Haschisch: Erzählungen

By Oscar A. H. Schmitz

The Project Gutenberg EBook of Haschisch, by Oscar A. H. Schmitz

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Title: Haschisch
       Erzählungen

Author: Oscar A. H. Schmitz

Illustrator: Alfred Kubin

Release Date: October 15, 2011 [EBook #37763]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HASCHISCH ***




Produced by Jens Sadowski





Haschisch

Erzählungen von
Oscar A. H. Schmitz







Mit dreizehn Zeichnungen von Alfred Kubin
München und Leipzig bei Georg Müller MCMXIII














Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.






Inhalt


Haschisch

   Der Haschischklub
   Die Geliebte des Teufels
   Eine Nacht des achtzehnten Jahrhunderts
   Karneval
   Die Sünde wider den Heiligen Geist
   Die Botschaft

Der Schmugglersteig



Haschisch
      Oh! là là! que d'amours splendides
      j'ai rêvées! (Arthure Rimbaud).








Vorrede zur vierten Auflage


ICH würde und könnte dieses 1897 und 1900 entstandene und 1902 zum ersten
Mal erschienene Buch -- also lange bevor der Satanismus und das »groteske«
Genre in Deutschland Mode waren -- heute nicht mehr schreiben, vielleicht
weil meine Phantasie in weniger übermütiger Fülle blüht, vielleicht weil
eine universellere Weltbetrachtung das rein ästhetische Flattern von Reiz
zu Reiz etwas hemmt. Dennoch freue ich mich, dieses Buch als ein
Vierundzwanzigjähriger geschrieben zu haben. Man hat mir die Notwendigkeit
nahe gelegt, sein Neuerscheinen in Einklang zu bringen mit meinen in der
letzten Zeit gelegentlich geäusserten und heftig angegriffenen Ansichten
über die Grenzen zwischen Kunst, Sittlichkeit und Religion. Nun, ein
Kunstwerk kann, wie ja heute bis zum Überdruss gepredigt wird, allerdings
in sich weder unsittlich noch irreligiös sein. Vielmehr hat es als
Kunstwerk mit Sittlichkeit und Religion überhaupt nichts zu tun. Wohl aber
kann ein unsittlicher Gebrauch davon gemacht werden und beschränkte Gemüter
mögen in ihrem Glauben daran Anstoss nehmen. In diesem Buche nun unterfange
ich mich nicht, an den Grundlagen der Familie und Ehe zu rütteln, wenn ich
mir auch als Künstler herausnehme, meine Stoffe unter den Merkwürdigkeiten
zu suchen, die ausserhalb der Familie liegen. Ebensowenig drücke ich eine
Missachtung vor der Religion aus -- was ganz und gar meiner eigenen
religiösen Gesinnung widersprechen würde --, wenn ich zeige, wie eine
gotteslästerliche Schar verruchter junger Leute in dem Augenblick, wo sie
glaubt die Sünde wider den Heiligen Geist zu begehen, vor der Allmacht
Gottes anbetend in die Knie sinkt. Ein Monsignore in Rom hat mir einmal
versichert, dass meine Darstellung, wenn sie auch den Teufel recht
eingehend konterfeit, in nichts gegen die katholischen Dogmen verstösst.
Ein Gläubiger wird sogar von dem Gedanken erbaut sein, dass Gott die
grösste der Sünden, die wider den Heiligen Geist, kaum zulässt. Immerhin
ist das Buch nur für gebildete Erwachsene geschrieben. Sein Äusseres wird
es aus der Kinderstube fernhalten, sein Preis muss es für die halbwüchsige
Jugend unzugänglich machen, und sein Stil dürfte kaum das Interesse der
Halbgebildeten erwecken. Damit ist den berechtigten Forderungen der
sozialen Sittlichkeit genug getan.

Ich wende mich zunächst an erfahrene Männer. Wenn ihnen das Büchlein
solcher Ehre würdig scheint, mögen sie es ihren Geliebten, die es doch in
dieser christlich-moralischen Welt nun einmal gibt, und deren Los ist,
ausserhalb der Schranken der gesellschaftlichen Moral in wilder Anmut zu
blühen, auf den Toilettentisch legen. Es jungen Schwestern und Töchtern zu
geben, die sich ihr Schicksal innerhalb dieser Schranken aufbauen sollen,
wäre tadelnswert. Es seiner Frau zu schenken, ist meist überflüssig, oft
gefährlich, doch kommt es natürlich immer auf die Frau an.

Und dir, schöne Müssiggängerin, die du zufällig durch diese Vorrede gerade
zur Lektüre gelockt wirst, sage ich dies: wenn du nicht anders kannst, lies
es heimlich, so wie du dich einmal gelegentlich auf einen nicht ganz
einwandfreien Ball stehlen magst, wohin du nicht gehörst. Solange du selber
weisst, dass du nur eine Escapade begehst, deren man sich nicht rühmen
soll, um kein schlechtes Beispiel zu geben, magst du es in des Teufels
Namen lesen. Stellst du dich aber auf den Standpunkt heuchlerischer
Liederlichkeit, deren drittes Wort lautet: »es ist ja nichts dabei,« oder
aber, gehörst du zu jenen schwatzhaften Gänsen, die immer wieder betonen,
die Frau sei in erster Linie Mensch und von derselben sittlichen Natur wie
der Mann, dann haben wir beide uns nichts zu sagen.

Nach der Aufführung eines Stückes von mir, welches das »Don-Juan«-Problem
behandelt, kam eine moderne Mutter auf mich zu und erzählte mir, wie
entzückt ihr achtzehnjähriges Töchterchen aus der Vorstellung gekommen sei
und wie erregt man am Familientisch die von mir berührten Fragen erörtert
habe. Ich war ganz erschrocken, zumal sich mir nun das Kind selber näherte,
und warnte die gute Dame aufrichtig davor, meine Werke jungen Mädchen zu
geben. »O wir sind vorurteilslos,« erwiderte sie. »Aber ich nicht,« sagte
ich in peinlicher Verlegenheit, »bitte, verhindern Sie Ihr Töchterchen, mit
mir über mein Stück zu sprechen. Ich wüsste kein Thema, das ich nicht mit
einer Frau behandeln könnte, aber zu sexueller Aufklärung fühle ich mich
nicht berufen.«

Warum werden diese einfachen Fragen heute so verwirrt? Es geben auch in
einer gesund funktionierenden Gesellschaft eine Menge von Gesetzgebern und
Moralphilosophen unvorhergesehene Dinge vor. Gerade sie werden ihrer bunten
Abenteuerlichkeit wegen den Künstler besonders reizen. Sie verbieten ist
heuchlerisch, philisterhaft und ausserdem zwecklos. Darum sollen sie noch
lange nicht öffentlich ausgeschrien werden. Auch von dem Künstler ist daher
zu verlangen, dass die Form, in der er solche Stoffe behandelt, und von dem
Verleger, dass die Art, wie er sie auf den Markt bringt, die Distanzen zu
der herrschenden Sittlichkeit wahrt. Man erzählt nicht am Familientisch,
dass man gestern mit einer »interessanten« Dame soupiert hat. So wird man
verhindern müssen, dass Bücher, die heikle Themen behandeln, in falsche
Hände geraten. Ganz verkehrt, weil kunstmordend, ist das englische System,
das dem Künstler einfach die Darstellung solcher Dinge verbietet und dem
jungen Mädchen alles zu lesen und zu sehen erlaubt, statt dem Künstler die
Freiheit der Darstellung zu lassen, aber jungen Mädchen bisweilen den
Zugang zu verbieten. Die französische Gesellschaft war darum so frei und
geistreich, weil junge Mädchen streng ausgeschlossen wurden; die englische
ist deshalb so langweilig und monoton, weil die »spinsters« bei allem dabei
sein müssen.

Der Autor, der sich auf gewagte Pfade begibt, muss sich eines besonders
gepflegten Stils befleissigen und damit hat er die Pflichten der
Sittlichkeit und des Taktes erfüllt. Das weitere ist Sorge der Verleger,
Buchhändler, Eltern und Vormünder.

Also, Ihr lachenden Curtisanen, Euch lege ich dieses Büchlein meiner Jugend
offen ans Herz, und Ihr, selbstsichere und kluge Damen, Euch stecke ich es
vielleicht heimlich unter das Kopfkissen!

FRANKFURT A. M., JANUAR 1913.

      O. A. H. S.




Der Haschischklub


AN einem Abend des Winters 189* befand ich mich in einem wenig besuchten
Pariser Speisehaus. Während ich, ohne meiner Umgebung zu achten,
ausschliesslich mit der Mahlzeit beschäftigt war, hörte ich neben mir eine
halblaute Stimme, die sich an den Kellner wendete. Die trotz dem
fremdländischen Akzent gewandte Ausdrucksweise, welche Vertrautheit mit den
Boulevards verriet, fesselte meine Aufmerksamkeit, und ich erkannte in dem
schlanken, diskret blonden, schon etwas alternden Dandy den Grafen Vittorio
Alta-Carrara. Ich beobachtete, während er, ohne mich zu sehen, sein Menü
zusammenstellte, dass sich die vertikale Tendenz seiner Linien seit unserem
letzten Zusammentreffen noch verstärkt hatte und eine unübertreffliche
Kunst des Anzugs dieser Veranlagung durchaus gerecht wurde; die schmalen
langen Beine liess er in die schlanksten Stiefel auslaufen, während die
fast entfleischten Finger in spitzbogenförmigen Nägeln endigten. Seine
dünnen Lippen, die keine Sinnlichkeit merken liessen, hatten neben dem
»ennui« eine gewisse Bitterkeit angenommen, die seine kühle Persönlichkeit
fast menschlicher und etwas nahbarer erscheinen liess.

»Ah, Sie sind in Paris«, sagte der Graf und zeigte sich nur aus
Liebenswürdigkeit erstaunt, obgleich zwischen unserem letzten
Zusammentreffen und diesem Abend in Paris mehrere Jahre und Länder lagen.

Wir hatten uns einmal in einem römischen Salon kennen gelernt, wo wir eines
Abends nach dem Brauch des Landes, jeder mit einer Teetasse in der Hand,
zwischen seltenen Statuen eine Stunde lang nebeneinander standen. Später
erfuhr ich, dass er einen kalabrischen Vater hatte, der ihn in einer
geheimnisvollen Schwärmerei für die grossen, blondhaarigen Frauen des
Nordens mit einer ziemlich untergeordneten Norwegerin erzeugt hatte, die
immerhin blond und schlank genug war, um den phantastischen Südländer den
Duft der Freiaäpfel wenigstens von weitem wittern zu lassen. --

Ein anderes Mal sah ich den Grafen in einem abgelegenen niederländischen
Museum, wo er nach den Fragmenten eines unbekannten Kupferstechers, Allaert
van Assen, suchte. Dieser Meister -- so versicherte er -- hatte in
Höllenszenen sehr sinnreiche Foltern dargestellt, die beweisen sollten,
dass der Schmerz eine gesteigerte Lust sei, dass nur törichte Menschen
nicht nach den Genüssen einer ewigen Verdammnis lechzen könnten. Die
Inquisition hat diesen Satanisten, der sich nach Spanien verirrte, mit
Schneeumschlägen auf Herz und Hirn, wohlweislich und langsam verbrannt und
seine Werke vernichtet oder entstellt. -- Zum letzten Male hatte ich den
Grafen im Handschriftenkabinet einer kleinen deutschen Stadt gesehen, wo er
einen arabischen Kodex auszog, der, wie er schwur, die ganze erotische
Literatur der Europäer überflüssig machte.

Heute abend war Alta-Carrara wenig mitteilsam. Seine ganze Aufmerksamkeit
schien von den Speisen gefesselt zu sein, die ihn, nach seiner besonderen
Anweisung zubereitet, durchaus zu befriedigen schienen. Plötzlich
unterbrach er sich bei einer Kastaniensuppe, die ihm eine Erinnerung
wachzurufen schien:

»Haben Sie nicht einmal einen Vers gemacht -- so etwas wie . . .

   . . . und eine Lust, gepflückt in tausend Lanzen,
   der sich die Seele wie aus früherm Sein
   entsinnt, verklärt mit gelbem Morgenschein
   die Tiefen, die das Leben schwarz umgrenzen . . .?

Sehen Sie, diese Lust aus tausend Lenzen, dieses Haschischparadies
darstellen, das wäre grosse Kunst, aber wir alle reden nur davon, wir
schaffen es nicht. Die neue Kunst müsste den Haschisch, das Opium
entthronen . . .!«

Ich war überrascht. Niemals hatte ich diesen blassen Menschen so
eindringlich mit dem Ton unverkennbarer Aufrichtigkeit reden hören. Und das
geschah wegen einer Strophe, die ihn unbefriedigt liess. Ich war bisher
geneigt gewesen, ihn nur für einen gebildeten ästhetischen Dandy zu halten.
Nun aber kam es mir fast vor, von ihm einen Schrei nach der Unendlichkeit
zu hören aus jenem seltsamen Schmerz heraus, der heute manche Geister
verwirrt, die früher in gewissen feineren Richtungen des Christentums
Genugtuung fanden, vielleicht heute noch finden würden, wenn nicht
bestimmte Kapellen (wer weiss auf wie lange) verschlossen wären. -- Ich
hatte an diesem Abend noch keine Gelegenheit gehabt, den Augen
Alta-Carraras zu begegnen und beobachtete erst jetzt jenes beinahe
angestrengte Starren, das aussermenschliche Horizonte zu berühren sich
abmüht, Ausblicke in künstliche Paradiese sucht, zu denen nur die
satanischen Drogen, die der Graf bereits genannt, den Übergang gestatten.
-- Wir hatten ungefähr gleichzeitig die Mahlzeit beendet, während der
Alta-Carrara wieder in die bewusste Zurückhaltung eines einsamen Menschen
getreten war, der glaubt sehr höflich gewesen zu sein, weil er ein paar
Worte gesprochen hat.

»Ich werde diesen Abend mit Freunden verbringen,« sagte er plötzlich.
»Vielleicht haben Sie Lust und Zeit, an unserer Gesellschaft teilzunehmen?«

Ich war wieder überrascht. Alta-Carrara kannte mich kaum. Er konnte von mir
nicht viel mehr mit Sicherheit beurteilen, als die Qualitäten meines
Schneiders. Eine unüberlegte Höflichkeit war diesem stets bewussten
Menschen nicht zuzutrauen. Ich musste also eine Beziehung annehmen zwischen
jener Strophe, die er vielleicht für ein Pantakel meiner Persönlichkeit
hielt, und dem Charakter der Gesellschaft, in die er mich einführen wollte.

Wir fuhren nach dem Viertel Batignolles. Unterwegs hoffte ich einige
vorbereitende Bemerkungen über den Freundeskreis Alta-Carraras zu hören. Er
sprach indessen mit oberflächlicher, fast graziöser Leichtheit über die
verschiedensten Dinge, ohne gerade Dummheiten zu sagen. Ich fühlte, dass es
ihm nur darum zu tun war, ein neues Stillschweigen zu vermeiden. -- Nachdem
wir die sechs Treppen eines modernen Mietshauses erstiegen, wies man uns in
einen weiten, atelierartigen Raum. In dem dämmerigen Licht
rotverschleierter Kerzen gewahrte ich mehrere Männer, die in bequemen, wie
mir schien, orientalischen Kleidern auf niedern Polstern lagen. Zwischen
den Ruhebetten standen Taburetts mit Nargilehs und dampfenden Duftschalen.
Ein sanfter Geruch brennender Harze vermengte sich mit dem Rauch leichter
englischer Zigaretten. An den dunkelroten Wänden hingen tiefschwarze
Radierungen und Stiche, deren kaum erkennbare Darstellungen wie die
Gesichte eines Alpdrucks auf uns niederstarrten. In den Ecken unterschied
ich zwischen fremdartigen Gewächsen altmodische musikalische Instrumente
wie seltsame Reptilien. Man bewegte sich kaum bei unserem Eintreten.
Leichte Grüsse wurden getauscht. Alta-Carrara machte schweigend eine
Handbewegung, als stelle er mich vor. Dann liessen wir uns auf Kissen
nieder. Von einem zwischen uns stehenden Tischchen nahm der Graf einige
Haschischpillen und bot mir lächelnd die Schale.

»Die Umherliegenden«, erklärte er halblaut, »befinden sich in einem Zustand
der Angeregtheit, den man nicht Rausch nennen kann. Sie haben nur ganz
geringe Dosen Haschisch geschluckt. Sie werden sie in logischen Wortfolgen
reden hören, nur vielfachere, seltsamere Zusammenhänge finden sehen, als
sie sich sonst erkennen lassen. Wenn wir Glück haben, können wir uns wie in
einer Versammlung plötzlich erleuchteter Künstler befinden, denen
fabelhafte Worte von den Lippen fliessen, von deren Glanz sie morgen kaum
selbst noch etwas ahnen. Andere verzichten auf den Genuss des Haschischs
und bewundern die Wirkung, die er in den übrigen hervorbringt. Wer dazu
imstande ist, wird durch Musik oder seltsame Erzählungen den Vorstellungen
der übrigen besondere Richtungen zu geben suchen. Werfen Sie einmal einen
Blick durch diese offene Tür in die Nebenräume; dort befinden sich die,
welche ganz in die Abgründe der Unbewusstheit versinken wollen.«

Ich sah in der Dämmerung schlafende Menschen vor venetianischen Spiegeln
ausgestreckt.

»Durch die bunten Glasblumen der Spiegel glauben sie in fabelhafte
Wasserteiche unterzutauchen«, sagte der Graf. »Die beiden auf Zehen
herumgehenden Männer sind geschickte Diener, die sie gegen Kälte und Durst
schützen, da sie in ihrer Willenslähmung vorziehen würden, die Lippen
verbrennen zu lassen, als das vor ihnen stehende Getränk selbst an den Mund
zu führen.«

Ich beschloss gleich meinen Nachbarn durch eine leichte Haschischdosis nur
die Sinne zu verfeinern, die Hemmungsvorstellungen des oft ungerufen
tätigen Intellekts zu beseitigen, kurz, ein gesteigertes Leben zu
geniessen.

Es herrschte grosse Ruhe in dem Raum. Bisweilen fielen einzelne
französische Worte, deren Aussprache mir verriet, dass die Anwesenden teils
Fremde waren. Ich mochte eine halbe Stunde träumend gewartet haben, als in
einer Ecke auf einem Clavichord und einer Gambe ein altmodisches
italienisches Divertimento gespielt wurde. Ich fühlte mit besonderem
Behagen, wie diese Musik mich und die Gegenstände rings durchdrang,
durchblutete, durchglomm. Es schien mir ganz selbstverständlich, wie nun
alles aufglühte. Das war die eigentliche Farbe des Lebens. Vorher hatten
die Dinge geschlafen. Alles rings war leicht und vor allem sehr gütig. Die
Undurchsichtigkeit der Gegenstände schien aufgehoben; alles war farbiges
Glas, hinter dem sich nichts mehr verbarg; die Wortfolgen, die ich hörte,
waren bestimmt und einfach, wie mathematische Sätze, schienen in Zahlen
auflösbar. Mit einem Blick übersah ich Zusammenhänge, die sonst das
Ergebnis mühseliger Überlegung sind; die Worte funkelten in den
verschiedenen Farben aller Sprachen. Die Silben »Kirche« klangen zugleich
gross und hell wie »église«, misstrauisch-puritanisch wie »church«. Die
Buchstaben »Wort« enthielten gleichzeitig das talismanähnliche »logos«, das
runenhafte »waurd«, das spitze fliegende »mot«, die ein wenig gewichtig
aufgeputzte »parole«. Bei allen Silben klangen wie Untertöne halbverwehte
Reime mit; ich roch, sah, schmeckte jedes Wort, ich fühlte es an wie Seide
oder Marmor; ich sah nicht mehr bloss Flächen, sondern ganze Körper von
allen Seiten zugleich. Und dieser plötzliche Reichtum der Wirklichkeit, aus
der ich keineswegs heraustrat, machte mich übersprudelnd glücklich und
dankbar, so dass ich gern anderen Leuten Gutes getan hätte, gesetzt, dass
ich dabei auf der Ottomane ausgestreckt bleiben konnte. Ich war mir
übrigens vollkommen bewusst, wo ich mich befand. Mir schien, ich hätte eine
farbige Brille auf. Wenn ich wollte, konnte ich aber auch an den Gläsern
vorbeischielen und sehen, wie unbestimmt, verwirrt und verstaubt das Leben
eigentlich ist. Ich war Herr meines Willens und konnte nach Laune die Dinge
wirklich und gefärbt betrachten.

Während die dunkelroten Tapeten wie Glaswände erglühten, hinter denen
fabelhafte Sonnen in tollen Glutausbrüchen versanken, erhob sich vor diesem
blendenden Hintergrund plötzlich ein Kopf, der sich so ungeheuer ausdehnte,
dass er mein ganzes Gesichtsfeld einnahm. Zwischen dem reichen rötlichen
Bart bemerkte ich feste, dünne Lippen. Das blasse Gesicht war fast starr,
und in der Erinnerung meine ich, es hätte bisweilen leichenhaft grüne und
violette Reflexe angenommen. Dieser Mann sagte, er sei in Deutschland
geboren, und so möge man ihm die unvollkommene Aussprache des Französischen
verzeihen. Seine klaren verständlichen Worte erweckten meine Neugier.
Bewusst hielt ich mich wieder an der Wirklichkeit fest und beschloss, dem
Mann aufmerksam zuzuhören, in dem ich denselben erkannte, der vorher auf
einem Clavichord gespielt hatte. So leicht es mir auch wurde, im Geist
seinen Worten zu folgen, so froh war ich, dabei den Körper nicht bewegen zu
müssen. Er erzählte eine Geschichte, aus der mir Bilder und Gespräche mit
einer Deutlichkeit im Gedächtnis geblieben sind, wie sie eigene Erlebnisse
selten behalten. Es ist mir gelungen, die Zusammenhänge dieser Einzelheiten
wieder zu finden:




Die Geliebte des Teufels


VOR fünfzehn Jahren trieb mich die Not, eine Kapellmeisterstelle in einer
britischen Provinzialstadt anzunehmen. Die verhältnismässig geringe Bosheit
der Menschen in meiner Vaterstadt hatte mir gestattet, ein ziemlich
zwangloses Leben mit dem Besuch der Salons zu verbinden; ja, ich durfte mir
erlauben, dorthin einen leichten Duft von draussen zu bringen und gewisse
Vorrechte eines verwöhnten, unartigen Kindes zu beanspruchen. Das ist nun
ein halbes Menschenalter her. Aus dieser Umgebung sah ich mich plötzlich in
die bürgerlichste englische Atmosphäre versetzt, deren Charakter das Wort
»respectability« durchaus bezeichnet. Stellen Sie sich eine Stadt vor,
deren Häuser mit einem rauchigen Schwarzrot bestrichen und durch winzige
Fenster von kümmerlicher Gotik erhellt sind. Zum Öffnen werden die Scheiben
hinaufgeschoben, so dass der sich herausbeugende Kopf gewissermassen unter
einer Guillotine liegt; denken Sie sich Strassen von ungesunder, gleichsam
desinfizierter Sauberkeit, die an die kranke Fadheit gewisser nie
schweissabsondernder Häute erinnert, deren Poren gegen Ausdünstung
geschlossen sind. In diesen Strassen bewegt sich eine lautlose Bevölkerung.
Alle sind peinlich korrekt gekleidet. Die Männer tragen Anzüge von der
Farbe schmutziger oder vom Regen aufgeweichter Landstrassen. Die Gesichter
müssen einmal im Augenblick verzweifelter seelischer Stumpfheit, von einem
fürchterlichen Ereignis entsetzt, stehen geblieben sein. Überall glaubt man
Versteinerungen zu sehen. Keine Kaffee- und Speisehäuser beleben die
Strassen, nur heftig riechende Whiskyausschänke. Meine Tage spielten sich
daher in einem boarding-house ab, an dessen Tafel sich eine Gesellschaft
spärlich blonder, lymphatischer Menschen versammelte; die roten Pusteln in
den wässerigen, bartlosen Gesichtern, die langen Gliedmassen, und besonders
die wie von einer Maschine hervorgebrachten wärmelosen Stimmen erweckten in
mir anfangs nur ein kaltes Starren. Fast den ganzen Tag wurden durch die in
ihrer Düsterkeit endlos scheinenden Gänge und Speiseräume von
verschwiegenen Bedienten zugedeckte Schüsseln und Platten mit riesenhaften
blutenden Braten getragen. Schon um neun Uhr morgens hatte man dicke
Ragouts und schwere Pasteten verzehrt, so dass ich mich schon früh in jenem
dumpfen Zustand befand, der einen nach zu reichlicher Mahlzeit überkommt.
Ein breidickes, schwarzes bitteres Bier lockt den gradlinig denkenwollenden
Geist in einen Sumpf. Das Blut verdickt sich bis zur Stagnation, man fühlt
das Gehirn wie eine warme schwere Masse im Kopfe lasten, in der ein
spitziges böses Ding fest steckt: der Spleen.

Meine Tätigkeit bestand in der Leitung eines nach deutschem Muster
begründeten musikalischen Klubs, in dem sich die Gesellschaft von H.
angeblich zur Pflege klassischer Komponisten versammelte. Die eigentliche
Ursache der Zusammenkünfte war jener geistlose Flirt, den das provinziale
englische Bürgertum so über alles liebt, worin es beständig die Instinkte
verflüchtigt, ohne nach stärkeren Entladungen zu verlangen. Die hartnäckige
Weigerung, sonst an der Geselligkeit teilzunehmen, meine ziemlich
extravaganten Halsbinden und Westen setzten bald die zweifelhaftesten
Gerüchte über mich in Umlauf. Obwohl mir, dem interessanten Fremden, alle
Häuser dieser vor Neugier und Langeweile vergehenden Stadt offenstanden,
fühlte ich mich nur zu einem Kreis ein wenig hingezogen, der für die
Gesellschaft überhaupt nicht da war, da ihm die verachtetsten Menschen
angehörten. In einem Keller der übelsten Vorstadt versammelten sich nachts
die Mitglieder einer kleinen hungrigen Schauspielertruppe, deren groteske,
oft recht abgeschmackte Sitten mich immer noch mehr anzogen, als die
abgezirkelten jener blutlosen Gesellschaft. Diese Schauspieler, zum Teil
verkommene Talente, hatten sich der einzigen Panazee ergeben, die gegen den
Jammer des englischen Lebens besteht: dem Whisky. Ich verbrachte mit ihnen,
meist nüchterner als sie, in dem rauchigen trüben Keller eine Reihe von
Winternächten, die mich vielleicht sonst zum Selbstmord getrieben hätten,
und nicht eher verliess ich die hagern, pathetischen Zecher, als bis ich
sie mit verzerrten Gesichtern in der Emphase der Betrunkenheit ihre
Lieblingsrollen durcheinander schreien hörte. Wenn ich dann, von Müdigkeit
übermannt, diese Stimmen nicht mehr ertrug, stieg ich in die reine
Winternacht empor und unterschied noch in dem ferndumpfen Geheul unter dem
harten Schnee Verse aus Hamlet und König Lear. Oft beklagte ich selbst
diese Ausschweifungen, die mich halbe Tage verschlafen liessen. Aber immer
wieder floh ich zu den Schauspielern; denn wenn der Abend kam, jener
feuchte neblige Abend, mit seinen Schauern der Kälte und des Schreckens,
dann trat in mein Zimmer das dümmste der Gespenster, dessen Namen wir uns
schämen einzugestehen, das es besonders auf die germanischen Rassen
abgesehen zu haben scheint: die Sentimentalität. Wie oft hatte ich die
Nachmittage über einem Buche verbracht, das mich weit von der Wirklichkeit
entfernte, aber leise, wenn die Dämmerung kam, fühlte ich, wie sich die
feucht-kalten Hände des Gespenstes, die zu liebkosen scheinen möchten, um
meine Stirn, über die Augen legten und mich am Weiterlesen hinderten. Ein
Wort hatte vielleicht begehrliche Schwächen in mir erweckt und nun war ich
für den Abend der grausamen Macht verfallen. Oder zwischen mein
Klavierspiel tönte eine gleichgültige Stimme vom Vorplatz herein, oder ich
atmete den Duft des Tees, einer Zigarette, und ich war ein Sklave der nie
in ihrer Entsetzlichkeit genannten Gewalt, denn man begnügt sich vor ihr
wie über eine süsse Torheit zu lächeln. Ich aber behaupte, dass uns dieser
hinterlistige Feind in den Rausch stösst, wenn wir gern nüchtern blieben,
dass er Angst vor uns selbst, vor dem Alleinsein erweckt, denn wir wissen,
dass er dort auf den Möbeln liegt, Düfte aus gottlob vergessenen Stunden
erweckt, alberne Melodien aus dem Flügel lockt und auf den Blumen der
Tapeten Gestalten schaukeln lässt, die uns zurufen, und zwar mitleidig,
dass wir das Leben versäumt haben. Wir halten das nicht aus, wir rennen
davon und alles, was uns der Zufall entgegenwirft, ist uns recht, um über
einige Stunden hinwegzukommen. Und dieses unsinnige Wesen daheim tut dann
beleidigt, ja als verletzten wir unser Bestes, und aus Widerspruch gegen
dieses altjüngferliche Gespenst Sentimentalität besudeln wir uns nach
Kräften.

Täglich wartete ich auf einen Umschwung in meinem Leben, denn ich konnte
mir nicht denken, dass diese ernsthaften, vorsichtigen Händlerfamilien ihre
musikalischen Bedürfnisse lange Zeit durch ein so zweifelhaftes Wesen, wie
ich war, befriedigen würden.

Eines Morgens unterbrach ein ausserordentliches Ereignis diesen Winter. Ich
erhielt einen Brief mit dem Poststempel der Stadt. Die Schrift war offenbar
verstellt. Unter der üblichen steifen Korrektheit der englischen
Kalligraphie beobachtete ich eine auffallende Beweglichkeit der Züge,
phantastisch angelegte Majuskeln, die mich überraschten. Ich suchte
vergeblich nach einer Unterschrift. Das Schreiben lautete:

»Zweifellos, mein Herr, sind Sie der bemerkenswerteste Mensch in H., was
übrigens nicht viel heissen will. Seit voriger Woche bin ich von einer
Reise zurück und beobachte überall, dass sich die Einbildungskraft dieser
Stadt fast ausschliesslich mit Ihnen befasst. Ich habe Sie nicht gesehen,
aber man sagt mir, dass Sie totenhaft hässlich sind. Ich möchte Sie kennen
lernen. Da mich das Äussere eines Menschen -- besonders der nicht
angelsächsischen Rassen -- sehr leicht abschreckt, möchte ich mich mit
Ihnen unterhalten ohne Sie zu sehen; wie, das lassen Sie meine Sorge sein.
Vorläufig schreiben Sie mir nur, ob es Ihnen der Mühe wert scheint, die
Bekanntschaft einer Persönlichkeit zu machen, die Ihnen nichts anderes
verrät, als dass sie eine Dame ist.« »Es scheint mir der Mühe wert,«
schrieb ich ohne Zögern, denn selbst ein schlechter Scherz hätte meinem
Leben Abwechslung gebracht. Ich brauchte nicht lange nach der Baumhöhle im
James Park zu suchen, wo ich meine Antwort niederlegen sollte.


»Ich halte Sie für klug genug,« so endete der Brief, »den Reiz dieses
Abenteuers nicht durch Belauern des Abholers zu stören. Sollten Sie die
Geschichte durch eine Unklugheit verderben, so hätte ich eine missglückte
Unterhaltung zu bedauern.«

Am nächsten Tag erhielt ich folgende Einladung: »Montag nachmittag sechs
Uhr erwartet Sie Ecke Pier Road und King Street ein Coupé, das Ihnen der
Kutscher auf die Parole >Miramare< öffnen wird.«

In der Tat fand ich dort an dem bestimmten Tag in der Dunkelheit des frühen
Winterabends unter einem Gasarm ein Coupé. Der Kutscher starrte, einer
ägyptischen Basaltgottheit ähnlich, regungslos vor sich hin. Auf den Ruf
»Miramare« sah ich ihn eine kurze automatische Handbewegung machen. Der
Wagen öffnete sich von selbst. Das elektrisch beleuchtete Innere war in
Resedafarbe gepolstert und strömte einen leichten Verbenengeruch aus.
Sofort schloss sich hinter mir die Tür und der Wagen setzte sich in
Bewegung. Auf einem Eckbrett fand ich Zigaretten. Ich wollte auf den Weg
achten, doch als ich die Vorhänge zurückschlug, bemerkte ich, dass statt
der Fenster hell polierte Holzplatten in die Wagenschläge eingelassen
waren. Zum Öffnen der Türen gab es keinerlei Handhaben. Ich war also ein
Gefangener, bis es dem basaltnen Kutscher einfiele, auf den Knopf zu
drücken. Nur ein undurchsichtiger Ventilationsapparat an der Decke verband
mich mit der Aussenwelt. Die fast lautlose Bewegung der Gummiräder machte
mir unmöglich zu unterscheiden, ob ich über Pflaster fuhr oder ob wir die
Stadt etwa verlassen hätten. Die Fahrt dauerte erheblich länger als eine
einfache Strecke in der kleinen Stadt; doch der Kutscher konnte ja den
Auftrag haben, durch Umwege meine Vermutungen irre zu leiten. Mein
Aufenthalt in der duftenden Helle dieses rollenden Boudoirs war indessen
durchaus erträglich. Ich versuchte die Zigaretten, deren auserlesene
Qualität ich feststellte. Plötzlich hielt der Wagen an. Während ich
draussen Stimmen vernahm, erlosch die elektrische Birne. Der Schlag öffnete
sich. Ich sah ein verschneites Gehölz, ein Stück Nachthimmel und ein
anderes Coupé. In wenigen Sekunden glitt geschmeidig wie ein
fremdländisches Tier eine schwarzgekleidete Gestalt herein, die so dicht
verschleiert war, dass ich weder Alter noch Statur erkennen konnte. Sofort
schloss sich der Schlag hinter ihr, der Wagen fuhr weiter. Das Wesen hatte
sich in der Finsternis neben mir niedergelassen. Ich beschloss, sie zuerst
reden zu lassen. Vorläufig war nichts wahrzunehmen, als das Knistern und
der Duft schwerer Seide. Dann sagte eine sichere ziemlich tiefe
Frauenstimme:

»Geben Sie mir bitte Ihre Streichhölzer.«

Ich fühlte ihre Hand an meinem Arm. Sie verbarg meine Zündhölzer, wie mir
schien, in ihrem Kleid.

»Geben Sie mir Ihren Revolver!« sagte sie darauf kurz und bestimmt.

»Ihren Revolver«, drängte sie.

Ich versicherte ihr, dass ich nie einen Revolver bei mir führe, da ich mir
bei meiner Erregbarkeit mehr Unheil als Schutz damit schaffen würde.

»Ausser heute,« bemerkte sie halb ironisch.

»Ich hatte schlimmstenfalls einen boshaften Scherz zu erwarten,« erklärte
ich, »dazu hätte mir dieser Stock genügt; mit Vergnügen liefere ich ihn
aus.«

»Danke, vor einem Stock habe ich keine Angst.«

»Aber vor einem Revolver?«

»Solch ein Instrument«, erwiderte sie rasch, »gibt einem Abenteuer so
leicht den Anstrich von faits divers für die Morgenzeitung.«

In diesem Augenblick bemerkte ich, wie sie etwas Hartes auf das Wandbrett
legte. Leise erhob ich die Hand, um den Gegenstand zu befühlen und machte
dabei unvorsichtigerweise ein Geräusch.

»Was tun Sie?« fragte sie.

»Ich suche meine Handschuhe.«

Sofort bereute ich diese dumme Ausflucht.

»Ich hätte Lust, Licht zu machen«, rief sie lachend, »um zu sehen, ob Sie
jetzt erröten.« Ich kam mir vor wie ein Schulknabe.

»Ich gestehe, mir eine Blösse gegeben zu haben,« sagte ich, »aber verrät es
nicht auch eine Schwäche, dass Sie es für nötig hielten, einen Revolver
mitzubringen, während ich waffenlos kam?«

»Insofern haben Sie sogar schon einen Sieg zu verzeichnen,« antwortete sie,
»als Sie mein Vertrauen besitzen. Ich glaube Ihnen nämlich, dass Sie
waffenlos sind.«

»Darf ich Ihnen die Hand drücken?«

»Damit Sie mich mit einem Mal durchschauen? Nun, ich habe Pelzhandschuhe
an. Hier haben Sie eine maskierte Hand, deren Gestalt nichts verrät.«

Ich konnte bereits merken, dass ich es mit keiner Bovary zu tun hatte,
sondern mit einer ganz bewusst handelnden Frau von abgefeimter
Spitzfindigkeit. Manchmal schwieg ich minutenlang; das machte sie nervös.

»Sie haben wohl heute einen schlechten Tag?« fragte sie.

»Im Gegenteil, den besten, seit ich in H. lebe. Und Sie?«

»Ich langweile mich ein wenig.«

»Zu Ihrer Erheiterung will ich Ihnen verraten, dass Sie in diesem
Augenblick genau dasselbe erleben, was der Mann so oft vor Frauen
empfindet. Aus Scheu vor der Banalität fürchten Sie, die notwendigen ersten
Worte auszusprechen. Ich weiss, Frauen amüsiert diese Angst der Männer
sehr, denn sie merken, dass man sie zu ernst nimmt. Sie würden ja gar nicht
nachdenken, ob es banal ist, wenn man über das Wetter spräche. Ich will nun
auch einmal kritiklos sein, wie eine Frau. Fragen Sie mich doch einfach,
wie es mir in H. gefällt, ob es in Deutschland ebenso schön ist . . .?«

»Aber Sie können das alles doch auch ungefragt sagen,« erwiderte sie
verblüfft, fast gekränkt.

»Mir kommt es ja gar nicht darauf an, zu reden,« sagte ich lachend. »Es
langweilt mich nicht im geringsten mit einer Unbekannten, unter der ich mir
nach Belieben eine Semiramis oder die Otéro vorstellen kann, schweigend
durch unbekannte Gegenden zu rollen und ihr zu überlassen, mir die
ausserordentlichsten Überraschungen zu verschaffen. Aber wenn Sie sprechen
wollen, stehe ich gerne zur Verfügung.«

»Ist das eigentlich eine Unhöflichkeit?« fragte sie naiv. »Da ich Sie
selbst noch nicht kenne, finde ich es interessanter, an Cleopatra zu
denken, als an eine Gouvernante aus den Romanen von Mrs. Bradford.«

»Nun will ich Ihnen freiwillig die Hand geben,« sagte sie plötzlich, »ich
glaube, mir von dem Abenteuer etwas versprechen zu dürfen.«

Langsam schoben sich kühle, trockene Finger auf die meinen. Ich, fühlte
eine jener schlanken, fast etwas zu knochigen Hände mit langen, an den
Gelenken etwas ausbuchtenden Fingern, deren zitternde Beweglichkeit stets
andere Formen hervorzubringen scheint.

»Glauben Sie, dass ich schön bin?« fragte sie, während ich im Dunkeln mit
ihrer Hand spielte, die sich langsam in der meinen erwärmte.

»Nein,« erwiderte ich, »aber Ihre Hand verrät eine Seele, die das Schönsein
überflüssig macht.«

»Ah,« rief sie, wie es schien, entrüstet, überrascht und verlegen zugleich.
Sie rückte weg. Da ich mich gleich ihr schweigend in die Ecke lehnte,
begann sie wieder nervös:

»Warum, glauben Sie, habe ich diese ganze Geschichte eingeleitet?«

»Vermutlich aus Neugier?«

»Vermutlich? Halten Sie mich denn für ganz temperamentlos?«

Statt einer Antwort schlang ich heftig die Arme um sie; während sie sich
wehrte, bahnte ich mir den Weg zu ihrem verschleierten Antlitz und drückte
meine Lippen auf die ihren. Der Widerstand wurde immer schwächer unter
einem Kuss, währenddessen ich den Pudergeruch von nicht mehr in allererster
Jugend blühenden Wangen einsog. Ihr dünner feiner Mund jedoch hatte etwas
so naiv Anschmiegendes, dass ich den -- vielleicht irrigen -- Eindruck
empfing, als entdeckte sie zum erstenmal die Wonnen eines Kusses. Plötzlich
stiess sie mich von sich, als hätte ich sie durch irgend etwas verletzt.

»Sie gefallen mir nicht mehr,« sagte sie kurz.

»Weil Ihre Neugier sich nicht so schnell befriedigen lässt, als Sie
glaubten?«

»Und Sie? Sind Sie denn zufrieden?«

»Noch lange nicht!« erwiderte ich kühl.

»Und das sagen Sie so ruhig?«

»Durchaus, weil ich der Befriedigung gewiss bin.«

»Das ist stark.«

»Finden Sie?«

Ich presste sie wieder in die Arme. Sie suchte sich los zu machen.

»Lassen Sie mich oder ich schelle dem Kutscher.«

»Schellen Sie!«

Ohne dass ich eine Bewegung von ihr wahrgenommen, hielt der Wagen. Im
selben Augenblick öffnete sich der Schlag, um sie hinauszulassen und
schloss sich wieder. Die elektrische Birne erglühte, der Wagen setzte sich
in schnelle Bewegung. Ich befand mich wieder als einsamer Gefangener in der
duftenden Helle des Boudoirs. Sollte ich mir durch zu schnelles Vorgehen
das Abenteuer verdorben haben, währenddessen ich vielleicht das Idol meiner
Träume umarmte oder eine antike Kurtisane zu mir herabgestiegen war? Am
meisten neigte ich jedoch dazu, mir eine grünäugige Perverse mit kleinen
Katzenzähnen vorzustellen. Plötzlich unterbrach das Anhalten des Wagens
meine Gedanken. Der Schlag öffnete sich, ich stieg aus und befand mich an
der bekannten Strassenecke. Noch ehe ich Zeit gefunden, dem Kutscher eine
Münze zu geben, fuhr der Wagen davon. Ich stand am Weg wie ein Bettelknabe,
der, aus einem Märchentraum erwacht, sich in der Wirklichkeit noch nicht
wieder zurechtzufinden weiss.

Eine Woche lang mochte ich über das Abenteuer gegrübelt haben, als mir
eines Morgens wieder ein Brief der Unbekannten gebracht wurde. In einem von
dem vorigen weit entfernten Stadtviertel würde mich ihr Coupé am nächsten
Abend um dieselbe Stunde erwarten.

Wieder war ich während einer halben Stunde ein Gefangener in dem hellen
rollenden Boudoir. Als der Wagen anhielt, erwartete ich eine Wiederholung
der Vorgänge des letzten Zusammentreffens. Statt dessen befand ich mich in
dem Hof eines palastähnlichen Gebäudes. Vor mir stieg eine Freitreppe, die
von zwei Kandelabern erleuchtet wurde, zum Hochparterre hinauf. Oben
erwarteten mich zwei Diener, die stumm ein Glasportal öffneten, durch das
ich in ein helles, durchwärmtes Treppenhaus trat. Man schob mich
gewissermassen durch eine Flügeltür in ein dunkles Zimmer. Meine Füsse
fühlten einen dichten Teppich. Ich atmete jenen seltsamen Duft von feinem
Holz und schweren Seidenstoffen, der in üppigen, wenig betretenen Räumen
herrscht. Langsam tastete ich mich bis zu einem Sessel. Dann hörte ich, wie
an einer entfernten Wand eine Tür auf- und zugeschoben wurde.

»Wo sind Sie, mein Freund?« fragte die mir bekannte tiefe Stimme mit einem
Ton von Vertraulichkeit, der mich nach unserem letzten Abschied überraschen
musste. »Bleiben Sie, ich werde Sie finden.«

Ich vernahm, wie sie über den Teppich herankam, dann fühlte ich ihre Hände
in meinem Haar.

»Folgen Sie mir!« flüsterte sie.

Wieder umschloss ich jene magere Hand, die mich führte. Ich atmete die laue
vertrauliche Atmosphäre, die Frauen ausströmen, welche ganze Wintertage
unter leichten Gewändern in ihren warmen parfümierten Gemächern geblieben
sind. Wir traten in ein anstossendes, sehr heisses Zimmer, worin feuchte
tropische Pflanzen leben mussten. Sie zog mich auf einen Divan. Das Dunkel
war so undurchdringlich, dass ich nicht einmal vermuten konnte, auf welcher
Seite sich die Fenster befanden.

»Ich habe Sie nun gesehen,« begann sie, »man hat Sie mir gezeigt.«

»Das ist ein Kompliment,« erwiderte ich.

»Wieso?«

»Dass Sie dennoch das Abenteuer fortsetzen.«

»Ich finde Sie in der Tat totenhaft hässlich. Aber das ist Ihre Chance bei
mir.«

»Dann sind Sie ja lasterhaft.«

»Und das Laster, Sie zu lieben, heisst Satanismus,« sagte sie leise
lachend.

»Ich fürchte, Ihre Lasterhaftigkeit ist nur literarisch«, erwiderte ich
plötzlich skeptisch.

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie haben vielleicht in London oder in Paris in literarischen Kreisen
gelebt, wo es noch vor kurzem für sehr elegant galt, seltenen Lastern zu
frönen.«

»Niemals. Nur Finanzleute und bestenfalls Seeoffiziere sind in meine Nähe
gekommen. Einen Teil meines Lebens habe ich in Amerika zugebracht. In Paris
war ich nie, möchte auch gar nicht hin; ich stelle es mir zu albern vor; in
London hielt ich mich nur vorübergehend auf. Mein Vermögen hat mir ein paar
Exzentrizitäten gestattet, aber ich habe bis jetzt noch nicht erfahren, was
literarische Lasterhaftigkeit ist.«

»Um so besser,« erwiderte ich, »aber woher wissen Sie etwas von Satanismus?
Das Wort gehört doch nicht in das Vokabularium amerikanischer Salons?«

»Es macht mir Spass, Ihnen das zu erzählen,« begann sie behaglich. »Schon
als Kind reizte mich die Phantastik des Katholizismus, aber glauben Sie
mir, es ist nicht mehr, als ein Sport für mich -- ich gebe im Grund keinen
Penny dafür -- ich bin Protestantin, und zwar aus Überzeugung; später
kaufte ich mir aufs Geratewohl katholische Schriften mit
vielversprechenden, beinahe indezenten Titeln, die mich dann freilich meist
enttäuschten. Das reizte mich um so mehr. Es ärgerte mich, dass diese
Autoren die Geheimnisse, welche sie zu wissen vorgeben, von denen der
Protestantismus nichts sagt, für sich zu behalten schienen. Wahrscheinlich
ist das alles Gerede, sagte ich mir oft, aber ich wollte durchaus hinter
die Schliche dieser Leute kommen. So fiel mir ein Buch über Dämonialität
von dem Pater Sinistrari d'Ameno in die Hände . . .«

»Den kennen Sie?« unterbrach ich überrascht.

»Da fand ich die Beschreibung geheimer Zusammenkünfte von Frauen mit sehr
sinnenstarken Wesen, genannt Inkubus; niemals hatte ich etwas gehört, was
meine Einbildungskraft mehr entflammte. Irgendwo ausserhalb der
Gesellschaft einen übersinnlichen Verkehr zu haben, der mit keinem
menschlichen Mass zu messen ist, der darum auch keine menschlichen
Sittengesetze verletzen, noch eine Dame gesellschaftlich kompromittieren
kann, -- denn was der katholische Verfasser da von Todsünde spricht, gilt
ja nicht für uns Protestanten -- das schien mir eine so unerhört geniale
Idee, eines wirklich vollkommenen Gottes würdig, um besonders intelligente
Gläubige zu belohnen, die ihre Handlungen vor der Öffentlichkeit zu
verbergen lieben. Mein Leben hatte von jetzt an nur noch den Zweck, dieses
ausserirdische Glück zu kosten. Jahrelang lauschte ich auf alles
Aussergewöhnliche, das in meine Kreise drang, bis mir vor einiger Zeit eine
Chiromantin weissagte, das ausserordentlichste Ereignis meines Lebens würde
in diesem Jahre eintreten. Ich begab mich auf Reisen, um dem Wunderbaren zu
begegnen. Ermattet und enttäuscht kam ich jüngst zurück.«

»Was mögen Sie auf dieser Reise alles angestellt haben!« warf ich belustigt
ein.

»Unterbrechen Sie mich nicht.« Aufgeregt fuhr sie fort: »Wo ich hier in H.
erschien, hörte ich von Ihnen. Es war beängstigend, Ihr Name verfolgte
mich, wenn ich allein war. Ich war überzeugt, Sie müssten mit dem erhofften
Ereignis in Verbindung sein. Unter allen Umständen sollten Sie mir Rede
stehen. Vielleicht wären Sie bestimmt, mein Werkzeug zu sein; vielleicht
redete der Pater Sinistrari nur symbolisch. Man könnte ja in eine beinahe
übersinnliche Beziehung auch zu einem lebendigen Wesen treten, indem man,
um den Enttäuschungen und Gefahren der Sinnenwelt zu entgehen, einfach die
Augen zumacht. Meinen Sie nicht?«

Mir war ganz und gar nicht zumute wie jemand, der zu einer Schäferstunde
gekommen ist. Diese Mischung kalter berechnender Lasterhaftigkeit mit
kasuistischer Spekulation und protestantisch-bürgerlicher Beschränktheit
konnten einen wirklich aus dem Gleichgewicht bringen; dazu das unbehagliche
Gefühl, als Werkzeug zu dienen, gewissermassen herbefohlen zu sein. Um ein
peinliches Stillschweigen zu vermeiden, sagte ich:

»Sie haben sich leider alle Möglichkeit zur Befriedigung Ihrer Phantasie
geraubt, indem Sie meinen Anblick gesucht haben.«

»Wie hätte ich Sie denn in mein Haus lassen können,« rief sie ganz
verwundert, »ohne zu wissen, dass Sie ein Gentleman sind?«

Ich konnte kaum das Lachen unterdrücken. Bis in die vierte Dimension trug
diese Angelsächsin die Vorurteile ihrer Klasse.

»Und nun haben Sie diese Überzeugung gewonnen?«

»Nicht nur die,« flüsterte sie, plötzlich wieder erregt; ich fühlte, wie
sie mir in der Dunkelheit ganz nahe war. »Ich weiss nun auch, dass Sie
wirklich der Erwählte für mein Erlebnis sind. Ich habe die Lichter
gelöscht, damit Sie sich vorstellen können, Ihr Idol zu umarmen -- nicht
eine Frau, an der Sie tausend Kleinigkeiten stören würden; und diese
Urliebkosungen, die sich an keiner Wirklichkeit abnutzen, will ich mir
stehlen -- ein Diebstahl! Ich habe Sie gesehen, so wie Sie sind, habe ich
mir den Satan gedacht!«

Sie war atemlos. Ich schlug heftig die Arme um sie und war plötzlich ganz
von der namenlosen Begier erfüllt, mich mit geschlossenen Augen in den vor
mir gähnenden Abgrund zu stürzen.

»Still . . . kein Wort mehr . . .« stöhnte ich wie in dunkeler Angst vor
dem Erwachen -- »zerstöre das nicht . . .!« Und ich presste ihr die Lippen
zusammen. Widerstandslos, schweigend gehörte sie mir. Ich fühlte mich in
undurchdringlicher Nacht, hinter der ich phantastische traumhafte
Landschaften vermuten konnte. Zum erstenmal hielt ich das Weib im Arm,
dieses dunkle grosse ferne Ewige, das eine Frau niemals ganz verkörpern
kann. Alles glühte auf, was sonst ohnmächtige Träume und enttäuschende
Wirklichkeiten in mir verschüttet hatten. Ich habe mich niemals so sinnlos
bis zum Gefühl der Auflösung verschwendet, als an diesem mageren,
geschmeidigen, fremdartigen Leib, der für mich keine Persönlichkeit
enthielt, der wirklich das Idol war. Wie sie später behauptete, soll ich
bisweilen laut fremdartige barbarische Worte gerufen haben, ähnlich den
Naturlauten, die sie von wilden Völkern bei ihren bewusstlosen heiligen
Tänzen gehört hatte, ein unwillkürliches Klangwerden höchster Erregungen
der Seele, die in das Geheimnisvollste tastet. Sie hatte diese Laute
vergessen; sie müssten ihr aber, meinte sie, wieder einfallen, wenn sie den
Geschmack gewisser Gifte auf der Zunge spürte, so wie manche Erinnerungen
mit Melodien oder Gerüchen verknüpft seien. Ich selbst kann meine Gefühle
nur mit denen vergleichen, die ich einmal hatte, als ich in den Alpen mit
den Fingerspitzen über einem Abgrund hing und angesichts des Todes mein
ganzes Leben, von rückwärts beginnend, in einem Augenblick an mir
vorüberziehen sah. So kamen in dieser Umarmung alle Frauen an mir vorbei,
die ich gekannt, und ich hatte das Gefühl, alle, alle zu besitzen. Erlebte
Umarmungen wiederholten sich in vollkommeneren Vereinigungen, missglückte
Abenteuer gestalteten sich neu; einst begehrte unnahbare Königinnen sanken
in meine Arme und zum Schluss kamen wundervolle, verschleierte, traumhafte
Frauen. Das waren die Geliebten meiner Knabenträume, denen ich früher und
glühender gehuldigt, als jenen Lebendigen. Nur wer als Kind solche
phantastischen Sehnsüchte gekannt, der mag die Erfüllungen dieser Stunde an
der Stärke seiner damaligen, alle wirkliche Liebessehnsucht übersteigenden
Wünsche messen.

Ich weiss nicht wie und in was für Augenblicken ich in den Armen dieser
Frau entschlummerte; plötzlich erwachte ich; noch eben hatte ich heisse
hohe Wohlgerüche gespürt; nun vernahm ich ein Rauschen von Gewändern, das
Schieben einer Tür; um mich erglühten zahllose Lampen. Ich erschrak, als
ich mich auf einmal in einem engen, grell erleuchteten Raum befand, wo mich
von allen Seiten scheussliche Larven angrinsten, die ihre braunen behaarten
Gesichter zwischen riesenhaften Schiessbogen, bunten Federbüschen und
anderen phantastischen Geräten wilder Volksstämme herausstreckten. Das war
das Boudoir meiner Freundin. Ich trat in das Nachbarzimmer zurück und
befand mich in einem hellen, wenig eigenartigen Salon Louis XV. in
Erdbeerfarbe. Ein Diener trat ein und sagte:

»Madame ist leidend. Sie bedauert heute nicht empfangen zu können.«

Ich folgte ihm in den Hof, wo mich das Coupé erwartete. Der Kutscher
brachte mich wieder an die Strassenecke zurück.

Alle vier bis fünf Tage erhielt ich nun ähnliche Einladungen nach den
verschiedensten Vierteln, aber stets brachte mich das Coupé an dasselbe
Ziel. Wir sprachen immer weniger zusammen. Was hätten sich auch zwei
Menschen sagen sollen, die sich nur ihrer gegenseitigen Körper bedienten
zum Vorwand für die Orgien der Phantasie. Nicht mich, sondern den Satan
liebte diese Frau. Und wenn sie in der Dunkelheit vor mir lag und
schweigend litt, wie ich ihre Linien mit der Hand suchte, wenn mir war, als
hätte ich im Gras des Gartens eine umgestürzte Statue gefunden, die unter
meiner Berührung lebendig ward, dann liebte ich Lais, dann loderten Städte
um mich auf, in die auf den Wink dieser Frau Brandfackeln geflogen waren,
wie in meine Seele und nichts war mir ferner, als der Wunsch, sie selbst
einmal zu besitzen.

Vor allem schaffte sie mir zum erstenmal im Leben die Befriedigung meiner
quälenden Einbildungskraft. Die Liebesräusche der Vergangenheit und der
Dichtung, die mir immer unerhörter, geheimnisvoller erschienen waren, als
die meinen, brauchte ich nun nicht mehr als schwächlicher Spätgeborener zu
beneiden, ich wusste sie neu zu leben. »Warte bis heute abend,« sagte ich
mir, wenn sich die Phantasie in müssigen Bildern verschwendete, und es
kamen Nächte, wo ich die Adria an die Marmorpaläste schlagen hörte, wo ich
dichten Samt neben ihrer Haut fühlte, prunkenden Samt, unter dem ihre
Glieder anzuschwellen schienen; eine bös-schöne Dogaressa spielte mit mir
und freute sich, dass ich um ihretwillen den Tod verachtete, den ihre Liebe
kosten kann. -- Oder aus ihrem Haar stieg der Duft der fränkischen Wälder,
ihre Linien wurden weich wie die Lieder, die einst deutsche Mädchen abends
am Brunnen sangen . . . Mädchen, die ihre Liebe scheu der Muttergottes
_abbetteln_ müssen, dann _einmal alles_ vergessen können, sogar die
heimliche Kapelle ihrer Kindergebete, und doch froh sind zu wissen, dass
dort die Madonna lächelt, auch dann noch, wenn sie spät zu ihr zurückkommen
werden, wenn _er_ draussen in der Fremde ist und blendendere Frauen liebt.
-- Und launenhafte Stunden kamen; da rief das spitze kleine Gelächter
meiner Geliebten kecke Herzoginnen der Régence hervor; ein fast herb
duftender Puder gab ihrer Haut eine kranke Glätte. Und mir war, als sei das
Gemach um uns hell und eng, eine Nuss, in der wir auf irgendeinem nicht
ganz echten, jedenfalls sehr wenig wilden Meere schwammen. Und unsere
Umarmung war wie von dünnen Goldfäden durchwirkt und umsponnen mit kleinen
Schnörkeln, welche die Form von Mandeln hatten. Und an solchen Tagen war
meine Geliebte sehr kitzlich.


Diese Erlebnisse wären nicht möglich gewesen, hätte sie nicht eine
Eigenschaft besessen, die man sonst einer Frau nicht leicht verzeiht. In
Wirklichkeit war sie nämlich selbst gar nicht fühlbar; keine Laune, kein
Scherz, kein Einfall, keine Wünsche, nichts Unvorhergesehenes. Das, was sie
brauchte, schien sie zu finden, ohne mein Zutun. Etwas musste mich aber
doch verstimmen: Wenn ich sie auch als mein Werkzeug betrachtete, so war
ich noch mehr das ihre. Winkte sie, so kam ich; war sie meiner müde, so
entliess sie mich. Erschien ich einmal aus Laune nicht, dann verlor sie
darüber kein Wort. Nach einigen Tagen kam immer eine neue Einladung. Dieser
Gleichmut ärgerte mich, ich beschloss, sie zu reizen, sie wütend zu machen,
indem ich alberne Gründe für mein Wegbleiben erfand. Aber wenn dann ihr
Haar duftete, als müsse es in der Sonne rot leuchten, wenn mich ihre hagern
Formen in nervöser Hast umkrampften, dass ich nicht wusste, ob sie höchste
Qual oder Lust empfand, ob sie mich liebte oder züchtigen wollte, dann
vergass ich allen Ärger, alle Absichten; dann fühlte ich mich als der
Beichtvater, der die Zelle einer jungen Hexe betritt, die morgen brennen
muss und heute noch einmal von der Wollust in sich hineinschlingen will,
was sie nur noch fassen kann, die noch schnell so viel fremde Kraft
aufzusaugen, zu zerstören begierig ist, als ihr irgend möglich. -- Mein
Überlegenheitsdünkel verstummte, wenn ich sie träge und regungslos fand,
wie eine Bajadere, die sich eines heissen Morgens im Schatten bizarrer
Gewächse gewälzt und gedankenlos zu viele fadsüsse Früchte verschlungen
hat. Dann roch sie nach indischen Blumen, sie wusste seltsame
Bauchbewegungen, so dass sie mir fast zu üppig vorkam. So vergass ich gern,
dass mich vielleicht eine nichtige Dame zum besten hielt. Sie existierte ja
gar nicht. Manchmal kam mir der Gedanke, sie zu gewissen erregenden Worten
in ihr fremden oder in toten Sprachen abzurichten. Aber ich merkte
rechtzeitig, dass dadurch die Lebendigkeit meiner Idole Literatur, Theater
geworden wäre, ein kleiner Scherz, den jede Dirne hätte erlernen können. --
Natürlich machte ich mir eine bestimmte Vorstellung von ihr, aber ich kann
gar nicht sagen, ob ich sie mir schöner oder hässlicher dachte, als die mir
begegnenden Frauen, hinter denen ich sie bisweilen vermutete. Die
Ausserordentlichkeit meiner Freuden war gar nicht an einem wirklichen
Niveau zu messen.

Obwohl also alle Berührungen mit dem Alltag fern lagen, in denen die
Todeskeime der menschlichen Beziehungen liegen, nahm diese
ausserordentlichste aller Liebesgeschichten ein so dummes triviales Ende
wie eine Sergeantenliebschaft. Die Dame wurde eifersüchtig, allerdings auf
meine Idole. Eines Tages fragte sie mich wie eine kleine Näherin, ob ich
sie liebe. Und damit ist die Geschichte eigentlich zu Ende. Sie hatte
herausbekommen, dass meine Freuden doch glühender und mannigfaltiger waren
als die ihren. Durch ihre vorzeitige Neugier waren ihre Sinne nun einmal an
meine Gestalt gebunden. Sie war es müde, immer dasselbe Wesen zu küssen,
wenn sie es auch in den Flitterwochen Satan genannt hatte. Ich war boshaft
genug, sie merken zu lassen, dass sie ohne ihre >ladylike< Vorsicht und
Neugier gleich mir über ein Serail verfügen könnte, dass sie dann heute
einen delikaten Georges Brummel, morgen einen römischen Gladiator umarmt
hätte. Solche Worte trieben sie in ohnmächtige Wut.

»Sie sollen mich nun doch auch kennen lernen,« sagte sie einmal empört,
»und wir wollen sehen, ob Sie dann noch Ihre Idole vorziehen.«

Ich erriet, dass sie das Licht aufdrehen wollte.

»Bitte nicht!« rief ich, »ich laufe fort.«

»Sie wollen mich nicht sehen?«

»Sie können unmöglich so schön sein, als ich glauben möchte.«

»Das ist unerhört.«

»Sie wollten doch den Weihrauch eines Idols empfangen.«

Nun hatte sie doch wohl Angst, mich zu enttäuschen. Ohne zu reden verliess
sie mich.

Ich erhielt nun keine Einladung mehr. Wochen vergingen, und ich fühlte eine
grosse Lücke in meinem Leben, das in ununterbrochener Trostlosigkeit
weiterging. Ich war traurig, als sei mir eine gute Geliebte gestorben; aber
sobald ich an diese Frau dachte, verging mir alle Sehnsucht. Ich fühlte
etwas wie leisen Hohn, eine Art Verachtung für allzu grosse Unterlegenheit,
an die zu denken kaum der Mühe wert ist.

Eines Abends war ich allein in dem einzigen Restaurant der Stadt, wo man
nach dem Theater speisen konnte. An einem Tisch hinter mir sassen Leute,
die bei meinem Kommen noch nicht dagewesen waren: zwei Herren in korrekter
schwarzer Abendkleidung; einer hatte einen fast weissen Bart mit
ausrasiertem Kinn, der andere war ein blonder junger Mensch mit frischem,
sehr englischem Knabengesicht. Zwischen ihnen sass eine blasse Frau von
etwa fünfunddreissig Jahren. Sie hatte dunkles Haar, das geradlinig in
regelmässigen Löckchen die Stirn abschloss, ein mageres Gesicht von
keltischem Typus mit stillen, fast starren braunen Augen. Eine
ausserordentliche Distinguiertheit lag über ihr. Den fast zu langen
schmalen Mund schmückten sehr weisse, auffallend kleine Zähne -- ein
Gesicht, von dem man meinen könnte, es sei einmal schön gewesen; denn
irgend etwas fehlt und das schreibt man den Jahren zu; wahrscheinlich aber
fehlte es immer. Die Hände waren gross, doch schlank und mit mehreren
Opalen geschmückt. Diese drei Menschen hatten eine selbstverständliche
anspruchslose Vornehmheit ohne aufdringende Eigenart, wie man es bei
Nachbarn im Theater oder an der Table d'hôte gern hat, die durch nichts
stören, nicht einmal Interesse erwecken. Dennoch fühlte ich einen Zwang,
mich nach ihnen umzudrehen. Ich glaubte zu bemerken, dass mich die Dame
gleichfalls beobachtete. »Vielleicht ist es die Unbekannte,« dachte ich
gleichgültig, aber dieser Gedanke kam mir natürlich bei sehr vielen Frauen.
Ich bestellte Kaffee und benutzte die Gelegenheit, während der Kellner
abdeckte, meinen Platz zu wechseln, so dass ich die Fremden vor Augen
hatte. Ich bemerkte, wie die Dame unruhig wurde und mit plötzlichem Eifer
zu dem alten Herrn sprach. Dieser beglich die Rechnung, die drei verliessen
das Restaurant.

Am folgenden Tage erhielt ich zwei Briefe. »Die Komödie ist aus,« lautete
der eine in der gewohnten Schrift, »ich fühle mich erkannt, lassen wir die
Masken fallen.« Der andere trug ähnliche, doch natürlichere, offenbar
unverstellte Züge. Er enthielt eine förmliche Einladung zum Ball bei einer
mir völlig unbekannten Dame. Auf unsere phantastischen Orgien schien diese
Frau willens, einen unvermeidlichen Flirt zu setzen oder vielleicht
wirklich gar eine Liebschaft. Ich aber zog vor, meine phantastische
Geliebte nicht aus dem Grab zu erwecken. Helena war in die Immaterialität
zurückgekehrt. Um den angebotenen Ersatz anzunehmen, war ich im Augenblick
doch zu verwöhnt. Bald verliess ich H. Ich habe die Dame nie wieder
gesehen.

                                * * *

Der Erzähler schwieg. Ich hatte das trostlose Gefühl, dass nun etwas
fertig, unwiederbringlich vorbei sei. Ein Leben hörte auf, ohne dass ich
tot war. Die anderen schienen ähnliches zu empfinden.

»Eine neue Geschichte,« rief jemand, »diese Leere ist ja unerträglich!«

Wir lagen wie blind in einer dunklen Höhle, hungrig nach der menschlichen
Stimme. Unser Leben, unser Wille war erstarrt. Nur die Einbildungskraft
wachte und verlangte -- selbst unfruchtbar --, dass ein anderer, Stärkerer,
Nüchterner sie mit Vorstellungen füllen solle.




Eine Nacht des achtzehnten Jahrhunderts


UND irgendeiner kam und liess eine helle heitere Musik über uns ergehen,
lustig wie eine Gavotte oder eine Passacaglia des achtzehnten Jahrhunderts.
Um uns erstand eine helle Kirche, überall schwebten gutgenährte Amoretten,
die Fruchtschnüre von Loge zu Loge trugen: gewundene goldgezierte Säulen
umgaben ein blau und rosa Altarbild. Und wie lustig die Herzoginnen davor
knieten! Wie das nach Puder roch; und alle lachten über den famosen
Priester, der sie mit richtigen Taschenspieler-Kunststücken unterhielt. Ich
bat den Sakristan, der an mir vorüber wollte, um Erklärung. Liebenswürdig
wie ein weltgewandter Jesuit nannte er mir die Namen aller Anwesenden. Der
Priester war der berühmte Graf von Saint-Germain, die am prächtigsten
gekleidete Dame die Herzogin von Chartres. Wie war ich nur hierher gekommen
und was sollte ich an einem Orte tun, wo ich keinen Menschen kannte? (ob
ich mich gleich deutlich erinnerte, den Grafen schon einmal auf einem
Kupferstich gesehen zu haben). Da fiel mir ein, dass ich ja noch heute mit
ihm gespeist hatte, dass er mich irgendwohin mitnehmen wollte, zu Freunden.
Ich ärgerte mich, dass er mich nun allein liess.

»Alta-Carrara!« rief ich gereizt.

»Pst, pst,« flüsterte der Sakristan begütigend, »verraten Sie ihn doch
nicht, warum denn immer gleich Namen nennen? Hier heisst er Graf von
Saint-Germain. Sie müssen ihn im neunzehnten Jahrhundert getroffen haben.
Dort nennt er sich Alta-Carrara. Neulich war eine Dame aus dem vierzehnten
Jahrhundert hier, die nannte ihn Buonaccorso Pitti, Sie sehen, alles ist
relativ,« sagte er pfiffig.

»Und du, unausstehlicher Schwätzer,« fragte ich, »welchem Jahrhundert
bildest du dir denn ein, anzugehören?«

»Ich?« fragte er stolz, »natürlich dem achtzehnten, Sie hingegen sind so
unhöflich, dass Sie nur in das neunzehnte passen. Ich schreibe heute -- mit
Vergunst -- den 15. September 1768.«

Mit einer überaus gezierten Bewegung verliess er mich. Ich hatte eine
unbezwingliche Wut auf Alta-Carrara, der noch immer seine Kunststücke vor
dem Altare machte. Ich beschloss, einen günstigen Augenblick abzuwarten, um
ihn zur Rede zu stellen. Einstweilen zog ich einen langen gewundenen
Schnörkel von einer Säule, machte eine Schlinge daraus und stellte mich an
der Kirchentür auf. Es dauerte nicht lange, bis der Graf mit einer
Verbeugung seinen Zuschauerinnen anzeigte, dass die Vorstellung zu Ende
sei. Mit selbstzufriedenem Lächeln durchschritt er die Kirche, von den
bewundernden Blicken der Herzoginnen verfolgt. Eben wollte er auf die
Strasse treten, als ich ihm meine Schlinge über den Kopf warf. Er wusste
nicht recht, was mit ihm vorging, aber als Mann von Welt lächelte er und
sagte mit Ironie:

»Ihrer hübschen Tracht nach müssen Sie aus dem neunzehnten Jahrhundert
sein. Kann ich Ihnen mit etwas dienen?«

»Tun Sie nicht, als ob Sie mich nicht kennen,« erwiderte ich ärgerlich,
»Sie versprachen mir . . . .«

»Oh verzeihen Sie, diese Damen hielten mich ein wenig auf. Nun bin ich
wieder ganz der Ihre. Wir haben übrigens noch viel Zeit vor uns« -- dabei
zog er seine Uhr aus der Tasche -- »es sind noch über zwanzig Jahre bis zur
Revolution. Wir können uns noch lange unterhalten.«

Mein Ärger wurde plötzlich durch ein rasendes Bedürfnis nach
ausgelassenster Lustigkeit abgelöst.

»Ich will lachen, schreien, purpurne Visionen haben,« bemerkte ich
aufgeregt. Der Graf erschrak ein wenig.

»Wir werden ja sehen,« begütigte er.

Wir stiegen in ein Kabriolett, um nach dem Marais zu fahren. Es war Nacht,
aber ungemein belebt in den Strassen. Es musste wohl Karneval sein. Bunte
Masken begegneten uns und warfen Blumen in den Wagen. Überall herrschte
ausgelassenes trunkenes Geschrei.

»Die Leute wissen, dass es nur noch zwanzig Jahre dauert,« sagte
Saint-Germain. »Aber sie stellen es sich schlimmer vor, als es wirklich
werden wird. Ich habe ihnen nämlich vorgeschwindelt, die Jakobiner würden
ganz Paris niederbrennen und alle, die fortlaufen wollten, erschlagen.«

Saint-Germain konnte sich vor Lachen über diesen Spass kaum halten.

»Warum haben Sie denn das getan?« fragte ich verständnislos.

»Ganz einfach, um ihre Lustigkeit ins masslose zu steigern. Solche kleine
weltgeschichtliche Schauspiele sind das einzige Amüsement meines Lebens.
Glauben Sie, ich wolle mich langweilen wie der kleinbürgerliche Ahasver?
Das hübscheste, was ich mir leistete, war doch die Geschichte mit den
Albigensern. Denen habe ich nämlich eingeredet, sie müssten die Sünde durch
die Sünde heilen. Im neunzehnten Jahrhundert nennen sie das -- glaube ich
-- Homöopathie, similia similibus. Die guten Leute bildeten sich in der Tat
ein, sie müssten alles Böse mit Gewalt aus sich heraussündigen. Nun, Sie
können sich denken, was das für Szenen gab. Aber ich will Sie nicht mit
Beschreibungen ermüden, denn Sie sollen heute etwas Ähnliches in
Wirklichkeit sehen.«

»Halten Sie nur Wort!« erwiderte ich etwas ungläubig.

»Ich habe nämlich eine kleine auserlesene Gesellschaft zu einem Fest bei
dem Grafen Gilles de Laval eingeladen, den Sie in Deutschland -- so viel
ich weiss -- Ritter Blaubart nennen, aber die Gäste wissen selbst nicht, wo
sie sich befinden. Man ahnt nur, dass es einen Hauptspass geben wird;
verraten Sie also nichts, denn mein Freund Gilles möchte, als
Kapuzinermönch verkleidet, unbekannt bleiben. Er liebt das achtzehnte
Jahrhundert nicht sehr.«

Unter solchen Gesprächen kamen wir auf der Place des Vosges an. Wir trieben
uns einige Zeit, ohne Aufmerksamkeit zu erwecken, unter den Arkaden umher
und liessen uns dann in einer Sänfte an das Guisenpalais im Marais tragen.
Nachdem wir uns überzeugt hatten, dass die Träger weit entfernt waren,
schlüpften wir in eine kleine Gasse, an deren Ende sich ein sehr armseliges
Holzpförtchen befand. Der Graf schlug an die Tür. Ein scheussliches altes
Weib öffnete. Wir standen in einem feuchtkalten dunklen Vorraum: ich folgte
Saint-Germain durch einige schlecht beleuchtete, unangenehme Gänge, bis er
stehen blieb, seinen Mantel abwarf und in reicher Hoftracht dastand. Er
strich sich das gepuderte Haar zurecht, betrachtete unter einer Kerze in
einem Handspiegel sein Gesicht, das er wie ein seidenes Tuch
zusammenzufalten und wieder aufzurollen schien, bis ihm eine Lage gefiel.
Ich wurde vor Ungeduld ganz nervös. Schliesslich öffnete er eine Tür. Wir
traten in einen gelb und silbernen Vorraum. Vor ungeheueren,
kerzenlichtüberströmten Spiegeln bewegten sich reichgekleidete Damen und
Kavaliere. Eine breite Treppe führte nach einer an die Decke stossenden
Flügeltür hinauf; alle schauten gespannt nach dieser Tür. Mein Bedürfnis
nach Lustigkeit wich einem faszinierten Starren vor den Lichtfluten, die
mich umwogten, vor den bunten kostbaren Gewändern und den heftigen
Blumengerüchen. Gebannt liess ich alles über meine Sinne ergehen. Plötzlich
trat ein Auvergnat aus der Tür.

»Ah Castel-Bajac,« rief man.


»Alles ist bereit,« sagte Castel-Bajac mit dem pfiffigen Gesicht eines
Kochs, der einen neuen Leckerbissen erfunden hat. Er öffnete die beiden
Flügel nach der Galerie eines grossen Saales. In höchster Aufregung stiegen
nun alle diese eleganten Leute die Treppe hinauf und traten durch die Tür.
Ich mischte mich unter sie. Wir nahmen auf der Galerie Platz und blickten
in den leeren Saal hinab. Während oben alles um uns her in dem hellen
prunkenden Gold- und Spiegelgeschmack des achtzehnten Jahrhunderts gehalten
war, dem auch die lustigen reichen Gewänder entsprachen, schien der Saal
selbst einen Ausblick in fremde düstere Vergangenheit zu gewähren, in eine
ausschweifende sinnlose Gotik voll zitternder wilder Schlinggewächse und
Schlangen um die spitzbogigen Fenster, in die finstere unbändige Phantastik
des sterbenden Mittelalters voll wüster, henkerhafter Lustigkeit. Der Saal,
in dem zahllose lange Kirchenkerzen ein unbestimmtes gelbes Licht
verbreiteten, war ganz menschenleer. In der Mitte stand eine lange reiche
Tafel, deren Goldgeschirr aus der Kirche genommen schien. Die
verblüffendsten Gläserformen ragten zwischen seltenen traumhaften Pflanzen
heraus. Ich war erstaunt, dass meine erlauchte Umgebung nicht unten an der
Tafel Platz nahm, sondern sie nur von der hellen Galerie aus betrachtete.
Plötzlich hörte man draussen Stimmen, die sich dem Saale zu nähern
schienen. Zwei weite Türen taten sich auseinander und eine Schar
auvergnatischer Bauern in steifem Sonntagsstaat trat schüchtern und
verwundert unter der Führung Castel-Bajacs herein. Sie liessen sich mit
ihren Weibern um die prachtvollen Tafeln Plätze anweisen und wagten kaum zu
reden, während sie bisweilen schüchterne Blicke auf die Galerie warfen, wo
man aufgeregt ihnen vertraulich und ermutigend zuwinkte. Man schien ein
Hauptvergnügen von ihnen zu erwarten. Es war in der Tat sehr unterhaltend,
wie diese steifen Menschen, teils ernste würdige Gestalten, teils plumpe
ungeschlachte Lümmel allmählich unbefangener und kühner wurden, je mehr
Nahrung sie in sich aufnahmen. Diener reichten ihnen schweigend und
würdevoll die Speisen umher und bald schien es ihnen gar nicht mehr seltsam
vorzukommen, dass sie sich hier befanden. Jeder hielt sich in seinem Innern
von Rechts wegen zu dem Leben eines Grandseigneur bestimmt.

»Sie sind entzückend, diese Leute . . .« sagte eine kleine Marquise.

»Wenn man bedenkt, dass uns ihre Kinder in zwanzig Jahren alle totschlagen
werden,« fügte Saint-Germain hinzu.

   »Demain donnons au diable
   un monde turbulent«

trällerte die Marquise nervös. Die Leute auf der Galerie wurden ungeduldig.
Man schien auf etwas zu warten, was zu lange ausblieb. Die Bauern
überliessen sich indes einer derben aber unterdrückten, pfiffigen
Heiterkeit. Da traten sechs Diener in den Saal und brachten in schmalen,
sehr langen Karaffen einen dunklen Wein, der als Lieblingsgetränk des
schwelgerischen Königs Karls VII. angekündigt wurde. In diesem Augenblick
verstummten alle die nervösen, ungeduldigen, witzelnden Bemerkungen auf der
Galerie. Es bemächtigte sich aller eine grenzenlose Erregung. Sie blickten
sich wie in geheimem Einverständnis an. Die Augen, besonders die der
Frauen, schienen ekstatisch zu glänzen. Es war, als ob alle von einer mir
unsichtbaren Vision geblendet wurden. Überall um mich her stumme wogende
Erregung. Wenn diese Menschen, die irgend etwas Scheussliches verabredet
haben mussten, jetzt mit Dolchen übereinander hergefallen wären, hätte ich
es noch nicht für das schlimmste gehalten. Es mussten sich viel
fürchterlichere Dinge vorbereiten. Diese durch das Vergnügen abgestumpften
Leute schienen zu wissen, dass nun etwas selbst für ihre Sinne Unerhörtes
kommen würde. Nur der Graf von Saint-Germain hatte seine Ruhe bewahrt.
Lächelnd trat er an mich heran.

»Was geht hier vor?« fragte ich, »wohin haben Sie mich geführt? Ist es
schon die Revolution?«

»Noch lange nicht,« sagte er milde, »man gibt den guten Leuten nur ein
wenig Aroph zu trinken.«

Indessen war unten im Saal das schwarze Getränk in Gläser gegossen worden.
Einige der Bauern hatten schon getrunken. Ihre Augen begannen zu blitzen.
Sie schauten sich anfangs etwas unsicher an, als glaubten sie ihren eigenen
Empfindungen nicht. Dann schienen sie sich gegenseitig zu irgend etwas zu
ermutigen. Man zögerte noch, aber in jedem Augenblick konnte die Wut
ausbrechen.

»Das ist die Revolution!« rief ich entsetzt. »Diese Bauern werden uns
töten. Saint-Germain macht sich über uns lustig, er will uns alle auf der
Guillotine sehen.«

Empört und mit unsäglicher Verachtung blickte man sich nach mir um, wie
nach einem, der die erregende Vorstellung einer Tragödie durch Nüsseknacken
stört.

»Das ist die Revolution!« rief ich wiederholt.

»Und wenn auch,« sagte die Marquise, der mein Geschrei nun doch zu viel
wurde.

»Damit machen Sie ihnen keine Angst,« bemerkte der Graf, »übrigens ist es
nicht die Revolution.«

Plötzlich packte einer der Bauern seinen Nachbar am Arm, der in ein lautes
sinnliches Gelächter ausbrach. Auf dieses Zeichen schienen alle gewartet zu
haben. Die vorsichtigen, plumpen Leute schlugen ein brüllendes, johlendes
Lachen an. Man schien zu merken, dass sich bisher jeder im geheimen allein
für die niedrigste Bestie gehalten und nun freudig überrascht war, die
andern genau ebenso zu finden. Jeder trug plötzlich zum grössten Erstaunen
seiner Nachbarn die wohlbekannten, von der Kirche verbotenen Begierden auf
der Stirn geschrieben. Sie schienen sich auf einmal gegenseitig in ihrer
Tierheit zu entdecken. Einer drückte sich gierig an den andern, wobei
vorläufig das Geschlecht gar keine Rolle spielte.

»Du Mordskerl . . . . Du Luder . . . .« riefen sie und schlugen sich
gegenseitig auf den Bauch.

»Sie sehen, dass das für uns ganz ungefährlich ist,« flüsterte mir der Graf
lächelnd zu.

»Ich muss mich entblössen,« rief ein junges Bauernweib.

Viele Männerhände streckten sich nach ihr und entrissen ihr die Kleider.

»Ich auch . . . mir auch!« riefen sie durcheinander.

Alle verliessen ihre Plätze, die Stühle fielen um, das Tafelgerät flog
umher, ein irrsinniges Geschrei erhob sich aus dem Menschengewühl. Auf der
Galerie konnte man sich vor Entzücken nicht mehr halten. Die Damen riefen
erregt zu den Männern hinunter, so wie man Stierkämpfer in der Arena zu
ermutigen pflegt. Einige von den Kavalieren auf der Galerie hatten ihre
Degen gezogen und warfen sie unter dem Ruf »Blut . . . Blut« hinab. Mitten
in diese allgemeine Erregung der Galerie drängte sich plötzlich ein
schwarzbärtiger Kapuzinermönch, der sich atemlos bis an die Brüstung Bahn
brach.

»O das Leben, das prächtige Leben!« rief er wie verzückt, »ich will baden
im Leben!«

Mit diesen Worten riss er sein braunes härenes Kleid ab. Einen Augenblick
sah man auf der Balustrade seine nackte, nervige Gestalt, die sich mit
schnellem Schwung hinab in das Gewühl schwang. Eine namenlose Wut hatte
sich der Bauern bemächtigt. Nur noch Fetzen von Kleidern hingen um die
blutenden Körper; die Adern der Männer waren gereckt, die Frauen, die dem
Ansturm erlagen, krallten unersättlich die Finger in die neben ihnen
liegenden Körper. Manche heulten nach dem Tod, der sie von ihrer
unstillbaren Raserei heilen sollte; sie griffen nach den Scherben von Glas
und Porzellan, um sich oder andere in wahnsinnigem Lachen zu blenden oder
zu töten. Auf der Galerie wusste man vor Vergnügen nicht mehr, was man
erfinden sollte: man warf hinunter, was erreichbar war, Wandspiegel,
Champagnergläser, Stühle, man riss sogar Portieren herab, schleuderte
brennende Kerzen. Nur der Graf von Saint-Germain stand heiter lächelnd
dazwischen. Manchmal wollte er reden:

»In London habe ich im vierzehnten Jahrhundert viel amüsantere Sachen
gesehen.«

Aber niemand hörte ihm zu.

»Wer hat den Mut, mich hinabzuschleudern?« rief die kleine Marquise, »meine
Liebe dem, der es wagt!«

Keiner der Kavaliere schien das für ernst zu nehmen. Plötzlich erhoben sich
aus dem Gewoge des Saales die Arme des Kapuziners.

»Kommen Sie, kleine Marquise, Ihre Urahnin war meine erste Geliebte . . .«

»Gilles de Laval,« rief die Marquise ausser sich. »Ich erkenne dich . . .
ganz das abscheuliche Porträt . . .«

Sie riss sich die Kleider ab, sprang hinunter und verschwand mit Gilles de
Laval wie unter den Wellen des Meeres.

Gilles de Laval . . .! Der Name wirkte faszinierend auf die Frauen.
Plötzlich wollten es alle der Marquise gleichtun und schrien, man solle sie
hinunterwerfen. Wie von fremder Gewalt getrieben, ergriff einer nach dem
andern fast feierlich seine Nachbarin und schleuderte sie über die
Brüstung; wenige Sekunden lang konnte man Herzoginnen und Marquisen, die
Trägerinnen der schönsten Namen Frankreichs, nackt durch die Luft fliegen
sehen.

Mit zerschlagenen Gliedern kamen die Damen unten an. Schwindlig suchten sie
sich zu erheben und hinkten ein wenig umher. Ringsum schien indessen das
Feuer wie erloschen zu sein. Ein wenig verlegen blickten sie über die
Haufen von Gliedmassen und zerschlagenen Geräten. Sie wussten gar nichts
damit anzufangen. Und eben hatte man doch noch so ein mutiges Gefühl
gehabt. Es ging doch etwas ganz Tolles vor, wo man sich hatte hineinstürzen
wollen; und nun, als man unten ankam, war alles aus. Wie gern hätten diese
Damen einige kleine Freuden der Grausamkeit genossen! Der Mut war ihnen
aber wohl zu spät gekommen. Manchmal krallte sich oder stach noch eine Hand
im Todeskrampf nach diesen zarten weissen Körpern, die wie Miniaturwalküren
auf dem Schlachtfeld umherwandelten. Bisweilen brachte ihnen sogar ein
Finger noch eine mittelmässige Wunde bei und da stiessen sie nette, kleine,
verzückte Schreie aus, wie gut gezogene Kinder, die mit kaltem Wasser
gewaschen werden und schlotternd rufen: »Hu . . . wie warm.« Die Damen
sahen traurig ein, dass sie zu spät gekommen waren, und nun traten gar
schon Diener mit Schaufeln in den Saal. Die nackten Marquisen drückten sich
verschämt in die Ecken und hielten die Hände über Brust und Schoss. Die
Diener öffneten die Fenster und schaufelten die Überreste dieser
Feierlichkeit hinaus. Unten im Hofe sah man im ersten Morgenlicht bleiches
Menschengebein, das von früheren ausgelassenen Stunden des Grafen Gilles de
Laval zeugte. Die Marquisen aber schlichen betrübt und verschämt durch ein
Seitenpförtchen hinaus. Sie bereuten, sich ungeschickt benommen zu haben.
Die armen Damen hatten sich umsonst entblösst.

Auf der Galerie waren die Zurückgebliebenen in ermattetes Schweigen
versunken. Man kam langsam wieder zu Atem. Einige mahnten zum Aufbruch und
erhoben sich, Händedrücke wurden getauscht, Verabredungen für den folgenden
Tag gemacht. Einige Unermüdliche wollten noch soupieren gehen. Der Graf von
Saint-Germain, den man unter keinen Umständen losgeben wollte,
entschuldigte sich lächelnd. Er müsse nach Hause fahren, da er noch in
dieser Nacht einige Kapitel aus dem Akshara Para Brahma Yog übersetzen
wolle. Gegen solche Gründe des gelehrten Grafen pflegte man niemals
Einwände zu machen und so verabschiedeten wir uns von diesen höflichen
Leuten.


»Haben Sie etwas bemerkt?« fragte mich der Graf, als wir auf der Strasse
waren.

»Sehr viel,« erwiderte ich.

»Ich meine, haben Sie bemerkt, dass ich selbst Gilles de Laval bin? So
heisse ich im fünfzehnten Jahrhundert.« Triumphierend blickte er mich an.

»Unmöglich; Sie waren doch die ganze Zeit auf der Galerie, Sie sprachen von
London . . .«

»Einen Augenblick allerdings; können Sie sich aber erinnern, Gilles und
mich nur eine Sekunde lang gleichzeitig gesehen zu haben?«

»Das nicht, aber . . .«

»Nun sehen Sie. Nächstens lade ich Sie zu einem Flagellantenzug nach
Italien ein.«

Er half mir in einen Wagen, wo ich sofort einschlief.

                                * * *

Als ich wieder erwachte, -- ich glaubte länger geschlafen zu haben, als
vorher mein ganzes Leben gedauert hatte -- stand eine Schale mit Früchten
vor mir, die ich äusserst heftig begehrte, ohne die Kraft zu finden, danach
zu greifen. Tränen traten mir in die Augen. Ich fühlte Abscheu vor meinem
eigenen Leben, dessen trost- und gedankenlosem Wirbel ich wie durch ein
Wunder entronnen zu sein geglaubt hatte. Diese unerreichbaren Früchte
würden mir Gesundung bringen, reine, leicht zu erfüllende Wünsche an Stelle
fieberhafter Gelüste. Es hatte mich jemand wohlmeinend, aber etwas derb von
einem Abgrund gerissen, vor dem ich nichtsahnend stand.

»Wissen Sie nun, wo Sie sind?« fragte lächelnd Alta-Carrara, der mir
gegenüber gleich wie ich auf einem Diwan lag.

In dem Zimmer unterhielten sich mehrere Herren. Einige fragten nach meinem
Befinden und gaben mir Ratschläge.

»Sie waren dabei,« dachte ich, »als ich mein Leben zwecklos in künstlichen
Sensationen vergeudete.« Dennoch freute ich mich, ganz unbekannte Gefühle
in mir zu entdecken, etwas wie Reue. Ich fühlte einen bitteren Geschmack,
wenn ich an mein Leben dachte, das sich auf eine glühende Einbildungskraft
und einen fieberhaft zerlegenden Verstand gegründet hatte.

Es musste jemand meinen Wunsch erraten haben, denn ich fühlte die kühle
Herbheit eines Apfels dicht an meinen Lippen. Ich biss hinein und mir war,
als witterte ich junge Morgenwinde um mich her. Ich erkannte die
Notwendigkeit eines neuen Lebens -- ohne den verhassten Rausch, der noch in
mir war. Ich verlangte schwere Aufgaben; Leiden müsste ich erdulden, sie
unumwunden vom Schicksal fordern, das mich dadurch um das Beste im Leben
betrogen hatte, dass es mir keine Leiden sandte. Ich schämte mich fast. Und
doch freute ich mich über die Seltenheit einer solchen Empfindung in einer
Seele wie der meinigen.

Alta-Carrara aber begann mit halblauter Stimme zu erzählen:




Karneval


Vor dreissig Jahren, als ich noch die ersten Lektionen in der Schule des
Vergnügens empfing, versuchten einmal einige venezianische Nobili eine
hübsche Karnevalssitte des achtzehnten Jahrhunderts wieder aufzufrischen.
Man versammelte sich in der letzten Nachtstunde, als schon die ersten
hellen Schimmer über den Lagunen erschienen, auf der Erberia, und es galt
für sehr elegant, möglichst verwüstet auszusehen. Man kam in zerrissenem
Maskenkostüm, schlaffe Blumen hingen in dem losen Haar der Frauen; die
bleichen Wangen, die flackernden Augen, sollten den Mitmenschen von
phantastischen, noch vor einer Viertelstunde genossenen Räuschen erzählen.
Man liebte es, die Eifersucht und Mutmassungen der anderen zu erwecken und
ihnen zu zeigen, dass man darüber zu lachen verstand. Es braucht dem Kenner
des menschlichen Herzens kaum betont zu werden, dass viele der Ankommenden
weder aus dem Ballsaal, noch vom Spieltisch, noch aus verschwiegenen
kleinen Kabinetten kamen, sondern dass sie sich soeben aus dem Bett
erhoben, sorgfältig ihre nachlässige Toilette vorbereitet hatten und der
Mode ihren Morgenschlaf opferten. Ich hatte die Nacht in der Sala del
Ridotto verbracht, viel getanzt, gespielt und getrunken. Meine Huldigungen
galten besonders einer gelbseidenen Maske. Ihre Stimme hatte einen
wundervollen warmen Flüsterton, Sie wusste sich weich anzuschmiegen und
liess unter der Spitze der Maske grosse weisse Zähne glänzen. Ich war
achtzehn Jahre alt und hielt sie mindestens für eine verkleidete Herzogin.

»Führ mich zur Erberia,« bat sie mich gegen Morgen und ich überschritt mit
ihr die leere dunkle Piazza. Wir mischten uns unter die lachenden Paare,
die am Ufer des Kanals bei der Erberia auf und nieder wandelten.

»Marchesina, ich kenne dich.« rief eine Maske im Vorbeigehen meiner Dame zu

»Doch nur eine Marchesina,« dachte ich.

»Wo ist Ersilia?« fragte im Vorbeistreifen eine Pierrette.

»Krank, sehr krank,« erwiderte meine Begleiterin.

Es legten viele Kähne an der Erberia an, die Nahrungsmittel für den Markt
brachten. Eine lachende Kurtisane kaufte einer Bäuerin aus Chioggia für ein
Goldstück ihre rauchende Morgenkohlsuppe ab, deren Duft alle Umstehenden
lüstern einsogen.

»Mich friert,« sagte meine Freundin Dolcisa, »komm mit mir nach Hause! Du
gefällst mir.«

»Wer bist du?« fragte ich fast sprachlos vor Überraschung, denn bis dahin
hatte ich allen Grund gehabt, in meiner Begleiterin eine etwas ausgelassene
Dame der Gesellschaft zu vermuten.

»Du bist dumm,« sagte sie. Ihre dunklen Augen blitzten unter der Maske. Sie
zog mich in eine Seitengasse.

»Bist du wirklich eine Marchesina?« fragte ich verlegen.

»Lächerlich, ein Spitzname.«

»Wer ist Ersilia?« forschte ich nach einer Pause.

»Ach, die arme Schwester Ersilia!« seufzte sie, doch nicht sehr ergriffen,
»sie muss sterben, sie flüstert mit ihrer Heiligen und sieht nicht, was wir
tun.«

Ich erschrak, ohne nachzudenken, warum.

»Ich bin ein gutes Mädchen,« fuhr sie fort, »ich schenke nicht allen meine
Liebe, aber ich bin arm.«

Nun glaubte ich zu wissen, woran ich mich halten konnte. Ihre weiche offene
Harmlosigkeit entzückte mich.

Kühle feuchte Morgenluft umwehte uns. Wir gingen schweigend durch die
finsteren Gassen und überschritten zahllose schmale Kanäle. Dolcisa wollte
um keinen Preis eine Gondel nehmen. Niemand begegnete uns.



Schliesslich traten wir wie in eine Lichtung auf einen kleinen Platz. In
der Ecke starrte ein finsterer alter Palazzo. Dolcisa schloss ein wild
verschnörkeltes Seitenpförtchen auf und schob mich hinein. Um uns war
stickiges Dunkel. Wir gingen über viele krachende ausgetretene Stufen. Vor
einer Tür standen wir still.

»Erwarte mich hier,« flüsterte sie, »lass mich zuerst in die Kammer gehn
und die Kleider wechseln.«

Sie küsste mich im Dunkeln und trat in die Tür. Ich ging an ein
Gitterfenster, durch das die erste Dämmerung in den engen Treppenraum
drang. Mein Blick fiel in einen zerfallenen, ehemals gewiss sehr prächtigen
Palasthof. Sollte sie doch eine Dame sein, die heimlich einmal ein
Karnevalabenteuer haben wollte? Aber diese alten zerfallenen Paläste werden
ja oft zu Spottpreisen an alle Welt vermietet. Dolcisa liess mich lange
warten. »Vielleicht hat sie nicht den Mut, mich hereinzurufen,« dachte ich
und trat leise in das Gemach. Es war dunkel wie draussen. Aus der Ecke
vernahm ich leises Seufzen, und mir war, als wälze sich jemand auf einem
Lager.

»Sie wartet auf mich,« sagte ich mir, »es ist galant, ihr die Lage so
leicht als möglich zu machen.«

Ich ging vorwärts, bis ich an die Kante des Lagers stiess, wo das Weib lag.
Unter meinen Küssen stöhnte sie auf, krallte sich um mich und rief zur
Madonna. Mich erschreckte diese entsetzliche Erregung.

»Sie ist vielleicht aus Neapel,« reimte ich mir zusammen; ich wusste
bereits, dass die Frauen Venedigs anders lieben, ruhig die Küsse schlürfen.
Wie es so oft bei diesen schnellen Abenteuern geschieht, überkam mich --
ich will nicht sagen -- Widerwille, aber vollkommene Sattheit im Augenblick
nach dem Genuss. Ein unbezwinglicher Trieb nach Alleinsein, nach meinen
eigenen Zimmern erfasste mich und mir schien, als sei dieses ganz
gewöhnliche Gefühl heute masslos gesteigert, wie bei einem Verbrecher, der
vor dem Schauplatz seiner Tat ein Grausen empfindet. Ich sprang auf, sie
hielt mich nicht zurück. Durch die Art unserer Zusammenkunft glaubte ich
mich berechtigt, ihr ein paar Goldstücke in die Hand zu drücken, die sich
krampfhaft schloss. Dann eilte ich hinaus. Auf der Treppe vernahm ich
Schritte hinter mir.

»Komm doch, mein Lieber,« rief Dolcisa, »warum gehst du denn fort?«

Zwei nackte Arme umschlangen mich. Eine weiche Wange lehnte sich in der
Finsternis an die meine; junger heisser Odem umquoll mein Gesicht.
Willenlos liess ich mich wieder die Treppen hinaufziehen. Dolcisa führte
mich durch das Gemach, wo ich vorher gewesen, in eine anstossende kleine
Kammer. Durch ein Dachfenster floss ganz dünne Dämmerung herein. Auf einem
Stuhle hingen schwarze Gewänder und zwei dicke strohgelbe Kerzen lagen
darauf.

»Das ist für Ersilia, wenn sie tot ist,« erklärte Dolcisa; ihr weisses Hemd
triefte von gespenstischer Helle.

»Mach doch Licht,« sagte ich ein wenig gedrückt.

»Nein, nein; es ist alles so einfach und ärmlich. Wir müssen hier oben
wohnen, denn die grossen Säle sind im Winter so kalt; sie sollen auch erst
hergerichtet werden. Aber wir haben unser Geld verloren.«

»Bist du eine Marchesina?« fragte ich wieder erstaunt.

»Das kann dir doch gleich sein. Du bist noch ein rechtes Kind.«

Hatte ich sie verletzt? Sie trat an die Wand, wo ein buntes Wachsbild der
Muttergottes hing. Davor züngelte hinter rotem Glas ein Ölflämmlein, dessen
Schein das Bild rosig benetzte. Dolcisa blies nach der Flamme.

»Was machst du?« fragte ich unruhig.

»So sieht die Madonna nicht, was wir tun.«

Dann kam sie zu mir; wir sanken auf ein Lager und dieses Mal genoss ich die
sanfte, schwere, fast etwas träge Umarmung einer Venezianerin.

Dolcisa erhob sich zuerst. Nackt ging sie in das andere Gemach, in das nun
auch die Dämmerung drang. Sie näherte sich dem Lager, wo ich vorher gelegen
und schob die Hand unter die Laken.

»Tot!« rief sie plötzlich mit leichtem Schrecken. Willenlos sank sie vor
dem Bett auf die Knie. Das nackte Weib betete im Dämmerlicht.

Erschrocken sprang ich auf; ich zündete eine der strohgelben Kerzen an. Das
Licht hochhaltend, trat ich in das Nebenzimmer. Wie erstarrt blieb ich an
der Tür stehen, als der flackernde Schein das Bett erhellte. Dort lag mit
glasig blickenden Augen ein wundervolles junges Weib, dem wie eine
geheimnisvolle Wolke reiches dunkles Haar um den Kopf wallte. Sie war ganz
blass, von unnahbarer weihevoller Schönheit, wie eine antike Götterstatue.
Dolcisa kniete vor ihr in hastigen, sich übereilenden Gebeten.

»Sie ist tot!« rief sie, sich umwendend, und etwas wie ein wirklicher
Schmerz lag in der tränengedämpften Stimme. »Sie war keine Sünderin wie
ich, sie ist als Jungfrau gestorben.«

Zitternd trat ich näher. Dolcisa liess den Blick über die Leiche gleiten,
deren prachtvolle weisse Formen halb entblösst vor uns lagen.

»Sie war viel schöner als ich,« seufzte sie und es schien, als wolle sie
durch dieses plötzliche Geständnis bei der Toten irgend etwas zu ihren
Lebzeiten Versäumtes wieder gut machen. Sie drückte der Schwester die Augen
zu und wollte die abstarrenden Arme an den Leib legen. Da bemerkte sie, wie
es zwischen den zusammengekrampften Fingern funkelte. Sie entdeckte die
Goldstücke. Ich konnte mich kaum aufrecht halten; doch Dolcisa stiess einen
Freudenschrei aus:

»Die Madonna war gnädig,« rief sie, »sie hat mein Gebet erhört, nun kann
ich der Schwester ein würdiges Begräbnis schaffen.«

Dankbar fiel sie wieder in ihr Gebet zurück.

Es war hell geworden. Ratlos stand ich vor der Gruppe. Ich fragte Dolcisa,
oh ich ihr irgendwie dienen könne. Aber sie verneinte und sank sofort
wieder in inbrünstiges Gebet. Ich verliess sie.

Zwei Tage ging ich wie verstört umher. Weder in meiner Wohnung, noch in den
Strassen fand ich Ruhe vor dem Gedanken, dass ich den Tod umarmt hatte. Am
dritten Tag fasste mich eine unbezwingliche Neugier. Ich suchte das Viertel
wieder auf, um etwas über die Bewohnerinnen des alten Palazzo zu erfahren.
Als ich den kleinen Platz betrat, sah ich eine Menschenmenge, die sich um
das weit geöffnete Hauptportal des Palastes geschart hatte. Ein Priester
mit zwei Chorknaben trat auf die Strasse. Dann wurde ein schwarzer Sarg
herausgetragen, der, mit verschnörkelten Silberblumen verziert, einen
Eindruck von Grossartigkeit machen sollte. Man lud ihn in eine gemietete
Gondel und breitete die wenigen Kränze möglichst darüber aus. Dolcisa
folgte schluchzend in dürftigem, doch aufgeputztem Trauergewand. Sie
bestieg eine zweite Gondel, begleitet von einem uralten, gebrechlichen
Herrn in altmodischer Eleganz, der sich sehr unbehaglich zu fühlen schien.
Einige Personen bestiegen eine dritte Gondel und still schlich der
Leichenzug durch die Lagunen. Ich hatte fast besinnungslos zugeschaut.

Der Flüsterton der Umstehenden erhob sich nun zu lebhaftem Plaudern.


»Die armen Marchesinen«, sagte eine Alte . . . »und früher welch' ein
glänzendes Leben in dem Palazzo, als der alte Marchese noch lebte . . .«
»Sie waren liederlich,« sagte eine dicke Bäckersfrau, »keiner wollte mehr
mit ihnen zu tun haben . . .« »Gegen Ersilia kann niemand etwas sagen,«
meinte ein junger Mann, »sie war tugendhaft.« Dann gingen viele Stimmen
durcheinander: ». . . Schwindsucht, langsames Hinsterben . . . die arme
einsame Dolcisa . . . noch so jung . . . aber sie hat den alten Oheim
. . . sie wird sich ein glänzenderes Schicksal suchen, als ihn zu Tode zu
pflegen . . .«

                                * * *

Alta-Carraras Erzählung war zu Ende. Um mich her sah und roch ich altes
geschnitztes wurmstichiges Holz; ich hörte, wie langsam morsche,
jahrhundertealte Marmorpaläste zerbröckelten, an denen Moos wuchs. Überall
lag Moderduft; es war zum Ersticken. Man hörte durch die Zeit hindurch die
Werke der Menschen faulen. Ringsum rauschten die Jahrhunderte in trüben
Dämpfen empor. Alles schien vom Kuss des Todes berührt und war zum
Niedergang bestimmt. Ich hatte das dumpfe Gefühl, als trüge ich selbst mit
die Schuld, dass die Welt sterben sollte. Ach, ich hatte meine Tage
schlecht benutzt. Es hätte anders werden können, wenn ich gewollt. Wie
freute ich mich über die Züchtigung, die mir ward. Die Leiden, auf die ich
gewartet, begannen. Mir war, als stürzte mitten in der zerbröckelnden Welt
etwas klirrend zusammen, was mich in hohem Masse betraf. Es sah zwar, als
ich hinblickte, nur aus wie eine Messbude, so eine purpurrot tapezierte mit
vergoldeten Spiegeln, vor denen Lampen brennen; darin aber konnte man durch
Gucklöcher die Haupthandlungen meines Lebens sehen. Und es war mir höchst
fatal, dass so viele Leute hineingeschaut hatten. Das wunderte mich selbst,
denn ich war früher stolz gewesen auf mein reiches, buntes Leben.

»Weiter . . . weiter . . .« rief ich, »mehr von dieser bittersüssen
Weisheit.« Und wie aus einem Abgrund tauchte ein kräftiger Mann. Er hatte
einen blauschwarzen viereckig geschnittenen Bart, wie ein assyrischer
Magier und war von violettem Samt umwogt, den er wie eine geliebte Katze
streichelte. Er sprach gleichgültig, in fast verächtlichem Ton, der sich
aber später zu heftiger Erregung steigerte. Er erzählte:




Die Sünde wider den Heiligen Geist


IN Spanien gab es einmal ein paar junge Leute, die sich einen wirklichen
Spass machen wollten. Alles, was an Wahnsinn oder an das Hospital
erinnerte, lag ihnen fern. Sie verschmähten auch, berauschende Drogen
einzunehmen. Diese höchst schwächlichen Notbehelfe waren der damaligen Zeit
nicht gemäss. Man wusste auch nichts vom Spiritismus, dieser Kloake der
Mystik, noch von der Hypnose, mit der in unserer wunderlosen Zeit die
exakte Wissenschaft nachgehinkt kommt. Es sollten einfach aus der Kraft des
Willens heraus, mit Hilfe von Witz, Phantasie, Mut und Gewandtheit
unerhörte seelische Schauspiele in andern Personen hervorgerufen werden.
Schauspiele, die womöglich ihre Schatten bis ins Jenseits werfen würden --
eine Art Fopperei mit Perspektiven in die Ewigkeit. Die Reihe der Todsünden
wird leider fast täglich in unserer Nähe erschöpft. Hier erschlägt einer im
Jähzorn die Geliebte, einem andern erweckt eine klägliche Wissenschaft den
Hochmut der Gottähnlichkeit, ein dritter überfrisst sich und wie die
Missetaten phantasieloser Leute nur immer heissen mögen. Nur einen Frevel
gibt es, dem die Kirche schon dadurch eine Sonderstellung anweist, dass sie
erklärt, er könne nie vergeben werden; die Priester behaupten sogar, Gott
lasse ihn kaum zu: die Sünde wider den heiligen Geist. Die jungen Leute,
von denen ich erzählen wollte, konnten sich daher gar nichts
Geheimnisvolleres, Sehenswerteres vorstellen, als das Geschehen dieser
unerhörten Sünde. Sie wollten vor allem wissen, ob sie überhaupt möglich
sei, wie sie sich vollziehen würde, ob Gott dazwischen träte, ob der
Weltlauf stillstünde, oder ob sich vielleicht gar nichts ereignete.

Die Sünde wider den Heiligen Geist besteht einfach darin, dass man ihn
beleidigt, das Heiligste lästert. Dazu gehören drei Bedingungen: der Wille,
das Bewusstsein und die Kraft des Lästerers. Er muss den höchstmöglichen
Frevel begehen _wollen_, muss _wissen_, wen er beleidigt und was er damit
wagt, also den _Glauben_ haben, er muss durch die _Kraft_ seines Willens,
seiner Werke imstande sein, Gott überhaupt zu treffen. Seine Schmähungen
dürfen nicht wie das Gebell eines bösen kleinen Hundes abprallen. Ausser
von Satan selbst, der, wie man weiss, früher der schönste der Engel war und
sich jetzt in beständiger Empörung gegen den Heiligen Geist befindet, kann
die Sünde eigentlich nur von einem Heiligen begangen werden, der die im
Dienste Gottes erworbene Kraft des Gebetes, des Glaubens, der Berge
versetzt, plötzlich gegen Gott selbst wendet.

Man suchte zunächst nach einem geeigneten Opfer. Es fänden sich eine Anzahl
Jungfrauen, deren Reinheit sogar Wunder hervorbrachte. Aber es erwies sich,
dass ihre Tugend, ihr Glaube doch nicht viel mehr war, als der Mangel an
Gelegenheit zum Fall. Wenn sie auch Gott lebendig in sich fühlten, so waren
ihnen die Kniffe und Schliche Satans fast ganz unbekannt.

Schliesslich dachte man an die vierzehnjährige Teresa Alicocca, die Tochter
einer Kurtisane. Ihre Mutter hatte seit der Geburt des Kindes keine
peinigendere Sorge gehabt, als dass es einen ähnlichen Weg wie sie gehen
würde, und wenn auch an ihr selbst nichts mehr zu verderben war, so übergab
sie doch die Tochter der strengsten Erziehung in einem Kloster der
Karmeliterinnen. Man hätte von ihr nicht mehr erfahren als von den anderen
Zöglingen, wenn sie nicht schon in so frühem Alter beständig von den
Priestern als leuchtendes Beispiel für das Wunder der _Substitution_
gepriesen worden wäre, worin sich ja auch Teresas namensverwandte
Schutzpatronin bekanntlich ausgezeichnet hat. Mit Gebeten und Kasteiungen
war es ihr nämlich -- durch Vermittlung der heiligen Teresa -- gelungen,
dem Bösen gegenüber an Stelle ihrer Mutter zu treten, sich ihr zu
_substituieren_: sie ging freiwillig den Dämonen der Wollust und der
Geldgier entgegen, die es eigentlich auf die Mutter abgesehen hatten.
Während diese fortgesetzt, trotz ihrem Glauben, den satanischen Strömungen
erlag und sich mitreissen liess, wusste Teresa solche Ausflüsse der Hölle
von nun an auf sich zu lenken und sie zu überwinden. Die Folge davon war,
dass die Mutter -- zu ihrer eigenen Verwunderung -- auf einmal imstande
war, die Versprechungen zu halten, die sie immer wieder im Beichtstuhl
machte. Sie begann ein bussfertiges Leben zu führen und dankte dem Himmel,
der ihr von der Frucht ihrer Sünde selbst die Gnade hatte kommen lassen.

Niemand konnte den jungen Leuten zu ihrem Vorhaben geeigneter erscheinen
als Teresa Alicocca. Sie fühlte und sah nicht nur Gott, sondern auch die
Fallen Satans waren ihr, die nie gesündigt hatte, bekannt. Die Kraft zu der
grossen Sünde besass sie zweifellos; wenn man sie ohne Berauschung dazu
bringen könnte, würde sie auch das Bewusstsein haben. Es handelte sich also
darum, die dritte Bedingung in ihr zu schaffen, den Willen, den Heiligen
Geist zu lästern.

Den jungen Leuten wurde es nicht sehr schwer, sich Teresa zu nähern, da
sich unter ihnen ein Priester befand, Fray Tomàs de Leon, der im geheimen
dem Satanismus ergeben war. Durch ihn hatten sie überhaupt genaueres über
Teresa erfahren. Der Geruch der Frömmigkeit, in dem er stand, verbunden mit
einem ungemeinen Scharfblick in die menschliche Seele, hatte die
Karmeliterinnen veranlasst, ihn zu ihrem Beichtvater zu erwählen.

Er wusste, dass Menschen wie Teresa nie mit sich zufrieden sind, dass sich
immer wieder Falten ihres Bewusstseins öffnen, in denen kleine Vorwürfe,
Zweifel, Mahnungen an Unterlassenes liegen. Kluge, wohlwollende Priester
pflegen daher solchen Beichtkindern die eingehende Gewissensprüfung
zeitweise zu verbieten. Fray Tomàs dagegen verstärkte diese
selbstquälerischen Stimmen, indem er fragte, ob sich Teresa denn auch ganz
frei von der Todsünde des Hochmuts fühle, ob sie sich nicht bisweilen für
eine Heilige halte, da sie sogar die Missetaten anderer auf sich nehme. Die
Substitution sei zwar eines der gottgefälligsten Werke; war aber Teresa
wirklich rein und demütig genug? Indem der Priester täglich den Finger in
die zuerst leichte Wunde legte, gelang es ihm, in Teresa eine unsägliche
Verwirrung zu schaffen.

Ob denn nicht die Bekehrung der Mutter als Beweis für die Reinheit ihrer
Gebete gehalten werden könne? wagte sie schüchtern einzuwenden. Das könne
Teufelswerk sein. Was verschlüge es dem Bösen, dass eine Hure, der er
sicher war, einige Zeit züchtig lebte, wenn er dafür eine Jungfrau durch
die Todsünde des Hochmuts fangen könne?

Teresa wurde nun so unsicher, dass sie tagelang die Substitution nicht
wagte; sie bat sogar Gott, nicht mehr Anfechtungen über sie ergehen zu
lassen, als er ihr in seinem gerechten Zorne zugedacht hatte. Als der
Priester so ihre Kraft gebrochen sah, fragte er sie, ob sie jetzt nicht in
den entgegengesetzten Fehler verfallen sei? Ob sie, die vielleicht doch
eine Erwählte war, nicht aus Kleinmut und Trägheit auf das Wunder
verzichte, sie, die schon aus blosser Kindesliebe alles tun müsse, um die
Seele der Mutter zu retten. Teresa wollte von neuem die Substitution
versuchen, aber wenn sie vor dem Heiland kniete, fühlte sie, dass ihre
ängstlichen, zerrissenen Gebete keine Kraft mehr hatten. Eine wahnsinnige
Angst vor dem Teufel erfasste sie und, von ihren eigenen Sünden gepeinigt,
vermochte sie das Wunder nicht mehr zu erfüllen. Ihre Unreinheit wurde ihr
immer mehr bewusst. Hatte sie nicht manchmal gejauchzt, ein Weib zu sein,
weil sie darum den Heiland viel inniger lieben konnte? Sie war ja eine
schlimmere Dirne, als die Mutter, die der Schwachheit des Fleisches
unterlag und dann reuig zur Madonna floh; sie aber trug die Gemeinheit
ihres Geschlechts an den Altar, sie vermengte ihre Wollust mit den Gebeten.
Ihre Ekstasen, die sie für ein Vorgefühl der ewigen Seligkeit gehalten,
erwiesen sich als Schändungen Gottes; die Stimmen der Heiligen, die sie zu
vernehmen glaubte, waren die Schmeichellaute der schwelgenden Sinne. Sie
hatte wider den Heiligen Geist gesündigt. Diesen Seelenzustand beichtete
sie dem Priester, der sich jedoch mit dem Erfolg noch keineswegs zufrieden
gab. Er sah, dass die Sünde wider den Heiligen Geist vorläufig nur in
Teresas gequälter Einbildungskraft bestand. Zunächst bestärkte er sie in
ihrem Irrtum.


»Diese fehlerhaften besudelten Gebete,« erklärte er, »sind freilich
schlimmer, als die eingestandene Gottlosigkeit. Der offene Unglaube ist
unfruchtbar, dumm, ohnmächtig. Aber solche fiebernde Gebete erhalten durch
die brünstig erregte Seele immerhin eine gewisse Macht. Sie sind zwar nicht
lauter und kräftig genug -- wie das reine Flehen der unbefleckten Herzen
--, sich mit dem ewig aufsteigenden Gebetsstrom der Christenheit zu
vereinen und so den Beter unaufhörlich mit der allgemeinen unsichtbaren
Kirche zu verketten, die ihn trägt und schützt, in deren Schoss ihn die
Anfechtungen Satans unbekümmert lassen. Solche Gebete haben aber wohl die
Macht, Sonderströme zu schaffen, die, von dem Hauptgebetsstrom abgestossen,
wieder zu dem Beter zurückkehren, ihn mit ihrer Unreinigkeit wie mit
heissen Händen umschlingen, seine Zelle wie mit Spinnweben verdunkeln, ihn
unter den Larven seiner eigenen unheiligen Gedanken erdrücken, bis er in
seiner Sündigkeit erstickt.«

Fray Tomàs erreichte durch diese Erklärung, dass Teresa die Einsamkeit
ihrer Zelle nicht mehr ertrug. In der Luft schienen die flüchtigen
Spiegelbilder ihrer Sünden zu schwirren. Ihr war, als sei das Gewebe, das
der Böse um sie geschlungen, schon so dicht, dass ihre aufrichtigsten
Gebete nicht mehr herauszudringen vermochten. Sie fühlte sich wie
abgetrennt von der allgemeinen unsichtbaren Kirche. Diesen Zustand benutzte
der Priester, um Teresa zu bestimmen, ihre Zelle zu verlassen. Auf die
Klöster habe es ja Satan ganz besonders abgesehen, und zumal die, wo die
Substitution geübt werde, seien wahre Magnete für die satanische
Ausstrahlung. Eine schwache Natur, wie Teresa, sei daher überall besser
aufgehoben als in einer einsamen Klosterzelle. Als Beichtvater wusste er
ihr klarzumachen, dass es ihre Pflicht sei, einen so aussergewöhnlichen,
beunruhigenden Fall, wie den ihren, dem sanften, heiteren Gemüt der Oberin
zu verschweigen, die dadurch nur in die höchste Verwirrung geraten würde.

Eines Nachts verliess Teresa Alicocca das Kloster durch ein
Gartenpförtchen. Fray Tomàs brachte sie in einem Kahn zu dem halb blinden,
halb tauben Küster einer abgelegenen, wenig besuchten Kirche. Dort sollte
sie eine Zeitlang die gefährliche Beschaulichkeit ihres bisherigen Lebens
durch die niederen Handreichungen in einem ärmlichen Hauswesen ersetzen.
Nichts schien ihr einleuchtender, als durch ermüdende, demütige Arbeit ihre
verwirrte Seele allmählich wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Fray Tomàs
besuchte sie täglich. Er erzählte, Teresas Mutter sei wieder in das alte
Sündenleben zurückgefallen. Die früheren Versuchungen, vor denen die
Tochter sie geschützt, seien nun von neuem an sie selbst herangetreten und
besonders habe sie sich, der Verzweiflung über das Verschwinden der Tochter
nachgebend, zu den schimpflichsten Gotteslästerungen hinreissen lassen.
Täglich brachte Fray Tomàs ähnliche Nachrichten. Teresa wäre am liebsten
sofort zur Mutter geeilt, aber der Priester verstand es, sie
zurückzuhalten. Man würde sie entdecken und in das Kloster zurückliefern.
Was konnte sie auch der Mutter durch ihre Gegenwart eigentlich nützen? Sie
solle lieber durch Kasteiung und Gebete ihre frühere Reinheit
zurückgewinnen und -- die geziemende Demut vorausgesetzt -- von neuem das
Wunder der Substitution versuchen. Einmal rief sie aus:

»Wenn schon ein Opfer Satans fallen muss, warum kann ich es denn nicht
sein? Ich bin ja viel schlechter als die Mutter.«

Der Priester sah sie lange forschend an. Der Gedanke, den er ihr allmählich
eingeben wollte, war von selbst in ihr erwacht.

»Was du verlangst, meine Tochter,« sagte er ruhig, »ist möglich. Wenn du
dich dem Bösen als Pfand geben willst, um die Mutter zu retten, so nimmt er
es an.«

»Ich will,« erwiderte sie tonlos; und Fray Tomàs de Leon fiel vor ihr auf
die Knie und küsste den Boden.

»Gebenedeite unter den Weibern,« rief er aus. »Tochter Gottes, Schwester
des Heilands. Weh mir Blindem, der ich dich für eine Sünderin hielt, da du
_freiwillig_ den _Schein_ der grössten Missetat auf dich nahmst; aber
zweifelte nicht auch Nikodemus zuerst an der Gottheit des Herrn, weil er
irdischen Leib trug? Siehe, ich bin der erste, der vor dir niederfällt,
nicht wert, die Riemen deiner Schuhe zu lösen. Vergib mir, wenn ich dich
nicht erkannt.«

In höchster Verwirrung hatte Teresa Alicocca zugehört.

»Steh auf,« rief sie zitternd, »was verlangst du von mir? Willst du mich
versuchen, willst du in mir den Teufel des Hochmuts von neuem erwecken?«

Fray Tomàs stand auf:

»Siehe, ich bin berufen, dir eine letzte erschütternde Prophezeiung zu
enthüllen, welche die Kirche bisher als tiefstes Geheimnis hielt[*]. Jesus
Christus ist Mensch geworden; über die Welt bis in das Fegefeuer reichte
sein rettender Arm, doch seine Göttlichkeit stand still vor den Pforten der
Verdammnis; unerlöst blieben die Kinder der Hölle; denn dorthin führt nur
die Sünde wider den Heiligen Geist, die der Gottessohn nicht begehen kann.
In den spätesten Zeiten aber -- so heisst es -- soll ein Weib geboren
werden. Freiwillig wird sie die Tore der Hölle durchschreiten. Ihrem
sündigen Menschentum werden sie sich nicht verschliessen. Aus freier Wahl
wird sie die grösste Sünde begehen, um die Fesseln derer zu lösen, die an
die Ewigkeit ihrer Qual geglaubt. Das ist die letzte Vollendung der Güte
des Herrn. Dann aber wird sie umkehren und gen Himmel fahren; sprengen muss
sie die Dreieinigkeit, die nunmehr erfüllt ist, und sie wird thronen zu
Häupten Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, reitend
auf der Taube, in ewiger Viereinigkeit.«

Wieder fiel Fray Tomàs auf die Knie.

»Steh auf, steh auf,« rief Teresa, »ich darf dir nicht glauben -- ich
zittere, eine Erwählte zu sein -- eine andere wird kommen; nur sage mir --
ich beschwöre dich -- was kann ich tun, um die Mutter vor der Verdammnis zu
schützen?«

Der Priester erhob sich.

»Wie Christus eine Spanne Zeit auf Erden wandelte, so wirst du in der Hölle
eine Frist der Verdammnis erfüllen und mit den verstocktesten Sündern dich
und die Mutter erlösen.«

»Was kann ich dazu tun?« fragte Teresa zitternd.

Und unerbittlich fuhr Fray Tomàs fort:

»Nur wer von einem Weibe geboren wird, kann einen irdischen Leib erlangen;
nur wer die grosse Sünde begeht, die nie vergeben werden kann, wird zur
Hölle fahren.«

»Die Sünde wider . . .?« stotterte Teresa.

»So ist's, die Sünde, die Christus nicht begehen konnte, vor dessen
Göttlichkeit sich darum die Hölle verschloss. Glaubst du, dass er
überlegte, als er Mensch wurde, ob er seine Göttlichkeit einbüssen müsse?
Und du setzest nur dein Menschentum aufs Spiel. So wie die Unreinheit der
Empfängnis von Maria genommen wurde, so sollst auch du von deiner
freiwilligen Sünde nicht befleckt werden.«

Ohne auf Antwort zu warten, ging Fray Tomàs von dannen. Teresa lag die
ganze Nacht in Tränen auf den Steinfliesen der Kirche und flehte um
Erleuchtung. War es Mangel an Demut, wenn sie manchmal jubeln wollte,
vielleicht doch die Erwählte zu sein?

Am nächsten Tag brachte Fray Tomàs die Nachricht, Teresas Mutter sei von
einer Gesellschaft junger Schwelger durch Gold bewogen worden, in einer der
kommenden Nächte nackt, nur mit masslosem Schmuck bedeckt, vor ihnen als
Salome zu tanzen. Man wollte ihr aus Wachs einen Johanneskopf anfertigen
lassen; sie selbst aber, die sich seit einer Woche vor Gotteslästerungen
nicht zu halten wisse, habe im geheimen den Auftrag gegeben, man solle
nicht das Johannesantlitz in Wachs giessen, sondern die wohlbekannten Züge
des dornengekrönten Christus in der Kapelle der heiligen Ignazia. Warum
habe ihr Gott die Tochter mit ihren kräftigen Gebeten entrissen, soll sie
gerufen haben, nun sei es _seine_ Schuld, wenn sie sich dem Satan ergebe.
-- Zweifellos -- meinte der Priester -- habe sie eine entsetzliche
Schändung des Jesushauptes vor, die Sünde wider den Heiligen Geist.

Teresa fiel kraftlos zu Boden.

»Erkennst du den Fingerzeig Gottes, meine Tochter?« sagte Fray Tomàs;
»mahnt er dich nicht selbst, dass jetzt die Stunde gekommen ist, wo du
freiwillig der Mutter Sünde auf dich nehmen sollst, die dir allein die
Hölle öffnet, auf dass sie nimmer geschlossen werde, nachdem du alle
Verdammten erlöst hast?«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Glaubst du, dass Gott oft diese Sünde erlaubt? Heute, im Augenblick, wo du
deine Berufung erfüllen sollst, will er sie zulassen in deiner nächsten
Nähe, an deiner Mutter, die du ohnehin vor dem Bösen zu vertreten gewohnt
bist? Sollen mehr Fäden in einem Knoten zusammentreffen? Das Laster der
Mutter, deine Sehnsucht, sie zu retten, waren nur Fingerzeige für dein
hohes Werk. Selten enthüllt sich Gottes Wille so klar. Mit einem Trank will
ich deine Mutter an dem verfänglichen Abend in Schlaf versenken. Du aber
wirst, angetan mit dem Schmuck, den die reichsten Jünglinge der Stadt
zusammentragen, den Tanz vollführen. _Du wirst die Sünden der Verdammnis
tanzen:_ den Hochmut, die Trunkenheit, die Wollust an der Kreatur, du, die
du demütig, nüchtern und keusch bist. Freiwillig wirst du Gott verfluchen,
das Christushaupt bespeien und den Satan brünstig lachend um die Lust der
ewigen Verdammnis anflehen, auf dass sich die Tore der Hölle vor dir öffnen
und du alle Verdammten -- unter ihnen aber deine Mutter -- zum Himmel
führest.«

Teresa wand sich verzweifelt am Boden, während den Priester das Vorgefühl
dieses Schauspiels bis zum Taumel erregte.

»So nimmst du alle Sünden der Zukunft vorweg durch die grösste, die je
begangen werden kann. Im Augenblick aber, wo der Satan lüstern den Arm nach
dir streckt, um dich zur Königin der Hölle zu erheben, wird er im eigenen
Lager geschlagen, gefangen in seinem Netz; denn durch deinen menschlichen
Leib wird dann Gott ein schreckliches Mal geruht haben, sich des Betrugs zu
bedienen, dessen Verkörperung Satan ist; so wird -- als letztes Mysterium!
-- der Teufel durch sich selbst vernichtet, der Betrüger betrogen, die
Sünde ist für immer tot. Das aber wird das Werk der heiligen Teresa
Alicocca sein, und die himmlischen Heerscharen, die sie aufwärts tragen,
werden singen:

»Gloria patri et filiae!«

Fray Tomàs bekreuzte sich und liess sie allein. Er wusste sie nun
vorbereitet genug, um sie im letzten Augenblick überrumpeln zu können.

In einer der folgenden Nächte lag Teresa Alicocca nach ihrer Gewohnheit vor
dem Altar der dunkeln kleinen Kirche flehend ausgestreckt. Ihr lautes
Schluchzen durch die Finsternis wurde plötzlich unterbrochen, indem die
Orgel wie unter Geisterhänden leise zu spielen begann, und zwei
zerbrechliche Kinderstimmen sangen hell und zart:

»Gloria patri et filiae.«

Ein heftiges Beben überkam Teresa. Sie glaubte an ein Wunder der
Erleuchtung und heisse Dankgebete strömten von ihren Lippen. Da trat mit
einer Kerze in der Hand Fray Tomàs de Leon hinter dem Altar hervor. Er war
silberweiss gekleidet. Unter dem Arm trug er einen Schrein.

»Steh auf, Gebenedeite!« rief er ihr zu, »lass den niedrigsten der Diener
deinen Leib zum Opfer schmücken!«

Und die hellen Kinderstimmen tönten licht und wie durchsichtig durch das
Gewölbe.

»Steh auf Tochter Gottes, Schwester Jesu!«

Willenlos, geblendet von der Helle, die den Priester umfloss, erhob sie
sich. Mit sanften, gewandten Händen half er ihr das armselige Klostergewand
zu öffnen, Es sank um sie herab, wie die irdische Hülle einer Verklärten.
Die Augen mit Heftigkeit auf den Christ gerichtet, suchte sie ihre Scham
wie einen Schmerz zu verbeissen. Die letzten Gewänder fielen nieder; sanft
zog ihr der Priester das rauhe Hemd ab und legte segnend die Hände über das
nackte Weib. Dann öffnete er den Schrein und nahm funkelnde Geschmeide
heraus . . .

»Trage die sündenschwangere Schwüle der mattgrauen Wolkentage, die Last
unserer trügerischen Sehnsucht!«

Er legte blasse, siebenfache Perlenschnüre um ihren Hals.

»Lass dich umwinden vom gold-durchfunkelten Blau der Himmel, vom Jauchzen
der Kreatur, die den Menschen aufregt zum farbigen Baalstanz seiner
götzendienerischen Kunst.«

Der Priester wand ein hellblaues Atlasband mit masslosen sonnigen Topasen
unter ihre Brüste, die spitz und starr heraustraten.

»Lass dich lüstern streifen von lauen Wäldern, den Unterschlupfen der
Wollust, von den gärenden Wassern im Regenbogenglanz, wo Tiere dämmern,
Geschwister der schwülsten Begierden!«

Wie Blätter des Waldlaubs streute er tannengrün-tiefen Smaragd, sanften
Beryll, birkenblasse Chrysoprase; moosiger Nephrit und verfänglich
schillernde Opale lagen um ihre Lenden.

»Beuge dich dem zehrenden Feuer, das den Bauch der Erde zersprengt, den
Aufruhr entzündet im Schosse der Völker!«

In fesselloser Verschwendungsgier umschloss er sie mit Spangen von
glühendem Rubin und weichrotem Karneol; Granaten, Almandinen und Korallen
sanken wie Blutstropfen auf den Schoss der Jungfrau.

»Wühle auf deine Locken, den Ozean, den Duftausbruch des verworrenen
Verlangens, trage darin das Irrlicht der Erkenntnis, das schaukelt über den
Sümpfen der Sinne, die ewige Lampe des Hochmuts der Wissenden!«

Fray Tomàs löste mit wildem Griff das wogende Haar und drückte eine
Diamantenkrone hinein. Trunken vor seinem funkelnden Werke sagte er:

»Nackt prunke, leuchte, singe dein Leib unter der Pracht und den Sünden
hervor, auf dass dich Satan zeichnen möge!« Doch, wie in plötzlicher,
verzweifelnder Entsagung fuhr er fort: »Deine Schritte beschwere der
finstere Fluch unserer purpurnen wühlenden Nächte, da uns die Atemzüge der
Hölle glühend ins Antlitz fauchen, das da funkelt in steter Empörung und
Wollust, im Schrei nach endlichem Licht!«

Und Fray Tomàs de Leon legte ihr trüben Amethyst, nächtigen Saphir und
Aquamarin in finster-bläulichen Schnüren von dem Lendengurt bis zu den
Knöcheln wie durchsichtige orientalische Beinhüllen.

Beladen mit aller Herrlichkeit, mit allen Freveln der Erde starrte die
Vierzehnjährige auf den Christ über dem Altar und wusste nicht, wie ihr
geschah. Auf einer goldenen Schale reichte ihr Fray Tomàs das grünlich
schimmernde Wachshaupt Jesu. Dann ergriff er sie an der Hand und wandte sie
gegen die Kirche, die indessen in überhellem Kerzenschein erstrahlt war.
Auf den Fliesen lag ein weisser Teppich ausgestreckt, an dessen Ecken
Fackeln brannten und Myrrhenbecken dampften. Fray Tomàs führte die Zagende
mitten auf den Teppich.

»Tanze, Tochter des Himmels, tanze den Tanz der Erlösung und erfülle in
prahlender Unzucht in dieser einen Stunde alle die Frevel, die der Satan
noch von der Menschheit zu fordern hat!«

Plötzlich fiel die Orgel in wilden Rhythmen ein. In den halbdunklen Ecken
der Kirche schlugen vermummte Männer heilige Gefässe wie Becken und Zimbeln
aneinander. In entsetzlichem Gemisch mit der Feierlichkeit ertönte das
barbarische Geräusch von Tamburinen; trunkene Weiberschreie drangen hinter
den geblähten Vorhängen der Beichtstühle hervor.

»Tanze, tanze!« schrie der Priester voll Ungeduld und schien die Zögernde,
die sich unter der Last der Geschmeide kaum zu bewegen wagte, durch
springende Schritte ermutigen zu wollen. Und langsamen, schüchternen
Ganges, beladen mit den Freveln der Welt, bewegte sich Teresa Alicocca über
den Teppich, den Kopf des Heilands auf einer Schale tragend. Aus den Ecken,
wo sich Männer und Frauen schaugierig drängten, sprangen nun plötzlich die
jungen Leute, des Priesters Freunde, hervor; mit Fackeln und blossen
Schwertern im Arm tanzten sie jauchzend um den Teppich.

»Wilder, toller!« riefen sie der Ängstlichen zu. »Du musst uns alle
erlösen; aber unsere Sünden sind noch brennender, empörender, räuberischer,
als dein Tanz. Du musst verruchter tanzen, als unsere Missetaten sind, die
gen Himmel schreien. Nur so kannst du uns zum Heile sein!«

Während die Wut der Orgel niederdonnerte, liess sich Teresa zu immer
wilderem Tanze treiben. Sie warf die Schale mit dem Haupte von sich und
fand in plötzlicher Erleuchtung die versonnensten Gliederkrümmungen der
asiatischen Tänzerinnen. Sie bot ihren Schoss offen der Kerzenhelle dar und
entriss ihm mit gewaltiger Gebärde die Blume ihres Jungfrauentums, so dass
ihr weisser Körper über die roten Rubinen blutete.

»Eine blutende Hostie des Satans!« rief Fray Tomàs verzückt. Sie aber
heulte auf vor Schmerz und stürzte sich auf das wächserne Haupt vor ihren
Füssen, umschlang es, wie den Kopf eines Tänzers, krallte die Zähne hinein,
ihre Qual zu verbeissen.

_Und sie tanzte die Sünden der Hölle!_

»Küss ihn,« rief ihr der Priester zu; willenlos tat sie nun alles, was er
befahl. »Verspott ihn, spei ihn an, wirf ihn hin, tanze drüber weg,
zertritt ihn, zermalm ihn -- lästere die Dreieinigkeit -- rufe zu Satan!«

Und gebeugt von der Last der Sünden der Verdammnis schrie Teresa Alicocca:

»Satan, Lucifer, Adonai!«

»Was willst du?« rief eine dumpfe Stimme aus der Krypta.

»Nimm mich in die ewige Qual!« stöhnte Teresa.



»Und Gott? -- Glaubst du an ihn?«

»Ich glaub' an ihn, ich fühle seine Majestät, aber dennoch schreie ich mich
von ihm los, -- _dein_ will ich sein --!«

»Bist du willens, den Heiligen Geist zu schmähen?«

»Tat ich's nicht schon?« rief sie atemlos.

»Willst du Lucifers Beischläferin sein, der Gott kennt und ihn darum
hasst?«

»Ich sehe Gott,« rief Teresa ekstastisch, »und will doch deine Dirne sein,
Satan!«

In diesem Augenblick sprangen die jungen Leute mit Dolchen bewaffnet auf
den Teppich.

»Schnell . . . schnell . . .« rief Fray Tomàs, »ehe sie bereuen kann, ehe
sie das grosse Werk zerstört!«

Und im Nu stürzten sie auf das verzückt dahintanzende Weib ein. Sechs
Dolche staken in Teresas Leib -- im Herzen, im Nacken, im Bauch, in den
Lenden, in der Scham -- _aber keiner schien sie verwunden zu können._
Gefühllos tanzte sie weiter, wie eine Nachtwandlerin. Sechs Dolche
umstarrten sie, als gehörten sie zu ihrem masslosen Schmuck.

»Sie fühlt nichts mehr,« rief einer erschrocken. Mit einem Messer schnitt
er in den Arm der Tanzenden, ohne dass Blut floss. Langsam fielen die
Dolche wie reife Früchte von ihr ab.

Das Leben schien still zu stehen im Augenblick fessellosester Entladung.
Die Fülle des Rausches war plötzlich aus den Seelen geschnellt. Leer --
gebrechlich -- standen die Ernüchterten da und wussten kaum im plötzlich
erstarrten Geist die Züge des entflohenen Phantoms, das ihnen Leben
geschienen, zurückzuhalten. Sie schämten sich zu reden; sie fühlten, wie
kläglich ihre Stimmen jetzt klingen mussten.

Stöhnen, Heulen riss sie aus ihrer Erstarrung. Entsetzt sahen sie, wie sich
Fray Tomàs de Leon am Boden wand. Er bohrte die Blicke, klammerte seine
Hände an ein Kruzifix und schrie. Man beschwor ihn um Erklärung. Er aber
wagte nicht emporzublicken, die Augen abzuwenden vom Gekreuzigten. Mit der
Hand nach der Decke deutend brüllte er wie ein zu Boden geschlagenes Vieh:

»Gott . . . Gott . . .!«

Er bellte den Namen Gottes durch das Gewölbe.

_»Gott lässt die Sünde wider den Heiligen Geist nicht geschehen!_

Derweil ihr Leib das Gefäss unseres Unrats war, hielt der Ewige ihre Seele
fest und machte ihr Leben unverwundbar . . .!«

Den jungen Leuten war, als peitsche ihnen einer in die Kniekehlen und
zwänge sie nieder. Am Boden liegend wimmerten sie klägliche Gebete. Teresa
taumelte immer langsamer, das Haupt fiel ihr vornüber, die Arme
erschlafften und sie sank zusammen wie die Flammen der Kerzen, die rings
niedergebrannt waren. Aus den Ecken der dunklen Kirche aber, hinter den
Vorhängen der Beichtstühle, von dem weissen Teppich stieg verzweifeltes
Stöhnen und Beten der Reue empor.

                                * * *

Der Abgrund meines Lebens hatte sich so weit geöffnet, dass es mir möglich
war, bis auf den Boden zu blicken. Ich sah eine Grenze, wo ich
Unendlichkeit vermutet hatte. Die menschliche Einbildungskraft, das Spiel
des Verstandes zeigte sich erschöpft, es konnte nicht weiter getrieben
werden. Mir war, als sei ich auf dem Weg der Erkenntnis mit der Stirn an
eine dunkle Wand gestossen, die nicht weichen wollte, wie sehr ich mich
dagegen stemmte. Konnte ich einen deutlicheren Beweis verlangen, dass ich
auf dem Irrweg war, dass ich mich verlaufen hatte? Und ich kehrte um.

[Fußnote *: Ist es nötig zu erklären, dass die Kirche niemals etwas
Ähnliches anerkannte!]





Die Botschaft


ICH ging in den Strassen der Stadt, wo ich wohnte. Es war mir bewusst, dass
ich mich meiner Wohnung näherte . . . Ja so, ich hatte Haschisch genommen.
Wo war denn eigentlich mein Rausch hingekommen? Ich fühlte mich ruhig und
zufrieden. Nun ging ich nach Hause. Dort würde ich nie Haschisch oder Opium
geniessen; man kann ja nicht wissen, was von den Phantasien an den Möbeln
hängen bleibt. Meine Zimmer mussten rein sein. Da empfing ich eine Frau,
die ich liebte, da arbeitete ich, manchmal kamen Freunde; alles war dort
nach meinem Geschmack; jeden Gegenstand hatte ich mit Bewusstsein irgendwo
gekauft . . . oder er war ein Geschenk . . . . oder ein Erbstück . . .
meine ganze Lebensgeschichte hing an diesen Möbeln, meine Reisen . . . eine
Art Tagebuch: mit einem Wiegenbett fing es an, darin lagen einst meine
Spielsachen dann kam ein alter Sessel, auf dem früher abends mein Vater
sass und erzählte . . . so ging es weiter. Da war eine Lampe, bei deren
Schein ich mich auf eine Prüfung vorbereitet hatte, und nun gar die
Photographien und Bilder! Dann ein altes chinesisches Tintenfass, das meine
erste Geliebte in entzückender Wut zerbrochen, und später einmal ein
geschickter Knabe wieder zusammengesetzt hatte. Alles war lebendig in
dieser Wohnung. Und dorthin sollte ich regellose Haschischphantasien
dringen lassen? Oft hatte ich mich geweigert, spiritistische Sitzungen
darin abzuhalten. Nichts Fremdes über meine Schwelle! Ich war eigentlich
ganz glücklich, dass ich solch ein Asyl mitten in dem unsauberen Leben des
Jahrhunderts hatte.

Eben wollte ich eine Strasse überschreiten, als ich mich von einer Dirne in
geradezu roher Art angestossen fühlte. Sie sah ältlich und fett aus. Ihre
Lippen waren in jenem Lächeln erstarrt, das wie die Versteinerung einer von
Anfang an geheuchelten Empfindung scheint. Während andere ihresgleichen mit
einem gewissen Kennerblick sofort den für ihre Absichten Ungeeigneten
unterscheiden und seines Weges ziehen lassen, wollte mich diese ganz und
gar nicht freigeben. Sie drängte sich trotz meiner heftigen Abwehr
fortgesetzt an mich heran und sprach auf mich ein. Ihre schlaffen Wangen
waren mit Schminke geradezu überladen. Es fiel mir auf, dass das lange
Elend diesem puppenhaften Gesicht nicht den geringsten Ausdruck zu
verleihen imstand war, nicht einmal einen besonders bösartigen oder
lasterhaften. Ohne zu antworten, ging ich weiter, aber meine Gedanken
konnten nicht von ihr loskommen. Was für Männer mögen ihr wohl folgen?
Dieses Nichts hatte ja nicht einmal die Anziehungskraft des Schmutzes, der
Gemeinheit. Was für eine Sinnlosigkeit -- einem das anzubieten! Auf welche
Art sollte wohl jemand dazu kommen, sich mit ihr zu befassen? Aus Zufall
musste sie Dirne geworden sein, ohne Abscheu, ohne Neigung, so wie die
meisten Menschen ihren Beruf wählen, eine Spiessbürgerin der Halbwelt, ein
Leib, der mechanisch als Weib funktionierte.

»Das ist ja der Tod,« dachte ich, und unwillkürlich beschleunigte ich den
Schritt, um nach Hause zukommen. Das Wesen war verschwunden oder mir schien
vielmehr, es habe sich in die Luft aufgelöst und erfülle nun alle Strassen,
liege über den Häusern, über den Bäumen, über den paar Menschen, die mir in
der ersten Morgendämmerung begegneten. Die Pariser Strassen, deren
selbstverständliche, einfache Eleganz ich sonst so gern hatte, kamen mir
plötzlich so gleichgültig, so dumm vor. Die Menschen, die mir begegneten,
schienen geradezu sinnlos: alle blass und übermüdet; weshalb? für ein
Vergnügen etwa? So sahen sie gar nicht aus. Sie gehen nun einmal erst
morgens zu Bett, haben Maitressen, die sie nicht lieben, und bezahlen für
alles mehr, als es wert ist, werden krank, wahnsinnig, verarmen. Warum?
Keiner weiss es, sie selbst wissen es am wenigsten. Viele Dirnen huschten
trübselig an mir vorbei. Sie waren übernächtig, blickten sich kaum um. Da
fiel mir wieder die erste ein, die mich angesprochen hatte. Sie war die
verkörperte Zwecklosigkeit, die Blödsinnigkeit dieses ganzen dummen
Stadtlebens. Ich war wenigstens müde und freute mich auf den Schlaf. So kam
ich vor mein Haus. Im Augenblick, wo ich die Haustür zuwerfen wollte,
schlüpfte jemand hinter mir herein.

»Inkubus,« murmelte eine Stimme. Von diesem Augenblick an fühlte ich mich
nicht mehr selbsthandelnd. Ich wurde von aussen gedrängt. Eine Lähmung, wie
sie uns im Traum überkommt, hinderte mich, den Eindringling hinauszuweisen
oder dem Hausmeister zu rufen. Von rückwärts wurde ich die Treppe
hinaufgeschoben, bis ich vor der Tür meines Arbeitszimmers stand. Wie jede
Nacht zündete ich mechanisch die Lampe an. Dann sank ich erschöpft auf die
Chaiselongue. Das Wesen setzte sich mir gegenüber. Ich erkannte dieselbe
Dirne, die mir zuerst auf der Strasse den Weg versperrt hatte. Das sinnlose
Elend, das sich mir draussen über die Nerven gelegt, war in mein Zimmer
getreten.

Sie suchte mich mit vielen Gründen zu überzeugen, dass sie dableiben und
ich ihr ein gutes Geschenk machen müsse. Ich weiss nicht, ob ich überhaupt
antwortete. Sie schalt, nicht sehr erregt, meine niedrige Gesinnungsweise
und suchte dann wieder durch alberne Schmeichelworte meine Geneigtheit.

». . . stelle dich nicht wie ein Kind,« sagte sie, »das weisst du doch,
alle Menschen müssen solche Beziehungen zum Tod unterhalten. Der Willenlose
hat dort einen gewalttätigen Herrn, der Ehrgeizige neidische Nebenbuhler,
der Egoist bösartige Kinder. Du sollst nur eine Geliebte haben, die du mit
deinem Blute wärmen musst. Jeder nach seinem Temperament oder nach seinen
Sünden, wenn ich mich ein wenig altmodisch ausdrücken darf. Denke doch an
die Freunde, mit denen du den Abend verbracht hast. Glaubst du, dass sie
keinen ungeladenen Gast daheim finden, der von ihnen Rechenschaft,
Versprechungen, Verzichtleistungen -- weiss der Teufel, was -- verlangt.
Dich hat man bisher unbegreiflicherweise vergessen. Nun komme ich, die
Steuer an inneren Leiden zu fordern, die du dem Tod dafür schuldest, dass
er dich noch leben lässt. Um dich nicht zu erschrecken, näherte ich mich
dir draussen. Du siehst, wie ich dir die Pille versüsse. Du hättest mich,
wenn ich gewollt, ebensogut auf deinem Bette sitzend finden können. Denke
dir einmal, wie du da überrascht gewesen wärest.« Sie lachte heiser. »Du
siehst, ich bin ganz bequem zu ertragen; auch Eifersucht ist mir fremd.
Weisst du, eigentlich bist du noch ein Kind, da du heute zum erstenmal
bewusst solch einen Besuch empfängst. Morgen wirst du kein Kind mehr sein;
gib nur acht, wie anders, wie viel verwandter dir morgen die Menschen
vorkommen werden. Die Hälfte deines Hochmuts wird verschwunden sein. Und
sie werden dir mehr trauen, denn bisher haben sie gefühlt, dass du nichts
vom Tod wusstest. Ist es nicht so? Das wird sich nun ändern. Nun hast du
wenigstens etwas mit ihnen gemein.« Sie schaute im Zimmer umher. »Übrigens,
ohne dass du sie erkanntest, müssen doch schon viele Boten des Todes gleich
mir hier durchgekommen sein, um diesen durchdringenden Leichengeruch
hervorzurufen.«

»Keine, verfluchtes Tier!« schrie ich ihr entgegen. »Du bist die erste, die
diese Räume besudelt.«

Aber die blecherne Stimme klirrte unaufhaltsam weiter. Meine einzige
Hoffnung war, dass alles nur ein Traum sei.

»Deine Verbrechen sind ja eigentlich ziemlich harmlos, ich brauche sie dir
wohl nicht erst zu nennen . . . Kindereien! Dafür bleiben dir auch die viel
schrecklicheren Besuche erspart, die nachts den duckmäuserischen Bürger,
den satten Berufs- und Geldmenschen quälen. Was die nachts erleben, das
werde ich dir gelegentlich einmal erzählen. Überhaupt, weisst du, wir
können ganz behaglich zusammen plaudern. Deinesgleichen ist wirklich die
amüsanteste Art zugefallen, mit dem Tod in Beziehung zu treten. Übrigens
noch eins, dass ich es nicht vergesse: du brauchst deshalb noch lange nicht
zu sterben, mein Besuch hat damit nicht das geringste zu tun. Ich bringe
nur die Botschaft, dass die allererste, gedankenlose Jugend für dich
verrauscht ist.«

Ihre Stimme war allmählich ein wenig wärmer geworden. Sie schien Mitleid
mit mir zu haben.

». . . Hast du immer noch Angst vor mir? Weisst du denn, wer die andern
waren, von denen du nicht das geringste wusstest, die du einst um
Mitternacht in dein Haus brachtest und neben dich legtest, wie eine gute
alte Geliebte? Wusstest du vielleicht, woher die kamen und wohin sie
gingen? Wusstest du, welcher Sarg tagsüber ihre Wohnung war, ehe sie zu dir
kamen und nachdem sie dich verliessen? Bist du ihnen morgens je einmal
gefolgt? Nichts wusstest du von ihnen, und doch hattest du keine Furcht.
Und nun erschrickst du vor mir? Was bin ich denn anders, als jene? Weisst
du weniger Gutes oder mehr Böses von mir?«

»Ich sage dir, dass noch keine diese Schwelle betrat.«

Sie brach in ein furchtbares, gar nicht einmal sehr lautes hölzernes Lachen
aus.

»Du bist ein Kasuist, mein Freund, du weisst wohl, dass ich nicht von
Fleisch und Blut rede . . . denke doch bitte einmal an deine Phantasien, an
deine geheimsten Gedanken; wie Spinnweben hängen die hier an allen Möbeln
herum. Es ist lächerlich, mir etwas vorlügen zu wollen. Ich weiss, mit wem
du dich schlafen legst, mit wem du dich ganze Nachmittage hier unterhältst.
Willst du dir etwa das Vergnügen machen, dich von mir wie ein Knabe
verführen zu lassen? Dazu bist du zu alt und ich zu klug. Ich denke, wir
machen das lieber wie gute alte Freunde, ohne uns gegenseitig etwas
vorzulügen.«

Ich sah wie sie aufstand und Holz in den Kamin legte, als ob es ihr eigener
Herd wäre. Am Feuer entkleidete sie sich und warf ihre zerschlissenen
Kleider an den Boden. Ich schloss die Augen, als ich den schwammigen
schlaffen Körper sah. Dann muss ich wohl eingeschlafen sein.

Als ich aufwachte, schien der blasse Wintermorgen in mein Zimmer. Ich war
überrascht, mich im Anzug auf der Chaiselongue meines Arbeitszimmers zu
befinden. Die umherliegenden schmutzigen Frauenkleider riefen mir plötzlich
das Geschehnis der Nacht in die Erinnerung zurück. Ich sprang auf und eilte
nach der Tür des anstossenden Schlafzimmers. Da lag das fette, aschfahle
Weib in meinem Bett. Ein nackter Arm hing wie tot auf den Boden herab, der
geöffnete Mund röchelte. Eine unaussprechliche Wut wallte in mir auf. Ich
zerrte sie aus dem Schlummer. Schlaftrunken rief sie mir ein Wort der
Strasse zu und brummte, weil ich sie schon weckte.

»Hinaus . . . fort . . .« schrie ich.

Halb erzürnt, halb erstaunt kleidete sie sich in träger Bosheit an, indem
sie meinem Drängen fortwährend mit groben, gereizten Ausdrücken antwortete.
Es ward mir fast wohl, als ich sie so schimpfen hörte; das war doch
wenigstens begreiflich: ich riss sie aus dem Schlaf und sie schimpfte; gut,
das liess man sich gefallen, das war logisch; aber sonst, das andere war ja
ganz unfassbar, dass sie hier war, in meinem Bett lag.

Schliesslich wollte ich sie zur Tür hinausschieben; aber da hätte man sehen
sollen: im Tiefinnersten verletzt und geradezu entseelt vor versteinerndem
Staunen, rief sie aus:


»Und die zwanzig Francs . . . wie? . . . Hast du mir nicht versprochen?
. . . du Schmutzkerl . . . glaubst du vielleicht, dass mir deine Nase so
gut gefallen hat . . .?«

Kaum hatte sie das Geldstück in der Hand, als sie schmeichelnd einlenkte:
»Sei nicht böse, mein Wölfchen, ich wusste ja nicht . . .«

Sie ging. Halb ohnmächtig fiel ich nieder.

Ich besann mich, wo und in welcher Zeit ich mich eigentlich befand.

Ich trat vor den grossen Spiegel über dem Kamin; das ganze Zimmer spiegelte
sich darin, aber ich sah mich nicht. Ich klopfte an das Glas, ich betastete
meinen Kopf, meine Glieder, sie fühlten sich an wie sonst. Aber ihr
sinnlicher Schein war fort.

»Das Frauenzimmer hat ihn mitgenommen, sie hat mich gestohlen,« rief ich
aus, »das ist ja zum Tollwerden. In was für Löchern mag die mich nun
herumschleppen!«

Plötzlich wurde ich ruhiger, denn mir fiel ein, dass dieser Spiegel noch
aus dem Jahr 189* war, seitdem doch schon viele Jahre vergangen sein
mussten. Was hatte ich indessen alles erlebt! Kein Wunder, dass ich mich
nicht darin sah. Doch da kam ein neuer quälender Gedanke. Ich kannte ja
niemand in der neuen Zeit. Plötzlich fiel mir der Graf von Saint-Germain
ein, der lebte ja in allen Zeiten zugleich. Der war überhaupt an allem
schuld. Er hatte übrigens gesagt, ich sollte ihn besuchen. Vom Fenster aus
pfiff ich einem Kutscher, um zu dem Grafen zu fahren. Ich eilte die Treppe
hinunter.

Ich fuhr und fuhr, unaufhaltsam, Tage, Wochen, Jahre.

Im bois de Boulogne stieg ich aus. Als ob es so sein müsste, ging ich nach
einer Bank, auf der ich früher oft in stillen Stunden geruht, die bisweilen
mein unruhiges Dasein kurz unterbrachen. Eine sanfte Wintersonne schien
durch das kahle Gehölz. Ich weiss nicht, wie lange ich träumend da gesessen
habe. Über den nächtlichen Besuch hatte ich mich langsam beruhigt. Es war
ja erklärlich, dass ich dieses Wesen im Haschischrausch eingelassen hatte.
Aber ich empfand einen heftigen Unwillen bei dem Gedanken, meine Wohnung
wieder betreten zu müssen. Es war dort etwas, womit ich durchaus nichts
mehr zu tun haben wollte. In dieser Nacht waren mir sonderbare Erkenntnisse
gekommen. Wo sollte ich nun hin? Fort von Paris, am liebsten fort aus
Europa in irgendeine Farm auf jungfräulichem Boden. Dann fand ich es
merkwürdig, dass ich -- gerade ich -- so etwas empfand. Fast war mir, als
wäre das alles gar kein Rausch gewesen; die körperlose Geliebte, die kein
Weib ist, sondern der Vorwand unserer Träume -- das Bachanal der wütendsten
Selbstvernichtung -- die Umarmung des Todes -- das lüsterne Betasten und
Belauern des Heiligen -- hatte ich das wirklich nur geträumt? Irgendwo
hatte ich ähnliches selbst erlebt, selbst getan. Wo aber? Wann geschah es?
Ich fühlte, dass ich darüber noch lange nachzudenken hätte. Eines nur war
mir gewiss: Ich war von einer schrecklichen Krankheit genesen, die mich
schon dem Tod hatte ins Gesicht schauen lassen. Was aber nun mit der neuen
Gesundheit beginnen?




Der Schmugglersteig


.sub Eine vormärzliche Begebenheit aus den privaten Aufzeichnungen eines
Journalisten.

EIN halbes Jahrhundert habe ich über mich selbst geschwiegen, ich war ein
Sprachrohr der andern. Heute bin ich fünfundsiebzig Jahre alt. Es ist daher
höchste Zeit, ein Erlebnis zu berichten, wenn es überhaupt noch berichtet
werden soll.

Zweimal bin ich um die Welt gereist, dreimal habe ich die Mitternachtssonne
gesehen, in Amerika war ich viermal auf Segelschiffen, sechzehnmal auf
Dampfern, die Eisenbahnen haben mich umsonst vom Kap Finisterre bis zum
Gelben Meere gebracht, mit zwei Kaisern, elf Königen, vier Häuptlingen,
einem Hetman, einem Begler-Beg, einem Gross-Chan und 214 Ministern habe ich
gespeist, der Bey von Tunis hat mir seinen Sonnenorden verliehen, aber mein
Souverän erlaubte mir nicht, ihn zu tragen, denn mit seinen Sternen und
Bändern bedeckt er mehr als dreiviertel einer mittelgrossen Personnage,
bezaubert daher Unwissende stärker als der Schwarze Adlerorden, und das ist
nicht gut; Heinrich Heine hat mir persönlich göttliche Grobheiten gesagt,
Fanny Elsler hätte mich fast geliebt, Napoleon III. hörte mit gnädigem
Lächeln meine Finanzpläne zur Rettung Frankreichs an; bei 113 Hinrichtungen
war ich Zeuge (die letzte war eine elektrische); mehr als 200
erwerbsbedürftigen Müttern habe ich die Doppelköpfigkeit, unmässige
Behaarung oder die wissenschaftliche Bedeutung ihrer Missgeburten
öffentlich bezeugt; ich habe betrunkene Könige, ehrliche Dirnen und
bescheidene Tenöre gekannt, in Louisiana sollte ich skalpiert, in Tibet
geschunden werden, aber mein gewandtes Auftreten rettete mich; ich kann
keine Sprache ganz, sechsunddreissig dreiviertel oder halb, in allen habe
ich eine vortreffliche Aussprache. Mit einem Wort, ich gleiche dem
nordischen Gotte Heimdall, der von neun Müttern geboren war (also
neunfachen Mutterwitz haben musste), weniger Schlaf brauchte als ein Vogel,
bei Nacht hundert Meilen weit sah wie bei Tag, und das Gras auf der Erde,
die Wolle auf den Schafen wachsen hörte.

Aber von alledem will ich heute nichts erzählen, ihr Damen der Provinz, die
ihr mich für einen interessanten Mann haltet. Ich will vielmehr berichten,
was mir in der letzten Nacht begegnete, ehe dieses bewegte halbe
Jahrhundert begann, und schlage darum die holzpapiernen Blätter meines
Lebensbuches zurück.

Ich besass die kümmerliche Monatsrente von fünfzig Gulden (später gab es
Monate, in denen ich bei Gott -- 5000 anzubringen verstand). Dies und ein
unheilvolles Rumoren in meinem Kopf bestimmten mich zum Dichter. Wie es
sich für diesen Beruf geziemt, bewohnte ich eine Dachkammer mit Aussicht
auf einen altertümlichen Hof und zahllose Giebeldächer, auf denen im
Mondschein Katzen und Kater tanzten, während in den dunklen Ecken des
morschen Baus die Mädchen des Hauses verfängliche Gespräche mit ihren
Liebsten hielten. Die Mondstrahlen aber waren wie Saiten in den Rahmen
meines Fensters gespannt und mein überquellendes Herz harfte seine
Sehnsucht gen Himmel. Bisweilen besuchte mich ein Mädchen. Es war nicht
schön (die Geliebten der Dichter sind nie schön, denn wessen
Einbildungskraft aus blondem Haar goldene Kronen schmiedet, muss so viel
Wirklichkeit übersehen, dass es auf ein paar Extrahässlichkeiten, wie etwa
Struppigkeit, nicht ankommt, und wer den Sprung von Augen zu Sternen macht,
braucht nicht viel weiter zu springen, ob die Augen schielen oder nicht).
Ach, Manolitha, die Marie hiess, hatte etwas struppiges Haar, ohne dass ich
es merkte, und ihre Augen schielten ein wenig. Aber auch sie war ein Weib,
ihre körperlichen Merkmale waren feminini generis, wie bei Venus und Maria.
Meine Phantasie besass an ihr ein Sprungbrett in das Mysterium der stets
streitenden und stets sich ergänzenden Hälften der Welt, des ewig
Männlichen und des ewig Weiblichen. Dazu genügte Manolitha, wie meine
Dachkammer für meine Poesie. Das arme Kind wusste nicht wie ihm geschah.
Sie musste wohl meinen: So sind die Männer.

Die Stadt, in der ich wohnte, lag unweit der Grenze. Die über einem See
aufsteigende Felsenstrasse -- im letzten Haus diente Manolitha -- führte in
das Nachbarland. In einer Mondnacht -- mir ist, als wären in jener Zeit
alle Nächte Mondnächte gewesen -- hatte ich Manolitha an ihre Türe
gebracht. Ich stand allein, hoch über dem See. Fern glitzerten die Lichter
der Stadt. Längs der Strasse zog sich die Felswand hin, zerklüftet und oft
von lärmenden Giessbächen zerrissen. Auf dem fast taghell beschienenen See
irrten formlose dunkle Wolkenschatten. Hie und da schwamm ein Fischerboot
auf der Fläche, dessen Insasse bei einer Laterne sein schweigsames Gewerbe
trieb. Auf meinen Lippen brannten noch die Küsse der Geliebten, die mir
jetzt in der Erinnerung wirklich ein wenig zu dürftig vorkommt. (Bei
Heimdall, dem Journalistengott, später habe ich wahrhaftig andere Frauen
geliebt!) Ich eilte vorwärts auf der Felsenstrasse, vorwärts in die Ferne,
nach Süden, in dumpfem Drang, aus den silbernen Armen dieser Jugendnacht,
den Gedanken, das Wort zu empfangen, das mich unsterblich machen sollte.
Halb trunken wanderte ich immer weiter. Nach kurzer Zeit bog die
Felsenstrasse rechts ab in das Geklüft. Nur ein kaum fussbreiter Weg war in
die Wand gehauen, die über dem See emporragte: der Schmugglersteig. Mir
war, als stünde ich vor einer wichtigen Entscheidung meines Lebens. Rechts
ging es in die felsumschlossene Fichtennacht der geheimnisvollen
Wasserfälle, links führte der halsbrecherische Steig im Mondlicht hoch über
der unten ausgedehnten Flut. Ihn beschloss ich zu gehen, und wie auf dünnem
Seil glaubte ich frei ins Licht zu wandeln, während ich, der Gefahr
spottend, über dem Abgrund mühselig einherkroch. Der Gedanke belustigte
mich, es könnte mir ein hochbepackter Schmuggler auf dem engen Pfad
entgegenkommen und ich war neugierig, was sich dann ereignen würde. Einer
hätte umkehren oder in die Tiefe stürzen müssen. Es kam mir vor, als ziehe
sich der Pfad unendlich in die Länge. Da ich infolge der Krümmungen den
Ausgangspunkt längst nicht mehr sah und hinter jeder Felsennase, die sich
vor mir breit machte, irgendein Ziel erhoffte, ging ich weiter mit jener
fast unheimlichen Pedanterie, die uns oft vorwärts zwingt, damit wir nur
nicht auf denselben Weg zurück müssen, und ginge es in den Tod.
Körperlicher Anstrengungen ungewohnt, fühlte ich bald eine kaum noch
erträgliche Müdigkeit, die Hände schmerzten bei jeder Berührung mit dem
Felsen, ich fühlte meine Selbstbeherrschung nachlassen, ein Zittern in den
Unterschenkeln kündete einen nahenden Schwindelanfall an. Fast weiss lag
der See unter mir, ein unwahrscheinliches künstliches Licht durchzitterte
die Luft . . . . . . Des folgenden Zeitabschnitts vermag ich mich durchaus
nicht mehr zu entsinnen. Bin ich in die Tiefe gestürzt und unter der Flut
in ein Feenreich geraten, wo man als Maskerade zum Spass unsere Welt
nachahmt, und befinde ich mich heute noch bei diesem Mummenschanz? Oder bin
ich mit übernatürlicher Anspannung meiner Kräfte weitergegangen, so dass
für die Tätigkeit des Bewusstseins nichts mehr übrig blieb? Kurz, ich fühle
meine Erinnerungen an dieser Stelle wie in zwei Leben zerbrochen, eine
Leere, ein Loch trennt diesseits und jenseits. Ich stelle mir vor, dass
viele Menschen so eine Lücke in ihrem Dasein haben, die sie vergeblich
auszufüllen suchen. Entweder nehmen sie diesen Mangel ernst, lassen in
Gedanken nicht davon ab und werden verrückt, oder sie betäuben sich, wie
ich mit Arbeit, Vergnügen und ähnlichen narkotischen Mitteln, dass heisst,
sie machen einen Umweg um ihr eigenes Leben.

Meine Erinnerung beginnt wieder bei folgender Situation: ich sitze in einem
allseitig geschlossenen Raum am Boden, mit Fellen und Tüchern bedeckt, vor
mir brennt ein Reisigfeuer, das seinen Schein auf einen Kreis wildbärtiger
Männer wirft. An ihren Gürteln sehe ich reich besetzte Dolche funkeln, ihre
rauhen, ungepflegten Glieder sind halb in Lumpen, halb in köstliche,
orientalische Decken gehüllt, Offenbar sind es Schmuggler. -- Als ich den
Blick aufwärts wendete, sah ich den gestirnten Himmel über mir. Wir
befanden uns in einer dachlosen Stube, deren Wände Felsen bildeten. In den
Ecken schienen dunkle Stollen in den viereckigen Raum zu münden. Vor jedem,
auch vor mir, waren kostbare, aber teils zerbrochene Teller und Gläser
aufgestellt mit Speisen und Getränken, die appetitlicher aussahen, als der
Ort erhoffen liess. Man hatte offenbar auf mein Erwachen gewartet, um mit
der Mahlzeit zu beginnen. Ich war sehr hungrig und griff zu. Man ermunterte
mich besonders zum Trinken, war überhaupt sehr höflich und zuvorkommend.
Ein altes Weib, das nicht anders als »Skelett« angeredet wurde, bediente
uns mit dem, was es selbst gekocht zu haben schien. Ich hätte allzu gerne
gewusst, wie ich hierher gekommen und wer diese Menschen waren, aber ich
fürchtete, mir eine Blösse zu geben, wenn ich fragte. (Um übrigens keinen
unberechtigten Hoffnungen im Leser Raum zu geben, bemerke ich gleich, dass
ich es niemals erfahren habe.) Ich suchte meine lange Geistesabwesenheit
nach Kräften zu verheimlichen. Nachdem wir gespeist, und ich mich, ohne
betrunken zu sein, in jener gehobenen Nachtischstimmung befand, schlugen
meine Wirte vor, mir ihre Wohnung zu zeigen, in der, wie sie sagten, von
den Schätzen der Erde das Beste und Kurioseste aufgestapelt sei. Wir traten
mit Fackeln in einen der Stollen, dessen beide Wände von eisernen Türen
durchbrochen waren.


»Wir können Ihnen unmöglich alles zeigen,« sagte einer, »aber Sie werden
sich immerhin einen Begriff von unsern Sammlungen machen können.«

Man öffnete die erste Pforte. Ich will nicht mit der Beschreibung der
kostbaren und seltsamen Dinge in den Felsenkammern ermüden. Die Aufsätze,
die ich in den folgenden fünfzig Jahren aus allen Teilen der Welt an die
*** Zeitung schickte, geben deutliches Zeugnis davon. Nur kurz einiges
allgemeine: ich sah die abendliche Pracht der Wüste, das starre Trandasein
der Eskimos, ich sah Bayreuth mit den wieder lebendig gewordenen nordischen
Göttern, um die sich der Reichtum beider Welten schart. (Ich muss bemerken,
dass dies in den vierziger Jahren geschah, als noch kein Mensch an Bayreuth
dachte). Ich sah die Schlachtfelder des Deutsch-Französischen Kriegs, aber
ich entdeckte noch mehr: leibhaftige Gedanken, die in zeitweiligen oder
lebenslänglichen Ruhestand versetzt, auf köstlichen Polstern lagen,
menschheitbeglückende und weltzerstörende Ideen; kommunistische Systeme
sassen liebenswert um Teetische, Revolutionen wälzten sich knurrend an der
Kette; Dichterträume gingen in fabelhafter Nacktheit -- ich muss gestehen
etwas dreist -- zwischen anständig, wenn auch dürftig gekleideten
bureaukratischen Schrullen umher; Hoffnungen, die stets in der Hoffnung
waren, schrien nach Wöchnerinnen, die man ihnen versagte; einige neue
Laster machten sich von weitem angenehm bemerkbar, rochen aber in der Nähe
schlecht, weshalb ich nicht dazukam, mir ihre Gestalt ordentlich
einzuprägen. Lues, eine Schöne, grämte sich, weil man sie nicht zu den
assyrischen Lasterkönigen liess, aber das Schicksal, vor dem die Schmuggler
ungeheuren Respekt zu haben schienen, wollte es nicht so, wie man mir
versicherte. Auch fixe Ideen drängten unverschämt heran. Nur diesen
gegenüber musste ich mich unhöflicher Worte, einer, die einen Lorbeerkranz
trug, sogar meiner Fäuste bedienen, sonst benahmen sich selbst die
Leidenschaften und die Todsünden recht gut, wenn auch etwas verlegen, wie
derbe Leute, die sich einmal in den Zwang eines Salons fügen, um sich
später anderwärts schadlos zu halten.

Man kann sich denken, mit welchem Staunen ich zwischen all' diesen
Kuriositäten umherging, aber meine Verwunderung wuchs, als mich einer
meiner Begleiter, geschmeichelt durch das Gefallen, das ich an den
Sammlungen fand, höflich aufforderte, ich solle mir von dem Gesehenen
einiges aussuchen, was mir besonders gefiele. Da liess ich denn die Blicke
unentschlossen umherschweifen. Wieder drängten sich die fixen Ideen
ungezogen heran. Aber ich brach mir Bahn nach einem halb offenstehenden
rotschimmernden Gemach, in dem -- obwohl es gar nicht gross war --
fünfhundert (so sagte man mir) wundervolle, nackte Frauen lagerten, die
still vor sich hin lächelten, als wollten sie sagen: wir brauchen uns nicht
vorzudrängen, man kommt zu uns. Ich war von dem weissen Schimmer der Leiber
geblendet; solche Formen hatte ich bisher nur in Gips gesehen, ich meinte,
die wirklichen Frauen seien nun einmal immer hässlich, aber wer ein rechter
Dichter sei, der setze sich darüber hinweg. Die Schmuggler freuten sich
offenbar an meiner Verwirrung, in die mich besonders die zunächst liegende
durch ihre brennenden Blicke versetzte.

»Die will ich haben . . . alle 500,« rief ich gierig und wurde gleich sehr
verlegen.

Nichts sei leichter als das, antwortete man mir vergnügt, ich solle noch
einmal wählen. Man öffnete vor mir eine andere Tür, durch die ein heftiges
gelbes Licht herausfiel, das mir in den Augen weh tat. Als ich mich daran
gewöhnt hatte, sah ich, dass Wände, Boden und Decke des geöffneten Gemaches
mit geprägten Goldstücken gepflastert waren. Ich wollte weiter gehen.

»Es ist rund eine Million,« sagte man mir.

»So?« erwiderte ich gleichgültig und blickte bald lüstern zurück in das
Gemach zu den 500 Frauen, bald schweifte mein Blick suchend über den andern
Kostbarkeiten umher.

»Es ist eine Million,« wiederholte der Schmuggler erstaunt, »wollen Sie die
nicht . . .?«

»Ach nein, geben Sie mir lieber die Wüste mit den Kamelen und Oasen oder
sonst etwas Romantisches . . .«

»Sie sind ein Narr, mein Herr. Erst lassen Sie sich 500 Weiber schenken und
nun verschmähen Sie das lumpige Milliönchen. Was wollen Sie denn ohne Geld
mit Ihren Weibern anfangen? Glauben Sie, die werden Ihnen Ruhe lassen?
Dieses Volk will beschenkt sein mit Schmuck und Kleidern . . .« »Aber nackt
gefallen sie mir viel besser.«

»Das ist den Weibern gleich; wenn Sie ihnen nichts geben, werden sie sich
schon von andern etwas schenken lassen.«

Ich erschrak sehr bei diesen Worten und liess mir nun ruhig die Million
versprechen. Die Schmuggler waren sehr zufrieden und sagten, nun dürfe ich
noch ein letztes Mal wählen. Dieses Mal wolle man mich nicht beeinflussen,
aber sie müssten mir doch vorher noch etwas zeigen, was mir gewiss ganz
besonders gefallen würde. Sie schoben eine Tapetentür auf, die sich ohne
Schlüssel öffnen liess, während alle andern Pforten von Eisen waren und
schwere Schlösser hatten. Dafür war diese Tür so kunstvoll verborgen, dass
sie nur ein Eingeweihter finden konnte. Wir traten in ein Zimmer, in dem
offenbar niemals aufgeräumt wurde. Ein Haufe Metaphern, Anaphern, Symbole,
Allegorien, geprägte Redensarten, Zitate, Sprichwörter, in Fäulnis
übergegangene Witze lagen wie Kraut und Rüben durcheinander. An den Mauern
hingen ohne Ordnung poetische Bilder und Vergleiche in festen Rahmen,
Tropen und Metonymien blickten verwirrend dazwischen hervor. Um die vier
Wände des Zimmers ging nahe der Decke ein Wandbrett, auf dem zwischen
Windöfchen, Kolben, Retorten und anderen Apparaten der Schwarzkunst hohe
Gläser voll Flüssigkeit standen; darin lagen, wie Tiere in Spiritus,
Gedanken, ganz gute Gedanken, die sich im Zustand langsamer Auflösung
befanden, manche waren noch deutlich erkennbar und hatten die umgebende
Flüssigkeit nur leise gefärbt, andere waren bereits formlos, gallertartig
geworden, während die Flüssigkeit immer trüber schien; in einzelnen Gläsern
befand sich nichts als ein formloser, missfarbiger Brei.

Auf meine Frage, was diese Gedankenverdünnung bedeute, wollten mir die
Schmuggler keine rechte Auskunft geben; ich würde das schon eines Tages
begreifen; wenn nicht, so wäre mir nur um so wohler. Ich muss gestehen,
dass mir das verdächtig vorkam. Ich wurde unwillkürlich an die
Wirtshausküche erinnert, wo aus ein paar Pfund Fleisch soviel Brühe
gewonnen werden kann, als -- Wasser da ist. Es wurden hier offenbar
Fälschungen vorgenommen. Und woher bezogen die Leute die zur Verdünnung
benutzten Gedanken? Ich schwur mir, ihnen beileibe keine von meinen Versen
vorzulegen, was mir sonst gar leicht passieren konnte. Vielleicht würden
sie daraus eine Wassersuppe kochen. -- Indessen schweiften meine Blicke
wieder über die Merkwürdigkeiten am Boden und an den Wänden; mein Herz ging
auf, als ich darunter zwischen vielem Unrat reine Dichterworte, tiefsinnige
Symbole, erhabene Weisheitssprüche hervorschimmern sah.

»Wer dahinein Ordnung brächte!« rief ich begeistert aus, »würde das Zeug zu
der wundervollsten Dichtung finden, schenken Sie mir das Gerümpel, mich
soll die Mühe nicht verdriessen!«

Die Schmuggler erklärten sich gerne bereit.

Indessen waren wir wieder hungrig geworden. Wir speisten zusammen in dem
Felsenviereck. Bei Tisch erfuhr ich bemerkenswerte Einzelheiten über das
Dasein dieser Menschen. Sie lebten vom Tauschhandel. Klein hatten sie
angefangen; einige ihrer Kostbarkeiten wollten sie am Weg gefunden haben.
Sie vermehrten ihren Besitz durch vorteilhafte Tauschgeschäfte. Ich gewann
immer mehr den Eindruck, als ob das alles nicht immer redlich zuginge.

»Sie werden uns doch auch etwas als Entgelt für unsere Gaben zurücklassen?«
fragte man mich.

Ich erschrak, denn ich hatte nichts bei mir als eine recht miserable
deutsche Dichterzigarre.

»Beunruhigen Sie sich nicht; Sie lassen uns drei Ihrer Träume ab und wir
sind zufrieden.«

»Träume?« rief ich aufatmend, »davon habe ich genug; wenn Sie ein Mittel
wissen, mich schmerzlos von einigen zu befreien . . .«

Wir kamen dann auf andere Gesprächsthemen, auf Politik, auf die damals
herrschende Unzufriedenheit der Völker mit ihren Herrschern. Die Schmuggler
taten so, als hätten sie dabei irgendwie die Hand im Spiel.

»Nein, nein,« rief einer aus, »die echte Revolution geben wir so bald nicht
wieder her. Wir haben sie nur mühsam zurückbekommen gegen die Heuchelei,
die doch sonst so hoch im Preise stand. Aus Frankreich erhalten wir fast
täglich Briefe, wir möchten sie wieder hergeben, sie wollen uns dafür die
Glorie Bonapartes ungeschmälert ausliefern. Aber wir tun es nicht. Sie
bekommen höchstens ein paar Barrikadenkämpfe.« (Ich bemerke, dass das Jahr
48 vor der Tür stand.)

Ein über alle Massen widerliches, trockenes Lachen tönte aus der Ecke. Es
war ein Heiterkeitsausbruch des Skeletts.

»Grossmäuler Ihr,« rief die Alte, »Ihr müsst sie ja doch hergeben, wenn die
Dame Schicksal kommt und es verlangt. Hi . . . hi . . . Gut, dass die Euch
ein wenig überwacht, sonst würdet Ihr die ganze Welt auf den Kopf stellen.
Hi . . . hi . . .«

Der Schmuggler, der vorher gesprochen hatte, fasste schweigend die Alte an
einem Strick, den sie stets um den linken Knöchel trug und hängte sie
damit, den Kopf nach unten, an einen Nagel, der hoch aus der Felswand
ragte. Sie wimmerte ein wenig, schien aber an diese wohlverdiente
Züchtigungsart gewohnt. Die 500 Frauen, zu denen die Pforte noch offen
stand, jauchzten, die zunächst liegende sagte mit etwas fremdländischem
Akzent, sie würde sich so etwas nicht bieten lassen. Mit ihr hätte es aber
wohl kaum einer versucht. Sie hatte königliche Formen.

Meine üble Meinung von diesen Leuten bestätigte sich immer mehr. Sie
schienen Kenner der Echtheit zu sein, in deren Besitz sie sich zu setzen
wussten, um sie zu entwürdigen. Natürlich machten sie glänzende Geschäfte,
wenn sie die grosse Revolution in zahllose Barrikadenkämpfe verzettelten,
die sie einzeln feilboten. Ich konnte mir vorstellen, wie viel besonnene
Gedanken und ehrwürdige Empfindungen sie sich für solche Nichtigkeiten
bezahlen liessen, und es dämmerte mir, auf welchen unlauteren Kniffen das
Geschäft dieser Menschen beruhte. Ein unheimlicher Gedanke stieg in mir
auf: wenn sie noch eine Zeitlang so weiter wirtschafteten, würden sie
schliesslich alles Wertvolle aus der Welt herausgezogen und ihre
Scheinwerte und Verdünnungen hineingeschmuggelt haben. Mir graute vor der
Feigheit, Heuchelei, Unwahrheit, Bedrückung, die dann zur Herrschaft kämen,
während die Freiheit, die Schönheit, die Erkenntnis in Felsenkammern als
Kuriositäten moderten oder alchimistisch entstellt würden. Es war nur gut,
dass sie wenigstens vor dem Schicksal Angst hatten, vielleicht weil es das
einzige auf der Welt ist, womit man nicht Handel treiben kann.

Man muss mir etwas Einschläferndes in das Getränk gegossen haben, denn nur
mit Mühe bemerkte ich noch, wie das Skelett wieder abgehängt wurde, einen
überkochenden Kessel aus einem Stollen holen und in die Mitte rücken musste
und unter Höllenlärm der ganzen Schmugglerbande darin herumquirlte; man
warf mir unerkennbare Gegenstände hinein, Flaschen wurden darüber
ausgegossen; wenn der Kessel zu voll war, stellte man ihn einfach schräg,
bis ein Teil der Flüssigkeit überlief, die sich wie kriechendes Gewürm
lautlos und dick in die Stollen verteilte. Dann wurde weiter gepantscht.
Zuletzt klebte die Alte auf einer Etikette das Datum des folgenden Tages an
den Kessel, den mehrere Schmuggler verschlossen. Man schob ihn bis vor eine
eiserne Tür. Durch den geöffneten Flügel sah ich nichts als den gestirnten
Himmel. Ich merkte, dass wir uns sehr hoch befinden mussten. Der Kessel
wurde bis auf die Schwelle geschoben, das Skelett gab ihm einen Tritt und
nun rollte er auf einer Art Rutschbahn ins Tal. Die ganze Schmugglerbande
heulte ihm die gröbsten Ausdrücke nach, spie hinunter und verunreinigte
überhaupt die Rutschbahn aufs unflätigste.

»Er ist geplatzt,« rief einer entzückt, und ich stellte mir lebhaft vor,
wie dieses elende Gebräu die Welt am folgenden Morgen überschwemmen würde.
Offenbar gab es jeden Tag solch eine Portion.

Nun schien der Zweck erreicht zu sein, man schloss die Tür. Ich aber tat
als ob ich schlief, denn ich verhehlte mir nicht, dass ich in einen
ungewöhnlichen Kreis geraten war, dessen Tun und Treiben ich weiter
beobachten wollte. Bald aber geriet ich, wie sehr ich auch dagegen kämpfte,
in Halbschlummer. Ich träumte lebhaft, doch ich wusste, dass es Träume
waren.

Zuerst sah ich Manolitha, göttlich schön, wie sie in meiner Phantasie
lebte, mit ihrer Krone goldener Haare und den Sternen im Antlitz. Ich
wusste, dass es ein Traumbild war, aber ich freute mich daran; doch da kam
einer der Schmuggler, suchte mit den Händen etwas über dem Haupte
Manolithas, rollte behutsam das ganze Bild zusammen und reichte es der
Alten, die es in einen der Stollen trug. An Stelle des Bildes sah ich eine
merkwürdige Haustür mit grünen Jalousien. Darüber hing eine transparent
erleuchtete Hausnummer in der Grösse einer Fensterscheibe. Daneben stand
zwischen zwei ordinären Amoretten auf einem Schild:

         Nachtschelle für
         Mlle Rose, Modes.

Ich war so keck, auf die Klingel zu drücken; da sah ich hinter den
Jalousien zwei spähende Augen. Ein Spalt der Tür wurde geöffnet und ein
recht anständig gekleidetes Mädchen mit etwas pockennarbigem Gesicht
flüsterte:

»Sie sind doch empfohlen . . . durch Dr. M., nicht? . . . Sie wissen, nur
auf Empfehlungen lassen wir . . .«

Ich nickte bloss und trat ein. Am Ende des Korridors sah ich wieder in das
halboffene rote Gemach, in dem die 500 nackten Frauen lagerten, die nun mir
gehörten. Aber die Tür flog gleich zu.

Das anständige Mädchen schob mich auf eine breite verschnörkelte
Holztreppe, wie sie in alten Bürgerhäusern sind. Ich ging hinauf. Es roch
nach samstäglicher Putzerei. Im vierten Stock war eine Glastür, vor der auf
einem Schildchen mein Name stand. Ich öffnete mit meinem Hausschlüssel, der
genau in das Schloss passte. Im Zimmer war ein Kaffeetisch gedeckt, beim
Schein einer geblümten Petroleumlampe strikte Manolitha Socken. Hinter dem
Tisch stand ein Ledersofa mit einem gehäkelten, kranzförmigen Pfühl;
darüber hingen Familienporträts in ovalen Rahmen. Manolitha stand auf; sie
nahm sich als Hausfrau ganz gut aus.

»Alter,« sagte sie, »es ist gut, dass du kommst; schon dreimal war der
Metzger mit der Rechnung . . .«

Ich wollte auf sie zugehen und ihr schlicht gescheiteltes Haar küssen, aber
da kam wieder der Schmuggler, machte sich über Manolithas Kopf zu schaffen
und rollte das ganze Traumbild auf, das die Alte wieder in den Stollen
trug. Statt in dem altmodischen Zimmer mit dem Kaffeegeruch befand ich mich
in einem kleinen Gemach voll orientalischer Teppiche am Boden und an den
Wänden. Ein Diener erwartete mich mit Tee. Neben meiner Tasse lag ein
Haufen eingelaufener Briefe und Telegramme, nach denen ich griff, während
der Diener mir die Stiefel auszog. Im Nebenzimmer brannten zahllose Kerzen
vor Spiegeln. In der Mitte war ein Tisch mit reichem Silber und Porzellan
gedeckt, seltene Blumen dufteten in bunten Vasen. Der Diener bemerkte
bescheiden, alles sei für das Diner angeordnet, wie ich es befohlen hätte.
In diesem Augenblick schellte es; ich wurde ans Telephon gerufen.

Als ich aber die Hörmuschel ans Ohr legte, bemerkte ich, dass ich einen
Guckkasten vor mir hatte. Ich sah darin ein wundervolles Bild. Tief im
Abgrund wand sich ein Fluss zwischen südländisch üppig bewachsenen Ufern,
an denen ein fast schwarzer Lorbeerhain zwischen hellerem Grün hervorstach.
Aus diesem Hain erhob sich eine Gestalt, die immer höher schwebte, bis sie
ganz dicht vor mir war. Ich erkannte Manolithas Züge, schön wie sie in mir
lebten. Sie trug ein antikes Gewand. Gemessen schritt sie auf mich zu, hob
ihre beiden Arme und wollte mir einen Lorbeerkranz auf die Schläfen
drücken, aber zum dritten Male erschien der Schmuggler, rollte das Bild
auf, gab es dem Skelett, das damit in dem Stollen verschwand. In dem
Guckkasten aber gewahrte ich ein anderes Schauspiel. Ein Herr, der meinem
Vater ähnlich sah, nur viel vornehmer erschien, sprach von einer
Rednerbühne herab zu einer festlichen Versammlung. Man jubelte ihm zu, er
schien seine Rede gerade beendet zu haben. Ich hörte noch, wie er die Worte
sagte:

»Und für diese Broschüre, in der ich sein Land in den wahrsten und hellsten
Farben zugleich geschildert, geruhten Seine Hoheit der Bey von Tunis mir
seinen Sonnenorden zu verleihen. Mein Souverän -- Gott erhalte ihn --
konnte mir aus geheimen Gründen der Staatsräson das Tragen dieser
Auszeichnung nicht gestatten, und so bin ich genötigt, diesen Beweis seiner
Gunst dem hohen Bey -- auch ihn erhalte Gott -- zurückzusenden. Vorher aber
kann ich mir die Genugtuung nicht versagen, Ihnen, verehrte Zuhörer, und --
wie ich mir wohl schmeicheln darf -- Freunde, dieses Kleinod zu zeigen!«

In diesen Worten öffnete der vornehme Mann eine Kiste, die ihm derselbe
Diener brachte, der mich vorher mit Tee bedient und mir die Stiefel
ausgezogen hatte, und entnahm daraus goldene Sterne und seidene Schleifen,
die er der laut jubelnden Menge zeigte; ja er konnte sich nicht enthalten,
sie einen Augenblick anzulegen.

In diesem Augenblick klingelte es wieder am Telephon. Jemand rief:
»Schluss!« Ich hängte die Hörmuschel an, und als ich mich umsah, war es
heller Morgen. Die Schmuggler sassen beim Mahl in ihrer Felsenstube.

Man wünschte mir einen guten Tag, das Skelett brachte einen ganz
erträglichen Morgenkaffee an mein Lager. Ich erfuhr, dass die Schmuggler
nach dem Frühstück an ihr Tagewerk zu gehen beabsichtigten, d. h. einige
Streifzüge in der Umgegend machen wollten, weil heute der Fürst Metternich,
auf einer Italienreise begriffen, durchkommen müsse und sie ihm einige
freiheitliche Ideen aufschwindeln wollten. Sie hofften durch derartige
Manipulationen die Revolution nicht hergeben zu brauchen. Man brach auf,
und mir blieb nichts anderes übrig als mitzugehen. Die Schmuggler bemerkten
meine enttäuschte Miene.

»Ach so, die Geschenke,« sagte einer, »Sie müssen wissen, dass Sie das
nicht alles auf einmal erhalten, es wird auf Ihr ganzes Leben verteilt
werden. Aber Sie werden noch heute spüren, dass wir Wort halten.«

Ich glaubte natürlich kein Wort und war überzeugt, dass man mich betrogen
hatte.

Wir gingen durch einen endlos scheinenden Stollen, der uns schließlich an
eine Stelle des Sees führte, wo zwischen Wasser und Felsen kein Pfad ging.
Ein breites Warenboot, wie es die Schiffer benutzen, lag in einer kleinen
natürlichen Bucht. Ich wurde eine halbe Stunde weit gerudert und dann an
der mir bekannten Uferstrasse abgesetzt. Die Schmuggler hielten sich keine
volle Minute auf, sondern fuhren mit unbegreiflicher Geschwindigkeit
zurück.

Ohne im geringsten Klarheit über das Erlebnis zu finden, ging ich der Stadt
zu. Von weitem sah ich Manolitha, die vom Markt kam, wo sie Fische gekauft
hatte. Sie trug sie in einem Korb. Pfui! wie hässlich sie war, sie schien
mir krankhaft mager, und wie mussten erst ihre Hände nach Fischen riechen!
Glücklicherweise führte der Weg über eine Brücke, unter die ich leicht
durch einen Graben neben der Strasse gelangen konnte. Dort verbarg ich
mich, bis Manolitha vorbei war. Ich habe sie niemals wieder gesehen.

Als ich auf den Marktplatz der Stadt kam, fand ich vor dem vornehmsten
Gasthaus ein grosses Gedränge, das von galonierten Bedienten zurückgehalten
wurde. Ich glaubte unter denen, die aus dem Haus kamen, einen der
Schmuggler zu gewahren, der sofort in der Menge verschwand. Auf meine
Erkundigung erfuhr ich von meinem Nachbar, es sei eine hohe Persönlichkeit
auf der Durchreise nach Italien angekommen, man wisse aber nicht wer, da
die Personnage unerkannt bleiben wolle. Ich wusste sofort, dass es niemand
anders als Fürst Metternich sein konnte. Mit einer mir sonst gar nicht
eigenen Gewandtheit verstand ich mich durch den Garten von hinten ins Haus
zu schleichen. Vor einer Tapetentür im ersten Stock blieb ich, der sonst
eher schüchtern war, so ungeniert stehen, dass alle Vorübergehenden meinen
mussten, ich gehörte dahin. Durch die Tür aber vernahm ich die Stimme des
Fürsten im Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt. Ich verstand nur
abgerissene Sätze. Vor allem wünschte er ganz unerkannt durchzureisen, da
er leidend war, im übrigen sei er der Stadt sehr gewogen; er habe nichts
einzuwenden gegen die Ernennung des beliebten X. zum Oberpostmeister,
obgleich der Mann im Geruche des Liberalismus stehe; man solle überhaupt
ihn (den Fürsten) doch ja nicht für einen Währwolf halten, er beabsichtige
auch im Lauf der Jahre die Zensur und die Pressgesetze, selbst in den
Grenzdistrikten, etwas milder zu handhaben etc. etc.


Als ich hörte, dass der Bürgermeister verabschiedet wurde, eilte ich fort,
um nicht entdeckt zu werden. Mein Weg ging geradeaus auf die Redaktion der
ersten Zeitung, wo ich meine ganze Wissenschaft verriet.

»Metternich hier?« rief der Redakteur, »wenn Sie sich nur nicht täuschen
. . .«

»Aber Herr Redakteur,« erwiderte ich, »was glauben Sie von mir, ich kenne
Fürst Metternichs Stimme wie die meines Vaters.«

Ich erschrak über diese mir selbst unbegreifliche Frechheit, denn ich hatte
Metternich nie gesehen, noch früher je sprechen gehört.

»Nun, so schreiben Sie einmal alles auf, was Sie wissen,« erwiderte der
Redakteur, durch meine Sicherheit überzeugt. »Hier ist ein Pult, Tinte und
Feder . . .«

Während ich schrieb, flossen mir -- ich wusste nicht wie -- Bilder und
Sprachwendungen zu, die ich in dem Gemach der Schmuggler bemerkt hatte. In
einer Viertelstunde waren zwei Spalten geschrieben in einem, wie ich selbst
fand, äusserst brillanten Stil. Mit grossem Selbstbewusstsein überreichte
ich dem Redakteur die Blätter, der sie überflog und erstaunt rief:

»Sie sind der geborene Journalist, junger Mann . . . Ihre Findigkeit ist
nichts gegen Ihren Stil, und alles beides verschwindet wieder vor Ihrer
Schnelligkeit. Seit wann sind Sie bei der Presse?«

»Das ist mein erster Versuch,« erwiderte ich etwas schüchtern.

»Was waren Sie denn früher? Jeder Journalist war früher etwas anders.«

»Dichter,« sagte ich beschämt.

»Na, das haben Sie sich glücklich abgewöhnt. Ich habe Beschäftigung für
Sie. Heute abend singt die Rubini die Cenerontola. Gehen Sie in die Oper
und bringen Sie mir nachts noch die Kritik.«

»Aber Herr Redakteur, ich bin ja ganz unmusikalisch.«

»Unsinn,« antwortete er grob, »solche Bedenken gewöhnen Sie sich nur ja ab,
mit Ihrem Stil ist man musikalisch, agronomisch, geographisch, theosophisch
. . . was verlangt wird . . . verstehen Sie? Ich sehe übrigens, dass Sie,
um in die Oper zu gehen, Ihre Toilette etwas vervollständigen müssen. Hier
haben Sie hundert Gulden Vorschuss und unterschreiben Sie dieses Blatt.«

Er reichte mir einen Zettel, den ich unterschrieb, ohne zu beachten, was
darauf stand. Ich empfahl mich und ging in die Modemagazine, wo ich mich
völlig ausrüstete. Als Stutzer kam ich nach Hause. Vor meiner Zimmertür
stand eine pompöse, übermässig elegant gekleidete Dame.

»O . . . Sie kommen endlich . . .« rief sie in einem gebrochenen Deutsch.
»Ich bin Rubini . . ., Carlotta Rubini . . . ich höre, dass Sie heute abend
die Kritik schreiben.«

Ich geriet etwas in Verlegenheit.

»Verzeihen Sie . . . Signora . . .« stammelte ich . . . »ich wohne nur
vorübergehend in dieser Höhle . . . bis ich eine Wohnung nach meinem
Geschmack finde.«

»O ich begreife . . . ich begreife . . .« sagte die Rubini und trat ein.

Sie nahm ihren Schleier ab und ich erkannte in ihr diejenige von den 500
Frauen, die mir in der Schmugglerhöhle zunächst gelegen hatte.

»Ach . . . ich hin so müde . . .« sagte sie . . . »darf ich ein wenig
ausruhen . . . seit einer halben Stunde stehe ich auf der Treppe.«

»Gewiss . . . gewiss . . . Signora, wenn ich Ihnen nur etwas anbieten
könnte . . .«

»Ach ja, mein Herr . . . bieten Sie mir etwas an . . . lassen Sie etwas
holen.«

Ich ging hinaus und gab einem Jungen, der nebenan bei einem Schuster
arbeitete, den Rest meines Geldes und beauftragte ihn, aus dem Kaffeehaus
Champagner heraufzubringen. Wie recht gab ich jetzt den Schmugglern, die
ihr Versprechen hielten, und mir zu den 500 Frauen nach und nach die so
unentbehrliche Million zukommen lassen würden.

Als ich wieder in die Kammer trat, hatte sich's die Rubini sehr bequem
gemacht. Es war ihr so heiss. Und als der Champagner kam, hielt ich bereits
besorgt ihre Hand, denn sie hatte einen übermässig starken Pulsschlag
. . .

         -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Aber sie war nur ein Präzedenzfall. Ich könnte noch 499 Geschichten
erzählen, wenn nicht die hohe Geburt, der europäische Name und der Reichtum
meiner Heldinnen zu besonderer Diskretion verpflichteten. Aber aus rein
psychologischem Interesse werde ich vielleicht doch einmal indiskret sein;
nur muss ich vorher das Aussterben einiger Herrscherhäuser abwarten.








Dieses Buch wurde im Auftrage von Georg Müller
Verlag in München in einer Auflage von 800
Exemplaren bei der Buchdruckerei Imberg & Lefson
in Berlin hergestellt und nach den Entwürfen von
Paul Renner bei Hübel & Denck in Leipzig gebunden.
Ausserdem wurden 50 Exemplare auf van
Geldern abgezogen und in Ganzleder gebunden.

Dieses Exemplar trägt die Nr. 551






End of the Project Gutenberg EBook of Haschisch, by Oscar A. H. Schmitz

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