The Project Gutenberg EBook of Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Das Bildnis des Dorian Gray Author: Oscar Wilde Translator: Richard Zoozmann Release Date: November 20, 2013 [EBook #44238] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** Produced by Norbert H. Langkau, Marc-Andre Seekamp and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Das Bildnis des Dorian Gray Oscar Wilde Das Bildnis des Dorian Gray Ins Deutsche übertragen von Richard Zoozmann Berlin ~W~ 50 Schreitersche Verlagsbuchhandlung Alle Rechte vorbehalten Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig Vorbekenntnis Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der Kunst. Ein Kritiker ist, wer seinen Eindruck von schönen Dingen in eine andere Form oder in einen anderen Stoff zu übertragen vermag. Die höchste wie die niederste Form der Kritik ist eine Art Autobiographie. Wer in schönen Dingen einen häßlichen Sinn findet, ist verderbt, ohne anmutig zu sein. Das ist ein Fehler. Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn findet, hat Kultur. Er berechtigt zu Hoffnungen. Das sind die Auserwählten, für die schöne Dinge lediglich Schönheit bedeuten. Ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt's überhaupt nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Sonst nichts. Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen den Realismus ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel erblickt. Die Abneigung des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Romantik ist die Wut Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht sieht. Das sittliche Dasein des Menschen liefert dem Künstler einen Teil des Stoffgebietes, aber die Sittlichkeit der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels. Kein Künstler empfindet das Verlangen, etwas zu beweisen. Selbst Wahrheiten können bewiesen werden. Kein Künstler hat ethische Neigungen. Eine ethische Neigung beim Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils. Kein Künstler ist an sich krankhaft. Der Künstler kann alles aussprechen. Gedanken und Sprache sind für den Künstler Werkzeuge einer Kunst. Laster und Tugend sind für den Künstler Stoffe einer Kunst. Was die Form betrifft, so ist die Kunst des Musikers die Urform aller Künste. Was das Gefühl betrifft, so ist der Beruf des Schauspielers diese Urform. Alle Kunst ist gleichzeitig Oberfläche und Symbol. Wer unter der Oberfläche schürft, tut es auf eigene Gefahr. Wer das Symbol herausdeutet, tut es auf eigene Gefahr. In Wahrheit wird der Betrachter und nicht das Leben abgespiegelt. Meinungsunterschiede über ein Kunstwerk beweisen seine Neuheit, Vielfältigkeit und Lebenskraft. Sind die Kritiker uneinig, so ist der Künstler einig mit sich selbst. Man kann einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches schafft, solang er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung für den, der etwas Nutzloses schuf, besteht darin, daß es äußerst bewundert wird. Alle Kunst ist völlig nutzlos. Erstes Kapitel Das Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür der schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des Rotdorns. Aus der Ecke seines Diwans mit persischen Satteltaschen, auf dem Lord Henry Wotton lag und wie gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur seufzend die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und dann und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große Fenster gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen, nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt werden muß, das Gefühl von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das tiefe Gesumme der Bienen, die ihren zweifelnden Flug durch das hohe, ungemähte Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die bestaubten Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, ließ die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen Londons murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel. In der Mitte des Gemaches stand auf einer hoch aufgestellten Staffelei das lebensgroße Bildnis eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen Vermutungen Anlaß gegeben hatte. Während der Maler die anmutige und liebenswürdige Gestalt betrachtete, die seine Kunst so prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein freudiges Lächeln über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit den Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen. »Es ist dein bestes Werk, Basil, das beste, was du jemals gemacht hast«, sagte Lord Henry schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedesmal, wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich die Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel Bilder, daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch schlimmer. Das Grosvenor ist der einzig richtige Platz.« »Ich denke überhaupt nicht daran, es auszustellen«, antwortete der Maler und warf den Kopf in jener merkwürdigen Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends ausstellen.« Lord Henry hob die Augenbrauen und sah den anderen erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? Ja warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch für Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu machen. Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder loswerden. Das ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges Ding auf Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute in England empor und würde die Alten vor Neid platzen lassen, soweit alte Leute überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.« »Ich weiß, du wirst mich auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es wahrhaftig nicht ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.« Lord Henry streckte sich auf dem Diwan aus und lachte. »Ja, ich habe das gewußt; es bleibt aber doch wahr, ganz sicher.« »Zuviel von dir soll darin sein? Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist; ich kann wirklich nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht und deinem kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein lieber Basil, es ist ein Narziß, und du -- natürlich hast du ein geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist ist an sich eine Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes Gesichts. Im Moment, wo man sich ans Denken begibt, wird man ganz Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal alle die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben. Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich die Männer der Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche denken sie eben nicht. Ein Bischof sagt mit achtzig Jahren noch unveränderlich dasselbe, was ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, dessen Bild mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf, das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen zum Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung unseres Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.« »Du verstehst mich gar nicht, Henry«, antwortete der Künstler. »Natürlich sehe ich ihm nicht ähnlich. Das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik etwa, wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen in der Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, nicht anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das Spiel sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: ungestört, gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil und empfangen es auch nicht von fremder Hand. Dein Stand und dein Reichtum, Harry, mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst, soviel sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen -- wir müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich leiden.« »Dorian Gray? Heißt er so?« fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward zu. »Ja, so heißt er. Ich wollte dir's eigentlich nicht sagen.« »Aber warum nicht?« »Oh, ich kann's nicht so erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint noch die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich reise, wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine ganze Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber sie bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?« »Nicht im geringsten,« antwortete Lord Henry, »nicht im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung zur Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind -- wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen sind oder zum Herzog aufs Land fahren -- so erzählen wir uns die verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir kommt es beständig vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir nie eine Szene. Ich wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht mich nur aus.« »Ich kann die Art nicht leiden, wie du über deine Ehe sprichst«, sagte Basil Hallward und ging langsam auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, du bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich nur immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer Kauz: du sagst nie was Moralisches und tust nie was Schlechtes. Dein Zynismus ist nichts als Pose.« »Natürlichkeit ist immer eine Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die ich kenne«, rief Lord Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer gingen zusammen in den Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Das Sonnenlicht flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße Gänseblümchen. Nach einer Weile zog Lord Henry seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich fort, Basil,« brummte er, »aber bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.« »Was war das?« sagte der Maler, die Augen fest zu Boden gerichtet. »Na, du weißt doch.« »Sicher nicht, Harry.« »Gut, dann will ich's dir nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen Grund zu wissen.« »Ich habe dir den wirklichen Grund schon gesagt.« »Nein, das hast du nicht getan. Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke. Das ist aber kindisch.« »Harry,« sagte Basil Hallward und sah dem anderen gerade ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. Das Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht dies wird vom Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart auf der farbigen Leinwand eher sich selbst. Ich will also dies Bild darum nicht ausstellen, weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis meiner eigenen Seele darin aufgedeckt.« Lord Henry lachte. »Und worin bestünde das?« fragte er. »Ich will es sagen«, antwortete Hallward; aber in sein Gesicht trat ein Ausdruck von Ratlosigkeit. »Ich bin äußerst gespannt, Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick nach ihm fort. »Oh, es ist wirklich nicht viel zu berichten, Harry,« entgegnete der Maler, »und du verstehst es wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht einmal.« Lord Henry lächelte und bückte sich dann, um ein rosa angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu pflücken, das er betrachtete. »Ich werde dich ganz gewiß verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine, goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es unwahrscheinlich genug ist.« Der Wind schüttelte ein paar Blüten von den Bäumen, und die schweren, vielgesternten Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der schwülen Luft. Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren braunen Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz pochen zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte. »Die Geschichte ist einfach die«, sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich mal zu einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine Wilden sind. Du sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann selbst ein Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten, vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich, daß mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Male Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich unsere Blicke begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich. Ich wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich sie gewähren ließe, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst meine Kunst an sich reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben irgendwelcher Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, Harry, wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin immer mein eigener Herr gewesen; war es wenigstens so lange, bis ich Dorian Gray traf. Dann -- aber ich weiß nicht, wie ich dir das begreiflich machen soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde mir nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.« »In Wirklichkeit sind Gewissen und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene Firma. Weiter gar nichts.« »Ich glaube das nicht, Harry, und ich glaube, du wohl auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde es geschah -- es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war schon immer sehr stolz -- jedenfalls eilte ich der Türe zu. Natürlich prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. >Sie wollen doch nicht etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?< kreischte sie auf. Du kennst ja ihre schrille Stimme.« »Ja, sie ist ein Pfau in allem, bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry und zerrupfte das Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern. »Ich konnte ihrer nicht loswerden. Sie zerrte mich zu den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit Orden und Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei ihren besten Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher gesehen, aber sie setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des Tages zu machen. Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz darüber gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das Eichungsmaß der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert hatte. Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah. Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir, aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es aber doch alles in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach nicht zu umgehen. Wir hätten auch ohne Vorstellung miteinander gesprochen. Ich bin dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch er fühlte, daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.« »Und wie hat Lady Brandon den wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte sein Gefährte. »Ich weiß, es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen, alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen Brust mit Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die erstaunlichsten Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte einfach davonlaufen. Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst aus. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so lange, bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt alles, gerade mit Ausnahme dessen, was man wissen will.« »Die arme Lady Brandon! Du bist hart gegen sie«, sagte Hallward zerstreut. »Mein guter Junge, sie wollte einen Salon gründen und hat es nur bis zu einem Restaurant gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?« »Oh, so irgend was wie >Entzückender junger Mensch -- seine arme Mutter und ich ganz unzertrennlich -- vergaß ganz was er treibt -- fürchte fast -- gar nichts -- ach ja, spielt Klavier -- oder war es die Geige, lieber Herr Gray?< Wir mußten beide lachen und wurden sofort Freunde.« »Lachen ist wohl lange nicht der schlechteste Anfang für eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes Ende«, sagte der junge Lord und pflückte sich noch ein Gänseblümchen. Hallward schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung, was Freundschaft ist, Harry,« murmelte er, »und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; mit anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.« »Wie grausam ungerecht von dir!« rief Lord Henry, stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels dahinschifften. »Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die Leute sehr scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es sind sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher schätzen sie mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist ein bißchen eitel.« »Ich glaube auch, Harry. Aber nach deiner Einteilung zählte ich nur unter deine Bekanntschaften.« »Mein lieber, alter Basil, du bist weit, weit mehr als ein Bekannter.« »Und weit weniger als ein Freund! Wohl so eine Art Bruder?« »Pah, Bruder! Bleibe mir mit Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht sterben, und meine jüngeren tun scheinbar nichts anderes.« »Harry!« rief Basil mit gerunzelter Stirne. »Mein lieber Junge, ich meine es nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen kann. Ich verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten gehören sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt, gewissermaßen auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der Scheidungsprozeß des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung wirklich prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung nach nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte gemäß.« »Ich stimme keinem einzigen deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja auch nicht im mindesten daran.« Lord Henry strich seinen braunen Spitzbart und stieß mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. »Wie englisch du bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. Wenn man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt -- an sich schon immer eine Unüberlegtheit --, so fällt es ihm nicht im Traum ein, zu erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt. Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Idee um so geistreicher sein, je unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder die Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch seiner Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die Absicht, politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?« »Jeden Tag. Ich wäre unglücklich, wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein Bedürfnis.« »Wie merkwürdig! Ich glaubte immer, du kümmertest dich um nichts anderes als um deine Kunst.« »Er ist für mich jetzt meine ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. »Manchmal glaube ich, Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt. Die erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die zweite die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der Kunst. Was die Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als ein Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm gemacht habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die Kunst nicht ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe, seitdem ich Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise -- ich glaube kaum, daß du das verstehen wirst -- hat mir seine Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, einen durchaus neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge anders, ich denke darüber anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art festhalten, die mir früher nicht gegeben war. >Ein Traum von Form in unseren Tagen des Denkens<: wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen, aber das bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare Gegenwart dieses Knaben -- denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn er auch schon über die Zwanzig -- seine bloße sichtbare Gegenwart -- ach! ich glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich bedeutet! Ohne selbst es zu wissen, enthüllt er mir die Linien einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit des griechischen Geistes. Die Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist das doch! Wir in unserer Verblendung haben die beiden voneinander gerissen und haben uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an die Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges Geld angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum? Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein ganz feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das Wunder, nach dem ich immer gesucht und das ich nie gefunden hatte.« »Basil, das ist ja eine ganz außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian Gray kennenlernen.« Hallward schnellte von der Bank auf und ging im Garten hin und her. Nach einer Weile kam er zurück. »Harry,« sagte er, »Dorian Gray ist für mich nichts als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht fändest du gar nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen gewisser Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser Farben. Das ist alles.« »Warum aber willst du dann sein Bild nicht ausstellen?« fragte Lord Henry. »Weil ich, ohne es zu wollen, einen gewissen Ausdruck all dieser ganz merkwürdigen Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich natürlich nie zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen. Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu viel von mir selbst in dem Dinge, Harry -- zu viel von mir selbst.« »Dichter nehmen's nicht so genau wie du. Die wissen, wie einträglich es ist, Leidenschaft zu veröffentlichen. Ein gebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer ganzen Reihe von Auflagen.« »Ich finde sie darum eben abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler soll Schönes schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der Kunst eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben den klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild Dorian Grays niemals sehen.« »Ich glaube, du hast unrecht, Basil, aber ich will mit dir nicht streiten. Nur die geistig Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr lieb?« Der Maler dachte ein paar Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im Atelier und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er allerdings greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu finden, mir wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine Blume für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.« »Sommertage, Basil, pflegen manchmal lange zu währen«, murmelte Lord Henry. »Vielleicht wirst du seiner früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie die Schönheit überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns soviel Mühe geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden Existenzkampfe ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch unterrichtete Mann -- das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn dieses durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas Fürchterliches. Es gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es lauter Ungeheuerlichkeiten voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand über seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet. Immerhin, ich glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst du deinen jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas verzeichnet ist, oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben oder irgend so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst möchte man es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten ist nur, daß es einen so ganz unpoetisch zurückläßt.« »Harry, ich bitte, sprich nicht so. Solang' ich lebe, wird mich die Persönlichkeit Dorian Grays beherrschen. Du kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du wandelst dich zu oft.« »Ah, mein lieber Basil, gerade darum kann ich sie nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur die triviale Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an einem zierlichen silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine Zigarette zu rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, als hätte er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie mit glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war es doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen anderer Leute! -- weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde -- das sind die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit geheimem Vergnügen das langweilige Frühstück vor, das er durch seinen langen Besuch bei Basil Hallward versäumt hatte. Wäre er zu seiner Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody getroffen, und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern beschäftigt. Menschen jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener Tugenden gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der Arbeit. Es war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und sagte: »Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.« »Woran erinnerst du dich, Harry?« »Wo ich den Namen Dorian Grays gehört habe.« »Wo war das?« fragte Hallward mit leichtem Stirnrunzeln. »Schau' doch nicht so böse drein, Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie sei einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr im East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. Ich muß zugeben, sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch sei. Frauen haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht. Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein Freund ist.« »Ich bin sehr froh, daß du es nicht gewußt hast, Harry.« »Warum?« »Ich will nicht, daß du ihn kennenlernst.« »Du willst nicht, daß ich ihn kennenlerne?« »Nein.« »Herr Dorian Gray ist im Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten hinaustrat. »Jetzt mußt du mich vorstellen!« rief Lord Henry lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener, der blinzelnd in der Sonne dastand: »Bitten Sie Herrn Gray, zu warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.« Der Mann verbeugte sich und ging ins Haus. Dann sah der Maler Lord Henry an. »Dorian Gray ist mein teuerster Freund«, sagte er. »Er hat eine schlichte und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, was sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche nicht, Einfluß auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich. Die Welt ist groß, und es gibt eine Menge köstlicher Menschen auf ihr. Raube mir nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von ihm ab! Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr langsam, und die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu entringen. »Was für Unsinn du redest!« sagte Lord Henry lächelnd, nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in das Haus. Zweites Kapitel Als sie eintraten, erblickten sie Dorian Gray. Er saß am Klavier, mit dem Rücken ihnen zu, und blätterte in einem Notenbande mit Schumanns Waldszenen. »Die mußt du mir leihen, Basil!« rief er aus. »Ich möchte sie spielen lernen. Sie sind geradezu entzückend.« »Das hängt ganz davon ab, wie du mir heute sitzen wirst, Dorian.« »Ach, ich habe das Sitzen lange satt, und ich will gar kein lebensgroßes Bild von mir«, antwortete der Jüngling und schwang sich in dem Musikstuhl auf eine eigensinnige, launische Knabenart herum. Als er aber Lord Henry erblickte, stieg für einen Augenblick ein schwaches Rot in seine Wangen, und er sprang auf. »Ich bitte um Entschuldigung, Basil, ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist.« »Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Freund von Oxford her. Ich habe ihm gerade erzählt, wie musterhaft du sitzen kannst, und jetzt hast du alles verdorben.« »Mir haben Sie das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, nicht verdorben, Herr Gray«, sagte Lord Henry, ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat oft von Ihnen gesprochen. Sie sind einer ihrer Lieblinge und, wie ich fürchte, auch ihrer Opfer.« »Ich stehe zur Zeit auf Lady Agathas schwarzer Liste«, antwortete Dorian mit einem komisch reuigen Gesichtsausdruck. »Ich hatte ihr versprochen, sie letzten Dienstag nach einem Klub in Whitechapel zu begleiten, und ich habe dann die Abmachung vergessen. Wir sollten da miteinander vierhändig spielen -- drei Stücke glaube ich. Ich weiß nun nicht, was sie mir dazu sagen wird. Ich habe Angst, ihr einen Besuch zu machen.« »Oh, ich werde Sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist Ihnen äußerst zugetan. Und ich glaube auch, es schadet nichts, daß Sie nicht dort waren. Die Zuhörer haben sicher angenommen, es sei vierhändig gespielt worden. Wenn sich Tante Agatha ans Klavier setzt, macht sie für zwei Personen reichlich Lärm.« »Sie sprechen sehr schlecht von ihr, und mir machen Sie auch gerade kein Kompliment damit«, antwortete Dorian lachend. Lord Henry sah ihn an. Ja, er war wirklich wunderbar schön, mit seinen feingeschwungenen dunkelroten Lippen, seinen offenen blauen Augen und seinem gewellten, goldblonden Haar. In seinem Gesicht war ein Ausdruck, der sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und ebenso all die leidenschaftliche Reinheit der Jugend. Man fühlte, daß er bisher noch nicht von der Welt befleckt war. Kein Wunder, daß ihn Basil Hallward anbetete. »Sie sind viel zu hübsch, um sich mit Wohltätigkeit abzugeben, Herr Gray -- viel zu hübsch!« Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose. Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel zurechtgemacht. Er sah etwas gequält aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, blickte er zu ihm hin, sann einen Augenblick nach und sagte dann: »Harry, ich möchte das Bild heute fertig kriegen. Fändest du es sehr grob von mir, wenn ich dich jetzt bäte, uns allein zu lassen?« Lord Henry lächelte und sah Dorian Gray an. »Soll ich gehen, Herr Gray?« fragte er. »Oh, bitte, nein, Lord Henry. Ich sehe, Basil hat wieder einen seiner schlechten Tage, und ich kann ihn nicht vertragen, wenn er so brummt. Außerdem möchte ich von Ihnen erfahren, warum ich mich nicht mit Wohltätigkeit befassen soll?« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll, Herr Gray. Es ist ein so langweiliges Thema, daß man schon ernsthaft darüber reden müßte. Aber jetzt geh ich auf keinen Fall, nachdem Sie mir erlaubt haben, dazubleiben. Du hast doch nichts im Ernst dagegen, Basil? Du hast mir oft genug gesagt, daß es dir angenehm sei, wenn deine Modelle mit jemand plaudern können.« Hallward biß sich auf die Lippe. »Wenn es Dorian wünscht, wirst du natürlich dableiben. Dorians Launen sind Gesetze für jedermann, außer für ihn selbst.« Lord Henry nahm seinen Hut und seine Handschuhe. »Trotz deiner dringenden Aufforderung, Basil, fürchte ich, gehen zu müssen. Ich habe mit jemand eine Verabredung im Orleans-Klub. Adieu, Herr Gray! Bitte, besuchen Sie mich doch mal eines Nachmittags in Curzon Street. Um fünf Uhr treffen Sie mich fast immer. Schreiben Sie mir, bitte, wann Sie kommen. Es täte mir sehr leid, wenn Sie mich verfehlten.« »Basil,« rief Dorian Gray, »wenn Lord Henry Wotton geht, dann gehe ich auch. Du bringst ja beim Malen nie die Lippen auseinander, und es ist furchtbar ermüdend, auf einem Podium zu stehen und sich anzustrengen, freundlich auszusehen. Bitte ihn, dazubleiben. Ich bestehe darauf.« »Bleib, Harry, du machst Dorian damit ein Vergnügen und auch mir«, sagte Hallward, ohne von seinem Bilde aufzublicken. »Er hat ganz recht, ich spreche nie ein Wort während der Arbeit und höre ebensowenig zu, und das muß sehr langweilig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte dich also, bleib.« »Was fange ich aber mit meinem Mann im Orleans an?« Der Maler lachte. »Ich glaube, damit wird es keine Schwierigkeit haben. Setz dich nur wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, geh auf das Podium und bewege dich nicht zuviel und achte auch nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr bösen Einfluß auf alle seine Freunde, nur mich ausgenommen.« Dorian Gray bestieg das Podium mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers und stieß, zu Lord Henry gewandt, der ihm gleich gut gefallen hatte, einen kleinen drolligen Seufzer aus. Dieser Mann war so ganz anders als Basil. Die beiden bildeten einen entzückenden Gegensatz. Und er hatte ein so schönes Organ. Nach ein paar Augenblicken sagte Dorian zu ihm: »Haben Sie wirklich einen so bösen Einfluß, Lord Henry? Ist es so arg, wie Basil sagt?« »Es gibt keinen sogenannten guten Einfluß, Herr Gray. Jeder Einfluß ist unmoralisch -- unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus.« »Wieso?« »Weil jemand beeinflussen soviel ist wie ihm die eigene Seele leihen. Er denkt dann nicht mehr seine natürlichen Gedanken und brennt nicht mehr in seinem natürlichen Feuer. Seine Tugenden sind gar nicht seine Tugenden. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind nur ausgeborgte. Er wird ein Echo für die Töne eines anderen, Schauspieler einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Der Sinn des Daseins ist: Selbstentwicklung. Die eigene Natur voll zum Ausdruck zu bringen -- diese Aufgabe hat jeder von uns hier zu lösen. Heutzutage hat jeder Mensch Angst vor sich. Sie haben ihre heiligste Pflicht vergessen, nämlich die gegen sich selbst. Natürlich sind sie wohltätig. Sie nähren den Hungernden und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen darben und gehen nackt. Der Mut ist unserem Geschlecht abhanden gekommen. Vielleicht haben wir ihn nie wirklich besessen. Die Furcht vor der Gesellschaft als der Grundlage der Sittlichkeit, und die Furcht vor Gott, als dem Geheimnis der Religion -- das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch --« »Dorian, dreh den Kopf mal ein wenig mehr nach rechts, sei so gut«, sagte der Maler, der ganz in sein Werk vertieft war, aber doch gemerkt hatte, daß in des Jünglings Gesicht ein Ausdruck getreten war, den er vorher nie darin gesehen hatte. »Und doch,« fuhr Lord Henry mit seiner tiefen musikalischen Stimme fort, während er die Hand in der anmutigen Art bewegte, die er schon seinerzeit in Eton gehabt hatte, »ich glaube, wenn die Menschen nur ihr eigenes Leben voll, bis auf den letzten Rest ausleben würden, jedes Gefühl Gestalt bekommen lassen, jeden Gedanken ausdrücken, jeden Traum in Dasein umsetzen wollten -- ich glaube, dann käme in die Welt ein solcher Schwung von neuer Freudigkeit, daß wir alle die Krankheiten des Mittelalters vergäßen und zum hellenischen Ideal zurückkehrten, ja wir kämen vielleicht zu etwas Feinerem und Reicherem, als das hellenische Ideal war. Aber selbst der Tapferste unter uns hat Angst vor sich selber. Die Selbstverstümmelung der Wilden hat ihr tragisches Überbleibsel in der Selbstverleugnung, die unser Leben verstümmelt. Wir büßen für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, frißt im Innern weiter und vergiftet uns. Der Körper sündigt nur einmal und hat sich durch die Sünde befreit, denn Tat ist immer eine Art Reinigung. Nichts bleibt davon zurück als die Erinnerung an ein Vergnügen oder die schmerzliche Wollust der Reue. Der einzige Weg, eine Versuchung zu bestehen, ist, sich ihr hinzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre Seele erkrankt vor Sehnsucht nach der Erfüllung, die sie sich selber verweigert hat, erkrankt vor dem Verlangen nach dem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuerlich und ungesetzmäßig gemacht haben. Es ist wohl gesagt worden, die großen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn vor sich. Im Gehirn und ganz allein im Gehirn werden auch die großen Sünden der Welt begangen. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrer rosenroten Jugend und Ihrer rosenblassen Knabenunschuld, Sie haben schon Leidenschaften erlebt, die Ihnen Angst einjagten, haben Gedanken gehabt, die Sie in Schrecken setzten, haben wachend und schlafend Träume gehabt, deren bloße Erinnerung Ihre Wangen schamrot werden ließ --« »Hören Sie auf,« stammelte Dorian Gray, »hören Sie auf, Sie machen mich ganz wirr. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort darauf, aber ich kann sie nicht finden. Sagen Sie nichts mehr! Lassen Sie mich nachdenken. Oder vielmehr, lassen Sie mich versuchen, dem nicht nachzudenken.« Etwa zehn Minuten stand er bewegungslos da, mit halboffenen Lippen und seltsam leuchtenden Augen. Er war sich dumpf bewußt, daß ganz neue Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch schien es, als kämen sie in Wirklichkeit aus seinem eigenen Innern. Die paar Worte, die Basils Freund zu ihm gesagt hatte -- ohne Zweifel zufällig hingeworfene Worte voll absichtlicher Paradoxie -- hatten eine geheime Saite seiner Seele berührt, die vordem nie berührt worden war, die er aber nun zittern und in seltsamer Wildheit schluchzen hörte. Musik hatte ihn so ähnlich aufgewühlt. Musik hatte ihn oft in Aufruhr gebracht. Aber Musik war etwas Unbestimmtes. Sie bringt keine neue Welt in uns hervor; schafft eher ein neues Chaos in uns. Worte! Bloße Worte! Wie schrecklich die waren! Wie klar und lebendig und grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und doch, welch tiefer Zauber steckte in ihnen! Sie schienen die Kraft zu haben, formlosen Dingen eine greifbare Gestalt zu geben, und schienen eine Musik in sich zu bergen, so süß wie die der Geige oder der Laute. Bloße Worte! Gab es denn irgend etwas so Wirkliches wie Worte? Ja; es hatte in seiner Knabenzeit Dinge gegeben, die ihm unbegreiflich geblieben waren. Jetzt verstand er sie. Plötzlich bekam das Leben für ihn lodernde Farben. Nun schien es ihm, als sei er mittenhin durch Feuer gewandelt. Warum hatte er es nie gemerkt? Lord Henry beobachtete ihn mit einem feinspürenden Lächeln. Er verstand sich gut auf jenen psychologischen Moment, in dem man kein Wort sagen darf. Er fühlte sich sehr stark interessiert. Die jähe Wirkung seiner Worte machte ihn erstaunen; nun entsann er sich eines Buches, das er mit sechzehn Jahren gelesen und das ihm viel bis dahin Unbekanntes enthüllt hatte, und er fragte sich, ob Dorian Gray jetzt wohl eine ähnliche Erfahrung erlebe. Er hatte nur einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er das Ziel getroffen? Wie anziehend doch dieser Junge war! Inzwischen malte Hallward in jenen wundervollen, kühnen Zügen weiter, die das Zeichen aller wahren Feinheit und Vollkommenheit sind, denn die kann der Kunst nur aus der Kraft werden. Er merkte die wortlose Stille gar nicht. »Basil, ich habe jetzt genug von dem Stehen!« rief Dorian plötzlich aus. »Ich muß hinaus und mich im Garten hinsetzen. Die Luft hier ist zum Ersticken.« »Mein Bester, das tut mir wirklich leid. Wenn ich male, kann ich an nichts anderes denken. Aber du hast nie besser Modell gestanden. Du warst ganz ruhig. Und ich habe endlich den Ausdruck herausgebracht, den ich gesucht habe -- die halb offenen Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiß nicht, was Harry dir erzählt hat, aber sicher hat er es bewirkt, daß du den prachtvollsten Ausdruck hast. Ich vermute, er hat dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nur kein einziges Wort glauben.« »Er hat mir nicht das kleinste Kompliment gemacht. Vielleicht ist das der Grund, daß ich wirklich kein Wort von dem glaube, was er gesagt hat.« »Sie wissen selbst, daß Sie jedes Wort davon glauben«, erwiderte Lord Harry, der ihn mit seinen weichen, träumerischen Augen ansah. »Wir wollen zusammen in den Garten gehen. Es ist furchtbar heiß hier im Atelier. Basil, laß uns irgendein Eisgetränk geben, irgendwas mit Erdbeeren darin.« »Gern, Harry. Klingele nur selbst, und wenn Parker kommt, will ich ihm sagen, was Ihr haben wollt. Ich muß erst den Hintergrund hier noch fertig machen und komme dann später nach. Halte mir Dorian aber nicht zu lange fest. Ich war nie in besserer Malstimmung als heute. Dies Porträt wird mein Meisterwerk. Wie es da steht, ist es schon mein Meisterwerk.« Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand dort Dorian Gray, wie er sein Gesicht hinter den großen, kühlen Blütenbüscheln der Fliedersträuche versteckte und fieberhaft ihren Duft einsog, als tränke er Wein. Er trat nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Achsel. »Sie haben ganz recht, so zu tun«, sagte er leise. »Nichts hilft der Seele besser als die Sinne, sowie den Sinnen nichts besser als die Seele helfen kann.« Der Jüngling schreckte auf und trat einen Schritt zurück. Er war ohne Hut, und das Blattgewirr hatte seine widerspenstigen Locken aufgewühlt und ihre goldblonden Strähnen in Unordnung gebracht. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Furcht, wie ihn Menschen haben, die man jäh aus dem Schlaf reißt. Seine zartgeformten Nasenflügel bebten, und ein geheimer Nerv zuckte leis an den scharlachroten Lippen, so daß sie beständig zitterten. »Ja,« fuhr Lord Henry fort, »das ist eines der großen Geheimnisse des Daseins -- die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele heilen können. Sie sind ein wunderbares Menschenkind! Sie wissen mehr, als Ihnen bewußt ist, gerade wie Sie weniger wissen, als Ihnen dienlich ist.« Dorian Gray runzelte die Stirn und wendete den Kopf weg. Ein unwiderstehlicher Reiz zog ihn zu diesem großen, anmutigen jungen Mann hin, der da neben ihm stand. Sein romantisches, olivenfarbiges Gesicht und der müde Ausdruck darin fesselten ihn. Es war etwas in dem müden Ton seiner Stimme, was völlig in Bann schlug. Auch seine Hände, kühl, weiß und blumenhaft, zogen an. Sie bewegten sich bei seinen Worten, begleiteten sie wie Musik und schienen ihre eigene Sprache zu reden. Aber er hatte auch Angst vor ihm und schämte sich dieser Angst. Warum hatte ein Fremder kommen müssen, um ihn sich selber zu offenbaren? Er kannte Basil Hallward nun seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte ihn niemals verwandelt. Jetzt war plötzlich jemand in sein Leben getreten, der ihm des Lebens Mysterium enthüllt zu haben schien. Und doch, wovor sollte er sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein kleines Mädchen. Es war töricht, Angst zu haben. »Kommen Sie und setzen wir uns in den Schatten«, sagte Lord Henry. »Parker hat uns was zu trinken gebracht, und wenn Sie noch länger in solcher Sonnenglut stehenbleiben, werden Sie sich Ihren Teint verderben, und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich nicht von der Sonne verbrennen lassen. Es würde Ihnen schlecht stehen.« »Was läge weiter daran?« rief Dorian Gray und lachte, als er sich auf eine Bank am Ende des Gartens setzte. »Alles sollte Ihnen daran liegen, Herr Gray.« »Wieso?« »Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend ist das einzige, dessen Besitz einen Wert hat.« »Ich empfinde das nicht, Lord Henry.« »Nein, jetzt empfinden Sie es nicht. Später einmal, wenn Sie alt, runzlig und häßlich sind, wenn das Denken Furchen in Ihre Stirne gegraben und die Leidenschaft Ihre Lippen mit ihrem schrecklichen Feuer verbrannt hat, dann werden Sie es empfinden, furchtbar empfinden. Jetzt können Sie hingehen, wo Sie wollen, und Sie berücken die ganze Welt! Wird das immer so sein?... Sie haben ein wundervoll schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn. Sie haben es. Und Schönheit ist eine Form des Genies -- steht in Wahrheit noch höher als das Genie, da sie keinerlei Erklärung bedarf. Sie ist eine der großen Lebenstatsachen, wie das Sonnenlicht oder der Lenz oder wie in dunkeln Gewässern der Widerschein der Silbermuschel, die wir Mond nennen. Sie kann nicht bestritten werden. Sie hat ein göttliches, erhabenes Recht. Wer sie hat, den macht sie zu einem Prinzen. Sie lächeln? Oh, wenn Sie sie verloren haben, lächeln Sie nicht mehr... Die Leute sagen manchmal, Schönheit sei nur etwas Äußerliches. Mag sein. Aber zum mindesten ist sie nicht so äußerlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit aller Wunder Wunder. Nur die Hohlköpfe urteilen nicht nach dem Äußeren. Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare... Ja, Herr Gray, die Götter haben es gut mit Ihnen gemeint. Aber was die Götter schenken, rauben sie bald wieder. Sie haben nur ein paar Jahre, wo Sie wahrhaftig vollkommen, restlos leben können. Indem Ihre Jugend verrauscht ist, nimmt sie die Schönheit mit, und dann werden Sie plötzlich entdecken, daß Ihrer keine Siege mehr warten, oder daß Sie sich mit jenen traurigen Siegen werden begnügen müssen, die Ihnen die Erinnerung an die Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. Jeder Monat, der dahingeht, bringt Sie näher einem schrecklichen Ziele. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und kämpft gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden fahl und hohlwangig, und Ihre Augen werden sich trüben. Sie werden unsäglich leiden... Ach! leben Sie Ihre Jugend, solange sie da ist. Vergeuden Sie das Gold Ihrer Tage nicht, leihen Sie Ihr Ohr nicht den Philistern, mühen Sie sich nicht, hoffnungslose Verhängnisse zu verbessern, geben Sie Ihr Leben nicht den Unwissenden, Niedrigen, den gemeinen Leuten hin! Das sind die kranken Ziele, die falschen Ideale unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wunderschöne Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts verloren sein! Suchen Sie rastlos nach neuen Sinneseindrücken! Fürchten Sie nichts... Ein neuer Hedonismus -- der täte unserem Jahrhundert not. Sie könnten sein sichtbares Symbol werden. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles wagen. Die Welt gehört Ihnen einen Sommer hindurch... Im Augenblick, da ich Sie sah, merkte ich, daß Sie keine Ahnung davon haben, was Sie wirklich sind, was Sie wirklich sein könnten. So viel in Ihnen entzückte mich, daß ich förmlich gezwungen war, Ihnen etwas über Ihre Natur zu sagen. Ich dachte mir, welche Tragik darin läge, wenn Sie vergebens lebten. Denn Ihre Jugend währt nur so kurze Zeit -- so kurze Zeit. Die alltäglichen Wiesenblumen welken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen wird im nächsten Juni genau so gelb sein wie heute. In einem Monat setzt die Klematis purpurne Sterne an, und Jahr für Jahr umhüllt die grüne Nacht ihrer Blätter solche Purpursterne. Aber wir Menschen bekommen unsere Jugend nie wieder. Die Freude, die den Puls des Zwanzigjährigen peitscht, läßt nach. Unsere Glieder versagen, die Sinne werden seicht. Wir verkommen und werden greuliche Verpuppungen, werden verfolgt von den Erinnerungen an die Leidenschaften, vor denen wir zurückgeschreckt sind, und an die reizenden Versuchungen, denen zu erliegen wir nicht den Mut hatten. Jugend! Jugend! Es gibt in der Welt nichts weiter als Jugend!« Dorian Gray hörte zu, mit aufgerissenen Augen und staunend. Der Fliederzweig, den er in der Hand hielt, fiel auf den Kies. Eine Biene in ihrem Pelzkleid schoß her und umsummte ihn einen Augenblick. Dann krabbelte sie eifrig auf den kleinen Blumensternen herum. Er beobachtete sie mit dem seltsamen Interesse an gewöhnlichen Dingen, das wir in uns heranzubilden suchen, wenn wir uns vor entscheidenden Dingen fürchten, oder wenn uns ein neues Gefühl erschüttert, für das wir noch keine Formel haben, oder wenn ein schrecklicher Gedanke das Hirn umklammert und verlangt, daß wir uns ihm ausliefern sollen. Nach einer Weile schwirrte die Biene weg. Er sah sie in den bunten Trompetentrichter einer tyrischen Winde kriechen. Die Blume schien zusammenzuzucken und bewegte sich dann mit Grazie hin und her. Plötzlich erschien der Maler unter der Tür des Ateliers und forderte sie mit kurzen wiederholten Zeichen auf, hereinzukommen. Sie sahen sich einander an und lächelten. »Ich warte!« rief er. »Kommt herein! Das Licht ist ganz prächtig, und ihr könnt eure Gläser mitbringen.« Sie standen auf und schlenderten den Weg zurück. Zwei grünlichweiße Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und in dem Birnbaum an der Gartenecke begann eine Drossel zu flöten. »Es freut Sie, mich kennengelernt zu haben, Herr Gray?« fragte Lord Henry und blickte ihn an, »Ja, jetzt bin ich erfreut darüber. Ich weiß nicht, ob ich's immer sein werde!« »Immer! das ist ein schreckliches Wort. Ich schaudere, wenn ich es höre. Die Frauen haben es so gern. Sie zerstören sich jedes Abenteuer, indem sie ihm Ewigkeit verleihen wollen. Außerdem ist es ein sinnloses Wort. Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer Leidenschaft, die ein Leben lang dauert, ist, daß die Laune ein bißchen länger dauert.« Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys Arm. »Lassen Sie also unsere Freundschaft eine Laune sein«, sagte er leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Dann bestieg er das Podium und nahm wieder seine Stellung ein. Lord Henry warf sich in einen bequemen Korbsessel und beobachtete ihn. Das Hin- und Herfahren des Pinsels auf der Leinwand war das einzige, die Stille unterbrechende Geräusch, nur manchmal hörte man den Schritt Hallwards, wenn er zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu prüfen. In den schrägen Sonnenstrahlen, die durch die offene Tür fluteten, tanzte der Staub in goldenen Schuppen. Über allem lagerte der schwere Duft der Rosen. Als etwa eine Viertelstunde vergangen war, hörte Hallward zu malen auf, betrachtete Dorian lange Zeit, sah dann lange auf das Bildnis, nagte an dem Stiel eines seiner großen Pinsel und runzelte die Stirn. »Ganz fertig«, rief er endlich, bückte sich und schrieb in großen grellroten Lettern seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand. Lord Henry trat heran und betrachtete das Bild mit Kennerblick. Es war in der Tat ein wunderbares Kunstwerk und auch wunderbar ähnlich. »Lieber Junge,« sagte er, »ich wünsche dir herzlich Glück. Es ist das beste Porträt unserer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen Sie selbst!« Der Jüngling schrak wie aus einem Traume auf. »Ist es wirklich fertig?« murmelte er, als er vom Podium herabstieg. »Ganz fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend Modell gestanden. Ich bin dir sehr, sehr dankbar.« »Das ist nur mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr Gray?« Dorian gab keine Antwort, sondern trat, ohne hinzuhören, vor sein Bild und wandte sich dem Werke zu. Als er es sah, zuckte er zusammen, und seine Wangen röteten sich einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der Freude blitzte in seinen Augen, als erkenne er sich selbst jetzt zum ersten Male. Bewegungslos und in Staunen versunken, stand er da und merkte dumpf, daß Hallward zu ihm sprach, ohne daß er den Sinn der Worte erfaßte. Das Gefühl seiner eigenen Schönheit kam über ihn wie eine Offenbarung. Er hatte es nie vorher empfunden. Basil Hallwards Komplimente hatte er nur für liebenswürdige Übertreibungen der Freundschaft gehalten. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sein Wesen hatten sie niemals beeinflußt. Dann war Lord Henry Wotton gekommen mit seinem sonderbaren Hymnus auf die Jugend, seiner schrecklichen Warnung von ihrer Flüchtigkeit. Das hatte ihn rechtzeitig aufgerüttelt, und als er jetzt dastand und das Abbild der eigenen Schönheit betrachtete, durchdrang ihn die volle Wirklichkeit jener Schilderung. Ja, der Tag mußte kommen, da sein Gesicht verrunzelt und verwelkt, die Augen trüb und farblos, die Anmut seiner Gestalt geknickt und entstellt sein würde. Das Scharlachrot der Lippen würde verblassen, der Goldglanz des Haares sich wegstehlen. Das Leben, das von seiner Seele gebildet wurde, zerstörte seinen Körper. Er würde häßlich, abscheuerregend und formlos werden. Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz wie ein Messerstich und ließ die feinsten Nerven seines Ichs erbeben. Seine Augen verdunkelten sich zu Amethysten, und ein Tränenflor umschleierte sie. Es war, als hätte sich ihm eine eiskalte Hand aufs Herz gelegt. »Gefällt es dir nicht?« rief endlich Hallward, ein wenig gereizt durch das Schweigen des Jünglings, dessen Grund er nicht begriff. »Natürlich gefällt's ihm«, sagte Lord Henry. »Wem würde es nicht gefallen? Es gehört zu den größten Werken der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Betrag dafür, den du verlangst. Ich muß es haben.« »Es gehört nicht mir, Harry.« »Wem denn?« »Dorian natürlich«, antwortete der Maler. »Da hat er Glück...« »Wie traurig!« flüsterte Dorian und hielt die Augen noch immer fest auf das Bild gerichtet. »Wie traurig! Ich werde alt werden und häßlich und widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über den heutigen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich ewig jung bliebe und dafür das Bild altern könnte! Dafür -- dafür -- gäbe ich alles! Ja, nichts in aller Welt wäre mir dafür zuviel! Ich gäbe meine Seele dafür!« »Dieser Tausch würde dir schwerlich passen, Basil«, rief Lord Henry lachend. »Das wäre schlimm für dein Bild.« »Ich würde mich ernstlich dagegen wehren, Harry«, sagte Hallward. Dorian Gray wandte sich zu ihm und sah ihn an. »Ich bin davon überzeugt, Basil. Die Kunst ist dir mehr als deine Freunde. Ich bedeute für dich nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht kaum so viel, müßte ich sagen.« Der Maler war starr vor Erstaunen. So zu sprechen sah Dorian gar nicht ähnlich. Was war geschehen? Er schien ganz erregt. Sein Gesicht war gerötet, und die Wangen brannten. »Ja,« fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dieser Hermes aus Elfenbein oder der silberne Faun da. Die wirst du immer liebbehalten. Wie lange wirst du mich liebhaben? Vermutlich bis die erste Runzel mein Gesicht entstellt. Ich weiß jetzt, wenn man erst seine Schönheit verliert, hat man alles verloren. Dein Bild hat mich dies gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was Wert hat auf der Welt. Sowie ich entdecke, daß ich alt werde, bringe ich mich um.« Hallward wurde bleich und faßte ihn bei der Hand. »Dorian, Dorian!« rief er, »sage so etwas nicht. Ich habe nie einen Freund gehabt wie dich und werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht auf leblose Dinge eifersüchtig? Du, der schöner ist als irgendeines von ihnen.« »Ich bin eifersüchtig auf jedes Ding, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren muß? Jeder Augenblick, der verfliegt, raubt mir etwas und schenkt ihm etwas. Oh, wenn es doch umgekehrt wäre! Wenn sich das Bild verändern und ich immer bleiben könnte, wie ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? Es wird mich dereinst verhöhnen -- furchtbar verhöhnen!« Die heißen Tränen traten ihm in die Augen, er zog seine Hand weg, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in den Kissen, als betete er. »Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler bitter. Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray -- sonst nichts.« »Das ist er nicht.« »Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu schaffen?« »Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, grollte er. »Ich blieb, als du mich darum batest«, war Lord Henrys Erwiderung. »Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen beiden besten Freunden Streit anfangen, aber ihr beide habt schuld, daß ich das beste Stück, das mir je gelungen ist, hassen muß, und ich werde es vernichten. Ist es schließlich mehr als Leinwand und Farbe? Ich will es nicht eingreifen lassen in drei Leben und sie zerstören.« Dorian Gray hob seinen goldschimmernden Kopf von dem Kissen und blickte ihn mit bleichem Gesicht und tränenfeuchten Augen an, als er zu dem Maltische aus Kiefernholz trat, der unter dem hohen verhängten Fenster stand. Was wollte Basil beginnen? Seine Finger wühlten zwischen dem Wust von Blechtuben und trockenen Pinseln herum, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange Schabmesser mit der schmalen Klinge aus schmiegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er wollte die Leinwand zerschlitzen. Mit einem erstickten Schluchzen sprang der Jüngling vom Diwan auf, schoß auf Hallward zu, riß ihm das Messer aus der Hand und schleuderte es in den äußersten Winkel des Ateliers. »Tu es nicht, Basil, tu es nicht«, schrie er. »Es wäre Mord.« »Ich freue mich, daß dir meine Arbeit endlich doch gefällt, Dorian«, sagte der Maler kühl, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. »Ich hätte es gar nicht geglaubt.« »Gefällt? Ich bin verliebt in dies Bild, Basil. Es ist ja ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.« »Schön, sobald du trocken bist, sollst du gefirnißt, gerahmt und zu dir hingeschickt werden. Dann kannst du mit dir anfangen, was dir beliebt.« Er schritt durch den Raum und klingelte nach Tee. »Du trinkst doch Tee, Dorian? Du auch, Harry? Oder machst du dir nichts aus so einfachen Genüssen?« »Ich bete einfache Genüsse an«, sagte Lord Henry. »Sie sind die letzte Zuflucht komplizierter Naturen. Aber für Szenen schwärme ich nicht, außer auf der Bühne. Was für tolle Burschen seid ihr doch, ihr beide! Wer war es doch gleich, der den Menschen als ein vernünftiges Tier definiert hat? Das war eine der voreiligsten Definitionen, die je aufgestellt wurden. Der Mensch hat eine ganze Menge Eigenschaften, aber gewiß keine Vernunft. Alles in allem übrigens: Gott sei Dank, obwohl mir's eigentlich lieber wäre, ihr beiden Wirbelköpfe zanktet euch nicht um das Bild. Du solltest es lieber mir gegeben haben, Basil. Dieses törichte Knäblein braucht es eigentlich gar nicht, und ich brauche es sehr.« »Wenn du es einem anderen geben willst als mir, Basil, verzeihe ich es dir nie«, rief Dorian Gray; »und ich erlaube niemand, mich ein törichtes Knäblein zu nennen.« »Du weißt, Dorian, das Bild gehört dir. Ich hab' es dir geschenkt, noch ehe es vorhanden war.« »Und Sie wissen, Herr Gray, daß Sie ein wenig töricht waren und daß Sie ernstlich gar nichts dagegen haben können, an Ihre große Jugend erinnert zu werden.« »Heute früh hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.« »Ah! heute früh. Seitdem haben Sie einiges erlebt.« Es klopfte an die Tür, und der Diener trat mit einem besetzten Teebrett ein und servierte auf einem kleinen japanischen Tisch den Tee. Die Tassen und Löffel klapperten, und ein georgischer Samowar begann zu summen. Zwei gewölbte chinesische Porzellanschüsseln wurden von einem jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray ging hin und goß den Tee ein. Die beiden Männer schlenderten zum Tische und sahen nach, was unter den Deckeln der Schüsseln war. »Wir wollen heute abend ins Theater gehen«, meinte Lord Henry. »Irgendwo wird sicher was los sein. Ich habe zwar zugesagt, im White-Klub zu soupieren, aber mich erwartet nur ein alter Freund; ich kann ihm also ein Telegramm schicken, daß ich nicht wohl sei oder infolge einer späteren Verabredung nicht kommen könne. Das würde ich für eine reizende Entschuldigung halten. Sie hat einen förmlich überraschenden Duft von Aufrichtigkeit.« »Es ist so lästig, sich den Frack anzuzerren«, murmelte Hallward. »Und wenn man ihn anhat, sieht man so gräßlich aus.« »Ja,« antwortete Lord Henry träumerisch, »die Kleidung des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so deprimierend. Die Sünde ist noch das einzig Farbenfreudige, das im modernen Leben übriggeblieben ist.« »Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry!« »Vor welchem Dorian? Vor dem, der uns den Tee einschenkt, oder dem anderen auf dem Bilde?« »Vor keinem.« »Ich ginge gerne mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der Jüngling. »Dann kommen Sie doch. Und du auch, Basil, nicht wahr?« »Ich kann nicht, wirklich nicht. Es ist mir lieber so. Ich habe eine Unmenge zu tun.« »Schön also. Dann müssen wir zwei allein gehen, Herr Gray.« »Ich freue mich riesig darauf.« Der Maler biß sich auf die Lippe und schritt, die Teetasse in der Hand, zum Bilde. »Ich bleibe hier bei dem wirklichen Dorian«, sagte er traurig. »Ist das der wirkliche?« rief das Original und ging gleichfalls langsam zu ihm hin. »Bin ich wirklich so?« »Ja, genau so bist du.« »Wie wundervoll, Basil!« »Du siehst wenigstens jetzt so aus. Aber das Bild wird sich nie ändern«, seufzte Hallward. »Das ist schon etwas.« »Was man heute für ein großes Wesen aus der Treue macht!« rief Lord Henry aus. »Und doch ist sie selbst in der Liebe eine rein physiologische Frage. Sie hat auch nicht das mindeste mit unserem eigenen Willen zu tun. Junge Männer wären gerne treu und sind es nicht; alte würden gerne untreu sein und können es nicht: das ist alles, was sich darüber sagen läßt.« »Geh heute abend nicht ins Theater, Dorian«, bat Hallward. »Bleibe hier und speise mit mir.« »Ich kann nicht, Basil.« »Warum?« »Weil ich Lord Henry Wotton zugesagt habe, ihn zu begleiten.« »Er wird dir darum nicht mehr zugetan sein, wenn du so treu deine Versprechungen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu gehen.« Dorian Gray schüttelte lachend den Kopf. »Ich beschwöre dich.« Der junge Mann schwankte und blickte zu Lord Henry hinüber, der die beiden mit einem belustigten Lächeln vom Teetische aus beobachtete. »Ich muß mit, Basil«, antwortete er. »Schön«, sagte Hallward und ging zum Tische hinüber, wo er seine Tasse hinstellte. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umziehen müßt, habt ihr keine Zeit mehr zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald wieder. Komm morgen.« »Bestimmt.« »Aber nicht vergessen!« »Nein, natürlich nicht!« rief Dorian. »Und... Harry!« »Ja, Basil?« »Vergiß nicht, was ich dir sagte, als wir am Vormittag im Garten saßen.« »Ich habe es vergessen.« »Ich vertraue dir.« »Ich wünschte, ich könnte mir selbst vertrauen«, sagte Lord Henry lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Adieu, Basil! Es war ein sehr unterhaltender Nachmittag.« Als sich die Tür hinter ihnen schloß, warf sich der Maler auf den Diwan, und in sein Gesicht trat ein schmerzlicher Ausdruck. Drittes Kapitel Um zwölfeinhalb Uhr am nächsten Tage schlenderte Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany hinüber, um einen Besuch zu machen bei seinem Onkel Lord Fermor, einem heiteren, aber ziemlich rauhen alten Junggesellen, den die Außenwelt einen Egoisten nannte, weil sie keinen besonderen Nutzen aus ihm ziehen konnte, der aber in der Gesellschaft als freigebig verschrien war, weil er die Leute, die ihn amüsierten, aufs beste fütterte. Sein Vater war britischer Gesandter in Madrid gewesen, als Isabella noch jung war und man noch nichts von Prim wußte, hatte sich aber in einem Augenblicke launischen Ärgers aus dem diplomatischen Dienste zurückgezogen, weil man ihm nicht den Gesandtenposten in Paris angeboten hatte, zu dem er sich vollauf berechtigt geglaubt hatte durch seine Geburt, seine Arbeitsunlust, sein gutes Englisch in seinen Depeschen und durch seine zügellose Vergnügungssucht. Der Sohn, der des Vaters Privatsekretär gewesen war, hatte mit seinem Chef zugleich den Abschied genommen, was man damals ziemlich verrückt fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte er sich ernstlich dem großen aristokratischen Studium gewidmet, absolut nichts zu tun. Er besaß zwei große Häuser in der Stadt, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu hausen, weil das weniger Umstände machte, und speiste meistens im Klub. Er beschäftigte sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlenminen in den Midlandgrafschaften und entschuldigte diese verwerfliche industrielle Tätigkeit damit, daß er sagte, der einzige Vorteil, Kohlen zu besitzen, sei der, es einem Gentleman möglich zu machen, in seinem eigenen Kamin Holz zu brennen. Politisch war er ein Tory, außer wenn die Tories Regierungspartei waren, denn in solchen Zeiten verlästerte er sie und schimpfte sie radikales Gesindel. Er war ein Held für seinen Kammerdiener, der ihn drangsalierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er drangsalierte. Nur England konnte ihn erzeugt haben, und er selber sagte immer, daß das Land mehr und mehr auf den Hund käme. Seine Grundsätze waren altmodisch, aber an seinen Vorurteilen war etwas dran. Als Lord Henry ins Zimmer trat, fand er seinen Onkel in einem flockigen Jagdrock, eine ziemlich wohlfeile Zigarre im Munde und brummend in den »Times« lesend. »Na, Harry,« sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh her? Ich dachte immer, ihr Dandies steht nie vor zwei Uhr auf und werdet nie vor fünf Uhr sichtbar.« »Reine Familienliebe, auf mein Wort, Onkel Georg; ich brauche etwas von dir.« »Geld vermutlich«, sagte Lord Fermor und machte ein saures Gesicht. »Na gut, so setz' dich und sag' mir alles. Ihr jungen Leute von heutzutage bildet euch ein, das Geld wäre alles.« »Ja,« brummelte Lord Henry, während er seine Blume im Knopfloch zurechtrückte, »und wenn sie älter werden, dann wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen Geld, Onkel Georg, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines zweitältesten Sohnes, und man kann brillant davon leben. Außerdem kaufe ich immer bei Dartmoors Lieferanten, und daher habe ich nie Scherereien. Was ich brauche, ist eine Auskunft, keine nützliche Auskunft natürlich, sondern nur eine wertlose.« »Ich kann dir alles sagen, Harry, was je in einem englischen Blaubuch gestanden hat, obwohl diese Bengels heutzutage einen Haufen Unsinn zusammensudeln. Als ich noch Diplomat war, lagen die Dinge besser. Aber ich höre, man stellt jetzt die Leute auf Grund einer Prüfung ein. Was kann man da noch erwarten? Prüfungen, mein Bester, sind der reine Humbug von A bis Z. Wenn einer Gentleman ist, weiß er schon genug, und wenn er kein Gentleman ist, so mag er alles Mögliche wissen, es hilft ihm doch nichts.« »Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu schaffen«, sagte Lord Henry in seinem schläfrigen Tone. »Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor, seine buschigen weißen Augenbrauen zusammenkneifend. »Um das zu erfahren, bin ich gerade hergekommen, Onkel Georg. Oder genauer gesagt, wer es ist, weiß ich. Nämlich der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich möchte, daß du mir etwas über seine Mutter erzählst. Was weißt du von ihr? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit doch so ziemlich alle Leute gekannt, also wahrscheinlich auch sie. Ich interessiere mich gegenwärtig ungemein für Herrn Gray. Ich habe ihn erst gestern kennengelernt.« »Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! ... natürlich ... ich war mit seiner Mutter sehr intim. Ich glaube, ich war sogar bei ihrer Taufe. Es war ein ganz außergewöhnlich schönes Mädchen, diese Margaret Devereux, und hat dann alle jungen Männer toll gemacht, als sie mit einem jungen Habenichts davonlief, einer absoluten Null, mein Bester, einem Fähnrich bei der Infanterie oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere mich jetzt an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern passiert. Der arme Kerl wurde dann ein paar Monate nach der Hochzeit in einem Duell in Spa getötet. Man erzählte damals eine häßliche Geschichte darüber. Man sagte, der alte Kelso hätte irgendeinen Schuft, so einen Abenteurer aus Belgien gemietet, um seinen Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, hätte ihn dafür bezahlt, mein Bester, einfach bezahlt, damit er es täte, und dieser Kerl spießte dann sein Opfer auf wie eine Taube. Die Geschichte wurde natürlich vertuscht, aber Kelso mußte eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub essen. Ich hörte, er brachte seine Tochter wieder mit, doch sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. O jawohl, das war eine böse Sache. Das Mädel starb dann auch, kaum ein Jahr später. So, sie hat also einen Sohn hinterlassen? Das hatte ich ganz vergessen. Was für ein Junge ist es denn? Wenn er seiner Mutter ähnlich sieht, muß es ein hübsches Kerlchen sein.« »Er ist sehr hübsch«, stimmte Lord Henry bei. »Ich hoffe, er wird in die rechten Hände kommen«, fuhr der alte Mann fort. »Es muß ein Haufen Geld auf ihn warten, wenn Kelso pflichtgemäß an ihm handelte. Seine Mutter hatte übrigens auch Geld. Der ganze Selbysche Besitz fiel ihr durch ihren Großvater zu. Ihr Großvater haßte Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Köter. War es übrigens auch. Er kam mal nach Madrid, als ich dort war. Na, ich mußte mich des Kerls schämen. Die Königin pflegte mich nach dem englischen Edelmann zu fragen, der sich immer mit den Kutschern über die Taxe zankte. Man machte einen ganzen Roman daraus. Ich wagte einen Monat lang nicht, bei Hof zu erscheinen. Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die Droschkenkutscher.« »Darüber weiß ich nichts«, erwiderte Lord Henry. »Ich vermute aber, der junge Mann wird einmal wohlhabend werden. Er ist noch nicht volljährig. Selby gehört ihm, das weiß ich. Er hat es mir gesagt. Und... seine Mutter war also sehr schön?« »Margaret Devereux war eines der entzückendsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie dazu getrieben hat, so zu handeln, habe ich nie verstehen können. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie wollte. Carlington war wahnsinnig verschossen in sie. Aber sie war romantisch veranlagt. Alle Frauen dieser Familie waren so. Die Männer waren ein trauriges Gesindel, aber beim Himmel! die Weiber waren wunderbar! Carlington lag vor ihr auf den Knien. Hat's mir selber gebeichtet. Sie lachte ihn aus, und es gab damals in London kein Mädel, das nicht hinter ihm hergewesen wäre. Übrigens, Harry, da wir schon über Mesalliancen reden: was ist das für ein Unsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt, der eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels für ihn nicht gut genug?« »Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.« »Ich verteidige die englischen Frauen gegen die ganze Welt, Harry«, sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Man reißt sich um die Amerikanerinnen.« »Sie halten sich nicht, hat man mir gesagt«, brummte der Onkel. »Ein langes Verlobtsein erschöpft sie, aber für eine Steeplechase sind sie brillant. Sie sind Flieger. Ich glaube nicht, daß Dartmoor Chance hat.« »Was ist's für eine Familie?« murrte der alte Herr. »Hat sie überhaupt eine?« Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind ebenso klug, ihre Eltern zu verbergen, wie englische Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit«, antwortete er und stand auf, um wegzugehen. »Also vermutlich Schweinefleischhändler.« »Das hoffe ich, Onkel Georg, in Dartmoors Interesse. Man hat mir gesagt, mit Schweinefleischbüchsen zu handeln, soll nächst der Politik der einträglichste Beruf in Amerika sein.« »Ist sie hübsch?« »Sie benimmt sich so, als wäre sie es. Das tun die meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihres magnetischen Reizes.« »Warum bleiben diese amerikanischen Weiber nicht in ihrem Lande? Sie sagen doch immer, es sei das Paradies für Frauen.« »Das ist es auch. Und das ist auch der Grund, warum sie wie Eva so gern daraus weg wollen«, sagte Lord Henry. »Adieu, Onkel Georg! Ich komme zu spät zum Frühstück, wenn ich noch länger bleibe. Danke sehr für die Auskunft, die du mir gabst. Ich habe immer das Bedürfnis, von meinen neuen Freunden alles zu hören und möglichst nichts von meinen alten.« »Wo wirst du frühstücken, Harry?« »Bei Tante Agatha. Ich habe mich mit Herrn Gray dort angesagt. Es ist ihr neuestes Protektionskind.« »Hm! sag' der Tante Agatha, Harry, sie soll mich mit ihrem Wohltätigkeitskrempel ungeschoren lassen. Ich habe sie bis hierher! Weiß Gott, das gute Frauenzimmer meint, ich hätte nichts zu tun als Schecks für ihre langweiligen Vereinsmeiereien auszuschreiben.« »Abgemacht, Onkel Georg, ich werde es ihr bestellen, aber es wird nichts nutzen. Wohltätigkeitsmegären verlieren alle Menschlichkeit. Das ist ihr hervorstechendstes Merkmal.« Der alte Herr brummte zustimmend und klingelte seinem Diener. Lord Henry schritt durch die niedrigen Arkaden nach Burlington Street und lenkte dann seine Schritte in die Richtung nach Berkeley Square. Das war also die Geschichte von Dorian Grays Eltern. So roh umrissen sie ihm auch geschildert worden war, sie hatte ihn doch nach Art eines seltsamen, geradezu modernen Romans erregt. Eine schöne Frau, die alles für eine wahnsinnige Leidenschaft einsetzt. Ein paar wilde, wonnige Wochen, jäh abgeschnitten durch ein abscheuliches, heimtückisches Verbrechen, Monate stummer Todesverzweiflung, und dann ein Kind unter Schmerzen geboren. Die Mutter vom Tode weggemäht, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten, lieblosen Mannes ausgeliefert. Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn noch vollkommener. Hinter allem Köstlichen in der Welt lauert eine geheime Tragödie, Welten müssen in Schwingung sein, damit die kleinste Blume erblühen kann... Und wie entzückend war er gestern abend gewesen, als er ihm mit erschreckten Augen, die Lippen in scheuem Verlangen geöffnet, im Klub gegenüber gesessen und die roten Kerzenschirme das erwachende Wunder seines Gesichts in einen noch rosenfarbenen Ton getaucht hatten. Mit ihm sprechen, das war wie auf einer auserlesenen Geige spielen. Er gab jedem Druck nach, jeder zitternden Berührung des Bogens... Es lag doch etwas unerhört Knechtendes darin, auf jemand Einfluß auszuüben. Keine andere Tätigkeit kam dem gleich. Seine eigene Seele in eine anmutige Form gießen und sie darin einen Augenblick lang verweilen lassen: seine eigenen Gedankenakkorde im Echo zurückbekommen, bereichert durch die Musik der Leidenschaft und Jugend: sein eigenes Temperament in ein anderes hineinversenken, als wäre es das allerätherischste Fluidum oder ein seltener Wohlgeruch: darin lag eine wahre Lust -- vielleicht die allerbefriedigendste Lust, die uns übriggeblieben ist, in einer so beschränkten und ordinären Zeit wie die unsere, die so derbfleischlich in ihren Genüssen und so grobzufassend in ihren Begierden ist... Auch war er ein wundervoller Typus, dieser junge Mensch, den er durch einen so wunderbaren Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte jedenfalls zu einem wunderbaren Typus umgemodelt werden. Anmut war ihm verliehen und die schneeige Reinheit der Jünglingschaft, und eine Schönheit, wie man sie bei alten griechischen Marmorbildern findet. Nichts gab es, was sich nicht aus ihm machen ließe. Man konnte einen Titanen oder ein Spielzeug aus ihm machen. Welch Jammer, daß solche Schönheit dahinwelken muß... Und Basil? Wie interessant war doch er für den Psychologen! Diese neue Art von Kunst, diese neue Weise, das Leben anzuschauen, die ihm auf das seltsamste durch die sichtbare Gegenwart eines Menschen erweckt wurde, der von alledem nichts wußte: der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen ins offene Feld entwandelte, enthüllte sich plötzlich wie eine Dryade, und ohne Scheu, weil in der Seele, die sehnsüchtig nach ihm suchte, jene wundersame Vision wach geworden war, der nur die außerordentlichen Dinge offenbar werden: die bloßen Formen und Linien der Dinge wurden gleichsam edler und bekamen eine Art von symbolischer Bedeutung, als wären sie selbst nur Schatten einer anderen und vollendeteren Form, deren Abbilder sie zur Wirklichkeit erhoben: wie merkwürdig das alles war! Er erinnerte sich, daß es in der Geschichte irgend etwas Ähnliches gab. War es nicht Plato, dieser Künstler in der Welt der Gedanken, der es als erster untersucht hatte? War es nicht Buonarotti, der es in den farbigen Marmor seiner Sonettreihe gemeißelt hatte? Aber in unserem Jahrhundert war es etwas Seltenes... Ja, er wollte versuchen, für Dorian Gray das zu sein, was der Jüngling, ohne es zu wissen, für den Maler war, der das prächtige Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, in ihm zu herrschen -- hatte es in Wahrheit schon zum Teil getan. Er wollte diesen wunderbaren Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich Magnetisches in diesem Abkömmling von Tod und Liebe. Plötzlich blieb er stehen und sah an den Häusern hinauf. Er entdeckte, daß er bereits an dem Hause seiner Tante vorbeigegangen sei, und ging stillächelnd zurück. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, die Herrschaften seien schon beim Frühstück. Er gab einem Lakai Hut und Stock und ging in den Speisesaal. »Spät wie immer, Harry«, rief seine Tante, ihm zunickend. Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann. »Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry«, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. »Glauben Sie, daß er wirklich die berückende junge Dame heiratet?« »Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort zu bitten.« »Wie schrecklich«, rief Lady Agatha. »Dann sollte sich wirklich jemand ins Mittel legen.« »Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat«, sagte Sir Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke. »Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.« »Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend. »Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln. Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht. »Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,« wisperte ihr Lady Agatha zu, »er meint nie im Ernst, was er sagt.« »Als Amerika entdeckt wurde,« sagte der radikale Abgeordnete und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. -- »Wollte Gott, es wäre überhaupt nicht entdeckt worden«, rief sie aus. »Unsere Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu empörend!« »Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's recht betrachtet«, sagte Herr Erskine. »Ich würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.« »Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner Bewohnerinnen gesehen habe,« antwortete die Herzogin zerstreut, »ich muß zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.« »Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris«, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein eigen nannte. »In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« fragte die Herzogin. »Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry. Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.« »Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu vervollständigen?« fragte Herr Erskine wehmütig. »Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.« Sir Thomas winkte mit der Hand. »Herr Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.« »Wie schrecklich!« rief Lord Henry aus. »Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.« »Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot. »Ich verstehe Sie, Lord Henry«, murmelte Herr Erskine lächelnd. »Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut...«, nahm der Baronet wieder das Wort. »War das ein Paradoxon?« fragte Herr Erskine. »Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.« »Mein großer Gott!« sagte Lady Agatha, »was für eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.« »Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf. »Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich«, fuhr Lady Agatha wieder fort. »Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,« sagte Lord Henry, die Achseln zuckend, »außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.« »Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem«, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln. »Sicherlich«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.« Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. »Welche Änderung schlagen Sie also vor?« Lord Henry lachte. »Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas zu ändern außer dem Wetter«, entgegnete er. »Ich begnüge mich mit philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich mit Gefühlen nicht abgibt.« »Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten«, warf Frau Vandeleur schüchtern ein. »Entsetzlich schwere«, stimmte Lady Agatha ein. Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. »Die Menschheit nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.« »Ihre Worte klingen sehr tröstlich«, trillerte die Herzogin. »Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.« »Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel«, bemerkte Lord Henry. »Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!« Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?« fragte er dann, sie fest über den Tisch hin ansehend. »An eine ganze Menge, fürchte ich!« rief sie aus. »Dann begehen Sie sie wieder«, entgegnete er ernst. »Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.« »Eine allerliebste Theorie!« rief sie. »Ich muß sie mal in die Praxis umsetzen.« »Eine gefährliche Theorie«, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine lauschte. »Ja,« fuhr Henry fort, »das ist eines der großen Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.« Nun lachte der ganze Tisch. Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte. Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. »Wie schade!« rief sie aus. »Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?« »Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau Herzogin«, sagte Lord Henry, sich verbeugend. »Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie; »vergessen Sie also nicht zu kommen«, und sie rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet. Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm. »Sie reden wie ein Buch«, sagte er; »warum schreiben Sie keins?« »Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.« »Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?« »Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry lächelnd. »Es war wohl sehr toll?« »Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.« »Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene Bibliothek.« »Die mit Ihnen vollständig werden wird«, antwortete der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. »Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.« »Sie alle, Herr Erskine?« »Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie anglaise.« Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park!« rief er aus. Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. »Erlauben Sie mir, mitzukommen«, flüsterte er. »Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu besuchen«, wandte Lord Henry ein. »Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.« »Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry und lächelte. »Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.« Viertes Kapitel Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages. Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen. Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. »Wie spät du kommst, Harry!« sagte er leisen Vorwurfs. »Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine schrille Stimme. Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße. »Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte --« »Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.« »Nicht siebzehn, Lady Henry.« »Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in der Oper gesehen.« Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu laufen. »Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?« »Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?« Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen. Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bedaure, Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt -- wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.« »Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe Klavierspieler geradezu angebetet -- manchmal zwei auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. -- Harry, ich kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen -- ich habe ganz vergessen, was -- und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen zu haben.« »Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend«, sagte Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. »Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner.« »Ich muß leider gehen!« rief Lady Henry aus und unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. »Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.« »Höchstwahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an und warf sich auf das Sofa. »Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar, Dorian«, sagte er nach einigen Zügen. »Warum nicht, Harry?« »Weil sie so sentimental sind.« »Aber ich habe sentimentale Menschen gern.« »Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.« »Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.« »In wen bist du verliebt?« fragte Lord Harry nach einer Pause. »In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend. Lord Henry zuckte die Achseln. »Ein recht landläufiger Anfang.« »Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.« »Wer ist's denn?« »Sie heißt Sibyl Vane.« »Nie von ihr gehört.« »Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein Genie.« »Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die Sittlichkeit.« »Harry, wie kannst du?« »Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?« »Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!« »Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?« »Ungefähr drei Wochen.« »Und wo hast du die Entdeckung gemacht?« »Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt... Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. >Eine Loge, Herr Baron?< fragte er mich und nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute nicht erklären, warum ich das tat; und doch -- wenn ich's nicht getan hätte -- bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.« »Ich lache nicht, Dorian, wenigstens nicht über dich. Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Sage lieber, das erste Ereignis deines Lebens. Du wirst immer geliebt werden, und du wirst in die Liebe immer verliebt sein. Die grande Passion ist das Vorrecht aller Leute, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Nutzen, den die Tagediebe eines Landes bringen. Habe keine Angst! Himmlische Dinge warten noch deiner. Das ist der bloße Anfang.« »Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian Gray gekränkt. »Nein, ich halte sie für so tief.« »Wie meinst du das?« »Mein lieber Junge, die Leute, die nur einmal im Leben lieben, das sind in Wirklichkeit die Oberflächlichen. Was sie Anstand und Treue nennen, nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder Mangel an Einbildungskraft. Treue ist im Gefühlsleben dasselbe, was Konsequenz im Geistesleben ist, nichts als das Zugeständnis von Schwäche. Treue! Ich muß ihren Begriff später mal analysieren. Freude am Besitz liegt darin. Welche Menge von Dingen würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchten müßten, andere könnten sie auflesen. Aber ich möchte dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter.« »Ich saß also in einer schauderhaften kleinen Loge, und ein ordinärer Vorhang starrte mir gerade ins Gesicht. Ich schaute hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war ein schäbig-elegantes Ding, gestopft voll mit Amoretten und Füllhörnern, wie auf einem Hochzeitskuchen billigster Sorte. Galerie und Stehparterre waren leidlich voll, aber die zwei Reihen schmieriger Fauteuils vorne waren ganz leer und auf dem Platze, den sie vermutlich ersten Rang titulierten, saß kaum ein Mensch. Weiber gingen mit Orangen und Ingwerbier herum, und eine unglaubliche Masse von Nüssen wurde verknackt.« »Es muß ganz wie in der Glanzzeit des britischen Dramas gewesen sein.« »Ganz so, vermute ich, und sehr niederdrückend. Ich begann, zu überlegen, was um Himmels willen ich da anfangen sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, was sie spielten, Harry?« »Ich vermute, der >kleine Kretin< oder >Blödsinnig, aber unschuldig<. Unsere Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, je stärker fühle ich, daß alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns noch lange nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik ~les grandpères ont toujours tort~.« »Das Stück war gut genug für uns, Harry. Es war >Romeo und Julia<. Ich muß zugeben, daß mich der Gedanke, Shakespeare in einer so elenden Spelunke zu sehen, ärgerte. Und doch interessierte es mich irgendwie. Jedenfalls entschloß ich mich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte da ein schauderöses Orchester, das ein junger Hebräer dirigierte, der an einem schnarrenden Klavier saß, mich beinah zum Davonlaufen brachte; aber schließlich ging doch der Vorhang in die Höhe und das Stück fing an. Romeo war ein hahnebüchener älterer Herr mit dick gemalten Brauen, einer versoffenen Tragödenstimme und einer Falstaffgestalt wie eine Biertonne. Mercutio war fast ebenso arg. Er wurde vom Komiker gespielt, der Mätzchen eigener Improvisation einstreute und in der verwandtschaftlichsten Beziehung zur Galerie stand. Sie waren beide genau so grotesk wie die Szenerie, und die sah aus, als käme sie vom Jahrmarktsrummel. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit einem blumenhaften Gesichtchen, einem schmalen griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen, wie veilchenblaue Brunnen heißer Leidenschaft, mit Lippen wie Rosenblätter. Das entzückendste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen habe. Du sagtest mal zu mir, Pathos ergreife dich nicht, aber Schönheit, keusche Schönheit an sich, könnte deine Augen wohl mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen kaum sehen, von dem Tränenflor über meinen Augen. Und ihre Stimme -- ich habe so eine Stimme nie gehört. Zuerst sehr leise in tiefen, vollen Molltönen, die langsam und jeder für sich allein ins Ohr zu träufeln schienen. Dann etwas lauter und erklingend wie eine Flöte oder eine ferne Hoboe. In der Gartenszene hatte sie jene zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen singen vor Tag und Tau. Es gab dann Augenblicke, wo ihre Stimme die verhaltene Leidenschaftsglut von Geigentönen hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme von Sibyl Vane, die beiden werde ich nie vergessen. Wenn ich meine Augen schließe, höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas anderes. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie. Sie ist alles in meinem Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. Ich habe sie im Düster eines italienischen Grabgewölbes sterben sehen, wie sie das Gift von den Lippen des Geliebten trinkt. Ich bin ihrer Wanderung durch die Ardennen gefolgt, wie sie als hübscher Knabe mit Hose, Wams und einem kleinen Barett verkleidet war. Sie war wahnsinnig und ist vor einen schuldbewußten König hingetreten und ließ ihn Rauten tragen und bittere Kräuter kosten. Sie war unschuldig, und die schwarzen Hände der Eifersucht haben ihren zarten Hals zusammengepreßt. Ich habe sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht gesehen. Gewöhnliche Frauen sagen unserer Phantasie nichts. Sie sind in ihre Zeit hineingebannt. Kein Zauber kann sie umwandeln. Man kennt ihren Geist ebenso schnell wie ihre Güte. Man kennt sie immer heraus. Es gibt kein Geheimnis in ihnen. Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihre eleganten Modemanieren. Aber eine Schauspielerin! Wie anders solche Schauspielerin! Harry! Warum hast du mir nicht gesagt, daß nichts geliebt zu werden verdient als eine Schauspielerin?« »Weil ich so viele von ihnen geliebt habe, Dorian.« »Oh, gewiß, gräßliche Geschöpfe mit gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern.« »Schmähe nicht gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter. Es liegt zuweilen ein ganz besonderer Reiz darin«, sagte Lord Henry. »Ich wollte, ich hätte dir nie etwas von Sibyl Vane gesagt.« »Du hättest gar nicht anders können, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.« »Ja, Harry, ich glaube, es ist so. Ich bin geradezu gezwungen, dir alles zu sagen. Du hast eine seltsame Macht über mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich gleich zu dir und beichtete es dir. Du würdest mich verstehen.« »Menschen wie du -- die kühnen Sonnenstrahlen des Lebens -- begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber ich danke dir trotzdem für dein Kompliment. Und nun sag' mir -- bitte gib mir mal die Streichhölzer herüber; danke -- wie sind deine wirklichen Beziehungen zu Sibyl Vane?« Dorian Gray sprang mit geröteten Wangen und blitzenden Augen auf. »Harry! Sibyl Vane ist mir heilig.« »Nur heilige Dinge sind wert, sie anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry mit einem merkwürdigen pathetischen Ton in seiner Stimme. »Aber warum fühlst du dich verletzt? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, fängt man immer damit an, sich selbst zu betrügen, und hört immer damit auf, andere zu betrügen. Das nennt die Welt eine Liebesgeschichte. Auf jeden Fall denke ich, du kennst sie?« »Natürlich kenne ich sie. Schon am ersten Abend im Theater kam der gräßliche alte Jude nach der Vorstellung in meine Loge und bot mir an, mich hinter die Kulissen zu führen und ihr vorzustellen. Ich war wütend und sagte ihm, daß Julia seit Hunderten von Jahren tot sei und daß ihr Körper in einem Marmorgrabe zu Verona liege. Nach dem bestürzten Ausdruck in seinem Gesicht vermute ich, daß er glaubte, ich hätte zuviel Champagner oder Ähnliches getrunken.« »Kein Wunder!« »Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schreibe. Ich sagte ihm, daß ich nicht mal eine lese. Das schien ihn furchtbar zu enttäuschen, und er vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen und jeder einzelne von ihnen wäre käuflich.« »Es sollte mich nicht wundern, wenn er ganz recht hätte. Andererseits aber, nach ihrem Aussehen zu schließen, können sie meistens gar nicht teuer sein.« »Einerlei, sie schienen über seine Mittel zu gehen«, sagte Dorian lachend. »Inzwischen aber wurden die Lichter im Theater ausgedreht und ich mußte fort. Er bat mich noch, einige Zigarren zu probieren, die er mir sehr warm empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend ging ich natürlich wieder hin. Als er mich sah, machte er eine tiefe Verbeugung und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Kunstmäzen. Er ist eine höchst abstoßende Kreatur, obwohl er eine außerordentliche Leidenschaft für Shakespeare hegt. Er erzählte mir mal mit einem Anflug von Stolz, seine fünf Bankrotte verdanke er nur dem >Barden<; so nannte er nämlich hartnäckig Shakespeare. Er schien das für ein Verdienst zu halten.« »Es ist ein Verdienst, lieber Dorian -- ein großes Verdienst. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich mit Poesie ruiniert zu haben, ist eine ehrenvolle Auszeichnung. Aber wann hast du Fräulein Sibyl Vane zum erstenmal gesprochen?« »Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich mußte hinter die Bühne gehen. Ich hatte ihr ein paar Blumen zugeworfen, und sie hatte zu mir hingesehen, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war beharrlich. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und so gab ich nach. Es war sonderbar, daß ich sie nicht kennenlernen wollte, nicht wahr?« »Nein, ich glaube nicht.« »Warum, lieber Harry?« »Ich erkläre dir das ein andermal. Jetzt möchte ich gern von dem Mädchen hören.« »Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und lieb. Sie ist noch fast wie ein Kind. Ihre Augen öffneten sich in einem allerliebsten Staunen, als ich ihr sagte, was ich über ihr Spiel dachte, und sie schien sich ihres eigenen Könnens gar nicht bewußt zu sein. Ich glaube, wir waren beide recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür der staubigen Garderobe und hielt theatralische Reden über uns beide, während wir uns wie Kinder anstarrten. Er bestand darauf, mich >Herr Baron< zu nennen, so daß ich Sibyl versichern mußte, ich sei nichts der Art. Sie sagte in ganz schlichter Weise zu mir: >Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich will Sie Prinz Märchenschön nennen<.« »Mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht es, Schmeicheleien zu sagen.« »Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur wie eine Figur in einem Theaterstück. Sie weiß gar nichts vom Leben. Sie wohnt bei ihrer Mutter, einer verblühten, ältlichen Frau, die am ersten Abend in einer Art türkisch-rotem Schlafrock die Lady Capulet spielte und den Eindruck machte, als hätte sie bessere Tage gesehen.« »Ich kenne diese Art, auszusehen. Sie stimmt mich unbehaglich«, sagte Lord Henry mit verhaltener Stimme und betrachtete seine Ringe. »Der Jude wollte mir ihre Lebensgeschichte erzählen, aber ich bemerkte, sie interessiere mich nicht.« »Da hattest du recht. Die Tragödien anderer Leute haben immer etwas unglaublich Gewöhnliches an sich.« »Sibyl ist das einzige, um das ich mich kümmere. Was geht's mich an, woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihrem kleinen Fuß ist sie ein himmlisches Wesen. Jeden Abend, den ich erlebe, gehe ich hin, um sie spielen zu sehen, und jeden Abend ist sie entzückender.« »Ich vermute darin den Grund, weshalb du jetzt nie mehr mit mir zusammen ißt. Ich dachte mir gleich, daß dahinter irgendeine merkwürdige Geschichte stecke. Das ist so, aber es ist nicht ganz, was ich erwartete.« »Lieber Harry, wir sind jeden Tag entweder beim Frühstück oder beim Abendessen zusammen, und ich bin mehrere Male mit dir in der Oper gewesen«, sagte Dorian und öffnete verwundert seine blauen Augen. »Du kommst immer furchtbar spät.« »Ja, ich muß hin und Sibyl spielen sehen, und wenn auch nur einen Akt lang. Ich hungere nach ihrem Anblick, und wenn ich an die himmlische Seele denke, die in diesem zierlichen Elfenbeinkörper eingeschlossen ist, packt mich stille Ehrfurcht.« »Kannst du heute abend mit mir essen, Dorian?« Er schüttelte den Kopf. »Heute abend ist sie Imogen,« antwortete er, »und morgen abend Julia.« »Wann ist sie Sibyl Vane?« »Nie!« »Da wünsche ich dir Glück.« »Wie schrecklich du bist! Sie verkörpert alle die großen Frauengestalten der Weltgeschichte in sich. Sie ist mehr als ein Geschöpf. Du lachst, aber ich sage dir, sie ist ein Genie. Ich liebe sie und ich will's erreichen, daß sie mich auch liebt. Dir sind alle Geheimnisse des Lebens bekannt, du mußt mir sagen, wie ich Sibyl Vane so bezaubern kann, daß sie mich liebt. Ich will Romeo eifersüchtig machen. Ich will, daß die toten Liebhaber der Welt unser Lachen hören und sich grämen. Ich will, daß unsere strahlende Leidenschaft ihren Staub wieder beleben und ihre Asche zu Schmerzen auferwecken soll. O Gott, Harry, wie bete ich sie an!« Er ging, während er sprach, im Zimmer auf und ab. Rote hektische Flecken brannten auf seinen Wangen. Er war furchtbar erregt. Lord Henry betrachtete ihn mit stillem Wohlbehagen. Wie anders war er jetzt als jener verlegene, schüchterne Knabe, den er in Basil Hallwards Atelier angetroffen hatte! Seine Natur hatte sich entwickelt wie eine Blume und trug Blüten von brennendrotem Scharlach. Aus ihrem geheimen Versteck war seine Seele hervorgekrochen, und die Wollust war ihr auf halbem Wege entgegengekommen. »Und was hast du nun vor?« sagte Lord Henry schließlich. »Ich will, du und Basil sollt mich an einem Abend begleiten und sie spielen sehen. Ich setze nicht die leiseste Besorgnis in die Wirkung. Ihr werdet zugeben müssen, daß sie Genie hat. Dann müssen wir sie dem Juden aus den Händen winden. Sie ist noch drei Jahre -- genau zwei Jahre und acht Monate -- an ihn gebunden. Natürlich werde ich ihm etwas zahlen müssen. Wenn das alles in Ordnung ist, suche ich mir ein Theater im Westend und lasse sie dort erst mal richtig auftreten. Sie wird die Welt ebenso verrückt machen wie mich.« »Das wird kaum gehen, lieber Junge.« »Ja, sie wird es; denn in ihr ist nicht nur Kunst, vollendetster Kunstinstinkt, sondern sie hat auch Persönlichkeit; und du selbst hast mir oft genug gesagt, daß nur Persönlichkeiten, nicht Prinzipien die Welt beherrschen.« »Schön, wann sollen wir also hingehen?« »Laß mich mal nachdenken. Heute ist Dienstag. Wollen wir morgen festsetzen? Morgen spielt sie die Julia.« »Abgemacht! Morgen um acht im Bristol. Ich werde Basil mitbringen.« »Bitte, nicht um acht Uhr, Harry. Halbsieben. Wir müssen dort sein, ehe der Vorhang aufgeht. Du mußt sie im ersten Akt bei der Begegnung mit Romeo sehen.« »Halbsieben Uhr! Was für eine Tageszeit! Das wäre ja gerade so, wie ein Abendbrot am Nachmittag essen oder einen englischen Roman lesen. Vor sieben Uhr geht's nicht. Kein Gentleman speist vor sieben. Siehst du Basil bis dahin? Oder soll ich ihm schreiben?« »Der liebe Basil! Ich habe mich eine ganze Woche lang nicht um ihn gekümmert. Das ist sehr häßlich von mir, denn er hat mir mein Porträt in einem prachtvollen Rahmen, den er selbst entworfen hat, geschickt, und obwohl ich ein bißchen eifersüchtig auf das Bild bin, weil es einen ganzen Monat jünger ist als ich, muß ich doch zugeben, daß es mich ganz entzückt. Ich bitte, schreib lieber. Ich möchte ihn nicht allein wiedersehen. Er sagt mir Dinge, die mich verstimmen. Er gibt mir gute Lehren.« Lord Henry lächelte. »Die Menschen haben eine starke Vorliebe, das wegzuschenken, was sie selber am nötigsten hätten. Ich nenne das den Chimborasso Freigebigkeit.« »Oh, Basil ist der beste Mensch, aber er scheint mir doch ein klein bißchen Philister zu sein. Seit ich dich kenne, Harry, hab' ich das entdeckt.« »Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, die sie nicht zu leben wagen.« »Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry«, sagte Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. »Es wird wohl sein, wenn du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!« Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren. Das Menschenleben -- das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes anzumerken -- zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem sie sich wieder bekriegen -- das ist ein Genuß! Was liegt an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis geben. Er war sich bewußt -- und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen -- daß sich durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die Bildhauerkunst oder die Malerei. Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind. Seele und Leib, Leib und Seele -- wie geheimnisvoll das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis. Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden. Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie mit anderen zu versuchen. Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde. Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe. Fünftes Kapitel »Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!« flüsterte das Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. »Ich bin so glücklich!« wiederholte sie, »und du wirst auch glücklich sein.« Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. »Glücklich!« echote sie, »ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir sind ihm Geld schuldig.« Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. »Geld, Mutter?« rief sie, »was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!« »Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.« »Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir spricht«, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster. »Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen«, entgegnete die alte Frau weinerlich. Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: »Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über unser Leben.« Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. »Ich liebe ihn«, sagte sie mit einfachem Ausdruck. »Närrisches Kind! närrisches Kind!« waren die papageienhaften Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf noch komischer. Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen. Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich den Titel »Gesunder Menschenverstand« beigelegt hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von seinem Atem. Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und lächelte. Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. »Mutter, Mutter,« rief sie, »warum liebt er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich bin seiner nicht wert. Und doch -- ich weiß nicht, warum -- ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den Prinzen Märchenschön liebe?« Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!« »Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist...« »Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!« Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war. »Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl«, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren. »Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!« rief sie. »Du bist ein greulicher alter Bär!« Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn. James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. »Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten was draus.« »Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge«, grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung der Szene so hübsch erhöht. »Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.« »Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und dich zur Geltung bringen in London.« »Gesellschaft«, brummelte der junge Mann. »Will davon nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.« »O Jim,« sagte Sibyl lachend, »wie unfreundlich von dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.« »Dazu bin ich zu schäbig angezogen«, antwortete er mit gerunzelter Stirn. »Nur Elegants gehen in den Park.« »Unsinn, Jim«, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel. Er zauderte einen Augenblick. »Schön denn,« sagte er schließlich, »mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.« Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben. Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl. »Mutter, sind meine Sachen gepackt?« fragte er. »Alles fertig, James«, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. »Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.« »Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber«, erwiderte er. »Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie wachen!« »James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich über sie.« »Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?« »James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz allerliebst.« »Aber du weißt nicht mal seinen Namen«, warf der junge Mann barsch ein. »Nein«, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. »Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.« James Vane biß sich auf die Lippen. »Wache über Sibyl!« schrie er. »Wache über sie!« »Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.« Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte. »Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!« rief sie aus. »Was gibt's denn?« »Nichts«, antwortete er. »Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.« »Adieu, mein Sohn«, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter hoheitsvoller Würde. Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte. »Gib mir einen Kuß, Mutter«, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit. »Mein Kind! Mein Kind!« rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie. »Komm, Sibyl«, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen. Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen, der eine Rose trägt. Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich nach Hause kommen. Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat weg mußte. Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch. Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen. »Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!« rief Sibyl, »und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!« »Was soll ich denn sagen?« »Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen«, antwortete sie und lächelte ihn an. Er zuckte die Schultern. »Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.« Sie errötete. »Wie meinst du das, Jim?« fragte sie. »Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.« »Hör' auf, Jim«, rief sie aus. »Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.« »Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?« erwiderte er. »Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.« »Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich ... ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter blauem Himmel.« »Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft«, sagte der Bursche finster. »Ein Prinz!« rief sie mit melodischer Stimme. »Was willst du mehr?« »Er wird dich zu seiner Sklavin machen.« »Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!« »Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.« »Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!« »Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.« Sie lachte und nahm seinen Arm. »Du lieber, alter Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. -- Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute Revue passieren lassen.« Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie Riesenschmetterlinge. Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorbei. Sie sprang auf. »Da ist er!« rief sie. »Wer?« fragte Jim Vane. »Der Märchenprinz«, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach. Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. »Zeig' ihn mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!« rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen. »Er ist fort«, murmelte Sibyl traurig. »Ich wünschte, du hättest ihn gesehen.« »Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!« Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte. »Komm fort, Jim; komm fort«, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte. Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. »Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.« »Ich bin erst sechzehn,« antwortete er, »aber ich weiß, was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.« »Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?« »Solange du ihn liebst, wohl kaum«, war die finstere Antwort. »Ich werde ihn immer lieben!« rief sie. »Und er?« »Auch immer.« »Das ist sein Glück!« Sie schrak vor ihm zurück. Dann lachte sie und legte die Hand auf seinen Arm. Er war doch nur ein Junge. Am Marble Arch bestiegen sie einen Omnibus, der sie in die Nähe ihrer armseligen Wohnung in Euston Road brachte. Es war schon fünf Uhr vorüber, und Sibyl mußte sich noch, bevor sie auftrat, ein paar Stündchen niederlegen. Jim bestand darauf, daß sie es täte. Er sagte, er würde lieber von ihr Abschied nehmen, wenn die Mutter nicht dabei wäre. Sie würde sicher eine Szene machen, und er verabscheue Szenen aller Art. Sie nahmen in Sibyls Zimmer Abschied. Im Herzen des jungen Menschen brannte Eifersucht und ein grimmer, mörderischer Haß auf den Fremden, der, wie er meinte, zwischen sie getreten war. Als sich aber ihre Arme um seinen Hals schlangen, und ihre Finger durch sein Haar fuhren, wurde er sanfter und küßte sie mit wirklicher Zärtlichkeit. Als er hinunterging, standen Tränen in seinen Augen. Die Mutter wartete unten auf ihn. Als er eintrat, murrte sie über seine Unpünktlichkeit. Er gab keine Antwort, sondern setzte sich an sein kärgliches Mahl. Die Fliegen summten um den Tisch und krochen über das fleckige Tischtuch. Durch das Gerassel der Omnibusse und das Rackern der Droschken konnte er die einförmige Stimme hören, die ihn um jede Minute beraubte, die ihm noch übrig blieb. Nach einer Weile schob er seinen Teller zurück und stützte den Kopf in die Hände. Er fühlte, daß er ein Recht habe, es zu wissen. Wenn die Dinge lagen, wie er vermutete, hätte man es ihm längst sagen sollen. Gepeinigt von Furcht, beobachtete ihn die Mutter. Die Worte tröpfelten ihr mechanisch von den Lippen. Ihre Finger zerknüllten ein zerrissenes Spitzentaschentuch. Als die Uhr sechs schlug, stand er auf und ging zur Tür. Dann wandte er sich um und sah sie an. Ihre Blicke begegneten sich. In den ihren las er ein inbrünstiges Bitten um Mitleid. Das machte ihn erst recht zornig. »Mutter, ich muß dich was fragen«, sagte er. Ihre Augen irrten im Zimmer umher. Sie gab keine Antwort. »Sag' mir die Wahrheit! Ich hab' ein Recht, es zu erfahren! Warst du mit meinem Vater verheiratet?« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war ein Seufzer der Erleichterung. Der schreckliche Augenblick, der Augenblick, vor dem sie Tag und Nacht seit Wochen und Monaten gebangt hatte, war endlich gekommen, und doch empfand sie keine Furcht. Ja, es war für sie gewissermaßen eine Enttäuschung. Die grobe Unumwundenheit der Frage heischte eine unumwundene Antwort. Die Situation war nicht langsam gesteigert worden. Es war roh. Es erinnerte sie an eine mißlungene Deklamation. »Nein«, antwortete sie, erstaunt über die harte Einfachheit des Lebens. »Dann war mein Vater ein Schuft!« schrie der Bursche und ballte die Faust. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er nicht frei war. Wir haben uns sehr lieb gehabt. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er für uns gesorgt. Sage nichts gegen ihn, mein Sohn. Er war dein Vater und ein Gentleman. Er hatte wirklich hohe Verbindungen.« Ein Fluch kam über seine Lippen. »Es bekümmert mich nicht meinetwegen,« rief er, »aber laß Sibyl nicht... Ist es ein Gentleman oder nicht, der sie liebt, oder so sagt? Mit hohen Verbindungen, vermute ich.« Einen Augenblick lang kam ein schreckliches Gefühl der Demütigung über die Frau. Ihr Kopf sank herab. Mit zitternden Händen wischte sie sich die Augen. »Sibyl hat eine Mutter,« flüsterte sie, »ich hatte keine.« Der junge Mensch war gerührt. Er ging zu ihr hin, beugte sich über sie und küßte sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich mit der Frage nach meinem Vater verletzt habe,« sagte er, »aber ich konnte nicht anders. Jetzt muß ich fort. Lebewohl! Vergiß nicht, daß du jetzt nur noch ein Kind zu beschützen hast, und glaube mir, wenn dieser Mann meiner Schwester ein Leid zufügt, dann bringe ich schon heraus, wer es ist, spüre ihn auf und schlage ihn tot wie einen Hund. Das schwöre ich dir!« Die wahnwitzige Übertreibung seines Schwurs, die leidenschaftlichen Handbewegungen, die ihn begleiteten, die tollen, melodramatischen Worte machten der alten Frau das Leben wieder interessanter. Diese Atmosphäre war ihr vertraut. Sie atmete wie erlöst, und zum erstenmal seit vielen Monaten bewunderte sie förmlich ihren Sohn. Sie hätte die Szene gern auf derselben Gefühlshöhe fortgesetzt, aber er brach sie kurz ab. Koffer mußten heruntergebracht und Decken beschafft werden. Der Hausknecht des Mietshauses rannte geschäftig hin und her. Mit dem Kutscher wurde der Preis abgehandelt. So wurde der Augenblick durch gemeine Einzelheiten verzettelt. Mit einem erneuten Gefühl der Enttäuschung stand sie am Fenster und ließ das zerrissene Spitzentaschentuch durch die Luft wimpeln, als ihr Sohn wegfuhr. Es war ihr zumute, als sei eine große Gelegenheit verpaßt worden. Sie tröstete sich, indem sie Sibyl sagte, wie öde künftig ihr Leben sein werde, da sie jetzt nur ein einziges Kind zu behüten habe. Diesen Satz hatte sie sich gemerkt. Er hatte ihr gefallen. Von seinem Schwur sagte sie nichts. Er war lebendig und dramatisch deklamiert worden. Sie hatte die Empfindung, daß sie alle eines Tages darüber lachen würden. Sechstes Kapitel »Du hast doch schon die letzte Neuigkeit gehört, Basil?« sagte Lord Henry am selben Abend, als Hallward in das kleine Separatzimmer im Bristol trat, wo für drei Personen zum Essen gedeckt war. »Nein, Harry«, antwortete der Künstler, während er Hut und Rock dem dienernden Kellner gab. »Was ist es? Nichts über Politik, hoffe ich. Die interessiert mich nicht. Im ganzen Unterhause gibts keinen einzigen Menschen, den man malen möchte; wenn auch einigen von ihnen zur Aufbesserung etwas Firnis nicht schaden könnte.« »Dorian Gray hat sich verlobt«, sagte Lord Henry und beobachtete ihn, während er sprach. Hallward fuhr zurück und runzelte sofort die Stirn. »Dorian verlobt!« rief er. »Unmöglich!« »Es ist wahrhaftig wahr.« »Mit wem?« »Mit irgendeiner kleinen Schauspielerin.« »Ich kann's nicht glauben. Dorian ist viel zu verständig.« »Dorian ist viel zu klug, um nicht von Zeit zu Zeit verrückte Sachen zu begehen, lieber Basil.« »Heiraten ist kaum eine Sache, die man von Zeit zu Zeit tun kann, Harry.« »Außer in Amerika«, erwiderte Lord Henry nachlässig. »Aber ich habe ja nicht gesagt, daß er verheiratet sei. Ich sagte, er sei verlobt. Das ist ein großer Unterschied. Ich erinnere mich ganz deutlich, verheiratet zu sein, aber ich kann mich nicht erinnern, verlobt gewesen zu sein. Ich glaube fast, daß ich mich nie verlobt habe.« »Aber überlege doch Dorians Geburt, seine Stellung, sein Vermögen. Es wäre sinnlos, wenn er so tief unter seinem Stande heiraten würde.« »Wenn du willst, daß er dies Mädchen heiratet, so brauchst du ihm das nur zu sagen, Basil. Dann tut er's gewiß. Wenn ein Mann etwas auserlesen Dummes tut, tut er's immer aus den edelsten Beweggründen.« »Ich hoffe, es ist ein gutes Mädchen, Harry. Ich möchte Dorian nicht an irgendein gewöhnliches Wesen gefesselt sehen, das ihn herabzieht und seinen Geist verdirbt.« »Oh, sie ist mehr als gut -- sie ist schön«, sagte Lord Henry und nippte an einem Glas Wermut mit Pomeranzen. »Dorian sagt, sie ist schön, und in Dingen dieser Art irrt er nicht häufig. Sein Bild von ihm hat sein Urteil über die äußere Erscheinung anderer Menschen geschärft. Es hat unter anderem diesen glänzenden Erfolg gezeigt. Wir sollen sie heute abend sehen, wenn der Junge seine Abmachung nicht vergißt.« »Ist das dein Ernst?« »Vollständig, Basil. Es würde schlimm für mich sein, wenn ich je im Leben ernsthafter sein müßte als jetzt.« »Aber billigst du es denn, Harry?« fragte der Maler, der im Zimmer auf und ab ging und sich auf die Lippen biß. »Du kannst es doch ganz unmöglich billigen. Es ist eine törichte Verblendung.« »Ich billige oder mißbillige nie wieder etwas. Sowas bringt einen in eine ganz verrückte Stellungnahme zum Leben. Wir sind nicht in die Welt geschickt worden, um unsere moralischen Vorurteile glänzen zu lassen. Ich nehme nie Notiz von dem, was gewöhnliche Leute sagen, und ich mische mich nie in Dinge, die reizende Leute vorhaben. Wenn mich eine Persönlichkeit fesselt, dann ist jede Ausdrucksform, die sich diese Persönlichkeit aussucht, für mich erfreulich. Dorian Gray verliebt sich in ein schönes Mädchen, das die Julia spielt, und will sie heiraten. Warum nicht? Wenn er Messalina heiraten wollte, würde er nicht weniger interessant sein. Du weißt, ich bin kein Eheapostel. Der eigentliche Nachteil der Ehe ist, daß man selbstlos wird. Und selbstlose Menschen sind farblos. Sie werden unpersönlich. Jedoch gibt es gewisse Temperamente, die durch die Ehe komplizierter werden. Sie behalten ihren Egoismus und erweitern ihn durch eine Reihe anderer Ichs. Sie sehen sich gezwungen, mehr als ein einzelnes Leben zu führen. Sie werden feiner organisiert, und feiner organisiert zu werden, scheint mir der Zweck des menschlichen Lebens. Überdies hat jede Erfahrung ihren Wert, und was man auch gegen die Ehe sagen kann, eine Erfahrung ist sie sicher. Ich hoffe, Dorian Gray wird dies Mädchen heiraten, wird sie sechs Monate hindurch leidenschaftlich anbeten, und dann wird ihn plötzlich eine andere anziehen. Es wäre prachtvoll, das zu beobachten.« »Du glaubst kein einziges Wort von alledem, Harry; und das weißt du auch. Wenn Dorian Grays Leben zerstört würde, wäre kein Mensch trauriger als du. Du bist viel besser, als du vorgibst.« Lord Henry lachte. »Der Grund, weshalb wir alle so gut von anderen denken, ist der, daß wir alle Angst vor uns selber haben. Die Grundlage des Optimismus ist nichts als Furcht. Wir halten uns für großherzig, weil wir unserem Nachbar Tugenden zuschreiben, aus denen für uns ein Nutzen erwachsen könnte. Wir rühmen den Bankier, damit wir unser Konto überschreiten können, und finden im Buschklepper gute Eigenschaften in der Hoffnung, daß er unseren Geldbeutel verschonen wird. Ich glaube jedes Wort, das ich gesprochen habe. Ich habe die größte Verachtung für den Optimismus. Was das zerstörte Leben betrifft, so ist kein Leben zerstört, dessen Wachstum nicht gehemmt wird. Wenn man eine Persönlichkeit verderben will, braucht man sie nur zu verbessern. Die Ehe allerdings ist eine Narretei, aber es gibt andere und interessantere Bande zwischen Mann und Frau. Natürlich würde ich dazu eher raten. Sie haben den Reiz, fashionabel zu sein. Aber da ist Dorian selbst. Er wird dir mehr sagen, als ich es kann.« »Lieber Harry, lieber Basil, ihr müßt mir beide Glück wünschen«, sagte der Jüngling, während er den Abendmantel mit den atlasgefütterten Flügeln abwarf und den Freunden die Hand schüttelte. »Ich war niemals so selig. Natürlich ist alles plötzlich gekommen; alles Entzückende kommt plötzlich. Und doch scheint es das einzige gewesen zu sein, wonach ich mein Leben lang auf der Suche war.« Er glühte vor Aufregung und Freude und sah außerordentlich hübsch aus. »Ich hoffe, du wirst immer sehr glücklich sein, Dorian,« sagte Hallward, »aber ich kann es dir nicht ganz verzeihen, daß du mir deine Verlobung nicht mitgeteilt hast. Harry hast du es mitgeteilt.« »Und ich kann es dir nicht verzeihen, daß du zu spät kommst«, fiel Lord Henry lächelnd ein und legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Komm, wir wollen uns setzen und versuchen, was der neue Chef hier kann, und dann erzählst du uns, wie alles gekommen ist.« »Da ist wirklich nicht viel zu erzählen!« rief Dorian, als sie sich um den kleinen Tisch gesetzt hatten. »Was geschah, war einfach so. Als ich dich gestern abend verließ, Harry, zog ich mich an, aß in dem kleinen italienischen Restaurant in Rupert Street, das ich durch dich kennengelernt habe, und ging um acht Uhr ins Theater. Sibyl spielte die Rosalinde. Natürlich war die Dekoration greulich und der Orlando zum Lachen. Aber Sibyl! Ihr hättet sie sehen sollen. Als sie in ihren Knabenkleidern auftrat, war sie einfach wunderbar. Sie trug ein moosgrünes Samtwams mit zimtbraunen Ärmeln, eine kurze, braune, überm Knie kreuzweise geschnürte Hose, ein reizendes grünes Barett mit einer Falkenfeder, die von einem funkelnden Stein gehalten wurde, und war in einen dunkelrot gefütterten Kapuzenmantel gehüllt. Sie war mir nie schöner vorgekommen. Sie hatte all die zarte Grazie der Tanagrafigur, die du in deinem Atelier hast, Basil. Das Haar schlang sich um ihr Gesicht wie dunkles Laub um eine blasse Rose. Und ihr Spiel -- nun, ihr werdet sie heute abend sehen. Sie ist eben eine geborene Künstlerin. Ich saß ganz verzaubert in der schmierigen Loge. Ich vergaß, daß ich in London war und im neunzehnten Jahrhundert lebte. Ich war mit meiner Geliebten weit fort in einem Wald, den noch kein Menschenauge gesehen hatte. Nach der Vorstellung ging ich hinter die Bühne und sprach mit ihr. Als wir nebeneinander saßen, trat plötzlich ein Ausdruck in ihre Augen, den ich nie vorher gesehen hatte. Meine Lippen fühlten sich zu ihr hingezogen. Wir küßten uns beide. Ich kann euch nicht beschreiben, was ich in dem Augenblick gefühlt habe. Mir schien, daß all mein Leben in einen vollkommenen Moment rosenfarbiger Wonne zusammengepreßt wäre. Sie zitterte am ganzen Leibe und bebte wie eine weiße Narzisse. Dann warf sie sich auf die Knie und küßte meine Hände. Ich weiß, ich sollte euch das alles nicht erzählen, aber ich kann mir nicht helfen. Natürlich ist unsere Verlobung tiefstes Geheimnis. Sie hat nicht einmal zu ihrer Mutter davon gesprochen. Ich weiß nicht, was meine Vormünder dazu sagen werden. Lord Radley wird sicher wütend sein. Ist mir ganz gleich. In weniger als einem Jahre bin ich volljährig und kann dann machen, was ich will. Hatte ich nicht recht, Basil, meine Geliebte aus dem Reich der Dichtung wegzuholen und meine Frau in Shakespeares Stücken zu finden? Lippen, die Shakespeare reden gelehrt hat, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme lagen um meinen Hals, und ich habe Julia auf den Mund geküßt.« »Ja, Dorian, ich glaube, du tatest recht«, sagte Hallward langsam. »Hast du sie heute schon gesehen?« fragte Lord Henry. Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Ich verließ sie im Ardennenwald und werde sie in einem Garten von Verona wiederfinden.« Lord Henry schlürfte nachdenklich seinen Champagner. »In welchem Augenblick hast du von Heirat gesprochen, Dorian? Und was erwiderte sie darauf? Vielleicht hast du das schon ganz vergessen.« »Lieber Harry, ich habe es nicht als Geschäft behandelt und habe ihr keinen förmlichen Antrag gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie liebe, und sie sagte, sie verdiene nicht, mein Weib zu sein. Nicht verdienen! Was ist denn die ganze Welt für mich, wenn ich sie mit ihr vergleiche!« »Die Frauen sind wunderbar praktisch,« murmelte Lord Henry -- »viel praktischer als wir. In Situationen dieser Art vergessen wir oft, etwas von Heirat zu erwähnen, und sie erinnern uns immer daran.« Hallward legte die Hand auf seinen Arm. »Nicht doch, Harry. Du kränkst Dorian. Er ist nicht wie andere Männer. Er würde nie jemand unglücklich machen. Seine Natur ist dafür zu edel.« Lord Henry blickte über den Tisch. »Dorian fühlt sich nie gekränkt durch mich«, antwortete er. »Ich habe aus dem besten Grund gefragt, den es geben kann, aus dem einzigen Grund, der eine Entschuldigung für eine Frage ist -- einfach aus Neugier. Ich habe eine Theorie, wonach es immer Frauen sind, die uns einen Antrag machen, und nicht wir den Frauen. Natürlich ausgenommen die Mittelklassen. Aber die Mittelklassen sind eben nicht modern.« Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz unverbesserlich, Harry; aber ich bin nicht böse. Man kann dir ja gar nicht böse sein. Wenn du Sibyl Vane siehst, wirst du fühlen, daß der Mann, der ihr ein Leid antun kann, ein Tier sein muß, ein herzloses Tier. Ich kann nicht begreifen, wie man es über sich gewinnen kann, ein Wesen, das man liebt, in Schande zu bringen. Ich liebe Sibyl Vane. Ich möchte sie auf einen goldenen Sockel stellen und dann sehen, wie die ganze Welt das Weib anbetet, das mir gehört. Was ist Ehe? Ein unwiderrufliches Gelübde. Du spottest deshalb darüber. Ach, spotte nicht! Ein unwiderrufliches Gelübde will ich ablegen. Ihr Vertrauen macht mich treu, ihr Glaube macht mich gut. Wenn ich bei ihr bin, verleugne ich alles, was du mich gelehrt hast. Ich werde ein ganz anderer Mensch als der, den du in mir siehst. Ich bin verwandelt, und die bloße Berührung von Sibyl Vanes Hand läßt mich alle deine falschen, bezaubernden, vergifteten, entzückenden Theorien vergessen.« »Und die wären?« fragte Lord Henry, während er Salat nahm. »Oh, deine Theorien über das Leben, deine Theorien über die Liebe, deine Theorien über den Genuß. Tatsächlich alle deine Theorien, Harry.« »Genuß ist das einzige auf der Welt, das eine Theorie verdient«, antwortete er mit seiner sanften, musikalischen Stimme. »Aber ich fürchte, es ist nicht meine eigene Theorie. Sie gehört der Natur, nicht mir. Genuß ist das Siegel der Natur, das Zeichen ihrer Zustimmung. Wenn wir glücklich sind, dann sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich.« »Ah, doch, was verstehst du unter gut?« rief Basil Hallward. »Ja,« wiederholte Dorian, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und über den massigen Strauß rotblutiger Schwertlilien in der Mitte des Tisches zu Lord Henry blickte, »was verstehst du unter gut, Harry?« »Gut sein, heißt mit sich selbst im Einklang sein«, antwortete er, den dünnen Stengel seines Glases mit blassen, feingespitzten Fingern umfassend. »Mißklang heißt es, mit anderen übereinstimmen müssen. Das eigene Leben -- das ist es, worauf es ankommt. Was das Leben unserer Nachbarn betrifft, nun, wenn man durchaus ein Affe oder ein Puritaner sein will, dann mag man ihnen ja seine moralischen Ansichten ins Gesicht schleudern, aber sie gehen einen schließlich gar nichts an. Abgesehen davon, hat der Individualismus in der Tat die höheren Ziele. Die moderne Sittlichkeit besteht darin, daß man den Maßstab seiner Zeit anerkennt. Ich habe die Meinung, daß jeder kultivierte Mensch, der den Maßstab seiner Zeit anerkennt, damit eines der gröbsten Sittlichkeitsverbrechen begeht.« »Wenn man aber nur für sich selbst lebt, Harry, muß man da nicht einen furchtbaren Preis dafür zahlen?« fragte der Maler. »Ja, heutzutage werden wir in allem überteuert. Ich glaube, die wirkliche Tragödie der Armut ist die, daß sich die Armen nichts leisten können als Selbstverleugnung. Schöne Sünden sind wie alle schönen Dinge ein Vorrecht der begüterten Klassen.« »Man muß in anderer Münze zahlen als mit Geld.« »In welcher Münze, Basil?« »Ich meine mit Gewissensbissen, mit Schmerzen, mit... na eben mit dem Gefühl der Erniedrigung.« Lord Henry zuckte die Achseln. »Mein lieber Junge, die mittelalterliche Kunst ist etwas Entzückendes, aber mittelalterliche Gefühle sind nicht mehr Mode. Man kann sie freilich in der Dichtung gebrauchen. Aber die einzigen Dinge, die in Dichtungen zu verwerten sind, sind solche, um die man sich in der Wirklichkeit nicht mehr kümmert. Glaube mir, kein zivilisierter Mensch bereut einen durchlebten Genuß, und kein unzivilisierter Mensch weiß, was ein Genuß ist.« »Ich weiß, was ein Genuß ist!« rief Dorian Gray. »Jemand anbeten.« »Das ist jedenfalls besser, als angebetet zu werden«, antwortete Harry, während er mit einigen Früchten spielte. »Angebetet zu werden, ist peinlich. Die Weiber behandeln uns genau so wie die Menschheit ihre Götter. Sie beten uns an und quälen uns unaufhörlich, irgendwas für sie zu tun.« »Ich würde sagen, alles, was sie von uns verlangen, haben sie uns zuerst geschenkt«, sagte der Jüngling ernst und leise. »Sie erzeugen die Liebe in uns. Sie haben ein Recht, sie dann zurückzuverlangen.« »Das ist ganz richtig, Dorian«, rief Hallward. »Ganz richtig ist niemals etwas«, sagte Lord Henry. »Das ist es«, unterbrach Dorian. »Du mußt zugeben, Harry, daß nur die Frauen den Männern das reinste Gold des Lebens schenken.« »Vielleicht,« seufzte er, »aber unweigerlich verlangen sie es dann in Kleingeld umgewechselt zurück. Das ist der Jammer dabei. >Die Frauen,< hat einmal ein witziger Franzose gesagt, >regen uns an, Meisterwerke zu schaffen, und verhindern uns immer, sie auszuführen.<« »Harry, du bist schrecklich! Ich weiß gar nicht, warum ich dich so gern habe.« »Du wirst mich immer gern haben, Dorian«, antwortete er. »Wollen wir Kaffee trinken, Kinder? -- Kellner, bringen Sie Kaffee, fine Champagne und Zigaretten. Nein, lassen Sie die Zigaretten, ich habe selbst bei mir. Basil, ich kann dir nicht erlauben, Zigarren zu rauchen. Du mußt eine Zigarette nehmen. Eine Zigarette ist der vollendete Ausdruck eines vollendeten Genusses. Er ist köstlich und läßt dabei unbefriedigt. Was will man mehr verlangen? Ja, Dorian, du wirst mich immer lieb haben. Ich bin für dich der Inbegriff aller Sünden, die du zu begehen nie den Mut haben wirst.« »Was für Unsinn du redest, Harry!« rief der junge Mann, während er seine Zigarette an dem feuerspeienden Silberdrachen anzündete, den der Kellner auf den Tisch gestellt hatte. »Wir wollen jetzt ins Theater. Wenn Sibyl auftritt, werdet ihr ein neues Lebensideal bekommen. Sie wird euch etwas offenbaren, das ihr noch nicht gekannt habt.« »Ich habe alles kennengelernt,« sagte Lord Henry mit einem müden Ausdruck in den Augen, »aber ich bin immer bereit, mir eine neue Emotion zu verschaffen. Nur fürchte ich, daß es für mich derlei kaum noch gibt. Immerhin, dein wunderbares Mädchen wird mich vielleicht erschüttern. Ich liebe die Schauspielkunst. Sie ist soviel wirklicher als das Leben. Wir wollen gehen. Dorian, du kannst bei mir einsteigen. Basil, es tut mir leid, aber in meinem Brougham ist nur Platz für zwei. Du mußt schon in einer Droschke nachfahren.« Sie standen auf, zogen ihre Röcke an und tranken den Kaffee im Stehen. Der Maler war schweigsam und bedrückt. Ein düsteres Gefühl lastete auf ihm. Er konnte diese Ehe nicht gutheißen, und sie schien ihm doch besser zu sein als manches andere, das hätte geschehen können. Nach einigen Minuten gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter. Er fuhr, wie verabredet, allein, und sah auf die blitzenden Lichter des kleinen Wagens, der vor ihm dahinrollte. Das seltsame Gefühl eines großen Verlustes überkam ihn. Er fühlte, daß Dorian Gray nie wieder das für ihn sein würde, was er ihm früher gewesen war. Das Leben war zwischen sie getreten... Vor seinen Augen ward es dunkel, und die menschenvollen, erleuchteten Straßen verschwammen vor seinem Blick. Als seine Droschke am Theater vorfuhr, schien es ihm, als sei er um viele Jahre älter geworden. Siebentes Kapitel Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend besonders dicht gefüllt, und der fette jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing, strahlte von einem Ohr zum anderen in einem öligen, zuckenden Lächeln. Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer gewissen prahlerischen Demut, die feisten, juwelenbedeckten Hände hastig bewegend und sich mit der Stimme beinahe überschlagend. Dorian verabscheute ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl, als sei er gekommen, um Miranda zu besuchen und Caliban habe ihn empfangen. Dagegen hatte Lord Henry etwas für ihn übrig. Wenigstens erklärte er, daß er ihm gefiele, bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und versicherte ihm, er sei stolz darauf, einen Mann kennenzulernen, der ein bedeutendes Genie entdeckt habe und an einem Dichter bankerott geworden sei. Hallward unterhielt sich damit, die Gestalten im Stehparterre zu beobachten. Die Hitze war äußerst drückend, und der riesige Sonnenkronleuchter flammte wie eine gigantische Dahlie mit Blättern von gelbem Feuer. Die jungen Leute auf der Galerie hatten Röcke und Westen ausgezogen und sie über die Brüstung gehängt. Sie riefen einander quer über das ganze Theater zu und fütterten die grell gekleideten Mädchen neben ihnen mit Orangen. Ein paar Weiber unten im Stehparterre lachten. Ihre Stimmen waren schrecklich schrill und unangenehm. Vom Büfett her hörte man Flaschen entkorken. »Was für ein sonderbarer Platz, um seine Göttin zu finden!« sagte Lord Henry. »Ja«, erwiderte Dorian Gray. »Hier habe ich sie gefunden, und sie ist göttlicher als alles Lebendige. Wenn sie spielt, wirst du alles vergessen. Diese gewöhnlichen rohen Leute mit ihren alltäglichen Gesichtern und brutalen Bewegungen werden ganz verwandelt, sobald sie auf der Bühne steht. Sie sitzen stumm da und beobachten sie. Sie weinen und lachen, wenn sie es will. Sie hält sie in Stimmung, wie man es mit einer Geige tut. Sie veredelt sie, und man spürt, daß sie vom selben Fleisch und Blut sind wie man selbst.« »Vom selben Fleisch und Blut wie man selbst? Oh, ich hoffe nicht!« rief Lord Henry, der die Leute auf der Galerie mit seinem Opernglas musterte. »Höre nicht auf ihn, Dorian!« sagte der Maler. »Ich begreife, was du meinst, und ich glaube an dies Mädchen. Der Mensch, den du liebst, muß wunderbar sein, und jedes Mädchen, das die von dir geschilderte Wirkung erzielt, muß fein und edel sein. Seine Mitmenschen veredeln -- das verlohnt der Mühe. Wenn dies Mädchen die beseelen kann, die seelenlos gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein schmutzig und häßlich war, einen Sinn für Schönheit wecken kann, wenn sie sie aus ihrem Eigennutze losreißen und ihnen Tränen um Sorgen entlocken kann, die nicht ihre eigenen sind, dann ist sie deiner Verehrung wert, dann ist sie der Verehrung der ganzen Welt wert. Solche Heirat ist ganz das Rechte. Ich dachte zuerst nicht so, aber jetzt gebe ich es zu. Die Götter haben Sibyl Vane für dich geschaffen. Ohne sie wärst du nur unvollständig gewesen.« »Danke, Basil«, antwortete Dorian Gray und drückte ihm die Hand. »Ich wußte, daß du mich verstehst. Harry ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das Orchester. Es ist furchtbar, aber es dauert nur knappe fünf Minuten. Dann geht der Vorhang auf und du erblickst ein Mädchen, dem ich mein ganzes Leben schenken will, dem ich alles überantwortet habe, was gut ist in mir.« Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem geräuschvollen Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend -- eins der entzückendsten Geschöpfe, dachte Lord Henry, die er je gesehen hatte. Es lag etwas von einem Reh in ihrer scheuen Grazie und ihren erstaunten Augen. Ein schwaches Erröten wie der Widerschein einer Rose in einem silbernen Spiegel trat auf ihre Wangen, als sie das überfüllte und begeisterte Haus erblickte. Sie trat ein paar Schritte zurück, und ihre Lippen schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu klatschen. Bewegungslos, und wie in tiefem Traume, saß Dorian Gray da und sah sie an. Lord Henry starrte unverwandt durch sein Glas und murmelte: »Entzückend! Entzückend!« Die Szene stellte die Halle in Capulets Hause dar, und Romeo war in seinem Pilgerkleid mit Mercutio und seinen anderen Freunden aufgetreten. Die Musik präludierte, so gut sie konnte, mit ein paar Akkorden, und der Tanz fing an. Mitten in dem Gewimmel von ungeschickten, schäbig gekleideten Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf aus einer höheren Welt. Ihr Körper schwebte im Tanze wie eine Blume auf dem Wasser. Die Linien ihres Halses glichen denen einer weißen Lilie. Ihre Hände schienen aus kühlem Elfenbein zu sein. Und doch schien sie von seltsamer Abwesenheit. Sie zeigte kein Zeichen der Freude, während ihr Auge auf Romeo ruhte. Die wenigen Worte, die sie zu sprechen hatte -- Nein, Pilger, lege nichts der Hand zuschulden Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß; Der Heiligen Rechte darf Berührung dulden, Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuß -- mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie in einem ganz gekünstelten Tone. Die Stimme klang wundervoll, aber der Ton ganz verfehlt. Er traf die Stimmungsfarbe nicht. Er nahm den Versen alles Leben. Er machte die Leidenschaft unwahr. Dorian Gray erbleichte, als er es hörte. Er war verlegen und erschreckt. Seine beiden Freunde wagten nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien ja ganz talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht. Aber sie wußten, daß der wahre Prüfstein für jede Julia die Balkonszene im zweiten Akt sei. Darauf warteten sie. Wenn sie hier versagte, war nichts an ihr. Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand leugnen. Aber das Theatralische ihres Spiels war unerträglich und wurde im Verlauf immer ärger. Ihre Gesten waren lächerlich gekünstelt. Sie übertrieb das Pathos von allem, was sie zu sagen hatte. Die wundervollen Verse -- Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht, Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen Um das, was du vorhin mich sagen hörtest -- deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens, das einen mittelmäßigen Vortragslehrer in der Schule gehabt hat. Als sie sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen kam -- Obwohl ich dein mich freue, Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht: Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich, Gleicht allzusehr dem Blitz, der schon vorbei, Noch eh' man sagen kann: es blitzt. -- Schlaf süß! Mag warmer Sommerhauch die Liebesknospe Zur Blume bis zum Wiedersehn entfalten -- sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für sie. Es war nicht Aufregung. Nein, weit entfernt davon, erregt zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war einfach schlechte Kunst. Es war ein richtiger Abfall. Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum auf Stehplatz und Galerie verlor sein Interesse am Stück. Man wurde unruhig und begann laut zu sprechen und zu zischen. Der jüdische Direktor, der im Hintergrunde des ersten Ranges stand, stampfte mit den Füßen und fluchte vor Wut. Einzig und allein unbewegt war das Mädchen selbst. Als der zweite Akt vorüber war, brach ein Sturm von Zischen los, und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Rock an. »Sie ist wunderschön, Dorian,« sagte er, »aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen.« »Ich will das Stück zu Ende sehen«, antwortete der junge Mann mit harter, bitterer Stimme. »Es tut mir äußerst leid, daß ich dich veranlaßt habe, einen Abend zu vergeuden, Harry. Ich muß mich bei euch beiden entschuldigen.« »Mein lieber Dorian, ich glaube, Miß Vane war krank«, unterbrach ihn Hallward. »Wir wollen an einem anderen Abend wiederkommen.« »Ich wünschte, sie wäre krank«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt. Sie ist völlig verändert. Gestern abend war sie eine große Künstlerin. Heute abend ist sie nur eine gewöhnliche, mittelmäßige Schauspielerin.« »Sprich nicht so über jemand, den du liebst, Dorian. Liebe ist etwas viel Wunderbareres als Kunst.« »Es sind beides nur Formen der Nachahmung«, bemerkte Lord Henry. »Aber wir wollen gehen. Dorian, du darfst nicht länger hier bleiben. Es schadet der Moral, schlechte Schauspielkunst zu sehen. Ich glaube übrigens nicht, daß du deine Frau auftreten lassen wirst. Was liegt also daran, ob sie die Julia wie eine Holzpuppe spielt! Sie ist wirklich bezaubernd, und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen, wird sie dir eine köstliche Erfahrung sein. Es gibt nur zwei Arten fesselnder Menschen -- solche, die alles wissen, und solche, die gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, mach' kein so tragisches Gesicht! Das Rezept, jung zu bleiben, besteht einfach darin, nie eine Erregung haben, die unzuträglich ist. Komm mit Basil und mir in den Klub! Wir wollen Zigaretten rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit trinken. Sie ist schön. Was willst du noch mehr?« »Geh, Harry!« rief der Jüngling. »Ich will allein sein. Basil, geh! Ach, könnt ihr nicht sehen, daß mir das Herz bricht?« Heiße Tränen traten ihm in die Augen. Seine Lippen bebten, er drückte sich in die dunkelste Ecke der Loge, lehnte sich an die Wand und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Komm, Basil«, sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher Stimme; und die beiden jungen Männer gingen zusammen hinaus. Ein paar Augenblicke später flammte die Rampe wieder auf, und der Vorhang rauschte zum dritten Akt in die Höhe. Dorian Gray ging auf seinen Platz zurück. Er sah bleich, abwesend, gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich weiter und schien endlos zu sein. Die Hälfte des Publikums ging weg, auf schweren Stiefeln trampelnd und lachend. Das Ganze war ein richtiges Fiasko. Der letzte Akt wurde beinah vor leeren Bänken gespielt. Der Vorhang fiel unter Zischen und höhnischem Gegrunze. Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, mit einem triumphierenden Zuge im Antlitz. Die Augen leuchteten in einem merkwürdigen Feuer. Eine Art Glanz umschwebte sie. Ihre halbgeöffneten Lippen lächelten wie ein Geheimnis, das ihnen allein bewußt war. Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglichen Glückes kam über sie. »Wie schlecht ich heute gespielt habe, Dorian!« rief sie. »Schrecklich«, antwortete er und sah sie voll Staunen an -- »schrecklich. Es war geradezu fürchterlich. Bist du krank? Du hast keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.« Das Mädchen lächelte. »Dorian«, antwortete sie und zog seinen Namen mit einem musikalischen Klang in die Länge, als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer als Honig -- »Dorian, du hättest begreifen sollen. Aber jetzt begreifst du, nicht wahr?« »Was?« fragte er heftig. »Warum ich heute abend so schlecht spielte. Warum ich immer schlecht spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.« Er zuckte die Achseln. »Du bist gewiß krank. Wenn du krank bist, solltest du nicht spielen. Du machst dich nur lächerlich. Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich ebenfalls.« Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war wie verklärt vor Vergnügen. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie. »Dorian, Dorian,« rief sie, »bevor ich dich kannte, war Spielen die einzige Wirklichkeit in meinem Leben. Nur im Theater lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An einem Abend war ich Rosalinde und Portia am andern. Beatrices Glück war mein Glück, und Kordelias Tränen waren die meinen. Ich glaubte an alles. Dies gewöhnliche Volk, das mit mir spielte, schien mir göttlich. Die bemalten Kulissen bedeuteten für mich die Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und ich nahm sie für Wirklichkeit. Da kamst du -- o mein schöner Geliebter -- und befreitest meine Seele aus der Kerkerhaft. Du hast mich gelehrt, was die wahre Wirklichkeit ist. Heute habe ich zum erstenmal die ganze Hohlheit durchschaut, den Betrug, die Albernheit des falschen, verlogenen Flittertandes, zwischen dem ich bisher gespielt habe. Heute abend wußte ich zum ersten Male, daß dieser Romeo abscheulich und alt und geschminkt ist, daß der Mond im Garten Blendwerk, die ganze Szenerie ordinär ist und daß die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte sind, nicht, was ich hätte sagen müssen. Du hast mir etwas Höheres geschenkt, etwas, von dem alle Kunst nur Abglanz ist. Du hast mich begreifen gelehrt, was Liebe ist. Mein Geliebter! Mein Geliebter! Prinz Märchenschön! Prinz meines Lebens! Ich kann die Schatten nicht mehr ertragen. Du bist mir mehr, als mir alle Kunst je sein kann. Was hab' ich mit den Puppen eines Spiels zu schaffen? Als ich heute abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie es gekommen war, daß alles verschwunden sein sollte. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll sein. Ich merkte, daß ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte es meiner Seele, was das alles bedeutete. Es war ein herrliches Wissen. Ich hörte sie zischen und lächelte. Was konnten die wissen von einer Liebe wie die unsere? Nimm mich fort, Dorian -- nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein sein können. Ich hasse das Theater. Ich konnte vielleicht ein Gefühl darstellen, das ich nicht spüre, aber ich kann doch nicht eins spielen, das mich verbrennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, begreifst du jetzt, was das bedeutet? Selbst wenn ich es zustande brächte, wär' es Entweihung, zu spielen, während ich liebe. Du hast mich sehend gemacht.« Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. »Du hast meine Liebe getötet«, murmelte er. Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam hin zu ihm und strich mit ihren kleinen Fingern durch sein Haar. Sie kniete nieder und preßte seine Hände an ihre Lippen. Er schob sie weg, und ein Schauder überlief ihn. Dann sprang er auf und schritt zur Tür. »Ja,« rief er, »du hast meine Liebe getötet. Bisher hast du meine Phantasie gefesselt. Jetzt fesselst du nicht einmal meine Neugier. Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein Wunder warst, weil du Genie und Geist hattest, weil du die Träume großer Dichter verkörpertest und den Schatten der Kunst Gestalt und Körper verliehest. All das hast du weggeworfen. Jetzt bist du leer und seicht. Mein Gott. Was für ein Narr war ich, dich zu lieben! Wie verblendet war ich! Jetzt bist du mir nichts mehr. Ich will dich niemals wiedersehen. Nie mehr an dich denken. Nie mehr deinen Namen aussprechen. Du weißt nicht, was du mir einmal warst. Ja, einmal, einmal... Oh, ich ertrage es nicht, daran zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich niemals gesehen. Du hast die Poesie meines Lebens vernichtet. Wie wenig mußt du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie lähme deine Kunst! Ohne deine Kunst bist du nichts. Ich hätte dich berühmt gemacht, zu einem Sterne, zu etwas Herrlichem. Die Welt hätte dich angebetet, und du hättest meinen Namen getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Ranges mit einem hübschen Gesichtchen.« Das Mädchen war totenblaß geworden und zitterte. Sie preßte die Hände zusammen, und die Sprache schien ihr in der Kehle erstickt zu sein. »Du meinst es doch nicht im Ernst, Dorian?« flüsterte sie. »Du verstellst dich nur.« »Verstellen? Das überlaß ich dir. Du verstehst es ja so gut«, entgegnete er bitter. Sie erhob sich von den Knien und ging mit einem wehen, qualvollen Antlitz zu ihm hin. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen. Er stieß sie zurück. »Berühre mich nicht!« schrie er. Ein leises Stöhnen brach aus ihr hervor, und sie warf sich ihm zu Füßen und lag da wie eine zertretene Blume. »Dorian, Dorian, geh nicht fort von mir!« rief sie leise. »Ich bin so betrübt, daß ich nicht gut gespielt habe. Ich dachte nur immer an dich. Aber ich will es wieder versuchen -- wirklich, ich will es versuchen. Es kam so jäh über mich, die Liebe zu dir. Ich glaube, ich hätte nie etwas von ihr gewußt, wenn du mich nicht geküßt hättest -- wenn wir uns nicht geküßt hätten. Küß mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir! Ich könnte es nicht überleben. Oh, verlaß mich nicht! Mein Bruder... nein, nichts darüber. Er meinte es nicht im Ernst. Er scherzte nur... Aber du, oh! Kannst du mir nie den heutigen Abend verzeihen? Ich werde so fleißig sein und mir Mühe geben, besser zu werden. Sei nicht grausam gegen mich, weil ich dich mehr liebe als alles in der Welt. Es ist doch nur ein einziges Mal, wo ich dir mißfallen habe. Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin zeigen sollen. Es war närrisch von mir; und doch konnte ich nicht anders. Ach, verlaß mich nicht, verlaß mich nicht.« Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte sich nieder wie ein wundes Tier, und Dorian Gray sah mit seinen schönen Augen zu ihr herab, und seine feingeschnittenen Lippen kräuselten sich in tiefster Verachtung. Die Gefühlsregungen von Menschen, die man nicht mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches an sich. Sibyl Vane schien ihm überspannt melodramatisch zu sein. Ihre Tränen und ihr Schluchzen langweilten ihn nur. »Ich gehe«, sagte er schließlich mit seiner klaren, ruhigen Stimme. »Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann dich nicht mehr sehen. Du hast mich enttäuscht.« Sie weinte still weiter und sagte nichts, sondern kroch näher. Ihre kleinen Hände streckten sich ins Leere hinaus und schienen ihn zu suchen. Er wandte sich stehenden Fußes herum und verließ das Zimmer. Wenige Augenblicke später hatte er das Theater hinter sich. Wohin er ging, wußte er selber kaum. Er erinnerte sich, durch schwach beleuchtete Gassen gewandert, an traurigen, in schwarze Schatten getauchten Türbogen und elend aussehenden Häusern vorbeigekommen zu sein, Weiber mit heiseren Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter ihm her gerufen. Betrunkene waren fluchend und mit sich selber sprechend, wie Riesenaffen, an ihm vorbeigetaumelt. Er hatte putzige Kinder auf den Stufen kauern sehen und Schreien und Schimpfen aus düsteren Höfen gehört. Als der Morgen graute, fand er sich dicht bei Covent Garden. Die Dunkelheit schwand, die Luft rötete sich in blaßrotem Feuer, und der Himmel wölbte sich zu einer vollendeten Perle. Mächtige Wagen voll nickender Lilien rumpelten langsam die gerade, leere Straße hinab. Die Luft war schwer vom Dufte der Blumen, und die Schönheit schien seinem Schmerz Linderung zu bringen. Er trat in die Markthalle und sah den Männern zu, die ihre Wagen ausluden. Ein Fuhrmann in weißem Kittel bot ihm von seinen Kirschen an. Er dankte ihm, wunderte sich, warum er kein Geld dafür annehmen wollte, und begann zerstreut davon zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt worden, und sie hatten die Kühle des Mondes in sich. Burschen in langer Reihe schleppten Körbe voll gestreifter Tulpen und von gelben und roten Rosen herbei, trotteten an ihm vorbei, als sie sich ihren Weg durch die großen, gelblichgrünen Gemüsestapel suchten. Unter den grauen, in der Sonne bleichen Säulen der Vorhalle lungerte ein Trupp von schmuddeligen Mädchen ohne Hüte und warteten, bis die Versteigerung vorbei war. Andere drängten sich um die auf- und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf der Piazza. Die schweren Lastgäule glitten auf dem Pflaster aus und stampften über die holperigen Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrmänner lagen schlafend auf einem Haufen von Säcken. Mit regenbogenfarbenen Hälsen und rötlichen Füßen trippelten die Tauben mitten darin umher und pickten sich Körner auf. Nach einer Weile rief er sich eine Droschke und fuhr nach Hause. Ein paar Augenblicke blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte über den schweigenden Platz und auf die Häuser mit den blanken, geschlossenen Fenstern und den hellen Gardinen. Der Himmel war jetzt ein wirklicher Opal, und die Dächer der Häuser glitzerten ihm wie Silber entgegen. Von einem Schornstein gegenüber stieg eine dünne Rauchsäule in die Höhe. Sie schlängelte sich wie ein violettes Band durch die perlmutterfarbene Luft. In der großen venezianischen Goldlaterne, einer Beute von der Barke irgendeines Dogen, die von der Decke der großen eichengetäfelten Vorhalle herabhing, brannten noch drei flackernde Gaslichter: wie dünne blaue Feuerblüten, von weißen Flammen umsäumt. Er drehte sie aus, warf Hut und Mantel auf den Tisch und ging durch die Bibliothek zur Tür seines Schlafzimmers. Das war ein großer, achteckiger Raum zu ebener Erde, den er in seinem neu erwachten Gefühl für Luxus erst unlängst einrichten und mit einigen schnurrigen Renaissancegobelins hatte bespannen lassen, die er in einer nicht mehr gebrauchten Dachkammer in Selby Royal entdeckt hatte. Als er eben nach der Klinke griff, fiel sein Blick auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt schrak er zurück. Dann ging er in sein Zimmer und sah nachdenklich und betroffen aus. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen hatte, schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück, trat vor das Bild und musterte es. In dem unbestimmten, gedämpften Licht, das durch die mattgelblichen Seidenvorhänge drang, schien ihm das Gesicht ein wenig verändert. Der Ausdruck war anders. Man hätte sagen können, daß ein grausamer Zug um den Mund läge. Es war wirklich seltsam. Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang auf. Der helle Morgen flutete durch das Zimmer und fegte die phantastischen Schatten in düstere Winkel, wo sie zitternd liegenblieben. Aber der seltsame Ausdruck, den er im Gesicht des Bildes bemerkt hatte, schien nicht nur dazubleiben, sondern sich noch verstärkt zu haben. Das heiße, zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so deutlich, als sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Furchtbares verübt hätte. Er fuhr zusammen und nahm vom Tisch einen ovalen Spiegel, dessen Fassung von elfenbeinernen Liebesgöttern gebildet wurde, eines der vielen Geschenke Lord Henrys, und blickte hastig in die glänzende Tiefe. Keine Linie solcher Art verunstaltete seine roten Lippen. Was sollte dies bedeuten? Er rieb sich die Augen und trat ganz nahe an das Bild heran, um es abermals zu mustern. An der Technik der Malerei konnte man gar keine Spur einer Veränderung bemerken, und doch war kein Zweifel, daß sich der Ausdruck im ganzen verändert hatte. Es war keine Einbildung von ihm. Die Sache war schrecklich klar. Er warf sich in einen Stuhl und begann zu grübeln. Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die Worte, die er in Basil Hallwards Atelier an dem Tage gesagt hatte, wo das Bild fertig geworden war. Ja, er erinnerte sich ganz deutlich. Er hatte den sinnlosen Wunsch ausgesprochen, daß er selbst jung bleiben solle, und das Porträt altern: daß seine eigene Schönheit fleckenlos bleiben, und das Antlitz auf der Leinwand die Last seiner Leidenschaften und Sünden tragen solle: daß das gemalte Bildnis von den Linien des Leidens und Denkens durchfurcht werden und er selbst den feinen Schmelz und alle Lieblichkeit seiner Jugend behalten solle, deren er sich damals gerade bewußt geworden war. Sein Wunsch war doch nicht erfüllt worden? Solche Dinge bleiben unmöglich. Nur so etwas zu denken, schien ungeheuerlich. Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte den Zug von Grausamkeit um den Mund. Grausamkeit! War er grausam gewesen? Das Mädchen hatte schuld, nicht er. Er hatte von ihr geträumt, als einer großen Künstlerin, hatte ihr seine Liebe geschenkt, weil er sie für groß gehalten hatte. Dann hatte sie ihn enttäuscht. Sie war hohl und wertlos gewesen. Und doch überkam ihn ein Gefühl unendlichen Mitleids, als er daran dachte, wie sie zu seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt hatte. Er erinnerte sich, mit welcher Gefühllosigkeit er sie betrachtet hatte. Warum war er so geschaffen worden? Warum war ihm eine solche Seele verliehen worden? Aber auch er hatte gelitten. In den drei schrecklichen Stunden, die das Stück dauerte, hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten über Ewigkeiten von Qualen durchlebt. Sein Leben war gewiß soviel wert als das ihre, wenn er sie für das ganze Leben verwundet hatte. Sie hatte ihn für einen Augenblick vernichtet. Außerdem sind die Frauen besser dafür geeignet, Leiden zu ertragen als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen. Sie denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten haben, so ist es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können. Lord Henry hatte ihm das gesagt, und Lord Henry wußte, wie es mit den Frauen bestellt war. Warum sollte er sich um Sibyl Vane beunruhigen? Sie war ihm jetzt nichts mehr. Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines Lebens in sich und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe zur eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn lehren, seine eigene Seele zu verabscheuen? Könnte er es je wieder anblicken? Nein; es war nur eine Einbildung, ein Gewebe der verwirrten Sinne. Die fürchterliche Nacht, die er durchlebte, hatte Gespenster zurückgelassen. Der winzige scharlachrote Fleck, der die Menschen zum Wahnsinn treibt, war plötzlich auf seinem Gehirn zum Vorschein gekommen. Das Bild war nicht anders geworden. Es war Wahnsinn, das anzunehmen. Aber es blickte ihn an mit seinem wunderschönen, entstellten Gesicht und seinem grausamen Lächeln. Sein helles Haar leuchtete im Sonnengold der Frühe. Seine blauen Augen blickten in seine eigenen. Ein Gefühl grenzenlosen Mitleids durchdrang ihn, nicht mit sich selbst, nein, mit dem gemalten Abbild. Schon hatte es sich verändert und würde sich noch mehr verändern. Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und weißen Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen würde, wird ein Fleck hervortreten und seine Schönheit besudeln. Aber er wird nicht sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder unverwandelt, soll für ihn das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er wird Lord Henry nicht wiedersehen -- wenigstens nicht mehr seinen blendenden, giftigen Theorien lauschen, die in Basil Hallwards Garten zum erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche Dinge aufgerüttelt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückeilen, sich bestreben, sie in ihrer Kunst zu verfeinern, sie heiraten und versuchen, sie wieder zu lieben. Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie mußte ja mehr gelitten haben als er. Armes Kind! Er war selbstsüchtig und grausam gegen sie gewesen. Der Zauber, den sie auf ihn ausgeübt hatte, würde wiederkehren. Sie würden glücklich miteinander werden. Sein Leben mit ihr würde schon und rein sein. Er stand von seinem Stuhl auf und schob einen großen Wandschirm vor das Bildnis. Er schrak zusammen, als er es anblickte. »Wie schrecklich«, flüsterte er. Dann schritt er zur Glastür und öffnete sie. Als er in das Grüne hinaus trat, atmete er tief auf. Die frische Morgenluft schien all die düsteren Leidenschaften zu verjagen. Er dachte nur noch an Sibyl. Ein schwacher Glanz seiner Liebe kehrte zurück. Er wiederholte ihren Namen immer wieder, immer wieder. Die Vögel, die in dem taubeperlten Garten sangen, schienen den Blumen von ihr zu erzählen. Achtes Kapitel Mittag war längst vorüber, als er erwachte. Sein Diener war mehrmals auf den Fußspitzen in das Zimmer geschlichen, um zu sehen, ob er wach wäre, und er hatte sich gewundert, weshalb sein junger Herr so lange schlafe. Schließlich klingelte es, und Viktor trat leise ein mit einer Schale Tee und einem Stoß Postsachen auf einer schmalen Sevresplatte und zog die olivengelben Atlasvorhänge mit ihrem blauglänzenden Futter vor den drei großen Fenstern zurück. »Monsieur hat heute morgen gut geschlafen«, sagte er lächelnd. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Dorian Gray noch verschlafen. »Ein Viertel zwei, Monsieur!« Wie spät es war! Er setzte sich auf, schlürfte einige Züge Tee und durchblätterte die Briefe. Einer davon war von Lord Henry und war diesen Morgen von einem Boten abgegeben worden. Er zögerte einen Augenblick und legte ihn dann zur Seite. Die anderen öffnete er zerstreut. Sie enthielten die gewöhnliche Sammlung von Karten, Einladungen zum Essen, Ausstellungsbilletts, Programmen für Wohltätigkeitskonzerte und ähnlichen Aufforderungen, wie sie einem jungen Mann der Gesellschaft während der Saison jeden Morgen ins Haus regnen. Es war auch eine recht große Rechnung dabei für ein Toiletteservice im Stile Louis des Fünfzehnten, aus getriebenem Silber, die er noch nicht mutig genug gewesen war, seinen Vormündern vorzulegen, die außerordentlich altmodische Herren waren und nicht begreifen konnten, daß man in einer Zeit lebe, wo die unnötigen Dinge unsere einzige Notwendigkeit sind; und außerdem war eine Reihe sehr höflich abgefaßter Mitteilungen aus Jermyn Street da, in denen man sich anbot, ihm in der kürzesten Zeit jeden Geldbetrag zu dem mäßigsten Zinsfuße vorzustrecken. Etwa nach zehn Minuten stand er auf, schlüpfte in einen raffinierten Schlafrock aus Kaschmirwolle mit Seidenstickereien, und ging in das onyxgepflasterte Badezimmer. Das kalte Wasser erquickte ihn nach dem langen Schlaf. Er schien alles vergessen zu haben, was er hinter sich hatte. Ein- oder zweimal durchzuckte ihn ein undeutliches Gefühl, als wäre er irgendwie in eine seltsame Tragödie verwickelt gewesen, aber die Unwirklichkeit eines Traumes webte darüber. Sobald er angezogen war, ging er in das Bibliothekszimmer und setzte sich zu einem leichten französischen Frühstück nieder, das auf einem kleinen, runden Tische nahe beim offenen Fenster bereit stand. Es war ein entzückender Tag. Die warme Luft schien mit Wohlgerüchen gewürzt. Eine Biene flog herein und summte um die Schale aus blauem Drachenporzellan, die voller schwefelgelber Rosen vor ihm stand. Er fühlte sich vollkommen glücklich. Plötzlich fiel sein Blick auf den Wandschirm, den er vor das Bild gestellt hatte, und er zuckte zusammen. »Ist es zu kalt für den gnädigen Herrn?« fragte der Diener, während er eine Omelette auf den Tisch stellte. »Soll ich das Fenster schließen?« Dorian schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete er. War es alles wahr? Hatte sich das Bild wirklich verändert? Oder war es lediglich seine eigene Phantasie gewesen, die ihm einen Zug von Schlechtigkeit vorgespiegelt hatte, wo nur ein Zug von Freude gewesen war? Eine gemalte Leinwand konnte sich doch nicht verändern? Das war doch Tollheit! Das würde er eines Tages Basil als Märchen erzählen. Er würde darüber lächeln. Und doch, wie lebendig war die Erinnerung an die ganze Sache! Zuerst in dem schwankenden Zwielicht und dann in der hellen Morgenfrühe hatte er den Zug von Grausamkeit um die geschwungenen Lippen bemerkt. Er fürchtete sich förmlich davor, daß sein Diener hinausgehen könnte. Er wußte, er würde, sowie er allein sei, das Bild betrachten müssen. Er fürchtete sich vor dieser Gewißheit. Als der Diener Kaffee und Zigaretten gebracht hatte und sich zum Gehen wandte, empfand er den heftigsten Wunsch, ihn dableiben zu lassen. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen hatte, rief er ihn zurück. Der Mann stand da und wartete auf seine Befehle. Dorian sah ihn einen Augenblick an. »Ich bin für niemand zu Hause, Viktor«, sagte er mit einem Seufzer. Der Mann verbeugte sich und ging hinaus. Dann stand er vom Tische auf, zündete sich eine Zigarette an und warf sich auf eine üppig gepolsterte Ottomane, die gegenüber dem Schirme stand. Es war ein alter Wandschirm aus vergoldetem spanischen Leder, in das ein blumiges Louis-Quatorze-Muster getrieben war. Er musterte ihn forschend und fragte sich, ob der Schirm wohl schon jemals das Geheimnis eines Menschenlebens verhüllt habe. Sollte er ihn überhaupt wegschieben? Warum ihn nicht da stehen lassen? Was half die Gewißheit? War die Sache wahr, so war es schrecklich. War sie nicht wahr, wozu sich darüber beunruhigen? Aber wie, wenn durch Schicksalstücke oder irgendeinen tödlichen Zufall andere Augen als die seinen dahinter blickten und die fürchterliche Veränderung sähen? Was wollte er tun, wenn Basil Hallward kam und sein eigenes Bild sehen wollte? Das würde Basil sicher tun. Nein, die Sache mußte untersucht werden, und zwar auf der Stelle. Alles war besser als diese schreckliche Ungewißheit. Er stand auf und verschloß beide Türen. Er wollte wenigstens allein sein, wenn er die Maske seiner Schande betrachtete. Dann schob er den Schirm zur Seite und sah sich selbst von Angesicht zu Angesicht. Es war vollständig wahr. Das Bildnis hatte sich verändert. Er erinnerte sich später oft und immer mit nicht geringer Verwunderung, daß er zuerst das Bild mit einem Gefühl von wissenschaftlichem Interesse geprüft habe. Daß eine solche Veränderung möglich sei, schien ihm nicht glaublich. Und doch war es Tatsache. Gab es irgendeine geheime Verwandtschaft zwischen den chemischen Atomen, die auf der Leinwand Form und Farbe werden, und der Seele, die in ihm lebte? Konnte es sein, daß sie in Wirklichkeit ausdrückten, was seine Seele dachte? -- daß sie zur Wahrheit machten, was sie träumte? Oder gab es eine andere schreckliche Beziehung? Er schauderte zusammen und fühlte sich von Angst gepackt. Dann ging er zu der Ottomane zurück und lag nun da, das Bildnis in krankhaftem Schrecken anstierend. Eine Wirkung aber, das fühlte er, hatte es gehabt. Es hatte ihm klargemacht, wie ungerecht, wie grausam er gegen Sibyl Vane gewesen war. Noch war es nicht zu spät, das wieder gut zu machen. Sie konnte noch sein Weib werden. Seine unwahre, selbstsüchtige Liebe sollte einer höheren Kraft den Platz einräumen, sollte sich zu einer edleren Leidenschaft erhöhen und das Bildnis, das Basil Hallward gemalt hatte, sollte sein Führer durchs Leben, sollte das für ihn sein, was Heiligkeit für einige ist, Gewissen für andere und Gottesfurcht für uns alle ist. Es gab Schlafmittel für Gewissensbisse, Medikamente, die das Sittlichkeitsgefühl in Schlaf lullen konnten. Aber hier war das durch Sündigkeit hervorgerufene sichtbare Symbol der Erniedrigung. Hier war das ewig unauslöschliche Zeichen des Verderbens, das Menschen der eigenen Seele zufügen. Es schlug drei und vier, und noch eine halbe Stunde ließ das doppelte Zeichen erklingen, aber Dorian Gray rührte sich nicht. Er bemühte sich, die scharlachroten Fäden des Lebens zu entwirren und sie in ein Muster zu verschlingen; seinen Weg zu finden aus dem blutroten Irrgarten der Leidenschaft, den er durchwanderte. Er wußte nicht, was er tun, nicht, was er denken sollte. Endlich trat er an den Tisch und schrieb einen leidenschaftlichen Brief an das Mädchen, das er geliebt hatte, flehte sie an, ihm zu verzeihen, und beschuldigte sich des Wahnsinns. Er bedeckte Seite um Seite mit wilden Worten der Sorge und noch heftigeren des Schmerzes. Es gibt eine Wollust in Selbstanklagen. Wenn wir uns selbst tadeln, haben wir das Gefühl, daß uns kein anderer tadeln dürfe. Die Beichte, nicht der Priester, erteilt uns Absolution. Als Dorian den Brief beendet hatte, fühlte er, daß ihm vergeben worden sei. Plötzlich pochte man an die Tür und er hörte Lord Henrys Stimme draußen. »Lieber Junge, ich muß dich sehen. Laß mich gleich herein! Ich kann es nicht zugeben, daß du dich so absperrst!« Er gab zuerst keine Antwort, sondern blieb ganz still. Das Klopfen wiederholte sich und wurde lauter. Ja, es war besser, Lord Henry einzulassen und ihm zu erklären, daß er ein neues Leben führen wolle, mit ihm zu streiten, wenn Streit nötig wäre, und sich von ihm zu trennen, wenn Trennung stattfinden mußte. Er sprang auf, schob den Wandschirm hastig vor das Bild und schloß die Tür auf. »Es tut mir alles so sehr leid, Dorian«, sagte Lord Henry, als er eintrat. »Aber du mußt nicht zuviel daran denken.« »Meinst du an Sibyl Vane?« fragte der Jüngling. »Ja, natürlich«, erwiderte Lord Henry, ließ sich in einen Stuhl nieder und zog seine gelben Handschuhe langsam aus. »Es ist gewiß, einerseits betrachtet, schrecklich, aber es war doch nicht deine Schuld. Sag' mal, bist du hinter die Bühne gegangen und hast du sie gesehen, als das Stück aus war?« »Ja.« »Ich war davon überzeugt. Hast du ihr eine Szene gemacht?« »Ich war brutal, Harry, offen gesagt, brutal. Aber jetzt ist alles wieder gut. Was geschehen ist, tut mir nicht mehr leid. Es hat mich gelehrt, mich selbst besser kennenzulernen.« »Ach, Dorian, da bin ich sehr froh, daß du es so auffaßt. Ich fürchtete, dich von Gewissensbissen zermartert zu finden und wie du dir die hübschen lockigen Haare zerraufst.« »Das habe ich alles durchgemacht«, sagte Dorian und schüttelte lächelnd den Kopf. »Jetzt bin ich vollkommen glücklich. Vor allem weiß ich jetzt, was es heißt, ein Gewissen zu haben. Es ist nicht das, was du mir gesagt hast. Es ist das Göttlichste in uns. Spotte nicht darüber, nie mehr, Harry -- wenigstens nie mehr in meiner Gegenwart. Ich will jetzt gut sein. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, meine Seele befleckt zu haben.« »Wirklich eine entzückende, künstlerische Grundlage für Moral, Dorian. Ich gratuliere dir dazu. Aber wie willst du damit anfangen?« »Indem ich Sibyl Vane heirate.« »Sibyl Vane heiraten?« schrie Lord Henry auf, erhob sich und sah ihn mit der bestürztesten Verwunderung an. »Aber mein lieber Dorian --« »Ja, Harry, ich weiß, was du sagen willst. Irgend etwas Häßliches über die Ehe. Sag' es nicht. Sag' mir nie wieder solche Dinge. Vor zwei Tagen habe ich Sibyl gebeten, mich zu heiraten. Ich werde mein Wort nicht brechen. Sie soll meine Frau werden.« »Deine Frau, Dorian... Hast du denn meinen Brief nicht bekommen? Ich habe dir heute früh geschrieben und schickte die Mitteilung durch meinen Diener her.« »Deinen Brief? Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab' ihn noch nicht gelesen, Harry. Ich fürchtete, daß etwas drin stünde, was mir nicht gefallen könnte. Du vivisezierst das Leben mit deinen Aphorismen.« »Dann weißt du also nichts.« »Wovon sprichst du?« Lord Henry wanderte durch das Zimmer, setzte sich dann neben Dorian Gray, nahm seine beiden Hände und hielt sie fest. »Dorian,« sagte er, »mein Brief -- erschrick nicht -- sollte dir melden, daß Sibyl Vane tot ist.« Ein Schmerzensschrei gellte von den Lippen des Jünglings, und er sprang auf und riß seine Hände aus Lord Henrys Umklammerung los. »Tot! Sibyl tot!« Es ist nicht wahr. Es ist eine furchtbare Lüge. Wie wagst du es, das zu sagen?« »Es ist völlig wahr, Dorian«, sagte Lord Henry ernst. »Es steht in allen Morgenblättern. Ich schrieb dir's gleich und bat, du solltest niemand empfangen, bis ich käme. Es muß natürlich eine Untersuchung stattfinden, und du darfst da nicht hineingezogen werden. Dinge dieser Art machen in Paris einen Mann zum Helden des Tages. Aber in London haben die Leute zuviel Vorurteile. Hier darf man nie mit einem Skandal debütieren. Man muß sich das aufheben, um im Alter noch interessant zu sein. Ich nehme an, man weiß im Theater deinen Namen nicht. In dem Fall ist alles gut. Hat dich jemand in die Garderobe gehen sehen? Das ist ein wichtiger Faktor.« Ein paar Augenblicke lang antwortete Dorian nicht. Er war vor Entsetzen gelähmt. Schließlich stammelte er mit erstickter Stimme: »Harry, sagtest du eine Untersuchung? Was meintest du damit? Hat sich Sibyl --? Oh, Harry, ich kann's nicht ertragen. Mach's kurz. Sag' mir alles auf einmal.« »Ich zweifle nicht daran, daß es kein Versehen war, Dorian, wenn man es auch dem Publikum so darstellen muß. Es scheint, sie hat das Theater mit ihrer Mutter verlassen, gegen halb eins ungefähr, und dann sagte sie plötzlich, sie habe oben etwas vergessen. Man wartete einige Zeit auf sie, aber sie kam nicht wieder herunter. Schließlich fanden sie sie tot auf dem Boden in ihrem Ankleidezimmer. Sie hatte aus Versehen irgend etwas getrunken, irgend solche gräßliche Sache, die man in den Theatern braucht. Ich weiß nicht genau, was es war, aber es muß entweder Blausäure oder Bleiweiß gewesen sein. Ich vermute, Blausäure, denn sie scheint sofort tot gewesen zu sein.« »Harry, Harry, es ist furchtbar!« schrie der Jüngling. »Ja; natürlich ist's sehr tragisch, aber du mußt sehen, nicht mit in die Sache verwickelt zu wenden. Ich habe im >Standard< gelesen, daß sie siebzehn Jahre alt war. Ich hätte sie noch eher für jünger gehalten. Sie sah ganz wie ein Kind aus und schien so wenig von der Schauspielerei zu verstehen. Dorian, du darfst die Sache nicht so an die Nerven gehen lassen. Du mußt mitkommen und mit mir essen, und nachher wollen wir noch 'n bißchen in die Oper gehen. Die Patti singt, und alle Welt wird da sein. Du kannst mit in die Loge von meiner Schwester kommen. Sie bringt ein paar famose Frauen mit.« »So habe ich also Sibyl Vane gemordet,« sagte Dorian Gray halb zu sich selbst -- »sie gemordet, so sicher, als hätte ich ihre zarte Kehle mit einem Messer durchschnitten. Und doch sind darum die Rosen nicht weniger entzückend. Die Vögel in meinem Garten singen genau so lustig. Und heute abend geh' ich mit dir essen und dann in die Oper und nachher vermutlich irgendwo soupieren. Wie merkwürdig dramatisch das Leben ist. Wenn ich das alles in einem Buche gelesen hätte, Harry, ich glaube, ich hätte darüber geweint. Aber jetzt, wo es in Wirklichkeit geschehen ist, wo es mir selbst geschehen ist, scheint es mir zu wunderbar für Tränen. Da liegt der erste leidenschaftliche Liebesbrief, den ich in meinem Leben geschrieben habe. Seltsam, daß mein erster leidenschaftlicher Liebesbrief an ein totes Mädchen gerichtet ist. Ich möchte wohl wissen, ob sie noch ein Gefühl haben, diese weißen, verstummten Menschen, die wir Tote nennen. Sibyl! Kann sie fühlen, oder wissen, oder hören? O Harry, wie hab' ich sie einmal geliebt! Es scheint mir jetzt vor Jahren gewesen zu sein. Sie war mir alles. Dann kam dieser schreckliche Abend, -- war es wirklich erst gestern? wo sie so schlecht spielte und mir fast das Herz zerriß. Sie hat mir alles erklärt. Es war furchtbar rührend. Aber es machte nicht den mindesten Eindruck auf mich. Ich hielt sie für ein oberflächliches Geschöpf. Dann geschah plötzlich etwas, was mir Furcht einjagte. Ich kann dir nicht sagen, was es war, aber es war furchtbar. Ich nahm mir vor, zu ihr zurückzukehren. Ich empfand, daß ich unrecht gehabt habe. Und jetzt ist sie tot. Mein Gott! Mein Gott! Harry, was soll ich tun? Du kennst die Gefahr nicht, in der ich schwebe und es gibt nichts, was mich aufrechterhalten könnte. Sie hätte es für mich getan. Sie hatte kein Recht, sich umzubringen. Es war selbstsüchtig von ihr.« »Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Harry, während er eine Zigarette aus dem Etui nahm und ein goldenes Streichholzbüchschen hervorholte, »die einzige Art, auf die eine Frau einen Mann bessern kann, besteht darin, sie langweilt ihn so gründlich, daß er alles Interesse am Leben verliert. Wenn du dieses Mädchen geheiratet hättest, wärst du verdorben worden. Natürlich hättest du sie gütig behandelt. Menschen, für die man nichts übrig hat, kann man immer gütig behandeln. Aber sie hätte bald herausgefunden, daß du gar nichts für sie übrig hast. Und wenn eine Frau bei ihrem Mann Gleichgültigkeit wittert, vernachlässigt sie sich entweder schrecklich, oder sie trägt überelegante Hüte, die der Mann einer anderen Frau bezahlen muß. Ich will nichts über das soziale Mißverhältnis sagen, das schauderhaft gewesen wäre; ich hätte selbstverständlich die Sache nie zugegeben, aber ich versichere dir, die Sache wäre in jedem Falle ganz verfehlt gewesen.« »Vermutlich«, murmelte der junge Mann, während er mit furchtbar blassem Gesicht im Zimmer auf und ab schritt. »Aber ich glaube, es sei meine Pflicht. Es ist nicht meine Schuld, daß mich dieses schreckliche Trauerspiel verhindert hat, das Rechte zu tun. Ich erinnere mich, daß du einmal gesagt hast, ein sonderbares Verhängnis schwebe über guten Vorsätzen -- daß man sie nämlich immer zu spät fasse. Bei meinem war es gewiß der Fall.« »Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, Naturgesetze umzustoßen. Ihr Ursprung ist reine Eitelkeit. Ihr Erfolg ist absolut gleich Null. Sie geben uns dann und wann etwas jener unfruchtbaren Lustempfindungen, die auf schwache Menschen einen gewissen Reiz ausüben. Das ist alles, was man zu ihren Gunsten vorbringen kann. Sie sind bloße Schecks, die man auf eine Bank ausstellt, bei der man kein Konto hat.« »Harry«, rief Dorian Gray, der sich näherte und neben ihn setzte. »Warum kann ich diese Tragödie nicht so stark empfinden, wie ich müßte? Ich kann nicht glauben, daß ich herzlos bin. Glaubst du das von mir?« »Du hast in den letzten vierzehn Tagen zuviel törichte Streiche begangen, als daß du einen Anspruch auf diesen Ehrentitel haben könntest, Dorian«, erwiderte Lord Harry mit seinem stillen, melancholischen Lächeln. Der Jüngling runzelte die Stirn. »Diese Erklärung besagt mir eigentlich nichts, Harry, aber ich bin dennoch froh, daß du mich nicht für herzlos hältst. Ich bin es gewiß nicht. Ich weiß, daß ich es nicht bin. Und doch muß ich zugeben, daß dies Ereignis mich nicht so angreift, wie es sollte. Es kommt mir wie der wunderbare Szenenschluß eines wunderbaren Dramas vor. Es hat die schreckliche Schönheit einer griechischen Tragödie, einer Tragödie, in der ich eine große Rolle gespielt habe, aber in der ich selbst nicht verwundet worden bin.« »Es ist eine interessante Frage,« sagte Lord Harry, dem es ein ausgesuchtes Vergnügen bereitete, mit dem unbewußten Egoismus des jungen Mannes zu spielen -- »eine außerordentlich interessante Frage. Ich meine, die wahre Erklärung ist wohl die. Es kommt oft vor, daß sich die Wirklichkeits-Tragödien des Lebens in einer so unkünstlerischen Form abspielen, daß sie uns durch ihre rohe Gewalt, ihren absoluten Mangel an Zusammenhang, durch ihre lächerliche Sinnlosigkeit und ihre außerordentliche Stillosigkeit verletzen. Sie betrüben uns genau so, wie es die Gemeinheit tut. Sie geben uns ein Gefühl einer jähen, brutalen Gewalt, und wir lehnen uns dagegen auf. Manchmal aber kreuzt eine Tragödie unser Leben, die künstlerische Schönheitselemente in sich birgt. Wenn diese Schönheitselemente wirklich vorhanden sind, dann ergreift die ganze Sache nur unseren Sinn für dramatische Wirkung. Wir entdecken auf einmal, daß wir nicht mehr die Darsteller, sondern die Zuschauer des Stückes sind. Oder richtiger, wir sind beides. Wir beobachten uns selbst und werden von dem Wundersamen des Schicksals erschüttert. Was ist in vorliegendem Falle wirklich geschehen? Jemand hat sich aus Liebe zu dir umgebracht. Ich wollte, mir wäre je so ein Erlebnis passiert. Ich wäre den Rest meines Lebens in die Liebe verliebt gewesen. Die Menschen, die mich angebetet haben -- es waren ihrer nicht sehr viele, aber doch immerhin einige --, waren immer darauf versessen, weiterzuleben, noch lange, nachdem ich aufgehört hatte, mich um sie zu kümmern, oder sie, sich um mich zu kümmern. Sie sind dann dick und langweilig geworden, und wenn ich ihnen jetzt begegne, schwelgen sie sofort in Erinnerungen. Dies furchtbare zähe Gedächtnis der Frauen! Was für 'ne schreckliche Sache das ist! Und was für einen völligen geistigen Stillstand offenbart es. Man sollte die Farbe des Lebens in sich aufsaugen, aber sich niemals an Einzelheiten erinnern. Einzelheiten sind immer gewöhnlich.« »Ich muß Mohnblumen in meinen Garten säen«, seufzte Dorian. »Das ist nicht notwendig«, erwiderte sein Gefährte. »Das Leben selbst hat immer Mohnblumen vorrätig. Natürlich, dann und wann halten die Dinge länger an. Einmal habe ich eine ganze Saison lang nichts als Veilchen getragen, als eine Art künstlerischer Trauer für einen Roman, der nicht sterben wollte. Schließlich indessen ist er gestorben. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ihn getötet hat. Ich vermute, es kam durch ihren Vorschlag, mir die ganze Welt aufzuopfern. Das ist immer ein schrecklicher Augenblick. Er erfüllt einen mit den Schrecknissen der Ewigkeit. Schon -- würdest du es nun glauben? -- Vorige Woche, bei Lady Hampshire, saß ich bei Tisch neben der fraglichen Dame, und sie konnte wiederum nicht anders, als die ganze Sache durchzunehmen, die Vergangenheit aufzuwühlen und die Zukunft auszumalen. Ich hatte den ganzen Roman unter einem Asphodelosbeet begraben. Sie scharrte ihn wieder aus und versicherte mir, daß ich ihr Leben zerstört habe. Ich fühle mich verpflichtet festzustellen, daß sie trotzdem mit staunenswertem Appetite aß, so daß ich gar keine Gewissensbisse empfand. Aber welchen Mangel an Taktgefühl bewies sie! Der einzige Reiz der Vergangenheit liegt eben darin, daß sie vergangen ist. Aber Frauen wissen nie, wann der Vorhang gefallen ist. Sie wollen immer noch einen sechsten Akt, und sowie das ganze Interesse an dem Stück erlahmt ist, schlagen sie vor, weiterzuspielen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, erlebte jede Komödie einen tragischen Schluß, und jede Komödie gipfelte in einer Farce. Sie sind oft entzückende Kunstprodukte, aber sie haben keinen Sinn für die Kunst. Du bist glücklicher als ich. Ich versichere dir, Dorian, nicht eine einzige Frau, die ich gekannt habe, hätte für mich getan, was Sibyl Vane für dich vollbrachte. Gewöhnliche Frauen trösten sich immer. Einige von ihnen tun es, indem sie sich in empfindsame Farben verlieben. Traue niemals einer Frau, die Malven trägt, wie alt sie auch sein mag, oder einer Frau über fünfunddreißig, die rosa Bänder liebt. Das bedeutet immer, daß sie eine Geschichte haben. Andere finden starken Trost darin, plötzlich die Vorzüge ihrer Männer zu entdecken. Sie reiben einem ihr eheliches Glück unter die Nase, als wäre das die fesselndste Sünde. Einige wieder tröstet die Religion. Ihre Mysterien haben alle Reize einer Liebelei an sich, hat mir einmal eine Frau versichert und ich kann es wohl verstehen. Übrigens macht unsereinen nichts so eitel, als wenn einem gesagt wird, man wäre ein Sünder. Das Gewissen macht uns alle zu Egoisten. Ja; die Tröstungen haben wirklich kein Ende, die die Frauen im modernen Leben finden. Die wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.« »Welche ist das, Harry?« fragte der junge Mann zerstreut. »Oh, der alltäglichste Trost. Einer anderen Frau ihren Anbeter nehmen, wenn man den eigenen verloren hat. In der guten Gesellschaft findet eine Frau auf solche Weise immer ihr Fahrwasser wieder. Aber wirklich, Dorian, wie anders muß Sibyl Vane gewesen sein als alle die sonstigen Frauen, denen man begegnet. Für mich liegt in ihrem Tod etwas ganz Wunderschönes. Es freut mich, daß ich in einem Jahrhundert lebe, wo solche Wunder noch geschehen. Sie geben uns neuen Glauben an die Wirklichkeit der Dinge, mit denen wir sonst spielen, wie Romantik, Leidenschaft und Liebe.« »Ich war furchtbar grausam gegen sie. Du vergißt das.« »Ich fürchte, die Frauen schätzen die Grausamkeit, die ganz alltägliche Grausamkeit mehr als irgend etwas anderes. Sie haben wundervoll primitive Instinkte. Wir haben sie emanzipiert, aber sie bleiben Sklavinnen, die den Blick auf ihre Herren gerichtet halten, trotz allem. Sie lieben es, beherrscht zu werden. Ich bin überzeugt, daß du glänzend aufgetreten bist. Ich habe dich nie wirklich und durchaus erzürnt gesehen, aber ich kann mir vorstellen, wie entzückend du ausgesehen haben mußt. Und außerdem sagtest du vorgestern etwas zu mir, was mir damals nur ein phantastischer Einfall schien, aber jetzt sehe ich, daß es völlig wahr gewesen ist, und ich halte es für den Schlüssel zu dem ganzen Ereignis.« »Was war das, Harry?« »Du hast zu mir gesagt, Sibyl Vane verkörpere dir alle Frauengestalten der Romantik -- sie sei an einem Abend Desdemona und am anderen Ophelia; wenn sie als Julia sterbe, erwache sie als Imogen wieder zum Leben.« »Sie wird nie wieder zum Leben erwachen«, ächzte der Jüngling und barg sein Gesicht in den Händen. »Nein, sie wird nie wieder zum Leben erwachen. Sie hat ihre letzte Rolle gespielt. Aber du mußt an diesen einsamen Tod in dem ärmlichen Garderobenzimmer denken wie an ein seltsam schauriges Fragment aus einer Tragödie von der Zeit König Jakobs her, wie an eine wunderbare Szene bei Webster oder Ford oder Cyril Tourneur. Das Mädchen hat nie wirklich gelebt, also ist sie auch nie wirklich gestorben. Für dich war sie ja niemals mehr als ein Traum, ein Schattengeist, der durch Shakespeares Dramen huschte und sie durch ihr Dasein noch reizvoller machte, der Ton einer Flöte, durch die Shakespeares Musik noch reicher und freudiger ertönte. Im Augenblick, wo sie das wirkliche Leben berührte, zerstörte sie es, und es zerstörte sie, und so schied sie dahin. Trauere um Ophelia, wenn es dir behagt. Streu Asche auf dein Haupt, weil Kordelia erwürgt wurde. Schrei zum Himmel, weil die Tochter des Brabantio starb. Aber verschwende deine Tränen nicht um Sibyl Vane. Sie war weniger wirklich, als jene sind.« Es entstand ein Schweigen. Der Abend dämmerte im Zimmer. Geräuschlos auf silbernen Fußen schlichen die Schatten aus dem Garten herein. Die Farben verschwanden müde aus allen Dingen. Nach einer Weile sah Dorian Gray auf. »Du hast mich mir selber klargemacht«, flüsterte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Alles, was du gesagt hast, habe ich auch gefühlt, nur hab' ich mich davor geängstigt, und ich konnte es mir selbst nicht ausdrücken. Wie gut du mich kennst! Aber wir wollen, von dem was geschehen ist, nie wieder sprechen. Es war ein wundersames Erlebnis. Das ist alles. Ich möchte wissen, ob meiner noch etwas so Wunderbares im Leben harrt.« »Das Leben hat alles für dich vorrätig, Dorian. Es gibt nichts, was du mit deiner außerordentlichen Schönheit nicht tun könntest.« »Aber stelle dir vor, Harry, wenn ich hager und alt und runzlich würde, was dann?« »Ach dann,« sagte Lord Harry und erhob sich zum Gehen -- »dann, mein bester Dorian, würdest du um deine Siege kämpfen müssen. Wie es ist, werden sie dir noch entgegengetragen. Nein, du mußt schön bleiben, wie du noch bist. Wir leben in einer Zeit, in der zuviel gelesen wird, als daß sie weise wäre, und in der zuviel gedacht wird, als daß sie schön wäre. Wir können dich nicht entbehren. Und jetzt tätest du besser, dich anzuziehen und in den Klub zu fahren. Wir kommen ohnehin schon zu spät.« »Ich meine, ich treffe dich lieber in der Oper, Harry. Ich bin zu müde, um etwas zu essen. Welche Nummer hat die Loge deiner Schwester?« »Siebenundzwanzig, glaub' ich, sie liegt im ersten Rang. Du findest ihren Namen an der Tür. Aber es tut mir leid, daß du nicht mit essen kommst.« »Ich bin nicht aufgelegt dazu,« sagte Dorian zerstreut, »aber ich bin dir sehr dankbar für alles, was du zu mir gesagt hast. Du bist wirklich mein bester Freund. Niemand hat mich je richtiger verstanden als du.« »Wir stehen erst am Anfang unserer Freundschaft, Dorian«, erwiderte Lord Harry und schüttelte ihm die Hand. »Adieu! Ich hoffe, dich vor halb zehn zu sehen. Vergiß nicht: die Patti singt.« Als sich die Tür hinter ihm schloß, klingelte Dorian Gray, und nach ein paar Minuten erschien Viktor mit den Lampen und ließ die Vorhänge herab. Er wartete ungeduldig, daß der Diener wieder verschwände. Der Mann schien eine unglaubliche Zeit für alles zu gebrauchen. Sobald er wieder draußen war, stürzte Dorian auf den Schirm zu und schob ihn zurück. Nein, das Bild hatte sich nicht wieder verändert. Es hatte die Nachricht von Sibyl Vanes Tod erhalten, bevor er selbst davon gewußt hatte. Es kannte die Ereignisse des Lebens, sobald sie sich ereigneten. Dieser Zug böser Grausamkeit, der die feinen Linien des Mundes verunstaltete, war zweifellos im Augenblick aufgetaucht, als das Mädchen das Gift genommen hatte. Oder kümmerte sich das Bild nicht um die Wirkungen einer Tat? Nahm es nur von Vorgängen in der Seele Kenntnis? Er hätte es gar zu gern gewußt und hoffte, eines Tages solche Wandlung vor seinen Augen geschehen zu sehen, und er schauderte, während er es hoffte. Die arme Sibyl! Wie sonderbar romantisch alles gewesen war! Sie hatte oft den Tod auf der Bühne dargestellt. Dann hatte sie der Tod selbst gepackt und weggeholt. Wie mochte sie die grauenvolle letzte Szene gespielt haben? Hatte sie ihn im Sterben verflucht? Nein; sie war aus Liebe zu ihm gestorben, und die Liebe sollte ihm von jetzt ab immer ein Heiligtum bleiben. Sie hatte alles gebüßt durch das Opfer ihres Lebens. Er wollte nicht mehr daran denken, was er ihretwegen an jenem schrecklichen Theaterabend durchgemacht hatte. Wenn er an sie dachte, sollte es sein wie an eine wundersam tragische Gestalt, die auf die Weltbühne gestellt worden war, um die höchste Verwirklichung der Liebe zu künden. Eine wundersam tragische Gestalt? Tränen traten ihm in die Augen, als er sich ihres kindlichen Aussehens, ihrer fröhlichen, phantastischen Art, ihrer scheuen, zaghaften Anmut entsann. Er verscheuchte alles hastig und blickte wieder auf das Porträt. Er fühlte, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, zu wählen. Oder war die Wahl schon getroffen? Ja, das Leben hatte für ihn entschieden -- das Leben und seine unermeßliche Neugier auf das Leben. Ewige Jugend, unerschöpfliche Leidenschaft, ausgesuchte, geheimnisvolle Genüsse, wilde Freuden und noch wildere Sünden -- all das sollte er haben. Das Bildnis sollte die Last seiner Schmach tragen: das war alles. Ein peinliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Entweihung dachte, die dieses schönen Gesichtes auf der Leinwand harrte. Einmal hatte er in knabenhafter Parodie des Narzissus die gemalten Lippen, die ihn jetzt so grausam anlächelten, geküßt oder doch zum Schein geküßt. Morgen für Morgen hatte er vor dem Bild gesessen und seine Schönheit angestaunt; zu Zeiten kam es ihm vor, als sei er in sein eigenes Bild verliebt. Sollte es sich nun wandeln mit jeder Laune, der er nachgab? Sollte es ein ungeheuerliches, widerliches Ding werden, das man im verhängten Winkel verschließen müsse vor dem Glanz der Sonne, der so oft das lockige Wunder seines Haares noch goldiger hatte aufleuchten lassen? Wie schade! Wie schade! Einen Augenblick dachte er daran, zu beten, daß die entsetzliche Beziehung zwischen ihm und dem Bilde aufhören möge. Es hatte sich verwandelt, da er darum gebeten hatte; es könnte vielleicht, wenn er darum bäte, auch wieder unverändert bleiben. Und doch, wer, der eine Ahnung vom Leben hat, würde die Möglichkeit, immer jung zu bleiben, aufgeben, mochte die Möglichkeit noch so phantastisch und mit noch so verhängnisreichen Folgen verknüpft sein? Überdies, stand es wirklich in seiner Macht? War wirklich das Gebet die Ursache der Verwandlung? Konnte es für die ganze Sache nicht irgendeine merkwürdige wissenschaftliche Ursache geben? Wenn das Denken eine Wirkung auf einen lebenden Organismus ausüben konnte, konnte da nicht das Denken auch auf tote unorganische Dinge Einfluß haben? Ja, konnten nicht ohne Gedanken und bewußte Wünsche Dinge eingreifen, die ganz außerhalb unserer Person stehen, im Einklange mit unseren Launen und Leidenschaftsanfällen erzittern, konnte nicht Atom zu Atom sprechen in geheimer Neigung oder seltsamer Verwandtschaft? Aber schließlich waren die Ursachen gleichgültig. Er wollte durch Gebet nie wieder eine schreckliche Macht versuchen. Wenn das Bildnis sich wandeln wollte, so sollte es sich wandeln. Das war einmal so. Warum zu tief in ein Geheimnis eindringen? Allerdings müßte es ein starker Genuß sein, solchen Vorgang zu beobachten. Er würde befähigt werden, seinem Geist in geheime Schlupfwinkel zu folgen. Dies Bild sollte ihm der zauberhafteste Spiegel werden. Wie es ihm seinen Körper geoffenbart hatte, so sollte es ihm nun die Seele enthüllen. Und wenn der Winter über das Gemälde hereinbrach, dann stand er immer noch da, wo der Frühling schwankt, ob er die zum Sommer führende Schwelle überschreiten soll. Wenn das Blut aus seinem Antlitz fortschliche und eine kreidebleiche Maske mit stummen Augen zurückließe, dann bewahrte er immer noch den Glanz des Säuglingsalters. Keine Blüte seiner Lieblichkeit sollte jemals welken. Kein Pulsschlag seines Lebens jemals erlahmen. Wie die Götter der Griechen würde er stark und behend und heiter bleiben. Was lag daran, was aus dem gemalten Abbild auf der Leinwand wurde? Er selbst war seiner sicher. Darauf kam alles an. Er schob den Schirm wieder auf den alten Platz vor dem Bilde und lächelte, indem er es tat. Dann ging er in sein Schlafzimmer, wo sein Diener schon auf ihn wartete. Eine Stunde später war er in der Oper, und Lord Harry beugte sich über seinen Stuhl. Neuntes Kapitel Als er am nächsten Morgen beim Frühstück saß, trat Basil Hallward ins Zimmer. »Ich bin so froh, daß ich dich treffe, Dorian«, sagte er ernsten Tons. »Ich war gestern abend hier, und man sagte mir, daß du in der Oper seist. Ich wußte natürlich, daß es ja unmöglich ist. Aber es wäre mir lieber gewesen, du hättest ein Wörtchen hinterlassen, wo du wirklich warst. Ich habe eine schreckliche Nacht verbracht, und fürchtete halb, daß eine Tragödie der anderen folgen würde. Ich meine, du hättest mir wohl depeschieren können, so wie du die Nachricht erhieltst. Ich hab' es durch Zufall im letzten Abendblatt des Globe gelesen, das mir im Klub in die Hände geriet. Ich eilte sofort hierher und war unglücklich, dich nicht zu Hause anzutreffen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie tief mir die ganze Sache ins Herz schneidet. Ich weiß, was du leiden mußt. Aber wo warst du denn? Bist du hingegangen, um die Mutter des Mädchens zu sehen? Einen Moment dachte ich daran, dir dorthin zu folgen. In der Zeitung stand die Adresse. Irgendwo in Euston Road, nicht wahr? Aber ich hatte Angst, zudringlich zu sein in einem Schmerze, wo ich doch nicht abhelfen konnte. Die arme Frau! In was für einem Zustand muß sie sein! Und dazu ihr einziges Kind! Was hat sie zu all dem gesagt?« »Mein lieber Basil, wie soll ich das wissen?« sagte Dorian Gray, nippte etwas hellgelben Wein aus einem reizenden bauchigen venezianischen Glase, das mit Goldperlen inkrustiert war, und sah ganz unwillig aus. »Ich war in der Oper. Du hättest auch hinkommen sollen. Ich habe dort Harrys Schwester, Lady Gwendolen, kennengelernt. Wir waren in ihrer Loge. Sie ist ein bezauberndes Weib; und die Patti hat göttlich gesungen. Sprich nicht von schrecklichen Dingen! Wenn man über eine Sache nicht spricht, ist sie nicht geschehen. Nur was man äußert, sagt Harry, gibt den Dingen ihre Wirklichkeit. Erwähnen möcht' ich aber, daß sie nicht das einzige Kind der Frau war. Es ist noch ein Sohn da, ein famoser Junge vermutlich. Aber er ist nicht beim Theater. Matrose oder so was ähnliches. Und jetzt erzähle mir was von dir, was malst du?« »Du warst in der Oper?« sagte Hallward gedehnt, und seine Stimme war gepreßt vor Schmerz. »Du warst in der Oper, während Sibyl Vane tot in irgendeiner schmutzigen Stube lag? Du kannst mir von anderen bezaubernden Weibern erzählen, und daß die Patti göttlich gesungen hat, noch ehe das Mädchen, das du geliebt hast, die Ruhe des Grabes gefunden hat, darin sie schlafen soll? Mensch, bedenke doch, welche Schrecknisse auf den kleinen weißen Körper warten!« »Hör' auf, Basil, ich will davon nichts hören!« rief Dorian und sprang auf. »Du darfst mir über diese Dinge nichts sagen. Was geschehen ist, ist geschehen, was vergangen ist, ist vergangen.« »Nennst du gestern die Vergangenheit?« »Was hat die wirklich verstrichene Zeit damit zu tun? Nur seichtes Volk braucht Jahre, um ein Gefühl zu überwinden. Ein Mensch, der Herr über sich selbst ist, kann einen Schmerz ebenso leicht überwinden, wie er einen Genuß entdecken kann. Ich will nicht der Spielball meiner Empfindungen sein. Ich will sie ausnützen, mich an ihnen freuen und sie beherrschen.« »Dorian, es ist schauderhaft! Irgend etwas hat dich ganz verändert. Du siehst noch genau so aus wie der wunderhübsche Junge, der Tag für Tag in mein Atelier kam, um für mein Bild zu sitzen. Aber damals warst du einfacher, natürlich und herzlich. Du warst das unverdorbenste Menschenkind auf der ganzen Welt. Ich weiß nicht, was jetzt über dich gekommen ist. Du sprichst, als hättest du kein Herz, kein Mitleid in dir. Das ist Harrys Einfluß. Ich sehe es.« Der junge Mensch wurde rot, ging ans Fenster, sah ein paar Augenblicke auf den grün schimmernden, von der Sonne betupften Garten. »Ich schulde Harry sehr viel, sehr viel, Basil,« sagte er schließlich -- »mehr als ich dir schulde. Du hast mir nur Eitelkeit beigebracht.« »Ich bin bestraft worden dafür, Dorian -- oder werde es eines Tages sein.« »Ich weiß nicht, was du meinst, Basil«, rief Dorian aus und drehte sich um. »Ich weiß nicht, was du willst. Was willst du?« »Ich will den Dorian Gray wieder, den ich gemalt habe«, sagte der Künstler traurig. »Basil,« erwiderte der Jüngling, trat vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du bist zu spät gekommen. Als ich gestern hörte, daß sich Sibyl Vane getötet habe -- --« »Sich getötet! Gott im Himmel! ist das ganz sicher?« schrie Hallward und stierte ihn mit dem Ausdruck äußersten Schreckens an. »Mein lieber Basil! Du glaubst doch nicht, daß es nur ein gewöhnlicher Unglücksfall war? Natürlich hat sie sich selbst getötet.« Der ältere Mann vergrub sein Gesicht in den Händen. »Wie schrecklich!« flüsterte er und ein Schauer durchrann ihn. »Nein,« sagte Dorian Gray, »es ist gar nichts Schreckliches daran. Es ist eine der größten romantischen Tragödien unserer Zeit. In der Regel führen Schauspieler das alltäglichste Leben. Sie sind gute Ehemänner oder treue Ehefrauen oder sonst irgendwas Langweiliges. Du verstehst, was ich meine -- hausbackene Tugend und lauter solche Dinge. Wie anders war Sibyl! Sie lebte ihre beste Tragödie. Sie war immer eine Heldin. Am letzten Abend, wo sie spielte -- an dem Abend, wo du sie gesehen hast --, spielte sie schlecht, weil sie die Liebe als Wirklichkeit erkannt hatte. Als sie ihre Unwirklichkeit erfuhr, starb sie, wie Julia daran gestorben wäre. Sie entschwand wieder in das Reich der Kunst. Sie umschwebt etwas von einer Märtyrerin. Ihr Tod hat all die pathetische Nutzlosigkeit der Märtyrerschaft, all seine vergeudete Schönheit. Aber wie gesagt, du brauchst nicht zu glauben, daß ich nicht gelitten hätte. Wenn du gestern in einem bestimmten Augenblick, etwa um halb sechs oder um drei Viertel sechs gekommen wärst -- dann hättest du mich in Tränen aufgelöst gefunden. Selbst Harry, der hier war und mir erst die Nachricht brachte, hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Ich litt namenlos. Dann ging es vorüber. Ich kann das Gefühl nicht wiederholen. Niemand kann das, sentimentale Menschen ausgenommen. Und du bist furchtbar ungerecht, Basil. Du kommst hierher, um mich zu trösten. Das ist gut und lieb von dir. Du findest mich getröstet und bist wütend. So sieht dein Mitgefühl aus! Du erinnerst mich an eine Geschichte, die mir Harry über einen Philantropen erzählt hat, der sich zwanzig Jahre seines Lebens damit abquälte, irgendeinen Mißstand aus der Welt zu schaffen oder ein ungerechtes Gesetz abzuändern -- ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Schließlich gelang es ihm, und nichts konnte größer sein als seine Enttäuschung. Er hatte nun absolut nichts mehr zu tun, starb beinah vor Langerweile und wurde ein unversöhnlicher Menschenhasser. Und außerdem, mein lieber, alter Basil, wenn du mich wirklich trösten wolltest, so lehre mich lieber vergessen, was geschehen ist, oder lehre mich's von rein künstlerischer Seite ansehen. War es nicht Gautier, der gern über die >~consolation des arts~< geschrieben hat? Ich erinnere mich, daß mir mal in deinem Atelier ein kleines Buch in Pergamentband in die Hand fiel, und ich darin auf diesen entzückenden Ausdruck stieß. Nun, ich bin ja nicht wie der junge Mann, von dem du mir einmal in Marlow erzählt hast, und der zu sagen pflegte, gelber Atlas könne einen über alles Elend im Leben hinwegtrösten. Ich liebe schöne Dinge, die man in die Hand nehmen und angreifen kann. Alter Brokat, grünpatinierte Bronzen, Lackarbeiten, Elfenbeinschnitzereien, eine erlesene Zimmerkunst, Luxus, Prunk, das sind alles Dinge, die einem viel geben können. Aber die künstlerische Seelenstimmung, die sie erzeugen oder mindestens offenbaren, bedeutet mir doch noch mehr. Ein Zuschauer seines eigenen Lebens sein, wie Harry sagt, das heißt, den Schmerzen des Lebens entrinnen. Ich weiß, du bist erstaunt, daß ich so zu dir spreche. Du hast noch nicht bemerkt, wie ich mich entwickelt habe. Ich war ein Schulknabe, als du mich kennenlerntest. Jetzt bin ich ein Mann. Ich habe neue Leidenschaften, neue Gedanken, neue Vorstellungen. Ich bin anders, aber du mußt mich trotzdem nicht weniger lieb haben. Ich bin verändert, aber du mußt immer mein Freund bleiben. Natürlich habe ich Harry sehr gern. Aber ich weiß auch, daß du besser bist als er. Du bist nicht stärker -- dazu ängstigst du dich zu viel vorm Leben -- aber du bist besser. Und wie glücklich waren wir doch miteinander! Verlaß mich nicht, Basil, und zanke nicht mit mir. Ich bin, was ich bin. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Der Maler war seltsam bewegt. Der junge Mensch war ihm unsagbar teuer, und seine Erscheinung war der große Wendepunkt in seiner Kunst gewesen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm noch weitere Vorwürfe zu machen. Am Ende war seine Gleichgültigkeit nur eine vorübergehende Laune. Es steckte ja soviel Gutes, soviel Edles in ihm. »Gut, Dorian,« sagte er endlich mit einem wehmütigen Lächeln, »ich will von heut an nie wieder über diese furchtbare Sache sprechen. Ich hoffe nur, dein Name wird nicht in Verbindung damit genannt. Die Leichenschau soll heute nachmittag stattfinden. Bist du vorgeladen?« Dorian schüttelte den Kopf, und eine unangenehme Empfindung glitt bei dem Wort »Leichenschau« über sein Gesicht. In all diesen Dingen lag etwas so Rohes und Gemeines. »Sie kennen meinen Namen nicht«, antwortete er. »Aber sie wußte ihn doch?« »Nur meinen Vornamen, und den hat sie gewiß niemand gesagt. Sie erzählte mir einmal, daß alle sehr begierig seien, zu erfahren, wer ich sei und daß sie ihnen beständig sage, ich heiße der Prinz Märchenschön. Das war hübsch von ihr. Du mußt mir eine Zeichnung von Sibyl machen, Basil. Ich möchte von ihr gern etwas mehr haben als die Erinnerung an ein paar Küsse und einige gestammelte pathetische Worte.« »Ich will versuchen, etwas zu machen, Dorian, wenn ich dir damit eine Freude bereite. Aber du mußt zu mir kommen und mir selbst wieder sitzen. Ich komme ohne dich nicht vom Fleck.« »Ich kann dir nie wieder sitzen, Basil. Das ist unmöglich!« rief Dorian und schrak zurück. Der Maler starrte ihn an. »Mein lieber Junge, was für ein Unsinn«, rief er. »Willst du damit sagen, daß du mein Bild nicht gut findest? Wo ist es? Warum hast du den Wandschirm vorgestellt? Laß es mich sehen. Es ist die beste Arbeit, die ich je gemacht habe. Nimm den Schirm weg, Dorian! Es ist eine Schande, daß dein Bedienter mein Bild so versteckt. Ich merkte gleich, wie ich eintrat, daß das Zimmer ganz verändert sei.« »Mein Diener hat nichts damit zu tun, Basil. Du glaubst doch nicht etwa, daß ich ihm irgendeine Anordnung in meinem Zimmer überlasse? Er ordnet zuweilen meine Blumen -- das ist alles. Nein, ich habe es selbst getan. Das Licht war zu stark für das Bild.« »Zu stark? Gewiß nicht, mein Lieber. Es hat einen untadeligen Platz. Laß mich's mal sehen!« und Hallward schritt in die Zimmerecke. Ein Schrei des Entsetzens entrang sich den Lippen Dorian Grays, und er stürzte sich zwischen den Maler und den Schirm. »Basil,« sagte er und sah ganz bleich aus, »du darfst es nicht sehen. Ich will es nicht.« »Mein eigenes Bild nicht sehen? Du meinst das doch nicht im Ernst! Warum soll ich es nicht sehen?« rief Hallward lachend. »Wenn du versuchst, es anzusehen, Basil, gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich, solange ich lebe, nie wieder ein Wort mit dir spreche. Es ist mein völliger Ernst. Ich gebe keine Erklärung, und du wirst um keine bitten. Aber denke daran, wenn du diesen Wandschirm anrührst, dann ist alles aus zwischen uns!« Hallward war wie vom Donner gerührt. Er sah Dorian Gray ganz verblüfft an. So hatte er ihn vorher nie gesehen. Der Jüngling war wirklich ganz bleich vor Zorn. Seine Hände waren zusammengeballt, und die Pupillen seiner Augen sahen aus wie blaue Feuerräder. Er zitterte am ganzen Leibe. »Dorian!« »Sprich nicht!« »Aber was ist los? Ich sehe das Bild natürlich nicht an, wenn du es nicht willst«, sagte der Maler ziemlich kühl, drehte sich um und ging zum Fenster hinüber. »Aber es scheint mir wahrhaftig ganz verrückt, daß ich mein eigenes Werk nicht sehen soll, besonders, wo ich es im Herbst in Paris ausstellen will. Ich werde es wahrscheinlich vorher nochmals firnissen müssen, werde es also eines Tages doch gewiß sehen, also warum nicht heute?« »Es ausstellen? Du willst es ausstellen?« rief Dorian Gray, den ein seltsames Angstgefühl überkam. Sollte alle Welt sein Geheimnis erfahren? Sollte das Volk das Geheimnis seines Lebens begaffen? Das war unmöglich. Irgend etwas -- er wußte noch nicht was -- mußte sofort geschehen. »Ja, ich denke nicht, daß du etwas dagegen haben wirst. Georges Petit will nächstens meine besten Bilder für eine Sonderausstellung in der Rue de Sèze sammeln, die in der ersten Oktoberwoche eröffnet werden soll. Das Bild wird nur einen Monat lang weg sein. Ich meine, solange könntest du es leicht entbehren. Du bist ohnehin während dieser Zeit nicht in der Stadt. Und wenn du es überhaupt hinter einem Schirm versteckt halten willst, kann dir ja nicht viel daran gelegen sein.« Dorian Gray fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Schweißtropfen standen darauf. Er fühlte, daß er am Rande einer fürchterlichen Gefahr stehe. »Du hast mir vor einem Monat gesagt, du würdest es nie ausstellen«, rief er. »Warum hast du dich anders entschlossen? Ihr Leute, die ihr viel Aufhebens von der Konsequenz macht, habt genau soviel Launen wie andere. Der einzige Unterschied ist der, daß eure Launen wenig Sinn haben. Du kannst nicht vergessen haben, daß du mir feierlichst versichert hast, nichts in der Welt könne dich bewegen, das Bild auf eine Ausstellung zu bringen. Du sagtest zu Harry ganz dasselbe.« Er stockte plötzlich, und ein Glanz erwachte in seinen Augen. Er erinnerte sich, daß ihm Lord Harry einmal halb ernst und halb scherzend gesagt hatte: Willst du mal eine merkwürdige Viertelstunde erleben, dann laß dir von Basil sagen, warum er dein Porträt nicht ausstellen will. Er hat mir den Grund erzählt, und es war für mich eine Offenbarung. Ja, vielleicht hatte auch Basil sein Geheimnis. Er wollte ihn fragen und auf die Probe stellen. »Basil,« sagte er, und trat ganz dicht zu ihm heran und sah ihm fest ins Gesicht, »jeder von uns hat ein Geheimnis. Sage mir das deine, und ich laß dich meines wissen. Was für einen Grund hattest du, die Ausstellung meines Bildes zu verweigern?« Der Maler erschauderte, ohne daß er es wollte. »Dorian, wenn ich es dir sagte, hättest du mich wahrscheinlich weniger lieb und würdest mich gewiß auslachen. Keines von beiden könnte ich ertragen. Wenn du willst, daß ich nie mehr dein Bild ansehen soll, dann geb' ich mich zufrieden. Ich kann dich selbst ja immer ansehen. Wenn du die beste Arbeit, die ich je gemacht habe, vor der Welt versteckt halten willst, soll es mir recht sein. Deine Freundschaft ist mir mehr wert als Ruhm und Anerkennung.« »Nein, Basil, du mußt es mir sagen. Ich glaube, ich habe ein Recht, es zu wissen.« Sein Angstgefühl hatte ihn verlassen, und Neugier war an dessen Stelle getreten. Er war entschlossen, hinter Basil Hallwards Geheimnis zu kommen. »Setzen wir uns, Dorian«, sagte der Maler, der verwirrt aussah. »Setzen wir uns und beantworte mir eine Frage. Hast du an dem Bild etwas Merkwürdiges bemerkt? -- etwas, das dir vielleicht anfänglich nicht aufgefallen ist, was sich dir dann aber plötzlich enthüllte?« »Basil!« schrie der Jüngling, umklammerte die Armlehnen seines Stuhles mit zitternden Händen und starrte ihn mit wilden, verstörten Augen an. »Ich sehe, du hast es bemerkt. Sage nichts. Warte, bis du gehört hast, was ich zu sagen habe. Dorian, von dem Augenblick an, wo ich dich kennengelernt habe, übte deine Persönlichkeit den außerordentlichsten Einfluß auf mich aus. Ich war beherrscht von dir, meine Seele, mein Gehirn, meine ganze Kraft war es. Du wurdest für mich die sichtbare Verkörperung des unsichtbaren Ideals, dessen Bild uns Künstler wie ein köstlicher Traum verfolgt. Ich habe dich angebetet. Ich wurde eifersüchtig auf jeden Menschen, mit dem du sprachst. Ich wollte dich ganz für mich allein haben. Ich war nur glücklich, wenn ich mit dir zusammen war. Wenn du fort von mir warst, lebtest du trotzdem in meiner Kunst weiter... Natürlich ließ ich dich nie etwas davon wissen. Das wäre unmöglich gewesen. Du hättest es nicht verstanden. Ich selbst hab' es kaum verstanden. Ich wußte nur, daß ich Auge in Auge die Vollkommenheit gesehen hatte und daß sich die Welt meinen Augen als ein Wunder erschlossen hatte -- vielleicht als ein zu mächtiges Wunder, denn in so wahnsinniger Anbetung liegt eine Gefahr, die Gefahr, daß die Anbetung aufhört, und die Gefahr, daß sie bleibt... Wochen und Wochen verstrichen, und ich ging immer mehr und mehr in dir verloren. Dann kam ein neues Stadium. Ich hatte dich als Paris in strahlender Rüstung gemalt und als Adonis im Jägergewand mit blitzendem Speer. Mit schweren Lotusblüten bekränzt hast du auf dem Bug von Hadrians Barke gesessen und in den grünen, schlammigen Nil geblickt. Du hast dich über das stille Gewässer einer griechischen Waldlandschaft gelehnt und im stummen Silberspiegel das Wunder deines eigenen Antlitzes gesehen. Und es war alles gewesen, wie die Kunst sein soll, unbewußt, ideal und entrückt. Eines Tages, manchmal denke ich, eines verhängnisvollen Tages, entschloß ich mich, ein wundervolles Bildnis von dir zu malen, wie du wirklich bist, nicht im Kostüm toter Zeiten, sondern in deiner eigenen Tracht und deiner eigenen Zeit. Ob es nun die Realistik der Methode war, oder der Zauber deiner eigenen Persönlichkeit, der mir so ohne jeden Schleier und Nebel entgegentrat, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, daß mir bei der Arbeit jede Schicht Farben mein Geheimnis zu enthüllen schien. Ich ängstigte mich, andere könnten die Abgötterei, die ich mit dir trieb, entdecken. Ich fühlte, Dorian, daß ich zuviel gesagt, daß ich zuviel von mir selber hineingelegt hatte. Damals beschloß ich, das Bild nie auszustellen. Es kränkte dich ein wenig, aber damals verstandest du eben nicht, was es für mich bedeutete; Harry, dem ich davon erzählte, lachte mich aus. Aber das machte mich nicht irrig. Als das Bild fertig war, und ich allein vor ihm dasaß, fühlte ich, daß ich recht hatte... Schön, ein paar Tage später, als es mein Atelier verlassen, und ich alsbald den unerträglichen Zauber seiner Gegenwart überwunden hatte, schien es mir, daß es verrückt von mir gewesen war, mehr darin zu sehen, als daß du sehr hübsch seist, und ich wohl malen könne. Selbst jetzt kann ich nicht umhin, zu fühlen, daß es ein Irrtum sein muß, wenn man glaubt, daß die Begeisterung, die man beim Schaffen hat, in dem Werke, das man schafft, leibhaftig zum Ausdruck käme. Die Kunst ist immer abstrakter, als wir uns einbilden. Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe -- weiter nichts. Es scheint mir oft, daß die Kunst den Künstler viel mehr verbirgt als offenbart. Und als ich dann den Antrag aus Paris bekam, entschloß ich mich, dein Bild zum Hauptstück meiner Ausstellung zu machen. Es fiel mir nie ein, daß du es nicht zulassen würdest. Ich sehe jetzt, daß du recht hast. Das Bild darf nicht ausgestellt werden. Du mußt mir nicht böse sein, Dorian, wegen der Dinge, die ich gesagt habe. Ich habe früher einmal Harry gesagt, du bist dazu geschaffen, angebetet zu werden.« Dorian Gray atmete tief auf. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die Gefahr war vorbei. Für den Augenblick war er gerettet. Doch er mußte unendliches Mitleid fühlen mit dem Maler, der ihm eben diese seltsame Beichte abgelegt hatte, und er fragte sich, ob er selbst jemals so stark von der Persönlichkeit eines Freundes beherrscht werden könnte. Lord Henry hatte den Reiz, sehr gefährlich zu sein. Aber das war alles. Er war zu klug und zu zynisch, als daß man ihn wirklich lieben könnte. Würde es je einen Menschen geben, den er merkwürdig abgöttisch anbeten könnte? War das eines von den Dingen, die ihm das Leben noch aufsparte? »Es ist mir wirklich ein reines Rätsel,« sagte Hallward, »daß du das dem Porträt angesehen haben willst. Hast du es wirklich gesehen?« »Ich habe etwas darin gesehen,« antwortete er, »etwas, das mir sehr sonderbar vorkam.« »Und jetzt hast du wohl nichts mehr dawider, es einmal zu betrachten?« Dorian schüttelte den Kopf. »Das darfst du von mir nicht verlangen, Basil. Es ist mir unmöglich, dich vor dem Bilde stehen zu sehen.« »Aber doch ein andermal?« »Nie!« »Schön, vielleicht hast du recht. Und jetzt adieu, Dorian. Du bist der einzige Mensch in meinem Leben gewesen, der wirklichen Einfluß auf meine Kunst ausgeübt hat. Was ich je Gutes gemacht habe, danke ich dir. Ach! Du kannst dir nicht vorstellen, was es mich gekostet hat, dir all das zu sagen, was ich gesagt habe.« »Mein lieber Basil,« sagte Dorian, »was hast du mir denn gesagt? Nichts, als daß du das Gefühl habest, mich zu sehr zu bewundern. Das ist nicht einmal ein Kompliment.« »Es sollte auch kein Kompliment sein. Es war eine Beichte. Jetzt, da ich sie abgelegt habe, kommt es mir so vor, als ob ich etwas verloren hätte. Man sollte seiner Verehrung niemals das Kleid der Worte umhängen.« »Deine Beichte hat mich enttäuscht.« »Ja, was hast du denn erwartet, Dorian? Du hast doch nicht sonst noch etwas in dem Bilde gesehen? Es war doch nicht sonst noch etwas anderes zu sehen?« »Nein, es war sonst nichts anderes zu sehen. Warum fragst du? Aber du solltest nicht von Verehrung sprechen. Das ist Narrheit. Du und ich, wir sind Freunde, Basil, und müssen es immer bleiben.« »Du hast jetzt Harry«, sagte der Maler traurig. »Oh, Harry!« rief der junge Mann mit einem fröhlichen Lachen. »Harry verbringt seine Tage damit, unglaubliche Dinge zu sagen, und seine Abende, unwahrscheinliche Dinge zu tun. Das ist genau die Art Leben, das ich führen möchte. Immerhin glaube ich nicht, daß ich je zu Harry ginge, wenn mich Kummer drückte. Ich würde eher zu dir kommen.« »Du willst mir wieder sitzen?« »Unmöglich!« »Du vernichtest meine künstlerische Existenz, wenn du dich weigerst. Kein Mensch begegnet zwei Idealen. Wenige finden eines.« »Ich kann es dir nicht erklären, Basil, aber ich darf dir nie wieder sitzen. Es schwebt etwas Verhängnisvolles um das Bildnis eines Menschen. Es hat ein Leben für sich. Ich werde zu dir kommen und mit dir Tee trinken, das wird ebenso hübsch sein.« »Für dich hübscher, fürchte ich«, sagte Hallward bekümmert vor sich hin. »Und jetzt adieu. Es tut mir leid, daß du mich nicht noch einmal das Bild sehen lassen wolltest. Aber dabei ist nichts zu tun. Ich verstehe sehr gut, was du dabei fühlst.« Als er das Zimmer verlassen hatte, lächelte sich Dorian Gray zu. Der arme Basil! Wie wenig ahnte der doch von dem wahren Grunde! Und wie seltsam es war, daß er es, statt sein eigenes Geheimnis offenbaren zu müssen, fast durch einen Zufall erreicht hatte, dem Freunde das seine zu entreißen. Wie viel erklärte ihm doch diese merkwürdige Beichte! Die unverständlichen Eifersuchtsanfälle des Malers, seine ungestüme Verehrung, seine übertriebenen Lobeshymnen, sein sonderbares Verstummen -- das alles verstand er jetzt, und er tat ihm leid. Einer Freundschaft, die so stark von Romantik gefärbt war, schien ihm eine gewisse Tragik inne zu wohnen. Er seufzte und drückte auf die Klingel. Das Porträt mußte um jeden Preis versteckt werden. Er konnte sich nicht ein zweitesmal der Gefahr solcher Entdeckung aussetzen. Es war wahnsinnig von ihm gewesen, das Ding da überhaupt nur eine Stunde lang in einem Zimmer zu lassen, zu dem jeder seiner Freunde Zutritt hatte. Zehntes Kapitel Als sein Bedienter eintrat, sah er ihn forschend an und fragte sich, ob es ihm wohl schon eingefallen sei, hinter den Schirm zu blicken. Der Mann sah aber ganz harmlos aus und wartete auf seine Befehle. Dorian zündete sich eine Zigarette an, ging zum Spiegel hinüber und sah hinein. Er konnte Viktors Gesicht darin genau sehen. Es war eine reglose Maske der Unterwürfigkeit. Daher war nichts zu fürchten, daher nicht. Doch er hielt es für das beste, auf der Hut zu sein. In sehr leisem Tone trug er ihm auf, die Haushälterin herein zu rufen und dann zum Einrahmer zu gehen, damit er sofort zwei Gehilfen schicke. Es schien ihm, daß die Augen des Mannes, als er das Zimmer verließ, in die Richtung des Schirmes gingen. Oder war das nur Einbildung von ihm? Nach einigen Augenblicken trat Frau Leaf in ihrem schwarzseidenen Kleid, altmodische Zwirnhandschuhe auf den runzligen Händen, in die Bibliothek. Er verlangte von ihr den Schlüssel zum Schulzimmer. »Das alte Schulzimmer, Herr Dorian!« rief sie aus. »Ei, das ist ja voller Staub. Es muß erst hergerichtet und in Ordnung gebracht werden, bevor Sie hinein können. Es ist jetzt nicht in einem Zustand, daß Sie es sehen könnten, gnädiger Herr. Wirklich nicht.« »Es braucht nicht hergerichtet zu werden, gute Leaf. Ich will nur den Schlüssel.« »Aber gnädiger Herr, Sie werden sich voller Spinnweben machen, wenn Sie hineingehen. Ei, es ist ja beinah seit fünf Jahren nicht geöffnet worden, seit seine Gnaden gestorben sind.« Er zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Großvaters. Er hatte nur gehässige Erinnerungen an ihn. »Das macht nichts«, erwiderte er. »Ich will das Zimmer nur sehen -- das ist alles. Geben Sie mir den Schlüssel.« »Hier ist schon der Schlüssel, gnädiger Herr«, sagte die alte Dame, die ihren Schlüsselbund mit zitternden, unsicheren Händen durchmustert hatte. »Hier ist der Schlüssel, ich werde ihn gleich vom Bund haben. Aber Sie denken doch nicht daran, dort hinaufzuziehen, gnädiger Herr, wo Sie es hier so gemütlich haben?« »Nein, nein!« rief er ungeduldig. »Ich danke, gute Leaf. Ich brauche sonst nichts.« Sie verweilte noch ein paar Augenblicke und wollte über irgendeine Angelegenheit in der Haushaltung zu quengeln anfangen. Er seufzte und sagte, sie solle alles so erledigen, wie sie es fürs beste halte. Mit strahlendem Gesichte verließ sie das Zimmer. Als die Tür geschlossen war, steckte Dorian den Schlüssel in die Tasche und blickte sich im Zimmer um. Sein Auge fiel auf eine große purpurne Atlasdecke mit schweren Goldstickereien, ein köstliches Stück venezianischer Arbeit vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das sein Großvater in einem Kloster nahe bei Bologna aufgestöbert hatte. Ja, die paßte trefflich, um das schreckliche Ding damit zu verhüllen. Sie hatte vielleicht oft als Bahrtuch für Tote gedient. Jetzt sollte sie etwas verhüllen, das eine eigene Art Verwesung in sich hatte, eine ärgere als die Verwesung des Todes -- etwas, das Schrecknisse ausbrüten und doch nie sterben würde. Was Würmer für einen Leichnam sind, das würden seine Sünden für das gemalte Antlitz auf der Leinwand werden. Sie würden seine Schönheit zerstören und seine Anmut wegfressen. Sie würden es beflecken und schänden. Und doch würde das Bild weiterleben. Es würde immer am Leben bleiben. Er schauderte, und einen Augenblick lang tat es ihm leid, daß er Basil nicht den wahren Grund gesagt habe, warum er das Bild verstecken wolle. Basil hätte ihm helfen können, sowohl dem Einfluß Lord Henrys zu widerstehen, als auch den noch viel giftigeren Einflüssen, die aus seiner eigenen Natur herrührten. Die Liebe, die Basil für ihn hegte -- denn es war wirklich Liebe --, schloß nichts ein, was nicht edel und vergeistigt wäre. Es war nicht jene rein physische Bewunderung, die eine Geburt der Sinne ist und mit der Ermüdung der Sinne hinstirbt. Es war eine Liebe, wie sie Michelangelo gekannt hatte und Montaigne und Winkelmann und auch Shakespeare. Ja, Basil hätte ihn retten können. Aber jetzt war es zu spät. Die Vergangenheit konnte immer vernichtet werden. Reue, Verleugnung oder Vergessenheit konnten das bewirken. Aber die Zukunft war unabwendlich. Er hatte Leidenschaften in sich, die ihr fürchterliches Ausfalltor bei ihm finden wurden, Träume, die ihre sündigen Schatten zur Wirklichkeit umwandeln würden. Er griff nach dem großen Überwurf aus Purpur und Gold, der den Diwan bedeckte, hob ihn mit beiden Händen auf und ging damit hinter den Schirm. War das Gesicht auf der Leinwand jetzt häßlicher als vorher? Es erschien ihm unverändert; und doch, sein Abscheu davor war noch verstärkt. Goldiges Haar, blaue Augen, rosenrote Lippen -- das war alles da. Nur der Ausdruck hatte sich verwandelt. Der war erschreckend in seiner Grausamkeit. Im Vergleich zu den Vorwürfen und der Rüge, die er in dem Bilde sah, wie nichtssagend waren da Basils Vorhaltungen über Sibyl Vane gewesen -- nichtssagend und belanglos! Seine eigene Seele sah ihn an aus der Leinwand und forderte ihn vors Gericht. Ein schmerzlicher Zug legte sich über sein Gesicht, und er warf die prunkvolle Sofadecke über das Bild. Während er dies tat, klopfte es an die Tür. Er kam hinter dem Wandschirm hervor, als sein Bedienter eintrat. »Die Leute sind da, Monsieur.« Er hatte das Gefühl, daß er den Mann jetzt los werden müsse. Er durfte nicht wissen, wohin das Bild sollte. Er hatte etwas Listiges an sich und nachdenkliche, verräterische Augen. Er setzte sich an den Schreibtisch, kritzelte ein paar Zeilen hin an Lord Henry, worin er bat, ihm etwas zum Lesen zu schicken, und worin er ihn daran erinnerte, daß sie sich um viertel neun heut abend treffen wollten. »Warten Sie auf Antwort,« sagte er, indem er ihm den Brief übergab, »und lassen Sie die Leute herein.« Nach zwei bis drei Minuten klopfte es wieder, und Herr Hubbard, der berühmte Rahmenfabrikant aus South Audley Street, trat mit einem struwwelig aussehenden Gehilfen herein. Herr Hubbard war ein blühend aussehender, rotbäckiger, kleiner Mann, dessen Bewunderung für die Kunst beträchtlich vermindert worden war durch den althergebrachten Geldmangel bei den meisten Künstlern, die mit ihm zu tun hatten. In der Regel verließ er seine Werkstatt nie. Er wartete, bis die Leute zu ihm kamen. Aber bei Dorian Gray machte er immer eine Ausnahme. Es war etwas an Dorian, was jeden entzückte. Ihn nur zu sehen, das war schon ein Vergnügen. »Was steht zu Ihren Diensten, Herr Gray?« fragte er und rieb seine fetten, sommersprossigen Hände. »Ich dachte, ich wollte mir selbst die Ehre geben, herüberzukommen. Ich habe gerade ein Prachtstück von Rahmen da. Bei einer Auktion ergattert. Alt-Florentiner. Stammt aus Fonthill, vermute ich. Wundervoll geeignet für einen religiösen Gegenstand, Herr Gray.« »Es tut mir leid, daß Sie sich selbst herbemüht haben, Herr Hubbard. Ich werde gern mal vorbeikommen und den Rahmen ansehen -- obwohl ich mich gerade jetzt nicht sehr für religiöse Kunst interessiere -- aber heute möchte ich nur ein Bild auf den Boden getragen haben. Es ist ziemlich schwer, deshalb dachte ich mir, daß Sie so gut wären, mir zwei von Ihren Leuten zu leihen.« »Hat gar nichts zu sagen, Herr Gray. Freue mich, wenn ich Ihnen den kleinsten Dienst leisten kann. Wo ist das Kunstwerk, gnädiger Herr?« »Dies da«, antwortete Dorian und schob den Schirm zurück. »Können Sie es so hinaufbringen, wie es jetzt ist, Decke und Bild zusammen? Ich möchte nicht, daß es die Treppen hinauf zerschrammt wird.« »Das werden wir leicht kriegen«, sagte der muntere Rahmenmacher und begann mit Hilfe von seinem Gesellen das Bild von den langen Messingketten loszumachen, an denen es aufgehängt war. »Und wo soll es jetzt hingebracht werden, Herr Gray?« »Ich will Ihnen den Weg zeigen, Herr Hubbard, wenn Sie so gut sein wollen, mir nur zu folgen. Oder vielleicht gehen Sie lieber voraus. Es tut mir leid, aber es ist ganz oben. Wir wollen über die Vordertreppe gehen, die ist breiter.« Er hielt ihnen die Tür auf, und sie gingen in den Vorraum hinaus und fingen an, hinaufzusteigen. Die ausladenden Verzierungen des Rahmens hatten das Bild sehr umfangreich gemacht, und hin und wieder legte Dorian mit Hand an, um ihnen zu helfen, trotz den unterwürfigen Einwänden des Herrn Hubbard, der die lebhafte Abneigung des wirklichen Handwerkers gegen jede nützliche Beschäftigung eines vornehmen Herrn hatte. »Da hat man ein ziemliches Gewicht zu schleppen«, pustete der kleine Mann, als sie den letzten Treppenabsatz erreicht hatten. Und er trocknete sich die glänzende Stirn. »Es tut mir leid, daß es so schwer ist«, murmelte Dorian, während er die Tür zu dem Zimmer aufschloß, das dieses sonderbare Geheimnis seines Lebens aufbewahren und seine Seele vor den Blicken der Menschheit schützen sollte. Er hatte die Stube wohl länger als vier Jahre nicht betreten -- in Wirklichkeit nicht, seitdem sie ihm in seiner Kindheit zuerst als Spielzimmer, und dann, als er etwas älter war, als Studierzimmer gedient hatte. Es war ein großer Raum von schönen Verhältnissen, den der verstorbene Lord Kelso eigens zur Benutzung für seinen kleinen Enkel angebaut hatte, den er wegen seiner fabelhaften Ähnlichkeit mit seiner Mutter und auch noch aus anderen Gründen immer gehaßt hatte und möglichst weit weg von sich haben wollte. Der Raum schien Dorian wenig verändert. Da war der mächtige italienische Cassone mit den phantastisch bemalten Füllungen und den abgenutzten goldenen Ornamenten, in dem er sich als Junge oft versteckt hatte. Da stand der polierte Bücherschrank aus Satinholz mit seinen Schulbüchern voll Eselsohren. An der Wand darüber hing noch derselbe zerfaserte flämische Gobelin, auf dem ein verblichener König und eine Königin in einem Garten Schach spielten, während ein Trupp von Falkenieren vorbeiritt, die auf ihren Panzerhandschuhen Vögel mit kappenverhüllten Köpfen trugen. Wie gut er sich an alles erinnerte! Jeder Augenblick seiner vereinsamten Kindheit kam ihm vors Gedächtnis, während er sich umsah. Er entsann sich der fleckenlosen Reinheit seines Knabenlebens, und es schien ihm furchtbar, daß gerade hier das verhängnisvolle Bildnis verborgen werden sollte. Wie wenig hatte er in diesen längst verrauschten Tagen von alledem geahnt, was seiner warten sollte! Aber kein anderer Ort im ganzen Hause war so sicher vor neugierigen Augen als dieser. Er hatte den Schlüssel, und jetzt konnte niemand weiter hinein. Hinter dem purpurnen Bahrtuch konnte nun das gemalte Gesicht auf der Leinwand tierisch, gedunsen und lasterhaft werden. Was lag daran? Niemand konnte es sehen. Er selbst wollte es nicht sehen. Warum sollte er die gräßliche Verwesung seiner Seele verfolgen? Er behielt seine Jugend -- das mußte genügen. Und übrigens, konnte sein Wesen trotz allem nicht edler werden? Es war kein Grund vorhanden, daß die Zukunft so angefüllt von Lastern sein müsse. Die Liebe konnte in sein Leben treten und ihn läutern und ihn vor den Sünden beschützen, die ihm schon in Geist und Blut zu gähren schienen -- diese seltsamen, nicht gemalten Sünden, deren Unbekanntheit ihnen eben den Reiz und die Verführung lieh. Eines Tages vielleicht verschwand der grausame Zug von dem empfindlichen Scharlachmund, und dann würde er der Welt Basil Hallwards Meisterwerk zeigen können. Nein, das war unmöglich. Stunde für Stunde und Woche für Woche alterte das Antlitz auf der Leinwand. Es mochte den Greueln der Sünde entfliehen, aber die Greuel des Alters mußten es einholen. Die Wangen müssen hohl oder schlaff werden. Gelbe Krähenfüße müssen sich um die glanzlosen Augen herumringeln und sie fürchterlich machen. Das Haar mußte seinen Glanz verlieren, der Mund klaffen oder einfallen, blöde oder gewöhnlich aussehen, wie eben der Mund alter Leute aussieht. Der Hals mußte verschrumpfen, die Hände mußten kalt und von blauen Adern durchzogen werden, der Körper mußte sich krümmen, wie er ihn bei seinem Großvater gesehen hatte, der so streng gegen ihn gewesen war in der Knabenzeit. Das Bildnis mußte verborgen bleiben. Da konnte nichts helfen. »Bitte, Herr Hubbard, bringen Sie es herein«, sagte er abgespannt und wandte sich um. »Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufhielt. Ich dachte gerade nach über etwas.« »Immer angenehm, sich mal verschnaufen zu können, Herr Gray«, antwortete der Rahmenmacher, der noch immer nach Luft schnappte. »Wo sollen wir es hinstellen?« »Ach, irgendwo. Vielleicht hierher: da wird's gut stehen. Ich will's nicht aufgehängt haben. Lehnen Sie es nur gegen die Wand. Danke!« »Darf man das Kunstwerk mal ansehen?« Dorian erschrak. »Es würde Sie nicht interessieren, Herr Hubbard«, sagte er und sah den Mann fest an. Er fühlte sich imstande, auf ihn loszustürzen und ihn zu Boden zu werfen, wenn er es wagen sollte, die schimmernde Hülle zu lüften, die das Geheimnis seines Lebens barg. »Ich will Sie nicht länger aufhalten. Schönsten Dank, daß Sie so freundlich waren, herüberzukommen.« »Kein Anlaß, kein Anlaß, Herr Gray! Es ist mir immer ein Vergnügen, für Sie etwas tun zu dürfen.« Und Herr Hubbard stapfte die Treppe hinab, sein Gehilfe hinterher, der noch einmal nach Dorian zurückblickte, mit einem Ausdruck scheuer Bewunderung in dem unschönen Alltagsgesicht. Er hatte nie einen Menschen gesehen, der so wunderhübsch war. Als das Geräusch ihrer Fußtritte verklungen war, schloß Dorian die Tür zu und steckte den Schlüssel in die Tasche. Jetzt fühlte er sich gleichsam gerettet! Nie würde jemand das Schrecknis sehen. Kein Auge als seines würde mehr seine Schande erblicken. Als er wieder in die Bibliothek kam, sah er, daß es gerade fünf Uhr war und daß der Tee schon bereit stand. Auf einem kleinen Tisch aus dunklem, wohlriechendem Holz, das reich mit Perlmutter ausgelegt war, einem Geschenk der Frau seines Vormundes, Lady Radley, einer hübschen Kranken von Beruf und Gewohnheit, die den vergangenen Winter in Kairo zugebracht hatte, lag ein Briefchen von Lord Henry und daneben ein Buch in gelbem, leicht abgenutztem und an den Ecken nicht mehr ganz sauberem Umschlag. Ein Exemplar der dritten Tagesausgabe der St.-James-Gazette lag auf dem Teebrett. Offenbar war Viktor zurückgekehrt. Er fragte sich, ob er wohl die Leute in der Vorhalle getroffen hätte, als sie das Haus verließen, und ob er sie ausgeforscht hätte, was sie getan hätten. Er würde sicher das Bild vermissen -- hatte es ohne Zweifel schon vermißt, als er den Teetisch zurecht machte. Der Schirm war noch nicht an seinen Platz zurückgestellt worden, und der leere Raum an der Wand war auffallend. Vielleicht würde er ihn eines Nachts ertappen, wie er hinaufschlich und die Tür des Bodenzimmers zu sprengen versuchte. Es war schrecklich, einen Spion im Hause zu haben. Er hatte von reichen Leuten gehört, die ihr ganzes Leben hindurch von den Erpressungen eines Bedienten ausgesaugt wurden, der mal irgendeinen Brief gelesen oder ein Gespräch mitangehört oder eine Karte mit einer Adresse gefunden oder unter einem Kissen eine verwelkte Blume oder einen Fetzen zerknitterter Spitze entdeckt hatte. Er seufzte, goß sich etwas Tee ein und öffnete Lord Henrys Billett. Es stand nur darin, daß er ihm die Abendzeitung schicke und ein Buch, das ihn vielleicht interessieren werde, und daß er ihn um Viertel neun im Klub zu treffen hoffe. Er öffnete langsam die St.-James und durchflog sie. Ein Strich mit Rotstift auf der fünften Seite fiel ihm auf. Er machte auf die folgende Notiz aufmerksam: »_Leichenschau einer Schauspielerin._ Eine gerichtliche Untersuchung wurde heute morgen von Herrn Danby, dem Bezirks-Leichenbeschauer in der Bell Tavern, Hoxton Road, über den Leichnam von Sibyl Vane, einer jungen Schauspielerin, die seit kurzem am Royal Theater in Holborn engagiert war, abgehalten. Es wurde auf Tod durch einen Unglücksfall erkannt. Reges Mitgefühl erweckte die Mutter der Verblichenen, die während ihrer Aussage und der des ~Dr.~ Birrel, der die Obduktion der Leiche vorgenommen hatte, ihrem Schmerz erschütternden Ausdruck gab.« Er runzelte die Stirn, zerriß das Blatt, lief im Zimmer auf und ab und warf die Papierfetzen weg. Wie häßlich das alles war! Und was für eine schreckliche Wirklichkeit die Häßlichkeit allem gab! Er ärgerte sich ein wenig über Lord Henry, daß er ihm den Bericht geschickt hatte. Und sicher war es albern von ihm, ihn mit Rotschrift anzustreichen. Viktor konnte ihn gelesen haben. Der Mann verstand dafür mehr als genug Englisch. Vielleicht hatte er ihn schon gelesen und angefangen, Verdacht zu schöpfen. Und wenn schon, was lag daran? Was hatte Dorian Gray mit Sibyl Vanes Tod zu tun? Es war kein Grund zur Furcht. Dorian Gray hatte sie nicht getötet. Sein Auge fiel auf das gelbe Buch, das ihm Lord Henry geschickt hatte. Er war gespannt, was es sein mochte. Er trat an den kleinen perlfarbenen, achteckigen Hocker, der ihm immer wie das Werk seltsamer ägyptischer Bienen vorgekommen war, die ihre Waben in Silber trieben, nahm den Band zur Hand, warf sich in einen Lehnsessel und begann zu blättern. Nach einigen Augenblicken kam er nicht mehr davon los. Es war das merkwürdigste Buch, das er je gelesen hatte. Es schien ihm, als zögen in erlesenen Prachtgewändern und zum Klange von Flöten die Sünden der Welt in stummem Reigentanze an ihm vorbei. Dinge, die er bestimmt geträumt hatte, wurden plötzlich zur Wirklichkeit. Dinge, von denen er vag geträumt hatte, wurden ihm mählich enthüllt. Es war ein Roman ohne rechte Handlung, der sich um einen einzigen Charakter drehte, eigentlich eine bloße psychologische Studie über einen gewissen jungen Pariser, der sein Leben mit dem Versuche hinbrachte, im neunzehnten Jahrhundert alle Leidenschaften und Wandlungen der Denkungsart in Wirklichkeit umzusetzen, die jedem Jahrhundert, außer seinem eigenen, angehört hatten, und so die verschiedenartigen psychischen Zustände, die irgend einmal die Weltseele durchgemacht hatte, in sich selbst gewissermaßen zu vereinigen, indem er jene Entsagungen, die die Menschen in ihrer Torheit Tugend genannt haben, ihrer bloßen Künstlichkeit wegen ebenso heftig liebte wie jene Empörungen gegen die Natur, die weise Menschen noch immer Sünden nennen. Der Stil, in dem das Buch geschrieben war, bestand in jener sonderbaren, reich geschmückten Diktion, die lebendig und dunkel zugleich ist, von Argotausdrücken und archaistischen Wendungen, von technischen Ausdrücken und sorgsam gefeilten Umschreibungen strotzt, wie sie die Arbeiten einiger der feinsten Künstler aus der französischen Symbolistenschule kennzeichnet. Es waren Metaphern darin, so abenteuerlich an Form wie Orchideen und auch so fein angehaucht wie deren Farbentöne. Das Leben der Sinne war mit einer Terminologie mystischer Philosophie beschrieben. Man wußte manchmal kaum, ob man von den vergeistigten Entzückungen eines mittelalterlichen Heiligen las oder die krankhaften Beichtbekenntnisse eines modernen Sünders. Es war ein Buch voll Gift. Ein dicker Weihrauchnebel schien über den Seiten zu schweben und sein Gehirn zu betäuben. Schon der melodische Fall der Sätze, die gesuchte Monotonie ihrer Musik mit der Fülle von komplizierten Refrains und Taktgefügen, die sich in der raffiniertesten Weise wiederholten, erzeugten im Geist des Jünglings, als er von Kapitel zu Kapitel weiterlas, eine Art Träumerei, ja eine förmliche Krankheit des Träumens, so daß er den sinkenden Tag und die hereinkriechenden Schatten nicht merkte. Wolkenlos, von den Strahlen keines einzigen Sternes durchstochen, glimmerte ein kupfergrüner Himmel durch die Fenster. Er las bei seinem matten Licht weiter, bis er nicht mehr lesen konnte. Nachdem ihn sein Diener mehrere Male an die späte Stunde erinnert hatte, stand er auf, ging ins Nebenzimmer, legte das Buch auf das Florentiner Tischchen, das immer neben seinem Bett stand, und begann sich zum Diner umzukleiden. Es war fast neun Uhr, als er im Klub ankam, wo er Lord Henry allein und sehr gelangweilt aussehend, im Frühstückszimmer sitzend, antraf. »Es tut mir zwar leid, Harry,« rief er, »aber es ist nur deine Schuld. Das Buch, das du mir geschickt hast, hat mich wirklich so gefesselt, daß ich gar nicht merkte, wo die Zeit geblieben ist.« »Ja, ich dachte mir, daß es dir gefällt«, antwortete der Freund, sich vom Stuhle erhebend. »Ich habe nicht gesagt, daß es mir gefällt, Harry. Ich habe gesagt, es fesselte mich. Das ist ein großer Unterschied.« »Ah, das hast du entdeckt?« sagte Lord Henry. Und sie gingen zusammen in den Speisesaal. Elftes Kapitel Jahre hindurch konnte sich Dorian Gray von dem Einfluß dieses Buches nicht losmachen. Oder es wäre vielleicht richtiger zu sagen, er versuchte gar nicht, sich von ihm loszumachen. Er ließ sich aus Paris nicht weniger als neun Luxusexemplare der ersten Auflage kommen und ließ sie verschiedenfarbig einbinden, damit sie zu den wechselnden Launen und veränderlichen Stimmungen seiner Natur paßten, über die er bisweilen jede Herrschaft verloren zu haben schien. Der Held, der wunderbare junge Pariser, bei dem das romantische und das wissenschaftliche Temperament so merkwürdig vermischt waren, wurde für ihn eine Art vorbildlicher Idealgestalt seiner selbst. Und in der Tat schien ihm das ganze Buch die Geschichte seines Lebens zu enthalten, aufgeschrieben, bevor er selbst es gelebt hatte. In einer Beziehung aber war er glücklicher als der phantastische Romanheld. Er kannte nie -- hatte in der Tat auch nie einen Grund dazu -- das beinahe groteske Grauen vor Spiegeln und polierten Metallflächen und unbewegten Wassern, das den jungen Pariser so früh im Leben überkam und das durch den jähen Verfall einer Schönheit verursacht war, die allem Anschein nach vorher ganz außerordentlich gewesen sein mußte. Mit einer fast grausamen Lust -- und vielleicht liegt in jeder Lust, wie gewißlich in jedem Genuß, Grausamkeit -- pflegte er den zweiten Teil des Buches zu lesen mit dem wirklich tragischen, wenn auch etwas übertrieben geschilderten Bericht von den Leiden und der Verzweiflung eines Menschen, der selbst verloren hatte, was er an anderen und an der Welt am höchsten schätzte. Denn die wundervolle Schönheit, die Basil Hallward so gefesselt hatte und manchen anderen auch, schien ihn nie zu verlassen. Selbst jene, die die häßlichsten Dinge über ihn gehört hatten -- und von Zeit zu Zeit schlichen seltsame Gerüchte über seine Lebensweise durch London und wurden das Gespräch der Klubs -- konnten, wenn sie ihn sahen, nichts glauben, was ihm hätte zur Unehre gereichen können. Er sah immer aus wie einer, der sich in der Welt unbefleckt erhalten hatte. Männer, die sich anstößige Dinge erzählten, verstummten, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. In der Reinheit seines Antlitzes lag ein Etwas, das sie in Schranken hielt. Seine bloße Gegenwart schien in ihnen die Erinnerung an die Unschuld zu erwecken, die sie beschmutzt hatten. Sie staunten, daß ein so reizender und anmutiger Mensch wie er der Befleckung durch eine Zeit hatte entgehen können, die zugleich unsauber und sinnlich war. Oft, wenn er von einer der geheimnisvollen längeren Abwesenheiten zurückkehrte, die so merkwürdige Vermutungen bei seinen Freunden erregten oder bei jenen, die sich dafür hielten, so schlich er hinauf in die verschlossene Dachstube, öffnete die Tür mit dem Schlüssel, der ihn nun nie mehr verließ, und stand mit einem Handspiegel vor dem Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte, und sah bald auf das schändliche und gealterte Antlitz auf der Leinwand, bald auf das schöne, junge Gesicht, das ihn aus der glatten Spiegelfläche anlächelte. Gerade die Stärke dieses Kontrastes pflegte seine Lustempfindung zu erhöhen. Er verliebte sich mehr und mehr in seine eigene Schönheit und empfand mehr und mehr Teilnahme für die Verderbnis seiner eigenen Seele. Er untersuchte mit peinlicher Sorgsamkeit und manchmal mit ungeheuerlichem und schrecklichem Wonnegefühl die häßlichen Linien, die die runzlige Stirn durchfurchten oder sich um den üppigen sinnlichen Mund schlängelten, und fragte sich manchmal, ob wohl die Merkmale der Sünde schrecklicher seien oder die Spuren des Alters? Er legte seine weißen Hände neben die rohen, gedunsenen Hände des Bildes und lächelte. Er machte sich lustig über den verunstalteten Leib und die welkenden Glieder. Dann gab es in der Tat Augenblicke, nachts, wenn er schlaflos in seinem mild durchdufteten Zimmer lag oder in der schmuddeligen Stube der kleinen berüchtigten Kneipe nahe den Docks, die er unter einem angenommenen Namen und verkleidet zu besuchen pflegte, wo er mit einem Mitgefühl, das um so beklemmender war, als es einen rein ethischen Ursprung hatte, an das Elend dachte, das er über seine Seele gebracht hatte. Aber Augenblicke wie diese waren selten. Jene Neugier auf das Leben, die Lord Henry zuerst in ihm aufgestört hatte, als sie im Garten ihres Freundes nebeneinander saßen, schien mit ihrer Befriedigung nur zu wachsen. Je mehr er wußte, desto mehr wollte er wissen. Er hatte tolle Hungeranfälle, die immer ungestillter wurden, je mehr er sie nährte. Und doch war er nicht gerade liederlich geworden, wenigstens nicht in seinen Beziehungen zur Gesellschaft. Ein- oder zweimal in jedem Monat während des Winters und jeden Mittwochabend während der Saison öffnete er der Welt sein schönes Haus, und immer waren die berühmtesten Musiker da, um seine Gäste mit ihrer erlesenen Kunst zu begeistern. Seine kleinen Diners, bei deren Vorbereitung ihm Lord Henry immer half, waren ebensosehr wegen der sorgsamen Auswahl und Tischordnung der Eingeladenen berühmt, wie wegen des ausgesuchten Geschmackes, der sich in der Tafeldekoration mit ihren fein abgetönten, symphonischen Anordnungen exotischer Pflanzen, gestickter Decken und antiker Gold- und Silbergeräte aussprach. Tatsächlich gab es eine große Zahl, besonders von ganz jungen Menschen, die in Dorian Gray die vollkommene Verkörperung eines Typus sahen oder zu sehen wähnten, von dem sie oft in den Tagen von Eton oder Oxford geträumt hatten, eines Typus, der etwas von der wirklichen Bildung des Gelehrten mit der Anmut, Vornehmheit und den vollendeten Manieren eines Weltmannes vereinigte. Ihnen erschien er als einer aus jener Menschengruppe, von denen Dante sagt, »sie suchten sich durch die Anbetung der Schönheit zu vervollkommnen«. Gleich Gautier war er einer von denen, »für die die sichtbare Welt da war«. Und gewiß war für ihn das Leben die erste, die größte Kunst, und alle übrigen Künste schienen nur die Vorschule dazu. Natürlich übte auch die Mode, durch die das wirklich Phantastische einen Augenblick lang Allgemeingut wird, und das Dandytum, das auf seine Weise einen Versuch bildet, eine absolut moderne Art von Schönheit zu verkörpern, ihren Reiz auf ihn aus. Seine Art, sich zu kleiden, und die besonderen Stilabweichungen, die er von Zeit zu Zeit sehen ließ, hatten einen ausgesprochenen Einfluß auf die jungen Stutzer der Bälle in Mayfair und der Fenster des Pall-Mall-Klubs, die ihm in allem, was er tat, nachahmten und jede Exzentrizität aufgriffen, die seine Anmut erhöhte, aber ihm selbst nur teilweis ernst war. Denn er war nur zu leicht bereit, die Stellung anzunehmen, die ihm unmittelbar nach seiner Volljährigkeit geboten wurde, und er fand in Wahrheit einen besonderen Genuß in dem Gedanken, er könne für das London seiner Zeit das werden, was für das Rom des Kaisers Nero der Verfasser des »Satyrikon« gewesen war, aber er wünschte doch im innersten Herzen mehr zu werden als ein arbiter elegantiarum, und nicht nur über das Tragen eines Schmuckstückes oder das Binden einer Krawatte oder die Haltung eines Spazierstockes befragt zu werden. Er suchte ein neues Schema für die Lebensführung zu entwerfen, das seine philosophische Grundlage und seine geordneten Prinzipien haben und in der Vergeistigung der Sinne seine höchste Vervollkommnung erreichen sollte. Die Pflege der Sinne ist oft und mit vielem Recht geschmäht worden, da die Menschen einen natürlichen, instinktiven Abscheu vor Leidenschaften und Empfindungen haben, die stärker scheinen als sie selbst und die sie mit weniger hoch organisierten Formen des Lebendigen gemein zu haben sich bewußt sind. Doch kam es Dorian Gray so vor, als ob die wahre Natur der Sinne noch nie verstanden worden sei und als ob sie nur deshalb wild und tierisch geblieben seien, weil die Welt versuchte, sie durch Hunger zur Unterwerfung zu bringen oder durch Schmerzen zu töten, statt bestrebt zu sein, sie zu Bestandteilen einer neuen geistigen Welt zu machen, in der ein edles Schönheitsbewußtsein die vorherrschende Triebfeder sein sollte. Wenn er auf den Gang der Menschen durch die Weltgeschichte zurückblickte, verfolgte ihn ein Gefühl des Verlustes. So vielem war entsagt worden und zu so geringem Zweck! Es hatte wahnsinnige freiwillige Entsagungen gegeben, ungeheuerliche Formen von Selbstquälerei und Selbstverleugnung, deren Ursprung die Furcht war und deren Ergebnis eine Erniedrigung von unsäglich schrecklicherer Art, als jene nur eingebildete Erniedrigung, vor der sie sich in ihrer Unwissenheit flüchten wollten, da die Natur in ihrer wunderbaren Ironie den Anachoreten hinausjagte, damit er sich in Gesellschaft der Bestien der Wüste nährte, und dem Einsiedler die Tiere des Feldes zu Gefährten gab. Ja: es mußte, wie Lord Henry prophezeit hatte, ein neuer Hedonismus kommen, um das Leben zu erneuern und es von jenem strengen, häßlichen Puritanertum zu erlösen, das in unseren Tagen seine sonderbare Auferstehung feierte. Gewiß, er würde dem Intellekt gehorsam sein müssen; aber niemals dürfte er eine Theorie oder ein System anerkennen, das irgendein leidenschaftliches Erlebnis zum Opfer forderte. Sein wahres Ziel sollte gerade die Erfahrung selbst sein und nicht die Früchte der Erfahrung, mochten sie nun so süß oder bitter sein, wie sie wollten. Von dem Asketentum, das die Sinne tötet, oder von der gewöhnlichen Ausschweifung, die sie abstumpft, würde er nichts wissen wollen. Aber er sollte die Menschen lehren, sich für die Momente des Lebens zu sammeln, da dieses selbst doch nur ein Moment ist. Es gibt nur wenige unter uns, die nicht manchmal vor Tagesgrauen erwacht wären, entweder nach einer jener traumlosen Nächte, die uns den Tod lieben lassen, oder nach einer jener Nächte voll Schrecken und wollüstiger Albdrücken, wo durch die Kammern des Gehirns Gespenster flattern, die schrecklicher sind als die Wirklichkeit selbst und erfüllt sind von dem lebendigen Dasein, das in allem Grotesken lauert und das der gotischen Kunst ihre ewig lebendige Kraft gibt, weil gerade diese Kunst, wie man sagen möchte, die besondere Kunst jener ist, deren Geist durch die Krankheit von Fieberträumen verwirrt worden ist. Nach und nach strecken sich bleiche Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen zu erzittern. In schwarzen, abenteuerlichen Formen kriechen stumme Schatten in die Ecken des Zimmers und kauern dort nieder. Draußen regen sich die Vögel im Geblätter, oder man hört den Schritt der Menschen, die zur Arbeit gehen, oder das Heulen und Schluchzen des Windes, der von den Bergen kommt und das schweigsame Haus umwandert, als fürchte er, die Schläfer zu wecken, und müsse dennoch den Schlaf aus seiner purpurnen Höhle ans Licht rufen. Schleier nach Schleier aus feiner, dunkelfarbener Gaze heben sich, und allmählich erhalten die Dinge ihre Formen und Farben zurück, und wir sehen es mit an, wie die Frühdämmerung der Welt ihre alte Gestalt zurückgibt. Die verschwommenen Spiegel bekommen ihr Scheinleben zurück. Die lichtlosen Lampen stehen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, darin wir gelesen, oder die verwelkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns geändert. Aus den unwirklichen Schatten der Nacht tritt das wirkliche Leben hervor, das wir kannten. Wir haben es da wieder aufzunehmen, wo wir es unterbrochen haben, und uns beschleicht das fürchterliche Gefühl der Notwendigkeit, seine Energien weiter verbrauchen zu müssen in der gleichen ermüdenden Tretmühle stereotyper Gewohnheiten, oder vielleicht überschleicht uns eine wilde Sehnsucht, daß sich unsere Augen eines Morgens öffnen möchten für eine Welt, die im nächtigen Dunkel zu unserer Lust neu erschaffen worden sei, für eine Welt, in der die Dinge frische Linien und Farben hätten, verändert seien oder andere Geheimnisse bürgen, für eine Welt, in der die Vergangenheit nur einen unbedeutenden oder gar keinen Platz hätte oder wenigstens in keiner bewußten Form von Verpflichtung oder Reue weiterlebte, wo die Erinnerung selbst an die Freude ihre Bitterkeit enthält und dem Gedächtnis an den Genuß ein Schmerz beigemischt ist. Die Erschaffung solcher Welten schien für Dorian Gray der wahre Lebensinhalt oder wenigstens sein hauptsächlichster Inhalt zu bedeuten; und auf seiner Suche nach Sinnenerlebnissen, die zugleich neu und genußreich sein sollten und jenes Element der Seltsamkeit enthielten, die für die Romantik so wesentlich ist, eignete er sich oft gewisse Arten zu denken an, von denen ihm wohl bewußt war, daß sie seinem Wesen in Wirklichkeit fremd waren, gab sich ihren subtilen Einflüssen hin und verließ sie dann, wenn er sozusagen ihre Farbe in sich eingesogen und seine geistige Neugier befriedigt hatte, mit jener eigentümlichen Gleichgültigkeit, die nicht unvereinbar ist mit einem wirklich glühenden Temperament, und die in der Tat nach der Meinung gewisser moderner Psychologen oft eine Bedingung dafür ist. Einmal ging ein Gerücht von ihm, er wolle katholisch werden; und gewiß hatte der katholische Kult eine große Anziehungskraft für ihn. Das tägliche Meßopfer, das wirklich viel ehrfurchterweckender ist als alle Opfer der antiken Welt, regte ihn ebensosehr an durch seine prachtvolle Unbekümmertheit des sinnlichen Augenscheins wie durch die primitive Einfachheit seiner Elemente und das ewige Pathos der menschlichen Tragödie, die es zu symbolisieren versuchte. Er liebte es, auf das kalte Marmorpflaster hinzuknien und den Priester zu beobachten, der in seiner stimmungsvollen, blumengestickten Stola langsam und mit weißen Händen den Vorhang vom Tabernakel hinwegzog, oder die laternenförmige edelsteingeschmückte Monstranz in die Höhe hob, die jene blasse Hostie enthielt, von der man zuzeiten wirklich denken konnte, es sei der panis coelestis, das Brot der Engel, oder der, in die Gewänder der Christuspassion gehüllt, die Hostie in den Kelch tauchte und sich um seiner Sünden willen die Brust schlug. Die rauchenden Weihrauchkessel, die die ernsten Knaben in ihren Spitzen- und Scharlachmänteln in der Luft schwangen und die wie große, goldene Blumen aussahen, übten einen tiefen Zauber auf ihn aus. Wenn er hinaustrat, pflegte er staunend die dunkeln Beichtstühle anzublicken und empfand eine Sehnsucht, im düsteren Schatten eines solchen zu sitzen und den Männern und Frauen zu lauschen, die durch das abgenutzte Gitter die wahre Geschichte ihres Lebens flüsterten. Aber er verfiel nie dem Irrtum, seine geistige Entwicklung durch die förmliche Annahme irgendeines Glaubens oder Systems zu hindern oder irrtümlich ein Haus, in dem man leben konnte, gleichsam für eine Herberge zu halten, die nur zu kurzem Aufenthalt während einer Nacht oder nur für ein paar Stunden während einer Nacht taugt, wenn keine Sterne leuchten und der Mond im Wechsel begriffen ist. Die Mystik mit ihrer wunderbaren Kraft, uns gewöhnliche Dinge seltsam erscheinen zu lassen, und jene tiefe Ketzersucht, die sie immer zu begleiten scheint, reizte ihn eine Saison hindurch; und dann neigte er sich eine andere Saison hindurch wieder den materialistischen Lehren der Darwinistischen Bewegung in Deutschland zu und fand einen besonderen Genuß darin, die Gedanken und Leidenschaften der Menschen bis auf irgendeine perlgroße Zelle im Gehirn oder auf irgendeinen weißen Nerv im Körper zurückzuleiten, schwelgte förmlich in der Vorstellung einer absoluten Abhängigkeit des Geistes von gewissen physischen Bedingungen, mochten sie krankhaft oder gesund, normal oder pathologisch sein. Aber, wie schon früher von ihm berichtet wurde, so schien keine Lebenstheorie von irgendeiner Bedeutung für ihn, im Vergleich mit dem Leben selbst. Er war sich haarscharf bewußt, in welches Irrsal jede geistige Spekulation führen mußte, wenn sie von Handlung und Experiment getrennt ist. Er wußte, daß die Sinne nicht weniger als die Seele ihre geistigen Geheimnisse offenbaren mußten. Und so ergab er sich zeitweilig dem Studium der Wohlgerüche, bemühte sich um die Geheimnisse ihrer Bereitung, destillierte schwerduftende Öle und verbrannte wohlriechendes Gummi, das aus dem Orient stammte. Er erkannte, daß es keine Stimmung des Geistes gab, die nicht ihr Seitenstück im Leben der Sinne fand, und mühte sich, die wirkliche Beziehung zwischen beiden zu entdecken, um herauszuklügeln, weshalb der Weihrauch den Menschen mystisch stimmte, warum die Ambra die Leidenschaften aufstachele, woher der Veilchenduft die Erinnerung an gestorbene Romantik erwecke, wieso der Moschus das Gehirn verwirre, und wodurch der Tschampak die Phantasie beflecke: und so versuchte er manchmal, eine genaue Psychologie der Wohlgerüche auszuarbeiten und ihre verschiedenen Wirkungen zu bestimmen, zum Beispiel süßriechender Wurzeln, duftiger, samentragender Blüten, aromatischer Balsame, dunkler, starkriechender Hölzer, des Baldrians, der zum Erbrechen reizt, der Hovenia, die einen toll macht, und der Aloe, die imstande sein soll, die Schwermut aus der Seele zu verjagen. Ein andermal widmete er sich gänzlich der Musik und gab öfter Konzerte in einem langen, dämmerigen Saal, dessen Wände mit olivengrünem Lack überzogen waren, und dessen Decke aus einem rot und gold Muster bestand, wobei tolle Zigeuner kleinen Zithern wilde Musik entlockten oder ernste, in gelbe Tücher gehüllte Männer aus Tunis die gespannten Saiten seltsam großer Lauten zupften, während grinsende Neger eintönig auf kupferne Trommeln schlugen und schlankschmächtige, turbanbedeckte Inder auf scharlachroten Matten hockten und auf langen Rohr- oder Messingpfeifen bliesen und damit große Brillenschlangen oder schreckliche Hornvipern beschworen oder zu beschwören schienen. Die kreischenden Intervalle und die schrillen Mißtöne barbarischer Musik reizten ihn zuweilen, wenn Schuberts Lieblichkeit oder Chopins süßes Schmachten und die gewaltigen Harmonien des großen Beethoven machtvoll in sein Ohr schlugen. Aus allen Weltteilen sammelte er die merkwürdigsten Instrumente, die sich finden ließen, entweder in den Gräbern toter Völker oder unter den wenigen wilden Stämmen, die noch die Berührung mit der westlichen Kultur überlebt haben, und er liebte es, sie zu befühlen und zu verfügen. Er besaß das mysteriöse Juruparis der Rio-Negro-Indianer, das die Frauen nicht ansehen dürfen und selbst die jungen Männer erst dann, wenn sie vorher gefastet und sich gegeißelt haben, er besaß die irdenen Klappern der Peruaner, die den schrillen Ton des Vogelschreis wiedergeben, und Flöten aus Menschenknochen, wie sie Alfonso de Ovalle in Chile gehört hat, und die wohlklingenden grünen Jaspissteine, die bei Cuzco gefunden werden und einen Ton von eigentümlicher Süße hervorbringen. Er hatte bemalte, mit Kieselsteinen gefüllte Kürbisse, die beim Schütteln rasselten, er hatte die langen Zinken der Mexikaner, in die der Spieler nicht hineinbläst, sondern durch die er die Luft einatmet, das rauhe Ture der Amozonenstämme, das die Wachen ertönen lassen, wenn sie den ganzen Tag auf hohen Bäumen sitzen, und das, wie man sagt, auf eine Entfernung von drei Seemeilen gehört werden kann, das Teponaztli, das zwei zitternde Holzzungen hat und auf die man mit Stöcken schlägt, die mit einer Art elastischen Kautschuks eingesalbt werden, das aus dem milchigen Saft von Pflanzen gewonnen wird, er hatte die Yotlglocken der Azteken, die wie Trauben in Büscheln hängen, und eine große zylinderförmige Trommel, die bespannt ist mit den Häuten großer Schlangen gleich der, die Bernal Diaz sah, als er mit Cortez in den mexikanischen Tempel trat, und von deren wehklagendem Tone er uns eine so lebendige Schilderung hinterlassen hat. Das phantastische Wesen dieser Instrumente wirkte bezaubernd auf ihn, und er empfand einen seltsamen Genuß bei dem Gedanken, daß die Kunst wie die Natur ihre Ungeheuer hat, Dinge von tierischer Form und mit abscheulichen Stimmen. Aber nach einiger Zeit wurde er ihrer müde und saß dann wieder in seiner Loge in der Oper, entweder allein oder mit Lord Henry, lauschte hingerissen dem Tannhäuser und erkannte in dem Vorspiel zu diesem großen Kunstwerk eine Verkörperung des Trauerspiels seiner eigenen Seele. Wieder ein andermal warf er sich auf das Studium der Edelsteine und erschien auf einem Maskenfest als Anne de Joyeuse, Admiral von Frankreich, in einem Gewand, das mit fünfhundertsechzig Perlen bestickt war. Diese Geschmacksrichtung hielt ihn jahrelang gefangen, ja, man kann sagen, daß sie ihn nie verlassen hat. Er verbrachte oft einen ganzen Tag damit, die verschiedenen Steine, die er gesammelt hatte, aus ihren Schachteln zu nehmen und wieder umzuordnen, wie beispielsweise der olivengrüne Chrysoberyll, der im Lampenlicht rot wird, der Cymophan mit seinen haarfeinen Silberlinien, der pistazienfarbene Peridot, rosenfarbige und weingelbe Topase, scharlachfeurige Karfunkelsteine mit zitternden, vierfach ausstrahlenden Sternen, flammenrote Kaneelsteine, orangenfarbene und violette Spinelle und Amethyste mit ihren regelmäßig wechselnden Schichten von Rubin und Saphir. Er liebte das rote Gold des Sonnensteins und die perlfarbene Weiße des Mondsteins und den gebrochenen Regenbogen des milchflockigen Opals. Er verschrieb sich aus Amsterdam drei Smaragde von außerordentlicher Größe und wunderbarem Farbenreichtum und besaß einen Türkis ~de la vieille roche~, um den ihn alle Kenner beneideten. Er entdeckte auch wunderbare Geschichten über Edelsteine. In Alfons »~Clericalis disciplina~« wurde eine Schlange erwähnt mit Augen aus wirklichen Hyazinthsteinen, und in der romantischen Alexandersage hieß es von dem Eroberer Emathias, er habe im Jordantale Schlangen gefunden »mit Halsgeschmeiden aus wirklichen Smaragden, die ihnen auf dem Rücken gewachsen waren«. Im Gehirn des Drachen war nach dem Bericht des Philostratus ein Edelstein, und »durch das Entgegenhalten goldener Lettern und eines scharlachroten Gewandes« konnte das Ungeheuer in einen magischen Schlaf versetzt und getötet werden. Nach der Meinung des großen Alchimisten Pierre de Boniface sollte der Diamant den Menschen unsichtbar und der indische Achat ihn beredt machen. Der Karneol beschwichtigte den Zorn, und der Hyazinth schläferte ein, und der Amethyst verscheuchte den Weindunst. Der Granat trieb Teufel aus, und der Hydrophyt beraubte den Mond seiner Farbe. Der Selenit nahm mit dem Monde zu und ab, und der Meloceus, der die Diebe entdeckte, verlor seine Kraft nur, wenn man ihn mit dem Blut junger Ziegen betropfte. Leonardus Camillus hatte einen weißen Stein gesehen, den man aus dem Gehirn einer frisch getöteten Kröte genommen hatte und der ein sicheres Gegenmittel gegen Gift war. Der Bezoar, den man im Herzen des arabischen Hirsches fand, war ein Zauber, der die Pest zu heilen vermochte. In den Nestern arabischer Vögel kam der Aspilates vor, der nach der Angabe des Demokrit seinen Träger vor jeder Feuersgefahr beschützte. Der König von Seilan ritt bei seiner Krönungsfeier, mit einem großen Rubin in der Hand, durch seine Stadt. Die Tore zum Palast des Johannes, des Priesters, waren aus Sarder verfertigt, in den das Horn der Hornviper verarbeitet war, so daß kein Mensch Gift in das Haus bringen konnte. Über dem Giebel waren »zwei goldene Äpfel, die zwei Karfunkelsteine enthielten«, so daß am Tage das Gold glänzen konnte und die Karfunkelsteine bei Nacht. In Lodges seltsamem Roman »Eine amerikanische Perle« heißt es, daß man in dem Zimmer der Königin »alle keuschen Frauen der Welt, wie in Silber getrieben, wahrnehmen konnte, wenn man durch fleckenfreie Spiegel aus Chrysolithen, Karfunkelsteinen, Saphiren und grünen Smaragden blickte«. Marco Polo hatte gesehen, wie die Einwohner von Zipangu den Toten rosenfarbige Perlen in den Mund steckten. Ein Seeungeheuer war in die Perle verliebt, die ein Taucher dem König Perozes brachte, und es hatte den Dieb getötet und sieben Monate lang über den Verlust getrauert. Als die Hunnen den König in den großen Hinterhalt lockten, warf er die Perle weg -- Prokopius erzählt die Geschichte -- und sie wurde nie wieder gefunden, obwohl Kaiser Anastasius dafür fünf Zentner Goldstücke aussetzte. Der König von Malabar hatte einmal einem Venezianer einen Rosenkranz aus dreihundertvier Perlen gezeigt, eine Perle für jeden Gott, den er verehrte. Als der Herzog von Valentinois, der Sohn Alexanders des Sechsten, Ludwig den Zwölften von Frankreich besuchte, war nach Brantôme sein Pferd mit goldenen Blättern bedeckt, und ein Barett trug eine doppelte Reihe von Rubinen, die ein mächtiges Licht ausstrahlten. Karl von England ritt in Steigbügeln, die mit vierhunderteinundzwanzig Diamanten besetzt waren. Richard der Zweite hatte ein Gewand, das mit Balasrubinen besetzt war, und auf dreißigtausend Mark geschätzt wurde. Hall beschrieb Heinrich den Achten auf seinem Wege zur Krönung nach dem Tower folgendermaßen: er trug ein »Panzerkleid aus erhabenem Gold, die Brust war mit Diamanten und anderen Edelsteinen bestickt, und um den Hals hing ihm eine mächtige Kette aus schweren Balasrubinen«. Die Günstlinge Jakobs des Ersten trugen Ohrringe aus Smaragden, die in Goldfiligran gefaßt waren. Eduard der Zweite schenkte dem Piers Gaveston eine vollständige Rüstung aus rotem Golde, die mit Hyazinthsteinen besetzt war, eine Halsberge aus goldenen Rosen, in die Türkise eingelassen waren, und eine mit Perlen übersäte Sturmhaube. Heinrich der Zweite trug Handschuhe bis zum Ellenbogen hinauf, die mit Edelsteinen besetzt waren, und er hatte einen Falkenierhandschuh, den zwölf Rubinen und zweiundfünfzig große Perlen zierten. Der Herzogshut Karls des Kühnen, des letzten Burgunder Herzogs seines Geschlechts, war behängt mit birnenförmigen Perlen und überstreut mit Saphiren. Wie köstlich das Leben einst gewesen war! Wie schwelgerisch in seinem Pomp und Schmuck! Von dem Reichtum der Toten auch nur zu lesen war schon wunderbar. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Stickereien zu und den Gobelins, die in den frostigen Räumen der nördlichen Völker Europas die Stelle der Freskogemälde vertraten. Als er sich in dieses Gebiet vertiefte -- und er besaß immer eine außerordentliche Fähigkeit, sich für den Augenblick von allem absorbieren zu lassen, was er in Angriff nahm -- wurde er ordentlich traurig bei dem Gedanken an die Vernichtung, die die Zeit schönen und wundervollen Dingen bereitete. Er wenigstens war ihr entronnen. Sommer folgte dem Sommer, die gelben Jonquillen hatten geblüht und waren viele Male verwelkt, und schreckliche Nächte wiederholten die Geschichte ihrer Schande, aber er blieb unverändert. Kein Winter entstellte sein Antlitz oder beschädigte seinen blütengleichen Schmelz. Wie anders war das mit den materiellen Dingen! Wohin waren die entschwunden? Wo war das große krokusfarbene Gewand, auf dem die Götter die Giganten bekämpft hatten, das von braunen Mädchen der Athene zur Freude gestickt worden war? Wo war das große Velarium, das Nero über das Kolosseum in Rom hatte ausspannen lassen, dieses gigantische Purpursegel, auf dem der Sternenhimmel abgebildet war, und Apollo, wie er einen Wagen lenkt, den weiße, von goldenen Zügeln gebändigte Streitrosse ziehen? Er sehnte sich, die sonderbaren Tischdecken zu sehen, die für den Sonnenpriester gewebt worden waren, und in die alle Leckerbissen und Speisen eingewirkt waren, die man für ein Festmahl nur wünschen konnte, das Sterbekleid des Königs Hilperich mit seinen dreihundert goldenen Bienen, die phantastischen Gewandungen, die die Entrüstung des Bischofs von Pontus erregten und auf denen »Löwen, Panther, Bären, Hunde, Wälder, Felsen, Jäger -- kurz alles dargestellt war, was ein Maler der Natur ablauschen kann«, und den Rock, den Karl von Orleans einstmals getragen hatte, auf dessen Ärmel die Verse eines Gedichtes gestickt waren, das begann: ~Madame, je suis tout joyeux~, während die Noten hierzu mit Goldfäden eingestickt waren und jeder Notenkopf, damals noch viereckig, aus vier Perlen gebildet war. Er las von dem Zimmer, das man im Palast von Reims für den Gebrauch der Königin Johanna von Burgund hergerichtet hatte, »und das ausgeschmückt war mit dreizehnhunderteinundzwanzig gestickten Papageien, die das Wappen des Königs trugen, und mit fünfhunderteinundsechzig Schmetterlingen, deren Flügel auf dieselbe Weise mit dem Wappen der Königin geschmückt waren, das Ganze in Gold gearbeitet.« Katharina von Medici hatte sich ein Trauerbett machen lassen aus schwarzem Samt, bestickt mit Halbmonden und Sonnen. Seine Vorhänge waren aus Damast, und auf einem Grunde von Gold und Silber waren Zweige und Girlanden gestickt, und die Bordüren bestanden aus Fransen mit Perlen, und es stand in einem Zimmer, das mit einem Silbertuch bespannt war, auf dem reihenweise die Wahlsprüche der Königin in schwarzem, geschorenem Samt appliziert waren. Ludwig der Vierzehnte hatte in seinem Gemach goldgestickte, fünfzehn Fuß hohe Karyatiden. Das Staatsbett Sobieskis, des Königs von Polen, bestand aus Smyrna-Goldbrokat, und Verse aus dem Koran waren aus Türkisen hineingestickt. Seine Füße waren aus vergoldetem Silber, schön getrieben und verschwenderisch mit Medaillons aus Email und Edelsteinen besetzt. Es war bei der Belagerung von Wien aus dem türkischen Lager erbeutet worden, und die Fahne Mohammeds war unter dem flimmerigen Gold seines Baldachins angebracht. Und so suchte er ein ganzes Jahr lang die erlesensten Proben zusammen, die er von Webekunst und Stickereiarbeiten auftreiben konnte, er verschaffte sich die duftigen Delhi-Musselins, die zart mit goldenen Palmblättern und mit irisierenden Käferflügeln bestickt waren, die Gazestoffe aus Dhaka, die man im Orient ihrer Durchsichtigkeit wegen »gewebte Luft«, »rieselndes Wasser« und »Abendtau« nennt: Tücher aus Java mit seltsamen Figuren: feine, gelbe chinesische Gardinen: Bücher, die in lohfarbigen Atlas oder hellblaue Seide gebunden und eingepreßte heraldinische Lilien, Vögel und Schildereien zeigten Pointslace-Schleiergewebe aus Ungarn: sizilianische Brokate und steife spanische Sammete: georgische Arbeiten mit ihren goldenen Münzen, und japanische Fukusas mit ihren grünen Goldtönen und ihren gefiederten Vögeln wunderbarster Arbeit. Er hatte dann eine besondere Leidenschaft für kirchliche Gewänder wie für alles, was mit dem religiösen Ritus zusammenhing. In den langen Kästen aus Zedernholz, die auf der westlichen Galerie seines Hauses standen, hatte er viele seltene, schöne Proben des wahrhaften Kleides der Christusbraut angesammelt, die sich in Purpur, in Edelsteine und feines Linnen kleiden muß, um den bleichen, abgezehrten Leib darin zu verhüllen, der erschöpft ist von den Leiden, die sie sucht, und verwundet von selbst zugefügten Schmerzen. Er besaß einen prachtvollen Chorrock aus karminroter Seide und goldgewirktem Damast, der mit einem sich wiederholenden Muster von goldenen Granatäpfeln geziert war, die auf sechsblättrigen, regelmäßigen Blüten saßen, worunter auf jeder Seite ein in Staubperlen gestickter Tannenzapfen war. Die Goldstickereien waren in einzelne Felder geteilt, in denen Szenen aus dem Leben der Jungfrau abgebildet waren und die Krönung der Jungfrau war in der dazu gehörigen Kappe in farbiger Seide oben eingestickt. Es war italienische Arbeit aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein anderer Chorrock war aus grünem Samt, bestickt mit herzförmigen Bündeln von Akanthusblättern, aus denen langgestielte weiße Blüten hervorsprossen, die zart mit silbernen Fäden und farbigen Kristallperlen ausgearbeitet waren. Auf der Spange war der Kopf eines Seraphs in erhabener Goldstickerei ausgeführt. Die Borten waren fortlaufend auf blumigem Tuch in roter und goldener Seide eingewebt und mit den Medaillonbildnissen vieler Heiligen und Märtyrer ausstaffiert, unter denen sich der heilige Sebastian befand. Er hatte auch Meßgewänder aus bernsteinfarbiger Seide und blauer Seide und goldenem Brokat und aus gelbem Seidendamast und goldenem Tuch, die bedeckt waren mit Darstellungen der Passion und der Kreuzigung Christi, und bestickt mit Löwen, Pfauen und anderen Emblemen, er hatte Dalmatikas aus weißem Atlas und rosarotem Seidendamast, geziert mit Tulpen, Delphinen und heraldischen Lilien: Altardecken aus karmoisinrotem Samt und blauem Linnen, und viele Decken für Meßgeräte, Kelchhüllen und Schweißtücher. In den mystischen Diensten, zu denen diese Dinge bestimmt waren, lag etwas, das seine Einbildungskraft anregte. Denn diese Schätze und überhaupt alles, was er in seinem wunderbaren Hause ansammelte, waren für ihn Mittel zum Vergessen, Liebhabereien, durch die er eine Zeitlang der Angst entrinnen konnte, die ihm oft zu groß erschien, um sie zu ertragen. An die Wand des verlassenen, verschlossenen Raumes, worin er einen so großen Teil seiner Knabenzeit verbracht hatte, hatte er mit seinen eigenen Händen das fürchterliche Porträt aufgehängt, dessen Züge ihm in ihrer Veränderung die wahrhafte Erniedrigung seines Lebens zeigten, und darüber hatte er als Vorhang das Bahrtuch aus Gold und Purpur angebracht. Wochenlang mochte er nicht dahin gehen, wollte er das gräßliche Gemälde vergessen und gewann dann wieder sein leichtes Herz zurück, seine wunderbare Fröhlichkeit und seine Kraft zu leidenschaftlicher Versenkung ins Leben. Dann aber schlich er plötzlich in einer Nacht aus dem Hause, besuchte schaurige Orte in der Nähe von Blue Gate Fields und blieb dort Tag um Tag, bis es ihn wieder wegtrieb. Nach seiner Rückkehr saß er dann wohl vor dem Bilde, manchmal voll Haß vor ihm und vor sich selbst, ein andermal aber erfüllt mit dem Stolze auf das eigene Wesen, der den halben Reiz der Sünde ausmacht, und er lächelte dann mit geheimem Vergnügen das verunstaltete Abbild an, das die Last zu tragen hatte, die eigentlich für ihn bestimmt war. Nach einigen Jahren konnte er es nicht aushalten, lange von England weg zu sein, und gab das Landhaus auf, das er gemeinsam mit Lord Henry in Trouville innegehabt hatte, und ebenso das kleine, von weißer Mauer umrahmte Haus in Algier, wo sie mehr als einmal den Winter verbracht hatten. Er konnte es nicht ertragen, von dem Porträt getrennt zu sein, das jetzt gewissermaßen ein Teil seines Lebens geworden war, und er fürchtete auch, es könne in seiner Abwesenheit irgend jemand Zutritt bekommen trotz den sorgfältig gearbeiteten Sicherheitsschlössern, die er an der Türe hatte anbringen lassen. Er war sich vollauf bewußt, daß niemand etwas verraten könne. Allerdings bewahrte das Bild unter all der Gemeinheit und Häßlichkeit seines Antlitzes noch eine deutliche Ähnlichkeit mit ihm, aber was konnte das den Leuten sagen? Er würde jeden auslachen, der es versuchen wollte, ihn zu schmähen. Er hatte es ja nicht gemalt. Was ging es ihn an, wie abscheulich und schändlich es aussah? Selbst wenn er jemand die Wahrheit erzählte, konnte sie einer glauben? Und doch hatte er Angst. Wenn er manchmal in seinem großen Hause in Nottinghamshire war und die eleganten jungen Leute, die meistens seine Gesellschaft bildeten, bewirtete, und die Leute der Grafschaft durch den ausschweifenden Luxus und den verschwenderischen Glanz seines Lebens in Erstaunen setzte, dann verließ er wohl plötzlich seine Gäste und eilte zurück in die Stadt, um nachzusehen, ob sich niemand an der Türe zu schaffen gemacht habe und ob das Bild noch da sei. Wie, wenn es jemand gestohlen hätte? Der bloße Gedanke erfüllte ihn mit kaltem Entsetzen. Gewiß würde dann die Welt sein Geheimnis erfahren. Vielleicht hatte sie schon Verdacht geschöpft. Denn genau wie er viele fesselte, gab es auch nicht wenige, die ihm mißtrauten. Er wäre fast schwarz ballotiert worden in einem Westend-Klub, zu dessen Mitgliedschaft ihn soziale Stellung und Geburt vollständig berechtigten, und es hieß, daß einmal, als ihn ein Freund in das Rauchzimmer des Curchill-Klubs mitgebracht hatte, der Herzog von Berwick und ein anderer Herr in auffallender Weise aufgestanden und hinausgegangen wären. Sonderbare Geschichten waren über ihn im Umlauf, als er sein fünfundzwanzigstes Jahr vollendet hatte. Man munkelte, daß man ihn in einer elenden Kaschemme in einem entlegenen Winkel Whitechapels mit fremden Matrosen habe zechen sehen, und daß er mit Dieben und Falschmünzern umgehe und die Geheimnisse ihres Gewerbes kenne. Seine auffallende Gewohnheit, zu bestimmten Zeiten zu verschwinden, war bekannt, und wenn er dann wieder in der Gesellschaft auftauchte, flüsterte man sich in den Ecken Bemerkungen zu oder man ging an ihm mit einem unzweideutigen Lächeln oder mit kühlen, forschenden Blicken vorbei, als wäre man entschlossen, sein Geheimnis zu enthüllen. Von diesen Unverschämtheiten und versuchten Beleidigungen nahm er natürlich keine Notiz, und in den Augen der meisten Leute war sein offenes, freundliches Wesen, sein reizendes Knabenlächeln und die unendliche Grazie der wundervollen Jugend, die ihn nie zu verlassen schien, an sich eine genügende Antwort auf die Verleumdungen, denn so nannte man es, die über ihn im Umlauf waren. Indessen bemerkte man, daß einige von denen, die früher sehr innig mit ihm verkehrt hatten, ihn nach einiger Zeit zu meiden anfingen. Frauen, die ihn glühend geliebt hatten und um seinetwillen allem Tadel der Gesellschaft getrotzt und die Konvention verachtet hatten, konnte man vor Scham oder Entsetzen erbleichen sehen, wenn Dorian Gray ins Zimmer trat. Doch dieses Skandalgeflüster erhöhte in den Augen vieler nur seinen seltsamen und gefährlichen Reiz. Auch sein großer Reichtum bot ein gewisses Unterpfand der Sicherheit. Die Gesellschaft, wenigstens die zivilisierte Gesellschaft, ist niemals schnell geneigt, etwas Schlechtes von denen zu glauben, die zugleich reich und interessant sind. Sie begreift instinktiv, daß Manieren wichtiger sind als Moral, und ihrer Meinung nach ist die höchste Ehrbarkeit weniger wert als der Besitz eines guten Küchenchefs. Und schließlich ist es auch ein sehr schwacher Trost, wenn einem gesagt wird, daß der Mann, bei dem es ein schlechtes Diner oder einen elenden Wein gegeben hat, in seinem Privatleben unantastbar dasteht. Selbst die Kardinaltugenden können nicht für kalt gewordene Entrees entschädigen, bemerkte Lord Henry einmal, als man über dieses Thema sprach; und für seine Ansicht spricht wahrscheinlich sehr viel. Denn die Gesetze der guten Gesellschaft sind oder sollten wenigstens dieselben sein, wie die Regeln der Kunst. Form ist für sie unbedingt wesentlich. Sie sollte die Würde ebenso wie die Unwirklichkeit einer Zeremonie haben und sollte den unaufrichtigen Schein eines romantischen Schauspiels mit dem Witz und der Schönheit verbinden, die für uns das Entzücken solcher Spiele ausmachen. Ist Unaufrichtigkeit denn etwas so Furchtbares? Ich glaube nicht. Sie ist nur ein Mittel, wodurch wir unsere Persönlichkeit vervielfachen können. Das war wenigstens die Meinung von Dorian Gray. Er pflegte sich über die seichte Psychologie derer zu wundern, die sich das Ich eines Menschen als etwas Einfaches, Beständiges, Verläßliches und Einheitliches vorstellen. Für ihn war der Mensch ein Wesen mit Myriaden von Leben und Myriaden von Gefühlen, ein kompliziertes, vielgestaltetes Geschöpf, das seltsame Erbschaften in seinen Gedanken und Leidenschaften mit sich herumtrug und dessen Fleisch von den ungeheuerlichen Krankheiten der Verstorbenen angesteckt war. Er liebte es, die kahle, kalte Bildergalerie auf seinem Landsitze zu durchschlendern und die verschiedenen Porträts der Menschen zu betrachten, deren Blut in seinen Adern floß. Hier war Philipp Herbert, den Francis Osborne in seinen »Memoiren über die Herrscherzeit der Königin Elisabeth und des Königs Jakob« als einen beschrieb, »den der Hof seines hübschen Gesichtes wegen lieb hatte, das ihm aber nicht lange Gesellschaft leistete«. War es das Leben des jungen Herbert, das er manchmal führte? Hatte sich irgendein merkwürdiger, gifttragender Keim von Körper zu Körper übertragen, bis er seinen eigenen erreicht hatte? War es eine dumpfe Erinnerung an diesen verwelkten Liebreiz gewesen, die damals in Basil Hallwards Atelier so jäh und fast ohne Grund über ihn hereinbrach, daß er jenes wahnsinnige Gebet sprechen mußte, das sein Leben so sehr verändert hatte? Hier stand in goldgesticktem rotem Wams, in einem mit Juwelen geschmückten Überrock und goldgefaßten Hals- und Ärmelkrausen Sir Anthony Sherard, die Beine mit silbernen und schwarzen Schienen gepanzert. Was war das Vermächtnis dieses Mannes gewesen? Hatte ihm der Geliebte der Giovanna von Neapel ein Erbteil der Sünde und Schande hinterlassen? Waren seine eigenen Handlungen nur die Träume, die der Tote nicht zu verwirklichen gewagt hatte? Hier lächelte von einer verblaßten Leinwand Lady Elisabeth Devereux in ihrer Gazehaube, dem perlenbestickten Brustschmuck und den roten Schlitzärmeln. Sie hielt in der rechten Hand eine Blume, und die linke umfaßte einen emaillierten Halsschmuck aus weißen und Damaszener Rosen. Auf einem Tisch neben ihr lag eine Mandoline und ein Apfel. Auf ihren kleinen, spitzen Schuhen saßen große, grüne Rosetten. Er kannte ihr Leben und die seltsamen Geschichten, die man über ihre Liebhaber erzählte. Hatte er etwas von ihrem Temperament an sich? Diese ovalen Augen mit den schweren Lidern schienen ihn so sonderbar anzublicken. Wie stand es um George Willoughby mit seinem gepuderten Haar und seinen phantastischen Schönheitspflästerchen? Wie böse er aussah! Das Gesicht war melancholisch und bräunlich, und die sinnlichen Lippen schienen verächtlich zusammengekniffen. Kostbare Spitzenmanschetten rieselten über die mageren gelben Hände, die mit Ringen so sehr überladen waren. Er war im achtzehnten Jahrhundert ein Stutzer gewesen und in seiner Jugend ein Freund von Lord Ferrars. Wie war es mit dem zweiten Lord Beckenham, dem Gefährten des Prinzregenten in seinen wildesten Tagen und einem der Zeugen bei seiner heimlichen Eheschließung mit Frau Fitzherbert? Wie stolz und hübsch war er mit seinen kastanienbrauen Locken und der herausfordernden Haltung! Welche Leidenschaften hatte er ihm vererbt? Die Welt hatte ihn für ehrlos gehalten. Er hatte bei den Orgien in Carlton House den Vorsitz geführt. Der Stern des Hosenbandordens strahlte auf seiner Brust. Neben ihm hing das Bild seiner Gemahlin, einer blassen, dünnlippigen Frau in schwarzem Kleide. Auch ihr Blut flutete in ihm. Wie merkwürdig schien das alles! Und seine Mutter mit ihrem Lady Hamilton-Gesicht und ihren feuchten, wie vom Wein benetzten Lippen -- er wußte, was er von ihr mitbekommen hatte. Von ihr hatte er seine Schönheit geerbt und seine Leidenschaft für die Schönheit anderer. Sie lachte ihn an in ihrem losen Bacchantinnenkleide. In ihrem Haare waren Weinblätter. Über den Becher, den sie hielt, schäumte der Purpur. Die Fleischfarbe des Gemäldes war verblaßt, aber die Augen waren noch wunderbar in ihrer Tiefe und ihrem Farbenglanz. Sie schienen ihm überall hin zu folgen, wo er auch ging. Aber man hatte Vorfahren ebensogut in der Literatur wie in dem eigenen Geschlecht, und viele davon standen einem vielleicht näher in ihrem Menschentum und in ihrem Temperament und hatten sicher einen Einfluß, von dem man sich genauere Rechenschaft zu geben vermochte. Es gab Zeiten, wo Dorian Gray den Eindruck hatte, als wäre die ganze Weltgeschichte nur ein Bericht seines eigenen Lebens, nicht wie er es nach Taten und Umständen gelebt hatte, sondern wie es seine Phantasie für ihn erschaffen hatte, wie es in seinem Gehirn und in seinen Sinnentrieben war. Er fühlte, daß er sie alle gekannt hatte, diese merkwürdigen schrecklichen Gestalten, die über die Weltenbühne geschritten waren und die Sünde so glänzend und das Böse so tief und fein gemacht hatten. Es wollte ihm scheinen, daß auf irgendeine geheimnisvolle Weise ihr Leben auch sein eigenes gewesen sei. Der Held des wunderbaren Romans, der sein Leben so stark beeinflußt hatte, war auch von diesem seltsamen Einfall ergriffen gewesen. Im siebenten Kapitel erzählt er: wie er, bekränzt mit Lorbeer, damit ihn der Blitz nicht treffe, als Tiberius in einem Garten von Capri gesessen und die schändlichen Bücher von Elephantis gelesen habe, während Zwerge und Pfauen um ihn herumstolzierten und der Flötenspieler den Weihrauchschwinger verspottete: wie er als Caligula mit den grünbeschürzten Stallknechten in ihren Ställen gezecht und aus einer elfenbeinernen Krippe ein Mahl genommen habe mit einem Rosse, das ein edelsteingeschmücktes Stirnband trug, und wie er als Domitian durch einen Korridor gewandert sei, dessen Wände mit Marmorspiegeln bedeckt waren, in denen er mit verstörten Augen nach dem Widerschein des Dolches gesucht habe, der seine Tage enden sollte, erkrankt an der Langeweile, dem schrecklichen ~Taedium vitae~, das alle befällt, denen das Leben nichts versagt: und wie er durch einen hellen Smaragd den blutrünstigen Schlächterszenen im Zirkus zugeschaut habe und dann in einer Karosse aus Perlen und Purpur, die von silberfarbig gesprenkelten Maultieren gezogen wurde, durch eine Straße mit Granatbäumen zu einem goldenen Hause gefahren sei und gehört habe, wie ihm die Menschenmenge zurief: Kaiser Nero, als er vorbeifuhr, und wie er sich als Heliogabal das Gesicht geschminkt, mit den Weibern am Spinnrocken gewebt und den Mond aus Karthago geholt habe, um ihn in mystischer Ehe mit der Sonne zu vermählen. Wieder und wieder las Dorian dieses phantastische Kapitel und die zwei unmittelbar folgenden, in denen wie auf wunderlichen Gobelins oder kunstvoll gearbeiteten Emaillen die greulich-schönen Gestalten jener dargestellt waren, die Laster und Blut und Übersättigung zu Ungeheuern oder Narren gemacht hatte: Filippo, der Herzog von Mailand, der sein Weib getötet und ihre Lippen mit scharlachrotem Gift gefärbt hatte, damit ihr Geliebter von dem Leichnam, wenn er ihn liebkoste, den Tod saugen möge: der Venezianer Pietro Barbi, bekannt als Paul der Zweite, der in seiner Eitelkeit den Beinamen Formosus annehmen wollte und dessen Tiara, die zweihunderttausend Gulden Wert hatte, mit einer furchtbaren Sünde erkauft worden war: Gian Maria Visconti, der Hunde benutzte, um auf lebende Menschen Jagd zu machen, und dessen Leichnam nach seiner Ermordung von einer Dirne, die ihn geliebt hatte, mit Rosen bedeckt ward: der Borgia auf seinem Schimmel, neben dem der Brudermord hoch zu Rosse saß, und dessen Mantel mit dem Blute Perottos befleckt war: Pietro Riario, der junge Kardinalerzbischof von Florenz, das Kind und der Liebling Sixtus des Sechsten, dessen Schönheit nur von seiner Lasterhaftigkeit übertroffen wurde, und der Leonora von Aragonien in einem Zelt aus weißer und karmesinfarbener Seide empfing, das voll Nymphen und Zentauren war, und der einen Knaben vergoldete, damit er bei dem Feste als Ganymed oder Hylas aufwarte: Etzelin, dessen Schwermut nur durch das Schauspiel des Todes geheilt werden konnte und der eine Leidenschaft für rotes Blut hatte, wie andere Menschen für roten Wein -- den man den Sohn des Satans hieß und der seinen Vater beim Würfeln betrogen hatte, als er mit ihm um seine Seele spielte: Giambattista Cibo, der aus Hohn den Namen Innozentius annahm und in dessen verdumpfte Adern ein jüdischer Arzt das Blut von drei Jünglingen einpumpte: Sigismondo Malatesta, der Liebhaber der Isotta und der Herr von Rimini, der zu Rom im Bilde als ein Feind Gottes und der Menschen verbrannt wurde, und der Polyssena mit einer Serviette erdrosselte, und der Ginevra d'Este aus einem Smaragdbecher Gift zu trinken gab und, um eine schändliche Leidenschaft zu ehren, einen heidnischen Tempel zur Anbetung für die Christen baute: Karl der Sechste, der für das Weib seines Bruders so ungestüm erglühte, daß ihm ein Aussätziger den Irrsinn prophezeite, der über ihn kommen werde, und der, als sein Geist krank geworden war und sich verwirrt hatte, nur durch sarazenische Spielkarten besänftigt wurde, auf denen Liebe, Tod und Wahnsinn abgebildet waren: und in seinem gezierten Kamisol und in seinem edelsteingeschmückten Barett und den akanthusgleichen Locken Grifonetto Baglioni, der Astorre bei seiner Braut und Simonetto bei seinem Pagen erschlug, und dessen Anmut so groß war, daß, als er sterbend auf der gelben Piazza in Perugia lag, selbst seine Hasser das Schluchzen nicht unterdrücken konnten, und ihn Atalanta segnete, die ihn verflucht hatte. Ein grauenhafter Zauber war in alledem. Er sah sie bei Nacht, und während des Tages verwirrten sie seine Vorstellungen. Die Renaissance kannte seltsame Arten, zu vergiften -- zu vergiften durch einen Helm und eine angezündete Fackel, einen bestickten Handschuh und einen edelsteinbesetzten Fächer, ein vergoldetes Riechbüchschen und eine Bernsteinkette. Dorian Gray war durch ein Buch vergiftet worden. Es gab Augenblicke, in denen er die Sünde einzig als eine Möglichkeit ansah, seinen Schönheitsbegriff zu verwirklichen. Zwölftes Kapitel Es war am neunten November, am Vorabend seines achtunddreißigsten Geburtstages, wie er sich später oftmals erinnerte. Er ging gegen elf Uhr aus Lord Henrys Wohnung, bei dem er gegessen hatte, nach Hause und war in einen schweren Pelz gehüllt, da die Nacht kalt und neblig war. An der Ecke von Grosvenor Square und South Audley Street ging im Nebel ein Mann sehr eilig an ihm vorbei, der den Kragen seines grauen Ulsters hochgeschlagen hatte. Er trug eine Reisetasche. Dorian erkannte ihn. Es war Basil Hallward. Ein seltsames Angstgefühl, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, befiel ihn. Er ließ nicht merken, daß er ihn erkannt hatte und setzte rasch seinen Weg fort in der Richtung seines Hauses. Aber Hallward hatte ihn gesehen. Dorian hörte, wie er zuerst auf dem Trottoir stehenblieb und ihm dann nacheilte. In ein paar Augenblicken lag eine Hand auf seinem Arm. »Dorian! Was für ein besonders glücklicher Zufall! Ich habe seit neun Uhr in deiner Bibliothek auf dich gewartet. Schließlich tat mir dein ermüdeter Diener leid, und als er mich herunterließ, sagte ich ihm, er möchte zu Bett gehen. Ich fahre mit dem Mitternachtszug nach Paris, und ich hatte den dringendsten Wunsch, dich vor meiner Abreise noch zu sehen. Ich dachte, das mußt du sein, oder mindestens dein Pelz, als du vorbeigingst. Aber ich war doch nicht ganz sicher. Hast du mich denn nicht erkannt?« »Bei so einem Nebel, lieber Basil? Ich kann nicht einmal Grosvenor Square erkennen. Ich vermute, mein Haus ist hier irgendwo in der Nähe, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es tut mir leid, daß du verreist, denn ich habe dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Aber ich denke, du kommst doch bald wieder?« »Nein; ich bleibe sechs Monate von England fort. Ich will mir in Paris ein Atelier mieten und mich darin einschließen, bis ein großes Bild fertig ist, das ich im Kopf habe. Aber ich wollte nicht über mich reden. Da sind wir an deiner Tür. Laß mich einen Augenblick mit herein. Ich habe dir was zu sagen.« »Es wird mir eine große Freude sein. Aber versäumst du auch deinen Zug nicht?« sagte Dorian Gray mit müder Stimme, als er die Treppe hinaufstieg und die Tür mit seinem Drücker öffnete. Das Lampenlicht kämpfte mit dem Nebel, und Hallward sah auf die Uhr. »Ich habe noch eine Menge Zeit«, antwortete er. »Der Zug geht zwölf Uhr fünfzehn, und es ist eben elf. Offen gesagt, ich war gerade auf dem Weg in den Klub, um dich zu suchen, als ich dich traf. Mein Gepäck wird mich, wie du siehst, nicht sehr aufhalten, weil ich die schweren Sachen vorausgeschickt habe. Hier in der Tasche ist alles, was ich mitnehme, und nach Victoria Station kann ich bequem in zwanzig Minuten kommen!« Dorian sah ihn lächelnd an. »Für einen berühmten Maler eine merkwürdige Art, zu reisen! Eine Handtasche und ein Ulster! Komm herein, sonst dringt der Nebel ins Haus! Und bitte, sprich über nichts Ernsthaftes mit mir. Nichts ist heutzutage ernsthaft. Wenigstens sollte es nichts sein.« Hallward schüttelte den Kopf als er eintrat, und folgte Dorian ins Bibliothekzimmer. Dort brannte in dem offenen Kamin ein helles Holzfeuer. Die Lampen waren angezündet, und ein offenstehender holländischer Likörkasten aus Silber stand nebst ein paar Sodawassersiphons und großen geschliffenen Gläsern auf einem eingelegten Tischchen. »Du siehst, dein Diener hat es mir gemütlich gemacht, Dorian. Er hat mir alles gegeben, was ich brauchte, sogar deine besten Zigaretten mit Goldmundstück. Es ist ein recht gastfreundlicher Mensch. Ich mag ihn viel lieber als den Franzosen, den du vor ihm hattest. Was ist übrigens aus dem Franzosen geworden?« Dorian zuckte die Achseln. »Ich glaube, er hat Lady Radleys Kammermädchen geheiratet und sie in Paris als englische Schneiderin etabliert. Ich höre, daß Anglomanie zurzeit drüben sehr Mode ist. Scheint mir recht töricht von den Franzosen, nicht wahr? Aber -- weißt du noch? -- er war wirklich kein schlechter Bedienter. Ich mochte ihn zwar auch nie so recht leiden, aber er gab mir keinen Grund zur Klage. Man bildet sich oft Dinge ein, die ganz sinnlos sind. Er war mir wirklich sehr ergeben und schien ganz traurig, als er wegging. Willst du noch einen Kognak und Soda? Oder lieber Wein mit Selter? Ich nehme immer Wein mit Selter. Es ist gewiß etwas im Nebenzimmer.« »Danke, ich nehme nichts mehr«, sagte der Maler, legte Mütze und Überrock ab und warf sie auf die Reisetasche, die er in die Zimmerecke gestellt hatte. »Und jetzt, lieber Freund, möchte ich mit dir mal ernsthaft sprechen. Du mußt nicht so böse aussehen. Du machst es mir dadurch nur schwerer.« »Was soll das alles?« rief Dorian, offen seine Verdrießlichkeit zeigend und warf sich auf das Sofa. »Ich hoffe, es handelt sich nicht um mich. Ich habe heute abend genug von mir. Ich wünschte, ich wäre ein anderer.« »Es handelt sich um dich,« antwortete Hallward mit seiner ernsten, tiefen Stimme, »und ich muß es dir sagen. Ich werde dich kaum ein halbes Stündchen aufhalten.« Dorian seufzte und steckte sich eine Zigarette an. »Ein halb Stündchen«, flüsterte er. »Das ist nicht viel von dir verlangt, Dorian, und ich spreche wirklich nur zu deinem Besten. Ich halte es für angebracht, daß du endlich die schrecklichen Dinge erfährst, die über dich in London geredet werden.« »Ich will nicht das mindeste davon wissen. Ich habe Tratsch über andere Leute recht gern, aber Tratsch über mich interessiert mich ganz und gar nicht. Es hat nicht mal den Reiz der Neuheit.« »Es muß dich interessieren, Dorian. Jeder anständige Mensch ist an seinem guten Ruf interessiert. Du darfst doch nicht die Leute von dir reden lassen, wie von einem gesunkenen und abscheulich lasterhaften Menschen. Natürlich hast du deine Stellung, deinen Reichtum und all dergleichen. Aber Stellung und Reichtum sind nicht alles. Auf mein Wort, ich glaube von diesen Gerüchten nichts. Wenigstens kann ich ihnen nicht glauben, wenn ich dich sehe. Die Sünde steht jedem Menschen auf der Stirn geschrieben. Man kann sie nicht verhehlen. Die Menschen schwatzen manchmal von geheimen Lastern. So etwas gibt es nicht. Wenn ein unseliger Mensch ein Laster hat, so zeigt sichs in den Linien seines Mundes, in seinen herabgesunkenen Augenlidern, selbst in der Form seiner Hände. Jemand -- ich will seinen Namen nicht nennen, aber du kennst ihn -- kam voriges Jahr zu mir und wollte sich malen lassen. Ich hatte ihn nie vorher gesehen und damals nie etwas von ihm gehört, seitdem aber hat man mir eine Menge von ihm erzählt. Er bot mir einen fabelhaften Preis an. Ich habe abgelehnt. An der Form seiner Finger war etwas, das mir ekelhaft war. Jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Vermutung über ihn ganz recht hatte. Sein Leben ist fürchterlich. Aber von dir, Dorian, mit deinem reinen, leuchtenden, unschuldigen Gesicht und deiner wunderbaren unberührten Jugend -- ich kann nicht das Häßliche glauben, das man gegen dich vorbringt. Und doch, ich sehe dich jetzt so selten, und du kommst gar nicht mehr in mein Atelier, und wenn ich nicht mit dir zusammen bin und alle die abscheulichen Dinge höre, die sich die Leute über dich zuflüstern, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll. Woher kommt es, Dorian, daß ein Mann wie der Herzog von Berwick aufsteht und das Klubzimmer verläßt, wenn du eintrittst? Warum wollen so viele Männer in London nicht zu dir kommen und dich niemals zu sich einladen? Du warst doch mit Lord Staveley befreundet. Ich traf ihn vorige Woche bei einem Diner. Dein Name tauchte zufällig im Gespräch in Verbindung mit den Miniaturen auf, die du der Dudley-Ausstellung hergeliehen hast. Staveley verzog die Lippen und sagte, es mag ja sein, daß du einen äußerst künstlerischen Geschmack habest, aber du seist ein Mann, den kein reines Mädchen kennenlernen solle und mit dem keine anständige Frau im selben Zimmer sein dürfe. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich dein Freund sei, und fragte ihn, was er damit meine. Er sagte es mir. Er sagte es mir vor allen Leuten geradeheraus. Es war scheußlich! Warum ist deine Freundschaft für junge Männer solch ein Unglück? Da war der unselige Bursch in der Leibgarde, der Selbstmord begangen hat. Du warst sein bester Freund. Da war Sir Henry Ashton, der England mit einem besudelten Namen verlassen mußte. Du und er, ihr beide wart unzertrennlich. Wie ist es mit Adrian Singleton bestellt und seinem furchtbaren Ende? Was war das mit dem einzigen Sohn Lord Kents und seiner Karriere? Ich traf seinen Vater gestern in St. James Street. Er schien vor Schande und Herzleid gebrochen. Was hattest du mit dem jungen Herzog von Perth? Was für ein Leben führt er jetzt? Welcher Gentleman wollte noch mit ihm Umgang haben?« »Hör auf, Basil, du sprichst von Dingen, von denen du nichts weißt«, sagte Dorian Gray, der sich auf die Lippen biß und in seine Stimme einen Ton unsäglicher Verachtung legte. »Du fragst mich, warum Berwick aus dem Zimmer geht, wenn ich eintrete. Er tut das, weil ich sein Leben durch und durch kenne, nicht weil er etwas von mir wüßte. Wie könnte er bei dem Blut, das in seinen Adern rollt, nicht viel auf dem Kerbholz haben? Du fragst mich nach Henry Ashton und dem jungen Perth. Habe ich dem einen seine Laster, dem anderen seine Ausschweifungen beigebracht? Wenn sich Kents schwachköpfiger Sohn sein Weib von der Straße holt, was gehts mich an? Wenn Adrian Singleton den Namen seines Freundes auf einen Wechsel schreibt, bin ich sein Hüter? Ich weiß, wie die Leute in England klatschen. Die Mittelklassen spreizen sich bei ihren endlosen Diners mit ihren moralischen Vorurteilen und munkeln von etwas, das sie die Ausschweifungen derer nennen, denen es besser geht, und um sich damit zu brüsten, daß sie in der feinen Gesellschaft verkehren und intim mit den Leuten sind, die sie durchhecheln. Bei uns zulande genügt es, daß einer Vornehmheit und Geist hat, damit sich jede gemeine Zunge an ihm wetzt. Und was für eine Art Leben führen denn diese Menschen selber, die sich so auf die Moral hinausspielen? Mein lieber Junge, du vergißt, daß wir in der Heimat der Heuchelei leben.« »Dorian,« rief Hallward, »darum handelt sich's nicht. Wie schlecht es um England bestellt ist, weiß ich selbst und wie die englische Gesellschaft verrottet ist. Gerade deshalb wünsche ich, daß du gut bleibst. Du bist nicht gut geblieben. Man hat ein Recht darauf, einen Menschen nach der Wirkung zu beurteilen, die er auf seine Freunde ausübt. Deine Freunde scheinen alles Gefühl für Ehre, für Anstand, für Reinheit zu verlieren. Du hast sie mit einer wahnsinnigen Genußsucht erfüllt. Sie sind tief gesunken. Ja: und du hast sie da hinabgeführt, und doch kannst du lächeln, und du lächelst jetzt noch. Und es gibt noch viel Schlimmeres. Ich weiß, du und Harry seid unzertrennlich. Schon aus diesem Grunde, wenn aus keinem anderen, hättest du den Namen seiner Schwester nicht zum Spott machen dürfen!« »Nimm dich in acht, Basil. Du gehst zu weit.« »Ich muß sprechen, und du mußt mich hören. Als du Lady Gwendolen kennenlerntest, hatte sie noch nicht der leiseste Hauch übler Nachrede berührt. Gibt es jetzt eine einzige anständige Frau in London, die mit ihr im Park spazieren fahren würde? Ja, nicht einmal ihre Kinder dürfen bei ihr wohnen. Dann gibt es andere Geschichten -- Geschichten, daß man dich gesehen hat, wie du in der Dämmerung aus schrecklichen Häusern herausgeschlichen bist, daß du dich verkleidet in den niederträchtigsten Kneipen Londons herumtreibst. Ist das wahr? Kann das wahr sein? Als ich das erstemal so etwas hörte, lachte ich. Jetzt höre ich es mit Schaudern. Wie steht es mit deinem Landhause und dem Leben, das dort geführt wird? Dorian, du weißt nicht, was man über dich spricht. Ich will dir das nicht vorhalten, ich will dir keine Predigt halten. Ich erinnere mich, daß Harry einmal gesagt hat, jeder Mensch, der sich als Moralprediger versuchen will, fängt damit an, daß er sagt, er wolle nicht predigen und dann sein Wort bricht. Ich will dir also eine Predigt halten. Ich möchte dich ein solches Leben führen sehen, daß die Welt Achtung vor dir haben soll. Ich will, daß du einen reinen Namen und einen guten Ruf hast. Ich will, daß du dich von den gräßlichen Menschen losmachst, mit denen du jetzt fraternisierst. Zucke nicht mit den Achseln. Sei nicht so gleichgültig. Du hast einen mächtigen Einfluß. Laß ihn zum Guten und nicht zum Bösen wirken. Man sagt, du verderbest jeden Menschen, mit dem du intim wirst, und es sei völlig hinreichend, daß du ein Haus betrittst, damit dir Schande irgendeiner Art auf dem Fuße folge. Ich weiß nicht, ob dem so ist oder nicht. Wie sollte ich's auch wissen? Aber man sagte es von dir. Man sagte mir Dinge, die ich unmöglich länger anzweifeln kann. Lord Gloucester war einer meiner liebsten Freunde in Oxford. Er hat mir den Brief gezeigt, den ihm seine Frau geschrieben hat, als sie allein in ihrer Villa in Mentone auf dem Sterbebette lag. Dein Name war da in die fürchterlichste Beichte verwickelt, die ich je gelesen habe. Ich sagte ihm, daß es Tollheit wäre, daß ich dich durch und durch kennte und daß du zu irgend etwas Derartigem unfähig wärest. Kenne ich dich? Ich frage mich, kenne ich dich! Bevor ich darauf antworten kann, müßte ich deine Seele sehen.« »Meine Seele sehen«, murmelte Dorian Gray, stand vom Sofa auf und wurde beinah weiß vor Angst. »Ja,« antwortete Hallward ernst und ein tiefschmerzlicher Klang zitterte in seiner Stimme -- »deine Seele sehen. Aber das kann nur Gott.« Ein bitter-höhnisches Gelächter brach aus dem Munde des Jüngeren. »Du sollst sie selbst sehen, noch heute nacht!« rief er aus und nahm eine Lampe vom Tisch. »Komm: sie ist das Werk deiner eigenen Hand. Warum solltest du es nicht sehen? Du kannst nachher aller Welt davon erzählen, wenn du willst. Niemand würde dir glauben. Wenn sie dir glaubten, haben sie mich deswegen nur um so lieber. Ich kenne unsere Zeit besser als du, obwohl du darüber so langweilig faseln kannst. Komm, sag' ich dir. Du hast genug über Verderbnis geschwatzt. Jetzt sollst du sie von Angesicht zu Angesicht sehen.« In jedem Wort, das er sprach, klang der Wahnsinn des Hochmuts. Er stampfte in seiner knabenhaften, dreisten Art mit dem Fuß auf die Dielen. Er empfand ein furchtbares Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein anderer jetzt sein Geheimnis teilen solle und daß der Mann, der sein Bild gemalt hatte, das der Ursprung all seiner Schande war, für den Rest seines Lebens die Last der gräßlichen Erinnerung an seine Tat mit sich herumschleppen müsse. »Ja,« fuhr er fort und trat näher zu ihm heran und sah ihm fest in die ernsten Augen, »ich werde dir meine Seele zeigen. Du sollst das Machwerk sehen, von dem du glaubst, daß es nur Gott sehen kann.« Hallward schrak zurück. »Das ist Gotteslästerung, Dorian. Du darfst nicht solche Dinge sagen. Sie sind schrecklich und unverständig.« »Glaubst du?« Er lachte wieder. »Ich weiß es. Was ich dir heute abend gesagt habe, hab' ich zu deinem Besten gesagt. Du weißt, ich war dir immer ein guter Freund.« »Werde nur nicht rührselig. Mach' Schluß mit dem, was du noch zu sagen hast.« Ein wehevolles Zucken ging durch das Gesicht des Malers. Er schwieg einen Augenblick und ein heftiger Mitleidsschmerz überkam ihn. Welches Recht hatte er schließlich, in Dorian Grays Leben hineinzuspähen? Wenn er nur den zehnten Teil von dem getan hatte, wovon die Gerüchte gingen, wie qualvoll mußte er gelitten haben! Dann richtete er sich auf, ging zum Kamin hinüber und blieb da stehen, versunken in den Anblick der brennenden Holzscheite, die mit ihrer weißen Asche wie bereift aussahen und stierte ihre zuckenden Feuerherzen an. »Ich warte, Basil«, sagte der junge Mann mit harter, spitzer Stimme. Er drehte sich um. »Was ich noch zu sagen habe, ist das«, rief er. »Du mußt mir eine Antwort geben auf diese fürchterlichen Anklagen, die gegen dich erhoben werden. Wenn du mir sagst, daß sie von Anfang bis zu Ende unwahr sind, werde ich dir glauben. Leugne sie ab, Dorian, leugne sie ab! Kannst du nicht sehen, was ich durchmache? Mein Gott, sage mir nicht, daß du schlecht und verderbt und schändlich bist!« Dorian Gray lächelte. Seine Lippen krausten sich in Verachtung. »Komm hinauf, Basil«, sagte er ruhig. »Ich führe da ein Tagebuch meines Lebens, Tag für Tag, und es verläßt niemals das Zimmer, in dem es geschrieben wird. Ich will es dir zeigen, wenn du mit mir kommst.« »Ich komme mit, Dorian, wenn du es haben willst. Ich sehe, daß ich meinen Zug versäumt habe. Das tut nichts. Ich kann morgen fahren. Aber verlange nicht von mir, daß ich heute nacht noch etwas lese. Was ich will, ist eine klare Antwort auf meine Frage.« »Die soll dir oben zuteil werden. Ich kann sie dir hier nicht geben. Du wirst nicht lange zu lesen haben.« Dreizehntes Kapitel Er verließ das Zimmer und begann die Treppe hinaufzugehen, Basil Hallward folgte dicht hinter ihm. Sie gingen leise, wie man es bei Nacht instinktiv tut. Die Lampe warf phantastische Schatten auf Wand und Treppe. Im Winde, der sich erhoben hatte, klirrten einige Fenster. Als sie den obersten Absatz erreicht hatten, stellte Dorian die Lampe auf den Boden, nahm den Schlüssel heraus und schloß auf. »Du bestehst auf einer Antwort, Basil?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Ja.« »Das freut mich«, antwortete er lächelnd. Dann fügte er ziemlich scharf hinzu: »Du bist der einzige Mensch in der Welt, der alles über mich wissen darf. Du hast mehr mit meinem Leben zu schaffen gehabt, als du dir denkst«, und damit nahm er die Lampe auf, öffnete die Tür und trat ein. Ein kalter Luftzug strich an ihnen vorbei, und das Licht zuckte einen Augenblick in einer düstern Orangefarbe auf. Er schauderte. »Schließe die Tür hinter dir«, flüsterte er, während er die Lampe auf den Tisch stellte. Hallward blickte erstaunt umher. Das Zimmer sah aus, als wär' es seit langen Jahren nicht bewohnt worden. Ein fadenscheiniger flämischer Gobelin, ein verhängtes Bild, ein alter italienischer Cassone und ein fast leerer Bücherschrank -- das war außer einem Stuhl und einem Tisch alles, was darin zu sein schien. Als Dorian Gray eine halb abgebrannte Kerze, die auf dem Kamin stand, angezündet hatte, sah der Maler, daß der ganze Raum mit Staub bedeckt und der Teppich zerfetzt und durchlöchert war. Eine Maus lief erschreckt hinter die Täfelung. Ein dumpfer Modergeruch machte sich bemerkbar. -- »Du glaubst also, daß Gott allein die Seele sieht, Basil? Zieh den Vorhang zurück, und du wirst die meine sehen.« Die Stimme, die das sprach, klang kalt und grausam. »Du bist wahnsinnig, Dorian, oder spielst Komödie«, sagte Hallward und runzelte die Stirn. »Du willst nicht? Dann muß ich es selbst tun«, sagte der junge Mann, und riß den Vorhang von seiner Stange und schleuderte ihn zu Boden. Ein Entsetzensschrei kam von den Lippen des Malers, als er in der düsteren Beleuchtung das gräßliche Gesicht auf der Leinwand erblickte, das ihm entgegengrinste. In seinem Ausdruck war etwas, das ihn mit Ekel und Abscheu erfüllte. Gott im Himmel! Es war Dorian Grays eigenes Antlitz, das er sah! Das Schreckliche, was es auch sein mochte, hatte die wundervolle Schönheit noch nicht ganz zerstört. Noch war etwas Gold in dem gelichteten Haar und etwas Purpur auf dem sinnlichen Mund. Die stumpfgewordenen Augen hatten noch etwas von ihrem lieblichen Blau behalten, der edle Schwung der Linien um die feingewölbten Nasenflügel und den plastischen Hals war noch nicht ganz verschwunden. Ja, es war Dorian selbst. Aber wer hatte das gemalt? Er glaubte, das Werk seines eigenen Pinsels zu erkennen, und der Rahmen war von ihm selbst gezeichnet. Die Vorstellung war ungeheuerlich, und doch fürchtete er sich. Er nahm die brennende Kerze und hielt sie nahe an das Bild. In der linken Ecke stand ein Name in langen, hellroten Lettern. Es war irgendeine infame Parodie, eine niederträchtige, elende Satire. Er hatte das niemals gemalt. Und doch, es war sein eigenes Bild. Er wußte es und ihm war, als ob sich sein Blut in einem Augenblick aus Feuer in starrendes Eis verwandelt hätte. Sein eigenes Bild! Was sollte das heißen? Warum hatte es sich verändert? Er drehte sich um und sah Dorian Gray mit krankhaften Augen an. Sein Mund zuckte, seine trockne Zunge schien jedes Lautes ganz unfähig zu sein. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Kühle Schweißperlen standen darauf. Der junge Mann lehnte gegen den Kamin und beobachtete ihn mit dem merkwürdigen Ausdruck, den man auf den Gesichtern von Menschen sieht, die von dem Spiel eines großen Schauspielers hingerissen sind. In seinem Gesicht war weder wirklicher Schmerz noch wirkliche Freude. Da war nur die Leidenschaft des Zuschauers und höchstens in den Augen flackerte ein triumphierendes Leuchten. Er hatte die Blume aus seinem Knopfloch genommen und roch daran oder tat mindestens so. »Was bedeutet das?« rief Hallward endlich. Seine eigene Stimme klang ihm schrill und fremd in die Ohren. »Vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war,« sagte Dorian Gray, während er die Blume in seiner Hand zerdrückte, »hast du mich kennengelernt, hast mir geschmeichelt und mich gelehrt, auf meine Schönheit eitel zu sein. Eines Tages stelltest du mich einem deiner Freunde vor, der mir das Wunder der Jugend erklärte, und damals beendetest du ein Porträt von mir, das mir das Wunder der Schönheit offenbarte. In einem Augenblick des Wahnsinns, und ich weiß noch jetzt nicht, ob ich ihn bedaure oder nicht, sprach ich einen Wunsch aus, vielleicht würdest du es ein Gebet nennen.« »Ich erinnere mich! Oh, wie gut erinnere ich mich! Nein! so etwas ist unmöglich. Das Zimmer ist feucht. Die Leinwand ist stockig geworden. In den Farben, die ich verwandte, war irgendein mineralisches Gift enthalten. Ich sage dir, so etwas ist unmöglich.« »Pah, was ist unmöglich?« murmelte der junge Mann, ging zum Fenster und preßte seine Stirn an die kalte, nebelfeuchte Scheibe. »Du sagtest mir, du hättest es zerstört.« »Ich habe mich geirrt. Es hat mich zerstört.« »Ich kann's nicht glauben, daß es mein Bild ist.« »Kannst du dein Ideal nicht darin erkennen?« fragte Dorian bitter. »Mein Ideal, wie du es nennst...« »Wie du es nanntest.« »Es hatte nichts Schlimmes in sich, nichts Schändliches. Du warst für mich ein Ideal, wie ich ihm nie wieder begegnen werde. Dies ist das Gesicht eines Fauns.« »Es ist das Gesicht meiner Seele.« »Jesus, mein! Was für ein Ding habe ich angebetet! Es hat die Augen eines Teufels.« »Jeder von uns hat Himmel und Hölle in sich, Basil«, rief Dorian mit einer wilden, verzweifelten Gebärde. Hallward wandte sich wieder dem Bilde zu und starrte es an. »Mein Gott! Es ist wahr,« rief er aus, »und das hast du aus deinem Leben gemacht und danach also mußt du noch schlechter sein, als die es ahnen, die gegen dich sprechen.« Er hielt das Licht wieder dicht an die Leinwand und musterte sie scharf. Die Oberfläche schien ganz unzerstört und so, wie sie aus seiner Hand gekommen war. Von innen also war die Fäulnis und das Entsetzliche hervorgedrungen. Durch einen sonderbaren inneren Zeugungsvorgang fraß der Aussatz der Sünde langsam das ganze Bildnis hinweg. Die Verwesung eines Leichnams in einem feuchten Grabe konnte nicht so grauenvoll sein. Seine Hand zitterte und die Kerze fiel aus dem Leuchter auf den Boden und lag rauchend da. Er trat mit dem Fuß darauf und erstickte sie. Dann warf er sich selbst in den wackligen Stuhl vor dem Tische und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Großer Gott, Dorian, was für eine Lehre! Was für eine furchtbare Lehre!« Es kam keine Antwort, aber er konnte den jungen Mann am Fenster schluchzen hören. »Bete, Dorian, bete«, sagte er leise. »Was war es doch, was man uns in der Kindheit hersagen gelehrt hat? >Führe uns nicht in Versuchung! Vergib uns unsere Sünden! Nimm unsere Missetat von uns!< Wir wollen das zusammen aufsagen. Das Gebet deines Stolzes ist erhört werden. Das Gebet deiner Reue wird auch erhört werden. Ich habe dich zu sehr geliebt. Ich bin dafür bestraft worden. Du hast dich selbst zu sehr geliebt. Wir haben beide unsere Strafe.« Dorian Gray wandte sich langsam um und sah ihn mit tränenschimmernden Augen an. »Es ist zu spät, Basil«, flüsterte er. »Es ist nie zu spät, Dorian. Wir wollen niederknien und versuchen, ob wir uns nicht an ein Gebet erinnern können. Steht nicht irgendwo ein Vers: >Und wären deine Sünden wie Scharlach, ich will sie weiß machen wie Schnee?<« »Solche Worte haben für mich keinen Sinn mehr.« »Still! Sage nicht so etwas. Du hast genug Böses getan im Leben. Mein Gott! Siehst du nicht, wie uns das fürchterliche Ding anstiert?« Dorian Gray blickte nach dem Bild, und plötzlich überkam ihn ein unbezwingliches Haßgefühl auf Basil Hallward, als sei er ihm von dem Bildnis auf der Leinwand eingeflößt, von diesen grinsenden Lippen in sein Ohr gewispert worden. Die wilde Zornwut eines gehetzten Tieres kochte in ihm, und er haßte den Mann, der da an dem Tisch saß, mehr als er in seinem ganzen Leben irgend etwas gehaßt hatte. Er spähte wild um sich. Auf der Platte der bemalten Truhe, die ihm gegenüberstand, glitzerte etwas. Sein Blick fiel darauf. Er erkannte, was es war. Ein Messer war's, das er vor einigen Tagen mit hinaufgenommen hatte, um ein Stück Schnur zu durchschneiden, und das er wieder mit herunterzunehmen vergessen hatte. Er ging langsam darauf zu und mußte dabei an Hallward vorüber. Sobald er hinter ihm stand, ergriff er das Messer und drehte sich um. Hallward rührte sich in seinem Stuhl, als wollte er soeben aufstehen. Er stürzte sich auf ihn und bohrte ihm das Messer tief in die Schlagader hinter dem Ohr, preßte den Kopf des Mannes auf den Tisch herunter und stieß immer und immer wieder zu. Man hörte ein unterdrücktes Röcheln und den fürchterlichen Ton eines Menschen, der in seinem Blut erstickt. Dreimal schlugen die krampfhaft ausgestreckten Arme um sich, und die Hände fuhren mit eigentümlich steifen Fingern durch die Luft. Er stieß noch zweimal zu, aber der Mann rührte sich nicht mehr. Etwas begann auf den Boden zu tröpfeln. Er wartete einen Augenblick und drückte den Kopf immer noch nach unten. Dann warf er das Messer auf den Tisch und horchte. Er konnte nichts hören, als das Tropf-Tropf auf den fadenscheinigen Teppich. Er öffnete die Tür und ging bis an den Treppenabsatz. Das Haus war vollständig ruhig. Niemand war wach. Über das Geländer gebeugt, stand er ein paar Augenblicke da und forschte hinab in den schwarzen brodelnden Schacht von Dunkelheit. Dann zog er den Schlüssel ab, ging in das Zimmer zurück und schloß sich darin ein. Das Wesen saß noch immer in dem Stuhl und hing mit gebeugtem Kopf und gekrümmtem Rücken und langen phantastischen Armen über den Tisch. Wäre nicht der rote, klaffende Riß im Nacken gewesen und die dunkle, geronnene Lache, die sich nach und nach auf dem Tisch vergrößerte, so hätte man glauben können, der Mann schlafe nur. Wie schnell das alles geschehen war! Er fühlte sich merkwürdig ruhig, ging zur Balkontür, öffnete sie und trat hinaus. Der Wind hatte die Nebeltücher auseinandergeblasen, und der Himmel sah aus wie der Schweif eines ungeheuren Pfaus, der mit Myriaden goldener Augen bestirnt war. Er blickte hinab und sah, wie der Polizist seine Runde machte und das lange Streiflicht seiner Laterne über die Türen der schweigsamen Häuser gleiten ließ. Das rotgelbe Licht einer vorbeitrödelnden Droschke glomm an der Straßenecke auf und verschwand wieder. Ein Weib in einem flatternden Kopftuch schob sich langsam am Gitter des Platzes vorbei und taumelte im Gehen. Dann und wann stand sie still und sah zurück. Auf einmal begann sie mit heiserer Stimme zu singen. Der Schutzmann schlenderte über den Damm her und sagte etwas zu ihr. Sie humpelte lachend weiter. Ein scharfer Luftzug fegte über den Platz. Die Gasflammen zuckten und wurden blau, und die entlaubten Bäume schüttelten ihr schwarzes Geäste hin und her, das wie ein Eisengeflecht aussah. Ihn fröstelte und er trat, das Fenster schließend, wieder zurück. Als er bei der Türe war, drehte er den Schlüssel und öffnete sie. Er blickte den Ermordeten mit keinem Blicke mehr an. Er empfand, daß das Geheimnis der ganzen Sache darin beruhe, sich die Sachlage nicht zu vergegenwärtigen. Der Freund, der das verhängnisvolle Bild gemalt hatte, von dem all sein Elend herrührte, war aus seinem Leben verschwunden. Das war genug. Dann fiel ihm die Lampe ein. Es war eine ziemlich merkwürdige maurische Arbeit, mattes Silber mit eingelegten Arabesken aus dunkelpoliertem Stahl und besetzt mit ungeschliffenen Türkisen. Sie mochte vielleicht von seinem Diener vermißt werden und er könnte danach fragen. Er zögerte einen Augenblick, dann ging er zurück und nahm sie vom Tisch. Dabei mußte er die tote Gestalt sehen. Wie ruhig sie war! Wie furchtbar weiß die langen Hände aussahen! Es schien eine gräßliche Wachsfigur zu sein. Er schloß die Türe hinter sich und schlich langsam die Treppe hinunter. Das Holz knarrte und schien wie vor Schmerz aufzustöhnen. Er blieb einige Male stehen und wartete. Nein, alles war still. Er hörte nur den Widerhall seiner eigenen Schritte. Als er in seinem Bibliothekszimmer war, erblickte er die Tasche und den Rock in der Ecke. Die mußten irgendwo verborgen werden. Er öffnete einen Geheimschrank, der in der Holztäfelung war, in dem er seine eigenen Verkleidungen aufbewahrte, und schob die Sachen hinein. Er konnte sie später leicht einmal verbrennen. Dann zog er seine Uhr. Es war zwanzig Minuten vor zwei. Er setzte sich und begann nachzudenken. Jahr für Jahr -- fast jeden Monat -- werden in England Leute gehenkt für so etwas, wie er soeben getan hatte. Irgendeine wahnwitzige Mordlust hatte in der Luft gelegen. Irgendein blutroter Stern war der Erde zu nahe gekommen... Und doch, wie wollte man es ihm beweisen? Basil Hallward hatte das Haus um elf Uhr verlassen. Niemand hatte ihn noch einmal wiederkommen sehen. Die meisten Diener waren in Selby Royal. Sein eigener Diener war schlafen gegangen... Paris! Ja. Basil war nach Paris gefahren, und zwar mit dem Mitternachtszug, wie es seine Absicht gewesen war. Bei seinen merkwürdigen Gewohnheiten, sich zurückzuziehen, würden Monate vergehen, bevor irgendein Verdacht entstehen würde. Monate! Alle Spuren konnten lange vorher getilgt sein. Ein plötzlicher Einfall durchzuckte ihn. Er zog seinen Pelz an, setzte seinen Hut auf und ging in die Vorhalle hinaus. Dort blieb er stehen, weil er den langsamen, schweren Tritt des Schutzmanns draußen auf dem Pflaster hörte und den tanzenden Widerschein seiner Blendlaterne im Türfenster sah. Er wartete und hielt den Atem an. Nach einigen Augenblicken schob er den Riegel zurück und schlüpfte hinaus, das Tor ganz leise hinter sich schließend. Dann zog er die Klingel. Nach etwa fünf Minuten erschien sein Diener, halb angezogen und sehr verschlafen. »Es tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte, Francis«, sagte er eintretend und ging die Stufen hinauf; »aber ich habe meinen Hausschlüssel vergessen. Wieviel Uhr ist es?« »Zehn Minuten nach zwei, gnädiger Herr«, sagte der Mann mit einem blinzelnden Blick auf die Uhr. »Zehn Minuten nach zwei? Wie schrecklich spät! Sie müssen mich morgen um neun Uhr wecken. Ich habe zu tun.« »Zu Befehl, gnädiger Herr.« »War jemand heute abend hier?« »Herr Hallward, gnädiger Herr. Er hat hier bis elf Uhr gewartet und ging dann, um seinen Zug nicht zu versäumen.« »Es tut mir leid, daß ich ihn nicht getroffen habe. Sollen Sie mir etwas bestellen?« »Nein, gnädiger Herr, nur, daß er von Paris schreiben würde, wenn er Sie im Klub nicht treffen sollte.« »Es ist gut, Francis. Vergessen Sie nicht, mich morgen um neun zu wecken.« »Nein, gnädiger Herr!« Der Mann schlurfte in seinen Pantoffeln durch den Torweg die Dienertreppe hinab. Dorian Gray warf Hut und Stock auf den Tisch und trat ins Bücherzimmer. Eine Viertelstunde lang ging er auf und ab, biß sich auf die Lippen und grübelte. Dann nahm er das blaue Adreßbuch von einem Regal und begann zu blättern. »Alan Campbell, Hertford Street 152, Mayfair.« Ja, das war der Mann, den er brauchte. Vierzehntes Kapitel Am nächsten Morgen um neun Uhr kam sein Diener mit einer Tasse Schokolade auf einem Servierbrett herein und öffnete die Fensterläden. Dorian lag auf der rechten Seite, eine Hand unter seiner Wange und schlief ganz friedlich. Er sah aus wie ein Knabe, der beim Spiel oder Lernen müde geworden ist. Der Mann mußte ihn zweimal an der Schulter berühren, bevor er aufwachte, und als er die Augen öffnete, huschte ein leichtes Lächeln über seine Lippen, als wäre er von einem entzückenden Traum befangen gewesen. Aber er hatte gar nicht geträumt. Seine Nacht war weder von Bildern der Freude noch des Grauens gestört worden. Doch die Jugend lächelt ohne Grund. Das ist einer ihrer besonderen Reize. Er drehte sich um, stützte sich auf den Ellbogen und begann seine Schokolade zu schlürfen. Die matte Novembersonne strömte in das Zimmer. Der Himmel war wolkenlos, eine heitere Wärme lag in der Luft. Es war fast wie ein Maimorgen. Allmählich schlichen die Vorgänge der vergangenen Nacht auf lautlosen, blutbefleckten Sohlen in sein Gehirn und bauten sich dort mit furchtbarer Deutlichkeit wieder auf. Er erschauerte bei dem Gedächtnis an alles, was er durchlitten hatte, und einen Augenblick lang kehrte in ihm derselbe sonderbare Haß auf Basil Hallward zurück, der ihn dazu getrieben hatte, ihn zu töten, als er im Stuhl saß, er wurde kalt vor Wut. Der Tote saß noch immer da oben und jetzt dazu im Sonnenlicht. Wie schrecklich das war! So gräßliche Dinge gehörten in die Dunkelheit, nicht an den Tag. Er fühlte, daß er krank oder wahnsinnig würde, wenn er über das brütete, was er hinter sich hatte. Es gibt Sünden, deren Reiz mehr in der Erinnerung liegt als in der Begehung, seltsame Siege, die mehr dem Stolz Genüge tun als der Leidenschaft und die dem Geist ein Lustgefühl geben, das stärker ist als jede Wonne, die sie Sinnen verschaffen oder jemals verschaffen können. Aber diesmal war es keine von diesen. Dies war eine, die man aus dem Geiste verjagen, die man mit einem Opiat vergiften, die man ersticken mußte, da sie einen sonst selbst ersticken würde. Als es halb schlug, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, stand dann rasch auf und zog sich beinahe mit noch größerer Sorgfalt an, als gewöhnlich, indem er die größte Aufmerksamkeit auf die Wahl seiner Krawatte und seiner Nadel verwandte und seine Ringe mehr als einmal wechselte. Er verbrachte auch beim Frühstück längere Zeit, kostete von den verschiedenen Gerichten, sprach mit seinem Bedienten über neue Livreen, die er der Dienerschaft in Selby machen lassen wollte, und sah seine Briefschaften durch. Bei einigen Zuschriften lächelte er. Drei ödeten ihn an. Einen Brief las er mehrmals durch und zerriß ihn dann mit einem leichten Ärger in seinen Mienen. »Was für ein gräßliches Ding das Gedächtnis einer Frau ist«, hatte Lord Henry einmal gesagt. Als er seine Schale schwarzen Kaffee getrunken hatte, trocknete er die Lippen langsam an seiner Serviette ab, gab dem Diener ein Zeichen zu warten, ging zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und schrieb zwei Briefe. Einen steckte er in die Tasche, den anderen reichte er dem Diener. »Bringen Sie den nach Hertford Street 152, Francis, und wenn Herr Campbell nicht in der Stadt ist, lassen Sie sich seine Adresse geben.« Sobald er allein war, zündete er sich eine Zigarette an und begann auf einem Blatt Papier Skizzen zu machen, zeichnete zuerst Blumen, dann Architekturstücke und dann menschliche Gesichter. Plötzlich bemerkte er, daß jedes Gesicht, das er entwarf, eine phantastische Ähnlichkeit mit Basil Hallward zu haben schien. Er runzelte die Stirn, stand auf, ging zum Bücherschrank und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Er war fest entschlossen, an das Geschehene nicht eher zu denken, als bis es unbedingt notwendig war. Als er sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, sah er auf den Titel des Buches. Es waren Gautiers »~Emaux et Camées~«, Charpentiers Ausgabe auf japanischem Papier, mit Radierungen von Jacquemart. Der Einband war aus zitronengelbem Leder mit einem Blinddruckmuster von goldenem Laubwerk und Granatäpfeln in Punktmanier. Es war ein Geschenk Adrian Singletons. Als er darin blätterte, fiel sein Auge auf das Gedicht über die Hand Lacenaires, die kalte gelbe Hand »~du supplice encore mal lavée~«, mit ihren rötlichen Flaumhärchen und ihren »~doigts de faune~«. Er blickte auf seine eigenen weißen, spitzen Finger, schauderte unwillkürlich zusammen, las dann weiter, bis er zu den lieblichen Versen auf Venedig kam. ~Sur une gamme chromatique, Le sein de perles ruisselant, La Vénus de l'Adriatique Sort de l'eau son corps rose et blanc. Les dômes, sur l'azur des ondes Suivant la phrase au pur contur, S'enflent comme des gorges rondes Que soulève un soupir d'amour. L'esquif aborde et me dépose, Jetant son amarre au pilier, Devant une façade rose, Sur le marbre d'un escalier.~ Wie entzückend die Verse waren! Wenn man sie las, hatte man die Empfindung, durch die grünen Wasserstraßen dieser rot- und perlfarbigen Stadt zu gleiten, in einer schwarzen Gondel mit silbernem Schnabel und schleppenden Vorhängen. Schon die Zeilen sahen so aus wie die geraden, türkisblauen Kiellinien, die einem folgten, wenn man nach dem Lido hinausrudert. Die plötzlichen Farbenblitze erinnerten ihn an den Schimmer jener Vögel mit opal- und regenbogenfarbenen Hälsen, die um den schlanken, wabenartig durchlöcherten Kampanile flattern oder mit prächtiger Anmut durch die düstern, staubigen Arkaden trippeln. Zurückgelehnt mit halb geschlossenen Augen sagte er immer und immer wieder zu sich: -- ~Devant une façade rose, Sur le marbre d'un escalier.~ Das ganze Venedig war in diesen zwei Versen enthalten. Er dachte an den Herbst, den er dort verbracht hatte, und eine himmlische Liebelei, die ihn zu wahnsinnigen, entzückenden Torheiten getrieben hatte. Es gab Romantik in jedem Erdenwinkel. Aber Venedig hatte noch wie Oxford den Hintergrund für Romantik bewahrt, und für den wahren Romantiker ist der Hintergrund alles oder fast alles. Basil war einen Teil der Zeit bei ihm gewesen und war ganz wild vor Bewunderung für Tintoretto. Der arme Basil! Was für eine schreckliche Art, so zu sterben! Er seufzte, nahm das Buch wieder auf und suchte zu vergessen. Er las von den Schwalben, die aus- und einfliegen in dem kleinen Café zu Smyrna, wo die Hadjis sitzen und ihre Bernsteinperlen durch die Hand laufen lassen, und wo die Kaufleute im Turban ihre langen, quastenbehängten Pfeifen rauchen und ernsthaft miteinander sprechen: er las von dem Obelisk auf der Place de la Concorde, der in seiner vereinsamten, sonnenlosen Verbannung granitene Tränen weint und sich zurücksehnt nach dem heißen, lotosbedeckten Nil, wo die Sphinxe sind, und rosenrote Ibisse und weiße Geier mit goldenen Klauen und Krokodile mit kleinen Beryllaugen, die durch den grünen, dampfenden Schlamm dahinkriechen: er fing an, den Versen nachzusinnen, die ihre Musik aus Marmor locken, der von Küssen fleckig geworden ist, und die uns von der sonderbaren Statue erzählen, die Gautier einer Altstimme vergleicht, von dem »~monstre charmant~«, das in dem Porphyrsaal des Louvre steht. Aber nach einiger Zeit entfiel seinen Händen das Buch. Er wurde nervös, und ein gräßlicher Angstanfall schüttelte ihn. Was nun tun, wenn Alan Campbell nicht in England war? Tage könnten möglicherweise verstreichen, bevor er zurückkäme. Vielleicht weigerte er sich, zu kommen. Was sollte er dann tun? Jeder Augenblick war von tödlicher Bedeutung. Sie waren einmal sehr befreundet gewesen, vor fünf Jahren -- sogar fast unzertrennlich. Dann hatte die Intimität plötzlich ein Ende. Wenn sie sich jetzt in Gesellschaft trafen, war es nur noch Dorian Gray, der da lächelte, niemals Alan Campbell. Er war ein außerordentlich begabter junger Mann, wenn er auch kein eigentliches Verhältnis zu den sichtbaren Künsten hatte, und der geringe Sinn für Poesie, den er besaß, vollständig von Dorian herrührte. Die geistige Leidenschaft, die ihn beherrschte, erstreckte sich nur auf die Wissenschaft. In Cambridge hatte er einen großen Teil seiner Zeit mit Arbeiten im Laboratorium verbracht und hatte sein Examen in den Naturwissenschaften mit vorzüglich bestanden. Noch jetzt war er dem Studium der Chemie ergeben und hatte ein eigenes Laboratorium, in das er sich häufig den ganzen Tag einzuschließen pflegte, zum großen Kummer seiner Mutter, die sich darauf verbissen hatte, daß er für das Parlament kandidieren sollte, und die eine unklare Vorstellung hatte, ein Chemiker sei ein Mensch, der Rezepte anfertige. Indessen war er ein ausgezeichneter Musiker und spielte Geige und Klavier besser als die meisten Dilettanten. Die Musik war es denn auch wirklich, die Dorian Gray und ihn zueinander gebracht hatte -- die Musik und die unerklärliche Anziehungskraft, die Dorian ausüben konnte, wenn er wollte, und auch oft ausübte, ohne es zu wissen. Sie hatten sich bei Lady Berkshire an dem Abend kennengelernt, als Rubinstein dort spielte, und man sah sie von da an immer zusammen in der Oper und überall, wo es gute Musik gab. Achtzehn Monate dauerte diese Freundschaft. Campbell war regelmäßig entweder in Selby Royal oder in Grosvenor Square. Für ihn wie für viele andere war Dorian Gray die Verkörperung alles dessen, was wunderbar und bezaubernd im Leben ist. Ob zwischen ihnen ein Streit vorgefallen war oder nicht, wußte kein Mensch. Aber plötzlich bemerkten die Leute, daß sie kaum miteinander sprachen, wenn sie sich trafen, und daß Campbell jede Gesellschaft frühzeitig verließ, in der Dorian anwesend war. Er war auch verändert -- bisweilen merkwürdig melancholisch, schien kaum noch Musik hören zu können, spielte nie mehr selbst und gab, wenn man ihn dazu aufforderte, als Entschuldigung an, daß ihn die Wissenschaft so stark in Anspruch nähme, daß er keine Zeit mehr zum Üben habe. Und das war auch der Fall. Er schien jeden Tag mehr Interesse für biologische Studien zu gewinnen, und sein Name erschien ein- oder zweimal in wissenschaftlichen Zeitschriften in Verbindung mit gewissen außergewöhnlichen Experimenten. Das war der Mann, auf den Dorian Gray wartete. Jede Sekunde blickte er auf die Uhr. Als Minute um Minute verstrich, wurde er furchtbar aufgeregt. Schließlich stand er auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen wie irgendeine schöne Bestie im Käfig. Er holte weiten Schrittes, fast sprunghaft, aus und trat leise auf. Seine Hände waren eigentümlich kalt. Das Warten wurde unerträglich. Die Zeit schien ihm mit bleiernen Füßen zu schleichen, während er von ungeheuren Wirbelwinden zum zackigen Grat einer schwarzen Kluft oder eines Abgrundes hingefegt wurde. Er wußte, was dort seiner harrte; er sah es und preßte schaudernd mit feuchten Händen seine brennenden Lider zusammen, als wolle er sein Gehirn der Sehkraft berauben und die Augäpfel in ihre Höhlen zurückdrängen. Es war umsonst. Das Gehirn hatte seine eigene Nahrung, mit der es sich mästete, und die durch den Schrecken grotesk gemachte Einbildungskraft krümmte sich vor Schmerz wie ein lebendes Wesen, tanzte wie eine widerwärtige Marionette in einer Schaubude und grinste durch bewegliche Masken hindurch. Dann blieb auf einmal die Zeit für ihn stehen. Ja, dieses blinde, langsamatmende Wesen kroch nicht mehr, und da sie tot war, stürzten sich gräßliche Gedanken mit Blitzesschnelle über ihn hin und zerrten eine scheußliche Zukunft aus ihrem Grabe und zeigten sie ihm. Er starrte darauf hin. Ihre Entsetzlichkeit versteinerte ihn. Endlich öffnete sich die Tür, und sein Bedienter trat ein. Er wandte ihm seine gläsernen Augen zu. »Herr Campbell, gnädiger Herr«, sagte der Mann. Ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen trockenen Lippen und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück. »Bitten Sie ihn sofort herein, Francis.« Er fühlte, daß er wieder er selbst war. Der Anfall von Feigheit war überwunden. Der Diener verbeugte sich und ging. Nach einigen Augenblicken trat Alan Campbell ein, mit sehr strengem Gesicht und etwas bleich, und seine blasse Farbe wurde durch das kohlschwarze Haar und die dunkeln Brauen noch verstärkt. »Alan! das ist freundlich von dir. Ich danke dir, daß du gekommen bist.« »Ich hatte die Absicht, dein Haus nie wieder zu betreten, Gray. Aber du schriebst, es handle sich um Leben und Tod.« Seine Stimme war hart und kalt. Er sprach langsam und überlegt. Ein Zug von Verachtung lag in dem festen, forschenden Blick, den er auf Dorian richtete. Er behielt die Hände in den Taschen seines Astrachanpelzes und schien die Bewegung, mit der ihm die Hand entgegengestreckt worden war, nicht zu bemerken. »Ja, es handelt sich um Leben und Tod, und für mehr als einen Menschen, Alan. Setze dich.« Campbell nahm einen Stuhl am Tisch, und Dorian setzte sich ihm gegenüber. Die Augen der beiden Männer trafen sich. In denen Dorians lag unendliches Mitleid. Er wußte, was er jetzt tun werde, war schrecklich. Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens beugte er sich nach vorn und sagte sehr ruhig, die Wirkung jedes Wortes auf dem Gesicht des Mannes ablesend, den er hatte holen lassen: »Alan, in einem verschlossenen Dachzimmer dieses Hauses, in einem Zimmer, zu dem kein einziger Mensch außer mir Zutritt hat, sitzt ein toter Mann an einem Tisch. Er ist jetzt seit zehn Stunden tot. Bleib' ruhig sitzen und sieh mich nicht so an. Wer der Mann ist, warum er starb, wie er starb, sind Dinge, die dich nicht kümmern. Was du zu tun hast, ist --« »Halt, Gray! Ich will nichts mehr wissen. Ob das, was du mir gesagt hast, wahr ist oder nicht, geht mich nichts an. Ich lehne es entschieden ab, in dein Leben verwickelt zu werden. Behalte deine fürchterlichen Geheimnisse für dich! Sie interessieren mich nicht mehr.« »Alan, du wirst dafür Interesse haben müssen. Dies eine Geheimnis wird dich interessieren müssen. Es tut mir furchtbar leid um dich, Alan. Aber ich kann dir nicht helfen. Du bist der einzige Mensch, der mich zu retten vermag. Ich bin gezwungen, dich in die Sache hineinzuziehen. Ich habe keine Wahl. Alan, du bist ein Mann der Naturwissenschaft. Du verstehst dich auf Chemie und diese Dinge. Du hast Experimente gemacht. Was du zu tun hast, ist, das Wesen da oben zu vernichten, so zu vernichten, daß auch nicht eine Spur davon übrigbleibt. Niemand hat diesen Menschen in mein Haus kommen sehen. Man vermutet ihn im Augenblick in Paris. Monatelang wird er nicht vermißt werden. Wenn er vermißt wird, darf hier keine Spur von ihm gefunden werden. Alan, du mußt ihn, ihn und alles, was zu ihm gehört, in eine Handvoll Asche verwandeln, die ich in die Luft streuen kann.« »Du bist wahnsinnig, Dorian.« »Ah! wie ich darauf gewartet habe, daß du mich wieder Dorian nennst.« »Du bist wahnsinnig, sag' ich dir -- wahnsinnig, daß du dir einbildest, ich wurde auch nur einen Finger rühren, dir zu helfen, wahnsinnig, daß du mir dieses ungeheuerliche Geständnis ablegst. Ich will damit nichts zu tun haben, was es auch sei. Glaubst du, ich setze meine Ehre für dich aufs Spiel? Was geht's mich an, mit welchem Teufelswerk du zu tun hast.« »Es war ein Selbstmord, Alan.« »Das freut mich, aber wer hat ihn dazu getrieben? Du, vermute ich.« »Weigerst du dich noch immer, das für mich zu tun?« »Natürlich weigere ich mich. Ich will absolut nichts damit zu schaffen haben. Es liegt mir gar nichts daran, was für eine Schande über dich kommt. Du verdienst es vollauf. Es würde mir nicht leid tun, wenn ich dich entehrt, öffentlich entehrt sähe. Wie kannst du es wagen, mich, gerade mich von allen Menschen in der Welt in diese Scheußlichkeit hineinbringen zu wollen? Ich hätte geglaubt, du verständest mehr vom Charakter der Menschen. Dein Freund, Lord Henry Wotton, kann dich nicht sehr über Psychologie aufgeklärt haben, worüber er dich auch sonst aufgeklärt hat. Nichts wird mich dazu vermögen, auch nur einen Schritt zu tun, um dir zu helfen. Du bist an den falschen Mann gekommen. Geh zu einem deiner Freunde, nicht zu mir.« »Alan, es war Mord. Ich habe ihn umgebracht. Du weißt nicht, was ich durch ihn gelitten habe. Mein Leben mag sein, wie es wolle, er hatte mehr damit zu tun, es zu erschaffen und zu zerstören, als der arme Harry. Er mag es nicht gewollt haben, die Wirkung ist dieselbe.« »Mord! Guter Gott, Dorian, bist du jetzt soweit gekommen? Ich werde dich nicht anzeigen. Das ist meines Amtes nicht. Im übrigen wird man dich fassen, auch wenn ich mich nicht in die Sache mische. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne dabei eine Dummheit zu machen. Also ich will nichts damit zu tun haben.« »Du mußt etwas damit zu tun haben. Warte, warte noch einen Augenblick; hör' mich an. Nur anhören, Alan. Alles, was ich von dir verlange, ist ein bestimmtes wissenschaftliches Experiment. Du gehst in Spitäler und Leichenhäuser, und das Schreckliche, was du dort tust, rührt dich nicht. Wenn du diesen Mann in irgendeinem gräßlichen Seziersaal oder in einem mißduftenden Laboratorium auf einem rohen Tisch liegen sähest, mit roten Röhren, die man in ihn hineingebohrt hat, damit daraus das Blut durchfließen kann, dann würdest du ihn einfach als ein bewundernswertes Objekt betrachten. Kein Härchen würde sich dir sträuben. Du hättest nicht die Empfindung, irgend etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil, du würdest wahrscheinlich glauben, der Menschheit eine Wohltat zu erweisen, oder die Summe des menschlichen Wissens zu vermehren oder den intellektuellen Wissensdrang zu befriedigen oder so etwas dergleichen. Was ich von dir fordere, ist nichts anderes, als was du schon oft getan hast. Wahrhaftig, es muß viel weniger gräßlich sein, einen Leichnam aus der Welt zu schaffen, als das, was du gewöhnlich tust. Und bedenke, es ist der einzige Beweis gegen mich. Wenn er entdeckt wird, bin ich verloren; und er muß sicher entdeckt werden, wenn du mir nicht hilfst.« »Ich habe keine Lust, dir zu helfen. Du vergißt das. Die ganze Sache ist mir gleichgültig. Ich habe nichts damit zu tun.« »Alan, ich beschwöre dich. Denke an die Lage, in der ich bin. Jetzt eben, ehe du kamst, war ich fast ohnmächtig vor Schreck. Du kannst eines Tages selbst einmal die Angst kennenlernen. Nein, denke nicht daran! Betrachte die Sache vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus. Du forschst doch sonst nicht danach, woher die toten Wesen kommen, mit denen du experimentierst. Forsche auch jetzt nicht danach. Ich habe dir ohnehin zuviel gesagt. Aber ich bitte dich, tu, um was ich dich bat. Wir waren doch einmal Freunde, Alan.« »Sprich nicht von jenen Tagen, Dorian; sie sind tot.« »Die Toten verweilen manchmal. Der Mann da oben geht nicht weg. Er sitzt am Tisch mit vorgebeugtem Kopf und ausgestreckten Armen. Alan! Alan! wenn du mir nicht zu Hilfe kommst, bin ich verloren. Alan! man wird mich hängen! Begreifst du nicht? Man wird mich hängen, für das, was ich getan habe.« »Es hat keinen Sinn, diese Szene weiter auszudehnen. Ich weigere mich ganz entschieden, etwas damit zu tun zu haben. Es ist Tollheit von dir, mich darum zu bitten.« »Du weigerst dich?« »Ja!« »Ich beschwöre dich, Alan!« »Es ist nutzlos.« Derselbe mitleidige Ausdruck kam in Dorian Grays Augen. Dann reckte er die Hand aus, nahm ein Stück Papier und schrieb etwas darauf. Er las es zweimal durch, faltete es sorgfältig zusammen und schob es über den Tisch. Nachdem er dies getan hatte, stand er auf und trat ans Fenster. Campbell sah ihn verwundert an, nahm dann das Papier und öffnete es. Als er es gelesen hatte, wurde sein Gesicht totenblaß und er sank in seinen Stuhl zurück. Ein fürchterliches Gefühl der Schwäche überwältigte ihn. Ihm war, als ob sich sein Herz in einer leeren Höhle zu Tode schlüge. Nach zwei oder drei Minuten furchtbaren Schweigens wandte sich Dorian um, ging zu ihm hin, stellte sich hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es tut mir so leid um dich, Alan,« flüsterte er, »aber du läßt mir keine Wahl. Ich habe den Brief schon geschrieben. Hier ist er. Du siehst die Adresse. Wenn du mir nicht hilfst, muß ich ihn abschicken. Du weißt, was darauf erfolgt. Aber du wirst mir helfen. Es ist unmöglich, daß du jetzt noch nein sagst. Ich wollte dir das ersparen. Du mußt mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, das zuzugeben. Du warst bitter, hart, beleidigend. Du hast mich behandelt, wie es nie ein Mensch gewagt hat, mich zu behandeln. Wenigstens kein lebender Mensch. Ich ertrug es alles. Jetzt ist es an mir, Bedingungen zu diktieren.« Campbell vergrub sein Gesicht in den Händen und ein Frösteln überlief ihn. »Ja, jetzt ist die Reihe an mir, Bedingungen zu diktieren, Alan. Du weißt, was ich verlange. Die Sache ist ganz einfach. Komm, schraube dich nicht in ein Fieber hinein. Die Sache muß geschehen. Schau ihr ins Gesicht und vollbringe sie.« Ein Stöhnen klang von Campbells Lippen, und er zitterte am ganzen Leibe. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims schien ihm die Zeit in einzelne Atome eines Todeskampfes zu zerstückeln, von denen das kleinste schon zu schrecklich war, um es zu ertragen. Er hatte das Gefühl, als ob ein eiserner Ring um seine Stirn nach und nach festgespannt wurde, als ob die Schande, mit der man ihn bedrohte, schon über ihn käme. Die Hand auf seiner Schulter beschwerte ihn wie ein Gewicht von Blei. Sie war unerträglich. Sie schien ihn zu zerquetschen. »Komm, Alan, du mußt dich gleich entscheiden.« »Ich kann es nicht tun«, sagte er mechanisch, als könnten die Worte etwas ändern. »Du mußt. Du hast keine Wahl. Zaudere nicht.« Er schwankte einen Augenblick. »Ist ein Ofen da oben?« »Ja, ein Gasofen mit Asbest.« »Dann muß ich nach Hause gehen und einiges aus dem Laboratorium holen.« »Nein, Alan, du darfst das Haus nicht verlassen. Schreib' auf ein Blatt Papier, was du brauchst, und mein Diener nimmt eine Droschke und wird dir die Sachen bringen.« Campbell kritzelte ein paar Zeilen hin, trocknete sie ab und adressierte ein Kuvert an seinen Assistenten. Dorian nahm das Briefchen und las es aufmerksam durch. Dann klingelte er und gab es seinem Diener mit dem Auftrag, so rasch als möglich zurückzukommen und die im Schreiben bezeichneten Sachen mitzubringen. Als die Haustür ins Schloß fiel, zuckte Campbell nervös zusammen, stand vom Stuhl auf und ging zum Kamin hinüber. Er schüttelte sich in einer Art kalten Fiebers. Fast zwanzig Minuten lang sprach keiner der beiden Männer. Eine Fliege schwirrte summend durch das Zimmer, und das Ticktack der Uhr klang wie der Fall eines Hammers. Als es eins schlug, drehte sich Campbell um, blickte auf Dorian Gray und sah, daß seine Augen mit Tränen gefüllt waren. In den reinen, edlen Zügen dieses traurigen Gesichts lag etwas, was ihn wütend zu machen schien. »Du bist infam, ganz infam«, rief er mit unterdrückter Stimme. »Ruhig, Alan, du hast mir das Leben gerettet«, sagte Dorian. »Dein Leben? Gott im Himmel! Was für ein Leben ist das! Du bist von Verderbnis zu Verderbnis geschritten, und jetzt hast du mit Mord den Gipfel erreicht. Wenn ich tue, was ich tun werde, was du mich zu tun zwingst, so denke ich dabei wahrhaftig nicht an dein Leben.« »Ach, Alan,« flüsterte Dorian seufzend, »ich wünschte, du hättest den tausendsten Teil des Mitleids mit mir, das ich mit dir habe.« Er kehrte sich während dieser Worte ab und stand da und blickte in den Garten hinaus. Campbell gab keine Antwort. Nach etwa zehn Minuten klopfte es an die Tür, und der Diener trat ein und brachte einen großen Mahagonikasten mit Chemikalien, eine lange Rolle Stahl- und Platindraht und zwei absonderlich geformte Eisenklammern. »Soll ich die Sachen hier lassen, gnädiger Herr?« fragte er Campbell. »Ja«, antwortete Dorian. »Und ich bedaure, Francis, aber ich habe noch einen Weg für Sie. Wie heißt der Mann in Richmond, der Selby mit Orchideen versorgt?« »Harden, gnädiger Herr.« »Richtig -- Harden. Sie müssen gleich nach Richmond fahren, Harden selbst sprechen und ihm sagen, er solle doppelt soviel Orchideen schicken, als ich bestellt habe, und möglichst wenig weiße dabei. Eigentlich will ich überhaupt keine weißen. Es ist ein schöner Tag, Francis, und Richmond ein hübscher Ort, sonst würde ich Sie damit nicht behelligen.« »Nichts zu sagen, gnädiger Herr. Zu welcher Zeit soll ich zurück sein?« Dorian sah Campbell an. »Wie lange wird dein Experiment dauern, Alan?« fragte er mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. Die Gegenwart eines Dritten im Zimmer schien ihm außerordentlichen Mut einzuflößen. Campbell runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Es wird ungefähr fünf Stunden beanspruchen«, antwortete er. »Dann ist es früh genug, wenn Sie um sieben zurück sind, Francis. Oder halt: legen Sie meine Sachen zum Umkleiden zurecht, Sie können dann den Abend für sich verwenden. Ich esse nicht zu Hause, brauche Sie also nicht.« »Ich danke, gnädiger Herr«, sagte der Mann und verließ das Zimmer. »Jetzt, Alan, ist kein Augenblick zu verlieren. Wie schwer der Kasten ist! Ich will ihn dir tragen. Nimm du die anderen Sachen.« Er sprach hastig und in befehlendem Tone. Campbell fühlte sich von ihm beherrscht. Sie verließen das Zimmer gleichzeitig. Als sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatten, nahm Dorian den Schlüssel heraus und schloß auf. Dann blieb er stehen, und ein Ausdruck von Unruhe zeigte sich in seinem Blick. Er schauderte. »Ich glaube, ich kann nicht hineingehen, Alan«, flüsterte er. »Das ist mir ganz gleich. Ich brauche dich nicht«, sagte Campbell kalt. Dorian öffnete die Tür zur Hälfte. Als er dies tat, sah er seinem Porträt, das im hellen Sonnenlicht hing, grade ins Gesicht. Davor lag auf den Dielen der herabgerissene Vorhang. Er erinnerte sich, daß er in der vergangenen Nacht zum ersten Male in seinem Leben vergessen hatte, die verhängnisvolle Leinwand zu verhüllen, und wollte eben nach vorn stürzen, als er schaudernd zurückprallte. Was war das für ein widerlicher, roter Fleck, der naß und glänzend an einer der Hände klebte, als hätte die Leinwand Blut geschwitzt? Wie schrecklich das war! -- Schrecklicher schien es ihm in diesem Augenblick als das schweigsame Ding, das, wie er wußte, noch über den Tisch gebeugt dasaß, das Ding, dessen grotesker, unglückseliger Schatten auf dem fleckigen Teppich ihm zeigte, daß es sich nicht bewegt hatte, sondern noch da war, wo er es gelassen hatte. Er atmete tief auf, öffnete die Tür etwas weiter und ging mit halbgeschlossenen Augen und abgewandtem Kopf rasch hinein, entschlossen, mit keinem einzigen Blick nach dem Toten hinzusehen. Dann bückte er sich, nahm den gold- und purpurschimmernden Vorhang auf und warf ihn gerade über das Bild. Dann blieb er stehen, voll Angst, sich umzuwenden und seine Augen richteten sich auf die verschlungenen Muster des Vorhangs. Er hörte Campbell den schweren Kasten hereinbringen, und die Eisenklammern und die anderen Geräte, die er sich für seine entsetzliche Arbeit hatte kommen lassen. Er begann sich zu fragen, ob Campbell und Basil Hallward einander je begegnet waren und wenn, welche Meinung sie voneinander gehabt hätten. »Lasse mich jetzt allein«, sagte eine rauhe Stimme hinter ihm. Er kehrte sich um und lief hinaus, eben noch gerade wahrnehmend, daß der Tote in seinen Stuhl zurückgelehnt worden war und daß Campbell in ein schimmerndes, gelbes Gesicht starrte. Als er die Stufen hinabging, hörte er, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Es war lange nach sieben Uhr, als Campbell wieder in die Bibliothek trat. Er war blaß, aber vollständig ruhig. »Ich habe getan, was du von mir verlangt hast«, sagte er leise. »Und jetzt adieu. Wir wollen uns nie wiedersehen.« »Du hast mich vorm Untergang gerettet, Alan«, sagte Dorian ganz schlicht. »Ich kann das nie vergessen.« Sobald ihn Campbell verlassen hatte, ging er hinauf. Ein schrecklicher Geruch von Salpetersäure war im Zimmer. Aber das Ding, das am Tisch gesessen hatte, war fort. Fünfzehntes Kapitel Am selben Abend um halb neun Uhr wurde Dorian Gray in sorgfältigster Toilette, im Knopfloch einen großen Strauß Parmaveilchen tragend, von dienernden Lakaien in den Salon Lady Narboroughs geführt. Er hatte heftiges Kopfweh und furchtbar überreizte Nerven, aber seine Gebärde, als er sich über die Hand seiner Gastgeberin beugte, war ebenso leicht und anmutig wie sonst. Vielleicht sieht man nie gelassener aus, als wenn man eine Rolle zu spielen hat. Gewiß hätte niemand, der Dorian Gray an diesem Abend sah, geglaubt, daß er eine Tragödie hinter sich habe, die so schrecklich war wie irgendeine Tragödie unserer Zeit. Diese feingeformten Finger konnten doch nie ein Messer gezückt haben, um eine Sünde zu begehen, diese lächelnden Lippen nie Gott und Gottes Güte geschmäht haben. Er selbst mußte sich über die Ruhe seines Benehmens wundern und einen Augenblick lang spürte er in ganzer Stärke den grauenvollen Genuß eines Doppeldaseins. Es war eine kleine Gesellschaft, die Lady Narborough kurzer Hand zusammengeladen hatte, und die Gastgeberin war eine sehr gescheite Frau mit ansehnlichen Überbleibseln einer unleugbar hervorragenden Häßlichkeit, wie es Lord Henry auszudrücken liebte. Sie hatte sich einem unserer langweiligsten Botschafter als eine ausgezeichnete Frau erwiesen, und nachdem sie ihren Gemahl, wie sich's geziemte, in einem marmornen Mausoleum beigesetzt hatte, das nach ihren eigenen Entwürfen erbaut worden war, und seitdem sie ihre Töchter an einige reiche, etwas angejahrte Herren verheiratet hatte, widmete sie sich den Genüssen französischer Romane, französischer Kochkunst und französischen Geistes, wenn sie ihn auftreiben konnte. Dorian war einer ihrer erklärten Lieblinge, und sie sagte ihm immer, sie sei äußerst froh darüber, ihn nicht in früheren Jahren kennengelernt zu haben. »Ich weiß, mein Lieber, ich hätte mich sinnlos in Sie verliebt,« pflegte sie zu sagen, »und wäre Ihretwillen der größten Tollheiten fähig gewesen. Es ist ein großes Glück, daß man damals noch gar nicht an Sie dachte. Zu meiner Zeit waren die Tollheiten eine so seltene Ware, daß ich nicht einmal eine harmlose Liebelei mit jemand gehabt habe. Indessen war das nur die Schuld Narboroughs. Er war schrecklich kurzsichtig, und es ist alles andere als ein Vergnügen, einen Ehemann zu betrügen, der nie etwas sieht.« Ihre Gäste waren an diesem Abend ziemlich langweilig. Die Sache war so, wie sie Dorian hinter einem ziemlich schäbigen Fächer erklärte, daß eine ihrer verheirateten Töchter plötzlich zu Besuch gekommen war, und, was die Sache noch ärgerlicher machte, obendrein ihren Mann mitgebracht hatte. »Ich finde das sehr unliebenswürdig von ihr, mein Lieber«, flüsterte sie ihm zu. »Natürlich bin ich jeden Sommer mit ihnen zusammen, wenn ich von Homburg komme, aber eine alte Frau wie ich muß eben manchmal frische Luft haben, und außerdem rüttle ich sie dann etwas auf. Sie ahnen ja gar nicht, was die für ein Leben da hinten führen. Es ist das reine, unverfälschte Landleben. Sie stehen früh auf, weil sie so viel zu tun haben, und gehen früh zu Bett, weil sie so wenig zu denken haben. In der ganzen Gegend da hat es seit der Zeit der Königin Elisabeth keinen Skandal gegeben, und infolgedessen schlafen sie alle nach dem Essen ein. Sie sollen aber nicht neben einem von ihnen sitzen. Sie sollen neben mir sitzen und mich amüsieren.« Dorian murmelte ein anmutiges Kompliment und blickte sich im Zimmer um. Ja, es war wirklich eine öde Gesellschaft. Zwei von den Anwesenden hatte er vordem nie gesehen, und die anderen waren Ernest Harrowden, eine der Mittelmäßigkeiten in mittleren Jahren, denen man so häufig in Londoner Klubs begegnet, die keine Feinde haben, die aber keiner ihrer Freunde leiden kann: dann Lady Ruxton, eine aufgeputzte Dame mit einer Papageiennase, im Alter von siebenundvierzig Jahren, die sich unablässig bemühte, sich zu kompromittieren, die aber so lächerlich häßlich war, daß zu ihrer großen Enttäuschung niemals einer etwas Schlechtes von ihr glauben wollte: Frau Erlynne, eine zudringliche Nichtigkeit mit einem entzückenden Lispeln und venezianisch rotem Haar: Lady Alice Chapman, die Tochter der Wirtin, eine schlechtgekleidete, bedeutungslose Frau mit einem der charakteristischen englischen Gesichter, an die man sich nie wieder erinnert, wenn man sie einmal gesehen hat, und ihr Mann, ein rotbäckiges, weißbärtiges Geschöpf, das, wie so viele seiner Kaste, der Überzeugung lebte, daß ungewöhnliche Liebenswürdigkeit den vollständigen Mangel an Gedanken ersetzen könne. Es tat ihm beinah leid, daß er gekommen war, bis Lady Narborough einen Blick auf die große goldene Pendeluhr warf, die sich mit ihren geschmacklosen Zieraten auf dem malvefarbig behängten Kamin spreizte, und ausrief: »Wie häßlich von Henry Wotton, zu spät zu kommen! Ich schickte heute früh auf gut Glück zu ihm hinüber und er hat fest zugesagt, mich nicht im Stich zu lassen.« Es war ein Trost, daß Harry kommen sollte, und als sich die Tür öffnete und er seine sanfte musikalische Stimme hörte, die irgendeine läppische Ausrede bezaubernd hervorbrachte, schwand seine Verdrießlichkeit. Aber er konnte bei Tisch dennoch nichts essen. Platte nach Platte wurde, von ihm unberührt, weggetragen. Lady Narborough schalt ihn unaufhörlich, weil sie darin »eine Beleidigung sah für den armen Adolphe, der das ganze Menü eigens für sie erfunden hätte«, und dann und wann blickte Lord Henry zu ihm herüber und verwunderte sich über sein Schweigen und sein zerstreutes Wesen. Von Zeit zu Zeit füllte der Diener sein Glas mit Champagner. Er trank hastig, und sein Durst schien zu wachsen. »Dorian,« sagte Lord Henry endlich, als das Chaudfroid herumgereicht wurde, »was ist heute abend mit dir los? Du bist ja so verstimmt.« »Ich glaube, er ist verliebt,« sagte Lady Narborough, »und er hat Angst, es mir zu erzählen, aus Furcht, daß ich eifersüchtig würde. Er hat auch ganz recht. Ich würde es gewiß.« »Teure Lady Narborough,« flüsterte Dorian lächelnd, »ich bin seit einer vollen Woche nicht verliebt gewesen -- genau gesagt, nicht seitdem Madame de Ferrol aus London weg ist.« »Daß ihr Männer euch in diese Frau verlieben könnt!« rief die alte Dame. »Ich kann es wirklich nicht verstehen.« »Das kommt einfach daher, weil sie Sie an die Zeit erinnert, wo Sie ein kleines Mädchen waren, Lady Narborough«, sagte Lord Henry. »Sie ist das einzige Bindeglied zwischen uns und Ihren kurzen Röckchen.« »Sie erinnert mich wirklich nicht an meine kurzen Röckchen, Lord Henry. Aber ich entsinne mich ihrer sehr gut in Wien vor dreißig Jahren und wie sie sich damals dekolletierte.« »Sie dekolletiert sich noch immer,« antwortete er und nahm eine Olive in seine langen Finger, »und wenn sie sehr elegant gekleidet ist, sieht sie aus wie die Luxusausgabe eines schlechten, französischen Romans. Sie ist wirklich wunderbar und voller Überraschungen. Ihr Talent für Familienliebe ist außerordentlich. Als ihr dritter Mann starb, wurde ihr Haar vor Trauer ganz goldblond.« »Wie kannst du so etwas sagen, Harry!« rief Dorian. »Das ist eine höchst romantische Erklärung«, lachte die Gastgeberin. »Aber ihr dritter Mann, Lord Henry! Sie wollen doch nicht sagen, daß Ferrol der vierte ist?« »Doch, Lady Narborough.« »Ich glaube kein Wort davon.« »Gut, dann fragen Sie Herrn Gray, er ist einer ihrer intimsten Freunde.« »Ist das wahr, Herr Gray?« »Sie versichert es mir, Lady Narborough«, erwiderte Dorian. »Ich fragte sie, ob sie wie Margarete von Navarra ihre Herzen einbalsamiert habe und am Gürtel trage. Sie sagte mir, sie täte das nicht, weil keiner von ihnen überhaupt ein Herz gehabt hätte.« »Vier Männer! Auf mein Wort, das ist ~trop de zêle~.« »~Trop d'audace~ sagte ich ihr«, entgegnete Dorian. »Oh! sie ist mutig genug, alles zu tun, mein Lieber. Und wie ist Ferrol? Ich kenne ihn nicht.« »Die Männer sehr schöner Frauen gehören zur Verbrecherklasse«, sagte Lord Henry und schlürfte seinen Wein. Lady Narborough schlug ihn mit dem Fächer. »Lord Henry, ich bin nicht im mindesten überrascht, daß die ganze Welt über Ihre Ruchlosigkeit klagt.« »Aber welche ganze Welt tut das?« fragte Lord Henry, seine Brauen hochziehend. »Es kann nur die Nachwelt sein. Denn diese Welt und ich, wir stehen brillant miteinander.« »Alle meine Bekannten sagen, daß Sie sehr ruchlos sind!« rief die alte Dame den Kopf schüttelnd. Lord Henry sah einige Augenblicke ernsthaft aus. »Es ist ganz abscheulich,« sagte er schließlich, »wie die Leute heutzutage herumgehen und einem hinterm Rücken Dinge nachsagen, die ganz und gar auf Wahrheit beruhen.« »Ist er nicht unverbesserlich?« rief Dorian und beugte sich in seinem Stuhl vor. »Ich hoffe« sagte die Wirtin lachend. »Aber wenn Sie wirklich alle Madame de Ferrol in dieser lächerlichen Weise anbeten, so muß ich auch wieder heiraten, um in Mode zu kommen.« »Sie werden nie wieder heiraten, Lady Narborough«, unterbrach Lord Henry. »Sie waren viel zu glücklich. Wenn eine Frau wieder heiratet, so tut sie es, weil sie ihren ersten Mann verabscheute. Wenn ein Mann wieder heiratet, so tut er es, weil er seine erste Frau anbetete. Frauen versuchen ihr Glück, Männer setzen das ihre aufs Spiel.« »Narborough war nicht vollkommen!« rief die alte Dame. »Wenn er es gewesen wäre, hätten Sie ihn nicht geliebt, meine teure Lady«, war die Antwort. »Frauen lieben uns um unserer Fehler willen. Wenn wir ihrer genug haben, vergeben sie uns alles, selbst unseren Geist. Ich fürchte, Sie werden mich nie wieder zu einem Diner bitten, nachdem ich das gesagt habe, Lady Narborough, aber es ist völlig wahr.« »Natürlich ist es wahr, Lord Henry. Wenn wir Frauen euch nicht eurer Fehler halber liebten, wo wäret ihr alle? Nicht ein einziger von euch würde verheiratet sein. Und ihr wäret eine Sekte unglücklicher Junggesellen. Das würde aber nicht viel an euch ändern. Heutzutage leben alle Ehemänner wie Junggesellen und alle Junggesellen wie Ehemänner.« »~Fin de siècle~«, flüsterte Lord Henry. »~Fin du globe~«, entgegnete die Gastgeberin. »Ich wollte, es wäre ~fin du globe~«, sagte Dorian mit einem Seufzer. »Das Leben ist eine große Enttäuschung.« »Ah, mein Lieber!« rief Lady Narborough und zog ihre Handschuhe an, »sagen Sie mir nicht, daß Sie das Leben erschöpft haben. Wenn ein Mann das sagt, weiß man, daß das Leben ihn erschöpft hat. Lord Henry ist im höchsten Grade ruchlos, und ich wünsche manchmal, ich wäre es auch gewesen; aber Sie sind geschaffen, um gut zu sein -- Sie sehen so gut aus. Ich muß Ihnen eine hübsche Frau verschaffen. Lord Henry, meinen Sie nicht, daß Herr Gray heiraten sollte?« »Ich sage ihm das immer, Lady Narborough«, erwiderte Lord Henry mit einer Verbeugung. »Schön, so wollen wir uns nach einer guten Partie für ihn umsehen. Ich werde heute nacht den Adelskalender aufmerksam durchgehen und eine Liste aller in Frage kommenden jungen Damen aufstellen.« »Mit ihrer Altersangabe, Lady Narborough?« fragte Dorian. »Natürlich mit ihrem Alter, ein wenig retuschiert. Aber man darf nichts übereilen. Ich will, daß es genau das wird, was die Morning Post eine passende Verbindung nennt, und ihr sollt beide glücklich werden.« »Was die Menschen doch für einen Unsinn über glückliche Ehen reden!« rief Lord Henry. »Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich werden, solange er sie nicht liebt.« »Pfui! Was sind Sie für ein Zyniker!« rief die alte Dame, schob ihren Stuhl zurück und nickte Lady Ruxton zu. »Sie müssen bald wiederkommen und bei mir essen. Sie sind wirklich ein wunderbarer Appetitanreger, viel besser als das, was mir mein Hausarzt verschreibt. Sie müssen mir sagen, was für Leute Sie gern treffen würden. Es soll ein entzückendes Beisammensein werden.« »Ich liebe Männer, die eine Zukunft haben, und Frauen, die eine Vergangenheit haben«, antwortete er. »Oder beabsichtigen Sie, eine Weibergesellschaft zustande zu bringen?« »Ich fürchte fast«, sagte sie lachend, indem sie sich erhob. »Ach, verzeihen Sie tausendmal, Lady Ruxton,« fuhr sie fort, »ich habe nicht bemerkt, daß Sie mit Ihrer Zigarette noch nicht fertig waren.« »Macht nichts, Lady Narborough. Ich rauche viel zuviel. Ich muß mich darin in Zukunft einschränken.« »Bitte, tun Sie das nicht, Lady Ruxton«, sagte Lord Henry. »Mäßigung ist eine unglückliche Sache. Genug ist nicht besser als eine Mahlzeit. Mehr als genug ist so gut wie ein Festessen.« Lady Ruxton sah ihn neugierig an. »Lord Henry, Sie müssen mich eines Nachmittags besuchen und mir das erklären. Es klingt wie eine verlockende Theorie«, sagte sie, während sie aus dem Zimmer rauschte. »Jetzt bitte, sitzt mir nicht zu lange bei eurer Politik und euerm Klatsch!« rief Lady Narborough von der Tür aus. »Wenn ihr das tut, zanken wir sicher mit euch, wenn ihr nach oben kommt.« Die Männer lachten, und Herr Chapman stand feierlich vom Ende der Tafel auf und setzte sich oben hin. Dorian Gray wechselte seinen Platz und setzte sich neben Lord Henry. Herr Chapman begann mit lauter Stimme über die parlamentarische Lage zu sprechen. Er heulte laut auf über seine Widersacher. Das Wort Doktrinär -- ein Wort voller Schrecken für den britischen Geist -- tauchte von Zeit zu Zeit in seinen Wutausbrüchen auf. Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum Schmuck. Er hißte den Union Jack auf dem Mast des Gedankens auf. Die angestammte Dummheit der Rasse -- gesunder englischer Menschenverstand nannte er sie wohlwollend -- wurde als das Hauptbollwerk der Gesellschaft hingestellt. Ein Lächeln kräuselte Lord Henrys Lippen, und er drehte sich um und blickte zu Dorian hin. »Geht dir's jetzt besser, lieber Junge?« fragte er. »Du schienst bei Tisch gar nicht recht wohl zu sein.« »Mir ist ganz wohl. Ich bin müde. Sonst nichts.« »Du warst entzückend gestern abend. Die kleine Herzogin hat dich ganz in ihr Herzchen geschlossen. Sie hat mir erzählt, sie käme nach Selby.« »Sie hat mir versprochen, am zwanzigsten zu kommen.« »Wird Monmouth auch da sein?« »Oh, gewiß, Harry!« »Er langweilt mich entsetzlich, fast ebenso sehr, wie er sie langweilt. Sie ist sehr verständig, zu verständig für eine Frau. Es fehlt ihr der unbeschreibliche Reiz der Schwäche. Die tönernen Füße sind's, die erst das Gold der Bildsäule wertvoll machen. Ihre Füße sind ganz allerliebst, aber es sind keine Tonfüße. Weiße Porzellanfüße, wenn du willst. Sie sind schon im Feuer gewesen, und was das Feuer nicht zerstört, macht es hart. Sie hat ihre Erfahrungen.« »Wie lange ist sie verheiratet?« fragte Dorian. »Sie sagt, eine Ewigkeit. Nach dem Adelskalender, glaube ich, sind es wohl zehn Jahre, aber zehn Jahre mit Monmouth müssen wie eine Ewigkeit gewesen sein, wenn man die Zeit mitrechnet. Wer kommt sonst noch?« »Oh, die Willoughbys, Lord Rugby und seine Frau, unsere Wirtin, Geoffrey Clouston, die gewöhnliche Aufmachung. Ich habe auch Lord Grotrian gebeten.« »Den habe ich recht gern«, sagte Lord Henry. »Viele Leute können ihn nicht leiden, aber ich finde ihn reizend. Dafür, daß seine Kleidung manchmal übertrieben elegant ist, entschädigt er dadurch, daß er immer übertrieben gebildet ist. Es ist ein ganz moderner Typus.« »Ich weiß nicht, ob er kommen kann, Harry. Es ist möglich, daß er mit seinem Vater nach Monte Carlo muß.« »Ach, was für ein Kreuz die Familiensimpelei ist! Versuch doch, daß er kommt. Übrigens, Dorian, du bist gestern abend sehr früh weggelaufen. Du hast uns vor elf Uhr sitzen lassen. Was hast du denn noch vorgehabt? Bist du gleich nach Hause gegangen?« Dorian blickte ihn rasch an und runzelte die Stirn. »Nein, Harry,« sagte er endlich, »es war schon fast drei, als ich nach Hause kam.« »Warst du noch im Klub?« »Ja«, antwortete er. Dann biß er sich auf die Lippen. »Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich war nicht im Klub. Ich ging nur so herum. Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe... Wie du einen ins Verhör nimmst, Harry! Du willst immer wissen, was man getan hat. Ich will immer vergessen, was ich getan habe. Wenn du aber die genaue Zeit wissen willst, ich bin um halb drei nach Hause gekommen. Ich hatte meinen Hausschlüssel vergessen, und mein Diener mußte mich einlassen. Wenn du vielleicht noch eine Zeugenaussage über mein Alibi wünschst, kannst du ihn ja fragen.« Lord Henry zuckte die Achseln. »Aber, lieber Junge, als ob mir daran etwas läge? Wir wollen in den Salon hinauf. Keinen Sherry, nein danke, Herr Chapman. Dir ist etwas zugestoßen, Dorian. Sage mir, was es ist. Du bist heute abend nicht du selber.« »Sei nicht böse, Harry. Ich bin gereizt und übel gelaunt. Ich komme morgen oder übermorgen zu dir. Bitte, entschuldige mich bei Lady Narborough. Ich gehe nicht mehr hinauf. Ich gehe nach Hause. Ich muß nach Hause gehn.« »Schön, Dorian. Ich hoffe, dich morgen zum Tee zu sehen. Die Herzogin kommt.« »Ich will versuchen da zu sein, Harry«, sagte er und verließ das Zimmer. Als er nach Hause fuhr, merkte er, daß das Angstgefühl wiedergekehrt sei, das er erstickt zu haben glaubte. Lord Henrys zufällige Frage hatte ihm für einen Moment die Fassung genommen und nervös gemacht und er brauchte seine Nerven noch. Dinge, die Gefahr bringen konnten, mußten zerstört werden. Er schauerte zusammen. Der Gedanke, sie auch nur zu berühren, war ihm furchtbar. Und doch mußte es geschehen. Er war sich darüber klar, und als er die Tür seines Bibliothekzimmers verschlossen hatte, öffnete er den geheimen Schrank, in den er Basil Hallwards Mantel und Tasche gesteckt hatte. Es loderte ein mächtiges Feuer. Er legte noch ein Stück Holz nach. Der Geruch der sengenden Kleider und des schwelenden Leders war entsetzlich. Er brauchte drei Viertelstunden, um alles zu verbrennen. Als es vorbei war, fühlte er sich schwach und krank, und nachdem er einige algerische Räucherkerzchen in einer durchbrochenen Kupferpfanne angezündet hatte, wusch er sich Hände und Stirn in kaltem, moschusduftendem Essig. Plötzlich schrak er zusammen. Seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz und er nagte nervös an der Unterlippe. Zwischen zwei Fenstern stand ein großer Florentiner Ebenholzschrank mit Elfenbein und Lapislazuli eingelegt. Er starrte ihn an, als wär er ein Etwas, das fesseln und ängstigen könne, als schließe er etwas ein, das er sehnsüchtig begehrte und doch beinahe verabscheute. Sein Atem ging schneller. Eine wilde Gier überkam ihn. Er zündete eine Zigarette an und warf sie gleich wieder weg. Seine Augenlider senkten sich, bis die langen Wimpern fast die Wangen berührten. Aber er sah noch immer nach dem Schranke hin. Endlich erhob er sich vom Sofa, auf dem er gelegen hatte, ging zu dem Schrank hinüber, schloß ihn auf und drückte an eine geheime Feder. Ein dreieckiges Schubfach kam langsam zum Vorschein. Seine Finger bewegten sich instinktiv danach, griffen hinein und faßten etwas. Es war ein kleines chinesisches Kästchen aus schwarzem, goldbetupftem Lack, das sehr sorgfältig gearbeitet war, und dessen Seiten gekrümmte Wellenlinien zierten, und an dessen seidenen Schnüren runde Kristalle mit Quasten aus geflochtenen Metallfäden hingen. Er öffnete das Kästchen. Eine grünlich-glänzende, wachsartige Masse von seltsam schwerem und durchdringendem Geruch lag darin. Er zögerte ein paar Augenblicke mit einem seltsam unbeweglichen Lächeln auf seinem Antlitz. Dann schauerte er zusammen, obwohl es im Zimmer ganz außergewöhnlich heiß war, raffte sich auf und sah nach der Uhr. Es fehlten zwanzig Minuten an zwölf. Er legte das Kästchen zurück, schloß die Türen des Schrankes und ging in sein Schlafzimmer. Als die Mitternacht ihre metallenen Schläge durch die dunkle Luft schickte, schlich Dorian Gray in ordinärer Kleidung und ein Tuch um den Hals geschlungen, leise aus dem Hause. In Bond Street traf er eine Droschke mit einem guten Pferd. Er ließ sie halten und sagte dem Kutscher mit leiser Stimme eine Adresse. Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu weit«, brummte er. »Da haben Sie ein Goldstück. Sie sollen noch eins kriegen, wenn Sie rasch fahren.« »Schön, Herr!« antwortete der Mann, »wir werden in einer Stunde da sein«, und nachdem sein Fahrgast eingestiegen war, lenkte er um und fuhr rasch der Themse zu. Sechzehntes Kapitel Ein kalter Regen begann zu fallen und die flackernden Laternen sahen in dem herabsickernden Nebel geisterhaft aus. Die Schenken wurden eben geschlossen, und Männer und Frauen drängten sich in schattenhaften Gruppen vor den Türen. Aus einigen Wirtschaften scholl ein gräßliches Lachen. In anderen lärmten und grölten Betrunkene. In die Droschke zurückgelehnt, den Hut tief in die Stirn gezogen, blickte Dorian Gray mit gleichgültigen Augen auf das Elend und den Schmutz der Großstadt, und dann und wann wiederholte er sich die Worte, die ihm Lord Henry am ersten Tage, wo sie sich kennengelernt hatten, gesagt hatte: »die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen«. Ja, das war das Geheimnis. Er hatte es oft versucht und wollte es jetzt wieder versuchen. Es gab Opiumkneipen, wo man Vergessenheit kaufen konnte, Kneipen des Grauens, wo die Erinnerung an alte Sünden durch den Wahnsinn neuer ausgelöscht werden kann. Der Mond hing tief am Himmel wie eine gelbe Hirnschale. Von Zeit zu Zeit streckte eine dicke, unförmige Wolke einen langen Arm nach ihm aus und verbarg ihn. Die Gaslaternen wurden spärlicher und die Straßen enger und düsterer. Einmal verlor der Kutscher seinen Weg und mußte einige hundert Meter zurückfahren. Das Roß dampfte, während es in den Pfützen patschte. Die Seitenfenster des Wagens waren wie mit grauem Flanell ausgeschlagen. »Die Seele durch die Sinne und die Sinne durch die Seele zu heilen --!« Wie ihm die Worte in den Ohren klangen! Seine Seele war jedenfalls todkrank. War es denkbar, daß die Sinne sie heilen konnten? Unschuldiges Blut war vergossen worden. Welche Sühne konnte es dafür geben? Ach! dafür gab es keine Sühne; aber wenn auch Vergebung unmöglich war, Vergessen war doch möglich, und er war entschlossen, zu vergessen, die Sache zu Boden zu treten, sie zu vernichten wie eine Natter, die einen gebissen hat. Welches Recht hatte denn Basil gehabt, so zu ihm zu sprechen, wie er es getan hatte? Wer hatte ihn zum Richter über andere gesetzt? Er hatte Dinge gesagt, die schrecklich waren, entsetzlich, nicht zu ertragen. Weiter und weiter rollte die Droschke, und es schien ihm, als führe sie mit jedem Schritt langsamer. Er riß das Schiebefenster auf und rief dem Kutscher hinter ihm zu, schneller zu fahren. Der gräßliche Hunger nach Opium fing an, in ihm zu nagen. Die Kehle brannte ihm, und seine zarten Finger spielten nervös miteinander. Er schlug mit dem Spazierstock wie toll auf den Gaul ein. Der Kutscher lachte und hieb mit der Peitsche zu. Er lachte auch dazu, und der Mann auf dem Bocke schwieg. Der Weg schien endlos zu sein und die Straßen dehnten sich aus wie ein schwarzes, durcheinander gewirrtes Spinngewebe. Die Eintönigkeit wurde unerträglich, und als sich der Nebel dichter ballte, empfand er Furcht. Dann fuhren sie an einsamen Ziegeleien vorüber. Der Nebel ward hier durchsichtiger, und er konnte die merkwürdigen, kürbisflaschenartigen Brennöfen mit ihren orangefarbenen fächerartigen Feuerzungen erkennen. Ein Köter schlug an, als sie vorbeirasselten, und weit entfernt in der Dunkelheit schrie eine schlaflose Möwe. Das Pferd stolperte in irgendeiner Rinne, scheute und verfiel in Galopp. Nach einiger Zeit verließen sie den Lehmweg und ratterten wieder über ein holpriges Straßenpflaster. Die meisten Fenster waren dunkel, aber dann und wann sah man phantastische Schatten wie Silhouetten hinter einem erleuchteten Rouleau. Er spähte neugierig darauf hin. Sie bewegten sich wie riesenhafte Marionetten und gestikulierten wie lebende Wesen. Eine Art Haß auf sie überkam ihn. Ein dumpfer Zorn kochte in seinem Herzen. Als sie um eine Ecke bogen, rief ihnen ein Weib aus einer offenen Tür etwas zu, und zwei Männer rannten ein paar hundert Meter hinter der Droschke her. Der Kutscher schlug mit seiner Peitsche nach ihnen. Man sagt, die Leidenschaft wirble einem die Gedanken im Kreise umher. Jedenfalls formten die zerbissenen Lippen Dorian Grays in endloser Wiederholung die feingesetzten Worte von der Seele und den Sinnen und formten sie immer wieder, bis er in ihnen sozusagen den vollsten Ausdruck seiner Stimmung gefunden und durch die Zustimmung des Verstandes Leidenschaften gerechtfertigt hatte, die auch ohne solche Rechtfertigung sein Temperament beherrscht hätten. Von Zelle zu Zelle seines Gehirns kroch der eine Gedanke und die wilde Lebensgier, das schrecklichste aller menschlichen Hungergelüste, ließ sich jeden zuckenden Nerv und Muskel gewaltsam emporbäumen. Das Häßliche, das er einst gehaßt hatte, weil es den Dingen Wirklichkeit verlieh, wurde ihm jetzt aus demselben Grunde lieb. Das Häßliche war das einzig Wirkliche. Das rohe Geschrei, die ekelhafte Kneipe, die ordinäre Gewalttätigkeit eines liederlichen Lebens, die widerliche Verworfenheit der Diebe und Verbrecher waren in der intensiven Wirklichkeit ihrer Eindrücke mehr vom Leben erfüllt, als all die anmutigen Formen der Kunst, die träumerischen Schatten der Dichtung. Das war es, was er zum Vergessen brauchte. In drei Tagen würde er frei sein. Plötzlich hielt der Mann am Ende einer finstern Straße mit einem Ruck an. Über die niedrigen Dächer und gezackten Schornsteine der Häuser hinaus ragten die schwarzen Maste der Schiffe. Weiße Nebelfetzen hingen wie gespensterhafte Segel über den Werften. »Irgendwo hier, nicht wahr, Herr?« ertönte die rauhe Stimme des Kutschers durch das Schiebefenster. Dorian fuhr auf und blickte sich um. »Schon gut«, antwortete er, stieg rasch aus, gab dem Kutscher Trinkgeld, das er ihm versprochen hatte, und ging eilig dem Kai zu. Hier und da flimmerte eine Laterne am Heck eines großen Kauffahrers. Das Licht zitterte und zersplitterte sich in den Pfützen. Ein rotes Geglitzer kam von einem weit draußen ankernden Dampfer, der Kohlen verlud. Das schlüpfrige Pflaster sah aus wie ein regenglänzender Gummimantel. Er hastete nach links weiter und blickte sich dann und wann um, ob ihm niemand folgte. Nach sieben oder acht Minuten erreichte er ein kleines, elendes Haus, das zwischen zwei große Faktoreien eingequetscht war. In einem der Giebelfenster brannte eine Lampe. Er blieb stehen und klopfte wie auf eine verabredete Art an. Nach einer kleinen Pause hörte er Schritte im Flur und wie die Türkette losgemacht wurde. Die Tür öffnete sich vorsichtig, und er trat hinein, ohne ein Wort zu der kleinen erbärmlichen Gestalt zu sagen, die sich in den Schatten drückte, als er vorbeischritt. Am Ende des Flurs hing ein zerlumpter grüner Vorhang, der sich in dem starken Luftzug, den er von der Straße her mitbrachte, hin und her bauschte. Er schob ihn beiseite und trat in einen langen, niedrigen Raum, der so aussah, als wäre er früher ein Tanzlokal dritten Ranges gewesen. Grell flackernde Gasflammen, die in den fliegenbeschmutzten Spiegeln gegenüber matt und verzehrt erschienen, brannten rings an den Wänden. Schmierige Reflektoren aus geripptem Wellblech waren dahinter angebracht und warfen tanzende Lichtkreise. Der Boden war mit ockerfarbigen Sägespänen bestreut, die an einzelnen Stellen zu Schmutzklumpen zertreten waren und auf denen sich von vergossenen Getränken schwarze Ringe abzeichneten. Ein paar Malaien hockten mit untergeschlagenen Beinen an einem kleinen Kohlenofen, spielten mit knöchernen Würfeln und zeigten beim Sprechen ihre weißlichen Zähne. In einem Winkel, den Kopf auf die Hände gestützt, räkelte sich ein Matrose über den Tisch, und an dem schreiend bemalten Büfett, das eine ganze Seite des Raumes einnahm, standen zwei heruntergekommene Weibspersonen und höhnten einen alten Mann, der mit einem Ausdruck des Ekels die Ärmel seines Rockes bürstete. »Er denkt, er hat sich Läuse geholt«, lachte die eine, als Dorian vorüberging. Der Mann sah sie erschreckt an und begann zu jammern. Am Ende des Zimmers war eine kleine Treppe, die in eine verdunkelte Kammer führte. Als Dorian die drei wackligen Stufen hinaufhastete, schlug ihm der schwere Geruch des Opiums entgegen. Er holte tief Atem, und seine Nasenflügel zitterten vor Lust. Als er eintrat, blickte ein junger Mann mit glattgescheiteltem Blondhaar zu ihm auf, der sich über eine Lampe beugte, an der er eine lange, dünne Pfeife anzündete, und zögernd nickte. »Du hier, Adrian?« flüsterte Dorian. »Wo soll ich sonst sein?« antwortete er gleichgültig. »Kein Mensch will jetzt mehr mit mir sprechen.« »Ich dachte, du wärst aus England fort?« »Darlington wird nichts gegen mich unternehmen. Mein Bruder hat den Wechsel schließlich gezahlt. George spricht auch nicht mehr mit mir ... Ist mir auch einerlei«, fügte er seufzend hinzu. »Solange man noch das Zeug da hat, braucht man keine Freunde. Ich denke, ich habe zu viele Freunde gehabt.« Dorian zuckte zusammen und sah sich nach den grotesken Gestalten um, die da in so abenteuerlichen Stellungen auf den zerlumpten Matratzen lagen. Die verkrümmten Glieder, die offenen Mäuler, die stierenden, glanzlosen Augen übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Er kannte die absonderlichen Paradiese, in denen sie litten, und welche dumpfe Höllen sie in das Geheimnis neuer Genüsse einweihten. Sie waren besser daran als er. Ihn hielten seine Gedanken eingekerkert. Die Erinnerung fraß wie eine fürchterliche Krankheit an seiner Seele. Von Zeit zu Zeit glaubte er die Augen Basil Hallwards auf sich gerichtet zu sehen. Aber er fühlte, daß er hier nicht bleiben konnte. Die Anwesenheit Adrian Singletons störte ihn. Er wollte irgendwo sein, wo ihn niemand kennt. Er wollte sich selbst entfliehen. »Ich gehe in das andere Lokal«, sagte er nach einer Pause. »Auf der Werft?« »Ja.« »Die tolle Katze ist sicher da. Sie wollen sie hier nicht mehr haben.« Dorian zuckte die Achseln. »Ich habe die Weiber, die einen lieben, satt. Weiber, die einen hassen, sind viel interessanter. Übrigens ist dort der Stoff besser.« »Ganz derselbe.« »Mir schmeckt er da besser. Komm, wir wollen was trinken. Ich muß was haben.« »Ich brauche nichts«, murmelte der junge Mann. »Macht nichts.« Adrian Singleton stand schläfrig auf und folgte Dorian ans Büfett. Ein Mischling in zerrissenem Turban und schäbigem Ulster grinste ihnen einen widerlichen Gruß zu, als er zwei Gläser und eine Branntweinflasche vor sie hinstellte. Die Weiber torkelten herbei und begannen zu schwatzen. Dorian kehrte ihnen den Rücken zu und sagte leise etwas zu Adrian Singleton. Ein Grinsen gleich einem krummen malaischen Dolch verzerrte das Gesicht des einen Weibes. »Wir sind sehr stolz heute abend«, höhnte sie lachend. »Um Gottes willen, rede nicht mit mir!« schrie Dorian und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Was willst du? Geld? Da! Aber sprich kein Wort mehr zu mir!« Zwei rote Funken blitzten für einen Augenblick in den wässerigen Augen des Weibes auf, dann verloschen sie wieder und ließen sie trübe und gläsern erscheinen. Sie warf den Kopf in den Nacken und raffte mit gierigen Fingern die Münzen auf dem Schenktisch zusammen. Ihre Gefährtin beobachtete sie neidisch. »Es hat keinen Zweck«, sagte Adrian Singleton seufzend. »Ich will nicht mehr zurück. Was macht's aus? Ich fühle mich hier ganz wohl.« »Du wirst mir doch schreiben, wenn du was brauchst?« fragte Dorian nach einer Weile. »Vielleicht.« »Dann gute Nacht!« »Gute Nacht!« antwortete der junge Mann, schritt die Stufen hinauf und wischte sich den trockenen Mund mit dem Taschentuch ab. Dorian schritt mit einem qualvollen Zug im Gesicht zur Tür. Als er den Vorhang beiseitezog, scholl ein gräßliches Lachen von den geschminkten Lippen des Weibes, das sein Geld genommen hatte. »Da geht er hin, der Seelenverschacherer!« stieß sie mit einer heiser glucksenden Stimme hervor. »Der Satan hol' dich!« antwortete er, »du sollst mich nicht so nennen!« Sie schnippte mit den Fingern. »Was, du willst wohl Prinz Märchenschön genannt werden, das paßte dir, he?« kreischte sie hinter ihm her. Bei diesen Worten sprang der schläfrige Matrose auf und blickte sich wild um. Das Geräusch der zufallenden Haustür drang an sein Ohr. Er stürzte hinaus, als ob er ihn verfolgen wollte. Dorian Gray eilte rasch durch den herabstäubenden Regen den Kai entlang. Sein Zusammentreffen mit Adrian Singleton hatte ihn sonderbar bewegt, und er grübelte darüber nach, ob der Untergang dieses jungen Lebens wirklich sein Werk war, wie ihm Basil Hallward mit so schändlicher Beschimpfung schuldgegeben hatte. Er biß sich auf die Lippen, und für ein paar Augenblicke wurde sein Auge traurig. Aber schließlich, was ging es ihn an? Das bißchen Leben war zu kurz, als daß man die Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus. Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell war. Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert. Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich. »Was wollen Sie?« keuchte er. »Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich nieder!« »Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?« »Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort, »und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute nacht mußt du sterben.« Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind verrückt.« »Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen -- nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!« Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? Rasch, sagen Sie!« »Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die Jahre?« »Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein Gesicht an!« James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus. So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der Mann war, der ihr Leben zerstört hatte. Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!« Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.« »Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die falsche Spur.« »Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter. James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken hatten. »Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr! Du hättest ihn totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.« »Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.« Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!« »Du lügst!« schrie James Vane. Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief sie. »Bei Gott?« »Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu. »Beschwörst du das?« »Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.« Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg. Siebzehntes Kapitel Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten brasilianischen Käfer betraf, den er seiner Sammlung einverleibt hatte. Drei junge Leute in gewählter Gesellschaftstoilette boten den Damen Teekuchen an. Die Gesellschaft bestand aus zwölf Personen, und für den nächsten Tag wurden noch einige erwartet. »Worüber sprecht ihr beide?« fragte Lord Henry, während er gemächlich zu dem Teetisch ging und seine Tasse niederstellte. »Ich hoffe, Dorian hat dir von meinem Plan, alles umzutaufen, erzählt, Gladys. Es ist eine allerliebste Idee.« »Aber ich will nicht umgetauft werden, Harry«, erwiderte die Herzogin und sah ihn mit ihren reizend schönen Augen an. »Ich bin mit meinem Namen ganz zufrieden und ich denke, Herr Gray kann auch mit seinem zufrieden sein.« »Meine teure Gladys, ich würde um keinen Preis der Welt einen der beiden Namen umändern wollen. Sie sind beide vollendet. Ich dachte hauptsächlich an Blumen. Gestern schnitt ich mir eine Orchidee für mein Knopfloch. Es war eine wundervoll gesprenkelte Blume, so wirkungsvoll wie die sieben Todsünden. In einem Anfall von Gedankenträgheit fragte ich einen der Gärtner, wie sie heiße. Er sagte mir, es sei ein schönes Exemplar der Robinsoniana oder irgendeine derartige gräßliche Bezeichnung. Es ist eine traurige Wahrheit, aber wir haben die glückliche Gabe verloren, den Dingen schöne Namen zu geben. Und Namen sind alles. Ich kämpfe nie gegen Taten an. Mein einziger Kampf richtet sich gegen die Worte. Das ist der Grund, weshalb ich den vulgären Realismus in der Literatur verabscheue. Der Mann, der imstande ist, einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen werden, selbst einen in die Hand zu nehmen. Es ist die einzige Sache, zu der er tauglich wäre.« »Wie sollen wir also dich nennen, Harry?« fragte sie. »Sein Name ist Prinz Paradox«, sagte Dorian. »Der wird sofort akzeptiert!« rief die Herzogin. »Ich will ihn nicht hören«, lachte Lord Henry und ließ sich in ein Fauteuil fallen. »Vor einem solchen Etikettchen kann man sich nicht retten. Ich weise den Titel zurück.« »Fürstlichkeiten können nicht abdanken«, warnten ihn schöne Lippen. »Du willst also, daß ich meinen Thron verteidige?« »Ja.« »Ich sage die Wahrheiten von morgen.« »Ich ziehe die Irrtümer von heute vor«, antwortete sie. »Du entwaffnest mich, Gladys!« rief er, entzückt von ihrer übermütigen Laune. »Deines Schildes, Harry, nicht deines Speeres.« »Ich kämpfe nie gegen Schönheit«, sagte er mit einer huldigenden Handbewegung. »Das ist dein Fehler, Harry, glaube mir's. Du überschätzest die Schönheit.« »Wie kannst du das sagen? Ich gebe zu, daß ich es für besser halte, schön zu sein als gut. Aber andererseits ist niemand eher als ich bereit zuzugeben, daß es besser ist, gut zu sein als häßlich.« »Dann also ist Häßlichkeit eine der sieben tödlichen Sünden?« rief die Herzogin. »Wie steht es nun mit deinem Orchideengleichnis?« »Häßlichkeit ist eine von den sieben tödlichen Tugenden, Gladys. Du als gute Tory darfst sie nicht unterschätzen. Das Bier, die Bibel und die sieben tödlichen Tugenden haben aus England gemacht, was es heute ist.« »Du liebst also dein Vaterland nicht?« fragte sie. »Ich lebe darin.« »Damit du es besser tadeln kannst.« »Sähest du es lieber, daß ich mir das Urteil Europas über unser Land aneigne?« fragte er. »Was sagt man von uns?« »Daß Tartüff nach England ausgewandert sei und dort einen Laden aufgemacht habe.« »Ist das von dir, Harry?« »Ich schenke es dir.« »Ich kann's nicht gebrauchen. Es ist zu wahr.« »Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Unsere Landsleute erkennen sich nie in ihrem Steckbrief wieder.« »Du bist so praktisch.« »Eher gerissen als praktisch. Wenn sie ihr Kontokorrent abschließen, dann saldieren sie Dummheit mit Reichtum und Laster mit Heuchelei.« »Und doch haben wir große Dinge vollbracht.« »Große Dinge sind uns auferlegt worden, Gladys.« »Wir haben ihre Last zu tragen vermocht.« »Nur bis zur Börse.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube an unsere Rasse!« rief sie. »Sie vertritt den überlebenden Ellbogenstreber.« »Sie hat das Zeug zur Entwicklung.« »Verfall reizt mich mehr.« »Und die Kunst?« fragte sie. »Eine Krankheit.« »Liebe?« »Einbildung.« »Religion?« »Modesurrogat für den Glauben.« »Du bist ein Skeptiker!« »Niemals! Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.« »Was bist du?« »Definieren heißt beschränken.« »Reich mir den Ariadnefaden!« »Fäden zerreißen. Du wurdest deinen Weg im Labyrinth verlieren.« »Du machst mich wirre. Laß uns von einem anderen sprechen.« »Unser Wirt ist ein entzückendes Thema. Vor vielen Jahren nannte man ihn den Prinz Märchenschön.« »Ach! Erinnere mich nicht daran!« rief Dorian Gray. »Unser Wirt ist recht greulich heute abend«, antwortete die Herzogin und errötete. »Er denkt wohl, Monmouth habe mich nur aus wissenschaftlichen Gründen geheiratet, weil ich das beste Musterbeispiel eines modernen Schmetterlings bin.« »Ich hoffe aber, er wird Sie nicht auf Stecknadeln spießen, Frau Herzogin«, lachte Dorian. »Oh! Das besorgt schon meine Kammerjungfer, Herr Gray, wenn sie sich über mich ärgert.« »Und worüber ärgert sie sich, Frau Herzogin?« »Über die geringsten Dinge, Herr Gray, glauben Sie nur! Gewöhnlich, wenn ich zehn Minuten vor neun nach Hause komme und ihr sage, daß ich bis halb neun angezogen sein muß.« »Wie unvernünftig von ihr! Sie sollten ihr den Laufpaß geben!« »Das wag' ich nicht, Herr Gray. Sie erfindet nämlich meine Hüte. Sie erinnern sich nicht an den Hut, den ich auf Lady Hilstones Gartenfest getragen habe? Natürlich nicht, aber es ist hübsch von Ihnen, daß Sie so tun. Also der war geradezu aus nichts gemacht. Alle guten Hüte werden aus nichts gemacht.« »Wie jeder gute Ruf, Gladys!« unterbrach Lord Henry. »Jede Wirkung, die man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß eine Mittelmäßigkeit sein, wenn man eine Beliebtheit sein will.« »Nicht unter Frauen«, sagte die Herzogin und schüttelte den Kopf; »und Frauen regieren die Welt. Ich behaupte steif und fest, wir können Mittelmäßigkeiten nicht vertragen. Wir Frauen, hat mal jemand gesagt, lieben mit den Ohren, gerade so, wie ihr Männer mit den Augen liebt, wenn ihr überhaupt liebt.« »Es scheint mir, daß wir überhaupt nie etwas anderes tun«, flüsterte Dorian. »Ach! Herr Gray, dann lieben Sie nie in Wirklichkeit«, antwortete die Herzogin wie in spöttischer Trauer. »Meine liebe Gladys.« rief Lord Henry. »Wie kannst du das sagen? Die Romantik lebt von Wiederholung, und die Wiederholung verwandelt jeden Anreiz in Kunst. Übrigens, jedesmal, wenn man liebt, ist es das erstemal, daß man geliebt hat. Die Verschiedenheit des Objektes verändert die Einzigkeit der Leidenschaft nicht. Sie macht sie nur stärker. Wir können im Leben bestenfalls nur ein einziges großes Erlebnis haben, und das Geheimnis des Lebens besteht darin, dieses Erlebnis so oft als möglich zu wiederholen.« »Selbst wenn es einen verwundet hat, Harry?« fragte die Herzogin nach einer Pause. »Besonders wenn es einen verwundet hat«, entgegnete Lord Henry. Die Herzogin wandte sich um und sah Dorian Gray an mit einem seltsamen Ausdruck in ihren Augen. »Was sagen Sie dazu, Herr Gray?« forschte sie. Dorian zögerte einen Augenblick. Dann warf er den Kopf zurück und lachte. »Ich stimme mit Harry immer überein, Frau Herzogin.« »Auch wenn er unrecht hat?« »Harry hat nie unrecht, Frau Herzogin.« »Und macht Sie seine Philosophie glücklich?« »Glück habe ich nie gesucht. Wer braucht Glück? Ich habe Vergnügen gesucht.« »Und gefunden, Herr Gray?« »Oft. Zu oft.« Die Herzogin seufzte. »Ich suche Frieden,« sagte sie, »und wenn ich jetzt nicht gehe und mich anziehe, habe ich ihn heut abend nicht.« »Lassen Sie mich Ihnen ein paar Orchideen holen, Frau Herzogin!« rief Dorian, sprang auf und ging ins Gewächshaus hinunter. »Du flirtest ganz schändlich mit ihm«, sagte Lord Henry zu seiner Kusine. »Du solltest dich lieber in acht nehmen. Er kann sehr faszinieren.« »Wenn er es nicht könnte, gäb's keinen Kampf.« »Also Griechen kämpfen gegen Griechen?« »Ich bin auf seiten der Trojaner. Sie kämpften für ein Weib.« »Sie wurden besiegt.« »Es gibt ärgere Dinge als Gefangenschaft«, erwiderte sie. »Du galoppierst mit verhängtem Zügel.« »Das Tempo macht Leben«, war die Antwort. »Ich will mir das heut abend in mein Tagebuch schreiben.« »Was?« »Daß ein gebranntes Kind das Feuer liebt.« »Ich bin noch nicht einmal versengt. Meine Flügel sind unberührt.« »Du gebrauchst sie zu allem, nur nicht zur Flucht.« »Der Mut ist von den Männern zu den Frauen gewandert. Das ist ein neues Erlebnis für uns.« »Du hast eine Rivalin.« »Wen?« Er lachte. »Lady Narborough«, flüsterte er. »Sie betet ihn an.« »Du machst mir Angst. Die Beschwörung des Altertums ist für uns Romantiker stets gefährlich.« »Romantiker! Du hast alle Methoden der Wissenschaft.« »Männer haben uns erzogen.« »Aber nicht erklärt.« »Gib uns eine Definition unseres Geschlechtes«, forderte sie ihn heraus. »Sphinxe ohne Geheimnisse.« Sie sah ihn lächelnd an. »Wie lange Herr Gray wegbleibt«, sagte sie. »Wir wollen ihm helfen. Ich habe ihm noch nicht einmal die Farbe meines Kleides angegeben.« »Pah! Du mußt dein Kleid seinen Blumen anpassen, Gladys.« »Das wäre eine zu frühe Übergabe.« »Die romantische Kunst beginnt mit dem Höhepunkt.« »Ich muß mir die Möglichkeit des Rückzuges offen halten.« »Wie die Parther?« »Sie fanden Schutz in der Wüste. Mir wäre das nicht möglich.« »Man läßt den Frauen nicht immer die Wahl«, entgegnete er; aber kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, als von dem äußersten Winkel des Gewächshauses her ein unterdrücktes Stöhnen kam, dem das dumpfe Gerausch eines schweren Falles folgte. Alles sprang auf. Die Herzogin stand regungslos da vor Schreck. Mit ängstlichen Augen stürzte Lord Henry durch die wehenden Fächer der Palmen und fand Dorian Gray in einer todesähnlichen Ohnmacht am Boden liegend, mit dem Gesicht auf den kühlen Fliesen. Er wurde sofort in den blauen Salon gebracht und auf ein Sofa gelegt. Nach einer kurzen Weile kam er wieder zu sich und sah sich verstört um. »Was ist geschehen?« fragte er. »Ach! jetzt fällt mir's ein. Bin ich hier sicher, Harry?« Er begann zu zittern. »Mein lieber Dorian,« antwortete Lord Henry, »es war ein Ohnmachtsanfall. Weiter nichts. Du mußt dich wohl übermüdet haben. Komm lieber nicht zum Diner hinunter. Ich werde dich vertreten.« »Nein, ich will herunterkommen«, sagte er und mühte sich, auf den Füßen zu stehen. »Ich komme lieber herunter! Ich darf nicht allein sein.« Er ging in sein Zimmer und zog sich um. Als er bei Tisch saß, war in seinem Gehaben eine wilde, übermütige Lustigkeit, aber hin und wieder überlief ihn ein Angstschauer, wenn er sich erinnerte, daß er, gegen die Fensterscheiben des Gewächshauses gepreßt, das lauernde Gesicht James Vanes wie ein weißes Tuch erblickt hatte. Achtzehntes Kapitel Am nächsten Tage verließ er das Haus nicht und verbrachte den größten Teil der Zeit in seinem Zimmer, durchrüttelt von einer wilden Todesfurcht und dem Leben gegenüber doch gleichgültig. Das Bewußtsein, gejagt, umzingelt, aufgestöbert zu werden, fing an, ihn gänzlich zu beherrschen. Wenn nur die Vorhänge im Winde rauschten, schrak er zusammen. Die toten Blätter, die gegen die verbleiten Scheiben gefegt wurden, schienen ihm seine eigenen vergeudeten Vorsätze und ungestümen Gewissensbisse zu sein. Wenn er die Augen schloß, sah er wieder das Gesicht des Matrosen vor sich, wie es durch das feuchtbeschlagene Glas stierte, und das Entsetzen schien ihm noch einmal seine Hand aufs Herz zu legen. Aber vielleicht war es nur seine Phantasie gewesen, die die Rache aus der Nacht heraufbeschworen und ihm die gräßliche Gestalt der Strafe vorgetäuscht hatte. Das wirkliche Leben war ein Chaos, aber es war eine furchtbare Logik in der Phantasie. Die Phantasie hetzte die Gewissensbisse hinter den flüchtigen Sohlen der Sünde her. Die Phantasie ließ jedes Verbrechen seine mißgestaltete Brut in sich tragen. In der gewöhnlichen Welt der Tatsachen wurden die Schlechten so wenig bestraft wie die Guten belohnt. Der Erfolg gehörte den Starken, Unglück machte die Schwachen unterliegen. Das war alles. Zudem, wenn ein Fremder um das Haus herumgestrolcht wäre, so hätten ihn die Diener oder Wächter entdeckt. Wären irgendwelche Fußtapfen in den Beeten bemerkt worden, so hätten es die Gärtner gemeldet. Ja: es war alles bloße Einbildung. Sybil Vanes Bruder war nicht zurückgekommen, um ihn zu ermorden. Er war mit seinem Schiff abgesegelt, um in irgendeiner arktischen See zu ertrinken. Vor dem war er also sicher. Der Mann wußte gar nicht, wer er war und konnte es nicht wissen. Die Maske der Jugend hatte ihn gerettet. Und doch, wenn es eine bloße Ausgeburt der Einbildung gewesen war, wie schrecklich war doch der Gedanke, daß das Gewissen so fürchterliche Hirngespinste entstehen lassen und ihnen sichtbare Form und Bewegung geben konnte! Was für eine Art Leben würde er führen, wenn Tag und Nacht die Schatten seines Verbrechens aus düsteren Winkeln nach ihm spähten, ihn von geheimen Stellen aus neckten, ihm ins Ohr flüsterten, wenn er beim Mahle saß, ihn mit eisigen Fingern weckten, wenn er schlief! Als dieser Gedanke durch sein Hirn kroch, wurde er blaß vor Schrecken, und die Luft schien ihm plötzlich kälter geworden zu sein. Oh! in was für einer wilden Wahnsinnsstunde hatte er seinen Freund umgebracht! Wie bluterstarrend war nur die Erinnerung an diese Szene! Er sah es alles wieder. Jede gräßliche Einzelheit kam mit vermehrtem Entsetzen wieder zu ihm. Aus dem schwarzen Grabverlies der Zeit stieg schrecklich und in Scharlachrot gehüllt das Bild seiner Sünde empor. Als Lord Henry um sechs Uhr eintrat, fand er ihn schluchzend, als ob ihm das Herz brechen wolle. Erst am dritten Tage wagte er auszugehen. Es lag etwas in der klaren, tannenduftenden Luft dieses Wintermorgens, das ihm seine Fröhlichkeit und seine Lebenslust wiederzugeben schien. Aber nicht nur die physischen Bedingungen seiner Umgebung hatten diese Wandlung zuwege gebracht. Seine eigene Natur hatte sich gegen das Übermaß der Angst empört, die ihre vollendete Ruhe zu stören und zu vernichten versucht hatte. Mit feinen und subtil organisierten Temperamenten ist es immer so. Ihre heftigen Leidenschaften können nur Hammer oder Amboß sein. Entweder töten sie den Menschen oder sterben selbst. Oberflächliche Sorgen, oberflächliche Liebesempfindungen können weiter leben. Tiefe Liebesempfindungen und große Sorgen gehen durch ihre eigene Überfülle zugrunde. Überdies hatte er sich jetzt überzeugt, daß er das Opfer einer erschreckten Einbildungskraft gewesen war, und sah jetzt auf seine Ängste mit einer Art Mitleid und nicht geringer Verachtung zurück. Nach dem Frühstück ging er mit der Herzogin ein Stündchen im Garten spazieren und fuhr dann durch den Park, um mit der Jagdgesellschaft zusammenzutreffen. Der feinperlige Reif lag wie Salz auf dem Rasen. Der Himmel sah aus wie ein umgestülpter Pokal aus blauem Metall. Ein dünner Eisgallert umsäumte den seichten, schilfbewachsenen Teich. Am Eingang des Tannenwaldes erblickte er Sir Geoffrey Clouston, den Bruder der Herzogin, der eben zwei verschossene Patronen aus seiner Flinte stieß. Dorian sprang aus dem Wagen, sagte dem Groom, er solle mit dem Gespann nach Hause fahren, und ging durch das welke Farnkraut und das gestrüppige Unterholz auf seinen Gast zu. »Gute Jagd gehabt, Geoffrey?« fragte er. »Nicht berühmt, Dorian. Die meisten Vögel, glaub' ich, sind auf die Felder geflüchtet. Vielleicht wird's nachmittag besser sein, wenn wir auf frisches Revier kommen.« Dorian schlenderte neben ihm weiter. Die starke, aromatische Luft, die braunen und roten Lichter, die den Wald durchflimmerten, das rauhe Geschrei der Treiber, das von Zeit zu Zeit aufgellte, und der scharfe Knall der Flinten, der dann folgte, das alles fesselte ihn und erfüllte ihn mit einem Gefühl entzückender Freiheit. Er war beherrscht von einem sorglosen Glück, von einer großartigen Gleichgültigkeit der Freude. Plötzlich brach aus einem dicken Büschel alten Grases, vielleicht zwanzig Meter vor ihnen, ein Hase aus, die schwarzgesprenkelten Löffel steif aufgerichtet und die langen Hinterläufe nach vorn werfend. Er schnellte auf ein Erlendickicht los. Sir Goeffrey riß das Gewehr an die Schulter, aber in der anmutigen Bewegung des Tieres lag etwas, das Dorian Gray seltsam entzückte, und er rief hastig: »Schieß nicht, Geoffrey. Laß ihn laufen!« »Ach, Unsinn, Dorian«, sagte lachend sein Gefährte, und noch ehe der Hase in das Dickicht setzte, schoß er zu. Man hörte zwei Schreie, den Schrei eines verwundeten Hasen, der schrecklich ist, und den Schrei eines sterbenden Menschen, der noch schrecklicher ist. »Gott im Himmel, ich habe einen Treiber getroffen!« rief Sir Geoffrey aus. »Was für 'n Esel der Mann ist, einem direkt vors Gewehr zu laufen! Hört auf mit Schießen!« rief er mit seiner lautesten Stimme. »Ein Mann ist getroffen worden!« Der Hegemeister kam mit einem Stock in der Hand herbeigelaufen. »Wo, Herr? Wo ist er?« rief er. Im selben Augenblick hörte das Schießen auf der ganzen Linie auf. »Hier!« antwortete Sir Geoffrey ärgerlich und rannte auf das Dickicht zu. »Warum, zum Kuckuck, halten Sie Ihre Leute nicht weiter zurück? Für heute hab' ich die ganze Jagd im Magen.« Dorian sah ihnen nach, wie sie in die Erlenbüsche eindrangen und die biegsamen Zweige zur Seite bogen. Nach einigen Augenblicken erschienen sie wieder und zogen einen Körper ans Tageslicht. Er wandte sich entsetzt ab. Es schien ihm, als folge ihm das Mißgeschick überallhin. Er hörte, wie Sir Geoffrey fragte, ob der Mann wirklich tot wäre, und vernahm die bejahende Antwort des Hegemeisters. Es schien ihm, als wimmele der Wald urplötzlich von Gesichtern. Er hörte das Gelaufe von unzähligen Füßen und das gedämpfte Flüstern von Stimmen. Ein großer Fasan mit kupferfarbener Brust rauschte durch die Äste über ihm dahin. Nach einigen Augenblicken, die ihm in seiner Fassungslosigkeit wie endlose, peinvolle Stunden vorkamen, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen und wandte sich um. »Dorian,« sagte Lord Henry, »ich halt 's für richtiger, die Jagd für heute beendet sein zu lassen. Es würde nicht gut aussehen, sie fortzusetzen.« »Ich wollte, sie wäre für immer beendet, Harry«, antwortete er bitter. »Die ganze Geschichte ist gräßlich und grausam ist der Mann...?« Er konnte den Satz nicht vollenden. »Ja leider«, entgegnete Lord Henry. »Er hat die ganze Ladung in die Brust gekriegt. Er muß augenblicklich gestorben sein. Komm, wir wollen nach Hause.« Sie schritten nebeneinander auf die Allee zu und sprachen etwa fünfzig Meter weit kein Wort. Dann sah Dorian Lord Henry an und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Das ist ein böses Omen, Harry, ein sehr böses Omen.« »Was denn?« fragte Lord Henry. »Oh! diesen Unglücksfall meinst du. Lieber Junge, daran ist nichts zu ändern. Der Mann hatte ja selber schuld. Warum lief er in die Schußlinie? Überdies ist es nicht unsere Sache. Für Geoffrey ist es natürlich nicht gerade angenehm! Es ist nicht hübsch, Treiber niederzupuffen. Die Leute denken gleich, man wäre ein Sonntagsjäger. Und das ist Geoffrey nicht; er schießt sogar brillant. Aber es hat keinen Zweck, über den Unfall weiter zu reden.« Dorian schüttelte den Kopf. »Es ist ein böses Omen, Harry. Ich habe das Gefühl, als müßte einem von uns etwas Schreckliches zustoßen. Mir selbst vielleicht«, fügte er hinzu und legte mit einer schmerzlichen Bewegung die Hand über die Augen. Der ältere lachte. »Das einzig Schreckliche in der Welt ist Langeweile, Dorian. Das ist die einzige Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Aber wir werden darunter schwerlich zu leiden haben, wenn die Gesellschaft bei Tisch nicht etwa noch über die Sache viel Aufhebens macht. Ich muß den Leuten sagen, daß dieses Thema einfach Tabu ist. Und Omina --so was wie Omina gibt's nicht. Das Geschick sendet uns keine Herolde. Es ist zu weise dazu oder zu grausam. Übrigens, was in aller Welt sollte dir geschehen, Dorian? Du hast alles, was sich ein Mensch hienieden wünschen kann. Ich wüßte niemand, der nicht freudig mit dir tauschen möchte.« »Es gibt keinen, mit dem ich nicht tauschen möchte, Harry. Lach' nicht darüber. Ich spreche die Wahrheit. Der elende Bauer, der da gestorben ist, ist besser daran als ich. Ich habe keine Angst vor dem Tode. Das Sterben ist's, wovor ich mich ängstige. Seine ungeheuren Flügel scheinen mich rings in der bleiernen Luft zu umschatten. Herr des Himmels, siehst du nicht, daß da hinter den Bäumen ein Mann auf mich lauert und mich beobachtet?« Lord Henry sah in die Richtung, wohin die behandschuhte Hand zitternd wies. »Ja,« sagte er lächelnd, »ich sehe da den Gärtner auf dich warten. Er will dich vermutlich fragen, welche Blumen du heute auf dem Tisch haben willst. Wie lächerlich nervös du heute bist, lieber Junge! Du mußt gleich meinen Doktor konsultieren, wenn wir wieder in der Stadt sind.« Dorian seufzte erleichtert auf, als er den Gärtner herankommen sah. Der Mann legte die Hand an den Hut, blickte erst zaudernd auf Lord Henry und zog dann einen Brief hervor, den er seinem Herrn überreichte. »Ihre Gnaden hat mir aufgetragen, auf Antwort zu warten«, sagte er halblaut. Dorian steckte den Brief in die Tasche. »Sagen Sie Ihrer Gnaden, ich würde kommen«, sagte er kühl. Der Mann kehrte um und schritt rasch dem Hause zu. »Wie gern doch die Frauen gefährliche Dinge tun!« sagte Lord Henry lachend. »Das ist eine von ihren Eigenschaften, die ich am meisten bewundere. Eine Frau ist mit jedem auf der Welt zu flirten bereit, solange andere Leute dabei Zuschauer sind.« »Wie gern du doch gefährliche Dinge sagst, Harry! In diesem Falle bist du aber ganz auf dem Holzwege. Ich habe die Herzogin sehr gern, aber ich liebe sie nicht.« »Und die Herzogin liebt dich sehr, aber sie hat dich nicht gern, also paßt ihr beide famos zusammen.« »Du machst Klatschereien, Harry, und diesmal ist gar kein Grund zu Klatschereien vorhanden.« »Die Grundlage für jeden Klatsch ist eine unmoralische Verläßlichkeit«, sagte Lord Henry und zündete sich eine Zigarette an. »Du würdest jeden von uns bloßstellen, Harry, um einen Witz zu machen.« »Die Welt legt sich aus freien Stücken auf den Opferaltar«, war die Antwort. »Ich wollte, ich könnte lieben!« rief Dorian Gray mit einem tiefpathetischen Klang in seiner Stimme. »Aber es scheint, ich habe die Glut der Leidenschaft verloren und die Sehnsucht des Begehrens vergessen. Ich bin zu sehr in mich selber konzentriert. Meine eigene Person ist eine Last für mich geworden. Ich möchte entfliehen, weggehen, vergessen. Es war albern von mir, überhaupt herzukommen. Ich denke, ich telegraphiere an Harvey, daß er die Jacht instand setzt. Auf einer Jacht ist man sicher.« »Wovor sicher, Dorian? Du hast Unruhe. Warum sagst du mir nicht, was es ist? Du weißt, daß ich dir helfen könnte.« »Ich kann es dir nicht sagen, Harry«, erwiderte er traurig. »Und es mag wohl alles nur Einbildung sein. Der unglückselige Zwischenfall hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß mir etwas Ähnliches zustößt.« »Was für Unsinn!« »Ich hoffe, es ist Unsinn, aber ich kann dies Gefühl nicht loswerden. Ah! da kommt die Herzogin und sieht aus wie Artemis in einem Tailormade-Kleide. Sie sehen, wir sind zurück, Frau Herzogin.« »Ich habe schon alles gehört, Herr Gray«, antwortete sie. »Der arme Geoffrey ist ganz außer Fassung. Und man sagt, Sie hatten ihn gebeten, nicht auf den Hasen zu schießen. Wie seltsam!« »Ja, es war sehr seltsam. Ich kann nicht mal sagen, warum ich es getan habe. Eine Eingebung vermute ich. Er sah so niedlich aus, der kleine Kerl. Aber ich bedaure sehr, daß man Ihnen von dem Manne erzählt hat. Es ist ein peinliches Thema.« »Es ist ein langweiliges Thema«, unterbrach ihn Lord Henry. »Es hat keinerlei psychologischen Wert. Wenn es Geoffrey noch absichtlich getan hätte, wie interessant wäre es dann! Ich würde gern jemand kennenlernen, der einen wirklichen Mord begangen hat.« »Wie abscheulich von dir«, schrie die Herzogin auf. »Nicht war, Herr Gray? Harry, Herrn Gray ist wieder unwohl. Er wird ohnmächtig.« Dorian hielt sich gewaltsam aufrecht und lächelte. »Es ist nichts, Frau Herzogin,« murmelte er, »meine Nerven sind schrecklich in Unordnung. Nichts weiter. Ich fürchte, ich bin heut morgen zuviel gegangen. Ich habe gar nicht gehört, was Harry gesagt hat. War es sehr toll? Sie müssen es mir ein andermal erzählen. Ich halte es fürs beste, mich jetzt ein bißchen hinzulegen. Sie entschuldigen mich, nicht wahr?« Sie hatten die große Treppe erreicht, deren Stufen vom Gewächshaus auf die Terrasse emporführten. Als sich die Glastür hinter Dorian geschlossen hatte, wandte sich Lord Henry um und sah die Herzogin mit seinen schläfrigen Augen an. »Bist du sehr in ihn verliebt?« fragte er. Sie gab eine Weile keine Antwort, sondern stand da und blickte auf die Landschaft. »Ich möchte es selber wissen«, sagte sie endlich. Er schüttelte den Kopf. »Wissen, wäre ein Verhängnis. Nur die Ungewißheit hat für uns Reiz. Ein Nebel macht die Dinge wunderbar.« »Man kann darin seinen Weg verlieren.« »Alle Wege enden am selben Punkt, meine liebe Gladys.« »Wie heißt der?« »Enttäuschung.« »So war mein Debüt im Leben«, seufzte sie. »Sie kam mit einer Krone zu dir.« »Ich bin der Erdbeerblätter in unserer Krone müde.« »Sie steht dir gut.« »Nur in der Öffentlichkeit.« »Sie würde dir fehlen«, sagte Lord Henry. »Ich werde mich von keinem Blättchen trennen.« »Monmouth hat Ohren.« »Das Alter ist schwerhörig.« »War er nie eifersüchtig?« »Ich wollte, er wäre es.« Dabei lachte sie. Ihre Zähne sahen aus wie weiße Kerne in einer scharlachfarbenen Frucht. Indessen lag oben in seinem Zimmer Dorian Gray auf einem Sofa, Schrecken in jeder zuckenden Fiber seines Körpers. Das Leben war für ihn urplötzlich eine so schwere Last geworden, daß er sie nicht mehr tragen konnte. Der gräßliche Tod des unglücklichen Treibers, der in dem Dickicht wie ein wildes Tier niedergeknallt worden war, schien ihm selbst den Tod vorauszusagen. Er war fast in Ohnmacht gefallen bei dem zynischen Scherz, den Lord Henry in einer zufälligen Laune gemacht hatte. Um fünf Uhr klingelte er seinem Diener und hieß ihn seine Sachen für den Nachtschnellzug nach London zu packen und den Wagen für halb neun vors Tor zu bestellen. Er war entschlossen, keine Nacht mehr in Selby Royal zu schlafen. Es war ein Ort voll böser Vorzeichen. Der Tod ging dort am hellen Tage um. Das Gras des Waldes war mit Blut befleckt. Dann schrieb er ein Billett an Lord Henry, in dem er ihm mitteilte, daß er in die Stadt fahre, um den Arzt zu konsultieren, und ihn bat, seine Gäste in seiner Abwesenheit zu unterhalten. Als er die Zeilen in ein Kuvert legte, klopfte es an die Tür, und sein Diener meldete ihm, daß ihn der Hegemeister sprechen wolle. Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen. »Lassen Sie ihn eintreten«, murmelte er nach einigem Zögern. Während der Mann eintrat, holte Dorian sein Scheckbuch aus einer Schublade hervor und legte es vor sich hin. »Sie kommen vermutlich wegen des Unglücksfalles von heute morgen, Thornton«, sagte er und nahm eine Feder auf. »Ja, Herr«, antwortete der Hegemeister. »War der arme Kerl verheiratet? Hatte er Angehörige zu versorgen?« fragte Dorian mit einem müden Gesicht. »Wenn sich's so verhält, möchte ich nicht, daß sie in Not zurückbleiben, und ich will ihnen jede Summe schicken, die Sie für notwendig halten.« »Wir wissen nicht, wer es ist, gnädiger Herr. Deshalb war ich so frei, herzukommen.« »Sie wissen nicht, wer es ist?« sagte Dorian zerstreut. »Wie meinen Sie das? War es nicht einer von Ihren Leuten?« »Nein Herr. Ich hab' ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er sieht aus wie ein Matrose, gnädiger Herr.« Die Feder fiel Dorian Gray aus der Hand, und er hatte das Gefühl, als höre sein Herz plötzlich zu schlagen auf. »Ein Matrose!« schrie er auf. »Sagten Sie, ein Matrose?« »Ja, gnädiger Herr. Er sieht aus wie ein Matrose; auf beiden Armen tätowiert und überhaupt so in der Art.« »Hat man irgend etwas bei ihm gefunden?« fragte Dorian, beugte sich vor und sah den Mann mit aufgerissenen Augen an. »Irgend etwas, woraus man seinen Namen erführe?« »Nur Geld, gnädiger Herr -- nicht viel, und einen sechsläufigen Revolver. Nichts von Namen. Der Mann sieht sonst anständig aus, aber gewöhnlich. Wir halten ihn für eine Art Matrosen.« Dorian sprang auf die Füße. Eine furchtbare Hoffnung durchblitzte ihn. Er klammerte sich wahnsinnig an sie an. »Wo ist der Leichnam?« rief er aus. »Rasch, ich muß ihn sofort sehen.« »Er liegt in einem leeren Stall im Wirtschaftsgebäude, gnädiger Herr. Die Leute wollen so was nicht in ihren vier Wänden haben. Sie sagen, eine Leiche bringt Unglück.« »Im Wirtschaftsgebäude! Gehen Sie sogleich voraus und warten Sie da auf mich. Sagen Sie einem der Grooms, er soll mein Pferd herbringen. Nein. Lieber nicht. Ich will selbst in den Stall kommen. Das geht rascher.« Kaum eine Viertelstunde später galoppierte Dorian, so rasch er konnte, die lange Allee hinunter. Die Bäume schienen in gespenstischer Parade an ihm vorbeizufliegen und ihm wilde Schatten in den Weg zu schleudern. Einmal scheute die Stute vor einem weißen Pfahle und warf ihn fast ab. Er schlug ihr die Gerte um den Hals. Sie durchschnitt die dunkle Luft wie ein Pfeil. Die Steine stoben unter ihren Hufen. Endlich erreichte er das Wirtschaftsgebäude. Zwei Männer lungerten im Hof herum. Er sprang aus dem Sattel und warf einem die Zügel hin. In dem letzten Stall flimmerte ein Licht. Irgend etwas schien ihm zu sagen, daß dort der Leichnam liege, und er ging rasch auf die Tür zu und legte die Hand auf die Klinke. Da hielt er einen Augenblick inne und wurde sich bewußt, daß er vor der Schwelle einer Entdeckung stehe, die ihm entweder ein neues Leben gab oder es zerstörte. Dann stieß er die Tür auf und trat ein. Auf einem Haufen Säcke im entferntesten Winkel lag der tote Körper eines Mannes, bekleidet mit einem groben Blusenhemd und blauen Hosen. Ein unsauberes Taschentuch war ihm übers Gesicht gebreitet worden. Eine billige Kerze steckte in einer Flasche und flackerte düster. Dorian Gray schauerte. Er fühlte, daß er nicht mit eigener Hand das Taschentuch wegziehen könne, und rief nach einem der Stallknechte. »Nehmen Sie das da vom Gesicht weg. Ich will es sehen«, sagte er und hielt sich an dem Türpfosten fest. Als es der Knecht getan hatte, machte er einen Schritt nach vorn. Ein Freudenschrei kam von seinen Lippen. Der Mann, der im Dickicht erschossen worden war, war James Vane. Er stand einige Minuten da und starrte auf den toten Körper. Als er nach Hause ritt, waren seine Augen von Tränen umschleiert, denn er wußte jetzt, daß er gerettet war. Neunzehntes Kapitel »Es hat gar keinen Sinn, mir zu erzählen, daß du gut werden willst!« rief Lord Henry und tauchte seine weißen Finger in eine rote, mit Rosenwasser gefüllte Kupferschale. »Du bist vollkommen. Bitte ändere dich nicht.« Dorian Gray schüttelte den Kopf. »Nein, Harry, ich habe zuviel gräßliche Dinge getan in meinem Leben. Ich will keine mehr tun. Ich habe gestern mit meinen guten Taten den Anfang gemacht.« »Wo warst du gestern?« »Auf dem Lande, Harry. Ich war mutterseelenallein in einem kleinen Gasthof.« »Lieber Junge,« sagte Lord Henry lächelnd, »auf dem Lande kann jeder Mensch gut sein. Dort gibt's keine Versuchungen. Das ist der Grund, warum Leute, die nicht in der Stadt wohnen, so gänzlich unzivilisiert sind. Zivilisation ist wahrhaftig nicht leicht zu erreichen. Es gibt nur zwei Wege, um zu ihr zu kommen. Der eine ist Kultur, der andere Korruption. Die Landbevölkerung hat keine Gelegenheit zu dieser noch zu jener, und so bleiben sie so in ihrer Entwicklung stehen.« »Kultur und Korruption«, wiederholte Dorian. »Ich habe von beiden etwas kennengelernt. Es scheint mir jetzt schrecklich, daß man sie immer beisammen findet. Denn ich habe ein neues Ideal, Harry. Ich will anders werden. Ich glaube, ich bin schon anders geworden.« »Du hast mir noch nicht berichtet, worin deine gute Handlung bestand. Oder sagtest du nicht, du hättest mehr als eine getan?« fragte der Freund und schüttete sich eine kleine rote Pyramide Erdbeeren auf seinen Teller, auf die er aus einem muschelförmigen Sieblöffel weißen Zucker streute. »Ich kann dir's ja erzählen, Harry. Es ist eine Geschichte, die ich einem anderen nicht erzählen könnte. Ich habe jemand verschont. Es klingt eitel, aber du verstehst, was ich meine. Sie war sehr schön und hatte eine wunderbare Ähnlichkeit mit Sibyl Vane. Ich glaube, das war das erste, was mich bei ihr anzog. Du erinnerst dich doch noch an Sibyl, nicht? Wie lange das her ist! Also Hetty gehörte natürlich nicht unserem Stand an. Sie war eine Dorfschöne. Aber ich liebte sie wirklich. Ich weiß bestimmt, daß ich sie liebte. In dem ganzen wundervollen Maimonat, den wir jetzt hatten, bin ich zwei-, dreimal in der Woche hingefahren, um sie zu sehen. Gestern erwartete sie mich in einem kleinen Obstgarten. Die Apfelblüten schneiten auf ihr Haar herab, und sie lachte. Heute morgen in aller Herrgottsfrühe sollte sie mit mir kommen. Plötzlich entschloß ich mich, sie so einer Blume gleich zu lassen, wie ich sie gefunden hatte.« »Ich vermute, die Neuheit der Empfindung muß dir einen förmlichen Wonneschauer bereitet haben, Dorian«, unterbrach ihn Lord Henry. »Aber ich kann dir dein Idyll zu Ende erzählen. Du gabst ihr gute Lehren und brachst ihr das Herz. Das ist der Anfang deiner Besserung.« »Harry, du bist schrecklich! Du darfst so häßliche Dinge nicht sagen. Hettys Herz ist nicht gebrochen. Natürlich weinte sie und dergleichen. Aber keine Schande ist auf sie gekommen. Sie kann weiterleben wie Perdita in ihrem Garten bei Pfefferminze und Ringelblumen.« »Und einem treulosen Florizel nachweinen«, rief Lord Henry lachend und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Teuerster Dorian, du hast manchmal die sonderbarsten Knabenanwandlungen. Glaubst du, dieses Mädchen wird sich jemals mit einem ihres eigenen Standes glücklich fühlen? Ich vermute, sie wird eines schönen Tages einen rohen Fuhrmann oder einen grinsenden Bauernlümmel heiraten. Schön also, die Tatsache, daß sie dich kennengelernt und geliebt hat, wird sie dahin bringen, ihren Mann zu verachten, und sie wird unglücklich werden. Vom moralischen Standpunkte aus kann ich also nicht finden, daß deine Entsagung sehr wertvoll war. Selbst als ein Anfang ist sie armselig. Außerdem, woher willst du wissen, ob Hetty in diesem Augenblick nicht in einem sternbeglänzten Mühlteich schwimmt, von lieblichen Wasserlilien umkränzt wie Ophelia?« »Ich kann es nicht aushalten, Harry! Du spottest über alles und beschwörst dann die ernsthaftesten Tragödien herauf. Es tut mir jetzt leid, daß ich es dir erzählt habe. Es kümmert mich auch nicht, was du sagst. Ich weiß, ich habe recht gehandelt. Arme Hetty! Als ich heute früh am Gehöft vorbeiritt, sah ich ihr Gesicht weiß wie einen Jasminzweig am Fenster. Wir wollen nicht länger davon reden, und du sollst nicht versuchen, mich zu überzeugen, daß die erste gute Handlung, die ich seit Jahren getan habe, das erste kleine Opfer, das ich jemals gebracht habe, in Wahrheit eine Art Sünde wäre. Ich will mich jetzt bessern. Und ich werde mich bessern. Erzähle mir etwas von dir. Was geht in der Stadt vor? Ich war tagelang nicht im Klub.« »Die Leute sprechen noch immer über das Verschwinden des armen Basil.« »Ich sollte meinen, daß sie inzwischen davon genug bekommen hätten«, sagte Dorian, während er sich etwas Wein einschenkte und leicht die Stirn runzelte. »Mein lieber Junge, sie reden ja erst seit sechs Wochen davon, und das englische Publikum ist wirklich nicht der geistigen Anstrengung gewachsen, alle drei Monate mehr als ein Gesprächsthema zu haben. Immerhin haben sie in der letzten Zeit Glück gehabt. Sie hatten meinen eigenen Ehescheidungsprozeß und Alan Campbells Selbstmord. Jetzt haben sie das geheimnisvolle Verschwinden eines Künstlers. In Scotland Yard bleibt man hartnäckig dabei, daß der Mann im grauen Ulster, der in der Nacht des neunten November mit dem Zwölfuhrzug nach Paris fuhr, der arme Basil war, und die französische Polizei erklärt, Basil wäre überhaupt nie in Paris eingetroffen. Vermutlich wird man uns etwa in vierzehn Tagen auftischen, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Es ist eine schwierige Geschichte, aber von jedem Menschen, der verschwindet, heißt es, daß er in San Francisco gesehen worden ist. Das muß eine entzückende Stadt sein, die alle Reize der zukünftigen Welt ihr Eigen nennt.« »Was glaubst du, daß Basil zugestoßen sei?« fragte Dorian, hielt seinen Burgunder gegen das Licht und wunderte sich, daß er über diese Sache so ruhig plaudern konnte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Wenn sich Basil ein Vergnügen daraus macht, Versteck zu spielen, so ist das nicht meine Sache. Wenn er tot ist, will ich nicht weiter an ihn denken. Der Tod ist das einzige, was mir Angst macht. Ich hasse ihn.« »Warum?« fragte der jüngere müde. »Weil,« sagte Lord Henry und führte die vergoldete Netzöffnung eines Riechbüchschens zur Nase, »weil man heutzutage alles überleben kann, ausgenommen den Tod. Tod und Philisterei sind die zwei einzigen Tatsachen des neunzehnten Jahrhunderts, die man nicht wegerklären kann. Wir wollen den Kaffee im Musikzimmer trinken, Dorian. Du mußt mir Chopin vorspielen. Der Mann, mit dem meine Frau durchbrannte, spielte Chopin hinreißend. Die arme Viktoria! Ich habe sie recht gern gehabt. Das Haus ist ohne sie recht einsam. Natürlich ist das Eheleben nur eine Gewohnheit, eine schlechte Gewohnheit. Aber schließlich bedauert man den Verlust selbst seiner schlechtesten Gewohnheiten. Vielleicht bedauert man die gerade am meisten. Sie sind ein so wesentlicher Teil unserer Persönlichkeit.« Dorian sagte nichts, sondern stand vom Tisch auf, ging in das Nebenzimmer, setzte sich an das Klavier und ließ seine Finger über das weiße und schwarze Elfenbein der Tasten gleiten. Als der Kaffee gebracht wurde, hörte er auf, sah zu Lord Henry hinüber und sagte: »Harry, ist es dir nie eingefallen, daß Basil ermordet worden sein könnte?« Lord Henry gähnte. »Basil war sehr populär und trug immer nur eine Waterburyuhr. Warum hätte man ihn ermorden sollen? Er war nicht klug genug, um Feinde zu haben. Freilich hatte er ein wunderbares Genie als Maler. Aber ein Mensch kann malen wie Velasquez und doch so langweilig als möglich sein. In Wirklichkeit war Basil ziemlich langweilig. Er interessierte mich nur ein einziges Mal, und das war damals, als er mir vor vielen Jahren gestand, daß er dich so ungestüm anbete und daß du das Leitmotiv seiner Kunst seist.« »Ich habe Basil sehr gern gehabt«, sagte Dorian mit einem traurigen Klang in seiner Stimme. »Aber behauptet denn das Publikum nicht, daß er ermordet worden ist?« »Pah, in einigen Zeitungen steht es. Es scheint mir nicht im geringsten wahrscheinlich. Ich weiß, es gibt fürchterliche Orte in Paris, aber Basil war nicht die Art Mensch, sie aufzusuchen. Er war nicht neugierig. Das war sein Hauptfehler.« »Was würdest du dazu sagen, Harry, wenn ich dir versicherte, daß ich Basil ermordet habe?« fragte der jüngere. Er beobachtete ihn scharf, nachdem er das gesagt hatte. »Lieber Freund, ich würde sagen, daß du einen Charakter posierst, der dich nicht kleidet. Jedes Verbrechen ist ordinär, gerade wie alles Ordinäre ein Verbrechen ist. Du hast nicht die Gabe, Dorian, einen Mord zu begehen. Es sollte mir leid tun, wenn ich dich durch diese Meinung in deiner Eitelkeit kränkte, aber ich versichere dich, es ist wahr. Das Verbrechen ist ein ausschließliches Vorrecht der unteren Klassen. Ich will sie damit durchaus nicht tadeln. Ich vermute einfach, das Verbrechen ist für sie, was die Kunst für uns ist, einfach ein Verfahren, um sich außerordentliche Empfindungen zu verschaffen.« »Ein Verfahren, sich Empfindungen zu verschaffen? Glaubst du also, daß ein Mensch, der einmal einen Mord begangen hat, imstande wäre, das nämliche Verbrechen zu wiederholen? Das rede mir nicht ein.« »Oh! Alles wird zu einem Vergnügen, wenn man es zu oft tut!« rief Lord Henry lachend. »Das ist eines der wichtigsten Geheimnisse des Lebens. Immerhin bin ich des Glaubens, daß der Mord stets ein Mißgriff ist. Man sollte nie etwas tun, worüber man sich nicht nach dem Essen unterhalten kann. Aber wir wollen jetzt den armen Basil lassen. Ich wollte, ich könnte glauben, daß er ein so romantisches Ende genommen hat, wie du durchblicken läßt; aber ich kann es nicht. Ich glaube eher, daß er von einem Omnibus in die Seine gefallen ist und der Kondukteur hat den Skandal vertuscht. Ja, ich glaube wirklich, so war sein Ende. Ich sehe ihn jetzt auf dem Rücken liegen unter dem dunkelgrünen Wasser, und die schweren Lastkähne schwimmen über ihm hin, und lange Tangflechten verwickeln sich in sein Haar. Weißt du, ich glaube nicht, daß er noch viel Gutes gemacht hätte. In den letzten zehn Jahren ist seine Malerei nicht mehr berühmt gewesen.« Dorian seufzte und Lord Henry schlenderte durch das Zimmer und unterhielt sich damit, einem merkwürdigen Papagei aus Java den Kopf zu krauen, einem großen, graugefiederten Vogel mit rotem Schopf und Schwanz, der auf einem Bambusstab balancierte. Als ihn seine spitzen Finger berührten, ließ er die weiße Nickhaut seiner Liderfalten über die schwarzen Glaskugelaugen fallen und begann sich hin- und herzuwiegen. »Ja,« fuhr er fort, während er sich umdrehte, und sein Taschentuch aus der Tasche nahm, »seine Malerei ist nicht mehr weither gewesen. Es schien mir so, als hätte sie irgend etwas eingebüßt. Sie hatte ein Ideal verloren. Als ihr beide aufhörtet, intime Freunde zu sein, hörte er auf, ein großer Künstler zu sein. Was hat euch auseinander gebracht? Ich vermute, er langweilte dich. Wenn das der Fall war, dann hat er dir nie verziehen. Das ist gewöhnlich so bei langweiligen Menschen. Was ist übrigens aus dem wundervollen Porträt geworden, das er von dir gemacht hat? Ich kann mich nicht erinnern, es jemals wiedergesehen zu haben, seit es fertig wurde. Ah! Jetzt besinne ich mich, daß du mir vor Jahren erzählt hast, du hättest es nach Selby geschickt und es wäre unterwegs auf irgendeine Weise gestohlen worden oder in Verlust geraten. Hast du es nie wieder bekommen? Wie schade! Es war faktisch ein Meisterwerk. Ich entsinne mich, daß ich es kaufen wollte. Ich wünschte, ich hätte es jetzt. Es stammte aus Basils bester Zeit. Seitdem bestanden alle seine Arbeiten aus dem eigentümlichen Gemengsel von schlechter Malerei und guten Absichten, das einen Mann berechtigt, ein britischer Künstler von Bedeutung genannt zu werden. Hast du deswegen eigentlich gar nicht annonciert? Das hättest du tun sollen.« »Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Dorian. »Ich glaube, ich tat es. Aber ehrlich gesagt, ich habe das Bild nie gemocht. Es tut mir überhaupt leid, daß ich dazu gesessen habe. Schon die Erinnerung an das Ding ist mir greulich. Warum sprichst du davon? Es hat mich immer an ein paar merkwürdige Zeilen aus einem Theaterstück erinnert -- aus Hamlet, glaube ich -- wie heißen sie? -- >Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz.< Ja, so sah es aus.« Lord Henry lachte. »Wenn ein Mensch das Leben künstlerisch behandelt, ist sein Hirn sein Herz«, antwortete er und ließ sich in einen Armsessel fallen. Dorian Gray schüttelte den Kopf und schlug ein paar sanfte Akkorde auf dem Klavier an. »Gleich dem Bildnis eines Grams, ein Antlitz ohne Herz«, wiederholte er, »ein Antlitz ohne Herz.« Der ältere Freund saß zurückgelehnt und blickte mit halbgeschlossenen Augen zu ihm hinüber. »Übrigens, Dorian,« sagte er nach einer Pause, »was hülfe es einem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und -- wie heißt die Stelle doch? -- seine eigene Seele verlöre?« Die Musik brach schrill ab und Dorian Gray schnellte auf und starrte seinen Freund an. »Warum fragst du mich das, Harry?« »Aber bester Junge,« sagte Lord Henry und zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe, »ich habe dich gefragt, weil ich dachte, du könntest mir eine Antwort geben. Das ist alles. Ich bin letzten Sonntag durch Hyde Park gegangen, und nahe beim Marble Arch stand eine kleine Ansammlung schäbig aussehender Menschen, die irgendeinem ordinären Straßenprediger lauschten. Als ich vorbeiging, hörte ich den Mann diese Frage seinen Zuhörern entgegenschreien. Es berührte mich ordentlich dramatisch. London ist sehr reich an seltsamen Wirkungen solcher Art. Ein regnerischer Sonntag, ein unmanierlicher Christ in einem Regenmantel, ein Kreis krankhafter, bleicher Gesichter unter dem wellenförmigen Dach tropfender Regenschirme und ein wunderbarer Satz, von schrillen, hysterischen Lippen in die Luft geschleudert, das war auf seine Art wirklich sehr gut, es lag geradezu eine gewisse Suggestion darin. Ich dachte zuerst daran, dem Propheten zu sagen, daß die Kunst eine Seele habe, aber nicht der Mensch, aber ich fürchte, er hätte mich doch nicht verstanden.« »Nein, Harry. Die Seele ist eine fürchterliche Gewißheit. Sie kann gekauft werden und verkauft und umgetauscht. Sie kann vergiftet werden oder vervollkommnet. In jedem von uns lebt eine Seele. Ich weiß es.« »Bist du dessen ganz sicher, Dorian?« »Ganz sicher.« »Pah! Dann muß es Einbildung sein. Die Dinge, die man für ganz sicher hält, sind nun und nimmer wahr. Das ist das Verhängnis des Glaubens und die Weisheit der Romantik. Wie feierlich du tust! Sei nicht so ernsthaft. Was hast du oder ich mit dem Aberglauben unserer Zeit zu tun? Nein: wir haben unseren Glauben an die Seele aufgegeben. Spiel' mir was vor. Spiel' mir ein Nokturno, Dorian, und während du spielst, sage mir mit leiser Stimme, wie du es möglich gemacht hast, dir deine Jugend zu erhalten. Du mußt irgendein Geheimmittel haben. Ich bin nur zehn Jahre älter als du, und bin runzlig und verwelkt und gelb. Du bist in der Tat wundervoll, Dorian. Du hast nie entzückender ausgesehen als heute abend. Du rufst mir den Tag ins Gedächtnis zurück, an dem ich dich zum erstenmal sah. Du warst etwas schnippisch, sehr scheu und ganz und gar außergewöhnlich. Seitdem hast du dich natürlich verändert, aber nicht im Aussehen. Ich wünschte, du verrietest mir dein Geheimnis. Um meine Jugend zurückzubekommen, täte ich alles auf der Welt, außer Gymnastik treiben, früh aufstehen oder ehrbar sein. Jugend! Nichts kommt ihr gleich. Es ist absurd, von der Unwissenheit der Jugend zu schwatzen. Die einzigen Leute, deren Ansichten ich jetzt mit einigem Respekt anhöre, sind Leute, die viel jünger sind als ich. Die scheinen mir weit voraus zu sein. Das Leben hat ihnen sein letztes Wunder enthüllt. Was die älteren betrifft, denen widerspreche ich immer. Ich tue es aus Prinzip. Wenn du einen um seine Meinung über etwas fragst, das gestern passiert ist, dann gibt er dir feierlichen Aufschluß über die Meinungen, die Anno 1820 im Schwunge waren, als die Leute hohe Halsbinden trugen, an alles glaubten und absolut nichts wußten. Wie hübsch das ist, was du da spielst! Ich möchte wohl wissen, ob es Chopin in Majorca geschrieben hat, während das Meer seine Villa umklagte und der Salzschaum klatschend gegen die Fensterscheiben spritzte. Es ist entzückend romantisch. Was für ein Segen es ist, daß es doch die eine Kunst gibt, die nicht aus Nachahmung besteht. Hör' nicht auf. Ich brauche Musik heut abend. Es kommt mir so vor, als ob du der junge Apollo bist und ich Marsyas, der dir zuhört. Ich habe meine eigenen Sorgen, Dorian, von denen nicht einmal du etwas weißt. Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, daß man alt ist, sondern daß man jung ist. Ich bin manchmal ganz erschrocken über meine eigene Aufrichtigkeit. Ach, Dorian, wie glücklich bist du! Was für ein köstliches Leben hast du gehabt! Du hast tief aus jedem Quell getrunken! Du hast die Trauben an deinem Gaumen zerdrückt. Nichts ist dir verborgen geblieben. Und all das ist dir nicht mehr gewesen als ein Klang von Musik. Es hat dir nichts anhaben können. Du bist noch heute derselbe.« »Ich bin nicht derselbe, Harry.« »Ja, du bist derselbe. Ich bin gespannt, wie dein Leben weiter verlaufen wird. Verdirb es nicht durch Entsagung. Jetzt bist du ein vollkommener Typus. Mach' dich nicht unvollkommen. Du bist jetzt ganz ohne Tadel. Du brauchst den Kopf nicht zu schütteln: du weißt, du bist es. Und dann, Dorian, betrüge dich nicht selbst. Das Leben wird nicht durch Willen oder Absicht regiert. Das Leben ist eine Angelegenheit der Nerven und Muskeln und der langsam aufgemauerten Zellen, in denen die Gedanken hausen und die Leidenschaft ihren Träumen nachhängt. Du redest dir ein, sicher dazustehen und stark zu sein. Aber ein zufälliger Farbenton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Geruch, den du einmal geliebt hast und der versteckte Erinnerungen aufweckt, eine Zeile aus einem vergessenen Gedicht, die dir plötzlich wieder einfällt, ein paar Tonreihen aus einem Musikstück, das du längst nicht mehr spielst -- ich sage dir, Dorian, von solchen Dingen hängt unser Leben ab. Browning hat irgendwo mal darüber geschrieben, aber unsere eigenen Sinne geben uns ohnehin davon Gewißheit. Es gibt Augenblicke, da durchblitzt mich plötzlich der Geruch von weißem Flieder, und ich muß wieder den sonderbarsten Monat meines Daseins durchleben. Ich wollte, ich könnte mit dir tauschen, Dorian. Die Welt hat über uns beide gezetert, aber sie hat dich immer bewundert. Sie wird dich immer bewundern. Du bist eben der Typus dessen, wonach unsere Zeit sucht und was sie fürchtet gefunden zu haben. Ich bin so froh darüber, daß du nie etwas getan hast, nie eine Statue gemeißelt oder ein Bild gemalt oder irgend etwas aus dir heraus produziert hast. Das Leben war deine Kunst. Du hast dich selbst in Musik gesetzt. Deine Tage sind deine Sonette.« Dorian stand vom Klavier auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ja, das Leben ist himmlisch gewesen,« sagte er vor sich hin, »aber dieses Leben werde ich nicht fortsetzen, Harry. Und du sollst nicht so überspannte Dinge zu mir sagen. Du weißt nicht alles von mir. Ich glaube, wenn du es wüßtest, so würdest selbst du dich von mir abwenden. Du lachst. Lache nicht!« »Warum hast du zu spielen aufgehört, Dorian? Geh wieder ans Klavier und spiel' mir nochmal das Nokturno. Sieh den großen honigfarbenen Mond, der in der dunklen Luft hängt. Er wartet, daß du ihn bezauberst, und wenn du spielst, wird er sich der Erde nähern. Du willst nicht? Dann laß uns in den Klub gehen. Es war ein reizender Abend, und wir müssen ihn reizend beenden. Bei White wartet jemand, der darauf brennt, dich kennenzulernen -- der junge Lord Pool, der älteste Sohn von Bournemouth. Er kopiert schon deine Krawatten und hat mich bestürmt, ihn dir vorzustellen. Er ist ganz entzückend und erinnert mich ein bißchen an dich.« »Ich hoffe nicht«, sagte Dorian mit einem wehmütigen Blick in den Augen. »Aber ich bin heute abend müde, Harry. Ich gehe nicht mehr in den Klub. Es ist fast elf, und ich will früh zu Bett gehen.« »Bleibe noch, du hast nie so schön gespielt wie diesen Abend. In deinem Anschlag lag etwas, es war ganz wundervoll. Es hatte mehr Ausdruck, als ich jemals bei dir gehört habe.« »Das kommt daher, weil ich jetzt gut werden will«, antwortete er lächelnd. »Ich bin schon ein bißchen anders.« »Für mich kannst du kein anderer werden, Dorian«, sagte Lord Henry. »Du und ich, wir werden immer Freunde sein.« »Aber einstmals hast du mich mit einem Buch vergiftet. Ich sollte das nicht vergeben. Harry, versprich mir, daß du dieses Buch nie wieder jemand leihen willst. Es stiftet Unheil.« »Mein lieber Junge, du fängst wirklich an, Moralpredigten zu halten. Du wirst bald umherlaufen, wie ein Bekehrter und ein Erweckungsprediger, und wirst die Menschen vor all den Sünden warnen, deren du müde geworden bist. Aber dazu bist du viel zu entzückend. Außerdem hat es keinen Zweck. Du und ich, wir sind, was wir sind, und werden immer sein, was wir sein werden. Und vergiftet werden durch ein Buch, sowas gibt es einfach nicht. Kunst hat keinen Einfluß auf die Tat. Sie vernichtet den Trieb zu handeln. Sie ist auf eine herrliche Art zeugungsunfähig. Die Bücher, die die Welt unmoralisch nennt, sind Bücher, die der Welt ihre eigene Schande vorhalten. Sonst nichts. Aber wir wollen nicht über Literatur streiten. Komm morgen wieder her! Ich reite um elf aus. Wir können zusammen reiten, und ich nehme dich nachher zum Frühstück zu Lady Branksome mit. Es ist eine entzückende Frau und sie will dich zu Rate ziehen über ein paar Gobelins, die sie kaufen möchte. Vergiß nicht zu kommen. Oder wollen wir bei unserer kleinen Herzogin frühstücken? Sie sagt, sie sieht dich jetzt gar nicht mehr. Vielleicht hast du genug von Gladys? Ich dachte mir's, daß es so kommen würde. Ihr gewandtes Züngelein fällt einem auf die Nerven. Also, jedenfalls bist du um elf hier.« »Muß ich wirklich kommen, Harry?« »Unbedingt. Der Park ist jetzt herrlich. Ich glaube nicht, daß es wieder solchen Flieder gegeben hat seit jenem Jahr, wo ich dich kennenlernte.« »Gut. Ich werde also um elf hier sein«, sagte Dorian. »Gute Nacht, Harry!« Als er an der Tür war, zögerte er einen Augenblick, als hätte er noch etwas zu sagen. Dann seufzte er und ging. Zwanzigstes Kapitel Es war eine wundervolle Nacht, so warm, daß er seinen Mantel über den Arm hing und nicht einmal das seidene Halstuch umlegte. Als er nach Hause schlenderte, seine Zigarette rauchend, gingen zwei Herren in Gesellschaftstoilette an ihm vorbei. Er hörte, wie der eine dem anderen zuflüsterte: »Das ist Dorian Gray.« Er erinnerte sich, wie schmeichelhaft es ihm früher gewesen war, wenn man auf ihn zeigte oder ihn anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen eigenen Namen zu hören. Der halbe Reiz des kleinen Dorfes, wo er kürzlich so oft gewesen war, bestand darin, daß dort niemand wußte, wer er war. Er hatte dem Mädchen, das er zur Liebe verlockt hatte, oft gesagt, daß er arm sei, und sie hatte es geglaubt. Er hatte ihr einmal gesagt, daß er schlecht sei, und sie hatte ihn ausgelacht und geantwortet, schlechte Menschen seien immer sehr alt und sehr häßlich. Was für ein Lachen sie hatte! -- gerade wie der Gesang einer Drossel. Und wie hübsch sie ausgesehen hatte in ihren Kattunkleidern und großen Hüten! Sie wußte nichts, aber sie besaß alles, was er verloren hatte. Als er nach Hause kam, wartete sein Diener auf ihn. Er schickte ihn zu Bett und warf sich auf das Sofa in der Bibliothek und begann über einiges von dem nachzudenken, was ihm Lord Henry gesagt hatte. War es wirklich wahr, daß man nie anders werden konnte? Er fühlte eine wilde Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Knabenzeit -- seiner rosenweißen Knabenzeit, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wußte, er hatte sich besudelt, hatte seinen Geist mit Verderbnis angefüllt und sein Gewissen mit Entsetzen belastet, er war ein schlimmer Einfluß für andere gewesen und hatte eine schreckliche Freude daran gehabt; und von den Menschenleben, die das seine gekreuzt hatten, waren es die reinsten und verheißungsvollsten gewesen, die er in Schande gestürzt hatte. Aber war da nichts wieder gut zu machen? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn? Ah! In was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Hochmut und Leidenschaft hatte er gebetet, es möchte das Bildnis die Last seiner Tage auf sich nehmen und er sich den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren! Das war an seinem ganzen verfehlten Leben schuld. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre gewisse und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Reinigung. Nicht »Vergib uns unsere Sünden«, sondern »Züchtige uns für unsere Missetaten« sollte das Gebet des Menschen zu einem allgerechten Gotte lauten. Der mit merkwürdigen Schnitzereien umrahmte Spiegel, den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch, und die weißgliedrigen Liebesgötter lachten ringsherum wie ehedem. Er nahm ihn, wie er es in jener Schreckensnacht getan hatte, als er zum ersten Male die Veränderung in dem verhängnisvollen Bildnis bemerkt hatte, und blickte mit verzweifelten, tränenfeuchten Augen auf die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, der ihn abgöttisch geliebt hatte, einen wahnsinnigen Brief geschrieben, dessen Schluß lautete: »Die Welt ist anders geworden, weil du aus Elfenbein und Gold geschaffen wurdest. Der Linienschwung deiner Lippen schreibt die Weltgeschichte um.« Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte sie immer und immer wieder. Dann haßte er seine eigene Schönheit und schleuderte den Spiegel zu Boden und zertrat ihn unter seinem Fuße in silberne Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und Jugend, um die er gefleht hatte. Wären diese beiden nicht gewesen, so hätte er sein Leben wohl fleckenlos erhalten können. Die Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Blendwerk. Was war Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit seichter Stimmungen und kranker Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet. Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er mußte an sich selber und an seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem Kirchhof in Selby geborgen. Alan Campbell hatte sich eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis nicht verraten, das ihm aufgezwungen worden war. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden würde sich bald legen. Sie hatte schon nachgelassen. Da war er völlig sicher. Es war auch in der Tat nicht der Tod Basil Hallwards, der sein Gemüt am schwersten belastete. Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihm die Ruhe raubte. Basil hatte das Bildnis gemalt, das sein Leben vernichtet hatte. Er konnte ihm das nicht vergeben. Das Porträt war an allem schuld. Basil hatte ihm Dinge gesagt, die unerträglich waren und die er doch geduldig ertragen hatte. Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Was Alan Campbell anlangte, so war der Selbstmord seine eigene Tat gewesen. Er war sein freier Entschluß. Das ging ihn nichts an. Ein neues Leben! Das war es, was er wollte. Das war es, worauf er wartete. Gewiß hatte er es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nie wieder wollte er die Unschuld in Versuchung führen. Er wollte gut sein. Als er an Hetty Merton dachte, begann er sich zu fragen, ob sich das Bild in dem verschlossenen Zimmer oben wohl verändert habe. Es konnte doch sicher nicht mehr so häßlich sein, wie es gewesen war. Vielleicht könnte er, wenn sein Leben jetzt rein würde, imstande sein, jedes Anzeichen niedriger Leidenschaften aus dem Antlitz zu tilgen. Vielleicht waren die Spuren des Bösen schon verschwunden. Er wollte hinauf und nachsehen. Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich die Treppe hinan. Als er die Tür aufschloß, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein, und das gräßliche Ding, das er verborgen hatte, würde dann nicht länger ein Schrecken für ihn sein. Ihm war, als wäre diese Last schon jetzt von ihm genommen. Er ging ruhig hinein, schloß die Tür nach seiner Gewohnheit hinter sich ab und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis hinweg. Ein Schrei voll Schmerz und Entrüstung scholl von seinen Lippen. Er konnte keine Verwandlung bemerken, außer daß ein schlauer Ausdruck in den Augen lag und um den Mund der gekniffene Zug des Heuchlers. Das Ding war noch immer abscheulich, womöglich noch abscheulicher als vordem -- und der scharlachrote Tau, der die Hand befleckte, schien heller zu glänzen und mehr wie frisch vergossenes Blut auszusehen. Er erzitterte. War es bloße Eitelkeit gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, einmal etwas Gutes zu tun? Oder die Begier nach einer neuartigen Empfindung, wie Lord Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder das Verlangen, eine Rolle zu spielen, das uns manchmal Dinge begehen läßt, die edler sind als wir selbst? Oder vielleicht das alles zusammen? Und warum war der rote Fleck jetzt größer als er vorher war? Er schien sich wie ein fürchterlicher Aussatz über die runzligen Finger weiter gefressen zu haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es von den Händen herabgetropft -- Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht geführt hatte. Bekennen? Bedeutete dies, daß er bekennen sollte? Sich selbst aufgeben und hingerichtet werden? Er lachte. Er fühlte, daß der Einfall ungeheuerlich wäre. Überdies selbst wenn er es eingestände, wer würde ihm glauben? Nirgends gab es eine Spur des Ermordeten. Alles, was zu ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte verbrannt, was unten geblieben war. Die Welt würde einfach sagen, daß er wahnsinnig sei. Sie würden ihn irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung beharrte... Aber doch war es seine Pflicht, ein Geständnis abzulegen, öffentlich Schande zu erleiden und öffentlich Buße zu tun. Es war ein Gott, der den Menschen zurief, ihre Sünden der Erde so gut wie dem Himmel zu beichten. Nichts, was er sonst tun konnte, würde ihn reinigen, bis er seine Sünde selber bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil Hallwards schien ihm nur unwesentlich. Er dachte an Hetty Merton. Denn es war ein ungerechter Spiegel. Dieser Spiegel seiner Seele, in den er hineinblickte. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seinen Entsagungen gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das sagen...? Nein. Es war weiter nichts darin gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte er die Maske der Güte getragen. Aus Neugier hatte er es mit der Verzichtleistung versucht. Er erkannte das jetzt. Aber dieser Mord -- sollte er ihn sein ganzes Leben lang verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er wirklich eingestehen? Niemals. Es gab nur einen einzigen Beweis gegen ihn. Das Bildnis selbst -- das war ein Beweis. Er wollte es zerstören. Warum hatte er es solange aufgehoben. Früher einmal war es ihm ein Vergnügen gewesen, seine Änderung, sein Altern zu beobachten. In der letzten Zeit hatte er dieses Vergnügen nicht mehr empfunden. Es hatte ihm schlaflose Nächte bereitet. Wenn er außer dem Hause war, erfüllte ihn eine Todesangst, daß fremde Augen das Bild erblicken könnten. Es hatte Schwermut in seine Leidenschaften getröpfelt. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm manchen Augenblick der Freude vergällt. Es hatte bei ihm die Rolle des Gewissens übernommen. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören. Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen hatte. Er hatte es oft gereinigt, bis kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glitzerte. Wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die Vergangenheit töten, und wenn die tot war, würde er frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten, und sobald diese gräßlichen Warnungen nicht mehr vorhanden waren, würde er Frieden haben. Er ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis. Man hörte einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war mit seinem Todesröcheln so schrecklich, daß die Dienerschaft erschreckt aufwachte und aus ihren Kammern stürzte. Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorbeigingen, blieben stehen und spähten an dem stattlichen Hause empor. Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und dann mit ihm umkehrten. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das ganze Haus dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg in der Nähe und verhielt sich abwartend. »Wem gehört das Haus, Herr Wachtmeister?« fragte der ältere der beiden Herren. »Herrn Dorian Gray«, antwortete der Schutzmann. Sie sahen einander an, gingen weiter und lächelten. Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel. Drinnen in den Dienerzimmern sprachen die halbangezogenen Bedienten in leisem Wispern miteinander. Die alte Frau Leaf weinte und rang die Hände. Francis war bleich wie der Tod. Nach etwa einer Viertelstunde holte er sich den Kutscher und einen der Lakaien und schlich mit ihnen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles war still. Schließlich, nachdem sie erfolglos versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und ließen sich auf den Balkon herab. Die Glastür gab leicht nach; ihre Riegel waren alt. Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bild ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all dem Glanz seiner entzückenden Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann im Gesellschaftsanzug, mit einem Messer im Herzen. Er war welk, runzlig und häßlich von Angesicht. Erst als sie die Ringe untersuchten, erkannten sie, wer es war. _Ende_ Anmerkungen zur Transkription: Die folgende Liste enthält alle geänderten Textstellen, jeweils zuerst im Original und darunter in der geänderten Fassung. Seite 9: wolllt wollt Seite 80: Dramas gewesen sein. Dramas gewesen sein.« Seite 80: >Romea und Julia< >Romeo und Julia< Seite 85: gesprochen? gesprochen?« Seite 106: Name nicht. Name nicht? Seite 121: Mißklang heißt es, mit »Mißklang heißt es, mit Seite 132: Warum ich nie mehr gut spielen werde. Warum ich nie mehr gut spielen werde.« Seite 166: Harrys Schwester Lady Gwendolen Harrys Schwester, Lady Gwendolen Seite 180: wird ebenso hübsch sein. wird ebenso hübsch sein.« Seite 205: gegestorbene gestorbene Seite 217: eleganganten eleganten Seite 296: Orchideengleichnis? Orchideengleichnis?« Seite 308: Er hat die ganze »Er hat die ganze Seite 309: wovor ich mich änstige wovor ich mich ängstige End of Project Gutenberg's Das Bildnis des Dorian Gray, by Oscar Wilde *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY *** ***** This file should be named 44238-8.txt or 44238-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/4/2/3/44238/ Produced by Norbert H. 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