Zwischen Himmel und Erde

By Otto Ludwig

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Title: Zwischen Himmel und Erde

Author: Otto Ludwig

Commentator: Wilhelm Mießner

Illustrator: Paul Scheurich

Release Date: May 30, 2015 [EBook #49088]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE ***




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                  Dieses Buch wurde in der Deutschen
                 Buch- u. Kunstdruckerei G. m. b. H.
               in Zossen gedruckt u. bei der Leipziger
                   Buchbinderei-Actiengesellschaft
                         in Leipzig gebunden.

                       Zwischen Himmel und Erde

                       Die Bücher des Deutschen
                                Hauses
                   Herausgegeben von Rudolf Presber
                             Erste Reihe
                               2. Band




                           Zwischen Himmel
                               und Erde


                            Erzählung von
                             Otto Ludwig

                    Illustriert von Paul Scheurich

                                 1908
                    Buchverlag fürs Deutsche Haus
                           Berlin--Leipzig

               »Wenn Bücher auch nicht
               gut oder schlecht machen, besser
               oder schlechter machen sie doch!«

                                            (Jean Paul)




                               Vorwort


_Otto Ludwig_ (1813-1865) gehört zu den drei Großen des Jahres 1813.
Neben dem titanischen Wesen Richard Wagners, neben Friedrich Hebbels
grüblerischer aber den großen Wurf nie verfehlender Art steht der Sohn
des Bürgermeisters aus dem thüringischen Städtchen Eisfeld wie einer,
dem es nie recht gelingen wollte, was er sich zum Ziel gesetzt hat. Otto
Ludwig konnte sich nicht an die Geschäftigkeit des neunzehnten
Jahrhunderts gewöhnen und es plagte ihn doch ein unseliger Ehrgeiz,
seiner Zeit gerecht zu werden. Er ist ein Heimatdichter von Grund aus
und es trieb ihn doch in die großen Städte. Jahrelang versuchte er, sich
in Leipzig, dann in Dresden heimisch zu machen. Aber er kam nicht
darüber hinweg, daß die Leipziger Damen alle so übernächtigt aussehen,
nicht wie Geschöpfe der Natur, sondern wie Kunstfabrikate. Bis er
endlich in dem idyllischen Garsebach bei Meißen Linderung für seine
seelische Unzufriedenheit und seine körperlichen Leiden fand. Emilie
Winkler schuf dem nervösen Dichter das Heim, wie er es sich nur wünschen
konnte.

Da setzten auch die ersten großen Erfolge ein. Sein Drama »Der
Erbförster« wurde in Dresden mit Erfolg aufgeführt und einige Jahre
darauf erlebten seine Dorf- und Kleinstadtgeschichten »Heiterethei« und
»Zwischen Himmel und Erde« schnell zahlreiche Auflagen. Das deutsche
Volk war mit seinem Dichter zufrieden, nur er selbst strebte immer nach
Höherem, er konnte sich wie Hebbel nichts zu Dank machen. Die Entwürfe
häuften sich, viele davon hat er in einer üblen Laune selbst verbrannt.
Er sagte, ich muß sie vernichten, damit die Gestalten meiner Pläne nicht
mehr des Nachts an mein Bett kommen, mich zu quälen, denn mir bleibt
keine Zeit mehr, ihnen ihre Gestalt zu geben. Aus dem schönen Jüngling,
der mit vierundzwanzig Jahren in Hildburghausen und in seiner Vaterstadt
bewundert wurde, war ein mißvergnügter Dichter geworden, aus dem jungen
Musiker ein einsiedlerischer Denker, der des Nachts nach einem
Spaziergang in den stillen Wald über dichterische Probleme nachdachte,
über seinem Shakespeare träumte und in einer Welt lebte, die nicht die
Welt seiner Gegenwart war.

»Zwischen Himmel und Erde« läßt sich nicht so leicht in die deutsche
Erzählungsliteratur einreihen. Der Reiz dieses Buches ist, wie Kleists
»Michael Kohlhaas«, so innig mit der Persönlichkeit des Dichters
verknüpft, so stark spricht uns aus dieser schlichten, im Tragischen wie
im Idyllischen gleich vollendeten Erzählerkunst Otto Ludwigs
Menschentum, seine Jugend und seine abgeklärte Lebenserfahrung an, so
eindringlich deutsches Wesen überhaupt, daß wir uns schämen würden,
danach zu fragen, aus welcher Schule heraus ist diese Kunst entstanden.
Hinter dem Schicksal der Menschen unserer Erzählung, mit denen uns der
Dichter schnell vertraut macht, als gehörten sie seit lange zu unserem
täglichen Verkehr, steht eine Gerechtigkeit, die keine alltägliche,
voreilig aburteilende und voreilig belohnende ist: Kehre dich nicht
tadelnd von der Welt, wie sie ist, suche ihr gerecht zu werden, dann
wirst du dir gerecht.

Aus dem Hintergrunde des mit inniger Liebe ausgemalten
Schieferdeckerberufes heben sich zahllose Lichter und Schatten,
außerordentlich fein gesehene Einzelzüge, ab. Man sieht ihm bisweilen in
seine Arbeit hinein, empfindet die Mühe, aber auch die Sorgsamkeit und
die Gewissenhaftigkeit des Künstlers. Und wenn das sonst gerade kein Lob
für ein Kunstwerk ist, so ist es doch auch wieder in der deutschen
Kunst, von Dürer angefangen, zu einem ihrer Hauptcharakterzüge geworden.
Nur verknöcherte Ästheten können darüber nörgeln. Wir andern freuen uns,
daß wir so Einblick in die Werkstatt der Liebe erhalten, aus der heraus
jener Eifer und diese absichtliche Genauigkeit geboren ist. Mit den
Werken unserer Dichter treten wir in eine Traumwelt von wunderbarer
Versonnenheit ein, einer Unbekümmertheit gegen die Forderung des
Fertigen und der Glätte des scheinbar Vollkommenen, wenn darüber die
Forderung der Liebe und des persönlichen Verantwortungsgefühls steht.

Der alte, trotzige und mürrische Dachdeckermeister ist eine solche
spröde Gestalt aus der Werkstatt Otto Ludwigs, ein Ebenbild des
Erbförsters, eine Erinnerung an seinen eigenen Vater. Sein starres
Prinzip, von seinen Kindern nie etwas zweimal und nie mit Angabe der
Gründe zu fordern, aber auch nie etwas, das nicht vorher bei ihm selbst
wohl überdacht wäre, ist nicht zum mindesten schuld an dem so
verschiedenen Schicksal seiner beiden Söhne. Auch das Häuschen und der
Garten, in dem kein Buchsbaumblättchen über das andere hinaussehen
durfte, stimmen zu der sonderbaren Härte dieser Menschen, deren
Schicksal zum großen Teile aus ihrer Umwelt (Zola ist hier vorgeahnt)
heraus- und dann auch einen Augenblick wohl über sie hinauswächst.

Es sind des Menschen unausgesprochene Zweifel und geheime
Leidenschaften, die ihn bisweilen wie ein Gewitter mit Hagel und Blitz
überfallen. Dem Überwinder erst kommt die große neue Klarheit über den
Wert des Lebens, eine Ewigkeitsperspektive, die nicht nur einen Helden,
sondern auch einen Weisen aus ihm macht. Apollonius, der junge Träumer,
ist eine der herrlichsten Figuren deutscher Dichtung, ein moderner
Parzival vom Lande, den das trübste Schicksal nicht irre machen kann. An
seiner reinen Leidenschaft für Christiane -- an der Wahrheit muß sich
der Argwohn und die Frivolität seines Bruders verbrennen, kann sich die
Ängstlichkeit eines so zarten Frauengemüts, wie es in Christiane
geschildert ist, aufrichten. Und dennoch bleibt eine Wehmut des
Unerfüllten im Leser zurück, die uns nicht so bald von den Menschen
scheiden läßt, wenn wir auch schon lange das Buch beiseite gelegt haben.
Dann wiederholen unsere Lippen wohl unwillkürlich die letzten Worte des
Dichters: »Der Mensch soll nicht sorgen, daß er in den Himmel komme,
sondern daß der Himmel in _ihn_ komme. Und in diesem Sinne sei dein
Wandel: Zwischen Himmel und Erde.«

                                                  Dr. Wilhelm Mießner.




                       Zwischen Himmel und Erde


                      Erzählung von Otto Ludwig

Das Gärtchen liegt zwischen dem Wohnhause und dem Schieferschuppen; wer
von dem einen zum andern geht, muß daran vorbei. Vom Wohnhaus zum
Schuppen gehend hat man es zur linken Seite; zur rechten sieht man dann
ein Stück Hofraum mit Holzremise und Stallung, vom Nachbarhause durch
einen Lattenzaun getrennt. Das Wohnhaus öffnet jeden Morgen zweimal
sechs grün angestrichene Fensterläden nach einer der lebhaftesten
Straßen der Stadt, der Schuppen ein großes graues Tor nach einer
Nebengasse; die Rosen an den baumartig hochgezogenen Büschen des
Gärtchens können in das Gäßchen hinausschauen, das den Vermittler macht
zwischen den beiden größern Schwestern. Jenseits des Gäßchens steht ein
hohes Haus, das in vornehmer Abgeschlossenheit das enge keines Blickes
würdigt. Es hat nur für das Treiben der Hauptstraße offene Augen; und
sieht man die geschlossenen nach dem Gäßchen zu genauer an, so findet
man bald die Ursache ihres ewigen Schlafes; sie sind nur Scheinwerk, nur
auf die äußere Wand gemalt.

Das Wohnhaus, das zu dem Gärtchen gehört, sieht nicht nach allen Seiten
so geschmückt aus, als nach der Hauptstraße hin. Hier sticht eine blaß
rosenfarbene Tünche nicht zu grell von den grünen Fensterladen und dem
blauen Schieferdache ab; nach dem Gäßchen zu, die Wetterseite des
Hauses, erscheint von Kopf zu Fuß mit Schiefer geharnischt; mit der
andern Giebelwand schließt es sich unmittelbar an die Häuserreihe, deren
Beginn oder Ende es bildet; nach hinten aber gibt es einen Beleg zu dem
Sprichwort, daß alles seine schwache Seite habe. Hier ist dem Hause eine
Emporlaube angebaut, einer halben Dornenkrone nicht unähnlich. Von roh
behauenen Holzstämmen gestützt, zieht sie sich längs des obern Stocks
hin und erweitert sich nach links in ein kleines Zimmer. Dahin führt
kein unmittelbarer Durchgang aus dem obern Stock des Hauses. Wer von da
nach der »Gangkammer« will, muß aus der hintern Haustür heraus und an
der Wand hin wohl sechs Schritt an der Hundehütte vorbei bis zu der
hölzernen, hühnersteigartigen Treppe, und wenn er diese hinaufgestiegen,
die ganze Länge der Emporlaube nach links wandeln. Der letzte Teil der
Reise wird freilich aufgeheitert durch den Blick in das Gärtchen hinab.
Wenigstens im Sommer; und vorausgesetzt, die der Länge des Ganges nach
doppelt aufgezogene Leine ist nicht durchaus mit Wäsche behängt. Denn im
Winter schließen sich die Läden, die man im Frühjahre wieder abnimmt,
mit der Barriere zu einer undurchdringlichen Bretterwand zusammen, deren
Lichtöffnungen über dem Bereiche angebracht erscheinen, den eine
gewöhnliche Menschenlänge beherrscht.

Ist die Zier der Baulichkeiten nicht überall die gleiche, und stechen
Emporlaube, Stall und Schuppen bedeutend gegen das Wohnhaus ab, so
vermißt man doch nirgends, was noch mehr ziert als Schönheit der Gestalt
und glänzender Putz. Die äußerste Sauberkeit lächelt dem Beschauer aus
dem verstecktesten Winkel entgegen. Im Gärtchen ist sie fast zu
ängstlich, um lächeln zu können. Das Gärtchen scheint nicht mit Hacke
und Besen gereinigt, sondern gebürstet. Dazu haben die kleinen Beetchen,
die so scharf von dem gelben Kies der Wege abstechen, das Ansehen, als
wären sie nicht mit der Schnur, als wären sie mit Lineal und Zirkel auf
den Boden hingezeichnet, die Buchsbaumeinfassung, als würde sie von Tag
zu Tag von dem akkuratesten Barbier der Stadt mit Kamm und Schermesser
bedient. Und doch ist der blaue Rock, den man täglich zweimal in das
Gärtchen treten sehen kann, wenn man auf der Emporlaube steht, und zwar
einen Tag wie den andern zu derselben Minute, noch sauberer gehalten als
das Gärtchen. Der weiße Schurz darüber glänzt, verläßt der alte Herr
nach mannigfacher Arbeit das Gärtchen wieder -- und das geschieht
täglich so pünktlich um dieselbe Zeit wie sein Kommen -- und in so
untadelhafter Weise, daß eigentlich nicht einzusehen ist, wozu der alte
Herr ihn umgenommen hat. Geht er zwischen den hochstämmigen Rosen hin,
die sich die Haltung des alten Herrn zum Muster genommen zu haben
scheinen, so ist ein Schritt wie der andere, keiner greift weiter aus
oder fällt aus der Gleichmäßigkeit des Taktes. Betrachtet man ihn
genauer, wie er so inmitten seiner Schöpfung steht, so sieht man, daß er
äußerlich nur das nachgetan, wozu die Natur in ihm selber das Muster
geschaffen. Die Regelmäßigkeit der einzelnen Teile seiner hohen Gestalt
scheint so ängstlich abgezirkelt worden zu sein, wie die Beete des
Gärtchens. Als die Natur ihn bildete, mußte ihr Antlitz denselben
Ausdruck von Gewissenhaftigkeit getragen haben, den das Gesicht des
alten Herrn zeigt und der in seiner Stärke als Eigensinn erscheinen
mußte, war ihm nicht ein Zug von liebender Milde beigemischt, ja fast
von Schwärmerei. Und noch jetzt scheint sie mit derselben Sorgfalt über
ihm zu wachen, mit der sein Auge sein kleines Gärtchen übersieht. Sein
hinten kurzgeschnittenes und über der Stirn zu einer sogenannten
Schraube zierlich gedrehtes Haar ist von derselben untadelhaften Weiße,
die Halstuch, Weste, Kragen und der Schurz vor dem zugeknöpften Rocke
zeigen. Hier in seinem Gärtchen vollendet er das geschlossene Bild
desselben; außerhalb seines Hauses muß sein Ansehen und Wesen etwas
Fremdartiges haben. Pflastertreter hören unwillkürlich auf zu plaudern,
die Kinder auf der Straße zu spielen, kommt der alte Herr Nettenmair
dahergestiegen, das silberknöpfige Rohr in der rechten Hand. Sein Hut
hat noch die spitze Höhe, sein blauer Überrock zeigt noch den schmalen
Kragen und die bauschigen Schultern einer lang vorübergegangenen Mode.
Das sind Haken genug, schlechte Witze daran zu hängen; dennoch geschieht
dies nicht. Es ist, als ginge ein unsichtbares Etwas mit der stattlichen
Gestalt, das leichtfertige Gedanken nicht aufkommen ließe.

Wenn die älteren Einwohner der Stadt, begegnet ihnen Herr Nettenmair,
eine Pause in ihrem Gespräch machen, um ihn respektvoll zu grüßen, so
ist es jenes magische Etwas nicht allein, was diese Wirkung tut. Sie
wissen, was sie in dem alten Herrn achten; ist er vorüber, folgen ihm
die Augen der noch immer Schweigenden, bis er um eine Straßenecke
verschwindet; dann hebt sich wohl eine Hand, und ein aufgereckter
Zeigefinger erzählt beredter als es der Mund vermöchte, von einem langen
Leben mit allen Bürgertugenden geschmückt und nicht durch einen einzigen
Fehl geschändet. Eine Anerkennung, die noch an Gewicht gewinnt, weiß
man, wie viel schärfer einem nach außen abgeschlossenen Dasein
nachgerechnet wird. Und ein solches führt Herr Nettenmair. Man sieht ihn
nie an einem öffentlichen Orte, es müßte denn sein, daß etwas
Gemeinnütziges zu beraten oder in Gang zu bringen wäre. Die Erholung,
die er sich gönnt, sucht er in seinem Gärtchen. Sonst sitzt er hinter
seinen Geschäftsbüchern oder beaufsichtigt im Schuppen das Ab- und
Aufladen des Schiefers, den er aus eigener Grube gewinnt und weit
ins Land und über dessen Grenzen hinaus vertreibt. Eine
verwitwete Schwägerin besorgt sein Hauswesen und ihre Söhne das
Schieferdeckergeschäft, das mit dem Handel verbunden ist und an Umfang
diesem wenig nachgibt. Es ist der Geist des Oheims, der Geist der
Ordnung, der Gewissenhaftigkeit bis zum Eigensinn, der auf den Neffen
ruht, und ihnen das Zutrauen erwirbt und erhält, das sie von weit umher
beruft, wo man zur Deckung eines neuen Gebäudes oder zu einer
umfassenderen Reparatur an einem alten des Schieferdeckers bedarf.

Es ist ein eigenes Zusammenleben in dem Hause mit den grünen
Fensterläden. Die Schwägerin, eine noch immer schöne Frau, wenig jünger
als der Hausherr, behandelt diesen mit einer Art stiller Verehrung, ja
Andacht. Ebenso die Söhne. Der alte Herr dagegen widmet der Schwägerin
eine achtungsvolle Rücksicht, eine Art Ritterlichkeit, die in ihrer
ernsten Zurückhaltung etwas Rührendes hat, den Neffen beweist er die
Zuneigung eines Vaters. Doch steht auch hier etwas zwischen beiden
Teilen, das dem ganzen Verkehr etwas rücksichtsvoll Förmliches
beimischt. Das liegt wohl zum Teile in der schweigsamen Geschlossenheit
des alten Herrn, die sich den übrigen Familiengliedern mitgeteilt hat,
wie denn alle seine Eigentümlichkeiten bis auf die unbedeutendsten
Einzelheiten, so in körperlicher Haltung und Bewegung, wie in Urteil und
Liebhaberei, auf sie übergegangen erscheinen. Wird in dem Familienkreise
weniger gesprochen, so scheint ein Aussprechen von Wünschen und
Meinungen des einen überflüssig, wo der andere mit so sicherem Instinkt
zu raten weiß. Und wie soll das schwer sein, wo alle eigentlich ein und
dasselbe Leben leben?

Es ist ein eigenes Zusammenleben in dem Hause mit den grünen
Fensterladen.

Die Nachbarn wundern sich, daß der Herr Nettenmair die Schwägerin nicht
geheiratet. Es ist nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr Nettenmairs
älterer Bruder, bei einer Reparatur am Kirchendache zu Sankt Georg
verunglückte. Damals glaubte man allgemein, er werde des Bruders Witwe
heiraten. Sein damals noch lebender Vater wünschte das sogar, und der
Sohn selbst schien nicht abgeneigt. Man weiß nicht, was ihn abhielt.
Aber es geschah nicht, wennschon Herr Nettenmair sich des Familienwesens
seines Bruders und der Kinder desselben väterlich annahm, auch sich
sonst nicht verheiratete, soviel gute Partien sich ihm auch anboten.
Damals schon begann das eigene Zusammenleben.

Es ist natürlich, daß die guten Leute sich wundern; sie wissen nicht,
was damals in vier Seelen vorging; und wüßten sie es, sie wunderten sich
vielleicht nur noch mehr.

Nicht immer wohnte die Sonntagsruhe hier, die jetzt selbst über die
angestrengteste Geschäftigkeit der Bewohner des Hauses mit dem Gärtchen
ihre Schwingen breitet. Es ging eine Zeit darüber hin, wo bitterer
Schmerz über gestohlenes Glück, wilde Wünsche seine Bewohner entzweiten,
wo selbst drohender Mord seinen Schatten vor sich her warf in das Haus;
wo Verzweiflung über selbstgeschaffenes Elend händeringend in stiller
Nacht an der Hintertür die Treppe herauf und über die Emporlaube und
wieder hinunter den Gang zwischen Gärtchen und Stallraum bis zum
Schuppen und ruhelos wieder vor und wieder hinter schlich. Damals schon
war das Gärtchen der Lieblingsaufenthalt einer hohen Gestalt, aber den
Eigensinn des greisen Gesichts dämpfte nicht Milde; wenn sie über die
Straße schritt, hielten auch die Knaben im lustigen Spiele an; aber die
Gestalt sah nicht so freundlich auf sie nieder. Vielleicht, weil ihr
Augenlicht fast erloschen war. Wohl war auch der ältere Herr Nettenmair
ein geachteter Mann und verdiente die Achtung seiner Mitbürger, nicht
weniger als sein milderes Ebenbild nach ihm. Er war ein Mann voll
strenger Ehre. Er war es nur zu sehr!

Was dazumal die Herzen in dem Hause bis zum Zerspringen schwellen
machte, was in den verdüsterten Seelen umging und zum Teile heraustrat
in der Selbstvergessenheit der Angst, oder zur Tat wurde, zur
Verzweiflungstat: alles das mag durch das Gedächtnis des Mannes gehen,
mit dem wir uns bis jetzt beschäftigt. Es ist Sonntag und die Glocken
von Sankt Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienstes
verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo Herr Nettenmair nach
hergebrachter Weise zu dieser Stunde auf seiner Bank in seiner Laube
sitzt. Seine Augen ruhen auf dem schiefergedeckten Turmdach von Sankt
Georg, das auch nach ihm zu schauen scheint. Heute sind es einunddreißig
Jahre, seit er nach längerer Abwesenheit auf der Wanderschaft in die
Vaterstadt heimkehrte. Ebenso riefen die Glocken, als er durch eine
Schnei[1] hindurch an der Straße den alten Turm zum ersten Male
wiedersah. Damals knüpfte sich seine nächste Zukunft an das alte
Schieferdach; jetzt liest er seine Vergangenheit davon ab. Denn -- aber
ich vergesse, der Leser weiß nicht, wovon ich spreche. Es ist ja eben
das, was ich ihm erzählen will.

                   *       *       *       *       *

So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück und finden einen
jungen Mann statt des alten, den wir verlassen. Er ist hochgewachsen wie
dieser, aber nicht so stark. Er trägt die braunen Haare, wie der Alte,
am Hinterkopfe kurz geschoren, über der weißen hohen Stirn in eine
sogenannte Schraube künstlich gedreht. Auf seinem Gesicht erscheint noch
nicht die Strenge des Alten, dem gutmütigen Ausdrucke ist die Narbe
erlittenen Seelenschmerzes noch nicht eingeprägt. Keineswegs aber hat er
die leichtsinnige Unbekümmertheit, die sonst seinem Alter eigen, und
auch nicht das bequeme, nachlässige Wesen, das dem fahrenden
Handwerksburschen so leicht zur Gewohnheit wird. Noch führt ihn die hohe
Straße durch dichten Wald, aber die Klänge der Sankt Georgenglocken aus
der tief unten liegenden Stadt steigen herauf zur waldigen Höhe und
dringen durch Baum und Busch unhemmbar wie eine Mutter, die dem
kommenden Liebling entgegenflieht. Heimat! Was liegt in diesen zwei
kleinen Silben! Was alles steht auf im Menschenherzen, wenn die Stimme
der Heimat, der Glockenton, dem aus der Fremde Kehrenden Willkommen
ruft, der Ton, der das Kind in die Kirche, den Knaben zur Konfirmation
und zum ersten Genusse des heiligen Mahles rief, der jede Viertelstunde
zu ihm sprach! Im Gedanken Heimat umarmen sich all unsre guten Engel.

[Fußnote 1: Lichtung.]

Unserm jungen Wanderer drangen Tränen aus den ernsten und doch so
freundlichen Augen. Schämte er sich nicht vor sich selbst, er hätte laut
geweint. Er kam sich vor, als hätte er seinen Aufenthalt in der Fremde
nur geträumt und könne sich, nun er erwacht, auf den Traum kaum mehr
besinnen, als hätte er nur geträumt, er sei ein Mann geworden in der
Fremde; als sei es ihm immer schon im Traum gekommen, er träume nur in
der Fremde, um, wenn er daheim erwacht sei, davon erzählen zu können. Es
könnte auffallen, wie er bei alledem in diesem Augenblicke seines ganzen
Innern den Spinnenfaden nicht übersah, den die grüßende Luft von der
Heimat her gegen seinen Rockkragen wehte, und daß er die Tränen
vorsichtig abtrocknete, damit sie nicht auf das Halstuch fallen möchten,
und mit der eigensinnigsten Ausdauer erst die letzten, kleinsten Reste
des Silberfadens entfernte, ehe er sich mit ganzer Seele seinem
Heimatsgefühle überließ. Aber auch sein Hängen an der Heimat war ja zum
Teile nur ein Ausfluß jenes eigensinnigen Sauberkeitsbedürfnisses, das
alles Fremde, das ihm anfliegen wollte, als Verunreinigung ansah; und
wiederum entsprang jenes Bedürfnis aus der Gemütswärme, mit der er alles
umfaßte, was in näherem Bezuge zu seiner Persönlichkeit stand. Das Kleid
auf seinem Leibe war ihm ein Stück Heimat, von dem er alles Fremde
abhalten mußte.

Jetzt machte die Straße eine Wendung; der Bergrücken, der vorhin die
Aussicht verengt hatte, blieb zur Seite liegen, und über jungem Wuchs
stieg eine Turmspitze auf. Es war die Spitze des Sankt Georgenturms. Der
junge Wanderer hielt den Schritt an. So natürlich es war, daß das
höchste Gebäude der Stadt ihm zuerst und vor den übrigen sichtbar werden
mußte, seine Sinnigkeit vergaß es über der innigen Bedeutung, die sie in
den Umstand legte. Das Schieferdach der Kirche und des Turms bedurfte
einer Reparatur. Diese war seinem Vater übertragen worden und sie war
der Grund, wenigstens der Vorwand, warum der Vater ihn früher aus der
Fremde zurückrief, als er bei des Sohnes Abreise gewillt gewesen.
Vielleicht morgen schon begann er seinen Teil Arbeit. Dort, senkrecht
über dem weiten Bogen, durch den er die Glocken sich bewegen sah, war
die Aussteigetüre angebracht. Dort sollten die beiden Balken sich
herausschieben, um die Leiter zu tragen, auf der er emporklimmte, bis
zur Helmstange, das Tau seines Fahrzeugs daran anzuknüpfen für die
luftige Fahrt um das Dach. Und wie es seine Natur war, sich mit festen
Herzensfäden an die Gegenstände anzuspinnen, mit denen er in
Arbeitsberührung kommen sollte, so sah er in dem Auftauchen der
Turmspitze einen Gruß und griff unwillkürlich in die Luft nach dem
Grüßenden hin, als gält' es, eine freundlich dargebotene Hand zu
drücken. Dann beschleunigte der Gedanke an seine Arbeit seinen Schritt,
bis ein Aushau im Walde und die Ankunft auf der höchsten Kante des
Berges ihm die ganze Heimatsstadt vor seinen Füßen liegend zeigte.

Wieder blieb er stehen. Dort stand das Vaterhaus, dahinter der
Schieferschuppen; in derselben Vorstadt, nicht weit davon, das Haus, wo
sie -- gewohnt hatte damals, als er in die Fremde ging, jetzt wohnte sie
in seinem Vaterhaus, war seines Vaters Tochter, seines Bruders Weib und
er sollte von heute an in demselben Hause leben und sie täglich sehen
als seine Schwägerin. Sein Herz schlug stärker bei dem Gedanken an sie.
Aber keine von den Hoffnungen, die sich ihm sonst an ihr Andenken
geknüpft, ließ es schwellen. Seine Neigung war die eines Bruders zur
Schwester geworden und was ihn jetzt bewegte, sah mehr einer Sorge
gleich. Er wußte, sie dachte mit Widerwillen an ihn. Sie war die einzige
im ganzen Vaterhause, die sein Kommen ungern sah. Wie war das alles
geworden? War nicht eine Zeit gewesen, wo sie ihm gut zu sein schien? Wo
sie ihm so gern zu begegnen schien, als später beflissen, ihm
auszuweichen? Da unten vor der Stadt in Gärten liegt das Schützenhaus.
Wie sind die Bäume um das Haus größer geworden, seit er von dieser Höhe
herab auch ihm den letzten Gruß zugewinkt hatte! Dort unter jener Akazie
hatte er kurz vorher gestanden -- es war an einem schönen Frühlingsabend
gewesen, dem schönsten, meinte er, den er erlebt -- am Pfingstschießen.
Drin tanzte das übrige junge Volk; er ging selig um das Haus herum, in
dem er sie tanzend wußte. Er fühlte sich jetzt noch im Umgang mit
Mädchen und Frauen befangen, und wußte nicht mit ihnen zu reden; das war
er damals noch mehr gewesen als jetzt. Wie gern hätte er ihr gesagt --
wenn er allein war, wieviel hatte er ihr zu sagen und wie gut wußte er
es zu sagen, und führte es ein Zufall daß er sie allein traf -- und
wunderbar, wie geschäftig der Zufall sich zeigte, ein solch
Zusammentreffen zu vermitteln -- da trieb ihm der Gedanke, jetzt sei der
Augenblick da, alles Blut nach dem Herzen, die Worte von der Zunge in
den Versteck der tiefsten Seele zurück. So war es gewesen, wie sie, die
Wangen vom Tanze glühend, allein herausgetreten war aus dem Hause. Es
schien ihr nur um Kühlung zu tun; sie wehte sich mit dem weißen Tuche
zu, aber ihre Wangen wurden nur röter. Er fühlte, sie hatte ihn gesehen,
sie erwartete, er sollte näher treten und daß sie wußte, er verstand
sie, das färbte ihr die Wangen röter. Das trieb, da er zögerte, sie
wieder hinein in den Saal. Vielleicht auch, daß sie einen Dritten nahen
hörte. Sein Bruder kam aus einer andern Tür des Saales. Er hatte die
beiden noch schweigend einander gegenüberstehen, vielleicht auch des
Mädchens Röterwerden gesehen. »Du suchst die Beate?« fragte unser Held,
um seine Verlegenheit zu verbergen. »Nein,« entgegnete der Bruder. »Sie
ist nicht zum Tanze und das ist gut. Es kann doch nichts werden; ich muß
mir eine andere anschaffen und bis ich eine finde, ist böhmisch Bier
mein Schatz.«

Es war etwas Wildes in des Bruders Rede. Unser Held sah ihn verwundert
und zugleich bekümmert an. »Warum kann nichts werden?« fragte er. »Und
wie bist du nur?«

»Ja, du meinst, ich soll sein wie du, fromm und geduldig, wenn nur kein
Federchen etwa an deinem Rocke sitzt. Ich bin ein andrer Kerl, und wird
mir ein Strich durch meine Rechnung gemacht, muß ich mich austoben.
Warum nichts werden kann? Weil der Alte im blauen Rock es nicht will.«

»Der Vater rief dich gestern in das Gärtchen --«

»Ja, und zog seine weißen Augenbrauen, die wie mit dem Lineal gemacht
sind, anderthalb Zoll in die Höh. Ich hatte mir's wohl gedacht. >Du
gehst mit der Beate vom Einnehmer. Das hat aufgehört von heut an.<«

»Ist's möglich? Und warum?«

»Ja, hast du je gehört, daß der im blauen Rock ein Warum vorgebracht
hätte? Und hast du ihn je gefragt: warum denn aber, Vater? Ich möchte
sein Gesicht sehen, fragte ihn einer von uns: Warum? Er hat's nicht
gesagt, aber ich weiß es, warum das aufgehört haben soll mit mir und der
Beate. Ich hab's die ganze Woche her erwartet; wenn er die Hand aufhob,
meint' ich, er deutet nach dem Gärtchen, und war bereit, wie ein armer
Sünder hinter ihm her zu gehen. Da ist ja der Ort, wo er seine
Kabinettsbefehle austeilt. Mit dem Einnehmer soll's nicht gut stehn. Es
geht eine Rede, er braucht mehr, als seine Besoldung hergeben will. Und
-- nun du bist ja auch ein Federchensucher wie der im blauen Rock. Aber
was kann das Mädchen dazu? Was ich? Nun, aufgehört muß die Geschichte
haben, aber das Mädel dauert mich und ich muß sehn, wie ich sie
vergesse. Ich muß trinken oder mir eine andere anschaffen.«

Unser Held war des Bruders Art gewohnt; er wußte, daß seine Reden nicht
so wild gemeint waren, als sie klangen, und der Bruder bewies ja seine
Liebe und Achtung vor dem Vater durch die Tat seines Gehorsams; dennoch
wäre es unserm Helden lieb gewesen, der Bruder hätte sie auch im Reden
gezeigt, wie im Tun. Der Bruder hatte mit seiner Neckerei nicht ganz
unrecht gehabt. Apollonius war es, als läge etwas Unsauberes auf der
Seele des Bruders und er strich unwillkürlich mehrmals mit der Hand über
den Rockkragen desselben hin, als wäre es äußerlich von ihm abzuwischen.
Vom Tanze hatte sich Staub darauf gelagert; wie dieser entfernt war, kam
ihm die Empfindung, als sei wirklich entfernt, was ihn gestört.

Das Gespräch tauschte seinen Stoff. Sie kamen auf das Mädchen zu
sprechen, das vorhin sich Kühlung zugeweht; Apollonius wußte gewiß
nicht, daß er die Anregung dazu gegeben hatte. Wie das Mädchen das Ziel
war, nach dem alle Wege seines Denkens führten, so hielt es ihn, war er
bei ihr angekommen, unentrinnbar fest. Er vergaß den Bruder so, daß er
zuletzt eigentlich mit sich selbst sprach. Der Bruder schien all das
Schöne und Gute an ihr, das der Held in unbewußter Beredsamkeit pries,
erst wahrzunehmen. Er stimmte immer lebhafter bei, bis er in ein wildes
Lachen ausbrach, das den Helden aus seiner Selbstvergessenheit weckte
und seine Wangen so rot färbte, als die des Mädchens vorhin gewesen
waren.

»Und da schleichst du um den Saal, wo sie mit andern tanzt und, zeigt
sie sich, so hast du nicht das Herz, mit ihr anzubinden. Wart', ich will
dein Gesandter sein. Von nun soll sie keinen Reihen tanzen, als mit mir,
damit kein andrer dir die Quere kommt. Ich weiß mit den Mädels
umzugehen. Laß mich machen für dich.«

Sie standen etwa zehn Schritt von der großen Saaltüre entfernt,
Apollonius mit dem vollen, der Bruder mit dem halben Angesichte
derselben zugewandt. Unser Held erschrak vor dem Gedanken, daß das
Mädchen heute noch alles erfahren sollte, was er für sie fühlte. Dazu
kam die Scham über sein eigenes befangenes ungeschicktes Wesen ihr
gegenüber und wie sie davon würde denken müssen, daß er eines Mittlers
bedürfe. Er hatte schon die Hand erhoben, dem Bruder Einhalt zu tun, als
die Erscheinung des Mädchens selbst ihm alles andere verdunkelte. Leise
und allein wie vorhin kam sie aus der Tür geschritten. Unter dem Tuche,
mit dem sie sich Kühlung zuwehte, schien sie verstohlen um sich zu
sehen. Er sah wieder ihre Wangen röter werden. Hatte sie ihn gesehen?
Aber sie wandte ihr Gesicht nach der entgegengesetzten Seite. Sie schien
etwas zu suchen im Grase vor ihr. Er sah, wie sie eine kleine Blume
pflückte, diese auf eine Bank legte und, nachdem sie eine Weile wie
zweifelnd gestanden, ob sie die Blume wieder aufnehmen sollte, wie mit
schnellem Entschluß sich wieder nach der Tür wandte. Eine halb
unwillkürliche Armbewegung schien zu sagen: mag er sie nehmen; sie ist
für ihn gepflückt. Wieder wogte es rot herauf bis an das dunkelbraune
Haar, und die Hast, mit der sie in der Tür verschwand, schien einer Reue
vorbeugen zu sollen, die die Sorge erzeugen konnte, wie ihr Tun
verstanden werden würde.

Der Bruder, der von alledem nichts zu gewahren schien, hatte noch in
seiner lebendigen, heftigen Weise fortgesprochen; seine Worte waren
verloren; unser Held hätte zwei Leben haben müssen, sie zu hören, denn
das eine, das er besaß, war in seinen Augen. Jetzt sah er den Bruder
nach dem Saale stürmen. Zu spät kam ihm der Gedanke, ihn zurückzuhalten.
Er eilte ihm vergeblich nach bis zur Tür. Dort nahm ihn wiederum die
Blume gefangen, die das Mädchen für einen Finder hingelegt, für einen
glücklichen, fand sie der, dem sie zugedacht war. Und unter den leisen,
mechanisch fortgesetzten Zurufen seines Mundes an den Bruder, der sie
nicht mehr hörte, er solle schweigen, fragte er sich innerlich: bist
du's auch, für den sie die Blume hierher gelegt? Hat sie die Blume für
jemand hierher gelegt? Sein Herz antwortete glücklich auf beides mit ja,
während ihn das Vorhaben des Bruders noch bedrängte.

War es ein Liebeszeichen von ihr und für ihn, so war es das letzte.

Zweimal sah er verstohlen in den Saal, wenn die Tür sich öffnete; er sah
sie mit seinem Bruder tanzen, dann im Ausruhen vom Tanze den Bruder in
seiner hastigen Weise auf sie hineinreden. Jetzt spricht er von mir,
dachte er, über das ganze Gesicht erglühend. Er stürzte in den Schatten
der nahen Büsche, als sie den Saal verließ. Der Bruder führte sie heim.
Er folgte den beiden in so großer Entfernung, als er nötig hielt, von
ihr nicht gesehen zu werden. Als der Bruder von der Begleitung
zurückkam, trat er von der Tür weg. Er war wie nackt vor Scham. Der
Bruder hatte ihn doch bemerkt. Er sagte: »Noch will sie nichts von dir
wissen; ich weiß nicht, ist es Ziererei oder ihr Ernst. Ich treffe sie
schon wieder. Auf einen Schlag fällt kein Baum. Aber das muß ich dir
zugestehen, Geschmack hast du. Ich weiß nicht, wo ich meine Augen gehabt
habe seither. Die ist noch ganz anders, als die Beate. Und das will viel
sagen!«

Von da an hatte der Bruder unermüdlich mit Walthers Christianen getanzt
und für den Bruder gesprochen und jedesmal, nachdem er sie heimgeführt,
dem Helden Rechenschaft abgelegt von seinen Bemühungen für ihn. Lange
noch war er ungewiß, ob sie sich nur ziere, oder ob sie unserm Helden
wirklich abgeneigt sei. Er erzählte gewissenhaft, was er zu des Helden
Gunsten ihr gesagt, was sie auf seine Fragen und Versicherungen
geantwortet. Er hatte noch Hoffnung, als unser Held sie schon aufgegeben
hatte. Und dieser hätte es aus ihrem Benehmen gegen ihn erkennen müssen,
hätte er auch ihre Antworten an den Bruder nicht erfahren, seine Neigung
habe keine Erwiderung zu erwarten. Sie wich ihm aus, wo sie ihn sah, so
angelegentlich, als sie ihn früher gesucht zu haben schien. Und war er
es denn gewesen, den sie damals suchte, wenn sie überhaupt jemand
gesucht hatte?

Der Bruder forderte ihn hundertmal auf, sie abzupassen und selbst seine
Sache bei ihr zu führen. Er bot seine ganze Erfindungskraft auf, dem
Helden Gelegenheit zu verschaffen, sie allein zu sprechen. Unser Held
wies die Aufforderungen ab, wie die Anerbieten. Es war doch unnütz.
Alles, was er erreichen konnte, war, sie nur noch mehr zu erzürnen.

»Ich kann's nicht mehr mit ansehen, wie du abmagerst und immer bleicher
wirst,« sagte der Bruder eines Abends zu unserm Helden, nachdem er ihm
gemeldet, wie er heute wieder erfolglos für ihn gesprochen. »Du mußt
fort eine Zeitlang von hier, das wird nach zwei Seiten gute Folgen für
dich haben. Wenn ich ihr sage, du bist um ihretwillen in die Welt
gegangen, wird sie sich vielleicht bekehren. Glaub' mir, ich kenne, was
lange Haare trägt und weiß damit umzugehen. Du schreibst ihr einen
beweglichen Brief zum Abschied, den bekommt sie durch mich und ich will
ihr schon das Herz weich machen. Und ist's nicht zu erreichen, so wird
dir's gut tun, wenn du ein oder mehrere Jahre von hier weg bist, wo dich
alles an sie erinnert. Und zuletzt wird die Fremde einen andern Kerl aus
dir machen, der mit der Art, die Schürzen trägt, besser umzuspringen
weiß. Du mußt tanzen lernen, das ist schon der halbe Weg dazu. Und der
Alte im blauen Rock ist ohnehin vom Vetter in Köln angegangen worden,
einen von uns zu ihm zu schicken; ich las neulich in einem Brief, der
ihm aus der Tasche gefallen war. Sag ihm nur, du hättest aus seinen
Reden so was gemerkt und wenn er's haben wollte, so wolltest du gehn.
Oder laß mich das machen. Du bist zu ehrlich.«

Und er machte es wirklich. Es ist die Frage, ob sich unser Held
freiwillig hätte entschließen können, die Heimat zu verlassen, er, der
nicht begriff, wie jemand wo anders leben könne, als in seiner
Vaterstadt, dem es immer wie ein Märchen vorgekommen war, daß es noch
andere Städte gäbe und Menschen drin wohnten, der sich das Leben und Tun
und Treiben dieser Menschen nicht als ein wirkliches, wie die Bewohner
seiner Heimat es führten, sondern als eine Art Schattenspiel vorgestellt
hatte, das nur für den Betrachter existierte, nicht für die Schatten
selbst. Der Bruder, der den alten Herrn zu behandeln wußte, brachte, wie
zufällig, das Gespräch auf den Vetter in Köln, wußte die Andeutungen,
die Herr Nettenmair in seiner diplomatischen Weise gab, als
vorbereitende Winke aufzufassen, faßte andere, die unsern Helden
betrafen, damit zusammen. Nach öfterem Gespräche schien er's für den
ausgesprochenen Willen des alten Herrn zu nehmen, daß Apollonius nach
Köln zu dem Vetter müsse. Dadurch war dem alten Herrn der Gedanke
gegeben, über dem er nun, da er für den seinen galt, nach seiner Weise
brütete. Es war wenig Arbeit vorhanden und auch für die nächste Zeit
keine Aussicht auf eine bedeutende Vermehrung derselben. Zwei Hände
waren zu entbehren und blieben die im Geschäft, so waren die Kräfte
desselben zu einem halben Müßiggang verdammt. Der alte Herr konnte
nichts weniger leiden, als was er leiern nannte. Es fehlte nur an einem
Widerstande von seiten unsers Helden. Dieser wußte nichts von des
Bruders Plane. Der Bruder hatte ihn weislich nicht darin eingeweiht,
weil er ihn zu gut kannte, um Vorschub von ihm zu erwarten bei einem
Tun, das er als unehrlich und unehrerbietig zugleich gegen den Vater
verworfen haben würde.

»Du willst den Apollonius nach Köln schicken,« sagte der Bruder eines
Nachmittags zu dem alten Herrn. »Wird er aber gehen wollen? Ich glaube
nicht. Du wirst mich auf die Wanderschaft schicken müssen. Der
Apollonius wird nicht gehen. Wenigstens heut oder morgen noch nicht.«

Das war genug. Noch denselben Abend winkte der alte Herr unseren Helden
sich in das Gärtchen nach. Vor dem alten Birnbaum blieb er stehen und
sagte, indem er ein kleines Reis, das aus dem Stamme gewachsen war,
entfernte: »Morgen gehst du zum Vetter nach Köln.«

Mit schneller Wendung drehte er sich nach dem Angeredeten um und sah
verwundert, daß Apollonius gehorsam mit dem Kopfe nickte. Es schien ihm
fast unlieb, daß er keinen Trotz zu brechen haben sollte. Meinte er, der
arme Junge denke trotzige Gedanken, wenn er sie auch nicht ausspreche
und wollte er auch den Trotz der Gedanken brechen? »Heut noch schnürst
du deinen Ranzen, hörst du?« fuhr er ihn an.

Apollonius sagte: »Ja, Vater.«

»Morgen mit Sonnenaufgang machst du dich auf die Reise.« Nachdem er so
eine trotzige Antwort fast erzwingen zu wollen geschienen, mochte er
seinen Zorn bereuen. Er machte eine Bewegung. Apollonius ging gehorsam.
Der alte Herr folgte ihm und kam einigemal auf das Zimmer der Brüder, um
mit milderem Grimme den Einpackenden an mancherlei zu erinnern, was er
nicht vergessen solle.

Und vom Georgenturme tönte eben der letzte von vier Glockenschlägen, als
sich die Tür des Hauses mit den grünen Fensterladen auftat und unser
junger Wanderer heraustrat, von dem Bruder begleitet. An derselben
Stelle, von der er jetzt auf die unter ihm liegende Stadt herabsah,
hatte der Bruder Abschied von ihm genommen und er ihm lange, lange
nachgesehen. »Vielleicht gewinn' ich dir sie doch,« hatte der Bruder
gesagt, »und dann schreib' ich dir's sogleich. Und ist's mit der nichts,
so ist sie nicht die einzige auf der Welt. Du bist ein Kerl, ich kann
dir's wohl sagen, so hübsch wie einer, und legst du nur dein blödes
Wesen ab, kann dir's bei keiner fehlen. Es ist einmal so, die Mädel
können nicht um uns werben und ich möchte die nicht einmal, die sich mir
von selbst an den Hals würfe. Und was soll ein rasches Mädel mit einem
Träumer anfangen? Der Vetter in Köln soll ein paar schöne Töchter haben.
Und nun leb' wohl. Deinen Brief besorg' ich noch heut'.«

Damit war der Bruder von ihm geschieden.

»Ja,« sagte Apollonius bei sich, als er ihm nachsah. »Er hat recht.
Nicht wegen der Töchter vom Vetter oder sonst einer andern, und wär' sie
noch so hübsch. Wär' ich anders gewesen, jetzt müßt' ich vielleicht
nicht in die Fremde. War ich's, dem sie die Blume hingelegt hat am
Pfingstschießen? Hat sie mir begegnen wollen damals und früher? wer
weiß, wie schwer's ihr geworden ist. Und wie sie das alles umsonst
getan, hat sie sich nicht vor sich selber schämen müssen? O, sie hat
recht, wenn sie nichts mehr von mir wissen will. Ich muß anders werden.«

Und dieser Entschluß war keine taube Blüte gewesen. Das Haus seines
Vetters in Köln zeigte sich keiner Art von Träumerei förderlich. Er fand
ein ganz anderes Zusammenleben als daheim. Der alte Vetter war so
lebenslustig als das jüngste Glied der Familie. Da war keine
Vereinsamung möglich. Ein aufgeweckter Sinn für das Lächerliche ließ
keine Art von Absonderlichkeit aufkommen. Jeder mußte auf seiner Hut
sein; keiner konnte sich gehen lassen. Apollonius hätte ein anderer
werden müssen und wenn er nicht wollte. Auch im Geschäfte ging es anders
her als daheim. Der alte Herr im blauen Rock gab seine Befehle, wie der
Gott der Hebräer aus Wolken und mit der Stimme des Donners, er hätte
seinem Ansehen etwas zu vergeben geglaubt durch Aussprechen seiner
Gründe, es gab kein Warum, und seine Söhne wagten nicht, nach Warum zu
fragen. Und selbst das Verkehrte mußte durchgeführt werden, war der
Befehl einmal ausgesprochen. Über Dinge, die das Geschäft nicht
betrafen, redete er mit den Söhnen gar nicht. Dagegen war es des Vetters
Weise, ehe er selbst seine Ansicht über einen Punkt des Geschäfts
aussprach, seine Gehilfen um ihre Meinung zu fragen. Es war dann nicht
genug an der Meinung, er wollte auch die Gründe wissen. Dann machte er
Einwürfe; war ihre Meinung die richtige, mußten sie dieselbe siegreich
durchkämpfen; irrten sie, nötigte er sie, durch eigenes Denken auf das
Rechte zu kommen. So erzog er sich Helfer, denen er manches überlassen
konnte, die nicht um jede Kleinigkeit ihn fragen mußten. Und so hielt er
es auch mit andern Dingen. Es waren wenig Verhältnisse des bürgerlichen
Lebens, die er nicht nach seiner Weise mit seiner Familie -- und
Apollonius gehörte dazu -- durchsprach. Indem er zunächst nur darauf
auszugehen schien, das Urteil der jungen Leute zu bilden, gab er ihnen
einen Reichtum von Lebensregeln und Grundsätzen, die um so mehr Frucht
versprachen, da die jungen Leute sie hatten selbst finden müssen. Woran
der Vetter bei seinem Verwandten nicht tastete, das war dessen
Gewissenhaftigkeit, Eigensinn in der Arbeit und Sauberkeit des Leibes
und der Seele. Doch ließ er es nicht an Winken und Beispielen fehlen,
wie auch diese Tugenden an Übermaß erkranken könnten.

Apollonius erkannte deutlich, daß sein Glück ihn zu dem Vetter geführt.
Er verlor das träumerische Wesen immer mehr; bald konnte der Vetter die
schwierigste Arbeitsaufgabe in des Jünglings Hände legen, und er
vollendete jede ohne die Hilfe fremden Rates zu solcher Zufriedenheit
des Vetters, daß dieser sich gestehen mußte, er selbst würde die Sache
nicht umsichtiger begonnen, nicht energischer betrieben, nicht schneller
und glücklicher beendet haben. Bald konnte der Jüngling sich ein Urteil
bilden über die Art, wie sie daheim die Geschäfte geführt hatten. Mußte
er sich sagen, daß sie nicht die zweckmäßigste gewesen, ja daß manches,
was der alte Herr angeordnet hatte, verkehrt genannt werden mußte, dann
warf er sich wohl seinen unkindlichen Sinn bitter vor, strengte sich an,
das Tun des Vaters bei sich zu rechtfertigen, und zwang sich, war ihm
das unmöglich gewesen, zu dem Gedanken, der alte Herr habe seine guten
Gründe gehabt und er selbst sei nur zu beschränkt, um sie zu erraten.

Es kamen Briefe vom Bruder. Im ersten schrieb dieser, er sei nun so weit
über das Mädchen klar, daß ihre Härte gegen Apollonius von einer andern
Neigung des Mädchens herrühre, deren Gegenstand zu nennen sie nicht zu
bewegen sei. Aus dem nächsten, der kaum von dem Mädchen sprach, las
Apollonius ein Mitleid mit ihm heraus, dessen Grund er nicht zu finden
wußte. Der dritte gab diesen Grund nur zu deutlich an. Der Bruder selbst
war der Gegenstand der verschwiegenen Neigung des Mädchens gewesen. Sie
hatte ihm mancherlei Zeichen davon gegeben, nachdem er nach des Vaters
Willen seiner ersten Geliebten entsagt. Er hatte nichts davon geahnt,
und als er nun als Werber für den Bruder aufgetreten, hatte Scham und
Überzeugung, er selbst liebe sie nicht, ihren Mund verschlossen.

Nun begriff Apollonius unter Schmerzen, daß er sich geirrt, als er
gemeint, jene stummen Zeichen gälten ihm. Er wunderte sich, daß er
seinen Irrtum nicht damals schon eingesehen. War nicht sein Bruder ihr
so nah, als er, da sie die Blume hinlegte, die der Unrechte fand? Und
wenn sie ihm so absichtlich unabsichtlich allein begegnete -- ja, wenn
er sich die Augenblicke, die Eigentümer seiner Träume, vergegenwärtigte
-- sie hatte seinen Bruder gesucht, darum war sie erschrocken, ihm zu
begegnen, darum floh sie jedesmal, wenn sie ihn erkannte, wenn sie den
fand, den sie nicht suchte. Mit ihm sprach sie nicht; mit dem Bruder
konnte sie Viertelstunden lang scherzen.

Diese Gedanken bezeichneten Stunden, Tage, Wochen tiefinnersten
Schmerzes; aber das Vertrauen des Vetters, das durch Bewährung vergolten
werden mußte, die heilende Wirkung emsigen und bedachten Schaffens, die
Männlichkeit, zu der sein Wesen durch beides schon gereift war,
bewährten sich in dem Kampfe und gingen noch gekräftigter daraus hervor.

Ein späterer Brief, den er vom Bruder erhielt, meldete ihm, der alte
Walther, der des Mädchens Neigung entdeckt und der alte Herr im blauen
Rocke waren übereingekommen, der Bruder solle das Mädchen heiraten. Des
alten Herrn Soll war ein Muß, das wußte Apollonius so gut als der
Bruder. Des Mädchens Neigung hatte den Bruder gerührt; sie war schön und
brav; sollte er sich dem Willen des Vaters entgegensetzen um Apollonius
willen, um einer Liebe willen, die ohne Hoffnung war? Der Zustimmung
Apollonius im voraus gewiß, hatte er sich in die Schickung des Himmels
ergeben.

Die ganze erste Hälfte des folgenden Briefes, in welchem er seine Heirat
meldete, klang die fromme Stimmung nach. Nach vielen herzlichen
Trostesworten kam die Entschuldigung oder vielmehr Rechtfertigung, warum
der Bruder zwischen diesem und dem vorigen Briefe zwei Jahre lang nicht
geschrieben. Darauf eine Beschreibung seines häuslichen Glückes; ein
Mädchen und einen Knaben hatte ihm sein junges Weib geboren, das noch
mit der ganzen Glut ihrer Mädchenliebe an ihm hing. Der Vater war
unterdes von einem Augenübel befallen und immer unfähiger geworden, das
Geschäft nach seiner souveränen Weise allein zu leiten. Das hatte ihn
noch immer wunderlicher gemacht. Wenn er eine Zeitlang die Zügel ganz
den Händen des Sohnes überlassen, dann hatte ihn das alte Bedürfnis zu
herrschen, durch die Langeweile der gezwungenen Muße noch geschärft,
sich wieder aufraffen lassen. Nun kannte er die Sache, um die es sich
eben handelte (und an die er sich bisher nichts gekehrt) nur
unzureichend; und wenn er sie kannte, so war ihm darum zu tun, seinen
Willen als den herrschenden durchzusetzen. Und schon deshalb verwarf er
den Plan, nach dem der Sohn bisher gehandelt. Was bereits geschehen,
Arbeit und Auslage waren verloren. Dabei mußte er doch wieder den Sohn
zu Hilfe nehmen und die beste Darstellung des Verhaltes ersetzte dem
alten Herrn den Mangel der eigenen Anschauung nicht. Zuletzt mußte er
einsehen, daß die Sache auf seinem Wege nicht ging. Geld, Zeit und
Arbeitskraft war vergeudet und, was ihn noch tiefer traf, er hatte sich
bloßgegeben. Nach einigen dergestalt mißlungenen Versuchen, die Zügel
als blinder Fuhrmann wieder an sich zu reißen, hatte er sich von den
Geschäften zurückgezogen. Bloß als beratender Helfer sich einem andern
unterzuordnen und gar dem eigenen Sohne, der bis vor kurzem noch der
ungefragte und willenlose Vollzieher seiner Befehle gewesen, das war dem
alten Herrn unmöglich. Im Gärtchen fand er Beschäftigung; er konnte sich
neue machen, wenn ihm nicht genügte, was die Pflege des Gärtchens bis
jetzt seinen Besorgern von selbst abgefordert. Er konnte das Alte
entfernen, Neues ersinnen und wieder Neuerem Platz machen lassen, und er
tat es. Unumschränkt herrschend in dem kleinen grünen Reiche, in dem von
nun an kein Warum mehr laut werden durfte, wo neben dem Gesetze der
Natur nur noch ein einziges waltete, sein Wille, vergaß oder schien er
zu vergessen, daß er früher einen mächtigeren Zepter geführt.

Mehr aber als von dem Geschäfte und dem wunderlichen alten Herrn schrieb
der Bruder in seinen folgenden Briefen von den Festlichkeiten der
Schützengesellschaft der Vaterstadt und einem Bürgervereine, der
zusammengetreten war, sein Ergötzen von dem der niedriger stehenden
Schichten der Bevölkerung abzusondern. Aus allen den Beschreibungen von
Vogel- und Scheibenschießen, Konzerten und Bällen, als deren Mittelpunkt
er und seine junge Frau dastanden, lachte die höchste Befriedigung der
Eitelkeit des Briefstellers. Nur in einer Nachschrift war in dem letzten
Briefe des ernsteren Umstandes leicht Erwähnung getan, die Stadt wolle
eine Reparatur des Turm- und Kirchendaches zu Sankt Georg vornehmen
lassen und habe ihn mit Ausführung derselben betraut. Der im blauen
Rocke dringe in ihn, Apollonius aufzufordern, in die Vaterstadt und das
Geschäft zurückzukehren. Der Bruder war der Meinung, Apollonius werde
die ihm liebgewordenen Verhältnisse in Köln nicht um einer so
geringfügigen Ursache willen verlassen mögen. Die Reparatur werde mit
den vorhandenen Arbeitskräften in kurzer Zeit zu vollenden sein. Der
schadhaften Stellen an Turm- und Kirchendach seien nur wenige. Überdies
sehe er auch ab von dem Widerwillen seiner Frau gegen Apollonius, den er
seither so vergebens bekämpft, würde es diesem eine unnütze Quälerei
sein, alles das sich wieder aufzufrischen, was er froh sein müsse,
vergessen zu haben. Er werde leicht einen Vorwand finden, dem Gehorsam
gegen einen Befehl, den nur Wunderlichkeit eingegeben, auszuweichen. Den
Schluß des Briefes machte eine neckende Anspielung auf ein Verhältnis
unseres Helden mit der jüngsten Tochter des Vetters, von dem die
Vaterstadt voll sei. Der Bruder ließ sich ihr als seiner künftigen
Schwägerin empfehlen.

Wenn auch ein solches Verhältnis nicht bestand, Apollonius konnte sich
sagen, es lag nur an ihm, es in das Leben zu rufen. Der Vetter hatte
schon manchen Wink fallen lassen, der dahin zielte; und das Mädchen, von
dem die Rede war, hätte sich nicht gesträubt. Unser Apollonius war ein
Bursche geworden, den so leicht keine ausgeschlagen hätte, deren Herz
und Hand noch zu ihrer Verfügung stand. Die Gewohnheit, nach seinem
eigenen Ermessen zu handeln und über die Tätigkeit einer Anzahl
tüchtiger Arbeiter selbständig zu verfügen, hatte seinem Äußern Haltung,
seinem Benehmen Sicherheit gegeben. Und was von seiner frühern
Schüchternheit gegen Frauen und der Neigung, sich träumend in sich
selbst zu versenken, noch übrig geblieben war, erhöhte noch die sichere
Männlichkeit, deren Ausdruck es milderte.

Ja, er wußte, daß er des Vetters Schwiegersohn werden konnte, wenn er
wollte. Das Mädchen war hübsch, brav und ihm zugetan wie eine Schwester.
Aber nur als eine Schwester sah er sie an; es war ihm nie der Wunsch
gekommen, sie möchte ihm mehr sein. Die Neigung zu Christianen glaubte
er besiegt zu haben; er wußte nicht, daß doch nur sie es war, die
zwischen ihm und des Vetters Tochter stand und zwischen ihm und jeder
andern gestanden hätte. Als er erfuhr, Christiane liebte seinen Bruder,
hatte er die kleine Blechkapsel mit der Blume von der Brust genommen, wo
er sie seit jenem Abende trug, da er sie irrend als für ihn hingelegt
aufgehoben. Als Christiane seines Bruders Weib geworden war, packte er
die Kapsel mit der Blume ein und schickte sie dem Bruder. Wegwerfen
konnte er nicht, was ihm einmal teuer gewesen, aber besitzen durfte er
die Blume nicht mehr. Besitzen durfte sie nur der, für den sie bestimmt
gewesen, dem die Hand gehörte, die sie gegeben hatte.

Der Vater rief ihn zurück; er mußte gehorchen. Aber es war mehr als der
bloße Gehorsam in ihm lebendig. Er ging nicht nur; er ging gern. Des
Vaters Wort war ihm mehr Erlaubnis als Befehl. Wenn die Frühlingssonne
in ein Gemach dringt, das den Winter über unbewohnt und verschlossen
stand, dann sieht man, es war schlafendes Leben, was wie vertrocknete
Leichen auf der Diele lag. Nun regt es sich und dehnt sich und wird zur
summenden Wolke, und braust jubelnd hinein in den goldenen Strahl. Nicht
der Vater allein, jedes Haus der Vaterstadt, jeder Hügel, jeder Garten
darum, jeder darin rief ihn. Der Bruder, die Schwester -- diesen Namen
gab er Christianen -- riefen ihn. Er fühlte sich sicher, daß es nur die
Schwester war, die ihn zu ihr zog. Doch sie rief ihn ja nicht. Sie trug
einen Widerwillen gegen ihn, hatte ihm der Bruder geschrieben; einen
Widerwillen, so stark, daß sechs Jahre lang der Bruder vergeblich gegen
ihn gekämpft. Es war ihm, als müsse er schon deswegen heim, damit er ihr
zeigte, er verdiente ihren Widerwillen nicht, er sei wert, ihr Bruder zu
sein. Das schrieb er dem Bruder in dem Briefe, der seinen Gehorsam
meldete und den Tag angab, an dem der Bruder ihn erwarten sollte. Er
konnte ihn versichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht quälen
würden, daß die Sorge des Bruders unbegründet sei.

So war es gekommen, daß der Gedanke an sie keine von den alten
Hoffnungen erweckte. Als er von der Höhe herabsah, fragte er sich: wird
mir's gelingen, ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schwester ist?

Noch eine Weile stand er und sah hinab. Aber seine Haltung hatte sich
verändert und sein Blick war ein andrer geworden. In Gedanken hatte ich
die letzten sechs Jahre noch einmal durchlebt und war noch einmal aus
einem blöden, träumerischen Knaben zum Manne geworden. Als sein Blick
wieder auf den Turm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob sich die
Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine unsichtbar ihm
hingereichte zu drücken. Er schalt sich über sein kindisches Gaffen. Er
mußte sobald als möglich die Dinge in der Nähe sehen, um sich ein Urteil
zu bilden, was zu tun sei. Die Liebe zur Heimat war noch so stark in ihm
als je, aber es war nicht mehr die des Knaben, dem die Heimat eine
Mutter ist, die ihn hätschelnd in die Arme nimmt; es war die Liebe des
Mannes. Die Heimat war ihm ein Weib, ein Kind, für das es zu schaffen
ihn trieb.

                   *       *       *       *       *

Wer heute in das Haus hineinsehen konnte mit den grünen Fensterladen,
etwa eine Stunde vor Mittag, der merkte wohl, daß die Gedanken seiner
Bewohner nicht im gewöhnlichen alltäglichen Geleise gingen. Man konnte
es sehen an der Art, wie die Leute aufstanden und wie sie sich setzten,
wie sie die Türen öffneten und schlossen, wie sie Dinge anfaßten und
wieder wegstellten, mit denen sie weiter nichts taten, als sie nehmen
und wieder hinstellen, und offenbar auch weiter nichts tun wollten. Wer
sich besinnt, in welcher Gemütslage er am öftesten die Uhr aus der
Tasche zog, und noch ehe er sie wieder in die Tasche versenkt, schon
vergessen hatte, welche Zeit es sei, und sie wieder hervorholte, und da
er nicht wußte, warum er das getan, sie an das Ohr hielt, und ohne
gehört zu haben, ob sie noch ging oder nicht, den Uhrschlüssel suchte
und sie aufzog, vielleicht zum dritten Male in Zeit von einer Stunde:
der wird, falls er sich noch besinnen kann auf das, was er schon damals
nicht wußte, als er es tat, erraten können, was die Leute zu aller der
zwecklosen Tätigkeit verleitet. Auch der junge Herr, der eben zum
sechsten Male seit einer Stunde seine Uhr aufziehen will, ist so wenig
mit dem Bewußtsein bei diesem Geschäft, daß er es in der nächsten
Viertelstunde zum siebenten Male versuchen wird. Dann setzt er seine
wohlgenährte, kurze Gestalt auf den Stuhl am Fenster und ist ungewiß, ob
er hinaus auf die Straße sieht, oder ob er bei den Gedanken ist, die in
derselben zwecklosen Unruhe, die sein Äußeres zeigt, wie Wolkenschatten
an seinem Bewußtsein vorbeiflattern. Er sitzt in schwarzer
Sonntagskleidung einer jungen Frau gegenüber. Er hätte Zeit genug, zu
sehen, wie schön sie ist, wie anmutig ihr das zerstreute Wesen ansteht,
-- und es kleidet sie weit besser, als ihn. Zuweilen scheint er es auch
zu sehen, aber dann ist es, als wäre es ihm keine Freude. Dann werden
die Gedankenschatten auf seinem Gesichte tiefer und flattern nicht mehr
so schnell darüber hin. Er betrachtet die schönen Züge der jungen Frau
genauer, ja es ist, als ob er sie belauere, als ob er sich sorgenvoll
frage, ob sie den Ausdruck von Widerwillen, der über ihnen hängt,
behalten werde, bis -- und klingt dann zufällig ein stärkerer Tritt von
der Straße herein an sein Ohr, dann schrickt er auf, aber er vermeidet
ihre schönen, offenen Augen, die sie, vom Klange des Tritts geweckt,
nach ihm hin aufschlagen kann.

Im Gärtchen kann der alte Valentin einem ebenso alten Herrn im blauen
Rock nichts recht machen. Er ist zu aufgeregt und horcht und sieht viel
durch den Zaun nach der Straße, darüber tut er bald zu wenig, bald zu
viel; und der alte Herr schilt manchmal, scheint es auch nur, um seine
Bewegung zu verbergen. Die Hände zittern merklich, mit denen er
untersucht, ob die Buchsbaumeinfassung der kleinen Beete auch so
eigensinnig gleichmäßig geschoren ist, wie er sie geschoren haben würde,
besäße er noch das scharfe Auge von ehedem. Der alte Valentin müßte eine
Träne von den hohlen Backen wischen, wie es so oft geschieht, über die
Hilflosigkeit des alten Herrn und tausend Vergleiche zwischen sonst und
jetzt, die ihm der Anblick derselben herbeiruft; aber seine Augen und
seine Gedanken sind auf der Straße vor dem Zaun.

Hinten am Ende des Ganges neben der Tür des Schuppens sitzt auf einem
Haufen Schieferplatten ein ungemütlicher Gesell in Hemdärmeln. Der
Ausdruck seines Gesichts wechselt ohne sichtbaren äußeren Anlaß zwischen
widerwärtiger Zutulichkeit und tückischem Trotz. Er kramt, scheint es,
unter seinen Gesichtern, wie ein Mädchen in ihrem Schmuck. Er hält beide
bereit, um das rechte gleich bei der Hand zu haben. Er weiß noch nicht,
welches er brauchen wird.

Vorn durch den Spalt der wenig geöffneten Haustüre lauscht das
Dienstmädchen. Aber keine ihrer Bekannten geht vorbei. Bald wird sie auf
einen Vorwand sinnen, die erste beste vorüberwandelnde Gestalt
anzuhalten, nur um wie gelegentlich anzubringen, das Haus erwarte heute
seinen jüngeren Sohn aus der Fremde zurück. Einstweilen sagt sie es dem
alten Hunde, der, bemüht, die verschiedenen Gruppen durch sein Ab- und
Zugehen in Verbindung zu erhalten, eben bei ihr angekommen ist. Und
sogleich wendet er sich nach dem Hofe zurück, wie um weiter zu sagen,
was er vernommen. Der alte Hund ist von der Unruhe der Menschen
angesteckt. Ist doch jetzt die Stunde, die er an andern Tagen vor seiner
Hütte schlafend verbringt.

Die alte Gewohnheit scheint ihn zu mahnen, als er an seiner Hütte
vorbeilaufen will. Er legt sich daneben, aber er schließt die Augen
nicht; er scheint in tiefe Gedanken versunken. Denkt er sich die weite
Erde mit ihren Bergen und Tälern und Flüssen, mit ihren Städten und
Dörfern? Und von Ort zu Orte Straßen und auf jeder Straße Wanderer,
fortziehende und heimkehrende?

Wer ein scharfes Auge hätte, die Herzensfäden alle zu sehen, die sich
spinnen die Straßen entlang über Hügel und Tal, dunkle und helle, je
nachdem Hoffnung oder Entsagung an der Spule saß, ein traumhaftes
Gewebe! Manche reißen, helle dunkeln, dunkle werden hell; manche bleiben
ausgespannt, so lang die Herzen leben, aus denen sie gesponnen sind;
manche ziehen mit unentrinnbarer Gewalt zurück. Dann eilt des Wanderers
Seele vor ihm her und pocht schon an des Vaterhauses Tür und liegt an
warmen Herzen, an Wangen von Freudentränen feucht, in Armen, die ihn
drücken und umfangen und ihn nicht lassen wollen, während sein Fuß noch
weit davon auf fremdem Boden schreitet. Und steht er auf der Flur des
Vaterhauses, wie anders dann, wie anders oft ist sein Empfang, als er
geträumt! Wie anders sind die Menschen geworden! In einer Minute sagt er
zweimal: sie sind's, und zweimal: sie sind's nicht. Dann sucht er die
altbekannten lieben Stellen, die Häuser, den Fluß, die Berge, die das
Heimatstal umgürten; die müssen doch die alten geblieben sein. Aber auch
sie sind anders geworden. Oft sind es die Dinge, die Menschen, oft nur
das Auge, das sie wiedersieht. Die Zeit malt anders, als die Erinnerung.
Die Erinnerung glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu. Und
die, mit denen er in der Erinnerung immer zusammen war, in der
Wirklichkeit muß er sich erst wieder an sie gewöhnen.

Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas vergebens erwartete und
nicht wußte, daß es der Bruder war, der ihm entgegenkommen sollte? Ob
der Bruder fühlte, Apollonius müsse nach ihm aussehen, als er so schnell
von seinem Stuhle aufstand? Er hatte schon die Türklinke in der Hand. Er
ließ sie fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb, weil
er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augenblicks ersparen wollte, in
dem sie einander allein gegenüberstehen müßten? Sie mit dem Widerwillen
und er mit dem Bewußtsein jenes Widerwillens. Jetzt stieg die alte
Gestalt des Geschiedenen vor dem Bruder auf und es war, als befreite sie
ihn von schweren Sorgen. Es war die Wendung, mit der er sich sonst von
dem Gegenwärtigen abwandte, und dabei aussah, als sagte er zu sich: »der
Träumer«! und eine rasche Bewegung machte, wie um recht zu fühlen,
welch' ein andrer er sei, wie besser er sich auf das Leben verstehe und
die Art, »die lange Haare hat und Schürzen trägt«. Er musterte mit einem
beruhigten Blick in den Spiegel seine gedrungene Gestalt, sein volles,
rotes Gesicht, das tiefer in den Schultern stak, als er meinte,
wenigstens nicht tiefer, als er für schön hielt; er steckte die Hände in
die Beinkleidertaschen und klapperte mit dem Gelde darin. Er besann
sich, schon dem Gesellen am Schuppen gesagt zu haben: »Es bleibt beim
alten in der Arbeit. Du nimmst von niemand Befehle als von mir. Ich bin
Herr hier«. Und der hatte so eigen Zweideutig gelacht, als sagte er ein
lautes Ja zu dem Redenden, und zu sich: »ich lass' dich so reden, weil
ich es bin«. Fritz Nettenmair dachte: »lange wird er nicht bleiben,
dafür will ich schon tun«. Und über der Bewegung, die wiederum sagte:
»ich bin ein Kerl, der das Leben versteht,« fiel ihm der Ball ein, an
dem er das heute abend noch viel genugtuender empfinden wird, weil er es
in allen Augen lesen kann, was er ist, und kein andrer so außer ihm.

Seine junge Frau scheint ähnliches zu denken. Auch sie sieht in den
Spiegel; ihre Blicke begegnen sich darin. Die Ehe soll die Gatten sich
ähnlich machen. Hier traf die Bemerkung. Das Zusammenleben hatte hier
zwei Gesichter sich ähnlich gemacht, die unter andern Umständen sich
vielleicht ebenso unähnlich sehen würden. Und es hatte eigentlich nicht
beide einander ähnlich gemacht, sondern nur eins davon dem andern. Die
übereinstimmenden Züge, das konnte ein scharfes Auge sehen, waren nur
ihm eigen; er hatte nur gegeben, aber nicht empfangen. Und doch wäre es
umgekehrt besser gewesen für Beide, wenn er es auch nicht eingestehen
würde und sie es nicht fühlte, wenigstens in diesem Augenblicke nicht.
Vielleicht auch morgen und übermorgen noch nicht. Wieviel Zeit mag nötig
sein, wieviel Schmerzen wird sie zu Hilfe nehmen müssen, von einem
ursprünglich so schönen Menschenbilde abzuwaschen, womit die Gewohnheit
von Jahren es beschmutzt!

Die Tür flog auf, das hochgerötete Antlitz des Dienstmädchens erschien
in ihr. »Er kommt!« Wer in der Straße zufällig am Fenster steht, schaut
mit Wohlgefallen auf die frische, schlanke, männliche Gestalt herab, die
daher kommt, den Tornister auf dem Rücken, den Stock unter dem Arm. Denn
er hat keine Hand frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei
kleinere Knaben halten sich zugleich an seiner linken fest; ein Umstand,
der das Fortkommen nicht erleichtert. Die Nachbarn, die wußten, wer
erwartet wurde, füllen Fenster und Türen. Er hat nun nicht bloß den
unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch andern zu
antworten. Den Alten muß er auf Grüße und Scherzreden erwidern,
Schulkameraden zuwinken, vor errötenden Mädchengesichtern sich
verneigen. Den Hut kann er nicht abziehen; die Kinder geben seine Hände
nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es auch nicht; sie sehen, wie
unmöglich es ihm ist. Und wo er vorübergegangen, da sagt ein Winken
hinter ihm her: »er ist noch der alte, hübsche, bescheidene Junge,« und
ein gehobener Finger setzt hinzu: »aber er ist kein Junge mehr; er ist
ein Mann geworden, und was für einer!« Ist das Fenster geschlossen, wird
alles zu seinem Lobe laut, nur die Mädchen nicht, die reif genug waren,
sein Neigen mit unwillkürlichem Erröten zu erwidern; die sind stiller
als sonst, und die Sonne, die heut so viel heller scheint als an andern
Tagen, bringt die seltsamsten Wirkungen auf sie hervor. Zunächst einen
eignen Drang der Füße, in der Richtung nach den Fenstern sich zu
bewegen; dann ein ebenso wunderbar plötzliches Wiedererwachen längst
entschlafener Freundschaften, deren Gegenstände in der Nähe des
Nettenmairschen Hauses wohnen, und die man besuchen muß; endlich
merkwürdig oft wiederkehrenden Andrang des Blutes nach dem Kopfe, den
man für ein Erröten angesehen hätte, war nur irgendein Grund dazu
vorhanden.

Ob die Veränderung, die mit unserm Wanderer in der Fremde vorgegangen,
seinen Bruder ebenso erfreuen wird, als die Nachbarn?

Er ist an der Tür des Vaterhauses angekommen. Vergeblich hat er an den
Fenstern nach einem bekannten Antlitz gesucht. Jetzt kommt ein
untersetzter Herr im schwarzen Frack herausgestürzt. So hastig kommt er
gestürzt, so wild umschlingt er ihn, so fest drückt er ihn an seine
weiße Weste, so nahe drängt er Wange gegen Wange, so lange läßt er sie
da ruhen, daß man die Wahl hat, zu glauben, er liebt den Bruder
außerordentlich, oder -- er will sich nicht gern in die Augen sehen
lassen von ihm. Aber er muß ihn doch endlich einmal aus den Armen
lassen; er nimmt ihn unter den rechten und zieht ihn in die Türe.

»Schön, daß du kommst! herrlich, daß du kommst! Es war eigentlich nicht
nötig -- ein Einfall von dem im blauen Rock, und der hat nichts mehr zu
befehlen im Geschäft. Aber es ist wirklich schön von dir; es tut mir nur
leid, daß du deiner Braut die Augen rot machst.« Deiner Braut, das
sprach er so deutlich und mit so erhöhter Stimme, daß man es in der
Wohnstube vernehmen und verstehen konnte.

Der Ankömmling suchte mit feuchten Augen in des Bruders Angesicht, wie
um Zug für Zug durchzugehen, ob auch alles noch darin sei, was ihm so
lieb und teuer gewesen. Der Bruder tat nichts dazu, ihm das Geschäft zu
erleichtern. Was ihn auch hindern mochte; er sah nur, was sich zwischen
Apollonius Kinn und Fußspitzen befand. Er hatte vielleicht gedacht, sich
mit der alten Wendung auf den Fersen an die Spitze des Zuges zu stellen.
Aber nach dem wenigen, das er gesehen, paßte »der Träumer« nicht mehr,
und die Wendung unterblieb.

»Der Vater hat es haben wollen,« sagte der Ankömmling unbefangen. »Und
was du da von einer Braut sagst --«

Der Bruder unterbrach ihn; er lachte laut in seiner alten Weise, so daß
man, sprach Apollonius auch weiter, ihn nicht mehr verstanden hätte.
»Schon gut! Schon gut! Noch einmal, es ist prächtig, daß du uns
besuchst, und vierzehn Tage wenigstens wirst du festgehalten, magst du
wollen oder nicht. Kehr' dich nicht an die,« setzte er leiser hinzu, und
zeigte mit der Rechten durch die Türe, die er eben mit der Linken
öffnete.

Die junge Frau stand mit dem Rücken gegen die Tür an einem Schrank, in
welchem sie kramte. Verlegen und nicht eben freundlich wandte sie sich,
und nur nach dem Manne. Noch sah der Schwager nichts als einen Teil
ihrer rechten Wange und eine brennende Röte darauf. Was man sonst an
ihrem Benehmen auszusetzen fände, es zeigte sich darin eine
unverkennbare Ehrlichkeit, ein Unvermögen, sich anders zu geben, als sie
war. Sie stand da, als mache sie sich gefaßt, eine Beleidigung hören zu
müssen. Der Ankömmling ging auf sie zu und ergriff ihre Hand, die sie
ihm erst schien entziehen zu wollen und dann regungslos in der seinen
liegen ließ. Er freute sich, seine werte Schwägerin zu begrüßen. Er bat
ihr ab, daß er durch sein Kommen sie erzürne, und hoffte, durch
redliches Bemühen den unverkennbaren Widerwillen zu besiegen, den sie
gegen ihn trage ...

In so schonende und artige Wendung er Bitte und Hoffnung kleidete, er
sprach beide bloß in Gedanken aus. Daß alles so war, wie er es sich
gedacht, und doch wieder so ganz anders, nahm ihm Unbefangenheit und
Mut.

Der Bruder machte der peinlichen Pause -- denn seine Frau antwortete mit
keinem Laute -- ein willkommenes Ende. Er zeigte auf die Kinder. Sie
drängten sich noch immer, unbeirrt von allem, was die Erwachsenen
bedrängte und sie nicht bemerkten und verstanden, um den neuen Onkel;
und dieser war froh über den Anlaß, sich zu ihnen herabzubeugen und
tausenderlei Fragen beantworten zu müssen.

»Die Brut ist aufdringlich,« sagte der Bruder. Er zeigte auf die Kinder,
aber er sah verstohlen nach der Frau. »Bei alledem wundert's mich, wie
ihr bekannt geworden seid. Und so schnell vertraut,« fügte er hinzu. Er
mochte in Gedanken seine letzte Bemerkung weiterspinnen: »es scheint, du
verstehst schnell vertraut zu werden und zu machen.« Ein Schatten wie
von Besorgnis legte sich über sein rotes Gesicht. Aber den Kindern galt
diese Besorgnis nicht; er hätte sonst dabei nach den Kindern gesehen und
nicht nach seiner Frau.

Der Ankömmling sprach immer eifriger mit den Kindern. Er hatte die Frage
überhört, oder er wollte vor der zürnenden Frau nicht merken lassen,
wessen Bild er so lebendig in sich trage. Die Ähnlichkeit mit der Mutter
hatte ihn die Kleinen, die ihm zufällig begegnet, als seines Bruders
Kinder erkennen lassen. Die Frage aber, wie sie so schnell mit ihm
vertraut werden konnten, hätte man an den alten Valentin tun müssen. War
er es doch gewesen, der ihnen immer von dem Onkel erzählt, der bald zu
ihnen komme. Vielleicht nur, um mit jemand von dem sprechen zu können,
von dem er so gern sprach. Der Bruder und die Schwägerin wichen solchen
Gesprächen aus, und der alte Herr machte sich nicht so gemein mit dem
alten Gesellen, über Dinge mit ihm zu sprechen, die ihm den Vorwand
bieten konnten, in irgendeine Art Vertraulichkeit gegen ihn zu
verfallen. Der alte Valentin hätte auch sagen können, die Kinder waren
nicht zufällig dem Onkel begegnet. Sie waren gegangen, um ihn zu finden.
Der alte Valentin hatte daran gedacht, wie tausend Heimkehrenden die
harrende Liebe entgegeneilt; es hatte ihm weh getan, daß nur seinem
Liebling kein Gruß entgegenkäme, ehe er pochte an des Vaters Tür.

Apollonius verstummte plötzlich. Er erschrak, daß die Verlegenheit ihn
des Vaters vergessen gemacht. Der Bruder verstand seine Bewegung und
sagte erleichtert: »er ist im Gärtchen«. Apollonius sprang auf und eilte
hinaus.

Da unter seinen Beeten kauerte die Gestalt des alten Herrn. Er folgte
der Schere des alten Valentin, der auf den Knien vor ihm herrutschte,
noch immer mit den prüfenden Händen. Er fand manche Ungleichheit, die
der Geselle sofort entfernen mußte. Ein Wunder war es nicht. Der alte
Valentin dachte jede Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er so
dachte, fuhr die Schere quer in den Buchsbaum hinein. Und der alte Herr
würde noch anders gebrummt haben, hätte nicht derselbe Gedanke die Hand
unsicher gemacht, die nun sein Auge war.

Apollonius stand vor dem Vater und konnte vor Schmerz nicht sprechen. Er
hatte lang gewußt, der Vater war blind, er hatte sich ihn oft in
schmerzlichen Gedanken vorgemalt. Da war er gewesen wie sonst, nur mit
einem Schirm vor den Augen. Er hatte sich ihn sitzend oder auf den alten
Valentin sich lehnend gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt sah, die hohe
Gestalt hilflos wie ein Kind, die kauernde Stellung, die zitternd und
ungewiß vor sich hingreifenden Hände. Nun wußte er erst, was blind sein
heißt.

Valentin setzte die Schere ab und lachte oder weinte auf den Knien; man
konnte nicht sagen, was er tat. Der alte Herr neigte erst wie horchend
den Kopf auf die Seite, dann nahm er sich zusammen. Apollonius sah, der
Vater empfand seine Blindheit als etwas, des er sich schämen müsse. Er
sah, wie der alte Herr sich anstrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die
daran erinnern könnte, er sei blind. Er wußte nun erst, was bei dem
alten Mann, den er so sehr liebte, blind sein hieß! Der alte Herr ahnte,
daß der Ankömmling in seiner Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite?
Apollonius fühlte, der Vater empfand diese Ungewißheit mit Beschämung,
und zwang die versagende Brust zu dem Rufe: »Vater! lieber Vater!« Er
stürzte neben dem alten Herrn in die Knie und wollte beide Arme um ihn
schlagen. Der alte Herr machte eine Bewegung, die um Schonung zu bitten
schien, obgleich sie nur den Jüngling von ihm abhalten sollte. Der
schlug die zurückgewiesenen Arme um die eigene Brust, den Schmerz da
festzuhalten, der, über die Lippen gestiegen, dem Vater verraten hätte,
wie tief er dessen Elend empfand. Die gleiche Schonung ließ den alten
Valentin die unwillkürliche Bewegung, dem alten Herrn sich aufrichten zu
helfen, zu einem Griff nach der Schere machen, die zwischen ihm und
diesem lag. Auch er wollte dem Ankömmling verbergen, was nicht zu
verbergen war. So treu und tief hatte er sich in seinen alten Herrn
hineingelebt.

Der alte Herr hatte sich erhoben und reichte dem Sohne die Hand, etwa
als wäre dieser so viel Tage fortgewesen als er Jahre fortgewesen war.
»Du wirst müde sein und hungrig! Ich leide etwas an den Augen, aber es
hat nichts zu sagen. Wegen des Geschäftes rede mit dem Fritz. Ich hab's
aufgegeben. Ich will Ruhe haben. Aber das ist's eigentlich nicht; junge
Leute müssen auch einmal selbständig werden. Das gibt mehr Lust zum
Geschäft.«

Er trat dem Sohn einen Schritt näher. Es war wie ein Kampf in ihm. Er
wollte etwas sagen, das niemand hören sollte, als der Sohn. Aber er
schwieg. Ein Gedankenschatten von Mißtrauen und Furcht, sich etwas zu
vergeben, flog über sein steinernes Gesicht. Er winkte dem Sohn, zu
gehen. Aber er selbst blieb regungslos stehen, bis sein scharfes Ohr die
Tür der Wohnstube öffnen und schließen gehört. Dann ging er nach der
Laube, immer voll Anstrengung und scheinbarer Sorglosigkeit. Drinnen
stand er lang, mit dem Gesichte der grünen Hinterwand zugekehrt, und
schien die Ranken von Teufelszwirn, die diese bildeten, angelegentlich
zu mustern. Allerlei Gedanken zogen über seine Stirn. Es waren
sorgenvolle, seltener von Hoffnung angeschimmert, als von Argwohn
überdunkelt; und alle galten dem Geschäft und der Ehre des Hauses, um
das er vor allen, selbst vor den Gliedern dieses Hauses, sich nicht im
entferntesten zu kümmern den Anschein gab.

Warum er unterdrückt, was er dem Ankömmling sagen wollte? War es vom
Geschäft oder von der Ehre des Hauses? Und wußte oder ahnte er, der
anstatt seiner nun um beides zu sorgen hatte, stand an die Tür des
Gärtchens gelehnt und konnte hören, was er mit dem Ankömmling sprach,
und wenn er heimlich mit ihm sprach, wenigstens sehen, daß er dies tat?
War es der Grund, warum er Apollonius hatte zurückrufen lassen aus der
Fremde? Und schien ihm noch jetzt jedes Aussprechen eines Warum mit
seinem Ansehen unverträglich?

Es war ein wunderlich Beisammensein drinnen in der Wohnstube am
Mittagstisch. Der alte Herr saß, wie immer, allein auf seinem Stübchen.
Auch die Kinder waren entfernt worden und kamen erst nach dem Essen
wieder herein. Die junge Frau hielt sich mehr in der Küche oder sonst wo
draußen auf; und saß sie einmal wenige Minuten lang am Tisch, so war sie
stumm wie bei der Begrüßung; die grollende Wolke wich nicht von ihrer
Stirn. Der Bruder war des Vaters Zustand gewohnt, der Apollonius noch
mit erster Schärfe in das Herz schnitt; er erzählte nur von den
Wunderlichkeiten desselben; der im blauen Rock wisse selbst nicht, was
er wolle, und mache sich und allen im Hause ohne Not das Leben sauer.
Begann Apollonius von dem Geschäft, von der bevorstehenden Reparatur des
Kirchendachs von Sankt Georg, dann sprach der Bruder von Vergnügungen,
mit denen er sich freue, dem Bruder seinen Aufenthalt bei ihm angenehmer
zu machen, und gedachte dieses Aufenthalts stets als eines
vorübergehenden Besuches. Sagte der ihm, er sei nicht gekommen, sich zu
vergnügen, sondern zu arbeiten, dann lachte er wie über einen
unvergleichlichen Witz, daß Apollonius helfen wolle, nichts zu tun, und
zeigte, er verstehe Spaß, und wäre er auch noch so trocken vorgetragen.
Dann, war seine Frau hinausgegangen, forschte er nach dem Verhältnis
Apollonius zu der Tochter des Vetters und lachte dann wieder über den
Bruder Spaßvogel, in dem man den alten Träumer gar nicht wiedererkenne.

Nach Tisch kamen die Kinder wieder herein und mit ihnen mehr Leben und
Gemütlichkeit. Während Apollonius vor den alten Verhältnissen noch als
vor neuen und fremden stand, hatte das neue zu den Kleinen schon die
ganze Vertraulichkeit eines alten gewonnen. Den ganzen Nachmittag
beschäftigte den Bruder und, wie es schien, auch die Schwägerin, nur der
Ball. Der Bruder vergaß immer mehr, was ihm unbehaglich sein mochte,
über dem Eindruck, den er als Hauptperson bei dem Feste auf den
Ankömmling machen würde, und benutzte die Zeit bis zum Beginne
desselben, ihm durch Erzählungen und hingeworfene Winke von Ehre und
Aufmerksamkeit, die ihm bei solchen Gelegenheiten von den angesehensten
Bürgern erwiesen werde, einen Vorgeschmack zu geben. Er wurde zusehends
heiterer und schritt immer stolzer in der Stube hin und her. Das Knarren
seiner wohlgewichsten Stiefel sagte einstweilen, ehe es die Ballgäste
taten: »Ei, da ist er ja! da ist er ja!« und wenn er dazwischen mit
beiden Händen in den Hosentaschen mit Geld klapperte, klang es aus allen
Saalecken: »Nun wird's famos! Nun wird's famos!« Und dahin zwischen den
Bewillkommnenden -- aber schon ging er nicht mehr, er schwebte, er
schwamm auf der Musik -- jeder Tanz war eine Jubelouvertüre auf den
Namen Nettenmair -- er fühlte keinen Boden, keine Füße, keine Beine mehr
unter sich, kaum noch die junge Frau Nettenmair, die neben ihm schwamm,
an seiner rechten Floßfeder hängend, die Schönste unter den Schönen, wie
er der Jovialste unter den Jovialen, der Daumen an der Hand des Balles
war.

Und zwei Stunden darauf klang es wirklich von allen Seiten: »da ist er!«
rief es wirklich aus allen Ecken: »nun wird's famos!« Wo sie
vorbeikamen, wurden Stühle angeboten. Keine Hand wurde so oft und
anhaltend geschüttelt, als des jovialen Fritz Nettenmairs, keinem
Gesellschaftsmitgliede so viel ungeheucheltes Lob in die Ohren gegossen,
als ihm. Aber wie liebenswürdig war er auch! Wie herablassend nahm er
alle die verdienten Huldigungen auf. Wie witzig zeigte er sich; wie
gefällig lachte er. Und nicht allein über seine eigenen Späße -- denn
das war keine Kunst; sie waren so geistreich, daß er lachen mußte, wenn
er nicht wollte -- auch über andre, so wenig die es, gegen die seinen
gehalten, verdienten. Es gab freilich auch Leute, die sich wenig an ihn
kehrten, aber er bemerkte sie nicht, und die es deutlicher zeigten,
waren »Philister, Alltagskerle, unbedeutende Menschen«, wie er dem
Bruder mit verächtlichem Bedauern in das Ohr sagte. Es war ganz eigen;
man konnte an dem Grad ihrer Verehrung von Fritz Nettenmair ihre größere
oder geringere Bedeutung als Menschen und Bürger ganz genau ermessen. Da
stand er, den roten Kopf in den Schultern, die das ungeheuchelte Gefühl
seiner Wichtigkeit -- und seine eigene stille Meinung von sich war noch
ungeheuchelter als die laut ausgesprochene der bedeutendsten Leute im
Saale über ihn -- noch mehr als gewöhnlich in die Höhe gezogen, die Arme
bald in graziöser Eckigkeit an den Leib gedrückt, bald ausgestreckt, um
mit dem Stocke irgendeinem der bedeutendsten Leute eine klatschende
Liebkosung zu versetzen, die jederzeit mit einem dankbaren Lächeln
erwidert wurde.

Als der Tanz begann, zog Fritz Nettenmair den Bruder in eine Nebenstube.
»Du mußt tanzen,« sagte er. »Von meiner Frau würdest du einen Korb holen
und das wär' mir unangenehm. Ich will dir eine zuführen, die firm ist
und dich im Takt erhalten kann. Nur herzhaft, Junge, wenn's auch nicht
gleich gehen will.«

Fritz Nettenmair hatte in der Aufregung der Eitelkeit sechs Jahre
vergessen. Der Bruder war ihm noch der alte Träumer, den er zuweilen zu
seinem Vergnügen zu tanzen zwang. Als er nun, die Weigerung nicht
achtend, Apollonius das Mädchen zuführte, ergab sich dieser, um nicht
unhöflich zu erscheinen.

Herr Fritz Nettenmair war der gutmütigste Mensch von der Welt, solang er
sich als alleinigen Gegenstand der allgemeinen Bewunderung wußte. In
solcher Stimmung konnte er für diejenigen, die sein Glanz in den
Schatten stellte, Taten der Aufopferung tun. So auch jetzt. Wie er unter
den bedeutenden Leuten saß, die er mit Champagner traktierte, und in den
Augen seiner Frau die Befriedigung las, mit der sie ihn mit Ehren
überhäuft sah, kam die Empfindung über ihn, als habe er dem Bruder ein
großes Unrecht verziehen und er sei ein außerordentlich edler Mensch,
der alle die Ehrenbezeigungen verdiene und in wunderbarer
Anspruchlosigkeit sich dennoch herablasse, sich durch sie rühren zu
lassen. Eben tanzte Apollonius vorüber. Er sah, der war der alte Träumer
nicht mehr, aber er vergab ihm auch das. Alle Augen waren auf den
schönen Tänzer und seinen gewandten Anstand gerichtet. Fritz zog seine
Frau auf, und in der Gewißheit, wie sehr er den Bruder überglänzen
müsse, hatte er noch die Wollust, dem Bruder wer weiß wieviel Unrecht,
das ihm dieser nie zugefügt, zu verzeihen.

Aber der Undankbare! Er ließ sich nicht überglänzen. Fritz Nettenmair
tanzte jovial und wie einer, der die Welt kennt und mit der Art
umzugehen weiß, die lange Haare hat und Schürzen trägt; der Bruder war
ein steifes Bild dagegen. Der nickte den Takt nicht mit dem Kopfe, der
warf nicht, trat der linke Fuß im Niedertakte auf, den Oberleib auf die
rechte Seite und umgekehrt; der fuhr nicht mit kühner Genialität hin und
wieder quer über den Tanzsaal und stach andere Paare aus; der tanzte
durchaus weder jovial, noch wie einer, der die Welt kennt und mit der
Art umzugehen weiß, die lange Haare und Schürzen trägt; und dennoch
blieben alle Blicke auf ihm haften; und Fritz Nettenmair übertraf
vergeblich sich selbst.

Es war der ledernste Ball, den Fritz Nettenmair mitgemacht; er konnte
nicht lederner sein, war Fritz Nettenmair daheim geblieben. Fritz
Nettenmair versicherte es mit hohen Schwüren, und die bedeutenden Leute,
die seinen Champagner tranken, stimmten, wie immer, unbedingt in seine
Meinung ein.

Einige bedeutende Frauen sprachen gegen Frau Nettenmair ihre gerechte
freundschaftliche Entrüstung über den Schwager aus. Daß dieser nicht die
Schwägerin zuerst zum Tanze aufgezogen, bewies eine unverzeihliche
Mißachtung derselben. Frau Nettenmair, die das allgemeine Unrecht an
ihrem jovialen Gatten so tief fühlte, als wäre es ihr selber angetan,
sagte, der Schwager habe wohl gewußt, daß er sich nur einen Korb bei ihr
geholt hätte. Aber Apollonius wurde nur immer mehr bewundert und geehrt
und der Ball demzufolge nur immer noch lederner. So ledern, daß Fritz
Nettenmair mit seiner Frau zu einer Stunde aufbrach, wo er sonst erst
recht jovial zu werden anfing. Dennoch sammelte er feurige Kohlen auf
des undankbaren Bruders Haupt. Er bat in dessen Namen das Mädchen, dem
Bruder zu erlauben, daß er sie heimbegleiten dürfe. Dann ging er aus dem
Nebenstübchen wieder in den Saal zu seiner Frau und verließ mit dieser
unter der ungeheucheltsten Verzweiflung der bedeutenden Leute, die noch
Durst nach Champagner hatten, das Haus.

Apollonius fand, als er des aufgenötigten Ritterdienstes gegen seine
Dame sich entledigt, die Tür des Vaterhauses offen und alle seine
Bewohner schon im Schlafe. Wenigstens zeigte sich nirgends Licht, und
alles war still. Der Bruder hatte ihm das Kämmerchen links an der
Emporlaube zur Wohnung angewiesen. Zu Apollonius' Glück hatten die sechs
Jahre das Haus nicht verändert, wie seine Bewohner. Er ging leise durch
die Hintertür, an dem freundlich knurrenden Moldau vorbei, dem er voll
Dankbarkeit für das Zeichen seiner Beständigkeit den rauhen Hals
streichelte, stieg die Treppe herauf, schritt die Emporlaube entlang und
fand ein Bett in seinem Stübchen. Aber er saß noch lang, ehe er sich
entkleidete, auf dem Stuhl am Fenster und verglich, was er gefunden, mit
dem, was er verlassen.

Gedanken und Bilder des Vergleichs spielten noch in seine Träume hinein.
Der Vater stand wieder vor ihm und kündigte ihm an, er müsse noch morgen
nach Köln, und inmitten der Rede brach die rüstige Gestalt zusammen und
tappte hilflos mit zitternden Händen an der Erde herum und schämte sich
ihrer Blindheit. Der Bruder saß dabei und trank Champagner. Die
Schwägerin kam aus dem Hause, das liebliche, offene Gesicht voll
Zutraulichkeit und Aufrichtigkeit von sonst; die Blume, die sie vor
Apollonius hinlegen wollte, fiel aus ihrer Hand, als sie den Bruder
erblickte und der ihm neue, fremde Zug von Leerheit, gedankenloser,
eitler Vergnügungssucht, von grollender Bitterkeit gegen Apollonius
legte sich über sie wie ein schmutziges Spinnengewebe. Er wollte
arbeitend sich vergessen, aber der Bruder rüttelte an dem Fahrstuhl, daß
er fast hinunterstürzte aus der Schwindelhöhe auf das Pflaster und
sagte: ein Besuch für vierzehn Tage dürfe nicht arbeiten. Und sonderbar
war es, daß ihm jetzt Köln als seine Heimat erschien und seine
Vaterstadt so fremd, daß er sich die bittersten Vorwürfe machte in
seiner Gewissenhaftigkeit. Dann fand er sich wieder auf dem Fahrstuhl
hoch am Turmdach. Da war alles anders, als es sein sollte, die Schiefer
in verkehrter Richtung gedeckt, und nun stak er in die Ausfahrtür
eingeklemmt, ringsum in staubige Spinnengewebe eingewickelt; er hatte
seine Festtagskleider an; sie waren voll Schmutz; er wischte und
bürstete, daß er schwitzte, und sie wurden nicht rein.

Und so oft er von der vergeblichen Bemühung aufwachte, wiederholte er
sich laut den Entschluß, den er vor dem Niederlegen gefaßt. Am nächsten
Morgen mußte er wissen, was er hier sollte, mußte sein Verhältnis zum
Vaterhause ein klares sein. War keine Arbeit für ihn, so sah ihn der
Morgen noch auf seinem Rückwege nach Köln. --

Mit der Sonne war er auf; aber er mußte lange warten, bis es dem Bruder
gefiel, sich von seinem Lager zu erheben. Er benutzte die Zeit zu einem
Gange durch Sankt Georg; er wollte sich selbst überzeugen, was dort zu
tun sei. Als er wieder zurückkam, traf er auf seinen Bruder und einen
Herrn mit ihm, die eben im Begriffe waren, die Wohnstube zu verlassen.
Den Herrn kannte Apollonius noch von früher her als den Deputierten des
Stadtrats für das Baufach. Sie begrüßten sich. Sie hatten schon gestern
auf dem Balle sich gesprochen, wo der Herr sich eben nicht als ein
bedeutender Mensch und Bürger ausgewiesen, vielmehr zu den Philistern,
Alltagskerlen und Unbedeutenden gehalten hatte. Es schien ihm nicht
unlieb, Apollonius eben jetzt zu begegnen. Nach einigen hergebrachten
Wechselreden kam er auf den Zweck seines Hierseins. Es sollte diesen
Morgen noch eine letzte Beratung von Sachverständigen stattfinden über
das, was an Kirchen- und Turmdach zu tun sei, damit das Resultat
derselben noch bei der am Nachmittag stattfindenden Ratssitzung
vorgetragen und Beschluß gefaßt werden könne. Fritz Nettenmair und der
Ratsbauherr waren eben auf dem Wege nach Sankt Georg, wo sie die übrigen
Sachverständigen bereits versammelt wußten.

Der Bruder wollte seinen Besuch, wie er sagte, nicht mit der Teilnahme
an fremden Geschäften beschweren: ebensowenig mochte er ihn -- aber das
sagte er nicht -- allein daheim lassen. Er bestellte Apollonius nach dem
Waldhause, von wo er ihn zu einem Spaziergange abholen würde. Apollonius
versicherte ganz unbefangen, daß er lieber der Verhandlung beiwohnen
möchte, und als der Ratsbauherr ihn sogar als einen Sachverständigen
mehr zum Mitgehen aufforderte, war kein Vorwand zu finden, es zu
verhindern. Vielleicht hatte Fritz Nettenmair eine Ahnung davon, bald
werde er dem Ankömmling noch weit mehr zu verzeihen haben.

Sie fanden die übrige Versammlung, zwei fremde Schieferdeckermeister und
die städtischen Ratsbauleute, den Ratszimmermann, Maurer und Klempner an
der Turmtüre ihrer harrend. Man hatte bereits einige fliegende Rüstungen
zum Behufe der Untersuchung an dem Dache angebracht; auf dem
Kirchenboden, der größten davon zunächst, ging die Beratung vor sich.
Apollonius stand bescheiden einige Schritte entfernt, um zu hören und,
wenn er gefragt würde, auch zu reden. Er hatte das Dach vorhin genau
untersucht und sich eine Meinung von der Sache gebildet.

Die beiden fremden Schieferdecker sprachen sich für die Notwendigkeit
einer umfassenderen Reparatur aus. Fritz Nettenmair dagegen war
überzeugt, mit einigen kleinen Flickereien, die er angab, sei wiederum
für Jahre geholfen. Ihm stimmten die Ratsmeister, Zimmermann, Maurer und
Blechschmied eifrig bei; lauter joviale und bedeutende Männer vom
gestrigen Balle, die gewissenhaft schlossen, wessen Champagner man
trinke, dessen Meinung müsse man sein. Die fremden Schieferdecker wußten
recht gut, der Rat fürchtete die Kosten einer umfassenderen Reparatur
und verschob die höchst notwendige schon lange von Jahr zu Jahr. Da sie
obendrein selbst keine Aussicht hatten, sich die Reparatur übertragen zu
sehen, so gaben sie sich nicht unnütze Mühe, Herrn Fritz Nettenmair
Arbeit und Gewinn aufdringen zu helfen, woran ihm selber nichts gelegen
schien. Sie fanden daher im Laufe der Verhandlung immer mehr, daß, je
nachdem man die Sache ansehe, auch Herr Fritz Nettenmair recht habe.
Vielleicht begriff der Ratsbauherr, ein braver Mann, ihre, wie der
bedeutenden Leute Beweggründe. Er hatte mit unbefriedigtem Gesicht eine
Weile geschwiegen, als ihm Apollonius einfiel. Er sah in dessen Zügen
ein Etwas ausgedrückt, das seiner eigenen Meinung zu entsprechen schien:
»Und was sagen Sie?« wandte er sich zu ihm.

Apollonius trat bescheiden einen Schritt näher.

»Ich wünschte, Sie sähen sich die Sache so genau als möglich an,« sagte
der Ratsherr.

Apollonius entgegnete, er habe das bereits getan.

»Ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen,« fuhr der Ratsherr
fort, »wie wichtig die Sache ist.«

Apollonius verbeugte sich. Der Bauherr hielt zurück, was er noch sagen
wollte. Aus des jungen Mannes Angesicht sprach bei aller Weichheit und
Milde so strenge Gewissenhaftigkeit und eigensinnige Redlichkeit, daß
der Ratsherr sich der Ermahnung fast schämte, die er an ihn hatte
richten wollen.

Apollonius begann nun mit den Ergebnissen seiner vorhin angestellten
Untersuchung. Er stellte den Zustand der Stellen dar, die er hatte
prüfen können und was sich daraus auf die übrigen schließen ließ. Seit
achtzig Jahren hatte, das war aus den Kirchenrechnungen bekannt, das
Kirchendach keine umfassendere Reparatur erfahren. Wenn auch die
Schieferdecke bei gutem Material noch weit länger den Elementen trotzt,
ist das doch nicht mit den Nägeln der Fall, mit denen die
Schieferplatten auf Belattung und Verschalung aufgenagelt sind. Und wo
er geprüft, hatte er die Nägel zum Teil völlig zerstört, zum Teil der
völligen Zerstörung nahe gefunden. Das Kirchendach war ein sehr steiles
Pultdach; da die Nägel ihre Schuldigkeit nicht mehr taten, hatten sich
viele Platten verschoben und der Nässe das Eindringen gestattet; dort
zeigte sich, selbst wo sie von Eichenholz war, die Belattung und
Verschalung gänzlich morsch; und solche Stellen waren überall.

Es zeigte sich unumgänglich notwendig, die ganze Bedachung umzudecken
und die Belattung und Verschalung der morschen Stellen durch neue zu
ersetzen. Ein Winter noch mußte den Zustand um weit mehr verschlimmern,
als durch Verzögerung der Reparatur an Zinsen gespart wurde; denn diese
konnte man ohne den größten Schaden doch nur höchstens bis auf das
nächste Jahr hinausschieben. Er führte die Versammelten an Stellen, die
zum Belege dienen konnten. Er zog nicht selbst den Schluß, sondern wußte
mit der Kunst, die er von dem Vetter gelernt, die Gegner zu zwingen, das
für ihn zu tun.

Das Vertrauen und die Achtung des Ratsbauherrn vor unserem Apollonius
wuchs zusehends. Er wandte sich im weiteren Gespräch fast nur an ihn und
schüttelte ihm herzlich die Hand, als er die Versammlung verließ. Er
hoffte, Apollonius werde bei dem Werke, wenn es, wie er nun nicht mehr
zweifelte, die Genehmigung des Rats erhielt, sich tätig beteiligen, und
trug ihm auf, ein Gutachten abzufassen, auf welche Weise es am
zweckmäßigsten anzugreifen sei. Apollonius dankte bescheiden für das
Vertrauen, dem er würdig zu entsprechen suchen wolle. Über seine
Mittätigkeit bei der Arbeit selbst, entgegnete er, habe sein Vater als
Meister zu entscheiden.

»Ich gehe gleich mit Ihnen,« sagte der Ratsbauherr, »und spreche mit
ihm.«

Hatte gleich der Bruder das Geschäft bis jetzt geleitet und wurde er
auch von den bedeutenden Leuten als Meister anerkannt und behandelt, er
war es noch nicht. Der Alte hatte ihn so wenig Meister werden lassen,
als ihm das Geschäft förmlich übergeben; er wollte sich, wo er es nötig
fände, ein souveränes Einschreiten freihalten.

Der alte Herr hörte die Kommenden schon von weitem und tastete sich nach
der Bank in seiner Laube. Da saß er, als sie eintraten. Nach geschehener
Begrüßung fragte der Bauherr nach Herrn Nettenmairs Befinden.

»Ich danke Ihnen,« entgegnete der alte Herr; »ich leide etwas an den
Augen, aber es hat nichts zu sagen.« Er lächelte dazu und der Bauherr
wechselte mit Apollonius einen Blick, der dem Manne Apollonius ganze
Seele gewann. Dann erzählte er dem alten Herrn die ganze Beratung und
machte, daß Apollonius in seiner Bescheidenheit errötete und lange nicht
seine gewöhnliche Farbe wiederfand. Der alte Herr rückte seinen Schirm
tiefer in sein Gesicht, um niemand die Gedanken sehen zu lassen, die da
wunderlich miteinander kämpften.

Wer unter den Schirm sehen konnte, hätte gemeint, zuerst, der alte Herr
freute sich; der Schatten von Argwohn, mit dem er gestern Apollonius
empfing, schwindet. So braucht er doch nicht zu fürchten, der wird mit
dem Bruder gemeine Sache gegen ihn machen! Ja, es erschien ein Etwas auf
dem Antlitz, das sich zu schadenfreuen schien über die Demütigung des
Älteren. Vielleicht wäre er nach seiner Weise eingeschritten mit einem
lakonischen: »du versiehst meine Stelle von nun an, Apollonius, hörst
du?« hätte nicht der Bauherr dessen Lob gepriesen und wäre das nicht so
verdient gewesen.

»Ja,« sagte er in seiner diplomatischen Art, seine Gedanken dadurch zu
verbergen, daß er sie nur halb aussprach; »ja, die Jugend! er ist jung.«
-- »Und doch schon so tüchtig!« ergänzte der Bauherr.

Der alte Herr neigte seinen Kopf. Wer ein Interesse daran fand, wie der
Bauherr, konnte glauben, er nickte dazu. Aber er meinte: »die Jugend
gilt heutzutag in der Welt!« Ja, er fühlte Stolz, daß sein Sohn so
tüchtig, Scham, daß er selber blind, Freude, daß Fritz nun nicht mehr
konnte, wie er wollte, daß die Ehre des Hauses einen Wächter mehr
gewonnen, Furcht, die Tüchtigkeit, der er sich freute, mache ihn selbst
überflüssig. Und er konnte nichts dagegen tun; er konnte nichts mehr, er
war nichts mehr. Und als hätte Apollonius das ausgesprochen, erhob er
sich straff, wie um zu zeigen, jener triumphiere zu früh.

Der Bauherr bat, der alte Herr möge den Sohn für die Dauer der Reparatur
hier behalten und dabei tätig sein lassen. Der alte Herr schwieg eine
Weile, als warte er darauf, Apollonius solle sich des Dableibens
weigern. Dann schien er anzunehmen, Apollonius weigere sich, denn er
befahl in seiner grimmigen Kürze: »du bleibst; hörst du?«

Apollonius begab sich auf sein Stübchen, seine Sachen auszupacken. Er
war noch darüber, als die Nachricht kam, der Stadtrat habe die Reparatur
genehmigt.

So war es bestimmt: er blieb. Er durfte für die geliebte Heimat schaffen
und anwenden, was er in der Fremde gelernt.

Wer den ganzen Apollonius Nettenmair mit einem Blicke überschauen
wollte, mußte jetzt in sein Stübchen hineinsehen. Das Hauptziel aller
seiner Wünsche war erreicht. Er war voll Freude. Aber er sprang nicht
auf, rannte nicht in der Stube umher, er ließ nichts fallen, verlegte
nichts, suchte nicht im Koffer oder auf dem Stuhle, was er in den Händen
hielt. Die Freude verwirrte ihn nicht, sie machte ihn klarer, ja, sie
machte ihn eigensinniger. Kein Federchen, nicht ein Stäubchen auf den
Kleidern, die er auspackte, übersah er; er strich nicht einmal weniger,
als er gewohnt war, darüber hin; nur an der Art, wie er es tat, sah man,
was in ihm vorging. Es war zugleich ein Liebkosen der Dinge. Die Freude
über ein neugewonnenes Gut verdunkelte ihm keinen Augenblick, was er
schon besaß. Alles war ihm noch einmal geschenkt, und das Verhältnis zu
jedem seiner Besitzstücke zeigte das Gepräge einer liebenden und doch
rücksichtsvollen Achtung. Wenn er an das Lob des Bauherrn dachte, war
seine Freude darüber im einsamen Stübchen mit demselben bescheiden
abweisenden Erröten gepaart, womit er es in Gegenwart von andern
aufgenommen. Für ihn gab es kein Allein und kein vor den Leuten.

Als er sich eingerichtet sah, ging er sogleich an das verlangte
Gutachten. Die Reparatur war auf seinen Rat beschlossen worden, er war
nicht allein als seines Vaters Geselle, als bloßer Arbeiter dabei
beteiligt; er fühlte, er hatte noch eine besondere moralische
Verpflichtung gegen seine Vaterstadt eingegangen; er mußte tun, was in
seinen Kräften stand, ihr zu genügen. Er hätte keiner solchen Erweckung
bedurft; er hätte ohnedies getan, was er vermochte; er kannte sich zu
wenig, um das zu wissen.

In dieser erhöhten Stimmung erschien ihm leicht, was sein Dableiben von
seiten des Bruders und der Schwägerin unbehaglich zu machen drohte, zu
überwinden. Der Bruder wünschte sein Gehen ja nur um des Widerwillens
der Schwägerin willen, und der war durch Ausdauer redlichen Mühens zu
besiegen. Seinen Bruder hatte er nie beleidigt; er wollte sich ihm im
Geschäfte willig unterordnen. Er dachte nicht, daß man beleidigen kann,
ohne zu wissen und zu wollen, ja, daß die Pflicht gebieten könne, zu
beleidigen. Er dachte nicht, daß sein Bruder ihn beleidigt haben könnte.
Er wußte nicht, man könne auch den hassen, den man beleidigt, nicht bloß
den Beleidiger.

Unten am Schuppen stand der ungemütliche Geselle grinsend vor Fritz
Nettenmair und sagte: »Mit dem ersten Blick hab' ich einen weg. Ja, der
Herr Apollonius! Aber es hat nichts zu sagen. Wird nicht lang dauern
das!«

Fritz Nettenmair kaute an den Nägeln und übersah die Gebärde, die ihn
reizen sollte, zu fragen, wie der Gesell das meine mit dem nicht lang
dauern. Er ging nach der Wohnstube und fuhr im Gehen leise gegen einen
jemand auf, der nicht da war: »Rechtschaffenheit? Geschäftskenntnis, wie
der Alltagsbauratskerl sagt? Ich weiß, warum du dich aufdringst und
einnistest, du Federchensucher! du Staubwischer! Tu' unschuldig, wie du
willst, ich« -- er machte die Gebärde, die hieß: »Ich bin einer, der das
Leben kennt und die Art, die lange Haare und Schürzen trägt!« Damit
wandte er sich nach der Tür, aber die Wendung war nicht jovial wie
sonst. --

Wie mancher meint die Welt zu kennen und kennt nur sich!

Der Geist des Hauses mit den grünen Fensterladen wußte mehr als
Apollonius Nettenmair, wußte mehr als alle. Er schaute nachts durch das
Fenster, wo Apollonius bei der Lampe noch immer an seinem Gutachten
schrieb. Auf das Papier vor dem jungen Manne fiel sein bleicher
Schatten, und der Schreibende atmete schwer auf, er wußte nicht, warum.
Dann schritt er mit ängstlicher Gebärde den Gang zum Schuppen hin, und
der alte Hund an seiner Kette heulte im Schlafe und wußte nicht warum.
Die junge Frau sah seine Hand über des Gatten Stirne fahren; sie
erschrak, der Gatte erschrak mit und wußte nicht warum. Dem alten Herrn
träumte, man trüge einen Toten mit Schande in das Haus, und das alte
Haus knackte in allen seinen Balken und wußte nicht warum. Und der Geist
wandelte noch lange, als alles schon zu Bette war, durch seine Zimmer,
herauf und herab, her und hin, auf der Emporlaube, im Gärtchen, im
Schuppen und im Gang, und rang die bleichen Hände; er wußte, warum.

                   *       *       *       *       *

Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich. Tief unten das
lärmende Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben die Wanderer des
Himmels, die stillen Wolken in ihrem großen Gang. Monden-, jahre-,
jahrzehntelang hat es keine Bewohner, als der krächzenden Dohlen unruhig
flatternd Volk. Aber eines Tages öffnet sich in der Mitte der
Turmdachhöhe die enge Ausfahrtür; unsichtbare Hände schieben zwei
Rüststangen heraus. Dem Zuschauer von unten gemahnt es, sie wollen eine
Brücke von Strohhalmen in den Himmel bauen. Die Dohlen haben sich auf
Turmknopf und Wetterfahne geflüchtet und sehen herab und sträuben ihr
Gefieder vor Angst. Die Rüststangen stehen wenige Fuß heraus und die
unsichtbaren Hände lassen vom Schieben ab. Dafür beginnt ein Hämmern im
Herzen des Dachstuhls. Die schlafenden Eulen schrecken auf und taumeln
aus ihren Luken zackig in das offene Auge des Tages hinein. Die Dohlen
hören es mit Entsetzen; das Menschenkind unten auf der festen Erde
vernimmt es nicht, die Wolken oben am Himmel ziehen gleichmütig darüber
hin. Lang währt das Pochen, dann verstummt es. Und den Rüststangen nach
und quer auf ihnen liegend schieben sich zwei, drei kurze Bretter.
Hinter ihnen erscheint ein Menschenhaupt und ein paar rüstige Arme. Eine
Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit geschwungenem Hammer, bis
die Bretter fest aufgenagelt sind. Die fliegende Rüstung ist fertig. So
nennt sie ihr Baumeister, dem sie eine Brücke zum Himmel werden kann,
ohne daß er es begehrt. Auf die Rüstung baut sich nun die Leiter und,
ist das Turmdach sehr hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält sie zusammen,
als der eiserne Längehaken, nichts hält sie fest, als auf der Rüstung
vier Männerhände und oben die Helmstange, an der sie lehnt. Ist sie
einmal über der Ausfahrtür und an der Helmstange mit starken Tauen
angebunden, dann sieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr in
ihrem Besteigen, so weh dem schwindelnden Menschenkinde tief unten auf
der sichern Erde wird, wenn es heraufschaut und meint, die Leiter sei
aus leichten Spänen zusammengeleimt wie ein Weihnachtsspielwerk für
Kinder. Aber ehe er die Leiter angebunden hat und um das zu tun, muß er
erst einmal hinaufgestiegen sein -- mag er seine arme Seele Gott
befehlen. Dann ist er erst recht zwischen Himmel und Erde. Er weiß, die
leichteste Verschiebung der Leiter -- und ein einziger falscher Tritt
kann sie verschieben -- stürzt ihn rettungslos hinab in den sichern Tod.
Haltet den Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn erschrecken!

Die Zuschauer unten tief auf der Erde falten atemlos unwillkürlich die
Hände, die Dohlen, die der Steiger von ihrem letzten Zufluchtsorte
verscheucht, krächzen wildflatternd um sein Haupt; nur die Wolken am
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin. Nur die Wolken? Nein.
Der kühne Mann auf der Leiter geht so unberührt, wie sie. Er ist kein
eitler Wagling, der frevelnd von sich reden machen will; er geht seinen
gefährlichen Pfad in seinem Berufe. Er weiß, die Leiter ist fest; er
selbst hat das fliegende Gerüst gebaut, er weiß, es ist fest; er weiß,
sein Herz ist stark und sein Tritt ist sicher. Er sieht nicht hinab, wo
die Erde mit grünen Armen lockt, er sieht nicht hinauf, wo vom Zug der
Wolken am Himmel der tödliche Schwindel herabtaumeln kann auf sein
festes Auge. Die Mitte der Sprossen ist die Bahn seines Blickes und oben
steht er. Es gibt keinen Himmel und keine Erde für ihn, als die
Helmstange und die Leiter, die er mit seinem Tau zusammengeknüpft. Der
Knoten ist geschlungen; die Zuschauer atmen auf und rühmen auf allen
Straßen den kühnen Mann und sein Tun hoch oben zwischen Himmel und Erde.
Schieferdecker spielen die Kinder der Stadt eine ganze Woche lang.

Aber der kühne Mann beginnt nun erst sein Werk. Er holt ein anderes Tau
herauf und legt es als drehbaren Ring unter dem Turmknopf um die Stange.
Daran befestigt er den Flaschenzug mit drei Kloben, an den Flaschenzug
die Ringe seines Fahrzeugs. Ein Sitzbrett mit zwei Ausschnitten für die
herabhängenden Beine, hinten eine niedrige, gekrümmte Lehne, hüben und
drüben Schiefer-, Nagel- und Werkzeugkasten; zwischen den Ausschnitten
vorn das Haueisen, ein kleiner Ambos, darauf er mit dem Deckhammer die
Schiefer zurichtet, wie er sie eben braucht; dies Gerät, von vier
starken Tauen gehalten, die sich oberhalb in zwei Ringe für den Haken
des Flaschenzugs vereinigen, das ist der Hängestuhl, wie er es nennt,
das leichte Schiff, mit dem er hoch in der Luft das Turmdach umsegelt.
Mittels des Flaschenzugs zieht er sich mit leichter Mühe hinauf und läßt
sich herab, so hoch und tief er mag; der Ring oben dreht sich mit
Flaschenzug und Hängestuhl, nach welcher Seite er will, um den Turm. Ein
leichter Fußstoß gegen die Dachstühle setzt das Ganze in Schwung, den er
einhalten kann, wo es ihm gefällt. Bald bleibt kein Menschenkind mehr
unten stehen und sieht herauf; der Schieferdecker und sein Fahrzeug sind
nichts Neues mehr. Die Kinder greifen wieder zu ihren alten Spielen. Die
Dohlen gewöhnen sich an ihn; sie sehen ihn für einen Vogel an, wie sie
sind, nur größer, aber friedlich, wie sie; und die Wolken hoch am Himmel
haben sich nie um ihn gekümmert. Die Damen neiden ihm die Aussicht. Wer
konnte so frei über die grüne Ebene hinsehen und wie Berge hinter Bergen
hervorwachsen, erst grün, dann immer blauer, bis wo der Himmel, noch
blauer, sich auf die letzten stützt! Aber er kümmert sich so wenig um
die Berge, wie die Wolken sich um ihn. Tag für Tag hantiert er mit
Flickeisen und Klaue, Tag für Tag hämmert er Schiefer zurecht und Nägel
ein, bis er fertig ist mit hämmern und nageln. Eines Tages sind Mann,
Fahrzeug, Leiter und Rüstung verschwunden. Das Entfernen der Leiter ist
so gefährlich als ihre Befestigung, aber es faltet niemand unten die
Hände, kein Mund rühmt des Mannes Tat zwischen Himmel und Erde. Die
Krähen wundern sich eine ganze Woche lang, dann ist es, als hätten sie
vor Jahren von einem seltsamen Vogel geträumt. Tief unten lärmt noch das
Gewühl der Wanderer der Erde, hoch oben gehen noch die Wanderer des
Himmels, die stillen Wolken, ihren großen Gang, aber niemand mehr
umfliegt das steile Dach, als der Dohlen krächzender Schwarm.

Apollonius hatte zum Behufe seines Gutachtens noch manche Untersuchungen
angestellt. Das Turmdach war mit Metall gedeckt; diese Decke lag schon
nahe an zweihundert Jahre. Als er sie auf seinem Fahrzeuge umfuhr, fand
er die Metallplatten der völligen Auflösung nah. Das hatte man
gefürchtet. Bleideckung auf hohen Gebäuden kommt ungleich teurer als
Deckung mit Schiefer, wenn man diesen in der Nähe hat. Den
Schieferbedarf nimmt der Decker in seinem Fahrzeug mit hinauf, das kann
er mit den ungleich schwereren Bleiplatten nicht. Die ganze Deckung mit
Schiefer besorgt der Arbeiter von seinem Fahrzeuge aus; Bleideckung
macht feste Gerüste nötig. Apollonius tat den Vorschlag, auch das
Turmdach mit Schiefer einzudecken. Der Blechschmied, ein Bedeutender,
wandte zwar ein, die Alten hätten die Sache so gut verstanden, als die
Leute in Köln, -- das sollte ein Stich auf Apollonius sein. Und der
Bruder war damit einverstanden: hätten die Alten gemeint, Schiefer tue
es so gut als Blei, sie hätten gleich Schiefer genommen. Damals waren
eben noch keine Schiefergruben in nächster Nähe vorhanden; der Schiefer
hätte weit hergeholt und so die Schieferdeckung teurer kommen müssen als
die mit Blei. Das Kirchendach war damals mit Ziegeln und erst später, da
die Schiefergruben in der Nähe schon im Gang, mit Schiefer gedeckt
worden. Das wußten der Blechschmied und Fritz Nettenmair nicht oder
wollten es nicht wissen. Den letzteren drückte das wachsende Ansehen des
Bruders. Aber Apollonius wußte es und konnte damit den Einwurf
entkräften.

Sein Vorschlag war angenommen worden. Man wollte die ganze Leitung der
Reparatur in Apollonius Hände legen. Um seinen Bruder nicht zu kränken,
bat er, davon abzusehen. So wenig wollte er den Bruder kränken, daß er
nicht einmal aussprach, warum er so bitte. Er war von Köln her gewöhnt,
selbständig zu handeln; wie er seinen Bruder wiedergefunden hatte, sah
er manche Hemmung durch ihn voraus. Er wußte es, er lud sich eine
schwere Last auf, als er dem Bauherrn versprach, die Sache solle unter
dem zweiköpfigen Regiment nicht leiden. Der wackere Bauherr, der
Apollonius erriet und ihn darum nur mehr achtete, schaffte ihm die
Genehmigung des Rats und nahm sich im stillen vor, wo es nötig sein
sollte, seinen Liebling und dessen Anordnungen gegen den Bruder zu
vertreten.

Es war eine schwere Aufgabe, die Apollonius sich gesetzt; sie war noch
viel schwerer, als er wußte. Sein Hiersein hatte den Bruder von Anfang
nicht gefreut; Apollonius schob das auf den Einfluß der Schwägerin; er
war ihm seitdem noch fremder geworden -- kein Wunder! Apollonius hatte
ja bereits des Bruders Eitelkeit und Ehrsucht kennen gelernt; dieser
fühlte sich durch das, was seither geschehen, gegen Apollonius
zurückgesetzt. Den Widerwillen der Schwägerin meinte Apollonius durch
Zeit und redliches Mühen, die gekränkte Ehrsucht des Bruders durch
äußere Unterordnung zu versöhnen. War kein weiteres Hindernis vorhanden,
durfte er hoffen, die Aufgabe, so schwer sie schien, zu lösen. Aber was
zwischen ihm und dem Bruder stand, war ein anderes, ein ganz anderes,
als er meinte. Und daß er es nicht kannte, machte es nur gefährlicher.
Es war ein Argwohn, aus dem Bewußtsein einer Schuld geboren. Was er tat,
die vermeinten Hindernisse aus dem Weg zu räumen, mußte das wirkliche
nur wachsen machen.

Wäre er nicht zurückgekommen! hätte er dem Vater nicht gehorcht! wäre er
draußen geblieben in der Fremde!

An der Turmspitze hängt das Fahrzeug; nun wird es auch auf dem
Kirchendach lebendig. Rüstige Hände hämmern den Seilhaken in die
Verschalung und schleifen mit starkem Tau den Dachstuhl daran. Er
besteht in zwei Dreiecken, aus festen Bohlen zusammengezimmert. Der
Neigungswinkel des Daches hat das Verhältnis seiner Seiten bestimmt.
Denn unten liegt er strohumwunden in ganzer Breite auf der Dachfläche
auf, während er oben die quer übergelegten Bretter wagrecht emporhält.
Darauf steht oder kniet der hämmernde Schieferdecker; neben ihm
handrecht hängt der Kasten für Nägel und Schieferplatten, mit seiner
Hakenspitze in die Verschalung eingetrieben.

Apollonius überließ dem Bruder die Überweisung der Arbeit. Fritz
Nettenmair tat erst wunderlich, indem er zu verstehen gab, er meine,
Apollonius sei gekommen, hier den Herrn zu spielen und nicht den Diener.
Es lag in der argwöhnischen Richtung, die sein Denken einmal angenommen,
allem, was der Bruder tun mochte, eine Absicht, eine planmäßige
Berechnung unterzulegen. Er vermutete deshalb, Apollonius wünsche die
Arbeit auf dem Kirchdach zu übernehmen. Wer hier schaffte, konnte zu
jeder Zeit sehen, ob das Fahrzeug am Turmdach besetzt war oder ledig an
der fliegenden Rüstung hing. Er tat arglos, er nehme an, Apollonius sei
lieber bei der Umdeckung des Turmdaches beschäftigt, die er ja selber
vorgeschlagen. Apollonius weigerte sich nicht. Fritz meinte, er willige
ein, obgleich es ihm unangenehm sei, was er aber nicht merken lasse;
Fritz hatte die Empfindung eines Menschen, dem es gelungen, einen
Widersacher zu überlisten. Eine Empfindung, die sich erneute, so oft er
von seiner Arbeit auf dem Dachstuhle hinaufsah nach dem Fahrzeug der
fliegenden Rüstung am Turm, mit der Gewißheit, der Bruder könne das
Fahrzeug nicht verlassen und heimgehen, ohne daß er es sehe und ihm
zuvorkommen könne. Dann war ihm Apollonius der Träumer und er selbst war
der, der die Welt kannte. Im andern Augenblick vielleicht sah er wieder
den Arglistigen im Bruder und fand es wohltuend, sich dagegen als den
Arglosen zu bemitleiden, dem jener Schlingen lege, um nur den Bruder
hassen zu dürfen, der ihn hasse. Ihm fehlte das Klarheitsbedürfnis
Apollonius', das diesem den Widerspruch gezeigt und den erkannten zu
tilgen gezwungen hätte. Vielleicht hatte er ein Gefühl von dem
Widerspruch und unterdrückte es absichtlich. So setzte sein
Schuldbewußtsein den Haß als wirklich voraus, den es verdient zu haben
sich vorwerfen mußte.

Bald merkte Apollonius, hier war nicht die Ordnung, das rasche und genau
berechnete Ineinandergreifen, an das er in Köln sich gewöhnt, ja nur,
wie es der Vater früher hier gehandhabt. Der Decker mußte
viertelstundenlang und länger auf die Schieferplatten warten; die
Handlanger leierten und hatten in der Unordnung und Trägheit der Behauer
und Sortierer eine gute Entschuldigung. Der Bruder lachte halb mitleidig
über Apollonius Klage. Eine solche Ordnung, wie der sie verlangte,
existiere nirgends und war auch nicht möglich. Bei sich verspottete er
wieder den Träumer, der so unpraktisch war. Und wäre die Ordnung möglich
gewesen, die Arbeit war im Taglohn verdungen. Die verlorene Zeit wurde
bezahlt wie die angewandte. Und als Apollonius selbst dazu tat, den
Schlendrian abzustellen, da war er dem Bruder wiederum der Wohldiener
des Bauherrn und des Rates, er selber der schlichte Mann, der solche
Kunstgriffe verschmäht. Da wollte ihn jener nur vollends aus dem Sattel
heben und hatte noch Schlimmeres im Sinn, was ihm aber nicht gelingen
sollte mit aller seiner Arglist; da war Apollonius eigens darum
heimgekommen. Und doch meinte er, der Träumer werde sich die Hörner
ablaufen, wenn er ins Werk setzen wollte, was ihm selbst, der die Welt
kannte, nicht gelang. Ihm, der schärfer auf dem Zeuge war als selbst der
im blauen Rock zu seiner Zeit gewesen.

Fritz Nettenmair meinte den alten Herrn noch zu übertreffen, wenn er
noch schriller auf dem Finger pfiff, noch grimmiger hustete und noch
entschiedener ausspuckte. Was an dem alten Herrn das wirklich
respektgebietende war, die Folgerichtigkeit, die auch, wo sie in
Eigensinn ausartet, Achtung wirkt, die ruhige, in sich gefaßte Würde
einer tüchtigen Persönlichkeit, das übersah er. Wie er es selbst nicht
besaß, fehlte ihm auch der Sinn, es an andern wahrzunehmen. Stand seine
Gestalt überhaupt im Widerspruch mit der Haltung des alten Herrn, die er
ihr aufkünstelte, so widersprach ihr seine Unruhe und innere
Haltlosigkeit jeden Augenblick. Die diplomatische Art zu reden schien er
dem alten Herrn nur abgeborgt zu haben, um seine eigene
Oberflächlichkeit und Gehaltlosigkeit zu verspotten. Aus dem steifen
Wesen des blauen Rockes fiel er dann zu Zeiten plötzlich in seine eigene
herablassende Jovialität und in eine Region derselben, wo der Spaß den
Abstand von Vorgesetzten und Untergebenen mit schmutzigen Fingern
auslöschte, als wäre er nie gewesen. Rückte er sich dann ebenso
plötzlich in der Autorität gewaltsam wieder zurecht, so brachte das die
verlorene Achtung nicht wieder, es beleidigte nur. Zu alledem kam noch,
daß er sich von manchem Arbeiter übersehen und in schwierigen Fällen sie
machen lassen mußte, was sie wollten.

Apollonius dagegen hatte von Natur und aus der Schule beim Vetter, was
dem Bruder fehlte; er besaß die Würde der Persönlichkeit, die
Folgerichtigkeit bis zum Eigensinn. Seine innere Sicherheit galt; sie
mußte sich nicht geltend machen -- er war des sichtbaren Mühens um
Achtung überhoben, welches so selten seinen Zweck erreicht, ja
gemeiniglich ihn verfehlt. Und so gelang ihm, was er wollte. Bald war
die musterhafteste Ordnung beim Bau und alle schienen sich wohl dabei zu
befinden, nur Fritz Nettenmair nicht. Das rasche Ineinandergreifen, das
wie im Geleise einer unsichtbaren Notwendigkeit ging, machte das Wesen
im blauen Rocke, in welchem er sich so groß fühlte, überflüssig. Noch
ein Grund zum Unbehagen daran war, daß die neue Ordnung von dem Bruder
ausging; von demselben, dem er schon so viel zu verzeihen hatte und dem
er immer weniger verzeihen mochte. Er wußte nicht, oder wollte nicht
wissen, welchen Zauber eine geschlossene Persönlichkeit ausübt, obgleich
er selbst widerwillig sie anerkennen mußte, und noch weniger, daß diese
ihm fehlte und der Bruder sie besaß. Er war bei sich einig, der Bruder
hatte Mittel angewandt, die zu brauchen er selbst mit Genugtuung sich zu
edel fühlte. Dadurch hatte jener die Leute ihm abspenstig gemacht.
Apollonius hatte keine Ahnung von dem, was in dem Bruder vorging; der
war gegen ihn, wie man gegen Arglistige sein muß, auf der Hut; denn
solche Feinde kann man nur mit ihren eigenen Waffen besiegen. Die
brüderliche Freundlichkeit und Achtung, mit der ihn Apollonius
behandelte, war eine Maske, unter der dieser seine schlimmen Pläne
sicherer zu bergen meinte; er vergalt ihm, und machte ihn leichter
unschädlich, wenn er unter derselben Maske seine Wachsamkeit barg. Die
gutmütige Willigkeit Apollonius', sich ihm äußerlich unterzuordnen,
erschien dem Bruder wie eine Verhöhnung, an der die Arbeiter, von dem
Arglistigen gewonnen, wissend teilnahmen. In seiner Empfindlichkeit
griff er selbst nach den Mitteln, die er bei diesem voraussetzte. Offen
ihm entgegenzutreten, verhinderte der Umstand, daß Apollonius ihm selbst
imponierte, wenn er auch diesen Grund nicht hätte gelten lassen. Er
legte den blauen Donnerrock beiseite und stieg bis auf die unterste
Sprosse seiner Jovialität herab. Er begann, durch Winke, dann allmählich
durch Worte, sein Mitleid mit den Arbeitern zu zeigen, die unter der
Tyrannei eines wohldienerischen Eindringlings seufzten, wie er ihnen
bewies; da er nicht den Mut hatte, sie zu offener Widersetzlichkeit zu
reizen, suchte er sie zu einzelnen kleinen Ausgriffen zu verleiten. Er
begann, sie täglich zu traktieren. Sie aßen und tranken, blieben aber
wie zuvor in dem Geleise, das Apollonius vorgezeichnet.

Der gemeine Mann hat den scharfen Blick des Kindes für die Stärken und
Schwächen seiner Vorgesetzten. Durch dies Bemühen, das sie
durchschauten, verlor Fritz Nettenmair noch den letzten Rest seiner
Achtung; sie lernten daraus, wenn sie es noch nicht wußten, mit wem sie
es verderben durften, mit wem nicht. Und wären sie ungewiß gewesen, so
hätte sie das ungleiche Benehmen des Bauherrn gegen die beiden Brüder
bestimmen können. Und da sie nicht so fein waren, und auch nicht die
Gründe dazu hatten, wie Fritz Nettenmair, gab sich ihre Meinung
unverholen kund. Sie nahmen sich Dinge gegen ihn heraus, die ihm
zeigten, daß der Erfolg seiner Herablassung ein ganz anderer war, als
den er beabsichtigte. Nun zog er zürnend die Wolke des blauen Rockes
wieder um sich zusammen, pfiff schrillender als je, so daß es drüben in
der großen Glocke wiedertönte; ging auf doppelten Stelzen, zog die
Schultern noch einmal so hoch am schwarzhaarigen Kopfe herauf; der Grimm
und die Entschiedenheit seines früheren Hustens und Ausspuckens war ein
Kinderspiel gegen sein jetziges. Aber die Arbeiter wußten bald,
dergleichen geschah nur in Apollonius Abwesenheit, und dessen zufälliges
Kommen brachte, wie der aufgehende Vollmond, die schwersten Gewitter aus
der Fassung.

Fritz Nettenmair mußte an der Wiederherstellung seiner verlorenen
Bedeutung auf dem Schauplatz der Reparatur verzweifeln. Natürlich
schrieb er auch das Ergebnis seiner falschen Maßregeln auf Apollonius'
immer wachsende Rechnung. Das Gefühl, überflüssig zu sein, packte ihn,
wie den alten Herrn, brachte aber nicht ganz dieselben Wirkungen hervor.
Was dem alten Herrn das Gärtchen, das wurde nun dem älteren Sohne der
Schieferschuppen. Wenigstens so lange er Apollonius auf seinem Fahrzeug
oder auf dem Kirchendache sah. Aber er brachte den blauen Rock nun auch
mit in die Wohnstube. Seine Kinder -- das war leicht, da er selbst sich
nicht um sie bekümmerte, -- hatte der Bruder ja auch -- und natürlich
mit schlechten Mitteln -- gewonnen. Die schlechten Mittel waren eben
die, die er selbst nie anwendete: unabsichtliche Güte und weise Strenge
der Liebe. Aber auch in seiner Frau sah er immer mehr etwas wie einen
natürlichen Bundesgenossen des Bruders gegen ihn. Das sah er lange
vorher, ehe er noch den geringsten wirklichen Anlaß dazu hatte, und das
war der Schatten, den seine Schuld in die Zukunft seiner Phantasie warf.
Ihr altes Gesetz wird ihn zwingen, durch die Verkehrtheit seiner
Abwehrmittel den Schatten selber zu verwirklichen, lebendigen Gestalt zu
machen und vergeltend in sein Leben hereinzustellen.

Ahnungsvolle Furcht schien ihm, in lichten Zwischenblicken
vorüberflatternd, von diesem Kommen zu sagen, das veränderte Benehmen
gegen seine Frau müsse es beschleunigen. Dann war er plötzlich doppelt
freundlich und jovial gegen sie, aber auch diese Jovialität trug ein
Etwas von der Natur des schwülen Bodens an sich, aus dem sie erwuchs.

Man preist ein Heilmittel gegen solche Krankheit; es heißt Zerstreuung,
Vergessen seiner selbst. Als ob der Steuermann beim Erblicken des
drohenden Riffs, als ob man da sich vergessen müsse, wo es doppelt
Vorsehen gilt. Fritz Nettenmair nahm es.

Von nun an fehlte er bei keinem Balle, bei keinem öffentlichen
Vergnügen; er empfand sich für immer der Gefahr entflohen, war er nur
eine Stunde lang fern von dem Orte, wo er sie drohen sah. Er war mehr
außer als in seinem Haus. Und nicht er allein. Seiner Frau hielt er das
Heilmittel noch nötiger als ihm. Das rächende Schuldbewußtsein nahm, was
nur als möglich in der Zukunft war, als schon wirklich in die Gegenwart
voraus. Und seine Frau stand noch so sehr auf seiner Seite, daß sie dem
Bruder nun zürnte, dessen Einfluß sie in dem veränderten Benehmen des
Gatten erkannte, -- nur nicht in dem Sinne, in dem er es wirklich war.
Sie hatte ja nur Beleidigendes von dem Bruder erwartet. Diese Erwartung
hatte schon dem Kommenden nur die eine Wange zugewandt und die Wange so
mit Rot gefärbt, als wäre sie schon erfüllt. Wußte sie denn nicht, er
war nur gekommen, um sie zu beleidigen?

Apollonius, auf den dies alles wie eine schwere Wolke drückte, wie eine
unverstandene Ahnung, begriff nur das eine: der Bruder und die
Schwägerin wichen ihm aus. Er vermied die Orte, die sie aufsuchten. Er
hätte sie schon vermieden aus dem innersten Bedürfnis seiner Natur, das
auf Zusammenfassen, nicht auf Zerstreuen ging. Die Einsamkeit wurde ihm
ein besser Heilmittel, als den beiden die Zerstreuung. Er sah, wie
anders die Schwägerin war, als sie ihm vordem geschienen. Er mußte sich
Glück wünschen, daß seine süßesten Hoffnungen sich nicht erfüllt. Die
Arbeit gab ihm genug Empfinden seiner selbst; was sie frei ließ, füllten
die Kinder aus. In dem natürlichen Bedürfnis ihres Alters, sich an einem
fertigen Menschenbilde aufzuranken, das, Liebe gebend und nehmend, ihr
Muster wird, und ihr Maß der Personen und Dinge, drängten sie sich um
den Onkel, der ihrer so freundlich pflegte, als fremd die Eltern sie
vernachlässigten. Wie konnte er wissen, daß er damit die Schuld wachsen
machte in seiner Rechnung beim Bruder.

Und der alte Herr im blauen Rock? Hatte er von den Wolken, die sich
rings aufballten um sein Haus, in seiner Blindheit keine Ahnung? Oder
war sie es, was ihn zuweilen anfaßte, wenn er, Apollonius begegnend,
gleichgültige Worte mit ihm wechselte. Dann kämpften zwei Mächte auf
seiner Stirn, die der Sohn vor dem Augenschirm nicht sah. Er will etwas
fragen, aber er fragt nicht. Der alte Herr hat sich so tief in die Wolke
eingesponnen, daß kein Weg mehr von ihm herausführt in die Welt um ihn
und keiner mehr hinein. Er gibt sich das Ansehen, als wisse er um alles.
Tut er anders, so zeigt er der Welt seine Hilflosigkeit und fordert die
Welt selber auf, sie zu mißbrauchen. Und wenn er fragt, wird man ihm die
Wahrheit sagen? Nein! Er hält die Welt so verstockt gegen ihn, als er
gegen sie ist. Er fragt nicht. Er lauscht, wo er weiß, man sieht ihn
nicht lauschen, fieberisch gespannt auf jeden Laut. Aus jedem hört er
etwas heraus, was nicht drin ist; seine gespannte Phantasie baut Felsen
daraus, die ihm die Brust zerdrücken, aber er fragt nicht. Er träumt von
nichts als von Dingen, die Schande bringen über ihn und sein Haus; er
leert die ganze Rüstkammer der Entehrung und fühlt jede Schmach durch,
die die Welt kennt. Was keine Schande ist, steigert sich seinem
krankhaft geschärften Ehrgefühl dazu, das keine Ruhe wohltätig
abstumpft, aber er trägt lieber, was die tiefste Schande ist, als daß er
fragt. Er tut das Ungeheure in Gedanken, die drohende abzuwenden, aber
er fragt nicht. Wie manches Tun zeigt ungeboren schon der Mutter Seele
sein Bild vorher! Wird eine Zeit kommen, wo des alten Herrn Gedanke
Wirklichkeit wird?

Die Natur der Schuld ist, daß sie nicht allein ihren Urheber in neue
Schuld verstrickt. Sie hat eine Zaubergewalt, alle, die um ihn stehen,
in ihren gärenden Kreis zu ziehen, und zu reifen in ihm, was schlimm
ist, zu neuer Schuld. Wohl dem, der sich dieser Zauberkraft im
unbefleckten Innern erwehrt. Wird er den Schuldigen selbst nicht retten,
so kann er den übrigen ein Engel sein. Diese vier Menschen, in all'
ihrer Verschiedenheit in einen Lebensknoten geknüpft, den eine Schuld
versehrt! Welch Schicksal werden sie vereint sich spinnen, die Leute in
dem Haus mit den grünen Läden?

                   *       *       *       *       *

Nun waren schon Wochen vergangen seit Apollonius Zurückkunft, und noch
hatte er die Furcht der Schwägerin nicht wahr gemacht. In den ersten
Tagen las Fritz Nettenmair ein krampfhaftes Zusammennehmen, ein
verzweifeltes Gefaßtmachen in ihrem Wesen; nun machte dies einem Etwas
Platz, das wie Verwunderung erschien. Er sah, und nur er, wie sie immer
mutiger den Bruder zu beobachten begann, wo der nicht ahnte, ihr Blick
sei auf ihn gerichtet. Sie schien sein Wesen, sein Tun mit ihrer
Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie
wenig beide sich glichen. Er mühte sich, den Widerwillen der jungen Frau
zu seiner alten Stärke aufzustacheln. Er tat es, während er fühlte, wie
vergeblich es war; denn ein einziger Blick auf das milde, rechtschaffene
Antlitz des Bruders mußte niederreißen, was er mühsam in Zeit von Tagen
aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte, und wie plump er
doch zu Werke ging; denn dieselbe Macht, die sein Gefühl für das Maß
schärfte, riß ihn im Handeln darüber hinaus. Er wußte, was er begonnen,
mußte seinen Gang vollenden zu seinem Verderben. Er suchte Vergessen und
riß seine Frau immer tiefer mit hinein in den Wirbel der Zerstreuung.

Arzneimittel sollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegenteil wirken.
So geschah es mit dem Mittel Fritz Nettenmairs; wenigstens bei der
jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte sie sich sonst
nach dem Feste des Vergnügens gesehnt; nun dies der Alltag geworden, zog
sie die Sehnsucht nach dem stillen Leben daheim. Übersättigt von den
Ehrenbezeigungen der bedeutenden Leute, bemerkte sie nun erst, es gab
auch andere Leute, die ihren Gatten nach anderem Maßstabe maßen. Sie
begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die
Alltagsmenschen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend von
Apollonius Ankunft. Damals war sie Apollonius ausgewichen; sie hatte
Beleidigung von ihm erwartet. Jetzt suchte sie mit den Augen durch den
Saal; niemand sah es als Fritz Nettenmair, der es am wenigsten zu sehen
schien. Denn er lachte und trank wilder und jovialer als je. Sie hatte
nur das Gefühl der Langeweile, das nach Abwechslung aussieht; sie wußte
nicht, daß sie jemand suchte. Fritz Nettenmair wußte es, und wollte vor
Lachen ersticken. Er wußte mehr als sie; er wußte, wen sie suchte. Gegen
alle andere Welt jovial, tat er gegen sie den blauen Rock an.

Er wird sie bald dahin bringen, den sonst Gefürchteten mit ihm zu
vergleichen.

Sie saß im Garten, während der alte Herr seine schweren Mittagsträume
träumte. Fritz Nettenmair lag in der Stube auf dem Sofa und trug die
Nachwehen einer durchschwärmten Nacht. Vorher hatte er nach dem
Turmdache gesehen. Sie fühlte sich so eigen wohl daheim. Und sollte sie
nicht? Spielten nicht ihre Kinder um sie? Sie dachte nicht daran, wie
oft sie sich von den Kindern fortgesehnt in den Wirbel, der sie nicht
mehr lockte. Sie nähte. Die Knaben spielten zu ihren Füßen, so still,
als wäre der alte Herr zugegen. Doch nicht so; war der alte Herr im
Gärtchen, sie hätten sich gar nicht hinein getraut. Das Mädchen hatte
die Mutter umschlungen, die selber, in der Unberührtheit ihres Wesens,
noch ein Mädchen schien. Wenig mehr von der Ähnlichkeit mit ihrem Gatten
lag in ihren Zügen. Sie war nur eine äußerliche gewesen, nur Äußerliches
schien die heiteren Linien berührt zu haben: kein tiefinneres Erlebnis
hatte seine Marke ihnen aufgeprägt.

Das kleine Mädchen hatte dem erwachsenen, seiner Mutter, von Puppen,
Blumen, Kindern, und in seiner Weise manches zweimal, manches nur halb
erzählt. Jetzt erhob sie mit altkluger Ernsthaftigkeit das Köpfchen, sah
die Mutter bedenklich an und sagte: »Was das nur ist?«

»Was?« fragte die Mutter.

»Wenn du dagewesen bist und fortgehst, sieht er dir so traurig nach.«

»Wer?« fragte die Mutter.

»Nun, der Onkel Apollonius. Wer sonst? Hast du ihn gescholten? oder
geschlagen, wie mich, wenn ich Zucker nehme und nicht frage? Du hast ihm
doch gewiß etwas getan; sonst wär' er nicht so betrübt.«

Das Mädchen plauderte weiter und vergaß den Onkel bald über einen
Schmetterling. Die Mutter nicht. Die Mutter hörte nicht mehr, was das
Mädchen plauderte. Was war das doch für ein eigenes Gefühl, wohl und weh
zugleich! Sie hatte die Nadel fallen lassen und merkte es nicht. War sie
erschrocken? Es war ihr, als wäre sie erschrocken, etwa so, wie man
erschrickt, hat man mit einem Menschen geredet, und wird plötzlich inne,
es ist ein andrer, als mit dem man zu reden meinte. Sie hatte gemeint,
Apollonius wolle sie beleidigen, und nun sagt das Kind: du hast ihn
beleidigt. Sie blickte auf und sah Apollonius vom Schuppen her nach dem
Hause kommen. In demselben Augenblicke stand ein andrer Mann zwischen
ihr und dem Vorübergehenden, als wäre er aus der Erde gewachsen. Es war
Fritz Nettenmair. Sie hatte ihn nicht nahen gehört.

Er kam in seltsamer Hast von einer gleichgültigen Frage auf den
»ledernen Ball«. Er erzählte, was die Leute darüber meinten, wie
jedermann sich beleidigt fühle von der Beschimpfung, daß Apollonius sie
damals nicht aufgezogen, nicht einmal zum ersten Tanze. Eigen war es,
wie sie jetzt daran erinnert wurde, empfand sie es stärker als je; aber
nicht zürnend, nur wie mit wehmütigem Schmerze. Sie sagte das nicht. Es
war nicht nötig. Fritz Nettenmair war wie ein Mensch im magnetischen
Schlaf. Er brauchte sie nicht anzusehen; mit geschlossenen Augen, von
einem Baumblatt, einer Zaunlatte, von einer weißen Wand las er ab, was
sein Weib fühlte.

»Wir werden ihn bald los werden, denk' ich,« fuhr er fort, als hätte er
nicht an der Stallwand gelesen. »Es ist kein Platz für zwei Haushälte
hier. Und die Anne ist weiten Raum gewöhnt.«

So hieß das Mädchen, mit der Apollonius am »ledernen« tanzen, die er
heimbegleiten mußte. Sie war seither öfter hier gewesen, unter
Vorwänden, die ihre hochrote Wange Lügen strafte. Auch ihr Vater, ein
angesehener Bürger, hatte sich um Apollonius Bekanntschaft bemüht, und
Fritz Nettenmair hatte die Sache gefördert, wie er konnte.

»Die Anne?« rief die junge Frau wie erschreckend.

»Gut, daß sie nicht lügen kann,« dachte Fritz Nettenmair erleichtert.
Aber es fiel ihm ein, ihr Unvermögen, sich zu verstellen, kam ja auch
dem argen Plan des Bruders zu gut. Er hatte die Eifersucht als letztes
Mittel angewandt. Das war wieder eine Torheit, und er bereute sie schon.
Sie kann sich nicht verstellen; und wäre er noch ganz der alte Träumer,
ihre Aufregung muß ihm verraten, was in ihr vorgeht; ihre Aufregung muß
ihr selber verraten, was in ihr vorgeht. Noch weiß sie es selbst ja
nicht. Und dann -- er stand wieder an dem Punkte, zu dem jeder Ausgang
ihn führt; er sah sie sich verstehen; »und dann,« zwängte er zwischen
den Zähnen hervor, daß jede Silbe daran sich blutig riß, »und dann --
wird sie's schon lernen!«

Der Bruder erwartete ihn in der Wohnstube. »Er muß doch einen Vorwand
machen, warum er da vorbeikam, wo er sie allein dachte, da er weiß, ich
hab' ihn gesehen.« So dachte er und folgte dem Bruder.

Apollonius wartete wirklich in der Wohnstube auf ihn. Der Bruder gab
sich durch seine Wendung auf den Fersen recht, als er ihn sah.
Apollonius suchte den Bruder auf, ihn vor dem ungemütlichen Gesellen zu
warnen. Er hatte manches Bedenkliche über ihn gehört, und wußte, der
Bruder vertraute ihm unbedingt. »Und da befiehlst du, ich soll ihn
fortschicken?« fragte Fritz, und konnte nicht verhindern, daß sein Groll
einmal durchschimmerte durch seine Verstellung. Apollonius mußte aus dem
Tone, mit dem er sprach, seine wahre Meinung herauslesen. Sie hieß: »du
möchtest auch in den Schuppen dich eindrängen, und mich von da
vertreiben. Versuch's, wenn du's wagst!«

Apollonius sah dem Bruder mit unverhehltem Schmerz in das Auge. Er fuhr
mit der Hand über des Bruders Rockklappe, als wollte er wegwischen, was
sein Verhältnis zu dem Bruder trübte, und sagte:

»Hab' ich dir was zu leid' getan?«

»Mir?« lachte der Bruder. Das Lachen sollte klingen, wie: »Ich wüßte
nicht was?« aber es klang: »Tust du was andres, willst du was andres
tun, als wovon du weißt, daß es mir leid ist?«

»Ich wollte schon lange dir etwas sagen,« fuhr Apollonius fort, »ich
will's morgen; du bist heute nicht gelaunt. Das mit dem Gesellen mußtest
du erfahren, und es war nicht so gemeint, wie du's aufnahmst.«

»Freilich! Freilich!« lachte Fritz. »Ich bin überzeugt. Es war nicht so
gemeint.«

Apollonius ging, und Fritz ergänzte seine Rede: »Es war nicht so
gemeint, wie du, Federchensucher, mich glauben machen willst. Und anders
gemeint, als ich's aufnahm? Du meinst, ich hab' -- -- Der Geselle ist
ein schlechter Kerl; aber du hättest mich nicht gewarnt, hättest du
keinen Vorwand gebraucht.« Er machte seine überlegene Wendung auf den
Fersen; in seinen verwüsteten Zustand hinein hatte ihn die glückliche
Anwendung von des alten Herrn diplomatischer Kunst, durch Halbsagen zu
verschweigen, gefreut.

Die Freude war schnell vorübergehend, die alte Sorge schraubte ihn
wieder auf ihre Marterbank. Und noch eine jüngere hatte sich ihr
zugesellt. Er hatte das Geschäft vernachlässigt; der Geselle, in seiner
Abwesenheit Herr im Schuppen, hatte Gelegenheit genug gehabt, ihn zu
bestehlen, und sie gewiß benutzt. Bei der Reparatur war er schon lange
nicht mehr tätig; Apollonius mußte einen Gesellen mehr annehmen, und für
den Bruder einstellen. Er verdiente schon lange nichts mehr, und
versäumte doch dabei kein öffentlich Vergnügen. Die Achtung der
bedeutenden Leute zeigte eine wachsende Neigung zum Sinken und war nur
durch wachsende Massen von Champagner aufrecht zu erhalten. Er hatte
sich in Schulden gesteckt, und vergrößerte sie noch täglich. Und doch
mußte einmal der Augenblick kommen, wo der mühsam erhaltene Schein von
Wohlhabenheit verging. Er wußte, daß er nur so lang der Geachtete war,
als der Jovialste der Jovialen galt. Er war klug genug, den Unwert
solcher Achtung und solchen Bemühens um ihn zu erkennen, aber nicht
stark genug, es entbehren zu können. Es war ein kleiner Zuwachs zu der
alten Marter, und jene wie diese kam ihm von dem Bruder, nur von ihm!

Wohligs Anne war öfter dagewesen seit Apollonius Ankunft, und die junge
Frau hatte in dem Glauben, der in naiven Gemütern die natürliche Folge
der eigenen Wahrhaftigkeit ist, an ihren gesuchtesten Vorwänden nicht
gemäkelt. Heute war das anders. Sie war plötzlich so scharfsichtig
geworden, daß der erkannte Vorwand ihr in der Größe eines
unverzeihlichen Verbrechens erschien. Das Mädchen war ihr zuwider, das
so falsch sein konnte, und sie selbst zu ehrlich, das zu verbergen. Anne
suchte den Grund dieses Benehmens in dem Widerwillen der jungen Frau
gegen den Schwager. Es war ja bekannt, die junge Frau gönnte dem armen
Menschen die Liebe des Bruders nicht. Sie hatte selbst geäußert, sie
würde ihm einen Korb geben, wenn er es wagen würde, sie zum Tanze
aufzufordern. Und dem guten Apollonius war es anzusehen, sie ließ ihn
des Aufenthalts in seinem Vaterhause nicht froh werden. Die Gereiztheit
machte auch die Anne ehrlich; sie sprach von ihren Gedanken aus, was
ausgesprochen werden konnte, ohne den zarten Punkt ihrer Neigung
bloßzugeben. Christiane mußte den Vorwurf nun auch aus fremdem Munde
vernehmen, den schon das eigene Kind ihr gemacht.

Das Mädchen ging. Apollonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er
konnte das Mädchen noch gehen sehen. Aber nichts zeigte sich in seinem
Gesichte, was ihrer nur halb verstandenen Furcht recht gegeben hätte.
Und so sah auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Versteck der
Hintertür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht soviel, als er
gefürchtet, zu sehen.

Das Kind sagt: du hast ihm was getan; die Anne sagt: du hassest ihn, du
lässest ihn nicht froh werden. Und sein traurig Nachblicken -- bald
ertappte sie ihn selbst unbemerkt dabei -- sagt dasselbe. Wie ein Blitz
und mit freudigem Lichte zuckte es dazwischen, er sah der Anne nicht
traurig nach und auch nicht freudig, nein! gleichgültig, wie jedem
andern sonst. Ihr wird gesagt: du hassest ihn; du hast ihn beleidigt und
du willst ihn kränken, und sie hat geglaubt, er hasse sie, er will sie
kränken. Und hat er sie nicht gekränkt? Sie blickt in lang vergangene
Zeit zurück, wo er sie beleidigte. Sie hat ihm schon lang nicht mehr
darum gezürnt, sie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann sie jetzt
noch darum zürnen, wo er ein so andrer ist; wo sie selbst weiß, er
beleidigt sie nicht; wo die Leute sagen und sein trauriger Blick: sie
beleidige ihn? Und wie sie zurücksinnt, eifrig, so eifrig, daß die Musik
wieder um sie klingt, und sie wieder unter den Gespielinnen sitzt, im
weißen Kleid mit den Rosaschleifen, im Schießhaus auf der Bank den
Fenstern entlang, und wieder aufsteht, von dem dunklen Drang getrieben,
und durch die Tanzenden hindurch träumend nach der Türe geht -- da
draußen; ist das nicht dasselbe Gesicht, das ihr jetzt nachsieht, wenn
sie geht, so ehrlich, so mild in seiner Wehmut? ist es nicht dasselbe
eigene Mitleid, das jetzt auf Schritt und Tritt mit ihr geht, und sie
nicht läßt, wie damals? Dann wich sie ihm aus, und sah ihn nicht mehr
an, denn er war falsch. Falsch! Ist er es wieder? Ist er es noch?

Eine Nachtigall schlug in dem alten Birnbaume über ihr, so wunderbar und
wie gewalttätig innig und tief. Vom Georgenturm bliesen vier Posaunen
den Abendchoral. Über ihnen, und wie von ihren schwellenden Tönen
getragen fuhr Apollonius auf seinem leichten Schiff. Das Abendrot
vergoldete die Fäden, in denen es hing. Wohin sie sah, glänzten die
treuen, trauernden Augen, die ihm gehörten, mit denen er ihr nachsah,
wenn sie ging. Das kleine Mädchen sah mit ihnen auf zu ihr, und erzählte
vom Onkel, wie lieb und gut er sei. Oder erzählte sie von damals? Es war
keine Zeit mehr, sonst und jetzt war eins. Die letzte Ähnlichkeit mit
Fritz Nettenmair war aus ihrem Antlitz verschwunden. Ihre Seele
schauerte hoch oben zwischen Himmel und Erde. Was sie ansah, war ein
Rätsel mit süßer Deutung, aber sie kannte sie nicht. Sie selbst war sich
ein Rätsel. Ihrem Gatten war sie es nicht.

                   *       *       *       *       *

Fritz Nettenmair dachte den ganzen Tag, was das sein möge, was
Apollonius ihm morgen sagen wolle; »morgen; weil ich heute nicht gelaunt
bin? Gelaunt? Ich habe den Federchensucher in meine Karten sehen lassen.
Hätt' ich's nicht, wär' er plump herausgegangen; nun hab' ich ihn
gewarnt und vorsichtig gemacht. Ich bin zu ehrlich mit solch einem
falschen Spieler; ich muß verlieren. Gut; ich will morgen »gelaunt«
sein, ich will tun, als wär' ich blind und taub! als säh' ich nicht, was
er will, und wär's noch deutlicher. Eine Spinnenwebe auf meine
Rockklappen, damit er was zu bürsten hat. Ich kann's nicht leiden, wenn
mir so einer ins Gesicht sieht, solch ein Heuchler!«

So vorbereitet und entschlossen, den Lister zu überlisten, gält es auch
die schwerste Probe von Selbstbeherrschung, fand Apollonius den Bruder
am folgenden Tage seiner harrend. Auch Apollonius hatte seinen Entschluß
gefaßt. Er wollte sich von keiner Laune des Bruders mehr irren lassen;
es kam ja eben darauf an, allen diesen Launen ihre Quelle abzuschneiden.
Fritz bot ihm den unbefangensten, jovialsten guten Morgen, der ihm zu
Gebote stand.

»Wenn du mich ruhig und brüderlich anhören willst,« sagte Apollonius,
»so hoff' ich, dieser Morgen soll der beste sein für dich und mich und
uns alle.«

»Und uns alle,« wiederholte Fritz, und legte von seiner Erklärung der
drei Worte nichts in seinen Ton. »Ich weiß, daß du immer an uns alle
denkst; darum rede nur jovial vom Herzen weg, ich mach's auch so.«

Apollonius ließ die beabsichtigte Einleitung weg. Er hatte klug und
vorsichtig sein gelernt, aber klug und vorsichtig gegen einen Bruder
sein, hätte ihm Falschheit geschienen. Selbst, hätte er die Falschheit
des Bruders gekannt, er wäre nicht auf dessen Gedanken von den gleichen
Waffen gekommen. Er hätte sich seine Erfahrung als Täuschung ausgeredet.

»Ich glaube, Fritz,« begann er herzlich, »wir hätten anders
gegeneinander sein sollen, als wir seither gewesen sind.« Er nahm aus
Gutmütigkeit die halbe Schuld auf sich. Der Bruder schob ihm in Gedanken
die ganze zu, und wollte jovial das Gegenteil versichern, als Apollonius
fortfuhr: »Es war nicht zwischen uns, wie sonst, und wie es sein sollte.
Die Ursache davon ist, soviel ich weiß, nur der Widerwille deiner Frau
gegen mich. Oder weißt du noch eine andere?«

»Ich weiß keine,« sagte der Bruder mit bedauerndem Achselzucken; aber er
dachte an Apollonius' Heimkunft gegen seinen Rat, an den Ball, an die
Beratung auf dem Kirchenboden, an seine Verdrängung von der Reparatur,
an den ganzen Plan des Bruders, an das, was davon ausgeführt, an das,
was noch auszuführen war. Er dachte daran, daß Apollonius eben an dem
letzteren arbeite, und wieviel darauf ankomme, seine nächste Absicht zu
erraten und zu vereiteln.

Apollonius sprach indes fort und hatte keine Ahnung von dem, was in dem
Bruder vorging. »Ich weiß nicht, woher der Widerwille deiner Frau gegen
mich kommt. Ich weiß nur, daß er von nichts kommen kann, was ich mit
Absicht getan hätte, mir ihn zu verdienen. Kannst du mir den Grund
sagen? Ich will sie nicht anklagen; es ist möglich, daß ich etwas an mir
habe, das ihr mißfällt. Und dann ist's gewiß nichts, was zu loben oder
nur zu schonen wäre. Und ich will dann ebenso gewiß der letzte sein, es
zu schonen, weiß ich nur, was es ist. Weißt du's, so bitte, sag' es mir.
Etwas Schlimmes darfst auch du nicht an mir schonen, und täte dir's auch
noch so weh. Weißt du's und sagst mir's nicht, so ist's nur darum. Aber
du kränkst mich nicht damit, gewiß nicht, Fritz.« --

Fritz Nettenmair tat, was Apollonius eben getan; er maß den Bruder in
seinen Gedanken nach sich. Das Ergebnis mußte zu Apollonius' Nachteil
ausfallen. Apollonius nahm sein gedankenvolles Schweigen für eine
Antwort.

»Weißt du's nicht,« fuhr er fort, »so laß uns zusammen zu ihr gehen, und
sie fragen. Ich muß wissen, was ich tun soll. Das Leben seither darf
nicht so fortgehen. Was würde der Vater sagen, wenn er's wüßte! Mir
ist's Tag und Nacht ein Vorwurf, daß er es nicht weiß. Es ist für uns
alle besser, Fritz. Komm, laß es uns nicht verschieben.«

Fritz Nettenmair hörte nur die Zumutung des Bruders. Er sollte ihn zu
ihr führen! Er sollte ihn _jetzt_ zu ihr führen! Wußte Apollonius schon
von ihrem Zustand, und wollte ihn benutzen? Es bedurfte der Frage nicht;
wenn sie sich jetzt nur sahen, mußten sie sich verstehen. Dann war es
da, was zu verhindern er seit Wochen sich keine Stunde lang Ruhe
gegönnt. Dann war es da, wovon er wußte, es mußte kommen, und doch
Verzweiflungsanstrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren. Sie durften
jetzt nicht einander gegenüberstehen; sie durften sich jetzt nicht
sehen, bis er eine Scheidemauer zwischen sie gebaut. Woraus? Darauf zu
sinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand mußte er haben, den Gang zu
ihr zu verhindern; Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um Zeit zu
gewinnen, lachte er:

»Freilich! jovial fragen. Wer fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir
das eben jetzt ein? Eben jetzt?« Ein Gedanke, der ihn überwältigend traf
wie ein Blitz wurde ohne seine Wahl zu dieser Frage.

Apollonius war schon an der Tür. Er wandte sich zurück zum Bruder und
antwortete mit einer Freude, die diesem eine teuflische schien, weil er
ihm nicht in das ehrliche Gesicht sah. Dafür würde Apollonius in des
Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangst ertappt haben, hätte dieser
es ihm zugewandt. Und vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder
vielleicht für krank gehalten haben, so ohne die mindeste Ahnung von
dem, was den Bruder dabei ängsten könne, als er war. Ja, was ihn freute,
mußte ja auch den Bruder freuen.

»Früher,« entgegnete Apollonius, »mußt' ich fürchten, sie noch mehr zu
erzürnen. Und das würde dir noch weniger lieb gewesen sein als mir.«

Der Bruder lachte und bejahte in seiner jovialen Weise mit Kopf und
Schultern, um nur etwas zu tun. Und sein: »Und jetzt?« schien nun vom
Lachen halb erstickt, nicht von etwas anderem.

»Deine Frau ist anders seit einiger Zeit,« fuhr Apollonius vertraulich
fort. --

»Sie ist,« -- antwortete Fritz Nettenmair's Zusammenzucken wider seinen
Willen, und wollte sagen, wofür er sie hielt. Es war ein arges Wort.
Aber würde er selbst, der sie dazu gemacht, es ihm sagen? Nein, es ist
noch nicht da, was er fürchtet. Und wenn es kommen muß; er kann es noch
verzögern. Er hält mit Gewalt seiner Erregung den Mund zu. Er fragte
gern: »Und woher weißt du, daß sie -- anders ist?« wüßte er nicht, seine
Stimme wird zittern und ihn verraten. Er muß ja wissen, wer es dem
Bruder verraten hat. Hat er sie schon gesprochen? Hat er es ihr von fern
aus den Augen gelesen? Oder ist ein Drittes im Spiel? ein Feind, den er
schon haßt, ehe er weiß, ob er vorhanden ist.

Apollonius scheint ein Etwas von des Bruders unglückseliger Lesegabe
angeflogen. Der Bruder fragt nicht; sein Gesicht ist abgewandt; er kramt
tief im Schranke und sucht wie ein Verzweifelnder und kann nicht finden;
und doch antwortet ihm Apollonius.

»Dein Ännchen hat mir's gesagt,« entgegnet er und lacht, indem er an das
Kind denkt. »Onkel,« sagte das närrische Kind, »die Mutter ist nicht
mehr so bös auf dich; geh' nur zu ihr und sprich: ich will's nicht mehr
tun; dann ist sie gut und gibt dir Zucker. So hat sie mich auf den
Gedanken gebracht. Es ist wunderbar, wie's manchmal ist, als redete ein
Engel aus den Kindern. Dein Ännchen kann uns allen ein Engel gewesen
sein.«

Fritz Nettenmair lachte so ungeheuer über das Kind, daß sich Apollonius
Lachen wieder an dem seinigen anzündete. Aber er wußte, es war ein
Teufel, der aus dem Kinde geredet; ihm war das Kind ein Teufel gewesen
und konnte es noch mehr werden. Und doch mußte er noch über das Kind
lachen, über das joviale Kind mit seinem »verfluchten« Einfall. So sehr
mußte er lachen, daß es gar nicht auffiel, wie zerstückt und krampfhaft
klang, was er entgegnete. »Morgen meinetwegen oder heute nachmittag
noch; jetzt hab' ich unmöglich Zeit. Jetzt begleit' ich dich nach Sankt
Georg. Ich hab' einen nötigen Gang. Morgen! Über das verwünschte Kind!«

Apollonius hatte keine Ahnung, wie ernst das lachende »verwünscht«
gemeint war. Er sagte, selbst noch über das Kind lachend: »Gut. So
fragen wir morgen. Und dann wird alles anders werden. Ich freue mich wie
das Kind, und du dich gewiß auch, Fritz. Es soll ein ganz ander Leben
werden als seither.« Der gute Apollonius freute sich so herzlich über
des Bruders Freude! Noch als er bereits wieder auf seinem Fahrzeuge um
das Kirchendach flog.

Ebenso rastlos umschwankte seines Bruders Furcht das dunkle Etwas, das
über ihm schwankte und ihn zu begraben drohte; noch emsiger hämmerte
sein Herz an den brechenden Planen, den Sturz zu hindern; aber sein
Gedankenschiff hing nicht zwischen Himmel und Erde, von des Himmels
Licht bewahrt; es taumelte tiefer und immer tiefer, zwischen Erd' und
Hölle, und die Hölle zeichnete ihn immer dunkler mit ihrer Glut.

                   *       *       *       *       *

Ännchen hatte die Mutter wieder umschlungen, die in der Laube saß. Sie
sah wieder mit Apollonius Augen zu ihr auf und erzählte ihr von ihm. Und
kam sie nach Kinderweise von ihm ab, so leitete die Mutter mit
unbewußter Kunst sie wieder zu ihm zurück. Dann rauschte es einen
Augenblick in den Blättern der Laube hinter ihr. Sie dachte, es sei der
Wind oder hörte es gar nicht; vielleicht, weil es nicht von Apollonius
sprach. Hätte sie hingesehen, sie wäre entsetzt aufgesprungen von der
Bank. Was die Blätter rauschen machte, war das stürmische Erzittern
einer geballten Faust. Darüber stand ein rotes Gesicht, verzerrt von der
Anstrengung die die gehobene Faust zurückhielt, sonst hätte sie das
lächelnde Gesicht des Kindes getroffen, das, so jung, schon eine
Kupplerin war. Das lächelnde, vatermörderische Gesicht! Das Kind hat ein
blaues Kleidchen an; blau ist die Lieblingsfarbe Apollonius'. Sein Kind
trägt seines Todfeindes Livree. Und die Mutter -- o, Fritz Nettenmair
kann sich noch auf die Zeit besinnen, wo sie täglich so gekleidet ging
wie heute. Und fürchtet sie das nicht? Glaubt sie, was damals
vorgegangen, gibt ihr ein Recht, ihn nicht zu fürchten? Ein Recht, in
Schande zu leben, weil es seine Schande ist? Das alles reißt an der
gehobenen Faust.

Jetzt sagt die Mutter vor sich hin und hat das Mädchen vergessen: »Der
arme Apollonius!« -- Was hält die Faust zurück? -- »Ich muß Fritz sagen,
wie er mich dauert. Er ist gut. Nicht, Ännchen?« Ännchen singt und hört
auf die Frage nicht. Sie bedarf auch keiner Antwort. »Fritz ist zornig
auf ihn, weil er mich einmal gekränkt hat. Ich hab's lang vergessen. Er
ist anders, und Fritz tut ihm unrecht, wenn er meint, er ist noch immer
so. Und vielleicht ist er nie so gewesen, und die Menschen haben Fritz
belogen. Wir wollen gut sein gegen ihn, damit er froh wird. Ich kann's
nicht mehr ertragen, wie er traurig ist. Ich will's ihm sagen, dem
Fritz.« So schließt die junge Frau ihr Selbstgespräch; ihr ganzes süß
vertrauliches Mädchenwesen ist wieder aufgewacht, und Fritz Nettenmair
begreift, das Tun, zu dem der Zorn ihn hinreißen will, zu erschaffen,
was noch nicht ist, muß beschleunigen, was kommen wird. Er ist arm
geworden, entsetzlich arm. Die Zukunft ist nicht mehr sein; er darf
nicht auf Tage hinaus rechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu
Augenblick; er muß festhalten, was zwischen dem Gegenwärtigen ist und
dem Nächstkommenden. Und dazwischen ist nichts, als Qual und Kampf.

Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er alles tat, wie er selbst war,
oberflächlich -- und jovial. Das Gewissen hat seine Seele ausgetieft.
Die Furcht vor dem Verlust hat ihn ein ander Leben gelehrt. Das Leben
lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätte er sie früher so geliebt,
wie jetzt, ihre tiefste Seele hätte sich ihm vielleicht geöffnet, sie
hätte auch ihn geliebt. Sie haben Jahre zusammengelebt, sind
nebeneinander gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander. Dem
Leibe nach Gattin und Mutter ist ihre Seele ein Mädchen geblieben. Er
hat die tieferen Bedürfnisse ihres Herzens nicht geweckt, er kannte sie
nicht; er hätte sie nicht befriedigen können. Er erkennt sie erst, wie
sie sich einem Fremden zuwenden. Er fühlt erst, was er besaß, ohne es zu
haben, nun es einem andern gehört. Mit welcher Empfindung sieht er die
Knospe ihres Angesichts sich entfalten, die er schon für die Blume
hielt! Welch nie geahnter Himmel öffnet sich da, wo er sonst Genüge
hatte, sein eigen Spiegelbild zu finden. Und wie viel er sah; all den
Reichtum an hingebendem Vertrauen, an Opferfähigkeit, an verehrendem
Aufstaunen und dienendem Ergeben zu fassen, der in der Morgenröte dieses
reinen Angesichts aufging, war sein Auge, auch krankhaft weit geöffnet,
noch zu eng. Sein Schmerz übermannte einen Augenblick seinen Haß. Er
mußte sich fortschleichen, um das Geständnis seiner Schuld vor dem
Antlitz zu flüchten, dessen Blick er jetzt wie ein Verbrecher fürchtete,
so sanft es war.

Gegen Abend wurde die junge Frau plötzlich von zwei Männerstimmen aus
ihren Tränen geweckt. Sie saß unfern der verschlossenen Schuppentür im
Grase. Fritz war eben mit dem Bruder von der Hintergasse in den Schuppen
getreten. Sie hörte, er zog den Bruder mit Wohlig's Anne auf. Anne sei
die beste Partie in der ganzen Stadt und der Bruder ein Spitzbube, der
die Welt kenne und die Art, die lange Haare und Schürzen trägt. Die Anne
nähe schon an ihrer Aussteuer, und ihre Basen trügen die Heirat mit
Apollonius von Haus zu Hause. Die junge Frau hörte ihn fragen, wann die
Hochzeit sei? Sie hatte sich entfernen wollen; sie vergaß es; sie vergaß
das Atmen. Und darauf hätte sie fast laut aufgejubelt: Apollonius sagte,
er heirate gar nicht, die Anne nicht, noch sonst eine.

Der Bruder lachte. »Drum hast du den Abend deiner Heimkehr nur mit der
Anne getanzt und sie heimgeleitet?«

»Mit deiner Frau hätt' ich getanzt,« entgegnete Apollonius. »Du warntest
mich, deine Frau würde mir einen Korb geben, weil sie so unwillig auf
mich war. Ich wollte nun gar nicht tanzen. Du brachtest mir die Anne,
und wie du gingst, fragtest du sie, ob ich sie heimbegleiten dürfte. Da
konnt' ich nicht anders. Ich habe nie daran gedacht, die Anne --«

»Zu heiraten?« lachte der Bruder. »Nun, sie ist auch zum -- Spaße hübsch
genug und der Mühe wert, sie vernarrt in dich zu machen.«

»Fritz!« rief Apollonius unwillig. »Aber es ist nicht dein Ernst,«
besänftigte er sich selbst. »Ich weiß, du kennst mich besser; aber auch
im Scherz soll man einem braven Mädchen nicht zu nahe treten.«

»Pah,« sagte der Bruder, »wenn sie es selbst tut. Was kommt sie uns ins
Haus und wirft sich dir an den Kopf?«

»Das hat sie nicht,« entgegnete Apollonius warm. »Sie ist brav und hat
sich nichts Unrechtes dabei gedacht.«

»Ja, sonst hättest du sie zurechtgewiesen,« lachte Fritz, und es lag
Hohn in seiner Stimme.

»Wußt ich,« sagte Apollonius, »was sie dachte? Du hast sie mit mir
aufgezogen und mich mit ihr. Ich habe nichts getan, was solche Gedanken
in ihr erwecken konnte. Ich hätt's für eine Sünde gehalten.«

Die Männer gingen ihren Weg wieder zurück. Christianen fiel es nicht
ein, sie hätten auch auf den Gang kommen können, wo sie stand. Was von
Offenheit und Wahrheit in ihr lag, war gegen ihren Gatten empört. Nicht
die Leute hatten ihn belogen; er war selber falsch. Er hatte sie belogen
und Apollonius belogen, und sie hatte irrend Apollonius gekränkt.
Apollonius, der so brav war, daß er nicht über die Anne spotten hören
konnte, hatte auch ihrer nie gespottet. Alles war Lüge gewesen von
Anfang an. Ihr Gatte verfolgte Apollonius, weil er falsch war und
Apollonius brav. Ihr innerstes Herz wandte sich von dem Verfolger ab,
und dem Verfolgten zu. Aus dem Aufruhr all ihrer Gefühle stieg ein
neues, heiliges siegend auf, und sie gab sich ihm in der vollen
Unbefangenheit und Unschuld hin. Sie kannte es nicht. Daß sie es nie
kennen lernte! Sobald sie es kennen lernt, wird es Sünde. -- Und schon
rauschen die Füße durch das Gras, auf denen die unselige Erkenntnis
naht.

Fritz Nettenmair mußte seine neue Scheidemauer aufbauen, ehe er den
Bruder zu seinem Weibe führte. Deshalb kam er. Sein Gang war ungleich;
er wählte noch und konnte sich nicht entscheiden. Er wurde noch
ungewisser, als er vor ihr stand. Er las, was sie fühlte, von ihrem
Antlitz; es war zu ehrlich, um etwas zu verschweigen; es kannte zu
wenig, wovon es sprach, um zu denken, es müßte dies verbergen. Er
fühlte, mit den alten Verleumdungen werde er nichts mehr bei ihr
vermögen. Er konnte sie über ihre Gefühle aufklären, sie dann bei ihrer
Ehre, bei ihrem weiblichen Stolze fassen. Er konnte sie zwingen -- wozu?
Zur Verstellung? Zum Leugnen? Zur Verheimlichung, wenn sie -- einmal
wußte, was sie wollte? Würde sie nicht zu sich sagen: den Betrüger
betrügen, das Gestohlene heimlich wieder nehmen, ist kein Betrug, kein
Diebstahl? Das war es! Das Bewußtsein seiner Schuld verfälscht ihm die
Dinge, die Menschen. Er kannte das starke Ehrgefühl seiner Frau, wie die
bis zum Eigensinn feste Rechtlichkeit des Bruders, und er hätte beiden
in allem getraut; nur in dem einen traute er ihnen nicht, wo er das
Gefühl hatte, er habe es verdient, von ihnen betrogen zu sein.

So zog er doch den Weg vor, den er bis jetzt gegangen. Er machte einen
kleinen Umweg über des »Federchensuchers Narrheiten«. Er wußte, kleine
Lächerlichkeiten sind geschickter, eine werdende Neigung zu vernüchtern,
als große Fehler. Er agierte Apollonius, wie er den Weg, den er mit
einem Lichte gemacht, noch einmal zurückging, aus Sorge, er könnte einen
Funken verloren haben; wie es ihn bei Nacht nicht ruhen ließ, wenn ihm
einfiel, er hatte bei einer Arbeit seinen gewöhnlichen Eigensinn
vergessen, oder ein Arbeiter hatte das strenge Wort nicht verdient, das
er, vom Drang der Geschäfte erhitzt, gegeben; wie er aus dem Bette
aufgesprungen, um ein Lineal, das er im schiefen Winkel mit der
Tischkante liegen lassen, in den rechten zu rücken. Dabei strich und
blies Fritz Nettenmair sich eingebildete Federchen von den Ärmeln. Er
sah wohl, seine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt dadurch griff
er zu stärkeren Mitteln. Er bedauerte die arme Anne, die Apollonius
durch Scheinheiligkeit in sich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie
gemeine Weise er sie öffentlich verspotte.

Auf den Wangen der jungen Frau war ein dunkles Rot aufgestiegen. Offene,
naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen alle Falschheit, vielleicht,
weil sie instinktmäßig fühlen, wie waffenlos sie vor diesem Feinde
stehen. Sie zitterte vor Erregung, als sie aufstand und sagte: »Du
könntest das tun, du; er nicht.«

Fritz Nettenmair schrak zusammen. In dem Anblick der Gestalt, die voll
Verachtung vor ihm stand, war etwas, was ihn entwaffnete. Es war die
Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der Unschuld dem Sünder gegenüber. Er
raffte sich mit Anstrengung zusammen. »Hat er dir das gesagt? Seid ihr
schon so weit?« preßte er hervor. Sie wollte nach dem Hause gehen; er
hielt sie auf. Sie wollte sich losreißen.

»Alles hast du gelogen,« sagte sie, »ihn hast du belogen, mich hast du
belogen. Ich habe gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm sprachst.«

Fritz Nettenmair atmete auf. So wußte sie nicht alles. »Mußt ich's
nicht?« fragte er, indem sein Auge sich der Reinheit des ihren gegenüber
kaum aufrechthielt. »Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern?
Soll der Federchensucher dich verachten?« Noch drückte ihr Blick den
seinen nieder. »Weißt du, was du bist? Frag' ihn doch, was eine Frau
ist, die Ehre und Pflicht vergißt? An wen denkst du mit Gedanken, wie du
nur an deinen Mann denken solltest? Wenn du wie eine verliebte Dirne
umherschleichst, wo du meinst, ihn zu sehen. Und meinst, die Menschen
sind blind. Frag' ihn doch, wie er so eine nennt? O, die Leute haben
schöne Namen für so eine.«

Er sah, wie sie erschrak. Ihr Arm bebte in seiner Hand. Er sah, sie
begann ihn zu verstehen, sie begann sich selbst zu verstehen. Er hatte
ihren Trotz gefürchtet und sah, sie brach zusammen; das Zornesrot
erblich auf ihrer Wange und Schamröte schlug wild über die bleiche hin.
Er sah, wie ihr Auge den Boden suchte, als fühlte es die Blicke aller
Menschen auf sich gerichtet, als hätte der Schuppen, der Zaun, die Bäume
Augen, und alle bohrten sich in das ihre. Er sah, wie sie in der Jäheit
der Erkenntnis sich selbst so eine nannte, für die die Leute die schönen
Namen haben.

Der Schmerz strömte seinen Regen über die schamblutende, brennende
Wange, und die Tränen waren wie Öl; das Feuer wuchs, als eine Stimme vom
Schuppen klang und sein Tritt. Sie wollte sich gewaltsam losreißen, und
sah mit halb wildem, halb flehendem Blicke auf, der sterbend vor den
tausend Augen wieder zu Boden sank. Er sah, sein Auge, das Auge des, der
durch den Schuppen kam, war ihr das schrecklichste. Er hatte seinen
ganzen Mut wieder.

»Sag's ihm,« preßte er leise hervor, »was du von ihm willst. Wenn er
ist, wie du meinst, muß er dich verachten.«

Fritz Nettenmair hielt die Kämpfende mit der Kraft des Siegers fest, bis
er Apollonius, der fragend aus dem Schuppen sah, gewinkt,
herbeizukommen. Er ließ sie und sie floh nach dem Hause. Apollonius
blieb erschrocken auf dem halben Wege stehen.

»Da siehst du, wie sie ist,« sagte Fritz zu ihm. »Ich hab' ihr gesagt,
du wolltest sie fragen. Willst du, so gehen wir ihr nach und sie muß uns
beichten. Ich will sehen, ob meine Frau meinen Bruder beleidigen darf,
der so brav ist.«

Apollonius mußte ihn zurückhalten. Fritz gab sich nicht gleich
zufrieden. Endlich sagte er: »Du siehst aber nun, es liegt nicht an mir.
O, es tut mir leid!«

Es war ein unwillkürlicher Schmerz in den letzten Worten, den Apollonius
auf die mißlungene Aussöhnung bezog. Fritz Nettenmair wiederholte sie
leiser, und diesmal klangen sie wie ein Hohn auf Apollonius, wie
höhnisches Bedauern über eine verfehlte List.

Christiane war nach der Wohnstube gestürzt und hatte die Tür hinter sich
verriegelt. An Fritz dachte sie nicht; aber Apollonius konnte
hereintreten. Sie wälzte den fieberischen Gedanken, hinaus in die Welt
zu fliehen; aber wohin sie sich dachte, im steilsten Gebirg, im tiefsten
Walde begegnete er ihr und sah, was sie wollte, und er mußte sie
verachten. Und was wollte sie denn? Wollte sie etwas von ihm? Wenn sie
in Gedanken vor ihm floh und angstvoll eine Zuflucht suchte; war er es
nicht wieder, zu dem sie floh? Wenn sie in Gedanken eine Brust
umschlang, daran sich auszuweinen, war es nicht seine? Der Augenblick,
der sie lehrte, sie wollte etwas Böses, hatte sie ja erst gelehrt, was
sie wollte. Ännchen war im Zimmer; sie hatte das Kind nicht bemerkt.
Alles Leben der Mutter war bei ihrem inneren Kampfe; Ännchen sah der
Mutter nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter auf einen Stuhl
und umschlang sie nach ihrer Weise und sah zu ihrem Antlitz auf. Die
Mutter traf ihr Blick, als käme er aus Apollonius' Augen. Ännchen sagte:

»Weißt du, Mutter? der Onkel Lonius« -- die Mutter sprang auf und stieß
das Kind von sich, als wäre er es selbst. »Sag' mir nichts mehr von --
sag' mir nichts mehr von ihm!« sagte sie mit so zorniger Angst, daß das
Mädchen weinend verstummte. Ännchen sah nicht die Angst, nur den Zorn in
der Mutter Auffahren. Es war Zorn über sich selbst. Das Mädchen log, als
sie dem Onkel von der Mutter Zorn über ihn erzählte. Es bedurfte der
Erzählung nicht. Hatte er nicht selbst die rote Wange gesehen, mit der
sie seiner und des Bruders Frage auswich; dasselbe Rot der zornigen
Abneigung, mit dem sie den Heimkehrenden empfangen?

Ach, es war ein wunderlich schwüles Leben von da in dem Hause mit den
grünen Fensterladen, tage-, wochenlang! Die junge Frau kam fast nicht
zum Vorschein, und mußte sie, so lag brennende Röte auf ihren Wangen.
Apollonius saß vom ersten Morgenschein auf seinem Fahrzeug und hämmerte,
bis die Nacht einbrach. Dann schlich er sich leise von der Hintergasse
durch Schuppen und Gang auf sein Stübchen. Er wollte ihr nicht begegnen,
die ihn floh. Fritz Nettenmair war wenig mehr daheim. Er saß von früh
bis in die Nacht in einer Trinkstube, von wo man nach der Aussteigetür
und dem Fahrzeuge am Turmdach sehen konnte. Er war jovialer als je,
traktierte alle Welt, um sich in ihrer lügenhaften Verehrung zu
zerstreuen. Und doch, ob er lachte, ob er würfelte, ob er trank, sein
Auge flog unablässig mit den Dohlen um das steile Turmdach. Und wie
durch einen Zauber fügte es sich, nie schlich Apollonius durch den
Schuppen, ohne daß fünf Minuten früher Fritz Nettenmair in die Haustür
getreten war.

Im Schuppen und in der Schiefergrube schaltete der Geselle an seiner
Statt. Er brachte Fritz Nettenmair den Rapport vom Geschäfte; im Anfang
schrieb der joviale Herr davon in dicke Bücher, dann nicht mehr. Die
Zerstreuung wurde ihm immer unentbehrlicher; er hatte keine Zeit mehr
zum Schreiben. Bis er tief in der Nacht wieder heimkam, wandelte der
Geselle in dem Gange von dem Wohnzimmer bis zum Schuppen hin und her. Es
waren in der Nähe Diebstähle vorgekommen; der Geselle stand Wache: Fritz
Nettenmair war daheim ein ängstlicher Mann geworden. Die übrigen Leute
wunderten sich über das Vertrauen Fritz Nettenmair's zu dem Gesellen.
Apollonius warnte ihn wiederholt. Freilich! Er hatte Gründe, die Wache
nicht zu wünschen, am allerwenigsten von dem Gesellen, der ihm nicht
gewogen war. Und das eben war Fritz Nettenmair's Grund, dem Gesellen zu
vertrauen und auf die Warnungen nicht zu hören. Als Fritz Nettenmair zu
dem Bruder gesagt: es tut mir leid, war er des Gesellen gewahr geworden.
In seinem Grinsen hatte er gelesen, der Geselle durchschaute ihn und
wußte, was Fritz Nettenmair fürchtete. Da biß er die Zähne aufeinander;
eine halbe Stunde später übertrug er ihm die Wache und die
Stellvertretung in Schuppen und Grube. Es kostete wenig Worte. Der
Geselle verstand, was Fritz ihm sagte, daß er sollte; er verstand auch,
was Fritz nicht sagte und dennoch sollte. Fritz Nettenmair traute seiner
Redlichkeit im Geschäfte so wenig wie Apollonius. Er erkannte, der
Geselle würde dort mißbrauchen, daß er etwas wußte, wovon außer ihm und
Fritz Nettenmair niemand Kunde hatte und niemand Kunde haben durfte. Die
Unredlichkeit des Gesellen dort haftete ihm für seine Redlichkeit, wo er
sie nötiger brauchte. Es war die Sorglosigkeit fieberhafter Angst um
alles andere, was sich nicht auf ihren Gegenstand bezieht.

Der alte Herr im blauen Rock hatte schlimmere Träume als je; er horchte
gespannter als je auf jeden flüchtigen Laut, hörte mehr heraus und baute
immer größere Lasten über seine Brust. Aber er fragte nicht.

                   *       *       *       *       *

Es war eines Abends spät. Fritz Nettenmair hatte vom Fenster der
Weinstube Apollonius sein Fahrzeug verlassen und an das fliegende Gerüst
binden sehen, er eilte nach seiner Gewohnheit aus dem Wirtshause, um
noch vor Apollonius heimzukommen. Er traf seine Frau in der Wohnstube
bei einer häuslichen Arbeit. Der Geselle trat herein und machte die
gewöhnliche Meldung. Dann sagte er seinem Herrn etwas in das Ohr und
ging.

Fritz Nettenmair setzte sich zur Frau an den Tisch. Hier saß er
gewöhnlich, bis ein schlürfender Tritt des Gesellen im Vorhaus ihm
sagte, Apollonius sei zu Bett gegangen. Dann suchte er sein Weinhaus
wieder auf; er wußte, das Haus war vor Dieben sicher, der Geselle war
bei der Wache.

Das Gefühl, wie er sein Weib in seiner Hand hatte, und sie sich leidend
darin ergab, hatte bisher dem Weine geholfen, einen schwachen
Widerschein in der jovialen Herablassung über ihn zu werfen, die ehedem
sonnenhaft von jedem Knopfe Fritz Nettenmairs geglänzt. Heute war der
Widerschein sehr schwach. Vielleicht, weil ihr Auge nicht den Boden
gesucht, als es sein Blick berührte. Er tat einige gleichgültige Fragen
und sagte dann:

»Du bist heute lustig gewesen.« Sie sollte fühlen, er wisse alles, was
im Hause geschehe, sei er auch selbst nicht drin. »Du hast gesungen.«

Sie sah ihn ruhig an und sagte: »Ja. Und morgen sing' ich wieder; ich
weiß nicht, warum ich nicht soll.«

Er stand geräuschvoll vom Stuhle auf und ging mit lauten Tritten hin und
her. Er wollte sie einschüchtern. Sie erhob sich ruhig und stand da, als
erwarte sie einen Angriff, den sie nicht fürchtete. Er trat ihr nahe,
lachte heiser und machte eine Handbewegung, vor der sie erschreckend
zurückweichen sollte. Sie tat es nicht. Aber das Rot des beleidigten
Gefühls trat auf ihre Wangen. Sie war scharfsinnig geworden, argwöhnisch
dem Gatten gegenüber. Sie wußte, daß er sie und Apollonius bewachen
ließ.

»Und hat er dir weiter nichts gesagt?« fragte sie.

»Wer?« fuhr Fritz Nettenmair auf. Er zog die Schultern empor und meinte,
er sähe aus, wie der im blauen Rock. Die junge Frau antwortete nicht.
Sie zeigte nach der Kammertür, in der das kleine Ännchen stand. »Der
Spion! der Zwischenträger!« preßte der Mann hervor. Das Kind kam
ängstlich mit zögernden Schritten. Es war im Hemdchen.

Fritz Nettenmair sah nicht das Flehen in des Kindes Blick: er sollte der
Mutter gut sein, die Mutter sei auch gut. Er sah nicht, wie das
häusliche Zerwürfnis auf dem Kinde lastete und es bleich gemacht; wie es
den Zustand mit durchlitt, ohne ihn zu verstehen. Er bemerkte nur, wie
gespannt es horchte, um dem erzählen zu können, der es zum Horchen
abgerichtet. Es wollte seine Knie umschlingen, sein Blick, seine
gehobene Faust drängte es zurück. Die Mutter nahm das Kind in stillem
Schmerz auf die Arme und trug es in die Kammer und in sein Bett zurück.
Sie fürchtete, was der Mann ihm tun konnte. Was er ihr tun konnte, das
fürchtete sie nicht. Sie sagte es dem Manne, als sie wieder hereinkam
und die Tür verschlossen, wie um das Kind vor ihm zu retten.

»Ich bin eins geworden mit mir,« sagte sie, und in ihren Augen stand das
mit so glänzender Schrift, daß der Mann wieder hin und her schritt, um
nicht hineinsehen zu müssen. »Ich bin eins geworden mit mir. Die
Gedanken sind gekommen, daran bin ich nicht schuld, und ich habe sie
nicht kommen heißen. Ich habe nicht gewußt, sie waren bös. Dann hab' ich
mit den Gedanken gekämpft, und ich will nicht müd' werden, so lang' ich
lebe. Ich bin mit meiner Seele an dem Bett meiner seligen Mutter
gewesen, wo sie gestorben ist, und habe sie liegen sehen und habe die
drei Finger auf ihr Herz gelegt. Ich habe ihr versprochen, ich will
nichts Unehrliches tun und leiden, und habe sie mit Tränen gebeten, sie
soll mir helfen, nichts Unehrliches tun und leiden. Ich habe so lange
gesprochen und so lange gebeten, bis alle Angst fortgewesen ist, und ich
hab' gewußt, ich bin ein ehrlich Weib und ich will ein ehrlich Weib
bleiben. Und niemand darf mich verachten. Was du mir tun willst, davor
fürchte ich mich nicht und wehre mich nicht. Du tust's auf dein
Gewissen. Aber dem Kinde sollst du nichts tun. Du weißt nicht, wie stark
ich bin und was ich tun kann. Ich leid' es nicht; das sag' ich dir!«

Sein Blick flog scheu an der schlanken Gestalt vorüber, er berührte
nicht das bleiche, schöne Antlitz; er wußte, ein Engel stand darauf und
drohte ihm. O, er erkannte, er fühlte, wie stark sie war; er empfand,
wie mächtig der Entschluß eines ehrlichen Herzens schirmt. Aber nur
gegen ihn! er empfand es an seiner Schwäche. Er fühlte, ihr mußte
glauben, wer glauben durfte. Dies Recht hatte er im unehrlichen Spiele
verspielt. Er hätte ihr glauben müssen, wußte er nicht, es mußte kommen,
was kommen mußte. Sie nicht, niemand konnte es verhindern. Einen
Rettungsweg zeigte ihm sein Engel, ehe er ihn verließ. Wenn er redlich,
unablässig sich mühte, gut zu machen, was er an ihr verschuldet. Wenn er
ihr die Liebe tätig zeigte, die die Angst vor dem Verluste ihn gelehrt.
Hatte er nicht Helfer? Mußten die Kinder nicht seine Helfer sein? Und
das Pflichtgefühl, das so stark war? Die tote Mutter, an deren Bett sie
in Gedanken getreten, auf deren Herz sie ihre Schwurfinger gelegt? Aber
eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, scheucht ihn zurück, wie er
sich ihr nahen will. Er ist dem Gespenste seiner Schuld verfallen, dem
Gedanken der Vergeltung, der ihn unwiderstehbar treibt, das zu schaffen,
was er verhindern will. Zu tief hat ihn die lange, stete Gewohnheit, ihn
zu denken, eingegraben. Hoffnung und Vertrauen sind dem Gedanken fremd;
der Haß ist ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hilfe. -- Draußen schlürft
der Fuß des Gesellen auf dem Sande des Vorhauses. Das Haus ist sicher
vor Dieben. Er kann wieder gehen.

Fritz Nettenmair ist heute im Weinhaus so jovial, als er sein kann.
Seine Schmeichler haben Durst und lassen sich seine Herablassung
gefallen. Er trinkt, schlägt seinen Gästen die Hüte über die Ohren und
das Gesicht und übt mit Stock und Hand manche andere zarte Liebkosungen
und belacht sie als geistreiche Scherze mit bewunderndem Lachen. Er tut
alles, sich zu vergessen; es gelingt ihm nicht.

Könnte er mit seiner jungen Frau tauschen, die unterdes einsam daheim
sitzt! Wonach er sich sehnt: sich zu vergessen, dagegen muß sie sich
wehren. Was er muß, was er mit aller Mühe nicht abwenden kann, danach
ringt sie, und es will ihr nicht gelingen, sich auf sich selbst zu
besinnen. -- Was hilft es, daß sie es dem Kinde verbot? alle ihre
Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie meinte, sie wich ihm aus, und sie
sieht, er flieht sie. Sie sollte sich freuen, und es tut ihr weh. Ihre
Wangen brennen wieder. Eigen ist es, daß sie selbst ihren Zustand
strenger und milder ansieht, je nachdem sie in Gedanken Apollonius
strenger oder milder darüber urteilend glaubt. So ist er ihr das
unwillkürliche Maß der Dinge geworden. Weiß er, wie sie ist, und
verachtet sie? Er ist so mild und nachsichtig; er hat die Anne nicht
verspottet, nicht verachtet; er hat ihr das Wort geredet gegen
Verachtung und Spott. Hat sie schon, ehe er kam, Gedanken gehabt, die
sie nicht haben sollte, und er hat sie erraten? Ist sie sich doch, als
wäre sie mit allem, was sie weiß und wünscht, nur ein Gedanke in ihm,
den er weiß, wie seine andern. Und sie hat ihn gedauert; und darum sah
er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn sie ging? Ja! Gewiß! Und nun floh
er sie aus Schonung; sein Anblick sollte nicht Gedanken in ihr wecken,
die besser geschlafen hätten, bis sie selber schlief im Sarg. Er
vielleicht selbst hatte es ihrem Manne gesagt oder geschrieben; und
dieser hatte das Mittel gewählt, sie durch Widerwillen zu heilen.

War es Zufall, daß sie in diesem Augenblicke nach ihres Mannes
Schreibpult blickte? Sie sah, er hatte den Schlüssel abzuziehen
vergessen. Sie erinnerte sich, er war nie so nachlässig gewesen. Sonst
hatte sie keine Acht darauf gehabt; jetzt erst fiel ihr auf, er war,
wußte er sie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem Zimmer gegangen,
ohne zu schließen und den Schlüssel abzuziehen. Im obersten Fache rechts
lagen Apollonius' Briefe; ihr Blick war sonst der Stelle ausgewichen.
Jetzt öffnete sie das Pult und zog das Fach heraus. Ihre Hände
zitterten, ihre ganze Gestalt bebte. Nicht aus Furcht, ihr Mann könnte
sie dabei überraschen. Sie mußte wissen, wie es stand zwischen ihr,
Apollonius und ihrem Mann; sie hätte diesen gefragt; sie hätte sich
nicht selbst geholfen, konnte sie ihrem Manne trauen. Sie bebte vor
Erwartung, was sie finden wird. Ob sie etwas davon ahnt, was sie finden
wird?

Es waren viele Briefe in dem Fach; alle lagen offen und entfaltet darin,
und alle schienen nur Abdrücke eines einzigen zu sein, so sehr glichen
sie sich; nur daß die Züge in den ersten weicher erschienen. Wie
abgezirkelt stand die Anrede in jedem genau auf derselben Stelle; genau
um ebenso viel Zoll und Linien darunter der Beginn des Briefes. Der
Abstand der schnurgeraden Zeilen voneinander und vom Rande des Bogens
war in allen der gleiche; nichts war ausgestrichen; keine kleinste
Unregelmäßigkeit verriet die Stimmung des Schreibers oder eine
Veränderung derselben; ein Buchstabe genau wie der andere.

Sie berührte die Briefe alle, einen um den anderen, ehe sie las. Mit
jedem schlug neue glühende Röte über ihre Wangen, als berührte sie
Apollonius selbst, und sie zog die Hand unwillkürlich zurück. Jetzt fiel
mit einem Briefe eine kleine metallene Kapsel in den Kasten zurück; die
Kapsel fuhr auf, und heraus fiel eine kleine, dürre Blume. Ein kleines,
blaues Glöckchen. Solch eines, wie sie einst auf die Bank gelegt, damit
er es finden sollte. Sie erschrak. Jene hatte Apollonius ja noch
denselben Abend mit Spott und Hohn unter seinen Kameraden ausgeboten und
gefragt, was sie gäben, und dann unter dem Lachen aller dem Bruder
feierlich zugeschlagen. Dieser brachte sie ihr und erzählte ihr es
während des Tanzens, und Apollonius sah zum Saalfenster herein, höhnend,
wie der Bruder sagte. Jene hatte sie zerpflückt; das junge Volk war über
die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der Kapsel war eine andere. Es
mußte in dem Briefe stehen, von wem sie war oder wem sie Apollonius
schickte.

Und doch war es dieselbe Blume. Sie las es. Wie ward ihr, als sie las,
es war dieselbe! Träne um Träne stürzte auf das Papier, und aus ihnen
quoll ein rosiger Duft und verhüllte die engen Wände des Stübchens. In
dem Duft regte sich ein Wehen, wie von leichtem Morgenwind im Lenz, wenn
er die leichten Nebel flatternd ballt und durch die Risse goldener
Himmel lacht und goldene Höhen. Und immer weiter wird der Blick, und wie
der Schleier wogend tief und tiefer sinkt, steigen rauschende Wälder
auf, grüne Wiesen mit ihrem Blumenschmelz, trauliche Gärten mit laubigen
Schatten, Häuser mit glücklichen Menschen. O, es war eine Welt von
Glück, von Lachen und Weinen vor Glück, die aus den Tränen stieg, jede
färbte sie regenbogenglänzender, jede rief: sie war dein, und die letzte
jammerte: und sie ist dir gestohlen! Die Blume war von ihr; er trug sie
auf seiner Brust in Sehnsucht, Hoffen und Fürchten, bis die des Bruders
war, deren er dabei gedachte. Dann warf er sie, die Botin des Glückes,
dem geschiedenen nach. Er war so brav, daß er für Sünde hielt, die arme
Blume dem vorzuenthalten, der ihm die Geberin gestohlen. Und an solchem
Manne hätte sie hängen dürfen, sich mit allen Pulsen in ihn
drängen, ihn mit tausend Armen der Sehnsucht umschlingen zum
Nimmerwiederfahrenlassen! Sie hätte es gekonnt, gedurft, gesollt! es
wäre nicht Sünde gewesen, wenn sie es tat; es wäre Sünde gewesen, tat
sie es nicht. Und nun wäre es Sünde, weil der sie und ihn betrogen, der
sie nun quälte um das, was er zur Sünde gemacht? Der sie zur Sünde
zwang; denn er zwang sie, ihn zu hassen; und auch das war Sünde, und
durch seine Schuld. Der sie zwang -- er zwang sie zu mehr, zu Gedanken,
die mit Gott im Himmel hadern wollten, zu Gedanken, die aus der Liebe
und dem Hasse, die Gott verbot, ein Recht machen wollten, zu schrecklich
klugen, verführerisch flüsternden, wilden, heißen, verbrecherischen
Gedanken. Und wies sie diese schaudernd von sich, dann sah sie
unabsichtliche Sünde unabwendbar drohen. Mit entsetzlich süßem Bangen
wußte sie den Mann so nahe, der ihr fremd sein sollte, der ihr nicht
fremd war, vor dem sie in der Angst ihrer Schwäche keine Rettung sah.
Sie floh vor ihm, vor sich selbst in die Kammer, wo ihre Kinder
schliefen, wo ihre Mutter gestorben war. Dorthin, wo ihr so heilig
wurde, hörte sie das leise Regen der unschuldig schlummernden Leben, zu
deren Hüterin sie Gott gesetzt; die ruhigen Hauche hinflüstern durch die
stille, dunkle Nacht. Jeder Hauch ein sorglos süß aufgelöstes
Sichbefehlen an die unbekannte Macht, die das All in ihren Mutterarmen
trägt. Sie ging von Bett zu Bett und lag kniend regungslos davor, und
legte die Stirn an die scharfen Brettkanten.

Vom Sankt Georgenturme her klangen die Glocken, wie sie der Schritt der
Zeit berührte; und er hielt nicht an im Wandern. Es schlug viertel,
halb, dreiviertel, ganz und wieder viertel und wieder halb. Das leise
Weben der schlummernden Kinderseelen zitterte um sie. Sie lag, die
heißen Hände gefalten, lange, lange. Da stieg es empor aus dem leisen
Weben, silbern wie ein Ostermorgenglockenklang. Was fürchtest du dich
vor ihm? Und sie sah all ihre Engel um sich knien, und er war einer von
ihren Engeln, der schönste und der stärkste und der mildeste. Und sie
durfte zu ihm aufsehen, wie man zu seinen Engeln aufsieht. Sie stand auf
und ging in die Stube zurück. Die Briefe breitete sie auf dem Tische
aus, dann ging sie zur Ruhe. Ihr Besitzer sollte wissen, wenn er
heimkehrte und die Briefe fand, sie hatte sie gelesen. Nicht um ihn zu
erschrecken, nicht als Anklage, wie sie auch von ihm denken mochte. Er
las davon ab, was das Bewußtsein seiner Schuld darauf schrieb; er las
aus seiner Beleidigung ihr Rachedrohen und ihre Pläne, es in das Werk zu
setzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wäre er so rein gewesen als sie,
er hätte gewußt, sie hatte nur dem Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt.
Sie schied schwer von den Briefen: aber sie gehörten nicht ihr. Nur die
Kapsel mit der dürren Blume nahm sie weg und wollt ihm am Morgen sagen,
daß sie es getan.

Fritz Nettenmair saß noch ganz allein im Weinhaus. Das Haupt hing ihm
müde auf die Brust herab. Er rechtfertigte vor sich seinen Haß und sein
Tun. Der Bruder und sie waren falsch; der Bruder und sie waren schuld,
nicht er, daß er hier vergeudete, was seinen Kindern gehörte. Wer ihm
ihr Herz gestohlen, konnte für sie sorgen. Eben war es ihm gelungen,
sich zu überzeugen, als daheim die Kammertüre ging. Die Frau war wieder
vom Bett aufgestanden und legte auch die Kapsel mit der Blume wieder zu
den Briefen. Apollonius hatte sie nicht behalten, sie durfte es auch
nicht. Der Gatte dachte noch nicht an das Heimgehen, als sie die Decke
wieder über ihre reinen Glieder breitete. Über dem Gedanken, sofort
sollte Apollonius ihr Leitstern sein, und wenn sie handelte wie er,
blieb sie rein und bewahrt, schlief sie ein und lächelte im Schlummer,
wie ein sorglos Kind.

                   *       *       *       *       *

Das Leben in dem Hause mit den grünen Laden wurde immer schwüler. Die
gegenseitige Entfremdung der Gatten nahm mit jedem Tage zu. Fritz
Nettenmair behandelte die Frau immer rücksichtsloser, wie seine
Überzeugung wuchs, durch Schonung sei nichts mehr zu gewinnen. Diese
Überzeugung floß aus der immer kälteren Ruhe der Verachtung, die sie ihm
entgegensetzte; er dachte nicht, daß er selbst sie zu dieser Verachtung
zwang. Es war eine unglückliche, immer steigende Wechselwirkung. So
wenig Apollonius mit dem Bruder und der Schwägerin zusammentraf, ihr
Zerwürfnis mußte er bemerken. Es machte ihn unglücklich, daß er die
Schuld davon trug. In welcher Weise er sie trug, das ahnte er nicht.
Während die Schwägerin mit liebender Verehrung an ihm hing und sich und
ihrem ganzen Hauswesen seine Physiognomie aufprägte, grübelte er über
den Grund ihres unbesiegbaren Widerwillens. Der Bruder tat nichts,
diesen Irrtum zu berichtigen; er bestätigte ihn vielmehr. Zuweilen,
indem er ihn überlegen bei sich verlachte, wenn Weinlaune und
geschmeichelte Eitelkeit ihre Wirkung taten. Der Stunden der
Erschlaffung, der Unzufriedenheit mit sich selbst waren freilich mehr.
Dann zwang er sich, Verstellung darin zu sehen, um an dem Mitleid mit
sich selber den Haß gegen die andern, in dem ihm wohl war, zu schärfen.

Apollonius wußte wenig von der Lebensweise des Bruders. Fritz Nettenmair
verbarg sie ihm aus dem unwillkürlichen Zwang, den Apollonius' tüchtiges
Wesen ihm abnötigte, den er aber niemand, am wenigsten sich selber,
eingestanden haben würde. Und die Arbeiter wußten, daß sie Apollonius
mit nichts kommen durften, was nach Zuträgerei aussah, am wenigsten,
wenn es seinen Bruder betraf, den er gern von allen geachtet gesehen
hätte, mehr als sich selbst. Aber er hatte bemerkt, Fritz sah ihn als
einen Eindringling in seine Rechte an, der ihm Geschäft und Tätigkeit
verleidete. Apollonius fühlte sich von dem Tage seiner Rückkehr nicht
wohl daheim; er war seinen Liebsten hier eine Last; er dachte oft an
Köln, wo er sich willkommen wußte. Bis jetzt hielt ihn die moralische
Verpflichtung, die er in Rücksicht der Reparatur auf sich genommen.
Diese ging mit raschen Schritten ihrer Vollendung entgegen. So durfte
der Gedanke seine Verwirklichung fordern, und er teilte ihn dem Bruder
mit.

Es wurde Apollonius anfangs schwer, den Bruder zu überzeugen, es sei ihm
Ernst mit der Rückkehr nach Köln. Fritz hielt es erst für einen listigen
Grund, ihn sicher zu machen. Der Mensch gibt ebenso schwer eine Furcht
auf als eine Hoffnung. Und er hätte sich eingestehen müssen, er habe den
zwei Menschen Unrecht getan, die des Unrechtes an ihm anzuklagen ihm
eine Gewohnheit geworden war, in der er eine Art Behagen fand. Er hätte
dem Bruder ein zweites Unrecht verzeihen müssen, das dieser von ihm
gelitten. Er fand sich erst darein, als es ihm gelungen war, in dem
Bruder wieder den alten Träumer zu sehen, und in dessen Vorhaben eine
Albernheit; als er ein unwillkürliches Eingeständnis darin sah, der
Bruder begreife in ihm den überlegenen Gegner und gehe aus Verzweiflung
am Gelingen seines schlimmen Planes. In dem Augenblick erwachte die
ganze alte joviale Herablassung, wie aus einem Winterschlaf. Seine
Stiefel knarrten wieder: da ist er ja! und: nun wird's famos! läuteten
seine Petschafte den alten Triumph.[2] Die Stiefel übertönten, was ihm
sein Verstand von den notwendigen Folgen seiner Verschwendung, von
seinem Rückgange in der allgemeinen Achtung vorhielt. Es war ihm, als
sei alles wieder so gut als je, war nur der Bruder fort. Er glaubte
sogar vorgreifend an seine außerordentliche Großmut, dem Bruder zu
verzeihen, daß er dagewesen. Er richtete sich vor dem Bruder schon in
der ganzen alten Größe wieder auf, in der er als alleiniger Chef des
Geschäfts dem Ankömmling gegenübergestanden; er winkte ihm mit seinem
herablassendsten Lachen zu, daß er es schon bei dem im blauen Rock
durchsetzen wolle; er selber müsse Apollonius fortschicken.

[Fußnote 2: Die von der Uhrkette herabhängenden Petschafte.]

Die junge Frau fühlte anders. Fritz Nettenmair war zu klug, ihr
vorläufig davon zu sagen. Aber der alte Valentin war nicht so klug und
wußte nicht, warum er so klug sein sollte. Der alte Valentin war ein
närrischer Geselle. Dem alten Herrn sagte er nichts. Es war wunderlich,
wie gewissenhaft er seine Pflicht an das Haus verteilte, der ehrlichste
Achselträger, den es je gegeben. Er verriet den jungen Leuten nie etwas,
was er dem alten Herrn abgemerkt; aus Treue gegen den blauen Rock
verbarg er es den Jungen so angestrengt, als der alte Herr selbst. Aber
er war auch den Jungen so treu ergeben, daß der alte Herr von ihnen
nichts durch ihn erfuhr, als was sie selber wollten, und hätte der alte
Herr getan, was er nie tat, nämlich ihn danach gefragt.

Der jungen Frau war es, als sollte ihr Engel von ihr scheiden. Sie
empfand, daß sie in seiner Nähe sicherer vor ihm war als von ihm
entfernt; denn all der Zauber, der ihren Wünschen wehrte, sündhaft zu
werden, floß ja aus seinen ehrlichen Augen auf sie nieder; von der
Stirn, die so rein war, daß ein sündhafter Blick verzweifelte, sie
befleckend in sein Begehren mitzureißen, und selbst gereinigt und
reinigend in die Seele zurückkam, die ihn geschickt.

Apollonius sollte nicht gehen, und das durch des Bruders Schuld, den
allein in der ganzen Stadt sein Gehen freute. Freilich wird er die
Schuld nicht anerkennen; auch diese wird er von sich ab und auf den
Bruder schieben. Apollonius hatte auch dem Bauherrn von seinem
Entschlusse gesagt. Es befremdete ihn, daß der brave Mann -- der sonst
alles, was Apollonius tun würde, schon im voraus gebilligt, als könnte
Apollonius nichts tun, was er nicht billigen müßte -- die Mitteilung mit
fremder, wie verwundert einsilbiger Kälte aufnahm. Er drang in ihn, ihm
den Grund dieser Veränderung zu sagen. Die braven Männer verständigten
sich leicht. Der Bauherr sagte ihm, nachdem er sich gewundert,
Apollonius damit unbekannt zu finden, was er von des Bruders Lebensweise
wußte, und war der Meinung, Geschäft und Haus seines Vaters könne ohne
Apollonius' Hilfe nicht bestehen. Er versprach, sich weiter nach der
Sache zu erkundigen und war bald imstande, Apollonius nähere
Aufklärungen zu geben. Hier und da in der Stadt war der Bruder nicht
unbedeutende Summen schuldig, das Schiefergeschäft war, besonders in der
letzten Zeit, so saumselig und ungewissenhaft betrieben worden, daß
manche vieljährige Kunden bereits abgesprungen waren und andere im
Begriff standen, es zu tun. Apollonius erschrak. Er dachte an den Vater,
an die Schwägerin und ihre Kinder. Er dachte auch an sich, aber eben das
eigene starke Ehrgefühl stellte ihm zuerst vor, was der alte, stolze,
rechtliche, blinde Mann leiden müßte bei der Schande eines möglichen
Konkurses. Er fand sein Brot; aber des Bruders Weib und Kinder? Und sie
waren des Darbens nicht gewohnt. Er hatte gehört, das Erbe der Frau von
ihren Eltern war ein ansehnliches gewesen. Er schöpfte Hoffnung, es
könne noch zu helfen sein. Und er wollte helfen. Kein Opfer von Zeit und
Kraft und Vermögen sollte ihm zu schwer werden. Konnte er den Verfall
nicht aufhalten, darben sollten die Seinigen nicht.

Der wackere Bauherr freute sich über seines Lieblings Denkart, auf die
er gerechnet; es hatte ihn befremdet, daß sie sich nicht schon früher
gezeigt. Er bot Apollonius seine Hilfe an; er habe weder Frau noch
Kinder, und Gott habe ihn etwas erwerben lassen, um einem Freunde damit
zu helfen. Noch nahm Apollonius kein Anerbieten an. Er wollte erst
sehen, wie es stand, um sich Gewißheit zu verschaffen, ob er ein
ehrlicher Mann bleiben konnte, wenn er den freundlichen Erbieter beim
Worte nahm.

Es kamen schwere Tage für Apollonius. Der alte Herr durfte noch nichts
wissen und, wenn seine Ehre aufrechtzuerhalten war, auch nicht erfahren,
daß sie gewankt. Apollonius bedurfte dem Bruder gegenüber seine ganze
Festigkeit und seine ganze Milde. Er mußte ihm täglich imponieren und
stündlich verzeihen. Schon das war nicht leicht, den Stand seines
Vermögens, seine Gläubiger und den Betrag der Schulden von ihm zu
erfahren. Vergebens machte Apollonius seine gute Meinung geltend, der
Bruder glaubte ihm nicht; und hätte er ihm glauben müssen, er hätte ihn
darum nicht weniger gehaßt. Er haßte sich selbst in Apollonius, und
haßte ihn darum um so mehr, je hassenswerter sein eigenes Tun ihm
erschien.

Als Apollonius die Gläubiger und die Beträge wußte, untersuchte er den
Stand des Geschäfts und fand ihn verwirrter, als er gefürchtet. Die
Bücher waren in Unordnung; in der letzten Zeit war gar nichts mehr
eingetragen worden. Es fanden sich Briefe von Kunden, die sich über
schlechte Ware und Saumseligkeit beklagten, andere mit Rechnungen von
dem Grubenbesitzer, der neue Bestellungen nicht mehr kreditieren wollte,
da die alten noch nicht bezahlt waren. Das Vermögen der Frau war zum
größten Teile vertan; Apollonius mußte den Bruder zwingen, die Reste
davon herauszugeben. Er mußte mit den Gerichten drohen. Was litt
Apollonius mit seinem ängstlichen Ordnungsbedürfnis mitten in solcher
Verwirrung; was mit seinem starken Ehrgefühl für seine Angehörigen, dem
Bruder gegenüber! Und doch sah dieser in jeder Äußerung, jedem Tun des
Leidenden nur schlecht verhehlten Triumph. Nach unendlichen Mühen gelang
Apollonius eine Übersicht des Zustandes. Es ergab sich: wenn die
Gläubiger Geduld zeigten und man die Kunden wieder zu gewinnen
vermochte, so war mit strenger Sparsamkeit, mit Fleiß und
Gewissenhaftigkeit die Ehre des Hauses zu retten, und ermüdete man
nicht, konnten die Kinder des Bruders ein wenigstens schuldenfreies
Geschäft einst als Erbe übernehmen. Apollonius schrieb sogleich an die
Kunden, dann ging er zu den Gläubigern des Bruders. Die ersten wollten
es noch einmal mit dem Hause versuchen; man sah, sie gingen sicher; ihre
neuen Bestellungen waren wenig mehr als Proben. Bei den Gläubigern hatte
er die Freude, zu sehen, welches Vertrauen er bereits in seiner
Vaterstadt gewonnen. Wenn er die Bürgschaft übernahm, blieben die
schuldigen Summen als Kapitale gegen billige Zinsen zur allmählichen
Tilgung stehen. Manche wollten ihm noch bares Geld dazu anvertrauen. Er
machte keinen Versuch, die Wahrheit dieser Versicherungen auf die Probe
der Tat zu stellen, und gewann dadurch das Vertrauen der Versichernden
nur noch mehr. Nun stellte er dem Bruder anspruchlos und mit Milde dar,
was er getan und noch tun wolle. Vorwürfe konnten nichts helfen, und
Ermahnungen hielt er für unnütz, wo die Notwendigkeit so vernehmlich
sprach. Der Bruder konnte, wenn Apollonius die Leitung des Ganzen, des
Geschäftes und des Hauswesens, alle Einnahmen und Ausgaben von nun an
allein und vollkommen selbständig übernahm, keine willkürliche
Beeinträchtigung darin sehen. In der Sache, in der er seine Ehre zum
Pfande gesetzt, mußte Apollonius frei schalten können. Das ungestörte
Zusammenwirken all der Tätigkeiten, durch die allein der beabsichtigte
Erfolg zu erreichen war, verlangte die Leitung einer einzigen Hand.

Das Verkaufsgeschäft mußte vor allen Dingen wieder in Aufnahme gebracht
werden. Der Grubenherr hatte immer schlechtere Ware geliefert und der
Bruder solche für gute annehmen müssen, um nur überhaupt Ware zu
erhalten; die Anerbieten der übrigen Gläubiger, die Schuld als Kapital
stehen zu lassen, nahm er an, um mit dem, was von den Vermögensresten
der Frau zunächst flüssig gemacht werden konnte, dem Grubenherrn die
alte Schuld abzutragen und eine bedeutende neue Bestellung sogleich bar
zu bezahlen. So erhielt man wieder und zu billigerem Preise gute Ware,
und konnte auch seine Abnehmer bewähren. Der Grubenherr, der bei dieser
Gelegenheit Apollonius und dessen Kenntnis des Materials und seiner
Behandlung kennen lernte, machte ihm den Antrag, da er alt und
arbeitsmüde sei, die Grube zu pachten. Bei den Bedingungen, die er
stellte, konnte Apollonius auf großen Nutzen rechnen, aber so lange er
noch in schwerer Lage auf sich allein stand, durfte er seine Kräfte
nicht zwischen mehrere Unternehmungen teilen.

Apollonius entwarf seinen Plan für das erste Jahr und setzte ein
Gewisses fest, das der Bruder zur Führung des Hausstandes allwöchentlich
von ihm in Empfang zu nehmen hatte. Er entließ von den Leuten, wer nur
irgend zu entbehren war. Den ehrlichen Valentin machte er zum Aufseher
für die Zeit, wo er selbst in Geschäften auswärts sein mußte. Es lag
begründeter Verdacht vor, daß der ungemütliche Geselle sich mancher
Veruntreuung schuldig gemacht. Fritz Nettenmair, der an dem Wächter
seiner Ehre wie an ihrem letzten Bollwerke festhielt, tat alles, ihn zu
rechtfertigen und dadurch im Hause zu erhalten. Der Geselle hatte zu
allem, was man ihm vorwarf, ausdrücklichen Befehl von ihm gehabt.
Apollonius hätte den Gesellen gern gerichtlich belangt; er mußte sich
begnügen lassen, ihn abzulohnen und ihm das Haus zu verbieten.
Apollonius war unerbittlich, so mild er seine Gründe dem Bruder vortrug.
Jeder Unbefangene mußte sagen, er durfte nicht anders, der Geselle mußte
fort. Auch Fritz Nettenmair dachte, als er allein war, aber mit wildem
Lachen: »Freilich muß er fort!« In dem Lachen klang eine Art Genugtuung,
daß er recht gehabt, eine Schadenfreude, mit der er sich selbst
verhöhnte:

»Der Federchensucher wäre ein Narr, wenn er ihn nicht schickte. Ein
Narr, wie ich einer war, daß ich glaubte, er würde ihn doch behalten. O,
ich bin zu ehrlich, zu dummehrlich gegen so einen. Was gehen ihn meine
Schulden an? In seiner Gewalt wollte er mich haben; darum zwang er mich,
Schulden zu machen, damit er den Gesellen fortschicken konnte, der ihm
hinderlich war. Herr im Hause wollte er sein, darum verdrängte er mich
aus einer Stellung nach der andern, damit er mich einschüchtern könnte,
daß ich leiden müßte, was er will, um mit ihr zusammen zu kommen ohne
mich. Und wenn er recht hat, warum läßt er sich soviel von mir gefallen?
Ein ehrlicher Kerl, wie ich, wäre anders gegen mich. Es ist sein böses
Gewissen. Er wäre nicht so, wenn er nicht falsch wäre. Eine Zwickmühle
ist's. Was das Einschüchtern nicht hilft, soll das Einschmeicheln
helfen. Er ist mir nicht klug genug. Ich bin einer, der die Welt besser
kennt, als der Träumer!«

Was auch Apollonius ihm zeigen mochte, Strenge und Milde bestärkte ihn
nur in dem Gedanken, der ihn um so weniger losließ, je länger er ihn
hegte, und um so durstiger wurde, sein Herzblut zu trinken, je länger er
ihn damit fütterte. Er sah kein äußeres Hindernis mehr, das die
verbrecherische Absicht des Bruders verhindern konnte.

Von nun an wechselte sein Seelenzustand zwischen verzweifelter Ergebung
in das, was nicht mehr zu verhindern, ja! was wohl schon geschehen war,
und zwischen fieberischer Anstrengung, es dennoch zu verhindern. Danach
gestaltete sich sein Benehmen gegen Apollonius als unverhehlter Trotz
oder als kriechend lauernde Verstellung. Beherrschte ihn die erste
Meinung, dann suchte er Vergessen Tag und Nacht. Zu seinem Unglück hatte
der Geselle im nahen Schieferbruche Arbeit gefunden und war ganze Nächte
lang sein Gefährte. Die bedeutenden Leute wandten sich von ihm und
rächten sich mit unverhohlener Verachtung für das Bedürfnis, das er
ihnen geweckt und nicht mehr befriedigen konnte; sie vergalten ihm nun
die joviale Herablassung, die sie von ihm ertrugen, solange er sie mit
Champagner bezahlte. Er wich ihnen aus und folgte dem Gesellen an die
Orte, wo dieser heimisch war. Hier griff er die joviale Herablassung um
eine Oktave tiefer. Nun ertönten die Branntweinkneipen von seinen Späßen
und diese nahmen immer mehr von der Natur der Umgebung an. Hatten sie
doch in besseren Zeiten eine wie vordeutende Verwandtschaft mit diesen
gezeigt. Es kam die Zeit, wo er sich nicht mehr schämte, der Kamerad der
Gemeinheit zu sein.

Während Apollonius den Tag über für die Angehörigen des Bruders auf
seinem gefährlichen Schiff hämmert, und die Nächte über Büchern und
Briefen sitzt und sich den wohlverdienten Bissen abdarbt, um mit
liebendem Eifer gut zu machen, was der Bruder verdorben, erzählt dieser
in den Schenken, wie schlecht Apollonius an ihm gehandelt, weil er brav
sei und der Bruder schlecht. Er erzählte es so oft, daß er es selbst
glaubte. Er bedauert die Gläubiger, die sich von dem Scheinheiligen
bürgen ließen, der sie alle betrügen wird, und erzählt dabei ersonnene
Geschichten, die sein Bedauern glaubhaft machen sollen. Läge es an ihm,
Apollonius hämmerte vergebens und wachte vergebens bei seinen Büchern
und Briefen. Aber es glaubt ihm niemand; er untergräbt nur, was er
selbst noch von Achtung besitzt. Apollonius' Vorstellungen setzt er Hohn
entgegen. Dennoch hofft Apollonius, er wird seine Treue noch erkennen
und sich bessern. Seine Hoffnung zeugt besser von seinem eigenen Herzen,
als von seiner Einsicht in das Gemüt des Bruders. Kommt diesem der
Gedanke seiner Verdorbenheit, dann hat er einen Grund mehr, den
Federchensucher zu hassen, und die arme Frau muß es entgelten, kehrt er
zu einer Zeit heim, wo sich Apollonius schon wieder zum Ausgehen rüstet.

                   *       *       *       *       *

Dächer, die mit Metall oder Ziegeln eingedeckt sind, machen in der Regel
erst nach einer Reihe von Jahren eine Reparatur nötig; bei
Schieferdächern ist es anders. Durch die Rüstungen und das Besteigen der
Dachfläche während des Eindeckens entstehen unvermeidlich allerlei
Beschädigungen der Schieferplatten, die sich nicht immer sogleich
zeigen. Die ersten drei Jahre nach beendeter Ein- oder Umdeckung
verlangen oft bedeutendere Nachbesserungen als die fünfzig
Nächstfolgenden. Zu dieser alten Erfahrung gab auch das Kirchendach von
Sankt Georg seinen Beleg. Die Schieferdecke des Turmes dagegen, die
Apollonius allein besorgt, legte genügendes Zeugnis ab von ihres
Schöpfers eigensinniger Gewissenhaftigkeit. Die Dohlen, die sie
bewohnten, hätten noch lange Zeit Ruhe gehabt vor seinem Fahrzeug, hätte
nicht ein alter Klempnermeister seinen kirchlichen Sinn durch Stiftung
eines blechernen Zierates an den Tag legen wollen. Es war ein
Blumenkranz, den Apollonius dem Turmdach umlegen sollte, um
dessentwillen er diesmal seine Leiter an der Helmstange anknüpfte. Vor
etwas mehr als einem halben Jahre hatte er sie abgenommen.

Unterdes war sein angestrengtes Bestreben nicht ohne Erfolg geblieben.
Die alten Kunden hatte er festgehalten und neue dazugewonnen. Die
Gläubiger hatten ihre Zinsen und eine kleine Abschlagszahlung für das
erste Jahr; das Vertrauen und die Achtung vor Apollonius wuchs mit jedem
Tage; mit ihnen seine Hoffnung und seine Kraft, die er mit verdoppelter
Anstrengung bezahlte.

Könnte man nur dasselbe von seinem Bruder sagen! von dem Verständnis der
beiden Gatten!

Es war ein Glück für Apollonius, daß er mit seiner ganzen Seele bei
seinem Vorhaben sein mußte, daß er keine Zeit übrig behielt, dem Bruder
Schritt für Schritt mit Auge und Herz zu folgen, zu sehen, wie der immer
tiefer sank, den zu retten er sich mühte. Wenn er sich freute über sein
Gelingen, so war es aus Treue gegen den Bruder und dessen Angehörige;
der Bruder sah etwas andres in seiner Freude und dachte auf nichts, als
sie zu stören.

Es kam weit mit Fritz Nettenmair.

Im Anfang hatte er den größten Teil des wöchentlich für seinen Hausstand
Ausgesetzten der Frau übergeben. Dann behielt er immer mehr zurück und
zuletzt trug er das ganze dahin, wohin ihm das Bedürfnis, durch
Traktieren sich Schmeichler zu erkaufen, treuer gefolgt war, als die
Achtung der Stadt. Die Erfahrung an den »bedeutenden« Leuten hatte ihn
nicht bekehrt. Die Frau hatte sich kümmerlicher und kümmerlicher
behelfen müssen. Der alte Valentin sah ihre Not, und von nun an ging das
Haushaltsgeld nicht mehr durch ihres Mannes, sondern durch Valentins
Hände. Zuletzt wurde Valentin ihr Schatzmeister und gab ihr nie mehr,
als sie augenblicklich bedurfte, weil das Geld in ihren Händen nicht
mehr vor dem Manne sicher war. Sie mußte das, wie alles, von ihm
entgelten. Er war schon gewohnt, an der ganzen Welt, die ihn verfolgte,
an sich selbst, an dem Gelingen Apollonius', in ihr sich zu rächen.
Valentin hätte ihn schon lang darum bei Apollonius verklagt, wenn nicht
die Frau selber ihn daran gehindert hätte. Es war ihr eine Genugtuung,
um den Mann zu leiden, der ja um sie und ihre Kinder noch mehr litt.
Wußte sie Apollonius im Sturm auf der Reise, dann weilte sie stundenlang
im unbedeckten Hofe: das Wetter, das ihn traf, sollte auch sie treffen;
sie wollte eine gleich schwere Last tragen, wenn sie die seine nicht
erleichtern konnte. Soweit trieb sie ihre Opferlust.

Sonst benutzte sie die Zeit, die ihr Wirtschaft und Kinder übrig ließen,
zu allerlei Arbeiten, die Valentin als ihr Agent vertrieb. Das Geld
dafür verwandte sie zum Teil -- sie konnte lieber hungern, wenn auch
nicht ihre Kinder hungern sehen -- die Wohnstube mit allerlei zu
schmücken, wovon sie wußte, daß Apollonius es liebte. Und doch wußte
sie, Apollonius kam nie dahin, er sah es nie. Aber sie hätte es nicht
getan, wußte sie, er würde es sehen. Ihr Gatte sah es, so oft er in die
Stube trat. Ihm entging nichts, was seinem Zorne und seinem Hasse einen
Vorwand entgegenbringen konnte. Er sah die Haare seiner Knaben in
Schrauben gedreht, wie sie Apollonius trug; er sah die Ähnlichkeit
Apollonius in den Zügen der Frau und der Kinder entstehen und wachsen;
er hatte ein Auge für alles, was seines Weibes Verehrung für den Bruder,
was ihr bewußtes, selbst was ihr unbewußtes Sichhineinbilden in des
Verhaßten eigenste Eigenheit ausplauderte; er verfolgte dessen Einfluß
bis zu dem rechtwinkligen Stande der Wirbel an der Fenstersäule. Dann
begann er auf Apollonius zu schimpfen, und in Ausdrücken, als müßte nun
auch er zeigen, wieviel man von fremder Art annehmen könne.

Waren die Kinder zugegen, dann war es der Frau erste Sorge, sie zu
entfernen. Sie sollten seine Roheit nicht kennen und den Vater verachten
lernen. Nicht um seinet-, um der Kinder willen. Er verriet nicht, wie
gern er »die Spione« los war. Ihm war es nicht um die Kinder, nur um
sich selbst. So einsam hatte ihn die Verderbnis schon gemacht. Er
fürchtete die Anklage der Kinder bei Apollonius. Er dachte nicht, daß
die Frau selbst ihn verklagen könnte, von der er doch annahm, sie treffe
sich mit Apollonius. Leidenschaft und wüstes Leben hatten sein geringes
Klarheitsbedürfnis aufgezehrt. Seine Voraussetzungen mochten sich
widersprechen, widersprachen sie nur nicht der Stimmung des Augenblicks,
der Eigenwilligkeit seiner Leidenschaft. Alles, was er im Zimmer sah,
war ihm ein neuer Beweis seiner Schande. Wie sollte er glauben, es habe
einen andern Zweck, als von Apollonius bemerkt zu werden! Wenn sie ihm
dann sagt, sie möge er schimpfen, nur Apollonius nicht, dann zeigt ihm
das scharfe Auge der Eifersucht, wie sie einen Genuß darin findet, um
Apollonius zu leiden. Er wirft es ihr vor, und sie leugnet's nicht. Sie
sagt ihm: »weil er um mich leidet und um meine Kinder. Er gibt sein
mühsam Erspartes her, um zu ersetzen, wenn der Mann ihren Kindern das
wöchentlich Ausgesetzte raubt.«

»Und das sagt er dir? Das hat er dir gesagt!« lacht der Mann mit wilder
Freude, sie auf dem Geständnis zu ertappen, daß sie sich mit ihm trifft.

»Er nicht,« zürnt die Frau, weil der Verachtete Apollonius mit seinem
Maße mißt. Er, der Gatte, verkleinert, was andre für ihn taten, und
rückt, was er für andre tut, diesen unaufhörlich und übertreibend vor.
Apollonius dagegen vergrößert das Empfangene; von dem, was er erweist,
redet er nicht, oder er selbst verkleinert es, um dem andern Bitte,
Annahme und Verpflichtungsbewußtsein zu erleichtern. Apollonius selbst
sollte es sagen! Der alte Valentin hat es gesagt. Der hat ja die Uhr
selbst als seine verkauft, die Apollonius von Köln mitbrachte.
Apollonius hat ihm verboten, es ihr zu sagen.

»Und auch zu sagen, daß er's ihm verboten hat?« lachte der Gatte. Aber
es ist ein Etwas von Verachtung in seinem Lachen. Solche Dinge kann man
freilich dem Träumer zutrauen; aber jetzt will er es ihm nicht zutrauen.
»Freilich,« lacht er noch wilder. »Ein noch Dümmerer als der Träumer
weiß, umsonst tut's keine. Die Schlechteste hält sich eines Preises
wert. Eine mit solchen Haaren und mit solchen Augen, solchem Leib!« Er
greift ihr in die Haare und sieht ihr in die Augen mit einem Blick, vor
dem die Reinheit erröten muß, den nur die Verworfenheit lachend erträgt.
Er nimmt das Erröten für ein Geständnis und lacht noch wilder. »Du
willst sagen, ich bin noch schlechter als er. Hahaha! Du hast recht. Ich
habe eine solche geheiratet. Das hätte er nicht. Dazu ist er doch nicht
schlecht genug!«

Jeder Tag, jede Nacht brachte solche Auftritte. Wußte Fritz Nettenmair
den Bruder auswärts oder auf seiner Kammer und den alten Herrn im
Gärtchen, dann ließ er seinen Zorn an Tischen und Stühlen aus. An der
Frau selber sich zu vergreifen, wagte er noch nicht. Erst muß ihn die
Wut einmal über den Zauberkreis hinwegreißen, den ihre Unschuld, die
Hoheit stillen Duldens um sie zieht. Ist es einmal geschehen, dann hat
der Zauber seine Macht verloren und er wird zuletzt aus bloßer
Gewohnheit tun, wovor er jetzt noch zurückschreckt. Die Menschen wissen
nicht, was sie tun, wenn sie sagen: »ich tu's ja nur dies einemal.« Sie
wissen nicht, welch wohltätigen Zauber sie zerstören. Daß einmal nie
einmal bleibt. --

Der alte Valentin mußte doch nicht Wort gehalten haben oder es führte
Apollonius ein Zufall an der Tür vorbei, als der Bruder ihn fern
glaubte. Er hörte das Poltern, den wilden Zornesausbruch des Bruders, er
hörte den reinen Klang von der Stimme der Frau dazwischen, noch in der
Aufregung rein und wohlklingend. Er hörte beide, ohne zu verstehen, was
sie sprachen. Er erschrak. Soweit hatte er sich das Zerwürfnis nicht
vorgestellt. Er mußte tun, was er konnte, den Zustand zu bessern.

Der Bruder blieb erst wie versteinert in seiner drohenden Stellung, als
er den Eintretenden erblickte. Er hatte das Gefühl eines Menschen, der
plötzlich bei einem Unrechte überrascht wird. Hätte ihn Apollonius
angelassen, wie er verdiente, er wäre vor ihm gekrochen. Aber Apollonius
wollte ja versöhnen und sprach das ruhig und herzlich aus. Er hätte es
freilich wissen können, er hatte es oft genug erfahren, seine Milde gab
dem Bruder nur Mut zu höhnendem Trotz; er erfuhr es jetzt wieder. Fritz
verhöhnte ihn wild lachend, daß er einen Vorwand mache, wo er Herr sei.
Ob er sich deshalb zum Herrn des Hauses gemacht? Er wußte, er an
Apollonius' Stelle wäre anders aufgetreten. Er hätte es die fühlen
lassen, die er in seiner Gewalt wußte. Er war ein ehrlicher Kerl und
brauchte nicht schön zu tun. Dazu fiel ihm ein, wie oft er vergeblich
die Tür umschlichen, um Apollonius in der Stube zu überraschen. Jetzt
war er ja da in der Stube. Er war hereingetreten, weil er ihn nicht zu
finden meinte. Apollonius war es, der erschrecken mußte, Apollonius war
der Ertappte, nicht er. Die Versöhnung war nur der erste beste Vorwand,
nach dem Apollonius griff. Darum war er so kleinlaut. Darum erschrak die
Frau, die ihn glauben machen wollte, Apollonius komme nie in das Zimmer.
Darum sah sie so flehend zu ihm auf. Der verachtende Blick, mit dem sie
ihn noch eben gemessen, war mit der Larve der erheuchelten Unschuld
plötzlich von ihrem schuldbewußten Angesicht gerissen. Nun wußte er
gewiß: es war nichts mehr zu verhindern, nur noch zu vergelten. Er
konnte nun dem Bruder zeigen, er kannte ihn, hatte ihn immer gekannt.

Er wies auf die Frau. »Sie bettelt, ich soll gehen. Wozu? Ich sehe zum
Fenster hinaus. Das ist ebensogut. Ich sehe nicht, was ihr treibt.«

Apollonius verstand ihn nicht. Die Frau wußte es, ohne ihn anzusehen.
Sie wollte hinaus. In seiner Gegenwart erniedrigt zu werden bis zum Kot
unter den Füßen, das trug sie nicht. Der Gatte hielt sie fest mit wildem
Griff. Er packte sie wie ein Raubvogel. Sie hätte laut schreien müssen,
zehrte der Seelenschmerz den körperlichen nicht auf.

»Kehr' dich nicht daran, daß sie fort will,« schluchzte Fritz Nettenmair
vor krampfhaftem Lachen und faßte den Bruder so mit den Augen, wie er
die Frau mit seiner Hand gepackt hielt. »Brauchst nicht ängstlich zu
sein. Ich kehre nur den Rücken, so ist sie wieder da. So redet doch
miteinander. Du, sag' ihm, daß du ihn nicht leiden kannst; ich glaub's
ja; was glaubt ein Mann so einer nicht? Und du, gib ihr Lehren, von
Köln, wo du alles gelernt hast, wie man seinen Bruder von Haus und
Geschäft vertreibt, um -- nun, um -- hahaha! sag' ihr doch: ein Weib
soll willig sein. Was? O solch ein willig Weib ist -- sag' ihr doch, was
so eine ist. Sie weiß es noch nicht, die -- Unschuld! hahaha!«

Apollonius begriff nichts von dem, was er hörte und sah; aber der
Mißbrauch der männlichen Stärke an einem ohnmächtigen Weibe empörte ihn.
Unwillkürlich riß dies Gefühl ihn hin. Er verdoppelte seine ohnedies dem
Bruder weit überlegene Kraft, als er den packenden Arm faßte, so daß
dieser die Beute losließ und herabfiel wie gelähmt. Die Frau wollte
hinaus, aber sie brach kraftlos zusammen. Apollonius fing sie auf und
lehnte sie in das Sofa. Dann stand er wie ein zürnender Engel vor dem
Bruder.

»Ich habe dich durch Milde gewinnen wollen, aber du bist sie nicht wert.
Ich habe viel von dir ertragen und will's noch,« sagte Apollonius; »du
bist mein Bruder. Du gibst mir schuld, ich habe dich in das Unglück
gestürzt; Gott ist mein Zeuge, ich habe alles getan, was ich wußte, dich
zu halten. Für wen hab' ich getan, was du mir vorwirfst, als für dich
und um deine Ehre, und deine Frau und deine Kinder zu retten? Wer hat
mich dazu gezwungen, gegen dich streng zu sein? Für wen schaff' ich? Für
wen wach' ich? Wenn du wüßtest, wie mich schmerzt, daß du mich zwingst,
dir aufzurücken, was ich für dich tue! Weiß es Gott, du zwingst mich
dazu; ich hab's noch nicht getan, weder vor andern, noch vor mir selbst.
Du weißt es selbst, daß du nur einen Vorwand suchst, um unbrüderlich
gegen mich zu sein. Ich weiß es und will dich ertragen forthin wie bis
jetzt. Aber daß du aus der Abneigung deiner Frau gegen mich einen
Vorwand machst, auch sie zu quälen und sie zu behandeln, wie kein braver
Mann ein braves Weib behandelt, das dulde ich nicht.«

Fritz Nettenmair lachte entsetzlich auf. Der Bruder hatte ihn auf alle
Weise in Schande gebracht und wollte noch den Tugendhaften gegen ihn
spielen, den unschuldig Beleidigten, den ritterlichen Beschützer der
unschuldig Beleidigten. »Ein braves Weib! Ein so braves Weib! O
freilich! Ist sie's nicht? Du sagst's und du bist ein braver Mann. Haha!
Wer muß es besser wissen, ob ein Weib brav ist, als solch ein braver
Mann? Du hast mich nicht um alles gebracht? Du mußt mich noch um meinen
Verstand bringen, damit ich dein Märchen glaube. Sie ist dir abgeneigt?
sie kann dich nicht leiden? Ja, du weißt's noch nicht, wie sehr. Ich
darf nur fort sein, so wird sie dir's sagen. Dann wird dir's schlecht
gehen! Sie wird dich erdrücken, damit du ihr's glaubst. Wenn ich dabei
bin, sagt sie's nicht. So was sagt eine nicht, wenn der Mann dabei ist,
wenn sie brav ist, wie die. Warum sagst du nicht, du kannst auch sie
nicht leiden? O, ich hab' schon keinen Verstand mehr! Ich glaub' schon
alles, was ihr mir sagt!«

Fritz Nettenmair war in der Vergeßlichkeit der Leidenschaft überzeugt,
die beiden hatten das Märchen von der Abneigung erfunden.

Apollonius stand erschrocken. Er mußte sich sagen, was er nicht glauben
wollte. Der Bruder las in seinem Gesichte Schrecken über ein
aufdämmerndes Licht, Unwille und Schmerz über Verkennung. Und es war
alles so wahr, was er sah, daß er selbst es glauben mußte. Er verstummte
vor den Gedanken, die wie Blitze ihm durch das Hirn schlugen. So war's
doch noch zu verhindern gewesen! noch aufzuhalten, was kommen mußte! Und
wieder war er selbst -- -- Aber Apollonius -- das sah er trotz seiner
Verwirrung -- zweifelte noch und konnte nicht glauben. So war sein
Wahnsinn wohl noch gut zu machen, so war es vielleicht noch zu
verhindern, so war noch aufzuhalten, was kommen mußte, und wenn auch nur
für heut' und morgen noch. Aber wie? wenn er einen wilden Scherz daraus
machte? Dergleichen Scherze fielen an ihm nicht auf, und Apollonius war
ihm ja schon wieder der Träumer geworden, der alles glaubte, was man ihm
sagte. Und er selbst wieder einer, der das Leben kennt, der mit Träumern
umzugehen weiß. Er mußte es wenigstens versuchen. Aber schnell, ehe
Apollonius die Fremdheit des Gedankens überwunden, mit dem er kämpfte.
Er brach in ein Gelächter aus, eine schaurige Karikatur des jovialen
Lachens, womit er sich ehedem seine eigenen Einfälle zu belohnen
pflegte. Es war verwünscht, daß Apollonius sich glauben machen ließ,
Fritz Nettenmair sei eifersüchtig! Der joviale Fritz Nettenmair! Und
noch dazu auf ihn. Es war noch nichts Verwünschteres auf der Welt
passiert als das! Er las in der Frau Gesicht, wie die Wendung sie
erleichterte. Er wagte es, sich auf sie zu berufen, wie verwünscht das
sei. Ihre Bejahung machte ihn noch kühner. Er lachte nun über die Frau,
die so verwünscht sei, ihm zornig vorzuhalten, daß er sie von der Gnade
des Gehaßten abhängig gemacht, und lachte, daß daher die kleinen
Ehezwiste kamen. Er lachte über Apollonius, daß er einen kleinen Zank so
ernst nahm. Wo waren die Eheleute, bei denen dergleichen nicht vorkam?
Man sah eben, daß Apollonius noch ein Junggeselle war!

Apollonius hörte von der Hausflur die Stimme des Bauherrn, der nach ihm
fragte; er ging rasch hinaus, damit der Bauherr nicht hereinkomme und
Zeuge des Auftritts werde. Der Bruder hörte sie zusammen weggehen. Er
war noch keineswegs beruhigt. Das ehrliche Gesicht Apollonius' hatte,
als er hinausging, noch immer mit dem Gedanken gekämpft. Fritz
Nettenmair war voll Wut über sich selbst und mußte sie an der Frau
auslassen. Er fühlte in dem Augenblick, daß er alles tue, was ein Weib
schlecht machen kann. Ihr Blick verriet ihm, wie sie sich selbst
verachtete wegen des Ja, das sie sich hatte abzwingen lassen müssen, wie
sie sich sagte, daß nun nichts mehr an ihr zu verderben sei. Er mußte es
fürchten, wenn sie das sich selbst sagte. Er durfte sie soweit nicht
kommen lassen. Er wußte das, und gleichwohl höhnte er, sie könne ja auch
lügen, so geschickt, als irgendeine. Er war nie sein Herr gewesen; jetzt
war er es weniger als je.

                   *       *       *       *       *

In Fritz Nettenmair kämpfte heute eine Leidenschaft die andere nieder.
Die wüste Gewohnheit, im Trunk sich zu vergessen, zog ihn an hundert
Ketten aus dem Hause; die Furcht der Eifersucht hielt ihn mit tausend
Krallen darin fest. Hatte der Bruder noch nicht daran gedacht, was er
haben konnte, wenn er nur wollte; er selbst hatte ihn nun auf den
Gedanken gebracht. Und war der Bruder so brav, als er sich stellte,
seine alte Liebe, die Liebe und Schönheit der Frau -- Fritz Nettenmair
hatte es nie so lebhaft gefühlt, wie schön die Frau war -- seine eigene
Abhängigkeit von Apollonius, der Haß der Frau gegen ihn, die Gelegenheit
des Zusammenwohnens, und, was all diesen Dingen erst die Gewalt gab über
seine Furcht, das Bewußtsein seiner Schuld! Und war Apollonius so brav,
als er sich stellt -- solchen Mächten gegenüber kann er ihm nicht
trauen. Den ganzen Tag rechnete er an seiner Angst herum und ließ seine
Frau nicht aus seinen Augen. Erst wie es ruhig wird um ihn, die Frau die
Kinder zu Bett gebracht hat und selbst zur Ruhe gegangen ist, erst als
er kein Licht mehr sieht in Apollonius' Fenstern, da lassen ihn die
Krallen und die Ketten ziehen desto stärker. Er verschließt die
Hintertür, die Apollonius von den Räumen des Hauses trennt, er schiebt
auch noch den Riegel vor, er schließt sogar die Treppentür der
Emporlaube und zuletzt die Tür, durch die er geht. Er hat Ursache zu
eilen, ohne daß er es weiß. Der Geselle darf nicht lang mehr warten.
Fritz Nettenmair weiß es noch nicht: Apollonius hat es beim Grubenherrn
dahin gebracht, daß der Geselle aus der Arbeit entlassen ist; und bei
der Polizei, daß er morgen sich nicht mehr in der Gegend betreten lassen
darf. Der Geselle ist fertig zur Abreise; von dem Wirtshause hinweg geht
er in die weite Welt; er will nur noch Abschied nehmen von seinem
ehemaligen Herrn und ihm noch etwas sagen.

Es gibt nicht viel mehr auf der Welt, woran Fritz Nettenmair hängt. Der
Weg, den er geht, führt immer weiter ab von dem, was ihm das Liebste
war; es ist unwiederbringlich für ihn verloren. Der Bewunderte und
Geschmeichelte wird er nie wieder. An seiner Frau hängt er nur noch
durch die glühende Kette der Eifersucht gefesselt. An dem Vater hat er
nie gehangen; den Bruder haßt er. Er haßt und weiß sich gehaßt oder
glaubt sich gehaßt in seinem Wahn. Das kleine Ännchen würde sich an ihn
drängen mit aller Kraft eines liebebedürftigen Kinderherzens, aber er
scheucht das Kind mit Haß von sich; sie ist ihm »der Spion«. Nur an
einem Menschen hängt noch sein Herz, an dem, der es am wenigsten um ihn
verdient. Er kennt ihn und weiß, der Mensch hat ihn betrogen, hat
geholfen, ihn zugrunde zu richten, und dennoch hängt er an ihm. Der
Mensch haßt Apollonius, er ist der einzige außer ihm, der Apollonius
haßt, und deshalb hängt Apollonius' Bruder an ihm!

Fritz Nettenmair begleitete den Gesellen eine Strecke Wegs. Der Geselle
will schneller ausschreiten und dankt darum für weitere Begleitung. Wenn
andre scheiden, ist ihr letztes Gespräch von dem, was sie gemeinsam
lieben; das letzte Gespräch Fritz Nettenmairs und des Gesellen ist von
ihrem Haß. Der Geselle weiß, Apollonius hätte ihn gern in das Zuchthaus
gebracht, wenn er gekonnt. Wie sie nun einander scheidend
gegenüberstehen, mißt der Geselle den andern mit seinem Blick. Es war
ein böser, lauernder Blick, ein grimmig verstohlener Blick, welcher
Fritz Nettenmair fragte, ohne daß er es hören sollte, ob er auch reif
sei zu irgend etwas, was er nicht aussprach. Dann sagte er mit einer
heiseren Stimme, die einem andern aufgefallen wäre, aber Fritz
Nettenmair war die Stimme gewöhnt: »Und was ich sagen wollte: ihr werdet
bald Trauer haben. Ich hab' ihn neulich gesehen.« Er brauchte keinen
Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er meinte. »Es gibt Leute,
die mehr sehen, als andere,« fuhr der Geselle fort. »Es gibt Leute, die
einem Schieferdecker ansehen, wenn er noch in dem Jahre herunter muß,
daß sie ihn getragen bringen und sehen ihn daliegen, nur er selber nicht
mehr. Ein alter Schieferdeckergesell hat mir das Geheimnis gesagt, wie
man zu dem »Fronweißblick« kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl. Und
ergib dich drein, wenn sie ihn getragen bringen.«

Der Geselle war von ihm geschieden; seine Schritte verklangen schon in
der Ferne. Fritz Nettenmair stand noch und sah in die weißgrauen Nebel
hinein, in denen der Geselle verschwunden war. Sie hingen wagrecht über
den Wiesen an der Straße wie ein ausgebreitet Tuch. Sie stiegen empor
und verdichteten sich zu seltsamen Gestalten, sie kräuselten sich,
flossen auseinander und sanken wieder nieder, sie bäumten wieder auf.
Sie hingen sich in das Gezweig der Weiden am Weg, und wie diese bald
verhüllten, bald frei ließen, schien es ungewiß, gerann der Nebel zu
Bäumen, oder zerflossen die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes
Treiben, ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war ein Bild
dessen, was in Fritz Nettenmairs Seele vorging, ein so ähnlich Bild, daß
er nicht wußte, sah er aus sich heraus oder in sich hinein. Da war ein
nebelhaftes Herabbiegen und Händezusammenschlagen um eine bleiche
Gestalt am Boden, dann ein langsam wallender Leichenzug; und bald war es
der Feind, bald war es der Bruder, der dort lag, den sie trugen. Bald
zuckte es in greller Schadenfreude auf, bald sank es in Mitleid
zusammen, bald mischten sich beide und das eine wollte das andere
verstecken. Der dort lag, den sie trugen, ihm verzieh er alles. Er
weinte um ihn; denn durch die Pausen des Grabgesangs klang leise ein
lustiger Schottischer, den die Zukunft aufstrich: »Da kommt er ja! Nun
wird's famos.« Und neben dem Toten lag unsichtbar eine zweite Leiche,
seine Furcht vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder nicht tot.
Und im Sarg trieb verstohlen Fritz Nettenmairs altes joviales Glück neue
Keime. Fritz Nettenmair fühlt sich einen Engel; er wünscht, der Bruder
müßte nicht sterben, weil -- er weiß, daß der Bruder sterben muß.

Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaster der Stadt schon wieder
unter seinen Tritten hallt. Sein Weg führt ihn am roten Adler vorüber.
Die Saalfenster sind erleuchtet, Musik klingt herab. Fritz Nettenmair
bleibt stehen und sieht hinauf und bewegt unwillkürlich die Hand in der
Tasche, wie sonst, als er noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er
hat den Gesellen, den letzten Freund, von dem er mit Schmerz geschieden,
schon vergessen. »Der Gesell ist ein schlechter Kerl; gut, daß er fort
ist.« Er hat eine Vergangenheit vergessen, er vergißt die Gegenwart,
denn die Zukunft ist wieder sein; sie wohnt da oben und lacht mit hellen
Augen zu ihm herab. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, alles, was ihn
drückt, mit seinem Bruder zusammenzudenken, daß er es mit ihm in ein
Grab steigen sieht. An die Zerrüttung seines Wohlstandes mag er sich
nicht erinnern. Er denkt nicht gern an unangenehme Dinge, ehe er sie
fühlt. Ist es nicht genug, daß er weiß, er wird den Bruder verlieren?
Und wenn sich die Dinge selber ihm aufdrängen, dann hilft ihm sein
Leichtsinn. Wie er schnell darüber hindenkt, findet er für alles Rat,
und was ihm heute nicht einfällt, das wird ihm morgen einfallen; morgen
ist auch ein Tag. Und er ist einer, der --. Die Wendung, mit der er in
seinen Weg einschwenkt, gelingt ihm so jovial als je.

Es wird ihm doch wieder eigen zumut, denkt er sich, daß man zu der Tür,
die er eben aufschloß, einen Sarg heraustragen wird. Unwillkürlich macht
er Platz, wie um Sarg und Zug vor sich vorbeizulassen. »In das
Unabänderliche,« sagt er leise, wie sich überhörend, was er einem
Tröstenden zu antworten habe, wenn es soweit sei, »in das Unabänderliche
muß sich der Mensch ergeben.« Und wie er die Achsel zu den Worten zuckt,
da wird er einen leisen, schlanken Lichtschein gewahr. Ein Stück davon
läuft über seinen Ärmel, ein anderes liegt wie abgebrochen und
herabgefallen neben ihm auf dem Pflaster. Er späht auf; der Schein kommt
daher, wo der untere Abschnitt des Ladens nicht fest an das Fenstersims
schließt. Drinnen in der Wohnstube ist Licht. »So spät?« Der Atem stockt
dem Lauschenden, der Alp sitzt wieder auf seiner Brust. Der Bruder lebt
ja noch; und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann noch kommen,
ehe er stirbt, oder -- es ist schon da! Wie ihm die Hände fliegen, doch
ist die Tür leise wieder verschlossen und im Augenblick. Ebenso leise,
ebenso schnell ist er an der Hintertür. Sie ist nicht offen, aber nur
einmal herumgeschlossen; und Fritz Nettenmair weiß es, er kann schwören,
er hat den Schlüssel zweimal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er
schleicht und tappt sich zur Stubentür; er hat die Klinke gefunden und
drückt sie leise; die Tür geht auf; ein trüber Lichtschein fällt auf die
Flur. Der Schimmer kommt von einem verdeckten Lichte auf dem Tisch;
neben diesem steht im Schatten ein kleines Bett; es ist Ännchens Bett,
und ihre Mutter sitzt daran.

Christiane merkt nicht, daß die Tür sich öffnet. Sie hat den Kopf weit
vornübergebeugt über das Bett; sie singt leise und weiß nicht, was sie
singt; sie horcht voll Angst, aber nicht auf ihren Gesang; ihre Augen
würden weinen, machten Tränen den Blick nicht trübe. Aber nun kann die
Röte auf des Kindes Wange wiederkommen, nun kann der eigene, fremde Zug
um des Kindes Augen und Mund verschwinden; und sie säh' es nicht und
ängstigte sich noch vergeblich. Ihr ist es, als müßte jene wiederkehren
und dieser gehen, wenn sie sich nur recht angestrengt mühte, dieses
Kehren und Gehen zu bemerken. Und dabei kann sie doch noch daran denken,
wie plötzlich das gekommen ist, was sie so sehr beängstigt; wie das
Ännchen auf einmal im Bette neben ihrem wie mit fremder Stimme
aufgeschrien, dann nicht mehr hat sprechen können; wie sie aufgesprungen
und sich angekleidet; wie sie in der Angst den Valentin, und dieser,
ohne ihr Wissen, den Apollonius geweckt. Der alte Gesell hatte alle
Schlüssel im Hause probiert, bis sich ergab, der Schuppenschlüssel
schließe die Hintertür; das wußte sie nicht. Desto lebendiger stand es
vor ihr, wie Apollonius hereingetreten, wie ihr bei seinem unerwarteten
Kommen gewesen, wie sie voll Schreck und Scham und doch voll wunderbarer
Beruhigung sich gefühlt. Apollonius hatte sogleich den Arzt, dann
Arzneien geholt. Er hatte an dem Bettchen gestanden und sich über das
Ännchen gebeugt, wie sie jetzt tat. Er hatte sie voll Schmerz angesehen
und gesagt, Ännchens Krankheit komme von dem ehelichen Zerwürfnis, und
es werde nicht gesund, höre dies nicht auf. Er hatte von den Wundern
erzählt, die einer Mutter möglich würden, und wie sich der Mensch
bezwingen könne und müsse. Dann hatte er dem Valentin noch manches des
Ännchens wegen anbefohlen und war gegangen aus Sorge, der Bruder könnte
sonst in seinem Irrwahn glauben, er wolle ihn auch von dem Krankenbett
seiner Kinder vertreiben. Der Jammer, die Angst wollten sie in
Apollonius' Arme jagen; es war ihr, als wäre alles gut, läge sie an
seiner Brust, als dürfte sie ihn nicht wieder von sich lassen. Aber wie
er so zu Häupten des Kindes stand und sprach, da kam er ihr so herrlich
vor, wie ein Heiliger, vor dem sie nur auf den Knien liegen dürfe. Der
Bettschirm hüllte die große, schlanke Gestalt in seinen Schatten, nur
seine Stirn und seine hohe Scheitel waren sichtbar und erschienen, von
dem Lichte auf dem Tische angestrahlt, wie in einer Glorie. Dachte sie
von ihm weg zu ihrem Gatten, dann krampfte eisiger Frost ihr Herz
zusammen, und Widerwillen bäumte sich darin wie ein Riese gegen den
bloßen Gedanken auf. Aber Apollonius hatte gesagt, Ännchen werde nicht
wieder gesund, wenn das Zerwürfnis nicht ende. Er hatte gesagt, der
Mensch könne und müsse sich bezwingen; sie wollte sich bezwingen, weil
er es gesagt. Einer Mutter seien Wunder möglich für ihr Kind; dachte sie
an Apollonius' Gesicht, wie er so sprach, mußte ihr das größte Wunder
möglich werden.

Fritz Nettenmair trat herein. Er dachte an nichts, als daß Apollonius
dagewesen sein müsse, wenn er auch jetzt nicht mehr da war. Es flirrte
ihm vor den Augen vor Wut. Er wäre auf die Frau losgestürzt, sah er
nicht den alten Valentin an der Kammertüre sitzen. Er wollte warten, bis
dieser einmal das Zimmer verließe, und schlich sich nach dem Stuhle am
Fenster, wo er sonst immer gesessen, und als wie ein andrer, denn jetzt!
Die Frau hörte seinen leisen Tritt; sein Antlitz konnte sie nicht sehen.
Ihr schien, er wußte um Ännchens Zustand und ging deshalb so leise. Sie
sah Ännchen mit einem Blicke an, der sagte, was sie jetzt tun wollte,
tat sie nur um ihr krankes Kind; ein Blick nach der Tür, aus der er
gegangen war, setzte hinzu: »und weil er's gesagt«.

»Da ist der Vater, Ännchen,« sagte sie dann. Sie redete eigentlich mit
dem Gatten, der am Fenster saß; aber sie konnte ihm ihr Gesicht nicht
zuwenden, ihre Rede nicht unmittelbar an ihn richten. »Du hast immer
nach ihm gefragt. Du hast gemeint, wenn er kommt, wird er sein, wie er
sonst war, eh' du krank geworden bist. Deine Mutter will's auch -- um
deinetwillen.«

Ihre Stimme klang so tief aus der Brust herauf, daß der Mann seinen
Groll mit Gewalt festhalten mußte. Er dachte: »Sie tut so süß, um dich
zu hintergehen. Sie haben's verabredet, als er da war.« Und der Groll
schwoll nur noch grimmiger an den weichen Klängen, mit denen sie
fortfuhr:

»Und du gehst noch nicht in den Himmel. Nicht, Ännchen? Du bist ja ein
so gut, lieb Kind und bleibst noch bei Vater und Mutter. Wenn nur -- du
hast kein Herz vor dem Vater, du dumm lieb Ännchen, weil er laut
spricht. Er meint's nicht bös deshalb.«

Sie hielt inne; sie erwartete die Antwort von dem Vater, nicht von dem
Kinde. Sie erwartete, er werde an das Bett treten zu dem Kinde und
sprechen, wie sie, und durch das Kind mit ihr. Wie sie von ihm denken
mochte, das Kind war doch sein Kind, und es war krank.

Der Mann schwieg und blieb ruhig auf seinem Stuhle sitzen. Ein halb
Vaterunser lang hörte man nichts als das Ticken der Uhr, und das wurde
immer schneller, wie das Klopfen eines Menschenherzens, das Schlimmes
kommen ahnt; die Flamme des Lichtes zuckte wie vor Furcht.

Valentin stand auf von seinem Stuhle, um das Licht zu putzen.

Die Brust des Kindes röchelte; es wollte sprechen, es konnte nicht; es
wollte mit den Händen nach dem Vater langen, es konnte nicht; es konnte
nichts, als die Arme seiner Seele nach dem Vater ausstrecken. Aber des
Vaters Seele sah die flehenden nicht; in ihren Händen hielt sie
krampfhaft ihren Groll und hatte keine Hand frei für das Kind. Er hört
das Röcheln, aber er weiß, das Kind ist abgerichtet von seinen Feinden,
es hat kein kindlich Herz gegen ihn; und wäre es wirklich krank, so wäre
es absichtlich krank geworden, um ihn betrügen zu helfen, und stürbe es,
so würde sein Sterben noch ein Kupplerdienst sein, den es seinen Feinden
tut. Wäre sein Auge nicht selber so krank, daß es ihm außen nur immer
das eine zeigt, über dem seine Seele innen unablässig brütet, er müßte
es am Gesichte der Mutter sehen, an dem Ton ihrer Stimme hören, sie
verstellt sich nicht, das Kind ist wirklich krank und sehr krank; aber
ihre Weichheit, ihre Angst ist ihm nur die Angst des Gewissens, die
Angst vor seiner Strafe, die sie verdient, fühlt und doch entwaffnen
will. Valentin tritt von dem Lichte weg und geht hinaus, um sich draußen
auszuweinen. Der Mann steht auf und nähert sich leise der Frau, ohne daß
sie ihn bemerkt. Er will sie überraschen und das gelingt ihm. Sie
erschrickt, wie sie plötzlich über dem Bette jäh vor sich ein
entstelltes Menschenantlitz sieht. Sie erschrickt, und er preßt durch
die Zähne: »du erschrickst? Weißt du warum?«

Sie hat ihm selber sagen wollen, daß Apollonius in der Stube gewesen
ist, aber noch hat sie es nicht gekonnt; vor dem Bette des kranken
Kindes durfte sie es nicht; weil sie weiß, er wird auffahren; den
Anblick seiner Roheit hat sie dem Kinde erspart, als es noch gesund war,
wenn sie es vermochte; jetzt konnte der Schreck dem kranken Kinde den
Tod bringen. Sie antwortet ihm nicht, aber sie sieht ihn flehend an und
zeigt mit einem Augenwinke auf das Kind.

»Er war da! War er nicht da?« fragt er; nicht um zu erfahren, wonach er
fragt, sondern um zu zeigen, daß er es nicht erst zu erfahren braucht.
Seine Faust hebt sich geballt; Ännchen kämpft, sich aufzurichten. Er
sieht es nicht; die Frau sieht es; ihre Angst wächst. Sie schlägt die
Hände zusammen, sie sieht ihn an mit einem Blicke, in dem alles steht,
was ein Weib versprechen, was ein Weib drohen kann; er sieht nur ihr
Erschrecken, daß er es weiß, was geschah, und die Faust fällt nieder auf
ihre Stirn.

Ein Schrei klingt; das Kind rollt sich in Krämpfen zusammen, die Mutter,
über es hingestürzt, weint laut. Valentin kommt hereingeeilt, Fritz
Nettenmair geht in die Kammer.

Er weiß nicht, was in ihm Herr ist, befriedigte Rache, oder Schreck über
das, was er getan. Er sinkt auf das Bett, als hätte der Schlag, den er
geführt, ihn selbst betäubt; er hört nur halb, wie Valentin nach dem
Arzt läuft. Ebenso hört er diesen kommen und gehen, ebenso lauscht er,
ob er nicht Apollonius' Flüstern und seinen leisen Schritt vernehmen
kann. Sich zu zeigen, wagt er nicht; Scham hält ihn davon zurück. Er
rechtfertigt sein Tun und nennt Ännchens Krankheit eine Pimpelei: »Heute
wollen Kinder sterben und morgen sind sie lebendiger als je!«

Aus dem fieberischen Horchen und Sichberuhigen wird ein fieberisches
Träumen. Er sieht Apollonius, wie er seine Leiter an der Helmstange
festbinden will, und sagt sich bei jedem Schritt des Steigenden
fortwährend wie tröstend: »Jetzt wird er fallen! jetzt!« aber Apollonius
fällt nicht. Jeden Augenblick erwartet er, die Taue sollen reißen, in
welchen Apollonius mit seinem Fahrzeuge hängt; sie reißen nicht. In
diese Träume hinein hört er die Tür der Stube gehen; der Traum macht
einen Fall daraus, den Fall eines schweren Körpers aus ungeheurer Höhe.
Da wird ihm leicht, als wäre nun alles gut. Im Halbschlummer hört er in
der Stube leises Gehen, leises Reden, leises Weinen, und dazwischen ist
es wieder still.

Das leise Schluchzen, das zum lauten wird und sich wiederum bewältigt,
als sei ein Schlafender in der Nähe, den es nicht wecken will, und
wieder ausbricht, daß es den Schläfer nicht wecken _kann_, und wieder
leise wird, weil es wie über sich selbst erschrickt, daß es laut ist:
wer kennt es nicht? wer errät es nicht, wenn er es nicht kennt?

Fritz Nettenmair weiß es im Halbschlaf: in der Stube liegt ein Toter.
Sie haben ihn gebracht. »In das Unabänderliche muß der Mensch sich
ergeben.«

Zum erstenmal seit vielen Monden schläft er wieder ruhig.

Und warum sollte er nicht? Aus dem leisen Weinen wird ein lustiger
schottischer Walzer. »Da ist er ja! Nun wird's famos!« klingt es aus der
Ferne vom roten Adler herein in seinen Schlaf.

Das Leisegehen und Leisereden aber war wirklich und dauerte fort; und
eine Leiche war in der Stube, eine schöne Kinderleiche. Während Fritz
Nettenmair von Leitern und Fahrzeugen träumte, hatte des kleinen
Ännchens Seele sich zu einem besseren Vater gerettet. Der Leib lag starr
in dem kleinen Bettchen. Der Zwist der Eltern hatte das Kind krank
gemacht; Schmerz über die wilde Tat des Vaters an der Mutter hatte ihm
das kleine Herz gebrochen.

Fritz Nettenmair schlief noch den Schlaf eines Bewahrten, als der neue
Tag anbrach. Apollonius war schon lange munter; vielleicht hatte er gar
nicht geschlafen. Der Kampf, den sein Bruder noch in seinem Angesicht
gelesen, als er ihn mit dem Bauherrn das Haus verlassen sah, und den die
Mühen des Tages kaum zurückgedrängt, scheuchte nachts den Schlummer von
seinem Bett. Der Bruder hatte recht gesehen, seine scherzhafte Wendung
des Gesprächs hatte ihren Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das
Buch seiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er sich in seiner
Meinung, der Bruder sei eifersüchtig auf ihn, bestärkt fühlen. Gar
manches, das er nicht begriffen, als er es geschehen sah, erhielt Licht
von dieser Annahme und half sie wiederum bestätigen. Die Abneigung der
Frau schien ein bloßer Vorwand des Bruders, ihn von ihr fernzuhalten.
Der Bruder mußte gemeint haben, er könne sie anders als mit den Augen
eines Bruders und Schwagers ansehen. Und das schien begreiflich, da
Fritz wußte, sie war ihm mehr gewesen, bis sie seine Schwägerin wurde.
Er hätte das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf gemacht, mußte er
sich nicht gestehen, sein Mitleid, das des Bruders rohe Behandlung der
Frau hervorgerufen, hatte seinen Empfindungen für sie eine Wärme
gegeben, die ihn selbst beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn diese
hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu machen, aber seine strenge
Gewissenhaftigkeit machte sich diese Wärme schon zum Verbrechen. »Aber,«
fiel ihm dann ein, »hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung gezeigt?
und fühlte sie Abneigung gegen ihn, wie konnte der Bruder dann fürchten?
Der Bruder hatte im Tone des Vorwurfs sie ein Märchen genannt, also
glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle sie nur und empfinde
sie nicht.« Der Vetter hatte oft von der Natur der Eifersucht
gesprochen, wie sie aus sich selbst entstehe und sich nähre, wie ihr
Argwohn über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen hinausgreife,
und zu Taten verführe, die sonst nur der Wahnsinn vollbringt. Einen
solchen Fall sah Apollonius vor sich und bedauerte den Bruder und fühlte
schmerzlich Mitleid mit der Frau.

Aus solchen Gedanken und Empfindungen schreckte ihn Valentin, der ihn
hinunterrief. Er kam unruhiger wieder herauf, als er hinuntergegangen
war. Es war nicht allein Ännchens Zustand, die er wie ein Vater liebte,
was auf seiner Seele lag; auch das Mitleid mit Ännchens Mutter war
gewachsen, und eine Furcht war neu hinzugekommen, die er sich gern
ausgeredet hätte, wäre solch ein Verfahren mit seinem Klarheitsbedürfnis
und seiner Gewissenhaftigkeit vereinbar gewesen. Als der erste Schimmer
des neuen Tages durch sein Fenster fiel, stand er auf von dem Stuhle,
auf dem er seit seiner Zurückkunft gesessen. Es war etwas Feierliches in
der Weise, wie er sich aufrichtete. Er schien sich zu sagen: »Ist es,
wie ich fürchte, muß ich für uns beide einstehen; dafür bin ich ein
Mann. Ich habe gelobt, ich will meines Vaters Haus und seine Ehre
aufrecht erhalten und ich will in jedem Sinne erfüllen, was ich gelobt!«
--

Fritz Nettenmair erwachte endlich. Er wußte nichts mehr von den
Traumbildern der Nacht; nur die befriedigte Stimmung, das Werk
derselben, war ihm geblieben. Er besann sich vergebens, was diese
Stimmung, die ihm so lange fremd gewesen, hervorgerufen haben könnte.
Was ihm von den Erlebnissen der vergangenen Nacht einfiel, war nicht
geeignet, sie zu erklären. Er wußte nur noch, daß seine Frau ein
»Pimpeln« des »Spions« zu einer Krankheit vergrößert hatte, um einen
Vorwand zu erhalten, mit ihm zusammen zu sein. Mit ihm! Nicht bloß im
Gespräch mit dem Gesellen, auch mit sich und seiner Frau nannte er
Apollonius' Namen nicht, vielleicht, weil sein Haß gegen den Mann auf
den Namen übergegangen war, vielleicht, weil er Tag und Nacht nur an
zwei Menschen dachte, und diese nicht miteinander zu verwechseln waren.
Er hatte nichts mehr auf der Welt als seinen Haß; und der kannte nur
zwei Menschen, »ihn und sie«. Er dachte schon, wie er der Pimpelei ein
Ende machen wollte. Mit diesem Gedanken trat er aus der Tür und stand --
vor einer Leiche. Ein Schauder faßte ihn an. Da stand das tote Kind vor
ihm wie ein Warnungszeichen: nicht weiter auf dem Wege, den du
eingeschlagen hast! Da lag das Kind, das sein Kind war, tot. Sonst
scheuchte er es von sich; jetzt blieb es und fürchtete sich nicht mehr
und fragte ihn, ob er es noch hassen kann, ob er es noch mit dem Namen
nennen kann, mit dem er es im Hasse genannt. Gestern sah er es nicht,
wie er über seine Angst hin den Schlag führte; der Vater des Kindes nach
der Mutter des Kindes und über den sterbenden Leib des Kindes hin.
Gestern sah er es nicht, wie er darüber gebeugt stand; jetzt sieht er
es, wohin er die entsetzten Augen wendet, um den Anblick zu entfliehen.
Da steht das Kind vor ihm, ein Ankläger und ein Zeuge. Es zeugt für die
Mutter. Sie wußte es sterbend, und am Sterbebette ihres Kindes tut die
Verworfenste nicht, was er ihr zugetraut. Es klagt ihn an. Er hat eine
Mutter am Sterbebette ihres Kindes geschlagen. Das kann kein Mann und
wäre das Weib schuldig. Und sie war es nicht; das zeugt das Kind. Jetzt
weiß er, was das bleiche, stumme Antlitz der Mutter rief: »Du tötest das
Kind; schlag nicht!« Und er hat doch geschlagen. Er hat das Kind
getötet. Das trifft ihn wie ein Wetterstrahl, daß er zusammensinkt vor
dem Bette des Kindes, über das hin er die Mutter geschlagen; vor dem
Bette, in dem sein Kind starb, weil er seines Kindes Mutter schlug.

Dort lag er lang. Der Blitz, der ihn hingestreckt, hatte
zurückgeleuchtet mit grausamer Klarheit; er hatte die beiden unschuldig
gesehen, die er verfolgt. Und keine Schuld, als die seine. Er allein hat
das Elend aufgetürmt, das erdrückend auf ihm liegt, Last auf Last,
Schuld auf Schuld. Des Kindes Tod ist der Gipfel. Und vielleicht ist er
es noch nicht! Der Elende sieht, er muß zurück. Er hascht nach jedem
Strohhalm von Gedanken, der ihn retten könnte. Da hört er die weichen
Klänge wieder, denen er gestern sein Herz verschlossen: »Du hast
gemeint, wenn er kommt, wird er wieder sein, wie er sonst war, ehe du
krank geworden bist. Deine Mutter will's auch.« -- Die Klänge waren eine
weiche Hand, die die Seele der Frau nach seiner Seele ausstreckte und
zur Versöhnung bot; sein Schmerz, seine Angst faßten hastig nach der
ausgestreckten. Er sah das Kind im Hemdchen an der Kammertür stehen, wo
es so oft gestanden, wenn seine Heftigkeit es aus dem Schlummer geweckt;
die Händchen gefalten; die Augen so schmerzlich flehend: er solle doch
gut sein mit der Mutter; und so ängstlich zugleich: er soll doch nicht
zürnen, daß es fleht. Nun, da es zu spät war, sah er, das Kind wollte
sein Engel sein. Aber es war ja noch nicht zu spät! Er hörte den leisen
Schritt seiner Frau auf dem Flur der Stubentür nahen. Er hörte sie die
Tür öffnen. Stand Ännchen jetzt in der Kammertür, es mußte lächeln. Er
wollte gut sein; er wollte sein, wie er war, ehe Ännchen krank geworden
ist. Er streckte der Eintretenden die Hand entgegen. Sie sah ihn und
schrak zusammen. Sie war so bleich, wie das tote Ännchen, selbst ihre
sonst so blühenden Lippen waren bleich. Der Hals, die schönen Arme, die
weichen Hände waren bleich; das sonst so glänzende Auge war matt. All
ihr Leben hatte sich in ihr tiefstes Herz zurückgezogen und weinte da um
ihr gestorben Kind. Als sie ihn sah, stieß ein Zittern durch ihren
ganzen Körper. Mit zwei Schritten stand sie zwischen der Leiche und ihm;
als wollte sie das Kind noch jetzt vor ihm schützen. Und doch nicht so.
Weder Furcht noch Angst bebte um den kleinen Mund; er war fest
geschlossen. Ein ander Gefühl war es, was die schön gewölbten
Augenbrauen drängend herabfaltete und aus den sonst so sanften Augen
flammt. Er sah, es war nicht mehr das Weib, das die schmelzenden
Friedensworte gesprochen; die war mit ihrem Kinde gestorben in dieser
schrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm stand, war nicht mehr die
Mutter, die zu ihm hinhoffte, deren Kind er retten konnte; es war die
Mutter, der er das Kind getötet. Eine Mutter, die den Mörder fortwies
aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein bleichschreckender Engel, der den
befleckenden Berührer fortzürnt von seinem Heiligtum. Er sprach -- o
hätte er gestern gesprochen! Gestern hatte sie sich nach dem Worte
gesehnt; heute hörte sie es nicht.

»Gib mir deine Hand, Christiane,« sagte er. Sie zog ihre Hand krampfhaft
zurück, als hätte er sie schon berührt. »Ich habe mich geirrt,« fuhr er
fort; »ich will's euch ja glauben, ich seh' es ein; ich will's nicht
wieder! Ihr seid besser als ich.«

»Das Kind ist tot,« sagte sie, und selbst ihre Stimme klang bleich.

»Laß mich in dieser schrecklichen Angst nicht ohne Trost. Kann ich
anders werden, so kann ich's nur jetzt, und wenn du mir die Hand gibst
und richtest mich auf,« sagte der Mann. Sie sah auf das Kind, nicht auf
ihn.

»Das Kind ist tot,« wiederholte sie. Hieß das, es war ihr gleichgültig,
was mit ihm werden sollte, da seine Besserung das Kind nicht mehr
rettete? Oder hatte sie ihn vergessen und sprach mit sich selbst? Der
Mann richtete sich halb auf; er faßte ihre Hand mit angstvoller Gewalt
und hielt sie fest.

»Christiane,« schluchzte er wild, »da lieg' ich wie ein Wurm. Tritt mich
nicht! Tretet mich nicht! Um Gottes willen, erbarme dich! Ich könnt's
nicht vergessen, hätt' ich vergebens gelegen, wie ein Wurm. Denk daran!
Um Gottes willen, denk daran; du hast mich jetzt in deiner Hand. Du
kannst aus mir machen, was du willst. Ich mach' dich verantwortlich. Du
bist Schuld an allem, was noch werden kann.« -- Endlich war es ihr
gelungen, ihre Hand ihm zu entreißen; sie hielt sie weit von sich, als
ekelte ihr davor, weil er die Hand berührt.

»Das Kind ist tot,« sagte sie. Er verstand, sie sagte: Zwischen mir und
dem Mörder meines Kindes kann keine Gemeinschaft mehr sein, auf Erden
nicht und nicht im Himmel.

Er stand auf. Ein Wort der Verzeihung hätte ihn vielleicht gerettet!
Vielleicht! Wer weiß es! Die Klarheit, die ihn jetzt zur Reue trieb, war
die Klarheit eines Blitzes, was jetzt in ihm wirkte, nahm seine Gewalt
von der Jäheit der Überraschung. Wenn das Kind in der Erde ruht, dessen
plötzlicher Anblick ihn zurückgebäumt, wird sein Warnungsbild bleicher
und bleicher werden; jede Stunde wird dem Gedanken an diesen Augenblick
von der Macht seiner Schrecken rauben. Zu tief hat er die Geleise des
alten Wahngedankens eingedrückt, um ihn für immer zu verwischen, zu weit
ist er gegangen auf dem gefährlichen Wege, um noch umkehren zu können.
Die Klarheit des Blitzes mußte schwinden und der alte Wahn hüllte die
Dinge wieder in seine verstellenden Nebel. Fritz Nettenmair heulte auf
oder lachte auf; die Frau fragte sich nicht, was er tat; tiefer Abscheu
gegen ihn verschloß ihr Ohr, ihre Augen, ihre Gedanken. Er taumelte in
die Kammer zurück. Sie sah es nicht, aber sie fühlte es, daß seine
Gegenwart nicht mehr den Raum entweihte, darin das Heiligenbild ihres
Mutterschmerzes stand. Leise weinend sank sie über ihr totes Kind.

                   *       *       *       *       *

Die Reparatur des Kirchendaches hatte begonnen. Apollonius wollte diese
erst beenden, bevor er die Krönung des Turmes mit der gestifteten
Blechzier unternahm. Daneben mußte er das Begräbnis des kleinen Ännchens
besorgen; Fritz kümmerte sich nicht darum. Er mußte sich auch dieser
Hausvaterpflicht unterziehen. Er fühlte sich schmerzlich wohl darin.
Kosteten ihm doch die schwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht andere,
süßere Wünsche zu bekämpfen und zu besiegen gehabt, als er die Pflicht
gegen des Bruders Angehörige auf sich genommen; er war ja eben nur dem
eigensten Triebe seiner Natur gefolgt. Es lag in dieser Natur, daß er
ganz sein mußte, was er einmal war. Seit er die Hoffnungen seiner
Jugendliebe und damit diese selbst aufgegeben hatte, war ihm ohnehin der
Gedanke eines eigenen Hausstandes fremd geworden. Er kannte keinen
anderen Lebenszweck, als die Erfüllung jener Pflicht. Aber sie stand
nicht als dürres, despotisches Gesetz außer ihm vor den Augen seiner
Vernunft; sie durchdrang sein ganzes Wesen mit der befruchtenden Wärme
eines unmittelbaren Gefühls. So war es seit Monaten gewesen. Wenn er mit
seinem Fahrzeug das Turmdach umflog, während er hämmernd auf dem
Dachstuhle kniete, waren die Gestalten der Kinder seines Bruders, seine
Kinder, um ihn. Schneller als sein Schiff flog seine Phantasie der Zeit
voraus. Wie sein Schiff um das Turmdach, drehte sich sein ganzes Denken
um die Stunde, wo die Söhne erwachsen waren und er ihnen das
schuldenfreie Geschäft übergab, wo Ännchen aussah wie ihre Mutter und er
ihre jungfräuliche Hand in die Hand eines braven Mannes legte. Ännchens
rosiges Gesicht stand vor ihm, so oft er aufsah von seinen
Schieferplatten. Als es ihn so schalkhaft anlachte, war es sein
Liebling; wie das Gesichtchen immer trüber und bleicher wurde, war sie
es nur immer mehr; er sah sie oft doppelt durch das Wasser in seinen
Augen. Jetzt -- o manchmal war es ihm, als arbeite er nun umsonst! Und
es war noch etwas hinzugekommen, was ihn immer mehr beängstigte. Aus dem
Mitleid mit der gequälten Frau, die um ihn gequält wurde, blühte die
Blume seiner Jugendliebe wieder auf und entfaltete sich von Tag zu Tag
mehr. Was des Bruders Hohn und Undankbarkeit gegen ihn nicht vermocht,
das gelang seinem Benehmen gegen die Frau. Apollonius fühlte sein Herz
erkalten gegen den Bruder. Es trieb ihn, die Frau zu schützen; aber er
wußte, seine Einmischung gab sie nur härteren Mißhandlungen preis. Er
konnte nicht mehr für sie tun, als daß er sich so entfernt hielt von ihr
als möglich. Und nicht allein wegen des Bruders; auch um ihrer selbst
willen, wenn er richtig gesehen hatte. Hatte er richtig gesehen? Er sagt
sich hundertmal nein. Er sagt es sich mit Schmerzen; desto öfter und
dringender sagte er es sich und fühlte, er dürfe sie nicht sehen, auch
um seinetwillen. Es peinigte ihn, wenn gleichgültige Dinge verworren und
unsymmetrisch lagen und er sie nicht ordnen konnte; hier sah er
Mißverhältnisse und Widersprüche in das innerste Leben dessen, was ihm
das Heiligste war, gedrungen, in das Herz seiner Familie, in sein
eigenes, und er mußte sie wachsen sehen und die Hände waren ihm
gebunden!

Immer dunkler, immer schwüler wurde das Leben in dem Haus mit den grünen
Laden, seit das kleine Ännchen daraus fortgetragen war. Es wurde immer
dunkler und schwüler in Fritz Nettenmair's Brust und Hirn. Er hatte
umkehren wollen auf dem Wege, in dessen Mitte ihn das Bild des toten
Ännchens und die Klarheit, die es über die zurückgelegte Strecke goß,
geschreckt. Er wäre umgekehrt, nahm die Frau die gebotene Hand an. Er
meinte es wenigstens. Aber sie hatte ihn zurückgewiesen, ihm ein Antlitz
von Abscheu und Verachtung gezeigt; er hatte gesehen, sie nannte ihn in
ihrem Herzen den Mörder des Kindes; ihr Auge hatte ihm die Rache
gedroht, und da war es wieder da gewesen, das alte Gespenst, die
schuldgeborene Furcht. Hat sie es doch nicht getan, was er fürchtet, nun
wird sie es tun, um ihn für den Schlag zu strafen, an dem Ännchen starb.
Je mehr er daran herumgreift mit seinen Gedanken, desto klarer fühlt er,
wie gelegen seinen Feinden, -- und sie sind seine Feinde; sie haben ihm
ein Unrecht zu vergelten -- wie gelegen seinen Feinden dieser Schlag
kam. Dann sieht er, daß die Frau ihn warnen konnte. Sie sagte nicht:
»Schlag' nicht, das Kind ist krank; es ist sein Tod, wenn du schlägst.«
Nein! Ein Wort von ihr konnte den Schlag verhüten; sie sprach es nicht.
O, es ist klar, sonnenklar: sie reizte ihn absichtlich durch ihr
Schweigen zu der wilden Tat. Aber wie? ihres Kindes Tod hätte sie
gewollt? Den kann kein Weib wollen. Ja, sie dachte selbst nicht, daß es
sterben würde; sie wollte nur den Vorwand zum Hasse, zum Betruge aus
Haß, daß er sie am Bette des kranken Kindes geschlagen. Sie dachte
nicht, daß es sterben würde, und wie es doch starb, wälzte sie die
Schuld von sich auf ihn. Und er war wieder der dumme Ehrliche gewesen;
auch in diese Schlinge war er gegangen in seiner Arglosigkeit; vor ihr
hatte er gelegen, wie ein Wurm, vor ihr, die vor ihm hätte liegen
sollen. Und sie hatte ihn noch zurückgestoßen, mit Verachtung
zurückgestoßen! So oft er an den Augenblick dachte, machte er sie
verantwortlich für alles, was noch kommen konnte. Was noch aus ihm
werden konnte, dazu hatte sie ihn gemacht. Er hatte die Hand geboten; er
war ohne Schuld. Dann brütete er, was aus ihm noch werden könne, und das
Schlimmste war ihm nicht schlimm genug, die Schuld zu vergrößern, die er
auf sie wälzte. Mit reuigem Entsetzen sollte sie sehen, was sie getan,
als sie ihn zurückstieß. Je näher er drohen sah, was kommen mußte, desto
wilder wurde seine Liebe oder auch sein Haß; denn beide waren zusammen
in dem Gefühl, das sie immer glühender ihm einflößte. Desto gelehriger
lernten seine Augen jeden kleinsten Reiz ihrer Gestalt, desto
schmerzender stach diese Schönheit durch seine Augen in sein Herz. Diese
verruchte Schönheit, die die Ursache all seines Elends war; diese
fluchvolle Schönheit, um derentwillen der eigene Bruder ihn aus Schuppen
und Haus verdrängt und der Verachtung der Welt und des Weibes selbst
preisgegeben. Er fing an, über Gedanken zu brüten, wie er diese
Schönheit vernichten konnte, damit sie ein Ekel wurde dem Buhlen, der um
seinen Zweck betrogen, ihn umsonst elend gemacht hatte. Und dachte er
sich das ausgeführt, dann lachte er in so heller Schadenfreude auf, daß
seine starknervigen Trinkkameraden erschraken, und die Leute, die ihm
begegneten, unwillkürlich innehielten in ihrem Gang. Und doch war der
Gedanke nur ein Vorläufer eines noch schlimmeren. Dazwischen fiel ihm
dann der Fronweißblick ein, sein Traum nach der wilden Tat wurde zur
Wirklichkeit; stundenlang stand er bald da, bald dort, wo man Apollonius
auf dem Kirchdache arbeiten sah, und blickte hinauf und wartete und
zählte. Jetzt müssen die Bretter unter dem Hämmernden brechen, jetzt muß
das Tau reißen, daran der Drahtstuhl hängt. Jetzt müssen die Leute, die
eben noch so gleichgültig aus den Fenstern sehen oder über die Straße
gehen, aufschreien vor Schrecken. Dann zählte er immer fieberhastiger,
der kalte Schweiß rann ihm über die Stirn; und die Bretter brachen
nicht, das Tau riß nicht, die Leute schrien nicht auf vor Schrecken. Und
immer wilder lachte er vor sich hin, wenn er nach langem Warten müde und
verzweifelt weiter ging: »Wär's nur mein Unglück, könnt' er mich nur
noch elender damit machen, als er mich schon gemacht hat, er wäre längst
schon tot. Nur weil mich sein Leben elend macht, lebt er noch. Er will
nicht eher sterben, bis er mich ganz elend gemacht hat!«

Diese Furcht ließ ihn nicht los, sie preßte ihn immer erstickender. Trug
er sie spät in der Nacht heim, dann machte der ruhige Schlaf seiner Frau
ihn wütend: Die schlief ruhig, die ihn nicht schlafen ließ! Er setzte
sich an ihr Bett und rüttelte sie auf und erzählte ihr leise in das Ohr,
was er an ihrem Liebsten tun will. Es waren grausige Dinge. Wenn die
Glieder ihr flogen vor Angst und Entsetzen, dann lachte er zufrieden
auf, daß er doch etwas hatte, sie aus der stummen Verachtung zu
scheuchen, womit sie sich gegen ihn gewappnet, und vergaß daran
minutenlang seine Qual. Dann lachte er fast jovial; er hat ihr Angst
machen wollen. Es ist nur einer von Fritz Nettenmairs neumodischen
Späßen. So weit haben sie ihn doch noch nicht gebracht, im Ernst an
solche Dinge zu denken. Aber wenn sie Apollonius davon sagt, dann muß er
es, und sie trägt die Schuld. Er bewacht ihr jeden Tritt, sie kann
nichts tun, was er nicht erfährt. Und läßt sie es ihm durch einen
Dritten wissen, so wird er es ihm ansehen. O, Fritz Nettenmair ist
einer, der --!

Den ganzen Tag über, die halben Nächte geht dann die Frau wie im Fieber
umher. An leidenschaftlicher Angst wächst ihre Liebe zu Apollonius zur
Leidenschaft. Und sie kann es nicht hindern, denn die Leidenschaft mehrt
wiederum die Angst; vor dem Gedanken der Angst hat kein anderer Platz in
ihrer Seele. Hin zu ihm will sie stürzen, ihn mit pressenden Armen
umfangen, ihn beschwören -- dann wieder will sie in die Gerichte -- aber
es ist ja nur ein wilder Scherz, und sie wird ihn erst zum Ernste
machen, sagt sie jemand davon. Sie geht nicht mehr aus der Stube, tritt
nicht mehr an ein Fenster vor Furcht; sie will jeden Schritt meiden,
jede Bewegung, alles, was nur als ein Umsehen nach Apollonius erscheinen
könnte. Sie hat nicht mehr den Mut, mit jemand zu reden, weil ihr Mann
es erfahren und meinen kann, sie trägt ihm eine Botschaft an Apollonius
auf. Und der Mann sieht ihre wachsende Leidenschaft, sieht, wie wiederum
sein Mittel, was kommen muß, aufzuhalten, es nur beschleunigen wird, und
wartet und zählt immer ungeduldiger, daß die Bretter nicht brechen und
das Tau nicht reißt.

Es war eine trübe, schwüle Nacht. Die Nacht vor dem Tage, an welchem
Apollonius die Bekränzung des Turmdaches beginnen wollte. Fritz
Nettenmair schlich durch die Hintertür auf den Gang nach dem Schuppen,
um nach Apollonius' Fenster hinaufzusehen. Wenn er das Licht darin
erloschen sah, pflegte er die Hintertür zu verschließen und seinen
wüsten Neigungen nachzugehen. Seit jener Nacht, wo Valentin die
Hintertür mit dem Schuppenschlüssel geöffnet, hängte Fritz Nettenmair an
den Riegel noch ein Vorlegeschloß. Apollonius war noch nicht zu Bett
gegangen. Fritz Nettenmair wußte, Apollonius löschte in seiner
eigensinnigen Vorsicht nie das Licht, wenn er schon in das Bette
gestiegen war. Es stand dem Bette fern auf seinem Schreibtisch; dort
setzte er es in ein Becken und löschte es, ehe er nach dem Bette ging.
Fritz Nettenmair ballte die Faust nach dem Fenster hinauf. Apollonius
zögerte ihm auch hier zu lang. Er war müde und ging nach dem Schuppen.
Der Schlüssel zur Hintertür schloß auch den Schuppen. Es war dunkel
darin.

Wenn der Schieferdecker seine Platten zurichtet, sitzt er rittlings auf
einer Bank, in deren Mitte das Haueisen, sein kleiner Ambos
eingeschlagen ist. An eine solche stieß Fritz Nettenmair mit dem Bein
und nahm den Stoß als eine Aufforderung, sich zu setzen. Durch eine
Lücke konnte er nach Apollonius' Fenster sehen; er wollte das Auslöschen
des Lichtes hier erwarten. Der Schieferdecker verrichtet oft
Zimmermannsarbeit, er führt daher auch ein kleines Zimmerbeil unter
seinem Werkzeuge. Ein solches hatte auf der Bank gelegen; es war
herabgefallen, als er sich gesetzt. Er hob es auf und hielt es
absichtslos in seinen Händen; denn seine Gedanken waren mit ihm in der
Kammer: er saß am Bette der Frau und ängstigte sie mit Drohungen. Der
Ärger über das Zögern Apollonius' machte sich darin Luft; dieses Zögern
hinderte ihn, sich im Trunk Betäubung zu suchen. Er hat seine Hand auf
das Bett der Frau gestützt und fühlt an den Bewegungen der Decke das
Zittern ihrer Glieder. Er fühlt sich in ihre Angst hinein, er fühlt, wie
er selbst Apollonius zu ihrem einzigen Gedanken macht; wie sie morgen
ihm entgegenstürzen muß, wenn er von der Arbeit heimkommt. Und wären sie
nicht seine Teufel, wären sie Engel, es müßte morgen kommen, was er
verhüten will. Wenn sie ihn mit der Glut der Angst umfaßt, das schöne,
fluchvoll schöne Weib, er müßte nicht Blut in seinen Adern haben -- und
hätte er nie den Gedanken gehabt, mit dem er doch einschläft und
aufwacht Tag für Tag, er müßte jetzt den Gedanken denken. Es muß kommen,
wovor die bloße Furcht Fritz Nettenmair zu dem elendesten der Menschen
gemacht, der sich selbst anspeien könnte; geschieht nicht morgen noch,
was der Fronweißblick weissagt. Und nun steht er wieder an der
Straßenecke und sieht wieder hinauf und harrt und zählt verzweifelter
als je; er badet sich in Angstschweiß, und die Bretter brechen nicht und
das Tau reißt nicht. O, er wird den Fronweißblick zum Märchen machen, er
wird leben bleiben, das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen
ihn. Und er zählt immer noch eins, zwei; er sagt: nun muß -- da hört er
das Geräusch eines zerreißenden Taues und fährt auf aus seinem wachen
Fiebertraum. Die wilde, angstvolle Freude ist vergeblich; er steht nicht
an der Ecke und sieht nach dem Kirchendache hinauf. Er sitzt im
Schuppen; es ist Nacht. Aber das Geräusch hat er gehört. Das war keine
Vorspiegelung der Phantasie. Und von dort her kam es. Seine Haare stehen
empor. Dort liegen die Hängstühle und die Flaschenzüge mit ihren Tauen.
Er hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was es
sagen will, das vorspukende Geräusch. Aber dreimal muß es klingen, als
wenn ein Tau zerrisse; und er hat es erst einmal gehört. Er lauscht, er
preßt die Faust auf das Herz. Vor seinen Schlägen, vor dem Brausen des
Blutes die Adern hinauf und herab, wird er es nicht hören, wenn es noch
mal klingt und noch einmal. Er lauscht und lauscht und das Geräusch
wiederholt sich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein dunkelglühender
Blitz durch den Krampf, in den all seine Gefühle zusammengeballt sind;
der Gedanke, dem Schicksal nachzuhelfen. Er hat das Zimmerbeil immer
noch in seinen Händen; absichtslos ist er mit der Handfläche an der
Schneide hingefahren; jetzt kommt ihm zum Bewußtsein, das Beil ist
scharf, die Ecke spitzig. Eine ganze Reihe von Gedanken steht fertig da;
es ist, als ständen sie schon lang, und der Blitz hat sie nur sichtbar
gemacht. Morgen knüpft Apollonius seine Leiter an die Helmstange, dann
das Tau mit Flaschenzügen und Fahrzeug. Fritz Nettenmair greift um sich
und hat das Tau in der Hand. Das Schicksal will seine Hilfe; darum legt
es selber ihm Tau und Beil in die Hand. Wer weiß, daß er hier war? Drei,
vier Stiche mit dem Beil im Kreise um das Tau, kaum zu sehen, werden zu
einem einzigen großen Riß, wenn das Gewicht eines starken Mannes am Tau
zieht und die wuchtende Bewegung des Fahrzeugs um den Turm das Gewicht
des Mannes vergrößert. Wer sieht den Stichen an, daß sie absichtlich
gemacht sind? Ein Tau, das, getragen, halb an der Erde fortschleift,
kann an allerlei Scharfes stoßen. Das Schicksal hat den Schieferdecker,
der zwischen Himmel und Erde hängt, in seiner Hand. Das Schicksal hält
ihn oder läßt ihn fallen, nicht das Seil oder ein Schnitt darin. Will es
ihn halten, schadet kein Schnitt; soll er fallen, reißt ein unversehrtes
Seil. Und das Schicksal hat ihn schon gezeichnet. Ein Tag früher, einer
später, was ist das, wenn er doch fallen muß? Ein Tag später, und es
packt einen Verbrecher. Meint es das Schicksal nicht gut, nimmt es ihn
vorher aus der Welt? --

All diese Gedanken schlug mit einem Schlage jener eine aus Fritz
Nettenmairs Seele! im Nu war er entglommen; im Nu schlägt der
Höllenfunke zur Flamme auf. Er hat das Tau in der linken Hand; er hebt
das Beil -- und läßt es schaudernd fallen. An dem Beile glänzt Blut;
durch die ganze Länge des Schuppens ragt ein blutiger Streif. Fritz
Nettenmair flieht aus dem Schuppen. Er flöhe gern aus sich selbst
heraus; kaum hat er den Mut, nach Apollonius' Fenster aufzusehn. Ein
heller Lichtstrahl kommt von da, Fritz Nettenmair weicht vor ihm hinter
einen Busch. Jetzt bewegt der Strahl sich zurück. Apollonius war
aufgestanden an seinem Tische und hatte das Licht hoch in die Höhe
gehalten. Er hatte das Licht geputzt. Es konnte eine glühende Schnuppe
aus der Schere neben den Leuchter unter die Papiere gefallen sein; es
war nicht geschehen, und er stellte das Licht wieder an seine Stelle.
Fritz Nettenmair kannte seines Bruders ängstliche Gewissenhaftigkeit; er
hatte ihn das Licht mehr als hundertmal so heben sehen; er begriff, es
war kein Blut, was ihn erschreckt. Der Widerschein der Flamme war durch
Fenster und Luke gefallen und hatte rot von dem Stahle des Beiles und
durch die Nacht des Schuppens geglänzt. Dennoch stand Fritz Nettenmair
bebend hinter seinem Busche. Der gespenstige Schauder verließ ihn, aber
nicht so schnell das Grauen über das, was er gewollt, und daß es war,
als hätte ihm der Bruder noch zu seinem Werke leuchten wollen. Bald
verlosch Apollonius' Licht. Fritz Nettenmair konnte zurückkehren und
sein Werk vollenden, es störte ihn niemand mehr. Er tat es nicht, aber
er rückte sich wieder in seinem Hasse zurecht. Er sagte sich: »so weit
sollen sie ihn nicht bringen«. Die _Schuld_ des Gedankens wälzt er auf
die, auf die er alles wälzt; daß er den Gedanken nicht _ausgeführt_,
rechnet er sich zu. Er weiß, jeder andere an seiner Statt hätte schlimm
getan.

Nun verschließt er Hintertür und Vorlegeschloß, zuletzt die Haustür; und
geht. Er will trinken, bis er nichts mehr von sich weiß. Heut hat er
mehr zu vergessen, als je. Er geht. Ob er nicht wieder kommen wird?
heute nicht; aber morgen, übermorgen, überübermorgen? wenn der Gedanke
seine Fremdheit für ihn verloren hat? Gewohnheit macht selbst mit dem
Teufel vertraut. Dazu sollen sie ihn nicht bringen! Ob die Stunde nicht
kommen wird, wo er bereut, daß er sich nicht soweit bringen lassen, und
sich doch noch soweit bringen läßt? Zudem, wozu jeder andere an seiner
Stelle sich hätte bringen lassen?

Immer dunkler, immer schwüler wurde das Leben in dem Hause mit den
grünen Läden. Wer jetzt hineinsieht, glaubt es mir nicht, wie dunkel,
wie schwül es einmal war.

                   *       *       *       *       *

Von dieser Nacht an ängstigte Fritz Nettenmair die Frau nicht mehr durch
Drohungen auf Apollonius; er begann sogar, sie mit einer gewissen
Freundlichkeit zu behandeln. Dazwischen verlor er sich stundenweise in
stummes Vorsichhinsinnen, aus dem er aufschrak, wenn er sich beobachtet
sah. Dann war er noch freundlicher als sonst, und brachte Scherze aus
seiner besten Zeit; er versuchte sich sogar wieder an der Arbeit. Aber
die Frau wurde nur noch ängstlicher; sie vermied noch mehr als seither,
was dem Manne Anlaß zum Glauben geben konnte, sie wolle sich Apollonius
nähern. Sie wußte nicht, warum. Und wenn sie ihre Furcht Torheit nannte,
sie mußte fürchten. Apollonius sah mit Freuden die Änderung des Bruders
und suchte ihn auf alle Weise darin zu fördern. Er wußte nicht, wie der
Bruder seine Freude auslegte!

Unterdes hatte Apollonius die Umkränzung des Turmdachs von Sankt Georg
mit der gestifteten Zier begonnen. Er hatte die Rüstungen wiederum
herausgeschoben und innen am Gebälke des Dachstuhls festgenagelt; die
Bretter darauf befestigt, auf die fliegende Rüstung die Leiter gestellt
und diese an der Helmstange festgebunden; er hatte wiederum den hänfenen
Ring um die Helmstange gelegt, daran den Flaschenzug, und an diesem
seinen Hängestuhl befestigt. Die gestiftete Blechzier bestand aus
einzelnen, halbmannslangen Stücken, mit denen sich handlich umgehen
ließ. Das Ganze sollte, nach des Stifters Angabe, der selbst die Kosten
der Befestigung trug, zwei Girlanden vorstellen, die sich in
gleichlaufenden Kreisen mit herabhängenden Bögen um das Turmdach
schlangen. Je fünf jener Stücke, bei der oberen drei, bildeten einen
dieser Bögen. Sie mußten an ihren Enden durch eingeschlagene Niete
verbunden, und jedes einzelne noch durch starke Nägel auf die
Verschalung befestigt werden. Da die Ränder der Schieferplatten sich
überall decken, war es nötig, an den Stellen, wo die Vernagelung
stattfinden sollte, die Schiefer mit Bleiblechen umzutauschen. Dasselbe
geschieht, wo die sogenannten Dachhaken in die Verschalung eingetrieben
werden, an welche bei Reparaturen der Schieferdecker seine Leiter hängt.
Die Fläche, mit welcher der Dachhaken, nachdem seine gekrümmte Spitze
eingetrieben ist, durch noch zwei starke Nägel auf die Verschalung
aufgenagelt wird, darf man nicht mit Schieferplatten überdecken. Bei
Befestigung der an dem hervorstehenden Haken aufgehängten Leiter kommt
seine Fläche in Vibration, die die Schieferplatten aufwuchten und
beschädigen würde. Sie wird deshalb mit einer Bleiplatte überdeckt. Der
Zierat kam, wenn der Wind sich darin fing, in eine ähnliche Bewegung.
Dann war noch eins zu bedenken. Die Dachhaken liefen, je neun und einen
halben Fuß voneinander entfernt, in gleichlaufenden Kreisen um das
Turmdach; zwischen je zwei Kreisen befand sich ein Raum von fünf Fuß. Es
galt, den Zierat so anzubringen, daß er keinen dieser Dachhaken
überdeckte.

Apollonius war fleißig bei der Arbeit. Der Blechschmiedmeister, der
seine Zier so bald als möglich prangen sehen wollte, hatte sich weniger
über ihn zu beklagen, als Apollonius mit dem Meister zufrieden sein
konnte. Im Anfang trieb dieser, bald mußte Apollonius den Meister
treiben.

Es fehlte noch der Teil der oberen Girlande, der als Bogen über der
Aussteigetür hängen sollte. Apollonius konnte nicht feiern, bis er das
Material dazu erhielt. Von einem nahen Dorfe hatte man ihn wegen einer
kleinen Reparatur beschickt; er ließ sein Fahrzeug bis auf seine
Zurückkunft an dem Turmdach von Sankt Georg hängen, und ging nach
Brambach.

Es war den Tag darauf, daß der alte Valentin an die Wohnstubentür
pochte. Er war schon einigemal an der Tür gewesen und wieder
fortgegangen. Sein ganzes Wesen drückte Unruhe aus. Etwas, woran er
immer denken mußte, machte ihn so zerstreut, daß er meinte, er müsse ein
Herein in Gedanken überhört haben; er legte das Ohr an das
Schlüsselloch, als setze er voraus, es müsse noch jetzt zu hören sein,
wenn man sich nur recht mühe. Die Unruhe weckte ihn aus der Zerstreuung.
Er pochte zum zweiten- und zum drittenmal, und als der Ruf immer noch
ausblieb, faßte er Mut, öffnete und trat in die Stube. Die junge Frau
war ihm schon seit einiger Zeit immer ausgewichen. Sie tat es auch
diesmal; aber heute mußte er sie sprechen. Sie saß, absichtlich von den
Fenstern entfernt, an der Kammertüre. Der Alte sah nicht, daß sie ebenso
unruhig war als er, und sein Hiersein sie noch mehr ängstigte. Er
entschuldigte sein Eindringen. Als sie eine Bewegung machte, sich zu
entfernen, versicherte er, sein Bleiben solle kurz sein; er wäre nicht
mit Gewalt hereingedrungen, wenn ihn nicht etwas triebe, was vielleicht
sehr wichtig sei. Er wünsche das nicht, aber es sei doch möglich. Die
Frau horchte und sah immer ängstlicher bald nach den Fenstern, bald nach
der Tür. Müsse er ihr etwas sagen, soll er's, so schnell er könne.
Valentin schien zugleich auf die ängstlichen Blicke der Frau zu
antworten, als er begann:

»Herr Fritz sind auf dem Kirchendach von Sankt Georg. Ich hab' ihn eben
noch vom Hofe aus gesehen.«

»Und hat er hierher gesehen? Hat er Euch ins Haus gehen sehen?« fragte
die Frau in einem Atem.

»Bewahre,« sagte der Alte; »er arbeitet heute wie ein Feind. Denkt an
kein Essen und Trinken. Wenn ein Mensch so arbeitet« -- -- Der Alte
brach ab und dachte seinen Satz fertig: »so hat er was vor«. Die Frau
schwieg auch. Sie kämpfte mit dem Gedanken, dem treuen Alten ihre ganze
Angst anzuvertrauen. Der Alte merkte nichts davon. »Der Nachbar da, Sie
wissen's wohl,« fuhr er fort, »kann zu Zeiten keine Nacht schlafen. Da
hat er die Nacht, eh' Herr Apollonius nach Brambach gegangen ist, zu
seinem Küchenfenster heraus, einen in unseren Schuppen schleichen sehen,
den Gang vom Hause hinter.« Der Alte sagte nicht, wen der Nachbar
gesehen; wahrscheinlich sollte die junge Frau ihn danach fragen. Sie tat
es nicht; sie hatte seine Geschichte nicht gehört. Er fuhr fort: »Den
Abend vorher, eh' Herr Apollonius nach Brambach gegangen ist, hat er das
Zeug aussuchen wollen, das er hat mitnehmen wollen; er hat alles
untersucht; das tut er immer: aber er hat sich nicht entschließen
können. Und das ist so merkwürdig, daß Herr Fritz auf einmal so fleißig
geworden ist.«

Apollonius' Name weckte die junge Frau: sie horchte, als der Alte
fortfuhr: »Daran hab' ich erst vorhin im Schuppen gedacht. Wie mir der
Nachbar da erzählt hat, daß einer in den Schuppen geschlichen ist, hab'
ich gedacht: was muß der dort gewollt haben, der dort hineingeschlichen
ist, und bei Nacht. Und wie ich aufgesehen hab' und hab' den Herrn Fritz
so arbeiten sehen, da ist eine Unruh über mich gekommen und hat mich in
den Schuppen hineingetrieben wie mit dem Stock hinter mir her. Da hab'
ich mir alles mögliche vorgestellt, was einer drin hat machen können,
der hineingeschlichen ist. Erst hab' ich das Zimmerbeil an der Tür
liegen sehen, das dahin gehört, wo das andere Werkzeug ist. Da hab' ich
gedacht: Hat er was mit dem Beile gemacht? Und hab' mir wieder
vorgestellt, was einer mit dem Beil drin machen kann, der bei Nacht
hineingeschlichen ist. Mir ist der Gedanke gekommen, es könnt' was an
den Leitern sein. Aber ich hab' nichts gefunden daran. An dem
Hängestuhl, der noch dort lag, war auch nichts. Da fing ich an, die
Kloben zu betrachten und endlich das Seilwerk. Da war an einem was, als
wär's hier und da an was Hartes angetroffen, und das hätt' das Seil
verschunden. Da denk' ich: das geschieht oft und will's schon wieder
hinlegen. Aber ich denk' auch wieder: sonst ist nichts; und wenn einer
hineinschleicht, hat er was gewollt; und wenn er das Beil gehabt hat,
hat er auch was damit gemacht. Da seh' ich genauer zu und -- Gott behüt'
einen Christenmenschen! Da war hier mit dem Beil hineingestochen, und
dort, und noch einmal, und noch einmal. Ich werf's über den Balken und
häng' mich daran, da klaffen die Stiche auf; ich glaub', wenn ein
Fahrzeug daran wuchtet, das Seil ist imstande, zu zerreißen.« Der Alte
war ganz bleich geworden über seiner Erzählung. Die Frau hatte immer
angstvoller an seinem Munde gehangen; sie war in den Stuhl
zurückgefallen und konnte kaum sprechen.

»Er hat gedroht,« ächzte sie. Der Alte verstand nicht, was sie sagte.

»Den Abend vorher war's noch nicht,« fuhr er fort. »Herr Apollonius, der
hat ein Aug' für einen Mückenstich. Er hätt's gefunden, wie er alles
untersucht hat. Nun denk' ich, der die Beilstiche gemacht hat, hat die
Untersuchung mit angesehen und hat gemeint, Herr Apollonius wird das
Zeug nicht noch einmal untersuchen, wenn er's morgen braucht. Und da ist
er bei Nacht hineingeschlichen.«

»Valentin,« schrie die Frau auf und faßte ihn bei den Schultern, halb,
wie um ihn zu zwingen, er soll ihr die Wahrheit sagen, halb, um sich an
ihm aufrechtzuerhalten. »Er hat's doch nicht mitgenommen? Valentin, so
sag's doch nur!«

»Das nicht,« sagte Valentin. »Aber den andern Hängestuhl, der darin lag,
und das Seilzeug dazu, und noch mehr.«

»Und waren auch dort Stiche drin?« fragte die Frau in noch immer
steigender Angst. Der Alte sagte:

»Ich weiß nicht. Aber der sie gemacht hat, hat nicht gewußt, welches
Herr Apollonius mitnehmen wird.«

»Wenn er sicher gegangen ist, so hat er alle beide -- und ich bin
schuld,« stöhnte die Frau. »Er hat lange gedroht, er will ihm was tun.
Er tat, als wär's einer von seinen Späßen. Wenn ich's jemand sagte,
wollt' er's im Ernste tun.«

»Wer so scherzt,« sagte Valentin, »der macht auch solchen Ernst.«

Die Frau zitterte so heftig an allen Gliedern, daß der Alte seine Angst
um Apollonius über der Angst um sie vergaß. Er mußte sie halten, daß sie
nicht umfiel. Aber sie stieß ihn von sich und flehte und drohte
zugleich: »Rett' ihn, Valentin, rett' ihn. Hilf, Valentin! Ach Gott,
sonst hab' ich's getan.« Sie betete zu Gott um Rettung und jammerte
immer dazwischen auf, er sei tot und sie trage die Schuld. Sie rief
Apollonius selbst mit den zärtlichsten Namen, er solle nicht sterben.
Valentin suchte in der Angst nach einer Beruhigung für sie und fand ein
Etwas davon für sich selbst mit. Wenn es auch nicht beruhigen konnte, so
gab es doch Hoffnung, daß Apollonius schon auf dem Rückweg sein müsse.
Er habe gewiß das Tauwerk noch einmal untersucht. Wär' er verunglückt,
man müßte es nunmehr wissen. Zehnmal mußte er ihr das vorsagen, eh' sie
nur verstand, was er meinte. Und nun erwartete sie den Boten, der die
gräßliche Nachricht bringen konnte, und schrak bei jedem Laut. Ihr
eigenes Schluchzen hielt sie für die Stimme des Boten. Valentin lief
endlich, da ihre Angst und Ratlosigkeit ihn selber mit ergriff, zu dem
alten Herrn, ihn hereinzuholen zu der Frau. Er wußte nicht, was
beginnen; und vielleicht war noch zu retten, wenn man etwas tat;
vielleicht wußte der alte Herr, was zu tun war, um zu retten.

Der alte Herr saß in seiner kleinen Stube. Wie er sich immer tiefer in
die Wolken einspann, die ihn von der Welt außer ihm trennten, wurde ihm
zuletzt auch das Gärtchen fremd. Besonders hatte ihn die ewige Frage:
Wie geht's, Herr Nettenmair? dort vertrieben. Er fühlte, man konnte ihm
sein: »Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu sagen,« nicht
mehr glauben, und seitdem hörte er in jener Frage eine Verhöhnung.
Apollonius war, so sehr er mit ihm litt, das Zurückziehen des alten
Herrn und seine zunehmende Menschenscheu nicht unwillkommen. Je tiefer
der Bruder fiel, desto schwerer war es geworden, dem alten Herrn den
Zustand des Hauses zu verbergen und etwaige Zuträger abzuhalten, von
denen er in seinem Gärtchen nicht abzuschließen war; es schien zuletzt
unmöglich. Apollonius wußte freilich nicht, daß der alte Herr in seinem
Stübchen Qualen litt, die, wenn auch auf bloßer Einbildung beruhend,
denen gleichkamen, vor denen er ihn schützen wollte. Hier saß der alte
Herr den langen Tag, zusammengesunken hinter dem Tische auf seinem
Lederstuhl, und brütete nach seiner alten Weise über allen Möglichkeiten
von Unehre, die sein Haus treffen konnten oder schritt mit hastigen
Schritten hin und her, und das Rot seiner eingefallenen Wangen und die
heftig kämpfende Bewegung seiner Arme zeigte, wie er in Gedanken das
Äußerste tat, die drohenden abzuwenden. Nur der Bauherr, der mit
Apollonius im Verständnisse war, wurde zu ihm gelassen. Der alte Herr,
der dem Gast, wie jedem andern, sein Inneres verbarg, erriet bei diesem
dieselbe Verstellung, und bestärkte sich daran in der Meinung, daß er
durch Fragen nichts erfahren und nur seine Hilflosigkeit offenbar machen
könne. Je heißer es in ihm kochte, desto eisiger erschien sein Äußeres.
Es war ein Zustand, der in völligen Wahnsinn übergehen mußte, wenn nicht
die Außenwelt eine Brücke zu ihm schlug und ihn mit Gewalt aus seiner
Vereinzelung herausriß.

Heute geschah ihm diese Gewalt. Eben saß er wieder brütend auf seinem
Stuhle, als den Valentin die Angst zu ihm hineintrieb. Den Gesellen
zwang die alte Gewohnheit, ohne daß er es wußte, die Türe leise zu
öffnen und ebenso hereinzutreten; aber der alte Herr empfand mit seinem
krankhaft verschärften Gefühle sogleich das Ungewöhnliche. Seine
Erwartung nahm natürlich denselben Gang, den all sein Denken verfolgte.
Es war eine dem Hause drohende Schmach, was die sonst immer gleiche
Weise Valentins veränderte; es mußte eine entsetzliche sein, da sie den
alten Gesellen aus der Fassung brachte und seine Verstellung durchbrach.
Der alte Herr zitterte, als er aufstand von seinem Stuhl. Er kämpfte mit
sich, ob er fragen sollte. Es war nicht nötig. Der alte Gesell beichtete
ungefragt. Er erzählte mit fliegender Brust seine Befürchtungen und was
sie rechtfertigte. Der alte Herr erschrak, so gut ihn seine Einbildungen
auf die Wirklichkeit vorbereitet hatten; aber der Gesell sah nichts
davon im Äußeren seines Herrn; der hörte ihn an wie immer, wie wenn er
das gleichgültigste zu sagen hatte. Als er ausgesprochen, hätte das
schärfste Auge kein Zittern mehr an der hohen Gestalt wahrgenommen. Der
alte Herr hatte den festen Boden der Wirklichkeit wieder unter seinen
Füßen; er war wieder der Alte im blauen Rock. Er stand so straff vor dem
alten Gesellen wie sonst, so straff und ruhig, daß Valentins Seele sich
an ihm aufrichtete. »Einbildungen!« sagte er dann mit seinem alten
grimmigen Wesen. »Ist kein Geselle da?« Valentin rief einen herbei, der
eben Schiefer abholen wollte. Der alte Herr schickte ihn nach Brambach,
Apollonius auf der Stelle heimzuholen. Der Geselle ging. »Geht er Ihm
nicht schnell genug, Er altes Weib, so heiß' Er ihn eilen, damit Er bald
erfährt, daß Er sich um nichts geängstigt hat. Aber kein Wort von seinem
Sums da! Und schließ' Er die Frau ein, damit sie nichts Albernes
anfängt.« Valentin gehorchte. Das zuversichtliche Wesen des alten Herrn
und daß nun wirklich etwas getan war, hatte kräftiger auf ihn gewirkt,
als hundert triftige Gründe vermocht hätten. Er teilte seine Ermutigung
der Frau mit. Er war zu eilig, um ihr zu sagen, worauf sie sich
gründete. Hätte er Zeit gehabt, wahrscheinlich hätte er die Frau weniger
beruhigt verlassen, und er selbst ahnte nichts weniger, als daß der alte
Herr innerlich überzeugt war von der Schuld seines älteren und von der
Gefahr, wenn nicht vom Tode seines jüngeren Sohnes, während er ihm seine
Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte, und den Boten nur
geschickt zu haben schien, um ihn und die Frau zu beruhigen.

»Nun wird der alte Narr doch,« sagte Herr Nettenmair, nachdem Valentin
zu ihm zurückgekehrt war, »dem Nachbar das ganze Märchen, das er sich
zusammenspintisiert hat, erzählt haben, und die Frau sechs Basen damit
in die Stadt herumgeschickt haben.«

Valentin merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der alte
Herr auf seine in einen Ausruf verkleidete Frage die Antwort erwartete.
»Werd' ich doch nicht,« sagte er eifrig. Des alten Herrn Vermutung
kränkte ihn. »Ich hab' ja da selbst noch nichts Arges gemeint, und die
Frau Nettenmair hat keinen Menschen gesprochen seitdem.«

Der alte Herr schöpfte neue Hoffnung. Während Valentins Abwesenheit
hatte er sich einen Augenblick dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein
Vater in seinem Falle nur empfinden konnte; aber er hatte sich gesagt:
man dürfe nicht in untätigem Jammer dem Verlorenen nachwerfen, was noch
zu erhalten sei. Waren die Söhne verloren, so war doch die Ehre des
Hauses, seine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht noch zu retten.
Nun kam dem alten Herrn bei dem wirklichen Falle die Übung zu statten,
die er bei seiner Einbildung aller Möglichkeiten gewonnen hatte. Wenn
die krankhaft gewachsene Empfindlichkeit seines Ehrgefühls ihn spornte,
vor dem äußersten nicht zurückzuschrecken, so gingen seine Gedanken nun
bei dem wirklichen Falle nur denselben fieberischen Gang, den zu nehmen
sie sich an den wesenlosen Ausgeburten seiner Furcht gewöhnt.
Verheimlichung alles dessen, was zu einem Verdachtsgrunde auf den
älteren Sohn werden konnte, stellte sich ihm als nächste Notwendigkeit
dar. Hatten Valentin und die Frau noch niemand mitgeteilt, was sie
wußten, so konnte anderes dergleichen bereits bekannt sein. Solch ein
verbrecherischer Gedanke entspringt nicht aus dem Ungefähr. Er ist die
Blüte eines Giftbaumes mit Stamm und Zweigen. Valentin mußte ihm
erzählen, was seit Apollonius' Zurückkunft im Hause geschehen war. Wußte
Valentin von Fritz Nettenmairs Eifersucht nichts, oder wollte er dem
alten Herrn, dessen argwöhnische Gemütsart er kannte, nichts davon
sagen; seine Erzählung wurde die Geschichte eines leichtsinnigen, ehr-
und vergnügungssüchtigen Verschwenders, der, trotz aller Bemühungen
seines besseren Bruders, ihn zu halten, bis zum gemeinen Wüstling und
Trunkenbold herabsank; zugleich die Geschichte eines treuen Bruders, der
dem Verschwender notgedrungen die Sorge um Ehre und Bestand von Geschäft
und Haus aus den Händen nimmt, um diese Ehre zu retten, und von dem
Gefallenen dafür bis in den Tod verfolgt wird.

Der alte Herr saß regungslos. Nur die Röte, die immer brennender auf die
mageren Wangen trat, gab Kunde von dem, was er mit der Ehre seines
Hauses litt. Sonst schien er alles schon zu wissen. Es war das seine
alte Weise; er wandte sie hier vielleicht auch deswegen an, weil er
meinte, der Gesell würde dann um so weniger wagen, etwas zu verschweigen
oder wider besseres Wissen zu verändern. Die innere Aufregung hinderte
ihn, zu bemerken, in welchen Widerspruch dieser Anschein mit seinem
Gefühl für Ehre trat. Valentin suchte nicht den Schatten zu vertiefen,
der auf Fritz Nettenmairs Handeln fiel; aber wie er den alten Herrn
kannte, schien es ihm nötig, das brave Tun Apollonius' in das hellste
Licht zu stellen. Er kannte den alten Herrn doch nur halb. Er
verrechnete sich in der Wirkung, die er damit beabsichtigte, wenn er die
kindliche Schonung pries, mit der Apollonius die Kunde von der Gefahr
dem Ohr des alten Herrn fern gehalten. Er verdarb damit, was seine
schlichte Erzählung getan, des Sohnes Verdienst um das Teuerste, was der
alte Herr wußte, darzustellen. Der alte Herr sah nur immer mehr die
Furcht wahr gemacht, die ihm Apollonius' Tüchtigkeit erregt hatte.
Apollonius hatte ihm die Gefahr unkindlich verschwiegen, um die Rettung
sich allein beimessen zu können. Oder er hielt seinen Vater für den
hilflosen Blinden, der nichts mehr war und nichts mehr vermochte, als
höchstens ihn zu hindern. Und das vergab ihm der alte Herr noch weniger
-- trotz seines Schmerzes um den Toten, der der Sohn ihm bereits war. Er
wurde immer überzeugter, er selbst hätte es nicht soweit kommen lassen,
wenn er darum gewußt und die Sache in seine Hand genommen, und
Apollonius dürfe niemand seines Mordes anklagen, als den eigenen
Vorwitz. Diese Gedanken mußten natürlich vor dem zunächst notwendigen
zurücktreten. Was er bis jetzt von der Vorgeschichte des
brudermörderischen Gedankens wußte, konnte den entstandenen Verdacht
verstärken, aber ihn nicht entstehen machen, wenn nicht ein anderes, das
ihm noch unbekannt war, dazu trat. Er mußte von dem schuldigen Sohne
selbst erfahren, ob es solch ein anderes gab. Sein Entschluß war für
alle Fälle gefaßt. Er verlangte Hut und Stock. Ein andermal wäre
Valentin über diesen Befehl erstaunt, vielleicht sogar erschrocken. Ist
man durch ein Außerordentliches aufgeregt, wie es der Gesell eben war,
kommt nur das unerwartet, was sonst das Gewöhnliche hieß, was an den
alten, ruhigen Zustand erinnert. Indes Valentin das Befohlene
herbeibrachte und der alte Herr sich zum Ausgehen bereitete, zeigte
dieser ihm noch einmal, wie grundlos und töricht seine Befürchtungen
seien. »Wer weiß,« sagte der alte Herr grimmig, »was der Nachbar gesehen
hat. Wie will er bei Nacht einen erkennen, der so weit entfernt von ihm
ist? Und Er dazu mit seinen Beilstichen! Nun dürfte dem Jungen in
Brambach das Seil gerissen sein oder müßte sonst zufällig verunglückt
sein, so wird Er sich steif und fest einbilden, seine eingebildeten
Beilstiche sind schuld gewesen, und der hat sie gemacht, den der Nachbar
-- der so einfältig ist als Er -- will haben in den Schuppen schleichen
gesehen. Und sagt Er ein Wort davon, oder ist Er so klug, daß Er in
Rätseln zu verstehen gibt, was Er sich einbildet in seinem alten
Narrenschädel, so ist den andern Tag die ganze Stadt voll davon. Nicht
weil's wahrscheinlich wäre, was Er da ausgeheckt hat, und kein
vernünftiger Mensch glauben kann, sondern weil die Leute froh sind,
einem andern das Schlimmste nachzureden. Gott wird ja vor sein, daß der
Junge nicht zu Unglück kommt, aber es kann geschehen, und es ist
vielleicht schon geschehen. Wie leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu,
geschweige ein Schieferdecker, der zwischen Himmel und Erde schwebt wie
ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel. Darum mit ist die edle
Schieferdeckerkunst eine so edle Kunst, weil der Schieferdecker das
sichtlichste Bild ist, wie die Vorsehung den Menschen in ihren Händen
hält, wenn er in seinem ehrlichen Berufe hantiert. Und läßt sie ihn
fallen, so weiß sie, warum; und der Mensch soll nicht Gespinste drum
hängen, die über einen andern Unglück oder gar Schande bringen können.
Ich bin gewiß, die Sache wird sich ausweisen, wie sie ist, und nicht,
wie Er sie sich da zusammengeängstelt hat. Denn« --

Soweit war der alte Herr in seiner Rede gekommen, da hörte man draußen
eine Last niedersetzen. Der alte Herr stand einen Augenblick stumm und
wie versteinert da. Der Valentin hatte durch das Fenster den
Blechschmiedegesellen kommen sehen, der eben ablud.

»Der Jörg vom Blechschmied,« sagte Valentin, »der die blechernen
Girlanden vollends bringt.«

»Und da ist Er erschrocken mit seinen Einbildungen und hat gemeint, sie
bringen wer weiß wen. Wo ist der Fritz?«

»Auf dem Kirchendach,« entgegnete Valentin.

»Gut,« sagte Herr Nettenmair. »Sag' Er dem Blechschmied, er soll
hereinkommen, wenn er fertig ist.« Der Geselle tat's. Bis jener
hereinkam, fuhr Herr Nettenmair noch mit gedämpfteren Tönen in seiner
Strafpredigt fort. Er sprach davon, wie Menschen sich Einbildungen
zusammendichteten und sich darüber ängsteten, wie über wirkliche Dinge;
wie die Gedanken dem Menschen über den Kopf wüchsen und ihm keine gute
Stunde ließen, wenn er nicht gleich im Anfang sich ihrer erwehre. Es
war, als wollte der alte Herr sich über sich selbst lustig machen. Er
dachte nicht daran, daß er Valentin über seinen eigenen Fehler
abkanzelte. Dagegen fühlte sich Valentin beschämt, als treffe ihn die
Strafe verdientermaßen; und er hörte dem alten Herrn mit Andacht und
Zerknirschung zu, bis der Blechschmiedgesell hereinkam. Herr Nettenmair
faßte den Stock, den ihm Valentin in die Hände gab, setzte den Hut tief
in die Stirne, um der Welt so viel als möglich von dem unfreiwilligen
Geständnis der toten Augen zu entziehen, und schüttelte sich
majestätisch in dem blauen Rock zurecht. Valentin wollte ihn führen,
aber er sagte: »die Frau braucht Ihn, und Er wird wissen, was Er in
meinem Hause zu tun hat.« Valentin verstand den Sinn der diplomatischen
Rede. Der alte Herr machte ihn verantwortlich für das Benehmen der Frau.
Herr Nettenmair aber wandte sich nun dahin, wo des Blechschmiedegesellen
Respekt in ein leises Räuspern ausbrach, und fragte ihn, ob er Zeit
habe, ihn bis auf das Turmdach von Sankt Georg zu begleiten, wo sein
älterer Sohn arbeite. Der Blechschmied bejahte. Valentin wagte noch den
Vorschlag, Herrn Fritz lieber rufen zu lassen. Der alte Herr sagte
grimmig: »ich muß ihn oben sprechen. Es ist wegen der Reparatur.« Darauf
wandte er sich wieder zu dem Blechschmiedegesellen. »Ich werde Seinen
Arm nehmen,« sagte er mit herablassendem Grimm. »Ich leide etwas an den
Augen, aber es hat nichts zu sagen.«

Valentin sah den Gehenden eine Weile kopfschüttelnd nach. Als der alte
Herr aus seinen Augen war, fiel die Zuversicht, die er der resoluten
Gegenwart des alten Herrn verdankte, wieder zusammen. Er schlug die
Hände ineinander vor Angst; da ihm aber einfiel, er stehe in der Haustür
und sei verantwortlich für jedes Gerede, das der Ausdruck seiner
»Einbildungen« veranlassen konnte, tat er, als habe er die Hände
ineinandergelegt, um sie behaglich zu reiben.

Der Blechschmiedegeselle hatte gehört, Herr Nettenmair sei schon seit
Jahren blind; der selbst hatte ihm gesagt, sein Augenleiden sei
unbedeutend; er merkte aber bald, die Leute möchten doch recht haben.
Nun nickte ein rasch Vorübergehender, und auf sein »Wie geht's?«
lächelte der alte Herr wiederum: »Ich leide etwas an den Augen, aber es
hat nichts zu sagen.« Über jeden andern an Herrn Nettenmairs Stelle
würde der Gesell gelacht haben; aber die mächtige Persönlichkeit des
alten Mannes setzte ihn so in Respekt, daß er den Widerspruch seiner
sinnlichen Wahrnehmung mit dessen Worten auf sich beruhen ließ, und
zugleich seinen Sinnen glaubte: Herr Nettenmair sei blind, und Herrn
Nettenmair selbst: es habe nichts zu sagen.

Das Erscheinen des alten Herrn auf der Straße war ein Wunder und
sicherlich würde es Aufsehen gemacht haben und der alte Herr durch
hundert Händeschüttler und Frager aufgehalten worden sein, hätte nicht
ein anderes die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt. Da lief ein halblaut
und schnell Ausgesprochenes durch die Straßen. Zwei, drei blieben
stehen, das Näherkommen eines Dritten, Vierten abwartend, der sich
merken ließ, er wisse das, was sie zehn andere ähnliche Gruppen bilden
sahen. Dort verkündete es einer im schnellen vorübereilen. Und immer
begann es mit einem: »Wißt ihr schon?« das oft von einem: »Aber was ist
denn geschehen?« herausgefordert war. Herr Nettenmair brauchte nicht zu
fragen; er wußte, ohne daß es ihm einer zu sagen brauchte, was geschehen
war; aber er durfte sich nicht merken lassen, wie er wußte, daß man
eigentlich ihn hätte fragen müssen; man wollte nicht allein wissen, was
geschehen war; auch das wie und wodurch und das warum. Der
Blechschmiedegeselle meinte, Herr Nettenmair wollte an ihm niedersinken,
aber der alte Herr hatte sich nur an den Fuß gestoßen, »es hatte nichts
zu sagen«. Der Gesell fragte einen Vorübereilenden. »Ein Schieferdecker
ist verunglückt in Brambach.« »Wie denn?« fragte der Gesell. »Ein Seil
ist zerrissen. Weiter weiß man noch nichts.« Herr Nettenmair fühlte, wie
der Gesell erschrak, und daß er über den Gedanken erschrak, der Sohn des
Mannes war verunglückt, den er führte. Er sagte: »Es wird in Tambach
gewesen sein. Die Leute haben falsch gehört. Es hat nichts zu sagen.«
Der Gesell wußte nicht, was er von der Gleichgültigkeit des Herrn
Nettenmair denken sollte. Der sagte zu sich, indem das brennende Rot auf
seine Wangen trat: »Ja, es muß sein. Es muß sein.« Er dachte daran, es
gab etwas, womit man allen Gerichten, allen Untersuchungen aus dem Wege
gehen kann. Das Etwas, das er meinte, mußte ein hartes Etwas sein; denn
er biß die Zähne zusammen, als er mit dem Kopfe nickte und zu sich
sagte: »Es muß sein. Nun muß es sein.« Der Gesell ging, den alten Herrn
führend, wie im Traume neben ihm die Turmtreppe von Sankt Georg hinan.
Die Leute hatten recht; Herr Nettenmair war doch ein eigener Mann!

Der alte Herr hatte gesagt, er müsse den Sohn auf dem Kirchendach
sprechen -- wegen der Reparatur. Er hatte ohne Absicht in seiner
diplomatischen Art geredet.

Es mußte auf dem Kirchendache sein, und es galt eine Reparatur, aber
nicht die des Kirchendachs.

                   *       *       *       *       *

Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich. Zwischen Himmel
und Erde, hoch oben auf dem Kirchendach von Sankt Georg, schaffte Fritz
Nettenmair, als der alte Herr sich die Treppe zu ihm hinaufführen ließ.
Hier herauf war Fritz Nettenmair geflohen vor den Augen der Menschen,
die er alle auf sich gerichtet meinte, hier herauf hatte er sich
geflüchtet, vor seinen Gedanken in einen wütenden Fleiß. Er hatte die
ganze Hölle in seiner Brust mit heraufgebracht; und wie angestrengt er
schaffte, der Schweiß, der ihm auf der Stirne stand, war nicht der warme
redlichen Mühens, es war der kalte Schweiß der Gewissensangst. Er
hämmerte Schiefer zurecht und nagelte sie fest, so angstvoll hastig, als
nagelte er den Weltenbau fest, der sonst einstürzen müßte in der
nächsten Viertelstunde. Aber seine Seele war nicht bei dem Hämmern, sie
war dort, wo unaufhörlich Stricke rissen und verunglückende
Schieferdecker polternd hinabstürzten in den gewissen Tod. Zuweilen
hielt er plötzlich inne; es war ihm, als müßte er hinunterrufen: »Nach
Brambach! Er soll nicht die Leiter besteigen! er soll sich nicht auf
sein Fahrzeug setzen.« Aber dann blieben die vielen Hunderte, die wie
Ameisen da unten durcheinanderliefen, in Schreck versteinert stehen, und
soviel Paar Augen, überfüllt mit Grauen und Abscheu, starrten herauf,
und der Häscher kam und stieß ihn vor sich her die Treppe herunter; und
vielleicht war es doch zu spät! Dann einmal faltete er die Hände über
den Deckhammer und gelobte: stürbe Apollonius nicht, er will ein braver
Mann werden. Er denkt nicht, daß ihn das reuen wird, sobald er
Apollonius gerettet weiß. -- Da kommt jemand die Treppe herauf -- ist's
der Häscher schon? Nein. Es weiß niemand, was er getan. Er verzerrt sein
Gesicht in Trotz und fragt: »Wer will mir was anhaben?« Jetzt hört er
Stimmen, und die Klänge der einen davon treffen wie Hammerschläge auf
sein gequältes Herz. Das ist die einzige Stimme, die er hier zu hören
nicht erwartet. Wird der fragen, dem sie gehört: »Wo ist dein Bruder
Abel hin?« Nein. Er will dem Sohne sagen, daß jener verunglückt ist; er
meint, es ist ein Unglückstag und er soll heute nicht mehr arbeiten. Und
fragt er doch, die Antwort ist fast so alt als das Menschengeschlecht:
»Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Dabei kommt's ihm wie eine
Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater ist blind. Denn er weiß,
seine sehenden Augen könnte er jetzt nicht ertragen. Er hämmert und
nagelt immer hastiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er könnte,
aber der Dachstuhl ist schmal und der Alte spricht schon am
Aussteigeloch im Dache. Er will ihn nicht eher bemerken, als bis er muß.
»Nun ist's schon gut,« hört er den Alten sagen. »Mach' Er Seinem Meister
mein Kompliment; und da ist etwas für Ihn. Trink' Er eine Gesundheit
dafür.« Fritz Nettenmair hört, der alte Herr setzt sich auf die
bloßgelegte Latte im Aussteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die
ganze Öffnung mit seiner Gestalt. Er hört den Dank des Gesellen und
seine Tritte, wie sie immer ferner klingen.

»Schönes Wetter,« sagt Herr Nettenmair. Der Sohn errät, der Alte will
wissen, ob noch jemand in der Nähe ist. Es antwortet niemand; Fritz
Nettenmair stirbt der Ton in der Brust; er hämmert immer lauter und
hastiger. Er wünscht, die Stunde, der Tag, das Leben wär' zu Ende.
»Fritz,« ruft der Alte. Er ruft noch einmal, und er ruft noch einmal.
Fritz Nettenmair muß endlich antworten. Er denkt an den Ruf: »Kain, wo
bist du?« »Hier, Vater,« entgegnet er und hämmert fort.

»Der Schiefer ist fest,« sagte der Alte gleichgültig; »ich hör's am
Klange; er blättert nicht.«

»Ja,« entgegnete Fritz mit klappernden Zähnen, »er nimmt kein Wasser.«

»Er ist besser geworden als früher,« fährt der Alte fort; »sie sind
tiefer in den Bruch hineingekommen. Es scheint, du bist allein.« Ein
»Ja« erstirbt im Munde des Sohnes. »Je tiefer er lagert, desto fester
ist das Gestein. Ist keine Rüstung weiter in der Nähe?«

»Keine.«

»Gut. Komm hierher. Hier vor mich.« --

»Was soll ich?«

»Hierher kommen. Was gesagt sein muß, muß leise gesagt sein.«

Fritz Nettenmair trat, in allen Gelenken schlotternd, vor den Vater. Er
wußte, der war blind, und doch suchte er seinem Blicke auszuweichen. Der
Alte rang nach Fassung, aber davon sprach kein Zug in dem verwitterten
Gesicht; nur die Dauer seines Schweigens und sein Atem, der das schwere,
ächzende Wandeln des Perpendikels an der nahen Turmuhr wie ein müdes
Echo nachzuklingen schien. Fritz Nettenmair ahnte aus den
Vorbereitungen, was kommen müsse. Er rang nach Trotz. Wenn er's in
seinem Argwohn errät, wer will mir's beweisen? Und könnt' er's beweisen,
er gibt mich nicht an; davor bin ich sicher. Warum auch sonst will er
leise reden? mag er sagen, was er will, ich weiß nichts, ich bin nichts
gewesen, ich hab' nichts getan. Sein Gesicht rang sich aus dem Zittern
aller Muskeln bis zum wildesten Ausdrucke des Trotzes hindurch. Der alte
Herr schwieg noch immer. Gedämpft klang das Treiben der Straßen in die
Höhe herauf; unten lag schon violetter Schatten, um das Fahrzeug
Apollonius' bebte der letzte Sonnenstrahl. Etwas ferner rauschte ein Zug
vom Felde heimkehrender Tauben vorbei. Es war ein Abend voll
Gottesfrieden. Tief unten weit hingedehnt die grüne Erde; oben hoch der
Himmel, wie ein Kelch aus blauem Kristall darüber gedeckt. Kleine,
rosige Wölkchen wie Flocken hingestreut. Der Lärm von unten erlosch
immer mehr. Die Luft trug einzelne Töne einer fernen Glocke mit sich und
schlug sie leise spielend wie wiederkehrende Wellen gegen das Dach. Dort
über der nächsten grünen Höhe, wo sie herkommen, liegt Brambach. Es muß
das Abendgeläute von Brambach sein. Hoch am Himmel und tief auf der
Erde, überall Gottesfrieden und süß aufgelöstes Hinsehnen nach Ruhe. Nur
zwischen Himmel und Erde die beiden Menschen auf dem Kirchdach zu Sankt
Georg fühlen nicht seine Flügel. Nur über sie vermag er nichts. In dem
einen brennt der Wahnsinn überreizten Ehrgefühls, in dem andern alle
Flammen, alle Qualen der Hölle.

»Wo ist dein Bruder?« drang es endlich zwischen den Zähnen des einen
hervor.

»Ich weiß nicht. Wie soll ich's wissen?« bäumt sich im andern der Trotz.

»Du weißt nicht?« Der alte Herr flüsterte nur, aber jedes seiner Worte
schlug wie ein Donner in die Seele des Sohnes. »Ich will dir's sagen.
Drüben in Brambach liegt er tot. Das Seil ist über ihm zerrissen und du
hast's mit Beilstichen zerschnitten. Der Nachbar hat dich in den
Schuppen schleichen sehn. Du hast vor deiner Frau gedroht, du willst es
tun. Die ganze Stadt weiß es; eben tragen sie's in die Gerichte. Der
erste, der nun die Treppe heraufkommt, ist der Häscher, der dich vor den
Richter führt.« --

Fritz Nettenmair brach zusammen; die Rüstung knackte unter ihm. Der Alte
horchte auf. Fiel der Elende am Rande des Gerüstes zusammen, so stürzte
er hinab in die Tiefe, und alles war vorüber! Alles, was sein mußte, war
getan! Eine Lerche stieg aus einem nahen Garten in die Höhe und streute
ihr lustiges Tirili über Bäume und Häuser hin. Glücklichere Menschen
hörten den Gesang aus der Ferne; Arbeiter ließen den Spaten ruhen,
Kinder Peitsche und Kreisel, und suchten mit himmelaufgewandten Augen
den schwebenden Punkt, und horchten mit verhaltenem Atem hinauf. Der
alte Herr Nettenmair hörte die nahe Lerche nicht; er hielt auch den Atem
an, aber er horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts, das wie
Lerchengesang klingt, was er erhorchen wollte. Es war ein Poltern auf
dem Dach unter ihm, ein gebrochener Angstruf. Er horchte erst voll
Hoffnung, dann voll Angst. Nichts klingt herauf. Vor ihm auf den
Brettern des Gerüstes röchelt ein schwerer Atem. Er hört, der Zufall,
der ihm mitleidig helfend vorgreifen konnte, hat es nicht getan. Er muß
es tun, denn getan muß es sein. Sonst zeigen die Menschen mit den
Fingern auf die Kinder: Die sind's, deren Vater seinen Bruder erschlug
und auf dem Hochgericht oder im Zuchthause starb. Und wo es längst
vergessen ist, da dürfen sie sich nur zeigen, da wird es wieder wach; da
deuten die Menschen wieder mit den Fingern und wenden mit Schaudern sich
von ihnen ab. Das Vertrauen, das er von den Eltern erbt, ist das
Kapital, womit der Mensch anfängt. Es muß ihm erwiesen werden, eh' er's
hat verdienen können, damit er lernt, Vertrauen zu verdienen. Wer wird
ihnen Vertrauen erweisen, die mit ihres Vaters Schande gezeichnet gehen?
Wie sollen sie Vertrauen verdienen lernen? Mitten unter den Menschen von
den Menschen ausgestoßen, müssen sie nicht werden, wie ihr Vater war?
Und sein eigenes langes Leben voll Anstrengung, Ehre zu erwerben und zu
bewahren, wird rückwärts angesteckt von des Sohnes Schmach. Die Kinder
hält man für fähig zu tun, wie der Vater tat, und es kann kein ehrlicher
Vater gewesen sein, der solchen Sohn hatte! -- Immer brennender glühte
die Röte auf der eingefallenen Wange; die zusammengesunkene Brust
richtete sich keuchend empor. Er machte unwillkürlich eine vordeutende
Bewegung mit dem Arm. Fritz Nettenmair ahnte ihren Sinn und wollte sich
aufraffen und wäre wieder umgesunken, stützte er sich nicht mit beiden
Händen. So lag er auf Händen und Knien vor dem Alten, als er den
Angstruf ausstieß: »Was willst du, Vater? Womit gehst du um?«

»Ich will sehen,« erwiderte der Alte mit pfeifendem Flüstern, »ob ich's
tun muß oder ob du's tun wirst, was getan sein muß. Und getan muß es
sein. Noch weiß niemand etwas, was zur Untersuchung führen kann vor den
Gerichten, als ich, deine Frau und der Valentin. Für mich kann ich
stehen, aber nicht für die, daß sie nicht verraten, was sie wissen. Wenn
du jetzt herabfällst von der Rüstung, so daß die Leute meinen können, du
bist ohne Willen verunglückt, dann ist die größte Schande verhütet. Der
Schieferdecker, der verunglückt, steht vor der Welt als ein ehrlicher
Toter, so ehrlich als der Soldat, der auf dem Schlachtfeld gestorben
ist. Du bist einen solchen Tod nicht wert, Bankrottierer. Dich sollte
der Henker auf einer Kuhhaut hinausschleifen auf den Richtplatz,
Schandbube, der du den Bruder umgebracht hast und hast vergiften wollen
das zukünftige Leben der unschuldigen Kinder und mein vergangenes, das
voll Ehre gewesen ist. Du hast Schande genug gebracht über dein Haus, du
sollst nicht noch mehr Schande darüber bringen. Von mir sollen sie nicht
sagen, daß mein Sohn, und von meinen Enkeln nicht, daß ihr Vater auf dem
Blutgerüst oder im Zuchthause gestorben ist. Du betest jetzt ein
Vaterunser, wenn du noch beten kannst. Dann wendest du dich, als
wolltest du wieder zu deiner Arbeit gehen, und trittst mit dem rechten
Fuß über die Rüstung. Sag' ich, der Schreck über seines Bruders Unglück
hat ihn schwindeln gemacht: mir glauben's die Gerichte und die Stadt.
Das ist's, was ein Leben einbringt, das anders gewesen ist als deins.
Tust du's nicht gutwillig, so stürz' ich mit dir hinab und du hast auch
mich auf deinem Gewissen. Die Leute wissen, ich leide an den Augen; ich
bin gestrauchelt und hab' mich an dir anhalten wollen und hab' dich
mitgerissen. Meines Lebens ist nach dem, was ich heut' erfahren hab',
keine Dauer mehr und kein Wert; ich bin am Ende, aber die Kinder fangen
erst an. Und auf den Kindern soll keine Schande haften, so wahr ich
Nettenmair heiße. Nun besinn' dich, wie es werden soll. Ich zähle
fünfzehn Paar Schläge an dem Perpendikel dort.«

Fritz Nettenmair hatte mit wachsendem Entsetzen die Rede des Vaters
gehört. Daß seine Tat noch nicht öffentlich bekannt war, gab ihm
Hoffnung. Die Angst vor dem gedrohten Tode weckte einen Teil seiner
Kräfte wieder. Er flüchtete sich wieder in seinen Trotz. Hastig sagte
er, nachdem der Alte ausgeredet hatte: »Ich weiß nicht, was du willst.
Ich bin unschuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilstichen sagst.« Er
erwartete, der Vater würde auf seine Einwendungen eingehen, wenn auch
erst ungläubig. Aber der Alte begann ruhig zu zählen. »Eins -- zwei.« --
»Vater,« fiel er ihm mit steigender Angst in das Zählen, und der Trotz
seines Tones brach im Flehen: »Hör' mich doch nur. Die Gerichte hören
einen und du hörst mich nicht. Ich will mich ja hinunterstürzen, weil du
mich tot haben willst, ich will sterben, wenngleich unschuldig. Aber
höre mich nur erst!« Der alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der
Elende sah, sein Urteil war gesprochen. Der Vater glaubte nicht, was er
auch sagen mochte; und er wußte, was der eigensinnige alte Mann sich
einmal vorgenommen, das führte er unerbittlich aus. Er wollte sich
darein ergeben, da kam ihm der Gedanke, noch einmal zu flehen; dann fiel
ihm ein: er konnte den Alten zurückwerfen und über ihn hin entfliehen,
dann: er wollte sich anhalten, wenn der Alte sich an ihn hing, um nicht
mitzustürzen. Das konnte ihm kein Mensch verdenken. Dazwischen sah er
schaudernd, was ihn erwartete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn
doch. Es war besser, er starb jetzt. Aber noch Schrecklicheres erwartete
ihn über dem Tode drüben. Er sann zurück und lebte sein ganzes Leben im
Augenblicke noch einmal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte
ihm verzeihen. Seine Gedanken verwirrten sich; er war bald dort, bald
da, und hatte vergessen, warum. Er sah die Nebel sich ballen, in denen
der Gesell verschwunden war, zugleich sah er zu den hellen Fenstern des
roten Adlers auf, es klang: »Da kommt er ja! Nun wird's famos!« Er stand
an den Straßenecken und zählte und die Bretter wollten unter Apollonius
nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er stand wieder vor
der Frau und sagte über des sterbenden Ännchens Bett gebeugt: »weißt du,
warum du erschrickst?« und holte aus zu dem unseligen Schlage; selbst
daß er vor dem Vater dalag und hin und her sann in gräßlich angstvoller
Hast, kam ihm vorüberfliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm,
als käme er zu sich und unendliche Zeit sei vergangen zwischen dem
Augenblick, wo der Vater die Perpendikelschläge zu zählen begonnen, und
jetzt. Es müsse ja alles gut sein. Er müsse sich nur besinnen, ob er
über den Vater hinweggeflohen, oder ob er sich angehalten als ihn der
Vater mit sich hinunterreißen wollte. Aber da lag er noch, dort saß der
Vater noch. Er hörte ihn »Neun« zählen und dann schweigen. Die Besinnung
verließ ihn völlig.

Der alte Herr aber schwieg wirklich. Er zählte nicht mehr. Sein scharfes
Ohr hörte einen eilenden Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne
und hielt ihn, wie um seiner gewiß zu sein, daß er ihm nicht entgehe. Er
fühlte an der Kälte und Widerstandslosigkeit des Gliedes, das er gefaßt,
es sei unnötig, den Sohn zu halten! er müsse ohnmächtig sein. Eine neue
Sorge wuchs ihm daraus. War der Sohn ohnmächtig, so mußte er, wenn
möglich, das fremden Blicken entziehen. Auch diese Ohnmacht konnte den
Verdacht entstehen oder wachsen machen. Er erhob sich und wandte sich
von der Dachluke nach dem Kommenden. Er war unschlüssig, sollte er die
Luke mit seinem Körper decken oder dem Kommenden entgegengehen. Der
Geselle, den er vorhin nach Brambach geschickt -- denn dieser war's, der
so eilig kam -- hustete auf der Treppe. Den konnte er abhalten von der
Rüstung; ja, er konnte ihm vielleicht den Anblick des darauf Liegenden
entziehen, wenn er ihm entgegenging und ihn noch auf der Treppe
abfertigte. So vielleicht gewisser, als wenn er vor der Luke stehen
blieb, da es wahrscheinlich war, er verdecke dieselbe doch nicht völlig.
Jetzt fühlte der alte Herr erst, wie das, was er heute erfahren, seine
Kräfte gelähmt. Aber der Gesell merkte nichts davon als er den alten
Herrn, an den Treppenbalken gelehnt, ihm den Weg versperren sah.

»Soll ich ihn herholen, Herr Nettenmair?« fragte der Geselle, indem er
auf der Treppe stehen blieb.

»Wen?« fragte Herr Nettenmair dagegen. Er hatte Mühe, seine künstliche
Ruhe zu bewahren. War der Geselle in Brambach gewesen, so konnte er
nicht so ruhig sprechen, er mochte sprechen, von wem er wollte.

»Nun, er wird nunmehr daheim sein,« entgegnete der Geselle. Der alte
Herr wiederholte seine Frage nicht, er mußte sich an dem Balken
festhalten, an dem er lehnte. »Er war schon auf dem Wege,« fuhr der
Geselle fort; »ich bin mit ihm ans Tor gegangen. Da hat er mich zum
Blechschmied geschickt, ich sollte fragen, ob das Blechzeug endlich
fertig wär. Der Jörg sagte, er hätt's schon hingeschafft, und käm' eben
vom Turmdach von Sankt Georg, da hätt' er den alten Herrn Nettenmair
hinaufgeführt. Da hab' ich gemeint, er wird noch oben sein; und weil's
so eilig war, wollt' ich ihn fragen, ob ich vielleicht den Herrn
Apollonius heraufschicken soll.«

Jetzt erst gelang's Herrn Nettenmair, den Balken, an dem er sich hatte
festhalten müssen, herauf und herunter zu betasten, als ob er ihn nur
umfaßt, um ihn zu untersuchen. Da er fühlte, seine Hände zitterten, gab
er seine Untersuchung auf. Er sagte so grimmig, als er im Augenblick
vermochte: »Ich komme selber hinunter. Wart' Er auf dem Absatz, bis ich
Ihn rufe.« Der Geselle gehorchte. Herr Nettenmair schöpfte tief Atem,
als er sich nicht mehr beobachtet wußte. Aus dem Atem ward ein
Schluchzen. Jetzt, da der Seelenkrampf, in dem er sich seit Valentins
Mitteilung befunden, sich zu lösen begann, trat erst der Vaterschmerz
hervor, den die leidenschaftliche Anstrengung für die Ehre des Hauses
bisher nicht zu Worte hatte kommen lassen. Er fand nun erst Zeit, das
Unglück des rechtschaffenen Sohnes zu beweinen, als sich zeigte, es
hatte ihn nicht getroffen. Aber es fiel ihm ein, der brave Sohn schwebt
noch immer in der gleichen Gefahr, so lange der Schlimme sich in seiner
Nähe befindet. Auch diesen Fall hatte er in seinem Plane vorgesehen und
sich gesagt, was er dann tun müsse. Die bisherige Kraft, die nur eine
angemaßte war, hätte ihn mit dem Krampfe verlassen, galt es nicht noch
immer die Rettung des braven Sohnes und die Ehre seines Hauses. Er
tastete sich nach der Dachluke hin. Fritz Nettenmair war unterdes aus
seiner Betäubung wieder erwacht, und es war ihm gelungen, aufzustehen.
Der alte Herr hieß ihn von der Rüstung hereintreten und sagte: »Morgen
vor Sonnenaufgang bist du nicht mehr hier. Sieh, ob du in Amerika
wiederum ein anderer Mensch werden kannst. Hier bist du in Schande und
bringst Schande. Nach mir gehst du heim; Geld sollst du haben; du machst
dich fertig. Du hast seit Jahren nichts für Weib und Kind getan, ich
sorge für sie. Vor Tagesanbruch bist du auf dem Weg. Hörst du?«

Fritz Nettenmair wankte. Eben noch hatte er dem unausbleiblichen Tode in
die Augen gesehen; nun sollte er leben! Leben, wo niemand wußte, was er
getan, wo ihn nicht jedes zufällige Geräusch mit dem Wahnbild des
Häschers schrecken durfte. In diesem Augenblicke fühlte er selbst das
als ein Glück, daß er fern sein sollte von dem Weibe, um das er alles
getan, was er getan, und in deren Anschauen er Tag für Tag alles
mitsehen sollte, was er getan; die seine Tat wußte, von der jeder Blick
eine Drohung war, ihn der Vergeltung zu überliefern. Es graute ihm vor
dem Hause, in dem ihn stündlich alles erinnern mußte an das, was er
unter dem fremden Himmel ganz zu vergessen hoffte, und sich vormachte,
durch ein neues Leben abbüßen zu wollen. Am liebsten wäre er sogleich
unmittelbar von der Stelle, wo er jetzt stand, dem Rettungshafen
zugeeilt.

»Apollonius ist nicht gestürzt,« fuhr der Alte fort und Fritz
Nettenmairs ganzer neuer Himmel versank. Das alte Gespenst hatte ihn
wieder in seinen Fäusten. Nun liebte er wieder das Weib, das zu fliehen
er eben noch sich gefreut. Mit dem Gegenstande seines Hasses lebte der
Haß und die Liebe wieder auf, und beide waren Höllenflammen. Er meinte,
alles habe er gekonnt; Sterben war ein Scherz, lag nur auch der
Nebenbuhler tot. Gewissensangst, das drohende Jenseits, alles war
erträglich, nur eins nicht: sie in seinen Armen zu wissen. Der Alte
hatte des Sohnes Ja erwartet. »Du gehst,« sagte er, als dieser schwieg.
»Du gehst. Du bist morgen vor Tag noch auf dem Weg nach Amerika, oder
ich bin auf dem Weg in die Gerichte. Soll Schande sein, so ist's besser
bloße Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's geschworen, und
nun tu', was du willst.«

Der alte Herr rief den Gesellen herauf und ließ sich heimführen.

                   *       *       *       *       *

Unterdes war das Gerücht, das dem alten Herrn auf seinem Wege nach Sankt
Georg begegnet war, auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den
grünen Laden steht. Vor den Fenstern erzählte es ein Vorübergehender
einem andern. Die Frau hörte nichts als: »Wißt ihr's schon? In Brambach
ist ein Schieferdecker verunglückt.« Dann sank sie vom Stuhle, von dem
sie aufspringen wollte, auf die Dielen. Wiederum mußte der alte Valentin
seinen Schmerz um Apollonius über der Angst und Sorge um die Frau
vergessen. Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er nicht, nur
den Kopf der Frau vor der scharfen Kante des Stuhlbeins bewahren. Da saß
er neben der liegenden Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden
Hände Nacken und Kopf der Frau. Von seinem Griffe war ihr das volle,
dunkelbraune Haar über der Stirne aufgegangen und verdeckte das bleiche
Gesicht. Ihre vorderen Haare hatten einen Drang, sich in natürlichen
Locken zu kräuseln, den sie durch das scharfe Anziehen der Scheitel nur
vorübergehend überwinden konnte. Es war, als hätten sie die Ohnmacht
ihrer Besitzerin benutzt, ihm nachzugeben. Der alte Valentin machte sich
die Hände frei, indem er ihre Last vorsichtig leise auf den Boden
gleiten ließ, und versuchte die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Er
mußte sehen, ob sie noch lebe. Das verursachte ihm lange Zeit
vergebliche Mühe; die Angst machte seine alten Hände noch ungeschickter;
dazu kam die eigene Scheu, die einen alten Junggesellen unerbittlich in
so enger weiblicher Nähe befängt; und der Eigensinn der Haare, die immer
wieder im krausen Gelock über dem Gesichte zusammenschlugen. Der Hals-
und der Schläfenpuls wehrten sich dagegen, er sah, wie sie die Haare mit
ihren Schlägen bewegten und faßte wieder Hoffnung. Auf dem Tisch stand
eine Flasche mit Wasser; er goß sich davon in die hohle Hand und
spritzte es ihr auf Haare und Gesicht. Das wirkte. Sie machte eine
Bewegung; er half ihr den Oberleib aufrichten und stützte ihn. Sie
strich sich nun selbst die widerstrebenden Haare aus dem Gesicht und sah
sich um. Ihr Blick hatte etwas so Fremdes, daß der Valentin von neuem
erschrak. Dann nickte sie mit dem Kopfe und sagte mit leiser Stimme:
»Ja.« Valentin verstand, sie sagte sich, sie habe die schreckliche
Nachricht gehört und nicht geträumt. An dem Ton ihrer Stimme hörte er,
sie sagte sich wohl, was geschehen, aber sie begriff es nicht. Es war,
als ginge es nicht sie an, was sie sich sagte, und als besänne sie sich,
wen es wohl treffen möge. Sie ahnte wohl, es war Schreck und Schmerz,
wenn sie dahinter kam, aber sie wußte in dem Augenblicke nicht,
was Schreck ist und Schmerz; ein traumhaftes Vorgefühl von
Händezusammenschlagen, Erbleichen, Umsinken, Aufspringen, händeringendem
Umhergehen, Müdigkeit, die auf jeden Stuhl, an dem sie vorbeiwankt,
niedersinken möchte, und doch weiter getrieben wird von fortwährendem
wildem Zurückbäumen und wieder matt nach vorn auf die Brust Sinken des
Kopfes; ein traumhaftes Vorgefühl von alledem wandelte in der Stube vor
ihr, wie ihr eigenes, undeutliches, fernes Spiegelbild, hinter einem
bergenden Florschleier. Näher und unterscheidbarer war ein dumpfer Druck
über der Herzgrube, der zum stechenden Schmerze wuchs, und das
angstvolle Wissen, er müsse sie ersticken, wenn sie das Weinen nicht
finden könne, das alles heilen müsse. So saß sie lange regungslos und
hörte nichts von alledem, was der alte Valentin in seiner Angst ihr
vorsprach. Es war nichts daran verloren; der Alte glaubte selbst nicht
an seine Trostgründe, wenn er ihr beweisen wollte, Apollonius könne
nicht verunglückt sein; er sei zu vorsichtig dazu und zu brav. Und
vollends die Geschichte aus seiner Jugend, wo sich Leute, die nun lange
tot sind, von einem ähnlichen Gerüchte vergeblich hatten abschrecken
lassen! Er wußte es und erzählte doch immerfort und beschrieb die
Personen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhigen, wenn sie den alten
Amtmann Kern und seine Haushälterin vor den Augen ihres Geistes sähe,
wie sie damals leibten und lebten. Er hätte sein Leben hingegeben, um
ihr zu helfen; er wußte in seiner Ratlosigkeit nicht, wie? So suchte er
sich selbst über die Angst des Augenblicks durch immer eifrigeres
Erzählen hinauszuhelfen. Dabei belauschte er die kleinste Bewegung in
den Zügen des bleichen, schönen Gesichts; und je schöner und
jugendlicher es ihm vorkam, desto schwerer schien ihm, was sie litt, und
desto eifriger wurde sein Erzählen. Als eine siebzehnjährige Braut hatte
er sie in das Haus mit den grünen Laden einziehen sehen, acht Jahre
hatte er in ihrer Nähe gelebt. Die bis in ihr vierundzwanzigstes ein
innerlich unberührtes, heiter mit den Dingen spielendes Kind gewesen;
was hatte sie in den letzten zwei Jahren erduldet! Und wie schön war sie
immer geblieben in ihrem Dulden, wie schön hatte sie geduldet! Nun lag
sie zerbrochen als halb aufgeschlossene Blume da vor seinen alten Augen,
die so oft um sie geweint; mehr über die Milde und unbewußte,
unzerstörbare Hoheit, womit sie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück
selbst. Es gibt rührende Gestalten, die die Angst, die selbst der Zorn
nicht entstellt; und in all ihrem Tun, selbst in ihrem Lächeln, selbst
in ihrer lauten Freude uns bewegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß
wir an einen Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anschauen denken müssen.
Es ist auch keine schmerzliche Rührung, die wir da empfinden; und der
Schmerz selbst hat auf solchem Gesicht eine wunderbare Kraft, uns
zugleich zu trösten und rührend zu erheben, indem er uns zum tiefsten
Mitleid mit seinem Träger dahinreißt. Als eine solche Gestalt hatte
Christiane, so lang er sie kannte, vor des alten Valentin Augen
gestanden, als eine solche lag sie jetzt vor ihm da.

Endlich hatte sie das Weinen gefunden. Der alte Valentin lebte wieder
auf; er sah, sie war gerettet. Er las es in ihrem Gesicht, das, so
ehrlich, wie sie selbst, nichts verschweigen konnte. Er saß und hörte
mit so freudiger Aufmerksamkeit auf ihr Weinen, als wär's ein schönes
Lied, das sie ihm vorsänge. In den Augenblicken, wo der Mensch der
stärkeren Natur sich ohne Abzug hingeben muß, erkennt man am sichersten
seine wahre Art. Was von Tierheit im Menschen unter der hergebrachten
Schminke sogenannter Bildung oder vorsätzlicher Verstellung verborgen
lag, trat dann unverhohlen hervor in den Bewegungen des Körpers und in
dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte die reine Melodie in
Christianens Stimme im hingegossenen Weinen, welche sie nach dem Schlag
über Ännchens Bett im Doppelschrei von Schmerz und Entrüstung nicht
verloren hatte. Sie hatte sich ausgeweint und erhob sich; der alte
Valentin hätte ihr nicht zu helfen gebraucht. Sie machte sich zum
Ausgehen fertig. Ihr Wesen hatte etwas feierlich Entschiedenes
angenommen. Valentin sah's mit Erstaunen und Sorge. Ihm fiel seine
Verantwortlichkeit ein. Er fragte ängstlich, sie wolle doch nicht fort?
Sie nickte mit dem Kopfe. »Aber ich darf Sie nicht fortlassen,« sagte
er. »Der alte Herr hat mir's mit Ketten auf die Seele gebunden.«

»Ich muß,« sagte sie. »Ich muß in die Gerichte. Ich muß sagen, daß ich
schuld bin. Ich muß meine Strafe leiden. Der Großvater wird sich meiner
Kinder annehmen. Ich möchte den Herren sagen, sie sollen ihn zu dem
Ännchen legen; er hat's so lieb gehabt. Ich möchte auch dabei liegen,
aber das werden sie nicht tun. Nein, davon will ich nichts sagen.«

Valentin wußte nicht, was er erwidern sollte. Er durfte sie nicht
fortlassen und sah an ihrer Entschiedenheit, er würde sie nicht
aufhalten können. »Wenn nur der alte Herr erst da wäre!« dachte er. Er
sagte: »Täten Sie dem alten Valentin nichts auf der Welt zu lieb?«

Sie sah ihn aus ihrem Schmerze freundlich an und entgegnete: »Wie Ihr
fragen könnt! Ihr habt ihn immer lieb gehabt, und das vergeß ich Euch
nicht, so lang ich noch lebe. Er ist gestorben und ich muß auch sterben.
Kann ich Euch noch etwas tun, eh' ich gehen muß, so dürft Ihr's nur
sagen. Wenn ich's auch tun kann und wenn Ihr nicht verlangt, daß ich
nicht gehen soll.«

»Nein,« sagte der Alte. »Das nicht. Aber wenn Sie nur so lange
bleiben wollten, bis der alte Herr zurückkommt, daß ich meiner
Verantwortlichkeit ledig bin.« Dem Alten war's nicht allein um sich zu
tun. Er hoffte zugleich, der alte Herr würde in seiner Geistesgegenwart
ein Mittel finden, wodurch sie von ihrem Vorhaben abzubringen sei.

Die Frau nickte ihm zu. »So lang will ich warten,« entgegnete sie.

Den Alten trieb Sorge und Hoffnung hinaus, zu sehen, ob Herr Nettenmair
noch immer nicht komme. Christiane holte ihr Gesangbuch vom Pulte und
setzte sich damit an den Tisch.

Der Valentin blieb länger aus, als er selbst gedacht hatte. Als er
wieder hereinkam, war er nicht mehr der, der vorhin hinausgegangen. Er
war verwirrt und verlegen, aber ganz anders verwirrt als vorhin. Er
stand immer im Begriff, etwas zu tun oder zu sagen, worüber er erschrak
und etwas anderes tat oder sagte und wiederum ungewiß schien, ob er
nicht auch darüber erschrecken sollte. Immer und wenn er gar nichts
gesagt hatte, meinte er, er habe zuviel gesagt. Manchmal war's, als ob
er lachte; dann sah er wieder desto trauriger aus. Und das paßte nicht
zu dem, was er sprach; denn er redete vom Wetter. Dazwischen machte er
sich viel an der Tür zu schaffen, die er immer wieder einmal öffnete;
zuletzt blieb er im Hausflur stehen, wo er den Gang nach dem Schuppen
hin übersehen konnte; und es waren die wunderlichsten Vorwände, durch
die er all diese Tätigkeiten rechtfertigte. Die junge Frau bemerkte erst
die Veränderung nicht, dann bewunderte sie ihn verwundert und immer
ahnungsvoller. Zuletzt hatte er sie angesteckt mit seinem Wesen. Wenn er
unwillkürlich lachte, glühte sie in Hoffnung auf, wenn er dann ein
trauriges Gesicht machte, drückte sie die Hände zusammen und wurde
wieder bleich. Sie folgte seinen Augen, ihm selbst nach der Tür und
erschrak, so oft er sie öffnete. Dabei sprachen sie immer vom Wetter;
wären sie ruhig gewesen, sie hätten über ihre eigenen Reden lachen
müssen; aber man sah, er fürchtete sich, etwas zu sagen, sie fürchtete
sich, nach dem Etwas zu fragen. Zuletzt preßte sie beide Hände bald
gegen das Herz, das das Mieder durchschlagen wollte, bald gegen die
brennenden, hämmernden Schläfen. Der Alte meinte sie endlich vorbereitet
genug, das Wetter fahren zu lassen. »Ja,« sagte er, »es ist ein Tag, wo
die Toten aufstehen möchten, und wer weiß -- aber tun Sie mir noch das
zulieb und erschrecken Sie nicht.« Sie erschrak dennoch. Sie sagte zu
sich: »Aber es ist ja nicht möglich!« Und sie erschrak doch eben, weil
es mehr als möglich, weil es gewiß war. »Da sehen Sie einmal dahinter,«
schluchzte der Alte, der nur lachen wollte. Sie sah den Gang hin; sie
hatt' es getan, eh' der Alte sie dazu aufforderte. Der alte Valentin
eilte aus der Vordertür, dem alten Herrn die Freudenpost zu bringen;
selig und stolz auf sein klug durchgeführtes Werk. Die junge Frau hielt
sich fest an dem Türpfosten, als sie den Schritt hörte durch den
Schuppen. Aber auch der Türpfosten stand nicht mehr fest, sie selbst
nicht mehr auf dem festen Boden; sie schwindelte zwischen Himmel und
Erde. Und als sie ihn kommen sah, war nichts mehr auf der Welt für sie,
als der Mann, um den sie wochenlang mehr als Todesangst geduldet; alles
ging um sie im Wirbel, erst die Wände, der Boden, die Decke, dann Bäume,
Himmel und grüne Erde; ihr war, als ginge die Welt unter und sie würde
erdrückt im Wirbel, hielt sie sich nicht fest an ihm. Sie fühlte, wie
sie hinsank, dann nichts mehr.

Apollonius war hinzugeeilt und hatte sie aufgefangen. Da stand er und
hielt das schöne Weib in seinen Armen, das Weib, das er liebte, das ihn
liebte. Und sie war bleich und schien tot. Er trug sie nicht in die
Stube, er ließ sie nicht hinabgleiten auf die Erde, er tat nichts, sie
zu beleben. Er stand verwirrt; er wußte nicht, wie ihm geschehen war, er
mußte sich besinnen. Der alte Valentin hatte ihn noch nicht gesprochen;
er hatte nur durch den Gesellen, der vom Blechschmied, der nach Sankt
Georg eilte, erfahren, Apollonius folge ihm und werde bald hier sein.
Apollonius war vom Nagelschmied am Tor aufgehalten worden. Dann hatte er
geeilt, dem Befehle des Vaters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen
ließ, hatte ihn befremdet; er konnte sich nicht denken, warum. Von dem
Sturze eines Schieferdeckers in Tambach hatte er gehört, aber er wußte
nicht, daß das Gerücht die Ortsnamen verwechselt hatte, und daß jemand
glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen. So gänzlich
unvorbereitet auf das, was ihm der nächste Augenblick bringen sollte,
war er durch den Schuppen gekommen. Er wollte sogleich zu dem Vater auf
dessen Stübchen, da hatte er die junge Frau den Gang herstürzen und mit
dem Umsinken kämpfen sehen und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er
sie in den Armen. Die Gestalt, die er schmerzlich mühsam und doch
vergebens, seit Wochen von sich abzuwehren gerungen, deren bloßes
Gedankenabbild all sein Wesen in eine Bewegung brachte, die er sich als
Sünde vorwarf, lag in schwellender, atmender, lastender,
wonneängstigender Wirklichkeit an ihn hingegossen. Ihr Kopf lehnte
rückwärts gesunken über seinen linken Arm; er mußte ihr in das Antlitz
sehen, das schöner, gefährlich schöner war, als alle seine Träume es
malen konnten. Und jetzt überflog ein Rosenschein das weiße Antlitz bis
in die weichen, braunen Haare, die in den milden, selbstgeschlungenen
Locken über die Schläfe hinabrollten, die tiefen, blauen Augen öffneten
sich, und er konnte ihrer Gewalt nicht entfliehen. Und nun sah sie ihn
an und erkannte ihn. Sie wußte nicht, wie sie hierher und in seine Arme
gekommen, sie wußte nicht, daß sie in seinen Armen lag; sie wußte
nichts, als daß er lebte. Wie konnte sie noch einen Gedanken denken
neben dem! Sie weinte und lachte zugleich, sie umschlang ihn mit beiden
Armen, um seiner gewiß zu sein. Und doch fragte sie noch in angstvoll
drängender Hast: »Und bist du's denn auch? Bist du's auch gewiß? Und
lebst noch? Und bist nicht gestürzt? Und ich habe dich nicht getötet?
Und du bist's? Und ich bin's? Aber er -- er kann kommen!« Sie sah sich
wild um. »Er will dich töten. Er wird nicht eher ruhen.« Sie umfaßte
ihn, als wollte sie ihn mit ihrem Leibe decken gegen einen Feind; dann
vergaß sie die Angst über der Gewißheit, daß er noch lebte, und lachte
wieder und weinte zugleich und fragte ihn wieder, ob er auch noch lebe,
ob er's auch noch sei. Aber sie mußte ihn ja warnen. Sie mußte ihm alles
sagen, was jener ihm getan und was er ihm noch zu tun gedroht. Sie mußte
es schnell; jeden Augenblick konnte jener kommen. Warnung, süß
unbewußtes Liebesgeschwätz, Weinen, Lachen; Seligkeit, Angst, Schmerz um
das verlorene Glück; Anklage wie des Kindes beim Vater; das Bedürfnis
der Liebe, mit allem, was sie ist, was sie freut, was sie bekümmert, ein
Gedanken seines Geistes, ein Gefühl seiner Seele zu sein, das er denkt
und fühlt wie seine andern; bräutliche Verwirrung und Vergessen der
ganzen Welt über den einen Augenblick, der ihr eigentliches Dasein ist,
-- denn alles, was war und werden kann, ist bloß Schatten -- was sie
erzählt, hat sie geträumt und erlebt, fühlt und weiß es erst jetzt; was
gewesen ist und kommen wird, ist gewesen und kommt nur, damit dieser
Augenblick sein kann; vor und nach diesem Augenblick ist die Zeit zu
Ende; -- alles das durchdrang sich, alles das zitterte zugleich in jedem
einzelnen Klang der fliegenden, sich pressenden Rede. »Er hat mich und
dich belogen. Er hat mir gesagt, du verhöhntest mich und hättest meine
Blume vor den Gesellen ausgeboten. Und du weißt's ja noch, beim
Pfingstschießen die Blume, das kleine Glöckchen, das ich liegen ließ.
Und du hast's ihm geschickt. Ich hab's gesehen. Ich wußte nicht, warum.
Du hast mich gedauert. Daß du so still warst und trüb und so allein, das
hat mir weh getan. Da hat er mir beim Tanz gesagt, du hättest deinen
Spott über mich. Da gingst du in die Fremde und er hat mir gesagt, wie
du in deinen Briefen über mich spottest: das tat mir weh. Du glaubst
nicht, wie weh mir das tat, wenn ich schon nicht gewußt hab', warum. Der
Vater wollte, ich sollte ihn frein. Und wie du kamst, hab' ich mich vor
dir gefürchtet; du hast mich immer noch gedauert und ich hab dich immer
noch geliebt und wußt es nur nicht. Er selbst hat mir's erst gesagt. Da
bin ich dir ausgewichen. Ich wollte nicht schlecht werden und will's
auch nicht. Gewiß nicht. Dann hat er mich gezwungen, zu lügen. Dann hat
er mir gedroht, was er dir tun wollte. Er wollte machen, daß du stürzen
müßtest. Es wär' nur Scherz; aber, sagt' ich's dir, dann wollt' er's im
Ernste tun. Seitdem hab' ich keine Nacht geschlafen; die ganzen Nächte
hab' ich aufgesessen im Bett und bin voll Todesangst gewesen. Ich hab
dich in Gefahr gesehn und durft' es dir nicht sagen und durft' dich
nicht retten. Und er hat die Seile zerschnitten mit der Axt in der
Nacht, eh' du nach Brambach gingst. Der Valentin hat mir's gesagt, der
Nachbar hat ihn in den Schuppen schleichen sehen. Ich hab' dich tot
gemeint und wollte auch sterben. Denn ich wär' schuld gewesen an deinem
Tode und stürbe tausendmal um dich. Und nun lebst du noch und ich kann's
nicht begreifen. Und es ist alles noch, wie es war; die Bäume da, der
Schuppen, der Himmel, und du bist doch nicht tot. Und ich wollte auch
sterben, weil du tot warst. Und nun lebst du noch, und ich weiß nicht,
ist's wahr oder träume ich's nur. Ist's denn wahr? Sag' du mir's doch:
ist's wahr? Dir glaub' ich alles, was du sagst. Und sagst du, ich soll
sterben, so will ich's, wenn du's nur weißt. Aber er kann kommen.
Vielleicht hat er gelauscht, daß ich dir's sagte, was er will. Schick'
den Valentin in die Gerichte, daß sie ihn fortführen und er dir nichts
mehr tun kann!«

So schwärmte, lachte und weinte das fiebernde Weib in seinen Armen fort.
Alles vergessend, wie ein Kind an einem Abgrund spielend, den es nicht
sieht, ruft sie unbewußt eine Gefahr herbei, tödlicher als die, über
deren Vorbeigehen sie jubelt, drohender als die, wogegen sie den Mann
mit ihrem Leibe decken will. Sie ahnt nicht, was ihr leidenschaftlich
Tun, die Süßigkeit ihrer unbekümmerten Hingebung, was ihre Liebkosungen,
was ihr warmes, schwellendes Umfangen in dem Manne aufregen muß, der sie
liebt; daß sie alles tut, was den Mann, dessen Rechtlichkeit und Edelmut
sie sich so unbekümmert anheim gibt, Rechtlichkeit und Edelmut im
Tumulte des Blutes vergessen machen kann. Sie hat keine Ahnung, welchen
Kampf sie in ihm entzündet und wie sie ihm den Sieg erschwert, wenn
nicht unmöglich macht. Und er weiß nun, das Weib in seinen Armen war
sein; der Bruder hat ihn um sie und sie um ihn betrogen. Jetzt weiß
er's, wo das Weib in seinen Armen ihm die Größe des Glückes zeigt, um
das der Bruder ihn betrogen hat. Er hat sie geraubt und noch mißhandelt;
und für alles, was er um ihn gelitten, getan, verfolgt er ihn noch und
steht ihm nach dem Leben. Gehört das Weib dem, der sie ihm gestohlen,
der sie mißhandelt, den sie haßt? Oder ihm, dem sie schändlich gestohlen
worden ist, der sie liebt, den sie liebt? Das alles waren nicht
deutliche Gedanken; hundert einzelne Empfindungen, die, in den Strom
eines tiefen und wilden Gefühls hingerissen, durch seine Adern stürzten
und die Muskeln seiner Arme spannten, etwas, das sein ist, an sein Herz
zu pressen. Aber eine dunkle Angst drängt dem Strom entgegen und hält
die Muskeln wie im Starrkrampfe fest. Das Gefühl, er will etwas tun und
er ist sich nicht klar, was es ist, wohin es führen kann; eine ferne
Erinnerung, daß er ein Wort gegeben hat, das er brechen wird -- er läßt
sich fortreißen; die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem
Tische und, bewege er sich, ehe er sich umgesehen, könne er etwas wie
ein Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein wertvolles Papier werfen:
Alledem lag die angstvolle Vorahnung zugrunde, er könne mit einer
Bewegung etwas verderben, was nicht wieder gut zu machen sei. Er rang
schon lange unter den berauschenden Tönen nach etwas, bevor er wußte,
daß er rang und daß dies Etwas die Klarheit war, das Grundbedürfnis
seiner Natur. Und nun kam sie ihm und sagte: »das Wort, das du gegeben
hast, ist, die Ehre des Hauses aufrechtzuerhalten, und was du tun
willst, muß sie zernichten.« Er war der Mann und mußte für sich und sie
einstehen. Die Klarheit brandmarkte den Verrat, den er mit einem Drucke,
mit einem Blicke, an dem rührenden, unbedingten Vertrauen üben würde,
das aus des Weibes Hingebung sprach, mit aller Schmach, die sie fand.
Sie zeigte ihm die Reinheit des Gesichtes, das an seinem Herzen lag und
schwärmend zu ihm aufsah, und wie er mehr an ihr und an sich selbst
verderben würde, als das war, worüber er ihren und seinen Feind
anklagte. Noch stand die heilige Scheu schützend zwischen ihm und ihr,
die ein einziger Druck, ein einziger Blick für immer verscheuchen
konnte. Und doch sah er angstvoll sich nach einem Helfer um. Wenn nur
Valentin käme, dann mußt' er sie aus seinen Armen lassen. Valentin kam
nicht. Aber die Scham über seine Schwäche, die die Hilfe außen suchte,
wurde zum Helfer. Er legte die Kraftlose sanft auf den Rasen. Als er die
weichen Glieder aus den Händen ließ, verlor er sie erst. Er mußte sich
abwenden und konnte einem lauten Schluchzen nicht wehren. Da sah der
jüngste Knabe neugierig in den Hof. Er eilte hin, hob das Kind in seine
Arme, drückte es an sein Herz und stellte es zwischen sich und sie. Es
war eigen; mit dem Drucke, mit dem er das Kind an sein Herz gedrückt,
entband sich der wilde Drang, und nun lösten sich die gespannten
Muskeln. Er hatte sie in dem Kinde an sein Herz gedrückt, wie allein er
sie an sein Herz drücken durfte.

Die Frau sah ihn den Knaben zwischen sich und ihn stellen und verstand
ihn. Glühende Röte stieg ihr bis unter die wilden, braunen Locken. Sie
wußte nun erst, daß sie in seinen Armen gelegen, daß sie ihn umfaßt und
mit ihm gesprochen hatte, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie sah nun
erst die Gefahr, an deren Abgrund sie ihn und sich gestellt. Sie
richtete sich auf den Knien auf, als wollte sie ihn flehen, sie nicht zu
verachten. Zugleich fiel ihr wieder ein, der Mann konnte sie belauscht
haben und die Drohung noch vollziehen. Dann hatte sie ihn durch die
Freude über seine Rettung erst verdorben. Er sah das alles und litt es
mit ihr. Er hatte sich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm
vorging; aber in seinem Innern war der Kampf selbst nicht ausgekämpft.
Er neigte sich zu ihr und sagte: »Du bist meine brave Schwester. Du bist
braver als ich. Und über uns und deinem Manne ist Gott. Aber nun geh'
hinein, Schwester, liebe, brave Schwester.« Sie wagte nicht aufzusehen,
aber durch die gesenkten Lider sah sie seine Milde, das tiefe,
unauslöschbare Wohlwollen, die unvertilgbare Menschenachtung auf seiner
leuchtenden Stirne und um den sanften Mund. Und wie er ihr bewußter und
unbewußter Maßstab war, wußte sie nun, sie war nicht schlecht, sie
konnt' es nicht werden; er trug sie bewahrt, wie die Mutter das Kind
vorsichtig auf starken Armen. Er wuchs ihr, wie sie ihn durch die
gesenkten Lider sah, mit dem Haupte bis an den Himmel. Sie wußte, daß
ihm der Mann nicht schaden konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den
Arm und bot die Hand, sie aufzurichten. Sie bebte unter der Berührung,
und wie sie noch auf den Knien lag, stieg ihr Gedanke in ihm auf wie ein
Gebet. Er führte sie an die Tür. Vom Schuppen her kam Herr Nettenmair
mit dem Gesellen. Fritz Nettenmair, der ihnen nachschlich, sah noch, wie
er sie führte.

                   *       *       *       *       *

Von allem, was er heute gewollt und gelitten, stand nichts in Herrn
Nettenmairs verknöchertem Antlitz zu lesen, als er heimkam. Die junge
Frau und Valentin mußten eine Predigt über grundlose Einbildungen
anhören; denn die Geschichte hatte sich ausgewiesen, wie sie war, nicht
wie sie der Valentin zusammengeängstelt hatte. Die Reise Fritz
Nettenmair's gedachte er als eines lang von demselben gehegten, aber von
ihm erst heute genehmigten Vorhabens. Apollonius erhielt den Befehl,
sogleich mit den Geschäftsbüchern auf des alten Herrn Stube zu kommen.
Der alte Herr gab vor, er wollte den Stand des Geschäftes genau kennen
lernen; sein wahrer Zweck dabei war, Apollonius so lange bei sich in
Sicherheit zu behalten, bis sein Bruder abgereist sei. Apollonius
konnte, ohne wegen der nächsten laufenden Ausgaben in Verlegenheit zu
kommen, das Geld zu des Bruders Reise bis Hamburg verschaffen. Dort
wußte er einen früheren Kölner Freund, der sich in sehr guten
Verhältnissen befand, und der, um manche geleistete Dienste zu
vergelten, ihm öfter, und noch neulich eine Geldhilfe angeboten hatte.
Auf des Vaters Stübchen schrieb er an ihn. Der Freund sollte dem Bruder
einen Platz auf einem Passagierschiffe besorgen, seine Aufenthaltskosten
bestreiten und ihm -- aber nicht eher, als unmittelbar vor der Abfahrt
-- eine gewisse Summe Geldes übermachen; alles auf Apollonius Rechnung.
Valentin mußte noch den Abend auf die Post, um den Brief aufzugeben und
Fritz Nettenmair einschreiben zu lassen. Der Wagen ging eine Stunde vor
Sonnenaufgang ab; noch eine Stunde früher sollte Valentin auf dem Zeuge
sein und sich bei dem alten Herrn melden.

So war das Leben in dem Hause mit den grünen Laden immer schwüler
geworden. Diese Nacht mit ihrer stillen Unruhe gleich der angstvollen
Stille, darin die Kräfte eines Meersturms seinen Ausbruch vorbereiten.
Es war ein eigenes Treiben. Wer in dieser Nacht in das Haus, aber nicht
in die Seele der Menschen hätte hineinsehen können, der wäre aus einer
Befremdung in die andere gefallen. Sonst, wenn ein Glied einer Familie
zu einer Reise sich rüstet, von der es vielleicht nicht wieder
heimkehren wird, drängen sich die übrigen um ihn. Je weniger der
Augenblicke werden, die er noch mit ihnen zubringen kann, je tiefer
werden sie ausgenossen. Jahre des gewöhnlichen Miteinanderlebens drängen
sich in ihnen zusammen. Jeder Blick, jedes Wort, jeder Händedruck wird
als ein ewiges Andenken gegeben und genommen. Stundenweit her kommen die
Freunde des Scheidenden, ihn noch einmal zu sehen. Nach Fritz Nettenmair
sahen die Leute im Hause nicht. Sie schauderten, ihm zu begegnen, als
wär er ein schreckendes Gespenst. Und wie ein solches schlich er darin
umher und wich den Menschen aus, wie sie ihm. Und die Menschen, denen er
ausweicht, die ihm ausweichen, sind nicht fremde; sein Vater ist's, sein
Bruder, sein Weib und seine Kinder. Ein Reisender, der nicht gesehen
wird, der sich nicht sehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein
Lebewohl nimmt, und der doch freiwillig reist, und dessen Reise die
andern wissen und genehmigen!

Apollonius mußte dem alten Herrn die Geschäftsbücher vorlesen, ein
wunderlich zweckloses Werk! Denn weder er noch der alte Herr war im
Geiste bei den Zahlen. Und der alte Herr tat noch dazu, als wisse er
alles schon. Daß Apollonius ihm die Gefahr des Hauses verschwiegen,
erwähnte er natürlich nicht; von den Gedanken, die sich bei ihm daran
knüpften, ließ er keinen sehen. Aus seinen diplomatischen Reden, zu
denen er sich bisweilen zusammenraffte, um dem Schattenspiel vor dem
Sohne einen Schein der Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht
erraten, wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius möglich war, der
alte Herr habe alles gehen lassen, um zu zeigen, wohin es kommen müsse,
wenn er die Hand vom Ruder abziehe, und daß er gesinnt sei, von nun an
selbst wieder das Schiff zu leiten. Dazwischen fragte er den Sohn einmal
wie beiläufig, ob er etwas Genaueres von dem Verunglückten in Tambach
wisse. Apollonius konnte ihm sagen, er kenne den Mann; es sei derselbe
ungemütliche Geselle, der vordem bei ihnen gewesen. »So?« sagte der alte
Herr gleichgültig. »Und weiß man, was die Ursache war?« Apollonius hatte
gehört, das Seil, das über dem Verunglückten gerissen, sei ein fast
neues, aber es müsse an der Stelle des Risses rundum mit einem scharfen,
spitzen Werkzeug durchschnitten gewesen sein. Der alte Herr erschrak. Er
ahnte einen Zusammenhang, auf den auch andere kommen konnten. Valentin,
wußte er, hatte vorhin beredet, der Arbeiter, der den Karren mit dem
Handwerkszeug nach Brambach gefahren, müsse auf dem Rückweg ein
Anschleifeseil verloren haben. Apollonius hatte den Valentin damit
beruhigt, er habe das Seil in Brambach verliehen. Der alte Herr war nun
überzeugt, auch Apollonius müsse einen Zusammenhang ahnen, wenn nicht
mehr als nur ahnen; und habe durch die Antwort des Valentin ihn den
Augen des alten Gesellen entziehen wollen. Er sah, daß Apollonius in
seinem, des alten Herrn, Geiste verfuhr. Von dieser Seite war also
nichts zu fürchten. Aber es konnten Umstände im Spiele sein, die trotz
Apollonius' Vorsicht eine Entdeckung herbeizuführen drohten. Er ließ
seine Zurückhaltung, so schwer dies ihm fiel, diesmal beiseite, und auf
wiederholte Fragen mußte Apollonius sagen, was er wußte. Es war
folgendes. Den ersten Tag hatte Apollonius in Brambach nur die Leiter
gebraucht. Der Geselle war in dem Wirtshaus gewesen, als er ankam.
Denselben Abend noch hatte er ihn über den Hof schleichen sehen. Am
andern Morgen fehlte das Seil. Er hatte sogleich Verdacht auf den
Gesellen, aber nach seiner gewissenhaften Weise zögerte er, ihn
auszusprechen. Auf dem Heimwege, vor dem Tor der Stadt, erfuhr er das
Unglück, das ihn getroffen; zugleich, daß der Geselle bei keinem Meister
gestanden, sondern auf eigene Hand die kleine Reparatur an dem
Schieferdache in Tambach unternommen. Ein Stück des von ihm
hinterlassenen Handwerkszeugs, ein Zimmerbeil, war schon von dem
rechtmäßigen Besitzer beansprucht worden. Bald darauf machte die Warnung
Christianens ihn gewiß, das Seil, durch dessen Zerreißen der Geselle
verunglückt, war das seine. Wie die Sache nun stand, durfte er sich
natürlich nicht zu dem Eigentumsrechte daran bekennen; er mußte seiner
Ehrlichkeit sogar den Zwang antun, durch Erdichtungen fremder Vermutung
der Wahrheit zuvorzukommen.

Der alte Herr gebot dem Sohne, weiter zu lesen. Apollonius tat es, aber
im Geiste waren beide wiederum bei andern Dingen. Apollonius wollte sich
zwingen. Es war seiner sonstigen Art geradezu entgegen, nicht mit ganzer
Seele bei der Sache zu sein, die er trieb. Es gelang ihm nicht. So griff
fremde Zerrüttung auch in diese gleichgewichtige, wohlgeordnete Seele
herüber. -- Endlich kam Valentin, erhielt das Reisegeld für Fritz
Nettenmair und die Anweisung an den Hamburger Freund und die Weisung,
das Gepäck des Reisenden nach dem Posthofe zu tragen, und etwaigen
Auftrages harrend in seiner Nähe zu bleiben, bis er abgefahren sei. Eine
Stunde später kam er zurück und hatte den Befehl vollzogen. Er erzählte,
Fritz Nettenmair freue sich auf das neue Leben in Amerika. Sie sollten
sich wundern über ihn, wenn sie ihn wiedersähen. Er konnte kaum die Zeit
erwarten. Der alte Herr richtete sich innerlich hoch auf; er meinte
grimmig, Apollonius könne vor Schlaf in den Augen nicht mehr lesen, und
schickte ihn ins Bett. Das begonnene Werk fortzusetzen, müsse sich ein
andermal Zeit finden.

                   *       *       *       *       *

Und Fritz Nettenmair? Wie war ihm zumute in dieser Nacht? Als er,
ruhelos wie ein gequälter Geist, bald händeringend, bald fäusteballend
den Gang vom Hause nach dem Schuppen und wieder vom Schuppen nach dem
Hause schlich? Bald schrak er vor einem fallenden Blatt zusammen, bald
wünschte er, das Haus stürzte über ihn und begrübe ihn. So oft er den
Weg durch den Gang zurücklegte, so oft bäumte sich seine Seele im
wildesten Trotz empor und sank wiederum in die hingebendste
Hilflosigkeit zurück. Er war entschlossen, zu gehen -- und sie dem
Gehaßten zu überlassen? Daß sie ihn höhnten? Sie hatten ihn ja so weit
gebracht, um ihn los zu werden; dann war ihr einziger Wunsch erfüllt.
Nein! er wollte bleiben! er mußte bleiben! -- und dann faßten ihn wieder
die Gerichte -- denn der im blauen Rock hielt sein Wort -- und schlossen
ihn mit Ketten fest und -- dann war's dasselbe. Sie hatten wieder ihren
Zweck erreicht. -- Fritz Nettenmair bewegte heftig die Arme vor sich
hin, als rüttelte er schon an den Gittern des Kerkerfensters und atmete
so mühsam, als erstickte ihn schon der Dunst der feuchten Wände. Dann
überfiel ihn in plötzlicher Abspannung das ganze Bewußtsein seines
grenzenlosen Elends, der Jammer gänzlicher Verlassenheit. Goldene Bilder
stiegen auf; die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die
gewonnene Verdammnis. Da hüpfte er als schuldloses Kind den Gang hin,
dem entlang er jetzt die Überlast seines Elends schleppte; da waren
Menschen, die ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn rief, so
süß! Und jetzt liebte ihn niemand mehr. Die fremden Menschen verachteten
ihn; die ihn lieben sollten, schauderten vor ihm. O, nur ein einzig
Herz, dem sein Scheiden weh täte, und er ginge und würde ein anderer
Mensch! Jetzt sieht er jeden freundlichen Blick, den er in der
Verblendung seiner Leidenschaft nicht beachtet. Das Lächeln um die
angstzuckenden Lippen des kleinen Ännchens steigt vor ihm auf; jetzt
erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückstieß, die immer wieder
kam, so oft er sie zurückstieß, bis er ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo sie
ihn retten könnte, wär sie nicht tot durch seine Schuld; jetzt ergreift
ihn das Mitleid mit dem Kinde mit so schmerzlicher Gewalt, daß er sein
eigen Elend darüber vergäße, wär's nicht ein Teil davon. Das Ännchen ist
tot, aber er hat noch Kinder; sie müssen ihn lieben, sie sind ja sein.
Sein Herz schreit nach einem Liebeswort. Seine Arme öffnen sich
krampfhaft, etwas, was sein ist, an sein Herz zu pressen, damit er weiß,
er ist nicht verloren; und verloren ist keiner, der noch einen Menschen
hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den Gang, den Hausflur
hindurch, durch Stuben- und Kammertür. Ein Nachtlicht, vom Schirm
bedeckt, gibt dem Vater Schein genug, seine Kinder zu sehen. An dem
nächsten kleinen Bette sinkt er in die Knie. Ein längst verlernter Laut
flüstert durch seine Lippen, und wie ihn diese Lippen nie flüstern
gekonnt. »Fritz!« Er will die Kinder nur einmal an sein Herz drücken,
ihre Liebe sehen und -- gehen. Gehen und ein anderer Mensch werden, ein
besserer, ein glücklicherer! Der Kleine erwacht! er meint, die Mutter
hat ihn gerufen. Lächelnd öffnet er die großen Augen und -- erschrickt.
Vor dem Mann an seinem Bette fürchtet er sich. Es ist ein fremder Mann.
Ein schlimmerer Mann, als ein fremder Mann. O, nur ein zu bekannter
Mann! Und doch fremder als fremd. Es ist der Mann, der das Kind so oft
zornig angeblickt, der Mann, vor dem die Mutter es in die Kammer schloß,
weil es nicht sehen sollte, was der Mann ihr tat. Und dann stand es
zitternd und horchte an der Tür, dann ballten sich die kleinen Händchen
im ohnmächtigen Zorn. Er hat ja das Kind ihn hassen gelehrt, nicht ihn
lieben.

»Fritz,« sagte der Vater voll Angst; »ich gehe fort, ich komme nicht
wieder. Aber ich schicke dir schöne Äpfel und Bilderbücher und denke
jeden Augenblick tausendmal an dich.«

»Ich will nichts von dir,« sagte der Knabe furchtsam, trotzig. »Onkel
Lonius gibt mir Äpfel; ich mag deine nicht.«

»Hast auch du mich nicht lieb?« sagt der Vater mit brechender Stimme am
zweiten Bettchen.

Der kleine Georg flieht zum Bruder in dessen Bett. Dort halten sich die
Kinder in Angst umschlungen. Dennoch ist er trotzig, und so viel
Widerwillen, als ein Kindesauge fassen kann, blickt aus dem seinen. »Die
Mutter hab' ich lieb, den Onkel Lonius hab' ich lieb,« sagt das Kind;
»dich mag ich nicht. Laß' uns gehen, ich sag's dem Onkel Lonius!«

Fritz Nettenmair lacht im wilden Hohn und schluchzt zugleich im
hilflosen Schmerz. Die Kinder sind ja nicht mehr sein. Er ist ja ihr
Vater nicht mehr. Er ist's. Er! _Seine_ Kinder sind's. Er ist ihr Vater.
Er, der ihm alles genommen, hat ihm auch die Kinder genommen. Das, was
man dem Elendesten läßt. Wenn Er gehen müßte, _Er!_ die Kinder hingen
sich an ihn; eher rissen die Händchen, als daß sie _ihn_ ließen. Und das
Weib hier, das schöne Weib mit dem Engelsantlitz, auf das selbst die
Lampe liebend all ihre Strahlen sammelt und mehr Glanz von ihr gewinnt,
als sie von der Lampe; dieses Weib, _Sein_ Weib, _Seins!_ auch _Sein_,
wie alles, was einmal mein war! Sie ist in ihren Kleidern zu Bett
gegangen; sie kann die Stunde nicht erwarten, wo ich gehe; und ginge Er,
die Rosen würden bleich, sie flösse sterbend in ihn hinüber, um nicht
getrennt von _ihm_ zu sein. Wie sie auffahren würde, sagt ihr einer in
den Traum hinein, den sie von ihm träumt, denn sie lächelt, _er_ geht!
Er, _ihr_ -- Nein! ich will nicht gehen! Nein! ich kann nicht gehen!
Lieber tausendmal sterben! Und er hat ja dem Tode schon ins Gesicht
gesehen, vor Stunden erst, als er vor dem Vater auf der Rüstung
hingestreckt lag. Es war ein Kinderspiel, das Sterben, gegen solch ein
Leben. Es war -- denn auch er war tot. Es wär es noch, wär auch Er noch
tot. Und er wär an ihr gerächt, an ihr hier mit dem teuflischen
Engelslächeln; und er wär an dem Vater gerächt, der ihn von Beaten riß,
von seinem guten Engel. Und an den Knaben, die ihn zurückstoßen, an dem
guten Ännchen, das ihn verderben half und noch Tag und Nacht ihn quält.
Er wäre -- aber er war's ja nicht. Er mußte gehen; er wurde noch
elender, als er war; und die er haßte, die ihn verdorben, wurden
glücklich durch sein Gehen. Er machte sie alle wieder zu Teufeln, um von
ihrem Glanze nicht vernichtet zu werden. Er haßte in ihnen wieder, was
er an ihnen getan; er haßte in ihnen selbst die Gewalt, die er sich
antun mußte, Teufel in ihnen zu sehen. Und brach ihr Glanz dennoch durch
die Schwärze, in die er sie angstvoll vor sich versteckte, standen sie
als Engel über ihm, und so haßte er sie noch mit dem Neide der Teufel.
Er hatte die Grenze überschritten, über welche keine Rückkehr mehr ist.
Wie er die Frau in ihrer Schönheit dort liegen sah, trat ihn noch einmal
der Gedanke an, diese Schönheit zu vernichten. Aber die einmal geweckte
Erinnerung an den Augenblick, wo er todgefaßt vor dem Vater lag, und an
das, was der Vater mit ihm wollte, erwies sich mächtiger und vertrieb
ihn. Das Bild des Augenblicks blieb ihm und tauschte nur die Personen.
Er malte es immer farbiger aus. Und nun war es eine wilde Freude, was
ihn den Gang zwischen Haus und Schuppen hin und her trieb. Seine Arme
bewegten sich so heftig als vorhin, aber es waren nicht Gitterstäbe, mit
denen er rang. Unterdes war der Mond aufgegangen. Das Haus mit den
grünen Laden lag so friedlich in seinem Schimmer da. Kein
Vorübergehender hätte ihm die Unruhe angesehen, die es hinter seinen
Wänden barg; keiner den Gedanken geahnt, den darin die Hölle fertig
braute in einem verlorenen Gefäß.

                   *       *       *       *       *

Apollonius war müde vom Wachen und vom Kampfe, den die gefährliche Nähe
des geliebten Weibes und das Wissen um des Bruders Betrug und empörenden
Undank in ihm entzündet. Neben diesem war erst noch ein anderer Kampf
aufgeglommen. Der Vater schien nicht an die böse Absicht des Bruders zu
glauben. Vor dem Gedanken, den Arm der Obrigkeit zu seinem Schutze
aufzurufen, schauderte er zurück. Die Schmach für die Familie, wenn des
Bruders Tat bekannt wurde, mußte den Vater töten. Und vielleicht war
auch des Bruders Seele noch zu retten, wenn es gelang, ihn zu
überzeugen, daß er geirrt. Aber wie? Wenn er -- ihn versicherte, ihm
schwur, daß er in der Frau nur die Schwester sehe? Vor einem halben
Jahre noch hätte er das beschwören können: heute durfte er es nicht
mehr, heute war es Meineid. Er konnte, wenn der Bruder den entsetzlichen
Plan auf sein Leben nicht aufgab, die Ausführung desselben erschweren,
aber nicht unmöglich machen. In dem Zustande, in welchem Apollonius sich
jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünscht sein als schrecklich;
dann hatte aller Kampf, alle Gewissenspein, alle Sorge ein Ende; aber
was sollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte
er sich nicht das Wort gegeben, sie vor Schande und Not zu bewahren?
Diesen neuen Kampf beendete die Mitteilung des Vaters, Fritz wolle nach
Amerika. Aber sie machte den alten Kampf nur schwerer, indem sie dem
Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entschlossen war, die
Wünsche, die er verdammen mußte, nicht zur Tat werden zu lassen. Aber
die Wünsche selbst! Wenn kein äußeres Hindernis mehr ihrer Erfüllung im
Wege stand, mußte ihre Gewalt da nicht wachsen? Die Gewissensvorwürfe
mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo sie in der täglichen Nähe
einen unerschöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die
Erfüllung des Wortes, das er sich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das
gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte
Ruhe. Diesen Vormittag noch mußte er die Umkränzung des Turmdaches mit
der Blechzier vollenden, und Fahrzeug, Flaschenzug, Ring und Leiter
wieder herabnehmen. Sein Tritt mußte fest, sein Auge klar sein. Für die
einzige Stunde, bis der Arbeitstag begann, wollte er sich nicht erst
ausziehen und zu Bett legen. Er hatte sich bis jetzt des Sofas, das in
seinem Zimmer stand, noch nicht bedient, darauf zu liegen. Er vermied
alles, was zu Verweichlichung führen konnte; ein gleich starker
Beweggrund war sein Bedürfnis, Dinge um sich zu haben, die er liebend
hüten, an denen er bürsten und polieren konnte. Auch in dem Zustand von
Verstörung und Ermüdung, worin er vom Vater kam, vergaß er diese
Schonung nicht. Er fuhr unwillkürlich mit leise liebkosender Hand über
den Bezug des Sofas und setzte sich dann auf den hölzernen Stuhl, worauf
er beim Schreiben saß. Hier kam ihm der Schlaf früher, als er es
erwartet. Aber es war kein Schlaf, wie er ihn bedurfte; es war ein
ununterbrochener, aufregender Traum. Christiane lag in seinen Armen wie
gestern, er kämpfte wieder, aber diesmal siegte er nicht; er preßte sie
an sich. Da stand der Bruder neben ihnen, und sie standen nicht mehr auf
dem Gange zwischen Schuppen und Haus, sondern oben am Turmdach auf der
fliegenden Rüstung. Der Bruder wollte ihm die Besinnungslose aus den
Armen reißen, um sie zu mißhandeln; er warf im schmerzlichen Zorne dem
Bruder alles vor, was er an ihm und ihr getan, und im Kampfe um das Weib
stieß er ihn von der Rüstung. Er erwachte. Er wollte munter bleiben, um
den Traum nicht noch einmal durchträumen zu müssen. Als er die Augen
öffnete, war es Tag und Zeit, an die Arbeit zu gehen. Er war aufgeregter
erwacht, als er vom Vater gekommen. Er stand auf. Er hoffte, vor der
frischen Morgenluft, vor der ernüchternden Wirkung des Wassers, das er
sich nach seiner Gewohnheit über Kopf und Arme goß, würden die Bilder
des Traumes, welche die Lebhaftigkeit der alten Wünsche, und damit die
Gewissensvorwürfe über sie, noch immer steigerten, von ihm in sein
Stübchen zurückfliehen. Aber es geschah nicht; sie gingen mit ihm und
ließen ihn nicht los. Selbst über der Arbeit nicht. Immer wehte der
Hauch des warmen Mundes an seiner Wange; immer fühlte er sich in ihrem
schwellenden Umfangen, immer quollen ihm die leidenschaftlichen Vorwürfe
gegen den Bruder, der bei ihm stand, aus dem Herzen herauf. Er kannte
sich nicht mehr. Zu den Vorwürfen, die er sich deshalb machen mußte, kam
noch die Unzufriedenheit, daß er sich nicht mit seiner ganzen
Aufmerksamkeit bei der Arbeit wußte. Sonst hatte er gleichsam seine
eigene heitere Tüchtigkeit mit hineingearbeitet in seine Arbeit, und
diese mußte gut und dauerhaft ausfallen. Heute kam's ihm vor, als
hämmerte er seine unrechten Gedanken hinein, als hämmerte er einen bösen
Zauber zurecht, und die Arbeit könne nicht taugen, nicht haltbar werden.

Der Schieferdecker muß besonnen arbeiten. Der Mann, der heute eine
Reparatur unternimmt, muß sich auf die Berufstreue dessen, der
Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte vor ihm hier stand, verlassen. Die
Ungewissenhaftigkeit, die heute ein Dachhaken liederlich befestigt, kann
den Braven, der nach fünfzig Jahren an diesen Haken seine Leiter hängt,
in den Tod stürzen. Es war nicht einzusehen, daß eine Nachlässigkeit,
ein Versehen in der Arbeit, wie er sie heute vollendete, eine so schwere
Folge nach sich ziehen sollte, aber seine natürliche ängstliche
Genauigkeit war noch von seinen übrigen Kräften in ihre krankhafte
Spannung mit hineingezogen. Hinter dem Kampfe seines Gewissens mit den
Bildern seines sündhaften Traumes, drohte als dunkle Wolke die Ahnung,
er hämmere in seiner Zerstreuung ein künftiges Unheil fertig.

Er war fertig. Blendend glänzte die neue Blechzier in der Sonne um die
dunkle Fläche des Schieferdachs. Ring, Flaschenzug, Fahrzeug und Leiter
waren entfernt; die Arbeiter, die die Leiter während des Losknüpfens und
Herabsteigens gehalten, waren wieder gegangen. Apollonius hatte die
fliegende Rüstung und die Stangen, worauf sie geruht, vom Dachgebälk
abgelöst und stand allein auf dem schmalen Brette, das den Weg vom
Balkenkreuz nach der Ausfahrttür hin bildete. Er stand sinnend. Es war
ihm, als hätte er irgendwo Nägel einzuschlagen vergessen. Er sah in die
Schiefer- und Nagelkasten seines Fahrzeugs, das neben ihm über einem
Balken hing. Ein heimlicher, hastiger Schritt tönte unter ihm die
Turmtreppe herauf. Er achtete nicht darauf; denn eben sah er im
Schieferkasten eine zurückgebliebene Bleiplatte liegen. Er hatte nur so
viel Bleibleche mit sich heraufgenommen, als er brauchte; eine war also
von ihm vergessen worden; in der Zerstreuung hatte er eine
Befestigungsstelle übergangen. Aus der Ausfahrttür sah er an der
Turmdachfläche hinab und hinauf. War der Fehler auf dieser Turmseite
geschehen, so ließ er sich vielleicht ohne Fahrzeug bessern. Er brauchte
vielleicht nur die Leiter, um zu der Stelle zu kommen. Und so war es
auch. Etwa sechs Fuß hoch über ihm, nahe dem Dachhaken, hatte er die
Schieferplatte herausgenommen, aber vergessen, sie durch die Bleiplatte
zu ersetzen und die Blechgirlande mit Nägeln darauf zu befestigen.
Unterdes waren die heimlichen Schritte immer näher gekommen; jetzt hatte
der Eilende das Ende der Steintreppen erreicht und stieg die
Leitertreppe nach dem Dachgebälk herauf. Die Uhr unter ihm hob aus. Es
war auf zwei. Apollonius hatte noch nicht Mittag gemacht; aber, war er
in seiner Arbeit einem Fehler auf die Spur gekommen, dann ließ es ihm
nicht Ruh, bis er ihn entfernt. Er war zurückgegangen, um die Leiter
herbeizuholen. Diese lag neben dem Fahrzeug auf dem Balken. Da, indem er
sich darauf herabbeugt, fühlt er sich ergriffen und mit wilder Gewalt
nach der Ausfahrtür zugeschoben. Unwillkürlich faßte er mit der Rechten
die untere Kante eines Balkens seitwärts über ihm; mit der Linken sucht
er vergebens nach einem Halt. Durch diese Bewegung wendet er sich dem
Angreifer zu. Entsetzt sieht er in ein verzerrtes Gesicht. Es ist das
wildbleiche Gesicht seines Bruders. Er hat keine Zeit, sich zu fragen,
wie das jetzt hierher kommt.

»Was willst du?« ruft er. Was er auch erfahren, er kann sich selbst
nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen antwortet ihm:

»Du sollst sie allein haben oder mit hinunter!«

»Fort!« ruft der Bedrohte. Im zornigen Schmerze sind all die Vorwürfe
gegen den Bruder in sein Gesicht heraufgestiegen. Mit seiner ganzen
Kraft stößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück.

»Zeigst du endlich dein wahres Gesicht?« höhnte dieser noch wütender.
»Von jeder Stelle hast du mich verdrängt, wo ich stand; nun ist die
Reih' an mir. Auf deinem Gewissen sollst du mich haben, du
Federchensucher! Wirf mich hinunter oder du sollst mit!«

Apollonius sieht keine Rettung. Die Hand erlahmt, mit der er sich nur
mühsam anhält an der scharfen Kante des starken Balkens. Er muß den
Bruder mit seiner ganzen Kraft an den Armen fassen, ihn herumdrehen und
hinunterstürzen, oder der Bruder reißt ihn mit hinunter. Doch ruft er:
»Ich nicht!«

»Gut!« stöhnte jener. »Auch das willst du auf mich wälzen! Auch dazu
willst du mich bringen! Nun ist's mit deiner Scheinheiligkeit zu End'.«
Apollonius würde einen andern Halt suchen, wüßt' er nicht, der Bruder
benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und schon stürzt der mit
wildem Anlauf heran! Apollonius' Hand rutscht von der Balkenkante ab. Er
ist verloren, findet er keinen neuen Halt. Er kann vielleicht im Sprunge
den Balken mit beiden Händen umfassen, aber dann stürzt den Bruder, den
kein Widerstand mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufs durch die
Tür. Da sieht er im Geiste den alten, braven, stolzen Vater, sie und die
Kinder; ihm kommt das Wort, das er sich gab; er ist der einzige Halt der
Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat den Balken im Arme; in
demselben Augenblick stürzt der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter
ihnen rasseln und es schlägt zwei Uhr.

Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe gestört, schießen wild
hernieder bis zur Aussteigetür und schweben in krächzender Wolke dort.
Tief unter ihnen hört man den Fall eines schweren Körpers auf dem
Straßenpflaster. Ein Aufschrei schallt zugleich von allen Seiten.
Bleiche, lebende Gesichter sehen auf ein bleicheres, totes herab, das
blutig auf dem Straßenpflaster liegt. Dann verbreitet sich die bleiche
Hast, das Aufschreien, das Zusammeneilen, das Händeineinanderschlagen
vom Kirchhof wie ein Wirbelwind durch die Straßen bis in die
entferntesten Winkel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Himmel
achten es nicht und gehen unberührt darüber hin weiter ihren großen
Gang. Sie sehen des selbstgeschaffenen Elends so viel unter sich, daß
das einzelne sie nicht bewegen kann.

Es hat alles auf der Welt seinen Nutzen, wenn nicht für den, der es
treibt oder an sich hat, so doch für andere. So wurde nun, was Schande
über das Nettenmairsche Haus gebracht, zum Verhüter größerer Schande.
Die Trunksucht Fritz Nettenmairs war in der ganzen Stadt bekannt; alle
hatten ihn schon berauscht gesehen, kein Wunder, daß jeder, der den Tod
Fritz Nettenmairs erfuhr, ihn jenem Laster auf die Rechnung stellte.
Diese Mühe hatten eigentlich nur die ersten; die anderen erfuhren schon
die fertige Geschichte. Es war gut, daß niemand außer dem
Nettenmairschen Hause davon wußte, daß er nach Amerika gewollt, und daß
er selbst, um bei seiner Rückkehr weniger aufzufallen, sich in seinen
Arbeitskleidern, nur den Mantel übergeworfen, in den Postwagen gesetzt
hatte. Der Mantel war unterwegs liegen geblieben, und die ein Recht auf
seine Auslieferung hatten, meldeten sich natürlich nicht. In den bloßen
Arbeitskleidern war er zurückgekehrt. Wer von seiner Abreise wußte,
setzte voraus, er sei zuerst in seinem Hause gewesen und habe sich da
umgekleidet; wer ihm auf dem Rückweg begegnet war, hatte gemeint, er
komme vom Schieferbruch oder irgend sonst von einer Arbeit oder
Arbeitsrücksprache. Es fiel niemand ein, rückwärts auf dergleichen kaum
beachtete Umstände Gewicht zu legen, da es nicht galt, die Geschichte
erst zusammenzusetzen, da man sie schon fertig erhielt. Dazu hatte er
vor der Tat an seinem gewöhnlichen Zerstreuungsort stark getrunken und
mit seiner Waghalsigkeit geprahlt. Darin hatte er von je, seiner Natur
nach, die höchste Eigenschaft eines vollkommenen Schieferdeckers gesehen
und in der Zeit seiner Tätigkeit genug Beweise davon gegeben, die der
Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben waren. Dann hatte er geäußert,
jetzt wolle er sein Meisterstück machen und war stark berauscht von der
Schenke nach Sankt Georg gegangen. Alles Umstände, die herumkamen und
die einmal gefaßte Meinung nur bestätigten. Ein glücklicher Zufall hatte
alle Arbeiter von Sankt Georg entfernt; von dem Kampfe vor dem Sturz
wußten außer Apollonius nur die Dohlen, die dort wohnten. Der Bauherr
hatte sogleich, nachdem er die Geschichte erfahren, seinen Liebling
aufgesucht und brachte diese auf den Turmboden, wo er den Erschöpften
sitzend fand, schon völlig fertig mit. So fiel es niemand ein, diesen zu
fragen. Man erzählte ihm, anstatt ihn erzählen zu lassen. Es hatte ihn
bei seinem Schmerz in der Seele des Vaters gefreut, daß niemand den
wahren Sachverhalt ahnte; die Schande des Bruders und damit des ganzen
Hauses konnte niemand helfen und den Vater töten. Er schwieg daher über
das, worum man ihn nicht fragte. Der alte Herr erriet, der verlorene
Sohn hatte den Tod absichtlich gesucht. Er fand, es war so gut. Alles,
was er vernahm, bewies ihm, der Unglückliche wollte die Ehre seinem
Hauses schonen. Dennoch ängstigte ihn die Möglichkeit, es möchten noch
Umstände bekannt werden, die den allgemeinen Irrtum berichtigen könnten.
Natürlich aber ließ er sich weder seine Meinung, noch seine Furcht
absehen. Er zeigte sie selbst Apollonius nicht, der im Glauben, der alte
Herr teile die Überzeugung der ganzen Stadt, ihm nun auch verschwieg,
wovon er fürchten mußte, es würde den Vater unnötig erschrecken und
beängstigen. So blieb die erste Meinung unwiderlegt, die Gerichte fanden
keinen Anlaß, untersuchend einzuschreiten, und die Gefahr, die der Ehre
der Familie gedroht, ging glücklich vorüber.

Eines Abends sah man denn die schwarze Bahre vor dem Hause mit den
grünen Fensterladen, das darüber wegsah, um sein rosiges Aussehen zu
rechtfertigen. Etwas entfernter standen Frau und Kinder in Gruppen
zusammen, bald leise flüsternd, bald voll Aufmerksamkeit, die zeitweilig
bis zur Ungeduld stieg. Dasselbe Treiben, dieselben Empfindungen, mit
der die gebildetere Schicht der Bevölkerung des Augenblickes harrt, wo
der Vorhang vor den rührenden Gebilden des Dichters aufrauschen soll;
dasselbe Bedürfnis hat die blauen Schürzen hierher gezogen, das dort die
schönsten Gewänder der Stadt versammelt. Zuweilen kommt ein schwarzer
Mantel unter dreieckigem Hute in düsterer Gravität die Straße daher und
tritt hinter der Bahre hinweg ins Haus. Endlich geht die Tür doppelt
auf. Der Sarg steht auf der Bahre, das Leichentuch bedeckt beides; leise
und in gleichmäßiger Bewegung hebt sich die schwarze, wallende Masse;
nun ist sie an ihrer Stelle, denn die Träger rücken den Hut zurecht. Und
nun bewegt sich's schwankend, flatternd. Obenauf blitzt der Deckhammer,
den Valentin poliert hat, und sagt, was man jetzt der Erde übergibt, hat
ehrlich zwischen Erde und Himmel hantiert. Die alten Weiber schwemmen
mit süßen Tränen hinweg, was von Schmutz auf seinem Andenken liegt.
Innerlich geben sie sich das Wort, niemand, den sie daran hindern
können, soll Schieferdecker werden. Es ist gefährlich, das
Schieferdeckerhandwerk zwischen Himmel und Erde; das predigt der Mann,
der unter dem schwarzen Flattern zwischen den Brettern liegt, so stumm
er ist, mit erschütternder Beredsamkeit. Dann mustern sie den alten
Herrn, den zwei Leidtragende führen. Er sieht aus, wie der Geist des
ehrlichen Begräbnisses selbst. Doch über dem schlanken, hohen Apollonius
neben dem würdigen Bauherrn vergessen sie die ganze Milde, die sie
vorhin geübt; sie graben den Toten wiederum aus den nassen Totenblumen
heraus, womit sie seine menschliche Blöße bedeckt. Seinetwegen wär der
Hammer über ihm voll dunkeln Rosts der Schande, Apollonius ist's, dem er
dankt, daß das Werkzeug so ehrenblank über seinem letzten Bette liegt.
Und ob er's um ihn verdient hat? Das will keine sagen. Könnte sie der
Tote hören vor den Brettern und dem schwarzen Geflatter darum, er hätte
dem Bruder noch mehr zu verzeihen. Oder auch nicht zu verzeihen; er
hatte ihm nichts verziehen, nicht was er an Apollonius, nicht was dieser
an ihm getan. Und könnt' er vollends dem Bruder in das Herz sehen, aus
dem der Tod allen Groll verwischt, das sich Vorwürfe macht, weil es
einen Bösewicht sah, wo es den unglücklichen Wahnsinnigen hätte bedauern
müssen, er steifte sich noch tiefer in den Neid der Teufel. Dann kommt
die junge Frau an die Reihe, und völlig in der Weise ihres Geschlechts
schlagen die Klageweiber in Ehestifterinnen um. Und wahrlich! sie haben
nicht unrecht; ein schöneres Paar, eines, das besser zusammenpaßte, das
seiner gegenseitig so wert wäre, wie dieses, fänden auch tiefere
Beobachter im Bereich der ganzen Stadt nicht aus. Der Zug ging am Roten
Adler vorbei. Es war schon wieder ein Ball da oben, bei dem Fritz
Nettenmair fehlte; gewiß ein lederner Ball! Da ist er ja! da ist er ja!
klang dem Zuge entgegen und begleitet ihn unermüdlich die ganze Straße
entlang. Aber famos konnte es nicht werden trotzdem. Es war derselbe
Weg, den Fritz Nettenmair zurückging, nachdem er den Gesellen begleitet
hatte. Damals sah er im Geiste den Bruder unter dem Deckhammer und dem
wallenden, schwarzen Behänge, und er ging leidtragend hinter ihm drein.
Nun war's umgekehrt Wirklichkeit geworden, aber Apollonius fühlte
wirklich, was der Bruder nur zur Schau trug. Und fort ging's immer die
Straßen hin, die Fritz Nettenmair damals hergekommen war. Und draußen
vor dem Tore zerflossen wiederum die Weiden in Nebel oder Nebel gerann
zu Weiden. Hüben und drüben trugen Nebelmänner Nebelleichen neben der
wirklichen her. An dem Kreuzweg, wo Fritz Nettenmair damals den Gesellen
im Nebel verschwinden sah, verschwand er heute selbst darin. Ob es ihn
freuen würde, wenn ihm einer sagte, er wird den Freund wiedersehen? Er
wird ihn wieder begleiten -- wohin? Eben tragen sie in Tambach ihn
hinaus. Sie haben viel zu sprechen miteinander. Fritz Nettenmair kann
dem Gesellen sagen, wie sorgsam er den Gedankenkeim, den jener gegeben,
bis zum Zerschneiden des Seiles ausgebrütet hat, und der Geselle dem
ehemaligen Herrn, daß er unter dem Seilschnitt verunglückte, den dieser
gemacht. Der Geistliche, der Fritz Nettenmair die Grabrede hält -- denn
Fritz Nettenmair wird mit allen Ehren begraben, die seinem Stande ziemen
und für Geld zu haben sind -- weiß nicht, welch fruchtbares Thema ihm
entgeht.

Das letzte Wort der Grabrede war verklungen, die letzte Scholle auf
Fritz Nettenmair's Sarg gefallen, die Leidtragenden waren heimgekehrt;
es war Nacht geworden und wieder Tag, und wieder Nacht geworden und
wieder und wieder Tag und Nacht; andere Dinge hatten Fritz Nettenmairs
Unglücksfall aus dem Munde der Stadt verdrängt und noch andere diese.
Auf sein Grab war ein Stein gesetzt und darauf sein ehrlicher Tod
nochmals vom Bildhauer bescheinigt und der vergeßlichen Nachwelt mit
Meißelstrichen eingeschärft worden. Man sollte meinen, die düstere Wolke
über dem Haus mit den grünen Fensterladen müßte sich in dem Wetterschlag
entladen haben, der den älteren Sohn vom Turmdache von Sankt Georg auf
das Straßenpflaster niedergeschmettert, und das Leben müsse darin nun so
heiter sich gestalten, als sein äußerer Anblick verspricht. Ja, man
konnte es meinen, wenn man die junge Wittib oder ihre Kinder sah! Die
drei schnellkräftigen Wesen hoben die niedergedrückten Köpfchen wieder,
sobald die Last entfernt war, die sie niedergedrückt. Die junge Wittib
sah nicht aus, als wäre sie schon Frau, noch weniger, als wäre sie schon
eine unglückliche Frau gewesen; sie erschien von Tag zu Tag mehr ein
bräutlich Mädchen oder eine mädchenhafte Braut. Und sollte sie nicht?
Wußte sie nicht, daß er sie liebte? liebte sie ihn nicht? Mußte sie
nicht das Necken Dritter darauf bringen, fiel es ihr auch selbst nicht
ein, daß ihre Liebe eine erlaubte war? Wie oft mußte sie sich fragen
lassen, ob sie schon an ihrer Ausstattung nähe? die Kinder fragen hören,
ob ihnen ein neuer Papa auch recht sei? Konnte sie anders darauf
antworten, als mit stummem Erröten und indem sie rasch von etwas anderem
zu sprechen begann? Und so machen es bräutliche Mädchen und mädchenhafte
Bräute; das weiß jeder. Und die Heirat war so natürlich, ja nach den
hergebrachten Begriffen so notwendig, daß die Ernsteren und die über das
Necken hinaus waren, dies unausgesprochen voraussetzten und es eben
deshalb nicht aussprachen, weil es sich ihnen von selbst verstand. Auch
der alte Herr ließ es in seiner diplomatischen Art zu reden an
dergleichen Andeutungen nicht fehlen. Christiane sah den Mann, von dem
die Leute meinten, er könne, ja er müsse sie heiraten, noch immer hoch
über sich; es war ihr in dieser Beziehung, wie in allen, Bedürfnis,
Pflicht und Wollust, sich in seinen Willen zu ergeben, den sie den
reinsten und den heiligsten wußte. Wenn sie trotz dieser Ergebung
Wünsche und Hoffnungen nährte, wer wird es nicht natürlich finden? wer
möchte es ihr verdenken?

Der alte Herr war überzeugt, hätte er das Regiment behalten, es wäre
alles anders gekommen. Hatte er doch, was Apollonius verdorben, noch zu
dem besten Ende geführt, das möglich war. Die Not hatte ihm das Heft
noch einmal in die Hand gedrückt und er wollte es nicht wieder fahren
lassen. Die durch den glücklichen Erfolg erhöhte Meinung von sich hatte
ihn vergessen lassen, daß er schon zweimal zu der Einsicht gezwungen
worden war, eine Leitung im blauen Rock sei nur dann möglich, wenn man
nicht mit fremden Augen sehen müsse. Er sollte es zum drittenmal
erfahren. Es war kein Wunder, daß er Apollonius' seitherigem Handeln
falsche Beweggründe unterlegte. Schon als er sich der Tüchtigkeit des
Sohnes gefreut hatte, war ihm zugleich die Furcht gekommen, die
Valentins Geständnis der Verschweigung ihm zur Wahrheit machte. Er sah
hinter der vorgegebenen Schonung des Sohnes um so natürlicher
Eigenmächtigkeit und die Lust, ein verdecktes Spiel zu spielen, als er
ihn dabei nur an dem eigenen Maßstabe maß. Es war das Nächstliegende,
daß er in dem Sohne die eigenen Neigungen voraussetzte. Schon damals
hatte er mit einer Art Eifersucht empfunden, daß er selbst der tüchtigen
Jugend des Sohnes gegenüber in seiner Blindheit nichts mehr war und
nichts mehr konnte. Der Argwohn, den seine Hilflosigkeit ihn gelehrt,
mußte ihm sagen, daß Apollonius trotz seines mühsamen Verbergens
dahinter gekommen war, und so sah er auch die Verachtung mit unter den
Beweggründen vom Handeln des Sohnes.

Seit jener Nacht vor seines älteren Sohnes gewaltsamem Tode war Herr
Nettenmair wiederum als Leiter an die Spitze des Geschäfts getreten.
Apollonius berichtete ihm täglich über den Fortgang der laufenden
Arbeiten und holte seine Befehle ab. Ist eine Arbeit einmal in ihr Gleis
gebracht, dann führt sie sich selbst und es bedarf von seiten des
Leitenden nur Beaufsichtigung und gelegentliches Antreiben. Soll aber
eine neue unternommen werden, dann gilt es die Geleise erst zu suchen,
in denen sie laufen kann, und aus diesen wieder das kürzeste, das
sicherste und gewinnvollste auszuwählen. Der Arbeitgeber erschwert oft
die Aufgabe, indem er selbst mit hineinsprechen will, oder besondere
Nebenwünsche hat, die der Meister zugleich miterfüllen soll. Ort, Zeit
und Material machen ihre Selbständigkeit und Eigenartigkeit geltend.
Nicht jede Arbeit kann man jedem Arbeiter anvertrauen; über der neuen
darf der Meister nicht die bereits laufenden vergessen. Wahl, richtige
Anstellung und Verteilung der Kräfte haben ihre Schwierigkeit.
Entfernung, Wetter sprechen dann auch ihr Wort dazu. All das will
überwunden sein, und so überwunden, daß neben Wunsch und Vorteil des
Baugebers auch Handwerksehre und Vorteil des Meisters nicht ins Gedränge
gerät. Dazu braucht's offene, klare Augen von raschem Überblick. Daß
Apollonius diese besaß, erkannte der alte Herr schon in dessen erster
Meldung. Diese betraf eine besonders schwierige Aufgabe. Apollonius
stellte sie mit solcher Klarheit dar, daß der alte Herr die Dinge mit
leiblichen Augen zu sehen glaubte. Es war ein Fall, in welchem den alten
Herrn seine Erfahrung im Stiche ließ. Apollonius machte er keine
Schwierigkeit. Er zeigte drei, vier verschiedene Wege, ihm gerecht zu
werden, und setzte den alten Herrn in eine Verwirrung, welche er kaum zu
verbergen wußte. Über die knöcherne Stirn unter dem deckenden
Augenschirm zog eine wunderliche wilde Jagd der widersprechendsten
Empfindungen: Freude und Stolz auf den Sohn, dann Schmerz, wie er selbst
nun doch nichts mehr war, doch nichts mehr sein konnte; dann Scham und
Zorn, daß der Sohn das wußte, und über ihn triumphiere; Lust, ihn zu
bändigen und ihm zu zeigen, daß er noch Herr und Meister sei. Aber wenn
er sich durchsetzen wollte: würde der Sohn gehorchen? Er konnte nichts
Besseres ersinnen, als der Sohn ihm vorgelegt hatte; befahl er etwas
anderes, so bestärkte er den Sohn in seiner Nichtachtung; und der gab
sich dann das Ansehen, des Vaters Befehl zu vollziehen und tat doch, was
er selber wollte. Und er konnte das nicht hindern, ihn nicht zwingen. Er
mußte ja glauben, was der Sohn und was die Leute ihm sagten. Hatte er
nicht anderthalb Jahre lang glauben müssen, was der Sohn ihm sagte, und
die Leute hatten dem Sohn geholfen? Und stellte er einen Fremden dem
Sohne zum Beobachter; war er der Treue des Fremden gewiß? Und wenn er
das sein konnte, stellte er nicht selbst dann erst seine Hilflosigkeit
ins Licht, daß die ganze Stadt erfuhr, er war ein blinder Mann, der
nichts mehr war und nichts mehr konnte, und mit dem man spielte, wie man
wollte? Es blieb ihm kein Mittel, auch nur den Schein des Regiments
beizubehalten, als seine diplomatische Kunst. Mit grimmvoller Stimme gab
er nun Befehle, die eigentlich unnötig waren, weil sie Dinge betrafen,
die sich von selbst verstanden und ohne Befehl getan worden wären. Bei
neuen Arbeiten, die erst in Gang gebracht werden mußten, mißbilligte er
mit Zorn die Vorschläge Apollonius; und der Befehl, den er endlich gab,
lief doch in der Hauptsache auf die Annahme des Vorschlages hinaus, der
Apollonius als der zweckmäßigste erschienen war. Hintennach stellte er
sich bei sich selber nach Möglichkeit wieder her; er fand etwas aus, das
er für klüger hielt als den Vorschlag Apollonius'; war er überzeugt,
daß, wenn er nur sein Gesicht noch hätte, alles doch ganz anders gehen
würde, dann konnte er sich der Freude und dem Stolz über die Tüchtigkeit
des Sohnes ungehindert hingeben, bis er wiederum in die zornige
Notwendigkeit versetzt wurde, seine diplomatische Kunst anzuwenden.
Apollonius ahnte so wenig von dem Zwang, den er, ohne zu wollen, dem
alten Herrn auflegte, als von dessen Stolz auf ihn. Ihn freute es, daß
er dem Vater von den Geschäften nichts mehr verheimlichen mußte und daß
sein Gehorsam der Erfüllung seines Wortes nicht im Wege stand. Auch von
dieser Seite her wurde der Himmel über dem Hause mit den grünen Laden
immer blauer. Aber der Geist des Hauses schlich noch immer händeringend
darin umher. So oft es Zwei schlug in der Nacht, stand er auf der
Emporlaube an der Tür von Apollonius' Stübchen und hob die bleichen Arme
wie flehend gegen den Himmel empor.

                   *       *       *       *       *

Apollonius hielt sich, war er daheim, noch immer zurückgezogen auf
seinem Stübchen. Der alte Valentin brachte ihm das Essen wie sonst
dahin. Es konnte das nicht wunder nehmen. Das Geschäft hatte sich unter
seiner fleißigen Hand vergrößert; es wollte gegen früher mehr als
doppelt soviel geschrieben sein. Der Postbote brachte ganze Stöße von
Briefen in das Haus. Dazu hatte Apollonius in der letzten Zeit das
vorteilhafte Anerbieten des Besitzers angenommen und die Schiefergrube
gepachtet. Er verstand von Köln her den Betrieb des Schieferbaues und
hatte sich einen früheren Bekannten von daher verschrieben, den er des
Faches kundig und im Leben zuverlässig wußte. Seine Wahl erwies sich
geraten; der Mann war tätig; aber Apollonius erhielt trotzdem durch die
Pachtung einen bedeutenden Zuwachs von Arbeit. Der alte Bauherr sah ihn
zuweilen bedenklich an und meinte, Apollonius habe seinen Kräften doch
zu viel vertraut. Der jungen Witwe fiel es nicht auf, daß Apollonius nur
wenig in die Wohnstube kam. Die Kinder, die er öfter zu sich rufen und
kleine Dienste verrichten ließ, wobei sie lernen konnten, unterhielten
den Verkehr. Und sie konnten bezeugen, daß Apollonius keine Zeit übrig
hatte. Sie selber war desto öfter auf seiner Stube, doch nur, wenn er
nicht daheim war. Sie schmückte Türen und Wände mit allem, was sie
hatte, und wovon sie wußte, daß er es liebte, und hielt sich ganze
Stunden lang arbeitend da auf. Aber auch sie bemerkte die Blässe seines
Angesichts, die jedesmal größer geworden schien, seit sie ihn nicht
gesehen. Wie sie nun ganz sein Spiegel geworden war, spiegelte sie auch
diese Blässe zurück. Sie hätte ihn gern erheitert, aber sie suchte seine
Nähe nicht; ihr schien, als ob ihre Nähe das Entgegengesetzte wirke, was
sie zu wirken wünschte. Er war immer freundlich und voll ritterlicher
Achtung gegen sie. Das beruhigte sie wenigstens über die Furcht, die ihr
bei seinem Sichzurückziehen am nächsten lag. Wie sie alle Tugenden, die
sie kannte, in ihn hineingestellt wie in einen Heiligenschrein, hatte
sie die Wahrhaftigkeit, die ihr die erste von allen war, nicht
vergessen. Und so wußte sie, er zwang sich nicht, ihr Achtung zu zeigen,
wenn er sie nicht empfand. Er scherzte selbst zuweilen, besonders wenn
er ihren Blick ängstlich auf seinem immer bleicheren Gesichte haften
sah; aber sie merkte, daß trotzdem ihre Gesellschaft ihn nicht heiterer,
nicht gesunder machte. Sie hätte ihn gern gefragt, was ihm fehle. Wenn
er vor ihr stand, wagte sie es nicht; wenn sie allein war, dann fragte
sie ihn. Ganze Nächte sann sie auf Worte, ihm das Geständnis abzulocken,
und sprach mit ihm. Gewiß! hätte er sie weinen gehört, gehört, wie immer
süßer und inniger sie schmeichelte und bat, die süßen Namen gehört, die
sie gab, er hätte sagen müssen, was ihm fehlte. Ihr ganzes Leben war
dann auf dem Wege zwischen Herz und Mund; trat es ihr einmal ins Ohr,
hörte sie, was sie sprach, dann errötete sie und flüchtete ihr Erröten
vor sich selbst und der lauschenden Nacht tief unter ihre Decke.

Dem alten, braven Bauherrn vertraute sie ihre Sorge an. »Ist's ein
Wunder,« sagte er eifrig, »wenn einer anderthalb Jahre lang den Tag sich
über Gebühr angestrengt und die Nacht bei Büchern und Briefen aufsitzt?
Dazu die immer steigende Sorge durch den -- Gott verzeih's ihm, er ist
tot, und von den Toten soll man nichts Böses reden -- durch den Bruder;
am Ende noch der Schreck, der mich drei Tage krank gemacht hat, über den
-- und wenn seine Witwe dabei ist -- ich hab' ihn nie besonders leiden
können, und zuletzt am wenigsten. So ist die Jugend. Ich hab' ihn
hundertmal gewarnt, den braven Jungen. Und nun noch den vermaledeiten
Schieferbruch! Ei was, Gewissenhaftigkeit! Das ist keine, die nicht an
die Gesundheit denkt!« Der alte Bauherr hielt der jungen Wittib eine
ganze lange Strafpredigt, die einem galt, der sie nicht hörte. Dann
kamen sie überein, Apollonius müsse einen Doktor annehmen, woll' er oder
nicht; und der Bauherr ging auf der Stelle zu dem besten Arzte der
Stadt. Der Arzt versprach, sein Möglichstes zu tun. Er besuchte auch
Apollonius, und dieser ließ sich des Arztes Bemühungen gefallen, weil es
die wünschten, die er liebte. Der Arzt fühlte den Puls, kam wieder und
wieder, verschrieb und verschrieb; Apollonius wurde nur noch bleicher
und trüber. Endlich erklärte der tüchtige Mann, hier sei ein Übel, gegen
welches alle Kunst zu kurz falle; so tief hinein, als wo diese Krankheit
sitze, wirke keins von seinen Mitteln.

Apollonius hatte deshalb den Arzt sich verbeten. Er hatte wohl gewußt:
für seine Krankheit gab es keinen Arzt. Wo der Bauherr die Ursache davon
suchte, lag sie nur zum Teile. Die Überanstrengung hatte bloß den Boden
für die Schmarotzerpflanze bestellt, die an Apollonius' innerem
Lebensmark zehrte. In Gemütsbewegungen lag ihr Keim, aber nicht in
denen, die der Bauherr wußte. Nicht in dem Schrecken über des Bruders
Unglück, sondern in dem Zustande, worin der Schreck ihn traf. Die ersten
Zeichen der Krankheit schienen körperlicher Natur. In dem Augenblick, wo
der Bruder neben ihm vorbei in den Tod stürzte, hatten die Glocken unter
ihnen Zwei geschlagen. Von da an erschreckte ihn jeder Glockenton. Was
ihm schwerere Besorgnis erregte, war ein Anfall von Schwindel. Aller
Schrecken jenes Tages hatte ihm die Unruhe nicht verdunkeln können, die
ihn nicht losließ, wenn er eine Ungenauigkeit an einer Arbeit gefunden,
bis sie beseitigt war. Jeder Glockenschlag, der ihn erschreckte, schien
ihm eine Mahnung dazu. Schon den andern Morgen öffnete er, die
Dachleiter in der Hand, die Ausfahrtür. Es war ihm schon aufgefallen,
wie unsicher sein Schritt auf der Leitertreppe geworden war; jetzt, als
er durch die Öffnung die ferneren Berge, die er sonst kaum bemerkte,
sich wunderlich zunicken sah, und der feste Turm unter ihm zu schaukeln
begann, erschrak er. Das war der Schwindel, des Schieferdeckers ärgster,
tückischster Feind, wenn er ihn plötzlich zwischen Himmel und Erde auf
der schwanken Leiter faßt! Vergeblich strebte er, ihn zu überwinden;
sein Vorhaben mußte heut' aufgegeben sein. So schwer war Apollonius noch
kein Weg geworden, als der die Turmtreppe von Sankt Georg herab. Was
sollte werden! Wie sollte er sein Wort erfüllen, wenn ihn der Schwindel
nicht verließ! Noch denselben Tag hatte er auf dem Nikolaiturme etwas
nachzusehen. Hier mußte er mehr wagen als dort; die Glocken schlugen,
als er am gefährlichsten stand, vom Schwindel fühlte er keine Spur.
Freudig eilte er nach Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die
Treppenleiter unter seinen Füßen, und wie er hinaussah, nickten die
Berge wieder, schaukelte wieder der Turm. Er war schon auf den untersten
Stufen der Treppe, als oben ein Stundenschlag begann. Die Töne dröhnten
ihm durch Mark und Bein, er mußte sich am Geländer festhalten, bis das
letzte Summen verklungen war. Er machte noch Versuch über Versuch; er
bestieg alle Dächer und Türme mit seiner alten Sicherheit; nur zu Sankt
Georg wohnte der Schwindel. Dort hatte er seine bösen Gedanken in die
Arbeit hineingehämmert; er hatte damals schon gefühlt, er hämmere einen
Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag und Nacht verfolgte ihn
das Bild der Stelle, wo er die Bleiplatte einzusetzen und den Zierat
festzunageln vergessen. Die Lücke war wie ein böser Fleck, ein Fleck, wo
eine Untat begonnen oder vollbracht ist, und kein Gras wächst, kein
Schatten wird; wie eine offene Wunde, die nicht heilt, bis sie gerächt
ist; wie ein leeres Grab, das sich nicht schließt, eh' es seinen
Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke geschlossen, dann hatte der
Zauber keine Macht mehr. Er konnte das einem Gesellen auftragen, aber
der Gedanke, einen andern seine verwahrloste Arbeit nachbessern zu
lassen, trieb das Rot der Scham auf seine bleichen Wangen. Und die
Bleiplatte, von einem andern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die
Lücke rief nach ihm, und nur er konnte sie schließen. Oder den Gesellen
faßte das Verderben, das er dort eingehämmert, der Schwindel, der dort
wohnt, und stürzte ihn herab.

Seit das Weib des Bruders in seinen Armen gelegen, führte er ein
Doppelleben. Er schaffte den Tag lang außen, nachts saß er in seinem
Stübchen bei seinen Büchern; das spann sich alles mechanisch ab; er war
trotz seines Kämpfens nur mit halber Seele dabei; die andere Hälfte
hatte ihr Leben für sich, immer schwebte sie mit den Dohlen um die Lücke
an dem Turmdach und brütete, welches kommende Unheil es sei, das er
fertig gehämmert jenen Morgen. Seine Seele träumte den sündhaften Traum
wieder durch, kämpfte den schrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder
durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat? Dann fällt ihm
ein, ob's nicht möglich gewesen, den Wahnsinnigen zu retten. Dann suchte
er ängstlich nach den Möglichkeiten, wie der Bruder zu retten gewesen,
und schreckte doch zurück, wenn er dachte, er könnte eine finden. So
hatte ihn des Bruders Schuld aus seinen Fugen gezerrt. Aber auch in
seinem Brüten zeigte sich noch der Gegensatz zu seines Bruders Natur. In
jenem überwucherte die Selbstsucht, die schlimme Anlage; in Apollonius
überspannte sich, was Gutes in ihm war: seine Gewissenhaftigkeit,
Anhänglichkeit und sein Sauberkeitsbedürfnis. Er wälzte nicht seine
Schuld ab von sich auf den Bruder; er hob mit liebender Hand die Schuld
des Bruders herüber auf sich. Denn immer klarer wird es ihm, daß er den
Bruder noch zuletzt vor dem Sturze retten konnte. Er hätte die Wege, die
es gab, damals finden müssen, wenn sein Herz und Kopf nicht voll gewesen
wären von den wilden, verbotenen Wünschen; hätte er dem Wahnsinnigen
nicht gezürnt, den er hätte bedauern sollen. Ja, er hatte dem Bruder das
Unheil fertig gehämmert mit seinen bösen Gedanken. Ohne die Gedanken war
er früher mit seiner Arbeit fertig und der Bruder fand ihn nicht mehr
auf dem Turme; der Bruder kam zu spät und gewann Zeit, seinen Entschluß
zu bereuen. Und war er noch oben, so war er der Stärkere, der
Besonnenere, und mußte Mittel finden, das Unheil zu verhindern. Auch im
äußeren Benehmen zeigte sich dieser Gegensatz mit dem Bruder. Wie dieser
immer selbstsüchtiger, wilder und rücksichtsloser geworden war, machte
Apollonius das Seelenleiden immer milder und stiller. Er verlor über dem
eigenen Zustande nicht das Mitgefühl mit fremdem Leiden. Er bedauerte
nicht sich. Dachte er an die Menschen, die ihm liebend nahe standen, so
war sein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid. Selbst sein Sofa
vergaß er nicht zu streicheln; er tat es, wie man einen Diener tröstet,
der das Unglück seines Herrn als sein eigenes fühlt. Natürlich, daß auch
ihn die Leute mit der Heirat neckten, die ihnen notwendig schien. Er
mußte sich sagen, er dachte wie sie, und daß seine Wünsche keine
unerlaubten mehr waren. Aber daß sie es einmal gewesen, warf seinen
Schatten herüber auf das vorwurfsfreie Jetzt. Seine Liebe, ihr Besitz,
schien ihm wie beschmutzt. Was Verstand und Liebe sagen mochten, er
fühlte in der Heirat eine Schuld. Daher kam's, daß Christianens Nähe ihn
nicht heiterer machte. Es gab Augenblicke, wo seine Verdüsterung ihm
selbst wie eine Krankheit vorkam, und er hoffte, sie werde vorübergehen.
Aber auch da trat er Christianen nicht näher, so sehr sein Herz ihn zog.
Er blieb gegen sie wie damals, wo er den Knaben zwischen sie und sich
gestellt hatte. Die kleinste Annäherung sah er nach seiner Weise für
eine Bindung an, und dachte er sich die Heirat entschieden, so lastete
wiederum das Gefühl von Schuld auf ihm. Er rückte den Gedanken daran in
eine unbestimmte Zukunft hinaus, dann fühlte er seinen Zustand
erträglich. Er, der sonst ein unklares Verhältnis nicht ertragen konnte!
Darin aber war er sich noch völlig gleich, daß er in seiner Vorstellung
eine mögliche Schuld nur immer als die seine empfand. Sie blieb ihm
unter allen Umständen heilig und rein.

Dem alten Herrn war in seinem äußeren Ehrbegriff ein Zusammenleben wie
Apollonius' und Christianens ohne kirchliche Weihe ein schweres
Ärgernis. Apollonius konnte ohne Schande nur unter dem Namen ihres
Gatten der jungen, schönen Wittib und ihrer Kinder Schützer und Erhalter
sein. Nach seiner Weise sprach er ein Machtwort. Er bestimmte die Zeit.
Das unumgängliche Trauerhalbjahr war um; und in acht Tagen sollte die
Verlobung, drei Wochen später die Hochzeit sein.

Das Leben in dem Hause mit den grünen Laden begann wieder schwül und
schwüler zu werden; die neuen Wolken, die unsichtbar darum heraufzogen,
drohten einen herberen Schlag, als in dem die alten sich entladen. Die
junge Wittib durfte nur eine Braut scheinen. Sie tat, wonach man sie
neckend gefragt hatte: sie vervollständigte ihre Einrichtung. Halbe
Nächte saß sie schneidend und nähend über weißes Linnen und buntes
Bettzeug gebückt. Es fielen Tränen darauf, aber die Freude behielt immer
weniger Anteil an diesen Tränen. Sie sah des geliebten Mannes Zustand
stündlich sich verschlimmern und konnte darüber nicht im Irrtum sein,
daß die Heirat die Schuld davon trug. Je blasser und hinfälliger er
wurde, desto milder und achtungsvoller wurde sein Benehmen gegen sie.
Ja, es war etwas darin, das wie schmerzliches Mitleid und
unausgesprochene Abbitte eines Unrechts oder einer Beleidigung aussah,
deren er sich gegen sie schuldig wisse. Sie wußte nicht, was sie davon
denken sollte; nur, daß sie nichts denken durfte, was des Bildes, das
sie von ihm in ihrer Seele trug, unwürdig gewesen wäre. In seiner
Gegenwart war sie still wie er. Sie sah sein stummes, schmerzliches
Brüten; aber erst, wenn sie allein war, und ihre Kinder neben ihr
schliefen, hatte sie den Mut, ihn zu bitten. Stundenlang bat sie dann
wie ein Kind, er soll ihr doch sagen, was ihm fehlt. Sie will es mit ihm
tragen; sie muß ja; ist sie nicht sein?

Und Apollonius selbst? Bis jetzt hatte er den Druck dunklen
Schuldgefühls, der sich an den Gedanken der Heirat knüpfte, zu schwächen
vermocht, wenn er unentschieden den Entschluß in unbestimmte Ferne
hinauswies. Dabei hatte ihm die Hoffnung geholfen, jenes Gefühl sei eine
krankhafte Anwandlung, die vorübergehen werde. Nun der alte Herr sein
Machtwort gesprochen, war ihm jedes Mittel genommen. Das Ziel war
bestimmt; mit jedem Tage, mit jeder Stunde trat es ihm näher. Er mußte
sich entscheiden. Er konnte nicht. Die Entzweiung seines Innern klaffte
immer weiter auf. Wollte er dem Glücke entsagen, dann wich das Gespenst
der Schuld, aber das Glück streckte immer verlockendere Arme nach ihm
aus. Es nahm seine Ehre zum Bündner. Der Vater entfernte ihn dann; wie
sollte er sein Wort halten? Wo war ein Vorwurf, wenn er das Glück in
seine Arme nahm? Der Vater wollte es; sie liebt ihn und hat ihn immer
geliebt, nur ihn; alle Menschen billigen, ja sie fordern es von ihm.
Dann sah er sie, eh' sie ihm geraubt wurde, wie sie das Glöckchen
hinlegte für ihn, rosig unter der braunen krausen Locke, die sich immer
frei macht; dann bleich unter der Locke von den Mißhandlungen des
Bruders, der sie ihm geraubt, bleich um ihn; dann zitternd vor des
Bruders Drohungen, zitternd um ihn; dann lachend, weinend, voll Angst
und voll Glück in seinen Armen. Und so soll er sie halten dürfen,
vorwurfslos, die ihm gehört! Aber durch ihr schwellendes Umfangen, durch
alle Bilder stillen, sanften Glücks hindurch fröstelt ihn der alte
Schauder wieder an. So war's schon in seinem Traume, als er mit dem
Bruder kämpfte um sie, und ihn hinabstieß von der fliegenden Rüstung in
den Tod. Er sagt sich, das war nur im Traum; was man im Traume tat, hat
man nicht getan. Aber wachend hallten die wilden Gefühle des Traumes
nach. Die bösen Gedanken machten ihn unfähig, den Bruder zu retten. Der
Sturz des Bruders machte dessen Weib frei. Er wußte das, als er den
Bruder stürzen ließ. Deshalb ja hatte er ihn im Traume gestürzt. Nun war
es ja, wie in dem schlimmen Traum, der Bruder war tot, und er hatte sein
Weib. Nimmt er des Bruders Weib, die frei wurde durch den Sturz, so hat
er ihn hinabgestürzt. Hat er den Lohn der Tat, so hat er auch die Tat.
Nimmt er sie, wird ihn das Gefühl nicht lassen; er wird unglücklich
sein, und sie mit unglücklich machen. Um ihret- und seinetwillen muß er
sie lassen. Und will er das, dann erkennt er, wie haltlos diese Schlüsse
sind vor den klaren Augen des Geistes, und will er wiederum das Glück
ergreifen, so schwebt das dunkle Schuldgefühl von neuem wie ein eisiger
Reif über seine Blume, und der Geist vermag nichts gegen seine
vernichtende Gewalt. Daneben mahnten immer lauter die Glockenschläge von
Sankt Georg. Immer fieberischer wurde die Unruhe, daß der Fehler noch
nicht gebessert war. Äußere Anlässe schärften noch den Drang. Es hatte
anhaltend geregnet, die Lücke schluckte, die Verschalung sog das Wasser
gierig ein; das Holz mußte verfaulen. Trat die Winterkälte stärker ein,
fror die Nässe im Holz, so warf sich die Verschalung und verletzte die
Schiefer. Die Stadt, die seiner Pflichttreue vertraute, litt Schaden
durch ihn. Jede Nacht weckte ihn der Stundenschlag Zwei. In der Glut des
Fiebers vermischten sich die Schatten. Die Vorwürfe des inneren und
äußeren Sauberkeitsbedürfnisses flossen ineinander. Immer
unwiderstehlicher forderte die offene Wunde das Gericht; das gähnende
Grab den, der es schloß. Und er war es, den der Stundenschlag zu
Gerichte rief; er, der das Grab schließen mußte, eh' das gehämmerte
Unheil auf ein unschuldig Haupt fiel. Sich selbst hatte er das kommende
Unheil fertig gehämmert. Er mußte hinauf, den Fehler zu bessern. Und
wenn er oben war, dann schlug es Zwei, dann packte ihn der Schwindel und
riß ihn hinab, dem Bruder nach.

Der alte wackere Bauherr drang in den Leidenden; er hatte sich das Recht
erworben, sein Vertrauen zu fordern. Apollonius lächelte trüb; er schlug
ihm sein Verlangen nicht ab, aber er schob die Erfüllung von Tag zu Tag
weiter hinaus. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde sah die schöne junge
Braut ihn bleicher werden und blich ihm nach. Nur der alte Herr in
seiner Blindheit sah die Wolke nicht, die mit dem Schlimmsten droht. Es
war wieder schwül geworden und wurde noch immer schwüler, das Leben in
dem Hause mit den grünen Laden. Kein Mensch sieht's dem rosigen Hause
an, wie schwül es einmal darin war.

                   *       *       *       *       *

Es war in der Nacht vor dem angesetzten Verlobungstag. Plötzlich war
Schnee, dann große Kälte eingetreten. Einige Nächte schon hatte man das
sogenannte Sankt Elmsfeuer von den Turmspitzen nach den blitzenden
Sternen am Himmel züngeln sehen. Trotz der trockenen Kälte empfanden die
Bewohner der Gegend eine eigene Schwere in den Gliedern. Es regte sich
keine Luft. Die Menschen sahen sich an, als fragte einer den andern, ob
auch er die seltsame Beängstigung fühle. Wunderliche Prophezeiungen von
Krieg, Krankheit und Teuerung gingen von Mund zu Munde. Die
Verständigeren lächelten darüber, konnten sich aber selbst des Dranges
nicht erwehren, ihre innerliche Beklemmung in entsprechende Bilder von
etwas äußerlich drohend Bevorstehendem zu kleiden. Den ganzen Tag hatten
sich dunkle Wolken übereinander gebaut von entschiedenerer Zeichnung und
Farbe, als sie der Winterhimmel sonst zu zeigen pflegt. Ihre Schwärze
hätte unerträglich grell von dem Schnee abstechen müssen, der Berge und
Tal bedeckte und wie ein Zuckerschaum in den blätterlosen Zweigen hing,
dämpfte nicht ihr Widerschein den weißen Glanz. Hier und da dehnte sich
der feste Umriß der dunklen Wolkenburg in schlappen Busen herab. Diese
trugen das Ansehen gewöhnlicher Schneewolken, und ihr trübes Rötlichgrau
vermittelte die Bleischwärze der höheren Schicht mit dem schmutzigen
Weiß der Erde und seinen schwärzlichen Scheinen. Die ganze Masse stand
regungslos über der Stadt. Die Schwärze wuchs. Schon zwei Stunden nach
Mittag war es Nacht in den Straßen. Die Bewohner der Untergeschosse
schlossen die Läden; in den Fenstern der höheren Stockwerke blitzte
Licht um Licht auf. Auf den Plätzen der Stadt, wo ein größeres Stück
Himmel zu übersehen war, standen Gruppen von Menschen zusammen und sahen
bald nach allen Seiten aufwärts, bald sich in die langen, bedenklichen
Gesichter. Sie erzählten sich von den Raben, die in großen Zügen bis in
die Vorstädte hereingekommen waren, zeigten auf das tiefe, unruhige,
stoßende Geflatter der Dohlen um Sankt Georg und Sankt Nikolaus,
sprachen von Erdbeben, Bergstürzen, wohl auch vom jüngsten Tage. Die
Mutigeren meinten, es sei nur ein starkes Gewitter. Aber auch das
erschien bedenklich genug. Der Fluß und der sogenannte Feuerteich,
dessen Wasser auf unterirdischen Wegen augenblicklich jedem Teile der
Stadt zugeleitet werden konnte, waren beide gefroren. Manche hofften,
die Gefahr werde vorübergehen. Aber so oft sie hinaufsahen, die dunkle
Masse rückte nicht von der Stelle. Zwei Stunden nach Mittag hatte sie
schon so gestanden; gegen Mitternacht stand sie noch unverändert so. Nur
schwerer, schien es, war sie geworden und hatte sich tiefer
herabgesenkt. Wie sollte sie auch rücken? da nicht ein leiser Lufthauch
auf den Flügeln war; und solche Masse zu zerstreuen und fortzuschieben,
hätte es einer Windsbraut bedurft.

Es schlug Zwölf vom Sankt Georgenturm. Der letzte Schlag schien nicht
verhallen zu können. Aber das tiefe, dröhnende Summen, das so lange
anhielt, war nicht mehr der verhallende Glockenton. Denn nun begann es
zu wachsen; wie auf tausend Flügeln kam es gerauscht und geschwollen und
stieß zornig gegen die Häuser, die es aufhalten wollten, und fuhr
pfeifend und schrillend durch jede Öffnung, die es traf; polterte im
Hause umher, bis es eine andere Öffnung zum Wiederherausfahren fand; riß
Läden los und warf sie grimmig zu; quetschte sich stöhnend zwischen
nahestehenden Mauern hindurch; pfiff wütend um die Straßenecken; zerlief
in tausend Bäche; suchte sich und schlug klatschend wieder zusammen in
einen reißenden Strom; fuhr vor grimmiger Lust herab und hinauf;
rüttelte an allem Festen; trillte mit wildspielendem Finger die
verrosteten Wetterhähne und Fahnen und lachte schrillend in ihr Geächze;
blies den Schnee von einem Dach aufs andere, fegte ihn von der Straße,
jagte ihn an steilen Mauern hinauf, daß er vor Angst in alle
Fensterritzen kroch, und wirbelte ganze tanzende Riesentannen aus Schnee
geformt vor sich her.

Da man ein Gewitter voraussah, war alles in den Kleidern geblieben. Die
Rats- und Bezirksgewitternachtwachen sowie die Spritzenmannschaften
waren schon seit Stunden beisammen. Herr Nettenmair hatte den Sohn nach
der Hauptwachtstube im Rathause gesandt, um da seine, des
Ratsschieferdeckermeisters Stelle zu vertreten. Die zwei Gesellen saßen
bei den Turmwächtern, der eine zu Sankt Georg, der andere zu Sankt
Nikolaus. Die übrigen Ratswerkleute unterhielten sich in der Wachtstube,
so gut sie konnten. Der Ratsbauherr sah bekümmert auf den brütenden
Apollonius. Der fühlte des Freundes Auge auf sich gerichtet und erhob
sich, seinen Zustand zu verbergen. In dem Augenblick brauste der
Sturmwind von neuem in den Lüften daher. Auf dem Rathausturme schlug es
Eins. Der Glockenton wimmerte in den Fäusten des Sturmes, der ihn mit
sich fortriß in seine wilde Jagd. Apollonius trat an ein Fenster, wie um
zu sehen, was es draußen gebe. Da leckte eine riesige schwefelblaue
Zunge herein, bäumte sich zitternd zweimal an Ofen, Wand und Menschen
auf und verschlang sich spurlos in sich selber. Der Sturm brauste fort;
aber wie er aus dem letzten Glockenton von Sankt Georg geboren schien,
so erhob sich jetzt aus seinem Brausen etwas, das an Gewalt sich so
riesig über ihn emporreckte, wie sein Brausen über den Glockenton. Eine
unsichtbare Welt schien in den Lüften zu zertrümmern. Der Sturm brauste
und pfiff wie mit der Wut des Tigers, daß er nicht vernichten konnte,
was er packte; das tiefe, majestätische Rollen, das ihn überdröhnte, war
das Gebrüll des Löwen, der den Fuß auf dem Feinde hat, der
triumphierende Ausdruck der in der Tat gesättigten Kraft.

»Das hat eingeschlagen,« sagte einer. Apollonius dachte: wenn es in den
Turm schlüge von Sankt Georg, dort in die Lücke und ich müßte hinauf und
es schlüge Zwei und -- -- Er konnte nicht ausdenken. Ein Hilfegeschrei,
ein Feuerruf erscholl durch Sturm und Donner. »Es hat eingeschlagen,«
schrie es draußen auf der Straße. »Es hat in den Turm von Sankt Georg
geschlagen. Fort nach Sankt Georg! Jo! Hilfe! Feuerjo! Auf Sankt Georg!
Jo! Feuerjo auf dem Turm von Sankt Georg!« Hörner bliesen, Trommeln
wirbelten darein. Und immer der Sturm und Donner auf Donner. Dann rief
es: »Wo ist der Nettenmair? Kann einer helfen, ist's der Nettenmair! Jo!
Feuerjo! Auf Sankt Georg! Der Nettenmair! Wo ist der Nettenmair? Jo!
Feuerjo! Auf dem Turm zu Sankt Georg!«

Der Bauherr sah Apollonius erbleichen, seine Gestalt noch tiefer in sich
zusammensinken, als seither. »Wo ist der Nettenmair?« rief es wieder
draußen. Da schlug eine dunkle Röte über seine bleichen Wangen und seine
schlanke Gestalt richtete sich hoch auf. Er knöpfte sich rasch ein, zog
den Riemen seiner Mütze fest unter dem Kinn. »Bleib' ich,« sagte er zu
dem Bauherrn, indem er sich zum Gehen wandte, »so denkt an meinen Vater,
an meines Bruders Weib und seine Kinder.« Der Bauherr war betroffen. Das
»Bleib' ich« des jungen Mannes klang wie: »Ich werde bleiben.« Eine
Ahnung kam dem Freunde, hier sei etwas, was mit dem Seelenleiden
Apollonius' zusammenhänge. Aber der Ausdruck seines Gesichtes hatte
nichts mehr von dem Leiden; er war weder ängstlich noch wild. Durch
Sorge und Schrecken hindurch fühlte der wackere Mann etwas wie freudige
Hoffnung. Es war der alte Apollonius wieder, der vor ihm stand. Das war
ganz die ruhige, bescheidene Entschlossenheit wieder, die ihn beim
ersten Anblick den jungen Mann gewonnen hatte. »Wenn er so bliebe!«
dachte der Bauherr. Er hatte nicht Zeit, etwas zu erwidern. Er drückte
ihm die Hand. Apollonius empfand alles, was der Händedruck sagen wollte.
Wie ein Mitleid zog es über sein Gesicht hin mit dem wackern Alten, wie
Mißbilligung, daß er dem braven Alten Schmerz gemacht, und ihm noch mehr
Schmerz machen wollen. Er sagte mit seinem alten Lächeln: »Auf solche
Fälle bin ich immer bereit. Aber es gilt Eile. Auf frohes Wiedersehen!«
Der schnellere Apollonius war dem Bauherrn bald aus den Augen. Auf dem
ganzen Wege nach Sankt Georg, unter dem Geschrei, den Hörnern und
Trommeln, Sturm und Donner, sagte der Bauherr immer vor sich hin:
»Entweder sehe ich den braven Jungen nie wieder, oder er ist gesund,
wenn ich ihn wiedersehe.« Er legte sich nicht Rechenschaft ab, wie er zu
dieser Überzeugung kam. Hätt' er's auch sonst gekonnt, es war nicht Zeit
dazu. Seine Pflicht als Ratsbauherr verlangte den ganzen Mann.

Der Ruf: »Nettenmair! Wo ist der Nettenmair?« tönte dem Gerufenen auf
seinem Wege nach Sankt Georg entgegen und klang hinter ihm her. Das
Vertrauen seiner Mitbürger weckte das Gefühl seines Wertes wieder in ihm
auf. Als er, aus der Fremde zurückkehrend, die Heimatstadt vor sich
liegen sah, hatte er sich ihr und ihrem Dienste gelobt. Nun durfte es
sich zeigen, wie ernst gemeint sein Gelübde war. Er übersann in Gedanken
die möglichen Gestalten der Gefahr, und wie er ihnen begegnen könnte.
Eine Spritze stand bereit im Dachgebälk, Tücher lagen dabei, um damit,
in Wasser getaucht, die gefährdeten Stellen zu schützen. Der Geselle war
angewiesen, heißes Wasser bereit zu halten. Das Gebälke hatte er überall
durch Leitern verbunden. Zum ersten Male seit seiner Heimkunft von
Brambach war er wieder mit ganzer Seele bei einem Werke. Vor der
wirklichen Not und ihren Anforderungen traten die Gebilde seines Brütens
wie verschwimmende Schatten zurück. Die ganze alte Wirkungsfreudigkeit
und Spannkraft war wieder heraufgerufen, das Gefühl der Erleichterung
erhöhte sie noch. Mit Gedanken kann man Gedanken widerlegen, gegen
Gefühle sind sie eine schwache Waffe. Vergebens sah sein Geist den
rettenden Weg; er war in der allgemeinen Erschlaffung mit erkrankt.
Jetzt war ein stärkeres gesundes Gefühl gegen die starken kranken
Gefühle aufgeglüht und hatte sie in seiner Flamme verzehrt. Er wußte,
ohne besonders daran zu denken, er hatte den rettenden Entschluß
gefunden, und dieser war die Quelle seines erneuten Daseins. Er wußte,
er wird nicht schwindeln, und blieb er doch, so fiel er seiner Pflicht
zum Opfer und keiner Schuld, und Gott und die Dankbarkeit der Stadt
traten statt seiner in das Gelübde für die Seinen ein.

Der Platz um Sankt Georg war mit Menschen angefüllt, die alle voll Angst
nach dem Turmdache hinaufsahen. Der ungeheure alte Bau stand wie ein
Fels in dem Kampf, den Blitzeshelle mit der alten Nacht unermüdlich um
ihn kämpfte. Jetzt umschlangen ihn tausend hastige, glühende Arme mit
solcher Macht, daß er selber aufzuglühen schien unter ihrer Glut; wie
eine Brandung lief's an ihm hinauf und stürzte gebrochen zurück, dann
schlug die dunkle Flut der Nacht wieder über ihm zusammen. Ebensooft
tauchte die Menge aneinander gedrängter bleicher Gesichter auf um seinen
Fuß und sank wieder ins Dunkel zurück. Der Sturm riß die Stehenden an
Hüten und Mänteln und schlug mit eigenen und fremden Haaren und
Kleiderzipfeln nach ihnen, und warf sie mit seinem Schneegeriesel, das
in dem Schein der Blitze wie glühender Funkenregen an ihnen
herniederstäubte, als wollte er sie's büßen lassen, daß er vergeblich an
den steinernen Rippen sich wund stieß. Und wie die Menschen
bald erschienen, bald verschwanden, so wurde ihr verwirrtes
Durcheinanderreden immer wieder vom Sturm und vom Donner überbraust und
überrollt.

Da rief einer, sich selbst tröstend: »es ist ein kalter Schlag gewesen.
Man sieht ja nichts.« Ein anderer meinte, die Flamme von dem Schlag
könne noch ausbrechen. Ein Dritter wurde zornig; er nahm den Einwand wie
einen Wunsch, der Schlag möge nicht ein kalter gewesen sein, und die
Flamme noch ausbrechen. Er hatte sich schon getröstet, und rächte sich
für die Unruhe, die der Einwand wieder neu in ihm erregte. Viele sahen,
vor Angst und Kälte zitternd, mit den geblendeten Augen stumpf in die
Höhe, und wußten nicht mehr, warum. Hundert Stimmen setzten dagegen
auseinander, welches Unglück die Stadt betreffen könne, ja betreffen
müsse, wenn der Schlag kein kalter war. Einer sprach von der Natur der
Schiefer, wie sie, im Brande schmelzend und als brennende Schlacken
straßenweit durch die Luft fliegend, schon oft einen beginnenden Brand
im Augenblick über eine ganze Stadt verbreitet hatten. Andere klagten,
wie der Sturm einen möglichen Brand begünstige, und daß kein Wasser zum
Löschen vorhanden sei. Noch andere: und wäre welches vorhanden, so würde
es vor der Kälte in den Spritzen und Schläuchen gefrieren. Die meisten
stellten in angstvoller Beredsamkeit den Gang dar, den der Brand nehmen
würde. Stürzte das brennende Dachgebälk, so trieb es der Sturm dahin, wo
eine dichte Häusermasse fast an den Turm stieß. Hier war die
feuergefährlichste Stelle der ganzen Stadt. Zahllose hölzerne
Emporlauben in engen Höfen, bretterne Dachgiebel, schindelgedeckte
Schuppen, alles so zusammengepreßt, daß nirgends eine Spritze
hineinzubringen, nirgends eine Löschmannschaft mit Erfolg anzustellen
war. Stürzte das brennende Dachgebälke, wie nicht anders möglich war,
nach dieser Seite, so war das ganze Stadtviertel, das vor dem Winde lag,
bei dem Sturm und Wassermangel unrettbar verloren. Diese
Auseinandersetzungen brachten Ängstlichere so aus der Fassung, daß jeder
neue Blitz ihnen als die ausbrechende Flamme erschien. Daß jeder nur
eine Seite der Turmdachfläche übersehen konnte, begünstigte die
Fortpflanzung des Irrtums. Es war wunderlich, aber man hörte nun von
allen Seiten zugleich das Geschrei: »Wo? Wo?« Sturm und Donner
verhinderten die Verständigung. Jeder wollte selbst sehen; so entstand
ein wildes Gedränge.

»Wo hat es hingeschlagen?« fragte Apollonius, der eben daher kam. »In
die Seite nach Brambach zu,« antworteten viele Stimmen. Apollonius
machte sich Bahn durch die Menge. Mit großen Schritten eilte er die
Turmtreppe hinauf. Er war den langsamen Begleitern um eine gute Strecke
voraus. Oben fragte er vergebens. Die Türmersleute meinten, es müsse ein
kalter Schlag gewesen sein, und waren doch im Begriff, ihre besten
Sachen zusammenzuraffen, um vom Turme zu fliehen. Nur der Gesell, den er
am Ofen beschäftigt fand, besaß noch Fassung. Apollonius eilte mit
Laternen nach dem Dachgebälk, um sie da aufzuhängen. Die Leitertreppe
zitterte nicht mehr unter seinen Füßen; er war zu eilig, das zu
bemerken. Innen am Dachgebälke wurde Apollonius keine Spur von einem
beginnenden Brande gewahr. Weder der Schwefelgeruch, der einen Einschlag
bezeichnet, noch gewöhnlicher Rauch war zu bemerken. Apollonius hörte
seine Begleiter auf der Treppe. Er rief ihnen zu, er sei hier. In dem
Augenblick zuckte es blau zu allen Turmluken herein und unmittelbar
darauf rüttelte ein prasselnder Donner an dem Turm. Apollonius stand
erst wie betäubt. Hätte er nicht unwillkürlich nach einem Balken
gegriffen, er wäre umgefallen von der Erschütterung. Ein dicker
Schwefelqualm benahm ihm den Atem. Er sprang nach der nächsten Dachluke,
um frische Luft zu schöpfen. Die Werkleute, dem Schlage ferner, waren
nicht betäubt worden, aber vor Schrecken auf den obersten Treppenstufen
stehen geblieben. »Herauf!« rief ihnen Apollonius zu. »Schnell das
Wasser! die Spritze! In diese Seite muß es geschlagen haben, von da kam
Luftdruck und Schwefelgeruch. Schnell mit Wasser und Spritze an die
Ausfahrtür.« Der Zimmermeister rief, schon auf der Leitertreppe,
hustend: »aber der Dampf!« »Nur schnell!« entgegnete Apollonius. »Die
Ausfahrtür wird mehr Luft geben, als uns lieb ist.« Der Maurer und der
Schornsteinfeger folgten dem Zimmermann, der die Schläuche trug, so
schnell als möglich, mit der Spritze die Leitertreppe hinauf. Die andern
brachten Eimer kalten, der Gesell einen Topf heißen Wassers, um durch
Zugießen das Gefrieren zu verhindern.

In solchen Augenblicken hat, wer Ruhe zeigt, das Vertrauen, und dem
gefaßten Tätigen unterordnen sich die andern ohne Frage. Der Bretterweg
nach der Ausfahrtüre war schmal; durch die verständige Anordnung
Apollonius' fand dennoch alles im Augenblicke seinen Platz. Zunächst
Apollonius nach der Türe stand der Zimmermann, dann die Spritze, dann
der Maurer. Die Spritze war so gewendet, daß die beiden Männer die
Druckstangen vor sich hatten. Zwei starke Männer konnten das Druckwerk
bedienen. Hinter dem Maurer stand der Schieferdeckergeselle, um über
dessen Schulter, so oft es nötig, von dem heißen Wasser zuzugießen.
Andere betrieben des Gesellen vorheriges Geschäft; sie schmolzen Schnee
und Eis und behielten das gewonnene Wasser in der geheizten Türmerstube,
damit es nicht wieder zu Eis fror. Andere waren bereit, als Zuträger
zwischen Dachstuhl und Türmerstube zu dienen, und bildeten eine Art
Spalier. Während Apollonius mit raschen Worten und Winken den Plan
dieser Geschäftsordnung dem Zimmermann und Maurer mitteilte, die ihn
dann in Ausführung brachten, hatte er die Dachleiter schon in der
Rechten und griff mit der Linken nach dem Riegel der Ausfahrtür. Die
Leute hatten die beste Hoffnung; aber als durch die geöffnete Tür der
Sturm hereinpfiff, dem Zimmermann die Mütze vom Kopfe riß und Massen
feinen Schneestaubs gegen das Gebälke warf und heulend und rüttelnd den
Dachstuhl auf- und abpolterte und Blitz auf Blitz blendend durch die
dunkle Öffnung brach, da wollte der Mutigste die Hand von dem
vergeblichen Werke abziehen. Apollonius mußte sich mit dem Rücken gegen
die Türe kehren, um atmen zu können. Dann, beide Handflächen gegen die
Verschalung oberhalb der Türe gestemmt, bog er den Kopf zurück, um an
der äußeren Dachfläche hinaufzusehen. »Noch ist zu retten,« rief er
angestrengt, damit die Leute vor dem Sturm und dem ununterbrochenen
Rollen des Donners ihn verstehen konnten. Er ergriff das Rohr des
kürzesten Schlauches, dessen unteres Ende der Zimmermann einschraubend
an der Spritze befestigte, und wand sich den obern Teil um den Leib.
»Wenn ich zweimal hintereinander den Schlauch anziehe, drückt los.
Meister, wir retten die Kirche, vielleicht die Stadt!« Die rechte Hand
gegen die Verschalung gestemmt, bog er sich aus der Ausfahrtür; in der
Linken hielt er die leichte Dachleiter frei hinaus, um sie an dem
nächsten Dachhaken über der Türe anzuhängen. Den Werkleuten schien das
unmöglich. Der Sturm mußte die Leiter in die Lüfte reißen und -- nur zu
möglich war's, er riß den Mann mit. Es kam Apollonius zu statten, daß
der Wind die Leiter gegen die Dachfläche drückte. An Licht fehlte es
nicht, den Haken zu finden; aber der Schneestaub, der dazwischen
wirbelte und, vom Dache herabrollend, in seine Augen schlug, war
hinderlich. Dennoch fühlte er, die Leiter hing fest. Zeit war nicht zu
verlieren; er schwang sich hinaus. Er mußte sich mehr der Kraft und
Sicherheit seiner Hände und Arme anvertrauen, als dem sicheren Tritt
seiner Füße, als er hinaufklomm, denn der Sturm schaukelte die Leiter
samt dem Mann wie eine Glocke hin und her. Oben, seitwärts über der
ersten Sprosse der Leiter, hüpften bläuliche Flammen mit gelben Spitzen
unter der Lücke und leckten unter den Rändern der Schiefer hervor. Zwei
Fuß tief unter der Lücke hatte der Blitz hineingeschlagen. Vor einer
Stunde noch war er vor dem Gedanken der bloßen Möglichkeit erschrocken,
hierher könnte der Blitz schlagen und er müsse herauf -- eine Reihe
dunkler, tödlicher Fiebergebilde hatten sich daran geschlossen -- jetzt
war alles geschehen, wie er sich's vorhin nur gedacht; aber die Lücke
war ihm wie jede andere Stelle des Turmdachs, schwindellos stand er auf
der Leiter und nur ein frisches, tapferes Gefühl erfüllte ihn: der
Drang, von Kirche und Stadt die drohende Gefahr zu wenden. Ja, etwas,
was ihm die dunkle Furcht durch Sorge erhöht hatte, erwies sich nun
sogar als heilvoll und glücklich. Er erkannte, nur das Wasser, welches
die Lücke wochenlang geschluckt, und das nun im Holze gefroren, ließ die
Flamme nicht so schnell überhand nehmen, als ohne dies Hindernis
geschehen wäre. Der Raum, den der Brand bis jetzt einnahm, war ein
kleiner. Der Frost in der Verschalung warf die hartnäckig immer
wiederkehrenden hüpfenden Flämmchen lange zurück, ehe sie bleibend
einwurzeln und von dem Wurzelpunkte aus weiterfressen konnten. Hatten
sie sich einmal zu einer großen Flamme vereinigt und diese den durch
Frost gefeiten Raum unter der Lücke überschritten, dann mußte der Brand
bald riesig über die Turmspitze hinauswachsen, und die Kirche und
vielleicht die Stadt erlag der vereinten Gewalt von Feuer und Sturm. Er
sah, noch war zu retten; und er brauchte die Kraft, die ihm dieser
Gedanke gab. Die Leiter schaukelte nicht mehr bloß herüber und hinüber,
sie wuchtete zugleich auf und ab. Was war das? Wenn der Dachbalken
locker war, -- aber er wußte, das konnte nicht sein -- diese Bewegung
war unmöglich. Aber die Leiter hing ja gar nicht an dem Haken; er hatte
sie an ein hervorspringendes Eichenblatt der Blechverzierung angehängt,
nahe an einem der Befestigungspunkte; aber das andere Ende des
Girlandenstücks, an dem die Leiter hing, war das, was er zu befestigen
vergessen hatte. Sein Gewicht wuchtete an dem Stücke und zog es mit der
Leiter immer mehr herab und bog die Seite nach vorn, an die er die
Leiter gehängt. Noch einen Zoll tiefer, und das Blatt lag wagrecht und
die Leiter glitt von dem Blatte herab und mit ihm hinunter in die
ungeheure Tiefe. Jetzt mußte sich sein neugewonnener Lebensmut bewähren,
und er tat's. Sechs Zoll weit neben dem Blatte war der Haken. Noch drei
leichte Schritte die schwankende Leiter hinauf und er faßte mit der
linken Hand den Haken, hielt sich fest daran und hob die Leiter mit der
rechten von dem Blatte herüber an den Haken. Sie hing. Die Linke ließ
den Haken und faßte neben der rechten die Leitersprosse; die Füße
folgten; er stand wieder auf der Leiter. Und jetzt begannen schon die
Schiefer unter der Lücke zu glühen; nicht lang und sie rollten sich
schmelzend, und die brennenden Schlacken trugen das Verderben fliegend
weiter. Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel; wenig Stöße mit dem
Werkzeug, und die Schiefer fielen abgestreift in die Tiefe. Nun übersah
er deutlich den geringen Umfang der brennenden Fläche; seine Zuversicht
wuchs. Zwei Züge an dem Schlauch, und die Spritze begann zu wirken. Er
hielt das Rohr erst gegen die Lücke, um die Verschalung oberhalb des
Brandes noch geschickter zum Widerstande zu machen. Die Spritze bewies
sich kräftig; wo ihr Strahl unter den Rand der Schiefer sich einzwängte,
splitterten diese krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes
knisterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden Wasser; erst dem
unmittelbar gegen sie gerichteten Strahl gelang es, und auch diesem mehr
durch seine erstickende Gewalt als durch die Natur seines Stoffes, die
hartnäckigen zu bezwingen.

Die Brandfläche lag schwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete
kein Zischen mehr. Da rasselte das Getriebe der Uhr tief unter ihm. Es
schlug Zwei. Zwei Schläge! Zwei! Und er stand und stürzte nicht! Wie
anders war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die fieberischen
Ahnungen gedroht! Wenn er oben war, da schlug es Zwei, da packte ihn der
Schwindel und riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das hatten ihm
seine schweren wachen Träume gezeigt. Und er stand doch wirklich oben,
und die Leiter schwankte im Sturme, Schneestaub umwirbelte ihn, Blitze
umzuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der Dächer, der Berge,
des Tals, die ganze Gegend in einer ungeheuren Flamme auf, und nun
schlug's Zwei unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturme gezerrt
hinaus in den Aufruhr, und er stand, er stand schwindellos, er stürzte
nicht. Er wußte, keine Schuld lag auf ihm; er hatte seine Pflicht getan,
wo Tausende sie nicht getan hätten; er hatte die Stadt, an der er mit
ganzer Seele hing, er allein, von der furchtbarsten Gefahr befreit. Aber
aller Stolz dieses Gedankens war in dieser Seele nur ein Dankgebet. Er
dachte nicht an die Menschen, die ihn preisen würden, nur an die
Menschen, die nun wieder aufatmen durften, an das Elend, das verhütet,
an das Glück, welches erhalten war. Und er fühlte selbst nach Monden
wieder, was frei aufatmen heißt. Diese Nacht hatte ja auch ihm die Lust
wieder gebracht. Mit Freudigkeit erinnerte er sich jetzt wieder an das
Wort, das er sich gegeben. Menschen wie Apollonius ist's der höchste
Segen einer braven Tat, daß sie sich gestärkt fühlen zu neuem, bravem
Tun.

Die Menge unten schrie noch immer: Wo? Wo? und drängte sich
durcheinander, als der zweite Einschlag geschah. Alles stand einen
Augenblick von Schrecken gelähmt. »Gott sei Dank! es war wieder kalt!«
rief eine Stimme. »Nein! nein! dasmal brennt's! Erbarme sich Gott!«
entgegneten andere, scharfe Augen sahen, wenn zuweilen zwischen den
Blitzen Dunkel eintrat, die kleinen Flammen wie Lichterchen über die
Schiefer hüpfen. Sie suchten sich und lohten, wenn sie sich fanden,
zuckend in eine größere Flamme zusammen auf; dann flohen sie sich
tanzend und schlugen wieder zusammen. Der Sturm bog und dehnte sich hin
und her; zuweilen schienen sie zu verlöschen, dann züngelten sie noch
höher auf als vorhin. Sie wuchsen, das sah man, aber rasch war ihr
Wachstum nicht. Viel schneller und gewaltiger schwoll das neue Feuerjo
durch die ganze Stadt. In angstvoller Spannung bohrten sich alle Blicke
auf der kleinen Stelle fest. »Jetzt Hilfe, und es ist noch zu
verlöschen!« Und wieder klang angstvoll der Ruf: »Nettenmair! Wo ist
Nettenmair?« durch Sturm und Donner. Eine Stimme rief: »Er ist auf dem
Turm.« Alle Gemüter fühlten das wie eine Beruhigung. Und die meisten
kannten ihn nicht, selbst die meisten unter den Rufern. Und die ihn
nicht kannten, schrien am lautesten. In Augenblicken allgemeiner
Hilflosigkeit klammert sich die Menge an einen Namen, an ein bloßes
Wort. Ein Teil schiebt damit die Anforderungen des Gewissens zu eigenem
Mühen, zu eigenem Wagnis von sich; und diese sind's, die dem Helfer, hat
er nicht geholfen, dann unbarmherzig nachrechnen, was er getan und was
er nicht getan. Die andern sind froh, täuschen sie sich nur über den
nächsten Augenblick hinweg. »Was soll er?« rief einer. »Helfen! Retten!«
andere. »Und wenn er Flügel hätte, in dem Sturm wagt's keiner.« »Der
Nettenmair gewiß!« Im tiefsten Herzen wußten auch die vertrauendsten, er
wird's nicht wagen. Der Gedanke, daß die Flamme noch gelöscht werden
konnte, wenn sie nur zugänglich war, machte die allgemeine Empfindung
peinlicher, da er die stumpfe Ergebung hinderte, wozu die
unausweichliche Not mit milder Härte zwingt. Als die Ausfahrtür sich
öffnete und die herausgehaltene Leiter sichtbar wurde, als es schien, es
wagt es dennoch einer, wirkte das so erschreckend, als der Einschlag
selbst. Und die Leiter hing und schaukelte hoch oben mit dem Mann, der
daran hinaufklomm, von Schnee umwirbelt, von Blitzen umzuckt; die Leiter
hinauf, die wie aus einem Span geschnitten schien und wie eine Glocke
mit ihm schaukelte, in der entsetzlichen Höhe. Jeder Atem stockte. Aus
Hunderten der verschiedensten Gesichter starrte derselbe Ausdruck nach
dem Manne hinauf. Keiner glaubte an das Wagnis, und sie sahen den
Wagenden doch. Es war wie etwas, das ein Traum wäre und doch
Wirklichkeit zugleich. Keiner glaubte es, und doch stand jeder einzelne
selbst auf der Leiter, und unter ihm schaukelte der leichte Span im
Sturm und Blitz und Donner hoch zwischen Himmel und Erde. Und sie
standen doch auch wieder unten auf der festen Erde und sahen nur hinauf;
und doch, wenn der Mann stürzte, dann waren sie's, die stürzten. Die
Menschen unten auf der festen Erde hielten sich krampfhaft an ihren
eigenen Händen, an ihren Stöcken, ihren Kleidern an, um nicht
herabzustürzen von der entsetzlichen Höhe. So standen sie sicher und
hingen doch zugleich über dem Abgrunde des Todes, jahrelang, ein Leben
lang, denn die Vergangenheit war nicht gewesen; und doch war's nur ein
Augenblick, seit sie oben hingen. Sie vergaßen die Gefahr der Stadt,
ihre eigene über der Gefahr des Menschen da oben, die ja doch ihre
eigene war. Sie sahen, der Brand war getilgt, die Gefahr der Stadt
vorüber; sie wußten es wie in einem Traume, wo man weiß, man träumt; es
war ein bloßer Gedanke ohne lebendigen Inhalt. Erst als der Mann die
Leiter herabgeklommen, in der Ausfahrtür verschwunden war, und die
Leiter sich nachgezogen hatte, erst als sie nicht mehr oben hingen, als
sie sich nicht mehr an den eigenen Händen, Stöcken und Kleidern
festhalten mußten; da erst kämpfte die Bewunderung mit der Angst, da
erst erstickte der Jubel: »Zu, braver Junge!« in dem Angstruf: »Er ist
verloren!« Eine alterszitternde Stimme begann zu singen: »Nun danket
alle Gott!« Als der alte Mann an die Zeile kam: »der uns behütet hat,«
da erst stand alles vor ihrer Seele, was sie verlieren konnten und was
ihnen gerettet war. Die fremdesten Menschen fielen sich in die Arme,
einer umschlang in dem andern die Lieben, die er verlieren konnte, die
ihm gerettet waren. Alle stimmten ein in den Gesang und die Töne des
Dankes schwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und Plätze, wo
Menschen standen, die gefürchtet hatten, und drangen in die Häuser
hinein bis in das innerste Gemach, und stiegen bis in die höchste
Bodenkammer hinauf. Der Kranke in seinem einsamen Bett, das Alter in dem
Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt hielt, sang von ferne mit; Kinder
sangen mit, die das Lied nicht verstanden und die Gefahr, die abgewendet
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche und Sturm und Donner
die riesige Orgel darin. Und wieder erhob sich der Ruf: »Der Nettenmair!
Wo ist der Nettenmair? Wo ist der Helfer? Wo ist der Retter? Wo ist der
kühne Junge? Wo ist der brave Mann?« Sturm und Gewitter waren vergessen.
Alles stürzte durcheinander, den Gerufenen suchend; der Turm von Sankt
Georg wurde gestürmt. Den Suchenden kam der Zimmermann entgegen und
sagte, der Nettenmair habe sich einen Augenblick im Türmerstübchen zur
Ruhe gelegt. Nun drangen sie in den Zimmermann, er sei doch nicht
beschädigt? Seine Gesundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmermann
konnte nichts sagen, als daß Nettenmair mehr getan habe, als ein Mensch
im gewöhnlichen Lauf der Dinge zu tun imstande sei. Bei solchen
Gelegenheiten, wie die Rettung heute, sei der Mensch ein anderer;
hinternach erstaune er selber über die Kräfte, die er gehabt. Aber es
bezahle sich alles. Ihn -- den Zimmermeister -- solle es nicht wundern,
schliefe Nettenmair nach der gehabten Anstrengung drei Tage und drei
Nächte »in einem Ritt« hintereinander fort. Die Leute schienen bereit,
so lange auf den Treppen zu warten, um den Braven nur gleich nach seinem
Erwachen zu sehen. Unterdes hatte ein angesehener Mann auf dem nahen
Marktplatze eine Geldsammlung begonnen. Geld lohne freilich solch ein
Tun nicht, als der Brave heut bewiesen; aber man könne ihm wenigstens
zeigen, man wisse, was man ihm zu danken habe. In der Stimmung des
Augenblicks, die in jedem einzelnen wiederklang, liefen sogar anerkannte
Geizhälse hastig heim, ihren Beitrag zu holen, unbekümmert darum, daß
sie es eine Stunde später reuen würde. Wenige von den Wohlhabenderen
schlossen sich aus; die Ärmeren steuerten alle bei. Der Sammler
erstaunte selbst über den reichen Erfolg seiner Bemühungen.

Wohl eine halbe Stunde hatte Apollonius gelegen. Ehe er sich gelegt,
hatte er noch gesorgt, daß die Laternen vorsichtig ausgelöscht wurden.
Er hatte die Ausfahrtüre geschlossen und die Spritze leeren, die
Schläuche in die Türmerstube bringen lassen, damit der Frost keinen
Schaden daran bringen konnte. Er vermochte kaum mehr zu stehen. Der
Bauherr, der unterdes heraufgekommen war, hatte ihn dennoch halb mit
Gewalt in die Türmerstube hinunterbringen müssen. Dann hatte der Freund
die Türe von innen verriegelt, Apollonius genötigt, die gefrorenen
Kleider auszuziehen, und dann wie eine Mutter an seines Lieblings Bett
gesessen. Apollonius konnte nicht schlafen; der alte Mann litt aber
nicht, daß er sprach. Er hatte Rum und Zucker mitgebracht; an heißem
Wasser fehlte es nicht; Apollonius aber, der nie hitziges Getränk zu
sich nahm, wies den Grog dankend zurück. Der Geselle hatte unterdes
frische Kleider geholt. Apollonius versicherte, er finde sich wieder
vollkommen kräftig, aber er zögerte, aus dem Bette aufzustehen. Der Alte
gab ihm lachend die Kleider. Apollonius hatte sich vorhin unter der
Decke ausgezogen, und so zog er sich wieder an. Der Bauherr kehrte sich
ab von ihm und lachte durch das Fenster Sturm und Blitzen zu; er wußte
nicht, ob über Apollonius' Schamhaftigkeit, oder überhaupt aus Freude an
seinem Liebling. Er hatte oft bereut, daß er Junggeselle geblieben war;
jetzt freute es ihn fast. Er hatte ja doch einen Sohn, und einen so
braven, als ein Vater wünschen kann.

Auf dem Wege begann eine große Not für Apollonius. Er wurde von Arm in
Arm gerissen; selbst angesehene Frauen umfaßten und küßten ihn. Seine
Hände wurden so gedrückt und geschüttelt, daß er sie drei Tage lang
nicht mehr fühlte. Er verlor seine natürliche, edle Haltung nicht; die
verlegene Bescheidenheit dem begeisterten Danke, das Erröten dem
bewundernden Lobe gegenüber stand ihm so schön an, als sein mutig
entschlossenes Wesen in der Gefahr. Wer ihn nicht schon kannte,
verwunderte sich; man hatte sich ihn anders gedacht, braun, keckäugig,
verwegen, übersprudelnd von Kraftgefühl, wohl sogar wild. Aber man
gestand sich, sein Ansehen widersprach dennoch nicht seiner Tat. Das
mädchenhafte Erröten einer so hohen, männlichen Gestalt hatte seinen
eigenen Reiz, und die verlegene Bescheidenheit des ehrlichen Gesichts,
die nicht zu wissen schien, was er getan, gewann; die milde Besonnenheit
und einfache Ruhe stellte die Tat nur in ein schöneres Licht; man sah,
Eitelkeit und Ehrbegierde hatten keinen Teil daran gehabt.

                   *       *       *       *       *

Wir überspringen im Geiste drei Jahrzehnte, und kehren zu dem Manne
zurück, mit dem wir uns im Anfange unserer Erzählung beschäftigten. Wir
ließen ihn in der Laube seines Gärtchens. Die Glockentöne von Sankt
Georg riefen die Bewohner der Stadt zum Vormittagsgottesdienste; sie
klangen auch in das Gärtchen hinter dem Hause mit den grünen
Fensterladen herein. Dort sitzt er jeden Sonntag um diese Zeit. Rufen
die Glocken zum Nachmittagsgottesdienst, dann sieht man ihn, das
silberbeknopfte Rohr in der Hand, nach der Kirche steigen. Kein Mensch
begegnet ihm, der den alten Herrn nicht ehrerbietig grüßte. Nun sind es
bald dreißig Jahre her, aber es gibt noch Leute, die die Nacht miterlebt
haben, die denkwürdige Nacht, von der wir eben erzählten. Wer es noch
nicht weiß, dem können sie sagen, was der Mann mit dem silberbeknopften
Stocke für die Stadt getan in jener Nacht. Und was er den Morgen nachher
gestiftet, davon kann man Steine zeugen hören. Vor der Stadt am
Brambacher Wege, nicht weit vom Schützenhaus, erhebt sich aus
freundlichem Gärtchen ein stattlicher Bau. Es ist das neue
Bürgerhospital. Jeder Fremde, der das Haus besucht, erfährt, daß der
erste Gedanke dazu von Herrn Nettenmair kam. Er muß die ganze Geschichte
jener Nacht hören, die wackere Tat des Herrn Nettenmair, der dazumal
noch jung war; dann, wie man Geld für ihn gesammelt, und er die
bedeutende Summe an den Rat gegeben als Stamm zu dem Kapital, das der
Bau erforderte; wie sein Beispiel Frucht getragen, und reiche Bürger
mehr oder weniger dazu geschenkt und vermacht, bis endlich nach Jahren
ein Zuschuß aus der Stadtkasse Beginn und Vollendung des Baues
ermöglicht hatte.

War Herr Nettenmair aus der Kirche zurück, dann verbrachte er den Rest
des Sonntags auf seinem Stübchen -- denn da wohnt er noch immer -- oder
er machte einen Gang nach der nahen Schiefergrube, die jetzt ihm gehört
oder vielmehr seinem Neffen. Die Erfüllung des Wortes, das er sich
gegeben, war der Gedanke seines Lebens geblieben. Was er schaffte,
schaffte er für die Angehörigen seines Bruders; er sah sich nur als
ihren Verwalter an. Begegnete ihm auf seinem Wege ein zierliches,
kleines Mädchen, so dachte er an das tote Ännchen. Sein Gedächtnis war
so gewissenhaft als er selbst. Dann rief er das Kind zu sich,
streichelte ihm das Köpfchen, und es mußte wunderlich zugegangen sein,
fand sich in den Taschen des blauen Rockes nicht irgend etwas sorglich
in reines Papier Gewickeltes, das er herausnehmen konnte, sich von dem
kleinen Munde einen Dank zu verdienen. Aber das Kind konnte sich erst
freuen, wenn er vorübergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die
große Gestalt etwas so Ernstes und Feierliches, daß das Kind vor Respekt
nicht zur Freude kommen konnte. Die Woche über saß Herr Nettenmair über
seinen Büchern und Briefen oder beaufsichtigte im Schuppen das Ab- und
Aufladen, das Behauen und Sortieren der Schiefer. Punkt zwölf aß er zu
Mittag, punkt sechs zu Abend auf seinem Stübchen; dazu brauchte er eine
Viertelstunde, dann strich er mit leiser Hand über das alte Sofa und
bewegte sich drei andere Viertelstunden, war es Sommerszeit, im
Gärtchen. Mit dem ersten Viertelschlage von eins und sieben Uhr klinkte
er die Staketentür wieder hinter sich zu. Am Sonntag ist's anders; da
sitzt er eine ganze Stunde lang in der Laube und sieht nach dem
Turmdache von Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen, und der
Leser kennt alles, was dann durch Herrn Nettenmairs Seele geht, was er
abliest vom Turmdache von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber immer
noch schöne Frauengesicht gehört, das zuweilen durch das Staket und das
Bohnengelände daran zu dem Sitzenden herüberlauscht, das weiß der Leser
nun. Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die sich noch immer gern frei
macht, war noch dunkelbraun und voll, und hing auf eine faltenlose Stirn
herab, die Wangen darunter schwellte noch Jugendkraft, die Lippen
blühten noch und die blauen Augen glänzten, als sie dem Manne
entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er küßte sie leise auf die
Stirn und nannte sie mit dem Namen »Schwester«. Sie verstand, was er
meinte. Schon damals sah sie zu dem Manne hinauf, mit der Ergebung, ja
Andacht, mit der sie jetzt sein Sinnen belauscht, aber noch ein ander
Gefühl trat auf ihr durchsichtiges Antlitz.

Der alte Herr geriet in Zorn, als Apollonius ihm seinen Entschluß, nicht
zu heiraten, mitteilte. Er ließ dem Sohne die Wahl, die Ehre der Familie
zu bedenken oder nach Köln zurückzugehen. Apollonius' Herzen wurde es
schwerer, als seinem Verstande, den Vater zu überzeugen, daß nur er die
Familienehre aufrechtzuhalten vermöge und bleiben müsse. Er wußte, nur
seinem Entschlusse treu, blieb er der Mann, sein Wort zu halten. Das
konnte er dem Vater nicht sagen. Erfuhr dieser das wahre Verhältnis der
beiden jungen Leute, so drang er nur noch stärker auf die Heirat. Dann
hätte er ihm auch sagen müssen, wie sein Bruder den Tod gefunden. Er
hätte ihn nur tiefer beunruhigen müssen. Daß der Vater im Herzen
überzeugt war, der Bruder hatte durch Selbstmord geendigt, wußte er
nicht. Die beiden so nah verwandten Menschen verstanden sich nicht.
Apollonius setzte die innerliche Natur seines eigenen Ehrgefühls bei dem
Vater voraus, und der Alte sah in der Weigerung des Sohnes und dessen
Beweis, er könne der schwierigen Lage des Hauses gerecht werden, nur den
alten Trotz auf seine Unentbehrlichkeit, der es nun nicht einmal mehr
der Mühe wert hielt, zu verbergen: der Vater war in seinen Augen nichts
mehr als ein hilfloser, alter, blinder Mann. Und was diese
Mißverständnisse verursachte und begünstigte, das Zurückhalten, war eben
der Familienzug, den sie beide gemein hatten. Denselben Morgen hatte
eine Deputation des Rats Apollonius den Dank der Stadt gebracht; hatten
die angesehensten Leute der Stadt gewetteifert, ihm ihre Achtung und
Aufmerksamkeit zu beweisen. Ursache genug, eine ehrgeizige Seele zur
Überhebung zu reizen, Grund genug für den alten Herrn, dem Apollonius
als eine solche Seele galt, an dessen Überhebung zu glauben. Der alte
Herr mußte die Unentbehrlichkeit des Trotzenden anerkennen, und durfte
weder ein Recht noch eine Macht gegen ihn behaupten. Die Gemütsbewegung
und geistige Überanstrengung an dem Tag vor dem Tode seines älteren
Sohnes hatten seine letzte Kraft untergraben; nun brach sie vollends
zusammen. Von Tag zu Tag wurde er wunderlicher und empfindlicher. Er
verlangte von Apollonius keine Unterwerfung mehr; er fand eine
selbstquälerische Lust, in seiner diplomatischen Weise dem Sohne dessen
Unkindlichkeit vorzuwerfen, indem er beständig sein grimmiges Bedauern
aussprach, daß der tüchtige Sohn von einem alten herrschsüchtigen Vater,
der nichts mehr sei und nichts mehr könne, sich so viel gefallen lassen
müsse. Vergeblich war alles Bemühen des Sohnes, der Alte glaubte nicht
an die Aufrichtigkeit desselben. Dabei konnte er sich in seiner
Wunderlichkeit gleichwohl der Tüchtigkeit des Sohnes und der wachsenden
Ehre und des steigenden Wohlstandes seines Hauses freuen; wenn er sich
dies auch nicht merken ließ. Er erlebte noch den Ankauf der
Schiefergrube, die Apollonius seither in Pacht gehabt. Der Sohn ertrug
die Wunderlichkeiten des Vaters mit der liebend unermüdlichen Geduld,
womit er den Bruder ertragen hatte. Er lebte ja nur dem Gedanken, das
Wort, das er sich gegeben, so reich zu erfüllen, als er konnte; und in
diesem war ja auch der Vater mit eingeschlossen. Das Gedeihen seines
Werkes gab ihm Kraft, alle kleinen Kränkungen mit Heiterkeit zu
ertragen.

Den Tag nach der Gewitternacht hatte er dem alten Bauherrn seine ganze
innere Geschichte mitgeteilt. Der alte Bauherr, der bis zu seinem Tode
mit ganzer Seele an ihm hing, blieb sein einziger Umgang, wie er der
einzige war, dem sich Apollonius, ohne seiner Natur ungetreu werden zu
müssen, enger anschließen konnte.

Einige Tage nach der Nacht mußte sich Apollonius zu Bette legen. Ein
heftiges Fieber hatte ihn ergriffen. Der Arzt erklärte die Krankheit
erst für eine sehr bedenkliche, aber in ihr kämpfte nur der Körper den
Kampf gegen das allgemeine Leiden sieghaft aus, das geistig in dem
Entschlusse jener Nacht seinen rettenden Abschluß gefunden. Die
Teilnahme der Stadt an dem kranken Apollonius gab sich auf mannigfache
Weise rührend kund. Der alte Bauherr und Valentin waren seine Pfleger.
Diejenige, welche Natur durch Liebe und Dankespflicht zur sorglichsten
Pflegerin des Kranken bestimmt hatte, rief Apollonius nicht an sein
Bett, und sie wagte nicht, ungerufen zu kommen. Die ganze Dauer der
Krankheit hindurch hatte sie ihr Lager auf der engen Emporlaube
aufgeschlagen, um dem Kranken so nah zu sein als möglich. Wenn der
Kranke schlief, winkte ihr der alte Bauherr, hereinzutreten. Dann stand
sie mit gefalteten Händen, jeden Atemzug des Schlafenden mit Sorge und
Hoffnung begleitend, an dem Bettschirm. Unwillkürlich nahm ihr leiser
Atem den Schritt des seinen an. Sie stand stundenlang und sah durch
einen Riß im Bettschirm zu dem Kranken hin. Er wußte nichts von ihrer
Anwesenheit, und doch konnte der Bauherr bemerken, wie leichter sein
Schlaf, wie lächelnder sein Gesicht dann war. Keine Flasche, aus der der
Kranke einnehmen sollte, die er nicht, ohne es zu wissen, aus ihrer Hand
bekam; kein Pflaster, kein Überschlag, den nicht sie bereitet; kein Tuch
berührte den Kranken, das sie nicht an ihrer Brust, an ihrem küssenden
Munde erwärmt. Wenn er dann mit dem Bauherrn von ihr sprach, sah sie, er
war mehr um sie besorgt als um sich; wenn er freundlich tröstende Grüße
an sie auftrug, zitterte sie hinter dem Bettschirm vor Freude. Wenige
Stunden ruhte sie, und wehte der kalte Winternachtwind durch die locker
schließenden Laden die kalten Flocken in ihr warmes Gesicht, berührte
ihr eigener Hauch, auf der Decke gefroren, ihr eisig Hals, Kinn und
Busen, dann war sie glücklich, etwas um ihn zu leiden, der alles um sie
litt. In diesen Nächten bezwang die heilige Liebe die irdische in ihr;
aus dem Schmerz der getäuschten süßen Wünsche, die ihn besitzen wollten,
stieg sein Bild wieder in die unnahbare Glorie hinauf, in der sie ihn
sonst gesehen.

                   *       *       *       *       *

Apollonius genas rasch. Und nun begann das eigene Zusammenleben der
beiden Menschen. Sie sahen sich wenig. Er blieb in seinem Stübchen
wohnen, Valentin brachte ihm das Essen, wie sonst, dahin. Die Kinder
waren oft bei ihm. Begegneten sich die beiden, begrüßte er sie mit
freundlicher Zurückhaltung; damit entgegnete sie den Gruß. Hatten sie
etwas zu besprechen, so machte es sich jederzeit wie zufällig, daß die
Kinder und der alte Valentin oder das Hausmädchen zugegen war. Kein Tag
verging deshalb ohne stumme Zeichen achtender Aufmerksamkeit. Kam er am
Sonntag vom Gärtchen heim, so hatte er einen Strauß Blumen für sie, den
Valentin abgeben mußte. Er konnte gute Partien machen; es meldeten sich
stattliche Bewerber um sie. Er wies die Anträge, sie die Freier zurück.
So vergingen Tage, Wochen, Monde, Jahre, Jahrzehnte. Der alte Herr starb
und wurde hinausgetragen. Der brave Bauherr folgte ihm, dem Bauherr der
alte Valentin. Dafür wuchsen die Kinder zu Jünglingen auf. Die wilde
Locke über der Stirn der Witwe, die Schraube über Apollonius' Stirn
bleichten; die Kinder waren Männer geworden, stark und mild, wie ihr
Erzieher und Lehrherr; Locke und Schraube waren weiß; das Leben der
beiden Menschen blieb dasselbe.

Nun weiß der Leser die ganze Vergangenheit, die der alte Herr, wenn die
Glocken Sonntags zum Vormittagsgottesdienste rufen, in seiner Laube
sitzend, vom Turmdach von Sankt Georg abliest. Heute sieht er mehr
vorwärts in die Zukunft als in die Vergangenheit zurück. Denn der ältere
Neffe wird bald Anna Wohligs Tochter zum Altar von Sankt Georg und dann
heimführen; aber nicht in das Haus mit den grünen Fensterladen, sondern
in das große Haus daneben. Das rosige ist für das gewachsene Geschäft zu
klein geworden, auch hat der neue Haushalt nicht Platz darin; Herr
Nettenmair hat das große Haus über dem Gäßchen drüben gekauft. Der
jüngere Neffe geht nach Köln. Der alte Vetter dort, dem Apollonius so
viel dankt, ist lange tot, auch der Sohn des Vetters ist gestorben.
Dieser hat das große Geschäft seinem einzigen Kinde hinterlassen, der
Braut des jüngsten Sohnes von Fritz Nettenmair. Beide Paare werden
zusammen in Sankt Georg getraut. Dann wohnen die beiden Alten allein in
dem Hause mit den grünen Fensterladen. Der alte Herr hat schon lange das
Geschäft übergeben wollen; die Jungen haben es bis jetzt abzulehnen
gewußt. Der ältere Neffe besteht darauf, der alte Herr soll an der
Spitze bleiben. Der alte Herr will nicht. Er hat einen Teil der
Verlassenschaft des alten Bauherrn, den er beerbt, für den Rest seines
Lebens zurückbehalten; alles andere -- und es ist nicht wenig, Herr
Nettenmair gilt für einen reichen Mann -- übergibt er den Neffen; das
Zurückbehaltene fällt nach seinem Tode an das neue Bürgerhospital. Er
hat sein Wort wahr gemacht; der Deckhammer über seinem Sarge wird
ehrenblank sein, wie über wenigen.

Die junge Braut wehrt sich, alles anzunehmen, was die künftige
Schwiegermutter ihr geben will. Wenn diese alles gibt, eins wird sie
behalten; das Eine ist ein Blechkapsel mit einer dürren Blume; sie liegt
bei Bibel und Gesangbuch und ist ihrer Besitzerin so heilig als diese.

Die Glocken rufen noch immer. Die Rosen an den hochstämmigen Bäumchen
duften, ein Grasmückchen sitzt auf dem Busche unter dem alten Birnbaum
und singt; ein heimliches Regen zieht durch das ganze Gärtchen, und
selbst der starkstielige Buchsbaum um die gezirkelten Beete bewegt seine
dunklen Blätter. Der alte Herr sieht sinnend nach dem Turmdach von Sankt
Georg; das schöne Matronengesicht lauscht durch das Bohnengelände nach
ihm hin. Die Glocken rufen es, das Grasmückchen singt es, die Rosen
duften es, das leise Regen durch das Gärtchen flüstert es, die schönen
greisen Gesichter sagen es, auf dem Turmdach von Sankt Georg kannst du
es lesen: Vom Glück und Unglück reden die Menschen, das der Himmel ihnen
bringe! Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe
Stoff dazu; am Menschen liegt's, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel
bringt das Glück; der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen
Himmel selber in der eigenen Brust. Der Mensch soll nicht sorgen, daß er
in den Himmel, sondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn nicht in
sich selber trägt, der sucht vergebens im ganzen All. Laß dich vom
Verstande leiten, aber verletze nicht die heilige Schranke des Gefühls.
Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie sie ist; suche ihr gerecht zu
werden, dann wirst du dir gerecht. Und in diesem Sinne sei dein Wandel:

                      Zwischen Himmel und Erde!

    Typographmaschinensatz der Deutschen Buch- und Kunstdruckerei,
                  G. m. b. H., Zossen-Berlin SW. 11.




Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet.

Die Schreibweise des Originals wurde weitgehend beibehalten. Lediglich
offensichtliche Druckfehler wurden, teilweise unter Verwendung weiterer
Ausgaben des Textes, wie hier aufgeführt korrigiert (vorher/nachher):

   [S. 12]:
   ... Holzstämmen gestützt, zieht es sich längs des obern Stocks ...
   ... Holzstämmen gestützt, zieht sie sich längs des obern Stocks ...

   [S. 15]:
   ... wo man zur Deckung eines neues Gebäudes oder zu einer ...
   ... wo man zur Deckung eines neuen Gebäudes oder zu einer ...

   [S. 24]:
   ... unserm Helden lieb gewesen, der Bruder hätte sie auch im im ...
   ... unserm Helden lieb gewesen, der Bruder hätte sie auch im ...

   [S. 25]:
   ... alle Wege seines Denkens führten, so hielt er ihn, war er ...
   ... alle Wege seines Denkens führten, so hielt es ihn, war er ...

   [S. 26]:
   ... sie zugedacht war. Und unter den leisen, mechanisch
       fortgesetzen ...
   ... sie zugedacht war. Und unter den leisen, mechanisch
       fortgesetzten ...

   [S. 78]:
   ... schärfer auf dem Zuge war als selbst der im blauen Rock ...
   ... schärfer auf dem Zeuge war als selbst der im blauen Rock ...

   [S. 110]:
   ... floh? Wenn sie in Gedanken eine Brust umschlung, daran ...
   ... floh? Wenn sie in Gedanken eine Brust umschlang, daran ...

   [S. 127]:
   ... zu schwer werden. Konnte er den Vorfall nicht aufhalten, ...
   ... zu schwer werden. Konnte er den Verfall nicht aufhalten, ...

   [S. 164]:
   ... die Hand eines braven Mannes legte. Ännchens rosiges Gesich ...
   ... die Hand eines braven Mannes legte. Ännchens rosiges Gesicht ...

   [S. 171]:
   ... hat hundermal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was ...
   ... hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was ...

   [S. 280]:
   ... vielmehr seinem Neffen. Die Erfüllung des Wortes, daß er ...
   ... vielmehr seinem Neffen. Die Erfüllung des Wortes, das er ...






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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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