend über den stillen Wald hin; mit Freuden aber ließ er
jungen Bestand ausholzen, wo Licht und Luft geschaffen werden mußten für
die Bäumchen. Abends erzählte er, wie er dies machen wolle und das, wie
an kahlen Hängen angepflanzt werden sollte, wenn er erst mehr Geld habe,
wie in den Bruch Erlenbestand kommen müsse, und wie ein vernachlässigtes
großes Gebiet am besten neu bepflanzt werde.

Seine schlimmste Sorge war, daß die Haupteinnahme aus einem unsicheren
Bergwerksertrage floß, und häufig überlegte er, was zu beginnen sei,
wenn dieser Ertrag einmal im Jahre geringer ausfalle. Wohl sagte er sich
dann heimlich, es sei leichtfertig von ihm gewesen, daß er nicht bei der
Übernahme mehr von dem Besitz verkauft, damit er das übrige desto
sicherer halten konnte, aber was er sich auch überlegte, nichts von dem,
was er besaß, wollte er hingeben; ja die beiden Güter, die er damals
fortgegeben, und die nun unter einem tüchtigen und wohlhabenden Besitzer
schnell gediehen, reuten ihn oft, und gab ihm einen Stich, wenn er in
die Nähe ihrer Felder kam und dachte, daß ihm die auch gehört hatten.
Deshalb wußte er keinen weiteren Ausweg, als daß er immer sparsamer zu
wirtschaften suchte, immer eifriger und umsichtiger alles
beaufsichtigte. Seine Figur änderte sich; er wurde hager und
vornübergeneigt, und seine Nase stand mit einem scharfen Haken aus dem
Gesicht, und sein Gang wurde schnell und weit ausschreitend. So
vergingen Wochen, Monate und Jahre im Rechnen und Arbeiten; aber Rechnen
und Arbeiten füllten das Leben der beiden nicht aus. Denn zu seiner Zeit
bekamen sie ein schönes und gesundes Kind, ein Knäblein; dem folgten
noch andre Kinder bis zu der Zahl von fünf. Für diese alle mußte die
Mutter sorgen, ohne große Hilfe, das tat sie heiteren Gemütes und
singend, und die Kinder wuchsen heran in Schnelligkeit, und wenn der
Vater des Abends nach Hause kam, so umringten sie ihn, klammerten sich
an seinen Beinen an und wollten an ihm hochklettern; und Maria begrüßte
ihn mit lachenden Augen. Sie war immer froh, auch ohne einen bestimmten
Grund, und hatte Beruhigung im Herzen und sichere Gedanken. Und auch
Hans war beständig froh und sicher, trotzdem er sich viele Sorge machen
mußte um Geld und pünktliches Zusammentreffen von Einnahmen und
Ausgaben, was für einen Mann sehr schwer ist, der keine Begabung für
Geldgeschäfte hat; bei seinen großen Rechnungen half ihm auch Maria,
denn er verzählte und verrechnete sich häufig und geriet dann in große
Ängste.

Was aber ganz besonders merkwürdig schien, das war, daß er sich gar
nicht mehr Gedanken machte über abstrakte Dinge und Fragen, denn ihm
war, als sei alles Grübeln plötzlich abgeschnitten und habe gar keinen
Liebreiz mehr, und hätte er sich früher so gekannt, so hätte er sicher
geurteilt, er sei beschränkt geworden, und doch war es ihm jetzt, wenn
er an sein früheres Wesen dachte, als sei er damals töricht und kindisch
gewesen. Und ebenso war es Maria, daß alle ihre Mühe und Arbeit, die sie
sich früher gemacht, ihr kindisch vorkam; und wenn es auch gering war,
zu bedenken, was ein Kind anziehen sollte und was ein andres essen
durfte, und ob an einem Bach Weiden gepflanzt werden sollten für die
späteren Korbflechtarbeiten, wenn die Äpfel aus einer neuen Anpflanzung
erst versendet wurden, so schien beiden das doch heute viel wichtiger
wie solche Fragen nach Freiheit und Verantwortlichkeit und ähnlichem,
die sie früher bedacht. Und als sie einmal an einem glücklichen
Nachmittag am Sonntag zusammen im Garten saßen und von weitem die
jubelnden Kinder hörten und sich über die Wandlung wunderten, kam ihnen
eine Zusammenfassung oder Erklärung dieser Erscheinung. Es geschah das
aber, indem sie ein Schwalbenpärchen sahen, die Lehm zusammentrugen zu
einem Neste für sich und ihre Kinder.

Da sagten sie: Wie die Vöglein, so leben auch die Menschen, wachsen,
freien sich, kriegen Kinder, ziehen sie groß, und dann sterben sie; und
ihre Kinder tun desgleichen; und so ist die Erde bevölkert mit lebenden
Wesen, auf welche die Sonne scheint. Und jedesmal, wenn Kinder
heranwachsen, denken sie, das ist etwas ungemein Merkwürdiges, daß wir
auf der Welt sind, und es gibt nichts Merkwürdigeres, und mit uns wird
alles neu, und vor uns ist nichts gewesen, nach uns aber wird alles das
sein, was wir einmal Großes und Wichtiges schaffen werden. In Wahrheit
aber erschaffen sie genau so Großes und Wichtiges wie die Menschen vor
ihnen geschaffen haben, das sie gar nicht beachten. Und in solcher
Gesinnung kommen sie auch zu weiterer Überhebung, daß sie in sich
hineinsehen wollen und wollen wissen, wie in ihnen alles zusammenhängt,
und woher es kommt, daß ihnen die Welt so erscheint, wie sie ihnen
wirklich erscheint; und dann denken sie, daß sie das alles ändern können
nach ihrem Wohlgefallen und können bauen, was sie wollen, und einreißen,
was sie wollen.

Wenn es nun Gott gut meint mit solchen besonders hoffärtigen Menschen,
so setzt er sie mitten in eine einfache und vernünftige Aufgabe; und da
sehen sie, daß einer mit dem andern zusammenhängt, und daß die Menschen
so leben, wie es ihnen vorgeschrieben ist, und solche Gedanken haben,
wie Gott will, daß sie Gedanken haben; ebenso wie diese Schwälblein
vielleicht denken, wunder welch ein Werk sie verrichten, und wie
merkwürdig es ist, daß sie Mann und Frau sind, und wie wunderbar einst
ihre Eier sein werden und wie eigen ihr Nest; und setzen doch bloß Dreck
zusammen wie alle Schwalben vor ihnen und nach ihnen, und haben Eier und
brüten nach aller Schwalben Sitte, weil so das Geschlecht der Schwalben
sich erhält auf der Erde, das Fliegen und Mücken fängt und zum Herbst
fortzieht und im Frühjahr wiederkehrt. Solche aber, die zerfahren sind
aus Hochmut, finden keine einfache und vernünftige Aufgabe, sondern tun
irgend eine widerwärtige Tätigkeit, damit sie ihr Brot verdienen, und
wenn sie ihr Tagewerk vollbracht haben, so brüten sie weiter und haben
dumme Gedanken über ihre Wichtigkeit und werden immer zerfahrener.
Inzwischen geht das Leben vor ihrem Fenster vorbei wie ein schönes
Mädchen, und sie merken es nicht, denn sie wissen nicht, daß sie dem
Mädchen nachgehen sollten, sie zur Frau begehren und mit ihr leben in
Freude und ohne überflüssige Gedanken. Und nachdem sie immer zerfahrener
geworden sind, beginnen sie auch immer dümmer zu werden; und zuletzt
enden sie in leerem und einfältigem Geschwätz.

In Wahrheit können wir doch nichts wissen, als daß wir hier auf dieser
schönen Erde wandeln und brave Menschen sein sollen und uns freuen. Dann
werden wir älter in Heiterkeit und Glück, und endlich sterben wir, und
im Gedächtnis der Menschen leben wir eine Weile noch als verständige
Leute oder als unverständige.

Als sie solche Gedanken hatten, blickten sie nach der Elsgrube hin, denn
die konnten sie sehen von ihrem Hause aus und dachten, daß hier einst
die alte Burg gestanden hatte, und daß das damalige Herrengeschlecht
heruntergegangen war, und ein treuer Diener hatte die letzte Tochter
geheiratet und das neue Geschlecht begründet. Das hatte lange geblüht
durch vielerlei Zeiten hindurch, die Urzeiten hatte es erlebt und das
Lebensalter und die Renaissance, das absolute Fürstentum und die
Neuzeit; endlich war es untergegangen durch Untüchtigkeit; und nun
gründete wieder ein treuer Mann aus der unteren Gesellschaft das dritte
Geschlecht; und vielleicht erlebte das auch durch die Jahrhunderte
Wandlungen der Dinge, Verhältnisse und Gedanken, und es zeigte sich, daß
jede Zeit meinte, sie habe in allem das Richtige gefunden; und vor
Gottes Augen war das alles doch nichts weiter wie die Reihenfolge der
Schwalben, die ein Nest unterm Hausdache beziehen; und wenn die Kinder
dieses Geschlechtes klug waren, so taten sie dasselbe, was jetzt Hans
und Maria taten: arbeiten und sich liebhaben, ihre Kinder erziehen und
fröhlich sein.

So waren ihre Gedanken, und die mochten wohl manchem von den andern
kleinbürgerlich erscheinen. Aber was wir wert sind, das sind wir ja
nicht wert durch unsre Gedanken, sondern dadurch, daß wir die Stelle
auszufüllen vermögen, in die wir gesetzt sind; denn wenn wir das können,
so bekommen wir Verstand und richtige Gedanken, und für die einen sind
diese Gedanken richtig, für die andern jene. Nur ist das eine Weisheit,
von der die Leute unsrer Zeit nichts wissen wollen, denn freilich ist
sie nicht zu sehen, sondern wir müssen sie glauben. Aber wissen wir dies
nicht, daß wir ja gar nicht die wahre Welt sehen, sondern nur einen
trügerischen Schein?

In der wahren Welt steht Gott als ein Bauersmann im blauen Kittel vor
dem Scheunentor und worfelt Weizen. Er nimmt eine Schaufel voll Weizen
und schleudert den in die Scheune. Da fliegen zusammen durch die Luft
Korn und Spreu und wissen nicht, wer sie in Bewegung gesetzt hat und
wohin sie getrieben werden; doch sie verspüren, daß eine Kraft in ihnen
ist, und daß dieselbe Sonne sie blitzend bescheint und daß dieselbe Luft
sie klar bestreicht. Da denkt die Spreu hoffärtig: >Siehe, wir sind wie
diese da, und vielleicht sind wir auch besser, denn uns scheint, wir
fliegen höher<, und die Körner denken demütig: >Es ist wohl so, daß wir
alle gleich sind.< Aber nur einen Augenblick verweilen sie beide in der
hellen Luft und unter der blitzenden Sonne; denn was Jahrhunderte sind
für uns und unsre Welt des Scheins, das ist ein Augenblick für Gott und
für seine wahre Welt. Dann senken sich die schweren Körner zu dem
Weizenhaufen, auf den sie fallen sollen, und die Spreu trägt der Zugwind
vor dem Scheunentor auf einen andern Haufen zu der früheren Spreu.

                                 Ende




       Von Paul Ernst sind im Rahmen der Gesamtausgabe und als
                    Einzelbände u. a. erschienen:


Saat auf Hoffnung. Roman. Ganzleinen RM. 9.--.

Geschichten von deutscher Art. Ganzleinen RM. 10.--.

Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Ganzl. RM. 11.--.

Romantische Geschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Liebesgeschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Geschichten zwischen Traum und Tag. Ganzleinen RM. 10.50.

Lustige Geschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Der Weg zur Form. Abhandlungen über die Technik, vornehmlich der
Tragödie und Novelle. Ganzl. RM. 11.50.

Grundlagen der neuen Gesellschaft. Ganzleinen RM. 13.--.

Erdachte Gespräche. Ganzleinen RM. 10.50.

Jugenderinnerungen. Ganzleinen RM. 12.--.

                                  *

Von den _Gesammelten Werken_ besteht auch eine Subskriptionsausgabe. Auf
einzelne Bände kann nicht subskribiert werden, dagegen auf einzelne
Abteilungen. Der Subskriptionspreis von RM. 7.-- für den in Leinen
gebundenen Band gilt für die Subskription auf:

   1. Abt. Erzählende Schriften 10 Bände. 2. Abt. Dramen 3 Bände. 3.
                 Abt. Theoretische Schriften 6 Bände.

Es kann sowohl auf einzelne Abteilungen wie auf alle drei subskribiert
werden. Die Lieferung erfolgt bandweise jeweils bei Erscheinen eines
neuen Bandes. Die bereits vorliegenden Bände können auch in monatlichen
Abständen bezogen werden. Es ist geplant, in jedem Jahr vier bis sechs
Bände erscheinen zu lassen. Ausführliche Prospekte bitten wir von Ihrer
Buchhandlung abzufordern.

                                  *

Außerhalb der Gesammelten Werke und nicht im Buchhandel: Das Kaiserbuch.
Eine Dichtung, welche die Geschichte der deutschen Kaiser darstellt von
950-1250. 6 Bände. Geb. RM. 60.--. Nur zu beziehen durch die
Paul-Ernst-Stiftung, Dr. Gimkiewicz, Hamburg, Agnesstr. 36.




Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt
sind, wurden ^so^ markiert.

Einfache Anführungszeichen wurden durch ">" und "<" ersetzt.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 14]:
   ... desto trotziger und stolzer; und bei beiden wird der
       Freiheitsinn ...
   ... desto trotziger und stolzer; und bei beiden wird der
       Freiheitssinn ...

   [S. 70]:
   ... später schon von selber finden. Das war das erstemal, das ...
   ... später schon von selber finden. Das war das erstemal, daß ...

   [S. 75]:
   ... So saßen die beiden auf Hansens Bettkannte; und kam ihr ...
   ... So saßen die beiden auf Hansens Bettkante; und kam ihr ...

   [S. 95]:
   ... in seinem Beruf, das ihm nicht ein Unglück geschieht, und um ...
   ... in seinem Beruf, daß ihm nicht ein Unglück geschieht, und um ...

   [S. 100]:
   ... die Büchse über die Schulter und sagte, er wolle rhn eine ...
   ... die Büchse über die Schulter und sagte, er wolle ihn eine ...

   [S. 193]:
   ... den Weihnachsbaum betrachten. Die andern legten verstohlen ...
   ... den Weihnachtsbaum betrachten. Die andern legten verstohlen ...

   [S. 232]:
   ... sie solle sich nur nicht in ihn den andern verlieben, ...
   ... sie solle sich nur nicht in den andern verlieben, ...

   [S. 247]:
   ... Helden ihre Bücher sich zusammengeschlossen hatten. ...
   ... Helden ihrer Bücher sich zusammengeschlossen hatten. ...

   [S. 270]:
   ... in der Art, wie ihre Erzieherin ihn das geschildert hatte, ...
   ... in der Art, wie ihre Erzieherin ihm das geschildert hatte, ...

   [S. 275]:
   ... Wie sie gerettet war und sich erholt hatte vor allem, was ...
   ... Wie sie gerettet war und sich erholt hatte von allem, was ...

   [S. 280]:
   ... faßte und aus ihre Mannes Haus ging bei der Nacht und in ...
   ... faßte und aus ihres Mannes Haus ging bei der Nacht und in ...

   [S. 285]:
   ... weißem Gewande, und mit freundlichem Lächeln begrüßten ...
   ... weißen Gewande, und mit freundlichem Lächeln begrüßten ...

   [S. 298]:
   ... Wasser spiegeln sich die Kiefern wieder und der blasse
       Frühlingshimmel ...
   ... Wasser spiegeln sich die Kiefern wider und der blasse
       Frühlingshimmel ...

   [S. 304]:
   ... sagte er sich, das alles Herrliche, das wir erhalten, ein ...
   ... sagte er sich, daß alles Herrliche, das wir erhalten, ein ...

   [S. 304]:
   ... und die Eltern gestorben, war Marie die Erbin aller
       Besitzungen ...
   ... und die Eltern gestorben, war Maria die Erbin aller
       Besitzungen ...






End of the Project Gutenberg EBook of Der schmale Weg zum Glück, by Paul Ernst

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHMALE WEG ZUM GLÜCK ***

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defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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