Die Schwestern Hellwege

By Otto Gysae

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Title: Die Schwestern Hellwege


Author: Otto Gysae

Release date: January 18, 2024 [eBook #72748]

Language: German

Original publication: Berlin: VdB, Wegweiser-Verlag G. m. b. H, 1923

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHWESTERN HELLWEGE ***


   Anmerkungen zur Transkription


   Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion
  des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche
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  Folgende Zeichen sind für die verschiedenen Schriftformen benutzt
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                                  Die
                          Schwestern Hellwege


   Dieses Buch wurde als dritter Band der vierten Jahresreihe für die
  Mitglieder des »Volksverbandes der Bücherfreunde« hergestellt und wird
      nur an diese abgegeben / Den Einband zeichnete Adolf Propp




                                  Die

                          Schwestern Hellwege

                                 Roman

                                  von

                              Otto Gysae

                            [Illustration]

                    Volksverband der Bücherfreunde
                       Wegweiser-Verlag G.m.b.H.
                              Berlin 1923




                                   I


Da stand der Sarg.

Frau Hellwege war am Dienstag gestorben, und morgen sollte sie das
bäuerische Landhaus verlassen, in dem sie seit des Rechtsanwalts
Hellwege Tod mit ihren vier Töchtern Sommer und Winter gelebt hatte.

Eine reiche Erziehung, die mit gutem Grunde die Einsamkeit der Heide
und die schwerfällige Besonnenheit der Torfbauern aufgesucht hatte,
blieb unvollendet. Vor den Kindern stand das Leben mit einer fragenden
Geste; die Mutter hatte eine Antwort bekommen, konnte sie ihnen aber
nicht mehr sagen.

Da stand nun der Sarg.

Er ruhte auf zwei Holzblöcken, die inmitten der Diele auf der
Strohmatte standen. Es war ein hoher, dämmeriger Raum. Im Hintergrunde
führten rechts und links Türen nach draußen; sie waren bis zu
Kopfeshöhe geschlossen. Durch den Ausschnitt darüber quoll warmes
Licht; in breiten Schichten flirrten Sonnenstäubchen. Sie berührten
das Kopfende des Sarges. Hinten saß ein grünschwarzes Dunkel, das die
Rückwand der Diele trauernd verhüllte. Vorn standen Schranke und alte
Truhen an den bläulichweiß gekalkten Wänden, die in dem Trauerschmuck
geringelter Eichenlaubgirlanden befremdet und ernst nach der Mitte
blickten.

Zu Füßen des Sarges lagen bäuerische Kränze in robusten Farben, noch
warm von der Mittagsonne, die stundenlang auf sie herniedergebrannt
hatte. Die vordere Tür stand weit offen, und draußen auf Kieswegen
und Rasenflecken war gelbes Licht. Ein surrendes Geräusch
kam von der geschwärzten Decke herab, wo Fliegen und Mücken
durcheinanderschwirrten, und ab und zu ein leise kratzendes Klirren der
Eichenblätter an den Wänden.

Sehr einsam stand der Sarg. Eine breite Stille hatte sich um ihn
gelagert und wachte bei ihm. Durch die Tür guckte mit scheuem Glucksen
ein Huhn, aber es traute sich nicht herein und lief mit federndem
Schritt wieder auf den Rasen.

Das Licht ging weiter und stand als ein graugoldener Streifen hinter
dem Sarge. Langsam sank der Sarg in Schatten.

Plötzlich kam eine Bewegung in das Licht. Es irrte umher und sammelte
sich dann in einer Fülle von blaßblondem Haar, das über schmale
Schultern herabflutete.

Evelyn trat schüchtern an den Sarg. Sie legte einen großen Strauß
Wiesen-Vergißmeinnicht auf den schwarzen Deckel. Wie waren die Knöchel
über den kindlichen nackten Füßen fein und intelligent! -- Sie schob
einen Kranz zurecht.

»Da ist nun mein süßes Muttel drin!«

Die Oberlippe zog sich in die Höhe, und die graublauen Augen sahen in
Fernen. Da glitten ihre Kinderjahre rauschend vorüber, und in Nebeln
stand die Zukunft hinter ihnen.

Sie machte eine Bewegung mit der Hand und ging nach der Tür, die vorn
zum Wohnzimmer führte. Die wurde von innen geöffnet. Marianne erschien
auf der Schwelle.

»Hast du ihr Blumen gebracht?« fragte sie die Kleine.

»Vergißmeinnicht!«

Marianne trat auf die Diele. Ihr junger Körper spottete des einfachen
Konfirmationskleides, das für seine weichen Formen zu eng war. Der
Stoff konnte die vollen Arme, die Linie der Hüften nicht verhüllen.
Aus den Ärmeln, die viel zu kurz waren, hingen die weißen Hände weit
heraus. »Es ist schön hier!« sagte sie langsam und blieb vor den
Kränzen stehen.

Evelyn hatte den Kopf auf die Seite geneigt.

»Möchtest du da drin liegen?« fragte sie. »Ich denke es mir schön,«
fuhr sie nach einer Weile fort. »Ganz lang sich ausstrecken, den Kopf
nach hinten gelehnt, und mein Haar so über die linke Schulter herüber.«

Sie faßte ihren blonden Reichtum mit beiden Händen und strich mit den
Fingern weich darüber hin. Marianne blickte sie scheu an.

»Und dann in die Erde?«

»Und dann liegen meine Hände auf dem Haar, hoch oben über der Brust,
weißt du, und zwischen den Fingern halte ich Vergißmeinnicht,« sie
überlegte einen Augenblick, »oder Margueriten --, was sieht zu meinem
Haar besser aus, Marianne?«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Und meine Augen mache ich leise zu, aber ich fühle die Sonne.«

»Du bist doch tot!« unterbrach Marianne schwerfällig. »Nachher kommen
Männer und legen einen schweren Deckel über dich und nageln ihn zu. Und
dann trägt man dich weg in das tiefe Loch ...«

»Daran denke ich nicht,« beharrte Evelyn. »Das ganze Dorf kommt dann
zusammen und steht hier vor mir. ›Wie schön sie ist!‹ sagen sie alle.
Und der Pastor steht zu meinen Füßen und spricht von der Blume, die nun
gebrochen ist, und Tante Laura macht ihr heiliges Gesicht, dicke Tränen
rollen über ihre Backen. Und ich blinzle ein bißchen, da kann ich von
allen grade die gelben Flachshaare sehen, und vom Pastor den breiten
schwarzen Rücken. Dann lache ich für mich.«

»Pfui, Evy!« sagte Marianne und kniete nieder, um die Kränze zu ordnen.
»An was du alles denkst! Bist du denn nicht traurig?«

»Ich habe Muttel lieber, als ihr alle. Aber davon kann ich doch nicht
sprechen!« sagte Evelyn leise. Marianne schüttelte den Kopf. Plötzlich
legte sie sich lang vor den Kränzen hin. Das Kleid strammte über ihre
Brust, und ihr Rock schob sich in die Höhe, daß man die runden Beine
sah.

»Siehst du! Nun legst du dich ja selbst hin!« lachte Evelyn auf.

»Das ist etwas anderes!« sagte Marianne.

Evelyn glitt zu ihr. Nun lagen sie nebeneinander, die Köpfe halb unter
den Blumen versteckt. Evelyn sah einer weißen Lilie in den Kelch.

»Hast du Angst vor dem Tode?« fragte sie nachdenklich.

Marianne sah mit halbgeöffneten Augen zur Decke hinauf.

»Ich weiß nicht. In den Himmel kommen, und Mama wiedersehen, und auch
Papa, das ist ja sehr schön. Aber, was tut man dort den ganzen Tag?«

»Da ist eine endlos weite Wiese,« sagte Evelyn langsam und schwelgend,
»und darüber blauer Himmel und Sonnenschein, Blumen sind da, viele
Blumen, und ich liege im Grase, lasse alle meine Glieder los, daß sie
mir garnicht mehr gehören und dann erzähle ich mir Märchen ...«

»Woher weißt du denn das alles?« fragte Marianne ungeduldig und
streckte die Beine wieder aus. Das Laub der Kränze raschelte bei der
Bewegung.

»Das weiß ich,« sagte Evelyn bestimmt. »Im Himmel ist alles so, wie ich
es mir wünsche.«

Marianne lachte kurz. »Das glaub ich nicht! Ich will jedenfalls erst
mal hier auf der Erde glücklich sein!«

»Wie willst du denn glücklich sein, wenn du Angst vor dem Tode hast?«
fragte Evelyn. Sie richtete sich auf, stützte die Hände auf die Matte
und sah ihrer Schwester ins Gesicht.

»Man muß eben gut sein hier auf der Erde!« sagte sie kleinlaut. »Dann
kommt man in den Himmel. Und dann braucht man sich vor dem Tode nicht
zu fürchten!«

Evelyn sah sie spöttisch an. »Deinen Himmel wünsche ich mir nicht!«
sagte sie energisch; dann ließ sie sich wieder auf der Matte nieder und
verschränkte die Arme unter dem Kopf.

Der Lichtstreifen hinter dem Sarge war mehr und mehr verblaßt und dann
verschwunden. Graublaue Dämmerung stand schweigend zwischen den Wänden.

Die beiden Mädchen träumten unter dem Sarge von einem fernen Glück.
Für Evelyn war es ein traumhaftes Jenseits, für Marianne eine heiße
Gegenwart, die schon vor der Tür stand und die Arme nach ihrem
sehnsuchtsvollen Leibe ausbreitete.

Violette Schleier senkten sich langsam von oben herab.

Marianne lag, ohne sich zu rühren, und fühlte ihr Blut rinnen.

Evelyn hob die Hand und strich über das Holz des Sarges. Da war eine
Stelle so weich. Sie glitt langsam darüber hin. Was mochte das sein?
Das Holz war hart; aber diese eine Stelle war ganz weich, wie Seide.
Sie faßte wieder hinauf; jetzt war es nur das harte Holz, aber nun
hatte sie es wieder, weiter oben. Sie richtete sich auf, um zu sehen,
was es eigentlich sei. Sie hob sich in die Höhe -- und dann schrie sie
auf. Eine haarige Raupe kroch langsam am Sarg hinauf. Evelyn floh nach
der Tür und begann plötzlich zu schluchzen.

Marianne wendete sich träge um.

»Was hast du?« fragte sie.

Evelyn weinte bitterlich.

Marianne erhob sich, erblickte die Raupe, nahm sie vorsichtig zwischen
Daumen und Zeigefinger, trug sie in den Garten und legte sie auf den
Rasen.

»Da ist doch nichts weiter dabei,« sagte sie gleichmütig.

Evelyn weinte nur noch heftiger.

»Mein armes Muttel! Mein armes Muttel!«

Die Tür zur Rechten tat sich auf, und Agnes Elisabeths rotes Haar wurde
sichtbar.

»Kinder, kommt zum Abendbrot!« sagte sie sanft und freundlich.

Marianne trat neben Evelyn und zog ihr die Hände von den Augen.

»Komm, sei vernünftig!«

Die Kleine sah eine Weile vor sich hin, dann warf sie den Kopf zurück
und folgte Marianne in das Wohnzimmer.

Ein großer Raum mit vier niedrigen Fenstern, vor denen weiße
Mullvorhänge mit roten Übergardinen hingen. Auf den Fensterbänken
blutrote Geranien und schmächtige Zimmerlinden mit großen Blättern.
In der Ecke ein rotes Sofa, mit altem Gobelinstoff überzogen, ein
zierlicher Damenschreibtisch, an dem Frau Hellwege ihre wenigen Briefe
geschrieben hatte, vor dem Kamin ein weißes Bärenfell, blasse Polster,
in der Mitte ein runder handfester Tisch. Um ihn herum Bauernstühle
mit grünen Seidenkissen, die von den Balltoiletten der Urgroßmutter
träumten. Auf der blankgescheuerten Holzplatte des Tisches war zum
Abendessen gedeckt.

Agnes Elisabeth saß schon an ihrem Platze und schnitt Brot. Der erste
Eindruck, den man hatte, war krauses rotgoldenes Haar, das wie Feuer
um ihren Kopf glühte, und eine feinknochige Figur. Sie war nicht
schön, das Gesicht kühn geschnitten, die Nase fein und fest, die Augen
blaßgrau.

Julie stand am Fenster. Ein Rest von Licht fiel auf das kapriziöse Ohr
und hob die geschwungene Linie, die zur Schulter lief, scharf heraus.
Es war ihre beste Linie. Julie liebte es, in der Dämmerung am Fenster
zu stehen. Sie wußte von dem mattgoldenen Schleier, der ihre Haut
schimmern ließ und alle Schatten ihres blaßblauen Leinenkleides weich
machte. Aber Julie war nicht eitel ...?

»Bleib sitzen, Agnes Elisabeth, laß mich eingießen!« sagte Evelyn, nahm
Tine Schwenke, die große Grünglasierte, ging mit ihr um den Tisch und
goß den Tee in die gelben, grünen, blauen Tassen.

»Dein Haar sieht wunderschön aus in diesem matten Licht.« Sie hatte
ihren Kummer schon vergessen und sah nur die Schönheit, die vor ihr
stand.

»Früher streute man Asche darauf, wenn man trauerte; das müßte dir
stehen! Wie grauer Spitzentüll!«

»Was du immer für verrückte Ideen hast, Evelyn,« sagte Marianne. Ihr
rundgeschweifter Rücken machte träge die Bewegung des Kauens mit. »Das
würde ein netter Schmutzkram werden! Komm, gib mir lieber mal etwas
Schinken!«

Evelyn lachte und schob ihr einen Teller hin.

»Du bist das materiellste Geschöpf, das ich kenne.«

»Man sieht ja auch, wo es bleibt!« warf Julie ein.

Marianne nahm sich ein Stück Schinken und sah über den Tisch. »Ich
weiß nicht, es ist so ungemütlich heute,« sagte sie. »Warum haben wir
eigentlich kein Tischtuch?«

»Julie findet es hübscher,« antwortete Agnes Elisabeth. »Warum soll sie
nicht ihren Willen haben? Schön finde ich es ja auch nicht.«

Marianne schüttelte den Kopf.

»Was tun wir nun mit unseren Kleidern?«

Julie lachte. »Wir können ja nachsehen; Vielleicht hängen unsere
Konfirmationskleider noch irgendwo auf dem Boden.« Sie strich langsam
über ihren bloßen Arm. »Dicke, wenn du nur so viel Schönheitssinn
hättest, wärest du heute nicht in diesem Auszug erschienen!« Sie
zeigte es an ihrem Fingernagel.

»Es gibt eben verschiedene Arten von Schönheitssinn,« sagte Evelyn.
»Marianne tut es auf ihre Weise. Sie liest jeden Abend in einem
Goldschnittbuch über Teintpflege; danach braut sie sich dann alles
mögliche zusammen, Salben und Tinkturen.«

Evelyn lachte.

»Davon hat sie auch ihre rosige Farbe,« sagte Julie.

Marianne schob die Unterlippe vor.

Evelyn lachte. »Komm, iß!«

»Nun seid mal still,« sagte Agnes Elisabeth. »Überlegt euch lieber mal,
wie wir es nun mit dem Trauern machen wollen. Wir können die Leute
nicht so vor den Kopf stoßen, wenn sie morgen zum Begräbnis kommen.
Denkt euch Tante Lauras Entsetzen. Wir haben sie schon genug verletzt,
weil wir sie jetzt nicht hier haben wollen.«

»Ach, sie ist nur unglücklich, weil sie nicht den ganzen Tag hier am
Sarg sitzen und weinen darf,« warf Julie ein.

»Ich habe noch mein Kleid von Vaters Tod, das zieh’ ich an,« sagte
Agnes Elisabeth bestimmt.

»Ich behalte das Kleid an, das ich jetzt trage!« gab Julie zurück.
»In dem hat Mama mich immer gern gesehen.«

In der Tür erschien Gesch Margret, das Mädchen, mit einem Kranz von
Lavendel, Reseden und Flocks.

»Hier, Fräulein Hellwege, ik schall ok velmals gröten von Fro
Klattenberg. Un de Fräuleins schullen man nich to trurig sin. Un denn
let se ok frogen, we dat mit denn Botterkoken to de Beerdigung wern
schull?«

»Schade, daß der Flocks drin ist, sonst wäre er hübsch,« warf Julie ein.

»Ja, Gesch Margret, ich denke, wir nehmen drei große Platten,« meinte
Agnes Elisabeth. »Und dann viel Kaffee.«

Gesche schluchzte hinter ihrer Schürze. Die grüne Tür schloß sich. Die
Gardine am Türfenster flatterte noch einen Augenblick hin und her.

Evelyn zog ihr Taschentuch heraus. Dann legte sie ihren bloßen Arm auf
den Tisch, beugte den Kopf darüber und weinte. Julie sah nachdenklich
zum Fenster hinaus; hinter der Sauberkeit der steifen Gardinen schwieg
die Abendluft. Marianne blickte an ihrer schwarzen Fülle hinunter.
Eine Stille kam langsam ins Zimmer und streckte sich schwer über die
Schwestern aus.

Da draußen vor der Tür lag die Mutter, das fühlten sie plötzlich
wieder. Der Tod stand drüben auf der dunkeln Diele; sie fühlten seine
Nähe. Nach einer Weile stand Agnes Elisabeth leise auf, ging zu Evelyn,
hob sie sanft auf und zog sie auf ihren Schoß. Evelyns Kopf fiel müde
an ihre Schulter. Agnes Elisabeths Hand glitt über die blasse Wange der
kleinen Schwester.

»Siehst du, Muttchen geht es nun gut. Nun hat sie keine Schmerzen mehr,
nur Ruhe, die sie immer so gern mochte.«

Der blonde Kopf schmiegte sich mit leisem Rascheln an das blaßgrüne
Kattunkleid.

Agnes Elisabeth wußte plötzlich, daß sie nun Evelyns Mutter war, daß
sie die Kleine liebhaben würde wie ihr Kind und auf sie achten und sie
beschützen würde.

»Wir haben Muttchen doch so lieb,« fuhr sie leise fort. »Darum freuen
wir uns, daß es ihr gut geht. Wir brauchen nicht zu weinen.«

Evelyn zog die Knie herauf und kauerte nun wie ein Kind auf der
Schwester Schoß. Agnes Elisabeth strich über die schmalen Beine und
die kleinen Füße. Die waren ganz kalt. Mit einer weichen, mütterlichen
Bewegung faßte sie hinüber nach dem Sessel, nahm den Schal und wickelte
die Füße hinein.

Die Kleine lag ganz still. Vielleicht wußte sie, daß sie doch noch eine
Mutter hatte?!

Julie stand auf und nahm ein Paket vom Schreibtisch.

»Ich kann wohl die Lampe anzünden?«

Agnes Elisabeth nickte und setzte sich mit Evelyn aufs Sofa; sie
schmiegte sich in die Kissen und sah vor sich hin. Evelyns Arme glitten
langsam herab. »Ich bin nämlich so müde, so müde, du!«

Gesch Margret kam, um abzudecken. Julie zündete die Hängelampe an.
Weiches Licht lag nun auf Tisch und Teppich; oben, durch einen seidenen
Schirm gedämpft, verlor es sich im Zwielicht.

Marianne ließ sich in den Schaukelstuhl sinken.

»Hol dir doch eine Handarbeit, Marianne,« sagte Agnes Elisabeth. »Du
kannst doch nicht immer so faul im Lehnstuhl sitzen.«

»Hm!« machte Marianne, stand schwerfällig auf und kramte in einer
Schieblade.

Julie öffnete das Paket, breitete Briefe vor sich aus und begann sie zu
ordnen.

»Was hat Mama doch für eine feine Handschrift gehabt!« sagte sie. »Ich
glaube, Mama hat früher sehr gern geschrieben.« Sie legte die Briefe
aufeinander. »Noch aus der Mädchenzeit, an die Großeltern, ›Mein lieber
Ernst, 26. Juni‹, das muß ihr erster Brautbrief gewesen sein.«

»Laß mich sehen!« sagte Marianne schnell und kam eilig an den Tisch.

»Setz dich hin,« wehrte Julie ab. »Erst will ich sie ordnen.«

Marianne setzte sich mit einer Stickerei -- Frau Hellwege hatte sie
noch begonnen -- in den Schaukelstuhl und machte ein paar träge Stiche.

»Ob es eigentlich indiskret ist, diese Briefe zu lesen?« fragte Julie.
»Vielleicht sollte man sie besser verbrennen! Sie sind doch nicht für
uns bestimmt.«

»So war Mama doch nicht,« sagte Agnes Elisabeth. »Sie hat mir manchmal
daraus vorgelesen.«

»Außerdem ist es sehr interessant,« warf Marianne ein.

»Das wäre kein Grund!«

»Vielleicht können wir auch etwas daraus lernen!«

»Willst du mir die Briefe mal geben,« bat Agnes Elisabeth; »ich weiß
einen, der ist so schön!«

Julie reichte ihr ein paar hinüber. Agnes Elisabeth suchte eine Weile
und zog dann einen dünnen, blauen Bogen heraus und entfaltete ihn.

»17. Oktober, ›du sagtest neulich, daß Schönheit ein Schmuck unseres
Lebens sein sollte‹, ja, dieser ist es.« Sie gab ihn Julie. »Willst
du ihn vorlesen?«

Julie rückte näher an den Tisch heran und beugte sich über den Brief.
Ihre krausen Haare hingen zitternd herab und berührten den Bogen. Sie
begann:

»Du sagtest neulich, daß Schönheit ein Schmuck unseres Lebens sein
sollte. Ich habe lange darüber nachgedacht und habe gefunden, daß ich
hierin anderer Meinung bin. O, nicht nur dies! Es handelt sich nicht
um eine Meinung, die ich dir zuliebe gern daran geben würde. Hier
geht es um mein ganzes inneres Leben. Ich weiß nicht, ob du mich ganz
verstehen wirst, Ernst. Sieh, Schönheit ist das erste, was ich zum
Leben brauche, ebenso notwendig brauche wie Essen und Trinken. Wenn ich
an mein bisheriges Leben zurückdenke: wie einsam war es! Ich fand bei
den Eltern wenig Verständnis, noch seltener eine Anregung. Die Tage
gingen dahin, einer wie der andere, wie eine abgeleierte Melodie. Was
wäre aus mir geworden, wenn ich nicht selbst zugefaßt und mit beiden
Händen, soviel ich nur fassen konnte, Schönheit in mein trauriges
Dasein hineingetragen hätte. Ich wäre ja verkommen.

So aber habe ich mir ganz vorsichtig und leise, daß kein anderer davon
merkte, ein kleines Haus gebaut. In dem wohnte ich ganz allein, mit
allen meinen Träumen; die erwachten dort langsam zu einer weichen,
bunten Wirklichkeit. Nur dort habe ich mein Leben gelebt. Den anderen
war ich ein ruhiges, immer williges Wesen, das braune Kleider trug und
niemanden störte.«

Agnes Elisabeth lächelte.

»Diese braunen Kleider! Weicher, wolliger Kaschmir, und die schmale
weiße Spitzenkrause am Halse!«

»O wie glücklich war ich in meinem Haus! Alles, was sich darin befand,
und alles, was ich dort tat, war schön! Es gab keine häßliche Linie. Du
kannst dir denken, daß ich es schließlich nicht mehr verlassen wollte.
Ich trug es also mit mir herum. Und mit jedem Tage lernte ich es noch
mehr liebhaben. Wenn etwas Rauhes, Häßliches von draußen kam, kroch
ich schnell in meinen kleinen Winkel zurück, zog die spinnwebfeinen
Schleier über mein Gesicht und ließ die Sonnenstäubchen in meinem Haar
flimmern. Dann konnte mir niemand etwas tun. Und so habe ich immer nur
von Schönheit gelebt, von Blumen, Licht und Farben, von weiter Ruhe und
feingetönten Stimmungen.

Und nun willst du, daß Schönheit nur eine kleine äußerliche
Annehmlichkeit sein soll, wo sie doch allein meinem Leben seinen Wert
geben kann?! Nun soll ich sie umtun wie einen Sonntagsschmuck, wie eine
dünne goldene Kette, und ist doch mein braunes Kleid, das ich alle Tage
trage!

Schreibe mir bald, daß du mich so haben willst, wie ich bin.

                                                                Agnes.«

Aus Mariannes Stuhl kam ein langgezogenes »Ach!« Ihre volle weiße Hand
zog gelangweilt einen Faden durch den Kanevas.

Julie hielt das Briefblatt vor ihr Gesicht.

»Dieser feine violette Duft! Findest du nicht, Agnes Elisabeth, daß
Duft eine Farbe hat?«

»Es wird Lavendel gewesen sein.«

Marianne lehnte den Kopf zurück und zog den Atem langsam durch die
Nase. »Ich möchte mich am liebsten in Parfüm baden.«

»Nur das nicht!« entgegnete Julie schnell. »Daß du uns wieder solchen
Moschusgeruch ins Haus bringst wie neulich. Ich mag nur frischen,
herben Geruch, von harzigem Holz oder nasser Wiesenerde.«

Evelyn verzog ihr Gesicht und riß die Augen auf.

»Ich dachte, ich läge schon lange in meinem Bett. Und nun sitzen wir
hier alle noch!«

»Bist wie ein großes Baby auf meinem Schoß eingeschlafen,« sagte Agnes
Elisabeth. »Komm, Marianne, pack’ deine Arbeit zusammen.«

Marianne stand auf. »Schläfst du heute nacht wieder bei uns, Julie?«

»Nein, ich sage dir ja, ich bleibe in Mamas Zimmer.«

»Daß du das magst! In einem Bett, in dem eben erst jemand gestorben
ist!?«

Julie zuckte die Achseln.

Die Schwestern gingen zur Ruhe. Evelyns Hand glitt noch einmal über
den Sarg. »Morgen bring’ ich dir wieder frische Blumen!« flüsterte sie.

                   *       *       *       *       *

Nun war das ganze Haus eingeschlafen.

Agnes Elisabeth schloß behutsam die Wohnstubentür. Ihr Kleid streifte
die Kränze am Sarg. In der Hand hielt sie eine kleine Petroleumlampe,
die sie auf eine Truhe an der Wand setzte. Die Kuppel klirrte eine
Weile. Von der Decke glitt eine sammetbraune Motte und zog langsam um
das Licht. Agnes Elisabeth blickte sinnend auf den rosig leuchtenden
Alabasterfuß und in das trübe Petroleum. Dann wendete sie sich um.

Die Schatten der Nacht zeichneten den Sarg übernatürlich, hoben ihn
gleichsam in die Höhe. Die Kränze hatten sich zu einer dunkeln Masse
zusammengetan. Da starrten wohl noch einige aufrecht wie Schildwachen,
aber die meisten waren müde zusammengesunken. So lagen sie da, alle
beieinander, die bunten Gewinde von den reichen Bauern, der dünne
Tannenkranz von der alten Nortorf, mit seinen paar roten Fensterblumen,
-- sie hatte so manches Kleid für Frau Hellwege gemacht --, die
anspruchsvollen Maréchal-Niel-Rosen vom Vormund, die schönen und
die häßlichen: die Nacht hatte sie alle gleichgemacht, hatte allen
Blumenduft in sterbenden Modergeruch verwandelt.

Agnes Elisabeth wußte nicht, wie lange sie da gestanden hatte. Sie
fühlte nur, wie ihre Arme schwer in den Gelenken hingen. Plötzlich
hörte sie ein sprödes Schluchzen. Als ob eine Stimme sich aus allen den
toten Blumen losgerungen hätte! Erst als Tränen sich zögernd von ihren
Augen lösten und den Weg über ihr Gesicht suchten, wußte sie, daß das
Schluchzen von ihr gekommen war.

Sie sah sich hilflos um. Da war ein alter Strohstuhl neben der Truhe.
In dem kauerte sie sich zusammen; sie stützte ihre Arme auf die Knie
und legte das Gesicht in beide Hände.

In der Ecke stand der grüne Schrank; oben hinter dem geschweiften
Aufsatz war eine Schar von Einmachegläsern aufgebaut. Von da oben
herunter glitt langsam etwas Schwarzes, Weiches. Es stand einen
Augenblick still, lang und geschmeidig. Das war die alte Katze. In dem
hochgehobenen Schwanz bebte ein Zittern. Die glasigen Augen sahen sich
suchend um. Dann schob sie ihren Körper mit streichelnder Bewegung nach
vorn. Die Pfoten ließen den Sand auf der Diele nur eben schnurren.
Sie kam langsam am Sarg vorüber, schnüffelte an den Kränzen vorbei,
blinzelte zur Lampe hinauf und rieb ihren Rücken an Agnes Elisabeths
Kleid.

Die fuhr mit einem kleinen Schreck in die Höhe, als wüßte sie nicht
recht, wo sie wäre.

»Ach, das bist du, gute alte Miese! Willst mir Gesellschaft leisten?«
Sie hob die Katze auf ihren Schoß. »Siehst du, nun sind wir drei ganz
allein! Sie,« sie hob den Zeigefinger nach dem Sarge, »du und ich.«

Die Katze fing leise zu schreien an.

»Ach so!«

Sie setzte das Tier hin, stand auf und ging in die Küche. Mit einer
Schale voll lauwarmer bläulicher Milch kam sie zurück. Die schmale
Katzenzunge schleckte durstig.

Agnes Elisabeth griff nach ihrem Strickstrumpf. Die Nadeln klirrten
eintönig. Die Katze leckte.

Das Lampenlicht ruhte sich auf Agnes Elisabeths rotem Haar aus. Die
Schatten träumten leise hin und her.

Die Diele lag ausgestreckt und schlief schwer und fest.

Und die Stille schwieg über allem.




                                  II


Die blauen Rouleaus waren heruntergelassen, nur die zwei Fenster nach
der Schattenseite waren offen geblieben. Hinter ihnen sah man einen
schmalen Kiesweg, eine dichte Hecke mit harten stachligen Blättern
und ein Stück blauen Himmels. Die Luft stand kühl im Zimmer. Nur
strichweise lag ein leiser Tapetengeruch. Das bläuliche Licht macht
alles gleichgültig und nüchtern. Auf dem rechten Rouleau streckte sich
der Schatten eines großen Efeublattes und glich einer Menschenhand, die
den Pergamentstoff leise schaukelte. In dem goldenen Empirespiegel sah
man wieder das Rouleau, das grünlichblau herübernickte, und davor den
grauweißen Mullbeutel der Lampe, der mit Fliegenpunkten bedeckt war.

Draußen atmete ein Klingen, gleich einem Blinzeln der Sonnenhitze,
die im Garten hing. Durch die Ritze zwischen der Fensterbank und der
blauen Kante kam es herein und glitt auf dem Teppich müde hin und her.
Es war eine Glocke, die am anderen Ende des Dorfes zu Frau Hellweges
Begräbnis geläutet hatte und nun wieder einschlief. Auf der Diele
erwachte ein verworrenes Geräusch von Stimmen. Ein Huhn gluckste,
Schritte schlürften. Die Türklinke bewegte sich und wurde mit einem
harten Ton heruntergedrückt. Das Rouleau bebte, schrak auf. Das Zimmer
erwachte.

Die Tür öffnete sich. Eine Welle von gelbem Licht flutete herein.
Marianne stand auf der Schwelle.

»Nein, diese Tante Laura!« sagte sie empört. »Hast du gesehen, Julie,
wie sie die Tränen in den Augen zerdrückte!«

Julie trug einen Teller mit Butterkuchen herein.

»Das ist alles, was sie übergelassen haben.«

Julie verzog die Nase.

»Neben mir stand der junge Klattenberg, der roch nach Pomade! Ich
mußte an dich denken.« Sie sah geradeaus. Die feine Linie um den Mund
verschärfte sich; ihre Hand strich langsam vom Ohr über den bloßen
Hals. »Jedenfalls ist mir über all dieser Unwahrheit meine eigene
Trauer ganz verloren gegangen. Ich freute mich, wie der Sarg endlich
hinuntergelassen war und ich die Stimme des Pastors nicht mehr zu
hören brauchte.«

Gesche kam mit rotgeschwollenen Augen und brachte ein Teebrett. Julie
setzte die Tassen auf den Tisch.

»Was hattest du eigentlich für eine lange Unterhaltung mit dem
Schullehrer?« fragte sie.

Marianne wurde verlegen und sah weg. »Ach, nichts weiter! Er hat mir
kondoliert.«

»Na,« lachte Julie zweifelnd. Und dann eine abwehrende Handbewegung:
»Er hat so große Hände!«

Marianne wendete sich kurz ab.

»An dir ist doch auch nichts Ideales.«

Julie lachte.

Agnes Elisabeths ruhiges Gesicht und Evelyns blasse Wangen, auf denen
noch Spuren von Tränen zu sehen waren, erschienen in der Tür.

»Ist alles fertig, Julie? Sie kommen gleich.«

»Ja, hoffentlich reicht der Kuchen. Weinen macht hungrig!« sagte
Julie böse.

Evelyns verweintes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

Gesche öffnete die Tür. Der Vormund und seine Frau, dahinter Tante
Laura, kamen gefühlvoll gebeugt herein. Auf ihren Gesichtern lag noch
der letzte pietätvolle Satz zur Ehrung der Seligen.

Agnes Elisabeth gab den dreien die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.

Tante Lauras Fülle versank im Sofa. Sie schaute schmerzvoll zur Decke
hinauf.

Julie und Marianne gaben sich einen Ruck, standen auf, gossen Kaffee
ein und setzten sich zu den andern.

Tante Sophie, die Frau des Vormundes, zog Evelyn auf den Stuhl neben
sich. Nach einer Weile strich der Vormund seinen rötlichblonden
Schnurrbart, zog ein leise nach Kampfer riechendes Taschentuch heraus
und schneuzte sich geräuschvoll.

Marianne streckte ihre runden Finger aus, befeuchtete sie und pickte
langsam die Krumen vom Teller.

Der Vormund räusperte sich, schob seinen Stuhl zurück und begann:

»Da wir noch Zeit haben, liebe Agnes, würde ich gern mit dir
besprechen, wie ihr euch nun eure nächste Zukunft denkt. Habt ihr
schon irgendwelche Pläne?«

Agnes Elisabeth strich die Kaffeeserviette glatt.

»Nein, wir dachten alles beim alten zu lassen.«

Tante Laura bewegte ihren Kopf energisch hin und her.

»Nun, hier auf dem Lande könnt ihr doch unmöglich bleiben!«

Marianne hob träge den Kopf und sah zu der Tante hinüber.

»Denkst du denn, wir lassen unser Haus im Stich?!«

»Ihr könnt es ja als Sommerwohnung behalten,« meinte der Vormund, »wie
es sich euer Vater auch anfänglich gedacht hat. Das Haus in der Stadt
ist jetzt zwar noch vermietet; der Kontrakt läuft aber zum Oktober ab,
und ich könnte am 1. Juli noch kündigen. Eure Verhältnisse sind ja,
Gott sei Dank, so, daß ihr zwei Häuser bewohnen könnt. Und für Evelyns
Stunden ist es doch überaus wünschenswert, daß ihr, wenigstens im
Winter, in der Stadt wohnt.«

»Ich danke dir herzlich für deine Bemühungen, Onkel Wilhelm,« sagte
Agnes Elisabeth. Sie legte den Kopf zurück und setzte in energischem
Tone hinzu: »Wir wollen hier draußen bleiben! Mit Evelyn ist es ja
bisher sehr gut gegangen; eine Änderung für dieses halbe Jahr ist wohl
nicht nötig.«

Evelyn neigte den blonden Kopf ein wenig zur Seite. »Laß uns nur nicht
weggehen!«

»Wir passen überhaupt nicht mehr in die Stadt!« warf Julie ein. »Hier
kümmert sich kein Mensch um uns. Hier sind wir glücklich!«

Der Vormund wiegte den Kopf.

»Ihr seid sonderbare Geschöpfe! Warum wollt ihr euch denn so
abschließen? Ihr habt hier ja nichts von eurem Leben! Euch fehlt jede
Anregung!«

Julie richtete ihren Oberkörper straff auf und schob die Hände vor.

»Onkel Wilhelm!«

Tante Sophie nickte ihr begütigend zu.

Der Vormund wendete sich und sprach über die Schulter zu Julie: »Bestes
Kind, ~was~ habt ihr denn? Moor, und nochmals Moor, Heide und
endlose Wasserzüge. An Verkehr ...«

»Ungeschliffene, schmutzige Bauern!« ergänzte Tante Laura.

»Aber einen Pfarrer!« sagte Marianne; ihre weiße Hand machte eine
kleine segnende Bewegung.

»Und einen Lehrer!« warf Julie mokant ein.

»Na ja, daß das sehr viel ist, könnt ihr doch wirklich nicht
behaupten,« meinte der Vormund. »Habt ihr denn gar nicht einmal das
Verlangen nach Konzerten ...?«

»Aber Herr Craner!« meinte Tante Laura vorwurfsvoll. »Bedenken Sie
doch, jetzt im Trauerjahr! Eure liebe Mutter freilich ...«

»Die ist tot!« rief Julie ungeduldig. »Laß sie doch in Frieden!«

Tante Lauras Busen wogte vor Entrüstung. Die Jettkette klirrte hin und
her.

»Na ja,« lenkte der Vormund ein; »wir können uns das ja noch überlegen!
Solche Eile hat es ja nicht! Aber eine Hausdame müßt ihr unbedingt
haben!«

Tante Laura hüstelte vom Sofa her.

In Agnes Elisabeths Augen kamen Tränen. Sie beugte sich weit vor. »Wir?
In unser schönes stilles Haus ein fremdes Wesen, das immer da ist und
uns nichts angeht!? Nein! Wir vier wollen allein bleiben!«

Tante Sophie legte leise ihre Hand auf Agnes Elisabeths Schulter.

»Wir wollen euch ja keine Fremde ins Haus bringen,« sagte sie herzlich.
»Tante Laura hat sich erboten, Mutterstelle an euch zu vertreten.«

»W--w--was?« schrie Marianne ungezogen.

Der Vormund warf ihr einen verweisenden Blick zu.

Tante Laura setzte sich in Positur, wie ein aufgeplusterter Spatz. »Ihr
wißt, ich habe eure gute Mutter so lieb gehabt!« sagte sie. »Es ist mir
wie eine Aufgabe vom lieben Gott geworden, euch die Heimgegangene nach
besten Kräften zu ersetzen. Darum will ich das Opfer bringen und ...«

Julie lachte.

Über Agnes Elisabeths Gesicht ging ein Unbehagen. Sie schloß hochmütig
die Augen; ihre Stimme schien von weit dahinten zu kommen.

»Es ist sehr liebenswürdig von dir, Tante Laura, aber dieses Opfer
nehmen wir natürlich unter keiner Bedingung an! Ich bin jetzt
sechsundzwanzig Jahre und, glaube ich, alt genug, hier mit den
Schwestern allein zu leben.«

Tante Lauras Augen schillerten hinter den roten Sammetpolstern ihrer
Wangen. Sie spitzte den Mund zu einem milden Lächeln. »Nun, ich will
mich nicht aufdrängen! Ich meinte es nur gut mit euch! Und ich weiß,
ihr werdet noch einmal entbehren, was ihr heute von euch gewiesen habt.«

Tante Sophie machte eine gewandte Bewegung.

»Agnes Elisabeth hat wohl nicht so unrecht! Sieh mal, du als ältere
Dame ...«

Der Vormund zog langsam das Augenlid herunter und faßte an seine
Wimpern. »Tja, Agnes Elisabeth, da ist nicht viel zu machen, bei
eurer Selbständigkeit! Versucht’s denn in Gottes Namen!«

Agnes Elisabeth lächelte befreit.

»Ich werde natürlich oft herauskommen und nach euch sehen! Hoffentlich
geht alles gut! Und Evelyn ... Na ja, man muß sehen!«

»Evelyn kommt Ostern zu uns,« sagte Tante Sophie freundlich. »Das hat
mir deine Mama noch versprochen, Evelyn. Kommst du auch gern?!«

Evelyn nickte.

»Dann können wir wohl gehen!« sagte Tante Laura, erhob sich
schwerfällig und faßte nach ihrer Pelerine. Julie half ihr eilfertig.

»Dann machst du eine hübsche Reise mit uns!« sagte Tante Sophie zu
Evelyn. »Wir werden uns schon gut vertragen.«

Tante Laura knöpfte an ihrer Pelerine. »Was macht ihr denn mit Mamas
alten Sachen?« erkundigte sie sich bei Agnes Elisabeth.

»Das haben wir uns noch nicht überlegt!« gab diese gereizt zurück.

»Ich glaube, es ist nun Zeit,« meinte der Vormund, sah nach der Uhr und
stand auf. »Ich komme nächstens einmal heraus. Wahrscheinlich schicke
ich dir vorher noch einige Papiere, die du unterschreiben mußt. Mein
Bruder bringt sie dir vielleicht; er wollte sowieso mal einen Ausflug
ins Moor machen.«

»Es ist schrecklich, daß wir dir so viele Mühe machen, Onkel Wilhelm,«
sagte Agnes Elisabeth.

»Na, na, ich tu’ es ja gern!« brummte er gutmütig. »Denn, ade, ihr
Moorkatzen!« Er gab den Schwestern die Hand.

Tante Laura konnte es sich nicht versagen, der erschrockenen Evelyn
einen lauten Kuß zu geben. Julie bog ihr noch geschickt aus.

Die Schwestern blieben im Zimmer. Agnes Elisabeth begleitete die
Verwandten durch den Vorgarten.

Die beschnittenen Linden breiteten sich schwer und duftend vor der
Giebelseite des Hauses. Unter ihnen, gegen die weißgetünchte Hauswand
gelehnt, standen links und rechts zwei grüne Bänke, neben ihnen in
weißen Kübeln schlanke Lorbeerbäumchen. Der schmale buchsbaumgefaßte
Kiesweg führte abschüssig nach dem weißen Holzgitter, mitten durch
grünen Rasen, vorbei an tiefroten und rosaweißen Malvenstöcken.

»Wie hübsch sauber ihr alles habt!« meinte Tante Sophie im Vorübergehen.

»Habt noch vielen Dank!« sagte Agnes Elisabeth und klinkte die Pforte
hinter ihnen wieder ein. Durch den mehligen Staub der Chaussee, an
den großen Bauernhöfen vorüber, gingen nun die drei. Breitgewachsene
Kastanien waren zu beiden Seiten postiert. Ihre eiförmigen grünen
Schatten lagen in regelmäßigen Abständen auf dem farblosen Grund; mit
den sonnenbeschienenen Zwischenräumen bildeten sie eine Kette von
Langeweile.

Tante Laura stöhnte.

Wilhelm Craner seufzte; dann pfiff er vor sich hin.

»Von Trauer war da nicht viel zu merken!«

»Du weißt ja, sie sind anders, als andere Menschen,« meinte Sophie.

Laura Bassemanns Sonnenschirm entfaltete sich.

»Wie das noch enden soll! Die Julie ist schon ganz von Agnes Elisabeths
verrückten Ideen angesteckt.«

»Das ist schließlich Schuld der Mutter,« meinte der Rechtsanwalt. »Ich
habe ihr oft genug vorgestellt, sie solle die Kinder nicht hier in die
Einsamkeit vergraben. Aber sie konnte von ihrem kleinen Haus nicht
lassen.«

Sophie Craner nahm ihr Kleid höher. »Die beste Lösung wäre, Agnes
Elisabeth verheiratete sich.«

»Ihr Bruder, Herr Craner,« meinte Laura Bassemann geschwätzig. »Sollte
das nicht was sein!?«

Craner hörte nicht auf sie.

Das Dorf lag hinter ihnen. Links und rechts von der Chaussee streckte
sich die Heide, die endlose, flimmernde Heide. Stahlblaue verglaste
Gräben mit fetter Moorerde an den Rändern, kleine Getreidestriche, hin
und wieder eine Birke, die ihre weißen Glieder dehnte. Darüber der
Himmel wie eine riesige, in weißer Glut schwingende Glocke. Craner sah
sich um.

»So unrecht haben die Mädels eigentlich nicht, wenn sie sich von diesem
Fleck Erde nicht trennen wollen!«

Es kam keine Antwort. Nur Sophies Kleid rauschte.

Das Stationsgebäude träumte abseits an einem Seitenwege. Davor
ein Laternenpfahl, über und über mit Rosen bewuchert, darunter
ein kläffender Köter, auf der Bank vor dem Haus eine eingenickte
Bauernfrau, in der Tür würdig der Vorsteher.

»Hier sieht es allerdings sehr nach Anregung aus!« meinte Laura
Bassemann. »Sie werden schon noch verkommen.«

»Sie hätten sie auch nicht davor bewahrt!« sagte der Rechtsanwalt
gereizt.

Fräulein Bassemann hob ihren Kleiderrock hoch, daß man die weißen
baumwollenen Strümpfe leuchten sah, und beguckte sich ihren
steifgestärkten Unterrock.

»Netter Staub!«

Dann kam die Sekundärbahn lärmend durch die Heide daher. Die drei
stiegen ein. Sophies ruhiges Gesicht sah noch einmal durch das
Coupéfenster. Dann setzte sich die kleine Maschine wieder in Bewegung.
Die vier Wagen klapperten einträchtig hintereinander her. Die Heide
nahm sie auf. Eine weiße Wolke nickte noch einmal herüber. Der
Vorsteher schob die rote Mütze zurück und trat ins Haus. Die Sonne
schien weiter.




                                  III


Evelyn hockte mit hochgezogenen Knien auf einem Stuhl in Julies Zimmer.
In ihren Händen lag ein dickes Gesangbuch. Die kleinen Finger spielten
mit den silberbeschlagenen Ecken. Mit murmelnder Stimme lernte sie:

                     »Keiner Gnade sind wir wert,
                     Doch hat er die Gnadenpforte
                     Hier uns ...«

Sie stockte und warf verstimmt den Kopf nach hinten. Ihr bloßer Fuß
sah unter dem Kleid hervor und trommelte eine ärgerliche Melodie. Sie
öffnete das Buch und las mit leiernder Betonung:

                     »Keiner Gnade sind wir wert,
                     Doch hat er in seinem Worte
                     Endlich sich dazu erklärt;
                     Sehet nur, die Gnadenpforte
                     Ist hier völlig aufgetan«

Sie klappte das Buch zu und rasselte den Schluß herunter:

                     »Jesus nimmt die Sünder an!«

Julie wandte den Kopf vom Schreibtisch herüber, sah die kleine
Schwester erstaunt an und lachte.

»Was machst du eigentlich?«

»Ich lerne!« sagte Evelyn verdrießlich. »Es ist schrecklich! Die
Gnadenpforte tut sich immer zu früh auf!«

»Dann mach’ sie doch zu! Und das Buch würde ich auch zumachen!«

»Ich muß es aber morgen können,« gab Evelyn weinerlich zurück.

»Weißt du, ich habe Gesangbuchverse nie gelernt!« erklärte Julie. »Ich
glaube nicht, daß es dem lieben Gott eine große Freude ist, wenn man
sie am Schnürchen herleiern kann.«

»Aber der Pastor hat es uns doch aufgegeben!«

»Also gut!« meinte Julie gleichgültig und wendete sich wieder zu ihrer
Arbeit. Der dünne Arm stützte sich auf das helle Kirschbaumholz. Eine
blaue Glockenblume -- es standen da so viele beieinander in der irdenen
Vase -- reckte neugierig ihren dünnen Leib nach der bräunlichweißen
Haut, die goldig porös schimmerte. Die goldenen Lettern der Bücher, die
gravitätisch nebeneinander standen, blicken auf Julies stumpfbraunes
Haar; das hing in seidigen Flocken auf die enggedruckten Seiten herab.
Julie las in Brownings Gedichten.

Die alte Pendeluhr dicht am Ofen schlug sechs, dünn und blechern.
Auf den Wänden zitterte Sonnenlicht. In dem Glas der goldgerahmten
Kupferstiche spiegelte sich die große Silberkugel draußen im Garten,
ein Stückchen Rasen und die Efeublätter, die das Fenster einrahmten.

»Warum wird man eigentlich konfirmiert?« fragte Evelyn plötzlich
hinüber.

»=O world, as God has made it: all is beauty, and knowing this, is
love.=« Julie hörte mit einem kleinen Seufzer auf. »Stör mich doch
nicht immer,« sagte sie ruhig.

»Du brauchst doch nicht zu arbeiten! Du tust es doch nur zu deinem
Vergnügen!« Evelyn gähnte.

»Ich finde es zwecklos, daß ich konfirmiert werde. Warum tut man eine
Sache, deren Sinn man nicht begreift?«

»Als ich so alt war wie du, habe ich Mama dasselbe gefragt. Sie sagte:
›Tue es trotzdem, Kind, du wirst daran erfahren, wie vergeblich es ist,
dort nach Schönheit zu suchen.‹«

»Ich wünschte, es wäre vorüber!« seufzte Evelyn.

»Mama meinte, daß man einmal versuchen müsse, auch diesen Weg zum
Glücklichsein zu gehen, um dann bewußt wieder umkehren zu können, und
sich einen anderen zu suchen.«

»Würdest du deine Kinder konfirmieren lassen, Julie?«

Julie sah durch das offene Fenster. Sie mußte immer offene Fenster in
ihrem Zimmer haben.

»Nein! Ich würde nicht wagen, sie nach irgendeiner Seite hin zu
drängen. Sie sollten Freiheit haben in allen Dingen!«

»Man müßte überhaupt tun dürfen, was man will!« sagte Evelyn auf
einmal energisch. »Ich möchte den ganzen Tag auf dem Rasen sitzen,
die Pfauen um mich herum; alle ihre Farben würden auf meinem Kleide
spielen. Und in meinem Schoße sollten lauter Blumen liegen. Und
Menschen dürften nur kommen, wenn ich winkte!«

Sie machte eine kleine souveräne Bewegung.

Die Begonie an Julies Brust löste sich und fiel mit einem leisen
Geräusch zu Boden. Julie bückte sich nach ihr.

»Ich habe mir mein Leben so eingerichtet, wie ich es brauche. Ich
kümmere mich um keinen Menschen und tue nur, was mir Freude macht.«
Sie strich mit der Hand über das ausgeschlagene Buch, nahm die Blume
und steckte sie wieder fest. Ihr Kopf neigte sich; in die Linie der
Schultern kam eine kleine Krümmung, der viereckige Ausschnitt des
Kleides verschob sich und ließ einen braungoldenen Schatten blinken.

Von Evelyn kam wieder das eintönige Geräusch des Gesangbuchliedes.

                     »Doch bat er in seinem Worte
                     endlich sich dazu erklärt ...«

In der Tür erschien ein Laken, und darin Agnes Elisabeth, mit einem
blauleinenen Badeanzug bekleidet.

»Bist du noch nicht fertig, Evelyn? Vertrödelst deinen ganzen schönen
Nachmittag!«

Evelyns feuchtrote Lippen zogen sich zusammen.

»Marianne und ich wollen baden; kommt ihr mit?«

Evelyn strahlte; sie klappte ihr Buch zu und warf es auf das Sofa.

Julie sah auf.

»Ja, ich komme euch nach!«

Nun war es der Garten, ein wundervoll altmodischer Garten. Dichte,
hohe Hecken, brennende Beete, buchsbaumgefaßte Wege, Rasenflächen,
Hollunderlauben, eine lange Tannenallee und unten der schmale Fluß.
Jenseits Gestrüpp, eine hohe, sich neigende Weide, dahinter endlose
Wiesen und grasendes Vieh. Und über allem klarer Sommerhimmel.

»Ich kann mein Band nicht aufkriegen!« Evelyn reckte ihren Arm auf den
Rücken.

Agnes Elisabeth half ihr. Dann ließ sie das Badelaken fallen. Die
Haare zogen flirrende seidige Lichter aus den bloßen Armen. Mit kurzen
Schritten ging sie an die fettgrüne Böschung und hinein in das klare
goldbraune Wasser. Das Haar schwamm darauf wie eine Flut brandig gelber
Blüten. Mit kurzen Stößen glitt sie vorwärts.

»Wie eine untergehende Sonne siehst du aus!« rief Evelyn ihr nach.

Das Wasser gluckste und glutterte.

An Marianne glitt eben ein blaßblauer Unterrock herunter. Sie bückte
sich und löste die Strumpfbänder. Der runde Nacken tauchte aus den
Spitzen. Langsam genießend zog sie sachte das Schwarz des Strumpfes von
den weißen Beinen. Das Fleisch atmete auf und wurde weich und voll.
Die Füße schmiegten sich in das Rasengrün. Sie zog die Schultern in
die Höhe und ließ das Hemd streichelnd hinuntergleiten. Weiß lag es zu
ihren Füßen. Weißer noch waren ihre Knöchel, ihre reifen Hüften, ihre
vollen Brüste.

Marianne sog den warmen Duft ihres Körpers ein. Das zitternde Grün der
Bäume griff sehnsüchtig nach ihrer Schönheit. Dann hob sie die Arme und
verschränkte sie hinter dem Kopfe.

Vom Wasser her kam Agnes Elisabeths Stimme und schreckte das anbetende
Lauschen auf. »Wollt ihr heute nicht mehr baden?«

»Nein, ich muß warten, bis Marianne aufhört, sich zu bewundern!« rief
Evelyn, die im Grase hockte. »Sie sieht himmlisch aus!« Sie drehte sich
auf ihren kleinen Schenkeln herum und sah zu Marianne auf. »So bist du
mir doch am angenehmsten, wenn du so stumm nackend dastehst. Eigentlich
ist es Sünde, daß gerade du so schön bist!«

Evelyn stand auf. Feine Grasabdrücke waren über das rosige Fleisch
verstreut. Wie ein Mantel hing das Haar um ihre kindlichen Formen. Sie
glitt den Rand hinunter und sank mit einem kleinen Juchz ins Wasser.

Marianne ging vorsichtig in das laue Gold und ließ sich auf dem Rücken
treiben.

Evelyn kam plötzlich in die Höhe. »Oh, ich habe vergessen, mein
Haar aufzubinden!« Sie kletterte prustend auf die Böschung. Die
Wassertropfen glitterten an ihr herunter.

Agnes Elisabeth stand schon neben ihr und faßte das Haar. Das blaue
Leinen spannte sich straff um ihren Körper. Herb stand das Weiß zu dem
scharfen Blau. In den Augen schimmerte ein Glanz. Nur die Glut des
Haares gab den Gedanken an schweres Blut.

Nun kam auch Julie aus der Laube. Aus ihren Linien sprach Strenge. Der
Bronzeton ihrer Haut ließ sie schmal und flach aussehen, wie einen
Jüngling. Nur der weiche Gürtel unter der kleinen, festen Brust, der
niemals eingeschnürt worden war, erschien frauenhaft.

Ihre Hand glitt langsam über den Hals. Sie blickte auf Agnes Elisabeth.
»Warum hast du einen Badeanzug an? Es sieht uns doch niemand hier!«
sagte sie erstaunt.

Agnes Elisabeth steckte das Haar der Kleinen fest. »Ich mag es lieber!«
sagte sie und ging wieder ins Wasser.

Julie blieb einen Augenblick vor der goldenen Bronze stehen. Dann
beugte sie sich etwas nach vorn und sprang hinein.

Evelyn planschte mit kindlichem Vergnügen.

Marianne lag regungslos. Die lauen Wellen faßten nach ihr wie Hände und
hauchten über ihre Haut wie sehnsüchtige Lippen.

Julie tauchte auf und nieder. »Wenn es nur nicht so lau wäre! Man hat
gar nicht das Gefühl, daß man naß wird!«

Ein Schatten ging über das Wasser. Drüben neben der Weide stand eine
schwarzweißgefleckte Kuh. Das fette Gesicht sah mit überlegenem
philosophischen Lächeln aus seinen runden, schönen Augen auf all das
Weiße, Lebendige.

Julie bespritzte Evelyn.

»Sieh, da ist etwas, was den ganzen Tag im Grase liegt und nichts tut!«

Evelyn lachte. Sie sprang mit einem Satz, wie eine Katze, an Julies
Hals und tauchte ihren Kopf unter. Es gab Geschrei und Lachen. Dann
faßten sich alle vier an der Hand und tanzten Ringel-Rangel-Rosenkranz.
Der Kuhschweif wedelte dazu, warm und gemütvoll.

Ein dickes rotes Etwas in blauem Kattunkleid raste plötzlich vom Hause
her, tauchte zwischen den Bäumen unter, erschien wieder, verschwand
hinter dem Gebüsch und stand endlich prustend am Wasser.

»Fräulein, der Herr Pastoor! Ik hevv em schon jümmer seggt, dat Se im
’en Woter wären. Ober he hät Tid. He will so lange luern, bit Se rein
sind!«

Marianne kreischte auf. Evelyn kam mit der Gnadenpforte.

»Wie dumm!« sagte Agnes Elisabeth ärgerlich. »Was machen wir nun? Ich
mit meinem nassen Haar kann mich unmöglich sehen lassen!«

Julie zog gemütlich ihre Beine aus dem Wasser. »Bei mir geht es schnell
mit dem Anziehen! Genießt es nur weiter!« Sie verschwand in der
Laube und trat nach kurzer Zeit in ihrem Leinenkleide wieder heraus.
»Amüsiert euch derweilen mit der Kuh!« rief sie und ging langsam den
Kiesweg hinauf; am Blumenbeet blieb sie stehen und pflückte ein paar
Heliotropen.

                   *       *       *       *       *

Im Wohnzimmer, am Fenster, das nach dem Garten führte, stand der
Pastor. Frech wippte das Gardinenmuster auf seiner Glatze. In den
Winkeln über der Oberlippe saß behaglich eine Phantasie über die weißen
Mädchenkörper dort unten, die er nicht sah, deren Stimmen aber ab und
zu heraufklangen. Seine Hand lag unruhig auf der Fensterbank.

Julie trat in die Tür, blieb einen Augenblick stehen und stellte mit
lächelnder Genugtuung bei sich fest, daß der Pastor am Fenster stand,
und daß dort unten der Fluß war.

»Guten Abend, Herr Pastor!« sagte Julie.

Der Pastor zuckte zusammen und wendete sich um.

»Ach so, -- so!« Er griff mit der Hand in die Luft. Mit einem Zucken
flog die kleine Phantasie davon, und das sanfte Lächeln setzte sich
mechanisch in die altgewohnten Falten.

»Verzeihen Sie, daß ich erst heute wieder den Weg zu Ihnen finde,«
begann er. »Und daß ich Sie nun auch noch beim ... auch noch störe.«

»Sie stören mich durchaus nicht, Herr Pastor,« sagte sie mit
friedlichem Spott.

»Ich war in den letzten Tagen leider so beschäftigt, und da ich heute
etwas mehr Zeit habe, wollte ich mein Vorhaben endlich ausführen und
sehen, wie es Ihnen geht.«

Sie saßen sich gegenüber in den tiefen Mahagonimöbeln. Julies Hände
lagen ausgestreckt auf dem Holz. Von ihrem Körper strahlte ein feuchter
Duft. Der Vanillegeruch der Heliotropen an ihrem Kleide tiefte die laue
Badatmosphäre. Der Pastor sah, wie die letzten Tropfen an ihrem Hals
herunterrieselten ...

Sie sprachen von den Dingen des Alltags.

Der Abend kam mit nassen Lichtern.

Julies Stimme hatte aufgehört zu sprechen. Der Pastor blickte auf. Die
Möbel standen plötzlich aufdringlich um ihn herum. Die Bedrängnis, die
von diesem frischen Leibe ausging, faßte ihn mit unsichtbaren Armen und
ließ ihn seinen Blick nicht von ihr wenden. Der starke Nacken drehte
sich im Kragen.

Er fand keine Worte mehr. Endlich nach einer schweren Pause flog ein
Gedanke vorüber. Er nahm hastig aus seiner Brieftasche einen Zettel,
auf dem eine Auswahl von Sprüchen für Frau Hellweges Leichenstein
verzeichnet war.

»Vielleicht haben Sie selbst schon ein Wort für das Grab Ihrer Mutter
ausgewählt? Es ist doch eine so schöne Sitte!«

Julie wandte den Kopf ein wenig.

»Nein! Es soll nur Name, Geburts- und Todestag geschrieben werden! Ich
wüßte nicht, aus welchem Grunde da noch mehr stehen sollte.«

»Aber, liebes Fräulein, das sagen Sie doch nicht im Ernst. Ein solches
Wort soll denen, die trauernd an dem Grabe stehen, zur Erbauung dienen,
es soll ...«

»Ich bedarf keiner Erbauung!« sagte Julie ruhig.

»Die brauchen wir alle! Aber nicht dies allein: die Worte, die auf dem
Grabstein leuchten, sollen zu Ihnen reden, als spräche Ihre selige
Mutter vom Himmel herab zu Ihnen, als wollte sie ihre Kinder trösten
und sie hinweisen auf das Wiedersehen.«

»Das ist ja alles sehr schön und gut,« meinte Julie. »Aber was soll man
damit, wenn man an ein Wiedersehen nicht glaubt?«

Der Pastor blickte verdutzt auf. »Das hatte ich nicht gewußt!«
stotterte er. »Ja, aber dann sind Sie ja, -- nein, Sie werden wieder
davon abkommen, ich weiß es, ich glaube es!« sagte er mit Bekennermut.

Julie lächelte.

Der Pastor bekam es plötzlich mit der Angst um Evelyn.

»Um eins möchte ich Sie bitten,« sammelte er sich. »Daß ich auf Ihren
Glauben noch keinen Einfluß habe, weiß ich.«

»Ja!« bestätigte Julie.

»Wenn schon ... Aber lassen Sie durch Ihre Anschauungen nicht die reine
Kinderseele Ihrer Schwester getrübt werden! Bedenken Sie, daß das Kind
zu Ostern seinen Glauben vor dem Altar bekennen soll!«

Der Pastor stand auf.

»Ich habe noch niemals meinen Einfluß auf andere Menschen dazu benutzt,
sie an ihrer freien Selbstbestimmung zu hindern!« sagte Julie mit
Hochmut. »Aber ...«

»Dafür danke ich Ihnen! Es ist Zeit zu gehen; meine Frau wartet mit dem
Abendbrot. Grüßen Sie Ihre lieben Schwestern von mir! Und ...«

Er reichte Julie die Hand, die sie nur widerstrebend berührte.

»Wenn Sie Rat brauchen, ich meine, nicht nur in äußerlichen Dingen,
wenn Sie geistlicher Hilfe bedürfen, so kommen Sie! Ich warte auf Sie!«

Julie zog ihre Hand zurück, und der Pastor verschwand hinter der Tür.

Eine Trübe blieb im Zimmer liegen. Julie stand unter dem Kronleuchter.
Ihre Hände hingen schlaff herab. Sie lächelte. Geheimnisvoll blickte
dieses Lächeln aus den Schatten, die im Zimmer schweigend warteten.
Durch das Fenster kam vom Garten eine kühl duftende Dämmerung herein.
Weich glitt sie um Julies Gesicht.

Dann schallten helle Stimmen auf der Diele. Julie wendete langsam den
Kopf.




                                  IV


Lehrer Lukas Allm wohnte neben der rosa getünchten Kirche in einem
roten Backsteinhaus. Man brauchte nur die viereckigen Linien, die
gleichmäßig verteilten Fenster zu sehen, um zu wissen, daß es
die Schule war. Kam man um die Ecke, so waren da einige dürftige
Turngeräte, die vereinsamt auf einem öden Platz standen. Ging man noch
eine Ecke weiter, so sah man etwas, was bunt und fröhlich leuchtete,
wie pausbäckiger Bengels vergnügtes Lachen. Das war der Garten des
Schullehrers. Am Zaun, der an die Wiese grenzte, träumte feuerroter
Mohn. Auf den schmalen Beeten wuchs Kapuzinerkresse, dazwischen
Lavendel und zierliche Porzellanblümchen. Große Bohnen standen in
langen Reihen, daneben zog sich Erbsengeranke mit schneeweißen Blüten
hin.

Lukas Allm hatte aus eignen Mitteln eine kleine blaugemalte Veranda an
das Haus anbauen lassen. Die Trauben der Glycinien fingen schon an,
seine Hoffnungen auf ein gemütliches Plätzchen zu erfüllen.

Er brauchte einen solchen stillen Winkel. Früher war er in der Stadt
gewesen, an der Gemeindeschule. Er hatte mit seiner Mutter in einer
Gasse gewohnt, wo es nach Grünkramläden und Straßenmüll roch. Bevor er
aber davon krank wurde, bewarb er sich um eine Landstelle. Und so war
er in das Heidedorf gekommen, wo er ein Hungergehalt bezog, von Kohl
und Speck lebte, aber seinen Himmel sah und seine Blumen pflegte.

Lukas Allm besaß eine besondere Mischung von Gemüt und Verstand. Er
war strebsam, nicht nach den höchsten, aber doch nach hohen Dingen.
Überall wollte er lernen, und mit der schon in seiner Schädelform
ausgesprochenen Beharrlichkeit setzte er viel bei sich durch. Er hatte
ein paar gute und eine große Anzahl mittelmäßiger Bücher gelesen. Aus
diesen geistigen Bausteinen, die er auf dem Fundament der Halbbildung
des Volksschullehrers zusammentrug, entstand ein Gebäude, das an das
Miethaus eines braven Maurermeisters erinnerte, der sich Architekt
nennt. Natürlich war er stolz darauf und baute lustig weiter. Er
hielt dieses Haus für seinen wertvollsten Besitz und ließ die wenigen
Menschen seiner Bekanntschaft gern darin zu Gast sein.

Es gab aber Zeiten, wo ihm das Haus zu eng wurde. Das geschah, wenn
das wirkliche Leben ihm atmend gegenüber trat. Und dann hatte er den
Mut, sein Haus unverzüglich zu verlassen und sich ganz der Weisung
seines tiefen Gemüts anzuvertrauen. Er tat dies ganz instinktiv,
ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen. Er konnte nicht anders,
und darum wollte er auch nicht anders. Er war weit davon entfernt,
den Wert dieses Muts zu sich selbst beurteilen zu können, ja, in den
meisten Fällen bedauerte er ihn als eine menschliche Schwäche. Und doch
war dies die vorzüglichste Eigenschaft seines Wesens. Sie hatte ihn
veranlaßt, der Mutter zuliebe seine Studien für das höhere Lehrfach
aufzugeben, bei armen Kindern mit Schiefertafeln und alten Hosen
auszuhelfen und von seinem Gehalt ein paar Mark für die Schwester zu
erübrigen, die an einen kleinen Beamten im Westfälischen verheiratet
war. Aber auch eine fröhliche Befriedigung hatte sie ihm geschenkt, und
den Himmel, der über der Heide träumte, und seine kleine Veranda.

Dort saß Lukas Allm jetzt vor einem Tisch; auf der mit Blumen
bestickten Decke lagen Bücher und blaue Hefte, dazwischen stand das
Tintenfaß.

Lukas Allm strich sich über den braunen Vollbart, klappte das Buch
über Moorkultur zu und zog einen blauen Stoß heran. Er blätterte
ihn durch und besah sich die Haar- und Grundstriche seiner Schüler.
Zu unterst fand er ein Heft, auf dem mit feinen Buchstaben der Name
Evelyn Hellwege geschrieben stand. Das war der Aufsatz, den sie ihm
in der letzten Privatstunde abgegeben hatte. Er schlug ihn auf und
las ihn langsam durch. Sein Gesicht, das zu Anfang mit lehrerhafter
Strenge nach Fehlern suchte, verlor sich plötzlich in einer lächelnden
Unschlüssigkeit und klärte sich dann zu einer warmen Freude. Es
war ein Vorgang, der sich auch bei den Stunden, die er Evelyn
erteilte, abzuspielen pflegte. Er wollte sie in die Kalkmauern seiner
Gelehrsamkeit führen, aber sie lief ihm davon und winkte ihm von einer
Wiese zu. Was konnte er anderes tun, als ihr nachgehen? Im Grunde
lernte er mehr von ihr, als sie von ihm.

Auch das Thema dieses Aufsatzes hatte sie selbst bestimmt. Sie hatte
für die Schuld der Jungfrau von Orleans nur ein übersehendes Lächeln
gehabt und dann erklärt, sie wolle ihre Arbeit über den »Ernst und das
Lachen« schreiben.

Das war sie nun, und Lukas Allm lachte. Das Lachen stand ihm besser als
das Korrigiergesicht, und seine Mutter freute sich, als sie es sah. In
der Tür stand sie mit einem Pack Wäsche.

»Stör’ ich dich auch?«

Der Lehrer sah auf und schüttelte den breiten Kopf. Er hielt der alten
Frau seine große Hand hin. Sie nickte ihm zu und klopfte mütterlich
seinen Arm. »Vom Feiertag-Heiligen scheinst du nicht viel zu halten!?«

»Ach, das ist keine Arbeit!« sagte er und machte eine froh-nachlässige
Bewegung. »Das Heft vom Fräulein! Literatur!« betonte er wichtig. »Ich
muß dir mal ihren letzten Aufsatz vorlesen! Etwas träumerisch, aber
ganz geistvoll.«

Die Mutter machte ein bedenkliches Gesicht.

»Höre mal zu!« Der Lehrer nahm das Heft und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Der Ernst und das Lachen.

Alle Menschen wollen lieber lachen, als ein ernstes Gesicht machen.
Sie arbeiten sechs Tage ernst im Schweiße ihres Angesichts, und am
siebenten ruhen sie und sind vergnügt und lachen.

Warum können die Menschen nicht immer lachen, Sonntags und Alltags? Sie
können es nicht, weil man sie gelehrt hat, bei der einen Gelegenheit zu
lachen und bei der anderen traurig zu sein. Die Menschen wissen nicht,
daß Ernst und Lachen zusammengehören.

Wenn ich bei der Arbeit bin, Verse lernen oder sticken muß, so könnte
ich wohl traurig sein. Aber ich fühle den Sonnenschein im Gesicht; und
wenn sie draußen einen Sarg vorübertragen, so sehe ich die Blumen. Und
dann lache ich. In allem Ernst wird doch noch ein Plätzchen für ein
kleines Lachen sein.

Nun sitze ich mitten auf der Wiese, und Blumen liegen in meinen Händen,
die Sonne küßt mich, und alle Vögel jubeln. Wenn ich dann lache, so ist
es mir sehr ernst mit diesem Lachen. Ist es nicht ein heiliger Ernst,
wenn einer glücklich ist und lacht?!

Für den, der in sich selbst zufrieden ist, sind Ernst und Lachen
dasselbe!«

Lukas Allm legte das Heft auf den Tisch. »Das ist doch reizend!« Er
machte eine bedeutende Handbewegung. »Wie gut ist diese Antithese
durchgeführt!«

Die Mutter nickte.

»Ich hätte gar nicht gedacht, daß die Kleine sich überhaupt zum
Schreiben hinsetzte. Die Fräulein Julie, ja! Aber die Eva!«

Sie faltete die Hände über ihrer Schürze. Die altmodischen Ohrringe
baumelten. Der Kopf ging von links nach rechts.

»Ja, ja, was aus denen wohl noch wird!? Es ist doch traurig, so ohne
Vater und Mutter! Es paßt ja keiner auf sie auf! Einen Mann finden sie
hier draußen auch nicht!«

Der Lehrer wiegte den Kopf.

»Man weiß nicht!«

»Glaubst du, daß die einen aus dem Dorfe nehmen? Dafür sind sie viel
zu vornehm! Wenn sie ja auch sonst immer freundlich und nett sind,
und auch wirtschaftlich und fürs Einfache und alles selber tun im
Haushalte!«

Über die Kressenbeete fiel ein Schatten; er stand einen Augenblick
still und kam dann zögernd nach der Veranda zu. Der Lehrer sah hinaus.

Da stand ein Fremder, der sich suchend umblickte. Er war mittelgroß und
trug einen Jackettanzug mit Gamaschen, starke, gelbbraune Stiefel und
einen langgebundenen roten Schlips.

Der Lehrer stand auf. Der Fremde griff an den Hut.

»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, wo Fräulein
Hellwege wohnen? Im Dorf ist man wohl gerade beim Mittagessen;
jedenfalls habe ich niemanden getroffen, den ich um Auskunft bitten
konnte.«

Lukas Allm griff verlegen in sein dichtes Haar.

»Ja, bitte, die Fräuleins wohnen ein paar Häuser weiter. Ich will es
Ihnen zeigen.«

»Wenn Sie mir nur das Haus beschreiben wollten; ich finde mich schon
zurecht.«

Des Lehrers rote Hand stand in der blauen Luft.

»Wenn Sie von hier die Chaussee links hinuntergehen, an den drei großen
Bauernhöfen vorbei. Da liegt rechts das Haus. Sie erkennen es schon an
dem weißen Gitter, und dann ist es auch ein bißchen absonderlicher als
die anderen.«

»Meinen Sie, daß man die Fräuleins zu Hause trifft?« fragte der Fremde
und schob seinen Schlips zurecht.

Der Lehrer entwickelte ein baumwollenes Taschentuch. »Sie werden wohl
zu Hause sein,« meinte er. »Ausflüge machen sie nur bei Regen und
Sturm.«

»Na, da will ich mein Glück versuchen! Ich danke Ihnen.«

Lukas Allm sammelte seine unbeholfenen Glieder und brachte den Fremden
bis an die Chaussee.

»Dort drüben steht mein Rad,« sagte dieser.

»Dann haben Sie wohl schon ein gutes Stück von der Gegend gesehen!«

Sie gingen schräg über den Spielplatz, wo an einem verwitterten Barren
das Zweirad des Fremden stand. Der Moorboden zitterte elastisch unter
den viereckigen Stiefeln des Lehrers.

»Sie haben einen hübschen Schulhof,« sagte der Fremde und griff nach
der Lenkstange.

Über Lukas’ Gesicht kribbelte es wie lauter Kinderlachen.

»Das habe ich alles für die Bengels selbst gezimmert.«

Der Fremde führte das Rad auf die Chaussee.

»Haben Sie vielen Dank,« sagte er, sprang mit kurzem Schwung auf und
fuhr in den Sonnenschein hinein.

Lukas Allm blieb noch einen Augenblick stehen, bis die kleine
Staubwolke um die Ecke verschwand. Dann trottete er behaglich über den
Platz zurück in den Garten.

Da stand er nun in all dem Flimmer. Die Sonne machte keinen
Unterschied, sie küßte den guten dicken Kopf so weich, wie alle die
Blumen. Eine behagliche Zufriedenheit glänzte in seinen runden Augen.
Dann kam ein wohliges Dehnen in seine Muskeln.

Und plötzlich streckte sich ein angenehmer Gedanke in ihm aus. Der
Fremde würde bei Hellweges von ihm sprechen, und Marianne würde an ihn
erinnert werden. Und sie würde einen Augenblick mit ihren Gedanken bei
ihm sein.

Feierstill wurde es dem kleinen Licht des Heidedorfs zumute.

Langsam sog er die warme Luft ein, den Duft von träumenden Blumen.

Aber plötzlich kam ein feiner Bratengeruch dazwischen.

Das Lächeln um den großen Mund wurde noch inniger. Es war heute ja
Sonntag. Und da stand auch die Mutter in der Tür.

»Lukas, wir wollen essen!« rief sie.

Lukas Allm ging langsam die Holzstufen hinauf.




                                   V


Heinrich Craner lehnte sein Rad an das weißgemalte Gitter und ging den
Kiesweg nach dem Hause hinauf. Die grüne Tür war verschlossen. Eine
schwarze Katze lag davor und blinzelte in der Sonne. Er faßte nach dem
Messingklopfer und weckte die Stille drinnen im Hause. Ein Klappern
wurde hörbar, der Riegel wurde zurückgeschoben. Gesch Margrets Gesicht
glänzte im grünen Rahmen.

»Sind Fräulein Hellweges zu Hause?«

»Besuk ...!« stotterte sie und sah hilfesuchend über die Diele zurück.

Craner wurde durch die dämmerige Diele gewiesen, wo schon der
Mittagstisch gedeckt stand. Das Mädchen öffnete ihm die Wohnstube und
knallte die Tür hinter ihm zu.

Nun stand er allein in dem kühlen, fein nach Lavendel riechenden
Zimmer. Er sah sich um. Da war nichts Außergewöhnliches. Die Möbel
standen umher wie überall, die Blumen blühten auf den Fensterbänken,
an den Wänden hingen Bilder. Da war weder übertriebene Ordnung,
noch aufdringliches Wesen. Und doch berührte ihn alles wohltuend.
War hier nicht mit einer gewissen kühlen Präzision der Charakter
fein empfindender Menschen ausgesprochen?! Eine feine Novelle hätte
in diesem Raum spielen können. Er suchte nach Dingen, die ihm diesen
Eindruck übermitteln mochten, er betrachtete die verschiedenen
Gegenstände, da öffnete sich die Tür, und Agnes Elisabeth trat ein. Ein
weiß und blaßlila gestreiftes Kleid trug sie, mit vielen Rosenrüschen
und Falten; es mochte noch aus der Zeit ihrer Großmutter sein.

Craner trat auf sie zu.

»Ich glaube, Sie kennen mich nicht mehr, Fräulein Hellwege. Mein Bruder
schickt mich; ich soll Ihnen einige Vormundschaftspapiere überbringen.«

»O doch! Ich erinnere mich,« sagte Agnes Elisabeth ruhig. »Sie waren
bei Papas Begräbnis, nicht wahr? Es tut mir leid, daß Sie unsertwegen
den weiten Weg haben machen müssen. Wollen Sie mit in den Garten
kommen?«

Craner ging neben Agnes Elisabeth über die Diele. Er bemühte sich,
durch das rote Gewirr ihrer Haare die Augen zu erkennen. Diese Augen
interessierten ihn. Er hatte ihre Farbe im Zimmer nicht finden können.
Sie fühlte seinen Blick, und das machte sie befangen. Noch niemand
hatte Agnes Elisabeth befangen gemacht.

Sie kamen in den Garten. Da war ein schimmerndes Schweigen. Sie gingen
über die seidenglatten Nadeln der Tannenallee. Auf dem Rasen saß Evelyn
unter einem Hängerosenbusch. Neben ihr schillerte Pfauengefieder in
der Sonne. Wie eine Märchenprinzessin sah sie aus. »Du bist so faul,
wie du lang bist!« rief sie nach der Laube drüben. »So faul! Steh doch
selbst auf! Ich sag’ ja: so faul, wie du lang bist!« Sie strich über
den Pfauenhals. »Nicht? wir bleiben hier sitzen!« Und dann zerpflückte
sie die Rosen in ihrem Schoße.

Aus der Laube kam ein träges Summen, das irgendein sentimentales Lied
bedeuten konnte.

»Dort ist Tante Sophies Patenkind,« sagte Agnes Elisabeth zu Craner.
»Evelyn!« rief sie hinüber.

Das Weiße auf dem Rasen sah sich nach allen Seiten um, suchte nach
einem Schuh und kam dann langsam auf die beiden zu. Erst, als sie vor
ihnen stand, hob Evelyn die Augen. »O so!«

»Ich soll Sie grüßen von Tante Sophie, Fräulein Evelyn!«

»So, dann sind Sie der Bruder von Onkel Wilhelm! Es ist nett, daß
einmal jemand zu uns kommt!«

»Wilhelm begreift Sie gar nicht in Ihrer Vorliebe für die Einsamkeit,
Fräulein Hellwege,« wendete sich Craner an Agnes Elisabeth.

»Nein, ich glaube sogar, er hält uns für überspannt und absonderlich.
Und das sind wir doch wirklich nicht!« Sie sah lächelnd an sich
herunter. Der Großmutter Kleid machte sie ein wenig erröten.

»Nun, wie alle Welt sehen Sie nicht aus!« meinte er mit ruhiger
Anerkennung.

Evelyn ging auf den Rasen. »Marianne, ein Er ist da.«

In der Laube schwieg es eine Weile, dann gab es einen Krach, -- und
dann einen Plumps.

»Meine schöne Hängematte!« jammerte Evelyn.

Rosenrot und schläfrig erschien Marianne.

Unten um die Ecke bog Julie, mit einem Buch in den Händen.

Craner wußte, daß es vier Schwestern waren. Vier, -- das war sonst so
übersehbar gewesen; er hatte dabei die Empfindung von etwas angenehm
Handlichem gehabt. Jetzt aber erschien es ihm plötzlich weich und
unbestimmt.

Er begrüßte die beiden anderen Schwestern.

Marianne war ein wenig enttäuscht. Als sie die Hängematte verließ,
hatte sie eine kleine Hoffnung gehabt, es könne der Lehrer sein. Sie
hatte bereits die schauernde Wärme geheimnisvoller Strahlen empfunden,
die von ihr ausgehen und den ungelenken Mann verwirren würden. Nun war
es bloß des Vormunds Bruder, der ihr freundlich guten Tag sagte, ohne
bewundernd die Augen aufzureißen. Sie dachte plötzlich an Lukas Allm
mit Sehnsucht.

Julie stellte inzwischen mit sachlicher Kühle das Äußere ihres Gastes
fest. Er war gut angezogen. Der Kragen hätte eine Kleinigkeit niedriger
sein können, aber der Schlips hatte eine ruhige Farbe, die zum Anzug
und auch zum Gesicht paßte. Seine Bewegungen waren angenehm und sicher,
manchmal sogar schön; wenn er im Gespräch die Hand erhob und mit leicht
gekrümmten Fingern eine dokumentierende Geste machte, gab es eine gute
Linie. Und in allem, was er sagte, war eine lächelnde Bestimmtheit.
Übrigens wandte er sich oft an Agnes Elisabeth und sah sie dabei mit
freudigem Interesse an. Das war amüsant.

»So bin ich denn auf ein Jahr herübergekommen, um in Berlin noch
genauere Studien über Tropenkrankheiten zu machen und das Material, das
ich drüben gesammelt habe, durchzuarbeiten,« erzählte er.

Marianne hatte eine Abneigung gegen alle Ärzte. Sie dachte immer gleich
an Operationen, rote Narben und Karbolgeruch. Sie blieb mit Evelyn
zurück, und die beiden warfen sich mit Tannenzapfen.

»Sie sollten auch nach Berlin gehen, Fräulein Julie,« meinte Craner.
»Mein Bruder sagt mir, daß Sie es mit Ihren Studien sehr ernsthaft
meinen. Er ist der Ansicht, Sie sollten sich nicht hier vergraben,
sondern ein Examen machen.«

»Warum?« fragte Julie ruhig.

»Sie erreichen dann doch ein Ziel, bringen Ihre Arbeit zu einem
gewissen Abschluß und kommen mitten in das wissenschaftliche Leben
hinein. Auch gewinnen Sie eine noch viel tiefere Freudigkeit zu Ihrem
Beruf, wenn Sie für andere Menschen arbeiten und dabei Erfolge sehen!«

Julie lehnte den Kopf etwas zurück und faßte ihr Buch mit beiden
Händen. »Ich möchte nicht für andere Menschen arbeiten! Was ich tue,
geschieht nur für mich selbst!« sagte sie langsam.

Craner sah sie erstaunt an. »Priesterin des neuen Glaubens«, fuhr es
durch seinen Kopf.

Agnes Elisabeth lachte kurz. »Nicht wahr, Sie halten uns für sehr
egoistisch?«

»Das sind wir schließlich alle,« lenkte Craner ein. »Aber ich kann
Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, daß es Freude macht, seinen
Mitmenschen zu helfen. Natürlich ist auch diese Freude eigentlich eine
selbstsüchtige Empfindung, doch ...«

»Ich will nach meinem Geschmack leben; weil meine Arbeit ihm
entspricht, tue ich sie,« sagte Julie und brach eine weiße Rose ab.
»Wenn andere Menschen etwas von meiner Arbeit haben, soll es mich
freuen. Aber dies ist nicht der Zweck, den ich verfolge; ebensowenig,
wie es mir auf Erfolg ankommt.«

»Das ist sehr heldenmütig!« sagte Craner mit leisem Spott und lächelte.

»O nein!« kam es kühl zurück.

»Übrigens führen Sie Ihre Idee auch nicht ganz durch!« begann Craner
wieder. »Sie leben hier doch alle füreinander, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht,« sagte Julie. »Nebeneinander! Nur Agnes Elisabeth,
ja!« Sie drehte den Kopf hinüber. »Sie lebt für uns! Aber sie ist auch
die Güte selbst!« fügte sie mit heiterem Lächeln hinzu.

Agnes Elisabeth schwieg, als Craner sie anblickte. Sie kam sich
plötzlich so allein mit ihm vor, und es war gut, daß Gesch Margrets
Schürze erschien. Das Essen ging kurz vorüber. Craner erzählte von
seinem Aufenthalt in Kapstadt. Er hatte treffende Vergleiche, satte
Farben. Die Schwestern hörten angeregt zu. Evelyn genoß das Weite,
Unbekannte, und schwelgte in der Empfindung von noch blauerem Himmel,
von Wärme, die noch heißer flimmerte. Mariannes Phantasie ging in die
silbernen Mondnächte hinein; sie sehnte sich nach der lauwarmen Luft,
die ihren Körper streicheln und ihr heißes Blut in Erregung bringen
würde.

»Und nun wollen Sie ein ganzes Jahr in Berlin bleiben?« fragte Julie.

»Ja, bis zum nächsten August. Ich freue mich auf diese Zeit. Man kann
in einer großen Stadt viel intensiver arbeiten. Es gibt da so viele
Hilfsmittel, die einem die Arbeit erleichtern. Die hat man draußen
nun einmal nicht. Auch Sie sollten das bedenken, Fräulein Julie.
Bibliothek, Kunstsalons, Vorträge sind immerhin eine schätzenswerte
Beigabe, auch wenn man nur dem eigenen Geschmack leben will.«

Er lächelte.

»Nein, wir wollen alle zusammen in unserem Hause bleiben! Das haben wir
uns versprochen, nicht wahr, Agnes Elisabeth?«

»Also doch Altruismus!« meinte Craner.

Julie warf den Kopf zurück.

Die Erdbeeren waren gegessen, Agnes Elisabeth hob die Tafel auf.
Marianne und Evelyn gingen wieder ihre eigenen Wege, Julie holte sich
ein Buch.

Craner stand plötzlich mit Agnes Elisabeth allein in der Laube, in der
eine grüngoldene Dämmerung zitterte. Sie hatte ihre kurzen weißen Hände
auf den Tisch gestützt; in ihrem Haar flimmerte halbes Licht.

Craner fühlte mit einem Male die Einsamkeit, an der dieses Geschöpf
ihre Kraft und ihre Liebe verzehrte. Der Hauch von Mütterlichkeit, der
wie ein Goldton über ihrem Wesen lag, berührte ihn schmerzlich. Mit
beiden Händen gab sie den Schwestern, was sie an Liebe besaß; aber
keine dankte es ihr.

Er nahm die Papiere heraus, die ihm sein Bruder mitgegeben hatte.

»Darf ich Ihnen kurz erklären, um was es sich handelt?«

Agnes Elisabeth blickte auf und war sofort bei der Sache. Sie setzte
sich auf die Bank, Craner zog einen Korbstuhl heran.

Mit sachlicher Stimme erläuterte er den schwülstigen Geschäftsstil der
Formulare; auf einem Blatt Papier machte er ihr verständlich, wie sie
dieselben zu behandeln hätte.

»Hier müssen Sie dann die verschiedenen Daten ausfüllen, also etwa:
Agnes Elisabeth, in diese Rubrik hier: geboren den so und so vielten,
und so weiter. Nicht wahr, Sie verstehen mich?«

Agnes Elisabeth hörte aufmerksam zu. Sie empfand ein neues
Wohlbehagen. Sie lehnte sich an diese ruhige Stimme an. Nun würde schon
alles in Ordnung kommen.

Dann sprach er von ihrem Einsiedlerleben. »Ich glaube Sie zu
verstehen,« meinte er freundlich. »Sie sind in engster Verbindung mit
der Natur, die Ihnen immer mehr geben kann, als Menschen es vermögen.
Rücksichten auf die kleinen Dinge des Alltags sind hier kaum vorhanden.
Und darum laufen Sie wenig Gefahr, sich selbst zu verlieren.«

»Wir haben es von Mama so übernommen,« sagte Agnes Elisabeth weich.
»Und wir sind glücklich darin. Verstanden hat uns bis jetzt freilich
noch niemand. Aber wozu braucht man Verstehen?« In ihren Augen war
wieder jene Verschlossenheit sichtbar, die jeden Einblick in ihre
Empfindungen kühl zurückwies.

Craner staunte. Dieser sprunghafte Wechsel zwischen Bewegung und
geraden, harten Linien! Eine knisternde Unruhe, gleich einem Feuer, das
mitten in der Heide emporzuckt und fliehend über lange Strecken flirrt.

»Ich weiß nur nicht,« begann er wieder, »ob nicht doch mit der Zeit
andere Bedürfnisse aufwachen werden ...«

»Dann wird man weitersehen,« sagte sie, stand auf und legte die Papiere
zusammen.

Das grüne Licht umhüllte sie kalt und trennte sie plötzlich von ihm.
Diese Luft stand feindlich gegen ihn auf; das blasse Gesicht schien
zu sagen, daß er nun entlassen sei. Dann kann ich mich ja wohl
verabschieden, dachte er. Er erhob sich gleichfalls.

»Ich glaube, es wird Zeit, daß ich an den Heimweg denke!«

»Ich hoffe, daß Sie noch einmal wiederkommen, bevor Sie nach Berlin
gehen!« sagte sie und gab ihm die Hand.

»Ist es Ihnen wirklich recht, wenn ich Sie noch einmal aufsuche?«

»Ich meine immer das, was ich sage!« Sie zog etwas ungeduldig die
Augenbrauen zusammen.

Die zwei gingen den Seitenweg am Hause entlang. Die Hecke machte die
Luft stickig; erdwarm und medizinisch roch der Buchsbaum.

Evelyn kam ihnen aus der Seitentür entgegen, mit einem riesigen Strauß
von Heliotropen und weißen Rosen. »Bringen Sie den, bitte, Tante Sophie
mit!«

Marianne saß auf der Bank vor dem Hause. Sie träumte in die Landstraße
hinaus, die von Hellweges Haus schnurgerade in die Heide führte. Ihre
Gedanken hingen ganz dort hinten, wo die Bäume sich zu einer bläulichen
Wölbung zusammentaten.

Craner verabschiedete sich. Es gelang ihm nicht, einen herzlichen Ton
zu finden, so sehr er auch darnach suchte. Agnes Elisabeths Augen
standen ihm im Wege.

Aber diese Augen begleiteten ihn die lange Chaussee hinunter, und wenn
er in die Sonne blickte, sah er sie in flimmernden Kreisen vor sich.

                   *       *       *       *       *

Über den Wiesen wetterleuchtete es. Ein schwacher Donner grummelte
in der Ferne. Ein schwüler Heugeruch zog geheimnisvoll durch das
weitgeöffnete Fenster. Draußen war es schwarz. Nur von den bekalkten,
krumpeligen Stämmen der Birnbäume ging ein Leuchten aus, als ständen da
nackte Beine im Grase. Wenn die Blitze kamen, war für Augenblicks Weile
der Tag in fahlem Lichte da. Totenstill war es. Das verhaltene Murren
klagte über die Ebene, und diese ferne Klage machte das Schweigen nur
tiefer.

Wie leer war dies Schweigen! Agnes Elisabeth sah stumm hinein. Die
Stille starrte sie an, wie die toten Räume ihres Inneren. Wie leer war
es auch dort!

Die Schwestern bei der Hand nehmen wollte sie und sie führen, aber sie
gingen ihre Wege allein. Sie wollte der Mutter blumenstilles Empfinden
weiterleben heißen in diesem lieben Hause, aber der Rhythmus wollte
nicht mehr stimmen, und neue Melodien wachten auf, die denen besser
klangen; sie wollte so gern für andere leben und ihnen helfen, aber
hier war nichts zu helfen; sie waren Naturen, die nur sich selbst
vertrauten; sie sehnte sich nach Hilfsbedürftigkeit, die leises
Streicheln brauchte; wie weich hätte ihre kurze Hand streicheln
können. Aber es war keiner da! Evelyn vielleicht noch eine kurze Weile,
aber dann ...?

Die Blättermassen draußen blickten regungslos auf sie herein, mit
starren Augen. Ängstigend und unbewegt stand jenes Versprechen vor ihr.
»Daß die Kinder eine Heimat behalten«, hatte die Mutter gesagt, »geh
du nicht von ihnen.« Sie hatte es ihr versprochen, in einem Taumel
schmerzlicher Begeisterung, die diese Lebensaufgabe mit beiden Händen
erfaßt und sich zu eigen gemacht hatte. Aber wie anders sah nun die
Wirklichkeit aus! Hätte die Mutter nicht eigentlich wissen müssen, daß
dieser letzte Wille für Agnes Elisabeth die Ursache eines zwecklosen
Daseins werden würde!? Von vornherein waren die Kinder gelehrt worden,
zuerst sich selbst zu suchen, um sich dann aus eigner Kraft des Lebens
Wertvollstes zu sammeln. Nun sollte sie denen eine Heimat sein, die
doch bei sich selbst zu Hause waren und keine andre Heimat brauchten.

Waren Frau Hellwege vielleicht in letzter Stunde Zweifel gekommen, ob
der Weg, den sie den Kindern gewiesen hatte, der richtige sei? Oder
hatte die Angst vor dem Tode ihren Glauben zittern lassen, daß sie nach
Händen gegriffen hatte, denen sie ihren liebsten Besitz anvertrauen
könnte?

Jedenfalls hatte Agnes Elisabeth das Versprechen gegeben und mußte es
halten; und sie wollte es auch. Daran war kein Zweifel.

Wie würde ihr Leben nun weiter gehen?

Es blitzte. Draußen auf dem Rasen lag noch Evelyns Hut.

Sie würde den Haushalt besorgen und alles mit den Geschwistern teilen.
Was würde sie von diesen zurückempfangen? Sie würde geben, geben! Aber
das würde niemals seliger sein als Nehmen! Sie strich mit der Hand über
ihre Arme. Ein schwüler Windschauer ließ das Laub draußen verschlafen
rascheln. Die Baumkronen wiegten sich sehnsüchtig zueinander.

Ein Rieseln stieg in ihrem Nacken auf und glitt kalt über den Rücken
hinunter.

Was sie aber brauchte ...?!

Sie glitt von der Fensterbank hinab und stand in der Mitte des Zimmers.
Sie streckte sich plötzlich lang auf die harten Holzdielen aus. Die
Arme preßten sich gerade an ihren Körper, als müßten sie ihn festhalten.

Ja, was sie brauchte! Liebe brauchte sie, und immer und immer wieder
Liebe. Sie wollte Liebe geben, aber sie wollte sie auch nehmen!

Die Blitze zuckten über ihren weißen Körper, die Bäume sahen
erschrocken herein. Da lag sie und krümmte sich unter den Schmerzen
ihrer Sehnsucht.

Eine schwere Wärme dämmerte vor ihrem Gesicht. Vor ihren Augen tanzten
Funken.

Drüben im Alkoven standen zwei brennende Kerzen. Mit heiliger Ruhe
leuchteten ihre Flammen. Sie ließen die knisternde Masse des Haars
kupfergolden glühen, rostbraun erlöschen. Und ein feiner Rauch stieg
gerade in die Höhe, wie eine Bitte, daß dieses Opfer Gnade finden möge.

So lag Agnes Elisabeth lange. Als warte sie in dieser Stille auf
Erlösung.

Aus braungoldiger Tiefe tauchte ein grünbeschirmtes Nachtlicht auf,
dessen Leuchten rötlich durch eine weiße Hand schimmerte. Eine blasse
Helle tastete durch das Zimmer.

Julie blieb vor dem Körper der Schwester stehen und betrachtete ihn.

Agnes Elisabeth zog ihre Glieder zusammen und richtete sich auf. Ihre
Augen fanden Julie nicht sogleich; sie sah die Kerzen, das Nachtlicht
und die zuckenden Schatten auf der Tapete; sie hörte den leisen Regen.

Eine stumpfe Pause dehnte sich.

»Evelyns Hut wird naß werden!« sagte sie. Sie besann sich.

»Was willst du noch so spät, Julie?« --

»Das Glucksen in der Regentonne läßt mich nicht einschlafen. Hast du
nicht irgend etwas Einschläferndes? Ich habe schon so viel wirres Zeug
durcheinandergeträumt!«

Agnes Elisabeth stand auf, ging auf die Diele und holte von dem Büfett
die Obstschüssel.

»Komm, Äpfel helfen am besten.«

Julie nahm einen und biß krachend in die Schale. Der Apfelduft brachte
vieles wieder in Ordnung.

Agnes Elisabeth flocht ihr Haar in einen strammen Zopf und war ganz die
alte.

Julie setzte sich auf einen Strohstuhl und stützte die Arme auf die
Knie.

»Ich glaube, ich gehe nun doch nach Berlin,« sagte sie gemächlich.
»Das Fleisch schmeckt, wie Seide. Etwas fade! Man kann vielleicht dort
besser arbeiten.«

Agnes Elisabeth setzte sich unschlüssig auf den Bettrand. »Wenn du
meinst -- natürlich! Aber ich denke, du arbeitest nur zu deinem
Vergnügen?«

Julie machte mit dem halben Apfel eine Geste.

»Das tue ich auch! Aber was Craner sagte, hat mich berührt. Wenn
ich jetzt in die Stadt fahre, um mir Bücher zu holen, wie ist das
umständlich! Dort habe ich jeden Tag alles zur Verfügung. Und ich will
alles nehmen, was ich haben kann.«

»Dann werden wir also nicht zusammen bleiben?«

»Nein! Das heißt, ich komme natürlich wieder; vielleicht ein, zwei,
drei Jahre bleibe ich in Berlin, dann nehme ich mir irgendeine große
Arbeit mit hierher und wohne wieder bei euch.«

Agnes Elisabeth zog die dünne Decke herauf und legte den Kopf ins
Kissen. »Du kannst tun, was du willst,« sagte sie müde.

Julie legte das Kerngehäuse auf den Teller.

»Es ist doch gut, daß wir unser Leben so genießen können, wie wir es
uns wünschen.« Sie dehnte sich behaglich.

»Wir ...?« dachte Agnes Elisabeth.

»Genießen ist die vornehmste Kunst des Lebens,« sagte Julie und stand
gähnend auf. »Gute Nacht! Soll ich die Lichter ausmachen?«

»Bitte!« kam es vom Alkoven. Die Flammen, eine nach der anderen,
beugten sich zur Seite, duckten sich und verloschen.

Das Nachtlicht zog langsam ab, die bloßen Füße tappten über die Diele.

Agnes Elisabeth lag allein, im Dunkeln. Ein lächelnder Schimmer war
noch in ihren Augen. Genießen ...?! Aber dann wurde er breit, höhnisch
und grinsend.




                                  VI


Viele Tage später. Ein Früh-August-Mittag.

In grünen Hecken ein rosa Kleid. In flachem Bastkorb honiggoldene und
graurote Himbeeren. Auf weißen Fingern hellroter Saft.

Der Himmel blank. Der Lohegeruch zwischen den Beeten kräftig und herb.
Reseden, Himbeeren, Lavendel, Zentifolien: ~ein~ opalschimmernder
Duft. In langsamen Stößen Lindenatem vom Hause her.

Nur dieses! Und ein dickes Summen von Bienen.

»Mein Blut ist röter als das Blut der anderen!« erzählte sich Marianne.
»Julie wird klares hagebuttenrotes haben, bei Agnes Elisabeth
wird es sein wie lauter Geranien, meines ist schwer und tief wie
Burgunder-Rot.« Ihr Haar war an den Schläfen feucht geworden. Sie
strich es zurück. »Wenn die Welt keine rote Farbe hätte! Alle Farben
könnten fehlen, nur Rot nicht!« Sie bekam eine plötzliche Sehnsucht,
sich in rote Blüten zu legen. Daß sie schon in der Heide wäre! Es war
so heiß!

Mit langsamen Schritten ging sie dem träumenden Hause zu.

Im Milchkeller war eine klingende Kühle, graugrünes Licht und ein
Streifen Sonne mit zitternden Stäubchen. Der Bastkorb blieb auf dem
Holzregal stehen. Das rosa Kleid stand nun oben in der Haustür, ganz
überworfen von Schattenflecken, die von den Lindenblättern kamen. Ein
großer Strohhut hing nachlässig in der gerundeten Hand und baumelte ab
und zu ein bißchen hin und her. Nach einer Weile beugte sich der Kopf
nach vorn und wandte sich dann schnell um. Der Entschluß war da.

»Gesche! Ich will noch ausgehen!« rief Marianne in die Diele zurück,
und irgendwo aus der Dämmerung kam eine Antwort. Dann wurde der Hut
in die Höhe gehoben und ließ sich auf dem Haar nieder. Das rosa Kleid
wanderte an den Malvenstöcken vorbei, durch das weiße Gitter.

Marianne ging geradeaus, mitten in die Heide hinein. Eine breite Hitze
brannte auf dem Wege. Die Bäume standen steif; die Schatten, die sich
um die Stämme herum zeichneten, waren wie grüngemalte Untersätze; wie
aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut sahen die langen, in der Ferne
sich verlierenden Reihen aus. Weißer Staub krisselte in der Luft.

»Fast etwas zu heiß,« dachte Marianne. »Aber rund und weich. Das gibt
es nur im Sommer. Herbst ist eckig und dürr, Winter verhungert und
verhärmt, Frühling blaß und aufgeregt.«

Sie schlenkerte die Arme hin und her. Die Glieder waren wie losgelöst,
die Bewegungen glatt, wie schmelzendes Wachs. Das Kleid schleifte über
die Erde und wirbelte ein Wölkchen hinter ihr auf. Hellgebacken standen
die Kornfelder da. Der Buchweizen roch nach Apfelgrütze. In rosigem
Glanze schimmerte dahinter die Heide.

»Wie Himbeerglasur,« dachte Marianne. Sie bog in den schmalen
weißsandigen Weg ein. Es war nur eine breite Furche, in der große
Büschel Erika standen, zwischen Zittergras und Glockenblumen. Sie ging
langsam und träge, unschlüssig, ob sie nicht stehenbleiben sollte.
Ihre Füße, die der Sand bei jedem Schritt festhielt, zogen den Körper
beschwerlich durch das Gestrüpp. Von den krumpeligen Kiefern kam ein
staubiger Duft. Ab und zu kroch eine blaufeine Welle von Moorrauch über
den Hügel.

Libellen strichen auf mit einem feinen Saitenklang, und Schmetterlinge
glitten durch die Luft, wie gelbe Rosenblätter.

An der weichen Hügelbrust, wo die Birke so allein stand, setzte sich
Marianne hin. Sie legte den Hut neben sich in das Heidekraut und
streckte sich bequem aus. Die Gräser gaben ihr ein krauses Gefühl am
Halse. Sie holte das Taschentuch heraus und legte es unter ihren Kopf.
Dann huschelte sie sich zurecht und sah behaglich in den Himmel.

Der Hügel glühte, und die Blumen standen wie aus lauter Glas. Wenn der
Erdhauch darüber glitt, gab es ein feines Klirren. Ihr Auge ruhte
träge auf dem kurzen Horizont, wo jeder Stiel und jeder Strauch, jede
Blüte und Blume auf den Himmel geklebt zu sein schien.

Und das weite Heidebett wiegte und wogte sie ein. Sie war die Königin
in rosenseidenen Kissen unter einem Baldachin von Atlas. Durch den
Saal zog ein Klingen, wie von Musik, die drüben jenseits des Flusses
spielte; ein Summen schwoll und flachte sich, wie Stimmen von Menschen,
die in den Vorzimmern warteten, ihr zu huldigen. Nun mußte einer kommen
in Sammet mit Spitzen, mit einem goldenen Degen und einer Feder auf
dem Hut. Die Menge vor den Türen sollte warten, er würde vor ihrem
Lager knien und bittend ihre Hände suchen. Mit halbgeschlossenen Augen
sah sie ihn, und ihre Lippen glühten. Sie wollte nicht zögern, ihn zu
empfangen ...

                   *       *       *       *       *

Ein blanker Strohhut erschien plötzlich zwischen den Gräsern. Da stand
er eine Weile sehr vergnügt. Dann ging er weiter und wanderte auf den
Blumen dahin.

Nach einer Weile wuchs ein Stock in die Höhe, und bald darauf hob sich
der Hut. Ein rotes Gesicht, ein dunkler Bart, eckige Schultern, ein
grauer Anzug: der Lehrer.

Die da lag, erkannte ihn unter halben Lidern. Sie hielt den Atem an und
war ganz still.

Der Lehrer stand auf der Höhe, breit und mächtig. Er sah sich um. Nun
schien er zu erschrecken. Er schob den Kopf nach vorn. Eine Weile
Unschlüssigkeit. Dann wendete er sich brav zur Seite und stieg den
Hügel dort hinunter, nicht ohne den Kopf noch einmal umzudrehen.

Dabei kam sie freilich nicht auf ihre Kosten.

»Herr Allm!«

Der Lehrer zuckte und wandte sich um. Er tat, als ob er sie suchte, kam
aber geraden Wegs mit steigenden Schritten auf Marianne zu.

Sie hob die Schultern und stützte sich auf den Arm. Nun stand er vor
ihr und zog den Strohhut vom Kopfe.

»Ist dies Ihre Erholung nach der Schule?« Sie beschrieb träge mit der
Hand einen Kreis.

Von Lukas Allm kam keine Antwort. Er tastete mit den großen Händen an
der Krempe des Huts entlang.

»Gehen Sie oft hier spazieren?« fragte Marianne nach einer Pause.

»Ja, ja, sehr oft!« stotterte Lukas. »Ich -- ja!«

Mariannes Fußspitze schaukelte auf und nieder.

»Wollen Sie hier ein bißchen ausruhen?«

Lukas’ Augen machten einen Spaziergang über die Linie ihres Körpers
hinab zu der trägen Bewegung des Fußes. Dann setzte er sich bescheiden
ihr gegenüber in das Gestrüpp.

»Wenn Sie erlauben.«

Marianne bedauerte, daß er sich nicht neben sie setzte.

»Erzählen Sie mir etwas!« bat sie weich und schmiegte den Kopf wieder
auf das Taschentuch.

Lukas Allm schwieg; er grübelte, wovon er sprechen könne. Von den
Kindern? Da wußte er gerade nichts. Von Evelyn? Das paßte nicht.
Von ...? Ja, wovon ...?

»Wissen Sie nichts?« fragte sie unter den Sträuchern.

Der Lehrer rückte sich zurecht und räusperte sich. »Die Heide ist
schön!« sagte er eilig.

»Ja,« kam es unbarmherzig zurück. Lukas Allm sah sie an, sah an ihr
vorbei, nun wußte er wieder nicht weiter. Es wurde ihm plötzlich warm,
die Zunge lag trocken am Gaumen, und im Halse gab es kurze Stöße, die
den Atem versetzten. Was war denn? Er saß hier mitten unter der Sonne
in einem Heidestrauch, und dort ... dort war Marianne, dort lag sie,
und er war mit ihr zusammen.

»Ja, ich gehe sehr oft hier spazieren!«

»Hm!« summte es.

»Immer, wenn die Schule zu Ende ist.« Er starrte auf das Kleid, das
über der Brust auf und nieder ging. Mit ihr allein, mit ihr zusammen.
Ein kleines Heldenlächeln ging über sein Gesicht. Und doch wäre er
jetzt gern in seiner Veranda gewesen, wo man sich so einen kleinen
gefährlich-behaglichen Traum wohl gönnen, ihn aber auch schnell wieder
beiseite stellen konnte. Hier aber saß er, hier war ~er~, und
da war ~sie~. Und alles war so hell, so heiß und wirklich. Ein
Rascheln erschreckte ihn.

Marianne richtete sich auf, stützte den Kopf in die Hände und sah ihn
an.

Sie sah ihn an. Mit schweren Augen! Und ihre Glieder sahen ihn an, und
ihre Lippen sahen ihn an.

Lukas Allm pflückte eine Blume und betrachtete ihre Blätter. Er zwang
die Augen hinunter.

Eine lange Pause.

»Ja,« sagte sie fest.

Lukas schlug die Augen empor. Er erschrak vor ihrem Blick. Dunkelblau,
unter langen blonden Wimpern. Von der Seite schimmerte es rosa, eine
Fülle von Rosa ... Plötzlich kam ein Duft herüber, eine schwüle Welle.
Ihre Haare flirrten vor seinen Augen.

»Woran denken Sie?«

Ein paar Bilder flogen ihm durch den Kopf, die Mutter, die Schulstube,
und verschwanden in der Luft. Im Mittagsglühen lag der Körper vor ihm.

»Sie haben es dort heiß! Wollen Sie sich nicht hierher setzen?«

Marianne tat ihr Gesicht in die Blüten. Nun saß Lukas Allm neben ihr,
zwei Handbreit entfernt; ein Käfer krabbelte von seinem Rock auf ihr
Kleid. Ihre Hand glitt vom Gesicht und lag da vor ihm. Nackt lag sie
da, und sehnsüchtige Lust war in ihrer Rundung. Seine Augen zog sie
hinab. Die irrten eine Weile umher, dann blieben sie hängen und kamen
nicht fort.

Lukas Allm faßte ins Gras; nur zufällig berührte seine Hand die weiche
Haut. Nur zufällig hoben sich ihre Finger und blieben auf des Lehrers
breiter Hand liegen.

Nun verging eine lange Zeit. Keines rührte sich. Als wüßten sie nicht,
daß ihre Hände beieinander lagen ...

In Marianne war ein lässig genießendes Warten. Wie angenehm war es
doch, dies Warten in der Hand zu haben! Es war ein hübsches Gefühl, zu
wissen, daß er, der da neben ihr saß, abhängig von ihr war. Nun wollte
sie es noch ein Weilchen hinausschieben. Sie dehnte sich.

Der ganze flimmernde Sommertag kam ihr zu Hilfe, tiefte das Rosa, ließ
die Haut leuchten, hob ihren Körper auf und zeigte dem armen, hilflosen
Lehrer, wie schön sie war.

Der wußte nun gar nichts mehr. Er starrte nur immer zur Seite, dahin,
wo der runde Hals im Kleide verschwand.

Marianne fühlte seinen Blick. Ein kleiner Triumph breitete sich in ihr
aus. Sie empfand etwas von unbegrenzter Machtmöglichkeit. Aber auch
ein flirrender Schleier schwebte vor ihren Augen, von der Nähe eines
Augenblicks, da sie bewußtlos lächelnd alle Macht darangeben würde. Und
wie sie daran dachte, stand dieser Augenblick auch schon neben ihr, und
sie griff nach ihm.

Ihre Finger preßten sich fest um des Lehrers Hand. Und dann zog sie ihn
langsam, ganz langsam zu sich herab.

Lukas Allm fühlte plötzlich ihren Atem und sah ihre schimmernde Haut.
Ein Brausen siedete in seinen Ohren. Dann schlug es über ihm zusammen.
Er fühlte feuchte Lippen ...

Vielleicht wollte er jetzt aufspringen und weglaufen, aber nun legten
sich ihre Hände weich um seinen Nacken und hielten ihn fest. Und das
änderte alles. Schließlich hatte er nicht umsonst seine Jugend fern von
allen Wirklichkeiten verträumt und in seiner Heidestille eine Fülle
unbewußter Sehnsucht und unverbrauchter Empfindungskraft aufgespeichert.

Seine Hände tasteten nach ihrem Kopf, faßten ihr Haar, glitten über den
Hals und preßten ihren Körper.

Mit geschlossenen Augen lag Marianne da. Und er küßte ihre Lippen, ihre
Wangen, ihre Augen, ihren Hals. Sehnsüchtig sog er ihren Duft. Er mußte
Jahre wieder einholen, die vorübergedämmert waren!

Oh, und Marianne ...! Gold und glühendes Rot wogte vor ihren Augen.
Schauer rieselten durch ihren Körper. Hierhin, dorthin flog ihr
Empfinden. Jetzt war es in den Lippen und nahm seine Küsse, nun im Haar
und zitterte unter seinem warmen Atem, nun wieder am Hals und bog sich
voll Lust unter dem Kribbeln seines Bartes. Der ganze Leib ein Meer von
Glut; ein Spannen in allen Nerven, ein Loslassen, das leuchtend schwer
dahinfloß, eine bebende Wonne, die über ihrer Haut ausgestreckt war wie
Seide oder Blumen oder streichelnde Hände.

So küßten sie sich.

Bis er plötzlich sich schwer atmend aufrichtete, während Marianne
bewegungslos liegen blieb. Ein Gefühl von Leere. Eine unbestimmte Farbe
von Übersättigung. Ein paar stockende Gedanken: »Das hättest du nicht
tun sollen« und »Was nun?« und sogleich danach eine brave, neugebackene
Würde: »Nun bin ich verlobt!«

Und da unten im Grase nichts von alledem. Nur ein Weitertreiben, ein
Sich-Dehnen in lauwarmen Fluten.

Nach einer Weile wurden die Wellen flacher, und plötzlich schlug
Marianne die Augen auf, verwundert, als sei sie da irgendwo an den
Strand gespült und wüßte nicht, wo sie wäre.

Lukas Allm atmete auf.

Der Stolz auf seine neue Würde war klein geworden, als er sie
regungslos vor sich liegen sah. Ob ihr etwas geschehen sein mochte?!

Was konnte das kleine Heidelicht von jenen Flammen wissen, die
in diesem jungen Körper glühten! Er hatte sie entzündet; nun
sie aufbrannten, bekam er es mit der Angst. Mit einer richtigen
Jungensangst.

Aber jetzt strich er sich erleichtert über die Stirn. »Nun sind wir
verlobt!« sagte er strahlend.

Marianne richtete sich auf und sah ihn erstaunt an. Plötzlich lachte
sie.

Lukas Allm machte ein befremdetes Gesicht.

»Wir sind nun verlobt!« betonte er wichtig.

»So!« sagte sie langgedehnt.

»Ja, natürlich!«

Auf seinem Gesicht lag bereits der Sonnenschein einer glücklichen Ehe,
in ein paar Falten hatten sich sogar schon einige wichtige Sorgen
niedergelassen. Er holte tief Atem.

Also am 5. August nach der Schule hatte er sich in der Heide mit der
dritten Tochter des verstorbenen Rechtsanwalts Hellwege verlobt.

Noch dazu heimlich. Ja, er selbst wußte es kaum. Plötzlich war die
Liebe gekommen, »wie der Frühling auf leisen Sohlen«, hatte er irgendwo
einmal gelesen.

Er rückte näher und nahm Mariannes Hand. Nun mußte er wohl von Liebe
sprechen.

»Haben Sie,« stotterte er, »haben Sie ... hast du mich lieb?«

Er erschrak über seine Frage und freute sich doch zugleich. Das spielte
sich alles so ab, wie er es in Büchern gelesen hatte: Marianne wurde
rot und flüsterte »Ja« und entzog ihm ihre Hand.

Er war glücklich und stolz.

Aber Marianne stand auf und nahm ihren Hut.

»Du darfst es niemandem sagen! Und morgen mittag ...«




                                  VII


Wenn Evelyn etwas Heimliches tat, so geschah es, wo die Äste der
breiten Kastanie einen Saal bildeten, dessen Tapeten stumpfgrüne
Blätter waren, während von der Decke ein Dämmerlicht herniederfloß, wie
von Flammen, die durch feine grüne Seide hindurchzitterten. Es war der
siebente Ast in der Höhe. Er war breiter als die anderen und gab mit
dem Stamm als Rückenlehne einen bequemen Platz. Bequem, wenn man dünn
war, nicht allzu groß und dichtes blondes Haar als Kissen hatte.

Dort saß sie nun jeden Tag, nach Tisch, wenn Agnes Elisabeth noch im
Haushalt zu tun hatte, Julie in ihrem Zimmer las und Marianne in der
Laube an ihrem Tagebuch schrieb. Marianne schrieb nämlich seit einigen
Wochen auf goldgeränderten Seiten Gefühle nieder.

Hier war die Erde weit weg von ihr, und in dem Stückchen Himmel da
oben gab es weite Möglichkeiten, in die ihre Träume ahnungsvoll
hineingingen.

Wenn ihr Kleid von den angehockten Knien herabglitt, dann war es
wie der Spitzenschleier einer Fee oder die seidene Schleppe einer
Prinzessin. Vielleicht auch nichts davon, nur eine schöne Linie und das
Bewußtsein, daß sie ihr zugehörte.

Der grüne Saal war heute eine Halle mit Bogenfenstern und Säulen,
morgen ein Garten mit fremden Bäumen, die es nirgends gab, und Blumen
voll kühlen Dufts.

Und Schmetterlinge kamen, sie zu besuchen, Kavaliere in Seide oder
träumende Boten von Märchenufern.

Ganz, wie es ihr beliebte.

Doch seit acht Tagen lag zwischen den Ästen eingeklemmt da oben ein
Buch. Und wenn Evelyn dort saß, dann sah man nur etwas Weißes, das
sich zusammenkauerte, und in der Mitte -- alle Linien schienen da
hineinzulaufen -- dieses grüne Buch.

Das war Jens Peter Jakobsens »Frau Marie Grubbe«.

Da las sie nun von allen den seltsamen Dingen, die es in der Welt gibt.
Mit kühlem Grausen las sie davon.

Und zum ersten Male streckte sie ihre Hände nach des Lebens
Wirklichkeiten aus.

Und was das Heimliche betrifft, so hatte Julie ihr das Buch nicht geben
wollen, aber sie hatte es sich genommen.




                                 VIII


Mitten in die Farben des Herbstes hinein, die sich zu Tode glühten, kam
ein Brief von Heinrich Craner, der Agnes Elisabeths Adresse trug.

Sie saß im Garten, als er ihr gebracht wurde, nähte an einem Kleide
für Evelyn und dachte darüber nach, daß Marianne in letzter Zeit so
angegriffen aussah.

Die Naht wurde zu Ende gebracht und der Brief dann langsam geöffnet.
Craner schrieb:

»Wenn ich mir überlege, daß Sie mich innerhalb der letzten sieben Jahre
nur ein paar kurze Stunden gesehen haben, daß diese Stunden ausgefüllt
waren von geschäftlichen Besprechungen, die für gegenseitiges
persönliches Verstehen wenig Raum gaben, so kommen mir Bedenken, ob ich
diesen Brief schreiben darf.

Mache ich mir aber klar, daß Sie dem Leben stets mit offnen Augen
gegenübergestanden haben, daß Ihr Blick nicht getrübt worden ist durch
konventionelle Brillengläser und scharf geblieben durch die klare
Atmosphäre Ihres stillen selbstbewußten Lebens, daß Ihre gerade Natur
nur Ursprüngliches und Unmittelbares verlangen kann, so weiß ich, daß
ich diesen Brief schreiben muß. Also schreibe ich ihn.

Was nun kommt, möchte von einer Empfindung sprechen. Ich zweifle, ob es
mir gelingen wird, ihr Ausdruck zu geben. Ich bin nicht gewöhnt, von
meinen Gefühlen zu reden, und es fällt mir in der gegenwärtigen Lage
doppelt schwer, da es mir bisher nicht gelungen ist, festzustellen, ob
Ihr Inneres auf dieselbe Tonart gestimmt ist wie das meine.

Aber auch eine in dürftige Hülle gekleidete Empfindung werden Sie
erkennen, wenn sie nur überhaupt einen Wert für Sie hat.

Ich liebe Sie.

Darf ich Ihnen erklären, wie es dazu kam?

Ich habe in meinem Leben vielleicht mehr über mich nachgedacht, als
die meisten zu tun pflegen. Ich habe schon von Kind auf die Gewohnheit
gehabt, mich nicht mit allgemeinen Glückswerten zufrieden zu geben,
sondern mir auf eigne Faust mein bißchen Glück zu erkämpfen.

Es ist mir gelungen. Nach mannigfachen Zickzackwegen natürlich,
die aber, wenn ich sie von mühsam erreichter Höhe nun rückschauend
betrachte, doch eine gerade Linie bilden.

Die Lebenserfahrung, die ich nach innerem Streit im Studierzimmer,
nach äußeren Kämpfen an Krankenbetten, in Hospitälern und auf
sonnenbrennenden Schlachtfeldern Südafrikas gewinnen durfte, ist die:
Glück heißt: Persönlichkeit sein und aus der Fülle eigner Kraft andere
glücklich machen. Ich darf sagen, daß ich mir dies Glück zu eigen
gemacht habe.

Aber nun will es mir nicht mehr genügen.

Seit einigen Monaten bin ich mir darüber klar geworden, daß eine
Sehnsucht in mir lebt, die schon jahrelang unbewußt geschlummert hat.
Es hat lange gedauert, bis ich wußte, was das Ziel dieser stillen
Sehnsucht ist. Jetzt weiß ich es!

Alle Menschen, denen ich bis heute äußerlich nähergestanden habe, waren
mir innerlich fremd. Aber ich brauche jemand, der mich etwas angeht,
der nach mir greift mit Liebe und mich festhält mit Verstehen.

Harte Hände, die in mein Leben hineinfassen und es rütteln, und doch
auch weiche Hände, die es milde streicheln.

Als ich Sie vor vier Monaten verließ, wußte ich, daß Sie für mich
bedeuten können, was ich brauche. Das war zunächst eine kühle
Überlegung. Mit jedem Tage, den ich bei meiner Arbeit durchlebte, wurde
sie mehr und mehr verdrängt durch ein herzliches und inniges Gefühl für
Sie.

Ich komme zu Ihnen als ein Bittender, doch nicht um Opfer. Was ich
Ihnen geben kann, ist nur ein Leben voll Arbeit unter den erschwerten
äußeren Bedingungen eines ungünstigen Klimas. Arbeit, aber vielleicht
auch Ruhe, gewisse, fröhliche Ruhe, die nur die Arbeit geben kann. Und
Liebe! Keine amour, aber ein treues, ehrliches Empfinden!

Ich bitte Sie nicht um eine schnelle Antwort! Ich werde am 29. Oktober
zu Ihnen kommen und mir meine Antwort selbst holen.

                                                      Heinrich Craner.«

Eine Weile sah Agnes Elisabeth regungslos vor sich hin. Vorerst
verstand sie nichts von diesem Brief; er traf sie plötzlich und
unerwartet; sie war erschrocken und unfähig, einen Gedanken zu fassen.
Langsam gingen ihre Augen über die vergilbten Rasenflächen und den
Wollstoff auf dem Tisch und blieben wieder auf dem Bogen liegen. »Auch
weiche Hände, die es milde streicheln ...« Plötzlich wachte in ihrem
Nacken ein Feuer auf, verbreitete sich rasch über ihren Rücken, fuhr
hinab bis in die Fußspitzen, loderte hinauf zum Scheitel. Sie lehnte
sich weit zurück, ließ die Hände herabsinken und warf den Kopf nach
hinten. Und dann fuhr die Erkenntnis durch sie hindurch: Da war jemand,
der hatte sie lieb!

Das packte sie jäh. Das ergriff sie wie ein Taumel. Sie sprang auf und
ging in den Garten. Unten am Wasser saß Evelyn, mitten im Sonnenschein.

»Pass’ auf, ich kriege dich!« rief sie ihr zu.

Die Kleine war schnell auf den Beinen und lief über den Rasen. Nun
wurde es ein Tollen und Jagen, mit fliegenden Kleidern und lautem
Gejuchze. Evelyn rannte durch die Tannenallee zum Wasser hinunter.

Agnes Elisabeth lief ihr nach, blieb aber plötzlich stehen und
sah sich um. Vor ihr stand die Masse einer Rotbuche, auf deren
blutenden Blättern mattes Gold schimmerte, dicht über Rasens Höhe
karmoisinrote Kugeln von Georginen, und etwas höher, lang und schmal,
weinrote Haselnußgerten. Dort drüben die kupferhelle Freudigkeit
breiter Ahornzweige, die sich lachend vor dunkle Tannen drängte. Und
ganz hinten, ein Spott auf des Herbstes Sterben: in dürrem Gebüsch
gleißendes Scharlachrot. Und dies alles jauchzte ihr zu, schrie und
jubelte.

Oh, sie hätte ihre Arme ausbreiten mögen nach diesen tausend Flammen
brennenden Rots, die eigens für sie entzündet waren. Und die Flut des
Sonnenlichts hätte sie trinken wollen, durstig, und zitternd unter der
Bürde ihres Glücks.

Eine Bürde war es ...! Wie sie weiterging, waren ihre Schritte schwer,
als müßten sie sich beugen, -- wie heißes Gold rann das Blut durch ihre
Adern. Und irgendwo da drinnen war eine Last, die alle Glieder müde
machte.

Aber sie dachte nichts anderes, als daß sie diese Last tragen dürfte,
jetzt noch wie in einem Traum, und nun mit Gewißheit.

Mit Gewißheit ...!

Trotzdem freilich wußte sie noch nicht, was sie mit Craners Brief
anfangen sollte.




                                  IX


Eines Morgens erwachte der Pastor mit dem Gedanken, daß es wohl
Christenpflicht sei, sich wieder einmal um die verwaisten Schwestern zu
kümmern. Da es noch vor sieben war, legte er sich auf die andere Seite,
zog das Federbett höher und überlegte sich die Sache: Die langen Abende
begannen; man konnte nicht immer Bücher lesen, vielleicht wäre es ganz
nett, einen Verkehr anzufangen.

Aus dem Bett neben ihm kam ein Seufzen. Hinter dem Berg von Kissen
tauchte die Nachtmütze der Pastorin auf.

»Gottfried! Es ist sieben!«

Das Rasseln des Weckers, der auf der Marmorplatte des Waschtisches
stand, fuhr frech in die morgendliche Stille.

»Ich sage ja, genau mit dem Glockenschlag wache ich immer auf!« lobte
es auf der weiblichen Seite.

Gottfried Gerlach wandte sich und sandte ihr einen begrüßenden Blick.

»Es scheint zu regnen,« meinte sie und hob sich in die Höhe.
»Natürlich! Also wieder keine Wäsche aufzuhängen!«

Er überlegte, ob er ihr von seinem Plan sprechen sollte. Sehr günstig
war der Augenblick nicht. Lieber noch ein Weilchen warten!

Er stand auf und zog sich an. Später, beim Waschen, als er mit den
Armen im Becken herumfuhr, bemerkte er beiläufig:

»Eigentlich sollte man die Hellweges wohl mal einladen!«

Die Pastorin zog gerade einen roten Moirérock über.

»Warum? Das haben wir doch nicht nötig!« sagte sie und arbeitete mit
den Ellbogen den Rock herunter.

Der Pastor griff nach dem Handtuch und rieb sein Gesicht.

»Nötig ja nicht! Aber die verlassenen Waisen könnten etwas guten
Einfluß schon gebrauchen!«

Der »gute Einfluß« überredete Betty stets. Sie fand nun auch, daß
es gut wäre, auf die jungen Mädchen einzuwirken. Sie erinnerte sich
plötzlich, daß die Kleine bei Hellweges immer so naseweise Fragen
stellte, daß Julies Mundwinkel spöttisch zucken konnten, wenn sie mit
ihr sprach.

»Ohne jede Erziehung!« sagte sie. »Es ist wahr, Gottfried, wir haben
Pflichten!«

Die Mission war erkannt, und man ging ihr sofort zuleibe. Die
Schwestern wurden feierlich zum Abendbrot geladen, und damit es sich
auch lohne, forderte man auch den Schullehrer mit seiner Mutter und
Hinrich Teetje auf.

                   *       *       *       *       *

Dies war nun die Abendgesellschaft.

Die Hängelampe schummerte über dem Tischtuch. Ein Geruch von Braunbier
und Schinken stieg von der Tafel und mischte sich in den Ecken, wo die
zwei Blumenetageren standen, mit dem welken Duft letzter Rosen.

Da saßen sie alle einträchtig, eines neben dem anderen.

Mine, das Mädchen, stand an der Tür und glotzte mit aufgerissenen
Augen auf das, was am Tisch geschah. Warum das nur immer schnackte und
redete?! Wenn man bei Tisch saß, dann aß man und sprach nicht. Das
älteste Fräulein Hellwege hatte ein Kleid von schierer schwarzer Seide
an. Und die zweite schien Herrn Pastor richtig auszuschimpfen.

»Ich nehme nur Goldreinetten. Und ich lasse den Saft einkochen, bis er
braunschwarz wird,« erklärte die Pastorin.

»Kochen Sie auch Gelee ein?« kam es von Frau Allm.

»Nein, mein liebes Fräulein Julie, an und für sich habe ich nichts
gegen das Studieren; aber der Beruf der Frau liegt auf einem anderen
Gebiete!« sagte Gerlach bedeutungsvoll.

»Das kommt auf die Persönlichkeit an,« meinte Julie. Auf ihrem Gesicht
lag eine matte Farbe, wie errötende Bronze. War es nicht, als hätte
man eine feine Radierung in eine Bauernstube gehängt!? Das Holzbraun
des Kleides, das flüchtende Braun des Haares, das Golddunkel der Aster
im Haarknoten ...

Der Pastor hingegen fand, daß Braun nicht ihre Farbe sei. Zwischen
Wurstbroten und weichem Ei setzte er sein Gespräch mit ihr fort. Er
hatte sich heute bis an die Zähne gewappnet. Sich bloßstellen, wie
neulich, wollte er nicht wieder. Sie schien auch nachgiebiger zu sein.
Übrigens, das mußte er ihr lassen: ein klares Denken hatte sie.

»Nein, weißt du, aus allen den kleinen gelben Viehchen sind nun große
weiße Enten geworden!« erzählte Evelyn ihrem kleinen Nachbarn, dem
siebenjährigen Hermann des Pastors. »Und auch die Hängematte ist
wieder heil, durch die Marianne damals durchfiel.« Sie zeigte auf die
Schwester, die in einer farbenfrohen Seidenbluse stumm und strahlend
neben Lukas Allm saß. Hätte nicht das Tischtuch ein zuckendes Fältchen
geworfen, wären nicht beider Arme in einem Bogen zueinander geneigt
gewesen, man hätte von einer Unterhaltung zwischen den beiden nichts
bemerkt. Evelyn wollte just über dieser Betrachtung den kleinen Hermann
vergessen, da lag schon seine schmierige Patschhand auf der Seide ihres
Ärmels.

»Du -- und?« Die blauen Augen strahlten. »Dann schaukelst du mich
wieder so hoch, daß ich in die Bäume fliege!?«

So hatte jeder sein Teil.

Hinrich Teetje saß, und seine grauen Augen saugten sich fest in rotem
Haar.

Er wußte nicht, ob das schicklich war. Er wußte überhaupt nichts von
dergleichen Dingen. Er wußte nur, daß das ein Feuer anfachte, und daß
er still dasitzen mußte, damit es gut brenne.

Und sie, die seinen Blick fühlte, dachte an Heinrich Craner und gab
Hinrich einen freundlichen Blick. Wenn ein Luftzug kommt, brennen
Flammen heller.

Mine kicherte. Ihr Pastor bückte sich und hob Fräulein Hellweges
Serviette auf.

»Ich hatte neulich einen Brief von Herrn Craner, er schrieb mir über
Evelyns Stunden und ihre Konfirmation.«

»Die Pfauen tragen eine Krone auf dem Kopfe.«

»Essen Sie Äpfel nicht gerne, Fräulein Marianne?« So hatte es endlich
zu einem Satze gereicht.

»Sie ist eine reizende Frau, Ihre Tante Sophie.«

»Ich will auch niemandem eine Freude machen!«

»Ich danke Ihnen auch schön für Andersens Märchen, Frau Allm!«

»Hat es Ihnen gefallen, Fräulein Eva?«

Der rote Saftpudding!

Und dann: »Hab’ Dank für Speise und Trank!«

Der Pastor stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, daß Julies
Blick während des Betens zerstreut über die Wände ging. Er folgte ihm.
Doch als sie sich drüben im Spiegel fanden, senkte er strafend die
Augenlider.

Unter allgemeinem Stühleschurren kam man ins Wohnzimmer.

»Nun, mein lieber Teetje, was machen Ihre landwirtschaftlichen Studien?
Gehen Sie noch mal wieder nach Berlin zurück?«

Teetje antwortete schwerfällig, aber seine Stimme war schön und brachte
Fülle in das unbewohnt riechende »beste Zimmer« des Pfarrhauses.

»Ich muß zusehen! Ich weiß es noch nicht genau, Herr Pastor! Mit Vater
seiner Gesundheit wird es immer wackeliger! Es wird mir schwer genug
werden, das Lernen aufzugeben. Wenn er mich braucht, muß ich natürlich
hier sein.«

»Auch, wenn Sie mitten im Lernen sind?« fragte Julie interessiert.

»Gewiß, Fräulein.« Da war kein Zweifel.

»Sie können ja Ihre Arbeit auch hier draußen weiterbringen,« sagte
Agnes Elisabeth freundlich vom Sofa her, wo sie neben Frau Allm saß.

Hinrich Teetje wurde heftig.

»Nein! Eins oder das andere! Lernen oder wirtschaften! Die Bücher oder
der Hof!«

Sein schmales, fast rassereines Gesicht tiefte sich in einer Farbe, die
irgend etwas Innerliches zudeckte.

»Aber Sie entscheiden sich nicht für die Bücher, auch wenn Sie sie
lieber mögen?« fragte Julie gespannt.

»Nun mögen Sie für Ihre Ansicht reden,« lächelte der Pastor. »Diesen
werden Sie nicht bekehren.« -- Seine Zigarre qualmte in dicken Schwaden.

»Bekehren, das wissen Sie, Herr Pastor, ist nicht mein Geschmack.« Wie
dieser Hinrich Teetje wohl mit einer Zigarette aussehen würde? dachte
sie.

»Nein!« sagte Hinrich schlicht.

»Schade!« Julie interessierte sich für ihn. »Warum tun Sie nicht, was
Ihnen Freude macht?«

»Ich habe meinem Vater, als er mir erlaubte, in die Stadt zu gehen,
versprochen, daß ich kommen will, wenn er mich ruft, damit ~ich~
dann seine Arbeit tue.«

»Und ich meine,« sagte der Pastor und legte seine Hand auf Hinrichs
Schulter, »solche Kindesliebe hat höheren Wert als die Jagd nach
eigenem Glück.«

»Kindesliebe ist das nicht, Herr Pastor!« entgegnete Hinrich Teetje.
Damit schloß er zu, und man hörte an dem Abend kein Wort mehr von ihm.

Wo des Pastorhauses einzige Palme stand, saßen Marianne und Lukas Allm.
Die Palmenhände verdeckten begehrliches Kichern und halblaute Worte.
Marianne schwamm im Vergessen alles Äußeren und hatte als Stütze nur
des Lehrers rote Hand. Das Halbdunkel der Ecke gab ihr weite Träume,
und die Luft der Prachtstube ließ sie sich als würdige Lehrersfrau
fühlen. Hin und wieder nippte sie von dem süßen Stachelbeerwein.

Evelyn saß allein und blätterte in einem Bilderbuch des kleinen
Hermann, der schon zu Bett gegangen war. ›Am Himmel schön die Sternlein
stehn, die Glock’ schlägt zwei, sie gehn hinunter nach der Reih’ ...‹

Das Gespräch floß in geschwätziger Breite dahin. Allmählich dehnte es
sich, stumme Blasen stiegen auf, endlich blieb es sachte stehen.

Frau Allms Socke spitzte sich zum Zeh, Agnes Elisabeth erhob sich, und
nach Bedanken und Gutenachtsagen ging man auseinander.

Wenn Marianne und Lukas Allm sich noch zu einem Zusammentreffen in
der Heide am nächsten Mittag verabredet hatten, so hatte man davon
jedenfalls nichts gehört.

»Es sind junge Seelen; gute Eindrücke werden in ihnen haften bleiben,«
sagte der Pastor und schloß die Haustür.




                                   X


Wie tote Städte standen die Torfhaufen nebeneinander, in geraden
Straßen, die verlassen waren. Hier eine Stadt, dort eine, alle
ausgestorben, als sei die Pest hindurchgegangen.

Der Wind fegte über das Moor. Aus der Ferne kam er heulend heran,
wimmerte über den Bäumen und prasselte hinten in die Dorfstraße hinein.
Staub wirbelte er auf, duckte Hagebuttensträuche zu Boden, ließ
Eichengebüsch klirrend erschauern und die entlaubten Birken ihre Leiber
zur Erde biegen. Alles, was noch Sommer war, riß er ab und pfiff es in
die Luft.

Drüben stand die Sonne. Zwischen Dunst ein matter Streifen und in
Schleiern eine kalte Kugel. Es war kein Licht, das von ihr kam; eine
Blässe, die nur traurig war, ein Glanz wie blindes Messing. Feindschaft
war heraufgekommen aus toten Winkeln und hatte alles Glück und alles
Jubeln verstummen lassen. An Licht und Sonne mochte man nicht glauben
und ließ es gehen, wie es ging.

In der Mitte der Straße ging Agnes Elisabeth. Der Wind preßte sich fest
an sie, so daß das Kleid wie nasse Tücher um ihre Formen klebte. Sie
lehnte sich dagegen. Der Sturm wußte, daß sie ihm gehörte.

Just, als die gelbe Scheibe sich hinter graue Schwaden versteckte,
erschien unten, wo die Chaussee mit kreisrunder Öffnung in der Ferne
verschwand, ein dunkler Punkt. Er wurde größer, und dann erkannte Agnes
Elisabeth, daß es der war, den sie erwartete.

Ihre Füße fingen zu laufen an. Sie lief, bis sie bei ihm war. Nun stand
sie vor ihm und wußte erst jetzt, daß sie gelaufen war.

Eben noch hätte sie ihre Arme um ihn werfen mögen, hätte sich an ihn
pressen, ihn küssen mögen, nun konnte sie nichts von alledem. Demütig
stand sie und wartete.

Heinrich Craner nahm ihre Hände und neigte sich über sie, aber er
wagte es nicht, sie zu küssen. War er erschrocken darüber, daß sie so
auf ihn zugeflogen war, mit wirrem Haar, das wie Flammen flirrte, mit
ungestümen Bewegungen, leidenschaftlich, und doch kalt!? Jedenfalls
schien es ihm, als seien in ihrer Gestalt alle Stimmungen dieser
Herbstesherbheit vereinigt: ein Brausen über unendliche Flächen der
Sehnsucht, ein Rütteln an allem, was einengte, freilich auch nur
blasses Licht, das kaum noch an sich glauben mochte.

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind!« sagte er ruhig.

Agnes Elisabeth machte eine abwesende Bewegung. Noch war sie wie im
Traum; alles war so selbstverständlich geschehen, ohne daß sie etwas
dazu getan hatte; sie hatte das Haus verlassen, mechanisch die Richtung
zum Bahnhof eingeschlagen, war immer weiter gegangen, bis sie ihn sah,
und dann war sie ihm entgegengelaufen. Aber nun sie neben ihm schritt,
fühlte sie plötzlich eine Verwunderung, die irgendwoher von außen zu
kommen schien, vielleicht von den Bäumen, die ihre Köpfe schüttelten,
von dem zweifelnden Blick der Sonne, die sich aus dem Dunst wieder
herausquälte.

Craner ging eine Weile schweigend neben ihr her und versuchte hin
und wieder ihren Blick zu finden. Aber der war zur Erde geneigt. --
Plötzlich -- es schien, als habe er nur darauf gewartet, daß sie die
Brücke überschritten -- begann er:

»Sie haben meinen Brief verstanden, nicht wahr? Ich weiß es; Sie wären
sonst nicht gekommen, nicht so gekommen.«

Agnes Elisabeth erschrak. Hatte sie sich etwas vergeben? Kurz darauf
aber dachte sie daran, daß er sie lieb hatte, und gleichzeitig erwachte
Wärme in ihr.

Craner mochte sie fühlen.

»Ich möchte Ihnen sagen, wie glücklich ich darüber bin. Was ich Ihnen
schrieb, habe ich bisher keinem Menschen gesagt. Das Vertrauen fehlte
mir. Bei Ihnen habe ich nicht einen Augenblick gezögert.«

Ein froher Stolz breitete sich in ihr aus, mehr noch, ein glückliches
Gefühl der Zusammengehörigkeit.

»Und das andere,« fuhr er zögernd fort; »daß ich ...«

Es war Agnes Elisabeth nicht möglich, ihm zu helfen. Nicht, weil sie zu
schüchtern gewesen wäre; sondern einfach, weil sie nicht verstand, von
Liebe zu sprechen.

Craner gab sich einen Ruck.

»Ja! Ich habe Sie lieb!«

Das wurde kurz und trocken hervorgestoßen. Aber es berührte sie
unmittelbar. Sie drehte jäh den Kopf und sah ihn an.

Aber Craner blickte nach den Torfstädten hin; als dürfe er sich nicht
beirren lassen, sprach er heftig weiter: »Und ich brauche Ihre Liebe.
Sie wissen nicht, was es heißt, da unten zu sitzen, fern von aller
Kultur, auf sich selbst angewiesen, ohne irgendeine Möglichkeit,
geistig weiterzukommen.«

Er hielt inne und suchte mit den Augen zwischen den Bäumen. Er wußte
gar nicht mehr, worauf er eigentlich hinauswollte.

Agnes Elisabeth hatte gespannt zugehört, um ihn zu verstehen. Der Sturm
riß seine Worte weg; sie mußte sich mühen, sie aufzufangen. Sie begriff
nur, daß er nicht glücklich war und sie brauchte. Das war auch alles,
was sie hören wollte.

»Aber das meine ich eigentlich nicht,« sagte er, sich besinnend. »Ich
meine, man ist so allein! Die paar Menschen, die ich hatte, bedeuteten
nichts für mich. Und ich ...«

Agnes Elisabeth wunderte sich plötzlich, wie zaghaft dieser Mann war,
der ihr doch damals ein Gefühl von Sicherheit hatte geben können. Das
rührte sie. Sie empfand, daß etwas Verwandtes in ihnen war. Allein, o
ja, allein war auch sie. Sie hätte es gern gesagt.

Aber Craner achtete nicht darauf.

»Ich brauche Sie so sehr!« sagte er kurz, fast hilflos.

Agnes Elisabeth hatte ihn plötzlich ganz vergessen. Sie dachte nichts
anderes, als daß ihr Leben einsam war. Sie wollte es einmal aussprechen
dürfen, reden ohne Aufhören von dieser Einsamkeit, in der sie sich
hinschleppen mußte, sie wollte sich ausweinen und ihren Kopf anlehnen
dürfen.

»Wollen Sie nun bei mir sein?«

Agnes Elisabeth nickte langsam mit dem Kopf. Eine unbestimmte
Empfindung wurde in ihr wach. Warum sprach er noch immer? Sie wünschte,
daß er schwiege, daß eine Stille käme, in der sie alles vergessen
könnte.

Aber er fragte weiter:

»Wollen Sie mir nicht einmal sagen, ob Sie mich liebhaben? Hast du mich
lieb, Agnes Elisabeth?«

»Ja, o ja!«

Es war, als ob etwas in ihr zerspränge, etwas anderes sich frei machte.
Ein Ton war darinnen, wie von brechenden Ästen.

Dann kamen jene Augenblicke, die allein in Agnes Elisabeths Erinnerung
an diesen Tag zurückblieben. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie.
Er küßte sie mit der Empfindung eines einfachen, gesunden Mannes.

Aber für sie war es mehr. Während er ihr nur einen Teil seines Ichs
geben konnte, schenkte sie ihm alles. Jede Farbe ihres Empfindens, jede
Linie ihres Körpers war Hingabe.

Nicht aus Liebe! Die Liebe allein hätte bei ihr solches nicht zuwege
bringen können. Sondern weil Agnes Elisabeth stark war, und weil in
dieser Stärke ihre Schwäche lag. Eine gefährliche Schwäche! Denn eine,
die allein und nur mit eigener Kraft gehen will, die muß damit rechnen
können, daß mitten auf der Straße des Lebens ein Durst nach Liebe sie
übermannt und eine Sehnsucht, ihre Arme um einen Hals zu schlingen,
und daß dann keiner da ist, dem sie es tun, keiner, der ihren Durst
stillen könnte. Diese Rechnung stimmte bei Agnes Elisabeth nicht. Weder
ihre Mutter, noch ihre Schwestern waren dagewesen, wenn sie nach ihnen
gerufen hatte; sie war so oft am Wege liegen geblieben, sie hatte sich
freilich wieder aufgerafft und war mit trotzigen Lippen weitergelaufen.
Wenn Schwestern und Mutter dann kamen und nach ihr suchten, dann war
sie schon weit weg, an blühenden Gartenzäunen des Lebens, und bedurfte
ihrer nicht mehr. So waren sie aneinander vorbeigegangen.

Aber hier war einer da, als sie ihn brauchte.

Wie sie ihn küßte! Sie streckte ihre Arme aus und klammerte sich an ihn
...

Als sie sich endlich aufrichtete und hastig seinen Arm nahm, war es
dunkel geworden. Wo die Sonne gestanden hatte, war nur qualmender
Dunst; aus dem Moor stiegen Schatten auf. Der Rest von Licht, der auf
Bäumen und Sträuchern gesessen hatte, war zusammengesunken. Die Nacht
kam eilig von allen Seiten.

Craner war es, der zuerst wieder Worte fand.

»Morgen will ich mit meinem Bruder sprechen. Er weiß noch nichts. Er
wird sich wundern.« Und er lachte.

Dieses Lachen war der Anfang von dem, was nun alles in kurzen Worten
schnell und schreckhaft zu Ende gehen ließ.

Sie faßte ängstlich nach seiner Hand. Er streichelte sie und sprach
weiter, ohne ihrer Angst zu achten:

»Und deine Schwestern ...?«

Vor ihren Augen flirrte etwas vorüber, was ganz schwarz war, wogte und
plötzlich zerriß. Dann schien es ihr mit einem Male, als ob alles,
was sie in der letzten halben Stunde erlebt hatte, abgeschlossen und
beiseite gestellt sei. Sie war wieder die Agnes Elisabeth von früher;
der da neben ihr ging, war ein fremder Mann.

Sie riß ihre Hand los:

»Nein, ich kann nicht! Ich muß bei den Schwestern bleiben.«

»Warum? Sie sind doch erwachsen.«

»Noch nicht.«

»Ist das ein Grund, ihnen solches Opfer zu bringen?«

»Ich habe Mama versprochen, bei ihnen zu bleiben.«

»So kann es deine Mutter nicht gemeint haben.«

Sie schwieg.

»Du hast nicht den Mut, glücklich zu sein?«

Sie schwieg. Nach einer langen Weile sagte sie: »Ich darf auch nicht so
weit von ihnen weggehen.«

»Du willst nicht mit mir kommen?«

»Jetzt nicht.«

»Später?«

»Später? -- Willst du wiederkommen?«

Die Frage verhallte. Wohl antwortete er »Ja«, aber dieses Ja kam ein
wenig später, als sie gehofft hatte. Nun hörte sie es nicht mehr.

Craner sprach weiter, aber es ging an ihr vorüber, ohne daß sie
es verstand. Plötzlich blieb sie stehen: »Ich muß gehn. Ich danke
Ihnen. Und ich ...« Sie kam nicht zu Ende. Einen Augenblick stand sie
unbewegt. Dann wendete sie sich ab und ging in das Halbdunkel zurück.

Mechanisch setzte sie Schritt vor Schritt. Es war, als wenn sie an den
Bäumen entlangglitte. Plötzlich empfand sie einen Schmerz. Sie drehte
sich um. Er war nicht mehr zu sehen. Ihre Gedanken waren ausgelöscht,
ihr Empfinden betäubt. Es tat wohl, zu stehen und sich nicht zu rühren.

Bis Menschenstimmen herüberkamen, von drüben, wo ein Landweg aus dem
Moor herauskroch. »Wirst mich auch wieder küssen?«

Dann ein unterdrücktes Kichern.

Agnes Elisabeth hob schwer den Kopf und kehrte um. Kurz vor dem Dorfe
erkannte sie in einiger Entfernung zwei Gestalten, die nach einer Weile
zwischen den Kastanienstämmen der Dorfstraße verschwanden.

Sie kam an den ersten Bauernhof, der behäbig neben der Straße lag. Der
gehörte Hinrich Teetje, fiel ihr ein.

Als sie die Gartenpforte öffnete, dachte sie: Ob sich Marianne niemals
diesen wiegenden Gang abgewöhnen wird?

                   *       *       *       *       *

Agnes Elisabeth und Marianne saßen im Wohnzimmer.

In der Stille des Lampenlichts gingen Gedanken hinüber und herüber. Es
war ein erbitterter Streit, der schweigend gefochten wurde.

Bei Marianne kämpfte jene draufgängerische Leidenschaft, die das böse
Gewissen gibt. Sie wußte sehr wohl, daß etwas nicht zu Recht und in
Ordnung war. Und darum machte sie tollkühne Ausfälle, um künstlich
Übergewicht zu erzwingen.

Agnes Elisabeth wurde als Gegner von ihr unterschätzt. Bei ihr handelte
es sich nicht um Recht oder Unrecht, sondern um die Existenz. Sie
kämpfte mit dem Letzten um ihre Stellung gegenüber den Geschwistern.
Weil sie diese halten wollte, hatte sie bereits eine viel wertvollere
darangegeben. Nun mußten wohl Erbitterung und Haß auf ihrer Seite sein.

Sie behielt die Oberhand. Der Kampf war in Wirklichkeit schon
entschieden, als sie sich zum Fragen entschloß.

»Warum hast du kein Vertrauen zu mir, Marianne?«

»Wenn du keines zu uns hast!« flog es zurück.

Agnes Elisabeth duckte sich ein wenig.

Marianne machte ein herausforderndes Gesicht. Aber es dauerte nicht
lange. Agnes Elisabeth klappte ihr Buch zu und nahm es fest in die Hand.

»Warum triffst du dich heimlich mit dem Lehrer?«

»Das ist meine Sache.«

»Nein!«

»Also gut! Ich liebe ihn!« sagte Marianne mit Stolz.

»Du mußt doch wissen, daß sich das nicht gehört. Du kannst doch nicht
mit einem fremden Manne in der Dunkelheit durch die Heide laufen!«

»Übrigens sind wir verlobt,« sagte Marianne. Es gefiel ihr, die
Märtyrerin ihrer Liebe zu spielen.

»Das wird sich finden!«

»Ich heirate ihn doch!«

Eine Pause ging zwischen ihnen hindurch.

»Einen Dorfschullehrer!« Agnes Elisabeth schämte sich, dieses Wort
ausgesprochen zu haben.

»Darüber sieht man hinweg, wenn man liebt.« Marianne wollte ihn sich
erkämpfen. Pathos klang aus ihrer Stimme. Dies war der Augenblick, in
dem man zum Weibe heranreifte.

»Dann begreife ich nicht, warum Herr Allm noch nicht zu mir gekommen
ist oder an Onkel Wilhelm geschrieben hat.«

»Wenn du das nicht verstehst?! Meinst du, wir werden unser Glück gleich
den Verwandten preisgeben?«

»Hast du kein Gefühl dafür, daß du dir etwas vergibst? Nicht vor den
Leuten! Aber vor dir selbst! Wenn du im Dunkeln --«

»Im Dunkeln ist es viel interessanter!«

»Durch solche Heimlichkeiten müßte sich dein Empfinden verletzt fühlen.«

Marianne schob den Stuhl zurück und lachte.

»Heimlichkeiten! Hast du übrigens keine, Agnes Elisabeth?« Sie kam sich
mit einem Male wie verheiratet vor. Nun war auch die Neugierde da. »Ich
kann dich ja verstehen! Da ich selbst so etwas durchlebe!«

Die täppische Vertraulichkeit traf. Agnes Elisabeths Züge wurden hart.

»Nein!« sagte sie schroff.

»Also nicht!« meinte Marianne pikiert und stand auf. Man hätte so gut
ein bißchen darüber reden können; aber wenn Agnes Elisabeth nicht
wollte! »Hast du Gesche mein Kleid zum Plätten gegeben?« fragte sie
kühl.

»Ja!«

Marianne schlenderte aus dem Zimmer.

Agnes Elisabeth wandte den Kopf. Erbitterung schwoll in ihr auf, wie
über eine Demütigung. Dieses junge Ding wollte über Liebe reden ...?!
Agnes Elisabeth biß die Zähne zusammen. Vielleicht schmerzte sie
weniger der törichte Vergleich, als daß sie selbst durch ihn so klein
wurde und übelnehmerisch mit Marianne zankte.

Sie stand auf. Das Zimmer blickte sie gleichgültig an, die Lampe
dämmerte.

Sie fühlte etwas Graues, Unendliches, das vor ihr aufzog und über sie
hin griff. Ihre Augen schlossen sich, schraken aber gleich wieder auf.
Sie mußte wohl nach den anderen sehen. Sie ging in Julies Zimmer.

Kreischendes Juchzen und ein Unterrock, der herumwirbelte. Julie saß
auf dem Tisch, Marianne auf dem Sofa und Evelyn tanzte.

»Einen Hochzeitsreigen! Hörst du nicht? Einen Hochzeitsreigen!« rief
Marianne.

Evelyn drehte sich taumelnd, sank zur Erde und blieb laut lachend
liegen. Plötzlich verstummte sie. Ein furchtsamer Blick ging zu der
Schwester, die in dem engen Türrahmen stand, wie ein Bild auf grauem
Hintergrund: das Kleid verschwamm, nur Wange und Schläfe traten als
harte Lichter heraus, und darüber glühte das rote Gewirr des Haars.

Agnes Elisabeth kam für einen Augenblick der Gedanke, den Schwestern
zu sagen, was heute geschehen war. Daß Glück und Entsagung einander
gemessen hatten, und daß sie, ohne zu zögern, das Glück beiseite
geschoben und sich für die Entsagung entschieden hatte, um ihretwillen!
Sie blickte schüchtern hinüber, als suchte sie Hilfe.

Aber Julie sah weg. Ein harter Zug lag in ihrem Profil. Marianne hob
sich träge in die Höhe.

»Einen Hochzeitsreigen!« kommandierte sie von neuem.

Evelyn sprang auf, begann gravitätisch durch das Zimmer zu schreiten.

Agnes Elisabeth ging wieder hinaus. Ein Lachen klirrte hinter ihr her.

Sie ging in ihre Stube und setzte sich an den Tisch. Gedankenlos
blickte sie durch die Luft. Nach einer Weile fiel ihr Kopf auf die
Hände. Und wieder nach einer Weile krümmte sich ihr Rücken unter
zuckenden Stößen.

Das war die Einsamkeit ...




                                  XI


Es hatte über Nacht gefroren. Dünne Zweige starrten in den Himmel,
dazwischen schimmerte Sonnenschein wie goldener Staub.

In diesem harten Licht vor den Fenstern eine Masse von kleinen Beinen,
blauen Röckchen und roten Backen und ein fröhlicher Lärm, der von der
Erde kurz zurückhallte. Die Schule war aus, und die kleine Gesellschaft
quirlte vor der Tür, balgte sich, schrie und trottete schließlich in
Gruppen gemächlich nach Hause.

Der Lehrer saß drinnen am Fenster und sah ihnen nach. Aber nur eine
kurze Weile. Dann ging er an den Schreibtisch und legte ein Blatt
Papier vor sich hin. Er wollte dichten. Das tat er in letzter Zeit
öfter. Heute während der Geographiestunde war ihm ein Gedanke gekommen,
so etwas von ›weitem Erdenrund‹ und ›wird mein Herz nun ganz gesund‹.
Das wollte er aufschreiben. Er stützte den Kopf in die Hand und sann.
So schnell ging die Sache doch nicht. Um zunächst einmal anzufangen,
schrieb er mit der schwungvollen Schrift, deren er sich nur als Autor
bediente, »An Marianne«. Das sah gut aus. Nun weiter! In der ersten
Strophe mußte von dem unbefriedigten Suchen nach Glück gesprochen
werden, »habe nun ach, Philosophie, Juristerei und Medizin« fiel ihm
ein. Etwas Faustisches natürlich! Aber wie? Er schaute suchend in die
Luft und wartete darauf, daß ihm ein Gedanke kommen würde.

Statt dessen aber klopfte es, und ehe Lukas Allm Zeit gefunden hatte,
»Herein« zu rufen, öffnete sich die Tür und Agnes Elisabeth trat ins
Zimmer.

»Guten Morgen, Herr Allm!«

Der Lehrer sprang auf.

Sie blieb vor ihm stehen.

»Ich möchte mit Ihnen sprechen!«

Lukas Allm machte eine ungeschickte Handbewegung und wies auf einen
Stuhl.

»Wollen Sie, bitte ...«

Sie beachtete es nicht, sondern fragte knapp:

»Was haben Sie mit meiner Schwester?«

Natürlich war ihr Ton feindselig.

Lukas wurde rot; am Kinn fing es an und ging plötzlich bis zur Stirn
hinauf.

»Ja, ja ...« stotterte er verlegen. »Ich habe sie lieb! Ich liebe sie,«
verbesserte er sich.

»Und trotzdem treffen Sie sich heimlich mit ihr und bringen sie ins
Gerede!?«

Daran hatte Lukas noch nie gedacht.

»Ach,« murmelte er bestürzt. »Ich ... Sehen Sie, wie es so kam ...«

Er war immer nur kommandiert worden und hatte gehorcht.

»Wir trafen uns zufällig ...« Er starrte auf den Bogen, der auf dem
Tische lag. Plötzlich fiel ihm ein, daß er verlobt war und etwas
unternehmen müsse. »Was soll ich denn tun?« fragte er hilflos.

Agnes Elisabeth lächelte ein wenig. Der Mann tat ihr leid.

»Wenn ~Sie~ das nicht wissen, dann ...«

»Wir haben uns ja verlobt,« raffte er sich zusammen.

»So?! Und Sie wollen sich heiraten?« fragte sie einfach und naiv.

Das erdrückte ihn nun wieder. So für sich hatte er ja an nichts anderes
gedacht als an die feierliche Trauung und die warme Fröhlichkeit eines
jungen Hausstandes. Aber die Wirklichkeit beginnen, das war doch etwas
anderes. Er versuchte in den Gedanken hineinzugehen.

»Sie werden den Vormund aufsuchen, Herrn Wilhelm Craner, und werden ihn
um die Hand meiner Schwester bitten!«

»Ja!« machte er bedrückt.

»Wenn Sie zurückkommen, dürfen Sie uns besuchen, um mir mitzuteilen,
was Herr Craner Ihnen gesagt hat.«

Lukas Allm schwirrte es vor den Augen.

»Glauben Sie, daß er ... Ich weiß nicht, wie ich ihm das sagen soll!
Ich bin, glaube ich, manchmal etwas verlegen ...«

Agnes Elisabeth wurde ungeduldig.

»Sie können auch schreiben! Aber Sie dürfen meine Schwester nicht eher
wiedersehen, als bis der Vormund darüber entschieden hat. Hier ist
seine Adresse.«

Sie legte einen Zettel auf den Tisch.

Lukas Allm schob den Kopf vor. »Ich danke Ihnen!« Und dann sah er zu
Boden. »Nicht wahr, Sie denken nicht schlecht von mir? Ich ... Ich bin
ja so ...«

Agnes Elisabeth schüttelte ruhig den Kopf; dann wandte sie sich um.

»Adieu, Herr Allm!« Die Tür schlug zu.

Der Lehrer blieb noch eine Weile stehen, dann setzte er sich an den
Tisch. »An Marianne« stand da noch auf dem Papier. Er malte den
Schnörkel nach. Dann plötzlich schrieb er darunter, jetzt aber mit
kalligraphischer Diplomschrift: »Hochgeehrter Herr Craner!«

Aber weiter kam er vorläufig nicht; die Feder blickte hilflos auf das
Papier, gerade als ob Lukas Allm vor Herrn Craner stünde.




                                  XII


Es ist eine alte Erfahrung, daß man die Lebensauffassung eines
Menschen nach der Einrichtung der Räume, in denen er sich aufhält,
richtiger beurteilen kann, als nach den Anschauungen, die er
äußert. Die farbenreine Ateliereinrichtung eines unbemittelten
Malers spricht eindringlicher von verfeinertem Lebensgenuß als die
kunststrotzenden Prachträume reicher Mäcene. Und in den Bücherregalen,
dem mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch des Gelehrten wie in den
einfachen alten Mahagonimöbeln eines Fürsten empfindet man mehr von
aristokratischer Überlegenheit, als beide zu zeigen wagen.

Diese stumme Sprache der Dinge konnte auch mancherlei Wissenswertes
über Wilhelm Craner und Tante Sophie erzählen, wenn man einen Gang
durch das Eßzimmer machte.

Es war mit schwerer Pracht eingerichtet. Dunkle Ledertapeten mit
blassem Gold machten den Raum feierlich: Das geschnitzte Büfett hatte
etwas von einem Altarschrein, das Silber darauf erinnerte an heilige
Gefäße. Und doch war es nicht der Eindruck des Luxus, den man bekam.
Daß Wilhelm Craner reich war, wußte man. Man empfand vielmehr, daß, was
hier geschah, mit dem Zeremoniell einer religiösen Handlung vor sich
ging.

Die Beschäftigung des Essens und Trinkens geschah mit einer Art
Andacht, nicht um der Kostbarkeit der Speisen willen, sondern aus
Ehrfurcht vor häuslicher Sitte. Diese war das erste Gebot in Sophie
Craners geregeltem Haushalt. Man verdankte ihm die Schulung des
Dienstpersonals, die Ordnung der Wäscheschränke, die Blumen in den
Vasen, aber wohl auch den Mangel an Stimmung.

Für Hellweges war es dort nichts.

Heute waren sie alle zum Essen da. »Damit man euch endlich mal
wiedersieht,« wie Tante Sophie geschrieben hatte, in Wirklichkeit aber,
weil vor drei Tagen ein sauber geschriebener Brief bei Wilhelm Craner
eingetroffen war, der eine schöne Aufregung hervorgerufen hatte.

Die Mahlzeit verlief wie immer; ein paar Gespräche wurden begonnen,
blieben wieder stecken, und das Schweigen wurde ebenso feierlich
herumgetragen wie der Rehbraten. Julie zog ab und zu ein mokantes
Lächeln auf, aber es paßte nicht recht her. Marianne natürlich aß.

In dem Augenblick, wo Onkel Wilhelm sein Wassernäpfchen beiseite
schob, erhob sich die hübsche Französin und eine Sekunde später die
kleine Rena; sie machte einen Knicks und verschwand an der Hand der
Gouvernante. Nach weiteren zwei Minuten nickte Onkel Wilhelm seiner
Frau zu, und man begab sich in die Halle. Eigentlich war es Brauch,
die begonnene Unterhaltung hier fortzusetzen, aber heute geschah das
Unerhörte, daß Onkel Wilhelm Agnes Elisabeth sogleich in sein Zimmer
bat. Er schloß die Tür und bot ihr einen Sessel an. Dann nahm er einen
Brief von seinem Schreibtisch und gab ihn ihr zu lesen. Während Agnes
Elisabeth aufmerksam las, ging er im Zimmer auf und ab. Endlich blieb
er stehen und lachte kurz:

»Was sagst du dazu?«

Agnes Elisabeth blickte auf und zuckte die Schultern. Die ganze Sache
war ihr mit einem Male so gleichgültig. Sie beobachtete einen dicken
Spatz, der auf der Terrasse hin und her hüpfte und ab und zu mit weit
offenem Schnabel piepste.

»Woher glaubt dieser Mensch die Berechtigung zu haben, ganz einfach um
ihre Hand anzuhalten!?« sagte Craner heftig.

»Berechtigung?« meinte Agnes Elisabeth kühl. »Warum nicht?« Sie sagte
es nur, um überhaupt etwas zu sagen.

»Ich würde mich bedanken, wenn Rena solch eine Partie machen wollte.«

»Vielleicht paßt er besser zu Marianne, als irgend jemand aus der
Stadt,« sagte Agnes Elisabeth ruhig.

»Ich verstehe dich nicht! Hier hätte sie viele Gelegenheiten, sich gut
zu verheiraten. Sie ist ganz wohlhabend, sie ist hübsch ...«

»Herr Allm scheint sie aber liebzuhaben.«

»Ja, mein Gott, solche Ideale können aber doch nicht den Ausschlag
geben.«

»Du magst recht haben,« sagte sie nachgiebig. Diese Milde war neu an
ihr. Vielleicht wunderte sie sich selbst darüber.

»Ja, und was nun die Hauptsache ist: weiß denn Marianne schon davon?
Ich meine, hat schon irgendeine Erklärung stattgefunden?«

Agnes Elisabeth nickte.

»Und wie verhält sie sich dazu?«

»Sie will ihn heiraten.«

»Natürlich!«

Der Vormund trat erregt ans Fenster. Die Sache war ihm sehr unangenehm.
Es gab schon jetzt genug Menschen, die sich nach dem Ergehen der armen
Waisen erkundigten, mit einem kleinen Lächeln, das ihn ärgerte.

»Soll man sie in eine Pension schicken?« fragte er ungeduldig.

»Ich glaube, Mama würde gegen eine solche Heirat nichts eingewendet
haben,« sagte Agnes Elisabeth.

»Davon kann natürlich nicht die Rede sein; das mußt du doch auch sagen!
Ich weiß, wie sehr du deine Schwestern liebst; du kannst unmöglich
wollen, daß Marianne den ersten besten nimmt.« Agnes Elisabeth fand
es wunderlich, daß Onkel Wilhelm von ihrer Liebe zu den Schwestern
sprach. Es war ihr, als ob sie ein Lob erhielt, das sie nicht
verdiene. Und dann wieder tat es weh wie eine Geringschätzung, wie ein
Brocken, der ihr zugeworfen würde.

»Ich kann nur das wollen, wovon ich glaube, daß es auch nach Mamas
Willen wäre.«

»Dann ist mit dir nicht zu verhandeln,« entgegnete Craner heftig.
»Deine Mutter hat dir die Kinder anvertraut; das ist richtig.
Aber deine Pflicht kann nicht darin bestehen, daß du sie in ihren
verschrobenen Ansichten noch bestärkst! Dadurch schadest du ihnen mehr,
als du ihnen nützt.«

Es stieg etwas in Agnes Elisabeth auf, was heiß war und vor ihren
Augen flimmerte; etwas Gewalttätiges, was ihre Hand schon aufhob, ihn
zu schlagen. Sie kannte diese schreckenvollen Augenblicke. Ihre Hände
preßten sich zusammen. Aber plötzlich breitete es sich, wurde flacher
und war verschwunden. Nur eine Mattigkeit blieb zurück, ein Dämmern:
Dies alles war ja so gleichgültig!

Wilhelm Craner mochte empfinden, daß er ihr weh getan hatte. Und dann
war ihm auch plötzlich eine Bemerkung eingefallen, die sein Bruder über
die vier Schwestern hatte fallen lassen. »Schade, daß sie gar nicht
verstehen, wie sich die Älteste für sie opfert,« hatte dieser gesagt.
Eine Ahnung stieg in ihm auf.

Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Wir werden die Sache schon ins
Gleis bringen. Man möchte euch doch glücklich sehen! Auch dich!«

Agnes Elisabeth nickte verständnislos.

»Ich werde nun mit Marianne sprechen. Du bleibst wohl hier?«

Und er rief Marianne, die mit nicht geringer Erregung das Zimmer betrat.

Was die beiden nun verhandelten, davon verstand Agnes Elisabeth fast
nichts. Sie hörte nur die trockene Stimme des Vormunds und Mariannes
verschwollene Antworten. Sie sah von ihm, der jetzt am Schreibtisch
saß, nur einen Streifen der hohen Stirn und die Hand, die in der Luft
hin und her ging, und von Marianne erkannte sie nur das Weiß des
Taschentuchs, das sich ab und zu von dem marineblauen Kleide zu dem
rosigen Gesicht hinauf begab.

Agnes Elisabeth fühlte sich wie verstoßen. Sie war hier, aber ebensogut
hätte sie mitten im Moor sein können, wo man in dem Boden einsank und
seine Arme vergebens nach Hilfe ausstreckte.

Nach einer Weile kam ihr der Gedanke, wie es wohl geworden wäre,
wenn sie Heinrich -- für sich nannte sie ihn doch nicht anders --
ihr Jawort gegeben hätte. Und dann betrachtete sie das Gesicht des
Onkels, der sich jetzt umgewendet hatte und lebhaft sprach. Sie ging
aufmerksam darüber hin und vergaß nicht eine Falte. Es war viel
Familienähnlichkeit vorhanden. Um den Mund Selbstvertrauen, aber auch
Selbstsucht. Die Augen klug, aber ohne Tiefe. Die Stirn voller Runzeln.

Sie sah weg. Eine schmerzhafte Empfindung war plötzlich in ihr. Sie
fühlte, daß eine Verbindung zwischen ihr und Heinrich Craner bestand,
und daß sie von dieser nicht loskam.

Die Unterhaltung schien beendet zu sein. Onkel Wilhelm klopfte Marianne
gutmütig auf die Schulter.

»Du bist doch damit einverstanden?« wandte er sich herum.

Agnes Elisabeth schrak auf.

»Natürlich! Wie du meinst, Onkel Wilhelm.«

Aber sie wußte nicht, um was es sich handelte. Sie hatte plötzlich den
Gedanken gehabt, daß Marianne sich mit Lukas Allm verheiraten würde,
daß Julie nach Berlin wollte, daß Evelyn zu Tante Sophie ins Haus
kommen sollte und daß sie dann frei sein würde ... Ob Heinrich zu ihr
zurückkehren würde ...?

Auf dem Heimwege erzählte ihr Marianne mürrisch, daß Onkel Wilhelm den
Lehrer zu sich bitten wolle, um ihn kennenzulernen; dann machte sie
ihr Vorwürfe, sie habe kein Interesse für ihre Angelegenheit und sei
überhaupt eine lieblose Schwester.




                                 XIII


Die Heide fing zu schlafen an.

Nebel hatten sich gebreitet und deckten sie zu. Die Tage kamen und
gingen wie die Wolken, die über den Himmel zogen, eine wie die andere
...

Und einmal -- es war schon im Dezember, -- nachmittags, als die Nacht
von Osten heraufdämmerte, irrten ein paar Flocken zur Erde, und es
wurden ihrer mehr, und dann rieselte es herunter, die ganze Nacht und
den nächsten Tag, und gegen Abend hörte es auf. Da wußte man, daß es
bald Weihnachten war.

Bei Hellweges nähten sie an Mariannes Aussteuer.

Alles, was an irrenden Empfindungen sich sonst gekühlt hatte auf
Rasenflächen und in goldenem Wasser, saß nun eng beieinander und
schwelte und glomm.

Mariannes Wangen röteten sich tiefer über dem weißen Leinen. Zu Anfang
gefiel sie sich in dem gewöhnlichen Brautglück. Da blätterte man in
Katalogen, hatte Gratulationsbriefe zu lesen und ließ sich von der
geschmeichelten Schwiegermutter verziehen.

Aber das Neue wurde alt, und die rosa und himmelblauen Farben wurden
nüchtern. Zwischen Tag und Abend gab es Stimmungen, wo Marianne eine
Bitterkeit überkam. Daß dies nun alles war! Daß es keine dunkeln Ecken
mehr gab, wo man sich ängstlich und heimlich küssen konnte, daß es hell
lichter Tag sein sollte, wenn Lukas’ Lippen die ihren berührten. Und
dann fand sie auch manchmal, daß es eigentlich eine Anmaßung wäre, daß
Lukas Allm sie liebte. Sie deuchte sich viel zu gut für ihn. Und über
ihn hinweg reichte sie einem die Hände, der nicht da war und nie kommen
würde. Das quälte sie zuerst, dann wurde es ein Genuß, von dem sie bald
nicht genug haben konnte. Wenn Lukas Allm kam, geschah es oft, daß sie
sich in ihr Zimmer einschloß und ihn nicht sehen mochte. Sie saß dann
mit vielen Kissen in einem Korbstuhl, während er draußen auf Fußspitzen
vorbeischlich; und sie haßte ihn, weil er da war, weil er sie heiraten
wollte, weil er nicht ~mehr~ war. Sie weinte, biß sich in die
Finger und kostete alle Wonnen der Phantastik bis zur Neige. Wenn sie
an diese Neige kam, sehnte sie sich plötzlich nach seinen breiten
Händen und verlangte nach seinen Küssen. Und der Schluß war fast immer
derselbe: sie lief zum Schulhaus hinüber. -- Es war Mitleid darin, wenn
sie sich dann an ihn preßte, ein angenehmes Gefühl von Herablassung mit
einer Würze von Märtyrertum.

Anders waren die Abende.

Mancherlei Gedanken stiegen auf, und schauernde Empfindungen breiteten
sich. Vielleicht, weil das Leinen kühl war und die Hände heiß,
vielleicht auch, weil es gerade Nachtkleider waren, die sie nähte. Wenn
sie da alle vier um den Eßtisch saßen, war in ihr nichts anderes als
ein Warten auf das Schlafengehn. Die fertige Wäsche wurde dann in ihr
Zimmer gelegt, -- sie schlief jetzt allein, -- und nachdem sie die Tür
verriegelt hatte, bekleidete sie sich vor dem Spiegel in einer gewissen
lüsternen Neugierde mit allem dem Kalten, Feinen, das ihre Haut kühl
betastete. Und die Nachtkleider hob sie sich bis zuletzt auf. Nicht
etwa, daß sie jetzt an Lukas Allm gedacht hätte; sie wußte sehr wohl,
daß das nicht passend gewesen wäre. Aber gerade diese Grenze war nur
ein Reiz mehr. Das Ungewisse wartete noch auf sie. Wenn ihre Phantasie
rosenrot um sie herum stand, legte sie sich in ihr Bett, in das weiche,
weiße, volle Bett. Und wenn sie wollte, dann lag sie kalt, ohne sich
zu rühren, und lauschte, wie es um sie brauste. Und dann wollte sie
niemals ihr Mädchenbett verlassen. Aber zu anderen Zeiten, -- und die
kamen, -- häufte sie Kissen neben sich, schlang die Arme um sie ... Und
dann küßte sie, -- nicht Lukas Allm, aber ~ihn~!

Alle Wirklichkeit stand dann weit, weit fort.

Diese Abende blieben auch nicht ohne Einfluß auf die anderen. Es
war immer dasselbe Bild. Die Stube mit ihren dämmernden Ecken, die
Hängelampe, die leise hin und her schaukelte, der Tisch mit Leinen
bedeckt, und da saßen sie, verbissen sich in ihre Arbeit, schwiegen
und ließen ihre Gedanken wandern. Wovon man sprach, -- man tat es
nicht allzuoft -- war natürlich immer die Aussteuer und die täglichen
Nichtigkeiten der Ehe. Evelyn fand dies alles nüchtern. Daß man ganze
Ballen Zeug mit lautem Ratschen zerriß und ohne Ende rote Buchstaben
und Zahlen stickte! Sie wollte nur Seide haben, knisternde Seide und
viele Spitzen; vor allem müßte alles plötzlich vor ihr liegen, und man
dürfte nicht wissen, woher es käme.

Julie wurde sich über manche Dinge klar, an die sie bisher nur
gelegentlich gedacht hatte. Ohne Hochmut! Da war weder Spott über
Mariannes bräutliche Wichtigtuerei, noch jene gemachte Überlegenheit,
die nichts ist als Neid und boshafter Entgelt für verletztes
Schamgefühl. Sie wurde von der schwülen Atmosphäre -- denn in aller
Gedanken war der Mann gegenwärtig, und in dem Schweigen war viel
von der erwartenden Bangigkeit des Weibes, das seine Nähe fühlt --
eigentlich nicht berührt. Aber sie stand mit offenen Augen vor diesen
neuen Vorgängen und ging mit ihrem Verstande, wie sie glaubte, in
Wirklichkeit mit ihrem Empfinden daran, diese Eindrücke zu verarbeiten.

»Die Frau ist in der Ehe doch nur ein Anhängsel,« sagte sie einmal.

Marianne widersprach ihr würdevoll und redete von der veredelnden Kraft
der Liebe.

Julie schüttelte den Kopf.

»Liebe ist bei ihm nur eine kleine Kammer seines Innern, wo er seine
paar Empfindungen zusammengeworfen hat, weil er sich zwischen ihnen
nicht mehr zurechtfinden kann, also etwas ganz Nebensächliches! Dort
aber, wo er zu Hause ist, will er die Frau gar nicht bei sich haben. Da
ist sie ihm nur im Wege!«

Hier sah Agnes Elisabeth auf, mit einem Blick voll Hilflosigkeit.

»Im Innersten will er nicht, daß die Frau neben ihm steht,« fuhr Julie
fort. »Die mag nur in der Kammer bleiben, und wenn es ihm gefällt, will
er sie dort besuchen.«

Und ein anderes Mal meinte sie, die Frau gebe in der Ehe zuviel auf.

»Empfindungen darf man schon gar nicht in die Ehe mit hineinbringen.
Denn der Mann will nur die eine Empfindung von seiner Frau haben, daß
sie ihn liebt, das heißt, daß sie für ihn sorgt, daß das Essen gut
schmeckt, und daß das Zimmer warm ist, und daß sie sich von ihm küssen
läßt, wenn er gerade Lust hat.«

Auch mit dieser Ansicht blieb Julie natürlich allein. Denn die andern
und vielleicht sogar Evelyn fühlten sich innerlich viel zu sehr
beteiligt, als daß sie Julies Nüchternheit hätten gutheißen können.
Zum mindesten hatten sie alle drei schon einmal mit dem Gedanken an
eines Mannes Liebe gespielt, und ihre Phantasie hatte Bilder geschaffen
nach eigenem Wunsch und eigener Sehnsucht. Das hatte Julie nie
getan. Für sie war die Ehe nicht der heimliche Garten, der jenseits
der Berge lag, dessen Düfte abends wohl herüberzogen, sondern etwas
Selbstverständliches, ja Gleichgültiges, daß man sich Gedanken darum
nur machte, wenn ein äußerer Anlaß sie herbeirief. Einmal sagte sie
ganz ruhig und gelassen zu Marianne: »Auf dem Boden steht noch unsere
alte Wiege: nimm sie dir doch mit!«

Das gab drüben einen hochroten Kopf und bei Agnes Elisabeth stumme
Empörung.

Julie verstand nicht, wie man dadurch verletzt sein könnte, und machte
ein verwundertes Gesicht. Übrigens hatte diese Bemerkung eine tiefere
Wirkung, als Julie geglaubt hätte. Marianne begann nämlich von diesem
Tage an darüber nachzudenken, daß sie Kinder haben würde. Und das war
gut für Marianne. Denn ihr Empfinden, das in der Treibhausluft ihrer
Sinnlichkeit schon seltsame Auswüchse hervorgebracht hatte, bekam nun
mehr Platz, breitete sich auf dem weichen Ahnen von Mütterlichkeit und
entwickelte sich zu einem kräftigen Gefühl. Von Natur aus war Marianne
gesund. Ihre Gesundheit war nur so vollblütig, daß sie zur Gefahr für
sie hätte werden können. An dieser Gefahr kam sie nun vorbei. Der
größere Teil ihrer Gefühle vereinigte sich nun auf das Kind; sie fand
daran Arbeit genug, sehnte sich und hoffte, nährte und erzog und baute
Schlösser in blaue Möglichkeiten hinein.

Agnes Elisabeth dachte bei dem allem, daß ~sie~ es sein könnte,
für die man nähte, und daß sie es nicht war. Eigentlich dachte sie nur
dieses. Und es tat ihr nicht einmal besonders weh; Ecken und Kanten
hatten diese Gedanken gar nicht. Aber sie lagen auf ihr, wie eine
Schicht grobfaseriger Sägespäne. Sie wartete immer, daß Heinrich Craner
noch käme, aber sie hoffte nie darauf. Sie dachte auch an ihre Liebe
zu ihm. Aber liebte sie ihn noch? Es begann eine weite Ebene in ihr
zu werden. Oft schloß sie die Augen; es war ja nichts da, wonach sie
auszuschauen brauchte, und dann war auch alles so glatt, und es ging
sich so weich in dieser Dämmerung.

Im übrigen war diese Zeit wie eine schläfrige und eintönige Musik.
Die Tonleitern des Haushalts stiegen auf und ab, am Sonntag in
=C=-Dur, am Montag in =G=-Dur, am Dienstag in =D=-Dur. Dazu kam
vielleicht alle drei Wochen einmal die sentimental lärmende Weise
eines Kaffeekränzchens beim Pastor.

Nur ~eine~ frische Melodie gab es. Wenn die Nebel zerrissen und
die Wiesen fest wie eine blendende Glasplatte dalagen. Dann wurde die
Wäsche beiseite geworfen, und die Wirtschaft mochte liegen bleiben. Die
Schlittschuhe wurden geholt und mit gerafften Röcken ging es hinaus
in die Winterluft, vom Morgen bis zum späten Abend. Es war keine
Seltenheit, daß die Dunkelheit sie überfiel und sie zwang, in einem
kleinen Wirtshaus zur Nacht zu bleiben; das erhöhte dann nur die kecke
Stimmung und steckte manch flackerndes Gelächter an. Kamen aber die
Wolken wieder herauf, schleppte sich der warme Wind über die krachende
Eisfläche, dann war auch diese Melodie verklungen.

Natürlich verging kein Tag, an dem nicht Lukas Allms Gestalt das Zimmer
füllte. Er hatte etwas von einem treuen Hunde, der behaglich von einem
zum andern geht und dann breit an einem Flecke sitzen bleibt. Sie
hatten ihn alle gern, wenn auch von einem geschwisterlichen Verhältnis
keine Rede sein konnte. Er war da, und weil er nicht störte, gewöhnte
man sich an ihn. Auch seine gutmütige Zärtlichkeit gegen Marianne hatte
man sich schlimmer vorgestellt.

Vor allem aber -- dessen wurden sie sich natürlich nicht bewußt
-- wirkte seine Gegenwart befreiend. Denn jene unbestimmbaren
Empfindungen, die das Schweigen aus der Tiefe herauskommen ließ, alle
die Gedanken und Ahnungen, die in diesen Ehevorbereitungen die Nähe des
Mannes witterten, verflogen im Nu, wenn Lukas Allm ins Zimmer trat.

Da saß er dann, flüsterte mit Marianne und machte seine Späße
mit Evelyn. Man brauchte sich nicht vor ihm zu fürchten, denn es
war ja nicht ~er~, der eben noch aus jener Ecke schreckhaft
herübergeblickt hatte.

So gingen denn die Tage und verschwanden, neue kamen und immer
neue, blieben ihre Weile und waren vergessen. Ein spärliches Licht
breitete sich auf Stunden, als der Tannenbaum brannte und Frau Allm im
Schwesternkreise ein paar Tränen über ihres Sohnes Glück vergoß. Dann
ging es in das neue Jahr hinein.




                                  XIV


So kam auch nun für Evelyn der Tag, von dem in der Predigt so
eindringlich zu hören ist, daß er die Kinderzeit abschließe und die
Tore des Lebens und der Welt öffne. Jener Tag, der oft verhängnisvoll
wird, weil er die Seele des Kindes erschreckt und zaghaft macht.

Nicht allein, daß man dem Kinde in dieser Zeit einredet, seine
Sündenschuld sei unermeßlich, und nur der Glaube könne es wieder mit
Gott versöhnen, während das Kind doch genau weiß, daß es sich bisher
mit seinem lieben Gott sehr gut vertragen hat. Nicht genug, daß
hierdurch die Begriffe des Kindes verwirrt werden, daß es plötzlich
ängstlich wird, sich abquält, seine Sünden zu erkennen, sich selbst zum
Feinde zu nehmen und rührende Versuche macht, den wahren Glauben zu
erkämpfen, während Denkvermögen und Empfinden sich sträuben und doch
nicht stark genug sind, solchen Widersinn zu begreifen.

Die eigentliche Gefahr ist dies noch nicht.

Aber daß man die Fäden zerreißt, die, von Kinderspielen geknüpft,
durch Kinderträume sich weiterspinnen, daß man die zarte Pflanze aus
dem Boden seiner Phantasie herausnimmt und in dürres Land setzt, daß
man von dem Werden einer Seele keine Ahnung hat und die Umkehrung alles
Denkens und Empfindens proklamiert, das ist die Gefahr.

Wohl keiner ist ganz um sie herumgekommen; wohl alle haben mit irrenden
Mühen vieler Jahre erst wieder bauen müssen, was ihnen zerstört wurde;
und die meisten brachten es nicht einmal fertig, vergaßen es und
wohnten in Ruinen. Und wenige nur haben ihre Kinderseele wiedergefunden.

Evelyn war mit vielen Vorurteilen und einem ehrlichen Verdacht an diese
Zeit herangegangen, einem Verdacht, der ihr im Blute lag und sich gegen
alles richtete, was ihrem Schönheitsgefühl zuwider ging. Darum drehte
sie jedes Ding, das wie ein Samenkorn in ihrer Seele Boden gesenkt
werden sollte, erst mit schlanken Fingern herum, ehe sie es nahm,
suchte nach Schönheiten, fand sie nicht und legte es beiseite. Freilich
blieben auf diese Weise nicht viele Samenkörner liegen.

Evelyn ließ sich durch nichts beeinflussen. Julies Unabhängigkeit war
durch die Bücher bedingt, die sie las. Evelyn aber ging mit traumhafter
Sicherheit ihren Weg. Sie suchte nicht, aber sie fand. Sie sehnte sich
und war doch immer zu Hause. Fragen, die sich vor ihr aufstellten,
lösten sich von selbst, wenn sie mit weichem Lächeln ihren Kopf
zurücklehnte.

Als die kleine Orgel unter Lukas Allms Händen ihr Nachspiel mit
Trompetenregister in die Morgenluft hinausschmetterte, verließ Evelyn
neben Agnes Elisabeth die Kirche. Sie betraten den Weg, der über den
Kirchhof führte, während Tante Sophie und Marianne weihevoll die Stufen
herabschritten und gleich nach Hause gingen.

An dem Hügel blieben sie stehen. Schon viele Monate lag nun der Stein
zwischen dem Efeugeranke.

Der Himmel war klar wie ein Bergsee, und es roch nach Erde, die schon
von Veilchen wußte. An diese Veilchen dachte Evelyn, und daß sie
der Mutter gern welche in den Schoß gelegt hätte. Über den kahlen
Sträuchern drüben glitzerten helle Tropfen. Da flimmerten die Lichter
der Zukunft. Agnes Elisabeth stand stumm. Groll war in ihrem Schweigen,
und sogar Haß.

Evelyn aber lächelte.

Und aus diesem Lächeln wurde für Agnes Elisabeth doch noch ein
Sonnenblick, wenn er auch nur kurz über sie hinglitt und schnell wieder
verblaßte.




                                  XV


»Wenn jemand einmal von der Familie aufgenommen ist, dann gehört
er auch zu uns!« war Sophie Craners Grundsatz. Damm hatte sie ein
elegantes weißes Moirékleid angezogen, als sie zu Mariannes Hochzeit
hinausfuhr. Dort saß sie nun mitten auf dem Rasen in einem Korbstuhl
und machte mit Lukas Allms Schwager Konversation, während die Mehrzahl
der Gäste sich im Garten erging. Der kleine Bahnassistent aus dem
Westfälischen strebte ab und zu nach weltmännischer Haltung, indem
er den Arm in die Hüfte stemmte und sich ein wenig zu Tante Sophie
hinunterbeugte.

»Ich finde es sehr richtig, daß Ihr Schwager hier draußen bleiben
will. Er kennt die Leute; sie mögen ihn gern, und die Kinder hängen ja
geradezu an ihm!« sagte Sophie Craner freundlich.

»Es tut einem nur leid, daß er dann garnicht weiterkommen kann. Er mit
seiner Vorbildung! Unterprima! Und vom Seminar so glänzende Zeugnisse.«

Tante Sophie machte ein freundlich-andächtiges Gesicht.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«

Sie schob den Schuh unter dem Kleide hervor und tippte mit dem Fuß an
einen Gartenstuhl.

Der Bahnassistent knickte im Kreuz zusammen.

»Danke sehr! Danke verbindlichst!«

Der Schuh irritierte ihn. Dergleichen hatte er bisher nur in einem
Laden in Berlin gesehen, auf gebogenen Eisenstangen mit hellblauen
Plüschpolstern. Er hob die Schöße seines Uniformrocks und ließ sich mit
zaghafter Gebärde auf dem Stuhl nieder.

»Er sollte doch noch den höheren Lehrberuf erlernen. Jetzt, wo er es
kann!« begann der Bahnassistent wieder.

»O, meinen Sie?!« sagte sie kühl.

»Männchen! ich suche dich schon überall!«

Da stand Frau Hempel auf dem Kiesweg. Sie wagte nicht recht, den Rasen
zu betreten.

»Kommen Sie doch zu uns!« lud Sophie Craner sie ein.

Aber noch ehe Frau Hempel den halben Weg gemacht hatte, stürzte das
schluchzende Lenchen an die Falten ihres Kleides.

»Aber Lenchen! Mein gutes Kleid!«

Die rotsamtne Kamelie in ihrem Haar schwankte hin und her. »Was ist
denn los? Warum heulst du denn so?«

»Mutting, mir ist so übel!« Auf dem mageren Halse klimperte eine
Korallenkette. Und auf dem Gesicht jammerte die Ungemütlichkeit eines
verdorbenen Magens.

»Die rosa Torte!« schluchzte sie.

Frau Hempel fuhr ihr liebevoll mit dem gesteiften Taschentuch über das
Gesicht.

»Ja, Lenchen, die ist nun hin!«

Evelyn kam aus der Laube und nahm der Frau das Kind ab.

»Du siehst ja schön aus!« lachte sie. »Komm, ich will dich abwaschen!«
Die beiden verschwanden hinter dem Gebüsch.

Als Frau Hempel nun glücklich bei Tante Sophie anlangte, hatte sich
inzwischen um diese ein ganzer Kreis versammelt.

»Ach ja, gnädige Frau,« seufzte sie, »Sie haben es gut, mit dem
Fräulein für Ihre Kleine! Aber unsereins!« Sie strich mit der Hand über
den weißseidenen Einsatz ihres braungefärbten Brautkleides und glättete
den Pointlacekragen.

Der Pastor zog sich einen Stuhl heran.

»Das letzte Mal war es eine so traurige Veranlassung, die uns
zusammenführte, meine verehrte Frau Craner!«

Tante Sophies Gesicht zeigte eine gemessene Trauer, wie man sie kurz
nach Ablauf des Trauerjahrs an den Tag zu legen pflegt, verbunden mit
einem kirchlichen Anflug, der in den Mundwinkeln lag. Sie hielt auf
gute Beziehungen zur Kirche.

Der Pastor wurde wehmütig.

»Wie würde sich die Selige über das Glück ihrer Tochter gefreut haben!«

Drüben auf dem Kieswege wurde das Glück sichtbar. Man sah ein schweres
Atlaskleid, -- das Weiß ließ Mariannes runde Glieder dick erscheinen,
-- einen grünen Kranz und ein Gebäude von stehendem Tüll, nicht zu
vergessen einen schwarzen Arm, der quer über die Taille ging, sie
umschlang und sie, von der Ferne gesehen, gleichsam zerschnitt. Daneben
Schwarz, eine breite Masse von Schwarz, mit einem ganz schmalen weißen
Streifen, das war Lukas Allms Kragen.

Die beiden schwammen in Glück. Auf ihres Lebens breitem Fluß schimmerte
Sonnenlicht. Sie trieben dahin, schlossen die Augen unter den Strahlen
und atmeten die seidenweiche Luft.

Trotzdem konnte von einem alle Winkel ausfüllenden Genießen dieses
Sommersonnentages nicht die Rede sein. Denn ihre Blicke gingen allzuoft
nach jener geheimnisvollen Biegung, die der Strom dort unten machte,
wo er in den Wald hineinglitt, hinter dessen schweigenden Bäumen
unbekannte Dinge warteten. Nicht, daß sie ungeduldig gewartet hätten;
aber es ging eine Anziehung von dort aus, und je weiter die Sonne sich
nach Westen wendete, um so unmittelbarer wurde ihre Kraft.

Nun kam Agnes Elisabeth und bat zum Kaffee. Der allgemeine Aufbruch
nach dem Platz unter den Ahornbäumen gab dem Brautpaar Gelegenheit, zu
verschwinden, um sich für die Reise umzukleiden.

Draußen saß die Hochzeitsgesellschaft an einer langen Tafel. Auf der
einen Seite ging es geräuschvoll zu, -- es fehlte nicht an Vettern und
Freunden, die sich eine Hochzeit ohne animierte Stimmung nicht denken
konnten, -- auf der andern jedoch -- dort saß die nähere Verwandtschaft
-- gebrach es an Gesprächsstoff: nachdem man sich während des Essens
einander mit unterstrichener Freundlichkeit genähert hatte, kamen sich
jetzt alle mit einem Male vereinsamt vor und saßen stumm nebeneinander.
Nur der Pastor sprach unentwegt, sog an einer großen Zigarre und schien
sehr aufgeräumt zu sein.

Evelyn und Julie gingen nacheinander ins Haus, um Marianne Lebewohl zu
sagen. Nach einer Weile erschien die Braut in dem für Hochzeitsreisen
vorgeschriebenen Anzug. Die alte Kalesche des Bauern Teetje hielt
vor dem Garten. Dann kam Lukas Allm; er trug ein Köfferchen und hob
es gewichtig auf den Bock. -- Schließlich wurde es der gewöhnliche
Abschied: Marianne weinend von einer Schwester zur andern, Frau Allm
mit Tränen der Rührung am Halse ihres Sohnes, die näheren Verwandten
mit würdigen Mienen in einigen Schritten Abstand, im Hintergrund die
Jugend, gaffend, mit unverschämtem Zartgefühl ...

Dann reckte sich Lukas Allm in die Höhe, sah nach der Uhr und drängte
zur Abfahrt. Marianne riß sich schluchzend los.

Und endlich rollte der Wagen die Chaussee hinunter, während der
Pferdeknecht mit der Peitsche knallte, um die Gäule, die vor dem
Torfwagen nie anders als im Schritt gingen, zu einem Galopp oder Trab
zu überreden.

Die Gesellschaft blieb nicht mehr lange beisammen. Genau eine halbe
Stunde nach der Abfahrt des jungen Paares fuhr Wilhelm Craners Wagen
vor, und Tante Sophie atmete erleichtert auf, als sie darin saß. Ein
Jagdwagen brachte die übrigen Gäste nach der Stadt zurück. Frau Allm
bat die Schwestern, bei ihr zu Abend zu essen, aber Agnes Elisabeth
lehnte ab.

Und endlich waren sie allein.

Als ob ihnen etwas zerstört sei, so fühlten sie sich.

Was zerstört war, war nicht ihr schwesterliches Zusammenleben, auch
nicht die Unbefangenheit, mit der sie bisher der Wirklichkeit des
Lebens gegenüber gestanden hatten, sondern der Rhythmus ihres Hauses,
die Melodie seiner farbigen Stille.

Die hellen Wände, die alten Möbel, ihre Tannenallee, ihr Rasen, dies
alles hatte durch die Gesellschaft, die sich hier breitgemacht hatte,
einen Teil seines Zaubers verloren.

Die Stimmung, die bisher über den Kleinigkeiten ihres Lebens
ausgebreitet gewesen war, war mit einem Male zerrissen, und sie konnten
die Fäden nicht finden, sie neu zu weben.

Selbst Julies mokantes Lächeln, das sonst wie ein reinigender Luftzug
allen zurückbleibenden Dunst aus dem Hause geweht hatte, versagte
heute.

»Das war nicht schön!« meinte sie matt.

Und Evelyn, die verschüchtert auf einer niedrigen Bank saß, erklärte
nach einer Weile: »Ich hätte ihn nicht geheiratet!«




                                  XVI


Heinrich Craner, der in Berlin eine möblierte Wohnung im Hansaviertel
bewohnte, hatte eine Karte von seinem Bruder erhalten, daß Julie
Hellwege am siebzehnten Mai mittags in Berlin eintreffen werde, und daß
er ihn bitte, sie abzuholen und nach ihrer Pension am Nollendorfplatz
zu bringen.

Es war Heinrich etwas peinlich, mit Julie zusammenzutreffen; denn er
zweifelte nicht, daß sie von seiner Werbung um Agnes Elisabeth wüßte.
Und er hatte nicht gerade den Wunsch, über diese Angelegenheit zu
sprechen. Denn sie beschäftigte ihn nicht mehr so ausschließlich, wie
es während des Winters der Fall gewesen war.

Agnes Elisabeth war bei ihm ein wenig in Vergessenheit geraten,
und die paar Versuche, die er angestellt hatte, sich ihr Bild in
Erinnerung zu bringen, hatten eine andere Wirkung hervorgebracht, als
er beabsichtigt zu haben glaubte. Mit merkwürdigem Mißgeschick nämlich
hatte er immer neue Züge an Agnes Elisabeth gefunden, die ihm nicht
gefielen. Insonderheit verdroß es ihn, daß sie ihn um der Geschwister
willen auf eine spätere Zeit vertröstet hatte, daß sie also für die
Schwestern mehr Liebe übrig zu haben schien, als für ihn. Er, der sich
mit Vorliebe einen =selfmade-man= nannte, war hierdurch an der
verletzbaren Stelle seiner männlichen Eitelkeit getroffen. Die Folge
waren Zweifel, ob sie überhaupt ein tieferes Gefühl für ihn besäße,
und als diese erst da waren, mußte sich seine Liebe bald in eine Ecke
flüchten. So oft er nun an Agnes Elisabeth dachte, spürte er mit einer
gewissen Genugtuung den bittern Geschmack einer Enttäuschung, als
habe sie seine Zuneigung nicht verdient, und die Opfer, die er ihr
gebracht, -- er mühte sich, die Wertstücke dieser Opfer in helles Licht
zu setzen, -- nicht zu würdigen verstanden. Er hatte den Schritt vom
Groll zur Gleichgültigkeit noch nicht getan, er war noch nicht so weit,
die innere Verbindung mit Agnes Elisabeth als gelöst zu betrachten,
aber es stand außer Zweifel, daß diese Angelegenheit bereits eine
abgeschlossene Episode für ihn war.

In Wirklichkeit hatte sich dieser Vorgang übrigens noch etwas anders
abgespielt. Jene Überlegungen über Agnes Elisabeths Eigenschaften kamen
nämlich nicht von ungefähr, sondern sie waren erst durch einige äußere
Umstände herbeigeführt worden.

Zum ersten Male seit sechs Jahren verkehrte Craner wieder in großer
Gesellschaft. Sein Vermögen, sein Selbstbewußtsein und seine
mannigfaltigen, in der Tat auch nicht gewöhnlichen Erlebnisse machten
ihn manchen Kreisen zum interessanten Mann, der überall gern gesehen
wurde, dem man sogar den Hof machte. Craner spielte die Rolle, die
man ihm aufnötigte, anfangs mit Belustigung, aber mit um so größerem
Behagen, je länger es dauerte. Das konnte man einem jungen Manne nicht
übelnehmen, der jahrelang jegliche Anregung, und insonderheit den
Verkehr mit Damen, entbehrt hatte. Es war nur zu bedauern, daß er diese
Verwöhnung ganz ernst nahm, daß er von diesen jungen Frauen und Mädchen
begeistert war, ihre Bildung, ihren Anzug, ihr Benehmen bewunderte
und den Fehler beging, Vergleiche zwischen ihnen und Agnes Elisabeth
anzustellen. Auf diese Weise bekamen seine langatmigen Überlegungen,
seine enttäuschten Empfindungen einen Stich ins Kleinbürgerliche. Um
so mehr, als er sich seit einigen Wochen für die hübsche Tochter eines
Bankiers interessierte und sich täglich die biedersten Beweisgründe
vorhielt, um dieses Interesse vor sich zu rechtfertigen.




                                 XVII


Frisches Grün, Frühlingsduft, leichte Staubwolken: das war Julies
erster Eindruck von Berlin. Und eigentlich enttäuschte er sie. Bäume
und Büsche, das konnte sie zu Hause auch haben, und besser; die
hier waren ja nur aufgebaut und hingestellt und konnten gewiß einen
richtigen Sturm nicht vertragen. Sie wollte Häusermassen haben,
Menschengewühl, Lärm und Spektakel. Es müßte ein Gedränge sein, daß man
Angst bekäme. Hier so gemächlich dahinzufahren, wie mit Teetjes Gaule
...

»Ja, Evelyn ist nun bei Tante Sophie.«

»Und das junge Paar?«

»Auf der Hochzeitsreise! Sie waren zuerst in Berlin, sind aber schon
nach Dresden weitergereist. Wir wissen noch nicht viel von ihnen; wir
haben nur ein paar Ansichtskarten bekommen.«

Ein Coupé mit einem gut angezogenen Kutscher rollte vorüber. In Craner
breitete sich ein behagliches Gefühl aus, er dachte plötzlich an
Ellinor Grünhagen.

»Agnes Elisabeth ist nun ganz allein!« sagte Julie kalt.

»So!« Die angenehme Empfindung war sofort zerstört. Craner machte ein
verlegenes Gesicht. Er war erbittert. Sie schwiegen, bis der Wagen vor
der Pension am Nollendorfplatz hielt.

»Sie erlauben, daß ich Ihnen gelegentlich etwas von Berlin zeige?« Er
war stolz, daß er seine Verstimmung mit ruhiger Überlegenheit verbarg.
Übrigens war Julie eigentlich ganz pikant, und dann machte es auch
einen guten Eindruck, wenn man sich einer Verwandten ritterlich annahm.

Es sei liebenswürdig von ihm, sie wolle daran denken!

                   *       *       *       *       *

Das war nun ihr Zimmer. Eine Atmosphäre von braunem Plüsch. Man konnte
nicht mehr und nicht weniger verlangen. Für den Preis gab es eben
dieses Zimmer. Jeder Gegenstand darin schien zu wissen, daß er mit dazu
beitrug, die Höhe dieses Preises zu bestimmen. Die Aussicht auf die
Anlagen, das Sofa, der Schreibtisch, dies alles war eingeschätzt worden
und ergab, zu der Lage und der Verpflegung hinzuaddiert, den Wert
pränumerando.

Dann erschien auch Fräulein Meusel, in einem blauen Schneiderkleid mit
Litzenbesatz.

»Herzlich willkommen, mein liebes Fräulein Hellwege. Ich hoffe, Sie
fühlen sich bei uns wohl!« sagte sie mit kühler, geschäftsmäßiger
Freundlichkeit.

Julie war angenehm berührt. Sie machte den Eindruck einer Dame, sie
wollte nicht mehr sein, als sie war, und führte ihre Pension und
schrieb ihre Rechnungen. Allerdings, Rechnungen mußte sie schreiben ...

Dann ging man zu Tisch.

»Fräulein Auguste Berg, unsere Gelehrte, Fräulein Liecke, Sängerin,
Fräulein Thea Allenbach, unsere kleine Bildhauerin.« Damit setzte sie
sich.

Gleich während der Suppe fühlte Julie sich von drüben fixiert. Sie
bemerkte mit Unbehagen, wie Thea Allenbachs Augen über ihr Gesicht
gingen und in jede Ecke stöberten. Erst lachte sie gezwungen, aber
schließlich fragte sie über den Tisch hin:

»Warum sehen Sie mich immer an?«

»Oh, ich bin Bildhauerin! Sie haben so ein entzückend schmales Kinn!
Dieser Zug hier ...« Sie machte eine affektierte Bewegung. »Sie haben
gewiß schon viel erlebt!«

Julies Hand strich über ihren Hals.

»Ich bin Künstlerin, wissen Sie, und da achtet man auf alles!«

»Sie sehen heute recht blaß aus!« sagte Fräulein Meusel zu der Sängerin.

»Mein Herz wollte mal wieder nicht mit!« erklärte Fräulein Liecke mit
wehleidigem Pathos. »Nächste Woche soll mein Konzert sein und ich kann
nicht singen. Mit mir wird’s wohl überhaupt bald zu Ende gehen.«

»Ach was, Liecke,« sagte Thea, »erst werden Sie die Welt noch von sich
reden machen. -- Fräulein Liecke hat eine himm--lische Stimme!« wendete
sie sich an Julie.

»Eine Altstimme?«

»Und was für eine! Zwei Töne tiefer als ein Ochse, sagt ihr Professor!«

Die Unterhaltung amüsierte Julie. Übrigens war sie auf diese Altstimme
gespannt. Wenn Fräulein Liecke sprach, hatte sie vorläufig keinen
anderen Eindruck, als eine Erinnerung an Öl und Vanillegeruch.

»Sind Sie auch musikalisch?« fragte Fräulein Meusel.

»Nein, eigentlich nicht,« entgegnete Julie.

Auguste Berg rückte ihren Klemmer zurecht.

»Endlich mal eine, die nicht Kunstenthusiastin zu sein scheint. Gott
sei Dank! Heutzutage, wissen Sie, haben die jungen Mädchen überhaupt
nichts anderes im Kopf als Kunst. Die notwendigsten Fragen des Lebens,«
sie nestelte an ihrem Kragen, »die notwendigsten ...«

Julie dachte, sie würde es nun wohl so oft sagen, bis der Kragen
zugehakt wäre. Und da es nicht kam, nahm sie es ab. »Die notwendigsten
Fragen? Sie interessieren sich also dafür?«

»Ja, gewiß!«

»Ja unserer Zeit, wo endlich die Frau erwacht, wo sie ihre
Persönlichkeit findet, wo wir neue Bahnen gehen und das Feld unsrer
Tätigkeit mehr und mehr erweitern, ist es die Pflicht jeder Frau, wenn
sie überhaupt Anspruch auf den Namen Frau erheben will, mitanzufassen!«

»Struve hält die ägyptische Kunst überhaupt für die größte. Struve ...«

»Gott, hören Sie auf!« sagte die Liecke, »wir wissen, Struve ist der
einzige Künstler! Struve, Struve ...«

»Ist nicht eine Salome von ihm?« fragte Julie hinüber.

»Die ~war~ von ihm,« meinte Thea geringschätzig. »Über die ist er
aber längst hinaus!«

Julie hatte die Empfindung von rosa Gazewolken, auf denen die kleine
Künstlerin schwebte. »So! Mir hat sie auch nicht gefallen!« sagte sie
ruhig.

»Nun, in der Behandlung der Flächen ist sie vorzüglich. Gott, leicht
verständlich sind seine Sachen alle nicht. Man muß sich natürlich
die Mühe nehmen, in seine Ideen einzudringen, man muß vor ihm
stehenbleiben!«

Thea Allenbach hatte ihn natürlich verstanden.

»Sie wollen hier Ihr Examen machen?« fragte Fräulein Liecke.

Julie hob den Kopf.

»Examen? Das weiß ich nicht. Ich will nur arbeiten.«

»Das ist die einzig richtige Auffassung,« rief Thea herüber. --
»Examen, Anerkennung, darauf kommt es nicht an!«

Das bestritt Fräulein Liecke nun energisch. Sie war Hochschülerin und
durfte ihr System nicht im Stich lassen.

Fräulein Berg hatte zwar das Lehrerinnenexamen bestanden, sprach sich
aber dagegen aus. Nach Prüfungen könne man nicht urteilen; die seien
höchstens ein Beweis, daß das Handwerkszeug für ein Fach da sei, aber
mehr besagten sie auch keinen Tipps.

Es entspann sich ein regelrechter Streit, in dem Auguste Berg
mancherlei Brauchbares gesagt hätte, wenn es nicht so einseitig und
animos herausgekommen wäre. Die Liecke, als »beste Schülerin«, vertrat
den Standpunkt der Lehrer, Thea zitierte Struves mystische Worte und
bewegte sich im übrigen in Gemeinplätzen über Freiheit, künstlerische
Individualität und dergleichen mehr.

Julie wußte schließlich gar nicht mehr, daß sie es gewesen war, die
diesen Kampf veranlaßt hatte; dagegen meinte sie, daß es nun Zeit sei,
aufzustehen.

Fräulein Meusel mochte das gleiche empfinden und hob mit einem
freundlichen Wort die Tafel auf.

Nun war Julie in ihrem Zimmer und packte ihre Koffer aus. Die Gespräche
schwirrten noch in ihren Ohren, die Stimmen fuhren durcheinander, und
die Gesichter wollten nicht weggehen. Was war das für eine künstliche
Aufregung um alle möglichen Dinge, ein Hagel von Schlagworten und
Standpunkten, ein Getue und Gehabe, ohne jeden ersichtlichen Grund!

Sie fragte sich plötzlich, warum sie eigentlich nach Berlin gekommen
wäre? Onkel Wilhelm hatte ihr zugeredet. Draußen in der Heide
würde sie ihr Leben nur verträumen, hatte er gesagt; sie würde zwar
vielleicht allerhand innere Anregung finden, aber ihre Studien niemals
über ein gewisses Maß hinausbringen können. Nun hatte allerdings Onkel
Wilhelm keinen rechten Begriff von ihrer Arbeit. Einmal dachte er doch
wohl insgeheim, daß sie es auf ein Examen absehe, und dann glaubte
er auch, daß sie sich mit einem bestimmten Fach beschäftige. Aber
sie hielt nun einmal nicht auf System. Sie las, machte sich Notizen,
Auszüge, wurde zu neuer Lektüre angeregt und nahm diese vor. Es war
nicht nur Philosophie, oder nur Literatur, oder nur Geschichte, was sie
trieb, sondern von allem etwas. Die Auswahl, die sie traf, wurde durch
ihr Gefühl bestimmt, nicht durch ein Ziel, dem sie zugestrebt hätte.

Denn der Zweck ihrer Arbeit war ja Genießen.

Obwohl Julie Onkel Wilhelm im Innersten nicht recht geben konnte, --
denn sie lebte der Überzeugung, daß sie auf ihre Weise überall, auch
in der Einsamkeit der Heide, arbeiten könne, -- war sie doch klug
genug, viele seiner Gründe anzuerkennen. Darum wollte sie den Versuch
machen, ob der Aufenthalt in Berlin, die Berührung mit andersgearteten
Menschen, die Anregung durch Theater und Vorträge nutzbringender für
ihre Arbeit wäre als die Stille.

Sie hatte diesen Vorsatz gefaßt und wollte ihn ausführen; sie wollte
sich durch nichts beirren lassen. Das wiederholte sie sich; und sie
schien es nötig zu haben. Denn nebenan hörte man nun verworrenes
Gespräch und ab und zu den Anfang einer Gesangsübung. So viel Ruhe wie
zu Hause würde sie hier also nicht haben. Das stand fest. Übrigens
zweifelte sie auch schon daran, daß sie von diesen Damen Anregung,
geschweige denn inneren Nutzen haben würde. Vielleicht von Fräulein
Berg; die schien jedenfalls ernsthaft zu arbeiten. Aber die beiden
anderen waren wohl nur Dilettantinnen, die mit Künstlerallüren
kokettierten. Immerhin, auch von ihnen wollte sie nehmen, was zu nehmen
wäre.

So versuchte Julie also mit Eifer, sich die Straße vorzuzeichnen, die
sie hier gehen wollte. Daß sie die wichtigsten Momente vergaß, jene
Dinge, die an den Ecken jedes neuen Weges warteten, um andere Ausblicke
zu öffnen und andere Ziele zu zeigen, das war kein Schaden.

Die Energie, die einen gewissen Erfolg ohne weiteres verbürgt, blieb
somit ungeschwächt durch Sorgen um künftige Dinge. Durch ihren Mut
besaß sie von vornherein eine Überlegenheit. Wer sie jetzt gesehen
hätte, wie sie fröhlich mitten im Zimmer stand, wie das Licht die
Linien ihres Gesichts kühn nachzeichnete, der hätte die Gewißheit
gehabt, daß sie sich hier nicht verlieren würde.




                                 XVIII


Julies Zimmer hatte sich in den zwei Monaten, die sie nun schon in
Berlin war, verändert. Zwar standen dieselben Möbel darin, dieselben
gleichgültigen Bilder hingen an den Wänden; nur einige Linien waren
verschoben. Der Schreibtisch hatte günstigeres Licht bekommen, der
kleine Tisch, auf dem früher eine bunte Photographie gestanden hatte,
war jetzt mit Büchern bedeckt. Und durch diese Änderungen hatte das
Zimmer ein persönliches Aussehen bekommen. Es roch nicht mehr nach dem
Preise, nicht mehr nach Koffern und den Kleidern der früheren Bewohner,
es war nicht mehr Pension, sondern Julies Zimmer. Denn nun waren auch
Blumen da, nicht etwa die bekannten Töpfchen mit Alpenveilchen oder
Fuchsien, sondern lange Vasen und niedrige Schalen mit den reinen
Farben des Feldes. Heute breitete sich geradezu ein Goldton über dem
Zimmer. Auf den Schreibtisch, auf die Kommode, auf den Ofensims, wo
nur Licht und guter Hintergrund war, hatte Julie Goldlack hingestellt.
Sie selbst saß am Fenster mit einem Buche; und so oft geschah es, daß
sie das Buch zuschlug und den graublauen Einband neben die Blumen
hielt. Darauf hatte sie sich schon so lange gefreut; immer war sie in
der Stadt herumgelaufen, um Goldlack zu kaufen, aber die kümmerlichen
Stengel hatte sie nicht gemocht; heute endlich war sie mit einem großen
Strauß zurückgekommen.

Ihr fiel zum ersten Male ein, daß ihre Lebensweise hier eigentlich kaum
anders sei als zu Hause; zwar besuchte sie ihre Vorträge pünktlich
und kehrte mit gewissenhaften Notizen zurück, zwar ging sie oft ins
Theater, aber wirkliche Freude fand sie doch erst, wenn sie mit ihren
Büchern und Blumen allein war. Die vielgerühmte Anregung der Großstadt
hatte sie enttäuscht. Es war eine phrasenhafte Architektur nicht nur in
den öffentlichen und privaten Gebäuden, sondern auch in der Bildung der
Menschen, mit denen sie zusammenkam, ein Zug von Handwerksmäßigkeit,
ein Mangel an künstlerischer Lebendigkeit. Das hatte Julie sehr bald
empfunden, und nachdem sie in den ersten Wochen mancherlei Verkehr
gehabt hatte, fing sie nun schon an, lieber zu Hause zu bleiben. Es war
ihr ja nicht um Kenntnisse zu tun, sondern um Schönheit. Und gerade
die hatte sie nicht gefunden. Konventionelle Schönheiten natürlich
allerwärts; in ihren Vorträgen flossen sie in Strömen. Aber Julie
wollte Schönheiten haben, die ihr allein gehörten.

Schien also der Berliner Aufenthalt nur den Erfolg zu haben, daß Julie
zu der Einsicht kam, zu Hause sei es besser, so dachte sie doch nicht
daran, jetzt wieder fortzugehen.

Jedenfalls schlug sie jetzt ihr Buch wieder auf und freute sich,
daß sie noch eine Stunde Zeit hatte, bis sie sich für die kleine
Abendgesellschaft bei Professor Stockmann umziehen mußte. Sie blätterte
und suchte eine Stelle und las. Es waren die »Essays« von Ellen Key.
Selten war ihr ein Buch so viel gewesen. Noch nie hatte sie so stark
den Eindruck gehabt, als wäre hier ausgesprochen, was sie schon seit
Jahren unklar empfunden hatte. Mit jeder Zeile, die sie las, schien
etwas in ihr frei zu werden. Die Töne, die schon lange aus fragender
Tiefe zu ihr heraufgekommen waren, einten sich zu einer Melodie,
und sie erkannte jetzt etwas, das allen ihren Hoffnungen, Wünschen
und Handlungen Richtung gegeben hatte, ohne daß es ihr recht bewußt
geworden war.

Heute las Julie den kurzen Aufsatz über das Weib der Zukunft. Diese
Worte hatten bei ihr schon nahezu eine Geschichte. Zuerst war es ein
Staunen gewesen vor der frühlingsfrohen Kraft dieser Persönlichkeit,
die ihre eigenen geheimsten Wünsche offenbarte. Dann -- Wochen waren
darüber hingegangen -- mit einem Male hatte sie entdeckt, daß die
Entwicklungsmöglichkeiten, von denen hier die Rede war, auch in ihr
verborgen waren, daß sie sie nur bisher noch nicht gekannt hatte.
Da war sie sich vorgekommen wie eine, die im Zimmer sitzt und ihre
bescheidene Freude über ein bißchen Sonnenschein hat, aber plötzlich
geht die Tür weit auf, und draußen lacht es und jubelt von Blumen, und
das Licht ist gleich einem Meer, und über den Himmel segeln Wolken.
Und dann tritt jemand herein und sagt: »Dies alles ist dein, du weißt
es nur noch nicht! Du brauchst nur aufzustehen und hineinzugehen!«
-- Es ward das Jauchzen des Sommermorgens, ein Gefühl von Macht, ein
Ausbreiten der Arme, ein ungestümes Laufen in die Luft hinein, ja,
Tränen von Glück und Dankbarkeit.

Aber heute war es wieder ganz anders. Sie sah nicht mehr die Fernen,
nicht mehr das weite Grün, nicht mehr das unendliche Blau.

Sie war vor einer Blume stehengeblieben. Und wie ihre Sehnsucht bisher
an der Linie des Horizonts gehangen hatte, so senkte sie sich nun in
den Kelch dieser einen Blüte hinein.

»Sie wird stets Geliebte bleiben, und nur so wird sie Mutter werden!
Ihr religiöser Kult wird sein, des Lebens Seligkeit zu schaffen.«

Es kamen wohl viele Düfte aus dem tiefen Kelche dieser Blume, wie
es viele Arten Sehnsucht gibt. Dufteten diese Worte von des Lebens
Seligkeit nicht nach Rosen, und wußten sie nicht von der Liebe heißen
Lippen? War es nicht herb und doch betäubend, zu empfinden, daß Macht
in ihren Händen lag? Daß nur die Frau der Welt die Kostbarkeiten
bringen kann, die des Lebens Seligkeiten schaffen?! Und waren da nicht
auch die Tiefen ungewisser Dinge, vor denen man ein süßes Grauen
empfand ...?

Von diesen Sehnsüchten blieb keine bei Julie. Eine andere kam, leise
und zaghaft, das Dämmern aufzuwecken, in dem die Empfindungen der
Jungfräulichkeit geträumt hatten: die Sehnsucht nach Mütterlichkeit.

In diesem neuen Empfinden waren Schmerz und Glück so nahe beieinander,
daß es eine Ruhe wurde, die sanft über die Augen strich. Und Julie
stand mit andächtiger Scheu, wie vor etwas Heiligem. Aber sie war keine
von denen, die träumend stehenbleiben. Ihre Gedanken gingen weiter.

Ellen Key fährt an jener Stelle fort: »Sie wird mit klarem Blick und
tiefem Verantwortlichkeitsgefühl den Vater ihrer Kinder wählen.«

Julie hatte diesen Gedanken noch nicht bewußt ergriffen, aber ihr
Empfinden mochte wohl schon auf ihn lauschen.




                                  XIX


Generationen hindurch waren Professor Stockmanns Vorfahren Geistliche
gewesen. Von Hause aus derbfäustige Naturen, hatten sie schon im
Dreißigjährigen Krieg den Protestantismus mit Begeisterung verteidigt.
Dies war ihre gesündeste und beste Zeit gewesen. Denn der empfindsame
Augenaufschlag des Pietismus, der ihr folgte, war nichts für ihre
einfachen Augen. Diese Augen waren nicht scharf genug, um Empfindung
von Phrase zu scheiden. Und so hatte sich der Väter Überzeugungstreue
in ein Gewirr unklarer Gedanken und verwaschener Gefühle gewandelt, und
die persönliche Tat des protestantischen Bekenntnisses war zu einer
leeren Tradition geworden.

Diese Tradition machte man in der Familie nun zur Grundlage einer
Erziehung, die heute kaum anders war als vor zweihundert Jahren.

Es war System in dieser Erziehung. Die Bilder an den Wänden, Porträts
von Francke, Spener, der Christuskopf von Guido Reni, die vergilbten
Photographien von Werken der Nazarener redeten dieselbe eindringliche
Sprache wie Morgen- und Abendandachten, Bet- und Bibelstunden. Es
gab keine Gespräche, die nicht mit geistlichen Betrachtungen gewürzt
gewesen wären, keinen Entschluß, bei dem man vergessen hätte, zu
prüfen, ob er Gottes Wille sei. -- Den Dingen der Welt stand man mit
der uneingestandenen Feindseligkeit und dem Argwohn der evangelischen
Milde gegenüber. Man war tolerant; aber man wußte, daß durch eine Falte
der Stirn, durch geschickt eingeschaltete Nebensätze eine Verurteilung
schärfer ausgesprochen werden kann als durch gehässige Rede. Man
verehrte die Kunst: aber sie mußte an den Stufen von Gottes Thron
stehen. Man sah die Kunstwerke unter evangelischem Gesichtswinkel, man
hörte die Musik zur Ehre Gottes.

Dieses Erziehungssystem bemächtigte sich ihres Lebens derart, daß
von persönlichem Religionserlebnis, von religiöser Sehnsucht längst
nicht mehr die Rede sein konnte; vielmehr durfte man sagen, daß den
Stockmanns der Protestantismus in Fleisch und Blut übergegangen war.
Unter dieser Voraussetzung war es zu begreifen, daß die Jungen schon
mit zwölf Jahren ihre festen Ziele hatten, und daß aus ihnen Menschen
wurden, die niemals mit Scheu vor den Fragen des Lebens stehenblieben,
die weder den heiligen Ernst des Suchens, noch das Glück des Findens
kannten. Es kamen freilich Tage, wo des Lebens Sturmwinde heransausten,
morsche Stämme zu brechen und Platz zu schaffen für junge Bäume, die
stark werden sollten. Da wäre Gelegenheit gewesen, einmal aufzuräumen,
einmal nachzusehen, was des Wachsens noch wert wäre, und der Schößlinge
zu achten, die heimlich aus dem Schutt herauskamen.

Aber das taten die Stockmanns nicht.

Hatte bis zu diesem Zeitpunkte alle Verantwortung den Eltern
zugesprochen werden müssen, so traf sie jetzt die junge Generation.
Diese aber wagte keinen Kampf. Vielleicht wollte sie ihre Gewohnheiten
nicht aufgeben, vielleicht war sie überhaupt zu blaß, zu kränklich. Der
Mangel an Lebensmut und Lebensbejahung, der sie den Kampf vermeiden
hieß, vererbte sich gleichfalls und wuchs im Laufe der Zeiten zu
einer beträchtlichen Schuldenlast heran. Die Eigenschaften, die beim
Urgroßvater wertvoll gewesen waren, wirkten heute als eigensinnige
Schrullen. Aus seinem Glauben war Starrheit geworden, aus seiner
Innigkeit Sentimentalität.

Durch die Ehen, die in der Familie geschlossen worden waren, hatten
die Wirkungen dieser Erziehung nicht aufgehoben werden können. Es
waren immer Frauen gewesen, die verwandtem Boden entstammten. Nur
eine Ausnahme gab es, und diese Frau hatte allerdings anderes Blut
in die Familie hineingebracht; das war Mathilde Dorn gewesen, die
Tochter eines stillen Gelehrten, dessen Leben voller Güte unbemerkt
bei trockener Fachwissenschaft vorübergegangen war, nach dessen
nicht ganz aufgeklärtem Tode man jedoch einige Arbeiten über die
Freiheit der naturwissenschaftlichen Forschung vorfand, die seine
Persönlichkeit unter eine veränderte Beleuchtung brachten. Mathilde
Dorn war verschlossen und träumerisch. Ihr Wesen hatte die Milde
eines Regens, der an schwülen Sommertagen zur Erde rauscht, ohne zu
kühlen. Als Professor Stockmann sie heiratete, lebte ihr Vater noch,
und als die Kinder kamen, Martha und zwei Jahre später Johannes, war
zu hoffen, daß ihre Erziehung von anderer Art sein würde, als sonst
in der Familie gebräuchlich war. Denn Mathilde liebte ihre Kinder mit
dem leidenschaftlichen Muttergefühl einer Frau, die nichts anderes hat
als ihre Kinder. Besaß sie auch selbst kein stark ausgeprägtes eigenes
Wesen, so durfte man doch von diesem durch keine Begriffe beirrten
mütterlichen Gefühl mancherlei erwarten. Aber nach wenigen Jahren starb
Mathildens Vater, und geraume Zeit darauf folgte sie ihm, ohne ihre
Kinder bis zu einer inneren Selbständigkeit gebracht zu haben.

Es sei ein Herzleiden, sagten die Ärzte, aber in Wirklichkeit ging sie
an den fortgesetzten stillen Vorwürfen zugrunde, die ihr Mann wegen
jener Schriften ihres Vaters gegen sie erhoben hatte. Immerhin erkannte
man noch heute an den Kindern die Mutter.

Martha, die seit ihrer Konfirmation dem Hauswesen vorstand, verband mit
der kindlichen Liebe zum Vater doch eine gewisse Unabhängigkeit. Sie
hatte den Glauben ihres Vaters, aber ein Glanz war übers ihn gebreitet,
der von persönlichem Empfinden herkam.

Johannes hingegen hatte von der Mutter die Zweifel geerbt. Sie
entbehrten zwar der Schärfe und hatten hin und wieder eine
gewisse Haltlosigkeit zur Folge; aber an dieser Stelle kam ihm
die Hartnäckigkeit des Vaters zugute. So gab es in seinem Leben
wenigstens scheinbare Kämpfe. Selbständigkeit gehörte nicht zu
seinen Eigenschaften. Aber er besaß eine gewisse Geschicklichkeit:
er nahm niemals Partei für Anschauungen, die den Familientraditionen
zuwiderliefen, aber er machte kleine Konzessionen, gestand einigen
Punkten eine Berechtigung zu und fühlte sich immer auf der Höhe
überlegener Milde.

Professor Stockmann hatte sich allmählich in seine Kinder gefunden.
Daß der positive Glaube ihnen keine Herzenssache war, wußte er wohl;
aber er zog es vor, diese Lücke zuzudecken, ohne sie zu ergründen.
Für diese Nachsicht forderte er stillschweigend das Festhalten an
allen äußerlichen Gewohnheiten. Es gab keinen Widerspruch gegen seine
Anschauungen; und die Kinder waren klug genug, dem Vater zu folgen, ja,
sie taten es sogar aus Überzeugung. Drei- bis viermal im Jahr ging man
zur Kommunion, morgens und abends versammelte man sich zur Andacht,
genau so, wie es unter dem seligen Generalsuperintendenten gewesen war.

Zu dieser Familie kam Julie Hellwege.




                                  XX


Es gibt Farben, die sich im Schatten gleichen, im Licht aber einander
nicht mehr kennen. Und es gibt Menschen, die in der Dämmerung des
Alltags meinen, sie gehören zusammen, und doch plötzlich einander fremd
sind, wenn das Licht einer Morgenstunde in jene dunkeln Ecken fällt,
die ihnen selbst noch unbekannt waren. Oft freilich geschieht es, daß
das Leben vorüberschreitet, und jene Stunde will nicht kommen und
bleibt fern, bis diese Menschen sterben; und erst die Kinder gewahren,
daß sich Abgründe geschrofft haben, wo die Väter an sichere Straßen
glaubten. So war Rechtsanwalt Hellwege gestorben und hatte noch drei
Tage vor seinem Tode von seinem Studienfreunde Stockmann erzählt, mit
ihm habe er sich immer am besten verstanden. Und nun saß Julie dem
Professor gegenüber, und der hörte nicht auf, sich zu verwundern und
zu entsetzen, daß dieses die Tochter seines Kommilitonen Hellwege
war. Und der Doktor Johannes fühlte sich befangen, merkte etwas von
Überlegenheit, die anerkannt werden müßte, und trat dennoch auf die
Seite seines Vaters.

Julie war nicht so sicher, wie sie sich gab. Mokantes Lächeln war hier
nicht am Platz, und jede Art von Spiegelfechterei bedeutete einen
Verlust. An Energie wäre dieser Gegner sicher gleichwertig, nachgeben
würde er nie, und es bedürfte starker Waffen, sich zu behaupten. Trotz
allem war sie unbekümmert und darum von vornherein im Vorteil.

»Wir sind immer am liebsten jedes für sich allein gewesen: vielleicht,
weil wir so sehr zusammengehörten, weil etwas ganz Besonderes zwischen
uns bestand und wir nicht wollten, daß ein laues Familienglück daraus
würde.«

»Und Sie sind sicher, daß niemand von Ihnen bei diesem Verhältnis zu
kurz kommt?«

»Vielleicht! Aber das ist dann eigene Schuld. Um selbst glücklich zu
sein, darf man nicht auf andere warten.« Julie hörte ihre Stimme klar
und bestimmt. Es ist ein eigenes Gefühl, lachend in eine Umgebung zu
kommen, wo nüchterner Ernst und graue Gleichmäßigkeit herrschen. Und
wie empfindet man die stummen Entgegnungen, die von allen Seiten zu
einem kommen, sei es, um einem zu danken, daß man den Mut hatte, die
Ruhe aufzuwecken, sei es, um sich zu sträuben, weil solches geschieht!

Der Professor schüttelte den Kopf.

»Kind! Was sind das für Anschauungen! Gerade das Zusammenhalten der
einzelnen Glieder macht das Familienglück innig und fest. Sehen Sie
meine Kinder an!«

Der Doktor nickte gehorsam Beifall.

»Das haben wir gewiß erfahren ...!«

»Aber es kann doch auch eine Gefahr darin sein: viele meinen, nur für
andere leben zu müssen, und verlieren darüber sich selbst.«

Der Pastor hob die Hand.

»Ist das ein Nachteil? ›Liebe deinen Nächsten als dich selbst‹, sagt
die Schrift.«

Der Doktor fand einen Ausweg.

»Man muß es eben verstehen, aus dem Boden der Familie Kraft für die
eigene Persönlichkeit zu ziehen. Natürlich soll man sich selbständig
entwickeln. Aber darf man nicht dennoch etwas haben, woran man sich
anlehnen kann, wenn müde Stunden kommen?!«

Julie hatte eine lächelnde Empfindung: wie mochte es aussehen, wenn
dieser blonde, gesunde Mann sich müde an seine Familie lehnte, an
den weißen Kopf seines Vaters oder an Marthas schlicht abfallende
Schultern?!

»Ich sage ja nur, daß gerade die Familie einen hindern kann, überhaupt
selbständig zu werden; da sind Rücksichten und Bedenken ...«

»Und gerade diese bilden die treffliche Erziehung des Familienlebens,«
entgegnete der Professor lebhaft. »Sollen wir doch einer dem anderen
helfen, mit Liebe, Nachsicht und Demut, einander fördern auf dieser
irdischen Reise. Wir sollen entsagen lernen und unser Selbst verleugnen
...«

Julie blickte mit einem Anflug von Mitleid auf die scharfen Züge des
alten Mannes; in diesen Falten lagen allerdings ganze Geschichten von
Entsagung, und man suchte vergebens nach einer weichen Fläche, die von
Lebensfreude hätte sprechen können. Sie empfand ein Grauen, als sei sie
in dieses Gerechten Gewalt gegeben und müsse ihm gehorchen. Blumen,
Sonne und Farben wurden blaß und glitten in unerreichbare Ferne, und an
den Wänden standen Drohungen. Sie warf ängstlich den Kopf in die Höhe.

»Ein Recht zu entsagen habe ich nur dann, wenn ich es aus eigener
Erkenntnis und freiem Willen tue.«

Der Doktor horchte.

»Wie stolz Sie sind! Es ist gewiß ein hoher Standpunkt ...«

Aber der Vater unterbrach ihn.

»Nein, nein, das wäre pharisäischer Hochmut. Entsagen heißt: das eigene
arme Ich ausstreichen und sich in Gottes Willen fügen!«

Julie schwieg. Und der Doktor Johannes war ihr vielleicht dankbar dafür.

Als man nach dem Essen unter Thorwaldsens Christus saß, griff der
Professor das Thema von neuem auf.

»Sehen Sie, liebes Kind, neulich hatte ich einen Brief von Ihrem
Vormund. Er schrieb, Sie seien nun hier, und ich möchte mich in
Erinnerung an Ihren seligen Vater Ihrer ein wenig annehmen, nun, Sie
wissen ja, daß Sie bei uns wie zu Hause sein sollen, ja, und da
schrieb er auch von Ihrer Schwester Marianne. Die ganze Familie war mit
dieser Verlobung erst nicht einverstanden, nicht wahr? Ich weiß nicht,
ob es nur Demut und Selbstverleugnung war, was Ihre Schwester bewogen
hat, den Antrag dieses einfachen Mannes anzunehmen; aber ich möchte
glauben, daß beides in ihr mitgesprochen hat, als sie den Entschluß
faßte, ihm fürs Leben zu folgen. Nun sind die beiden so glücklich
geworden. Muß man da nicht von Gottes Fügung sprechen, die alles besser
gemacht hat, als die Familie es je für möglich gehalten hätte, die
schon jetzt für die demütige Ergebung in seinen Willen reichen Lohn
schenkt?« Julie wurde rot und dachte an die Tage, die jener Verlobung
vorausgegangen waren; sie fühlte sich plötzlich verantwortlich für
Marianne, nicht gerade, weil sie ihre Schwester war, sondern aus jenem
Solidaritätsempfinden heraus, das das ganze Geschlecht verbindet.
Eine Art von Scham erwachte in ihr, daß hier ein Mann daranging,
etwas aufzudecken, was für die Frau immer keusch und unberührt
bleiben sollte; und dann fühlte sie eine ärgerliche Gereiztheit, wie
täppisch doch diese Hände wären, wie pfiffig und plump der Versuch,
an dieser simplen Verlobungsgeschichte beweisen zu wollen, wie Gottes
Gerechtigkeit die Entsagung belohne.

»Meine Schwester hatte ihn einfach lieb!« sagte sie schroff.

»Ist die eheliche Liebe kein Geschenk Gottes?«

»Und weil sie ihn lieb hat, kann von Entsagung nicht die Rede sein!«

»Nun, -- die Verhältnisse, in die sie gekommen ist, sind doch wohl
recht einfach,« meinte der Professor behaglich. »Es wird manche Träne
gekostet haben, sich dahinein zu gewöhnen, fürliebzunehmen mit einem
niedrigen Hause, mit der Einsamkeit des Landlebens, den bescheidenen
Freuden eines Dorfschullehrers ...«

»Sie hätte es doch anders haben können!« meinte der Doktor, »und darum
erscheint es mir als ein Zeichen von Demut, daß sie ...«

»Wenn man jemand lieb hat, muß man alles für ihn tun können, nicht aus
Demut, nicht aus Entsagung, sondern aus Liebe. Das ist nicht weiter gut
oder groß, sondern natürlich und selbstverständlich!«

»Nun ja, gewiß,« stimmte der Doktor bei.

Julie war verstimmt. Das Gespräch erschien ihr plötzlich unnötig.
Sie war mit der Absicht hergekommen, von diesen Menschen etwas zu
lernen, und fand sich enttäuscht. Sie hatte sich selbst aus dem
Spiele lassen, nur Neues aufnehmen, irgendeine Feinheit verstehen,
eine scharfgezeichnete Linie sehen, andersgeartete Anschauungen hören
wollen. Davon war hier nichts zu finden. Dies war weder friedlicher
Meinungsaustausch noch ehrlicher Kampf. Vielmehr nichts anderes, als
rechthaberisches Gezänk, wie etwa Kinder sich um ihre Spielsachen
streiten. Da wurden Worte falsch gedeutet, Begriffe verschoben, jeder
saß trotzig ernst auf seinem Stuhl und dachte nicht daran, dem andern
entgegenzukommen, und dazu diese ölige, versalzene Milde, wie eine
schlecht zubereitete Mayonnaisensauce! Und was das schlimmste war: sie
selbst wurde von diesem Ton angesteckt, sie blieb nicht bei der Sache,
suchte nach spitzen Entgegnungen und fühlte sich klein und häßlich.

Der Doktor wollte einlenken.

»Alles, was aus Liebe geschieht, steht jenseits von Gut und Böse.«

Da lachte Julie. Und mit diesem Lachen hatte sie ihre gute Laune
wiedergefunden.

Martha hatte während der Unterhaltung schweigsam in einer Ecke
gesessen. Wovon Julie sprach, das hatte sie wohl schon manchmal
gelesen, aber noch niemals aussprechen hören. Sie hatte Ähnliches
auch schon gedacht, aber noch nicht den Mut gehabt, davon zu reden.
So lauschte sie ängstlich und begeistert auf Julies Stimme, mit der
leidenschaftlichen Erregung der schwachen Seele, die nur in ihrer
Phantasie den Kampf wagt und Triumphe feiert.

Julie verstand sich nicht auf solche Wesen; sonst hätte sie eine
dankbare Wärme und den fast flehenden Ausdruck einer Bitte empfunden,
als Martha ihr beim Weggehen sagte:

»Kommen Sie recht, recht bald wieder!«

Doktor Johannes begleitete Julie nach Hause. Das ließ er sich nicht
nehmen, den ganzen Abend hatte er sich darauf gefreut. Nicht eigentlich
gefreut, aber er hatte darauf gewartet, als müsse er sich verteidigen
oder sie wenigstens über sich aufklären, als dürfe er es unter keinen
Umständen zulassen, daß sie mit diesem, wie er meinte, unfertigen
Eindruck Von ihm wegginge. Oh, es wäre im Grunde natürlich ganz
gleichgültig, was andere Menschen über ihn dächten; man mochte ihn
getrost verurteilen. Johannes liebte es, sich ein wenig als Märtyrer
zu fühlen. Er wußte ja genau, daß er richtig handelte, wenn er mit
kindlicher Ehrfurcht seine Anschauungen vor dem Vater verbarg. Aber,
nun ja, er hätte doch gern mit Julie darüber gesprochen. Er redete sich
vor, sie würde ihn verstehen, vielleicht bemitleiden oder gar bewundern.

Als sie um die Straßenecke bogen, fing er an: »Sie waren vielleicht
erstaunt, daß ich meinem Vater gegenüber mit meiner Meinung etwas
zurückgehalten habe. Meine Situation zu Hause ist nicht ganz einfach.
Meines Vaters Anschauungen sind streng orthodox. Für ihn als Professor
der Dogmatik besteht ja auch geradezu die Notwendigkeit, seine Stellung
zu religiösen und ethischen Fragen genau zu präzisieren.«

Es freute ihn, wie klar er sich ausdrückte. Die Worte klangen rund
von den Häuserwänden zurück. Seine Schritte waren fest und bewußt. Es
schien, als wolle die Stille der Straße seiner Energie noch besonderen
Nachdruck verleihen.

Julie betrachtete ihn. Aber ehe er fortfahren konnte, sagte sie etwas,
wovon ihr erst in diesem Augenblick einfiel, daß sie während des
ganzen Abends den Wunsch gehabt hatte, es auszusprechen. »Ich finde,
Sie haben keinen Mut!«

Das hatte der Doktor freilich nicht erwartet. Aber gleichzeitig empfand
er merkwürdigerweise ganz deutlich, daß nur dieses über sein Verhalten
gesagt werden konnte. Er suchte nach einer Entgegnung: Kindesliebe,
väterliche Autorität ...! Doch plötzlich hatte er den Wunsch, sie
möchte weiterreden. Er fühlte eine ferne Möglichkeit von Freiheit.

»Sie haben doch das Recht, Ihre Meinung zu vertreten. Wollen Sie Ihren
Vater täuschen? Das glaube ich nicht. Oder wollen Sie aus Ehrfurcht
vor ihm schweigen? Ich wäre traurig, wenn mein Kind nicht mehr von mir
gelernt hätte, als zu schweigen oder Beifall zu klatschen, wenn ich
rede. Und ich denke es mir den glücklichsten Augenblick, wenn mein Kind
mir zum ersten Male aus Überlegung widerspräche.«

Johannes hatte eine peinliche Empfindung. Daß sie von ihren Kindern
sprach, war ihm unangenehm. Er hätte sie sich weiblicher gedacht.

»Jedenfalls kann ich mir nicht denken, daß man dabei glücklich sein
kann,« fuhr Julie fort.

»Nein, nein, ich bin auch nicht glücklich,« stotterte Johannes. »Wie
ich Ihnen schon sagte: meine Situation ...«

»Übrigens wäre es verständlich, wenn Sie wirklich schweigen
~wollten~. Die natürliche Empfindung der Innigkeit, die Eltern und
Kinder verbindet, macht es uns, den Kindern, eigentlich unmöglich, die
Eltern belehren zu wollen. Aber wie einer es ertragen kann, schweigen
zu ~müssen~, seine Persönlichkeit unterdrückt zu sehen, das kann
ich nicht begreifen.«

Sie gingen eine Weile nebeneinander her, ohne etwas zu sagen. Johannes
hatte sich diese Unterhaltung anders gedacht. Er war nicht zufrieden.
Aber er mochte sie nicht abbrechen. In der Nachtluft ging es sich so
behaglich, und eigentlich hörte er es gern, wenn sie über ihn sprach.
Seine Gedanken waren vielleicht schon gar nicht mehr bei der Sache, und
nur, um irgendetwas zu entgegnen, fragte er:

»Wie soll man anders handeln?«

»Indem man seine persönliche Freiheit behauptet.«

»Wie denken Sie sich das? Soll ich den häuslichen Frieden stören? Soll
ich widersprechen?«

»Nein!« Julie schüttelte den Kopf. Sie dachte nach; sie überlegte
ganz ernsthaft, wie dem Doktor geholfen werden könnte. Sie wurde
sich gar nicht bewußt, daß sie zum ersten Male einem erwachsenen
Menschen nach eigener Überlegung einen Rat geben wollte, und daß es
eigentlich ein etwas komischer Fall sei, einem jungen Privatdozenten
Verhaltungsmaßregeln darüber zu erteilen, wie er sich seine
Selbständigkeit bewahren solle. Plötzlich fragte sie unvermittelt:
»Wohnen Sie bei Ihrem Vater?«

Natürlich, das täte er. Warum sollte er auswärts wohnen?

»Nun ja, damit würde ich anfangen. Ich würde mir zwei Zimmer mieten,
in einer ganz anderen Gegend von Berlin, die würde ich mir nach meinem
Geschmack einrichten, mit Bildern, Vasen und Blumen; dann hat man doch
erst mal ein richtiges Zuhause, wo man bei sich selbst ist. Und dort
müssen Sie so leben, wie es Ihren Anschauungen entspricht. Und ...«

Sie brach plötzlich ab. Sie wunderte sich mit einem Male, daß sie so
eindringlich zu ihm gesprochen hatte.

Johannes war in einer weichen Erregung. Sie hatte recht. Natürlich
hatte sie recht. Wenn er allein wohnte, durfte ihm keiner dreinreden;
dann war er Herr in seinem Hause.

So dachte er. Aber fühlte er nicht auch etwas Warmes, Unbekanntes?
Erregte es ihn nicht, daß da eine neben ihm ging, daß das ungewisse
Licht der Laternen ein feines Profil zeichnete, das wieder erlosch,
wenn sie vorüber waren, daß seidige Haare leise zitterten, und wenn der
Abendwind sie aufhob, das Weiß einer Schläfe schimmerte?

»Und dann?« fragte er nach einer Weile.

»Das müssen Sie selbst ausfindig machen!« sagte sie und lachte kurz.
Wie war er hilflos! Das belustigte sie wieder. Aber sie wollte sehen,
was daraus wurde.

»Wenn es so weit ist, können wir ja weiterberaten,« meinte sie vergnügt.

Nun waren sie vor dem Hause angelangt, und sie gab ihm die Hand. Er war
unschlüssig, ob er ihr danken müsse, oder ob er sie fragen könne, wann
sie wiederkäme. Aber das war nun zu spät, denn die Tür fiel schon ins
Schloß.

Er ging langsam den Weg zurück und beschäftigte sich mit dem Plan,
eine Junggesellenwohnung zu beziehen. Aber es war etwas in der Luft,
was seine Gedanken immer wieder aufstörte und zu ganz fernliegenden
Dingen gehen ließ. Er erinnerte sich der Buden seiner Freunde, der
Plüschmöbel, der Koffer in der Ecke; dann fiel ihm ein, daß er da
manchmal Besuch angetroffen hatte, Damenbesuch, ein kicherndes Lachen
lag ihm plötzlich im Ohr; dann flirrten allerhand Worte an ihm vorüber,
von goldener Studentenfreiheit, und er dachte mit einem Male, daß er
solche Erlebnisse nie gehabt hatte.

Er bog um die Ecke; da stand noch wie vorhin die verschlafene Droschke.
Hier hatte Julie von dem Kinde gesprochen. Und nun fühlte er wieder
etwas Warmes, als ginge sie neben ihm, er empfand etwas Körperliches.

Doch als er dann die Tür des väterlichen Hauses aufschloß, war
nichts von allem mehr da; er klinkte auf, tastete sich hinein, so
gewohnheitsmäßig, als käme er aus dem theologischen Seminar.

Julie fand in ihrem Zimmer einen Brief von Marianne vor. Es war ein
Bericht über die Hochzeitsreise und ihr warmes Nest, in das sie nun
mit Lukas eingezogen sei. Es fehlte nicht an einigen Stellen, die
frauenhaft erfahren klingen sollten. Zu anderen Zeiten würde Julie
sich darüber mokiert haben. Aber jetzt mußte sie plötzlich und ohne
jede Veranlassung an Johannes Stockmann denken.

Julie zerriß den Brief, ohne ihn zu Ende zu lesen, und warf die Stücke
in den Papierkorb. Dann griff sie nach einem Buche ...

Doch nein! Sie legte es wieder fort und begnügte sich damit, an Agnes
Elisabeth zu schreiben und ihr eine scharfe Schilderung von dem
nußbaumpolierten Ton in der Familie Stockmann zu geben.




                                  XXI


Um diese Zeit fingen sie im Dorfe an, über Agnes Elisabeth zu sprechen.

Es war nicht der gewöhnliche Klatsch, der von Haus zu Haus geht, sich
an den Ofen niederläßt, sich behaglich breit macht und wichtig tut, als
könne er allein die Unterhaltung führen, bis er langweilig wird, weil
er keine neuen Geschichten mehr zu erzählen weiß, und schließlich in
einer Ecke stehenbleibt und vergessen wird.

Über Fräulein Hellwege sprach man in anderer Art.

Irgendwo einmal waren ein paar Worte gefallen, sie sei zuzeiten so
wunderlich. Keiner hatte diese Worte aufgehoben, sie waren im Staube
des Alltags liegen geblieben. Aber unter dem Staub mochte doch
fruchtbarer Boden gewesen sein, der Bauern bedächtige Zweifelsucht, ein
unbewußter Argwohn gegen alles, was außerhalb des Verständnisses ihres
Standes lag.

Als die warmen Tage mit den lichten Abenden vorüber waren und zum
ersten Male des Morgens Reif über den Wiesen schimmerte, da war ein
Flüstern aufgewacht, und keiner wußte, von wannen es gekommen war.
Es war da, wisperte hier ein Weilchen, glitt an den Zäunen entlang,
raschelte drüben am andern Ende des Dorfs ...

Sie sei wunderlich geworden. Tagelang gehe sie durch Haus und Garten,
ohne ein Wort zu sprechen, mit dem nämlichen blassen Gesicht. Einige
hatten sie des nachts in einem langen, weißen Kleide gesehen; vor
der Laube stehe sie und rühre kein Glied, sagten welche, und andere
erzählten, sie sei ganz langsam durch die Tannenallee gegangen, hinauf
und hinunter, und wieder hinauf und hinunter, bis die Kirchenuhr drei
geschlagen habe. Der Pastor traf sie auf dem Kirchhofe; da kniete sie
vor dem Grabe ihrer Mutter, und es war ihr gleichgültig, ob einer an
ihr vorüberkam, sie kniete und betete; oder sie pflanzte Blumen auf dem
Hügel, am nächsten Morgen aber riß sie die Blüten ab und zerbrach die
Stengel. Einmal war sie verschwunden, irgendwo in der Heide oder im
Moor mochte sie sein, und erst am Abend des zweiten Tages kehrte sie
heim und trug Blumen im Haar.

Solche Dinge flüsterte man, weder aus Neugierde, noch aus Teilnahme; es
war nichts anderes, als der einfache Vorgang, daß etwas herumkam, und
daß nun alle darum wußten.

Im Lehrerhaus gab dies Anlaß zu einiger Verstimmung. Lukas Allm
war voller Mitgefühl und hatte allerhand Pläne im Kopf, daß Agnes
Elisabeth zu ihnen ins Haus ziehen solle, oder daß sie reisen solle,
daß er an den Vormund schreiben oder einmal mit ihr selbst sprechen
müsse.

Marianne hingegen fühlte sich bloßgestellt und grollte mit Agnes
Elisabeth. Sie wollte nur um Gottes willen kein Familiengerede und
meinte, dies alles sei ohne Belang.

»Man muß ihr nur Zeit lassen, dann wird sie schon von selbst darüber
hinwegkommen,« sagte sie und fühlte sich dabei älter als die Schwester
und mit allen inneren Erfahrungen einer verheirateten Frau ausgestattet.

Da Mariannes Meinung noch immer maßgebend war, blieb es bei Lukas’
guter Absicht. Auch wurden beider Gedanken bald nach einer anderen
Richtung hin gelenkt, und diese Dinge traten in den Hintergrund.

Obwohl man erst im September stand, begannen sie nämlich mit einem
Male von Weihnachten zu sprechen, und daß sie dann nicht mehr allein
sein würden. Von nichts anderem sprachen sie. Lukas Allm hatte dabei
jene weiche Freude, mit der Kinder an das Christfest denken, während
in Marianne vielerlei Sorgen waren, Geschäftigkeit und Unruhe, wie es
einer jungen Frau zukommt.

                   *       *       *       *       *

An einem jener späten Sommertage, die den Frieden eines schlummernden
Kindes haben, just als die Sonne unterging, erfuhr auch Hinrich Teetje
von den Gerüchten über Agnes Elisabeth. An dem Fenster der Gaststube
stand er und trank sein Braunbier aus, als der Wirt vorsichtig zu ihm
trat, den Tisch abwischte und mit verhaltener Stimme sagte:

»Die ist nun glücklich wunderlich geworden!«

Teetje stellte sein Glas hart auf den Tisch.

»Wer?«

»Die Älteste von Hellweges.« Und als der andere keine Miene verzog, kam
es triumphierend hinterdrein: »Zwei Stunden ist sie heute wieder auf
dem Kirchhof gewesen.«

»Unsinn!«

Darauf hatte der Wirt nur gewartet. Denn nun kam die ganze Geschichte,
mit Anmerkungen, Erläuterungen und sämtlichen möglichen Lesarten.
Teetje saß daneben und starrte nach dem Fenster, hinter dem rote
Lichtschwaden dampften. Plötzlich lachte er laut, stand auf, legte sein
Geld auf den Tisch und ging weg.

Er kam an Hellweges Haus vorüber. Es schwieg in dem schreckhaft
bewußtlosen Licht, mit dem der Tag nach dem Kampf der ersten Dämmerung
noch einmal die Augen öffnet, um zu sterben.

Mitten auf der Straße blieb er stehen, bis die Schatten der Nacht sich
hoben und um ihn herumstanden. Da lächelte er, ein grausames Lächeln,
und dann ging er nach Hause.

Zu derselben Stunde erhielt Agnes Elisabeth die Anzeige von Heinrich
Craners Verlobung mit Fräulein Ellinor Grünhagen. Dabei fand sich ein
Brief: ein paar Worte, daß er ihr doch niemals hätte geben können, was
sie brauchte, daß sie ihm das freundliche Gedenken einer Schwester
bewahren möge, und was in solchen Fällen sonst noch geschrieben zu
werden pflegt.

Agnes Elisabeth las beides mit vollkommener Ruhe, wie die Mitteilung
einer gleichgültigen Person. Der ihr das geschrieben hatte, war auch
längst nicht mehr derselbe, der ihre Gedanken beherrscht hatte.

Als es dunkel geworden war, ging sie zu Marianne, um ihr ein Rezept zu
bringen, um das sie gebeten hatte.

Marianne hieß sie mit ungewöhnlicher Feierlichkeit willkommen, brachte
sie ins Wohnzimmer, schloß behutsam die Tür, griff nochmals nach der
Klinke, trug die Lampe auf einen kleinen Tisch an der Wand, setzte sich
neben Agnes Elisabeth und hatte etwas auf dem Herzen. Sie druckste eine
Weile, und als Agnes Elisabeth endlich von dem Rezept anfing, kam es:

»Ich muß dir etwas sagen!«

Dann erfuhr Agnes Elisabeth unter Flüstern, daß Marianne um Weihnachten
herum ein Kind erwarte. Es flossen Tränen, und Marianne war stolz auf
sie. Denn neben echter Freude nahm doch das Gefühl der Wichtigkeit den
größeren Platz in ihr ein. Auch war sie schon ganz von dem Egoismus der
jungen Mutter beherrscht, die an nichts anderes denkt, als an ihr Kind.

Sie bezog es auf sich, als Agnes Elisabeth beide Hände vor ihr Gesicht
legte und weinte; und Marianne freute sich dessen.

Aber Agnes Elisabeth weinte um anderes. Sie weinte, wie Kinder weinen,
die sich verlaufen haben und nicht nach Hause finden können.

Zwar suchte Agnes Elisabeth schon lange nicht mehr nach einem Wege,
erst jetzt aber wußte sie, daß sie sich verlaufen hatte und niemals
mehr nach Hause finden würde.




                                 XXII


Evelyn war nun mitten in der großen Welt.

Sehnte sie sich nicht zurück nach den feinen Tönen ihrer spielenden
Träume, nach ihrer grünen Wiese, nach ihren Pfauen, nach ihrer
kindlich-souveränen Verachtung? Gewiß nicht! Denn mit unbewußter
Sicherheit und dem leichten Schritt fröhlichen Genießens ging sie
durch alles Neue hindurch, nahm, wovon sie mochte, fand vielerlei und
atmete und lachte. Was vergangen war, war noch bei ihr, aber nicht
als eine wehmütige Erinnerung. Es war ein Teil von ihr geworden, ein
Stück ihres lächelnden Selbsts, das ihre Augen heller machte. Es
geschah nie, daß sie sich schmerzlich nach der Vergangenheit umgewendet
hätte, ebensowenig, wie sie an die Zukunft dachte. Sie liebte weder
die Erinnerungen an das Gestern, noch kleine Hoffnungen auf Morgen und
Übermorgen. ~Heute~ lebte sie, und sie hatte genug zu tun, wollte
sie alle Schönheiten zusammentragen, wie sie früher Blumen in ihren
Schoß gesammelt hatte.

Während des Sommers waren sie im Schwarzwald gewesen, und als es
kalt wurde, hatte der Arzt gesagt, Tante Sophie müßte nach dem Süden.
Onkel Wilhelm konnte sie nicht begleiten, denn es lagen umfangreichere
Aktenstücke auf seinem Schreibtische als je, Rena durfte ihre Stunden
nicht versäumen, so war es selbstverständlich, daß Evelyn mit ihr ging.

In einer Villa dicht bei St. Raphaël wohnten die beiden, machten
Spaziergänge, saßen im Sonnenschein auf ihrer Terrasse und abends vor
dem Kaminfeuer, empfingen ab und zu Besuche, freuten sich, wenn sie
wieder allein waren, und gaben einander gern die zarten Zeichen einer
wachsenden Vertrautheit, die den Altersunterschied vergessen machten.

Es zeigte sich, daß auch Sophie Craner viel Schönheitssinn besaß,
und daß Evelyns Träume eng mit verfeinerten Lebensbedürfnissen
zusammenhingen, die Tante Sophies elegantem Luxus nicht allzu fern
standen. Wenn es kein Kleid sein konnte aus Rosenblättern oder dem
Atlas, der abends über stillen Wassergräben liegt, so tat es auch eine
Toilette aus Seidenchiffon oder ein Hut aus Spiegelsammet. Das war kaum
ein Schritt, und Evelyn hatte ihn bald getan.

Sie sprachen viel miteinander. Evelyn bekam dabei mehr zu hören,
als Tante Sophie anfänglich hatte sagen wollen, und sie erwiderte
solches Vertrauen durch eine feine Dankbarkeit. Oft schwiegen sie auch
und empfanden den Rhythmus gleichartiger Stimmung. So bildete sich
unbemerkt ein gegenseitiger Einfluß, der zwar ihr Wesen nicht änderte,
aber gewisse Seiten an die Oberfläche brachte, die bisher in der Tiefe
gewesen waren.

Und ihr Leben hier, losgelöst von heimatlicher Enge, in der Stille
der kleinen Villa, den duftenden Garten und das unendliche Meer vor
Augen, und etwas weiter entfernt, aber doch deutlich zu spüren, ein
gewisses Parfüm des eleganten Badeorts, war recht geeignet, die neue
Freundschaft zu befestigen.

Nun kam noch ein gemeinsames Erlebnis dazu.

Mr. Clavé war der jüngere Bruder von Sophie Craners Pensionsfreundin;
er besaß ein hübsches Vermögen und hatte gestern um Evelyns Hand
angehalten. Dem Antrage waren viele Besuche in der Villa »Celeste«
vorangegangen. Abende mit Chopin und ein wenig Kaminmelancholie,
Nachmittage, ganze Nachmittage, mit Tennis, Racket-Flirt und der guten
Beleuchtung schräger Sonnenstrahlen, endlich sogar Morgenstunden, auf
den Steinen am Wasser, wo es gluckste oder schäumte, wenn Tante Sophie
noch ruhen mußte und Evelyn mit einem Buche dort unten saß und auf ihn
wartete. Denn sie wartete auf ihn.

Die Liebesgeschichte verlief bei ihm nicht anders, als sie in solchen
Fällen vor sich zu gehen pflegt. Und Evelyn machte es sehr viel Freude,
dies mit anzusehen. Nicht, daß sie ihn ermutigt oder gar mit ihm
gespielt hätte. Es tat ihr wohl, sich geliebt zu wissen, und sie zeigte
ihm dies mit Behagen. In diesem Behagen ging sie richtig spazieren;
sie dehnte sich, bewegte Hände und Füße und freute sich der weichen
Luft, die um sie herum war. Alle die Zeichen, die er ihr von seiner
Liebe gab, nahm sie mit Lächeln hin, wie Blumen, die er ihr brachte,
dankte ihm auch und sagte mehr als einmal, daß dies sonnige Tage seien,
die sie glücklich machten.

Aber nun hatte er den Fehler begangen, sie heiraten zu wollen. Darauf
fand Evelyn nur die Antwort: »Wie schade!«

Daß er ihre Blumen unter der Ehe schützendem Glasdache vertrocknen
lassen wollte, ernüchterte sie und machte ihr den ganzen Menschen mit
einem Male alltäglich.

Tante Sophie erfuhr davon und hielt es für nötig, einige ernste Worte
mit Evelyn zu reden. Aber eigentlich verstand Tante Sophie sie ganz
gut, das wußte Evelyn auch, und schließlich lachten sie beide.

»Auf diese Weise bekommst du aber nie einen Mann,« sagte Tante Sophie.

»Ich will auch keinen,« behauptete Evelyn.

»Und wenn du einmal einen lieb hast?«

»Dann möchte ich ihn gerade deshalb nicht heiraten!«

Sophie Craner lachte.

Evelyns Mund ward zu einem weichen Lächeln. »Sieh mal: Liebe, das ist
etwas so Feines; man sollte es gar nicht berühren. So, wie die Farben
dort in den Wassertropfen; wenn ich das Wasser in die Hand nehme, ist
keine mehr da. Es bleibt nur Wasser übrig; damit kann ich mich zur Not
ein bißchen waschen, aber das ist auch alles.«

»Vielleicht hast du ihn so lieb, daß du wünschst, immer mit ihm
zusammenzusein?«

Evelyn sah ein Weilchen vor sich hin. Dann wiegte sie ihr Haar.

»Vielleicht! Nun ja, dann werde ich ihn heiraten. Aber ich denke mir,
die feinen Farben werden dann verdrängt; satte Farben kommen, die
übermorgen nüchtern werden. Es ist traurig, sich nach etwas zu sehnen,
was nicht wiederkehren kann.«

Tante Sophie neigte den Kopf.

»Und dann ...« Evelyns Nase zuckte.

Tante Sophie dachte, daß Evelyn vielleicht niemals heiraten würde.

Durch Evelyn aber ging eine kleine Wehmut. Wenn Mr. Clavé sie nicht
hätte heiraten wollen, wäre vielleicht ...

Aber dann lachte sie. Denn das Wasser spritzte bis zu ihr herauf und
schimmerte in tausend Farben.




                                 XXIII


                             Liebe Julie!

Ich wollte Dir schon lange schreiben, seit drei Wochen nehme ich es
mir jeden Morgen vor, aber ich bin nie dazu gekommen. Ich bin in der
letzten Zeit zu manchem nicht gekommen. Es gibt so viele alte Dinge
nachzusehen. Und dann ist der Garten ...! Es dauert so lange, bis
man alle Wege gegangen ist. Alle diese Blumen, diese vielen Blumen,
die es jetzt gibt. Auf dem Rasenplatz hinten haben wir das eine Beet
verändert. Die Rosen wollten nicht mehr weiterkommen. Nun stehen da
Begonien. Sehr rote, die den Rasen eigentlich blaß machen. Der große
alte Birnbaum, links vom Hause, hat so viele Birnen gehabt wie noch
niemals; wir haben ihn stützen müssen. Das sah dann abends so aus, als
stünde da jemand. Sehr unheimlich! Ich mußte oft nachts drei- oder
viermal wieder aufstehen, um nachzusehen, ob da wirklich niemand war.
Schlafen tue ich überhaupt nicht sehr gut. Diese Birnen also: da ist
nun niemand, der sie aufißt. Soll ich Dir vielleicht welche schicken?
Die jungen Mädchen essen sie vielleicht gern. Abends rumort es jetzt
immer furchtbar auf dem Boden. Die Marder haben Junge gekriegt, und das
schreit wie kleine Kinder. Die Nächte sind lauter als die Tage.

Auf Mamas Grab bin ich auch viel. Die Blumen wachsen nicht ordentlich.
Einmal standen da Heliotropen, die wurden dürr; dann setzte ich
Verbenen ein; auch die standen nur einen Tag; denn mir fiel ein, daß
Mama sie nie hat leiden mögen. Nun habe ich Geranien gepflanzt; das
sieht lustig aus, beinahe komisch für einen Kirchhof. Ich gehe alle
Tage hinüber und begieße die Blumen. Es scheint ein sehr trockener
Herbst zu werden. Wenn nur nicht so viele Menschen da wären. Gesche
kocht den ganzen Tag Saft; das tut sie nun schon seit dem Juni, von der
Erdbeerenzeit an. Die Katze hat sehr gealtert. Sie liegt den ganzen
Tag in der Sonne und surrt. Das sehe ich mir gern an. Evelyn schickte
vorgestern eine große Kiste mit Weintrauben. Das sind doch andere
Trauben als hier bei uns; sie schmeckten so schön. Es geht ihr sehr
gut, und sie bekommt viel zu sehen. Sie lernt auch Menschen kennen.

Marianne wird Weihnachten ein kleines Kind bekommen. Ich gehe manchmal
zur Nortorf; sie macht so hübsche winzige Sachen für das Kind. Zwischen
unsern alten Kindersachen hab’ ich auch gekramt. Da lag noch meine
große Wachspuppe. Großmamas Korbsammlung hatte ich auch ganz vergessen.
Wie viele Stücke das sind! Diese feingeflochtenen italienischen, und
die mit dem seidenen Futter! Ich ordne sie alle nach der Größe.

Gestern kam ein Brief von Onkel Wilhelm; er hat viel Interesse für
Euch! Er beunruhigt sich etwas über den jungen Mann, mit dem Du in das
Museum gehst. Aber ich denke, wenn Du ihn bei Stockmanns kennengelernt
hast ...!

Kommst Du zu Weihnachten nach Hause? Zum Herbstreinemachen haben wir
auch Dein Zimmer wieder in Ordnung gebracht. Wie viele tote Fliegen da
waren, auf den Fensterbänken und auf der Diele; es waren mindestens
zwei Hände voll. In den Strümpfen, die Du mir schicktest, waren viele
Löcher. Das Seidenzeug habe ich gefunden. Es ist schön weich und
glänzend. Aber lasse es ja auf Futter arbeiten; es ist sonst ein so
unheimlich kaltes Gefühl auf der Haut.

Oben lag auch Mutters Brautschleier; er riecht nach Orangenblüten
und Spinnen. Ich habe ihn zwischen meine Wäsche gelegt. Übrigens hat
es diesen Sommer mehr Spinnen gegeben als jemals. Warum magst Du sie
eigentlich nicht leiden?

Früher schrieb ich Briefe schneller. Jetzt habe ich beinahe den ganzen
Abend dazu gebraucht.

Erst hat Teetje mich am Fenster erschreckt. Und dann kam die Sonne noch
einmal durch, obgleich es schon längst über ihre Zeit war.

Jetzt regnet es. Vor lauter Rauschen kann man nichts hören. Wenn sich
irgendwo jemand versteckt hat, hinter dem Wandschirm, hinter der
Gardine, unter dem Sofa, draußen vor der Tür, überall kann ja jemand
sein! aber man hört nichts vor Rauschen ...

                                                Deine getreue Schwester

                                                       Agnes Elisabeth.




                                 XXIV


Die neue Sittlichkeit der Ehe, die sich schon zuzeiten träumerisch
geregt hat und nun vielleicht beginnt, zum Bewußtsein zu erwachen,
braucht Menschen, die sich darauf verstehen, die Seele zu suchen.

Natürlich muß man einmal damit aufhören, von den Freuden des
Junggesellenlebens und den Pflichten der Ehe in einem Atemzuge zu
sprechen. Man muß zu der Einsicht kommen, daß eine Ehe, die nicht mehr
bedeutet als den Abschluß toller Jugendstreiche und das Hineintappen
in die Behäbigkeit des eigenen Heims, von vornherein mit einer Lüge
anfängt.

Natürlich muß man sich darüber klar werden, daß die Frau kein Haustier
ist und auch kein Spielzeug.

Man wird guttun, auch auf den Stolz zu verzichten, mit dem manche sich
einer treuen, ein wenig zärtlichen Kameradschaft rühmen. Diese ist nur
ein Übergang.

Mann und Frau sollen endlich einmal Ehrfurcht voreinander fühlen, ein
scheues und doch inniges Verlangen nach des anderen Seele.

Dazu ist freilich nötig, daß ein jedes erst die eigene Seele findet.

Man findet sie nicht, wo heute Menschen ihr Innerstes zu finden glauben.

In die Tiefe muß man hinabsteigen, muß lauschen, ob aus den Abgründen
die Stimme der Seele ruft. Wir müssen auf Entdeckung ausgehen und
dürfen keine Mühe scheuen.

Ein wenig Mut ist vonnöten, und die Bürde der Begriffe wird man lieber
oben lassen.

Nur wer sich selbst gefunden hat, darf hoffen, auch des anderen Seele
zu finden. Denn nur dann versteht sich einer auf das Suchen.

Eines solchen Mannes Sehnsucht wird sein, der Geliebten immer nur das
Beste seines Wesens zu geben.

Eine solche Frau wird dem Geliebten nicht nur die Mutter seines Kindes,
sondern die Ergänzung seines Wesens sein, die seine Kraft zum Leben
bringt.

Solche tiefe, im letzten nur geahnte Verbindung zweier Wesen ist die
Wurzel der neuen Sittlichkeit. Sie verachtet die Gedankenlosigkeit,
mit der heute Menschenseelen in Ehen zertreten werden, sie lehrt eine
Nächstenliebe, die Ehrfurcht heißt.

Sie hält die Seele des Menschen für wertvoller als Geist oder Körper,
sie wendet sich gegen jede Vergewaltigung, die man heute noch gute
Sitte zu nennen wagt.

Sie gibt keine Zwangsgesetze: mögen die einen in einer Ehe leben, die
sich äußerlich von der heutigen nicht unterscheidet; mögen die anderen,
die um die zarte Blume ihrer Liebe Sorge tragen und den Frost des
Alltags fürchten, wieder auseinandergehen.

Sie kennt nur ein Gesetz: sich selbst und seine Liebe heilighalten.

                   *       *       *       *       *

So waren Peter Owens Anschauungen über die Ehe, und so war seine Liebe
zu Julie.

Er war von Beruf Maler und traf Julie im Hause des Professors
Stockmann, bei dem er auf Grund einer Familienempfehlung -- seine
Tante hatte den Generalsuperintendenten gekannt -- verkehrte. In der
abgestandenen Atmosphäre des Stockmannschen Hauses hatte es nur weniger
Worte bedurft, um beide fühlen zu lassen, daß etwas Gemeinsames sie
verband. Bei einem Gespräche, in dem der Professor erklärt hatte,
die moderne Kunst liege im argen, und Julie sich vergeblich mühte,
die Kunst gegen den Angriff des Doktors Johannes zu verteidigen,
hatte Peter Owen schweigend in seiner Ecke gesessen, und erst als der
Professor dem Streite mit geringschätziger Milde ein Ende machte, hatte
er gesagt:

»Wir werden trotzdem weitermalen!«

Diese Worte waren soviel wie ein Handschlag, und Julie war ihm dankbar,
daß er nicht Partei ergriffen hatte.

Nach einiger Zeit hatten sie sich in einer Kunstausstellung
wiedergesehen. Natürlich hatten sie von Heide und Moor gesprochen.
Und dann waren sie auf ihre Heimat gekommen. Da hatte sie von dem
Sonnenschimmer ihres Hauses erzählt und er von der ernsten Herbheit
Jütlands. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war bewußter geworden.
Als sie sich trennten, hatte er versprochen, ihr Bücher zu schicken,
und die waren am nächsten Tage bei ihr abgegeben worden. Als Julie sie
sah, hatte sie die Empfindung seines Blicks, seiner kühlen graublauen
Augen.

Peter Owen war an demselben Tage abgereist. -- Er erfuhr während der
nächsten Wochen, daß er Julie liebte, und als er Anfang Dezember
zurückkehrte, geschah es, weil er nicht anders konnte. Julie hatte
seine Bücher gelesen und hatte auf ihn gewartet, mit einer festlichen
Freude. Doch als sie wochenlang nichts von ihm hörte, wurde sie
traurig, und eines Tages dachte sie über den Grund dieser Traurigkeit
nach.

Es schien ihr plötzlich ein weites Stück Wegs, bis sie mit ihrem ganzen
Empfinden in diese Traurigkeit hineinkam. Wie hatte sie nur so lange
nicht nachsehen können! Das war ihr fremd an ihr selbst.

Aber diese Traurigkeit war so weich, die Farben waren dunkel und
seidentief, mit einem Unterton von Gold; man konnte sich hinlegen
und weinen und weinen. Aber schien sich da nicht doch ein Lachen
zu verstecken, ein sonnenstrahlendes Lachen? Sie probierte dieses
Lachen, und sie lachte in der seidentiefen Farbe ihrer Traurigkeit. Da
freilich schwindelte ihr; es begann ein Zittern, dann kam ein Drehen
und Wirbeln, -- es tollte vor ihren Augen, bis sie nicht mehr wußte, wo
sie war, und mit den Händen in die Luft griff, sich festzuhalten. Als
sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich hoch oben in kühler Luft
und fühlte nichts anderes als diese Luft zwischen den Lippen, und daß
ihre Hand etwas umspannte. Es war nur eins von seinen Büchern, woran
sie sich klammerte, aber da wußte sie, daß sie Peter Owen liebte.

Nach einigen Tagen traf sie ihn, nachmittags, als schon Dämmerung in
den Straßen lag. Er ging auf der anderen Seite und wurde ihrer nicht
gewahr.

Julie zögerte keinen Augenblick, sie ging hinüber und begrüßte ihn.

»Wie gut, daß Sie endlich da sind!«

Er sah sie einen Augenblick fest an.

»Ja, ich glaube auch; es ist gut!«

Und dann gingen sie schweigend. Die Menschen strichen an ihnen vorüber
wie Schatten, der Lärm quoll aus den Straßen wie aus Fernen, die ihr
Schweigen nur tieften. Ganz sicher gingen sie, als wäre es nie anders
gewesen. Aber sie sprachen kein Wort. Nur Julie lachte. Sie mußte
lachen. Und Peter Owen sah sie an und verstand sie.

Bis sie oben an seinem Atelier waren.

Vor einem Bilde stand sie. Die letzten Lichter des Abends griffen
nach ihr, und sie hielt stille. Eine gespannte Klarheit war in ihrem
Empfinden. Sie fühlte alles, was um sie herum in halber Dunkelheit
träumte: die Bronze drüben in der Ecke, die Staffelei, den niedrigen
Tisch; sie fühlte, daß Peter Owen am Fenster stand, und daß viele
Schritte zwischen ihnen lagen. Aber noch etwas anderes war in ihr,
etwas Sicheres, etwas, von dem sie, ohne zu fragen, wußte, daß es
kommen mußte, so gewiß, als hätte sie darum gearbeitet, und dieses sei
nun das Ziel. Und dann kam sie sich auch so zu Hause vor.

Peter Owen wartete.

Er lehnte am Fenster und sah zu ihr hinüber. Gedanken kamen und gingen.
Dann blieb nur der eine, daß sie da war.

Eine Erinnerung an seine Mutter streifte ihn. Dann war plötzlich eine
Kindersehnsucht da: wenn der Mantel der Dämmerung über die Felder
schleppte, wenn sachte die Sterne kamen, dann hatte er seine Hände oft
voll Sehnsucht ausgestreckt ...

Er trat leise zu ihr und küßte sie.




                                  XXV


Sie waren täglich beisammen. Sie nahmen die Tage mit Lächeln und gaben
einander, soviel sie nur geben konnten.

Zuerst war es seine Kunst, die sie mit leisem Finger berührte. Und
Farben kamen, die er noch nicht gekannt hatte. Man machte seinen
Bildern den Vorwurf, sie seien zu blaß. Diese Blässe war auch
vorhanden, als der Ausdruck eines allzu feinen Farbenempfindens. Es
wurde anders. Julie hatte gewiß die Augen für seine Töne, aber sie
brachte ihn dahin, die brausende Musik satter Farben zu lieben.

Erfuhren sie hierbei, wie ihrer beider Empfinden sich ergänzte, so
bemerkten sie an Büchern, über die sie sprachen, an Erlebnissen
und Gedanken, die sie einander erzählten, manche Ähnlichkeit ihrer
Anschauungen. Bei ihm waren sie fest, kühl leuchtend, bei ihr alles ein
wenig weicher. So schritten sie durch neues Land und fanden Schönheiten.

Sie waren im Irrtum, wenn sie glaubten, daß sie sich ihren Weg
selbständig suchten. Ihre Liebe ging ihnen voraus, sie folgten nur,
träumend, ohne die Augen aufzuschlagen. -- Manchmal glaubten sie zu
wissen, daß es ein Ziel gab; aber wenn sie daran dachten, waren sie
froh, in einer Wirklichkeit zu sein, die noch weit davon entfernt
war. Sie kam nicht jeden Tag zu ihm; aber wenn sie kam, war es
meist am dämmernden Nachmittag. Sie liebte es, an seinem geräumigen
Backsteinkamin zu sitzen und zuzusehen, wie er den Tee machte.

Es hatte ihn belustigt, daß sie niemals auf den Gedanken gekommen war,
es ihm abzunehmen. Es gab viele Dinge an ihr, über die er sich wunderte.

Man wußte niemals, was sie tun oder sagen würde. So konnte sie
ungeniert sein, daß er sich oft wunderte. War ihr eine Haarnadel in
den Halsausschnitt des Kleides gefallen, so konnte sie ruhig lächelnd
hinunterfassen, um sie wieder heraufzuholen.

Sie sprach mit ihm über alles, über Dinge, die sie vielleicht nackt vor
ihm auszogen. Er meinte, ihre Haut berühren zu können. Aber die Art,
~wie~ sie sprach, ließ ihn dann nur etwas Kühles an seinen Händen
fühlen; nie, daß eine zitternde Schwüle über ihn gekommen wäre.

Dabei war sie weiblich, oft sogar frauenhaft. Und immer war sie neu,
immer eine andere.

Nun war auch ~er~ gezwungen, sich zu geben, wie er war.

»Sag’ mir, Julie,« fragte er sie einmal, »warum machst du ein so
seltsames Gesicht, wenn ich dich küsse? -- Ich tue es doch, weil ich
dich liebhabe!«

»Glaubst du, ich hätte dich nicht lieb? -- Ich habe dich lieb, mit
aller Hoffnung, mit allem! Aber siehst du, da ist etwas zwischen dir
und mir, etwas Feines, Gläsernes, das mich ganz von dir trennt, wodurch
ich dich aber so gut sehen kann, alles an dir sehen kann, jede Linie.
Das gehört zu mir! So etwas war immer bei mir. Aber sieh, wenn ich
dich küsse, muß ich ohne dies kommen. Und dann bin ich nicht mehr ich
selbst! Ich bin jetzt so glücklich. -- Ich will jetzt nichts anderes!«

»Wenn du einmal etwas anderes willst, Julie, wirst du es mir dann
sagen?«

»Oh, das wirst du schon merken!« -- Sie lachte.

»Und wenn ich einmal mehr will, als ich jetzt habe ...«

Diese Dinge waren es, vor denen Peter Owen haltmachte. So sehr er sich
anstrengte, konnte er sich doch nicht darüber klar werden, ob sie
die Gedanken, von denen zu sprechen sie nie müde wurde, auch in die
Wirklichkeit ihres Lebens hineintragen würde.

»Du mußt Kinder furchtbar gern haben!« sagte sie einmal. »Diese
Jungens!« Sie hielt eine Lithographie an ihre kurzsichtigen Augen. »Wie
wundervoll muß es sein, Kinder zu haben!«

»Meinst du?« -- Er wußte in diesem Augenblick nicht, was für ein
Gesicht er machte.

Sie sah ihn ruhig an und entwickelte ihm ganz genau, wie sie ihre
Kinder erziehen würde.

Er liebte es übrigens, daß sie kurzsichtig war. Wenn sie zusammen
spazierengingen, stützte er sie bei jedem Straßenübergang. Dann war sie
von ihm abhängig. Dieses Gefühl hatte er selten bei ihr. Er liebte es,
wenn ihre Hände auf dem Tisch herumtasteten und nach einem Gegenstande
suchten. Dann war sie ganz hilflos, so daß er die Empfindung hatte, sie
würde ihn nie verlassen können.

»Ich habe noch nie dein Schlafzimmer gesehen,« sagte Julie eines Tages.
»Komm, ich will es gern sehen!«

Er schlug den Vorhang zurück und ließ sie eintreten.

»Das ist hübsch!« sagte sie und atmete erleichtert auf.

Er sah von der Tür aus, wie kindlich ihre Linien sich auf dem blassen
Winterhimmel zeichneten.

»Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist, Julie?«

»So genau, wie du es von dir weißt!«

Sie drehte sich um, und zwischen ihren Lippen kam ein ganz klein wenig
eine unartige Kinderzunge heraus.

»Peter ...!«

»Und dieses ist dein Bett!?« Sie schlug die Decke ein bißchen zurück
und legte ihren Kopf leise auf sein Kissen.

Er stand in der Tür und rührte sich nicht.

»Komm, Peter! Lege einmal deinen Kopf hier neben mich!«

Er kam. Als sein Kopf neben dem ihren lag, war es ganz still in ihm.

Sie wußten nicht, wie lange sie so gelegen hatten. Da kam Julie mit
einem weichen kleinen Lachen in die Höhe.

»Siehst du, wenn du heute nacht hier liegst, wirst du denken, daß ich
ebenso wie jetzt bei dir bin. Dann mußt du sogar deine Arme ganz fest
um mich legen!«

Sie strich noch einmal mit der Hand über das Kissen; dann gingen sie
hinüber.

                   *       *       *       *       *

Es war Schnee gefallen, und Julie ging mit Peter Owen durch den
Tiergarten. Er erzählte ihr vom Winter zu Hause, von seiner Mutter,
von seinen alten Träumen. Aber Julie war heute Freude, nur Freude. Sie
freute sich, daß der Schnee unter ihren Füßen knirschte, daß Peter
neben ihr ging, daß sie jung war, und daß es Entsetzen geben würde,
wenn Stockmanns sie mit ihm zusammen sähen.

Sie war ganz Freude; der Sinn seiner Worte glitt an ihr vorüber, aber
der stille Klang kam zu ihr hinein, zu allem Jubelnden, das in ihr
war, und schuf einen Unterton von Wehmut, der Glück nur um so inniger
macht. Alles, was an Empfindung in ihr war, streckte sich aus, alle
Sehnsucht kam, nach Schönheiten zu suchen, sie war mitten im Leben und
~wollte~ leben!

Dann waren sie oben bei ihm.

»O Peter, wie glücklich ich bin!« sagte sie. »Du machst mich so
glücklich!«

»Julie ...!« War es so weit, daß er fragen konnte?

Sie besann sich eine Weile. Dann ging sie zu ihm. Es war nur von einer
Ecke des Zimmers bis zur anderen, und das Zimmer war nicht groß. Aber
es war ihr, als ginge sie einen langen Weg, als ginge sie durch Säle,
schimmernde Säle, die sie nicht kannte, und die doch immer da gewesen
sein mußten und nur auf sie gewartet hatten.

Als sie endlich bei ihm war, tat sie die Hände auf seiner Brust
zusammen und gab sich ganz in seine Arme.

Nun war das andere da. Und es brachte schon einen Schimmer von dem
Lichte jener Stunde, in der sie ihm ganz gehören würde.




                                 XXVI


Kurz vor Weihnachten erhielt Julie einen Brief von Professor Stockmann.
Darin stand, er wolle sie gern in einer wichtigen Angelegenheit
sprechen, ob sie noch vor dem Fest zu ihm kommen könne. Dann
folgten noch ein paar geheimnisvolle Andeutungen, von der rechten
Weihnachtsfreude, die auch in ihr Herz Einzug halten möge, daß wir in
dieser begnadeten Zeit recht daran denken sollten, unseren Mitmenschen
Liebe zu erweisen und deren Liebe in der rechten Demut hinzunehmen ...

Es war der 23. Dezember, ein kalter Tag mit klarer, starrer Luft, und
Julie ging nun zu ihm. Gemächlich schritt sie zwischen den Tannenbäumen
hindurch, die überall auf der breiten Straße standen.

Sie dachte nicht darüber nach, was der Professor von ihr wolle, ihre
Gedanken waren bei Agnes Elisabeth. Es tat ihr mit einem Male leid, daß
Agnes Elisabeth Weihnachten ganz allein sein würde. Wie gut, daß sie
wenigstens Zeit zu einem langen Brief gefunden und ihr das Bild und
die Bücher geschickt hatte. Einen Augenblick stiegen Zweifel in ihr
auf, ob sie nicht doch nach Hause fahren oder ihr wenigstens offen den
Grund ihres Hierbleibens hätte sagen sollen. Aber ... Plötzlich hörte
sie ihren Namen nennen. Sie blickte auf.

Heinrich Craner stand vor ihr, neben sich eine elegante junge Dame.
Schade, daß die Farbe des Kostüms nicht zu dem Blau des Hutes paßte,
stellte Julie fest.

»Ah, so fleißig, daß Sie selbst Weihnachten nicht nach Hause fahren?
Darf ich Ihnen meine Braut vorstellen?«

Fräulein Grünhagen reichte Julie liebenswürdig die Hand.

Julie redete frisch mit den beiden. Es interessierte sie, einmal einem
dieser Wesen gegenüberzustehen, die es fertigbringen, sich mit Spitzen,
Chiffongewuschel, goldenen Täschchen und sonstigem Gebaumel zu behängen.

Ob er nun wieder nach Südafrika gehe?

Er wüßte es noch nicht. Jedenfalls solle im Mai die Hochzeit sein.
Danach wollten sie nach Norwegen reisen. Um diese Zeit könne man
anderswohin ja nicht gehen. Vielleicht bliebe er dann auch hier; man
hätte ihm eine Stellung angeboten. Freilich die Unabhängigkeit dort
unten ...!

Julie lächelte.

Fräulein Grünhagen schien für Afrika keine Neigung zu haben.

»Ich weiß nicht, ob meine Gesundheit das Klima verträgt; Professor
Stengel meint ... Und dann: ohne jede Anregung, ohne Theater, Konzerte
...«

Julie dachte, wie oft Heinrich Craner wohl darüber geklagt haben mochte.

Bei der Gedächtniskirche trennten sie sich.

»Ich würde mich freuen, Sie einmal bei meinen Eltern zu sehen!«
Fräulein Grünhagen hob ihr Kleid auf und nickte Julie freundlich zu.

Julie bog in die Rankestraße ein. Ob Agnes Elisabeth ihn wirklich
einmal liebgehabt hat? dachte sie.

Nun kam sie zu Stockmanns. Martha begrüßte sie im Korridor.

»Wie lange waren Sie nicht bei uns, Julie!« sagte sie mit einem
ängstlichen Blick. »Vater ist in seinem Studierzimmer. Er wartet
schon den ganzen Tag auf Sie! Hoffentlich kam Ihnen sein Brief nicht
ungelegen!«

Julie war überrascht. Hatte Martha sich vielleicht verlobt? Sie war
so weich, nahm ihr Hut und Jacke so zärtlich ab, sah sie ein paarmal
verstohlen an ...

Martha öffnete ihr die Tür zu des Professors Zimmer und ließ sie allein
eintreten. Hier war eine trockene Luft, die nach Plüsch und kalter
Zigarrenasche roch.

Der Professor saß am Schreibtisch. Eigentlich ist sein Kopf beinahe
schön, dachte Julie und freute sich der scharfen Profillinie, die im
Fensterrahmen stand. Sie nahm sich vor, sehr freundlich zu ihm zu sein.

Er stand auf und drückte ihr die Hand.

»Wie schön, daß Sie doch noch kommen! Machen Sie sich’s gemütlich!« Er
schob ihr einen Sessel zu.

Julie setzte sich. Sie hatte eine peinliche Erinnerung an ihren
Konfirmationstag; ob diese aus der feierlichen Erwartung kam oder von
dem Rosa der Alpenveilchen hinter den gelblichen Stores, wußte sie
nicht.

Der Professor räusperte sich.

»Mein liebes Fräulein Julie!« begann er. »Ich habe es mir reiflich
überlegt, ehe ich Sie bat, zu mir zu kommen. Ich weiß, daß in einem
Falle, wie dem vorliegenden, am besten Frau zu Frau redet. Die meine
ist ja nun leider schon seit vielen Jahren heimgegangen, und Ihre liebe
Tante ...«

Julie durchfuhren mit einem Male allerhand wirre Gedanken: Marianne,
die ihr Kind erwartete, Agnes Elisabeth, die so seltsam geschrieben
hatte ... Oder sollte man von Peter Owen und ihr wissen?

»Ihre liebe Tante, die ihrer angegriffenen Gesundheit wegen im Süden
weilt, wollte ich durch einen langen Brief nicht aufregen. Als Freund
Ihres seligen Vaters und auch als Ihr väterlicher Freund glaube ich
eine gewisse Berechtigung zu haben ...«

»Aber, Herr Professor, was ist denn geschehen?« fragte sie ungeduldig.

»Ich will mich kurz fassen.« Er räusperte sich von neuem. »Mein Sohn
kam vor einigen Tagen zu mir, um mir ein Geständnis zu machen.« Er
stockte einen Augenblick und hätte sich gern an Julies Erstaunen
geweidet. »Das Geständnis seiner Liebe zu Ihnen, meine liebe Julie!«
fuhr er bedeutungsvoll fort. Sie hielt die Augen gesenkt. »Es hat
mich innig gefreut, daß nun auch mein Sohn, der so still und treu nur
seiner Arbeit gelebt hat, die Liebe kennenlernt. Gerade zu dieser
heiligen Advents- und Weihnachtszeit. Diese Liebe, die erst durch das
Christentum in die Welt gekommen ist, die durch die christliche Ehe zu
einer veredelnden Gemeinschaft wird. Nun hat der Herr sie Ihnen beiden
zum Christgeschenk machen wollen!«

»Uns ...?«

»J--ja, -- ja, -- ja! Zum lieben Weihnachtsfest ist es ja besonders die
Aufgabe der Frau, zu beglücken und Liebe zu spenden. Diesmal hat der
Herr gerade Ihnen die Freude machen wollen, daß Sie einem Menschen Ihre
ganze Liebe geben dürfen!«

»Aber, Herr Professor ...«

»Gewiß, ich verstehe, Sie wundern sich, daß mein Johannes Ihnen dies
alles nicht selbst sagt. Er dachte, es würde Ihnen zu plötzlich kommen,
zu unerwartet. Sie werden ihm für dieses Zartgefühl gewiß nur dankbar
sein.« Der Professor stand auf und blieb vor ihr stehen. »Ich weiß ja,
Ihre Anschauungen haben sich noch nicht zu der Klarheit durchgerungen,
deren wir für das Leben bedürfen. Noch bauen Sie zu sehr auf eigene
Kraft, meine liebe Julie! Darum schickt der Herr Ihnen eine treue Hand,
an der Sie sich festhalten sollen, um gemeinsam den Weg zum himmlischen
Vaterhause zu suchen. Nicht wahr, Sie werden diese Hand mit Freude und
Demut ergreifen? Meine liebe Julie, darf ich ihm die Antwort bringen,
daß Sie die Seine werden wollen?«

Der schwarze Rock kam näher und näher auf sie zu ...

Sie konnte keine Worte finden.

»Herr Professor, es tut ... Es tut mir ... So leid tut es mir ... Aber
ich habe ihn nicht lieb! Nein, ich habe ihn ~gewiß~ nicht lieb!«

»Ich begreife, es kommt Ihnen zu überraschend! Sie sagen, Sie haben ihn
nicht lieb ...«

Julie schüttelte heftig den Kopf. Ein Gefühl von Widerwillen schlug
plötzlich über ihr zusammen. Die stickige Luft, die rosa Blumen, seine
wohlmeinend überlegene Stimme verursachten ihr Unbehagen.

»Sie sagen, Sie haben ihn nicht lieb?! Die Liebe wird kommen, mein
Kind, wenn Sie nur in Demut darauf warten!« Seine Güte begann gereizt
zu werden.

»Bei andern mag das sein. Von mir aber weiß ich genau, daß ich ihn
niemals liebhaben werde.« Er machte noch einen Versuch.

»Bedenken Sie, was Sie von sich weisen! Sie stehen allein in der Welt.
So, wie Sie sind, wie Sie alles Freie, Moderne lieben, liegt die Gefahr
nahe, daß Sie sich verlieren und vom rechten Wege abkommen. Sie kennen
das Leben nicht! Sie wissen nicht, was Sie jetzt ausschlagen! Sie
brauchen eine Stütze, und Johannes möchte Ihnen diese Stütze sein. Er
würde Ihnen ...«

Julie stand auf.

»Ich liebe ihn nicht, und ich weiß, daß auch nicht das geringste
Verstehen zwischen uns ist!«

Nun wurde er ängstlich um seine Mission.

»Nein, so dürfen Sie nicht gehen! Johannes muß selbst ...«

»Bitte, Herr Professor! Er kann nichts daran ändern. Ich danke Ihnen,
daß Sie es gut mit mir gemeint haben!«

Damit war sie aus der Tür.

Sie hörte noch, daß der Professor ihr folgte, aber er ging ins Zimmer
nebenan.

Julie fuhr in ihre Jacke, setzte den Hut auf, fand irgendwo ihre
Handschuhe und riß den Schirm aus dem Ständer. Schon kam des Professors
Stimme der Tür wieder ganz nahe, auch Johannes schien zu sprechen.
Sie riß die Tür auf und flog die Treppe hinunter. Hinter ihr wurden
Schritte hörbar, Johannes, der etwas Heftiges sagte ... Nun war sie
draußen.

Sie ging schnell. Die Menschen bogen ihr aus, so schnell ging sie.
Plötzlich fing sie mitten auf der Straße zu weinen an.

Wie konnte man so allein sein! So ganz verlassen! Es kam ihr vor, als
ob alles, was sie sich an Anschauungen erkämpft hatte, sie im Stich
ließe, als ob ihre innere Unabhängigkeit ein Traum sei, der der
Wirklichkeit nicht standgehalten hätte. Sie suchte nach Gedanken, an
die sie sich hätte klammern können; aber woran sie auch dachte, alles
war gleichgültig, alles erfüllte sie mit Widerwillen. Was sie umgab,
erschien ihr häßlich; die Straße war schmutzig, die Schaufenster
aufdringlich erleuchtet, die Menschen rücksichtslos, der Himmel ein
grauer Dunst. Ein kahles Gefühl von Heimatlosigkeit, ein Frost, der
gleichsam von innen kam, das war alles, was sie empfand.

Einer wäre dagewesen, der hätte ihr helfen können. Manche lassen sich
auch helfen und werfen ihren Kummer weg. Das aber konnte Julie nicht.
Es war ihr unmöglich, Peter Owen auch nur mit einem Wunsche zu streifen.

So kam sie nach Hause. Auf dem Korridor tobte Weihnachtsferientrubel.
Thea Allenbach, kokett angezogen, lief mit einer Reisetasche und zwei
Pappschachteln hin und her, die Liecke band sich vor dem Spiegel
ihren Schleier um, und nun erschien auch Fräulein Meusel. Sie war in
gehobener Stimmung, denn sie freute sich auf ein paar ruhige Tage. Den
Tee könnten sie doch noch zusammen trinken, bis zu ihrem Zuge hätten
sie noch Zeit genug!

»Gott, meine Theosophie habe ich vergessen,« schrie Thea.

»Wo sind nur wieder meine Gummischuhe!« beklagte sich die Liecke.

»Sie kommen doch auch, Fräulein Hellwege?« fragte Fräulein Meusel.
»Wir haben unsern kleinen Baum schon angesteckt.«

Aber Julie wollte nicht. Nein, das konnte sie nicht.

»Verzeihen Sie, Fräulein Meusel, ich habe solches Kopfweh!«

»Ja, ja, mit der Liebe!« kam es aus der Ecke, wo die Gummischuhe
gesucht wurden.

»Na adieu, fröhliches Fest!« rief Thea.

»Danke schön! Viel Vergnügen zu Hause,« entgegnete Julie und ging in
ihr Zimmer.

»Grüßen Sie Ihren blonden Freund von mir,« kam es hinter ihr her.

Im Zimmer war es dunkel. Nur an der Decke blinzelten die Lichter der
Straße. Ihre Hand streifte einen Stuhl, sie stieß ihn heftig zurück.
Was war denn geschehen? Sie wollte doch gewiß nichts Absonderliches
vom Leben, nichts Außergewöhnliches. Sie wußte doch, daß Heiraten
so vor sich ging, daß der Antrag kam und alles Weitere sich mit
geschäftsmäßiger Feierlichkeit abspielte. Unter anderen Bedingungen,
meinte sie, hätte ihr dies alles auch nicht weh getan.

Aber, daß es so gekommen war! Daß dieser alte Mann, den sie geachtet
hatte, sie mit seinem Sohne zusammenbringen wollte, ganz gleich, ob sie
ihn liebte oder nicht, daß er sich ihr Alleinstehen in der Welt zunutze
machte, sich ihrer Schwachheit und Zaghaftigkeit bedienen wollte, um
sie zu dieser Ehe zu überreden, das traf sie. Nicht nur ihren Stolz.
Oh, demütigend war es wohl, aber es kam ihr auch unsittlich vor. Ihr
Schamgefühl litt.

Sie war oft bei Stockmanns gewesen und hatte sich mit Johannes beinahe
freundschaftlich gestanden. Vieles an ihm gefiel ihr; erst neulich
hatte er ihr gesagt, er wolle bei dem Vater wohnen bleiben, er fühle
sich innerlich dazu verpflichtet; das hatte sie für ihn eingenommen.
Mit dem Professor hatte es zwar immer erregte Auseinandersetzungen
gegeben; aber Achtung vor seinen Anschauungen war stets in ihren Worten
gewesen. Sie hatte von diesen Menschen lernen wollen und hatte auch
nach dem ersten mißlungenen Versuche nicht die Mühe gescheut, es wieder
und nochmals zu tun. Hatten Stockmanns nicht einmal so viel von ihr
kennengelernt, daß sie sich einen Begriff davon hätten machen können,
wie sie über die Ehe dächte. Ohne Liebe ...!

Lange saß Julie und grübelte darüber, wie dieses hatte kommen können.
Es mußte schon spät sein, als sie durch ein Klopfen aufgeschreckt
wurde. Das Mädchen kam; dieser Brief sei abgegeben worden. Ob sie die
Lampe bringen solle? -- Ja, wenn sie so freundlich sein wolle.

Julie nahm den Brief, und jetzt zum ersten Male dachte sie an Peter
Owen. Ja, o ja! Sie konnte es kaum erwarten, daß Licht käme. Sie
streichelte den Brief, riß ihn auf und ging ans Fenster; vielleicht
könnte sie ihn bei dem Lichte der Laternen lesen. Aber es war nichts zu
erkennen. Endlich kam die Lampe. Sie setzte sich an den Tisch und nahm
den Bogen vor die Augen.

»Mein sehr verehrtes, gnädiges Fräulein!« las sie. Sie drehte das Blatt
heftig um. »Johannes Stockmann!« -- Einen Augenblick dachte sie daran,
den Brief zu einem Knäuel zu ballen; den wollte sie auf die Straße
werfen oder ins Feuer oder in den Papierkorb. Doch dann hob sie müde
die Hände und las:

»Mein Vater hat mir soeben das Ergebnis seiner Unterredung mit
Ihnen mitgeteilt. Ich bin dadurch schmerzlicher betroffen, als Sie
wahrscheinlich ahnen werden. Wenn ich mit diesen Zeilen nochmals zu
Ihnen komme, so geschieht es nicht in der Hoffnung, doch noch eine
günstige Antwort auf meine Frage von Ihnen zu erlangen, sondern um
ein Mißverständnis aufzuklären, das mich Ihnen in einem falschen
Lichte hat erscheinen lassen. Als ich meinem Vater mitteilte, daß
ich Sie um Ihre Hand bitten wolle, stand er meiner Bitte um seine
Einwilligung nicht so freundlich gegenüber. Er äußerte Bedenken, die
sich insonderheit auf Ihre freieren Anschauungen bezogen. Es gab eine
lebhafte Auseinandersetzung, aus der ich schließlich nur dadurch als
Sieger hervorging, daß ich meinem Vater sagte, Sie würden, wenn Sie
erst meine Frau wären, unter seinem und meinem Einfluß gewiß wieder auf
den rechten Weg kommen. Dieses Argument leuchtete ihm ein. Er wollte
sich jedoch nicht nehmen lassen, selbst als erster mit Ihnen darüber
zu reden. Weil ich hoffte, daß Sie für seine väterliche Sorgfalt das
rechte Verständnis haben würden, fügte ich mich. Ich will Ihnen offen
alles sagen. Daß ich Sie sehr lieb habe, brauche ich nicht zu betonen;
Sie werden aus den Zugeständnissen, die ich meinem Vater gemacht habe,
um seine Einwilligung zu erlangen, erkennen, ~wie~ lieb ich Sie
haben muß. Aber noch etwas anderes muß ich Ihnen sagen. Gerade durch
Sie hoffte ich mich von den drückenden Fesseln frei zu machen. Mit
Ihnen wollte ich ein neues Leben anfangen. Sie sollten es mich lehren.
Das war die sehnende Hoffnung, die ich auf Sie setzte, die große
Lebensfrage, die Sie entscheiden sollten.

Nun haben Sie anders beschlossen. Ich werde lernen müssen, mich damit
abzufinden. Aber Sie sollen später nicht an mich zurückdenken als an
einen, der den Kampf nicht wagen wollte. Deshalb habe ich Ihnen diese
Zeilen geschrieben.

Sie werden mir wohl nichts zu antworten haben; jedenfalls wissen Sie
nun alles.

  Ihr Johannes Stockmann.«

Julie legte den Brief aus der Hand.

Aber plötzlich zerriß sie den Brief und krampfte die Hände ineinander.
Dann sank sie auf die weiße Decke ihres Bettes und schluchzte.

Sie sehnte sich nach Peter.




                                 XXVII


Sie sehnte sich nach Peter, die ganze Nacht hindurch, bis der Morgen
kam. Da wußte sie, daß sie zu ihm gehen mußte. Mit einem Male war
dieser Gedanke da. Und er veränderte alles.

Bei Peter war sie schon oft gewesen, daran war nichts Neues, jetzt
aber schien es ihr doch ganz anders. Als geschehe es heute zum ersten
Male mit Bewußtsein, mit einem Empfinden, das bisher geträumt hatte,
heute aber jede Schönheit tausendfältig nehmen würde, mit allem Jubel
ihres Glückes. Wie eine Kinder-Weihnachtsfreude wartete es in ihr.
Sie kam sich vor wie eine, die am Vormittag, als die Mutter aus der
Weihnachtsstube kam, scheu und sehnsüchtig durch die halboffene Tür
hineingeblickt hatte. Da stand der Baum, groß und dunkel, und auf
dem Tisch lagen viele Dinge. So seltsam sah das alles aus, als ob es
schliefe. Aber sie wußte, daß es am Abend anders sein würde. Ein Glanz,
der durch die Tür bräche, Wogen von Licht, die aus einer leuchtenden
Mitte herniederfluteten und das Zimmer bis in seine dunkelsten
Ecken füllten, unzählige Lichtpünktchen, die sich leise wiegten oder
strahlend stillestünden.

Noch immer war es Vormittag. Stunden müßten gehen, bis es dunkel würde.

Sie saß am Fenster, hatte ihre Uhr vor sich hingelegt und sah auf die
Straße. Oder in den Himmel oder ins Zimmer zurück. Der Zeiger rückte so
langsam.

Zwei Pakete wurden für sie gebracht, Weihnachtspakete.

Das eine kam von Evelyn. Nelken und Veilchen waren darin, ein Duft von
stillen Gärten und blauem Himmel. Lange saß Julie davor. Dann öffnete
sie das andere Paket. Eine rote Juchten-Schreibmappe von Marianne,
feine Taschentücher und eine Bernsteinkette von Agnes Elisabeth. Sie
legte es beiseite. Eigentlich berührte sie dies alles nur wenig. Kaum,
daß sie sich über den Bernstein freute, den sie sich früher einmal so
gewünscht hatte! Sie dachte an die Schwestern; aber sie machte sich
nicht die Mühe, sich vorzustellen, wo sie heute abend sein würden. So
weit von ihr waren sie, der räumliche Abstand erschien klein gegen die
graue Strecke innerer Entferntheit.

Wieder sah sie auf die Straße oder in den Himmel oder ins Zimmer
zurück. Die Zeit wollte nichts von Eile wissen, trödelte eine
Viertelstunde, schlürfte weiter, schien ganze Minuten lang
stillzustehen und kam mühselig zum Mittag. Die Blumen dufteten
stärker, ein blasser Fleck auf der Fensterbank erzählte ein wenig von
Sonne. Langsam ging es in den Nachmittag hinein.

Als die Schatten in den Ecken zu flüstern begannen, wurde aus der
Freude ein Bangen. Ganz unbestimmt war es, wußte nicht, was es
eigentlich wollte. Sie schloß die Augen, ihre Hände fielen in den
Schoß. Ein weiches Flimmern ging durch ihren Körper, ein laues Gefühl,
unter dem sie stillhielt und kein Glied rühren mochte. Dergleichen
kannte Julie noch nicht; sie wäre zu andern Zeiten darüber erschrocken
gewesen, hätte nicht eher geruht, als bis sie gefunden hätte, woher es
käme. Aber auch ihre Empfindungen lagen mit halbgeschlossenen Augen
unter einem Schleier verhängten Lichts.

Eine lange Zeit verging. Es war dunkel, als Julie aufschrak. Oben an
der Decke blinzelten wieder die Laternenlichter, gerade wie gestern
abend, und sie kam sich vor, als sei es noch gestern und sie habe
diesen Tag nur geträumt. Sie sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten
vor sechs. Da sprang sie auf. Um fünf Uhr hatte sie bei ihm sein
wollen. Er wartete schon. Sie mußte eilen. Hut und Jacke, einen großen
Strauß von Evelyns Veilchen, -- und fort war sie.

Draußen auf der Straße begann es schon weihnachtsstill zu werden. Große
Flocken segelten herunter und zergingen auf den Steinen. Die Luft war,
als ob es tauen wollte.

Julie ging schnell. Nach kaum zehn Minuten stand sie vor seinem Hause.
Sie wollte eintreten, aber plötzlich kehrte sie um und ging weiter. Als
ob sie Angst hätte!

Sie ging die Straße zu Ende, bog in die nächste Seitenstraße, lief
immer weiter, wie im Traum, und konnte ihr banges Gefühl nicht los
werden. Fast eine Stunde irrte sie so umher und wußte kaum noch, wo sie
war.

Überall sah sie jetzt Christbäume glänzen, hörte auch hier und da ein
Weihnachtslied und kam sich wie das arme Kind vor, von dem sie bei
Stockmanns einmal in einem Traktätchen gelesen hatte. Und plötzlich war
eine Sehnsucht da, dieselbe Sehnsucht nach Lichtern und Weihnachtsduft,
wie bei dem armen Kinde, und dann kam eine andere, die sie wohl kannte,
seit gestern abend. Da wollte sie umkehren. Aber die Straße, in der sie
war, erschien ihr mit einem Male bekannt, und plötzlich sah sie sich
wieder vor seinem Hause.

Sie ging hinein.

Im Wohnzimmer saß er, in einem Mahagonisessel. Auf dem Schreibtisch
standen zwei Messingleuchter mit dicken Wachskerzen, die still
herunterbrannten, als sei hier eine Kirche. Auf dem Tisch wartete
der Tee, der aber schon kalt war; vor zwei Stunden hatte Peter ihn
bereitet, er hatte nichts davon getrunken, sondern mit ihm gewartet,
bis halb sechs, bis sechs und dann noch eine Zeit, von der er nicht
mehr wußte, wie lang sie gewesen war.

»Der Tee ist kalt geworden!«

»Du bist böse?«

»Hm!«

»Wirklich? Es ist Weihnachten, du!«

»Du bist wohl bei Stockmanns gewesen?«

»Komm, das wollen wir lassen!« Sie küßte ihn auf die Stirn, setzte sich
ihm gegenüber und roch an den Veilchen.

Peter nahm seine Pfeife heraus.

»Du erlaubst?«

Sie nickte.

Er setzte die Pfeife in Brand. An ihre Torfbauern mußte Julie denken,
so hielt er die Pfeife im Mund. Sah er nicht aus, wie ein ungezogener
Junge, mit seinem kindlichen Ausdruck um den Mund, den grauen Augen,
die manchmal hellblau leuchteten, wie wenn ein Wind über blaues Wasser
geht? Kokettierte nicht ein kleines verschmitztes Lächeln aus diesen
Augen, in kurzen, flackernden Blicken?

Plötzlich fing er an, mit halben Sätzen zu sprechen, wie einer tut, der
die Pfeife im Munde hat.

»Hör’ mal, Julie, ich habe mir etwas überlegt.«

Ein paar blaue Wolken qualmten auf. »Es ist wohl besser, ich schreibe
an deinen Vormund und bitte ihn in aller Form um deine Hand.«

Julie saß ganz still. Sie betrachtete eine Kerze, die schief gebrannt
war und ihr Wachs langsam träufeln ließ.

»Wir sind dann richtig verlobt, vor aller Welt verlobt, und den
Ansprüchen der Gesellschaft ist Genüge getan. Es ist natürlich eine
Äußerlichkeit, eine törichte Form, aber man muß sie eben mitmachen. Es
hat keinen Zweck, sich auszuschließen!«

Julie schwieg noch immer. Nun war die Wachssträhne auf dem Messing
gelandet.

»Wir können dann bald heiraten, wir sehen uns zusammen die Welt an,
später leben wir hier oder auf dem Lande.«

Von Julie kam kein Laut. Sie saß tief im Schatten. Er konnte nur sehen,
daß ihre Handflächen vor dem Gesicht lagen. Er merkte, daß sie weinte.
Es war kein Schluchzen, auch keine Tränen. Wie ein blasser Duft kam es
zu ihm herüber. In diesem Dufte sonnte sich sein Lächeln.

»Wir werden dann alles miteinander teilen. Natürlich ohne übertriebene
Rücksichten; jeder kann seine eigenen Wege gehen. Du arbeitest, ich
male. Du bist mein Kamerad, mit dem ich über alles sprechen kann. Du
kennst auch meine Freunde noch gar nicht,« dabei hatte er ihr vor acht
Tagen gesagt, daß er nur einen alten Schulfreund oben in Holstein habe.
»Von denen wirst du mancherlei Anregung haben. Wir werden ein Haus
machen, viele Menschen sehen, vergnügt und glücklich nebeneinander
durchs Leben gehen.«

Julies Hände sanken von ihrem Gesicht; ihre Augen sahen unbewegt in das
Kerzenlicht.

»Das sind katholische Kirchenkerzen,« sagte Peter. Dann lachte er.

Julie stand auf und ging zu den Lichtern hin.

»Julie!«

Ein Zittern kam in den Heiligenschein, den die krausen Haare um ihren
Kopf legten.

»Julie!«

»Ja ...?«

»Komm!«

»Nein, wenn du ~das~ willst, komme ich überhaupt nicht mehr zu
dir! Wenn du glaubst, meine Liebe sei eine Allerweltsliebe ...«

Nun war es an ihm, still zu sein.

»Es ist mir gleich, was du von mir denkst, aber ich habe dich anders
lieb, als daß ich dich danach heiraten werde! Gelübde tun, von denen
ich nicht weiß, ob es nicht später ein Verbrechen ist, sie zu halten,
alles, womit ich dich lieb habe, in Formen zwangen, zwischen denen es
das ganze Leben bleiben soll, denen man immer nur Zugeständnisse machen
muß, die einen erniedrigen, das Heiligste, was ich habe, im Alltag
abnutzen ...! In deinem ›gastfreien Hause‹, und wenn ich für dich nicht
~mehr~ sein darf als dein Kamerad! Das würde nicht lange dauern.
-- So bin ich, und wenn du mich so nicht haben willst ...«

Aus dem Lächeln in Peter Owens Gesicht war ein Strahlen geworden.

»Julie ...!«

Sie blickte sich um. Als sie sein Gesicht sah, machte sie ihre kleinen
Schritte und kam auf ihn zugelaufen.

»Ich wollte es so gern einmal von dir hören!« sagte er.

Sie küßte ihn. O ja, sie küßte ihn.

Und nun wollten sie Weihnachten feiern.

Der Duft von ihrer Kindheit Tagen sollte im Zimmer dämmern,
die wichtigen Geschichten sollten sich von neuem begeben, vom
Versteckspielen im Hause der Großeltern, von den Windmühlenflügeln, die
sie beinahe mitgenommen hätten, vom Hektor, der dann gestorben war. An
ihren Kinderträumen wollten sie das Heute messen und konnten ihr Glück
nicht anders sagen, als mit ihrem alten Kinderlachen.

Sie mußte die Augen zumachen, damit er die Leuchter hinaustragen und
den Baum hereinbringen konnte. Damit sie nicht zu früh aufsehe, mußte
sie bis hundert zählen; sie hörte aber schon bei fünfzig auf, und da
stand vor ihr der kleine Baum mit allen seinen Lichtern.

Wie sie jubeln und lachen konnten! Um den Tisch herum liefen sie und
sahen ihn von allen Seiten an und fanden, daß er von hier so lustig
aussähe, aber von da noch lustiger. Julie wollte die Lichter recht
genau betrachten, diese vergnügten Lichter, und kam zu nahe, daß ihr
Haar schon ein wenig zu knistern anfing, er mußte sie wegziehen; da
sie nun einmal in seinen Armen war, mußte er sie wohl küssen. Dann
durfte er sie nicht stören, am Schreibtisch saß sie und malte ihre
Verlobungsanzeige auf ein großes Stück Papier; die legte sie ihm unter
den Baum und machte ein feierliches Gesicht, daß er dachte, es sei
irgend etwas Liebes, was sie ihm aufgeschrieben hätte; nun war es dies.
Und sie lachte ihn aus!

Geschenke hatten sie keine; was hätten sie sich auch noch schenken
sollen?

»Ich dachte, du würdest mir eine Börse gehäkelt haben, Julie! Oder du
hättest mir eine Brieftasche gestickt!«

»Ich ~habe~ ein Geschenk für dich, Peter,« sagte sie und wendete
sich ein wenig ab. »Du weißt wohl nicht, was es sein könnte?«

»Nein!« kam es lächelnd zurück.

»Nicht?«

»Nein!«

Da drehte sie sich langsam um, der Heiligenschein der Weihnachtslichter
war wieder über ihrem Haar.

»Mich!« sagte sie still.

Die Lichter, die bis jetzt geflackert und geschaukelt hatten, brannten
nun ganz ruhig. Feierlich, wie es solchen Weihnachtslichtchen zukommt.
Ganz sachte brannten sie herunter. Und dann erloschen sie eins nach dem
anderen.




                                XXVIII


Es regnete.

Der Himmel war eine qualmende Dunstmasse. In krisselnden Strichen kam
das Wasser am Fenster vorbei, spritzte gegen die Scheiben und klatschte
auf die Dächer; an den Scheiben flossen die Tropfen in Bächen, und die
Dächer waren blank. Ab und zu fuhr ein Windstoß daher und preßte den
Regen gegen eine Wand, daß es zischte und knatterte.

Dann sprangen Böen aus den Wolken, nahmen das Wasser und fuhren durch
die Straßen, peitschten es vor sich hin und schleppten es hinter
sich her, waren plötzlich verschwunden, und wieder tropfte es in der
Dachrinne und klopfte an die Fenster.

»Bei solchem Wetter kommen viele Gedanken und Träume!« sagte Julie.

Sie saß an ihrem Platz in Peters Atelier, neben dem Mahagoni-Pulte,
wo sie ein wenig vom Fenster sehen konnte und doch zwischen allen den
lieben Dingen des Zimmers war.

Peter hockte in einem Sessel.

»Früher waren dieses meine liebsten Farben! Jetzt freilich ...«

Er schwieg. Er empfand, daß er von etwas anderem, etwas ganz Bestimmtem
sprechen wollte. Aber er wußte nicht, was es war. Er schwieg und suchte
danach.

Bis Julie es fand.

»Ich denke an etwas, woran ich schon oft gedacht habe seit Weihnachten.«

»Vielleicht ist es das, wonach ich suche?! Sag’ es mir, Julie!«

Sie schwieg.

Der Regen schlug gegen das Fenster. Schwaden zogen draußen vorüber.
Julie sah hinaus. Nach einer Weile kam es leise:

»Ich wüßte gern, ob wir wohl ein Kind haben werden?!«

Peter sagte nichts. Aber dies war es, wovon er mit ihr sprechen wollte.

»Ich denke darüber nach,« fuhr er nach einer Weile fort, »ob das Kind
uns wohl dankbar dafür sein wird, daß seine Eltern nicht verheiratet
sind?«

Wie weich klangen ihre Worte! War es nicht, als ob die Linien ihres
Gesichts, auf denen die Dämmerung halbe Lichter spielen ließ, jetzt in
leisen Tönen zu ihm sprächen?

»Ich möchte wissen, Peter, ob ein Kind einem niemals Vorwürfe machen
kann? Die Menschen sind noch nicht so weit, daß sie den Unterschied
begreifen zwischen Kindern aus einer Vernunftheirat und solchen,
die -- aus dem kommen, was zwischen uns ist. Die Menschen werden es
einem solchen Kinde sehr schwer machen, glaube ich; das Kind wird
vielleicht seine beste Kraft daran verschwenden müssen, nur über die
Schwierigkeiten hinwegzukommen, die ihm die Eltern bereitet haben.«

Sie hatte ihre Hände gefaltet und sah zu Peter hinüber.

Er saß still in seiner Ecke. Er wußte, wie schwer es Julie sein mußte,
an diese Dinge zu rühren, die sie früher so leicht hatte in ihre Hände
nehmen können, weil sie noch nicht zu ihnen gehört hatten.

»Glaubst du nicht, daß die Erziehung das Kind davor schützen wird? Ich
meine, durch sie müßte es innerlich frei werden, so daß es unbekümmert
seinen Weg gehen kann ...!«

»Ja, Peter! Aber vielleicht wird das Kind auch anders denken. Es will
sein Leben selbst bestimmen dürfen, ebenso unabhängig, wie wir es getan
haben; frei soll es vor dem Leben stehen, soll gehen dürfen, wohin
seine Überzeugung es drängt. Darf man seine Entscheidung beeinflussen?«

Peter nickte langsam.

»Glaubst du nicht, daß wir unserem Kinde ...?«

»Peter!« Sie sah ihn mit strahlendem Lächeln an.

»Ja, unserem Kinde! Glaubst du nicht, daß wir ihm alles Schöne zeigen
werden, so daß es fühlen und begreifen wird, was unser Leben ausfüllt?«

»Ja, Peter, das werden wir! Aber dürfen wir auch diese Frage seines
Lebens ~entscheiden~? Entscheiden, ohne es vorher zu fragen? Ich
glaube es nicht!«

Peter schaute sie bewegt an.

»Nicht wahr, du verstehst mich, Peter? Nicht die Menschen fürchte ich,
und daß sie von Schande sprechen könnten; aber vor diesem Kinde würde
ich mich fürchten, daß es einmal sagen könnte, wir hätten ihm im Wege
gestanden.«

Sie saß eine Weile in Sinnen verloren. Und dann sagte sie leise:
»Deshalb würde ich mir vielleicht doch wünschen, daß du mich heiratest!«

Peter stand vor ihr; seine Hand strich über ihr Haar.

»Und, nicht wahr, Peter, von uns selbst geben wir dabei doch nichts
auf?! Zwischen uns beiden bleibt alles, wie wir es einander neulich
gesagt haben!?«

Peter beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn.

Dann zog er sie in seinen Sessel. Lange saßen sie da, ganz still. Bis
Peter ihre beiden Hände nahm und sagte:

»Dann soll es bald geschehen, Julie!«

Sie neigte ihren Kopf sehr tief.

»Du mußt das wissen, Peter! Ich weiß von diesen Dingen nichts!«

Und plötzlich weinte sie.

       *       *       *       *       *

Noch an demselben Abend schrieb Peter Owen an den Vormund -- übrigens
war Julie bereits seit einem halben Jahre mündig -- und zeigte diesem
an, daß er sich mit Julie verheiraten werde. Er schätze sich glücklich,
in verwandtschaftliche Beziehungen zu Herrn Craners Familie zu kommen,
aber er bitte ihn, sich seinen und Julies Wünschen anzupassen und auf
eine Hochzeitsfeier zu verzichten.

Dieser Brief erregte in der Familie Entsetzen.

Sechs Wochen später fand die Trauung statt.




                                 XXIX


Das Leben ist für jeden von uns eine andere Musik.

Ein Konzert, in dem Symphonien von Gassenhauern begleitet werden und
Tänze neben Trauermärschen klingen.

Ein Publikum, das sich hineindrängen läßt und nicht weiß, was gespielt
werden wird.

Die meisten hören eine Musik, die ihnen nicht gefällt, und blicken
neidisch auf die anderen, die im Konzert eine Elitenummer erwischt
haben.

Wenige nur, die so klug sind, sich die Stücke auszusuchen, die sie
hören wollen, die einen Blick ins Programm werfen und, wenn sie nicht
finden, was sie brauchen, zu Hause bleiben und sich ihre Musik selbst
machen.

Julie und Peter gehörten zu diesen wenigen. Zwar bot ihnen das Programm
der Familie Brautgesang und Hochzeitsmärsche. Aber dergleichen mochten
sie nicht hören.

An jenem Weihnachtsabend hatten sie ihre eigene Musik gefunden. Mit
einer stillen Frage hatte sie begonnen, und eine Antwort war gekommen,
brausend wie großes Orchester, mit Strömen von Licht und Wogen von
Farben. Monate gingen, in denen nur diese Musik erklang, ein breites
Andante voll Andacht, ein sonniges Scherzo mit Julies Kinderlachen, ein
weinendes Adagio, mit Tränen allzu großer Freude, ein Presto, in dem es
jubelte vor Glück.

Der Frühling war schon im Lande, als wieder ein neuer Satz begann. Es
war dasselbe Thema, das er brachte, und doch ein anderes. Sie schwiegen
ergriffen, als sie es hörten, sie falteten ihre Hände. War es nicht
etwas Neues und Großes? Und war es nicht doch das alte?

Nur eine Melodie war hinzugekommen, aber um diese eine Melodie rankte
sich alles herum; alles klammerte sich an ihr fest, ward zu einem
Crescendo, das in ihr seinen Höhepunkt fand.

Aus der alten Melodie war die neue der Mütterlichkeit geworden.

                   *       *       *       *       *

Wie verschieden davon war die Musik, die die Schwestern zu hören
bekamen.

Agnes Elisabeths Leben war kaum noch etwas anderem vergleichbar als
dem dumpfen Plappern der Nonnen in den Klosterkirchen, während des
Mittelalters Brandwolken über dem Lande qualmten. Ab und zu sprangen
rote Lichter in ihr ödes Haus, flogen über ihr Gesicht und warfen
Entsetzen vor ihre Füße.

Im Lehrerhaus gab es Wiegenlieder, surrende Weisen, die ein wenig nach
Kinderwäsche riechen und ohne allzu große Tiefe von dem Glück der
Heimat und der warmen Stube singen. Bei Lukas die breite Innigkeit des
Volksliedes, bei Marianne rosig robuste Mütterlichkeit und ein gut Teil
satter Sentimentalität.

Für Evelyn war das Leben gleich einer Ballmusik, gleich einem Walzer,
in dessen wiegendem Rhythmus Sehnsucht nach Lebensfreude singt. Die
Geigen klangen so weich, wie der Mond im schlafenden Garten; dann
hüpften die Lichter herbei, Windlichter lustiger Feste, kokettes
Pizzicato mit Triangel und Glockenspiel.

Auch Tante Sophie bekam ein wenig davon ab, und sie wurde wehmütig,
wenn sie daran dachte, daß dieser Tanz bald zu Ende wäre und an seine
Stelle wieder die Würde der Abonnementskonzerte träte, von denen
man nicht mehr hatte als jedesmal ein neues Kleid, und die man nur
besuchte, weil es zum guten Ton gehörte. Als Tante Sophie im April nach
Hause zurückkehrte, hatte sie aber nicht den Mut, auf ihr Abonnement zu
verzichten; es war auf Lebenszeit genommen, und sie mußte sich damit
abfinden.

Im Stockmannschen Hause blieb es die alte Motette, die früher einmal
eine Melodie mit geraden Holzschnittlinien gewesen war, nun aber
längst durch weichliche Schnörkel stillos und schwülstig geworden war.
Bei Johannes mehr Empfindung, aber doch immer nur einem geistlichen
Liede vergleichbar, wie es jeder Kantor für den Hauptgottesdienst
komponiert, Mendelssohn, Abt und ein wenig Lassen ...

                   *       *       *       *       *

So hörten sie ein jedes, was ihm zukam. Die einen bestimmten sich die
Musik ihres Lebens selbst, die anderen bekamen zu hören, was eben da,
wo sie im Leben standen, gespielt wurde.

Die Zeit schlug ihren Rhythmus dazu, eintönig dem einen, dem andern ein
frischer Puls bewußten Lebens.

Sie schleppte sich durch den Winter hindurch, bis die Stürme des
Frühlings das Eis zerhämmerten. Sie brachte Blumen und eilte
leichtbewegt über die Wiesen, um alle diese Blumen zu verstreuen. Nun
war es schon der langsame, schweigende und klingende Rhythmus des
Sommers geworden.




                                  XXX


Wie anders Julie doch war!

Peter hatte sich darauf gefreut, sie zu pflegen, wenn das Kind käme,
bei ihr zu sein, so daß sie nach ihm greifen könnte, wenn sie ihn
brauchte. Er hatte auf die Stunden gemeinsamen Wartens gehofft, in
denen sie lauschen wollten, wie sich in ihrer Nähe das Geheimnis
schweigend vollziehe. Er hatte daran gedacht, daß sie an anderen Tagen
Pläne machen würden: wie sie mit dem Kinde spielen und tollen wollten
und selbst wieder zu Kindern werden würden.

Von dem allem geschah nichts. Julie wollte es anders.

Er konnte nicht traurig darüber sein; er mußte ihr recht geben.

Julie wollte nach Hause, um in dieser Zeit allein zu sein und nur dem
Kinde zu leben. Inmitten der ganzen heimatlichen Schönheit! Von dieser
wollte sie umgeben sein, wenn sie auf das Kind wartete, von dieser
wollte sie nehmen, soviel sie nur konnte, damit es dem Kinde zugute
käme, in dieser sollte das Kind zur Welt kommen.

Da hinaus konnte der Lärm der Welt nicht dringen, dort würde nicht
einmal Peter ihre Andacht stören. Auch würde sie nicht immer in Angst
zu sein brauchen, daß Peters Augen sich mit Nachsicht und Rührung von
ihrer Gestalt abwenden müßten.

Peter widersprach ihr nicht und ließ sie reisen.




                                 XXXI


An einem Sommertage lehrte Julie nach Hause zurück.

Teetjes Wagen hatte sie am Bahnhof abgeholt. Agnes Elisabeth hatte
mitfahren wollen, war aber im letzten Augenblick nirgends zu finden
gewesen. Nun hielt sie vor der weißen Gartenpforte.

Gesche stürmte aus dem Hause, strahlte über das ganze Gesicht und
wischte vor freudiger Verlegenheit mit den Händen über die Schürze.
Teetje stieg vom Bock, hob die Koffer herunter:

»Man too, Gesche, faten Se ok man mit an!«

Julie sprach zwar noch mit Gesche, aber Teetjes Worte schienen hier
vorzugehen. Unterwürfig griff Gesche zu und schleppte die Sachen mit
hinein. Ein paar halbe Worte kamen zu Julie hinüber:

»Fräulein het seggt -- man blot up de Däälen ...« Und dann Teetjes
barsche Stimme:

»Hä, wa, -- Narrnkram! Man foors rin damit in die Stubben!«

Die beiden verschwanden im Haus, und Julie ging ihnen langsam nach.

Die Malvenstöcke standen noch da, aber wieviel größer waren sie
geworden! Früher war eine blaßrosa dazwischen gewesen; jetzt gab es nur
dunkelrote.

Unter den Linden dämmerte das alte grünglasige Licht. Wie stark sie
dufteten! Die grünen Bänke erschienen dunkler, ein klebriger Glanz lag
über ihnen; er kam von den Lindenblüten.

Auf der Diele gackerten zwei Hühner, in der Mitte schlief, ein
schwarzer Knäuel, die Katze. Die Dielenuhr schlug halb fünf. Warum nur
Agnes Elisabeth nirgends zu sehen war?

Julie mochte sie nicht rufen. Im Hause war es totenstill. Sie öffnete
die Tür zu ihrem Zimmer. Der Drücker ging noch immer etwas schwer und
klapperig. Drinnen stand Hinrich Teetje.

»Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Herr Teetje! Meine Schwester
haben Sie wohl nicht gesehen?«

Seine Hand fuhr durch die Luft.

»Vielleicht auf dem Kirchhof, da ist sie heut noch nicht gewesen!« Er
faßte an seine Mütze. »Na guten Tag!« Damit ging er.

Julie sah sich im Zimmer um. Die Luft war abgestanden und wußte vom
Sonnenschein und Staub vieler Tage. Es roch nach Kalk, nach Spinnen
und heruntergelassenen Rouleaus. Die Fenster sollten nun wieder offen
sein. Die Vasen standen voll vertrockneter Blumen. Das Zimmer dünkte
sie niedrig gegen die Berliner Etagenwohnung; es war ihr überhaupt
fremd geworden. In der letzten Zeit hatten sich ihre Gedanken ja
auch nicht oft hierher gefunden. Sie ging an ihr Bett. Die gute alte
Bettstelle! Großmamas Decke, die feine lila gestreifte Bettdecke hatte
viele Fliegenflecke bekommen. Die vergilbte Heloise in dem schmalen
Goldrahmen hing noch immer schief, im Spiegel waren einige blinde
Stellen mehr. Sie wusch sich die Hände; erst an dem Moorwasser merkte
sie, daß es noch ihr Zimmer war, und daß sie hier bald wieder zu Hause
sein würde. -- Mitten im Zimmer stand sie noch und trocknete sich
die Hände, als vor dem Fenster ein Kopf erschien und eine Stimme von
draußen hereinrief:

»Unten im Garten sitzt sie! Unter der großen Esche!«

Julie erschrak. War der noch immer da?! Durfte er hier so im Garten
herumlaufen? Sie wollte Agnes Elisabeth nach ihm fragen. Der Mensch
hatte etwas Merkwürdiges.

Sie ging in den Garten. Hier war vieles, was sie hätte begrüßen mögen,
aber sie hatte keine Zeit, denn Agnes Elisabeth kam die Tannenallee
herauf. Sie sprach mit jemandem, den Julie nicht sehen konnte.

Julie ging ihr entgegen. »Sie ist voller geworden«, dachte sie, »und
auch schöner.«

Die Schwestern gaben sich die Hand und küßten sich. Es war ein Kuß ohne
Innigkeit; die eine hatte das Küssen verlernt, die andre wußte, wie
anders Küsse sein können.

»Ich konnte nicht zum Bahnhof kommen,« sagte Agnes Elisabeth. »Ich
hab’ hier noch Unkraut gefunden; wenn man es nicht rechtzeitig
ausrupft, wird es immer schlimmer. Hier ist schon wieder welches!« Sie
bückte sich; es schien, als wolle sie da hockenbleiben. »Dieser dumme
Schachtelhalm! Immer reißt man die Stiele zu kurz ab!«

Julie blieb stehen. »Komm, Agnes Elisabeth, wir können es ja morgen
tun.«

»Wie du willst!«

Sie gingen einige Schritte.

»Als ich von Berlin wegfuhr, regnete es noch,« sagte Julie. »Hier ist
das Wetter so schön!«

»Ja, es ist in diesem Jahre früh Sommer geworden. Sieh mal, wie
groß die Äpfel sind! Sogar Gewitter hat es schon gegeben. Drüben
bei Gertelmanns, weißt du, wo wir manchmal beim Schlittschuhlaufen
einkehrten, hat es eingeschlagen. Aber sie sagen, er selbst habe es
angesteckt. Das ist überhaupt ein alter Trinker! Seine Frau ...«

»So!« sagte Julie. Es wunderte sie, daß sich die Schwester um solchen
Klatsch kümmerte.

Sie kamen ans Haus.

»In deinem Zimmer sind die Rouleaus herabgelassen, Agnes Elisabeth!?«

»Da schlafe ich schon längst nicht mehr. Ich ziehe in allen Zimmern
herum. Mir ist immer, als ob da etwas wäre, was mich heraustreibt ...«

»Du warst ja auch so allein! Das wird nun besser werden!« sagte Julie.
Nach einer Weile nahm sie die Hand der Schwester und streichelte sie.
Es fiel ihr auf, wie trocken die Haut war. Sie erschrak darüber.

Agnes Elisabeth ließ ihr die Hand nur einen Augenblick; dann zog sie
sie kurz zurück, als müsse sie versteckt werden.

»Komm, Gesche hat den Kaffeetisch in der Lindenlaube gedeckt!« sagte
sie. »Die ist schön sicher!«

Auf dem Tischtuch standen viele Tassen. Julie wußte nicht, was sie alle
hier sollten.

»Hast du heute nachmittag Besuch?« fragte sie. »Kommen noch andere
Menschen?«

»Nein, nein, das ist nur so!«

Agnes Elisabeth griff über den Tisch, tauschte zwei Obertassen
miteinander, wechselte zwei Untertassen und brachte sie alle in
Bewegung, die rosa auf die grünen, die blauen unter die gelben.

Bis Julie es nicht mehr mit ansehen konnte und die Tassen stellte, wie
sie zusammengehörten.

»Warum tust du das?« fragte sie befremdet.

Agnes Elisabeth nickte nur.

Da empfand Julie zum ersten Male Angst. --

Sie tranken Kaffee und aßen Butterkuchen. Eine Weile war es still
zwischen ihnen. Julie machte sich bewußt, daß sie eigentlich überhaupt
noch nicht miteinander gesprochen hatten. Agnes Elisabeth aber schien
es nicht anders zu wollen; sie aß und trank und sah vor sich hin; ab
und zu fuhr sie zusammen und warf einen scheuen Blick hinter sich. Sie
mußte das immer schon getan haben, denn sie schien es gar nicht mehr zu
wissen. Sie mochte mit ihrem Gedanken auch so fern sein, daß Julies
Gegenwart sie kaum berührte.

»Wie fein hier alles geharkt ist!« sagte Julie. »Früher sah es nicht so
schön aus. Wer tut das?«

»Ich! Man kann dann besser sehen, ob irgend jemand im Garten war.«

Julie sah erschrocken auf.

»Geht denn manchmal jemand durch den Garten?«

Agnes Elisabeth schwieg. Nach einer Weile sagte sie langsam:

»O ja!«

»Wer? Hier hat doch niemand etwas zu suchen. Mich hat es schon
gewundert, daß Teetje immer hier war. Ist er es?«

Agnes Elisabeth lachte. Ganz anders, als Menschen sonst lachen. Früher
hatte sie anders gelacht, dachte Julie. Jetzt verzog sich nur der Mund,
und ein kleiner, grauenvoll harter Ton kam heraus. Vielleicht lacht
so einer, in dem die Einsamkeit allzu laut schreit: er will sie zum
Schweigen bringen, will endlich wieder seine eigene Stimme hören und
hat doch Angst, daß sie von den Wänden zurückkomme und nicht mehr seine
eigene Stimme sei, sondern tausend fremde.

»Freust du dich, daß ich wieder da bin?« fragte Julie.

»Natürlich!«

»Wir wollen wie früher leben; es soll alles sein wie damals! -- Auch
Evelyn kommt gewiß bald zurück.«

»Evelyn ist ein dummes Kind!«

»Warum?«

»Es ist jemand da gewesen, der hat sie heiraten wollen. Sie aber ...«

»Sie wird ihn nicht geliebt haben!«

»Man sollte mit beiden Händen zugreifen, wenn einer einen will!«

»Du bist sehr anders geworden, Agnes Elisabeth!«

Wieder kam ein Schweigen, ein breites Schweigen. In dem Summen der
Bienen siedete die Nachmittagshitze, von den Blumenrabatten kam ein
schwerer Duft.

Agnes Elisabeth breitete ein Paket bunter Seidenfäden auf dem Tisch
aus. Weiche Seide in altmodischen Farben, wie man sie in Urgroßmutters
Stickkörben findet. Sie begann, die Fäden auseinanderzuwirren. Es war
eine schwierige Arbeit; alle Augenblicke blieb die Seide an ihren
rauhen Händen haften.

»Warum tust du das?« fragte Julie. »Das muß doch langweilig sein?«

Agnes Elisabeth hielt ein paar Fäden mit den Zähnen fest und zog an den
Strähnen.

»Das werden schöne glatte Zöpfe! Ich muß daran denken, wie ich früher
Evelyns Haar abends einflocht.«

Julie stellte sich vor, wie Peter dies wohl malen würde: das blasse
Gesicht, das rote Haar, die rieselnden Lindenschatten, die bunte Seide
und das fahl-sonnige Zwischenlicht.

»Es ist auch eine so nette Unterhaltung,« sagte Agnes Elisabeth
langsam. »Gesche sagt auch ...«

»Bist du oft mit Marianne zusammen?«

Agnes Elisabeth lachte.

»Weißt du, sie ist dick geworden; sie findet mich nicht so leicht!«

»Versteckst du dich vor ihr?«

Agnes Elisabeth kicherte.

»Gehst du nicht manchmal zu ihr?«

»Ja! Lukas ist auch immer sehr nett!«

»Wie ist ihr Kind?«

»Ganz niedlich! Sie macht nur zu viel Aufhebens davon. Sie ist manchmal
so albern; sie macht sich auch so wichtig ...«

»Aber sie ist glücklich über das Kind?«

»Sie küßt es immerzu!«

Julie war von Agnes Elisabeths zwecklosem Eifer schon angesteckt.

»Soll ich dir flechten helfen?« Sie hielt ihr die Finger hin, um die
Seide aufzunehmen.

»Ich bin auf Marianne neugierig,« sagte sie nach einer Weile.

»Du wirst sie wohl nicht zu sehen bekommen! Weil du dich ohne sie
verheiratet hast!« Sie brach ab; nach einer Weile kam es schwerfällig
hinterdrein: »Ach ja, ich habe dich noch nicht gefragt: Wie geht es
deinem Mann? Peter? Nicht?«

»Ich danke dir. Es geht ihm gut!«

»Ich habe zu ihr gesagt: ›Wenn Julie es so will ...‹« Sie fand nicht
weiter und nestelte an der Seide. Dann hob sie ihren Kopf und sah
Julie an: »Nicht wahr? Aber Marianne natürlich ...«

»Und Marianne ist noch immer böse?«

»Du kennst sie ja!«

»Dann ist ihr nicht zu helfen!«

»Um Verzeihung bitten magst du wohl nicht?«

»Agnes Elisabeth!« rief Julie empört, aber gleichzeitig auch
erschrocken.

»Ich meinte nur ... Ich muß das oft tun!« Sie legte die Seidenflechten
zusammen, eine auf die andere. »Ich freue mich dann, wenn alles wieder
in Ordnung ist. Mama war auch so dafür!«

Julie wollte etwas erwidern. Aber sie fühlte sich mit einem Male
außerstande. Nicht nur, weil sie begriff, daß es nutzlos sein würde.
Sie kam sich ausgeschlossen vor, als stünde sie vor einer Tür und könne
nicht hinein.

                   *       *       *       *       *

Abend war es. Seidiger Dunst stand über dem Garten, an den Bäumen
hingen ein paar Lichter, die von der schmalen Mondsichel kamen.

Um das Haus ging ein Klappern. Drüben bei Agnes Elisabeths Wohnzimmer
fing es an, kam hinten herum ... Plötzlich erschien Agnes Elisabeth vor
Julies Fenster und schlug den Laden zu.

»Was soll das?« rief Julie hinaus. »Warum tust du das?«

»Das muß so sein! Man ist dann sicherer!«

Julie kam ans Fenster und lehnte den Laden wieder zurück. »Aber, Agnes
Elisabeth, das haben wir früher nicht getan!«

»Es ist auch anders geworden!«

»Bei mir müssen die Fenster aufbleiben! Ich fürchte mich nicht!«

In Agnes Elisabeths Stimme kam ein weinerlicher Ton:

»So schließe wenigstens die Tür ab, Julie! Es ist nicht mehr wie
früher!« Sie stand auf dem Rasen, einen Rechen in der Hand, mit dem sie
die Wege noch einmal nachgesehen haben mochte. Julie beugte sich zu ihr
hinaus.

»Wenn du dich fürchtest, soll ich dann nicht lieber bei dir schlafen?!«

Agnes Elisabeth tat, als höre sie nichts, und begann den Weg unter dem
Fenster zu harken.

Julie ging ins Zimmer zurück. Die Angst um die Schwester war wieder da.
Eine Angst, die an hundert Dingen hing und sich doch eigentlich auf
nichts gründete, ein Zittern vor etwas Grausigem, das irgendwo wartete,
sich nicht greifen ließe und doch da wäre und drohte.

Sie mußte sich beschäftigen. Sie schloß ihren Schreibtisch auf, stellte
alle Sachen wieder an ihren alten Platz, ging an den Koffer, packte die
letzten Stücke aus. Dabei wartete sie immer darauf, daß Agnes Elisabeth
käme, ihr gute Nacht zu sagen. Sie wollte mit ihr über all dies
Seltsame sprechen, wollte sie fragen, ob sie ihr nicht helfen könne.
Wie ein kleines Mädchen kam sie sich vor, als sie daran dachte, daß
sie helfen solle. Sie wußte nicht, wo sie mit helfen beginnen sollte.

Agnes Elisabeth kam nicht. Vielleicht besprach sie mit Gesche noch das
Essen für morgen oder sah nach dem neu eingekochten Saft. Schließlich
dauerte es Julie zu lange, und sie ging hinaus. Auf der Diele brannte
ein Nachtlicht. Die Dunkelheit erschien dunkler dadurch. In der Küche
war niemand zu sehen; nur die Glut verglimmender Torfstücke kroch noch
über den Herd.

Julie ging nach Agnes Elisabeths Zimmer hinüber, faßte die Klinke und
wollte eintreten.

Die Tür war verschlossen. Drinnen sprang jemand auf.

»Wer ist da?«

»Ich bin es ... Julie! Ich wollte dir gute Nacht sagen!«

»Ich bin schon zu Bett,« sagte es drinnen nach einer Weile. »Ich bin
müde.«

»Du bist doch nicht krank?«

»Warum sollte ich krank sein? Geh nur zu Bett, Julie!«

»Wenn du mich brauchst, Agnes Elisabeth, weckst du mich, hörst du?!«

Von drinnen kam keine Antwort.

Julie ging in ihr Zimmer zurück.

Sie trat ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Da waren mit einem
Male viele weiße Laken. Große grelle Flecke! Sie erschrak. Dann fiel
ihr ein: die hatte wohl Agnes Elisabeth noch aufgehängt. Sie zog ihren
Stuhl heran und lehnte die Arme auf die Fensterbank.

Lange Zeit saß sie so.

Plötzlich fuhr sie zusammen. Irgendwo dort hinten war ein Schatten
über die Laken gegangen. Sie beugte sich hinaus. Es war nichts zu
sehen; der Garten lag totenstill. Sie ging ins Zimmer zurück an
ihren Schreibtisch. Hier lag alles, womit sie sich die letzten Jahre
beschäftigt hatte. Jetzt würde sie zu solcher Arbeit fürs erste nicht
mehr kommen.

Da waren auch Peters Aquarelle. Sie wollte sie morgen aushängen; jetzt
war sie zu müde. Sie begann sich langsam auszukleiden.

Plötzlich ging sie ans Fenster und ließ das Rouleau herunter. -- Es war
doch vielleicht besser. Dann legte sie sich hin und löschte das Licht.




                                 XXXII


Es war an einem der nächsten Tage. Sie gingen durch den Garten, und auf
dem Wege um den großen Rasenplatz erfuhr Agnes Elisabeth, daß Julie ein
Kind bekommen würde.

Ihr Gesicht veränderte sich nicht, als sie es hörte, und es dauerte
eine Weile, bis sie etwas sagte. Endlich aber kamen Worte, und Julie
hatte andere erwartet.

»Es ist gut, daß du hier bist! Gesche und ich werden für dich sorgen.
Wir werden alle die kleinen Sachen nähen und zurechtmachen, das wird
hübsch werden, wir werden dich pflegen ...« Agnes Elisabeth streichelte
Julies Haar.

Da fing Julie zu weinen an.

Nur weil diese rauhe Hand sie streichelte, weinte sie. Dann kam eine
Wehmut über sie, und sie weinte immer heftiger.

Ihre Kindheit, ihre Arbeit, die Empfindungen, die sie damals geträumt
und mit Peter erlebt hatte, dies alles glitt an ihr vorüber. Die
neben ihr ging, hatte ebenfalls ihre Hände ausgestreckt, aber sie
hatte nichts bekommen! Sie war an ihr vorbeigegangen, alle die Jahre
hindurch, und hatte sie nicht ~einmal~ geküßt, alle die Jahre. Sie
aber streichelte sie!

»Du darfst nicht traurig sein, Julie, es wird schon alles gut werden!«

Sie kamen an die Johannisbeersträucher. Die Trauben troffen hernieder
wie Blut. Da nickte Agnes Elisabeth plötzlich.

»Ach ja! Ich hatte es ganz vergessen! Hier steht noch so viel Unkraut!«
Sie bückte sich und fuhr mit den Händen in das grüne Gewucher.

Julie setzte sich unten am Wasser auf eine Bank. Wieder kamen Tränen in
ihre Augen, als sie die Schwester dort zwischen den Sträuchern hocken
sah.

Das also war aus ihr geworden! -- Sie sammelte Körbe und ordnete
sie nach der Größe, sie flocht bunte Seide und zupfte Unkraut. Sie
hantierte zwischen Nichtigkeiten, freute sich an müßigem Klatsch und
verkroch sich vor Marianne. War sie nicht einmal eine Mutter für sie
alle gewesen?! Sie hatte ihre Liebe weggegeben und besaß nicht mehr als
einen Rest, der ihre Hand nur eben noch zu einem spröden Streicheln hob.

Sie hoffte nichts mehr vom Leben und konnte sich doch nicht von ihm
abwenden. An irgend etwas mußte sie sich noch immer halten, selbst
wenn es nur die Angst war, die sie hierhin und dorthin trieb, die im
Sonnenlicht nach ihr schielte und des Nachts hinter ihrem Bette stand.

Mit gierigen Händen griff sie nach dieser Angst und meinte, das Leben
zu fassen.

Sie wußte noch nicht, daß das Leben sie vergessen hatte!

                   *       *       *       *       *

Agnes Elisabeth kniete auf dem Wege und wühlte mit beiden Händen
zwischen den Johannisbeersträuchern.

Ob sie dieses Mal wohl dabei sein durfte?! Bei Marianne hatte man sie
nicht hineingelassen. Aber hier im eignen Hause! Sie wollte das doch
gern einmal sehen, wie so das Leben anfängt! Diese dumme Wolfsmilch!
Fünf Blätter, drei Krauseminzen, vier schwarze Johannisbeerblätter,
bei zunehmendem Mond, er wurde jetzt voller; dann könnte sie endlich
wieder schlafen! Auf den Boden mußte sie gehen, wegen der Wiege und der
Kindersachen und der Wachspuppe ...! Und der Doktor ...! Wann würde das
Kind kommen? Kam es nicht oft vor, daß die Mutter dabei starb? Dann
wollte ~sie~ das Kind haben! Dann wollte sie aber lachen! Daß
~sie~ ein Kind hatte!

Als sie endlich aufstand, war alles Unkraut wieder eingepflanzt.

                   *       *       *       *       *

Julie ging inzwischen durch den Garten. Sie lehnte sich ans Gitter und
sah die Chaussee hinunter. Ein paar Torfwagen rumpelten vorüber, ein
kleines Bauernmädchen knickste. Alles war wie früher. Eben wollte sie
ins Haus, da kam um die Ecke dort drüben etwas Gelbes; ein volles Rosa
wölbte sich darüber und zuoberst nickte ein Geranke von Federn, Blumen
und Stroh.

Julie in ihrer Kurzsichtigkeit meinte zuerst, das Ganze sei Marianne.
Sie atmete auf, als sich das eine als Kinderwagen, das andere als
Mariannes Hut herausstellte.

Nun löste sich etwas Schwarzes und steuerte nach der Tür herüber. Das
Gelbe mit dem rosa Verdeck aber zog vorüber. Dahinter kam Marianne,
eine Weile nichts, als Marianne, breit und voll und himmelblau ... Sie
blickte zur Seite und wollte Julie nicht sehen.

Das war eine Demonstration!

Julie nahm sie belustigt entgegen.

»Guten Tag, Julie!« sagte Lukas. »Ich mußte doch kommen und dich
begrüßen.«

Julie gab ihm die Hand.

»Das ist nett von dir! Wie geht es dir, Lukas?«

»Gut!« Sein Gesicht strahlte. Er war froh, daß er standhaft geblieben
war; wenn es auch nicht gerade gegen Mariannes Willen, so war es doch
ohne ihre Zustimmung geschehen, daß er sie verlassen hatte, um Julie zu
begrüßen.

»Wie geht es Marianne und eurer Kleinen?« fragte Julie.

»Der Kleinen? Oh, das ist ein Prachtmädel! Gesund und fidel, wiegt
schon vierundzwanzig Pfund! Auch Marianne geht es, Gott sei Dank,
recht gut. Sie hat viel im Haushalt zu tun. Es ist gemütlich bei uns.
Du solltest ...« Er brach plötzlich ab und wurde rot.

Julie mußte lächeln; sie war eingehüllt in eine Wolke von
Fliederparfüm. Das war Mariannes Seife, und auch Lukas mußte sie
natürlich benutzen.

»Nicht wahr, Julie,« begann er stockend, »du trägst es Marianne nicht
nach, daß sie ...? Sie wird schon zur Einsicht kommen. Im Grunde ist
sie doch so gut ...!«

Julie nickte freundlich.

»Ich kenne sie. Aber willst du nicht hereinkommen, Lukas?«

»Ich habe keine Zeit. Pastor Gerlach will mich heute noch sehen. Wir
richten eine Schulbibliothek ein; da gibt es viel zu besprechen. Du
hast wohl keine alten Bücher, die du entbehren kannst?«

»Ich will einmal nachsehen!«

»Wir nehmen alles mit Dank an!« Lukas schüttelte ihr die Hand und ging
eiligen Schrittes der Kirche zu.

Der Fliedergeruch dehnte sich in der Sommerluft, wurde flacher und
dünner und war verschwunden. Julie verstand jetzt besser als früher,
daß man Lukas Allm lieb haben konnte.

Aber warum gerade Marianne ihn lieb hatte?!




                                XXXIII


Stockrosen, Geranien, Begonien und Nelken waren nie so brennend rot zur
Blüte gekommen, Brombeerranken und wilder Wein, Klematis und Hopfen
waren niemals eine so undurchdringliche Hecke gewesen, Laubkronen und
Büsche hatten sich niemals so lichtlos geschlossen.

Wo Sträucher und Stauden nicht reichten, half anderes nach.

Winden und wilde Rosen webten Zweige und Stiele zu festem Gewirr,
Unkraut schoß auf, kam in Ranken und Dornen hinein und mußte sich
verloren geben. Die Fäden der Spinnen und flüchtiges Sommerhaar hängten
Schleier darüber, hielten fest, was an sterbenden Blüten und Blättern
zur Erde wollte, und machten das Dickicht nur dichter, die Wirrsal nur
rätselhafter.

Grüne Wände wuchsen und taten sich zusammen, engten die Luft und
wiesen das Licht auf wenige Wege, sammelten es auf den gezirkelten
Beeten, ließen es auf des Rasens Mitte aufrecht stehen und drängten
es zu kurzem Flackern auf dem trägen Wasser der Gräben, an rissigen
Eichenstämmen und um die weißen Füße der Birken.

Die Glut des Sommers brütete zwischen den Hecken, kroch die Stämme
hinauf und ließ Blumen lohen und Laubdunkel zu flüssigem Glast
zerschmelzen.

Viele Düfte hingen schwer im Garten; kaum konnte der Wind sie
rühren und tragen: die Schwüle der Linden, die säuerliche Dürre der
Sommerblumen, der silbrige Staub blühender Pappeln, die betäubende
Fäule des Schilfs und der Schwertlilien.

Wo das Flimmern des Mittags in den stahlblauen Himmel hineinzitterte,
da tanzten die feinen Ringelkränze der Mücken.

Der Tag kam herauf, stand schweigend seine Stunden und ging hinunter.

Still war es, vom Morgen bis zum Abend. Die Stille stand im Garten wie
eine fremde Frau. Keiner sollte wagen, sie zu stören. In ihrem Gesicht
lauerte ein Lächeln, das böse war.

Keiner sollte sprechen. Worte sind gleich Steinwürfen in einen
schweigenden See. Unter gläserner Fläche schlief Angst und Entsetzen.

Die da saßen, wußten das.

Sie fühlten diese Augen. Sie wollten sie nicht sehen und hängten doch
ihre Blicke an sie. Sie schauten weg und sahen sie doch überall.

Die Angst war in ihnen, sie lauerte in der Tiefe ihrer eigenen Seelen.

Die eine schielte nach der Seite, ob da etwas wäre, fürchtete die
Büsche, in denen sich einer verstecken könnte, und zitterte vor dem
Schatten, weil er dunkel war, und vor der Helle, weil sie schrie.

Die andere sah ungewisse Lichter der Zukunft und wartete auf Schmerzen,
sie lachte ihrem Kinde zu und breitete die Hände aus, damit der Tod es
nicht sehe.

So ging der Sommer vorüber.




                                 XXXIV


In den ersten Tagen des Oktobers wurde das Kind geboren. Es war ein
Junge, und Julie nannte ihn nach Peters zweitem Vornamen Niels. Von
allen Schmerzen blieb ihr keiner erspart, aber Julie ertrug sie
lächelnd und hatte sie schnell wieder vergessen über der Wirklichkeit,
die anders war, als sie gedacht hatte.

Die ersten Tage dämmerten vorüber, mit heruntergelassenen
Rouleaus, langsam wandernden Sonnenflecken, Fenchelgeruch und
Krankenzimmerstille. Das hielt Julie nicht lange aus, sie hörte nicht
auf zu bitten, man solle sie in den Garten bringen. Weil der Herbst
so weich war und die Laube so geschützt, taten sie ihr den Willen
und trugen sie des Mittags hinaus. Da durfte sie in der Herbststille
liegen, unter dem träumerischen Himmel, bis gegen vier. Niels war bei
ihr, und wenn Agnes Elisabeth an den Hecken Hagebutten sammelte, konnte
sie sehen, wie Julie mit dem Kinde sprach. Nur das Lächeln auf Julies
Gesicht sah sie, und das fließende Sonnengold in ihren Haaren. Nicht
mehr! Eigentlich wollte sie auch das nicht sehen!

Agnes Elisabeth dachte unablässig an das Kind. In den ersten Tagen
war sie scheu in den Zimmern umhergelaufen oder hatte in einer Ecke
gesessen und nach der Wiege gestarrt. Keiner hatte sie beachtet, sie
hatte so recht ihren Gedanken nachhängen können. Eigentlich war es
eine merkwürdige Sache mit solch einem Kinde! Es war mit einem Male
da, es schrie und wollte trinken. Es war häßlich und machte Mühe.
Und doch hätte sie es am liebsten genommen und totgeküßt. O ja! Das
kleine zappelnde Ding in die Finger nehmen, daß das Körperchen in den
Handflächen läge, und der Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger ...
Einige Tage später jedoch, als sie es einmal versucht hatte, war die
alte Doris dazugekommen und hatte ihr das Kind weggenommen.

Nun wollte sie es auch gar nicht mehr sehen! Sie hatte jetzt ihr
eigenes Kind. Sie hatte sich die Wachspuppe vom Boden geholt, die war
größer als Niels, sie machte die Augen zu, wenn sie wollte. Aber sie
guckte doch immer wieder hinüber und schlich dem Kinde nach, ob sie es
vielleicht sehen könnte. Denn das Kind war lebendig, die Wachspuppe
aber war tot.

Zu manchen Zeiten fragte sich Agnes Elisabeth, ob sie eifersüchtig
auf Niels wäre. Er war so einfach ins Haus gekommen und hatte Besitz
von ihm ergriffen; um ihn drehte sich die Wirtschaft, die alte Doris
stellte Gesche mit an, wo sie sie nur brauchen konnte, um seinetwillen
kam ein Korb mit allerhand Sachen von Tante Sophie, um seinetwillen
erschien Lukas jeden Tag und fragte schüchtern, wie es dem Kinde und
der Mutter gehe, um seinetwillen wurde jeden Morgen ein Brief gebracht,
der aus Berlin kam und zur Folge hatte, daß Doris für die nächste halbe
Stunde nicht zu Julie hineinging. Es fehlte nur noch, daß ihr Schwager
eines Tages in der Tür stände und den Jungen sehen wollte.

Dann wäre sie ganz aus dem Hause geschoben, und die anderen säßen
darinnen. Das wollte sie sich nicht gefallen lassen! Nein, freiwillig
würde sie nicht weggehen!

Noch während sie solche Dinge dachte, stand sie auf und ging in die
Küche, um den Kakao für Julie anzurühren. Sie tat das mit aller
Sorgfalt, probierte, ob er süß genug wäre, quirlte die Milch hinein und
suchte die schönsten Cakes für Julie aus. Dann brachte sie alles selbst
hinaus, stellte es auf den Tisch, rückte Julie die Tasse zurecht und
saß ein Weilchen bei ihr. Bevor sie ging, streichelte sie Julies Haar.

Jedesmal dachte sie daran, daß Mama so mit ihr getan hatte, wenn sie
früher einmal krank gewesen war.

                   *       *       *       *       *

Es war plötzlich, als sei die Stille nun lange genug im Hause gewesen.

Evelyn kam eines Tages mit zwei riesigen Koffern an und brachte so viel
Fröhlichkeit und Lachen mit, daß die Linden ihre Kronen schüttelten,
als vermöchten sie nicht zu glauben, daß alles wieder beim alten
sein sollte. Das Haus aber wunderte sich nicht, sondern es war stolz
auf seine Kinder. Sie waren in der Welt herumgelaufen, hatten viele
andere Häuser gesehen und darin gewohnt; in einem hatten sie gelacht,
im anderen geweint, -- und schließlich waren sie doch vor Sehnsucht
umgekehrt und zurückgekommen. Nun müßten sie auch wieder unten im
Flusse Ringelrangelrosenkranz tanzen. Dazu wäre es jetzt freilich zu
kalt, dachte das alte Haus. Und Evelyn wäre so elegant geworden, sie
täte es vielleicht überhaupt nicht mehr.

Evelyn saß fast den ganzen Tag bei Julie und erzählte von der großen
Welt. Von einem jungen Künstler, den sie in Wien kennengelernt hätte
-- übrigens traf auch alle vierzehn Tage ein Brief mit fremdländischer
Marke für Evelyn ein, -- von Tante Sophies grüner Seidenkrepptoilette,
von einem eleganten Hut, den sie sich ausgedacht hätte. Sie mußte alle
Bilder von Peter Owen sehen und erfand zu ihnen lange Geschichten.
Plötzlich tollte sie dann wieder durchs Zimmer, lief in den Garten und
sagte ihrer alten Kastanie guten Tag, kam wieder hereingewirbelt und
tanzte vor Niels einen provenzalischen Tanz.

Niels fing dann zu schreien an, Julie lachte, und Agnes Elisabeth
mußte kommen, wie es früher gewesen war, und mahnen:

»Kinder, seid doch vernünftig!«

Übrigens fand sich auch Marianne wieder ins Haus. Evelyn war bei ihr
gewesen und hatte sie wegen ihrer kleinbürgerlichen Wichtigtuerei
ausgelacht; eine ellenlange lustige Rede hatte sie gehalten, mitten in
Mariannes Salon, wo Ponceaurot, Erdbeerfarbe und schmutziges Grün von
allen Seiten in ihre Worte hineinschrieen. Das hatte freilich nicht
genügt, Mariannes Sinn zu wenden, gestern aber war Pastor Gerlach bei
ihr gewesen und hatte sie gebeten, sie möchte ihren Einfluß bei der
Schwester geltend machen, damit das Kind endlich getauft werde. Eine
Anmeldung sei bislang noch nicht bei ihm eingelaufen.

So hatte Marianne sich ausgemacht und war bei den Schwestern
erschienen. Evelyn mochte schlimme Dinge im Kopf haben; als Marianne
hereinkam, zog sie ein Gesicht, daß diese ihre Würde fallen ließ,
schnell auf Julie zuging, ihr einen Kuß gab und den Jungen bewunderte.

Damit war die Angelegenheit erledigt, und Marianne fühlte sich
sichtlich erleichtert.

Nun waren sie alle Tage zusammen und ließen alles sein, wie es früher
gewesen war. Sie fanden, daß sie alle in das Leben hineingesehen
hätten, sich ihr Teil geholt hätten und wieder zurückgekommen wären,
ein jedes mit dem, was ihm zukäme. Sie fanden, daß das Zimmer dasselbe
geblieben war, daß es hier wieder helldunkle Abende und sonnenblasse
Morgenstunden geben würde. Sie fanden aber auch, daß sie einander im
Innersten kaum noch kannten, daß nur die Strenge des Alltags, die
Gewohnheit sie zusammenhielt und ihre Hände ineinanderlegte, als seien
die Jahre nicht gewesen.




                                 XXXV


Es war Winter, die Wiesen hatten unter Wasser gestanden, und das Wasser
war seit einer Woche Eis.

Die Schlittschuhe mußten vom Boden herunter und hatten nur noch nachts
ihre Ruhe.

Julie blieb bei dem Kinde, aber die anderen liefen hinaus. Weit in das
Land, wo es blitzte wie von Stahl.

Sie lachten und tollten, und die Luft ließ ihre Fröhlichkeit klingen
wie die silberschwarze Fläche unter ihren Füßen.

Aber das dauerte nur Tage. Evelyn fand es zu kalt und fing an, von der
Wärme des Südens zu reden, Marianne wurde müde und begann vom Haushalt
und von ihrem Kinde zu sprechen.

Am nächsten Morgen blieben sie daheim.

Agnes Elisabeth allein blieb übrig. Sie wurde bedauert, weil sie keine
Gesellschaft hatte; Lukas bot sich an, sie am Sonntag zu begleiten.

Aber sie dachte nicht daran, dies anzunehmen. Lukas lief schlecht,
außerdem brauchte sie auch niemanden.

Lukas kam die Ablehnung gelegen, denn es wäre eine Qual für ihn
gewesen, den ganzen Tag über die Wiesen zu laufen.

Auch die Schwestern freuten sich, denn Agnes Elisabeth hatte schon in
früheren Zeiten Lukas immer nach Hause geschickt, sie konnte sich also
nicht allzusehr verändert haben.

Agnes Elisabeth aber freute sich am meisten. Denn nun wollte sie einmal
wirklich laufen, wie man laufen mußte, ohne Anhängsel, die vor tiefen
Stellen, vor Gräben und Kanälen, Angst hatten, die immer von hinten
riefen, man möchte warten, und lange berieten, wohin es gehen solle.
Zuerst den Fluß entlang und dann der Sonne entgegen, mitten in lauter
Licht hinein, dann links über die Ebene, die ohne Ende war und immer
weiter ging, bis irgendwo Bauernhäuser kamen ...

Da wollte sie wieder nach rechts biegen und ein Weilchen vor dem Winde
laufen. Sie konnte beinahe die Augen zumachen, so glatt war es hier, so
frei von Gestrüpp und Wurzeln.

Die Sonne ginge schon nach Westen hinüber. Sie könnte ja einmal Umschau
halten, wo sie wäre ... Wenn sie es nicht wüßte, könnte sie im nächsten
Dorfe fragen und allmählich an die Heimkehr denken.

So wollte sie. Und so tat sie.

                   *       *       *       *       *

Die Ebene funkelte. Ein Himmel blaßblau, eine Sonne rund, fest und
lichtloser beinah als das Eis, stahlscharf die verzweigten Linien
einiger Bäume. Das war alles, was sie sah. Da stand sie und dachte, daß
Mittag längst vorüber sei, und daß es wohl weit nach Hause sei.

Es freute sie, daß sie nur so ungefähr die Richtung wußte, und daß
es noch eine schöne Strecke war, mindestens zwei Stunden. Sie freute
sich über den Staubgeschmack, den sie auf den Lippen hatte, über das
Prickeln, das von den Füßen in die Knie heraufkam. Sie dachte mit einem
Male, hier sei sie nun allein, daß irgendwo Schwestern von ihr wären,
Julie und Marianne und Evelyn, das sei wohl nur ein Traum. Sie konnte
sich auf einmal nicht erinnern, wie diese Schwestern aussähen, sie
wußte nicht, wie sie sprächen. Auch darüber freute sie sich.

Es schien übrigens alles seine Richtigkeit zu haben. Von dort drüben
war sie gekommen, sie konnte noch einen Baum erkennen, an dem sie
vorbeigelaufen war. Freilich war es schon lange Zeit her. Vorher war
sie mit dem Winde gelaufen und hatte die Sonne zur Rechten gehabt. Das
war noch viel länger her. Als ob Monate dazwischenlagen. Was sie vordem
getan hatte, wußte sie nicht mehr. Sie sah an sich hinunter, wunderte
sich, daß hier, mitten in dieser unendlichen Eisebene, etwas war, was
sich bewegte. Sie hob den Arm, schob den Fuß vor ... Das lebte, das war
ein Mensch! Also war sie doch nicht allein ...?

Wie kam dieser Mensch, der sie selbst sein sollte, hierher? Von dort
drüben. Dort war der Baum. Bei ihm hatte sie ein paar Bogen gemacht.

Sie setzte an und lief einen. Weil er nach rechts gegangen war, mußte
einer nach links ihm folgen. Er fiel nicht gut aus. Der nächste
wurde besser. Nun noch einmal! Und wieder! Sie lief und drehte sich,
beschrieb Kreise nach innen und nach außen, Kurven, erst große und
kleine, dann abwechselnd eine große, einen Kreis nach innen, eine
kleine, einen Kreis nach außen ...

Plötzlich stand sie wieder still.

Vor ihr war ein Baum. Sie hatte ihn vielleicht schon einmal gesehen.
Es war eine Erle, und der Zweig mit den schwarzen Früchten mußte gewiß
ein wenig herunterhängen. Es war der Baum, bei dem sie früher einmal
gewesen war.

Aber damals hatte die Sonne weiter rechts gestanden, jetzt aber ...

Wo war die Sonne ...?

Sie schaute nach ihr aus. Aber sie war nicht mehr da. Sie wendete sich
um und suchte.

Über den Himmel war ein seidiger Schimmer gespannt, und dort drüben
schwamm in zähem Dunst ein gelbliches Licht.

Wie schnell hatte sich das verändert! Soeben noch ...!?

Auch über dem Eise sah es anders aus, glasig, fast goldgrün; die Bäume
waren wie übergossen von lauwarmem Gold.

Plötzlich dachte sie an das Kind. An welches Kind ...? An das Kind, das
sie küssen wollte! Jetzt erst fiel ihr ein, daß es höchste Zeit sein
müßte, umzukehren. Sofort waren eine Menge Gedanken da, das Abendbrot,
ob Gesche nichts vergessen würde, morgen reines Tischzeug, Silberputzen
...

Plötzlich wurde sie sich mit der Klarheit früherer Tage bewußt, daß sie
schnell laufen müsse, wenn sie noch vor Dunkelheit in bekannte Gegend
kommen wolle.

Wenn sie nur erst den Deich hätte! Dann würde sie sich ja wohl
zurechtfinden. Aber vom Deich war nichts zu sehen. Er mußte nach Westen
zu liegen. Oder mehr nach Süden ...?

Dort war ein Mensch. Sie wollte ihn fragen. Hoffentlich könnte sie ihn
einholen. Oder kam er ihr entgegen?

Sie lief auf ihn zu. Der Wind wickelte sich in ihr Kleid; er war
stärker als heute morgen; sie konnte kaum aufsehen, so stark war er.
Er versetzte ihr den Atem; er war auch nicht mehr gleichmäßig, er kam
ruckweise ... Hoffentlich würde sie ihn nachher im Rücken haben, dann
käme sie wohl schnell nach Hause. Aber gegenan ...!

Wie schwer es sich lief! Das Eis war schmierig geworden; es gab beim
Laufen keine scharfen Linien mehr, sondern nur breite weißliche Spuren.
Da war ein Hügel, der wie eine Insel im Eise lag. Erlen standen da und
ein paar Weiden und noch ein anderer Baum. Dort mußte sie ihn fassen.

Sie winkte hinüber, rief und lief schneller. Dann war sie da, und vor
ihr stand -- Hinrich Teetje.

»Ja, -- das hat denn wohl so sein sollen!« sagte er.

Sie vergaß zu fragen. Aber sie schrie. Einen kurzen Schrei! Dieser
Schrei hatte ihr schon lange in der Kehle gesessen.

Hinrich Teetje sagte nichts. Doch als sie weglaufen wollte, hielt er
sie am Arme fest.

Sie zuckte unter seiner Hand und direkte sich und empfand grauenvolle
Wonne.

Dann packte er sie mit beiden Armen, hob sie in die Höhe und trug sie
hinauf, wo unter einer Eiche Reisig und Stroh lagen.

Dort legte er sie hin.

Sie blieb liegen.

Er küßte sie, gierig, wie ein Hund.

Sie küßte ihn wieder ...

       *       *       *       *       *

Sie stieß ihn von sich hin, daß er taumelte. Dann kroch sie auf den
Knien den Hügel hinunter. Sie schlug mit dem Kopf an einen Ast, blieb
mit dem Haar in den Zweigen hängen und riß sich die Hände blutig.

Immer auf den Knien kroch sie weiter, bis das Eis in den Wunden
brannte. Da half sie sich auf die Füße, kam hoch und lief, so schnell
sie konnte.

Hinter sich hörte sie Klappern und Rasseln und kreischendes Schneiden
von Schlittschuhen. Sie lief schneller, sie raste über das Eis.

Er kam nicht weit mit. Schon bald schien er eine andere Richtung
genommen zu haben; sie hörte ihn weit dort drüben.

Dann war alles verschwunden.

Sie blieb stehen und schloß die Augen. Heiß brauste es, troff in
schwarzroten Streifen und flammte in zerrissenen Flecken. Gedanken gab
es keine mehr; ihr Empfinden war wie eine Wüste.

Nach einer langen Zeit fühlte sie, daß ihre Hände warm und feucht
waren, und wieder nach einer langen Zeit sah sie nach, was das wäre. Da
lief Blut herunter.

Sie blickte auf. Um sie herum war nichts als Nebel. Rauchender Nebel.
Er wälzte sich um sie herum, drängte sich nahe an sie heran, daß sie
es brenzlig an den Lippen spürte, schwamm zurück, machte ihr Platz,
daß sie ein paar Schritte laufen konnte, fing sie wieder auf, griff
mit Händen nach ihrer Haut, nach ihrem Haar, rieb sich an ihren Armen,
faßte über ihren Körper ...

Es war ganz still. Die Ungeheuer stiegen um sie herum, krochen am
Boden, bäumten sich auf ... Aber es war ganz still. Die Stille sauste
in ihren Ohren.

Dann hörte sie ein Schurren, als ob etwas über das Eis wische.
Krisselnder Schneestaub war es, den der Nebel fegte.

Dann ward es ein Glucksen, wie wenn Wasser in dünnen Schuhen steht.
Taufeuchtigkeit drängte von unten herauf.

Lange Zeit hörte sie das und begriff es noch immer nicht.

Plötzlich aber fühlte sie es. Sie fühlte, daß kein Baum, kein Strauch
zu sehen war, kein Himmel über ihr, nichts, nichts als Nebel.

Sie war allein gelassen. Ganz allein mit diesem Nebel, mitten in den
Wiesen. Es war nicht Mittag, es war nicht Abend, es war nicht Nacht ...
Das Eis wollte sie nicht mehr haben, die Sonne war weggegangen, die
Häuser hatten sich zugedeckt, und die Menschen ...

Sie begann zu schreien. Sie begann zu laufen. Sie lief und schrie. Das
Eis schrie mit ihr, schrie sich aus in brechendem Krachen. Sie lief.
Der Nebel lief hinter ihr her und jagte sie, und das Wasser spritzte
herauf, bis in ihr Gesicht.

Sie lief und es kam kein Ende.

Plötzlich bewegte sich etwas unter ihr, krümmte sich ...

Die ganze Fläche schwankte. Von weit da drüben kam es und von jener
Seite und von überall und schwankte mit ...

Als sie nicht mehr schreien konnte, wimmerte sie: »Mutter! -- Mutter!
-- Mutter!«

Dann hörte auch dies auf. Sie lief und lief ... Endlich kam ihr etwas
in den Weg. Groß war es und dunkel und reckte sich ...

Sie wollte die Hände ausstrecken ... Da schlug es ihr schon ins
Gesicht.

Das Große, Dunkle gab nach, schwankte mit ihr hin und her. Eine alte
Weide war es. Da mußte wohl ein Graben sein.

Sie wollte weiter, aber sie konnte die Füße nicht heben. Als sie sich
bückte, kam sie in Wasser. Sie riß die Jacke herunter und klammerte
sich an die Weide.

Das Wasser kam höher, und das Eis raschelte an ihrem Kleide.

Sie zerrte sich an dem Baum in die Höhe. Er neigte sich, und das Wasser
kam bis an ihre Brust. Noch einmal schrie sie auf.

Dann stemmte sie die Knie gegen den Baum und riß sich nach oben.

Da gab er nach, warf sie vor sich hin und schlug sie tot.




                                 XXXVI


Am Morgen fand man sie, kaum eine Viertelstunde von Hellweges Haus.
Drüben bei Gertelmanns, wo der Fluß die Biegung macht.

Daniel und der Knecht rackerten sich fast eine halbe Stunde ab, den
Körper unter der Weide hervorzuziehen.

Dann legten sie ihn auf einen Wagen; ihn zu tragen, war es bis zu
Hellweges zu weit. So würden sie auch noch hinüberkommen, ehe die
Kirche aus wäre, meinte Daniel.

Aber die Predigt war kurz gewesen -- man fror jetzt zwischen den
Mauern --, und so trafen die Kirchgänger den Wagen, just als er an der
Kirche vorüber wollte. Weil Daniel so sonderbar aussah, und weil etwas
Schwarzes auf seinen Knien lag, ließ man sich gern seinen Sonntagsstaat
mit Schmutz und tauendem Schnee bespritzen, drängte sich an den Wagen
und wollte sehen, was da nicht richtig wäre.

Als sie erkannten, wen Daniel bei sich hatte, kehrten alle um und
gingen dem Wagen nach.

Wenn eine Leiche da ist, schweigt man. Wenn aber bei Lebzeiten viel
Gerede und Munkeln und Tuscheln gewesen ist und mit einem Male der
Tod dazwischenkommt, alles still zu machen, so kann man sich nicht
zufrieden geben. Denn es ist nichts in der Welt, was aufkäme mit
wunderlichem Wesen und Menschen erschreckte, und dürfte mit einem Male
hingehen und sterben, als wäre nie etwas gewesen. Es muß alles seine
Ordnung haben.

Die Alten zwar nickten nur, bedächtig und zufrieden, wie man tut, wenn
etwas so ausgegangen ist, wie man es erwartet hat.

Aber die Jungen, die weiter hinten gingen und der Leiche nicht so nahe
waren, konnten ruhig aussprechen, was gesagt werden mußte.

Das hätte sie nun von dem Laufen bei Nebel und Tauwetter; so etwas
könnte kein gutes Ende nehmen; aber sie hätte ja nicht hören wollen!
Wunderlich, wie sie gewesen wäre! Eigentlich sei es gut für das ganze
Dorf, daß sie nun schliefe! Wer so anders gewesen sei und nicht unter
Menschen gepaßt habe! Wer nachts herumgelaufen sei und keine Ruhe habe
finden können! Nun würde sie ihre Ruhe haben, auf dem Kirchhofe, wo sie
ja immer schon gesessen hätte.

»Dat schöt wi eerst noch to sehn kriegen, ob de Ruhe hebben ward. Denn
dat dat mit richtigen Dingen togon is, glövt See doch wol silbens
nich!« sagte plötzlich jemand.

Da wurde es mit einem Male still. Und es stand fest, daß sie den Tod
selbst gewollt hätte.

Der Wagen hielt. Die Leute blieben stehen. Es war kein neugieriges
Gedränge. Mit spitzen Gesichtern sahen sie zu, wie Daniel sich
schwerfällig aufrichtete und die Leiche herunterhob. Wie ein Haufe von
Anklägern standen sie, die jede Bewegung der Beschuldigten verfolgen.

Einen Augenblick erschien das grünlichweiße Gesicht, das rote Haar über
der Menge. Sie konnte sich nicht verteidigen!

Sie trugen sie hinein.

Alle blieben stehen. Es war eine Drohung, wie sie da warteten,
breitbeinig, schweigsam, ohne Erbarmen. Man fand es in der Ordnung,
daß der Gemeindevorsteher und der alte Gertelmann ins Haus gingen, um
drinnen zu sagen, wie man draußen hierüber dachte.

Sie warteten. Der Wind blies durch die Straße. Sie schlugen die Kragen
hoch.

Es fing zu schneien an, große Flocken, die sie naß machten. Sie
warteten.

Bis die beiden wieder herauskamen und nickten. Da waren sie zufrieden
und konnten auseinandergehen.

                   *       *       *       *       *

Im Alkoven lag sie und schlief.

Große Flocken klebten die Scheiben zu, und das dämmernde Licht
des Frühnachmittags ging zu den brennenden Kerzen, die um ihr Bett
herumstanden.

Sie hatten nur Tannengrün streuen können. Woher sollten sie Blumen
nehmen ...?!

Sehr fern war die Tote, sehr allein! Zwar saßen die Schwestern bei ihr;
man hätte meinen können, sie seien alle vier noch einmal beisammen;
zwar schluchzte Marianne und wußte nicht, wie sie es tragen sollte;
zwar weinte Evelyn viele hilflose Tränen. Doch dies alles geschah
mitten im Zimmer. Die Tote aber lag im Alkoven! Zwischen ihr und den
Schwestern stand die blasse Helle der Kerzen; über die kamen sie nicht
hinweg.

Sie wollten mit ihr von alten Zeiten sprechen, wollten ihr danken,
-- denn es gab wohl viel zu danken --, aber es war nicht möglich. Es
schien, als wolle die Tote nichts mehr von ihnen wissen.

Vor den Fenstern war es schon dunkel, als Gesche die Tür öffnete. Lukas
Allm und der Pastor traten ein.

Julie stand auf und reichte ihnen die Hand.

Der Pastor trat neben das Bett und sah mitleidig auf die Tote. Lukas
stand in der Ecke und weinte. Er, der sie am meisten mit Freundlichkeit
umgeben hatte, war auch der einzige, der etwas von eigener Schuld
empfand.

Nach einer Weile wendete sich der Pastor zu den Schwestern.

»Wir wollen miteinander beten!«

Sie standen auf und traten um das Bett herum, und der Pastor faltete
die Hände und betete:

»Aus der Tiefe rufen wir, Herr, zu dir! So du willst Sünde zurechnen,
Herr, wer wird bestehen?

Diese Tote ist dahingegangen, in der Blüte ihrer Jugend, in der Hälfte
ihrer Tage ist sie dahingegangen.

Den Schwesternkreis hat sie verlassen und das Ziel ihres irdischen
Lebens gefunden.

Herr, wir wissen nicht, ob sie in ihren Sünden gestorben ist; aber wir
flehen zu dir, du wollest dich ihrer erbarmen.

Denn bei dir ist Gnade und viel Erlösung.

Du hast ihr Leben reich gesegnet, und ihrer Arbeit warst du gnädig. Den
verwaisten Schwestern durfte sie die Mutter sein, sie durfte für sie
sorgen, du gabst Gelingen zu ihrem Werke und ließest sie die Früchte
genießen.

Es kann dein Wille nicht sein, daß diese Seele verlorengehe. Du bist
gerecht und heilig. Sünde bleibt nicht vor dir. Aber du bist auch
gnädig und voll großer Güte.

Darum heben wir unsere Hände zu dir auf: Vergib ihr ihre Sünde und nimm
sie in Gnaden in dein himmlisches Reich.

Herr, lehre uns bedenken, daß auch wir sterben müssen, auf daß wir klug
werden.

Daß wir beizeiten tun, was zu unserem Frieden dient, daß wir entsagen
der Hoffart der Welt und töten des eigenen Herzens Wünsche, daß wir
wandeln in deinem Licht und merken auf dein Wort.

Herr, hilf uns, daß wir nicht vergehen!

Herr, hilf uns, daß es niemals von uns heißen müsse: Sie haben ihren
Lohn dahin!«

                   *       *       *       *       *

Der Pastor schwieg. Dann drückte er den Schwestern, einer nach der
anderen, die Hand.

Unter schluchzendem Flüstern bedankte sich Marianne, auch Lukas atmete
auf; das Gefühl der Trostlosigkeit hatte ihn verlassen. Mit den Worten
des Pastors war eine weiche Empfindung über ihn gekommen: da drüben, wo
die Tote nun sei, wäre ein anderer, der besser für sie sorgen würde,
als sie alle es hatten tun können.

Der Pastor ging.

Lukas trat noch einmal an das Bett und legte seine Hand auf das rote
Haar, so, wie er es manchmal bei Marianne tat.

Wie hilflos doch die Toten sind! dachte Evelyn. ~Der~ konnte sie
nun streicheln, was er im Leben nie fertiggebracht hätte, und der
Pastor hatte solche Worte über sie sagen dürfen.

Dann gingen sie alle hinaus.

Die Tote blieb allein, wie sie es auch im Leben gewesen war.

                   *       *       *       *       *

Nach einer Weile kam Julie zurück. Sie hatte Niels auf dem Arm und
setzte sich in den großen Stuhl zwischen Ofen und Fenster.

Als Niels die Lichter sah, begann er laut zu krähen. Als er sie im
Spiegel nochmals fand, strampelte er mit Armen und Beinen. Julies Haar
glänzte so goldig, die kleinen Finger mußten schnell hinein, mußten
zerren und den Kopf zu sich herunterziehen.

»Das muß Jungchen nicht! Dann tust du Mutter weh!« sagte Julie und
machte ihr Haar von den kleinen Händen frei.

Sie setzte ihn zurecht und neigte sich zu ihm hinunter.

»Siehst du, sie hätte auch solch einen kleinen Jungen haben müssen wie
dich! Sie war so arm! Sie war so allein! Sie hat immer für uns gesorgt,
hat alles für uns getan. Aber darüber hat sie sich selbst vergessen.
Siehst du, für andere leben kann man nur, wenn das eigene Leben voll
ist von Schönheit und Freude. Sonst hat es keinen Wert! Du kannst das
jetzt noch nicht verstehen, aber später wirst du es wissen! Peter und
ich, wir wollen dafür sorgen, daß in deinem Leben so viel Schönheit, so
viel Lachen und so viel Glück sein wird, daß du auch andere Menschen
glücklich machen kannst. Du sollst noch viel glücklicher werden als
Peter und ich, bis du einmal so weit bist, daß du unsere Hilfe nicht
mehr brauchst!«

Mit großen Augen sah das kleine Wesen zu Julie auf. Ganz, als
verstünde es alles, was sie ihm sagte.

Sie beugte sich hinunter und küßte ihren Jungen. Draußen kamen Schritte
über die Diele, feste, kurze Schritte.

Dann sprang die Tür auf.

Julie erschrak. Ein Zittern lief über die Kerzen. Eine nach der anderen
zuckte zusammen.

Hinrich Teetje stand vor Agnes Elisabeth.

Stand -- und sagte kein Wort.


                                ~Ende~




        
            *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE SCHWESTERN HELLWEGE ***
        

    

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are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
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forth in Section 3 below.

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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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