Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I

By Nikolai Vasilevich Gogol

Project Gutenberg's Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I, by Nikolaj Gogol

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Title: Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I

Author: Nikolaj Gogol

Editor: Otto Buek

Release Date: December 13, 2017 [EBook #56174]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMMTLICHE WERKE 7: BRIEFWECHSEL I ***




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                             Nikolaus Gogol
                              Briefwechsel




                             Nikolaus Gogol
                            Sämmtliche Werke
                              In 8 Bänden


                             Herausgegeben
                                  von
                               Otto Buek


                                 Band 7


                          München und Leipzig
                            bei Georg Müller
                                  1913


                             Nikolaus Gogol




                Aus dem Briefwechsel mit meinen Freunden


                             Herausgegeben
                                  von
                               Otto Buek


                          München und Leipzig
                            bei Georg Müller
                                  1913




                                Vorrede


Ich lag an einer schweren Krankheit danieder; schon war ich dem Tode
nahe. Da raffte ich meine letzten Kräfte zusammen, die mir noch blieben,
benutzte den ersten Augenblick, wo ich mich im vollen Besitz meiner
Geisteskräfte befand, und schrieb mein geistiges Testament nieder, in
dem ich unter anderm meinen Freunden die Pflicht auferlegte, nach meinem
Tode einige von meinen Briefen herauszugeben. Damit hoffte ich
wenigstens einen Teil der Schuld sühnen zu können, die ich durch die
Wertlosigkeit alles dessen, was ich bisher geschrieben hatte, auf mich
geladen hatte, denn meine Briefe enthielten nach dem Urteil derer, an
die sie gerichtet waren, weit mehr solche Gedanken, deren die Menschen
bedürfen, die ihnen not tun, als meine Werke. Gottes himmlische Güte
wandte die Hand des Todes von mir ab. Ich bin beinahe wiederhergestellt
und ich fühle mich wieder besser. Dennoch aber empfinde ich, wie schwach
meine Kräfte sind, und dies mahnt mich jeden Augenblick daran, daß mein
Leben an einem Haar hängt, und nun, wo ich mich zu einer weiten Reise
ins Heilige Land rüste, die meiner Seele ein Bedürfnis ist und während
deren mir vieles zustoßen kann, fühle ich den Wunsch, meinen Landsleuten
beim Abschied etwas von mir zu hinterlassen. So wähle ich denn selbst
alles aus meinen letzten Briefen, die ich wieder in meinen Besitz
bringen konnte, aus, was sich auf solche Fragen bezieht, die die
Gesellschaft gegenwärtig am meisten beschäftigen, lasse alles beiseite,
was erst nach meinem Tode Sinn und Inhalt erhalten kann, und scheide
alles aus, was nur für wenige von Bedeutung sein könnte. Dazu füge ich
noch zwei oder drei literarische Aufsätze hinzu, und endlich lege ich
dem Ganzen noch mein Testament bei, auf daß dieses, wenn mich der Tod
unterwegs ereilen sollte, als durch alle meine Leser bezeugt und
verbürgt, sogleich rechtmäßig in Kraft trete.

Mein Herz sagt mir, daß mein Buch einem wirklichen Bedürfnis entspricht
und daß es vielleicht von einigem Nutzen sein kann. Ich glaube dies
nicht deshalb, weil ich eine zu hohe Meinung von mir habe und weil ich
mir zutraue, Nützliches wirken zu können, sondern weil ich noch niemals
so innig von dem Wunsche beseelt war, etwas Nützliches zu vollbringen,
wie heute. Für uns Menschen genügt es schon, wenn wir die Hand
ausstrecken, um zu helfen; die eigentliche Hilfe aber kommt nicht von
uns, sondern von Gott, der seine Kraft von oben auf uns herabsendet und
sie dem ohnmächtigen Worte mitteilt. So unbedeutend und minderwertig
also mein Buch auch sein mag, ich wage dennoch, es der Öffentlichkeit zu
übergeben, und ich bitte meine Landsleute, es mehrmals durchzulesen;
zugleich aber bitte ich die unter ihnen, die sich eines gewissen
Wohlstandes erfreuen, sich mehrere Exemplare zu kaufen und sie an solche
Leute zu verteilen, die sich das Buch selbst nicht kaufen können, und
ihnen bei dieser Gelegenheit zu erklären, daß alles Geld, das nach
Deckung der Unkosten, die die bevorstehende Reise verursachen wird,
übrigbleiben sollte, teils denen, die gleich mir das innere Bedürfnis
fühlen, während der kommenden großen Fasten nach dem Heiligen Lande zu
pilgern und dies nicht aus eigenen Mitteln zu tun vermögen, teils denen
zur Unterstützung dienen soll, mit denen ich auf dem Wege dorthin
zusammentreffen werde und die am Grabe des Herrn für ihre Wohltäter, d.
h. meine Leser, beten werden.

Ich wünschte, ich könnte meine Reise vollenden wie ein guter Christ, und
daher bitte ich hiermit alle meine Landsleute um Verzeihung wegen aller
Kränkungen, die ich ihnen zugefügt haben sollte. Ich weiß, daß ich viele
Leute durch meine unüberlegten Handlungen und durch meine unreifen Werke
betrübt, viele sogar gegen mich aufgebracht und überhaupt bei vielen
Anstoß und Ärgernis erregt habe. Ich darf indessen zu meiner
Rechtfertigung sagen, daß meine Absicht stets gut war, und daß ich
niemand betrüben oder gegen mich aufbringen wollte; nur meine
Unbesonnenheit, meine Hast und Übereilung waren die Ursache, daß meine
Werke in so unvollkommener Gestalt ins Leben traten, wodurch beinahe
alle über ihren wahren Sinn getäuscht wurden. Alles andere dagegen,
wobei tatsächlich eine verletzende Absicht vorliegen sollte, bitte ich
mir mit jener Großmut zu verzeihen, deren nur die russische Seele fähig
ist, wenn sie verzeiht. Auch alle die bitte ich, mir zu vergeben, mit
denen mich mein Lebensweg für längere oder kürzere Zeit zusammengeführt
hat. Ich weiß, daß ich vielen Menschen mancherlei Unannehmlichkeiten
bereitet habe, ja manchen sogar mit Absicht. Überhaupt hatte die Art
meines Verkehrs mit den Menschen stets etwas Unangenehm-Abstoßendes an
sich. Dies rührte teils davon her, daß ich einem Zusammentreffen und
einer Bekanntschaft mit Menschen gern aus dem Wege ging, da ich das
Gefühl hatte, ich hätte den Menschen noch nichts Gescheites und wirklich
Notwendiges zu sagen (und leere und überflüssige Redensarten wollte ich
nicht machen), und da ich zugleich davon überzeugt war, daß ich mich
selbst wegen meiner zahllosen Mängel und Fehler noch in einiger
Entfernung von den Menschen erziehen müsse. Zum Teil aber war es auch
die Folge meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns
eigen ist, die sich aus Schmutz und Kot emporgearbeitet, sich eine
Stellung unter den Menschen erobert haben, und die sich daher für
berechtigt halten, stolz auf die anderen herabzusehen. Wie dem auch sein
mag, ich bitte, mir alle persönlichen Kränkungen zu verzeihen, die ich
einem Menschen seit den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen
Augenblicke zugefügt haben sollte. Auch meine Berufsgenossen, die
Literaten, bitte ich um Verzeihung, wenn ich sie je bewußt oder unbewußt
geringschätzig oder ohne gebührende Achtung behandelt haben sollte; wem
es aber aus irgendeinem Grunde schwer werden sollte, mir zu vergeben,
den erinnere ich daran, daß er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der
Beichte, die er sich vor dem Angesichte Gottes abzulegen anschickt, alle
seine Brüder um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung, und
wie in solch einem Augenblick kein einziger den Mut findet, seinem
Bruder nicht zu vergeben, so werden auch meine Brüder nicht den Mut
haben, mir ihre Vergebung zu versagen. Und endlich bitte ich meine Leser
um Verzeihung, wenn auch in diesem Buche wieder etwas Peinliches
vorkommen sollte, das sie kränken oder beleidigen könnte. Ich bitte sie,
mir deshalb nicht innerlich zu zürnen, sondern mir statt dessen lieber
großmütig alle Mängel, die sie in diesem Buche entdecken sollten, sowohl
die des Schriftstellers wie die des Menschen, nachzuweisen: meine
Torheit, meine Unüberlegtheit, meine übermäßige Eitelkeit und
Sicherheit, mein eitles Selbstvertrauen -- mit einem Wort, alle die
Fehler, die allen Menschen eigen sind, auch wenn sie sie nicht erkennen,
und die ich wahrscheinlich in noch weit höherem Maße besitze.

Zum Schluß bitte ich alle Russen, für mich zu beten, vor allem die
Priester, deren ganzes Leben ein einziges Gebet ist. Auch die bitte ich,
mich in ihr Gebet einzuschließen, die in ihrer Demut nicht an die Kraft
ihres Gebets glauben, wie auch die, die überhaupt nicht an das Gebet
glauben und es nicht einmal für notwendig halten; aber wie kraftlos,
dürr und matt auch immer ihr Gebet sein möge, ich bitte sie, in diesem
kraftlosen, dürren und matten Gebet meiner zu gedenken. Ich aber will am
Grabe des Herrn für alle meine Landsleute beten; kein einziger soll von
meinem Gebete ausgeschlossen bleiben; und mein Gebet wird ebenso
kraftlos, dürr und matt sein, wenn nicht der heilige allgütige Wille des
Himmels es zu einem Gebet machen wird, wie es in Wahrheit sein soll.

                                                         Im Juli 1846.




                                   I
                             Mein Testament


Völlig meiner Sinne mächtig und im vollen Besitz meines Verstandes lege
ich hier meinen letzten Willen nieder.

I. Erstens ordne ich an, daß mein Leib nicht eher begraben werden soll,
als bis sich an ihm deutliche Spuren der Auflösung bemerkbar machen. Ich
erinnere ausdrücklich daran, weil mich schon während meiner Krankheit
Augenblicke der Ohnmacht überkamen, wo das Leben stockte, mein Herz
aufhörte, zu schlagen, mein Puls stillstand ... Da ich während meines
Lebens schon häufig Zeuge vieler trauriger Vorfälle war, an denen unsere
unvernünftige Übereilung in allen Dingen, selbst bei einer solchen
Angelegenheit wie die Beerdigung, schuld war, so spreche ich dies hier
gleich zu Beginn meines Testamentes aus, in der Hoffnung, daß meine
Stimme vielleicht nach meinem Tode ganz allgemein zur Vorsicht mahnen
wird. Im übrigen aber soll man meinen Leib der Erde übergeben, ohne
lange zu überlegen, an welchem Ort er ruhen soll; auch sollen keine
Ehren oder Erinnerungen an meine sterblichen Reste geknüpft werden.
Jeder sollte sich schämen, der meinen faulenden Knochen irgendwelche
Achtung erweisen wollte, sind sie doch gar nicht mehr mein Eigentum, er
würde sich vor den Würmern beugen, die sie zernagen. Ich bitte daher
alle, lieber um so kräftiger für meine Seele zu beten, und statt aller
Bestattungsfeierlichkeiten und Ehren lieber einige arme Leute, denen es
am täglichen Brot fehlt, in meinem Namen mit einem einfachen Mittagessen
zu bewirten.

II. Zweitens ordne ich an, mir kein Denkmal auf meinem Grabe zu
errichten, ja gar nicht erst an diese Torheiten, die eines Christen
unwürdig sind, zu denken. Die Menschen, die mir nahestanden und die mich
wirklich lieb hatten, werden mir schon ein anderes Denkmal errichten:
und zwar werden sie es in sich selbst aufrichten, durch
unerschütterliches Festhalten an ihrem Lebenswerk und durch Aufmunterung
und Ermutigung aller Menschen ihrer Umgebung. Wer nach meinem Tode zu
höherer geistiger Reife emporwachsen wird, als sie ihm während meines
Lebens eigen war, der wird damit beweisen, daß er mich wahrhaft geliebt
hat, daß er mein Freund war, und mir damit ein wirkliches Denkmal
errichten, denn auch ich habe, bei all meiner Schwäche und Nichtigkeit,
meine Freunde stets ermutigt, und keiner von denen, die mir in der
letzten Zeit näher traten, hat in Stunden des Kummers und der
Entmutigung bei mir ein trübseliges Gesicht gefunden, obwohl ich selbst
schwere Augenblicke zu durchleben hatte und nicht weniger litt und
bekümmert war, als andere. So möge denn auch ein jeder von ihnen nach
meinem Tode dessen eingedenk sein, sich an alle meine Worte erinnern und
noch einmal all meine Briefe durchlesen, die ich vor einem Jahre an ihn
geschrieben habe.

III. Drittens ordne ich an, daß mich niemand beweinen soll; ja, der
würde eine Sünde auf seine Seele laden, der meinen Tod für einen großen
und allgemeinen Verlust halten wollte. Selbst wenn es mir gelungen sein
sollte, etwas Nützliches zu vollbringen, wenn ich wirklich schon
begonnen haben sollte, so wie es sich gehört, meine Pflicht zu erfüllen,
und wenn der Tod mich in dem Augenblick, wo ich mein Werk -- das ja
nicht dem Vergnügen einzelner dienen sollte, sondern dem, was allen not
tut -- begonnen, hinweggenommen haben sollte, so wäre es dennoch
unrichtig, sich einer fruchtlosen Verzweiflung zu überlassen. Selbst
wenn heute in Rußland ein Mann stürbe, dessen das Land bei der gegebenen
Lage der Dinge wirklich bedürfte, so wäre auch dies noch kein Grund für
einen der Lebenden, zu trauern und mutlos zu werden, obwohl es schon
richtig ist, daß, wenn uns von den Menschen, die wir alle brauchen,
einer nach dem andern entrissen wird, dies ein Zeichen des göttlichen
Zornes ist, und daß wir hierdurch aller Mittel und Werkzeuge beraubt
werden, mit deren Hilfe sich mancher dem Ziele nähern könnte, das uns
alle zu sich ruft. Wir dürfen nicht gleich traurig und mutlos werden bei
jedem plötzlichen Verlust, sondern müssen in unser Inneres blicken und
nicht an die Schlechtigkeit der andern und an die Schlechtigkeit der
ganzen Welt, sondern an unsere eigene Schlechtigkeit denken. Die Bosheit
und Verderbnis der Seele ist fürchterlich, warum aber erkennen wir das
erst dann, wenn wir den unerbittlichen Tod vor Augen sehen?

IV. Viertens vermache ich allen meinen Landsleuten (wobei ich lediglich
davon ausgehe, daß ein jeder Schriftsteller seinen Lesern irgendeinen
guten Gedanken als Vermächtnis hinterlassen sollte), viertens vermache
ich ihnen das Beste, was meine Feder hervorgebracht hat -- ich
hinterlasse ihnen ein Werk von mir, das den Titel _Abschiedserzählung_
trägt. Diese Erzählung handelt, wie sie erkennen werden, von ihnen
selbst. Ich habe sie lange in meinem Herzen getragen, wie meinen größten
Schatz, wie ein Zeichen der göttlichen Gnade, die sich an mir vollzogen
hat. Sie war mir ein Quell verborgener Tränen, seit den Tagen meiner
Kindheit. Sie also hinterlasse ich ihnen als Vermächtnis. Allein ich
flehe all meine Landsleute an, es nicht als Kränkung und Beleidigung
anzusehen, wenn sie etwas wie eine Belehrung aus ihr heraushören
sollten. Ich bin ein Schriftsteller, und die Aufgabe des Schriftstellers
besteht nicht allein darin, Geist und Geschmack angenehm zu unterhalten;
er muß strenge Rechenschaft ablegen, wenn seine Werke der Seele keinen
Nutzen gebracht haben und keine Wohltat gewesen sind und wenn keine
Belehrung für die Menschen in ihnen enthalten ist. Meine Landsleute
mögen doch bedenken, daß ja auch jeder unserer Brüder, der diese Welt
verläßt, selbst wenn er kein Schriftsteller ist, ein Recht hat, uns
etwas wie eine Lehre, eine brüderliche Mahnung zu hinterlassen, und
dabei kommt es weder darauf an, ob er nur eine geringe Stellung
bekleidet, noch ob er ein ohnmächtiger, oder gar ein unvernünftiger
Mensch ist; wir sollten lediglich daran denken, daß ein Mensch, der auf
dem Totenbett liegt, viele Dinge besser durchschauen kann, als ein
solcher, der sich in der Welt bewegt. Trotzdem ich mich aber auf dieses
mein wohlbegründetes Recht berufen könnte, hätte ich es doch nicht
gewagt, zu erwähnen, was man aus meiner Abschiedserzählung heraushören
wird; denn nicht mir, dessen Seele häßlicher und sündhafter ist, als die
aller andern, und der so schwer an seiner eigenen Unvollkommenheit
krankt, kommt es zu, solche Reden zu führen. Allein was mich dazu
treibt, ist ein anderer gewichtiger Grund. Landsleute! Es ist furchtbar.
Die Seele möchte vor Schrecken vergehen bei der bloßen Ahnung der
überirdischen Majestät und Erhabenheit des Jenseits und jener höchsten
geistigen Schöpfungen Gottes, vor denen die ganze Größe alles
Erschaffenen, das wir hier unten erblicken und das uns hier in Erstaunen
setzt, in Staub versinkt. Mein sterblicher Leib ächzt beim Gedanken an
all die monströsen gigantischen Gebilde und Früchte, deren Samen wir
während unseres Lebens säeten, ohne zu ahnen und ohne zu fühlen, was für
Schrecknisse aus ihnen erwachsen werden ... Vielleicht wird meine
_Abschiedserzählung_ einen gewissen Eindruck auf _die_ machen, die das
Leben noch immer für ein Spiel halten, vielleicht wird ihr Herz etwas
von seinem strengen Geheimnis und von der innigen himmlischen Musik
dieses Geheimnisses vernehmen. Landsleute! -- ich weiß nicht, ich finde
kein Wort dafür, wie ich euch in diesem Augenblick anreden soll. -- Fort
mit dem leeren Anstand! Landsleute! -- ich habe euch geliebt, ich habe
euch geliebt mit jener Liebe, von der man nicht spricht, die mir Gott
geschenkt hat, für die ich Ihm danke, wie für Seine höchste Wohltat,
weil diese Liebe mir Trost und Freude war während meiner schwersten
Leiden. Im Namen dieser Liebe bitte ich euch, meiner Abschiedserzählung
euer Ohr und Herz zu leihen. Ich schwöre es euch, ich habe sie nicht
erfunden, ich habe sie nicht erdacht, sie ist meiner Seele selbst
entströmt, die Gott selbst durch Kummer und Versuchungen gebildet hat,
und ihre Klänge entsprangen aus den innersten Kräften und Elementen
unseres russischen Wesens, das uns allen gemeinsam ist und durch das ich
euch allen aufs engste verschwistert bin[1].

V. Fünftens bitte ich, meiner Werke nach meinem Tode in der Presse und
in den Zeitschriften weder mit übereiltem Lob noch Tadel zu gedenken;
alle diese Urteile werden ebenso parteiisch sein, wie bei meinen
Lebzeiten. In meinen Werken gibt es weit mehr Verurteilungswürdiges als
solches, was Lob verdient. Alle Ausfälle, die sich gegen sie richteten,
waren ihrem eigentlichen Kerne nach mehr oder weniger berechtigt. Mir
gegenüber hat sich niemand schuldig gemacht; es wäre unedel und
ungerecht, wenn ein Mensch jemand um meinetwillen in irgendeiner
Hinsicht tadeln, oder ihm einen Vorwurf machen wollte. Ferner erkläre
ich laut, damit alle es hören können: daß es außer den schon gedruckten
Schriften keine Werke mehr von mir gibt: alles was an Manuskripten
vorhanden war, habe ich verbrannt, wie etwas Kraftloses, wie etwas
Totes, das ich in einer krankhaften Gemütsverfassung und in einem
Zwangszustande niedergeschrieben habe. Wenn daher jemand etwas unter
meinem Namen herausgeben sollte, so bitte ich dies für eine
nichtswürdige Fälschung zu halten. Dafür aber mache ich es meinen
Freunden zur Pflicht, alle meine Briefe zu sammeln, die ich seit dem
Ende des Jahres 1844 an einen von ihnen gerichtet habe, und diese nach
strenger Auswahl alles dessen, was irgendwie von Nutzen für unsere Seele
sein kann, und nach Verwerfung alles übrigen, das nur der eitlen
Unterhaltung dient, in Buchform herauszugeben. Diese Briefe enthalten
einiges, das _denen_ von Nutzen gewesen ist, an die sie gerichtet waren.
Gott ist barmherzig; vielleicht werden sie auch andern von Nutzen sein;
und vielleicht wird so wenigstens ein Teil der harten Verantwortlichkeit
für die Wertlosigkeit dessen, was ich früher geschrieben habe, von
meiner Seele genommen.

[Fußnote 1: Die Abschiedserzählung kann nicht erscheinen: was nach dem
Tode von Bedeutung sein könnte, das hat bei Lebzeiten keinen Sinn.]

VI. Nach meinem Tode soll keiner der Meinen mehr berechtigt sein, sich
selbst anzugehören -- sondern nur noch den Bekümmerten, den Leidenden
und denen gehören, die in diesem Leben schon irgendein Leid zu erdulden
hatten. Ihr Haus und Gut sollen mehr einem Gasthaus oder einer Herberge
für fremde Pilger, als der Wohnstätte eines Gutsbesitzers gleichen; wer
auch immer zu den Meinen kommt, den sollen sie aufnehmen, wie einen
nahen Verwandten und einen ihrem Herzen nahestehenden Menschen; sie
sollen ihn herzlich und freundschaftlich nach all seinen
Lebensverhältnissen ausfragen, um zu erfahren, ob er nicht
hilfsbedürftig ist, oder doch wenigstens um ihn zu erheitern und zu
ermuntern, auf daß keiner das Gut ungetröstet verlasse. Wenn der
Reisende aber einfachen Standes, wenn er an ein ärmliches Leben gewöhnt
ist und es ihm aus irgendeinem Grunde peinlich ist, im Hause des
Gutsbesitzers Wohnung zu nehmen, so sollen sie ihn zu einem wohlhabenden
Bauern, zu dem besten und tüchtigsten im ganzen Dorfe, führen, der sich
eines musterhaften Lebenswandels befleißigt und seinem Bruder mit einem
guten Rate zur Seite stehen kann; dieser soll seinen Gast ebenso
herzlich und freundlich nach seinen Verhältnissen ausfragen, ihm Mut
zusprechen, ihn ermuntern, ihm einen guten Rat und Zuspruch mit auf den
Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles Bericht erstatten, damit
auch diese ihrerseits ein gutes Wort und einen guten Ratschlag
hinzufügen oder ihm Hilfe und Unterstützung schenken können, was und wie
sie es für angemessen halten, auf daß niemand ungetröstet davonfahre
oder das Gut ohne Zuspruch verlasse.

VII. Siebentens ordne ich an ... doch da fällt mir ein, daß ich hierüber
schon nicht mehr zu verfügen habe. Durch eine Unvorsichtigkeit bin ich
meines Eigentumsrechtes beraubt worden: mein Porträt ist gegen meinen
Willen und ohne Erlaubnis öffentlich verbreitet worden. Aus vielen
Gründen, die ich hier nicht näher anzugeben brauche, habe ich dies nicht
gewünscht; ich habe daher auch niemand durch Verkauf das Recht
abgetreten, eine öffentliche Ausgabe dieses Porträts zu veranstalten,
und sämtlichen Buchhändlern, die mit einem solchen Antrag an mich
herantraten, eine Absage erteilt; ich gedachte mir dies erst dann zu
gestatten, wenn es mir mit Gottes Hilfe gelingen sollte, jenes Werk zu
vollenden, das meine Gedanken während meines ganzen Lebens beschäftigt
hat, und zwar so zu vollenden, daß all meine Landsleute einstimmig
erklärten, ich hätte meine Aufgabe redlich gelöst, und den Wunsch
äußerten, die Züge des Menschen kennen zu lernen, der bis zu diesem
Augenblick in aller Stille gearbeitet und nie den Wunsch ausgesprochen
hätte, einen unverdienten Ruhm zu genießen. Dazu kam noch ein anderer
Umstand: mein Bild konnte in solch einem Falle sofort in einer großen
Anzahl von Exemplaren verbreitet werden und dem Künstler, der mein Bild
stechen würde, einen bedeutenden Gewinn eintragen. Dieser Künstler ist
bereits seit mehreren Jahren in Rom damit beschäftigt, einen Stich nach
dem unsterblichen Bilde Raffaels: _Die Verklärung Christi_ herzustellen.
Er hat dieser Arbeit alles geopfert -- einer aufreibenden Arbeit, zu der
er viele Jahre gebraucht und die seine Gesundheit aufgezehrt hat, und er
hat dies Werk, das nun seiner Vollendung entgegengeht, mit einer solchen
Vollkommenheit ausgeführt, wie dies bisher noch keinem Radierer gelungen
ist. Wegen der hohen Kosten und da es nur eine kleine Zahl von
Kunstkennern und Liebhabern gibt, kann sein Stich nicht in dem Maße
verbreitet werden, um ihn für alles zu entschädigen. Hätte er mein Bild
stechen können, so wäre ihm geholfen gewesen. Nun aber ist mein Plan
zerstört: ist das Bild einer Persönlichkeit einmal in der Öffentlichkeit
verbreitet, so wird es dadurch zum Eigentum eines jeden, der sich mit
der Herausgabe von Stichen und Steindrucken beschäftigt. Sollte es sich
jedoch so fügen, daß nach meinem Tode unveröffentlichte Briefe von mir
herausgegeben werden sollten, die der Gesellschaft von Nutzen sein
könnten (wenn auch nur durch das reine und aufrichtige Streben, Nutzen
zu stiften), und sollten meine Landsleute den Wunsch haben, mein Porträt
kennen zu lernen, so bitte ich alle Herausgeber solcher Bilder,
hochherzig auf ihre Rechte zu verzichten; dagegen bitte ich die Leser,
die sich aus einem übertriebenen Wohlwollen für alles, was Ruhm und
Ansehen genießt, ein Porträt von mit angeschafft haben, es sofort,
nachdem sie diese Zeilen gelesen haben, zu vernichten, um so mehr, da
diese Porträts schlecht und gar nicht ähnlich sind, und sich nur ein
solches Porträt zu kaufen, das die Unterschrift: _Gestochen von
Jordanow_ trägt. Dies wäre wenigstens eine gute Tat. Noch besser aber
wäre es, wenn die, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, sich
statt meines Bildes den Stich: _Die Verklärung Christi_ kaufen wollten,
einen Stich, der selbst nach dem Urteil von Ausländern die Krone der
Radiererkunst darstellt und Rußland zum höchsten Ruhme gereicht.

Mein Testament soll sofort nach meinem Tode in allen Zeitungen und
Journalen veröffentlicht werden, damit sich niemand aus Unkenntnis und
ohne es zu wollen, gegen mich vergehe und damit eine Schuld auf seine
Seele lade.




                                   II
                     Die Frau in der vornehmen Welt
                              An Frau ***


Sie glauben, Sie können keinen Einfluß auf die Gesellschaft ausüben. Ich
bin der entgegengesetzten Ansicht. Der Einfluß der Frau kann sehr groß
sein, besonders heute, bei der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder
-unordnung, die einerseits durch eine matte erschlaffte
gesellschaftliche Bildung charakterisiert wird und in der sich
andererseits eine seelische Erkaltung und eine moralische Müdigkeit
bemerkbar macht, die dringend einer Erweckung und Belebung bedarf. Um
jedoch eine solche Neubelebung hervorzubringen, dazu bedürfen wir der
Hilfe der Frau. Dies ist eine Wahrheit, die die ganze Welt ganz
plötzlich wie eine dunkle Ahnung ergriffen hat. Jedermann scheint etwas
von der Frau zu erwarten. Lassen wir einmal alles andere beiseite, sehen
wir uns einmal in unserem russischen Vaterlande um und achten wir dabei
auf das, was wir so häufig bemerken können: auf die zahlreichen
Mißbräuche aller Art. Es stellt sich heraus, daß die Mehrzahl aller
Fälle von Bestechungen (Mißbräuchen im Dienst), sowie alle übrigen
Vergehen, deren man unsere Beamten und die Bürger aller Klassen
beschuldigt, entweder auf die Verschwendungssucht der Frauen, die danach
lechzen, in der großen und kleinen Welt zu glänzen und zu diesem Zweck
Geld von ihren Männern verlangen, oder aber auf die Hohlheit und die
Leere in ihrem häuslichen Leben zurückgeführt werden können, das
lediglich allerhand idealen Träumereien und nicht den wahren
eigentlichen Aufgaben und Pflichten gewidmet ist, die doch weit schöner
und erhabener sind als alle Träumereien. Die Männer würden sich auch
nicht den zehnten Teil der Mißbräuche zuschulden kommen lassen, die sie
jetzt verüben, wenn ihre Frauen auch nur im mindesten ihre Pflicht und
Schuldigkeit täten. Die Seele der Frau -- ist für den Mann ein
schützender Talisman, der ihn vor vielen moralischen Krankheiten und
Ansteckungen behütet; sie ist eine Kraft, die ihn auf dem geraden Wege
festhält, und eine Führerin, die ihn vom krummen Pfade auf den rechten
zurückleitet; umgekehrt aber kann die Seele der Frau auch der böse Geist
des Mannes sein und ihn für alle Ewigkeit zugrunde richten. Sie haben
das selbst gefühlt und einen so schönen Ausdruck dafür gefunden, wie ihn
bisher noch keine von weiblicher Hand geschriebene Zeile enthält. Jedoch
Sie sagen: alle andern Frauen könnten ein Feld für ihre Betätigung
finden, nur Sie allein nicht. Sie finden überall Arbeit für sich, sie
können Verkehrtes und Verfehltes verbessern und wieder einrenken oder
mit etwas Neuem und Notwendigem beginnen -- mit einem Wort, sie können
überall fördernd eingreifen, nur Sie selbst finden keine Tätigkeit für
sich und wiederholen immer wieder betrübt: »Warum bin ich nicht an ihrer
Stelle?« Wissen Sie, daß dies eine allgemeine Verblendung ist? Heute
will es jedem so erscheinen, als ob er viel Gutes stiften könnte, wenn
er an der Stelle eines anderen stünde oder _sein_ Amt bekleidete, und
als ob er es nur in _seiner_ eigenen Stellung nicht könnte. Das ist der
Grund allen Übels. Wir alle sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir in
unsrer eigenen Lage und an der Stelle, wo wir stehen, Gutes wirken
können. Glauben Sie mir, Gott hat nicht vergebens einen jeden gerade an
die Stelle gestellt, an der er steht. Man muß sich nur ordentlich
umsehen. Sie sagen: warum bin ich nicht Mutter einer Familie; dann
könnten Sie Ihren Mutterpflichten nachkommen, von denen Sie sich jetzt
eine so klare und deutliche Vorstellung machen; oder Sie sagen: warum
liegt mein Gut nicht danieder; das würde Sie veranlassen, aufs Land zu
gehen, Gutsbesitzerin zu werden und sich mit der Landwirtschaft zu
beschäftigen; Sie klagen: warum ist mein Mann nicht in einem
gemeinnützigen Beruf tätig, der ihm schwere Pflichten auferlegt, dann
könnten Sie ihm behilflich sein, Sie könnten die treibende Kraft sein,
die ihn erfrischt und aufmuntert; warum gibt es keine anderen Aufgaben
und Pflichten für Sie, als die langweiligen sinnlosen Besuche in der
großen Welt und der hohlen seelenlosen vornehmen Gesellschaft, die Ihnen
jetzt einsamer und öder erscheint als eine menschenleere Wüste! Und
dennoch und trotz alledem ist diese Welt doch bevölkert, es gibt
Menschen in ihr und zwar ganz ebensolche wie überall sonst. Sie dulden
und quälen sich ebenso und leiden dieselbe Not, schreien stumm um Hilfe
und wissen, ach! nicht einmal, wie sie um Hilfe bitten sollen. Welchem
Bettler aber soll man zuerst helfen: dem, der noch auf die Straße
hinausgehen und betteln kann, oder dem, der nicht einmal die Kraft hat,
seine Hand auszustrecken? Sie sagen, Sie wissen nicht und können es sich
nicht einmal denken, womit Sie jemand in der vornehmen Welt von Nutzen
sein könnten; dazu müsse man über so viele verschiedene Mittel verfügen,
dazu müsse man eine so kluge und allseitig unterrichtete Frau sein, daß
Ihnen schon bei dem bloßen Gedanken an dies alles der Kopf ganz wirr
werde. Wie aber, wenn man dazu nur das zu sein brauchte, was Sie bereits
sind? Wie, wenn Sie die Mittel bereits besäßen, deren man gegenwärtig
gerade bedarf? Alles das, was Sie über sich selbst sagen, ist vollkommen
wahr: Sie sind wirklich noch zu jung, Sie besitzen weder
Menschenkenntnis noch Lebenserfahrung, mit einem Wort nichts von
alledem, dessen man bedarf, um anderen Menschen geistigen Beistand
leisten zu können, vielleicht werden Sie sich diese Dinge sogar niemals
aneignen, aber Sie besitzen andere Mittel, durch die Ihnen nichts
unmöglich ist. Erstens sind Sie schön, zweitens sind Sie im Besitz eines
unbefleckten, von keiner Schmähung und Verleumdung berührten Namens, und
drittens verfügen Sie über eine Kraft, über eine Macht, die Sie selbst
nicht in sich vermuten, -- über die Macht der Herzensreinheit. Die
Schönheit der Frau ist noch immer etwas Geheimnisvolles. Gott hat nicht
vergebens gewollt, daß gewisse Frauen schön sein sollen; es ist nicht
umsonst so eingerichtet, daß die Schönheit auf alle Menschen den
gleichen mächtigen Eindruck macht, sogar auf die, die gegen alles
gleichgültig und gefühllos und die zu nichts fähig sind. Wenn schon die
sinnlose Laune einer schönen Frau die Ursache welthistorischer
Revolutionen werden und die gescheitesten Menschen zu allerhand
Torheiten veranlassen konnte, wie stände es wohl dann, wenn diese Launen
vernünftig und auf das Gute gerichtet wären? Wieviel Gutes könnte wohl
dann eine schöne Frau im Vergleich mit anderen Frauen stiften! Dies ist
somit eine mächtige Waffe. Sie aber besitzen noch eine höhere Schönheit
-- den reinen Zauber einer besonderen, nur Ihnen allein eigenen
Unschuld, die ich nicht mit Worten beschreiben kann, aus der jedoch
jedem Menschen Ihr sanftes Taubengemüt entgegenleuchtet. Wissen Sie, daß
die verdorbensten unter unseren jungen Leuten mir gestanden haben, daß
ihnen in Ihrer Gegenwart nie ein häßlicher Gedanke eingefallen sei, daß
sie, wenn Sie zugegen sind, nie den Mut hätten, -- ein Wort zu sagen, --
nicht nur kein zweideutiges Wort, mit dem sie wohl andere Auserwählte
erfreuen, nein überhaupt kein Wort, da sie das Gefühl hätten, daß in
Ihrer Anwesenheit alles grob und plump erscheinen und unanständig und
burschikos klingen würde? Dies ist schon eine Wirkung, die ohne Ihr
Wissen von Ihrer bloßen Anwesenheit ausgeht! Wer sich in Ihrer Gegenwart
nicht einmal einen häßlichen Gedanken erlaubt, der schämt sich bereits
dieser Gedanken, und eine solche Selbsterkenntnis ist, auch wenn sie nur
einer momentanen Regung entspringt, bereits der erste Schritt des
Menschen zur Besserung. So ist denn auch dies eine mächtige Waffe. Zu
alledem aber haben Sie noch ein von Gott selbst in Ihre Seele gelegtes
Streben oder wie Sie es nennen: _einen Durst_ nach dem Guten. Glauben
Sie wirklich, daß Ihnen dieser Durst vergebens verliehen ward, dieser
Durst, der Ihnen keinen Augenblick Ruhe läßt? Kaum haben Sie einen
edlen, klugen Mann geheiratet, der alle Eigenschaften besitzt, um eine
Frau glücklich zu machen, da werden Sie, statt tief in Ihrem häuslichen
Glück aufzugehen, in ihm unterzutauchen, schon wieder von dem Gedanken
gequält, daß Sie dieses Glückes nicht würdig sind, daß Sie nicht das
Recht haben, sich ihm hinzugeben, es zu genießen, während Sie ringsum
von soviel Leiden umgeben sind und während jeden Augenblick die
Nachricht von allerhand Nöten und Unglücksfällen zu Ihnen dringt: von
Hungersnot, Feuersbrünsten, schwerem seelischem Leid und furchtbaren
geistigen Krankheiten, die unser heute lebendes Geschlecht ergriffen
haben. Glauben Sie mir, das geschieht nicht ohne Grund. Wer inmitten all
der lauten Zerstreuungen und Vergnügungen in seiner Seele eine solche
himmlische Unruhe und Sorge um die Menschen, ein solches engelhaftes
Mitgefühl und Mitleid mit ihnen verschließt, der kann viel, sehr viel
für sie tun; der hat stets ein Betätigungsfeld, denn es gibt überall
Menschen. Fliehen Sie daher die Welt nicht, in die Sie durch Ihre
Bestimmung hineingestellt worden sind; hadern Sie nicht mit der
Vorsehung. In Ihnen lebt etwas von jener unbekannten Kraft, deren die
Welt jetzt bedarf; schon aus Ihrer Stimme tönen einem jeden, infolge des
ständigen Dranges Ihrer Seele, den Menschen zu Hilfe zu eilen, Töne
entgegen, die einen verwandt berühren; wenn Sie zu sprechen beginnen,
und Ihr reiner Blick und dieses Lächeln, das niemals von Ihren Lippen
schwindet und nur Ihnen allein eigen ist, Ihre Rede begleitet, so will
es jedem so scheinen, wie wenn eine liebe Schwester aus dem Himmel zu
ihm spräche. Ihre Stimme hat etwas Mächtiges, Unüberwindliches
angenommen, Sie können befehlen und ein solcher Despot sein, wie keiner
von uns. So gebieten Sie denn, wortlos und stumm, durch Ihre bloße
Gegenwart; gebieten Sie gerade durch Ihre Schwäche und Kraftlosigkeit,
über die Sie so empört sind; gebieten Sie gerade durch jene weibliche
Schönheit, die die Frau unserer Zeit leider bereits verloren hat. Mit
Ihrer ängstlichen Unerfahrenheit werden Sie heute unendlich mehr
ausrichten, als eine kluge Frau, die in ihrem stolzen Selbstvertrauen
bereits alles kennen gelernt und ausgekostet hat. Ihre gescheitesten
Gedanken, mit denen sie die heutige Welt auf den rechten Weg
zurückführen wollte, würden in Form von boshaften Epigrammen auf ihr
Haupt zurückschnellen, dagegen wird sich bei keinem von uns ein Epigramm
auf die Lippen zu drängen wagen, wenn Sie jemand von uns stumm und mit
flehendem Blick auffordern würden, sich zu bessern. Warum haben Sie sich
durch die Erzählungen über die Laster und die Verdorbenheit der
vornehmen Welt so erschrecken lassen. Diese Laster sind tatsächlich
vorhanden, ja noch in weit höherem Maße, als Sie es glauben; aber Sie
sollten gar nichts davon wissen. Brauchen Sie sich denn vor den
traurigen Lockungen und Sünden der Welt zu fürchten? Stürzen Sie sich
nur ruhig mit demselben strahlenden Lächeln in sie hinein; treten Sie
ein, wie in ein Krankenhaus, das mit Kranken und Leidenden angefüllt
ist, aber nicht als Arzt, der strenge Vorschriften macht und bittre
Arzneien verordnet! Sie sollen sich gar nicht darum kümmern, von welchen
Krankheiten jeder einzelne befallen ist. Sie haben nicht die Fähigkeit,
Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, und daher werde ich Ihnen
nicht dazu raten, wozu ich jeder andern Frau raten müßte, die dazu fähig
ist. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, den Leidenden durch Ihr
Lächeln und durch Ihre Stimme zu erfreuen, aus der die Seele einer
Schwester zu uns Menschen zu sprechen scheint, einer Schwester, die vom
Himmel zu uns herabgestiegen ist -- nichts mehr. Verweilen Sie nicht zu
lange bei jedem Einzelnen und eilen Sie schnell zu dem Nächsten weiter,
denn man bedarf Ihrer überall. Ach! An allen Enden der Welt harrt und
wartet man ungeduldig auf dieses Eine, auf diese lieben verwandten
Laute, diese einzige Stimme, die Sie schon besitzen. Sprechen Sie nie
mit Weltleuten über Dinge, über die sich diese Leute zu unterhalten
pflegen; zwingen Sie sie, darüber zu sprechen, worüber Sie sprechen.
Gott bewahre Sie vor jeglicher Pedanterie und vor allen jenen Reden, die
den Lippen einer üppigen Weltdame entströmen. Führen Sie jenen
schlichten treuherzigen Plauderton in die Gesellschaft ein, jenen Ton,
in dem Sie so beredt zu erzählen wissen, wenn Sie sich im Kreise von
nahestehenden Menschen und Hausgenossen befinden, wenn jedes schlichte
Wort, das Sie sagen, gleichsam aufstrahlt und Licht um sich her
verbreitet und es der Seele eines jeden, der Ihnen zuhört, so erscheint,
als rede er mit den Engeln süße Worte über einen himmlischen
Kindheitsstand der Menschheit. Solche Gespräche und Reden sollten Sie in
die Gesellschaft einführen.

                                                                 1846.




                                  III
                     Die Bestimmung der Krankheiten
                 Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.


Meine Kräfte lassen von Augenblick zu Augenblick nach, aber nicht mein
Geist. Noch nie fühlte ich mich durch die körperlichen Gebrechen so
entkräftet. Oft leide ich so sehr, so furchtbar, fühle ich eine so
schreckliche Müdigkeit im ganzen Körper, daß ich mich Gott weiß wie sehr
freue, wenn der Tag endlich zu Ende geht und wenn man endlich zu Bett
gehen kann. Oft rufe ich von geistiger Ohnmacht übermannt aus: Mein
Gott, wo ist denn endlich das Ufer, wann kommt das Ende von alledem!
Wenn man dann aber Einkehr in sich selbst hält und tiefer in sein
Inneres hineinschaut, dann entströmen der Seele nur noch Tränen und
Worte des Dankes. O wie sehr bedürfen wir der Leiden! Von dem vielen
Guten und Nützlichen, das ich aus ihnen gezogen habe, will ich nur auf
eines hinweisen! Ich mag heute sein, wie ich will, ich bin doch besser
geworden, als ich früher war; wenn diese Krankheiten und Leiden nicht
gewesen wären, so hätte ich gewiß geglaubt, daß ich schon ganz so sei,
wie ich sein sollte. Dabei will ich gar nicht einmal davon reden, daß
die Gesundheit, die uns Russen immer dazu reizt, über den Strang zu
schlagen, und den Wunsch in uns rege hält, unsere Vorzüge vor anderen
Leuten zur Schau zu stellen, mich dazu veranlaßt hätte, tausend
Torheiten zu begehen. Dazu besuchen mich jetzt in Augenblicken geistiger
Frische, die mir die Güte des Himmels schenkt, und während der
schlimmsten Qualen zuweilen unendlich viel schönere und bessere
Gedanken, als ich sie früher je gehabt habe, und ich sehe es selbst, daß
jedes Werk meiner Feder heute weit wertvoller und bedeutsamer sein wird,
als alles Frühere. Hätten mich diese schweren und qualvollen Leiden
nicht heimgesucht, wie hochmütig wäre ich da wohl geworden, für einen
wie bedeutenden Menschen hätte ich mich gehalten! Wenn ich jedoch jeden
Augenblick fühle, daß mein Leben an einem Haar hängt, daß meine
Krankheit plötzlich meinem Werk, auf dem meine ganze Bedeutung beruht,
ein Ende bereiten könne, daß der ganze Nutzen, den meine Seele so innig
zu bringen wünscht, nur ein ohnmächtiger Wunsch bleiben und nie
Erfüllung werden wird, daß ich nie mit den Talenten, die mir Gott
verliehen hat, wuchern, und daß ich verdammt werden würde, wie der
schlimmste Verbrecher -- wenn ich dies alles fühle und erkenne, so füge
ich mich stets in Demut und finde keine Worte, wie ich der göttlichen
Vorsehung für meine Krankheit danken soll. Daher sollten auch Sie jedes
Leiden mit Ergebung hinnehmen, in dem Glauben, daß es notwendig ist.
Bitten Sie Gott nur um eins: daß Ihnen die wunderbare Bestimmung dieses
Leidens und die ganze Tiefe seiner großen Bedeutung aufgehe.

                                                                 1846.




                                   IV
                  Etwas über die Bedeutung des Wortes


Als Puschkin einmal folgende Verse aus der Ode Derschawins an
Chrapowizky las:

   »Mag der Satiriker die Worte schmähn,
   Wenn er nur meinen Taten Achtung zollt«,

sagte er: »Derschawin hat nicht ganz recht, die Worte des Dichters sind
bereits seine Taten.« Puschkin hat recht. Der Poet soll im Reiche des
Worts ebenso einwandfrei und makellos dastehen, wie jeder andere Mensch
in seinem Kreise. Wenn sich ein Schriftsteller entschuldigen und
bestimmte Umstände für die Unaufrichtigkeit, Unüberlegtheit oder
Übereiltheit seiner Worte verantwortlich machen wollte, dann kann auch
jeder ungerechte Richter eine Entschuldigung dafür finden, daß er sich
bestechen läßt und mit Recht und Gerechtigkeit Handel getrieben hat,
indem er die Schuld auf seine beschränkten Verhältnisse, auf seine Frau,
oder auf Krankheiten in seiner Familie abwälzt. Finden sich doch immer
genug Gründe, die man anführen kann! Ein Mensch gerät plötzlich in
schwierige Verhältnisse. Es geht die Nachkommen doch nichts an, wer
schuld daran war, daß der Schriftsteller eine Dummheit, etwas Törichtes
und Albernes gesagt hat und daß er seinen Gedanken in unüberlegter und
unreifer Weise Ausdruck gegeben hat. Sie werden nicht danach fragen, wer
seine Hand geführt hat: ein kurzsichtiger Freund, der ihn zu verfrühtem
Handeln aufforderte, oder ein Journalist, der nur um den Erfolg seiner
Zeitschrift besorgt war. Die Nachwelt wird weder auf Koterien noch auf
Journalisten, ja nicht einmal auf seine Armut und seine schwierige Lage
Rücksicht nehmen. Ihr Tadel wird sich gegen ihn und nicht gegen sie
richten. Warum konntest du dem allem nicht widerstehen? Du hattest doch
ein Gefühl für die Ehre deines Standes, du selbst hast ihn doch allen
andern, ja den aussichtsreichsten und vorteilhaftesten Ämtern und
Berufen vorgezogen und hast dies nicht etwa aus einer Laune, sondern nur
darum getan, weil du dich von Gott dazu berufen fühltest. Zu alledem
ward dir noch ein Verstand geschenkt, der weiter und tiefer blickte,
einen größeren Umkreis von Dingen umspannte, als die, die dich
anspornten und vorwärts stießen! Warum also bliebst du ein Kind und
wardst nicht ein Mann, wo dir doch alles zuteil geworden war, was dazu
gehört, ein Mann zu sein? Kurz, ein gewöhnlicher Schriftsteller könnte
sich vielleicht noch mit den Umständen entschuldigen, nicht aber ein
Derschawin. Er hat sich selbst viel dadurch geschadet, daß er nicht
wenigstens die größere Hälfte seiner Oden verbrannt hat. Diese Hälfte
seiner Oden ist höchst merkwürdig und wunderbar: noch nie hat ein Mensch
so über sich selbst und über das Heiligtum seiner Überzeugungen und
Gefühle gespottet, wie dies Derschawin in dieser unseligen Hälfte seiner
Oden getan hat. Wie wenn er sich bemüht hätte, eine Karikatur seiner
eigenen Person zu zeichnen: alles, was bei ihm an vielen andern Stellen
schön und frei klingt, so durchwärmt ist von der inneren Kraft eines
geistigen Feuers, erscheint hier kalt, seelenlos und gezwungen; und was
das schlimmste ist, -- all jene Wendungen, jene Ausdrücke, ja ganze
Sätze (jene königliche Adlergeste seiner begeisterten beseelten Oden)
finden sich hier wieder, aber sie wirken hier bloß komisch und erzeugen
einen Eindruck, wie wenn ein Zwerg den Panzer eines Riesen angelegt und
ihn überdies noch verkehrt angezogen hätte. Wieviel Menschen urteilen
heute über Derschawin lediglich nach seinen banalen Oden! Wie viele
zweifeln an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle, bloß weil sie den
Eindruck haben, daß diese Gefühle an vielen Stellen schwächlich und
seelenlos ausgedrückt sind! Was für zweideutige Gerüchte sind über
seinen Charakter, die Vornehmheit seines Wesens und über die
Unbestechlichkeit der richterlichen Gewalt entstanden, für die er
eintrat! Und dies bloß darum, weil er das nicht verbrannt hat, was er
dem Feuer hätte übergeben sollen. Unser Freund P*** hat folgende
Gewohnheit: sobald er ein paar Zeilen von einem bekannten Schriftsteller
entdeckt, veröffentlicht er sie sofort in einer Zeitschrift, ohne es
sich gründlich zu überlegen, ob sie dem Autor zur Ehre oder zur Unehre
gereichen. Und er besiegelt sein ganzes Werk mit der bekannten Ausrede
der Journalisten: »Wir hoffen, die Leser und die Nachwelt werden uns
dankbar sein für die Mitteilung dieser wertvollen Zeilen; alles, was von
einem großen Mann herrührt, hat Anspruch auf unser Interesse« und
dergleichen mehr. Das alles sind Torheiten. Irgendein unbedeutender
Leser wird es ihm vielleicht danken, aber die Nachwelt wird diese
kostbaren Zeilen gar nicht beachten, wenn sie nur eine seelenlose
Wiederholung dessen sind, was bereits bekannt ist, und wenn sie uns
nicht einen Hauch von der Heiligkeit dessen fühlen lassen, was wirklich
heilig sein soll. Je erhabener eine Wahrheit ist, um so vorsichtiger muß
man mit ihr umgehen; sonst verwandelt sie sich in einen Gemeinplatz und
Phrasen schenkt man keinen Glauben. Die Atheisten haben bei weitem nicht
soviel Unheil angerichtet, wie die Heuchler oder _die_ Propheten Gottes,
die noch nicht genügend für ihr Amt vorbereitet waren und sich
erdreisteten, Seinen Namen mit ungeweihten Lippen zu verkünden. Man muß
redlich mit dem Worte umgehen: es ist die höchste Gabe, die Gott den
Menschen verliehen hat. Wehe dem Schriftsteller, der in einem Augenblick
ein Wort spricht, wo er unter dem Einfluß leidenschaftlicher
Verirrungen, des Ärgers, des Zornes oder einer persönlichen Abneigung
steht, kurz, zu einer Zeit, wo seine Seele noch nicht zu voller Harmonie
gelangt ist: dann werden ihm Worte entfliehen, die allen Widerwillen und
Ekel einflößen, und in solchen Fällen kann man selbst beim reinsten
Streben nach dem Guten Unheil anrichten. Unser obenerwähnter Freund P***
kann als Beweis dafür dienen: er war sein ganzes Leben lang eifrig darum
bemüht, _seinen Lesern sofort alles mitzuteilen_, sie von allem in
Kenntnis zu setzen, was er soeben gelernt hatte, ohne zu überlegen, ob
ein Gedanke in seinem eigenen Kopfe auch genügend ausgereift war, um
auch allen andern vertraut und verständlich zu sein, mit einem Wort --
er stellte sich vor den Lesern in seiner ganzen Unklarheit und
Verworrenheit zur Schau. Und wie? Haben die Leser etwa das edle und
schöne Streben bemerkt, das bei ihm so oft durchleuchtete? Haben sie von
ihm angenommen, was er ihnen mitteilen wollte? Nein, sie haben nichts an
ihm entdeckt als seine innere Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit, die der
Mensch zuallererst bemerkt, und haben nichts von ihm angenommen. Dreißig
Jahre lang hat dieser Mensch gearbeitet und gestrebt wie eine Ameise,
sein ganzes Leben hindurch war er bemüht, alles eiligst an den Mann zu
bringen, was sich ihm an Gegenständen darbot, die zur Bildung und
Aufklärung Rußlands beitragen konnten, und kein Mensch hat ihm dafür
gedankt; ich bin noch nie einem dankbaren Jüngling begegnet, der erklärt
hätte, er schulde ihm Anerkennung für ein neues Licht, das er ihm
aufgesteckt, oder für das edle Streben nach dem Guten, das sein Wort ihm
eingepflanzt habe. Im Gegenteil, ich mußte ihn oft verteidigen und für
die Reinheit seiner Absichten und für die Aufrichtigkeit seiner Worte
gegenüber solchen Leuten eintreten, die ihn doch wohl hätten verstehen
können. Ja, es wurde mir sogar schwer, jemand zu überzeugen, weil er es
verstanden hat, sich so vor allen zu vermummen, daß es völlig unmöglich
ist, ihn den Leuten in seiner wahren Gestalt vorzuführen. [Wenn er vom
Patriotismus spricht, dann spricht er so über ihn, daß es den Anschein
hat, als ob sein Patriotismus ein bezahlter Patriotismus sei; spricht er
von der Liebe zum Zaren, einem Gefühl, das er warm und aufrichtig und
wie ein Heiligtum in seiner Seele hegt, so äußert er sich so, daß man
nichts wie Kriecherei und habsüchtige Liebedienerei herauszuhören meint.
Seiner aufrichtigen ungekünstelten Empörung über jede Bestrebung, die
Rußland schaden kann, leiht er einen Ausdruck, wie wenn er bestimmte
Leute, die er allein kennt, denunzieren wollte. Mit einem Wort, auf
Schritt und Tritt verleumdet er sich selbst.] Es ist eine große Gefahr
für einen Schriftsteller, mit dem Wort Spott zu treiben: »Ein faules
Wort gehe nie aus eurem Munde.« Wenn sich dies ohne Ausnahme auf jeden
von uns bezieht, um wieviel mehr muß es für die gelten, deren Reich --
das Wort ist und deren Bestimmung es ist, von allem Schönen und Hohen zu
reden. Wehe, wenn mit faulen Worten von heiligen und erhabenen Dingen
geredet wird; dann ist es schon besser, man redet mit faulen Worten von
faulen Dingen. Alle großen Erzieher der Menschheit haben _denen_, die
die Gabe des Wortes besaßen, in erster Linie ein langes Schweigen
auferlegt und zwar gerade dann und in solchen Augenblicken, wo sich in
ihnen der Wunsch am stärksten regte, mit Worten zu prunken, und wenn
ihre Seele den Drang fühlte, den Menschen viel Gutes und Nützliches zu
sagen; sie fühlten, wie leicht man schänden kann, was man erhöhen will,
und wie unsere Zunge auf Schritt und Tritt zur Verräterin wird. »Leg'
Tür und Riegel deinem Munde auf«, sagt Jesus Sirach: »Du verzäunest
deine Güter mit Dornen; warum machst du nicht vielmehr deinem Munde Tür
und Riegel? Du wägest dein Gold und Silber ein; warum wägest du nicht
auch deine Worte auf der Goldwage?«

                                                                 1844.




                                   V
          Über den öffentlichen Vortrag russischer Dichtungen
                                 An L**


Ich freue mich, daß man bei uns endlich mit dem öffentlichen Vortrag der
Dichtungen unserer russischen Schriftsteller begonnen hat. Man hat nur
schon aus Moskau einiges hierüber geschrieben, dort soll man
verschiedene Werke der modernen Literatur, darunter auch einige Stücke
aus meinen Erzählungen, vorgetragen haben. Ich war immer der Ansicht,
daß solche öffentlichen Vorlesungen eine Notwendigkeit für uns sind. Wie
es scheint, neigen wir mehr zu gemeinsamem Tun, selbst beim Lesen; wenn
wir allein sind, sind wir alle träge, und solange wir sehen, daß sich
die andern nicht regen, regen auch wir uns nicht. Ich glaube, wir werden
tüchtige Rezitatoren hervorbringen: bei uns gibt es nur wenig Schwätzer,
die über die Macht der Rede verfügen und die sich in den Gerichtssälen
und Parlamenten hervortun könnten, aber wir besitzen viele Leute, die
die Fähigkeit haben, mit jedem andern zu _fühlen_. Eine Empfindung
mitzuteilen, sie mit andern zu teilen, das wird bei manchen geradezu
eine Leidenschaft, die um so stärker wird, je mehr sie merken, daß sie
sich nicht in Worten auszudrücken vermögen (ein Zeichen ist eine
ästhetische Natur). Auch unsere Sprache begünstigt die Ausbildung von
Rezitatoren; sie ist wie geschaffen für den kunstvollen Vortrag, da sie
über alle Klangnuancen verfügt und die kühnsten Übergänge vom Erhabenen
zum Einfachen in ein und derselben Rede ermöglicht. Ich glaube sogar,
daß die öffentlichen Vorlesungen bei uns mit der Zeit das Schauspiel
ersetzen werden. Ich wünschte freilich, daß für diese Vorlesungen, wie
sie heute veranstaltet werden, Werke ausgewählt würden, die es wirklich
verdienen, öffentlich vorgetragen zu werden, so daß es auch den
Rezitator nicht zu gereuen brauchte, Mühe und Arbeit auf die
Vorbereitung zu verwenden. In unserer modernen Literatur aber gibt es
nichts Derartiges, und es ist ja auch gar nicht nötig, daß durchaus
etwas Modernes vorgetragen wird; das Publikum liest es ja doch ohnedies
wegen seiner großen Vorliebe für alles Neue. Alle diese neuen
Erzählungen (darunter auch meine eigenen) sind gar nicht bedeutend
genug, als daß man sie öffentlich vortragen sollte. Wir sollten uns an
unsere Poeten halten, an jene hohen Dichtwerke, die in ihrem Kopfe in
langem Nachdenken und langer Arbeit ausreiften und an denen auch der
Rezitator lange arbeiten sollte. Unsere Dichter sind heute im Publikum
so gut wie unbekannt. Man hat in den Zeitschriften viel über sie
geredet, sie ausführlich und unter Aufwand vieler Worte analysiert, aber
diese Analysen waren eigentlich mehr eine Selbstcharakteristik der
Verfasser als eine solche der Dichter. Die Zeitschriften haben damit nur
das erreicht, daß sie die Begriffe, die unser Publikum von seinen
Dichtern hatte, noch mehr verwirrt und durcheinandergebracht haben, so
daß die Persönlichkeit jedes Dichters für unser Publikum zweideutig und
widerspruchsvoll geworden ist und daß sich niemand mehr ein klares Bild
davon macht, was eigentlich das wahre Wesen eines jeden Dichters ist.
Nur ein kunstvoller Vortrag kann einen klaren Begriff von einem Dichter
vermitteln. Aber natürlich sollte der Vortrag nur von einem Redner
übernommen werden, der jede kleinste, verschwindende Nuance des Werks,
das er vorliest, wiederzugeben vermag. Dazu braucht man kein feuriger
Jüngling zu sein, der in der Siedehitze der Begeisterung und in einem
Zug an einem und demselben Abend eine Tragödie, eine Komödie, eine Ode
und wer weiß was sonst noch herunterzulesen imstande ist. Ein lyrisches
Gedicht wie es sich gehört vorzutragen -- das ist durchaus keine
Kleinigkeit: dazu muß man es erst lange durcharbeiten. Man muß das hohe
Gefühl, das die Seele des Dichters erfüllte, aufrichtig mit ihm teilen;
man muß jedes seiner Worte mit Herz und Seele nachempfinden und erst
dann zum öffentlichen Vortrag schreiten. Solch ein Vortrag wird
keineswegs laut und lärmend und nicht aus der Fieberglut geboren sein.
Im Gegenteil, er kann sehr ruhig sein, aber die Stimme des Vortragenden
wird eine unbegreifliche, nie geahnte Kraft ausströmen, die ein Zeugnis
für seine echte innere Rührung ist. Diese Kraft wird sich allen
mitteilen und Wunder wirken: auch die, die nie von den Lauten der Poesie
ergriffen wurden, werden erschüttert werden. Der Vortrag unserer
Dichtwerke kann der Öffentlichkeit sehr zum Nutzen gereichen. In unseren
Dichtern gibt es viel Schönes, das nicht bloß gänzlich vergessen,
sondern auch verunehrt, schlecht gemacht und dem Publikum in einem
gemeinen niedrigen Sinne ausgelegt worden ist, an den unsere
hochherzigen Dichter nicht im entferntesten gedacht haben. Ich weiß
nicht, von wem der Gedanke stammt, den Ertrag der öffentlichen
Vorlesungen den Armen zuzuwenden: dieser Gedanke ist jedenfalls sehr
schön. Er kommt besonders heute gerade zur rechten Zeit, wo es in
Rußland so viele Menschen gibt, die unter Hungersnot, Feuersbrünsten,
Krankheiten und allerhand Mißgeschick zu leiden haben. Wie würden sich
die Geister der Dichter, die nicht mehr unter uns weilen, freuen, wenn
ein solcher Gebrauch von ihren Werken gemacht würde!

                                                                 1843.




                                   VI
                     Wie man den Armen helfen soll
                 Aus einem Briefe an A. O. Sm--rn--wa.


Ich komme nun zu Ihren Ausfällen gegen die Torheit der (Petersburger)
Jugend, die auf die Idee verfallen ist, ausländischen Sängern und
Schauspielerinnen goldene Kränze und Becher zu verehren, während in
Rußland ganze Provinzen von der Hungersnot heimgesucht werden. Das ist
weder Dummheit noch eine Verhärtung des Herzens, das ist nicht einmal
Leichtsinn -- es ist eine Folge der menschlichen Gleichgültigkeit, die
ein gemeinsamer Charakterzug von uns allen ist. Die Leiden und
Schrecknisse, die eine Hungersnot mit sich bringt, spielen sich ja in
einer großen Entfernung von uns ab, das geschieht tief im Innern der
Provinz, und nicht vor unseren Augen -- da liegt des Rätsels Lösung, und
das erklärt alles! Ein Mensch, der bereit ist, hundert Rubel für einen
Parkettplatz im Theater zu bezahlen, um sich am Gesang eines Rubini zu
erfreuen, würde sicherlich sein ganzes Hab und Gut verkaufen, wenn er
zufällig Augenzeuge eines einzigen von jenen furchtbaren Bildern der
Hungersnot sein müßte, vor denen alle Greuel und Schrecken, wie sie in
Melodramen dargestellt werden, verblassen. Mit der Veranstaltung von
Sammlungen hat es bei uns keine Schwierigkeit, wir sind alle bereit, zu
geben. Aber gerade für die Armen ist man heute bei uns nicht allzugern
bereit, etwas zu geben, teils, weil nicht jeder davon überzeugt ist, daß
seine Gabe auch an ihr Ziel und in die Hände dessen gelangen wird, der
sie erhalten soll. Meist gleicht die Hilfe einer Flüssigkeit, die man in
der hohlen Hand trägt, und die unterwegs zerrinnt, ehe sie an ihren
Bestimmungsort gelangt -- und der Notleidende bekommt nichts zu sehen,
als die trockene Hand, in der nichts enthalten ist. Das ist's, was
zuerst überlegt sein will, ehe man mit der Sammlung von Gaben beginnt.
Hierüber wollen wir später miteinander reden, weil das durchaus keine
unwichtige Sache ist, die es wohl wert ist, daß man sie in verständiger
Weise bespricht. Nun aber wollen wir einmal gemeinsam überlegen, wo
zuerst und vor allem geholfen werden muß. Man sollte in erster Linie
solchen Leuten helfen, die von einem plötzlichen unerwarteten
Unglücksfall betroffen wurden, durch den sie mit einem Schlage und in
einem Augenblick um alles gekommen sind: es kann sich dabei um eine
Feuersbrunst handeln, bei der das ganze Hab und Gut bis auf den Grund
abgebrannt ist, oder um eine Seuche, der das ganze Vieh zum Opfer
gefallen ist, oder um einen Todesfall, der einen Unglücklichen seiner
einzigen Stütze beraubt hat -- mit einem Wort um jeden plötzlichen
Verlust, in dessen Gefolge die Armut mit einem Male über einen Menschen
hereinbricht, der gar nicht an sie gewöhnt ist. Da ist Ihre Hilfe am
Platze. Dabei aber ist es nötig, daß diese Hilfe auch in wahrhaft
christlicher Weise dargebracht werde: wenn sie bloß in einer
Geldunterstützung besteht, dann hat sie gar keinen Wert und kann nichts
Gutes wirken. Wenn Sie nicht zuvor selbst gründlich über die ganze Lage
des Menschen nachgedacht haben, dem Sie helfen wollen, und keinen Rat
und keine Unterweisung für ihn mitbringen, wie er von nun an sein Leben
einrichten soll, so wird ihm nicht viel Vorteil aus Ihrer Hilfe
erwachsen. Der Wert der Unterstützung, die einem Menschen erwiesen wird,
kommt selten dem Wert des verlorenen Gutes gleich; im allgemeinen
beträgt sie selten soviel wie die Hälfte dessen, was der Mensch verloren
hat, oft dagegen nur ein Viertel und zuweilen sogar noch weniger. Der
Russe ist überall zum äußersten fähig: wenn er erkennt, daß er mit dem
wenigen Gelde, das er erhalten hat, nicht mehr das gleiche Leben führen
kann, wie früher, ist er imstande, in seiner Verzweiflung alles auf
einmal durchzubringen, was ihm gegeben wird, um ihm für längere Zeit
einen Lebensunterhalt zu gewähren. Daher müssen Sie ihn belehren, wie er
sich mit dem, was ihm durch Ihre Unterstützung zuteil wurde, aus seiner
Lage heraushelfen kann; klären Sie ihn über die wahre Bedeutung des
Unglücks auf, damit er einsieht, daß es ihm gesandt ward, auf daß er
sein früheres Leben aufgebe und ein anderer werde, wie früher, gleichsam
ein neuer Mensch in physischer wie in moralischer Beziehung. Sie werden
ihm dies schon in kluger Weise darzulegen wissen, wenn Sie nur seinen
Charakter und seine Lebensverhältnisse näher kennen lernen werden. Und
er wird Sie verstehen: das Unglück macht den Menschen weicher; sein
Wesen wird feiner, zartfühlender, er bekommt mehr Verständnis für Dinge,
die die Begriffe eines Menschen übersteigen, der in alltäglichen
gewöhnlichen Verhältnissen lebt; er verwandelt sich dann gleichsam in
ein Stück warmen Wachses, das man kneten kann, wie man will. Am besten
wäre es jedoch, wenn die Hilfe in allen Fällen durch die Vermittlung
eines erfahrenen und klugen Priesters dargebracht würde. Nur ein
Priester ist imstande, den Menschen über den tiefen heiligen Sinn eines
Unglücks aufzuklären, das, in welcher Gestalt und Form es auch immer auf
dieser Erdenwelt über einen Menschen hereinbricht, ob er nun in einer
ärmlichen Hütte oder in prunkvollen Gemächern wohnt, stets eine Stimme
aus dem Himmel ist, die den Menschen auffordert, sein früheres Leben
aufzugeben und von Grund aus zu ändern.

                                                                 1844.




                                  VII
                Über Schukowskis Übersetzung der Odyssee
                           An W. M. Jasykow.


Das Erscheinen der Odyssee wird eine Epoche heraufführen. Die Odyssee
ist sicherlich die vollkommenste Dichtung aller Zeiten. Sie ist ein Werk
von gewaltigem Umfang. Die Ilias ist ihr gegenüber nur eine Episode. Die
Odyssee umfaßt die gesamte antike Welt, das öffentliche und das
häusliche Leben, alle Sphären der Menschen jener Zeit mit ihren
Beschäftigungen, ihrem Wissen und Glauben ... kurz, es ist beinahe
schwer zu sagen, was die Odyssee nicht enthält oder was von ihr
übergangen wäre. Während mehrerer Jahrhunderte ist sie den Dichtern der
Antike und hierauf allen Dichtern überhaupt eine nie versiegende Quelle
gewesen. Ihr entnahmen sie den Stoff für eine unzählige Menge von
Tragödien und Komödien; und dies alles machte die Runde durch die Welt
und wurde zum Gemeingut aller, während die Odyssee selbst vergessen
wurde. Das Schicksal der Odyssee hat etwas Seltsames an sich: sie wurde
in Europa nicht in ihrem wahren Werte erkannt. Daran ist teils der
Umstand schuld, daß es an einer Übersetzung fehlte, die eine
künstlerische Nachbildung des herrlichsten Werkes der Antike darstellte,
teils der Mangel einer Sprache, die reich und vollkommen genug war, um
all die unendlichen kaum faßbaren Schönheiten der hellenischen Zunge im
allgemeinen und Homers im besonderen widerzuspiegeln; und endlich fehlte
es auch an einem Volk, das mit einem so reinen jungfräulich unberührten
Geschmack begabt gewesen wäre, wie er erforderlich ist, um einen Homer
innerlich zu verstehen und nachzuempfinden.

Gegenwärtig wird diese größte Dichtung in die reichste und vollkommenste
aller europäischen Sprachen übersetzt.

Schukowskis gesamte literarische Tätigkeit war gleichsam nur die
Vorbereitung zu diesem Werk. Er mußte seine Verskunst an Übersetzungen
von Dichtwerken aller Nationen und Sprachen schulen und ausbilden, um
fähig zu werden, Homers unvergängliche Verse nachzubilden -- sein Ohr
mußte der Leier aller Völker lauschen, um so feinhörig zu werden, daß
ihm der Eigenton der hellenischen Laute nicht entgehen konnte; er mußte
auch von dem glühenden Wunsche durchdrungen werden, alle seine
Landsleute zu ästhetischem Nutz und Frommen ihrer Seele, zu solcher
Liebe zu Homer zu zwingen, es mußte sich im Innern des Übersetzers
selbst vieles ereignen, was seine Seele zu höherer Harmonie stimmte und
ihr jene hohe Ruhe mitteilte, die dazu erforderlich ist, um ein Werk
nachzudichten, das einer solchen ebenmäßigen Harmonie und Ruhe
entsprungen ist, er mußte endlich auch noch in tieferem Sinn zum
Christen werden, um sich jene weitblickende vertiefte Lebensanschauung
anzueignen, wie sie nur ein Christ haben kann, der bereits begriffen
hat, was der Sinn des Lebens ist. So viele Voraussetzungen mußten
erfüllt werden, damit die Übersetzung der Odyssee nicht zu einer
sklavischen Nachbildung werden, sondern damit uns aus ihr das _lebendige
Wort_ entgegenklingen und ganz Rußland Homer als etwas Verwandtes und
Vertrautes aufnehmen konnte.

Dafür ist auch etwas wahrhaft Wunderbares zustande gekommen. Das ist
keine Übersetzung, sondern eher eine Neuschöpfung, eine Restauration,
eine Auferstehung Homers. Die Übersetzung scheint uns noch tiefer in das
Leben der Alten einzuführen, als selbst das Original. Der Übersetzer ist
gleichsam ganz unmerklich zum Kommentator Homers geworden, er hat sich
gewissermaßen wie ein die Dinge verdeutlichendes Sehrohr vor den Leser
gestellt, das alle unendlichen Schätze Homers noch klarer und bestimmter
hervortreten läßt.

Meiner Überzeugung nach haben sich heute die Verhältnisse wie mit
Absicht so gestaltet, daß das Erscheinen der Odyssee in unserer Zeit
geradezu zur Notwendigkeit werden mußte: in der Literatur wie überall
sonst -- macht sich eine gewisse Kühle, ein Nachlassen des Interesses
bemerkbar. Eine Müdigkeit hat die Menschen ergriffen, man begeistert
sich nicht mehr und man ist nicht mehr enttäuscht. Selbst die
krampfhaften und krankhaften Produkte unseres Zeitalters, mit ihrem
Einschlag aller möglichen unverdauten Ideen, wie sie uns als Folge
politischer und anderer Gärungen angeflogen sind, sind sehr im
Niedergang begriffen, nur die ewig nachhinkenden Leser, die daran
gewöhnt sind, sich an die Schleppe der führenden Journalisten zu hängen,
lesen noch hin und wieder etwas Derartiges, ohne in ihrer Einfalt zu
bemerken, daß die vorangehenden Leithämmel schon längst sinnend und
nachdenklich stehen geblieben sind, da sie selbst nicht wissen, wohin
sie ihre umherirrenden Herden führen sollen. Mit einem Wort, jetzt ist
eine Zeit gekommen, wo das Erscheinen eines edlen, in all seinen Teilen
formvollendeten Werks, das das Leben mit einer wunderbaren Deutlichkeit
und Klarheit widerspiegelt und von dem eine hohe Ruhe und der Hauch
einer geradezu kindlichen Einfalt ausgeht, von unendlicher Bedeutung
sein kann.

Von der Odyssee wird eine große Wirkung _auf uns alle_ und _auf jeden
einzelnen von uns_ ausgehen.

Sehen wir einmal zu, was für eine Wirkung sie auf _uns alle_ ausüben
kann. Die Odyssee ist das Werk, das alle notwendigen Voraussetzungen
dafür enthält, ein Buch zu werden, das allgemein und vom ganzen Volke
gelesen wird. Sie vereint in sich die Spannung, die von einem Märchen
ausgeht, und die schlichte Wahrheit menschlicher Erlebnisse, die auf
jeden Menschen, er mag sein, wer er will, den gleichen Reiz ausüben.
Edelleute und Bürger, Kaufleute, Gebildete wie Ungebildete, einfache
Soldaten, Bediente, Kinder beiderlei Geschlechts, von jener Altersstufe
an, wo die Kinder Freude an Märchen zu bekommen pflegen -- sie alle
werden sie lesen und ihr lauschen, ohne sich zu langweilen -- ein
Umstand von ungeheurer Wichtigkeit, besonders wenn man bedenkt, daß die
Odyssee zugleich ein wahrhaft moralisches Werk ist und daß der alte
Dichter sie nur deshalb gedichtet hat, weil er die Handlungen der
damaligen Menschen und ihre Gesetze in lebendigen Bildern darstellen
wollte.

Im griechischen Polytheismus liegt nichts Verführerisches für unser
Volk. Unser Volk ist klug, es weiß sich selbst solche Dinge, die die
gescheitesten Leute in Verlegenheit bringen, ohne viel Kopfzerbrechen zu
deuten und zu erklären. Es wird aus alledem nur dies eine entnehmen: wie
schwer es für den Menschen ist, allein und ohne Hilfe von Propheten und
höherer Offenbarungen zu einer wahrhaften Erkenntnis Gottes zu gelangen,
welch unsinnige Vorstellungen und Bilder er sich von Seinem wahren Wesen
macht, wenn er die Einheit und die eine Allkraft in eine Vielheit von
Kräften und Formen zerspaltet. Es wird nicht einmal über die alten
Heiden lachen, weil es sie für gänzlich unschuldig halten wird: zu ihnen
sprachen keine Propheten, Christus war noch nicht geboren, Apostel gab
es damals noch nicht. Nein, das Volk wird sich eher den Kopf kratzen
beim Gedanken, daß es mit geringerem Eifer zu Gott betet und seine
Pflicht und Schuldigkeit schlechter erfüllt, als die alten Heiden,
obwohl es den wahren Gott in Seiner wirklichen Gestalt kennt, obwohl es
Sein geschriebenes Gesetz stets in Händen hat und in seinen Beichtvätern
Lehrer und Berater hat, die ihm das Gesetz auslegen. Das Volk wird
verstehen, warum der Höchste auch dem Heiden um seines guten
Lebenswandels und seines inbrünstigen Gebets willen Seinen Beistand
lieh, trotzdem er Ihn aus Unwissenheit in der Gestalt eines Poseidon,
Kronion, Hephaistos, Helios, Kypris und der ganzen Schar von Göttern,
die die lebhafte Phantasie der Griechen ersonnen hat, anbetete und zu
ihnen flehte. Mit einem Wort, das Volk wird den Polytheismus beiseite
lassen und sich nur das aus der Odyssee aneignen, was es sich daraus
aneignen soll, d. h. das, was allen deutlich sichtbar ist, was den Geist
ihres Inhalts bildet und den eigentlichen Zweck ausmacht, um
dessentwillen die Odyssee geschrieben ist; er wird daraus die Lehre
ziehen, daß dem Menschen überall und auf jedem Gebiet viel Unglück
bevorsteht, daß er dagegen ankämpfen muß -- denn nur dazu ward dem
Menschen das Leben gegeben -- daß er niemals verzagen darf, wie Odysseus
nie verzweifelte, der sich in schweren Stunden der Not stets an sein
Herz wandte, ohne zu ahnen, daß er schon durch diese Wendung an sein
eigenes inneres Ich jenes innere an Gott gerichtete Gebet erschuf, das
sich jedem Menschen, auch dem, der nicht einmal einen Begriff von Gott
hat, auf die Lippen drängt. Das ist das _Allgemeine_, der lebendige
Geist ihres Inhalts, durch den die Odyssee einen Eindruck auf alle
machen muß, noch ehe sie entzückt und ergriffen sein werden von ihren
dichterischen Vorzügen: der Wahrheit der Bilder und der Lebendigkeit der
Schilderungen; noch ehe andre bewundernd staunen werden über die antiken
Schätze, die sich hier vor ihnen auftun und die in all diesen
Einzelheiten weder von der Skulptur, noch von der Malerei, noch von den
antiken Denkmälern im allgemeinen festgehalten wurden; noch ehe wieder
andre verwundert dastehen werden über die unglaubliche Kenntnis aller
Windungen und Falten der menschlichen Herzen, die alle offen dalagen vor
dem blinden Sänger, der alles sah; noch ehe wiederum andre staunen
werden über den tiefen staatsmännischen Blick, die große Beherrschung
der schweren Kunst der Menschenleitung und -regierung, die der göttliche
Alte gleichfalls besaß, er, der ein Gesetzgeber seines eigenen und der
kommenden Geschlechter war -- mit einem Wort, noch ehe sich jemand je
nach seinem Beruf, Handwerk, seiner Beschäftigung, seinen Neigungen,
Liebhabereien und seiner persönlichen Eigenart für irgendeine Einzelheit
in der Odyssee begeistern wird. Und dies alles nur daher, weil sich
dieser Geist ihres Inhalts, dieses ihr inneres Wesen einem jeden mit so
greifbarer Deutlichkeit aufdrängt, wie es in keinem andern Werk mit
ähnlicher Kraft zum Ausdruck kommt, alles durchdringend und alles
beherrschend, besonders wenn wir noch darauf achten, wie lebendig, wie
farbig alle Episoden sind, deren jede beinahe die Grundidee zu
überstrahlen, in den Hintergrund zu drängen imstande ist.

Warum aber müssen das alle so deutlich empfinden? Darum, weil es dem
alten Dichter so tief aus der Seele dringt. Man sieht förmlich auf
Schritt und Tritt, wie er das, was er für alle Zeiten im Menschen
befestigen und sichern wollte, mit der ganzen bestrickenden Schönheit
der Poesie zu umkleiden suchte; wie er danach strebte, was an den
Volkssitten gut und lobenswert war, zu erhalten und zu kräftigen, wie er
bemüht war, den Menschen an das Beste und Heiligste zu mahnen, was in
ihm liegt, und was er jeden Augenblick vergessen kann -- in jedem seiner
Helden den Menschen ein Muster und Beispiel für jeden Beruf und Stand zu
hinterlassen und allen zusammen in seinem unermüdlichen Odysseus ein
ewiges Musterbild allgemeinmenschlicher Tätigkeit aufzustellen.

Diese strenge Achtung der Sitten, diese tiefe Ehrfurcht vor der
Obrigkeit und den Regierenden, trotz der begrenzten und noch wenig
entwickelten Regierungsgewalt, diese jungfräuliche Schamhaftigkeit der
Jünglinge, diese Güte und diese Milde der Greise, diese herzliche
Gastfreundschaft, dieser Respekt, man möchte fast sagen, diese Ehrfurcht
vor dem Menschen, als dem Ebenbilde Gottes, dieser Glaube, daß kein
guter Gedanke im Hirne der Menschen entspringt, ohne den souveränen
Willen eines höheren Wesens, daß der Mensch aus eigener Kraft nichts zu
erreichen vermag -- kurz alles, jeder kleinste Zug in der Odyssee kündet
von dem inneren Wunsche dieses Dichters aller Dichter, dem Menschen der
alten Welt ein lebendiges und vollständiges Gesetzbuch zu hinterlassen,
zu einer Zeit, als es noch weder Gesetzgeber noch Stifter von
Rechtsordnungen gab, als noch die Beziehungen unter den Menschen durch
keine geschriebenen Bestimmungen oder bürgerlichen Rechte geregelt
waren, als die Menschen noch sehr vieles nicht wußten, ja nicht einmal
ahnten und als allein der göttliche Greis alles sah, hörte, erkannte und
ahnte -- ein blinder Mann, der der Sehkraft beraubt, die allen Menschen
eigen ist, und nur bewaffnet war mit jenem inneren Auge, das die
Menschen nicht besitzen.

Wie kunstvoll ist doch die Arbeit langjähriger Überlegungen unter der
Schlichtheit eines treuherzigen Berichtes versteckt! Es ist fast, als
hätte er alle Menschen zu einer Familie versammelt und säße nun mitten
unter ihnen, wie der Großvater unter seinen Enkeln, der gelegentlich
selbst dazu bereit ist, mit ihnen zu spielen und Mutwillen zu treiben,
und als trage er nun treuherzig seine Erzählung vor, nur darum besorgt,
niemand zu ermüden oder durch unangebrachte und allzu lange Belehrungen
zu erschrecken, sondern ihn unsichtbar auf Windesflügeln durch die ganze
Welt zu tragen, auf daß sich alle spielend aneignen, was dem Menschen
durchaus nicht zu Spiel und Scherz gegeben ward, und auf daß sie
unmerklich davon kosteten und sich davon erfüllten, was er während
seines Jahrhunderts und zu seiner Zeit an Schönstem und Bestem gesehen
und erfahren hat. Man könnte das Ganze beinahe für eine ohne jede
Vorbereitung dahinfließende Erzählung halten, wenn sich einem nicht
nachträglich, nach einer aufmerksamen Analyse die wunderbare Kunst des
Baus -- des Ganzen sowohl wie die jedes Gesanges im einzelnen enthüllte.
Wie dumm sind doch die superklugen deutschen Gelehrten, die den Gedanken
aufgebracht haben, Homer sei ein Mythos und all seine Werke seien
Volksgesänge und Rhapsodien.

Doch sehen wir nun einmal zu, was für eine Wirkung die Odyssee auf
_jeden einzelnen von uns_ ausüben kann. Zunächst wird sie auf unsere
Schriftstellerzunft, auf unsere Autoren wirken. Sie wird viele dem
Lichte zurückgeben, nachdem sie sie wie ein gewandter Lotse durch den
Nebel und die Verwirrung hindurchgesteuert hat, die durch unsere
zerfahrene und unausgegorene Schriftstellergeneration heraufbeschworen
wurde. Sie wird uns alle wieder daran erinnern, mit welch naiver
ungekünstelter Schlichtheit die Natur reproduziert, wie jeder Gedanke
bei uns zu einer geradezu greifbaren Klarheit gebracht werden, in welch
ruhigem Gleichmaß unsere Rede dahinfließen muß. Sie wird allen unseren
Schriftstellern wieder jene alte Wahrheit näher bringen, die wir unser
ganzes Leben lang im Auge behalten sollten und die wir doch immer wieder
vergessen: daß wir nämlich nicht eher zur Feder greifen sollten, als bis
sich in unserem Kopfe alles zu der Klarheit und Ordnung gestaltet hat,
daß selbst ein Kind imstande wäre, alles zu verstehen und in seinem
Gedächtnis aufzubewahren. Aber eine noch stärkere Wirkung als auf die
Schriftsteller wird die Odyssee auf die ausüben, die sich erst auf die
Schriftstellerlaufbahn vorbereiten, und die, ob sie nun auf dem
Gymnasium sind oder auf der Universität studieren, ihr künftiges
Arbeitsfeld noch unklar und wie im Nebel vor sich sehen: diese kann die
Odyssee von Anfang an auf den rechten Weg weisen und sie vor einem
unnötigen Herumirren in krummen winkligen Gassen bewahren, in denen sich
ihre Vorgänger zur Genüge umhergetrieben haben.

Ferner wird die Odyssee auch einen Einfluß auf den Geschmack und die
Entwicklung des ästhetischen Gefühls ausüben. Sie wird einen frischen
Zug in die Kritik hineintragen. Unserer Kritik hat sich eine gewisse
Müdigkeit bemächtigt, sie hat in der Analyse der problematischen Werke
unserer neuesten Literatur Ziel und Richtung verloren, sie hat sich in
ihrer Verzweiflung auf Seitenwege verirrt, läßt die literarischen
Probleme ganz beiseite und produziert nur noch ganz törichtes Zeug. Das
Erscheinen der Odyssee aber kann vielleicht viele wirklich gute und
tüchtige Kritiken hervorrufen, um so mehr, als es wohl auf der Welt kaum
ein zweites Werk gibt, das sich von so vielen Seiten aus betrachten
läßt, wie die Odyssee. Ich bin überzeugt, daß die Diskussionen, die
Untersuchungen, die Betrachtungen und Erörterungen, die Bemerkungen und
Gedanken, zu denen sie Veranlassung geben wird, unsere Zeitschriften
mehrere Jahre lang beschäftigen werden. Diese Leser werden nur Vorteil
davon haben: die Kritiken werden nicht mehr so hohl und nichtssagend
sein. Um eine solche Kritik zu schreiben, muß man viel lesen, sich über
vieles neu orientieren, viel erlebt und über vieles nachgedacht haben;
ein hohler und oberflächlicher Kopf wird über die Odyssee kaum etwas zu
sagen wissen.

Drittens kann die Odyssee in dem russischen Gewande, das ihr Schukowski
gegeben hat, viel zur Reinigung unserer Sprache beitragen. Bei keinem
unserer Schriftsteller, in keinem der früheren Werke Schukowskis, ja
nicht einmal bei Puschkin und Krylow, die häufig im Ausdruck, in ihren
Wendungen noch schärfer und genauer sind, als jener, hat die russische
Sprache einen solchen Reichtum, eine solche Vollkommenheit erreicht.
Hier finden sich alle ihre Wendungen und Nuancen in sämtlichen
Variationen und Abstufungen. Diese ungeheuren unendlichen Perioden, die
bei jedem andern matt und dunkel wirken würden, und andererseits
wiederum die knappen kurzen Perioden, die bei andern hart und abgerissen
klingen und der Rede etwas Herbes, Gefühlloses verleihen würden, stehen
bei Schukowski so brüderlich zusammen, alle Übergänge und der
Zusammenstoß der Gegensätze vollziehen sich mit einem solchen Wohllaut,
alles fließt so in eins zusammen und läßt die schwerfällige Masse des
Ganzen sich so zerteilen und verschwinden, daß man den Eindruck hat, als
hätten der Bau und das Gefüge der Sprache sich überhaupt verflüchtigt;
sie scheinen nicht mehr vorhanden zu sein, so wie auch der Übersetzer
völlig verschwindet. Statt seiner aber steht der greise Homer in seiner
ganzen majestätischen Größe vor unseren Augen, und wir hören die hehren,
gewaltigen, ewigen Worte, die nicht dem Munde eines Menschen entstammen,
sondern deren Bestimmung es ist, -- ewig durch die Welt zu tönen. Jetzt
werden unsere Schriftsteller erkennen, mit welch kluger Vorsicht jedes
Wort und jeder Ausdruck verwendet sein will, wie man jedem schlichten
Wort seine hohe Würde wiedergeben kann durch die Kunst, ihm seinen
richtigen Platz anzuweisen, und was für ein solches Werk, dessen
Bestimmung es ist, in den Händen aller zu sein und von allen genossen zu
werden -- das ein geniales Werk ist, diese äußere Wohlgestalt und dieser
äußere Anstand, diese Durchbildung und Abrundung des Ganzen bedeuten:
hier fällt jedes kleinste Staubkörnchen ins Auge und wird von jedem
bemerkt. Schukowski vergleicht diese Staubkörnchen sehr richtig mit
Papierschnitzeln, die in einem herrlich ausgeschmückten Prunkgemach
herumliegen, wo von der Decke herab bis zum Parkett alles glänzt und
strahlt wie ein Spiegel: jeder Eintretende wird zuallererst diese
Papierschnitzel bemerken, und zwar aus demselben Grunde, aus dem er sie
in einem unsauberen unaufgeräumten Zimmer überhaupt nicht entdecken
würde.

Viertens wird die Odyssee sowohl die Wißbegierde derer, die sich mit der
Wissenschaft beschäftigen, wie auch derer, die keine Wissenschaft
studiert haben, befruchten, indem sie uns eine lebendige Kenntnis der
antiken Welt vermitteln wird. In keinem Geschichtswerk kann man das
finden, was man aus ihr schöpfen kann; von ihr geht ein lebendiger Hauch
der Vergangenheit aus; der antike Mensch steht lebendig vor unseren
Augen, als hätten wir ihn erst gestern gesehen und mit ihm gesprochen.
Man sieht ihn förmlich vor sich in seinem ganzen Tun und Treiben und zu
allen Tageszeiten: wie er sich andächtig zum Opfer vorbereitet, wie er
beim Becher ehrsam mit dem Gastfreund spricht, wie er sich ankleidet,
wie er auf den Platz hinaustritt, wie er den Reden der Greise lauscht
und die Jünglinge belehrt; sein Haus, sein Wagen, sein Schlafgemach, das
kleinste Möbelstück im Hause, von den Tischen, die hereingetragen
werden, bis zum Riemenriegel an der Tür -- alles steht noch frischer und
lebendiger vor unseren Augen, als in dem ausgegrabenen Pompeji.

Und endlich bin ich sogar der Ansicht, daß von dem Erscheinen der
Odyssee eine Wirkung auf den heutigen Geist unserer Gesellschaft im
allgemeinen ausgehen wird. Gerade in unserer Zeit, wo durch den
geheimnisvollen Willen der Vorsehung überall ein schmerzlicher Schrei
der Unbefriedigung durch die Welt geht, ein Schrei der Unzufriedenheit
mit allem, was es auf der Welt gibt, mit den Zuständen, mit der Zeit,
wie mit uns selbst, wo allen endlich die Vollkommenheit, bis zu der uns
unser moderner bürgerlicher Geist und die Aufklärung emporgehoben haben,
verdächtig zu werden beginnt, wo sich bei jedem ein unbewußtes Sehnen
fühlbar macht, etwas anderes zu sein, als das, was man ist, ein Sehnen,
das vielleicht aus der edlen Quelle, dem Wunsche, besser zu sein,
entspringt; wo durch die törichten Losungen und durch die übereilte
Verkündigung neuer ganz unklar erfaßter Ideen hindurch sich ein
allgemeines Streben Bahn bricht, sich mehr einer dunkel ersehnten Mitte
zu nähern, das wahre Gesetz unseres Handelns, sowohl das der Massen, wie
das jedes einzelnen zu finden, in einer solchen Zeit muß die Odyssee
durch die patriarchalische Größe des antiken Lebens, durch die
unkomplizierte Einfachheit der das öffentliche Leben bewegenden
Triebfedern, durch die Frische des Lebens, durch die noch durch nichts
abgestumpfte kindliche Heiterkeit des Menschen, ergreifen. Aus der
Odyssee wird unserem neunzehnten Jahrhundert ein starker Vorwurf
entgegentönen, und dieser Vorwurf wird nicht verstummen, je tiefer es in
sie eindringen und je mehr es sich mit ihr vertraut machen wird.

Was kann zum Beispiel einen stärkeren Eindruck machen, als der Vorwurf,
den wir in unserer Seele vernehmen, wenn wir sehen, wie der antike
Mensch, mit seinen geringen Werkzeugen, bei der großen Unvollkommenheit
seiner Religion, die ihm sogar erlaubte, zu stehlen, Rache zu üben,
seine Zuflucht zu List und Tücke zu nehmen, um den Feind zu vernichten,
mit seiner rebellischen, harten, nicht zum Gehorsam neigenden Natur und
seinen schwachen Gesetzen es verstanden hat, durch die bloße Erfüllung
der von den Vorfahren ererbten Sitten und Gebräuche -- die nicht umsonst
von den alten Weisen eingeführt und festgesetzt worden waren, und die
nun auf ihr Gebot wie ein Heiligtum vom Vater auf den Sohn vererbt
wurden, -- wenn wir sehen, wie der Mensch der alten Zeit es verstanden
hat, durch bloße Erfüllung dieser Sitten seinen Handlungen eine gewisse
strenge Form, ein gewisses Ebenmaß, ja sogar eine gewisse Schönheit zu
verleihen, so daß alles an ihm vom Kopf bis zu der Zehe, jedes seiner
Worte, die einfachste Bewegung, ja selbst der Faltenwurf seines Gewandes
Größe und Würde atmete, und daß man in ihm wirklich den göttlichen
Ursprung des Menschen zu ahnen glaubt? Wir dagegen, mit all unseren
gewaltigen Mitteln und Werkzeugen der Vervollkommnung, mit der Erfahrung
aller Jahrhunderte, mit unserer schmiegsamen, gelehrigen Natur, mit
unserer Religion, die uns doch nur zu dem Zweck gegeben ward, damit wir
heilige und göttliche Menschen werden -- wir haben es mit all diesen
Mitteln zu nichts gebracht, als zu einer gewissen inneren, wie äußeren
Unordnung, Disharmonie und Zerfahrenheit, wir wußten nichts aus uns zu
machen, als traurige, halbe, zerstückelte und kleinliche Menschen, vom
Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu unserer Kleidung, und zu alledem sind
wir uns gegenseitig so zuwider geworden, daß keiner den andern mehr
achtet; nicht einmal die tun es, die immer von der allgemeinen
Menschenachtung reden.

Mit einem Wort, die Odyssee wird auf die an ihrer europäischen
Vollkommenheit Leidenden und Krankenden eine starke Wirkung ausüben. Sie
wird sie an vieles Kindlich-Schöne erinnern, das uns leider verloren
gegangen ist, das die Menschheit sich jedoch wiedererobern muß, als ihr
rechtmäßiges Erbe. Viele werden zum Nachdenken über manche Dinge
angeregt werden. Zugleich aber wird vieles aus den alten
patriarchalischen Zeiten, die dem russischen Wesen so nah verwandt sind,
sich unsichtbar über das russische Land verbreiten. Der Wohlgeruch
atmende Mund der Poesie vermag unserer Seele manches einzuhauchen, was
ihr weder mit Gewalt, noch durch die Kraft des Gesetzes eingepflanzt
werden kann.




                                  VIII
       Einige Worte über unsere Kirche und unsere Geistlichkeit.
                 Aus einem Brief an den Grafen A. P. T.


Sie beunruhigen sich unnötigerweise wegen der Angriffe, die heute in
Europa gegen unsere Kirche gerichtet werden. Auch unsere Geistlichkeit
der Gleichgültigkeit anzuklagen, wäre eine Ungerechtigkeit. Warum wollen
Sie, daß unsere Geistlichkeit, die sich bisher durch eine würdige
überlegene Ruhe ausgezeichnet hat, die ihr so wohl anstand, sich unter
die europäischen Schreier mischen und gleich ihnen oberflächliche,
ungenügend durchdachte Broschüren erscheinen lassen soll? Unsere Kirche
hat sehr weise und klug gehandelt. Um sie zu verteidigen, muß man sie
erst selbst kennen gelernt und begriffen haben. Wir aber kennen unsere
Kirche sehr schlecht. Unsere Geistlichkeit sitzt nicht müßig da. Ich
weiß genau, daß im Innern unserer Klöster und in der Stille unserer
Klosterzellen an unwiderleglichen Werken zum Schutz und zur Verteidigung
unserer Kirche gearbeitet wird. Und diese Männer, gerade diese Männer
tun ihre Pflicht und Schuldigkeit weit besser, als wir; sie beeilen sich
nicht, und arbeiten in der Erkenntnis dessen, was ein solcher Gegenstand
erfordert, in tiefer Ruhe an ihrem Werk. Sie schaffen in ständigem Gebet
und in der Arbeit der Selbsterziehung; indem sie alle Leidenschaften und
alles, was einer unstatthaften, sinnlosen Fieberhitze gleichsieht, aus
ihrer Seele austreiben und sie bis zu der Höhe himmlischer
Leidenschaftslosigkeit zu erheben suchen, auf der sie sich erhalten muß,
wenn sie stark genug sein will, um einen solchen Gegenstand zu
behandeln. Aber auch diese Verteidigungsschriften werden noch nicht
genügen, um einen römischen Katholiken vollständig zu überzeugen. Unsere
Kirche muß in uns selbst geheiligt werden und nicht durch unsere Worte.
Wir selbst müssen unsere Kirche werden und durch uns muß ihre Wahrheit
verkündigt werden. Man sagt, daß es unserer Kirche an Lebenskraft fehlt,
aber man spricht die Unwahrheit, denn unsere Kirche ist das Leben.
Freilich ist man ganz logisch und durch einen richtigen Schluß zu diesem
falschen Satz gelangt: -- Wir selbst nämlich sind tot, sind Leichen, und
nicht die Kirche, und nach _uns_ nennt man unsere Kirche einen Leichnam.
Wie sollen wir unsere Kirche verteidigen und was für eine Antwort sollen
wir geben, wenn man uns vor folgende Fragen stellt: »Hat die Kirche euch
denn zu besseren Menschen gemacht? Tut denn jeder bei euch, wie es sich
gehört, seine Pflicht und Schuldigkeit?« Was sollen wir hierauf
antworten, wenn wir es plötzlich tief im Innern fühlen, wenn das
Gewissen es uns sagt, daß wir die ganze Zeit über neben unserer Kirche
hergewandelt, an ihr vorübergegangen sind und sie nicht einmal jetzt
ordentlich kennen? Wir sind im Besitze eines Schatzes von unendlichem
Wert und bemühen uns nicht, uns ein Gefühl dafür zu verschaffen, sondern
wissen nicht einmal, wo wir ihn verwahrt halten. Man bittet den Herrn
des Hauses, er möge doch den kostbarsten Gegenstand vorzeigen, den sein
Haus birgt, und der Herr weiß selbst nicht, wo dieser Gegenstand sich
befindet. Diese Kirche, die sich seit den Zeiten der Apostel allein in
ihrer unberührten ursprünglichen Reinheit erhalten hat, wie eine keusche
Jungfrau, diese Kirche, die mit all ihren tiefen Lehren und ihren
kleinsten äußeren Zeremonien gleichsam unmittelbar um des russischen
Volkes willen vom Himmel herabgestiegen ist, sie, die allein fähig ist,
alle Zweifelsknoten und alle unsere Fragen zu lösen, sie, die angesichts
des ganzen Europa das größte und unerhörteste Wunder zu vollbringen
vermag, indem sie jeden unserer Stände, alle Ämter und Berufe
veranlassen kann, sich in den ihnen gesetzten Grenzen zu halten, ohne
den Staat in irgendeiner Weise umzuwälzen oder zu erschüttern, Rußland
groß und stark zu machen und die ganze Welt durch die wohlgefügte
harmonische Ordnung eines Organismus in Staunen zu setzen, durch den es
bisher nur Schrecken verbreitete, -- diese Kirche ist uns bisher ganz
unbekannt! Diese für das Leben geschaffene Kirche haben wir noch immer
nicht in unserem Leben zur Wahrheit gemacht.

Nein, Gott bewahre uns davor, unsere Kirche jetzt verteidigen zu wollen.
Das hieße sie herabsetzen. Für uns gibt es nur eine Art der Propaganda
-- unser Leben selbst. Durch unser Leben müssen wir unsere Kirche
verteidigen, die durchaus nichts anderes ist, als _Leben_, durch den
reinen Atem unserer Seelen müssen wir ihre Wahrheit verkünden. Mögen die
Missionäre des römischen Katholizismus sich an die Brust schlagen, mit
den Händen fuchteln und die Beredsamkeit ihrer Seufzer und Worte mit
schnell trocknenden Tränen begleiten. Der Verkünder des griechischen
Katholizismus aber soll so vor das Volk treten, daß schon beim bloßen
Anblick seiner demutsvollen Gestalt, der erloschenen Augen und der
ruhigen ergreifenden Stimme, die tief aus der Seele dringt und in der
alle weltlichen Wünsche erstorben sind, alles erschüttert wird, noch ehe
er erklärt hat, worum es sich handelt, und alles wie aus einem Munde zu
ihm spricht: »Du brauchst nichts zu sagen: wir vernehmen, auch ohne daß
du ein Wort redest, die heilige Wahrheit deiner Kirche.«




                                   IX
                       Über denselben Gegenstand
                Aus einem Briefe an den Grafen A. P. T.


Die Ansicht, daß unsere Kirche bei uns so wenig Autorität und Bedeutung
hat, weil unsere Geistlichkeit nicht weltgewandt genug ist und es nicht
versteht, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ist genau so töricht, wie
die Behauptung, unsere Geistlichkeit werde durch die Satzungen unserer
Kirche an jeder Berührung mit dem Leben gehindert und durch die
Regierung in ihrem Handeln beschränkt. Freilich sind unserer
Geistlichkeit bei ihrem Verkehr mit der Welt und mit den Menschen
strenge und wohlberechtigte Schranken gezogen. Glauben Sie mir, es wäre
nicht gut, wenn unsere Geistlichen häufiger mit uns zusammenkämen, an
unseren täglichen Zusammenkünften und Vergnügungen teilnähmen oder sich
in unsere Familienangelegenheiten mischen würden. Der Geistliche ist
vielen Versuchungen ausgesetzt, in weit höherem Maße als wir: er würde
sicher zu all jenen Intrigen im Schoße der Familien kommen, die man
den römisch-katholischen Priestern zum Vorwurf macht. Die
römisch-katholischen Geistlichen sind gerade deshalb so verderbt und
korrumpiert, weil sie zu weltlich geworden sind. Unsere Geistlichkeit
hat zwei Gebiete, auf denen sie sich betätigen kann und auf denen sie
mit uns zusammentrifft: die Beichte und die Predigt. Auf diesen beiden
Gebieten, auf deren erstem sich nur ein- bis zweimal jährlich
Gelegenheit zur Betätigung bietet, während man sich auf dem zweiten
jeden Sonntag treffen kann, läßt sich sehr viel leisten. Und wenn der
Priester es nur verstände, angesichts des vielen Häßlichen und Bösen,
das er im Menschen findet, bis zum richtigen Zeitpunkt zu schweigen und
sich's gründlich zu überlegen, wie er sich ausdrücken, wie er so zu den
Menschen reden solle, daß jedes seiner Worte ihnen tief zu Herzen
dringt, so wird er bei der Beichte und in der Predigt so starke mächtige
Worte dafür finden, wie ihm dies in seinen täglichen Unterhaltungen mit
uns nie gelingen würde. Er muß von einem erhöhten Platz zu dem mitten im
Weltgetriebe stehenden Menschen reden, damit der Mensch den Eindruck
gewinne, daß nicht ein Priester vor ihm stehe, sondern Gott selbst, der
sie alle beide hört, und daß von Seiner unsichtbaren Gegenwart ein Hauch
ausgeht, der beide mit ehrfürchtigem Schaudern erfüllt. Nein, es ist
sogar gut, daß unsere Geistlichkeit sich in einer gewissen Entfernung
von uns hält. Es ist gut, daß sie sich sogar durch ihre Kleidung, die
keinerlei Wandlungen und Launen unserer törichten Mode unterworfen ist,
von uns unterscheidet. Diese Kleidung ist schön, groß und würdig. Das
ist kein sinnloses, aus dem achtzehnten Jahrhundert übernommenes Rokoko,
das ist nicht die aus buntem Flitter zusammengesetzte, nichtssagende
Kleidung der römisch-katholischen Priester. Diese Kleidung hat einen
tiefen Sinn: sie ist ein Abbild, sie gleicht jener Kleidung, die der
_Heiland selbst_ getragen hat. Der Geistliche soll auch in seiner
Kleidung ein ewiges Erinnerungszeichen an _Den_ mit sich führen, dessen
Abbild er für uns sein soll, damit seine Seele sich auch nicht für einen
Augenblick vergessen und in den Genüssen, Zerstreuungen und den
nichtigen weltlichen Sorgen verlieren kann, denn von ihm wird tausendmal
strengere Rechenschaft gefordert werden, als von irgendeinem unter uns;
daher sollen die Geistlichen immer daran erinnert werden, daß sie
gleichsam andre, höhere Menschen sind. Nein, solange der Priester noch
jung ist, solange er das Leben noch nicht kennt, soll er überhaupt nur
bei der Beichte und bei der Predigt mit den Menschen zusammentreffen.
Und wenn er sich schon einmal in eine Unterhaltung mit einem von ihnen
einläßt, so sollen dies nur die Weisesten und Erfahrensten unter ihnen
sein, die ihn die Seele und das Herz des Menschen kennen lehren, und die
ihm das Leben in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Lichte und
nicht in dem Lichte, in dem es einem unerfahrenen Menschen erscheint,
darstellen können. Der Priester muß auch Zeit für sich selbst haben, er
muß an sich selbst arbeiten können. Er muß sich ein Beispiel an unserem
Heiland nehmen, der lange Zeit in der Wüste weilte und erst, nachdem er
sich durch ein vierzigtägiges Fasten darauf vorbereitet hatte, zu den
Menschen hinausging, um ihnen seine Lehre zu bringen. Einzelne kluge
Köpfe sind bei uns auf den Einfall gekommen, man müsse sich in der Welt
herumbewegen, um sie kennen zu lernen. Das ist grundfalsch. Diese
Ansicht wird durch alle Weltleute widerlegt, die sich ihr ganzes Leben
lang in der Welt bewegen und doch die hohlsten und leersten Menschen
sind. Nicht inmitten der Welt selbst wird man für die Welt erzogen,
sondern fernab von ihr in tiefer innerster Selbstbetrachtung, in der
Erforschung der eigenen Seele, denn dort liegen die Gesetze aller Dinge
verborgen: suche zuvor den Schlüssel zu deiner eigenen Seele; hast du
_ihn_ erst gefunden, so wirst du mit diesem Schlüssel auch die Seelen
aller anderen aufschließen.




                                   X
                  Über das Lyrische bei unseren Poeten
                          An W. A. Schukowski


Laß uns von dem Aufsatz sprechen, über den das Todesurteil gefällt ist,
d. h. von dem Aufsatz, der die Überschrift: »_Über das Lyrische bei
unseren Poeten_« trägt. Vor allem: Dank für das Todesurteil! So ward ich
denn bereits zum zweitenmal von dir gerettet, du mein wahrhafter Lehrer
und Erzieher! Schon im vergangenen Jahre hat deine Hand mir Halt
geboten, als ich eben im Begriff war, Pletnjew für seinen »Sowremennik«
meine Betrachtungen über unsere russischen Dichter zu senden; und nun
hast du eine neue Frucht meines Unverstandes der Vernichtung
preisgegeben. Du bist der einzige, der mir noch Einhalt gebietet,
während mich die andern alle anfeuern und ermuntern; weiß ich doch
selbst nicht wozu. Wieviel Torheiten hätte ich schon begangen, wenn ich
nur auf meine andern Freunde gehört hätte! So, da hast du meinen
Dankhymnus: und nun zu dem Aufsatz selbst. Ich werde schamrot, wenn ich
daran denke, wie dumm ich noch immer bin, wie ich so gar nicht verstehe,
von gescheiteren Dingen zu reden. Am törichtesten aber geraten meine
Gedanken und Betrachtungen über die Literaten. Hier kommt alles, was ich
schreibe, besonders geschwollen, dunkel und unverständlich heraus. Ich
bin nicht imstande, meine eigenen Gedanken auszudrücken und
niederzuschreiben, die ich doch nicht nur im Geiste vor mir sehe,
sondern auch mit dem Herzen erahne und erfühle. Der Kern meines
Aufsatzes ist vernünftig und richtig, und doch habe ich mich so
ausgedrückt, daß jeder meiner Ausdrücke zum Widerspruch herausfordert.
Ich muß es noch einmal wiederholen: in der Lyrik unserer Dichter liegt
etwas, was kein Poet einer andern Nation besitzt -- es ist dies jenes
Etwas, das an die Bibel gemahnt, -- jene höhere Art Lyrik, die nichts
gemein hat mit leidenschaftlicher Schwärmerei und nur der sichere
Aufschwung im Lichte des Verstandes, der höchste Triumph geistiger
Nüchternheit ist. Ich will hier nicht einmal von Lomonossow und
Dershawin reden, selbst bei Puschkin tritt einem diese strenge Lyrik
überall da entgegen, wo er einen großen Gegenstand behandelt. Denke nur
an solche Gedichte wie: An einen Kirchenfürsten, der Prophet, oder sogar
an jene geheimnisvolle Flucht aus der Stadt, die erst nach seinem Tode
veröffentlicht wurde. Aber nimm einmal die Gedichte von Jasykow und du
wirst sehen, daß er stets unendlich hoch über die Leidenschaft, ja sogar
über sich selbst hinauswächst, wenn er an etwas Höheres rührt. Ich
möchte hier eines seiner Jugendgedichte »Der Genius« als Beispiel
anführen. Es ist übrigens nicht lang.

   Einst stürmte der Prophet, der hohe,
   Mit Blitz und Donner himmelwärts,
   Und eine mächt'ge Feuerlohe
   Erfüllte da Elisas Herz.

   Es reckte sich sein Geist empor;
   Ein heiliges Gefühl erblühte
   In ihm, der vor Begeistrung glühte,
   Und Gottes Stimme lauscht' sein Ohr.

   So wird der Genius mit Beben
   Sich eigner Größe froh bewußt,
   Sieht er den Bruder aufwärts streben
   Mit Donnerlaut aus Erdendust.

   Und hehrer Wundertat entgegen
   Die Kräfte reifen neu erwacht,
   Und seiner Werke hoher Segen
   Strahlt sternengleich durch Weltennacht.

Welch leuchtende Klarheit und welche strenge, erhabene Größe! Ich suchte
das dadurch zu erklären, daß unsere Dichter jeden großen Gegenstand in
seinem richtigen Zusammenhang mit dem höchsten Quell aller Lyrik, mit
Gott sehen, die einen bewußt, die andern unbewußt, weil die russische
Seele, wie sich das aus dem russischen Wesen selbst ergibt, dies aus
irgendeinem Grunde ganz von selbst fühlt. Ich sagte, daß es vorzüglich
zwei Gegenstände sind, die unsere Dichter zu dieser, der biblischen so
nahestehenden Art der Lyrik begeistert haben. Der erste ist --
_Rußland_. Bei dem bloßen Klang dieses Namens erhellt sich plötzlich das
Auge unseres Poeten, erweitert sich sein Horizont, wird alles um ihn
herum größer und weiter, wächst er selbst gewissermaßen zu höherer Würde
und Größe empor, und erhebt er sich hoch über den gewöhnlichen Menschen.
Das ist mehr als bloße Liebe zum Vaterland. Demgegenüber erschiene die
Vaterlandsliebe fast wie ekle Prahlerei. Ein Beweis dafür sind unsere
Hurrapatrioten. [Ihre übrigens meist ganz aufrichtigen Lobhymnen können
einem Rußland beinahe verleiden.] Wenn dagegen ein Dershawin von Rußland
spricht -- dann fühlt man eine übernatürliche Kraft durch seine Adern
rinnen, man ist gleichsam ganz erfüllt von der Größe Rußlands. Die
Vaterlandsliebe allein hätte -- gar nicht erst zu reden von Dershawin --
nicht einmal einem Jasykow die Kraft dieses großen, feierlichen
Ausdrucks verliehen, der sich jedesmal einstellt, wenn er von Rußland
redet. So zum Beispiel in den folgenden Versen, wo er darstellt, wie
Stephan Batorius gegen Rußland in den Krieg zieht.

   Schon rüstet Stephan sich zur Schlacht,
   Schon eilt er, seine ganze Macht
   Zu einer Heerschar zu verdichten,
   Um, wenn er Pskow den Tod gebracht,
   Rußland für immer zu vernichten!
   Doch du, o heil'ges Vaterland,
   Du hehre Liebe unsrer Ahnen,
   Du riss'st das Schwert aus seiner Hand.
   Nicht siegten diesmal seine Fahnen.

Diese nüchterne, ruhige Heldenkraft, die sich zuweilen sogar
unwillkürlich mit einer prophetischen Verherrlichung Rußlands verbindet,
entspringt daraus, daß der Gedanke unbewußt an die höchste Vorsehung
rührt, deren Walten so deutlich in den Schicksalen unseres Vaterlandes
zum Ausdruck kommt. -- Außer der Liebe aber ist hieran auch noch das
tiefe, innere Entsetzen über die Vorgänge beteiligt, die sich durch
Gottes Willen auf jenem Stück Erde abspielen sollten, jenem Stück Erde,
das dazu bestimmt war, unser Vaterland zu werden, sowie die Vorahnung
eines neuen, herrlichen Baus, der sich, zunächst noch nicht für alle
sichtbar, errichtet, dessen Wachsen nur der Dichter mit dem scharfen Ohr
der Poesie, das alles hört, oder ein solcher Seelenkenner, der schon im
_Samen_ die künftige Frucht erkennt, zu vernehmen vermag. Heute beginnen
allmählich auch die andern Menschen etwas davon zu erkennen, aber sie
drücken sich so unklar aus, daß ihre Worte Torheit zu sein scheinen. Du
hast unrecht, wenn du annimmst, daß die heutige Jugend, wenn sie vom
Slawentum träumt und prophetisch von Rußlands Zukunft spricht, einer
Modeströmung folgt. Sie verstehen es nicht, ihre Gedanken in ihren
Köpfen ausreifen zu lassen, und beeilen sich, sie der Welt zu verkünden,
ohne zu bemerken, daß ihre Gedanken noch törichte Kinder sind -- das ist
alles. Auch bei den Juden lehrten gleichzeitig vierhundert Propheten:
von diesen war gewöhnlich nur einer der Gesandte Gottes, dessen Reden in
das heilige Buch des jüdischen Volkes eingetragen wurden; alle andern
werden viel Unnützes und Überflüssiges zusammengeredet haben, trotzdem
aber haben wohl auch sie dunkel und unklar dasselbe vernommen, was die
Auserwählten klar und verständig auszusprechen wußten; sonst hätte das
Volk sie sicherlich gesteinigt. Warum sind denn weder Frankreich, noch
England, noch Deutschland von dieser Strömung ergriffen und prophezeien
und künden nicht von sich selbst, warum tut dies Rußland allein? Nun,
weil Rußland es deutlicher fühlt, wie Gottes Hand auf allem ruht, an
allem teilhat, was sich mit unserem Lande zuträgt, und weil es ein neues
Reich herannahen fühlt. Daher die biblischen Töne bei unseren Dichtern.
Daher kann solches bei den Dichtern anderer Nationen nicht vorkommen,
und wenn sie ihr Vaterland noch so innig lieben und dieser Liebe einen
noch so glühenden Ausdruck zu geben vermögen. Und hier darfst du nicht
mit mir streiten, mein herrlicher Freund.

Doch laß uns nun zu dem andern Gegenstande übergehen, an dem sich die
Lyrik unserer Dichter gleichfalls zu jenem hohen, lyrischen Schwunge
erhebt, von dem hier die Rede ist: laß uns der Liebe zum Zaren gedenken.
Die zahlreichen Hymnen und Oden auf unsere Zaren haben unserer Poesie
schon seit den Zeiten Lomonossows und Dershawins jene erhabene,
königliche Note verliehen. Daß diese Gefühle aufrichtig sind, darüber
brauchen wir wohl nicht erst zu sprechen. Nur Geister von kleinlichem,
nörgelndem Witz, der nur karger, blitzartiger, oberflächlicher Gedanken
und Erwägungen fähig ist, werden dahinter nichts wie Schmeichelei und
den Wunsch, einen Vorteil für sich herauszuschlagen, suchen, und werden
diese Behauptung auf ein paar unbedeutende und schlechte Oden jener
Dichter gründen. Der dagegen, der nicht nur geistreich, der mehr ist,
der Einsicht und Weisheit besitzt, wird bei jenen Oden Dershawins
verweilen, in denen er den weiten Kreis nützlicher, wohltätiger
Wirksamkeit vor dem Herrscher beschreibt, und wo der Dichter selbst mit
Tränen in den Augen zu ihm von den Tränen spricht, die den Augen --
nicht nur der Russen -- nein auch gefühlloser Wilden, die an den
äußersten Enden seines Reiches wohnen, entströmen würden bei der bloßen
Berührung mit der Milde und Liebe, die nur die allmächtige Hand des
Herrschers ihrem Volke erweisen kann. Hier ist vieles zu so gewaltigem
Ausdruck emporgehoben, daß selbst, wenn sich einmal ein Herrscher finden
sollte, der für eine Zeitlang seine Pflicht vergäße, er sich beim Lesen
dieser Zeilen unfehlbar wieder seiner Schuldigkeit erinnern und von
tiefer Rührung über die Heiligkeit seines Amtes ergriffen werden würde.
Nur kaltherzige Menschen werden Dershawin wegen seiner übermäßigen
Verherrlichung Katharinas tadeln; der dagegen, der keinen Stein an
Stelle des Herzens hat, der wird die herrlichen Strophen nicht ohne
Rührung lesen, in denen der Dichter davon spricht, daß, wenn seine
Gestalt in Marmor gehauen auf die Nachwelt kommen sollte, dies nur
deshalb geschehen werde,

   Weil ich die Kaiserin besang,
   Der Reußen Zarin, welcher keine
   Je gleichkommt auf der weiten Welt.
   Des rühme, rühm' dich, meine Leier.

Auch die folgenden, kurz vor dem Tode geschriebenen Verse wird er kaum
ohne aufrichtige seelische Erschütterung lesen:

   Schlaf sank auf Katharinens Muse nieder;
   Das Alter raubte mir die Lieder.
   -- -- -- -- -- -- -- -- ... Bald
   Ertönt der andern Lied, wenn meins verhallt,
   Und meiner Hand entsinkt die Leier;
   In andern glühe nun das Feuer,
   Mit dem drei Zaren einst mein Sang
   Zu Ruhm und Preis erklang.

Der Greis, der mit einem Fuß im Grabe steht, wird nicht lügen. Während
seines ganzen Lebens hat er diese Liebe wie ein Heiligtum in sich gehegt
und so hat er sie mit sich ins Grab genommen und ist er ihr auch bis
übers Grab treu geblieben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht.
Woher stammt diese Liebe? Das ist hier die Frage. Daß sie im ganzen
Volke, in einem dunkeln Instinkt seines Herzens lebt, und daher auch der
Dichter, als der reinste Spiegel seines Volkes, sie laut in sich
vernehmen mußte, das erklärt nur die eine Hälfte des Problems. Der
ganze, der vollkommene Dichter gibt sich nie an eine Sache hin, ohne
sich vorher Rechenschaft über sie abgelegt und ohne sich überzeugt zu
haben, daß sie vor der Weisheit und vor dem hellen Lichte seiner
Vernunft bestehen kann. Er, der im Besitz eines Ohres ist, das die
kommenden Dinge und Ereignisse vernimmt, und der von dem Streben beseelt
wird, die Dinge, die die andern nur stückweise, von einer einzigen, oder
etwa bloß von zwei Seiten und nicht von allen vier Seiten sehen, in
ihrer ganzen Vollkommenheit und Vollständigkeit nachzuschaffen, er
konnte nicht anders, als die Kulmination in der Entwicklung und dem
Reifen dieser Herrschergewalt voraussehen. Mit welcher Weisheit hat
Puschkin die Bedeutung des unumschränkten Monarchen gekennzeichnet! Wie
klug war überhaupt alles, was er während seiner letzten Lebensjahre
gesagt hat: »Warum,« so pflegte er zu sagen, »warum muß einer von uns
höher als alle, ja selbst noch über dem Gesetze stehen? Darum, weil das
Gesetz ein Stück Holz ist; weil der Mensch bei dem Worte Gesetz etwas
Kaltes, Hartes empfindet, etwas, dem das Herzliche, Brüderliche fehlt.
Mit der buchstäblichen Erfüllung des Gesetzes allein kommt man nicht
weit; und doch darf keiner von uns es verletzen oder umgehen; dazu
bedarf es eben der höchsten Gnade, die das Gesetz mildert, und die sich
für den Menschen lediglich in der unumschränkten Gewalt verkörpern kann.
Ein Staat ohne souveränen Monarchen ist ein Automat: es ist schon viel,
wenn er es so weit bringt, wie die Vereinigten Staaten. Und was sind die
Vereinigten Staaten? Etwas Totes, Abgestorbenes. Die Menschen dort sind
so hohl und so leer geworden, daß sie keinen Pfifferling mehr wert sind.
Ein Staat ohne souveränen Monarchen gleicht einem Orchester ohne
Kapellmeister: die einzelnen Musiker mögen noch so tüchtig sein; wenn es
an einem Manne fehlt, der das Ganze mit einer Bewegung des Taktstockes
lenkt und im rechten Augenblick das Zeichen gibt, dann wird nie ein
gutes Konzert zustande kommen. [Er scheint zwar selbst gar nichts zu
tun, er spielt auf keinem Instrument, sondern bewegt nur sein Stöckchen
kaum merklich hin und her, und hält Überschau über alle Musiker, und
doch genügt ein Blick von ihm, um hier oder dort den rauhen, häßlichen
Ton einer täppischen Trommel oder einer plumpen Pauke zu mildern.] In
seiner Gegenwart wagt es selbst des Meisters Geige nicht, sich allzu
frei gehen zu lassen und die andern zu übertönen; er wacht über der
allgemeinen Ordnung, er belebt alles, er, der Herr und Stifter höchster
Eintracht und Harmonie!« Welch tiefes Verständnis besaß er für die
großen, ewigen Wahrheiten!

Dieses innere Wesen, diese Macht des selbstherrlichen Monarchen hat er
ja auch, wenigstens zum Teil in einem seiner Gedichte zum Ausdruck
gebracht, das du übrigens selbst unter seinen nachgelassenen Werken
abgedruckt hast. Du hast sogar Korrekturen daran vorgenommen und die
Form verbessert; allein du hast den Sinn nicht verstanden. Ich will dir
hier des Rätsels Lösung geben. Ich meine die Ode an den Kaiser Nikolaus,
die unter dem bescheidenen Titel An N*** erschienen ist. Ihr Ursprung
ist folgender: Im Anitschkowpalast fand eine Abendgesellschaft statt,
eine von jenen Gesellschaften, zu denen, wie bekannt, nur wenige
Auserwählte aus unserer Gesellschaft eingeladen wurden; unter ihnen
befand sich an jenem Abend auch Puschkin. Alle Gäste waren bereits in
den Sälen versammelt; nur der Kaiser wollte lange Zeit nicht erscheinen.
Er hatte sich in den andern Flügel des Schlosses zurückgezogen, die
erste freie Minute, während der ihn kein Geschäft rief, benutzt, die
Ilias aufgeschlagen und sich ganz unmerklich tief in die Lektüre
versenkt, während im Saale schon längst die Musik schmetterte und die
Tänze hin und her wogten. Er erschien erst ziemlich spät beim Ball,
während auf seinem Gesicht noch die Spuren anderer Eindrücke
nachzitterten. Dieses Sichkreuzen zweier widerspruchsvoller Stimmungen
wurde von keinem beachtet; auf Puschkins Seele aber machte es einen
tiefen Eindruck; die Frucht dieses Eindrucks war folgende grandiose Ode,
die ich hier noch einmal anführen will. Sie hat nur eine einzige
Strophe:

   Lang hieltest Zwiesprach' du mit dem Homer allein,
   Lang harrten wir auf dein Erscheinen,
   Und aus der Ätherhöh' stiegst du im Strahlenschein,
   Durch das Gesetz uns zu vereinen.
   Doch in der Wüste fandst du uns. Entgegen scholl
   Dir gotteslästerliches Singen
   Beim wüsten Zechgelag', du sahst uns blind und toll
   Um unsern neuen Götzen springen.
   Und wir erschraken, da den Gram und Grimm wir sahen
   In deinem Blick voll Hoheitsschimmer;
   Und da verfluchtest du den kindisch blöden Wahn,
   Schlugst deine Tafeln jäh in Trümmer.
   Doch nein, du fluchtest nicht! ... Aus Höhen wolkenfern
   Stiegst du ins Tal, das wolkenlose.
   Du liebst des Donners Hall, doch lauschest du auch gern
   Dem Bienensummen um die Rose.

                                                            (Fiedler.)

Aber lassen wir die Person Nikolaus' II. beiseite und sehen wir zu, was
der Monarch im allgemeinen als Gesalbter Gottes bedeutet, er, der die
Pflicht hat, das ihm anvertraute Volk dem Lichte entgegenzuführen, in
dem Gott wohnt, und laß uns zusehen, ob Puschkin recht hatte, ihn mit
dem alten Freunde Gottes, mit Moses zu vergleichen? Der Mensch, auf
dessen Schultern das Schicksal von Millionen seiner Brüder gelegt ist,
der durch die furchtbare Verantwortlichkeit für sie, die er Gott
gegenüber auf sich genommen hat, von jeder Verantwortlichkeit vor den
Menschen befreit ist, der unter der Furchtbarkeit dieser Verantwortung
leidet und vielleicht im stillen solche Tränen vergießt und so
schmerzliche Qualen erduldet, wie sie sich ein tief unten stehender
Mensch nicht einmal vorzustellen vermag, dem inmitten aller
Sinnengenüsse und Zerstreuungen die ewige, nie verstummende Stimme
Gottes in den Ohren klingt, die unaufhörlich mahnend zu ihm spricht, der
darf wohl mit Recht dem alten Gottesfreund Moses verglichen werden, der
darf, wie er, seine Tafeln in Trümmer schlagen und das leichtsinnige,
gaukelnde Menschengeschlecht verfluchen, das, statt danach zu streben,
wonach alles, was auf dieser Erde lebt, streben sollte, unruhig und
eitel um seine von ihm selbst geschaffenen Götzen springt. Aber was
Puschkin so tief bewegte, das war neben allem andern jene höchste
Bedeutung der Herrschergewalt, die sich die Ohnmacht und Schwäche der
Menschheit vom Himmel herabgefleht hat; und dies Flehen war kein Schrei
nach der ewigen Gerechtigkeit, vor der kein Mensch dieser Erde zu
bestehen vermöchte, es war ein Schrei nach der himmlischen, göttlichen
Liebe, die alles zu vergeben vermag: unsere Pflichtvergessenheit, unser
ungeduldiges Murren und unsere Unzufriedenheit, mit einem Wort alles,
was ein Erdenmensch nicht verzeihen kann; auf daß ein einziger alle
Macht in seiner Person vereinigte, sich von uns allen entfernte und sich
über alles Irdische erhob, um sich gerade dadurch allen um so mehr zu
nähern, allen gleich zu werden, von seiner Höhe zu uns allen
herabzusteigen und allem verständnisvoll zu lauschen: vom Donner des
Himmels und der Lyra des Dichters bis herab zu unseren unscheinbarsten
Freuden und Vergnügungen.

Es hat den Anschein, als sei Puschkin in diesem Gedicht, nachdem er sich
selbst die Frage gestellt hatte, was denn diese Macht eigentlich sei,
vor der Größe und Erhabenheit der sich seinem Geiste aufdrängenden
Antwort in den Staub gesunken. Es ist gut, hierbei im Auge zu behalten,
daß das derselbe Dichter ist, der so ungeheuer stolz auf die
Unabhängigkeit seines Geistes und auf seine persönliche Würde war.
Niemand hat so gesungen wie er:

   Ein Denkmal hab' ich mir errichtet ohnegleichen;
   Zu diesem Geisterbau bewächst nie Gras den Pfad,
   Trutzhäuptig überragt es selbst die Ruhmeszeichen,
   Die sich Napoleon errichtet hat[2].

                                                       (Nach Fiedler.)

[Fußnote 2: Im Original heißt es: »Die Kaiser Alexander hat.« Schukowski
hat wohl aus Zensurrücksichten Alexander in Napoleon umgeändert. Anm.
des Herausg.]

An den »Ruhmeszeichen Napoleons« bist freilich du schuld, aber selbst
wenn diese Zeile in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten geblieben
wäre, sie wäre dennoch ein Beweis, ja ein zwingender Beweis dafür, daß
Puschkin, trotzdem er sich persönlich, als Mensch, vielen gekrönten
Häuptern überlegen fühlte, doch tief im Innern empfand, wie klein und
gering sein Beruf im Vergleich mit dem eines gekrönten Königs war, und
daß er es verstand, sich ehrfürchtig vor denen unter ihnen zu beugen,
die der Welt die ganze Größe und Erhabenheit ihres Amtes vor Augen
geführt haben.

Unsere Dichter haben die hohe Bestimmung des Monarchen durchschaut,
indem sie erkannten, daß sie unweigerlich zuletzt ganz in der reinsten
_Liebe_ aufgehen, und daß es so allen offenbar werden müsse, warum der
Kaiser das Ebenbild Gottes ist, wie dies unser ganzes Land vorerst nur
instinktiv fühlt. Diese Bedeutung des Herrschers wird allmählich auch in
Europa in derselben Weise zum Ausdruck kommen. Alles zielt darauf hin,
in den Fürsten diese höchste göttliche Liebe zu ihrem Volk zu erwecken.
Schon vernimmt man den Schrei der Seelennot, an der die ganze Menschheit
und beinahe jedes moderne europäische Volk leidet; die Bedauernswerten
winden sich alle in ihrem Schmerz und wissen sich selbst nicht zu
helfen: jede äußere Berührung ist ihren schmerzenden Wunden eine Pein;
jedes Mittel, jede Hilfe, die der Verstand ersinnt, erscheint ihnen rauh
und qualvoll und bringt keine Heilung. Dieser Schrei wird schließlich so
laut werden, daß selbst das gefühlloseste Herz vor Mitgefühl zerspringen
wird, und ein tiefes Mitleid von einer bisher noch nicht gekannten
Stärke wird die ganze Kraft einer andern, neuen Liebe wachrufen, wie sie
bisher nicht ihresgleichen hatte. Dann wird der Mensch von Liebe zu
allem, was menschlich ist, entbrennen -- von einer gewaltigen Liebe, wie
er noch nie von einer gleichen ergriffen war. Von uns gewöhnlichen
Menschen aber wird keiner die ganze Kraft dieser Liebe in sich
verwirklichen können, sie wird eine Idee, ein Gedanke bleiben und nie
ganz zur Tat werden; nur die können völlig von ihr durchdrungen werden,
denen das ewige unwandelbare Gesetz auferlegt ward, alle Menschen zu
lieben, wie wenn sie ein einziger Mensch wären. Wenn so der Fürst von
Liebe für jeden Menschen seines Reichs, für jeden Beruf und Stand
ergriffen werden, und alles, was da lebt, gleichsam zu seinem eigenen
Fleisch und Blut machen wird, wenn er in seinem Herzen mit allen leiden,
Tag und Nacht um sein leidendes Volk trauern und klagen und für es beten
wird, dann wird im Fürsten jene allmächtige Stimme der Liebe lebendig
werden, die der leidenden Menschheit allein verständlich ist, die ihre
Wunden nicht schmerzlich berühren wird und die allein allen Ständen
Frieden und Versöhnung bringen und den Staat in einen wohlgeordneten
Chor harmonisch zusammenklingender Stimmen verwandeln kann. Nur da wird
ein Volk ganz gesunden, wo der Monarch seine hohe Bestimmung erkennen
wird -- ein Abbild Dessen auf Erden zu sein, Der selbst die Liebe ist.
In Europa ist es niemand in den Sinn gekommen, die höchste Bedeutung,
die höchste Aufgabe des Monarchen zu ergründen. Die Staatsmänner, die
Gesetzeskundigen und Rechtsgelehrten haben immer nur die eine Seite der
Sache in Betracht gezogen, nämlich die, daß der Monarch der höchste
Beamte des Staates ist, [der von Menschen eingesetzt ward], und daher
wissen sie auch nicht, wie sie sich zu dieser Institution verhalten
sollen, [wie sie ihre wahren Grenzen bestimmen sollen], wenn die sich
täglich ändernden Umstände es notwendig machen, ihre Kompetenzen zu
erweitern oder zu beschränken; dadurch aber wird dort der Fürst seinem
Volk und umgekehrt das Volk seinem Fürsten gegenüber in eine sonderbare
Lage versetzt; beide betrachten sich gegenseitig beinahe wie zwei
Gegner, von denen jeder die Macht auf Kosten des andern an sich reißen
will. Bei uns aber haben die Dichter und nicht die Rechtsgelehrten die
höchste Bestimmung des Monarchen erkannt; -- die Dichter haben Gottes
Willen mit ehrfürchtigem Zittern vernommen, sie, d. h. die monarchische
Gewalt in Rußland in ihrer wahren Gestalt zu begründen, daher nehmen
ihre Töne einen biblischen Charakter an, sobald ihr Mund das Wort »Zar«
ausspricht. Das erkennen bei uns auch die, die keine Dichter sind, weil
jede Seite unserer Geschichte zu deutlich von dem Willen der Vorsehung
spricht: diese monarchische Gewalt in Rußland in ihrer höchsten und
vollkommensten Gestalt zu begründen. Alle Ereignisse, die sich von der
Invasion der Tataren ab in unserem Vaterlande abgespielt haben, zielen
deutlich darauf hin, alle Macht in der Hand eines einzigen zu
vereinigen, um diesen einen zu jener berühmten Umwälzung des ganzen
Staats zu befähigen, ihm die Kraft zu verleihen, alle aufs tiefste zu
erschüttern, alle aufzurütteln, jeden von uns mit jener höheren
Selbsterkenntnis auszurüsten, ohne die der Mensch sich selbst nicht
verstehen, sich nicht selbst das Urteil sprechen, und nicht den Kampf
gegen Unwissenheit und Finsternis in sich selbst aufnehmen kann, wie ihn
der Herrscher in seinem Reiche aufgenommen hat; auf daß nachher, wenn
jeder von dieser heiligen Kampfbegeisterung erfaßt und alles sich seiner
Kraft bewußt ist, der Einzige wiederum allen voran und die Leuchte in
der Hand voraustragend, sein ganzes von _einem_ Geiste beseeltes Volk
mit sich reißen und jenem höchsten Lichte entgegenführen könne, nach dem
sich Rußland so innerlich sehnt. Und sieh nur, durch welche wunderbare
Fügung bereits die Saat der Liebe in die Herzen gesenkt ward, noch ehe
sich dem Herrscher selbst und seinen Untertanen die volle Bedeutung
dieser monarchischen Gewalt enthüllen konnte. Kein königliches
Geschlecht darf sich eines ähnlichen Ursprungs rühmen, wie das der
Romanows. Schon dieser ihr Ursprung ist ein hohes Werk der Liebe. Der
letzte und geringste der Untertanen des Reichs hat sein Leben hingegeben
und hingeopfert, um uns einen Zaren zu schenken, und mit diesem reinen
Opfer ein unzerreißbares Band zwischen dem Herrscher und seinem Volk
gestiftet. Die Liebe ist uns in Fleisch und Blut übergegangen und hat
eine tiefe Blutsverwandtschaft zwischen uns allen und dem Zaren erzeugt.
[Und so haben sich Herrscher und Untertanen miteinander verschmolzen und
sind so sehr eins geworden, daß es uns allen heute als ein großes
Unglück erscheinen würde, wenn der Fürst seinen Untertan vergessen und
sich von ihm abwenden oder der Untertan seinen Herrscher vergessen und
sich von ihm lossagen wollte.] Wie deutlich kommt der Wille Gottes
gerade in dieser Wahl der Romanows und keines andern Fürstengeschlechts
zum Ausdruck! Wie unbegreiflich ist diese Erhebung eines ganz
unbekannten Jünglings auf den Thron, wo doch Männer aus den ältesten
Adelsgeschlechtern und noch dazu verdienstvolle Männer, die ihr
Vaterland gerettet hatten: ein Poscharski, ein Trubetzkoi oder endlich
eine Reihe von Fürsten, die in direkter Linie von Rjurik abstammten,
daneben standen. Und doch wurden sie bei der Wahl übergangen, und es
erhob sich keine Stimme des Protestes: auch nicht _einer_ wagte es,
seine Rechte geltend zu machen! Und solches geschah in jener finsteren
Zeit der Wirren, wo jeder Streit und Unruhe stiften und Scharen von
Anhängern um sich sammeln konnte. Und wer wurde erwählt? Einer, der in
weiblicher Linie ein Verwandter jenes Zaren war, der noch vor kurzem die
Erde in Schrecken gesetzt hatte, [so daß nicht nur unter den Bojaren,
denen er nachgestellt und die er verfolgt hatte, sondern auch im Volk,
das kaum etwas von ihm zu leiden gehabt hatte, noch lange das Sprichwort
im Schwange blieb: »Der Kopf war gut, gottlob, daß er in der Erde
ruht.«] Und trotz alledem beschlossen alle, von den Bojaren bis zum
letzten Habenichts herab einstimmig, daß der Thron ihm gehören solle.
Solche Dinge geschehen bei uns! Wie kannst du da glauben, daß die Lyrik
unserer Dichter, die doch die wahre ganze Bedeutung des Königs aus den
Büchern des Alten Testaments kennen und die den Willen Gottes in allen
Ereignissen, die unser Vaterland betrafen, sich so deutlich äußern sehen
konnten -- wie kannst du glauben, daß die Lyrik unserer Dichter nicht
voller biblischer Anklänge sei? Ich wiederhole, die einfache Liebe hätte
nicht genügt, ihren Tönen eine so nüchterne Strenge zu verleihen: dazu
bedarf es einer vollen und festen, aus der Vernunft stammenden
Überzeugung, und nicht allein eines dunklen, unbewußten Liebesgefühls;
sonst müßten ihre Töne Weichheit und Zartheit atmen, wie bei dir in
deinen frühen Jugendwerken, als du dich noch ganz dem Gefühl deiner
liebenden Seele hingabst. Nein, es ist etwas Starkes, Hartes, ja fast zu
Starkes in unseren Dichtern, was die Dichter anderer Nationen nicht
besitzen. Wenn du das nicht fühlst, so beweist dies noch nicht, daß es
überhaupt nicht vorhanden ist. Du mußt doch berücksichtigen, daß du ja
nicht alle Züge des russischen Wesens in dir vereinst, vielmehr haben
sich viele Züge in dir bis zu einer solchen Höhe und so stark in die
Breite entwickelt, daß sie den andern keinen Raum zum Wachstum ließen,
und so stellst du eigentlich eine Ausnahme von jenem allgemeinen
russischen Charakter dar. In dir haben sich alle jene weichen und zarten
Seiten unseres slawischen Wesens vereinigt, jene starken und satten Züge
dagegen, bei denen den ganzen Menschen etwas wie ein Schauder und
Schrecken überläuft, sind dir unbekannt. Sie aber sind gerade der Quell
und Ursprung jener Lyrik, von der hier die Rede ist. Diese Lyrik vermag
sich für nichts mehr zu begeistern, als für ihren höchsten Quell, d. h.
für Gott allein. Sie hat etwas Strenges und Furchtsames und liebt die
vielen Worte nicht: sie widert alles auf dieser Erde an, wenn es nicht
den Abdruck des Göttlichen an sich trägt. Wer nur ein Fünkchen von
dieser lyrischen Stimmung besitzt, der besitzt trotz aller
Unvollkommenheiten und Fehler etwas von jenem strengen hohen Seelenadel,
vor dem er selbst ehrfürchtig erbebt und der ihn alles fliehen läßt, was
einem Dank oder einer Anerkennung von seiten der Menschen ähnlich sieht.
Seine eigene edelste Tat erregt ihm Abscheu und Ekel, wenn sie ihm einen
Lohn einträgt, denn er fühlt zu gut, daß das Höchste über jeden Lohn
erhaben sein sollte. [Erst nach Puschkins Tode hat man Näheres über
seine wahren Beziehungen zum Zaren erfahren und ist das Geheimnis, das
zwei seiner schönsten Gedichte umgibt, gelüftet worden. Er hat bei
Lebzeiten nie mit jemand von den Gefühlen gesprochen, die ihn erfüllten,
und er hat klug daran getan. Da man bei uns in Rußland nach dem vielen
kalten und lauten Zeitungsgerede im Stil jener Reklameartikel, in denen
man Pomaden usw. anpreist, und nach all den heftigen ungezogenen und
zornigen Ausfällen aller möglicher Hurra- und anderer Patrioten ganz
aufgehört hatte, an die Aufrichtigkeit gedruckter Äußerungen zu glauben
-- war es für Puschkin gefährlich, offen hervorzutreten: man hätte ihm
am allerehesten den Vorwurf der Bestechlichkeit gemacht und ihn
verdächtigt, daß er sich von Habgier und von einem selbstsüchtigen
Interesse leiten lasse. Nun aber, wo diese Dichtungen erst nach seinem
Tode erscheinen, wird sich wohl kaum ein Mensch in ganz Rußland finden,
der es wagt, Puschkin einen Schmeichler zu nennen, der nach der Gunst
irgendeines Menschen gestrebt habe. Hierdurch ward das Heiligtum eines
hohen reinen Gefühls gerettet. Jetzt wird jeder, auch der nicht fähig
ist, mit seinem eigenen Verstande in das Wesen der Sache einzudringen,
doch an sie glauben und Vertrauen zu ihr haben, denn er wird sich sagen:
»wenn selbst Puschkin so gedacht hat, so ist das sicherlich die
lauterste Wahrheit.«] Die königlichen Hymnen unserer Dichter haben
selbst Ausländer durch ihre erhabene Form und ihren hohen Stil in
Staunen gesetzt. Erst vor kurzem hat Mickiewicz in seinen Vorlesungen
darüber zu den Parisern gesprochen und er hat dies in einem Augenblick
ausgesprochen, als er selbst gereizt und erbittert gegen uns und ganz
Paris über uns empört war. Trotzdem aber hat er feierlich erklärt, daß
in den Oden und Hymnen unserer Dichter nichts Sklavisches und Gemeines,
sondern eher etwas Freies und Erhabenes liege, und unmittelbar danach
hat er, obwohl dies keinem seiner Landsleute gefallen wollte, seine
Ehrfurcht vor dem vornehmen edlen Charakter unserer Schriftsteller
ausgesprochen. Mickiewicz hat recht. Unsere Schriftsteller tragen
wirklich die Züge einer höheren Natur. In Augenblicken klarsten
Bewußtseins, höchster Selbsterkenntnis haben sie uns oft ihre
geistigen Porträts hinterlassen, die freilich den Eindruck einer
Selbstverherrlichung machen würden, wenn nicht das ganze Leben des
Dichters eine Bestätigung ihrer Treue wäre. Indem Puschkin an seine
Zukunft denkt, sagt er

   Und meinem Volke bleib' ich lange lieb und teuer,
   Weil ich in ihm den Trieb zum Guten stets entflammt,
   In grauser Zeit durchglüht sein Herz mit Freiheitsfeuer
   Und den Gefallnen nie verdammt.

                                                            (Fiedler.)

Man braucht nur an Puschkin zu denken, um sofort zu erkennen, wie treu
dies Porträt ist. [Wie lebhaft konnte er werden, wie konnte er sich
begeistern, wenn es sich darum handelte, das Los eines armen Verbannten
zu mildern oder einem Gefallenen die Hand zu reichen. Wie ungeduldig
wartete er auf den Augenblick, wo der Zar ihm gnädig gestimmt war --
nicht etwa, um sich selbst in Erinnerung und Empfehlung zu bringen --
nein, um ein Wort für einen Unglücklichen oder Gefallenen einzulegen.
Ein echt russischer Zug.] Denke nur an jenes rührende Schauspiel, wenn
das ganze Volk zu den Verbannten kommt, die die Reise nach Sibirien
antreten, und wenn jeder etwas von seiner Habe mitbringt! der eine
Speise und Trank, der andere etwas Geld, ein dritter ein christlich
mildes Trostwort. Da gibt es nichts von Haß gegen den Verbrecher, auch
nichts von jener Donquichotterie, die aus ihm einen Helden machen will,
sich seine Unterschrift oder ein Bild von ihm zu verschaffen sucht, oder
ihn neugierig anstarrt, wie dies wohl im aufgeklärten Europa vorkommt.
Dies ist etwas Größeres: es ist auch nicht der Wunsch, ihn zu
entschuldigen oder der Hand der Gerechtigkeit zu entreißen; es ist der
Wunsch, seinen sinkenden Mut zu heben, ihn zu trösten, wie ein Bruder
den Bruder tröstet, wie Christus uns gelehrt hat, einander zu trösten.

Puschkin hatte eine sehr hohe Meinung von dieser Neigung, den Gefallenen
wieder zu erheben. Daher pochte auch sein Herz so stolz und stürmisch,
als er davon hörte, daß der Monarch nach Moskau kommen wolle, während
dort die Cholera wütete. -- Eine Regung wie diese hatte wohl noch kein
Monarch gezeigt; und so konnte sie der Anlaß zu jenen wundervollen
Versen werden:

   Beim Himmel, wer so kalt und fest
   Dem schwarzen Tode kann begegnen
   Um andrer willen, ist ein Held.
   Ihn wird der Himmel ewig segnen,
   Wie auch der Spruch der blinden Welt
   Mag lauten ....

                                                            (Fiedler.)

Und in der gleichen Weise hat er einen andern Zug aus dem Leben eines
anderen Monarchen: Peters des Großen, verherrlicht. Denke an das
Gedicht: »_Das Fest an der Newa_«, wo er erstaunt fragt, was wohl der
Anlaß zu jenem ungewöhnlichen lauten Jubel, jener Feier im Hause des
Zaren sein mag, von der ganz Petersburg und die ganze Newa widerhallt,
die vom Kanonendonner erschüttert wird. Er zählt alle Ereignisse auf,
die das Herz des Zaren erfreut haben mögen und der Anlaß zu diesem
großen Jubelfeste sein könnten; er fragt sich: ist dem Zaren ein
Thronerbe geboren, feiert die Zarin, seine Gemahlin, ihren Geburtstag,
triumphiert der Zar über einen unbesiegbaren Feind, oder ist die Flotte,
für die der Zar eine besondere Leidenschaft hatte, im Hafen eingelaufen?
Und er antwortet auf alle diese Fragen:

   Weil zum Feind er stieg hernieder
   Und begrub uralten Groll,
   Schäumen Becher, tönen Lieder,
   Ist der Zar so freudenvoll,
   Herrschet Jubel in den Hallen,
   Rauscht das Fest am Newastrand.
   Und Kanonenschüsse schallen
   Donnernd durch das weite Land.

Puschkin allein konnte die ganze Schönheit einer solchen Handlung
empfinden. Seinem Untertan nicht nur vergeben können, sondern diese Tat,
diesen Akt der Vergebung auch noch feiern, wie den Sieg über einen Feind
-- das ist ein wahrhaft göttlicher Zug. Nur im Himmel ist man solcher
Handlungen fähig. Nur dort ist mehr Freude über die Reue eines Sünders
als über einen Gerechten und alle unsichtbaren himmlischen Heerscharen
nehmen an dem himmlischen Festmahle Gottes teil. Puschkin war ein Kenner
alles Großen im Menschen, für das er ein tiefes Verständnis hatte, und
wie hätte es auch anders sein können, wenn die innere Vornehmheit ein
charakteristischer Zug fast aller unserer Schriftsteller ist? Es ist
höchst merkwürdig, daß die Schriftsteller in allen anderen Ländern wegen
ihres persönlichen Charakters nicht die volle Achtung der Gesellschaft
genießen. Bei uns ist es gerade umgekehrt. Bei uns wird selbst ein
Mensch, der kein Schriftsteller, sondern ein bloßer Pfuscher ist, der
nicht allein keine schöne Seele hat, sondern sich bisweilen sogar recht
gemeine und niedrige Handlungen zuschulden kommen läßt, im Innern
Rußlands durchaus nicht für einen gemeinen Menschen gehalten. Im
Gegenteil, in allen Russen, selbst in denen, die kaum etwas von den
Schriftstellern hören, lebt etwas wie eine innere Überzeugung, daß der
Schriftsteller ein höheres Wesen ist, daß er unbedingt ein edler Mensch
sein muß, daß sich vieles für ihn nicht schickt und daß er sich manches
nicht gestatten darf, was man andern verzeiht. In einer unserer
Provinzen gab ein Adliger, der zugleich Literat war, während der Wahlen
zur Adelsversammlung seine Stimme einem Menschen, der kein ganz reines
Gewissen hatte -- da wandten sich alle Adligen sofort gegen ihn,
tadelten ihn und sagten vorwurfsvoll: »Und das will ein Schriftsteller
sein!«

                                                                 1846.




                                   XI
                              Diskussionen
                        Aus einem Brief an L***


Der Streit um den Grundcharakter unserer europäischen und slawischen
Natur, der, wie du sagst, bereits in unsere Salons einzudringen beginnt,
beweist nur, daß wir bereits zu erwachen anfangen, aber noch nicht ganz
erwacht sind; daher ist es gar nicht verwunderlich, daß auf beiden
Seiten viel törichtes Zeug zusammengeredet wird. All diese Slawisten und
Europäisten -- Altgläubige und Neugläubige -- Östlinge und Westlinge --
(was sie aber in Wahrheit sind, weiß ich dir nicht zu sagen, weil sie
mir bis jetzt nur eine Karikatur auf das zu sein scheinen, was sie
wirklich sein wollen) -- sie alle sprechen von zwei ganz verschiedenen
Seiten derselben Sache, ohne auch nur zu ahnen, daß sie sich ja gar
nicht widersprechen, und daß eigentlich gar kein Anlaß zum Streit für
sie vorliegt. Die einen stehen zu nahe vor einem Gebäude und sehen nur
einen Teil von ihm, die andern stehen zu weit und sehen die ganze
Fassade, können aber dafür die einzelnen Teile nicht genau sehen.
Natürlich ist die Wahrheit mehr auf seiten der Slawophilen und Östlinge,
weil sie ja doch die ganze Fassade sehen, und folglich vom Ganzen und
nicht von den Teilen reden. Aber auch die Europäer und Westlinge haben
bis zu einem gewissen Grade recht, weil sie mit einer gewissen
Ausführlichkeit und Bestimmtheit von der Mauer reden, die sie
unmittelbar vor Augen haben; ihr Fehler besteht nur darin, daß sie über
dem Giebel, der diese Mauer krönt, die Spitze, in die der ganze Bau
ausläuft, d. h. das Kapitäl, die Kuppel und alle oberen Teile, nicht
sehen. Man könnte den einen den Rat geben, doch, wenn auch nur für einen
Augenblick, etwas näher heranzukommen, und den andern, ein wenig
zurückzutreten. Aber sie werden nicht darauf eingehen, weil der Geist
des Hochmuts beide gefangen hält. Jeder von beiden ist überzeugt, daß
das Recht ganz und ausschließlich auf seiner Seite, und das Unrecht ganz
und ausschließlich auf seiten des andern ist. Freilich ist mehr Hochmut
auf seiten der Slawophilen; sie prahlen gern, jeder von ihnen bildet
sich ein, er habe Amerika entdeckt, und macht aus jeder Mücke, die er
findet, einen Elefanten. Natürlich bringen sie mit solch trotzigen
Großsprechereien die Westlinge nur noch mehr gegen sich auf, die vieles
schon längst aufgegeben hätten, weil sie heute bereits mancherlei kennen
lernen, wovon sie früher nie etwas gehört haben, und sich nur noch
dagegen sträuben, weil sie dem allzu trotzig tuenden Gegner nicht gern
nachgeben wollen. [Diese Streitigkeiten wären alle miteinander nicht
gefährlich, wenn sie sich nur auf die Salons und die Zeitschriften
beschränkten. Das Schlimme ist, daß zwei entgegengesetzte Anschauungen,
die noch so wenig ausgereift und geklärt sind, bereits die Köpfe vieler
Männer von Ämtern und Würden zu beeinflussen beginnen. Man hat mir
erzählt, es käme vor -- und dies sei besonders dort der Fall, wo ein Amt
oder wo die Macht in den Händen zweier Personen liegt -- daß ein
Vorgesetzter vollkommen in europäischem Geiste zu wirken und zu regieren
sucht, während der andere ganz im altrussischen Geist zu wirken und alle
alten Einrichtungen zu befestigen strebt, die in einem absoluten
Gegensatz zu denen stehen, die sein Kollege einzuführen plant. Und
daraus erwächst, sowohl für die Sache selbst wie für die Beamten, nur
Unheil: sie wissen nicht mehr, wem sie gehorchen sollen. Und da beide
Ansichten, trotzdem sie so extrem sind, noch keinem völlig klar sind,
machen sich, wie man sagt, allerhand Schelme diesen Umstand zunutze.
Auch der Gauner hat jetzt die Möglichkeit, sich, sei es unter der Maske
eines Slawophilen oder Europaschwärmers -- wie sich's trifft -- d. h. je
nachdem was dem Vorgesetzten gerade mehr gefällt, ein hübsches Pöstchen
zu ergattern und dort entweder als Verteidiger der alten Sitten oder als
Vorkämpfer einer neuen Ordnung allerhand Durchstechereien zu verüben.]
Diese Streithändel sind überhaupt eine Angelegenheit, an der sich
klügere und ältere Leute nicht beteiligen sollten. Mag sich doch die
Jugend zuerst gründlich austoben: das ist ihre Sache. Glaube mir, es ist
nun einmal so und muß auch so sein, daß sich die größten Schreier
gründlich sattschreien müssen, damit die klugen Leute unterdessen einmal
gründlich nachdenken können. Höre aufmerksam zu, wenn sich die Menschen
um dich herum streiten, aber mische dich nicht selbst in ihren Streit.
Die Idee des Werks, das du schreiben willst, ist sehr vernünftig, und
ich bin sogar überzeugt, daß du dies besser machen wirst, als ein großer
Schriftsteller. Nur um eins bitte ich dich, arbeite nach Möglichkeit nur
in Stunden größter Kaltblütigkeit und Ruhe daran. Gott bewahre dich vor
jeglicher Heftigkeit und Hitze, auch bei dem unbedeutendsten Ausdruck.
Zorn ist nie am Platze, am wenigsten bei einer guten Sache, weil er ihr
gutes Recht nur trübt und verdunkelt. Sei immer eingedenk, daß du kein
Jüngling mehr, sondern bereits ein Mann in vorgeschrittenem Alter bist.
Einem jungen Mann stünde es vielleicht noch an, heftig zu sein und zu
zürnen: wenigstens verleiht ihm der Zorn in den Augen mancher Leute
etwas Schönes. Wenn dagegen ein alter Mann heftig wird, wird er ganz
einfach häßlich und wird von den jungen Leuten verspottet und lächerlich
gemacht. Siehe zu, daß man nicht einmal von dir sagt: »Dieser häßliche,
alte Mann! Sein ganzes Leben lang hat er auf der Bärenhaut gelegen und
nichts getan und nun tritt er plötzlich auf und macht andern Leuten
Vorwürfe wegen ihres schlechten Lebenswandels.« Aus dem Munde eines
alten Mannes sollen nur gütige, nicht aber laute und polternde Worte
kommen. Ein Geist reinster Milde und Sanftmut muß die hohen Reden des
Greises durchwehen, so daß die jungen Leute kein Wort der Entgegnung
finden und das Gefühl haben, daß jede Rede hier unziemlich wäre und daß
ein ergrautes Haupt etwas Ehrwürdiges habe.

                                                                 1844.




                                  XII
                     Der Christ schreitet vorwärts
                             An Schtsch--w


Mein Freund! Halte dich nicht für mehr, als für einen Lehrling und für
einen Schüler. Glaube nicht, daß du schon zu alt bist, um noch zu
lernen, daß deine Kräfte und Fähigkeiten schon die rechte Reife und den
höchsten Grad der Entwicklung erreicht und daß dein Charakter und deine
Seele schon ihre rechte Gestalt angenommen haben und nicht mehr besser
werden können. Für einen Christen gibt es keine vollendete Lehrzeit, er
bleibt ein ewiger Lehrling, ein Schüler bis zum Grabe. Nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge erreicht der Mensch seine höchste
Verstandesreife mit dreißig Jahren. Zwischen dem dreißigsten und
vierzigsten Jahre geht es mit seinen Kräften noch ein wenig aufwärts;
jenseits dieser Altersgrenze aber gibt es kein Fortschreiten mehr und
wird alles, was der Mensch produziert, nicht nur keineswegs besser,
sondern sogar schwächer und kälter als das, was er früher hervorgebracht
hat. Dies gilt jedoch nicht für einen Christen, und wo für die andern
die Grenze der Vollkommenheit liegt, da beginnt der Weg erst für den
Christen. Die begabtesten und fähigsten Menschen werden, wenn sie das
vierzigste Jahr überschritten haben, stumpf, müde und schwach. Nimm alle
Philosophen und die größten weltumspannenden Genies: ihre Blütezeit
fällt in die Epoche ihrer besten Mannesjahre; von da ab beginnt ihr
Geist bereits nachzulassen, und im Alter fallen sie sogar häufig in
Kindheit zurück. Denke zum Beispiel an Kant, der während seiner letzten
Jahre fast gänzlich das Gedächtnis verlor, ein Kind wurde und starb.
Vergleiche damit das Leben aller Heiligen, und du wirst sehen, daß sie
an Verstand und Geisteskräften erstarkten, je gebrechlicher sie wurden
und je mehr sie sich dem Tode näherten. Selbst die unter ihnen, die von
Natur keineswegs mit glänzenden Gaben ausgestattet waren und ihr ganzes
Leben lang für einfältig und dumm galten, setzten die Menschen später
durch die Weisheit ihrer Reden in Erstaunen. Woher kommt das wohl? Weil
sie sich jene vorwärtstreibende Kraft erhielten, die jeder andere Mensch
nur während seiner Jugendjahre besitzt, wenn er von Heldentaten träumt,
denen der Lohn des allgemeinen Beifalls winkt, wenn er noch in rosige
Fernen blickt, die für den Jüngling soviel Verlockendes haben. Versinken
aber diese Fernen erst einmal und mit ihnen die Heldentaten -- so
erlischt auch die Kraft, die ihn vorwärts treibt. Vor dem Christen aber
strahlt ewig eine lockende Ferne und ihm stehen stets unvergängliche
Heldentaten bevor. Wie ein Jüngling sehnt er sich nach den Kämpfen des
Lebens; ihm fehlt es nie an einem Feind, gegen den er zu streiten und
anzukämpfen hätte, weil sein in sich zurückgewandter Blick, der immer an
Schärfe und Klarheit zunimmt, ihm in seinem Innern stets neue Gebrechen
und Fehler aufdeckt, die ihn zu neuen Kämpfen aufrufen. Daher können
auch seine Kräfte nie ganz einschlummern oder schwächer werden, sie
werden vielmehr unaufhörlich geweckt, und der Wunsch, besser zu sein und
sich den himmlischen Beifall zu verdienen, ist ihm ein solcher Ansporn,
wie ihn nicht einmal der ehrgeizigste Mensch in seiner unersättlichen
Ehrsucht besitzt. Das ist der Grund, weswegen der Christ noch weiter
fortschreitet, wenn die andern Menschen bereits Rückschritte machen, und
warum er immer klüger wird, je weiter er fortschreitet.

Der Verstand ist nicht das höchste Vermögen in uns. Er hat lediglich
polizeiliche Funktionen; er kann nur die Dinge ordnen und jedem Ding
seinen Platz anweisen, das bereits in uns liegt. Er selbst aber
schreitet nicht vorwärts, wenn ihm die beiden andern Vermögen in uns,
aus denen er seine Weisheit schöpft, nicht vorangehen. Abstrakte
Lektüre, Grübeleien und ein fortgesetztes Studium aller Wissenschaften
tragen nur sehr wenig zu seiner Entwicklung bei: zuweilen ersticken sie
ihn sogar und hemmen sie ihn in seiner selbständigen Entwicklung. Er ist
weit abhängiger von den Zuständen des Gemüts: sowie die Leidenschaften
in uns zu toben beginnen, wird er blind und töricht; ist unsere Seele
dagegen ruhig und von keiner Leidenschaft bewegt, so erhellt und klärt
auch er sich und läßt uns klug und weise handeln. Die Vernunft ist ein
weit höheres Vermögen; aber sie wird nur durch den Sieg über die
Leidenschaften erworben. Nur solche Menschen haben sie besessen, die
ihre eigene Selbsterziehung nie vernachlässigten. Aber auch die Vernunft
setzt den Menschen noch nicht in den Stand, fortzuschreiten und vorwärts
zu streben. Es gibt ein noch höheres Vermögen; es heißt Weisheit, und
diese kann uns nur Christus allein verleihen. Sie wird keinem von uns
bei seiner Geburt in die Wiege gelegt, sie ist keinem von uns angeboren,
sondern ist ein Geschenk der höchsten, himmlischen Gnade. Der, der schon
Verstand und Vernunft besitzt, kann sich die Weisheit nur dadurch
erwerben, daß er Gott Tag und Nacht immer wieder in heißem Gebet bittet,
sie ihm herabzusenden, daß er seine Seele bis zur reinsten
unschuldigsten Güte und Milde erhebt und alles in sich nach bestem
Vermögen reinigt und in Ordnung bringt, um diesen himmlischen Gast in
sich aufzunehmen, der solche Wohnungen meidet, in denen noch keine
Ordnung im seelischen Hausgerät herrscht und wo noch nicht alles ganz
einträchtig und harmonisch zusammenklingt. Wenn jedoch die Weisheit das
Haus betritt, dann beginnt ein himmlisches Leben für den Menschen, und
er lernt die ganze wundersame Süßigkeit kennen, die darin liegt, ein
Schüler zu sein; die ganze Welt wird seine Lehrerin, der geringste unter
den Menschen kann ihm zum Lehrer werden. Aus dem einfachsten Rat weiß er
die weise Belehrung, die in ihm steckt, herauszulesen; das törichteste
Ding wendet ihm seine tiefste, klügste Seite zu, und das ganze Weltall
liegt vor ihm, wie ein offenes Buch der Weisheit; mehr Schätze als alle
andern wird er aus diesem Buch schöpfen, denn weit lauter als den andern
wird es ihm aus ihm entgegentönen, daß er ein Schüler ist. Sollte ihn
jedoch auch nur für einen Augenblick der Wahn anwandeln, daß seine
Lehrjahre beendet seien, daß er kein Schüler mehr sei, und sollte er
sich durch eine ihm erteilte Lehre oder Belehrung gekränkt fühlen, so
wird die Weisheit plötzlich von ihm genommen werden, und er wird im
Dunkeln zurückbleiben, wie König Salomon in seinen letzten Tagen.

                                                                 1846.




                                  XIII
                                Karamsin
                    Aus einem Brief an N. M. Jasykow


Ich habe den Aufsatz, den Pogodin zu Ehren Karamsins geschrieben hat,
mit großem Vergnügen gelesen. Das ist Pogodins beste Arbeit, sowohl der
Sauberkeit und Vornehmheit des Inhalts, als auch der äußeren Form nach:
seine gewöhnlichen groben und plumpen Ausfälle fehlen hier ganz, und
auch der Stil hat nichts von jener rohen Flüchtigkeit, die ihm so sehr
schadet. Vielmehr ist hier alles schön aufgebaut, wohl überlegt,
geordnet und vorzüglich disponiert. Alle Stellen aus Karamsin sind so
klug ausgewählt, daß Karamsin gewissermaßen ganz durch sich selbst
beleuchtet wird, er charakterisiert sich gleichsam selbst, bestimmt sich
mit seinen eigenen Worten den Wert und tritt damit dem Leser lebendig
vor Augen. Denn Karamsin ist in der Tat eine außergewöhnliche
Erscheinung. Unter unseren Schriftstellern ist er sicherlich der, von
dem man mit dem meisten Recht behaupten kann, er habe seine Aufgabe ganz
erfüllt, sein Pfund nicht in der Erde vergraben und für die fünf
Talente, die ihm verliehen waren, noch fünf neue hinzuerworben! Karamsin
war der erste, der den Beweis erbracht hat, daß ein Schriftsteller bei
uns unabhängig sei und von allen gleichmäßig als angesehenster Bürger
unseres Staates geachtet werden kann. Er hat zuerst feierlich verkündet,
daß die Zensur einem Schriftsteller nicht im Wege stehen könne, und daß
sie, wenn er nur in so hohem Maße von dem reinen Streben nach dem Guten
beseelt sei, daß dieses Streben seine ganze Seele erfüllt, ihm in
Fleisch und Blut übergegangen und sein tägliches Brot geworden ist, nie
zu streng gegen ihn verfahren werde, und daß er überall Freiheit
genießen könne. Er hat das ausgesprochen und bewiesen. Kein Mensch hat
eine so kühne und edle Sprache geführt wie Karamsin, ohne daß er darum
seine eigenen Gedanken und Meinungen zu unterdrücken brauchte, trotzdem
sie durchaus nicht in allen Punkten mit den Anschauungen der damaligen
Regierung übereinstimmten, und man hat unwillkürlich das Gefühl, daß er
allein ein Recht dazu hatte. Welch eine Lehre für einen Schriftsteller!
Und wie komisch erscheinen danach die unter uns, die da behaupten, man
könne in Rußland nie die ganze Wahrheit sagen, denn sie sei uns ein Dorn
im Auge! Und dabei drücken sie sich selbst so töricht und roh aus, daß
sie weit mehr, als durch die Wahrheit selbst, durch die hochmütigen
Worte verletzen, mit denen sie ihre Wahrheit zum Ausdruck bringen, und
deren maßlose Heftigkeit nur die Zuchtlosigkeit eines undisziplinierten
verworrenen Geistes bezeugt; und dann wundern sie sich noch und sind sie
empört, daß niemand ihre Wahrheit anerkennen und anhören will! Nein, man
muß ein so reines, harmonisches Gemüt besitzen wie Karamsin, dann erst
hat man ein Recht, jene Wahrheit zu verkünden: dann werden uns alle
anhören, vom Zaren bis herab zum letzten Bettler im Staate; ja man wird
uns mit solch einer Liebe und Hingebung zuhören, wie man in keinem Lande
der Welt einem parlamentarischen Redner und Verteidiger der Bürgerrechte
und keinem der hervorragenden Prediger zuzuhören pflegt, die die Elite
der modernen Gesellschaft um sich versammeln. Mit solch einer Liebe und
Hingebung vermag eben nur unser herrliches Rußland zuzuhören [von dem
man sich erzählt, daß es die Wahrheit überhaupt nicht liebt].

                                                                  1846




                                  XIV
    Vom Theater, von einer einseitigen Ansicht über das Theater und
                      von der Einseitigkeit überhaupt
                        An den Grafen A. P. T...


Sie sind sehr einseitig und zwar sind Sie erst seit kurzer Zeit so
einseitig geworden; und Sie sind es nur deshalb geworden, weil ein
Mensch, der sich in der Gemütsverfassung befindet, in der Sie sich jetzt
eben befinden, nicht anders als einseitig werden kann. Sie denken nur
noch an das Heil und die Rettung Ihrer Seele, und da Sie noch immer den
Weg nicht entdecken können, auf dem es Ihnen bestimmt ist, Ihr
Seelenheil zu finden, so halten Sie alles auf der Welt für sündhaft und
für ein Hindernis auf dem Wege zu Ihrer Rettung. Ein Mönch kann nicht
strenger sein, als Sie. So sind auch Ihre Ausfälle gegen das Theater
ganz einseitig und ungerecht. Sie suchen darin eine Stütze für Ihre
Ansicht, daß auch einige Geistliche, die Sie kennen, gegen das Theater
eifern: und sie haben ganz recht, während Sie unrecht haben. Denken Sie
einmal etwas tiefer darüber nach: _sind Sie wirklich_ gegen das Theater
oder nur gegen jene Form, jene Gestalt, in der es heute auftritt. Die
Kirche wandte sich in den ersten Jahrhunderten, als das Christentum
überall zur Annahme gelangt war, gegen das Theater, das war zu einer
Zeit, als das Theater noch der einzige Zufluchtsort des von überall
vertriebenen Heidentums und eine Freistätte seiner wilden Bacchanale
war. Das war der Grund, weswegen Johannes Chrysostomus so mächtig gegen
das Theater eiferte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die ganze Welt
hat sich erneut durch das Heraufkommen junger und frischer europäischer
Völker, deren Bildung und Erziehung bereits auf christlicher Grundlage
begann, und nun waren es die heiligen Männer selbst, die das Theater
wieder begründeten und einführten: an den geistlichen Akademien wurden
Theater gegründet. Unser Dimitrij Rostowski, der mit Recht zu den
heiligen Kirchenvätern gezählt wird, dichtete selbst Stücke, die zur
Aufführung bestimmt waren. Folglich liegt die Schuld nicht beim Theater.
Man kann alles in sein Gegenteil verkehren und allem einen schlechten
Sinn unterlegen; der Mensch ist hierzu fähig. Man muß einem Ding jedoch
stets auf den Grund gehen und in Betracht ziehen, was es sein soll, und
es nicht nach den Karikaturen beurteilen, die nach ihm hergestellt
wurden. Das Theater ist durchaus keine geringe Sache und keine
unwichtige Angelegenheit, wenn man berücksichtigt, daß es eine große
Menge von fünf- bis sechstausend Menschen mit einem Male in seinen
Räumen aufnehmen und beherbergen kann und daß diese ganze Menge, in der
die einzelnen, für sich genommen, nichts miteinander gemein haben,
plötzlich von einer großen Erschütterung ergriffen werden, in einem
einzigen Augenblick in _einen_ Strom von Tränen oder in ein einziges
allgemeines Gelächter ausbrechen kann. Das ist ein Katheder, von dem aus
man der Welt sehr viel Gutes sagen kann. Sie müssen freilich einen
Unterschied machen zwischen dem eigentlichen, sogenannten höheren
Theater und jenen Ballettaufführungen, Tänzen, Possen, Melodramen und
all jenem Flitter und falschen Prunk der Ausstattungsstücke, die nur für
das Auge berechnet sind und die nur einem korrupten Geschmack oder einem
korrupten Gefühl schmeicheln, und Sie müssen daneben das eigentliche
Theater ins Auge fassen. Ein Theater, in dem hohe Tragödien und Komödien
aufgeführt werden, muß in völliger Unabhängigkeit von allen anderen
Künsten dastehen. Es wäre ja auch merkwürdig, Shakespeare mit Tänzern
und Tänzerinnen in weißledernen Hosen unter einen Hut bringen zu wollen.
Welch eine Kombination! Die Beine sind etwas für sich, und ebenso ist
der Kopf etwas für sich. In einzelnen Gegenden Europas hat man das
begriffen: dort gibt es eigene Theater für die Werke der höheren
dramatischen Kunst, und nur diese Theater werden von der Regierung
subventioniert. Man sollte ganz ernsthaft darüber nachdenken, ob es
nicht möglich wäre, die besten Werke der dramatischen Kunst so zur
Aufführung zu bringen, daß das Publikum auf sie aufmerksam würde und daß
die wohltätige moralische Wirkung, die von allen großen Dichtern
ausgeht, ganz zur Geltung käme. Shakespeare, Sheridan, Molière, Goethe,
Schiller, Beaumarchais, sogar Lessing, Regnard und viele andere unter
den Dichtern zweiten Ranges aus dem verflossenen Jahrhundert haben
nichts geschrieben, was dazu beitragen konnte, unsere Achtung vor den
großen Gegenständen zu verringern; in ihren Dichtungen sind nicht die
leisesten Nachwirkungen davon zu spüren, was in den Werken der
fanatischen Autoren jener Zeit gärt und brodelt, die sich mit
politischen Fragen beschäftigten und die Saat der Mißachtung gegen das
Heilige ausstreuten. Wenn auch bei jenen einmal Hohn und Spott
aufblitzen, so richten sie sich gegen die Heuchelei, Gotteslästerung,
Verdrehung der Wahrheit und niemals gegen das, was die Wurzel aller
menschlichen Tugend bildet; im Gegenteil, ihre Liebe für das Gute ist
selbst dort noch streng und deutlich vernehmbar, wo sie ganze Garben
funkelnder Epigramme aufblitzen lassen. Häufige Wiederholungen
dramatischer Werke hohen Stils, d. h. jener wahrhaft klassischen Stücke,
die sich mit dem Wesen und mit der Seele der Menschen beschäftigen,
müssen dazu führen, daß die Menschen sich festen Grundsätzen zuneigen
und in ihnen bestärkt werden und daß sich ihre Charaktere unmerklich
innerlich kräftigen und befestigen, während diese Flut von leichten und
nichtssagenden Stücken, von all diesen Possen und schlecht durchdachten
Dramen bis hinauf zum Ballett und selbst zur Oper nur ablenkt und
zerstreut und die Gesellschaft oberflächlich und leichtsinnig macht.
Eine Welt, deren Aufmerksamkeit durch Millionen glänzender Gegenstände
in Anspruch genommen wird, die unsere Gedanken nach allen Richtungen
ablenken und zerstreuen, wird Christus nicht so bald auf ihrem Wege
begegnen. Sie ist noch zu weit von den himmlischen Wahrheiten des
Christentums entfernt. Sie wird erschrocken zurückweichen, wie vor
finsteren Klostermauern, wenn man ihr keine unsichtbare Leiter reicht,
die zum Christentum emporführt, und wenn man sie nicht auf einen höheren
Platz geleitet, von dem aus sie den unendlichen Horizont des
Christentums besser überschauen und alles besser erkennen kann, was ihr
früher gänzlich unverständlich war. In der Welt gibt es vielerlei, was
allen, die sich vom Christentum entfernt haben, als Leiter dienen kann,
die sie unsichtbar zum Christentum emporleitet, darunter auch das
Theater, wenn es seiner höchsten Bestimmung zugeführt werden könnte. Man
müßte die vollkommensten Werke aller Zeiten und Völker in ihrer ganzen
strahlenden Schönheit zur Aufführung bringen. Man müßte sie häufiger, ja
so häufig als möglich, aufführen, man müßte ein und dasselbe Werk
fortwährend wiederholen. Und das ist sehr wohl möglich. Man kann allen
Stücken ihre Frische und Neuheit wiedergeben, so daß sie alle
interessieren, die Kleinsten wie den Größten, wenn man es nur versteht,
sie richtig aufzuführen. Das sind Torheiten, daß sie veraltet sind und
daß das Publikum den Geschmack an ihnen verloren hat. Das Publikum ist
gar nicht so launenhaft, es wird einem immer dorthin folgen, wohin man
es führt. Wenn ihm die Autoren nicht stets ihre üblen Melodramen
vorsetzen würden, würde das Publikum auch keinen Geschmack an ihnen
finden und nicht nach ihnen verlangen. Man nehme das abgespielteste
Stück und führe es auf, wie es sich gehört, dann wird das Publikum in
Scharen herbeiströmen. Molière wird ihm ganz neu erscheinen. Shakespeare
wird es mehr locken als die modernste Posse. Aber freilich muß eine
solche Aufführung tatsächlich und absolut künstlerisch sein, und diese
Aufgabe muß stets einem wahrhaften Künstler und dem allerersten und
tüchtigsten Schauspieler, der sich in der ganzen Truppe findet,
anvertraut werden. Auch soll man ihm nicht etwa noch einen Gehilfen,
irgendeinen Beamten und Sekretär, als Anhängsel zugesellen, sondern er
soll alles allein machen und allein über alles verfügen. Es muß sogar
besonders dafür gesorgt werden, daß die ganze Verantwortlichkeit ihm
allein zufalle; man muß ihn öffentlich vor versammeltem Publikum
sämtliche Nebenrollen -- und zwar eine nach der anderen -- spielen
lassen, um den weniger bedeutenden Schauspielern lebendige Vorbilder vor
Augen zu stellen; denn diese studieren ihre Rollen nach toten
Vorbildern, die durch eine dunkle Überlieferung bis auf sie gekommen
sind, sie schöpfen ihre Belehrung aus Büchern und nehmen kein wirkliches
lebendiges Interesse an ihren Rollen. Schon diese Darstellung
untergeordneter Rollen durch einen erstklassigen Schauspieler kann das
Publikum anlocken und es reizen, sich ein und dasselbe Stück zwanzigmal
nacheinander anzusehen. Wen könnte es nicht interessieren, Schtschepkin
oder Karatygin Rollen spielen zu sehen, die sie bisher noch niemals
gespielt haben! Wenn dann ein solcher erstklassiger Schauspieler auf
seine alte Rolle zurückkommt, nachdem er sämtliche anderen Rollen
gespielt hat, wird er sich einen ganz andern, umfassenderen Begriff von
seiner Rolle, sowie von dem ganzen Stück gebildet haben; das Stück aber
wird durch diese Vollkommenheit der Darstellung -- etwas bisher völlig
Unerhörtes -- für den Zuschauer noch mehr an Interesse gewinnen. Es gibt
nichts, was den Menschen stärker ergreift und erschüttert, als jene
vollkommene Ausgeglichenheit und Übereinstimmung aller Teile, wie sie
ihm bisher nur in der Ausführung eines Musikstückes durch ein Orchester
entgegentreten konnte, und durch die man es dahin zu bringen vermag, daß
ein Werk der dramatischen Kunst häufiger hintereinander gegeben werden
kann, als die beliebteste Oper. Man mag sagen, was man will, aber die in
Worte gefaßten Töne des Herzens und der Seele sind weit mannigfaltiger,
als die Töne der Musik. Ich muß jedoch wiederholen, dies alles ist nur
dann möglich, wenn diese Aufgabe auch tatsächlich so ausgeführt, wie es
sich gehört, und wenn die volle Verantwortlichkeit für das Repertoire
einem erstklassigen Schauspieler zufällt, d. h. wenn die Tragödien von
dem ersten tragischen und die Komödien vom ersten komischen Schauspieler
inszeniert werden und wenn beide ganz allein die Leitung des Ganzen
innehaben. [Ich sage: sie allein, weil ich weiß, wieviel Leute es bei
uns gibt, die bei jeder Sache dabei sein wollen und sich überall
herandrängen. Sowie irgendein Posten geschaffen wird, der mit
irgendwelchen Geldeinnahmen verknüpft ist, so ist auch schon irgendein
Sekretär bei der Hand, der sich hinzudrängt. Woher er plötzlich kommt,
das weiß Gott allein: es ist, wie wenn er plötzlich aus dem Wasser
emporgetaucht wäre; er beweist euch sofort, so klar wie daß zwei mal
zwei vier ist, seine Unentbehrlichkeit, beginnt damit, daß er Papiere
und Akten über ökonomische Fragen vollschreibt und dann fängt er
allmählich an, sich in alles hineinzumengen, bis schließlich alles in
Unordnung gerät. Diese Sekretäre sind wie ein unsichtbarer
Mottenschwarm; sie haben alle Berufe und Ämter unterwühlt, und das
Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen einerseits und den
Untergebenen und Vorgesetzten andererseits gänzlich verwirrt und
verschoben. Wir haben uns erst neulich über alle Berufe und Ämter
unterhalten, die es in unserem Vaterlande gibt. Indem wir ein jedes Amt
innerhalb der ihm gezogenen Grenzen betrachteten, fanden wir, daß sie
gerade das sind, was sie sein sollen, daß sie gewissermaßen wie durch
die Hand des Höchsten dafür geschaffen sind, um allen Bedürfnissen
unseres Staatslebens zu genügen, und daß sie alle insgesamt von ihrem
wahren Ziel abgewichen sind, weil jedermann mit allen andern darum zu
wetteifern schien, die Grenze der ihm gezogenen Berufspflichten zu
zerstören oder sich völlig über sie hinwegzusetzen. Alle, selbst ganz
kluge und ehrliche Leute, wollten durchaus, wenn auch nur um ein
Zollbreit, mehr Macht haben und den Kreis ihrer Tätigkeit überschreiten,
weil sie glaubten, daß sie selbst und ihr Beruf hierdurch vornehmer und
edler werden müßten. Wir sind damals sämtliche Beamtenkategorien, von
den höchsten bis zu den niedrigsten, durchgegangen, die Sekretäre aber
haben wir vergessen, und gerade sie neigen am meisten dazu, die Grenzen
ihres Berufs zu überschreiten. Wo ein Sekretär lediglich Schreiberarbeit
zu leisten hat, sucht er die Rolle eines Vermittlers zwischen
Vorgesetzten und Untergebenen zu spielen. Wo man eines solchen
Vermittlers zwischen Vorgesetzten und Untergebenen bedarf und wo ihm
diese Vermittlung übertragen wird, da beginnt er, wichtig zu tun; er tut
dem Untergebenen gegenüber so, als ob er selbst sein Vorgesetzter wäre,
er richtet sich ein Vorzimmer ein, läßt die Leute stundenlang auf sich
warten, kurz: statt den Untergebenen den Zutritt zu ihrem Vorgesetzten
zu erleichtern, trägt er nur dazu bei, ihn noch mehr zu erschweren. Und
dies alles geschieht häufig nur deshalb, um der Stellung eines Sekretärs
einen Schein von Vornehmheit zu geben. Ich habe sogar einige treffliche
und gescheite Leute gekannt, die die Untergebenen ihres Vorgesetzten in
meiner Gegenwart so behandelten, daß ich für diese Menschen erröten
mußte. Mein Chlestakow war in solchen Augenblicken ein Stümper gegen
sie. Dies alles wäre übrigens noch nicht so schlimm, wenn es nicht so
viele traurige Folgen hätte. Viele wahrhaft nützliche und unentbehrliche
Menschen sind schon aus dem Staatsdienst ausgetreten lediglich wegen der
Niedertracht eines Sekretärs, der die gleiche Achtung für sich in
Anspruch nahm, die sie allein dem Vorgesetzten schuldeten, und der sich,
wenn ihm jemand diese Achtung verweigerte, dadurch rächte, daß er ihn zu
verleumden suchte, dem Vorgesetzten eine schlechte Meinung von ihm
beibrachte, kurz sich der niederträchtigsten Mittel bediente, deren nur
ein ehrloser Mensch fähig ist. In den Departements für die schönen
Künste usw. liegt die Oberleitung in den Händen eines Komitees oder
eines unmittelbaren Vorgesetzten, der an der Spitze steht, und da gibt
es meist keinen Sekretär, der die Rolle eines Vermittlers spielt: da hat
er lediglich die Verfügungen anderer schriftlich zu fixieren oder er hat
die Geschäftsführung und die Verwaltung der Finanzen inne; zuweilen aber
kommt es doch auch dort vor, daß er sich dort infolge der Trägheit der
Mitglieder oder aus irgendeinem andern Grunde immer tiefer einnistet und
die Rolle eines Vermittlers oder sogar eines künstlerischen Leiters an
sich reißt. Und dann ist einfach der Teufel los: der Zuckerbäcker fängt
an Stiefel zu machen und der Schuster muß Kuchen backen. Ein Künstler
erhält Instruktionen, die nicht von einem Künstler herrühren; es
erscheint eine Verordnung, von der man überhaupt nicht verstehen kann,
wozu sie erlassen worden ist. Oft wundert man sich, wie ein Mensch, der
doch bis dahin ganz gescheit war, plötzlich ein so törichtes
Schriftstück abfassen konnte; dabei aber ist er nicht im mindesten daran
beteiligt; das Schriftstück stammt aus einer Quelle, an die kein Mensch
auch nur denken konnte, wie das Sprichwort sagt: Ein Schreiber hat's
hingeschmiert, dem der Name Hündchen gebührt.]

Bei jeglicher Kunst sollte die letzte und höchste Durchführung und
Ausführung in den Händen eines höchsten Meisters dieser Kunst liegen
[und nicht in den Händen irgendeines Sekretärs, der lediglich bei der
Verwaltung des Geschäfts und der Finanzen verwendet werden sollte]. Nur
der Meister selbst kann Unterricht in seiner Kunst erteilen, da er
allein alles kennt, was dazu erforderlich ist, und kein anderer. Nur ein
erstklassiger Schauspieler, der ein wirklicher Künstler ist, kann eine
gute Auswahl von Stücken treffen und sie nach strengen Grundsätzen
sichten; er allein kennt das Geheimnis, wie die Proben geleitet werden
müssen, er weiß, wie wichtig es ist, häufige Leseproben und
Probeaufführungen des ganzen Stückes zu veranstalten. Er wird es dem
Schauspieler nicht einmal erlauben, seine Rolle zu Hause auswendig zu
lernen, sondern es so einrichten, daß die Schauspieler das Ganze
zusammen einstudieren und daß jeder seine Rolle ganz von selbst während
der Proben lernt und im Kopfe behält, so daß er durch die Umstände
selbst, durch das ihn umgebende Milieu und durch die bloße Berührung mit
ihm unwillkürlich den richtigen und seiner Rolle angemessenen Ton
trifft. Dann kann auch ein schlechter Schauspieler manches Gute lernen:
solange die Schauspieler ihre Rolle noch nicht auswendig können, können
sie sich vieles von einem guten Schauspieler aneignen. Hier erfüllt sich
jeder, ohne selbst zu wissen, wie es geschieht, mit Wahrheit und
Natürlichkeit, sowohl in der Rede als auch in den Bewegungen. Der Ton
der Frage verleiht dem Ton der Antwort seine Farbe. Ist die Frage in
einem geschwollenen hochtrabenden Ton gehalten, so wird auch die Antwort
hochtrabend sein; stelle eine einfache Frage, so wird auch die Antwort
einfach ausfallen. Selbst der einfachste, schlichteste Mensch ist
imstande, eine passende Antwort zu geben. Aber wenn der Schauspieler
seine Rolle zu Hause auswendig gelernt hat, dann wird seine Antwort
geschwollen und einstudiert klingen, und diesen Ton der Antwort wird er
nie wieder loswerden können. Du wirst nie einen andern aus ihm machen,
kein Wort, keinen Tonfall wird er von dem besseren Schauspieler lernen;
die ganze Umgebung, alle Dinge und Charaktere, unter denen sich der von
ihm dargestellte Charakter bewegt, werden stumm für ihn bleiben, und
auch das Stück wird ihm fremd bleiben und ihm nichts sagen, und er wird
sich wie ein Toter zwischen Toten bewegen. Nur ein Schauspieler, der ein
wahrhafter Künstler ist, hat ein Gefühl für das Leben, das in einem
Stück pulsiert, und kann es dahin bringen, daß dieses Leben auch allen
Schauspielern sichtbar, und lebendig von ihnen empfunden wird, nur er
allein hat den richtigen Maßstab für die Veranstaltung der Proben, wie
sie geleitet werden müssen, wann man mit ihnen aufhören kann, und
wieviel Proben genügen, um das Stück dem Publikum in wirklicher
Vollendung vorzuführen. Man muß es nur verstehen, diesen Schauspieler
und Künstler dazu zu bewegen, daß er sich dieser Sache wie seiner
eigensten intimsten Aufgabe annimmt, man muß ihm beweisen, daß das seine
Pflicht ist und daß die Ehre seiner eigenen Kunst dies von ihm fordert
-- so wird er es tun, so wird er es durchführen, weil er seine Kunst
lieb hat. Ja, er wird sogar noch mehr tun, er wird dafür sorgen, daß
auch der unbedeutendste Schauspieler seine Rolle gut spielt, und wird
seine eigene Aufgabe in der strengen Vollendung des Ganzen sehen. Er
wird nie dulden, daß ein banales oder nichtssagendes Stück auf die Bühne
gelangt, [das vielleicht ein Beamter, dem es nur darum zu tun ist, daß
möglichst viel Geld in die Kasse kommt, aufführen lassen würde], er wird
es nicht dulden, weil schon sein inneres, ästhetisches Gefühl das Stück
ablehnen wird. Er ist auch nicht imstande, einen Druck auf die ihm
anvertrauten Schauspieler auszuüben, sie zu tyrannisieren und zu
schikanieren, [wie das Leute aus dem Beamtenstande tun], die Rücksicht
auf den Ruhm und das Ansehen seines Namens wird ihm dies nicht erlauben.
[Irgendein Beamter, z. B. ein Sekretär dagegen wird dreist und ruhig
eine Gemeinheit begehen, da er fest davon überzeugt ist, daß niemand was
davon erfahren wird, selbst wenn er sich noch so viel Gemeinheiten
zuschulden kommen läßt, weil er ja eine Null ist, die niemand beachtet.
Wenn sich dagegen ein Schtschepkin oder Karatygin etwas Unrechtes
zuschulden kommen lassen würden, so würde dies sofort allgemeines
Stadtgespräch werden. Darum ist es so ungeheuer wichtig, daß bei jeder
Sache die Hauptlast der Verantwortung auf einen Mann fällt, den bereits
jeder in der Gesellschaft kennt.] Und endlich wird ein Schauspieler, der
zugleich ein Künstler ist, der völlig in seiner Kunst lebt und aufgeht,
dessen höchstes Lebenselement die Kunst ist, über deren Reinerhaltung er
wacht und die er hütet wie ein Heiligtum, es nie dulden, daß das Theater
eine Pflanzstätte des Lasters werde. -- Also: die Schuld liegt nicht
beim Theater. Man reinige das Theater erst einmal von all dem Schutt und
Plunder, der darauf ruht, und dann mag man zusehen und darüber urteilen,
was das Theater ist. Ich habe hier nicht deshalb die Sprache aufs
Theater gebracht, weil ich durchaus vom Theater sprechen wollte, sondern
deshalb, weil man das, was hier übers Theater gesagt wurde, auf alle
Dinge anwenden kann. Es gibt viele Gegenstände, die darunter zu leiden
haben, daß man ihre eigentliche Bedeutung verfälscht und verdreht, und
da es ja überhaupt viele Leute in der Welt gibt, die die Neigung haben,
gleich in der ersten Hitze und Erregung zu handeln oder, wie es im
Sprichwort heißt, »das Kind mit dem Bade auszuschütten«[3] lieben, so
wird vieles, was uns allen zu Nutz und Frommen dienen könnte,
vernichtet. Einseitige Menschen, die überdies noch Fanatiker sind, sind
ein Krebsschaden für die Gesellschaft; wehe dem Lande oder dem Staat, in
dem solche Leute einen Teil der Macht in die Hände bekommen. Sie wissen
nichts von christlicher Demut und von Zweifeln an sich selbst; sie sind
fest davon überzeugt, daß die ganze Welt lügt und nur sie allein die
Wahrheit reden. Lieber Freund! Geben Sie doch ein wenig mehr acht auf
sich! Sie befinden sich gerade in diesem gefährlichen Zustande. Es ist
ein Glück, daß Sie noch keine Stellung haben und daß Sie nicht mit der
Verwaltung eines Amtes betraut sind: Sie, den ich als Menschen kenne,
der dazu befähigt ist, die schwierigsten und verantwortlichsten
Stellungen auszufüllen, Sie könnten weit mehr Unheil und Unordnung
anrichten, als der unbegabteste von allen unbegabten Menschen. Nehmen
Sie sich auch mit Ihrem Urteil über alle Dinge in acht! Seien Sie nicht
wie jene frommen Eiferer, die mit einem Male alles, was es auf der Welt
gibt, vernichten möchten, da sie alles für eitel Teufelswerk halten. Es
ist ihr Los, in die gröbsten Irrtümer zu verfallen. Etwas Ähnliches hat
sich neulich auf literarischem Gebiet ereignet. Da sind plötzlich Leute
erschienen und haben öffentlich in der Presse erklärt, Puschkin sei ein
Deist und kein Christ gewesen; wie wenn sie in Puschkins Seele
hineingeblickt hätten, und wie wenn Puschkin durchaus verpflichtet
gewesen wäre, in seinen Gedichten von den höchsten Dogmen des
Christentums zu sprechen, wozu sich selbst ein Priester der Kirche nur
mit großer Angst und tiefster Ehrfurcht entschließt, nachdem er sich
durch einen wahrhaft heiligen Lebenswandel dazu vorbereitet hat! Nach
der Ansicht dieser Leute sollte man die höchsten und erhabensten Ideen
des Christentums in Reimform bringen und sie wohl gar zu einer Art
Versspiel machen. Puschkin hat sehr klug daran getan, daß er es nicht
wagte, das, wovon seine Seele noch nicht bis ins Innerste durchdrungen
war, in Verse zu kleiden, und daß er es vorzog, allen denen, die sich
bereits sehr weit von Christus entfernt hatten, eine unsichtbare Sprosse
zum Höchsten zu sein, statt sie durch seelenlose Verse, wie sie von
Leuten geschrieben werden, die sich Christen nennen, dem Christentum
völlig zu entfremden. Ich kann gar nicht verstehen, wie es einem
Kritiker auch nur einfallen konnte, in der Presse ganz offen und vor
allen Leuten eine solche Beschuldigung gegen Puschkin zu erheben, seine
Werke wirkten demoralisierend auf die Menschen, wo doch selbst die
Zensur laut Vorschrift verpflichtet ist, wenn der Sinn eines Werks nicht
ganz klar aus dem Werk hervorgeht, ihm eine möglichst ungesuchte und
einfache Deutung zu geben, die möglichst günstig für den Autor ist, und
nicht eine falsche und gekünstelte, die dem Autor schaden muß. Wenn das
sogar der Zensur zur Vorschrift gemacht wird, die immer stumm sein und
schweigen muß und nicht einmal die Möglichkeit hat, sich vor dem
Publikum zu rechtfertigen, um wieviel mehr muß sich die Kritik das zum
Gebot machen, die selbst über die unbedeutendsten Motive und Handlungen
Aufklärung geben und sich ihretwegen rechtfertigen kann! Öffentlich
erklären, ein Mensch sei kein Christ, ja er sei sogar ein Feind Christi,
indem man sich auf einige Fehler seines Charakters und darauf beruft,
daß er der Welt und ihren Versuchungen erlegen sei, wie doch jeder von
uns ihnen erliegt -- ist das etwa christlich gehandelt? Ja, wer von uns
ist denn dann ein Christ? Auf diese Weise kann ich schließlich auch dem
Kritiker selbst vorwerfen, daß er kein Christ sei. Ich kann sagen, ein
Christ könne nicht mit solcher Sicherheit auf seinen Verstand bauen, um
ein Urteil in einer so dunklen Sache zu fällen, die Gott allein kennt
und begreift, denn ein Christ weiß, daß unser Verstand nur bei einem
ganz reinen heiligen Leben der vollen Klarheit teilhaftig und dazu
befähigt wird, einen Gegenstand von allen Seiten zu sehen; der
Lebenswandel eines solchen Menschen aber ist vielleicht doch noch nicht
so ganz rein und heilig. Ein Christ wird sich erst besinnen, ehe er sich
entschließt, jemand eines solchen schweren Verbrechens anzuklagen, wie
des, er wolle Gott nicht in der Gestalt anerkennen, in der ihn uns
Gottes Sohn selbst, der zu uns auf die Erde herabgestiegen ist,
anzubeten geboten hat, -- denn das ist eine furchtbare Beschuldigung. Er
wird ferner erklären: in der Poesie ist noch vieles ein Geheimnis; es
ist schon nicht leicht, über einen gewöhnlichen Menschen ein Urteil zu
fällen, und erst ein abschließendes und endgültiges Urteil über einen
Dichter fällen zu wollen, das kann nur ein Mensch, der selbst etwas vom
Geist der Poesie in sich trägt und beinahe ein dem Dichter selbst
ebenbürtiger Dichter ist -- wie dies ja auch für jedes einfache Handwerk
oder jede Kunstfertigkeit zutrifft, wo ja auch jeder in gewissem Maße
mitsprechen kann, wo aber nur der Meister selbst ein umfassendes und
endgültiges Urteil fällen darf. Kurz, der Christ wird in erster Linie
Demut üben, die sein vornehmstes Banner ist, an dem man erkennen kann,
daß er ein Christ ist. Statt von den Stellen in Puschkin zu reden, deren
Sinn noch dunkel ist und auf zwei verschiedene Weisen ausgelegt werden
kann, wird ein Christ nur von den Werken sprechen, die ganz klar sind,
die aus seinem reifen Mannesalter und nicht aus seiner schwärmerischen
Jugendzeit stammen. Er wird sein gewaltiges Gedicht »An einen
Kirchenfürsten« anführen, in dem Puschkin von sich selbst redet und
sagt: auch in den Jahren, als er noch für die Schönheit und das Treiben
dieser Erdenwelt begeistert gewesen sei, habe der bloße Anblick des
Dieners Christi einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

[Fußnote 3: »Aus Ärger über die Läuse in den Ofen mit dem Pelz!«]

   Da traf dein Wort mich wundereigen
   Mit überirdischer Gewalt,
   Und meine Finger ließen schweigen
   Die Saiten, die wie Hohn geschallt.
   Mein Herz in seinem tiefsten Horte
   Schlug reuekrank, gewissenswund;
   Beim Chrysam deiner duft'gen Worte
   Ward es zu neuem Sein gesund.
   Aus deiner Geisteshöhe reichst du
   Mir deine Hand zur Stütze nun;
   Mit sanfter Liebeshand verscheuchst du
   Den Sturm -- und meine Sinne ruhn.
   Das ewig Wahre, ewig Schöne
   Durchflammt das Herz mir im Gebet;
   Stumm hört des Seraphs Harfentöne
   Im heiligen Schauder der Poet.

                                                            (Fiedler.)

Das ist ein Gedicht, auf das ein Kritiker hinweisen wird, der ein
wahrhafter Christ ist! Dann wird seine Kritik einen Sinn erhalten und
Gutes stiften: damit wird sie die gute Sache stärken und kräftigen, denn
sie wird zeigen, wie selbst ein Mensch, dessen Geist all die
verschiedenartigen Glaubenssätze und alle Fragen seiner Zeit umfaßte,
Fragen, die noch so unklar und verworren sind, die uns so weit von
Christus entfernen, wie selbst solch ein Mensch in seinen besten
Momenten, in Augenblicken höchster Klarheit, dichterischer Erleuchtung
und Hellsichtigkeit die Hoheit des Christentums über alles stellte. Was
aber hat die Kritik jetzt für einen Sinn? frage ich. Wozu kann es gut
sein, daß man die Menschen irreführt, indem man Zweifel und Argwohn
gegen Puschkin in ihre Seelen sät? Es ist doch keine Kleinigkeit, den
klügsten Menschen seiner Zeit als einen Mann hinzustellen, der das
Christentum negiert -- einen Menschen, zu dem das geistige Rußland wie
zu seinem Führer emporschaut, der alle andern Menschen weit hinter sich
gelassen und überholt hat! Es ist noch gut, daß es ein so unbegabter und
unfähiger Kritiker war und daß es ihm daher nicht gelingen konnte, einer
solchen Lüge Eingang zu verschaffen, und daß Puschkin selbst Gedichte
hinterlassen, die diese Lüge widerlegen; [wäre es nicht so gewesen, was
hätte er anderes tun können, als Unglauben statt Glauben zu verbreiten?]
So Schlimmes kann man anrichten, wenn man einseitig ist! Lieber Freund,
Gott bewahre Sie vor Einseitigkeit; mit ihr stiftet der Mensch überall
nichts wie Unheil: in der Literatur, in seiner amtlichen Tätigkeit, in
der Gesellschaft -- kurz überall! Ein einseitiger Mensch ist von sich
selbst überzeugt, ein einseitiger Mensch ist dreist, ein einseitiger
Mensch macht sich alle zu Feinden. Ein einseitiger Mensch kann nie das
rechte Maß finden. Ein einseitiger Mensch kann kein wahrer Christ sein;
er kann bloß ein Fanatiker sein. Einseitigkeit im Denken ist nur ein
Zeichen dafür, daß der Mensch erst auf dem Wege zum Christentum ist, daß
er es noch nicht ganz erfaßt hat, weil das Christentum unserm Geist
Vielseitigkeit verleiht. Mit einem Wort: Gott bewahre Sie vor der
Einseitigkeit! Bewahren Sie sich einen besonnenen Blick für jedes Ding
und denken Sie immer daran, daß es zwei gänzlich entgegengesetzte Seiten
haben kann, von denen Ihnen eine noch nicht bekannt ist. Theater und
Theater -- das sind zwei verschiedene Sachen, wie es ja auch beim
Publikum zwei Arten der Begeisterung gibt: es ist doch was anders, ob
man in Entzücken gerät, wenn eine Ballettänzerin ihr Füßchen möglichst
hoch in die Höhe schleudert, oder ob man von Begeisterung ergriffen
wird, wenn ein großer Schauspieler durch seine erschütternde Rede die
höchsten Gefühle im Menschen zu noch reinerer Höhe steigert. Ein andres
sind die Tränen, die ein fremder Sänger einem Menschen entlockt, indem
er sein Gehör in angenehmer Weise kitzelt, Tränen, die, wie ich höre,
heute auch solche Leute in Petersburg vergießen, die nicht Musiker sind,
und ein andres sind die Tränen, die dem Auge des Zuschauers entströmen,
wenn er durch die lebendige Darstellung einer hohen Tat bis ins Innerste
erschüttert wird und dann nach Verlassen des Theaters mit neuer Kraft,
noch ganz unter dem Eindruck dieser Darstellung einer heroischen
Handlung stehend, an seine pflichtmäßige Tätigkeit geht. Mein Freund.
Wir sind in diese Welt berufen, nicht um zu zerstören und zu vernichten,
sondern um [nach dem eigenen Vorbilde Gottes] alles zum Guten zu lenken
-- selbst das, was die Menschen bereits verdorben und zum Bösen gewandt
haben. Es gibt kein Werkzeug in der Welt, das nicht dem Dienste Gottes
geweiht wäre. Alle diese Hörner, Pauken, Leiern und Zimbeln, mit denen
die Heiden ihre Götzen verherrlichten, dienten, nach dem Siege des
Königs David, dem wahren Gott zu Preis und Ruhme, und in Israel
herrschte noch größere Freude, als es vernahm, daß dieselben
Instrumente, die noch nie Ihm zu Ehren erklungen waren, nun zu Seinem
Preis und Ruhme tönten.

                                                                 1845.




                                   XV
         Über die Aufgaben der lyrischen Dichtung unserer Zeit
                      Zwei Briefe an N. M. Jasykow


                                   I.

Dein Gedicht »Das Erdbeben« hat mich entzückt. Auch Schukowski war ganz
davon begeistert. Dies ist seiner Ansicht nach nicht nur das beste von
deinen Gedichten, sondern überhaupt das beste russische Gedicht. Welch
eine kluge und fruchtbare Idee: ein Ereignis der Vergangenheit zu nehmen
und in die Gegenwart zu verlegen! Auch die Anwendung auf den Dichter,
der seine Ode vollendet, ist so glücklich, daß jeder von uns, was auch
sein Beruf und seine Tätigkeit sein mag, sie in diesem furchtbaren Jahr,
wo die ganze Welt in ihrem Grunde erschüttert wird, und alles vor Angst
wegen des Kommenden vergehen will, auch für sich nutzbar machen sollte.

Freund! ein lebenspendender Quell springt vor dir auf. Deine an den
Dichter gerichteten Worte:

   Und bring den angsterfüllten Menschen
   Gebete mit aus Bergeshöhn

sind Worte, die an dich selbst gerichtet sind. Dir enthüllt sich das
Geheimnis deiner Muse. Die gegenwärtige Zeit bietet gerade dem lyrischen
Dichter die günstigste Gelegenheit zur Betätigung. Mit der Satire kann
man nicht viel ausrichten: mit einfachen Schilderungen und Nachbildungen
der Wirklichkeit, wie sie sich dem Auge moderner, weltlich gerichteter
Menschen darstellt, kann man niemand aus dem Schlummer wecken: die
heutige Zeit schläft den tiefen Schlaf des Helden. Nein, finde in der
Vergangenheit ein Ereignis, wie es sich auch heute ereignen könnte,
führe es uns plastisch vor Augen und triff es im Angesichte aller mit
deinem Verdammungsurteil, wie es zu seiner Zeit vom Zorne Gottes
getroffen ward; geißle die Gegenwart in der Vergangenheit, und eine
doppelte Kraft wird von deinem Worte ausgehen: die Vergangenheit wird
dadurch lebendiger werden, und wie ein Schrei wird dir's aus der
Gegenwart entgegentönen. Schlage das Alte Testament auf: du wirst jedes
Geschehnis, jede Tat der Gegenwart darin wiederfinden; klarer wie der
Tag wird's dir daraus entgegenstrahlen, worin ihr Vergehen wider Gott
lag, und so deutlich und überzeugend ist darin Gottes Gericht an ihr
geschildert, daß die Gegenwart erbeben muß. Du besitzest alle Mittel und
Fähigkeiten dazu: in deinem Vers liegt eine mahnende und erhebende
Kraft, und beides brauchen wir gerade heute. Die einen müssen erhoben
werden, die andern bedürfen der Ermahnung und des Tadels. Alle die
müssen erhoben werden, die durch die Untaten und durch alle Schrecken,
die sie umgeben, bestürzt und verwirrt sind, und man muß denen ins
Gewissen reden, die in den erhabenen Augenblicken des göttlichen Zornes
und der unendlichen Leiden, die keinen verschonen, noch den Mut haben,
sich wilden Ausschweifungen und einem schmählichen Jubel hinzugeben.
Deine Verse sollten allen in leuchtender Klarheit vorschweben, wie die
in die Luft geschriebenen Buchstaben, die während des Festmahls des
Belsazar aufflammten und schon alle in Schrecken versetzten, noch ehe
jemand ihren Sinn zu enträtseln vermochte. Wenn du jedoch wünschest, daß
dich alle noch besser verstehen, dann erfülle dich mit biblischem
Geiste, laß dir von ihm gleichwie von einer Fackel voranleuchten und
steige hinab bis in die tiefsten Grüfte des russischen Altertums, triff
in ihm die Schmach der gegenwärtigen Zeit und vertiefe damit in uns das
Gefühl für das, was unsere Schmach noch weit schmachvoller erscheinen
läßt. Dein Vers wird nicht schwächlich und matt klingen; das brauchst du
nicht zu fürchten; der Hauch der alten Zeit wird ihm Farben verleihen,
er allein wird dich in die rechte Stimmung versetzen und dich mit
Begeisterung erfüllen. Aus allen unseren Chroniken dringt er uns
förmlich wie etwas Lebendiges entgegen. Vor kurzem fiel mir ein Buch:
»Empfang beim Zaren« in die Hand. Hier sind schon allein die Ausdrücke
und die Namen der fürstlichen Kleidungsstücke, der teuren Gewebe und
Edelsteine ein wahrer Schatz für einen Dichter; jedes Wort schreit
förmlich nach dem Vers. Man staunt über die Kostbarkeiten unserer
Sprache, jeder Ton, jeder Laut ist ein Geschenk, da ist alles groß,
kernig und gleich einer Perle, und mancher Ausdruck ist noch kostbarer
als die Sache selbst, die er bezeichnet. Wenn es dir gelingt, deinen
Vers mit solchen Worten zu schmücken, -- wirst du den Leser völlig in
die vergangenen Zeiten zurückversetzen. Als ich drei Seiten aus diesem
Buche gelesen hatte, glaubte ich überall die alten Zaren jener
vergangenen altersgrauen Zeit in ihrem altertümlichen Zarenornat
andächtig zum Vespergottesdienste schreiten zu sehen.

                                                                 1844.


                                  II.

Ich schreibe dir noch einmal unter dem Eindruck deines bereits erwähnten
Gedichts: »Das Erdbeben«. Laß das begonnene Werk um Gottes willen nicht
liegen! Lies die Bibel noch einmal genau durch, erfülle dich mit dem
Geist des russischen Altertums und suche mit seinem Lichte in die
Gegenwart einzudringen. Es gibt noch ungeheuer viel Gegenstände, die du
bearbeiten solltest, und es ist eine Sünde, wenn du sie nicht siehst.
Schukowski hat bisher nicht mit Unrecht von deiner Poesie gesagt, sie
entstamme einer Begeisterung, die kein Objekt hat. Es ist eine Schande,
seine lyrische Kraft in blinden Luftschüssen verpuffen zu lassen, wo sie
dir doch dazu verliehen ward, um Steine zu sprengen und Felsblöcke
wegzuwälzen. Blick' um dich! alles ist jetzt Gegenstand für den
lyrischen Dichter, ein jeder Mensch lechzt förmlich nach einem lyrischen
Mahnruf, wo du hinblickst, überall siehst du jemand, der ermahnt oder
ermutigt und ermuntert sein will.

So rede denn zuallererst in einem gewaltigen lyrischen Mahngedicht den
Klugen ins Gewissen, die den Mut sinken ließen. Du wirst Eindruck auf
sie machen, wenn du ihnen die Sache in ihrem rechten Lichte zeigst, d.
h. wenn du ihnen beweisest, daß ein Mensch, der sich dem Trübsinn
hingibt, ein ganz überflüssiges wertloses Ding ist, das zu nichts nütze
ist, was auch immer die Ursachen der Trübsal und der Entmutigung sein
mögen; denn Trübsinn und Kleinmut sind Gott verhaßt. Du wirst den echten
russischen Mann zum Kampf gegen Kleinherzigkeit und Mutlosigkeit
aufrufen und ihn über alle Schrecknisse und alle Erschütterungen der
Erde erheben, wie du in deinem Erdbeben den Dichter erhöht und erhoben
hast.

Richte einen machtvollen lyrischen Appell an den noch schlummernden
schönen Menschen. Wirf ihm ein Brett vom Ufer zu, auf daß er seine arme
Seele rette. Schon hat er sich weit von der Küste entfernt; schon wird
er ganz umklammert und mitgerissen von der höchsten Schicht der
Gesellschaft, dieser nichtigen hohlen Oberschicht; schon locken ihn
Diners, die Füßchen der Tänzerinnen, und schon sieht man ihn täglich
einem betäubenden einschläfernden Rausch erliegen; schon wächst ihm
unmerklich die fleischliche Hülle, schon ist er ganz Fleisch geworden
und ist kaum noch etwas wie eine Seele in ihm. Schrei auf zu ihm wie aus
tiefster Not; laß das Greisenalter, diese Hexe, vor ihm erstehen, wie
sie auf ihn zueilt, sie, die ganz Eisen ist, ja gegen die ein Stück
Eisen noch wie Mitleid und Erbarmen erscheint, und die uns keinen Fetzen
eines Gefühls wieder zurückgibt. O wenn du ihm doch das sagen könntest,
was mein Pljuschkin aussprechen soll, wenn ich noch dazu komme, den
dritten Teil meiner »Toten Seelen« zu schreiben!

Stell' in einem zürnenden Dithyrambus die Wucherer neuesten Schlages,
wie sie in unseren Tagen ihr Wesen treiben, an den Pranger: ihren
verfluchten Luxus, ihre schlechten Frauen, die sich und ihre Männer mit
ihrer Eitelkeit und ihrem Flitter zugrunde richten, die verfluchte
Schwelle ihrer prunkenden Paläste und die abscheuliche Luft, die sie
dort atmen; auf daß sie jedermann, ohne sich umzusehen, meide und
eilenden Fußes entfliehe, wie vor der Pest.

Verherrliche in einem feierlichen Hymnus den stillen bescheidenen
Arbeiter, der -- ein Ruhm und eine Ehre des edlen russischen Wesens --
mitten unter den waghalsigsten dreistesten Wucherern lebt und der in
seiner Unbestechlichkeit nie ein Geschenk annimmt, selbst dort nicht, wo
sich alles um ihn herum bestechen läßt. Verherrliche ihn, seine Familie,
sein edles Weib, das lieber selbst in einer altmodischen Haube
einhergeht und sich dem Gespött der Leute aussetzt, als zuläßt, daß ihr
Mann etwas Niederträchtiges oder Schlechtes begeht. Stell' ihre
herrliche Anmut so dar, daß sie vor allen Augen aufstrahle wie ein
Heiligtum, und daß einen jeden die Sehnsucht nach ihr ergreife.

Laß einen Hymnus zum Preis jenes Recken erklingen, wie er nur aus
russischen Landen hervorgehen kann, der plötzlich aus seinem
schmählichen Schlummer erwacht, sich gänzlich verwandelt und mit einem
Schlage ein anderer wird: der offen und vor aller Welt seine
Schlechtigkeit und seine abscheulichen Laster verflucht und der
gewaltigste Streiter und Vorkämpfer des Guten wird. Zeig' uns, wie sich
diese ungeheure gewaltige Tat in der echten russischen Seele vollzieht,
aber stell' es so dar, daß die russische Seele in jedem von uns
unwillkürlich erbebt und daß jeder, selbst der Mann der unteren Stände
ausrufen muß: Wackerer Mann! und von dem Gefühl ergriffen wird, daß auch
er dasselbe vollbringen kann.

Groß, gewaltig groß ist die Zahl der Gegenstände für einen lyrischen
Dichter -- ein ganzes Buch würde kaum genügen, um sie aufzuzählen,
geschweige denn ein Brief. Alle wahrhaften russischen Gefühle
verkümmern, und es ist niemand da, der sie zu wecken vermöchte! Es
schlummert unsere Kühnheit, und es schlummern unser Wagemut und unsere
Entschlossenheit zur Tat, es schlummert unsere unerschütterliche Kraft
und Stärke, es schläft unser Verstand, der völlig von den Interessen
eines mattherzigen, weibischen gesellschaftlichen Lebens absorbiert
wird, das uns unter dem Namen der Aufklärung aufgedrängt worden und als
Begleiterscheinung aller möglicher sinnloser und kleinlicher Neuerungen
bei uns eingezogen ist. Reib dir den Schlaf aus den Augen und geh hin
und rüttle auch die andern aus dem Schlummer auf. Wirf dich vor deinem
Gott auf die Knie und flehe ihn an, er solle deinem Herzen Zorn und
Liebe senden: Zorn wider das, was dem Menschen verderblich ist, und
Liebe -- für die arme Menschenseele, die alle mit Verderben bedrohen und
die er selbst zugrunde richtet. Die Worte und Ausdrücke wirst du schon
finden: nicht Worte, sondern flammende Blitze werden aus deinem Munde
zucken, wie aus dem der alten Propheten, wenn du die Sache nur gleich
ihnen zu deiner eigensten Angelegenheit, zu einer Angelegenheit deines
innersten Wesens machen, wenn du nur gleich ihnen Asche auf dein Haupt
streuen, deine Kleider zerreißen und Gott weinend darum anflehen wirst,
die Kraft auf dich herabzusenden, und wenn du die Errettung deines
Landes mit solcher Glut und Inbrunst herbeisehnen wirst, wie sie die
Errettung ihres von Gott erwählten Volkes herbeigesehnt haben.

                                                                 1844.




                                  XVI
                               Ratschläge
                           An S. P. Schewyrew


Indem wir andre belehren, lernen wir selbst. Während dieser schweren
Zeit der Krankheit, zu der sich auch noch schwere seelische Leiden
gesellt haben, war ich genötigt, einen so regen Briefwechsel zu
unterhalten, wie ich ihn bisher noch nicht geführt habe. Und wie mit
Absicht war dies beinahe für alle, die meinem Herzen nahe stehen, eine
Zeit voll innerer Erlebnisse und Erschütterungen. Sie alle wandten sich,
wie von einem dunklen Instinkt getrieben, an mich und verlangten Rat und
Hilfe von mir. Jetzt erst erkannte ich, welch nahe Verwandtschaft die
Seelen der Menschen miteinander verbindet. Man muß nur selbst ernsthaft
gelitten haben, um jeden Leidenden zu verstehen und um beinahe sicher zu
sein, was man ihm zu sagen hat. Aber mehr noch: auch unser Verstand wird
klarer; die Lage der Menschen und ihre Berufstätigkeit, in die man
bisher keinen Einblick hatte, werden einem plötzlich deutlich und
verständlich, und es wird einem klar, wessen ein jeglicher bedarf.
Während der letzten Zeit kam es sogar vor, daß ich Briefe von Menschen
erhielt, die mir fast gänzlich unbekannt waren, und daß ich ihnen
Ratschläge erteilen konnte, die ich früher nie hätte erteilen können.
Und dabei bin ich doch gewiß nicht klüger als irgendein anderer Mensch.
Ich kenne Menschen, die weit klüger und gebildeter sind und die sehr
viel nützlichere Ratschläge erteilen könnten als ich, aber sie tuen es
dennoch nicht und wissen nicht einmal, wie man so etwas macht. Gott ist
groß, und Er ist es, der uns die Weisheit schenkt. Wodurch aber macht Er
uns weise? Durch dasselbe Leiden, dem wir zu entfliehen suchen und vor
dem wir uns verbergen. Es ist unsere Bestimmung, daß wir uns durch
Kummer und Leiden ein Körnchen von jener Weisheit erwerben sollen, die
wir aus keinem Buche zu lernen vermögen. Wer sich jedoch bereits ein
solches Körnchen erworben hat, der hat schon nicht mehr das Recht, es
vor den anderen zu verbergen und geheimzuhalten. Es ist nicht mehr
unser, sondern Gottes. Gott hat es in dir hervorgebracht; und alle Gaben
Gottes werden uns deshalb verliehen, damit wir mit ihrer Hilfe unseren
Mitbrüdern dienen können. Er hat geboten, daß wir einander fortwährend
belehren sollen. Nun denn, so ruhe nicht und stehe andern mit Rat und
Belehrung zur Seite. Wenn du jedoch willst, daß das auch dir zugleich
von Nutzen sei, so tue so, wie ich es für richtig halte und wie ich es
mir von nun ab für immer zum Gebot meines Handelns gemacht habe. Jeden
Ratschlag und jede Belehrung, die du jemand erteilst, sei es selbst
einem Menschen, der auf der niedrigsten Bildungsstufe steht und mit dem
du nichts gemein haben kannst, richte zugleich an dich selbst, und was
du dem andern geraten hast, das rate dir selbst; was du an einem andern
zu tadeln fandest, das mache dir sogleich auch selbst zum Vorwurf.
Glaube mir, alles wird auch auf dich passen, und ich weiß nicht einmal,
ob es einen Fehler gibt, den man sich nicht selbst vorzuwerfen hätte,
wenn man nur tiefer in sich selbst hineinblickt. Deine Waffe sei
zweischneidig. Selbst wenn du dich einmal über einen Menschen ärgerst
und ihm zürnst, so zürne zugleich dir selbst, wenn auch nur deswegen,
weil du einem andern zürnen konntest. Tue das unter allen Umständen!
Lasse dich selbst nie aus den Augen! In dieser Beziehung mußt du Egoist
sein. Der Egoismus ist gar keine so häßliche Eigenschaft. Die Menschen
hätten ihm bloß keine so schlimme Deutung geben sollen. Und doch liegt
dem Egoismus eine große Wahrheit zugrunde. Kümmere dich vor allem um
dich selbst und dann erst um die andern; suche zuerst selbst besser und
reineren Herzens zu werden und dann erst sorge dafür, daß die andern
besser und reiner werden.

                                                                 1846.




                                  XVII
                          Über die Aufklärung
                          An W. A. Schukowski


Ich schreibe dir noch einmal von der Reise. Bruder! Ich danke dir für
alles. Am Grabe des Herrn will ich zu Gott beten, Er möge mir die Kraft
verleihen, dir auch nur einen Teil von all dem wiederzuerstatten, das du
in deiner Güte und Klugheit an mir getan hast. Glaube und laß dich nicht
irremachen in deinem Herzen. Wenn du nach Moskau kommst, wird es dir so
erscheinen, als ob du in den Schoß deiner eigenen lieben Familie kämest.
Moskau wird dir wie ein ersehnter Hafen erscheinen, und du wirst es dort
ruhiger haben, als hier. Weder der sinnlose Lärm des leeren
Weltgetriebes noch das ewige Wagengerassel wird dich beunruhigen;
rücksichtsvoll wird man die Straße vermeiden, in der du wohnen wirst.
Und selbst wenn jemand angefahren kommen sollte, um dich zu besuchen --
ein alter Freund, oder ein Mensch, den du bisher noch nicht kanntest, so
wird er dir zuvorkommen und dich bitten, ihm keinen Gegenbesuch zu
machen, um dir nur ja keinen Augenblick deiner Zeit zu rauben. Bei uns
versteht man sich darauf und weiß man sehr gut, wie man einen Menschen
ehrt, der seine Schuldigkeit ganz getan hat. Wer all seine Gaben so
einwandfrei treu und ehrlich ausgenutzt hat, ohne seine Fähigkeiten
einschlafen zu lassen, ohne sich sein Leben lang je einen Augenblick der
Trägheit hinzugeben, wer sich im Alter die Frische der Jugend erhalten
hat, während alle um ihn herum sie in törichten Ausschweifungen
ausgegeben haben und während die Jungen gebrechliche Greise geworden
sind, der hat Anspruch auf Achtung und Ehrfurcht. Du wirst in Moskau
leben wie ein Patriarch, und die Jugend wird den Worten des Greises
lauschen und sie hüten, wie lauteres Gold. Deine Odyssee wird von großem
Nutzen für die allgemeine Sache sein; das sage ich dir voraus. Sie wird
dem Menschen von heute, der sich durch die Verworrenheit unseres Lebens
und unserer Gedanken ermüdet fühlt, seine Frische wiedergeben, durch sie
wird er vieles in einem neuen Lichte sehen, was er als alten Plunder,
der keinen Wert für das Leben hat, von sich geworfen hat. Sie wird ihn
der Schlichtheit und Einfachheit wiedergeben. Aber nicht weniger, wenn
nicht noch mehr gute Früchte werden die Werke bringen, auf die dich Gott
selbst hingewiesen hat, und die du mit Recht noch geheimhältst. Auch sie
werden einem allgemeinen Bedürfnis entsprechen. So laß denn den Mut
nicht sinken und schaue fest und ruhig in die Zukunft! Laß dich nicht
schrecken durch die Mißform und die Disharmonie, der du begegnest. Es
gibt mitten in unserem Lande eine Macht, die mit allem versöhnt und
alles zur Eintracht bringt, und die bisher noch nicht alle sehen --
unsere Kirche. Doch schon rüstet sie sich, von ihren Rechten vollen
Besitz zu nehmen und ihr Licht hell über die ganze Erde erstrahlen zu
lassen. In ihr ist alles enthalten, dessen man für ein Leben in wahrhaft
russischem Sinne und Geiste, und zwar in jeder Beziehung und jeglicher
Rücksicht: sowohl für das staatliche wie für das gewöhnliche
Familienleben bedarf, sie schafft die rechte Stimmung und Disposition
für alles, sie weist allem die Richtung und den rechten, richtigen Weg.
Meiner Ansicht nach ist schon der bloße Gedanke, unter Ignorierung
unserer Kirche Reformen in Rußland einzuführen, ohne sich ihren Segen
dazu erbeten zu haben, eine Torheit. Ja, es wäre sogar unsinnig, wenn
wir selbst unserer Denkweise allerhand aus Europa stammende Gedanken
aufpfropfen wollten, ehe sie von der Kirche die Weihe erhalten und ehe
sie vom Licht des Christentums verklärt worden sind. Du wirst sehen, du
wirst Zeuge davon sein, wie das in Rußland mit einem Schlage von allen
-- von den Gläubigen wie von den Ungläubigen -- zugegeben werden und wie
unsere Kirche plötzlich, von allen erkannt und verstanden, dastehen
wird. Es war wohl der Wille der Vorsehung, daß so viele von einer
unerklärlichen Blindheit geschlagen werden sollten. Wenn ich die Fäden
der Weltereignisse sorgsam aneinanderzulegen versuche, dann erkenne ich
die ganze Weisheit Gottes, die darin liegt, daß Er zuerst eine
vorübergehende Spaltung innerhalb der Kirche geschehen ließ, der einen
gebot, unbeweglich und gleichsam in einer großen Entfernung und
Entfremdung von den Menschen zu verharren, und bestimmte, daß die andere
in ihre Unruhe und Bewegung hineingezogen werde, daß Er der einen gebot,
keine Reformen oder Neuerungen zuzulassen, außer denen, die von den
heiligen Männern der besten Zeiten des Christentums und von den ersten
Vätern der Kirche eingeführt wurden -- während Er die andere hieß, sich
in stetigem Wandel an alle Zeitumstände, den Geist und die Gewohnheiten
der Menschen anzupassen und alle möglichen Neuerungen durchzuführen,
selbst solche, die von sündhaften und lasterhaften Priestern ausgingen,
daß Er die eine gleichsam der Welt absterben und die andre gewissermaßen
die Herrschaft über die ganze Welt gewinnen ließ, daß Er die eine hieß,
sich gleich der bescheidenen Maria aller Sorgen um das Irdische zu
entschlagen und sich zu den Füßen des Herrn niederzulassen, auf daß sie
sich recht tief mit Seinem Worte erfülle, ehe sie hinginge, es
anzuwenden und es den Menschen zu verkünden, der andern dagegen gebot,
gleich der sorgsamen Martha, sich wie eine gastfreie Hausfrau um die
Menschen zu kümmern, und ihnen die noch nicht völlig durchdachten
Herrenworte mitzuteilen. Die erste hatte das bessere Teil erwählt; sie
lauschte lange und aufmerksam den Worten des Herrn und ertrug geduldig
die Vorwurfe der kurzsichtigen Schwester, die sich sogar erdreistete,
sie einen _toten_ Leichnam zu nennen, sie des Irrglaubens zu
beschuldigen und ihr vorzuwerfen, daß sie vom Herrn abgefallen sei. Es
ist nicht leicht, Christi Wort auf die Menschen anzuwenden, daher mußte
sie sich zuvor tief von ihm durchdringen lassen. Dafür hat sich in
unserer Kirche alles erhalten, dessen unsere erwachende Gesellschaft
bedarf. Sie ist Steuer und Richtmaß der kommenden neuen Ordnung der
Dinge, und je tiefer ich mich mit Herz, Verstand und Gemüt in sie
versenke, um so mehr wundere ich mich, welch erstaunliche Möglichkeiten
für eine Versöhnung der Widersprüche in ihr liegen, die die römische
Kirche nicht zur Aussöhnung zu bringen vermag. Die römische Kirche
mochte noch ausreichen für die frühere unkomplizierte Ordnung der Dinge;
sie konnte vielleicht zur Not die Welt lenken und sie mit Christus
aussöhnen, solange die Menschheit noch so unvollkommen und einseitig
entwickelt war. Jetzt dagegen, wo die Menschheit zu einer so
vollkommenen Entwicklung aller ihrer Kräfte und aller ihrer Fähigkeiten
-- der guten sowohl wie der bösen -- gelangt ist, jetzt kann die
römische Kirche die Menschen Christus nur entfremden: je mehr sie um den
Frieden und die Einigkeit besorgt ist, um so mehr Hader sät sie, da sie
mit ihrem dünnen Licht nicht imstande ist, die Dinge, so wie sie sich
heute darstellen, von allen Seiten zu beleuchten. Alle sind sich darüber
klar, daß sie mit der Aufstellung so vieler menschlicher Satzungen, die
von solchen Kirchenfürsten herrühren, die noch keineswegs durch die
Heiligkeit ihres Lebenswandels der höchsten und allumfassenden
christlichen Weisheit teilhaftig geworden waren, sich ihren Blick für
die Welt und das Leben verengt hat und diese nicht mehr zu umfassen
vermag. Einen allseitigen vollständigen Blick für das Leben gibt es
jetzt nur noch auf ihrer östlichen Hälfte, die offenbar für eine spätere
und höhere Entwicklungsstufe der Menschheit prädestiniert ist. In ihr
kann sich nicht nur Herz und Seele des Menschen, sondern auch sein
Verstand in seinen höchsten und edelsten Fähigkeiten frei entfalten. Sie
ist nur Weg und Richtung, um alle Kräfte und Vermögen der Menschen in
einem einmütigen Hymnus auf das höchste Wesen zusammenzuführen. Freund,
laß dich nicht irremachen! Und wenn die heutigen Verhältnisse noch
siebenmal verwickelter wären -- unsere Kirche wird sie alle entwirren
und zur Versöhnung bringen. Wie von einem dunklen Instinkt geleitet,
beginnen selbst unsere Weltleute, die sich unter uns bewegen, bereits
etwas davon zu ahnen, daß wir einen Schatz besitzen, in dem unsere
Rettung liegt, -- der sich mitten unter uns befindet und den wir nicht
bemerken. Dieser Schatz wird eines Tages hell aufstrahlen, und sein
Glanz wird auf jedes Ding fallen. Und diese Zeit ist nicht mehr fern.
Wir führen jetzt immer das sinnlose Wort Aufklärung im Munde, und dabei
haben wir es uns nicht einmal überlegt, woher dies Wort stammt und was
es bedeutet. Dies Wort gibt es in keiner Sprache, es existiert nur bei
uns. Aufklären[4] heißt nicht belehren, unterweisen, bilden oder gar
erleuchten, sondern den Menschen bis in sein Innerstes hinein mit all
seinen Kräften und Vermögen _durch_leuchten, nicht nur seinen Verstand;
heißt sein ganzes Ich wie durch ein reinigendes Feuer hindurchgehen
lassen. Dieses Wort stammt aus dem Sprachschatz unserer Kirche, die es
bereits gegen tausend Jahre lang gebraucht, trotz aller Finsternis und
trotz der Wolken und Nebel der Unwissenheit, die sie von allen Seiten
umwogen, und sie weiß, warum sie es braucht. Nicht umsonst hebt der
Oberpriester beim Hochamt den dreiarmigen Leuchter, das Sinnbild der
heiligen Dreieinigkeit, und den zweiarmigen Leuchter, das Sinnbild
Seines heiligen Wortes, das in doppelter Gestalt als Gott und Mensch zu
uns auf die Erde herabgestiegen ist, mit beiden Händen empor, weiht alle
mit ihnen und spricht: »Christi Licht erleuchtet, heiliget, verkläret
alle!« Und nicht umsonst ertönen während eines andern Teils der Messe in
kurzen Abständen, als kämen sie vom Himmel, die Worte an eines jeden
Ohr: »Das Licht der Aufklärung!« ohne daß etwas anderes zu ihnen
hinzugefügt würde.

                                                                 1846.

[Fußnote 4: Das russische Wort für Aufklärung hat noch den Nebensinn der
»_Durchleuchtung_«. Anm. des Herausgebers.]




                                 XVIII
      Vier Briefe an verschiedene Personen über die »Toten Seelen«


                                   I.

Sie haben unrecht, sich so über den maßlosen Ton aufzuregen, in dem
manche Angriffe gegen die »Toten Seelen« geschrieben sind: das hat auch
seine gute Seite. Mitunter brauchen wir Menschen, die über uns empört
sind. Wer ganz von der Schönheit einer Sache ergriffen ist, der sieht
die Mängel nicht und verzeiht alles; wer uns dagegen zürnt und gegen uns
erbittert ist, der wird versuchen, alles Häßliche, allen Unrat in uns
aufzuwühlen und ihn so deutlich ans Licht zu stellen, daß wir ihn sehen
müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Man bekommt so selten die Wahrheit
zu hören, daß man schon um eines kleinen Körnchens Wahrheit willen die
Kränkung verzeihen sollte, die in dem Ton liegt, in dem sie
ausgesprochen wird. In den Kritiken Bulgarins, Ssenkowskis und Polewois
steckt viel Richtiges, ja selbst in dem Rat, der mir gegeben wird, ich
solle zuerst einmal Russisch lernen und dann Bücher schreiben. In der
Tat, wenn ich mich mit der Drucklegung des Manuskripts nicht so beeilt
hätte und es noch ein Jahr lang liegen gelassen hätte, so hätte ich wohl
selbst gesehen, daß das Buch unter keinen Umständen in einem so rohen
und unordentlichen Zustand hätte erscheinen dürfen. Ja, selbst die
Epigramme und die Scherze, die gegen mich gerichtet wurden, hatte ich
nötig, trotzdem sie mir zuerst durchaus nicht gefielen und mir
keineswegs angenehm waren. O wie sehr bedürfen wir der ständigen Püffe
und Stöße, wie sind uns dieser beleidigende Ton und diese boshaften aufs
tiefste verwundenden Spöttereien vonnöten! Auf dem Grunde unserer Seele
liegt soviel kleinliche armselige Eitelkeit, soviel häßlicher leicht
verletzter Ehrgeiz verborgen, daß wir in einem fort Püffe erhalten und
mit allen nur möglichen Zuchtruten gezüchtigt werden sollten, ja wir
sollten uns stets dankbar über die Hand freuen, die uns züchtigt.

Indessen wünschte ich mir doch noch mehr Kritiken, die nicht von
Literaten, sondern von Menschen herrühren, deren eigentliches
Tätigkeitsfeld das Leben selbst ist. Von praktisch tätigen Leuten hat
sich -- abgesehen von den Literaten -- wie zum Tort für mich auch nicht
ein einziger geäußert. Und doch haben die »Toten Seelen« viel von sich
reden gemacht und viel Unwillen erregt; sie haben viele durch Spott und
Karikatur und die in ihnen enthaltene Wahrheit im Innersten getroffen;
sie haben Verhältnisse berührt, die ein jeder täglich vor Augen hat,
obwohl sie freilich andererseits auch wieder voller Fehler, Versehen und
Anachronismen sind und an einer offenbaren Unkenntnis vieler Gegenstände
kranken; hie und da habe ich sogar mit Vorbedacht manch Anstößiges und
Verletzendes aufgenommen; ich dachte mir: vielleicht wird mich jemand
tüchtig dafür ausschelten und mir in seinem Ärger und Zorn die Wahrheit
sagen, die ich hören will. Ach, wenn doch nur eine Menschenseele ihre
Stimme erhoben hätte! Und doch hätte jeder dies leicht gekonnt. Und
wieviel Gescheites hätte er sagen können! Ein Beamter hätte mir offen
vor allen Leuten die Unwahrscheinlichkeit der von mir geschilderten
Vorgänge nachweisen können, da er mir nur zwei oder drei Vorgänge hätte
vorzuhalten brauchen, die sich wirklich ereignet haben, und so hätte er
mich gründlicher widerlegt, als mit vielen Worten; und in derselben
Weise hätte er für die Wahrheit meiner Schilderungen eintreten und den
Beweis für sie erbringen können. Durch Anführung einer Begebenheit, die
sich wirklich ereignet hat, beweist man viel mehr, als durch leere Worte
und literarische Redensarten. Und das gleiche hätte der Kaufmann, der
Gutsbesitzer, kurz jedermann, der des Lesens und Schreibens kundig ist,
tun können, ob er nun ein eingefleischter Stubenhocker ist oder das
weite russische Land in allen Richtungen durchstreift. Hat doch ein
jeder Mensch, auch wenn er bereits eine eigene Ansicht über die Dinge
besitzt, auf der Stelle oder auf der Stufe der sozialen Ordnung, auf die
er durch sein Amt, seinen Beruf oder durch seine Bildung gestellt ist,
stets Gelegenheit, jeden Gegenstand von einer Seite kennen zu lernen,
von der ihn kein anderer Mensch zu sehen vermag. Über die »Toten Seelen«
könnte von ihrem gesamten Leserkreis ein zweites, unvergleichlich viel
interessanteres Buch als die »Toten Seelen« selbst geschrieben werden;
ein Buch, aus dem nicht nur ich, sondern auch die Leser selbst Belehrung
schöpfen können, weil wir ja alle -- wozu sollen wir unsere Fehler
verheimlichen! -- weil wir Rußland allesamt recht schlecht kennen.

Ach wenn doch nur _eine_ Seele ihre Stimme laut und für alle vernehmbar
erhoben hätte! Es ist fast so, als ob alles ausgestorben wäre, wie wenn
Rußland tatsächlich nicht von lebendigen, sondern nur noch von »toten
Seelen« bewohnt würde. Und da wirft man mir meine mangelhafte Kenntnis
Rußlands vor! Wie wenn ich, wie vom Heiligen Geiste erleuchtet, von
allem unterrichtet sein müßte, was an sämtlichen Ecken und Enden
Rußlands geschieht! Ich soll über alles unterrichtet sein, ohne daß mich
jemand unterrichtet! Woraus aber kann ich Belehrung schöpfen, ich, ein
Schriftsteller, der schon durch seinen Schriftstellerberuf zu einer
sitzenden einsiedlerischen Lebensweise verurteilt, der noch dazu krank
und genötigt ist, außerhalb Rußlands in der Fremde zu leben. Auf welche
Weise soll ich mir diese Kenntnisse verschaffen? Die Literaten und
Journalisten können mich doch nicht darüber belehren, denn sie sind doch
auch Einsiedler und Stubenhocker. Der Schriftsteller hat überhaupt nur
einen Lehrer: das sind die Leser selbst. Die Leser aber haben sich
geweigert, mich zu belehren. Ich weiß, daß ich strenge Rechenschaft vor
Gott werde ablegen müssen, weil ich meine Aufgabe nicht erfüllt habe,
wie ich sollte; aber ich weiß, daß auch andere die Verantwortung für
mich werden übernehmen müssen. Und das sage ich nicht ohne Grund; Gott
selbst weiß es, daß ich dies nicht ohne guten Grund sage.

                                                                 1843.


                                  II.

Ich habe es vorausgesehen, daß alle lyrischen Episoden in meiner
Dichtung falsch aufgefaßt werden würden. Sie sind so unklar, haben so
wenig Zusammenhang mit den Gegenständen, die vor den Augen des Lesers
vorüberziehen, sie passen so wenig zu dem Stil und der Haltung des
ganzen Werkes, daß sie die Gegner wie ihre Freunde und Verteidiger
gleichermaßen irregeführt haben. Alle Stellen, wo ich in ganz
allgemeiner Weise über den Schriftsteller rede, wurden auf mich bezogen;
ich habe sogar über die Versuche erröten müssen, sie zu meinen Gunsten
auszulegen. Aber es geschieht mir ganz recht! Unter keinen Umständen
hätte ich ein Werk herausgeben dürfen, das zwar in seiner Anlage nicht
schlecht, jedoch nur flüchtig und wie mit weißen Fäden zusammengeheftet
war, gleich einem Anzug, den der Schneider zur Anprobe mitbringt. Ich
wundere mich nur, daß so wenig Ausstellungen gegen die Kunst und das
Prinzip des Schaffens gemacht worden sind. Daran sind einerseits der
Ärger und Unmut meiner Kritiker, andererseits aber der Umstand schuld,
daß wir nicht gewöhnt sind, tiefer nach dem Plan und dem Aufbau eines
Werkes zu forschen. Man hätte darauf hinweisen müssen, welche Teile im
Verhältnis zu den andern viel zu lang geraten sind, wo der Verfasser
sich selbst untreu wird und den eigenen Ton, in dem er begonnen hat,
nicht festhält. Ja, es hat auch nicht einer bemerkt, daß die letzte
Hälfte des Buches viel weniger ausgeführt ist als die erste, daß sie
viele Lücken enthält, daß darin die wichtigsten und bedeutsamsten
Momente in gedrängter Kürze dargestellt, die unwichtigen und
nebensächlichen weit ausgesponnen sind, daß der Geist, der das Werk
erfüllt, aus ihm nicht genügend hervorleuchtet, dafür aber die Buntheit
der Teile und das Fragmentarische des Ganzen um so mehr in die Augen
fällt. Kurz, man hätte weit ernstere und gediegenere Einwände machen,
man hätte mich weit heftiger tadeln können, als man es jetzt tut, und
zwar mit gutem Grunde. Aber jetzt handelt es sich nicht darum. Worum es
sich hier handelt, das ist die lyrische Episode, die den meisten
Angriffen von seiten der Journalisten ausgesetzt war und in der man
Anzeichen einer übertriebenen Selbsteinschätzung, Selbstbeweihräucherung
und einen Hochmut hat finden wollen, wie er bisher bei keinem
Schriftsteller zu finden war. Ich habe hier jene Stelle aus dem letzten
Kapitel im Auge, wo der Verfasser von Tschitschikows Abreise aus der
Stadt erzählt, seinen Helden für eine Weile allein auf der Landstraße
läßt, sich selbst an seine Stelle versetzt und sich unter dem Eindruck
der Monotonie und der Einförmigkeit seiner Umgebung, der öden und kalten
Ungastlichkeit des grenzenlosen Raumes und des traurigen Liedes, das von
einem Meer zum andern durch das ganze weite russische Land tönt, in
einer lyrischen Apostrophe an Rußland selbst wendet, es um eine
Erklärung für das unbegreifliche Gefühl bittet, das sich des Dichters
bemächtigt hat, und fragt: warum es ihm so erscheint, als heftete alles,
jeder beseelte und jeder seelenlose Gegenstand seinen Blick auf ihn und
als erwarte er etwas von ihm. Diese Worte wurden als Hochmut und als
eine bisher unerhörte Prahlerei ausgelegt, während sie doch weder das
eine noch das andere sind. Sie sind einfach ein ungelenker Ausdruck für
ein echtes Gefühl. Ich kann noch immer diese melancholischen Töne
unserer Lieder nicht ertragen, die durch die unendlichen, grenzenlosen
Räume Rußlands klingen. Diese Töne schwingen in meinem Herzen weiter,
und ich bin erstaunt, daß nicht ein jeder dasselbe in seinem Innern
empfindet. Wer beim Anblick dieser wüsten, noch unbevölkerten und
ungastlichen Räume nicht traurig gestimmt wird, wer aus den
melancholischen Klängen unserer Lieder nicht einen schmerzlichen Vorwurf
gegen sich selbst, jawohl, _gegen sich selbst_ heraushört, der hat
entweder seine Pflicht und Schuldigkeit bereits restlos getan, oder er
hat keine russische Seele. Betrachten wir die Sache einmal so, wie sie
sich wirklich verhält. Schon sind beinahe hundertundfünfzig Jahre
verflossen, seit Kaiser Peter I. uns mit dem reinigenden Feuer der
europäischen Aufklärung den Schlaf aus den Augen gescheucht und uns alle
Mittel und Werkzeuge in die Hand gegeben hat, damit wir zur Tat
schreiten sollten; noch immer aber liegt unser weites Land ebenso öde,
traurig und einsam da, noch ist alles um uns herum ganz ebenso
unfreundlich und ungastlich wie ehedem, ganz als ob wir noch immer nicht
bei uns zu Hause unter dem eigenen heimischen Dach weilten, sondern
irgendwo obdachlos auf der Landstraße lägen, noch weht uns von Rußland
kein warmes herzliches Gefühl entgegen, wie wenn wir von lieben Brüdern
empfangen würden, es erscheint uns vielmehr wie eine kalte vom
Schneesturm verwehte Poststation, aus der ein einsamer, gegen alles
gleichgültiger Stationswächter hervorschaut, der auf unsere Frage stets
die nüchterne trockene Antwort bereit hat: »Wir haben keine Pferde!«
Woher kommt das? Wer ist schuld? Wir [oder die Regierung? Aber] die
Regierung ist doch die ganze Zeit über unermüdlich tätig gewesen. Dafür
zeugen zahlreiche Bände voller Verfügungen, Gesetzesverordnungen und
Maßnahmen, eine gewaltige Zahl neu erbauter Häuser, eine Menge neu
herausgegebener Bücher, eine Unzahl von Einrichtungen und
Institutionen aller Art: Lehranstalten, humanitäre Einrichtungen,
Wohltätigkeitseinrichtungen, kurz, sogar solche Anstalten, wie sie von
keiner Regierung eines andern Staates gegründet werden. Die Fragen
kommen von oben, die Antworten von unten; und mitunter ertönten von oben
Fragen, die von ritterlichen und hochherzigen Regungen vieler Herrscher
Zeugnis ablegen, die häufig sogar gegen ihre eigenen Interessen und
gegen ihren eigenen Vorteil gehandelt haben. Und wie hat man von unten
auf dies alles geantwortet? Es kommt doch auf die Verwertung eines
Gedankens, auf die Kunst an, ihm eine solche Anwendung zu geben, daß man
sich ihn wirklich anzueignen vermag und daß er in uns Wurzeln schlägt.
Eine Verordnung mag noch so wohl durchdacht und noch so bestimmt sein,
sie ist doch nur eine Blankoanweisung, wenn es unten an dem gleichen
reinen Streben fehlt, sie in die Tat umzusetzen und zwar in der
Richtung, in der es erforderlich ist, in der dies geschehen muß und die
nur _der_ richtig beurteilen und bestimmen kann, dessen Geist vom
Begriff der göttlichen -- nicht der menschlichen Gerechtigkeit
erleuchtet ist. Ohne dies muß alles eine schlimme Wendung nehmen. Ein
Beweis dafür sind die zahlreichen abgefeimten Gauner und bestechlichen
Beamten, die es bei uns gibt, die es verstehen, jede Verordnung zu
umgehen, für die jede neue Verordnung nur eine neue Einnahmequelle, ein
neues Mittel ist, die Abwicklung der Geschäfte durch neue Komplikationen
zu belasten und zu erschweren und dem Menschen einen neuen Knüppel
zwischen die Beine zu werfen. Mit einem Wort, wohin ich mich wende,
überall sehe ich, daß _der_ die Schuld trägt, der die Verordnungen
durchführt, d. h. wir selbst, einer von uns: und zwar ist er entweder
schuld, weil er den brennenden Wunsch hat, seinen Namen berühmt zu
machen [oder einen Orden zu ergattern], und sich daher zu sehr beeilt,
oder er ist schuld, weil er gar zu hitzig vorwärtsstrebt, um nach gut
russischer Art seinen Opfermut zu beweisen; so einer geht nicht lange
mit sich zu Rate, fragt in seinem hitzigen Übereifer nicht erst viel,
worum es sich handelt, bemächtigt sich sofort der Sache wie ein
Sachverständiger und ist dann -- gleichfalls nach gut russischer Art --
schnell wieder abgekühlt, wenn er sich einem Mißerfolg gegenübersieht;
oder er ist schließlich schuld, weil er aus verletzter, kleinlicher
Eitelkeit gleich alles hinschmeißt und den Posten, auf dem er einen so
schönen Anlauf genommen hatte, dem ersten besten Gauner abtritt, [damit
der die Leute gründlich rupfen kann]. Kurz, selten besitzt einer von uns
genug Liebe zum Guten, um ihr seinen Ehrgeiz, seine Eitelkeit und all
die kleinen Regungen eines übermäßig empfindlichen Egoismus zum Opfer zu
bringen und es sich unweigerlich zum Gebot zu machen -- seinem
Vaterlande -- und nicht sich selbst zu dienen, ewig eingedenk, daß er
seinen Beruf ergriffen hat, um andre glücklich zu machen und nicht sich
selbst. Statt dessen scheint der Russe in der letzten Zeit es wie mit
Vorbedacht darauf angelegt zu haben, seine Empfindlichkeit in allen
Punkten und die kleinliche Reizbarkeit seines Ehrgefühls allen und
überall vor Augen zu führen. Ich weiß nicht, ob es viele Leute unter uns
gibt, die nur getan haben, was ihre Schuldigkeit war, und die offen vor
der ganzen Welt erklären können, daß Rußland ihnen nichts vorzuwerfen
habe, daß kein seelenloser Gegenstand in seinem weiten, öden Raume sie
vorwurfsvoll anstarre, daß alle mit ihnen zufrieden sind und nichts von
ihnen erwarten. Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich
vernommen habe. Auch jetzt höre ich ihn wieder. Auch in meinem
bescheidenen Beruf als Schriftsteller hätte sich etwas machen, etwas
leisten lassen, was von wirklichem und dauerndem Nutzen sein konnte. Was
hat es zu bedeuten, daß in meinem Herzen stets die Sehnsucht nach dem
Guten lebendig war und daß ich nur aus diesem Triebe heraus zur Feder
griff? Wie habe ich meine Sehnsucht gestillt? Hat denn zum Beispiel
gleich dies Werk von mir, das jetzt erschienen ist und das den Namen
»Die toten Seelen« trägt, hat es etwa den Eindruck gemacht, den es hätte
machen können, wenn es so geschrieben gewesen wäre, wie es hätte
geschrieben werden müssen? Ich habe meine eigenen Gedanken, -- einfache
und wahrhaftig nicht kopfbrecherische Gedanken, nicht auszudrücken
vermocht und selbst Anlaß dazu gegeben, daß sie verkehrt aufgefaßt und
daß ihnen ein Sinn untergelegt wurde, der eher schädlich als nützlich
ist. Und wer ist schuld daran? Soll ich etwa sagen, meine Freunde oder
die Ungeduld der Ästheten, die an leeren, schnell verrauschenden Klängen
ihre Freude haben, hätten mich dazu gedrängt? Soll ich etwa sagen, daß
ich durch schwierige und ärmliche Verhältnisse in eine peinliche Lage
gebracht worden sei und, da ich mir das Geld für meinen Lebensunterhalt
hätte erwerben müssen, genötigt gewesen wäre, mich zu beeilen und mein
Buch zu früh erscheinen zu lassen? Nein, wer entschlossen ist, seine
Pflicht redlich zu erfüllen, den können keinerlei Verhältnisse
schwankend machen, der wird, wenn es nicht anders geht, sogar lieber
seine Hand ausstrecken und um Almosen bitten, der wird sich um keinen
schnell verklingenden Spott und Tadel, geschweige denn um die törichten
Anstandsregeln der vornehmen Gesellschaft kümmern. Der, der aus
Rücksicht auf diese Anstandsregeln der Gesellschaft eine Sache schädigt,
die für sein Land ein Bedürfnis darstellt, der liebt es nicht. Ich war
mir der verächtlichen Schwäche meines Charakters, meines elenden
Kleinmuts, der Ohnmacht meiner Liebe bewußt, daher schien mich ein jedes
Ding in Rußland mit bitterem Vorwurf anzustarren. Aber die Kraft des
Höchsten hat mich aufgerichtet; es gibt kein Vergehen, das nicht wieder
gutzumachen wäre, und dieselben öden Strecken, die meine Seele mit
solcher Melancholie erfüllten, versetzten mich durch ihre gewaltige
freie Ausdehnung und Geräumigkeit -- dies weite Feld für einen rastlosen
Betätigungsdrang -- in Entzücken. Die Apostrophe an Rußland: »Sollte
nicht hier der Held erstehen, wo frei der Raum sich weitet, auf daß er
sich entfalte und ausbreite und frei dahinschwebe,« kam wirklich von
Herzen. Diese Worte wurden nicht dem schönen Bilde zuliebe oder aus
Prahlsucht und zu eitlem Selbstlob gesprochen; ich habe sie gefühlt und
fühle sie noch heute. In Rußland kann man jetzt bei jeder Gelegenheit
zum Helden werden. Jedes Amt und jeder Stand erfordert einen gewissen
Heldenmut. Jeder von uns hat die Heiligkeit seines Berufs und seines
Amtes derart befleckt und herabgezogen (denn jeder Beruf ist heilig),
daß es wahrhaft riesenhafter Kräfte bedarf, um ihn wieder auf seine
frühere Höhe zu bringen. Ich habe die große Aufgabe geschaut, die große
Perspektive, die heute keinem andern Volke offen steht und die sich
allein vor dem russischen Volke auftut, weil nur dies Volk einen so
freien Spielraum für die Entfaltung seiner Kräfte besitzt, und weil nur
der russischen Seele der echte Heldenmut eigen ist -- daher entrang sich
meinem Herzen der Schrei, den man für Prahlerei und Hochmut gehalten
hat!

                                                                 1843.


                                  III.

Ich verstehe nicht, wie du, ein solcher Menschenforscher und
Menschenkenner, mir die gleichen törichten Fragen vorlegen kannst, auf
die sich alle anderen so trefflich verstehen! Die gute Hälfte von ihnen
bezieht sich darauf, was der Zukunft angehört. Was für einen Sinn hat
bloß diese Neugierde? Nur eine Frage, die du stellst, ist klug und
deiner würdig, und ich wünschte, daß auch andere Leute sie an mich
gerichtet hätten, obwohl ich nicht weiß, ob ich sie auch vernünftig
beantworten kann; ich meine die folgende: woher es nur komme, daß die
Helden meiner letzten Werke, besonders die der »Toten Seelen«, trotzdem
sie nichts weniger als naturgetreue Porträts von wirklichen
existierenden Menschen, und obwohl sie an und für sich sehr wenig
sympathisch und anziehend sind, unserem Herzen dennoch so nahe stehen,
wie wenn die Seele bei ihrer Schöpfung beteiligt gewesen wäre? Noch vor
einem Jahr wäre es mir peinlich gewesen, dir auf diese Frage zu
antworten. Heute aber will ich es offen bekennen: die Helden meiner
Werke stehen unserem Herzen darum so nahe, weil sie Schöpfungen der
Seele sind; alle meine letzten Werke sind Zeugnisse meiner seelischen
Entwicklung. Um mich dir besser verständlich zu machen, will ich dir
eine Definition von mir als Schriftsteller geben. Man hat viel über mich
gesprochen und geschrieben und die verschiedensten Seiten meines Wesens
zu ergründen gesucht, aber mein wahres Wesen hat man darum doch nicht zu
bestimmen vermocht. Dieses hat nur Puschkin allein erkannt. Er sagte mir
immer, noch nie habe es einen Schriftsteller gegeben, der in so hohem
Grade das Vermögen besaß, die Gemeinheit und Plattheit des Lebens in so
satten Farben zu schildern, die Hohlheit und Nichtigkeit eines gemeinen
Menschen mit einer solchen Kraft zu zeichnen, wie ich, so daß die ganze
Kleinheit und Armseligkeit, die den meisten Menschen entgeht, jedem
deutlich in die Augen springt. Das ist der Grundzug meines Wesens und er
fehlt in der Tat den meisten anderen Schriftstellern. Er hat sich mit
der Zeit in mir noch vertieft, weil sich noch andere geistige Momente
mit ihm verbunden haben. Aber das konnte ich damals nicht einmal
Puschkin mitteilen. Dieser Grundzug hat sich mit besonderer Kraft in den
»Toten Seelen« offenbart. Die »Toten Seelen« haben nicht darum in
Rußland solch ein Grauen hervorgerufen und so ein Aufsehen gemacht, weil
sie irgendwelche furchtbare Wunden oder innere Krankheiten an den Tag
gebracht, oder ein erschütterndes Bild vom Triumph des Bösen und von den
Leiden der Unschuld entworfen hätten. O nein. Meine Helden sind durchaus
keine Bösewichter; wenn ich einem jeden von ihnen nur einen einzigen
guten Zug verliehen hätte, der Leser hätte sich sicher mit ihnen allen
ausgesöhnt. Aber die Gemeinheit und Plattheit des Ganzen flößte dem
Leser Schrecken ein. Was ihn mit solch einem Grauen erfüllte, war
dieses, daß bei mir ein Mensch immer kleinlicher und elender war, als
der andere, daß es unter ihnen auch nicht eine tröstliche Erscheinung,
keinen einzigen Ruhepunkt gab, an dem der arme Leser hätte aufatmen und
Mut schöpfen können, und daß es einem, wenn man das ganze Buch gelesen
hatte, so vorkam, als trete man aus einem dumpfigen Kellergewölbe wieder
in Gottes freie Welt hinaus. Man hätte es mir eher vergeben, wenn ich
lauter malerische Ungeheuer gezeichnet hätte -- die Jämmerlichkeit und
Gemeinheit hat man mir nicht verziehen. Das, wovor der Russe erschrak,
das war seine Nichtigkeit, sie war ihm weit schrecklicher als all seine
Mängel und Laster! Ist das nicht eine außerordentliche Erscheinung?
Fürwahr, dieser Schrecken ist etwas Herrliches! Wer einen solchen Ekel
und Widerwillen vor dem Kleinen und Nichtigen empfindet, in dem liegt
sicherlich das Gegenteil von aller Kleinheit und Nichtigkeit verborgen.
Dies also ist mein größter Vorzug und ich wiederhole, er hätte sich
nicht mit einer solchen Kraft in mir entwickelt, wenn nicht meine eigene
geistige Stimmung und meine inneren Erlebnisse hinzugekommen wären.
Keiner meiner Leser wußte, daß er über mich selbst lachte, während er
über meine Helden lachte.

Ich hatte kein einzelnes großes Laster, das all meine übrigen Untugenden
um Haupteslänge überragte, ebensowenig wie ich irgendeine markante
Tugend besaß, die mir ein besonders interessantes Äußere verliehen
hätte, dafür aber vereinigte ich in mir alle Scheußlichkeiten, die es
nur gibt, ich besaß zwar von jeder nur ein wenig; aber sie waren in mir
in einer solchen Menge vertreten, wie ich es noch nie zuvor bei einem
Menschen gesehen habe. Gott hat mir eine vielseitige Natur gegeben. Er
hat mir bei meiner Geburt auch manche gute Keime eingepflanzt, der beste
jedoch, für den ich ihm nicht genug zu danken vermag, ist der Wunsch,
_besser zu werden_. Ich habe meine schlechten Seiten nie geliebt, und
wenn es die himmlische Liebe Gottes nicht so gefügt hätte, daß sie sich
nur langsam und allmählich vor mir enthüllten, statt sich mir plötzlich
und mit einem Schlage zu offenbaren, als ich noch keine Vorstellung von
Seinem unendlichen Mitleid besaß, -- dann hätte ich mich sicherlich
erhängt. Aber in dem Maße, als ich sie in mir entdeckte, verstärkte sich
durch eine wunderbare höhere Eingebung der Wunsch in mir, mich von ihnen
zu befreien; es war ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis, das mich
dazu führte, sie meinen Helden mitzuteilen. Was dies für ein Erlebnis
war, darfst du nicht erfahren; wenn ich geglaubt hätte, daß es jemand
nützen könnte, hätte ich es schon längst bekanntgemacht. Von diesem
Augenblick an begann ich meine Helden über ihre Gemeinheit hinaus auch
noch mit meinen persönlichen Scheußlichkeiten auszustatten. Das geschah
folgendermaßen: ich nahm eine schlechte Eigenschaft, die ich bei mir
selbst fand, untersuchte, welche Formen sie in einem anderen Berufe,
Stand oder Lebenskreise annimmt, versuchte es, sie als meine Todfeindin
darzustellen, die mich aufs empfindlichste beleidigt hat, und verfolgte
sie mit Haß, Spott und allem, dessen ich noch sonst fähig war. Wenn
jemand all die Ungeheuer gesehen hätte, die meine Feder im Anfang für
mich selbst erschuf, er hätte vor Entsetzen gezittert. Ich brauche dir
nur zu erzählen, daß Puschkin, als ich ihm die ersten Kapitel der »Toten
Seelen« vorlas (er hatte sonst stets gelacht, wenn ich ihm etwas
vortrug, denn er lachte gern und von Herzen), immer finsterer und
finsterer wurde, bis sich sein Gesicht zuletzt vollkommen verdüsterte.
Als ich geendigt hatte, sagte er mit einem tiefen Schmerz in der Stimme:
»Gott, wie grauenhaft trostlos und traurig ist doch unser Rußland.«
Dieser Ausspruch überraschte mich. Puschkin, der Rußland so gut kannte,
hatte nicht bemerkt, daß dies alles nur eine Karikatur, ein Produkt
meiner Phantasie war. Und jetzt erst erkannte ich, was eine Sache
bedeutet, die einem aus dem Herzen geflossen ist, was geistige Wahrheit
ist und in was für einer erschreckenden Gestalt man dem Menschen die
Finsternis und den furchtbaren _Mangel an Licht_ darstellen kann. Seit
dieser Zeit dachte ich nur noch daran, wie ich den niederschmetternden
Eindruck mildern könnte, den die »Toten Seelen« hervorrufen konnten. Ich
sah, daß vieles Schlechte des Hasses nicht wert und daß es besser ist,
es in seiner Nichtigkeit und Armseligkeit darzustellen, die in alle
Ewigkeit sein Teil ist. Ferner wollte ich sehen, was die Russen sagen
würden, wenn man ihnen ihre eigene Häßlichkeit und Gemeinheit vor Augen
führte. Nach einem Plan, der mir schon lange vorschwebte, brauchte ich
für meinen ersten Teil lauter kleine und armselige Menschen. Diese
elenden Menschen sind jedoch keineswegs Porträts nach lebendigen
Personen, ich habe vielmehr in ihnen die Züge der Leute gesammelt, die
sich für besser halten, als die anderen; allerdings habe ich sie aus
Generälen zu gemeinen Soldaten gemacht. Hier finden sich außer Zügen von
mir selbst noch viele solche von meinen Freunden und sogar einige von
dir. Ich werde dir das später beweisen, wenn die Zeit für dich gekommen
sein wird, bis jetzt bleibt das noch mein persönliches Geheimnis. Ich
mußte allen guten Menschen, die ich kannte, alles Häßliche und Gemeine
nehmen, das sie sich zufällig erworben hatten und es ihren rechtmäßigen
Besitzern wiedergeben. Frage nicht, warum der erste Teil von nichts
anderem handelt als von _Elend, Armseligkeit und Gemeinheit_ und warum
alle handelnden Personen bis auf die letzte so trivial und gemein sein
müssen. Die Antwort hierauf wirst du in den folgenden Bänden finden. Das
ist das Ganze! Der erste Teil hat trotz all seiner Unvollkommenheiten
seine Aufgabe erfüllt, er hat allen Menschen einen wahren Ekel und
Widerwillen gegen meine Helden und gegen ihre Armseligkeit eingeflößt,
er hat, wie es meine Absicht war, in uns etwas wie Schmerz und Unwillen
gegen uns selbst erzeugt. Fürs erste genügt mir das. Mehr wollte ich
nicht erreichen. Dies alles wäre natürlich noch bedeutsamer geworden und
wäre mir viel besser gelungen, wenn ich mich nicht so sehr mit der
Veröffentlichung beeilt hätte und wenn ich das Ganze noch sorgfältiger
und gründlicher bearbeitet hätte. Meine Helden haben sich noch nicht
völlig von mir abgelöst und daher auch noch nicht die rechte
Selbständigkeit erlangt. Ich habe sie noch nicht fest genug auf den
Boden gestellt, auf dem sie stehen sollten, noch sind sie nicht recht
heimisch geworden in dem Kreis unserer Sitten, noch wurzeln sie nicht
tief genug in dem eigentlich russischen Leben mit all seinen
Einzelheiten. Noch ist das ganze Buch nicht viel mehr als eine
Frühgeburt, aber sein Geist hat sich doch schon unsichtbar verbreitet
und selbst sein verfrühtes Erscheinen kann mir dadurch nützlich werden,
daß es meine Leser veranlassen kann, mir all meine Fehler nachzuweisen,
die ich bei der Schilderung der gesellschaftlichen und privaten
Verhältnisse Rußlands begangen habe. Wenn du z. B., statt mir unnütze
Fragen zu stellen (mit denen du mehr als die Hälfte deines Briefes
angefüllt hast, und die zu nichts führen, als zur Befriedigung einer
müßigen Neugierde), wenn du alle vernünftigen und sachlichen Bemerkungen
und Einwände, die über mein Werk laut werden, deine eigenen sowohl, als
auch alle möglichen fremden, die von klugen Menschen herstammen, die
auch Erfahrung genug besitzen und mitten in einem tätigen Leben stehen,
sammeln und ihnen eine Reihe von Anekdoten und tatsächlichen
Begebenheiten beifügen wolltest, die in eurem Kreise oder in eurer
Provinz vorgefallen sind -- sei es nun, daß sie mein Buch in einem
seiner Teile widerlegen oder bestätigen -- zu jeder Seite könnte man ein
ganzes Dutzend solcher Fälle anführen -- dann würdest du ein wahrhaft
gutes Werk tun, und ich würde dir von Herzen dankbar sein. Wie würde
sich dadurch mein Horizont erweitern! Wie würde das meinen Kopf
erfrischen und wieviel leichter würde die Arbeit vonstatten gehen! Aber
das, worum ich bitte, will kein Mensch tun. Niemand hält meine Bitten
für ernst und wichtig genug und jeder respektiert nur seine eigenen.
Andere wieder verlangen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit von mir, ohne
selbst zu wissen, was sie verlangen. Und was soll bloß diese müßige
Neugierde, diese törichte unnütze Hast, die, wie ich sehe, auch dich
angesteckt hat. Sieh doch, wie in der Natur alles würdig und weise nach
wohlgefügten Gesetzen vonstatten geht und wie vernünftig eines aus dem
anderen folgt! Nur wir allein machen uns, Gott weiß warum, soviel
unnütze Unruhe. Alles eilt und hastet wie im Fieber. Hast du dir denn
deine Worte auch ordentlich überlegt? »Es ist absolut notwendig, daß wir
den zweiten Band erhalten.« Wie? soll ich mich denn bloß deswegen, weil
alle Leute mit mir unzufrieden sind, mit dem zweiten Bande beeilen? Das
wäre doch ebenso dumm, wie das, daß ich mich mit dem ersten zu sehr
beeilt habe. Bin ich denn schon ganz um mein bißchen Verstand gekommen?
Ich brauche diesen Unwillen und diese Unzufriedenheit ja. Wenn die
Menschen unwillig über mich sind, werden sie mir doch wenigstens irgend
etwas sagen. Und woraus schließt du nur, daß der zweite Band gerade
jetzt ein dringendes Bedürfnis geworden ist. Hast du etwa in meinen Kopf
hineingeblickt? Fühlst du, was das Wesen dieses zweiten Bandes ausmacht?
Deiner Ansicht nach braucht man ihn jetzt, während ich glaube, daß er
nicht früher als nach zwei Jahren erscheinen sollte und auch dies bloß,
wenn man die Umstände und den Gang der Zeit berücksichtigt. Wer von uns
hat nun recht? Der, in dessen Kopf der zweite Band fertig dasteht, oder
der, der noch nicht weiß, was den Inhalt bildet. Was das jetzt für eine
seltsame Mode ist, die neuerdings in Rußland aufgekommen ist! Der Mensch
liegt selbst auf der faulen Haut, will selbst nichts Vernünftiges tun
und spornt die anderen zur Tätigkeit an; als ob jeder andere sich aus
allen Kräften anstrengen müßte, vor Freude darüber, daß sein Freund
müßig auf dem Rücken liegt! Kaum erfährt man, daß irgendein Mensch mit
einer ernsten Sache beschäftigt ist, so treibt man ihn schon überall zur
Eile an und dann schilt man ihn noch, wenn er es schlecht macht; dann
heißt es: warum hast du dich so beeilt? Aber ich schließe meine Predigt.
Auf deine klugen Fragen habe ich geantwortet. Ich habe dir sogar gesagt,
was ich bis heute noch keinem einzigen Menschen gesagt habe. Glaube
bitte nach diesem Bekenntnis nicht, daß ich ebenso ein Ungeheuer bin,
wie meine Helden. Nein, ich gleiche ihnen nicht. Ich liebe das Gute, ich
suche es aus allen Kräften, und meine Seele glüht für alles Schöne, ich
liebe meine Schändlichkeiten nicht und suche nicht, sie festzuhalten,
wie meine Helden; ich liebe das Gemeine in mir nicht, das mich von dem
Guten fernhält. Ich kämpfe gegen es an und werde gegen es ankämpfen, bis
ich es ganz ausgetrieben habe, und dabei wird Gott mir helfen. Es ist
ganz falsch, was törichte, weltlich gerichtete Menschen sich ausgedacht
haben, daß der Mensch nur erzogen werden könne, solange er noch in der
Schule sitzt, und daß er später keinen Charakterzug mehr in sich
verändern könne. Nur in einem törichten, weltlich gesinnten Schädel
konnte ein so dummer Gedanke entstehen. Ich habe mich schon von vielen
meiner Scheußlichkeiten befreit, indem ich sie auf meine Helden
übertrug, sie in ihnen verspottete und auch andere zwang, über sie zu
lachen. Ich bin schon manche von ihnen losgeworden, indem ich ihnen ihr
verlockendes Äußeres, ihre ritterliche Maske nahm, dank der jedes von
unseren Lastern keck durch die Welt geht. Ich habe sie neben das
Häßliche gestellt, das allen sichtbar ist. Wenn ich mich in der Beichte
vor Ihm prüfe, Der mich in die Welt gesandt hat und Der mir befahl, mich
von meinen Fehlern zu befreien, dann erkenne ich viele Laster in mir,
aber es sind nicht mehr dieselben wie im vergangenen Jahr, eine heilige
Kraft half mir, mich von ihnen zu befreien. Dir aber rate ich, diese
Worte nicht unbeachtet verhallen zu lassen, sondern wenn du meine Briefe
gelesen hast, einen Augenblick mit dir allein zu bleiben, alles andere
eine Weile beiseite zu lassen und gründlich in dich selbst
hineinzublicken, indem du dein ganzes Leben an dir vorüberziehen läßt,
und dann die Wahrheit meiner Worte einer Prüfung zu unterziehen. In
dieser meiner Antwort wirst du, wenn du näher zusiehst, auch eine
Antwort auf deine übrigen Fragen finden, und du wirst erkennen, warum
ich bisher dem Leser nicht auch die tröstlichen Erscheinungen gezeigt
und mir keine tugendhaften Menschen zu Helden erwählt habe. Solche kann
man nicht frei aus dem Kopfe erfinden. Solange man ihnen nicht im
geringsten selbst gleicht, solange man sich nicht durch Hartnäckigkeit
und Beständigkeit einige gute Eigenschaften erobert hat -- wird alles,
was die Feder niederschreibt, tot und leblos und so weit von der
Wahrheit entfernt bleiben, wie der Himmel von der Erde. Ich habe diese
Schreckgespenster nicht erfunden -- diese Schreckgespenster haben meine
eigene Seele gewürgt und bedrückt: nur was lebendig in meiner Seele
lebte, ist frei aus ihr herausgeströmt.


                                  IV.

Ich habe den zweiten Teil der »Toten Seelen« verbrannt, weil das eine
Notwendigkeit war. »Das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn,«
-- sagt der Apostel. Man muß zuvor sterben, wenn man wieder auferstehen
soll. Es ist mir nicht leicht geworden, die Frucht einer fünfjährigen
Arbeit zu verbrennen, einer Arbeit, die mich soviel schmerzliche
Anstrengungen, wo jede Zeile mich schwere Erschütterungen gekostet hat
und worin vieles enthalten war, was mein höchstes Streben ausmachte und
meine Seele ausfüllte. Und doch wurde alles verbrannt und noch dazu in
einem Augenblick, wo ich den Tod vor Augen sah und etwas hinterlassen
wollte, was mich bei der Nachwelt in besserem Andenken erhalten sollte.
Ich danke Gott, daß er mir die Kraft verliehen hat, dies zu vollbringen.
Sowie die Flamme die letzten Blätter meines Buches aufgezehrt hatte,
erstand sein Inhalt plötzlich in verklärter und geläuterter Gestalt vor
mir, gleich einem Phönix aus der Asche, und ich sah nun mit einem Male,
wie unreif und unausgegoren das noch war, was ich bereits für
ausgereift, harmonisch und abgerundet gehalten hatte. Wäre der zweite
Band in dem Zustande, in dem er sich damals befand, erschienen, er hätte
eher Schaden als Nutzen gestiftet. Nicht der Genuß und die Befriedigung
der Kunstkenner und Literaturfreunde ist es, die man anstreben muß,
sondern die aller Leser, für die die »Toten Seelen« geschrieben wurden.
Eine Anzahl edler Charaktere darzustellen, die für die vornehme
Gesinnung und den hohen Adel unseres Wesens zeugen, -- das kann zu
nichts führen. Das erregt bloß Hochmut und eitle Prahlsucht. Viele von
uns, besonders aber von unseren jungen Leuten, haben die Gewohnheit
angenommen, die Vorzüge des russischen Charakters über alles Maß zu
preisen und mit ihnen zu prahlen und doch denken sie gar nicht daran,
diese Eigenschaften zu vertiefen und an ihrer eigenen Erziehung zu
arbeiten, sondern sie suchen sie möglichst zur Schau zu stellen, als
wollten sie Europa zurufen: »Seht einmal, ihr Deutschen, wir sind doch
besser als ihr!« Diese Prahlsucht richtet alles zugrunde. Sie reizt die
andern und gereicht auch dem Renommisten selbst zum Schaden. Man kann
die beste Sache in den Kot ziehen, wenn man sich ihrer rühmt und sich
was auf sie zugute tut. Bei uns aber rühmt man sich und prahlt man
schon, noch ehe man etwas geleistet hat -- man prahlt mit dem, was erst
kommen soll! Nein, dann scheint es mir noch besser, man ist kleinmütig
und man grämt sich über sich selbst, als daß man hochmütig ist und sich
selbst zu viel zutraut. Im ersten Falle wird sich der Mensch wenigstens
seiner Armseligkeit, Gemeinheit und Nichtigkeit bewußt und richtet seine
Gedanken auf Gott, der alles aus dem tiefsten Elend und der tiefsten
Erniedrigung erhebt und zur Höhe emporführt; im zweiten Falle dagegen
flieht der Mensch sich selbst und rennt geradeswegs dem Satan, dem Vater
des Hochmuts, in die Arme, der den Menschen zur Überhebung verleitet,
indem er ihm blauen Dunst vormacht und ihn zum Tugendstolz verführt.
Nein, es gibt Zeiten, wo man die Gesellschaft oder sogar eine ganze
Generation gar nicht anders auf das Gute hinleiten und für das Gute
begeistern kann, als indem man ihnen den ganzen Abgrund der
Verkommenheit zeigt, in dem sie stecken; es gibt Zeiten, wo man
überhaupt nicht vom Hohen und Schönen sprechen darf, ohne zugleich einem
jeden die Richtung und den Weg zum Schönen zu zeigen, so daß er sie
taghell vor sich liegen sieht. Dieses letzte Moment ist im zweiten Bande
der »Toten Seelen« nur schwächlich und unvollkommen zum Ausdruck
gekommen, und doch hätte es eigentlich das wichtigste und wesentlichste
Moment sein sollen. Und darum habe ich diesen zweiten Teil verbrannt.
Urteilen Sie bitte nicht über mich und ziehen Sie keine Schlüsse daraus;
Sie werden sich ebenso täuschen, wie die unter meinen Freunden, die sich
aus mir ihr eigenes Ideal eines Schriftstellers zurechtgemacht hatten,
das ihren eigenen Begriffen von einem Dichter entsprach, und nun von mir
verlangten, ich solle diesem, doch nur von ihnen selbst entworfenen
Ideal entsprechen. Gott hat mich erschaffen und Er hat mir nicht
vorenthalten, was meine eigentliche Bestimmung ist. Ich bin gar nicht
dazu geboren, um eine Epoche in der Literaturgeschichte heraufzuführen.
Meine Aufgabe ist weit einfacher und näherliegend; meine Aufgabe ist
das, woran ein jeder Mensch und nicht nur ich allein zuallererst denken
sollte. Meine Aufgabe -- ist _die Seele und die große sichere ewige
Aufgabe des Lebens_. Darum muß auch mein Tun stark und dauerhaft sein
und ich muß Werke schaffen, die dauern. Ich brauche mich nicht zu
beeilen; mögen doch die andern hasten und sich beeilen! Ich verbrenne,
was verbrannt werden muß, und ich handle sicherlich richtig, denn ich
unternehme nichts, ohne zuvor zu Gott gebetet zu haben. Was aber Ihre
Befürchtungen wegen meiner zarten Gesundheit anbelangt, die es mir
vielleicht unmöglich machen wird, den zweiten Band niederzuschreiben, so
sind sie überflüssig. Meine Gesundheit ist sehr zart -- das ist freilich
wahr. Zuzeiten ist mir's so schlecht zumute, daß ich es ohne Gottes
Hilfe kaum auszuhalten vermöchte. Zu dem Verfall meiner Kräfte ist noch
ein so intensives Frösteln hinzugekommen, daß ich gar nicht mehr weiß,
wie und woran ich mich erwärmen soll: ich müßte mir Bewegung machen, und
doch habe ich nicht die Kraft, mich herumzubewegen. Selten kann ich mehr
als eine Stunde für die Arbeit erübrigen, aber selbst dann fühle ich
mich nicht immer frisch. Allein, meine Hoffnung sinkt darum doch nicht.
Der, Der durch Kummer, Leid und Hindernisse die Entwickelung meiner
Fähigkeiten und Gedanken, ohne die ich nie auf den Einfall gekommen
wäre, mein Werk zu schreiben, beschleunigt hat, Der da machte, daß die
größere Hälfte in meinem Kopf bereits fertig feststeht, Der wird mir
auch die Kraft verleihen, was noch übrig ist, zu vollenden und zu Papier
zu bringen. Meine Kräfte verfallen, aber nicht mein Geist. Alle meine
geistigen Fähigkeiten werden vielmehr stärker und kräftiger, nun denn,
so wird wohl auch die Körperkraft sich einstellen. Ich lebe dem Glauben,
daß, wenn die rechte Stunde schlägt, auch das, woran ich fünf Jahre lang
mit Schmerzen gearbeitet habe, in wenigen Wochen vollendet dastehen
wird.

                                                                 1846.




                                  XIX
                    Liebt unser russisches Vaterland
                  Aus einem Briefe an den Grafen A. T.


Ohne Liebe zu Gott kann keiner gerettet werden, wir aber besitzen keine
rechte Gottesliebe. Im Kloster ist sie kaum zu finden, ins Kloster gehen
nur die, die Gott selbst dahin berufen hat. Ohne Gottes Willen kann man
Ihn nicht liebgewinnen. Und wie sollte man auch Den lieben, Den noch
niemand gesehen hat? Gibt es ein Gebet, gibt es eine Kraftanstrengung,
mit der wir diese Liebe von Ihm herabflehen könnten? Sehen Sie nur,
wieviel gute, vortreffliche Menschen es gegenwärtig auf der Welt gibt,
die sich glühend nach dieser Liebe sehnen und nur spröde Härte und öde
Kaltblütigkeit in sich finden. Es ist schwer, Den liebzugewinnen, Den
niemand gesehen hat. Christus allein hat uns das Geheimnis geoffenbart
und verkündet, daß wir in der Liebe zu unseren Brüdern der Liebe zu Gott
teilhaftig werden. Wir müssen sie so lieben lernen, wie Christus es uns
gelehrt hat, und die Liebe zu Gott wird sich von selbst daraus ergeben.
So gehen Sie denn in die Welt hinaus und lernen Sie erst Ihre Brüder
lieben.

Wie aber sollen wir die Brüder lieben lernen? Wie sollen wir die
Menschen liebgewinnen? Die Seele möchte nur das Schöne lieben, die armen
Menschen aber sind so unvollkommen, und es ist so wenig Schönheit in
ihnen. Wie also sollen wir es anfangen? Danken Sie Gott vor allem dafür,
daß Sie ein Russe sind. Für den Russen tut sich jetzt ein Weg auf, und
dieser Weg ist Rußland selbst. Wenn der Russe erst einmal Rußland lieben
lernen wird, so wird er bald auch alles mit Liebe umfassen, was es in
Rußland gibt. Gott selbst weist uns jetzt auf diese Liebe hin. Ohne die
Leiden und Krankheiten, von denen Rußland gegenwärtig in so hohem Maße
betroffen ward, und an denen wir selbst die Schuld tragen, würde niemand
von uns Mitleid mit dem Lande empfinden. Mitleid aber ist bereits der
Beginn der Liebe. Selbst in dem entrüsteten Geschrei über die
Mißbräuche, die Ungerechtigkeiten und die Bestechlichkeit kommt
keineswegs bloß die Empörung der guten und anständigen Elemente über die
Unanständigen und Ehrlosen zum Ausdruck, dies ist mehr, es ist der
Schmerzensschrei des ganzen Landes, an dessen Ohr die Nachricht drang,
daß zahllose Scharen fremder Feinde ins Land eingefallen, in die Häuser
gedrungen seien und alle Bewohner unter ihr hartes Joch gezwungen
hätten; schon wollen sich die, die diese Seelenfeinde freiwillig in ihr
Haus aufgenommen haben, selbst von ihnen befreien; sie wissen nur nicht,
wie sie dies anfangen sollen, und so entringt sich allen ein einziger,
erschütternder Schrei; selbst die Stumpfen und Gefühllosen beginnen sich
zu regen. Aber die wirkliche, eigentliche Liebe empfindet noch keiner,
auch Sie besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht.

Sie können sich immer nur grämen, klagen und sich darüber aufregen,
sowie Sie hören, daß etwas Böses oder Häßliches in Rußland passiert.
Dies erregt bei Ihnen nichts wie Ärger, Bitterkeit oder Mißmut. Nein,
das ist noch nicht Liebe. Sie sind noch weit entfernt von der Liebe, das
ist höchstens etwas wie ein schwaches Anzeichen, durch das sie sich
ankündigt. Nein, wenn Sie Rußland wirklich lieben werden, dann wird
jener kurzsichtige Gedanke, der jetzt in den Köpfen vieler ehrlicher und
selbst gescheiter Leute entsteht, als könnten sie heutzutage nichts für
Rußland tun, und als ob Rußland ihrer überhaupt nicht bedürfte, ganz von
selbst verschwinden. Im Gegenteil, dann werden Sie erst wirklich und mit
voller Stärke empfinden, daß die Liebe allmächtig ist und daß man mit
ihr im Bunde alles zu vollbringen vermag. Nein, wenn Sie Rußland
wirklich liebgewinnen werden, dann werden Sie sich förmlich dazu
drängen, dem Vaterland zu dienen. Und Sie werden dann nicht etwa
Gouverneur, sondern Polizeihauptmann werden wollen, dann werden Sie sich
mit dem letzten unbedeutendsten Posten, der sich Ihnen darbieten wird,
begnügen wollen und jedes Körnchen Tätigkeit in diesem Beruf einem
tatenlosen und müßigen Leben, wie Sie es jetzt führen, vorziehen. Nein,
Sie lieben Rußland noch nicht. Und solange Sie Rußland noch nicht
lieben, können Sie auch Ihre Brüder nicht lieben, ohne solche Liebe zu
Ihren Brüdern aber können Sie nicht in Liebe zu Gott entbrennen. Und ehe
Sie sich nicht mit dieser göttlichen Liebe erfüllen, gibt es keine
Rettung für Sie.

                                                                 1844.




                                   XX
                         Lernt Rußland kennen!
                  Aus einem Brief an den Grafen P. T.


Es gibt keinen höheren Beruf als den Mönchsberuf. Gott gebe, daß es uns
einmal beschieden sei, die schlichte Mönchskutte anzulegen, nach der
sich meine Seele so sehnt! Schon der bloße Gedanke an sie ist mir eine
Freude. Allein aus eigener Kraft, ohne von Gott dazu berufen zu werden,
können wir solches nicht vollbringen. Wenn man das Recht besitzen will,
sich aus dieser Welt zurückzuziehen, muß man dieser Welt Lebewohl sagen
können. Verteile zuvor all dein Gut an die Armen und dann erst gehe ins
Kloster. Diese Worte gelten für alle, deren Weg dorthin führt. Sie sind
reich, Sie können Ihr Vermögen unter die Armen verteilen, was aber hätte
ich ihnen zu geben? Mein Vermögen besteht nicht in Geld. Mit Gottes
Hilfe ist es mir gelungen, mir ein gewisses geistiges und seelisches
Besitztum zu erwerben, Er hat mir einige Fähigkeiten verliehen, mit
denen ich andern nützen und dienen kann -- daher muß ich diese Güter
unter die verteilen, die keine besitzen, ehe ich ins Kloster gehe. Aber
auch Sie können sich dadurch, daß Sie all Ihr Geld wegschenken, noch
nicht das Recht dazu erwerben. Wenn Sie an Ihrem Gelde hingen und wenn
es Ihnen schwer würde, sich von ihm zu trennen, dann läge die Sache
anders. Allein Sie sind gleichgültig gegen das Geld, es bedeutet heute
nichts mehr für Sie. Was für eine Heldentat und welch ein Opfer wäre es,
sich von ihm zu trennen. Oder heißt es etwa, seinem Bruder Gutes tun,
wenn man ein unnützes Ding aus dem Fenster wirft, sofern wir nämlich das
Gute in dem hohen Sinne des Christentums verstehen? Nein, Ihnen sind die
Tore zu der ersehnten Klosterzelle noch ebenso verschlossen wie mir. Ihr
Kloster ist -- Rußland. Nun, so legen Sie das geistige Mönchsgewand an
-- sterben Sie sich selbst völlig ab -- sich selbst -- nicht Rußland --
und gehen Sie hin, um darin zu wirken und tätig zu sein. Unser Land ruft
heute seine Söhne lauter als je. Schon schmerzt ihm die Seele, und schon
ertönt sein Schrei aus tiefer Seelennot. Lieber Freund! Sie haben
entweder ein gefühlloses Herz oder Sie wissen nicht, was Rußland für
einen Russen bedeutet. Denken Sie doch daran, wie einst, wenn Not und
Elend über das Reich hereinbrachen, die Mönche ihre Klosterzellen
verließen und zu den anderen in die Reihen traten, um das Vaterland zu
retten. Die Mönche Oslabja und Pereswet griffen, vom Segen des Priors
begleitet, zum Schwert, das dem Christen ein Greuel ist, und blieben auf
der blutigen Walstatt, und Sie weigern sich, die Pflicht eines
friedlichen Bürgers -- ja, wo denn nur? -- mitten im Herzen Rußlands zu
erfüllen. Machen Sie keine Ausflüchte, und weisen Sie nicht auf Ihre
Unfähigkeit hin, Sie besitzen viele Fähigkeiten, die Rußland jetzt
höchst dienlich und von größtem Nutzen sein können. Sie sind Gouverneur
zweier Provinzen von äußerst verschiedenem Charakter gewesen. Sie haben
diese Stellung trotz aller Fehler und Unzulänglichkeiten, die Ihnen
damals noch anhafteten, weit besser ausgefüllt als mancher andere, Sie
haben sich aus erster Hand positive Kenntnisse über die Zustände und
Vorgänge im Innern Rußlands erworben und das Land in seinem wahren Wesen
kennen gelernt. Aber das ist noch nicht die Hauptsache, und ich würde
Ihnen nicht so zureden, wieder in den Staatsdienst zu treten, trotzdem
Sie so bedeutende Kenntnisse besitzen, wenn ich bei Ihnen nicht eine
bestimmte Eigenschaft entdeckt hätte, die mir weit bedeutsamer
erscheint, als alle übrigen. Ich meine jene Fähigkeit, ohne besondere
Anstrengung und ohne _selbst_ zu arbeiten, ja, während Sie selbst ein
bequemes müßiges Leben führen, alle andern zur Arbeit anzufeuern. Bei
Ihnen wickelte sich alles schnell und glatt ab, und wenn man Sie dann
erstaunt fragte: wie kommt das nur? pflegten Sie zu antworten: das alles
ist das Verdienst meiner Beamten, ich hatte das Glück, tüchtige Beamte
zu bekommen, die mir selbst gar keine Arbeit übrig lassen. Und wenn sich
dann Gelegenheit bot, jemand für eine Auszeichnung oder Belohnung
vorzuschlagen, dann wiesen Sie stets zuerst auf Ihre Beamten hin, indem
Sie ihnen alles Verdienst zuschrieben und sich selbst ganz übergingen.
Das ist Ihr höchster Vorzug. Ganz abgesehen von Ihrer großen Fähigkeit,
sich die rechten Beamten zu wählen. Kein Wunder, daß Ihre Beamten sich
die größte Mühe gaben, ja, einer hat sich beim Schreiben so
überanstrengt, daß er an der Schwindsucht erkrankte und starb, trotzdem
Sie aufs eifrigste bemüht waren, ihn zu bestimmen, er solle nicht so
viel arbeiten. Wessen ist ein Russe nicht fähig, wenn ein Vorgesetzter
ihn in dieser Weise behandelt! Eine solche Fähigkeit wird heute zu einem
wahrhaften Bedürfnis. Gerade heute, in einer so selbstsüchtigen Zeit, wo
ein jeder Vorgesetzter nur daran denkt, sich selbst möglichst in den
Vordergrund zu rücken und sich alle Verdienste zuzuschreiben. Ich sage
Ihnen, mit dieser Ihrer Fähigkeit sind Sie heute in Rußland völlig
unentbehrlich, und es ist eine Sünde, daß Sie dies nicht einmal
empfinden. Ich würde eine Schuld auf mich laden, wenn ich Sie nicht auf
diese Fähigkeit aufmerksam machte. Sie ist das Beste, was Sie besitzen.
Die, die sie entbehren, denen diese Eigenschaft fehlt, flehen Sie an,
daß Sie sie nicht brachliegen lassen mögen. Sie aber halten sie wie ein
Geizhals unter festem Verschluß und stellen sich taub. Es ist richtig,
vielleicht stünde es Ihnen heute nicht gut an, eine ähnliche Stellung
einzunehmen wie die, die Sie vor zehn Jahren innehatten, nicht deshalb,
weil Sie sie nötig haben -- Sie besitzen gottlob keinen Ehrgeiz, und in
Ihren Augen ist keine Stellung zu gering -- sondern deshalb, weil Ihre
Fähigkeiten sich noch mehr entwickelt haben, noch gewachsen sind und zu
ihrer Entfaltung und Nahrung eines anderen freieren Wirkungskreises
bedürfen. Ja, aber gibt es denn etwa so wenig Posten und Wirkungskreise
in Rußland? Blicken Sie um sich, sehen Sie sich ordentlich um, und Sie
werden einen finden. Sie sollten einmal eine Reise durch Rußland machen.
Sie kennen das Land, wie es vor zehn Jahren war, aber das genügt jetzt
nicht mehr. In zehn Jahren ereignet sich in Rußland mehr, als in einem
anderen Staate während eines halben Jahrhunderts. Sie haben selbst,
während Sie hier im Ausland wohnen, bemerkt, daß in den letzten zwei,
drei Jahren ganz andere Menschen aus Rußland herauskommen, Menschen, die
gar keine Ähnlichkeit mit denen haben, denen Sie noch vor kurzem
begegneten. Um zu erfahren, was das _heutige Rußland_ ist, muß man
unbedingt einmal eine Reise durch das Land machen. Glauben Sie nicht,
was man spricht und was man sich erzählt. Das eine ist freilich wahr,
daß es in Rußland noch niemals eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit
und Verschiedenheit der Meinungen und Anschauungen gegeben hat, wie sie
heute unter den Leuten herrschen, und daß der Unterschied der Bildung
und der Erziehung die Menschen noch niemals in einen solchen Gegensatz
zueinander gebracht und soviel Streit und Uneinigkeit unter ihnen erregt
hat, wie heutzutage. Überdies ist ein Geist der Klatschsucht
aufgekommen, sind so viele neue törichte Ideen mit allen daraus
folgenden Konsequenzen zu uns importiert worden, sind so viele törichte
Gerüchte entstanden und einseitige nichtssagende Schlüsse gezogen
worden. Dies alles hat bei allen Leuten die Begriffe über Rußland so
sehr entstellt und verwirrt, daß man niemand mehr glauben kann. Man muß
selbst eine Reise durch Rußland machen und sich selbst überzeugen. Das
ist besonders nützlich für den, der eine Weile fern von Rußland in der
Fremde gelebt hat und nun mit einem frischen, noch nicht umnebelten
Kopfe zurückkehrt. Er wird vieles sehen, was ein anderer Mensch, der
sich selbst mitten in dem verwirrenden Getriebe befindet und empfindlich
und feinfühlig auf die brennenden Fragen des Augenblicks reagiert, nicht
sehen kann. Führen Sie Ihre Reise in folgender Weise aus: zunächst
müssen Sie alle Anschauungen, die Sie bisher über Rußland besaßen, bis
auf die letzte völlig aus Ihrem Kopfe verbannen und sich von all Ihren
eigenen Schlüssen und Folgerungen, die Sie bereits gezogen haben,
lossagen. Sie müssen tun, als ob Sie so gut wie gar nichts wüßten, und
Ihre Reise so antreten, wie wenn Sie ein neues, Ihnen noch völlig
unbekanntes Land kennen lernen wollten. Und wie sich ein russischer
Reisender jedesmal bei seinem Eintreffen in einer größeren europäischen
Stadt beeilt, alle ihre Denkmäler aus alter Zeit und alle
Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so müssen Sie, wenn Sie in
die erste beste Kreis- oder Provinzhauptstadt kommen, ja mit noch
größerem Interesse sich bemühen, alles Bemerkenswerte an ihr kennen zu
lernen. Dieses besteht nicht in ihren architektonischen Kunstwerken und
in ihren Altertümern, sondern in ihren Menschen. Ich möchte darauf
schwören, der Mensch hat mehr Anspruch darauf, daß man ihn aufmerksam
und mit Interesse kennen zu lernen und zu erforschen sucht, als
irgendeine Fabrik oder eine Ruine. Rüsten Sie sich mit einem Tropfen
wahrhaft brüderlicher Liebe aus und versuchen Sie es, einen Blick auf
den Menschen zu werfen, und Sie werden sich nicht wieder von ihm trennen
können, so interessant wird er Ihnen werden. Lernen Sie vor allem die
Menschen kennen, die den eigentlichen Kern, den Extrakt, »das Salz«
einer jeden Stadt oder jedes Kreises bilden. In jeder Stadt gibt es
immer zwei bis drei solche Menschen. Sie werden Ihnen in wenigen Zügen
ein Bild der ganzen Stadt vermitteln, so daß Sie sich schon selbst ein
Urteil darüber bilden werden, wo und an welchen Orten Sie die meisten
Beobachtungen über die gegenwärtige Lage der Dinge machen können. Wenn
Sie mit den fortgeschrittensten Repräsentanten jeden Standes reden
werden (mit Ihnen unterhalten sich doch alle Menschen so gern und öffnen
Ihnen gleich ganz weit ihr Herz), so werden Sie von ihnen erfahren, was
heutzutage jeder Stand bedeutet. Der flinke und gewandte Kaufmann wird
Ihnen sofort erklären, was die Kaufmannschaft der Stadt darstellt. Ein
nüchterner, tüchtiger Kleinbürger wird Ihnen einen Begriff von dem
Kleinbürgertum geben; von einem energischen Beamten werden Sie alles
Notwendige über den Geschäftsgang in den staatlichen Organen erfahren,
und von dem allgemeinen Geist und der Atmosphäre der Gesellschaft werden
Sie sich selbst ein Bild machen. Übrigens dürfen Sie sich nicht
allzusehr auf die fortgeschrittenen Leute, die geistige Elite verlassen.
Es ist schon besser, wenn Sie immer zwei oder drei Leute aus jedem
Stande hören. Vergessen Sie auch nicht, daß heute alle miteinander im
Streite liegen und einer den andern rücksichtslos verleumdet und
schlecht macht. Suchen Sie sofort Fühlung mit der Geistlichkeit zu
nehmen, weil man mit dieser leicht bekannt wird. Von ihr werden Sie
alles übrige erfahren. Und wenn Sie auch nur die wichtigsten Punkte und
Städte Rußlands besuchen werden, so wird es Ihnen sonnenklar werden, wo
und an welcher Stelle Sie sich nützlich machen können und um welchen
Posten Sie sich bewerben müssen. Inzwischen aber können Sie, wenn Sie
nur wollen, schon durch Ihre bloße Reise sehr viel Gutes stiften. Schon
während dieser Reise werden Sie Gelegenheit zu so großen wahrhaft
christlichen Taten finden, wie sie sich Ihnen nicht einmal im Kloster
bieten würde. Erstens können Sie, der Sie sich so angenehm unterhalten
können und der Sie allen Menschen gefallen, als ein fremder abseits
stehender neuer Mensch die Rolle des unparteiischen Mittlers und
Richters übernehmen. Sie wissen nicht, wie wichtig, wie notwendig das
jetzt in Rußland ist und welches Verdienst in einer solchen Tätigkeit
liegt. Der Heiland hat sie beinahe noch höher gestellt als jede andere
Art der Tätigkeit. Er nennt die Friedfertigen geradezu die Kinder
Gottes. Ein Vermittler und Friedensstifter aber findet bei uns überall
etwas zu tun. Alles liegt miteinander im Streit. Unsere Adligen leben
miteinander wie Hund und Katze, die Kaufleute leben wie Katze und Hund;
die Kleinbürger vertragen sich so schlecht wie Hund und Katze; ja selbst
die Bauern leben, wenn sie nicht gerade durch irgendeinen besonderen
Grund zu einträchtiger Arbeit veranlaßt werden, miteinander wie Hund und
Katze. Ja, sogar brave ehrliche Menschen leben in Zwietracht
miteinander. Nur unter den Gaunern kann man noch etwas wie Eintracht und
Freundschaft bemerken, wenn nämlich einer von ihnen heftigen
Verfolgungen ausgesetzt ist.

Ein Friedensstifter findet überall einen Wirkungskreis. Haben Sie keine
Furcht, es ist nicht schwer, zu vermitteln und zu versöhnen. Für die
Menschen selbst ist es allerdings schwierig, sich wieder zu vertragen
und wieder auszusöhnen. Sowie aber ein Dritter zwischen sie tritt, söhnt
er sie sofort miteinander aus. Daher spielt bei uns das Schiedsgericht,
dieses eigenste und wahrhaftigste Produkt unseres Landes, das bisher
weit mehr Erfolge zu verzeichnen hatte, als alle anderen Gerichte, eine
so große Rolle. Es gibt eine wunderbare Eigenschaft, die der
menschlichen Natur im allgemeinen, besonders aber dem russischen Wesen
eigen ist. Sowie ein Mensch merkt, daß ein anderer ihm auch nur ein
bißchen entgegenkommt oder nachsichtig gegen ihn ist, so ist er schon so
gut wie bereit, ihn deswegen um Verzeihung zu bitten. Keiner will zuerst
nachgeben, sowie jedoch einer sich zu einem solchen hochherzigen
Entgegenkommen entschließt, drängt sich der andere förmlich dazu, ihn an
Großmut noch zu überbieten. Daher können bei uns selbst die ältesten
Prozesse und Zwistigkeiten weit schneller als irgendwo sonst beigelegt
werden, wenn nur ein wahrhaft edler Mensch, der von allen geachtet wird
und überdies noch ein Kenner des menschlichen Herzens ist, zwischen die
Streitenden tritt. Eine solche Versöhnung aber -- dies muß ich noch
einmal wiederholen -- ist jetzt sehr vonnöten. Wenn nur einige wenige
Menschen, die sich jetzt gegenseitig entgegenarbeiten und einander
Schwierigkeiten machen, weil sie verschiedener Ansicht über irgendeine
Sache sind, sich dazu verständen, einander die Hand zu reichen, so würde
es den Gaunern schlecht ergehen. Da haben Sie also einen Teil der
Tätigkeit, zu der sich Ihnen während Ihrer Reise durch Rußland auf
Schritt und Tritt Gelegenheit bieten wird. Aber es gibt auch noch eine
andere Aufgabe für Sie, die nicht geringer ist als jene erste. Sie
können der Geistlichkeit der Städte, die Sie berühren werden, einen
großen Dienst erweisen, indem Sie sie näher mit der Gesellschaft bekannt
machen, in der sie lebt, indem Sie ihr eine gewisse Kenntnis der
Vorgänge und der Machenschaften beibringen, von denen die Menschen
heutzutage in der Beichte gar nicht reden, da sie annehmen, daß sie
nicht in die Sphäre des christlichen Lebens gehören. Dies ist sehr
notwendig, weil viele Geistliche, wie ich weiß, infolge der großen Menge
von Ungehörigkeiten und Mißbräuchen, die in der letzten Zeit
stattgefunden haben, mutlos geworden sind, weil sie fast der Ansicht
sind, daß niemand mehr auf sie hört, daß ihre Worte und Predigten in die
Luft gesprochen sind, daß das Übel schon so tiefe Wurzeln geschlagen hat
und daß an eine Entwurzelung gar nicht mehr zu denken ist. Das ist
unrichtig. Freilich sündigt der Mensch von heute wirklich
unvergleichlich viel mehr als zu irgendeiner früheren Zeit; allein er
sündigt nicht aus einem Übermaß von Verdorbenheit und Lasterhaftigkeit,
nicht aus Gefühllosigkeit und nicht deshalb, weil er den Wunsch zu
sündigen hat, sondern deshalb, weil er seine Sünden nicht erkennt. Noch
hat sich nicht allen die für unser gegenwärtiges Zeitalter so furchtbare
Wahrheit enthüllt, noch liegt diese Wahrheit nicht so klar vor unseren
Augen, daß wir nämlich heutzutage alle miteinander bis auf den Letzten
der Sünde verfallen sind, und daß wir bloß nicht offen und direkt,
sondern indirekt sündigen. Das empfinden selbst unsere Prediger noch
nicht recht, daher sind ihre Predigten auch in die Luft gesprochen und
daher bleiben die Menschen taub für ihre Worte. Wenn man heutzutage
erklärt: »ihr sollt nicht stehlen, nicht in Überfluß und Üppigkeit
leben, ihr sollt euch nicht bestechen lassen, sondern beten und den
Armen milde Gaben reichen«, so bedeutet das nichts und kann keine
Wirkung haben. Denn abgesehen davon, daß jeder sagen wird: »aber das
sind doch alles bekannte Dinge«, wird er sich noch vor sich selbst
rechtfertigen und sich womöglich gar noch für einen Heiligen halten. Er
wird sagen: »Stehlen? -- ja, das tue ich doch nicht. Legt eine Uhr, ein
paar Münzen, legt jeden beliebigen Gegenstand vor mich hin, ich werde
ihn nicht anrühren. Ich habe sogar meinen eigenen Diener wegen
Diebstahls entlassen; ich lebe natürlich auf großem Fuße, aber ich habe
weder Kinder noch Verwandte, ich brauche für niemand zu sparen und
zurückzulegen und mit meiner Verschwendung und mit meinem Überfluß
stifte ich noch Nutzen, denn ich gebe damit den Handwerkern, den
Gesellen, den Kaufleuten und Fabrikherren Gelegenheit, zu verdienen.
Geschenke nehme ich nur von den Reichen an, die mich selbst darum bitten
und für die das noch nicht den Ruin bedeutet. Ich bete immer fleißig,
auch jetzt bin ich doch in der Kirche, ich bekreuzige mich und mache
meine Kniefälle, ich helfe auch stets, kein Armer geht an mir vorüber,
ohne daß er eine Kupfermünze von mir erhält, auch habe ich mich niemals
geweigert, etwas für irgendeine Wohlfahrtseinrichtung zu geben.« Mit
einem Wort, er wird sich nach einer solchen Predigt nicht nur für
gerechtfertigt halten, sondern wohl gar noch stolz auf seine
Sündlosigkeit sein.

Aber wenn man den Vorhang vor ihm wegzieht und ihm bloß einen Teil von
all den furchtbaren Schrecken und Übeln zeigt, die er zwar nicht
unmittelbar, aber doch indirekt verursacht, dann wird er ganz anders
reden. Man sage einem kurzsichtigen, aber ehrenhaft denkenden reichen
Mann, daß er, indem er sein Haus schmückt und seine Lebensweise nach dem
Vorbild der vornehmen Herren einrichtet, schweren Schaden und schweres
Ärgernis verursacht, indem er einem andern weniger Reichen denselben
Wunsch einpflanzt. Denn dieser wird, um nur nicht hinter jenem
zurückzustehen, nicht nur sein eigenes, sondern auch fremdes Gut
verschwenden, die Menschen ausplündern und sie zu Bettlern machen;
außerdem aber sollte man eins jener furchtbaren Bilder der Hungersnot im
Innern Rußlands vor ihm erstehen lassen, bei der ihm die Haare zu Berge
stehen müssen, und die es vielleicht nicht geben würde, wenn er nicht
wie ein vornehmer Mann leben, nicht den Ton in der Gesellschaft angeben
und die Köpfe anderer Leute verwirren würde. Ebenso zeige man allen
Modedamen, die sich nicht gern immer in demselben Kleide sehen lassen
und sich ganze Haufen neuer Kleider anfertigen lassen, ohne ein einziges
davon wirklich abzutragen, wobei sie jeder kleinsten Laune der Mode
folgen, ebenso zeige man diesen, wie sie eigentlich gar nicht dadurch
sündigen, daß sie sich einem solchen eitlen Treiben hingeben und ihr
Geld verschwenden, sondern dadurch, daß sie auch andere zu einem solchen
Leben zwingen, daß so mancher Mann einer andern Frau aus diesem Grunde
Bestechungsgelder von einem Beamten, dem eigenen Kollegen, angenommen
hat [gewiß, dieser Beamte war reich, aber um das Geld aufzubringen,
mußte er einem weniger Reichen an die Kehle springen und ihn
ausplündern. Dieser mußte seinerseits irgendeinem Assessor oder einem
Landrat die Kehle zudrücken und der Landpolizeihauptmann wiederum war
gezwungen, die ganz Armen und Besitzlosen auszuplündern] und man lasse
auch vor all diesen Modedamen ein Bild der Hungersnot erstehen. Dann
werden sie nicht mehr an Hüte oder an ein neues, modernes Kleid denken.
Sie werden einsehen, daß auch das Geld, das sie den Armen hinwerfen, und
auch die humanen Wohlfahrtseinrichtungen, die sie in den Städten auf
Kosten der ausgeplünderten Provinzen errichten, sie nicht von der
furchtbaren Verantwortung vor Gott befreien werden. Nein, der Mensch ist
nicht gefühllos. Der Mensch wird im tiefsten erschüttert sein, wenn Sie
ihm die Sache darstellen, wie sie ist. Und er wird sich heute mehr
erschüttert fühlen, denn sein Herz, sein Wesen ist milder und weicher
geworden, und die Hälfte seiner Sünden rührt von seiner Unkenntnis und
nicht von seiner Lasterhaftigkeit her. Er wird den, der ihn dazu
anhalten wird, in sich zu gehen und seinen Blick auf sich selbst, in
sein Inneres zu richten, liebevoll wie seinen Retter umarmen. Der
Prediger braucht den Vorhang nur ein wenig zu lüften und ihm nur eins
von den Verbrechen zu zeigen, die er jeden Augenblick begeht, und er
wird nicht mehr den Mut haben, mit seiner Sündlosigkeit zu prahlen. Er
wird sein verschwenderisches Leben nicht mehr mit elenden, armseligen
Sophismen zu verteidigen suchen, wie wenn ein solches Leben notwendig
wäre, um den Handwerkern Brot zu verschaffen, er wird erkennen, daß der
Gedanke, daß man ein halbes Dorf oder einen halben Kreis zugrunde
richten müsse, um irgendeinem Tischler Hambs Brot zu verschaffen, nur in
dem traurigen Kopfe eines Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, nicht
aber in dem gesunden Gehirn eines vernünftigen Menschen entstehen
konnte. Wie, wenn der Prediger die ganze Kette jener unzähligen
indirekten Verbrechen, die der Mensch durch seine Unvorsichtigkeit,
seinen Stolz, sein Selbstvertrauen begeht, vor ihm aufrollen und auf
alle Gefahren der gegenwärtigen Zeit hinweisen würde, wo jeder von uns
mit einem Schlage so viele Seelen zugrunde richten kann, nicht nur seine
eigene, ja wo man sogar, ohne selbst unehrlich zu sein, bloß durch seine
Unvorsichtigkeit andere zu ehrlosen Menschen und Schurken machen kann,
kurz, wie wäre es wohl, wenn er nur ganz vorsichtig darauf hinweisen
würde, auf welch gefährlichem Wege sich alle Menschen befinden! Nein,
die Menschen werden nicht taub gegen seine Worte sein. Keins seiner
Worte wird in die Luft gesprochen sein. _Sie_ aber können viele Priester
hierauf aufmerksam machen, indem Sie sie auf alle die Machenschaften der
Menschen unserer Zeit, die Sie unterwegs kennen lernen werden,
aufmerksam machen. Aber Sie können sich hierdurch nicht nur den
Priestern, sondern auch anderen Menschen nützlich erweisen. Dies sind
Tatsachen, deren Kenntnis heutzutage jedem von Nutzen ist.

Man muß dem Menschen das Leben zeigen: das Leben, nicht wie es sich
unter dem Gesichtspunkt einer vergangenen, sondern unter dem aller
Wirrsale und Verwirrungen unserer _gegenwärtigen_ Zeit darstellt; nicht
wie es dem oberflächlichen Blick eines Weltmanns, sondern wie es einem
Manne erscheint, der es von dem höchsten Standpunkt eines Christen
betrachtet, in Erwägung zieht und bewertet. Die Unkenntnis Rußlands, wie
sie in Rußland selbst verbreitet ist, ist ganz ungeheuer. Alle Leute
leben in einer fremden Welt ausländischer Journale und Zeitungen, nicht
aber in ihrem eigenen Lande. Keine Stadt kennt die andere, kein Mensch
kennt seine Mitmenschen. Menschen, die innerhalb derselben vier Wände
wohnen, scheinen durch Meere voneinander getrennt zu sein. Sie aber
können sie auf Ihrer Reise miteinander bekannt machen und wie ein
gewandter Kaufmann einen wohltuenden gegenseitigen Verkehr und
Gedankenaustausch zwischen ihnen anbahnen. In _einer_ Stadt können Sie
Kenntnisse sammeln, um sie in einer andern mit Profit wieder an den Mann
zu bringen. Sie können alle reicher machen und sich zugleich selbst weit
mehr bereichern als alle. So Großes können Sie auf Schritt und Tritt
vollbringen -- und das sehen Sie nicht. Erwachen Sie doch. Eine Hülle
liegt über Ihren Augen. Es liegt nicht in Ihrer Macht, die Liebe
herbeizurufen, damit sie komme und Wohnung in Ihrem Herzen nehme. Sie
können die Menschen nicht anders lieben lernen, als dadurch, daß Sie es
lernen, ihnen zu dienen. Wie könnte ein Diener seinen Herrn
liebgewinnen, wenn dieser ihm beständig fernbleibt und wenn er noch nie
für ihn gearbeitet hat. Daher liebt ja auch eine Mutter ihr Kind so
innig, weil sie es so lange unter ihrem Herzen getragen, weil sie alles
für es hingegeben hat, weil sie so viel für es gelitten hat. Wachen Sie
auf! Ihre Klosterzelle ist -- Rußland.

                                                                 1845.




                                  XXI
                     Was eine Gouverneursgattin ist
                            An Fr. A. O. S.


Ich freue mich, daß Ihre Gesundheit jetzt besser ist. Die meine ... aber
sprechen wir nicht von unserer Gesundheit. Wir sollten sie ebenso
vergessen wie uns selbst. Also Sie kehren wieder in Ihre
Gouvernementshauptstadt zurück. Sie müssen sie mit neuer Kraft lieben
lernen; sie gehört zu Ihnen, sie ist Ihnen anvertraut, sie muß Ihre
wahre Heimat werden. Sie haben unrecht, wenn Sie schon wieder meinen,
daß Ihre Anwesenheit für das soziale Tun und Leben daselbst ganz ohne
Nutzen, daß die Gesellschaft bis auf die Wurzel verderbt sei. Sie sind
einfach müde -- das ist alles. Die Frau eines Gouverneurs findet
überall, auf Schritt und Tritt ein Feld der Betätigung. Sie wirkt sogar
auch dann noch, wenn sie überhaupt nichts tut. Sie wissen doch selbst
schon, daß es sich nicht darum handelt, sich viele Unruhe, sich viel zu
schaffen zu machen und sich beständig voller Hitze und Eifer auf alle
möglichen Dinge zu werfen. Sie haben zwei lebendige Beispiele vor sich,
die Sie selbst erwähnt haben. Ihre Vorgängerin, Frau Sch., hat einen
ganzen Haufen von Wohlfahrtseinrichtungen gegründet und zugleich damit
alle möglichen Schreibereien, eine große Aktenwirtschaft veranlaßt,
allerhand Ökonomen, Sekretäre angestellt und den Grund zu Veruntreuungen
und einem törichten unsinnigen Getue gelegt, sie hat sich in Petersburg
durch ihre Wohltätigkeit berühmt gemacht und in K. eine große Verwirrung
angerichtet. Die Fürstin O. dagegen, die _vor_ Ihnen Gouverneurin der
Stadt K. war, hat keinerlei Wohlfahrtseinrichtungen und keine Asyle
gegründet, sie hat außerhalb der Stadt kaum von sich reden gemacht, auch
hatte sie gar keinen Einfluß auf ihren Mann und sie hat sich auch an der
eigentlichen Regierungstätigkeit und den offiziellen Geschäften gar
nicht beteiligt, und doch kann bis auf den heutigen Tag kein Mensch in
der Stadt ihrer ohne Tränen gedenken, und jedermann -- von dem Kaufmann
bis herab zum letzten Habenichts -- sagt auch heute noch immer: »Nein,
wir werden nie eine zweite Fürstin O. bekommen.« Und wer sagt so etwas?
Dieselbe Stadt, für die sich, wie Sie annehmen, nichts tun läßt,
dieselbe Gesellschaft, die Ihrer Meinung nach für alle Zeiten und
unwiederbringlich verdorben ist. Wie denn nun? Läßt sich denn wirklich
nichts machen? Sie sind müde, das ist alles, und Sie fühlen sich müde,
weil Sie sich gar zu eifrig ins Zeug gelegt, weil Sie Ihren eigenen
Kräften gar zu viel zugetraut haben. Ihr weibliches Temperament ist mit
Ihnen durchgegangen ... Ich wiederhole Ihnen noch einmal, was ich Ihnen
schon oft gesagt habe: Sie haben einen großen Einfluß. Sie sind die
erste Persönlichkeit in der Stadt. Dank dem äffischen Wesen der Mode und
der bei uns in Rußland herrschenden äffischen Nachahmungssucht im
allgemeinen wird man alles an Ihnen, jede kleinste Kleinigkeit,
nachahmen. Sie werden auf allen Gebieten tonangebend, Gesetzgeberin
sein. Wenn Sie nun recht für Ihre eigenen Angelegenheiten sorgen werden,
so werden Sie schon allein hierdurch wirken, weil Sie damit auch andere
veranlassen werden, sich mehr und gründlicher mit ihren Angelegenheiten
zu beschäftigen. Bekämpfen Sie den Luxus (solange Sie nichts anderes zu
tun finden), auch das ist schon eine hohe Aufgabe, die dazu nicht einmal
viel Arbeit und Unruhe erfordert, noch viele Kosten verursacht. Fehlen
Sie auf keinem Ball und in keiner Versammlung. Erscheinen Sie stets und
zwar nur, um sich mehrmals in ein und demselben Kleide sehen zu lassen.
Ziehen Sie das gleiche Kleid drei-, vier-, fünf-, sechsmal an. Loben Sie
an jedem Dinge nur das, was einfach und billig ist. Kurz, bekämpfen Sie
diesen abscheulichen nordländischen Luxus, diesen Krebsschaden Rußlands,
diesen Quell aller Bestechlichkeit, aller Ungesetzlichkeiten und
Schändlichkeiten, die es bei uns gibt. Wenn Ihnen auch nur dies _eine_
gelingen sollte, so werden Sie damit bereits mehr wahren Nutzen stiften,
als selbst die Fürstin O. Und das erfordert, wie Sie selbst sehen, nicht
einmal irgendwelche Opfer, ja nicht einmal viel Zeit. Liebe Freundin!
Sie sind müde. Aus Ihren früheren Briefen ersehe ich, daß Sie für den
Anfang bereits sehr viel Gutes geleistet haben (wenn Sie sich nicht
allzusehr beeilt hätten, hätten Sie noch mehr geleistet). Ihr Ruf ist
bereits über die Grenzen von K. gedrungen, und mancherlei ist auch mir
zu Ohren gekommen. Aber Sie sind noch gar zu hastig. Sie lassen sich
noch zu sehr fortreißen. Alles Häßliche und jede kleine Unannehmlichkeit
macht noch einen viel zu starken Eindruck auf Sie und drückt Sie zu
leicht nieder. Liebe Freundin! Denken Sie immer wieder an meine Worte,
von deren Richtigkeit Sie sich, wie Sie selbst sagen, überzeugt haben.
Betrachten Sie die ganze Stadt so, wie ein Arzt ein Krankenhaus
betrachtet. Tun Sie dies, aber tun Sie außerdem noch etwas anderes, und
zwar folgendes: Suchen Sie sich selbst davon zu überzeugen, daß alle
Kranken, die im Krankenhaus liegen, Ihre Verwandten, daß sie Menschen
sind, die Ihrem Herzen nahe stehen. Dann wird sich vor Ihren Augen alles
ändern. Sie werden sich mit den Menschen aussöhnen und nur noch gegen
ihre Krankheiten ankämpfen. Wer hat Ihnen gesagt, daß diese Krankheiten
unheilbar sind? Das haben Sie sich selbst eingeredet, weil Sie keine
Mittel wider sie in der Hand hatten. Wie? Sind Sie etwa ein Arzt, der
allwissend ist? Warum haben Sie sich denn nicht an andere Leute mit der
Bitte um Hilfe gewandt. Habe ich Sie denn vergeblich darum gebeten, mich
über alles zu unterrichten, was es in Ihrer Stadt gibt, mir dazu zu
verhelfen, daß ich Ihre Stadt kennen lerne, damit ich mir einen
vollständigen Begriff von dieser Stadt machen kann. Warum haben Sie das
nicht getan, um so mehr, da Sie doch selbst davon überzeugt sind, daß
ich in vielen Beziehungen eine größere Wirkung auszuüben vermag als Sie.
Um so mehr, da Sie mir selbst eine gewisse Menschenkenntnis zuschreiben,
wie sie nicht allen eigen ist. Um so mehr endlich, da Sie ja selbst
sagen, daß ich Ihnen in Ihren Herzensangelegenheiten mehr geholfen habe
als sonst jemand. Glauben Sie wirklich, daß ich nicht auch Ihren
unheilbaren Kranken zu helfen vermöchte? Sie haben wohl vergessen, daß
ich zu beten vermag und daß mein Gebet bis zu Gott dringen kann. Gott
aber kann meinem Verstande Einsicht schenken, und mein von Gott
erleuchteter Verstand könnte Besseres vollbringen, als ein Verstand, der
nicht von Ihm belehrt ist.

Bisher haben Sie mir in Ihren Briefen nur einen ganz allgemeinen Begriff
von Ihrer Stadt gegeben und ganz allgemeine Züge mitgeteilt, wie sie
jeder Provinzhauptstadt eigen sein können. Aber auch diese allgemeinen
Züge sind noch nicht vollständig. Sie haben sich darauf verlassen, daß
ich Rußland kenne wie meine fünf Finger. Und doch weiß ich von Rußland
so gut wie gar nichts. Wenn ich auch früher vielleicht etwas davon
gewußt habe, so ist dieses seit meiner Abreise ganz anders geworden.
Selbst in der Zusammensetzung der Gouvernementsverwaltung sind große
Veränderungen vorgegangen. Viele Instanzen und viele Beamte sind jetzt
nicht mehr vom Gouverneur abhängig, sondern sind andern Departements und
Ressorts und den Ressorts anderer Ministerien zugeteilt worden. Es sind
neue Posten geschaffen worden, und es gibt mancherlei neue Beamte. Kurz,
ein Gouvernement und eine Gouvernementshauptstadt erscheinen heute nach
vielen Richtungen hin in einem anderen Lichte, und ich habe Sie doch
gebeten, mich recht _vollständig_ mit Ihrer Situation bekannt zu machen.
Nicht mit irgendeiner _idealen_, sondern mit Ihrer _eigentlichen
wirklichen_ Situation, damit ich Ihre ganze Umgebung und alles vom
Kleinsten bis zum Größten zu übersehen vermag.

Sie sagen selbst, daß Sie während der kurzen Zeit Ihres Aufenthalts in
K. Rußland besser kennen gelernt haben, als während Ihres ganzen
früheren Lebens. Warum haben Sie denn dann Ihre Kenntnisse nicht mit mir
geteilt? Sie sagen, Sie wüßten nicht einmal, an welchem Ende Sie
anfangen sollen, Sie sagen, daß der große Haufen von Kenntnissen, die
Sie gesammelt haben, noch ganz ungeordnet in Ihrem Kopfe liegt
(Notabene: das ist die Ursache Ihrer Mißerfolge). Ich will Ihnen helfen,
sie zu ordnen, nur möchte ich Sie darum ersuchen, mir zunächst folgende
Bitte zu erfüllen und zwar so gewissenhaft, als Ihnen dies möglich ist,
und nicht in der Weise, wie dies eine Ihrer Geschlechtsgenossinnen -- d.
h. eine leidenschaftliche Frau, die von zehn Worten acht überhört und
nur auf zwei antwortet, weil sie ihr zufällig angenehm sind oder
gefallen haben, tun würde, sondern so, wie unsereiner, d. h. ein kalter,
leidenschaftsloser Mann oder noch besser, wie ein energischer
vernünftiger Beamter dies zu tun pflegt, der sich nichts besonders zu
Herzen nimmt, sondern gleichmäßig auf alle Punkte antwortet.

Sie sollten um meinetwillen noch einmal darangehen, Ihre
Gouvernementshauptstadt zu studieren. Erstens sollten Sie mich mit allen
bedeutenden Persönlichkeiten Ihrer Stadt, mit ihren Vor-, Vater- und
Familiennamen sowie mit allen Beamten -- vom ersten bis zum letzten --
bekannt machen. Dies ist ein Bedürfnis für mich. Ich muß ebenso ihr
Freund werden, wie Sie ausnahmslos die Freundin eines jeden sein müssen.
Zweitens sollten Sie mir schreiben, was ein jeder von ihnen für einen
Beruf hat. Dies alles sollten Sie persönlich von ihnen selbst und nicht
von irgendeinem andern zu erfahren suchen. Knüpfen Sie dazu mit jedem
ein Gespräch an und fragen Sie ihn aus, worin seine Berufstätigkeit
besteht, lassen Sie sich alle Gegenstände nennen, auf die sie sich
bezieht, sowie ihre Grenzen angeben. Das wäre die erste Frage. Bitten
Sie ihn dann weiter, er möge Ihnen angeben, wodurch, wie und wieviel
Gutes man unter den gegenwärtigen Verhältnissen in diesem Beruf zu tun
vermag. Das wäre die zweite Frage. Fragen Sie ihn ferner, wieviel Unheil
man in diesem selben Beruf anrichten könne und auf welche Weise. Das
wäre die dritte Frage. Wenn Sie dies alles in Erfahrung gebracht haben,
so begeben Sie sich auf Ihr Zimmer und schreiben Sie es sofort für mich
auf. Hierdurch werden Sie mit einem Schlage zwei Aufgaben erfüllen.
Erstens werden Sie _mir_ hierdurch die Möglichkeit geben, mich Ihnen in
der Zukunft einmal nützlich zu erweisen, und zweitens werden Sie aus den
eigenen Antworten jedes Beamten erfahren, wie er seinen Beruf auffaßt,
woran es ihm fehlt, kurz er wird sich mit seiner Antwort selbst
charakterisieren. Er kann Ihnen sogar manchen Wink geben, was sich
bereits gleich jetzt tun ließe ... Aber darum handelt es sich nicht.
Beeilen Sie sich fürs erste nicht zu sehr. Tun Sie selbst dann noch
nichts, wenn es Ihnen so erscheint, als ob Sie etwas tun könnten und als
ob Sie in der Lage wären, irgendwo zu helfen. Es ist besser, wenn Sie
zunächst noch einen genaueren Einblick in die Dinge zu gewinnen suchen,
begnügen Sie sich fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem
bitte ich Sie, mir entweder am Rande desselben Blattes oder auf einem
anderen Stück Papier Ihre eigenen Bemerkungen und Beobachtungen über
jeden einzelnen Mann mitzuteilen -- auch was die andern über ihn sagen,
kurz alles, was sich vom Standpunkt des äußeren Beobachters von ihm
sagen läßt.

Ferner bitte ich Sie, mir ganz ähnliche Mitteilungen über die gesamte
weibliche Hälfte Ihrer Stadt zukommen zu lassen. Sie sind so klug
gewesen und haben ihnen allen einen Besuch gemacht und sie fast alle
kennen gelernt. Übrigens bin ich der Überzeugung, daß Sie sie doch nicht
genügend kennen gelernt haben. Frauen gegenüber lassen Sie sich schon
durch den ersten Eindruck leiten, die, die Ihnen nicht gefällt, lassen
Sie fallen. Sie suchen nur immer nach der Elite und nach den
allerbesten. Das muß ich Ihnen zum Vorwurf machen, liebe Freundin! Sie
müssen alle lieben, und die ganz besonders, die viel Häßliches und
Schlechtes an sich haben. Vor allem sollten Sie sie gründlicher kennen
lernen, weil davon vieles abhängt und weil sie einen großen Einfluß auf
ihre Männer haben können. Übereilen Sie sich nicht, suchen Sie ihnen
keine guten Lehren zu erteilen, sondern fragen Sie sie zunächst einmal
ordentlich aus. Sie haben ja die Gabe, einen Menschen zum Reden zu
veranlassen. Suchen Sie sich über die Verhältnisse einer jeden zu
orientieren, womit sie sich beschäftigt, ja suchen Sie selbst ihre
Denkungsart und ihre Geschmacksrichtung kennen zu lernen: ihre
Neigungen, was einer jeden von ihnen gefällt und was das Steckenpferd
einer jeden ist. Dies muß ich alles wissen.

Meiner Ansicht nach muß man einen Menschen völlig und bis in sein
Innerstes durchschauen, um ihm helfen zu können. Ohne dies kann ich es
nicht einmal verstehen, wie man jemand auch nur zu raten vermag: An
jedem Ratschlag, den man ihm erteilt, wird er in einem solchen Fall
immer nur die schwierigste Seite sehen, und er wird ihm nicht leicht, ja
sogar unausführbar erscheinen. Mit einem Wort, suchen Sie die Frauen bis
auf den Grund zu durchschauen, damit ich ein vollständiges Bild von
Ihrer Stadt erhalte.

Außer den Charakteren und den Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts
bitte ich Sie auch jeden Vorfall, der sich bei Ihnen ereignet, und der
die Menschen oder den allgemeinen Geist der Provinz auch nur nach
irgendeiner Seite hin zu charakterisieren geeignet ist, schlicht und
einfach zu verzeichnen, ganz so, wie er sich abgespielt hat oder wie er
Ihnen von zuverlässigen Leuten berichtet worden ist. Geben Sie mir auch
ein paar Stichproben von zwei oder drei Klatschgeschichten, welche Ihnen
gerade mitgeteilt werden, damit ich weiß, was für Klatschereien bei
Ihnen im Schwange sind. Sorgen Sie dafür, daß diese Aufzeichnungen Ihnen
zur dauernden Gewohnheit werden, und setzen Sie ein für allemal eine
bestimmte Stunde des Tages dafür fest. Suchen Sie sich eine
systematische und möglichst vollständige Vorstellung von der ganzen
Stadt in ihrem ganzen Umfange zu bilden, damit Sie sofort übersehen
können, ob Sie auch nicht vergessen haben, etwas aufzuschreiben, und
damit ich endlich ein möglichst vollständiges Bild von Ihrer Stadt
erhalte.

Wenn Sie mich dann auf solche Weise mit allen Personen, ihrer Tätigkeit,
ihrer Auffassung von ihr und ihrem Beruf und endlich auch mit dem
Charakter der Ereignisse, die sich bei Ihnen abspielen, bekannt gemacht
haben, dann will ich Ihnen etwas sagen, und Sie werden erkennen, daß
vieles Unmögliche doch möglich und daß vieles Unverbesserliche doch noch
gutzumachen ist. Bis dahin aber will ich nichts sagen, und zwar gerade
darum, weil ich mich irren kann, und das möchte ich nicht gern. Ich
möchte nur solche Worte zu Ihnen sprechen, die gerade ins Ziel treffen,
nicht höher und nicht tiefer, gerade in den Punkt und den Gegenstand,
auf den sie gerichtet sind. Ich möchte Ihnen so raten können, daß Sie
sofort erklären: das ist nicht schwer, das läßt sich leicht ausführen.

Übrigens möchte ich Ihnen hier doch schon im voraus ein paar Winke
geben, die allerdings nicht für Sie, sondern für Ihren Gatten bestimmt
sind: bitten Sie ihn vor allem darauf zu achten, daß die Räte in der
Gouvernementsverwaltung ehrliche Leute sind; das ist die Hauptsache.
Sowie diese Räte ehrlich sind, werden wir auch ehrliche
Polizeihauptleute, ehrliche Assessoren usw. bekommen, mit einem Wort, so
wird jedermann ehrlich sein. Sie müssen nämlich wissen (wenn Sie dies
nicht schon wissen sollten), daß die allerungefährlichste Art,
Bestechungsgelder anzunehmen, die ist, wenn ein Beamter auf Befehl des
Vorgesetzten von einem Kollegen ein Geschenk annimmt; in solch einem
Fall gelingt es dem Schuldigen stets, sich seiner Strafe zu entziehen.
Dies geht zuweilen in einer unendlichen Stufenleiter von oben nach
unten. Der Polizeihauptmann und die Assessoren sind häufig bloß deswegen
gezwungen, zu schwindeln und Geschenke anzunehmen, weil man ihnen selbst
was abnimmt und weil sie Geld brauchen, denn sie müssen zahlen, wenn sie
eine Stelle erhalten wollen. Diese Kauf- und Verkaufsgeschäfte können
sich offen vor aller Augen abspielen und doch von niemand bemerkt
werden. Aber hüten Sie sich um Gottes willen, deswegen gegen jemand
vorzugehen und ihn deshalb zu verfolgen. Sorgen Sie nur dafür, daß in
den oberen Regionen unbedingte Ehrlichkeit herrscht, dann werden auch in
den unteren alle von selbst ehrlich sein. Strafen Sie und verfolgen Sie
niemand, ehe die rechte Zeit kommt und ehe das Übel ganz zur Reife
gekommen ist. Suchen Sie unterdessen lieber durch Ihren moralischen
Einfluß zu wirken. Ihr Gedanke, daß ein Gouverneur stets Gelegenheit
hat, viel Unheil anzurichten, daß er nur wenig Gutes tun kann, daß er
kaum die Möglichkeit hat, Gutes und Heilsames zu leisten, da ihm auf
diesem Gebiete die Hände gebunden sind, ist nicht ganz richtig. Ein
Gouverneur kann immer einen _moralischen_ Einfluß ausüben, ja dieser
Einfluß ist sogar sehr groß, ebenso wie auch Sie einen großen
_moralischen_ Einfluß ausüben können, obwohl Sie über keinerlei
gesetzliche Vollmachten verfügen. Glauben Sie mir, wenn Ihr Gatte
irgendeinem Herrn keinen Besuch macht, so wird gleich die ganze Stadt
davon reden: man wird sich sofort fragen, warum und aus welchem Grunde
dies nicht geschehen ist, und derselbe Herr wird schon aus bloßer Furcht
davor zurückschrecken, eine Gemeinheit zu begehen, der er sich sonst
ohne Furcht und Zaudern schuldig gemacht und die er aus Respekt vor dem
Gesetz und der Obrigkeit sicher nicht unterlassen hätte. Die Art, wie
Sie, d. h. Sie und Ihr Gatte, gegen den Kreisrichter des N.schen Kreises
gehandelt haben, den Sie ausdrücklich in die Stadt kommen ließen, um ihn
mit dem Staatsanwalt auszusöhnen, und ihn um seiner Geradheit,
Anständigkeit und Ehrlichkeit willen durch eine herzliche und
freundliche Aufnahme und Bewirtung zu ehren, wird ihre Wirkung nicht
verfehlen. Dies können Sie mir glauben. Was mir hierbei besonders
gefallen hat, ist folgendes: daß der Richter (der, wie es sich
herausgestellt hat, ein äußerst gebildeter und aufgeklärter Mensch ist)
so angezogen war, daß man ihn, wie Sie sich ausdrücken, nicht einmal ins
Vorzimmer eines Petersburger Salons hineingelassen hätte. Ich hätte ihm
in diesem Augenblick den Schoß seines abgetragenen Fracks küssen mögen.
Glauben Sie mir, die beste Art, wie man heute handeln kann, besteht
nicht darin, sich heftig und leidenschaftlich über die Bestechlichkeit
und die Schlechtigkeit der Menschen zu entrüsten, und auch nicht darin,
gegen sie vorzugehen und sie zu verfolgen; statt dessen sollte man sich
lieber bemühen, jeden Zug von Ehrlichkeit öffentlich bekannt zu machen
und einem geraden und ehrlichen Menschen offen und vor aller Welt
freundschaftlich die Hand zu drücken. Glauben Sie mir, sobald es im
ganzen Gouvernement bekannt wird, daß der Gouverneur wirklich so
handelt, wird er den gesamten Adel auf seiner Seite haben. Unser Adel
hat einen wunderbaren Zug an sich, der mich stets in Staunen versetzt
hat. Es ist dies ein Gefühl für Anstand und Vornehmheit, und zwar nicht
für jene Vornehmheit, von der auch der Adel anderer Länder durchdrungen
ist, d. h. nicht für die Vornehmheit der Geburt oder der Abstammung,
auch nicht für den europäischen _point d'honneur_, sondern für die echte
sittliche Vornehmheit. Selbst in solchen Provinzen und in solchen
Gegenden, wo jeder Aristokrat einzeln genommen ein ganz minderwertiger
Mensch zu sein scheint, erheben sich alle wie ein Mann, wenn man sie nur
zu einer wahrhaft edlen Tat aufruft, wie elektrisiert, und Menschen, die
sonst nichts wie Gemeinheiten begehen, sind mit einem Male der
herrlichsten Taten fähig. Daher wird jede edle Handlung des Gouverneurs
zuallererst beim Adel Widerhall finden, und das ist sehr wichtig. Der
Gouverneur muß unbedingt einen moralischen Einfluß auf den Adel ausüben.
Nur hierdurch kann er die Aristokraten bewegen, sich auch mit
unbedeutenden Ämtern oder wenig verlockenden Stellungen zu begnügen. Das
aber ist durchaus notwendig. Denn wenn ein Adliger aus derselben Provinz
eine Stelle annimmt, um andern Leuten ein Vorbild zu geben, wie man
seine dienstlichen Verpflichtungen erfüllt, so wird er, was er auch für
ein Mensch sein mag, selbst wenn er träge ist und vielerlei Mängel hat,
seine Pflicht und Schuldigkeit tun, wie dies ein fremder, aus einem
andern Ort in die Provinz versetzter Beamter niemals vermag, und wenn er
sein ganzes Leben lang im Bureau verbracht hätte. Mit einem Wort, man
darf niemals aus dem Auge verlieren, daß das dieselben Beamten sind, die
im Jahre 1812 alles zum Opfer gebracht haben, alles, d. h. ihre ganze
Habe, die sie besaßen.

Wenn es einmal vorkommt, daß ein Beamter wegen irgendwelcher
unehrenhafter Handlungen vor Gericht gestellt wird, so muß dies stets
_unter Enthebung von seinem Amt_ geschehen. Das ist von großer
Bedeutung, denn wenn er vor Gericht gestellt wird, ohne daß er seines
Amts enthoben wird, so werden alle andern Beamten für ihn Partei nehmen.
Er wird noch lange Winkelzüge zu machen und Mittel zu finden suchen, um
alles derartig in Verwirrung zu bringen, daß es überhaupt nicht mehr
möglich ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen; wird er dagegen unter
_Enthebung von seinem Amt_ vor Gericht gestellt, so wird er plötzlich
die Nase hängen lassen, niemand wird mehr Angst vor ihm haben, auf allen
Seiten werden sich Beweise gegen ihn häufen, alles wird plötzlich an den
hellen Tag kommen und die Sache wird sich völlig aufklären. Um eins aber
bitte ich Sie, liebe Freundin, verlassen Sie um Christi willen nie einen
aus dem Amt gejagten Beamten gänzlich, mag er so schlecht sein, wie er
will: denn er ist ein Unglücklicher. Aus den Händen Ihres Gemahls muß er
in Ihre Hände gelangen. Sprechen Sie nicht selbst mit ihm und empfangen
Sie ihn nicht, sondern behalten Sie ihn von ferne im Auge. Sie haben gut
daran getan, die Aufseherin an der Irrenanstalt hinauszuwerfen, weil sie
die Brötchen, die für diese Unglücklichen bestimmt waren, an andre Leute
verkauft hat -- ein Verbrechen, das um so abscheulicher ist, wenn man in
Betracht zieht, daß die Geisteskranken ja nicht einmal imstande waren,
sich deswegen zu beklagen. Daher mußte ihre Entlassung öffentlich und
vor aller Welt erfolgen. Aber lassen Sie nie einen Menschen völlig
fallen, machen Sie ihm die Rückkehr nicht ganz unmöglich und behalten
Sie den Ausgestoßenen im Auge. Denn mitunter kann ein solcher aus
Kummer, Verzweiflung und Scham noch größere Verbrechen begehen. Handeln
Sie entweder durch Ihren Beichtvater oder überhaupt durch irgendeinen
klugen Geistlichen, veranlassen Sie diesen, ihn aufzusuchen und Ihnen
beständig über ihn Bericht zu erstatten. Vor allem aber sorgen Sie
dafür, daß er nie ohne Arbeit und Tätigkeit ist. Nehmen Sie sich in
diesem Fall nicht das tote Gesetz, sondern den lebendigen Gott zum
Vorbild, der den Menschen mit allen Geißeln des Unglücks schlägt, ihn
aber bis an sein Lebensende nie verläßt. Ein Verbrecher mag sein, wie er
will, solange die Erde ihn noch trägt und Gottes Donner ihn noch nicht
vernichtet hat, so bedeutet das, daß er sich hier in der Welt noch
aufrecht zu erhalten vermag, auf daß jemand durch sein Los gerührt
werde, ihm helfe und ihn rette. Sollten Sie übrigens bei den
Aufzeichnungen, die Sie für mich machen werden, oder bei Ihren eigenen
Forschungen über alle möglichen Mißstände und Gebrechen allzusehr durch
die traurigen Seiten unseres Lebens erschüttert werden und sollte sich
Ihr Herz mit Empörung erfüllen -- so rate ich Ihnen in solch einem
Falle, sich hierüber so häufig wie möglich mit dem Erzpriester zu
unterhalten. Dieser ist, wie ich aus Ihren Worten ersehe, offenbar ein
kluger Mann und ein gütiger Priester. Führen Sie ihn durch Ihr ganzes
Krankenhaus und klären Sie ihn über alle Leiden Ihrer Kranken auf.
Selbst wenn er keine großen Kenntnisse und Erfahrungen in der Heilkunst
besitzen sollte, so müssen Sie ihn dennoch über alle Krankheitsanfälle,
alle Symptome und alle Krankheitserscheinungen unterrichten. Suchen Sie
ihm alles bis aufs letzte so lebendig darzustellen, daß es ihm
fortwährend vor Augen steht, daß er sich in Gedanken fortwährend mit
Ihrer Stadt beschäftigen muß, daß sie ihm immer lebendig und gegenwärtig
ist, wie sie auch Ihre Gedanken beständig beschäftigen muß, damit all
sein Denken stets ganz von selbst darauf gerichtet ist, unaufhörlich für
sie zu beten. Glauben Sie mir, seine Sonntagspredigt wird hierdurch den
Zuhörern immer mehr und mehr zu Herzen gehen, und es wird ihm gelingen,
in viele Dinge Licht hineinzubringen und persönlich, ohne auf jemand
hinzuweisen, jedem seine eigene Schlechtigkeit und Gemeinheit von
Angesicht zu Angesicht gegenüberzustellen, so daß sich ein jeder mit
Ekel von dem, was sein Eigenstes ist, abwenden wird. Achten Sie
gleichfalls auf die Stadtpfarrer, suchen Sie sie unbedingt alle kennen
zu lernen. Von ihnen hängt alles ab, und die Rettung unserer Seele liegt
in ihren Händen und nicht in den Händen irgendeines anderen. Achten Sie
trotz der Einfalt und Unwissenheit so mancher keinen von ihnen zu
gering. Es ist leichter, _sie_ ihrer Pflicht wiederzugeben, als
irgendeinen von uns. Wir weltlichen Menschen besitzen viel Stolz,
Ehrgeiz, Eigenliebe und vertrauen zu sehr auf unsere Vollkommenheit.
Infolgedessen will niemand von uns auf die Worte und die Ermahnungen
seiner Brüder hören, so wahr und richtig sie auch immer sein mögen. Dazu
kommen noch die vielen Zerstreuungen und Vergnügungen ... Ein
Geistlicher dagegen mag sein wie er will, er hat doch immerhin ein
gewisses Gefühl dafür, daß er demütiger und bescheidener sein muß, als
alle anderen Menschen. Außerdem wird er ja auch täglich während des
Gottesdienstes, den er abhält, daran erinnert, mit einem Wort, er ist
weit eher dazu imstande, sich auf den rechten Weg zurückzufinden, als
wir, und indem er selbst dahin zurückkehrt, kann er auch uns alle auf
ihn zurückführen. Daher müssen Sie, selbst wenn Sie ganz unfähige Leute
unter ihnen antreffen, diese nicht geringschätzen, sondern ordentlich
mit ihnen reden. Fragen Sie einen jeden, was er für eine Gemeinde hat,
lassen Sie sich ein vollständiges Bild von ihr entwerfen, lassen Sie
sich erzählen, was für Leute in seinem Pfarrdorf leben, wie er sie
versteht und in welchem Maße er sie kennt. Vergessen Sie niemals, daß
ich bisher noch gar nicht weiß, was das Bürgertum und die Kaufmannschaft
in Ihrer Stadt eigentlich darstellen. Daß sie auch schon anfangen, die
Mode mitzumachen und Zigaretten zu rauchen, das ist eine Erscheinung,
der man überall begegnet. Ich wünschte, Sie könnten mir einen von ihnen
mitten aus seinem Milieu lebendig herausgreifen, damit ich ihn vom Kopf
bis zu den Füßen in all seinen Einzelzügen vor mir sehen könnte. Also
noch einmal: suchen Sie sie möglichst vollständig und bis ins einzelne
kennen zu lernen. Eine Seite der Sache werden Sie von den Priestern
erfahren, eine andere vom Polizeimeister, wenn Sie sich nur die Mühe
geben, die Sache gründlich mit ihnen durchzusprechen. Einen dritten Zug
werden Sie von ihnen selbst erfahren, wenn Sie es nicht verschmähen, mit
einem von ihnen eine Unterhaltung anzuknüpfen, was Sie meinetwegen
Sonntags beim Verlassen der Kirche tun können. Alle Daten, die Sie so
sammeln werden, werden dazu dienen, das Musterbild des Bürgers und
Kaufmanns, wie er in Wahrheit sein soll, vor Ihnen erstehen zu lassen.
Selbst im Krüppel werden Sie das Ideal erkennen, dessen Karikatur dieser
Krüppel darstellt. Wenn Sie aber das Gefühl haben, daß Sie so weit sind,
dann lassen Sie den Priester holen und sprechen Sie mit ihm darüber. Sie
werden ihm gerade das sagen, was er wissen muß. Sie werden ihm das Wesen
eines jeden Berufs klarmachen, d. h. Sie werden ihm zeigen, was ein
jeder Beruf bei uns sein muß, und Sie werden eine Karikatur dieses
Berufs vor ihm erstehen lassen, d. h., Sie werden ihm zeigen, wozu er
durch unsere Mißbräuche geworden ist. Darüber hinaus brauchen Sie nichts
hinzuzufügen. Er wird schon selbst auf das Rechte kommen, wenn sein
eigener Lebenswandel besser werden wird. Unsere Priester bedürfen
solcher Gespräche, besonders mit fertigen in sich abgeschlossenen
Menschen, die es verstehen, die Grenzen und Pflichten eines jeden Berufs
und Amtes in wenigen, aber klaren und treffenden Zügen abzustecken.
Häufig weiß mancher von ihnen nur deshalb nicht, wie er sich gegen seine
Gemeinde und seine Zuhörer verhalten soll, und bringt nichts als
Gemeinplätze vor, die sich nach keiner Richtung hin unmittelbar auf den
Gegenstand beziehen. Suchen Sie sich auch in seine eigene Lage zu
versetzen. Helfen Sie seiner Frau und seinen Kindern, wenn seine
Gemeinde arm ist, und denen, die da roh und trotzig tun, drohen Sie mit
dem Erzpriester. Im allgemeinen aber suchen Sie vor allem durch Ihren
moralischen Einfluß zu wirken. Erinnern Sie sie daran, daß ihre
Pflichten groß und furchtbar sind, daß sie strengere Rechenschaft werden
ablegen müssen, als irgendein Mensch aus einem anderen Beruf, daß
heutzutage ja auch der Synod und selbst der Kaiser ganz besonders auf
den Lebenswandel der Priester achten, daß ein großes Revirement
bevorsteht, weil nicht nur die höhere Obrigkeit, sondern auch alle
Privatleute im Staate ohne Ausnahme zu merken beginnen, daß der Grund
alles Übels darin liegt, daß die Priester nicht mehr recht ihre Pflicht
und Schuldigkeit tun ... Klären Sie sie möglichst häufig über die
furchtbaren Wahrheiten auf, bei denen unsere Seele unwillkürlich
erschauert. Kurz -- vernachlässigen Sie die Stadtpfarrer unter keinen
Umständen: mit ihrer Hilfe kann die Frau eines Gouverneurs einen großen
moralischen Einfluß auf die Kaufmannschaft, das Bürgertum und die
niederen Stände der Stadtbewohner ausüben, einen so großen Einfluß, wie
Sie sich's kaum vorstellen können. Ich will nur einiges davon erwähnen,
was sie durchzusetzen vermag, und Sie auf die Mittel aufmerksam machen,
mit deren Hilfe sie dies vollbringen kann: erstens, -- aber da fällt mir
ein, daß ich ja gar keinen Begriff davon habe, was das Bürgertum und die
Kaufmannschaft in Ihrer Stadt darstellen. Meine Worte könnten Ihnen
vielleicht nicht recht gelegen kommen, daher ist es besser, ich
unterdrücke sie ganz. Ich will Ihnen nur das eine sagen, daß Sie selbst
einmal erstaunt sein werden, wenn Sie erkennen werden, welch große
Aufgaben und Taten Ihnen in diesem Wirkungskreis bevorstehen, Taten, die
weit mehr Nutzen bringen können, als irgendwelche Asyle und alle
möglichen Wohlfahrtseinrichtungen, obwohl sie mit keinerlei Geldopfern
und Arbeit verbunden sind, sondern einem sogar zum Vergnügen, zu einer
Erholung und zu einer geistigen Zerstreuung werden.

Versuchen Sie es auch, die Elite, d. h. die Besten unter den Bewohnern
der Stadt zu sozialer Tätigkeit anzuhalten: beinahe jeder von ihnen kann
gleich Ihnen sehr viel erreichen, und es ist möglich, sie aufzurütteln;
wenn Sie mir nur ein vollständiges Bild von ihrem Charakter, ihrer
Lebensweise und ihrer Beschäftigung geben wollen, so werde ich Ihnen
sagen, wie und wodurch man sie zur Tätigkeit anspornen kann: in jedem
Russen gibt es verborgene Saiten, die er selbst nicht kennt, die man
jedoch nur anzuschlagen braucht, um ihn aufzurütteln und aufzuwecken.
Sie haben mir schon ein paar gescheite und edle Menschen in Ihrer Stadt
genannt. Ich bin überzeugt, daß sich noch weit mehr finden werden. Legen
Sie keinen Wert auf ein abstoßendes Äußeres, legen Sie auch keinen Wert
auf unangenehme Manieren, auf ein grobes, plumpes und ungeschicktes
Benehmen, ja nicht einmal auf die Sucht, zu renommieren und sich durch
große Kühnheit und Bravour hervorzutun, oder auf ein allzu freies
ungeniertes Auftreten. Wir alle haben uns in der letzten Zeit ein etwas
unangenehmes hochnäsiges Benehmen angewöhnt, dennoch ist unsere Seele in
ihrem Innersten weit mehr guter Regungen und Gefühle fähig als jemals
früher, trotzdem wir sie in allerhand wertlosem Plunder erstickt oder
sogar einfach befleckt und in den Kot gezerrt haben.

Vor allem: Verachten Sie die Frauen nicht. Ich schwöre Ihnen, die Frauen
sind weit besser als wir Männer; sie sind viel hochherziger, haben viel
mehr Wagemut und sind weit fähiger zu edlen Taten als wir. Messen Sie
dem keine Bedeutung bei, daß sie sich von dem hohlen modischen Treiben
umgarnen ließen. Wenn es Ihnen gelingt, die Sprache der Seele zu ihnen
zu reden, wenn es Ihnen glückt, der Frau auch nur im geringsten ihre
hohe Aufgabe, die ihrer heute in der Welt harrt, ihre himmlische
Bestimmung klarzumachen: uns eine Erweckerin zu allem Edlen, zur
Geradheit und Ehrlichkeit zu werden und den Menschen zu edlem Tun und
Streben aufzurufen, so wird dieselbe Frau, die Sie noch soeben für ganz
hohl und nichtig gehalten haben, in edler Begeisterung aufflammen, in
sich gehen, erkennen, daß sie ihre Pflichten vernachlässigt hat, sich zu
edlen Taten aufraffen, all ihren Flitter weit von sich werfen, ihren
Mann zu treuer Erfüllung seiner Pflichten anhalten, und alle dazu
veranlassen, daß sie umkehren und sich wieder in den Dienst einer Sache
stellen. Ich schwöre Ihnen, unsere Frauen werden uns hochherzig ins
Gewissen reden und uns die Peitsche spüren lassen, sie werden uns mit
der Geißel der Scham und des Gewissens antreiben wie eine stumpfsinnige
Hammelherde, noch bevor ein jeder von uns erwachen und erkennen wird,
daß er schon längst von selbst hätte vorwärts laufen und nicht erst auf
den Schlag der Peitsche warten sollen. Sie werden die Liebe aller
gewinnen. Und diese Liebe wird innig und stark sein; es ist ja auch
nicht anders möglich, als daß alle Sie lieben, wenn sie Ihre Seele
kennen lernen. Bis dahin aber müssen Sie alle, bis zum letzten, lieben,
ohne alle Rücksicht, ob einer Sie liebt oder nicht.

Jedoch mein Brief ist schon zu lang geworden. Ich fühle, daß ich
anfange, Dinge zu sagen, die weder Ihrer Stadt noch Ihnen selbst im
gegenwärtigen Augenblick sehr gelegen kommen mögen. Und doch sind Sie
selbst schuld daran, da Sie mir über nichts ausführliche Nachrichten
zukommen lassen. Bisher lebe ich immer noch wie in einem einsamen Walde.
Ich höre fortwährend von unheilbaren Krankheiten und weiß doch nicht,
woran eigentlich ein jeder leidet. Ich habe jedoch die Gewohnheit, nie
auf ein bloßes Gerücht hin an irgendein unheilbares Leiden zu glauben,
und ich nenne eine Krankheit niemals unheilbar, bis ich mich nicht durch
eigenhändiges Befühlen und Betasten davon überzeugt habe. Also noch
einmal: Suchen Sie mir zuliebe die ganze Stadt gründlich kennen zu
lernen, beschreiben Sie mir alles und jedermann und ersparen Sie keinem
einzigen Menschen folgende drei unvermeidliche Fragen: Worin sein Beruf
besteht, wieviel Gutes und wieviel Böses man in seiner Stellung
vollbringen kann. Machen Sie es wie eine fleißige Schülerin, schaffen
Sie sich zu diesem Zwecke ein Heft an und vergessen Sie nie, daß Sie in
Ihren Unterhaltungen mit mir möglichst umständlich sein müssen. Denken
Sie stets daran, daß ich dumm, daß ich _ganz_ dumm bin, solange mich
nicht jemand in ausführlichster Weise über einen Gegenstand orientiert.
Oder stellen Sie sich lieber vor, daß ein Kind oder ein völlig
unwissender Mensch vor Ihnen steht, dem man alles, bis auf die kleinste
Kleinigkeit, erklären und auseinandersetzen muß: nur dann wird Ihr Brief
seinen Zweck ganz erfüllen. Ich weiß nicht, warum Sie mich für einen
solchen Alleswisser halten. Wenn es mir einmal gelungen ist, Ihnen etwas
vorauszusagen, und wenn meine Voraussagungen einmal wirklich
eingetroffen sind, so liegt das ausschließlich daran, daß Sie mich
damals in Ihre Geistes- und Gemütsverfassung eingeweiht haben. Ist denn
das etwas so Großes, gewisse Dinge vorauszusehen! Man muß bloß die
gegenwärtigen Verhältnisse recht aufmerksam beobachten, dann wird die
Zukunft ganz von selbst vor unserem Geiste erstehen. Ein Narr, der an
die Zukunft denkt, ohne die Gegenwart in Rechnung zu ziehen! Ein solcher
Mensch muß entweder etwas Törichtes oder Unwahres sagen, oder aber in
Rätseln reden. Ich muß Sie übrigens noch wegen folgender Zeilen
ausschelten, die ich Ihnen hier vor Augen führen will. »_Es ist traurig
und sogar bitter, die Zustände in Rußland aus der Nähe ansehen zu
müssen. Im übrigen aber sollte man nicht darüber sprechen. Wir sollten
hoffnungsvoll und heiteren Auges in die Zukunft schauen, die in den
Händen des allbarmherzigen Gottes liegt_«. In den Händen des
allbarmherzigen Gottes liegt alles: alles Gegenwärtige, Vergangene und
Zukünftige. Das ist ja unser ganzes Unglück, daß wir die Gegenwart nicht
sehen wollen, sondern nur in die Zukunft schauen. Daher kommt ja dies
ganze Unheil, daß das eine traurig und bitter und anderes wieder einfach
häßlich und widerwärtig ist. Und wenn es nicht so geht, wie wir es gerne
möchten, so lassen wir die Hände sinken, verzweifeln an allem und
blicken starr in die Zukunft. Darum sendet uns Gott auch keine Klarheit,
daher hängt ja auch die Zukunft für uns alle gleichsam in der Luft:
manche fühlen zwar, daß sie schön sein wird dank einigen hochstehenden
Menschen, die sie auch schon instinktiv vorausahnen und diesem Gefühl
nur noch keine streng zahlenmäßige oder arithmetische Begründung geben
können. Wie man jedoch diese Zukunft herbeiführen soll, das weiß kein
einziger. Es geht uns ähnlich damit wie mit den sauren Trauben. Dabei
vergißt man eine Kleinigkeit: man vergißt, daß die Straßen und Wege, die
in diese _heitere_ Zukunft führen, ja gerade durch diese _dunkle und
verworrene_ Gegenwart hindurchgehen, die niemand kennen will. Jedermann
hält sie für so häßlich, widerwärtig und der Beachtung nicht wert, und
ist sogar ärgerlich, wenn man sie allen vor Augen führt. So lehren Sie
mich doch wenigstens diese Gegenwart kennen. Sie dürfen sich nicht durch
das viele Häßliche und Schmutzige abschrecken lassen, und Sie sollen mir
keine Niederträchtigkeit ersparen. Das Gemeine und Schmutzige ist nichts
Ungewohntes für mich: ich selbst habe genug Gemeines und Schmutziges in
mir. Solange ich noch wenig Einblick in alles Niederträchtige und
Widerwärtige hatte, brachte mich alles Gemeine und Häßliche in
Verlegenheit, ich fühlte mich durch vieles verstimmt, und es erfaßte
mich ein Grauen bei dem Gedanken an Rußland. Seitdem ich aber tiefer in
all den Schmutz und die Niedertracht hineinzublicken versuchte, bin ich
zu höherer geistiger Klarheit gelangt. Vor mir taten sich Auswege auf.
Ich sah Mittel und Wege und erfüllte mich mit noch größerer Ehrfurcht
vor der Vorsehung, und jetzt danke ich Gott sogar am meisten dafür, daß
er es mir ermöglicht hat, die Gemeinheit und Niedertracht -- sowohl
meine eigene wie die meiner armen Brüder -- wenigstens teilweise kennen
zu lernen. Und wenn ich heute auch nur ein Fünkchen Verstand besitze,
wie er nicht allen Menschen eigen ist, so rührt das daher, weil ich mich
bemüht habe, möglichst tief in diesen Schmutz und diese Gemeinheit
hineinzublicken; wenn es mir gelungen sein sollte, einigen von denen,
die meinem Herzen nahe stehen, darunter auch Ihnen eine geistige Hilfe
und Stütze zu sein -- so war dies nur möglich, weil ich tiefer in diesen
Schmutz und diese Gemeinheit hineingeblickt habe. Und wenn ich
schließlich gelernt habe, die Menschen mit einer nicht bloß
eingebildeten, erträumten, sondern mit einer wahrhaften und wirklichen
Liebe zu lieben, so war mir auch dieses schließlich nur dadurch möglich,
daß ich recht tief in den Abgrund der Niederträchtigkeit und Gemeinheit
hinabgesehen habe.

Schrecken Sie also nicht vor Schmutz und Niedertracht zurück. Vor allem
aber wenden Sie sich nicht mit Ekel von den Menschen ab, die Ihnen aus
irgendeinem Grunde widerwärtig und gemein erscheinen. Ich versichere
Ihnen, es wird einmal die Zeit kommen, wo viele von den sogenannten
»Reinen« ihr Gesicht mit den Händen bedecken und bittere Tränen weinen
werden, gerade weil sie sich so rein erschienen, weil sie sich ihrer
Reinheit und ihres hohen Strebens nach irgendwelchen hohen Gütern
gerühmt und sich deshalb für bessere Menschen gehalten haben. Denken Sie
stets daran und gehen Sie daher, wenn Sie Ihr Gebet verrichtet haben,
mit neuem frischerem Mut als früher an die Arbeit. Lesen Sie meinen
Brief fünf- oder sechsmal durch, denn alles in ihm ist sprunghaft, und
es ist keine strenge logische Gedankenfolge in ihm, woran Sie übrigens
selbst schuld sind. Sie müssen sich den Kern, den Inhalt dieses Briefes
ganz zu eigen machen. Meine Fragen müssen zu Ihren Fragen und meine
Wünsche zu Ihren Wünschen werden, damit jedes Wort und jeder Buchstabe
Sie unablässig verfolgt und so lange quält, bis Sie meine Bitte erfüllen
und tuen, was ich verlange.

                                                                 1846.




                                  XXII
                       Der russische Gutsbesitzer
                              An B. N. B.


Die Hauptsache ist, daß du bereits auf deinem Gute angelangt bist und es
dir zum unumstößlichen Vorsatz gemacht hast, Gutsbesitzer zu werden. Das
übrige wird sich schon von selbst ergeben. Laß dich nicht irremachen
durch den Gedanken, daß das alte Band, das ehemals den Gutsherrn mit dem
Bauern verknüpfte, für immer zerrissen ist. [Daß es zerrissen ist, ist
wahr, und daß die Gutsbesitzer selbst daran schuld sind, das ist auch
wahr, aber] daß es für alle Zeiten und für immer zerrissen sein sollte
-- das glaube doch nicht und achte du nicht auf solche Redensarten. Nur
ein Mensch, der nicht über seine eigene Nasenlänge hinaussieht, kann so
etwas behaupten. Wie? Es sollte schwer sein, sich die Liebe eines
Russen, der für alles Gute, das man ihm beibringt, so dankbar zu sein
vermag, -- es sollte schwer sein, sich die treue Liebe und
Anhänglichkeit eines Russen zu erwerben? Im Gegenteil, man kann den
Russen so an sich ketten, daß man nachher nur noch einen Gedanken hat:
wie man ihn wieder loswerden soll. Wenn du nur alles genau ausführst,
was ich dir jetzt sagen werde, dann wirst du noch am Ende dieses Jahres
erkennen, daß ich recht hatte. Du mußt die Aufgabe, die einem
Gutsbesitzer gestellt ist, in ihrem wahren und rechten Sinne erkennen
und in der rechten Weise in Angriff nehmen. Vor allem mußt du die Bauern
um dich versammeln und ihnen klarmachen, was du bist und wer sie sind.
Du mußt ihnen erklären, daß du nicht deshalb ihr Gutsherr geworden bist,
weil du befehlen oder den Gutsbesitzer spielen wolltest, sondern
deshalb, weil du schon vorher Gutsbesitzer warst, weil du als
Gutsbesitzer geboren bist und weil Gott dich zur Verantwortung ziehen
würde, wenn du deinen Beruf gegen einen andern vertauschen wolltest,
denn ein jeglicher muß Gott an _der_ Stelle, an die er gestellt wird,
und nicht an einer andern fremden dienen. Ebenso müßten auch sie, die
Bauern, da sie doch nun einmal durch ihre Geburt unter der Gewalt des
Gutsherrn stehen, sich dieser Obergewalt unterordnen, unter der sie
geboren seien, denn es gibt keine Obrigkeit ohne von Gott. Bei dieser
Gelegenheit mußt du ihnen die entsprechende Stelle im Neuen Testament
zeigen, so daß ein jeder bis auf den letzten sich davon überzeugen kann.
Ferner mußt du ihnen sagen, daß du sie zur Arbeit und zur Tätigkeit
anhältst, nicht weil du Geld für irgendwelche Genüsse und Vergnügungen
brauchst [um ihnen das zu beweisen, solltest du vor ihren Augen ein paar
Banknoten verbrennen], du mußt es vielmehr so einrichten, daß sie
wirklich den Eindruck gewinnen, das Geld hätte nicht den geringsten Wert
für dich. Sage ihnen, du ließest sie bloß darum arbeiten, weil es Gottes
Wille sei, daß der Mensch in schwerer Arbeit und im Schweiße seines
Angesichts sein Brot verdienen solle, und lies ihnen unmittelbar darauf
die entsprechende Stelle aus der Heiligen Schrift vor, damit sie sich
davon überzeugen. Sage ihnen die ganze Wahrheit, sage ihnen, Gott werde
wegen des letzten Lumpen im Dorfe Rechenschaft von dir fordern und
deswegen würdest du um so schärfer darauf achten, daß sie redlich
arbeiten; nicht nur für dich, sondern auch für sich selbst. Denn du
weißt, und sie wissen es ja auch, daß ein Bauer, der nicht arbeitet und
sich dem Müßiggang ergibt, zu allem fähig ist -- er kann zum Dieb, zum
Trunkenbold werden, er kann seine Seele zugrunde richten und dir eine
schwere Verantwortung vor Gott aufbürden. Bekräftige alles, was du
sagst, stets und ohne Verzug durch Worte der Heiligen Schrift. Weise mit
dem Finger auf die Buchstaben und die Zeilen, die diese Worte enthalten.
Halte jeden dazu an, daß er sich zuvor bekreuzige, einen Kniefall tue
und das Buch küsse, in dem es geschrieben steht. Kurz, sie müssen klar
erkennen, daß du dich bei allem, was sich auf sie bezieht, nach dem
Willen Gottes richtest und nicht aus irgendwelchen europäischen oder
anderen Launen und Einfällen heraus handelst. Der Bauer wird das
verstehen. Er bedarf der vielen Worte nicht. Sage ihm die ganze
Wahrheit: sage ihm, daß die Seele des Menschen das Wertvollste auf der
ganzen Welt ist und daß du vor allem darauf achten wirst, daß keiner von
ihnen seine Seele verderbe und sie den ewigen Qualen überantworte. Bei
jeglichem Tadel und jeder Rüge, die du einem Menschen erteilst, der des
Diebstahls, der Faulheit oder der Trunksucht überführt worden ist, mußt
du ihn nicht dir, sondern Gott von Angesicht zu Angesicht
gegenüberstellen. Zeige ihm, daß er sich gegen Gott und nicht gegen dich
versündigt, und tadele nicht ihn allein, sondern rufe auch sein Weib,
seine Familie und seine Nachbarn herbei. Rede seinem Weibe ins Gewissen,
frage sie, warum sie ihren Mann nicht davon abgehalten, Übles zu tun,
und ihm nicht mit Gottes Zorn gedroht habe. Rede auch den Nachbarn ins
Gewissen, weil sie es zugelassen haben, daß ihr Bruder, der doch mitten
unter ihnen weilt, ein Leben wie ein Hund geführt und seine Seele um
nichts und wieder nichts verdorben habe. Beweise ihnen, daß sie deswegen
vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Suche es zu erreichen, daß sich
alle miteinander dafür verantwortlich fühlen und daß alle Gegenstände,
die den Menschen umgeben, ihn vorwurfsvoll anzublicken scheinen und es
ihm nicht gestatten, sich allzusehr gehen zu lassen. Sorge dafür, daß
von allen musterhaften Landwirten und von den besten und tüchtigsten
Bauern eine mächtige Wirkung ausgehe und daß ihnen eine große
Verantwortlichkeit zufalle. Mache es ihnen ganz klar, daß es nicht
allein ihre Aufgabe ist, selbst einen guten und ehrenhaften Lebenswandel
zu führen, sondern daß sie auch andere lehren müssen, gut zu leben, daß
ein Trunkenbold keinen Trunkenbold belehren kann, und daß das ihre
Pflicht sei. Den Lumpen und Trunkenbolden befiehl, daß sie den braven
und tüchtigen Bauern die gleiche Achtung erweisen, wie dem Dorfschulzen,
dem Verwalter, dem Priester und sogar dir selbst. Schon wenn sie einen
solchen braven und musterhaften Bauern oder Landwirt aus der Ferne
erblicken, sollen alle Bauern ihre Mützen vom Kopfe reißen und ihm den
Weg freigeben. Wer es aber wagt, ihm irgendwelche Mißachtung zu erweisen
oder seinen klugen und gescheiten Worten kein Gehör zu schenken, den
mußt du in Gegenwart aller ausschelten und zu dem mußt du folgendermaßen
sprechen: »O du ungewaschenes Maul, du selbst lebst in Dreck und Asche,
daß man nicht einmal sieht, wo du deine Augen hast, und du willst dem
keine Ehre erweisen, dem Ehre gebührt! Beuge dich tief vor ihm und bitte
ihn, daß er dir den rechten Weg weise. Denn wenn er dich nicht zur
Vernunft bringt, mußt du zugrunde gehen wie ein Hund.« Die braven Bauern
aber mußt du zu dir rufen und wenn es ältere Männer sind, vor dir Platz
nehmen lassen und dich mit ihnen beraten, wie Sie die andern belehren
und sie im Rechten unterweisen und also erfüllen können, was Gott uns
geboten hat. Führe das bloß ein Jahr lang durch, und du wirst selbst
sehen, wie gut alles gehen wird. Selbst die Landwirtschaft wird
hierdurch nur gewinnen. Kümmere dich nur um die Hauptsache, alles andere
wird dir von selbst in den Schoß fallen. Christus hat nicht vergebens
gesagt: _Dies alles wird euch von selbst zufallen._ Wie wahr das ist,
dafür ist das Leben der Bauern ein noch beredteres Zeugnis als unser
Leben. Für den Bauern sind ein wohlhabender Bauer und ein guter Mensch
-- Synonyme, und wo in einem Dorfe einmal das christliche Leben Einkehr
gehalten hat, da tragen die Bauern das Silber mit Schaufeln fort.

Übrigens will ich dir auch in bezug auf Landwirtschaft einen Rat geben,
nur mußt du ihn ordentlich verstehen, dann wird er dir nicht zum Schaden
gereichen. Zwei Menschen danken es mir schon, der eine ist K., den du
auch kennst. Mit welchen Zweigen der Landwirtschaft du dich beschäftigen
mußt und wie du dies zu tun hast, darüber will ich dir nichts sagen: das
weißt du besser als ich. Zudem kenne ich auch dein Gut nicht so genau
wie meine eigene Handfläche und in bezug auf allerhand Neuerungen bist
du ja vernünftig und hast du ja selbst eingesehen, daß man nicht nur am
Alten festhalten, sondern es auch bis auf den Grund kennen lernen muß,
um aus ihm selbst die Mittel zu seiner Verbesserung zu gewinnen. Ich
will dir lieber einen Rat geben, der die Beziehungen des Gutsherrn zu
seinen Bauern in den landwirtschaftlichen Angelegenheiten und bei den
Arbeiten betrifft, was zunächst einmal von viel größerer Bedeutung ist
als alles übrige. Denke an das Verhältnis, das früher zwischen den
Gutsherren und Landwirten und ihren Bauern herrschte: du mußt ein
Patriarch sein, selbst den Anfang machen und in allen Dingen vorangehen.
Mache es dir zur Regel und vergiß nie, wenn eine gemeinsame Sache in
Angriff genommen wird, also bei der Aussaat, bei der Heu- oder Kornernte
usw. das ganze Dorf zu einem Festmahl einzuladen. An solchen Tagen muß
in deinem Hofe ein gemeinsamer Tisch für alle Bauern gedeckt sein, ganz
so wie am Ostermontag, und du selbst mußt mit ihnen speisen, mit ihnen
zur Arbeit hinausgehen und ihnen auch bei der Arbeit überall
voranschreiten, sie alle zu tüchtigem, eifrigem Schaffen anspornen, für
die, die sich durch ihren Mut und ihre Tüchtigkeit auszeichnen, ein Wort
des Lobes und für die Trägen und Faulen eine Rüge bereit halten. Und
wenn dann der Herbst kommt und die Feldarbeiten zu Ende gehen, mußt du
den Abschluß der Arbeiten durch ein ebensolches oder ein noch größeres
Festmahl feiern, das von einem feierlichen Dankgebet begleitet wird. Du
sollst den Bauer nicht schlagen; ihm einen Schlag in das Gesicht
versetzen, das ist noch keine große Kunst, das kann auch der Stanowoi,
der Assessor und selbst der Dorfschulze. Der Bauer ist daran gewöhnt, er
kratzt sich nur hinter den Ohren, und das ist alles. Lerne es lieber,
durch deine Worte Eindruck auf ihn machen. Du verstehst dich doch auf
treffliche Worte. Schilt ihn vor versammeltem Volke aus, aber so, daß
das ganze Volk ihn auslacht und verspottet. Das wird weit nützlicher für
ihn sein als alle möglichen Püffe und Maulschellen. Du mußt stets
sämtliche Synonyme von: »_braver Bursche_« für den, der ermuntert, und
alle Synonyme von: »altes Weib« für den, der getadelt werden muß, bereit
halten, damit das ganze Dorf weiß, daß ein Faulpelz und ein Trunkenbold
ein altes Weib und ein erbärmlicher Kerl sind. Suche womöglich ein noch
schlimmeres Wort hervor, kurz, du darfst ihm sagen, daß er alles ist,
was ein Russe nicht sein soll. Hocke nicht zu lange in der Stube,
sondern erscheine recht oft bei den Arbeiten der Bauern und richte es,
wo du auch hinkommst, stets so ein, daß bei deinem Kommen alles
lebhafter und heiterer wird, sich mutig und frisch betätigt und daß
jeder sich bei der Arbeit besonders auszuzeichnen sucht. Suche ihnen
allen Mut und Kraft einzuflößen, indem du ihnen zurufst: »Kommt,
Jungens, laßt uns einmal alle zusammen anpacken.« Nimm selbst die Axt
oder die Sense zur Hand, das wird dir gut tun und weit besser für deine
Gesundheit sein als diese Heilgymnastik, diese Motion, als Marienbad und
die vielen trägen und bequemen Spaziergänge.

Deine Bemerkungen über die Schulen sind ganz richtig. Es ist wirklich
ein Unsinn, dem Bauern das Lesen beizubringen, damit er die Möglichkeit
habe, allerhand törichte Bücher zu lesen, die europäische
Menschenfreunde für das Volk herausgeben. Die Hauptsache aber ist, daß
der Bauer ja gar keine Zeit dazu hat. Nach der schweren Arbeit wird kein
Buch ihm in den Kopf hinein wollen, und wenn er nach Hause kommt, sinkt
er wie tot hin und schläft den Schlaf des Gerechten. Dir selbst wird es
so ergehen, wenn du häufiger zur Arbeit gehen wirst. Der Dorfpfarrer
kann dem Bauer weit mehr sagen, was ihm wirklich von Nutzen sein kann,
als all dieser Bücherkram. Wenn einer dagegen wirklich vom Bildungsdrang
ergriffen wird und zwar nicht etwa darum, um ein Bureaumensch zu werden
sondern weil er _die_ Bücher lesen will, in denen das Gesetz, das Gott
den Menschen gegeben hat, geschrieben steht, dann ist das freilich eine
andere Sache. Einen solchen mußt du erziehen wie deinen eigenen Sohn,
und alle Sorgfalt und alle Mittel auf ihn verwenden, die du für eine
ganze Schule verwandt hättest. Unser Volk ist gar nicht so dumm, wenn es
vor jedem beschriebenen Stück Papier davonläuft wie vor dem Teufel. Es
weiß, daß dies der Quell aller menschlichen Verwirrung, aller Kabalen
und Haarspaltereien ist. Eigentlich sollte es überhaupt nicht wissen,
daß es noch andere Bücher als die heiligen Bücher gibt.

[Apropos: der Priester; du hast unrecht, wenn du dich darum bemühst, daß
er durch einen andern ersetzt wird und wenn du den Erzpriester darum
bitten willst, er möge dir einen erfahreneren und gebildeteren Priester
senden. Einen solchen wird er dir nicht verschaffen können, denn ein
solcher Priester ist überall unentbehrlich. Schlage es dir aus dem
Kopfe, daß du einen Priester finden könntest, der deinem Ideal völlig
entspricht. Kein Seminar und keine Schule kann einen solchen
heranbilden. Im Seminar wird nur der erste Grund zu seiner Bildung
gelegt. Die eigentliche Bildung und Erziehung dagegen erwirbt er sich
erst durch das Leben selbst. Du mußt selbst sein Lehrer sein, da du doch
eine so klare Vorstellung von den Pflichten eines Dorfpfarrers hast.
Wenn der Pfarrer schlecht ist, so sind meist die Gutsbesitzer selbst
schuld daran. Statt ihn bei sich im Hause aufzunehmen wie einen nahen
Verwandten, und in ihm das Bedürfnis nach einer edleren Unterhaltung zu
erwecken, aus der er etwas lernen könnte, überlassen sie ihn, jung und
unerfahren, wie er ist, den Bauern, wenn er selbst noch nicht einmal
weiß, was der Bauer eigentlich ist. Sie bringen ihn in eine solche Lage,
daß er genötigt ist, dem Bauern zu schmeicheln und sich bei ihm beliebt
zu machen, während er doch vielmehr von vornherein eine gewisse
Autorität über ihn ausüben sollte, und nachher klagt man, daß die
Priester schlecht sind, daß sie die Manieren der Bauern annehmen und
sich gar nicht mehr von den gewöhnlichen Bauern unterscheiden. Ja, da
möchte ich doch fragen: wer würde unter solchen Verhältnissen nicht
verrohen, selbst wenn er eine gute Vorbereitung und Erziehung besäße?
Dagegen mußt du es folgendermaßen machen. Richte es so ein, daß der
Priester jeden Tag mit dir zu Mittag speist. Du mußt geistliche Bücher
mit ihm lesen, diese Lektüre interessiert und befriedigt uns doch heute
weit mehr als alles andere. Was aber die Hauptsache ist, du mußt den
Priester überall mitnehmen, wenn du zur Arbeit gehst, damit er von
Anfang an als dein Gehilfe bei dir weile und sich persönlich von deinem
Verhalten gegen die Bauern überzeugen könne. Hierdurch wird er klar
erkennen, was ein Gutsbesitzer und was ein Bauer ist, und wie die
Beziehungen zwischen beiden sein müssen. Zugleich aber werden auch die
Bauern ihm mehr Achtung entgegenbringen, wenn sie sehen werden, daß er
Hand in Hand mit dir geht und mit dir zusammenarbeitet. Sorge dafür, daß
er zu Hause keine Not leide, daß sein Haushalt auf sicherem Grunde ruhe
und daß er dadurch die Möglichkeit habe, beständig mit dir zusammen zu
sein. Glaube mir, er wird sich so an dich gewöhnen, daß er sich
langweilen wird, wenn du nicht da bist. Hat er sich aber einmal an dich
gewöhnt, so wird er sich ganz unmerklich auch deine Sachkenntnis und
Menschenkenntnis und vieles andere Gute aneignen. Denn du besitzst ja
gottlob sehr viel von diesen Dingen und du hast die Gabe, dich so klar
und gut auszudrücken, daß ein jeder nicht nur deine Gedanken, sondern
selbst deine Ausdrucksweise und sogar deine Worte von dir annimmt.

Was nun die Predigt anbelangt, die du für notwendig hältst, so möchte
ich dir hierüber folgendes sagen. Ich bin eher der Meinung, daß es für
einen Priester, der noch nicht völlig für seine Tätigkeit ausgebildet
ist, und der die Leute, die ihn umgeben, noch nicht kennt, besser ist,
überhaupt keine Predigten zu halten. Hast du einmal darüber nachgedacht,
wie schwierig es ist, eine kluge Predigt zu halten, besonders vor
Bauern? Nein, gedulde dich lieber noch ein wenig, mindestens so lange,
bis der Priester und du euch ordentlich umgesehen habt. Bis zu dieser
Zeit aber möchte ich dir raten, was ich schon einem anderen geraten habe
und was ihm, wie ich glaube, von Nutzen gewesen ist. Nimm dir die
heiligen Kirchenväter, besonders aber den Johannes Chrysostomus vor. Ich
sage: besonders den Chrysostomus, denn dieser war, da er es mit dem
ungebildeten Volk zu tun hatte, das das Christentum nur äußerlich
angenommen hatte, innerlich aber noch immer dem rohen Heidentum anhing,
immer bemüht, sich besonders den Begriffen einfacher und roher Menschen
anzupassen, und er spricht so lebendig über die notwendigsten, ja häufig
sogar über sehr hohe Dinge, daß man ganze Partien aus seinen Predigten
direkt auf unsern Bauern anwenden und an ihn richten kann, denn er wird
sie verstehen. Nimm also den Chrysostomus vor und lies ihn zusammen mit
deinem Pfarrer, und zwar mit dem Bleistift in der Hand, damit du alle
derartigen Stellen anstreichen kannst. Solche Stellen kommen bei
Chrysostomus in jeder Predigt dutzendweise vor. Laß ihn dem Volke diese
Stellen vortragen. Sie brauchen nicht lang zu sein, es genügt, wenn sie
eine Seite oder selbst eine halbe Seite betragen. Je kürzer sie sind, um
so besser. Der Priester muß sie jedoch, bevor er sie dem Volke vorträgt,
mehrmals mit dir zusammen durchlesen, damit er es lernt, sie nicht nur
mit innerem Gefühl und Begeisterung vorzutragen, sondern seinen Worten
auch jenen überzeugenden Ton zu verleihen, wie wenn er für eine ihn
persönlich angehende Sache eintrete, von der das ganze Heil seines
Lebens abhängt. Du wirst sehen, dies wird viel wirksamer sein als eine
eigene Predigt. Man muß nur wenig, aber in möglichst treffenden Worten
zum Volke reden, sonst kann es sich ebenso an die Predigt gewöhnen wie
unsere höchsten Kreise sich an sie gewöhnt haben, die genau so
hinfahren, um sich irgendeinen berühmten europäischen Prediger
anzuhören, wie sie in die Oper oder in das Schauspiel fahren. Bei K. K.
predigt der Priester überhaupt nicht, sondern erwartet die Bauern, da er
sie von Grund aus kennt, in der Beichte. Während der Beichte aber redet
er jedem von ihnen derartig ins Gewissen, daß dieser die Kirche verläßt,
wie wenn er aus einem Schwitzbad käme. S** hat einmal absichtlich
dreißig Arbeiter aus seiner Fabrik, und zwar die schlimmsten Gauner und
Trunkenbolde, zu ihm in die Beichte geschickt und sich dann selbst in
der Vorhalle aufgestellt, um sich die Gesichter anzusehen, die sie
machen würden, wenn sie aus der Kirche kämen. Alle kamen rot wie die
Krebse heraus, und doch hatte er sie gar nicht einmal lange im
Beichtstuhl festgehalten, sondern sich vier bis fünf Mann auf einmal
vorgenommen. Während der folgenden zwei Monate aber soll sich, wie S**
selbst erzählt, keiner von ihnen in der Kneipe haben sehen lassen, so
daß die Gastwirte des Bezirks gar nicht begreifen konnten, was bloß
geschehen war.]

Doch nun sei es genug. Arbeite nur ein Jahr lang recht eifrig, dann wird
das Werk und die Arbeit schon ganz von selbst so vonstatten gehen, daß
du gar nicht erst Hand anzulegen brauchst. Du wirst reich werden wie ein
Krösus, ganz im Gegensatz zu jenen kurzsichtigen Leuten, die da
annehmen, daß die Interessen des Gutsbesitzers denen des Bauers
widersprechen. Du wirst ihnen nicht durch Worte, aber durch die Tat
beweisen, daß sie unrecht haben und daß ein Gutsbesitzer, wenn er seine
Aufgabe nur mit dem Auge des Christen anschaut, nicht allein die alten
Bande, von denen man sagt, daß sie für immer zerrissen seien, durch das
gemeinsame Band Christi zu kräftigen und zu befestigen vermag, das
stärker und kräftiger ist als jedes andere. Und so wirst du, der du
bisher in keinem Wirkungskreise eifrig und mit Hingebung gearbeitet
hast, als Gutsbesitzer dem Kaiser einen Dienst leisten, wie ihn kein
Mann in hohen Ämtern und Würden zu leisten vermag. Sage was du willst,
ihm achthundert Untertanen zu schenken, die allesamt wie _ein_ Mann
allen Menschen ihrer Umgebung durch ihren wahrhaft musterhaften
Lebenswandel zum Vorbild dienen können -- das ist kein unnützes Werk,
sondern eine durchaus berechtigte und große Tat.

                                                                 1846.




                                 XXIII
                       Der Historienmaler Iwanow
                          An M. Ju. Weligurski


Ich schreibe Ihnen über Iwanow. Wie unbegreiflich ist doch das Schicksal
dieses Menschen! Endlich schienen sich alle über ihn klar zu sein, alle
waren überzeugt, daß das Bild, an dem er arbeitet, eine geradezu
unerhörte Erscheinung sei, nahmen Anteil an dem Künstler, alles bemühte
sich darum, ihm die Mittel zu verschaffen, um sein Bild zu vollenden,
[damit der Künstler nicht während der Arbeit sterbe -- ich meine dies
ganz buchstäblich: nicht vor Hunger sterbe] und noch immer bekommt man
nicht das geringste aus Petersburg zu hören; ich flehe Sie an: [um
Christi willen suchen Sie doch festzustellen, was das zu bedeuten hat.
Es sind so törichte Gerüchte hierher gedrungen, wie wenn die Maler und
alle Professoren der Akademie der Künste aus Furcht, das Bild Iwanows
könnte alles in Schatten stellen, was unsere Kunst bisher hervorgebracht
hat, und aus Neid darauf hinarbeiten, daß ihm die Mittel zur Vollendung
des Bildes nicht zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine Lüge, davon
bin ich fest überzeugt. Unsere Künstler sind vornehme, anständige
Menschen und wenn sie erfahren, was der arme Iwanow durch seine
beispiellose Selbstentäußerung und Arbeitsliebe zu erdulden gehabt hat,
er, der tatsächlich Gefahr lief, vor Hunger zu sterben, so würden sie
ihr eigenes Geld brüderlich mit ihm teilen und nicht noch andere zu
einer solchen Grausamkeit verleiten. Ja, warum hätten sie Iwanow auch zu
fürchten,] er wandelt seine eigenen Bahnen und steht niemand im Wege. Er
strebt weder nach einer Professur noch nach materiellen Vorteilen. Er
will überhaupt nichts mehr, denn er ist der ganzen Welt abgestorben
außer seiner Arbeit. Er bittet bloß [um eine armselige Pension] -- um
eine Pension, wie sie ein Schüler und ein Anfänger erhält und nicht er,
der Meister, der an einem so ungeheuren Werke arbeitet, wie es bisher
noch niemand unternommen hat. Und dies [Hunger]gehalt, das ihm alle zu
verschaffen bestrebt sind, um das sich alle für ihn bemühen, kann er
sich trotz der Bemühungen aller nicht erbetteln. Sagen Sie, was Sie
wollen, ich sehe in alledem den Willen der Vorsehung, die es so bestimmt
hat, daß Iwanow alles erdulden, alle Leiden bis zur Neige auskosten und
alles ertragen sollte. Einen anderen Grund dafür kann ich nicht finden.

Bisher hat man ihm immer den Vorwurf gemacht, er arbeite zu langsam. Man
hat immer gesagt: wie? er sitzt acht Jahre lang an seinem Bilde, und
noch immer ist das Gemälde nicht vollendet. Jetzt beginnt dieser Vorwurf
endlich zu verstummen, wo man sieht, daß der Künstler auch nicht einen
einzigen Augenblick von seiner Zeit verloren hat, daß die Skizzen zu dem
Bilde, die er angefertigt hat, allein einen ganzen Saal, daß man eine
ganze Ausstellung mit ihnen füllen könnte, und daß die ungewöhnliche
Größe des Bildes, dem kein zweites an Flächenumfang gleichkommt (das
Bild ist größer als die Gemälde von Brjulow und Bruni), außerordentlich
viel Zeit und Arbeit erforderte, besonders bei den geringen Geldmitteln,
die es dem Maler nicht erlaubten, sich mehrere Modelle zugleich, vor
allem aber nicht solche, wie er sie brauchte, zu halten. Mit einem Wort
-- jetzt beginnen alle endlich zu erkennen, wie töricht der Vorwurf
einem solchen Künstler gegenüber war, der wie ein fleißiger Arbeiter
sein ganzes Leben lang bei der Arbeit verbracht hat, so daß er kaum noch
wußte, ob es in der Welt noch einen anderen Genuß gibt als die Arbeit --
wie töricht der Vorwurf war, er sei faul und arbeite zu langsam. Die,
die ihm Langsamkeit vorgeworfen haben, werden sich noch mehr schämen,
wenn sie erfahren, was der andere geheime Grund dieser Langsamkeit war.
Mit der Arbeit an diesem Gemälde verknüpfte sich der eigenste, innerste,
geistige Lebenszweck des Künstlers -- eine Erscheinung, wie sie in der
Welt nur äußerst selten vorkommt und deren Grund nicht im freien
Ermessen des Menschen, sondern in dem Willen Dessen zu suchen ist, der
über allen Menschen steht. Es war offenbar höhere Bestimmung, daß sich
an diesem Bilde die eigentliche Erziehung des Künstlers sowohl nach der
Seite manueller Kunstfertigkeit wie nach der Seite der Ideen, die die
Kunst ihrer wahren und höchsten Bestimmung entgegenführen, vollziehen
sollte. Schon der Gegenstand des Gemäldes ist, wie Sie wissen, höchst
bedeutend. Der Maler hat sich eine Stelle aus den Evangelien zum Vorwurf
gewählt, die einer Darstellung ganz besondere Schwierigkeiten bietet und
die bisher noch von keinem Künstler, nicht einmal von einem Meister
einer der uralten, von so inniger Frömmigkeit erfüllten künstlerischen
Epochen behandelt worden ist, nämlich -- das erste Erscheinen Christi
vor dem Volke. Das Bild stellt die Wüste am Ufer des Jordans dar. Im
Vordergrunde des Ganzen steht die Gestalt Johannes des Täufers, der vor
versammeltem Volke predigt und im Namen Dessen, Den noch niemand gesehen
hat, tauft. Er ist von einer Menge nackter oder solcher Menschen, die
damit beschäftigt sind, sich an- oder auszuziehen oder die bereits
ausgezogen sind, die aus dem Wasser hervorkommen oder im Begriff sind,
ins Wasser zu steigen, umgeben. Unter dieser Menge befinden sich auch
die künftigen Jünger des Heilands selbst. Jedermann lauscht, während er
mit seiner Verrichtung beschäftigt ist und verschiedene Körperbewegungen
ausführt, voll innerer Spannung den Reden des Propheten, als wollte er
ihm jedes Wort von den Lippen ablesen, alle Gesichter spiegeln die
verschiedensten Gefühle wider: ein Teil der Anwesenden ist bereits
vollkommen überzeugt, andere zweifeln noch, ein dritter Teil schwankt
schon, andere wieder halten ihre Häupter voll Reue und Zerknirschung
gesenkt. Es sind auch solche darunter, denen man anmerkt, daß die harte
Rinde der Gefühllosigkeit, die ihr Herz umgibt, noch nicht geborsten
ist. Und während nun alles von so verschiedenen Gemütsbewegungen
ergriffen ist, erscheint Er, in Dessen Namen die Taufe bereits vollzogen
ward, in der Ferne -- und das ist der eigentliche Höhepunkt des Bildes.
Der Künstler hat den Augenblick gewählt, wo der Vorläufer Christi mit
dem Finger auf den Heiland hinweist und die Worte spricht: »_Siehe, das
ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt._« Die ganze Menge aber hält,
ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, ihre Augen auf Den geheftet,
und richtet alle ihre Gedanken auf Ihn, auf Den der Prophet hinweist. Zu
dem früheren Ausdruck, der noch nicht von den Gesichtern verschwunden
ist, kommt nun noch ein neuer hinzu, der den neuen Eindruck
widerspiegelt. Die Gesichter der Auserwählten, die ganz vorne stehen,
leuchten von einem wunderbaren Licht, während die andern noch bemüht
sind, in den Sinn der unverständlichen Worte einzudringen und nicht
begreifen können, wie ein einziger alle Sünden der Welt auf sich nehmen
kann, und während die Dritten zweifelnd ihr Haupt schütteln, als wollten
sie sagen: »Wie könnte ein Prophet aus Nazareth kommen!« Er aber
schreitet mit himmlischer Ruhe und wie in eine wunderbare Ferne entrückt
langsamen und festen Schrittes auf die Menschen zu.

Wahrlich es ist keine Kleinigkeit, auf den Gesichtern diesen ganzen
Prozeß _der Bekehrung des Menschen zu Christus_ darzustellen! Es gibt
Menschen, die davon überzeugt sind, daß für einen großen Künstler alles
erreichbar ist: die Erde, das Meer, der Mensch [ja selbst ein Frosch,
eine Rauferei, ein Zechgelage oder eine Kartenpartie] wie ein an den
himmlischen Vater gerichtetes Gebet, mit einem Wort, daß ihm alles
leicht erreichbar sei, wenn er bloß ein talentvoller Künstler ist und
die Akademie besucht hat. Ein Künstler kann nur darstellen, was er
selbst _gefühlt_ und wovon er sich im Geiste eine vollständige Idee
gebildet hat, im andern Falle wird sein Bild ein totes akademisches
Gemälde bleiben. Iwanow hat alles getan, was ein anderer Künstler für
ausreichend gehalten hätte, um sein Gemälde zu vollenden. Die gesamte
materielle Seite daran, alles, was sich auf eine strenge und weise
Verteilung der Gruppen auf dem Bilde bezieht, ist mit höchster
Vollendung durchgeführt. Auch die Gesichter haben jenen typischen
Ausdruck, der dem Geist des Evangeliums entspricht, auch ist der
jüdische Typus überall festgehalten. Man erkennt sofort an den
Gesichtern, welches Land der Schauplatz dieser Vorgänge ist. Iwanow ist
ausdrücklich zu diesem Zwecke überall herumgereist, um jüdische
Gesichter zu studieren. Alles, was sich auf eine harmonische Verteilung
der Farben, der menschlichen Gewänder und die wohlüberlegte Art, wie sie
den menschlichen Körper umhüllen und von ihm gehalten werden, bezieht,
ist mit einer solchen Sorgfalt studiert, daß jede Falte die
Aufmerksamkeit des Kenners auf sich lenken muß. Endlich ist auch die
landschaftliche Seite, auf die ein Historienmaler gewöhnlich nur wenig
achtet, die malerische Wüste, in die die Gruppen hineingestellt sind, so
ausgeführt, daß selbst die Landschaftsmaler, die sich in Rom aufhalten,
staunen. Iwanow hat zu diesem Zwecke viele Monate in den ungesunden
Pontinischen Sümpfen und in den Wüsteneien Italiens zugebracht,
zahlreiche Skizzen von sämtlichen wilden und öden Gegenden, die sich in
Roms Umgebung finden, entworfen, er hat jedes Steinchen und jedes
Baumblatt studiert, kurz -- er hat alles getan, was er tun konnte, und
alles nachgezeichnet, wofür er ein Vorbild finden konnte. Wie aber
sollte er das darstellen, wofür bisher noch nie ein Künstler ein Modell
finden konnte! Wo konnte er ein Modell dafür finden, was die Hauptsache,
die eigentliche Aufgabe seines ganzen Gemäldes bildet? Wie konnte er den
Vorgang der Bekehrung der Menschheit zu Christus in seiner Gesamtheit
zur Darstellung bringen? Wo sollte er ihn hernehmen? Aus dem Kopfe?
Sollte er ihn aus seiner Phantasie erzeugen, ihn mit dem Gedanken
erfassen? Nein, das sind alles Torheiten. Dazu ist der Gedanke zu kalt
und zu frostig und die Phantasie zu arm und zu matt. Iwanow hat seine
Einbildungskraft so gewaltig angestrengt, als er nur vermochte, er war
bestrebt, aus den Gesichtern aller Menschen, denen er begegnete, die
hohen Gemütsbewegungen der Seele abzulesen. Er ist in die Kirchen
gegangen, um die Menschen während des Gebets zu beobachten, und mußte
schließlich erkennen, daß dies alles viel zu kraftlos, zu ohnmächtig,
daß es ungenügend sei und in seiner Seele nicht die volle Idee von dem,
was er brauchte, hervorbringen und befestigen konnte, und das wurde der
Anlaß zu bitteren Seelenqualen, und war der Grund, warum sein Bild so
langsame Fortschritte machte. Nein, solange sich die wahre Bekehrung zu
Christus nicht im Künstler selbst vollzogen hat, wird es ihm nie
gelingen, sie auf der Leinwand darzustellen. Iwanow hat inbrünstig zu
Gott gebetet, Er möge ihm diese volle Bekehrung zuteil werden lassen, er
hat stille Tränen vergossen und Ihn angefleht, Er möge ihm die Kraft
verleihen, die ihm von Ihm selbst eingegebene Idee auszuführen, und in
einem solchen Moment konnte man ihm den Vorwurf machen, daß er zu
langsam arbeite, und ihn zur Eile drängen! Iwanow hat Gott angefleht, Er
möge jene kalte Härte und Mattherzigkeit, an der heute viele von den
Edelsten und Besten leiden, im Feuer Seiner Gnade zerschmelzen und zu
Asche verbrennen und ihn mit der Begeisterung erfüllen, die ihm die
Kraft verleihen würde, diese Bekehrung so darzustellen, daß auch der
Nichtchrist beim Anblick seines Bildes gerührt und erschüttert dastünde,
und in solchen Augenblicken konnten sogar Leute, die ihn persönlich
kennen, ja selbst seine Freunde ihm Vorwürfe machen und glauben, er sei
träge und faul, ja sie konnten sich ernstlich fragen, ob man ihn nicht
durch Hunger und dadurch, daß man ihm alle Mittel entzöge, dazu zwingen
könne, sein Bild zu vollenden! Sogar die Mitleidigsten unter ihnen
sagten: »Er ist selbst schuld: das große Bild ist etwas für sich, in der
Zwischenzeit könnte er kleinere Bilder malen und sie verkaufen, dann
brauchte er nicht vor Hunger zu sterben.« So konnten die Leute reden,
ohne zu ahnen, daß ein Künstler, dem sein Werk nach dem Willen Gottes zu
einer innersten Seelen- und Herzensangelegenheit geworden ist, schon
nicht mehr imstande ist, sich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen,
daß es für ihn keine Zwischenzeit gibt; sein Denken ist gar nicht mehr
fähig, sich auf andere Gegenstände zu richten, so sehr er sich auch dazu
zwingen und so sehr er es auch vergewaltigen mag. So ist auch ein treues
Weib, das ihren Mann wahrhaft liebt, nicht mehr imstande, einen andern
lieb zu gewinnen. Nie wird sie ihre Zärtlichkeit für Geld verkaufen,
nicht einmal, wenn sie sich selbst und ihren Mann hierdurch vor der
Armut bewahren könnte. Dies war der Seelenzustand Iwanows. Sie werden
sagen: »Ja warum hat er dies alles denn nicht niedergeschrieben? Warum
hat er seine wirkliche Lage nicht klar dargestellt. Dann hätte man ihm
sofort Geld geschickt? Das wäre schön, wenn's so wäre. Es soll doch
einmal einer von uns versuchen, der noch keinen Beweis seines Könnens
gegeben hat, der sich selbst noch nicht darüber klar zu werden vermag,
was in ihm steckt, sich mit Leuten anderer Berufe auseinanderzusetzen,
die aus sehr natürlichen Gründen nicht einmal zu begreifen vermögen, daß
es eine höchste Stufe der Kunst gibt, eine solche Stufe, die sie
unendlich weit über das Niveau emporhebt, auf dem die Kunst unserer
heutigen modesüchtigen Zeit steht. Sollte er etwa sagen: »Ich will ein
Werk schaffen, das euch einst in Erstaunen setzen wird, von dem ich
jedoch heute nicht zu euch sprechen kann, weil mir selbst heute noch
manches nicht ganz klar ist. Ihr aber mögt die ganze Zeit über, während
der ich an meiner Arbeit sitze, geduldig warten und mir das Geld zu
meinem Lebensunterhalt verschaffen?« Dann würden sich wahrscheinlich
viele Liebhaber finden, die ebenso sprechen würden, und glauben Sie
etwa, daß es einen so törichten Menschen gibt, der ihnen Geld geben
würde? Aber selbst angenommen, Iwanow hätte sich in dieser Zeit der
Unklarheit klar ausdrücken und sagen können: »durch höhere Eingebung
ward mir eine Idee zuteil, die mich unablässig verfolgt -- ich will die
Bekehrung des Menschen zu Christus auf der Leinwand darstellen. Ich
fühle, daß ich das nicht tun kann, ehe ich mich selbst wahrhaft zu ihm
bekehrt habe. Wartet daher, bis sich diese Bekehrung in mir selbst
vollzogen hat und gebt mir bis dahin das Geld, das ich zu meinem
Lebensunterhalt und um arbeiten zu können, brauche.« Ja, hätten wir ihm
nicht alle wie aus einem Munde zugerufen: »Was ist denn das für ein
törichtes Gerede? Hältst du uns etwa für Narren? Wie hängt denn das
zusammen: die Seele und ein Gemälde? Die Seele ist etwas für sich und
ein Gemälde ist auch eine Sache für sich. [Warum sollten wir auf deine
Bekehrung warten, du sollst auch ohne das ein Christ sein. Wir sind doch
auch alle wahrhafte Christen.«] So hätten wir alle zu Iwanow gesprochen,
und jeder von uns hätte eigentlich recht gehabt. Wären nicht diese
schwierigen Lebensverhältnisse und diese innere Seelenfolter gewesen,
die ihn mit Gewalt dazu getrieben haben, Gott mit innigerer, glühenderer
Sehnsucht zu suchen, und die ihm die Fähigkeit gaben, seine Zuflucht zu
Ihm zu nehmen und so in Ihm zu leben, und in Ihm aufzugehen, wie keiner
von den modernen profanen Künstlern in Ihm lebt, und sich durch bittre
Tränen die Gefühle zu erringen, die er sich ehedem durch bloßes
Nachdenken und bloße Überlegung zu erringen suchte, so wäre er nie
imstande gewesen, das darzustellen, wozu er jetzt auf der Leinwand
bereits den Grund gelegt hat, und er hätte sowohl sich wie die andern
betrogen trotz seines glühenden Wunsches, sie nicht zu täuschen. Glauben
Sie nicht, daß es leicht ist, sich während eines solchen inneren
Übergangszustandes, wenn nach Gottes Willen ein Umgestaltungsprozeß in
dem innersten Wesen des Menschen eingesetzt hat, sich andern Menschen
mitzuteilen. Ich kenne das selbst sehr gut und habe es sogar an mir
selbst erfahren. Meine Werke hängen in ganz wunderbarer Weise mit meinem
Seelenleben und meiner inneren Selbsterziehung zusammen. Mehr als sechs
Jahre lang vermochte ich nicht für die Welt zu schaffen. Die ganze
Arbeit fand in mir und für mich selbst statt. Und doch -- vergessen Sie
dies nicht -- und doch lebte ich damals, ausschließlich von den
Einkünften, die mir meine Werke brachten. Fast alle Welt wußte, daß ich
Not litt, und doch waren alle überzeugt, daß dies seinen Grund
ausschließlich in meinem Eigensinn hat, daß ich mich nur hinzusetzen und
irgendeine kleine Sache niederzuschreiben brauchte, um sehr viel Geld zu
verdienen. Allein ich war nicht imstande, auch nur eine einzige Zeile zu
schreiben, und als ich einmal dem Rat eines unvernünftigen Menschen
folgen und mich dazu zwingen wollte, ein paar kleine Aufsätze für eine
Zeitschrift zu schreiben, wurde mir dies so schwer, daß mich mein Kopf
schmerzte und mir all meine Sinne wehe taten. Ich schmierte einige
Seiten voll, zerriß sie wieder und ruinierte nach zwei, drei Monaten
einer solchen Folter meine ganze Gesundheit, die ohnedies schon schlecht
genug war, so daß ich mich zu Bett legen mußte. Dazu kamen noch
allerhand Nervenbeschwerden und Leiden, die daraus entsprangen, daß es
mir völlig unmöglich war, mich gegen irgendeinen Menschen in der Welt
über meinen Zustand und meine Lage zu äußern; dies alles brachte mich so
herunter, daß ich mich beinahe am Rande des Grabes befand. Und dieses
passierte mir zweimal nacheinander. Einmal befand ich mich zu alledem
noch in einer Stadt, wo ich nicht einen einzigen mir nahestehenden
Menschen hatte. Auch war ich völlig mittellos und lief beständig Gefahr,
nicht nur an meiner Krankheit und meinen seelischen Qualen, sondern
sogar vor Hunger zu sterben. Das ist schon sehr lange her [ich wurde
damals durch den Kaiser gerettet, von dem mir unerwartet Hilfe kam.
Hatte ihm eine innere Stimme gesagt, daß sein armer Untertan in seiner
unscheinbaren nichtamtlichen Stellung von dem heißen Streben beseelt
war, ihm ebenso treu und redlich zu dienen, wie andere ihm in ihren
hervorragenden amtlichen Stellungen dienten, oder war es einfach eine
Regung der Gnade und Güte, wie wir sie bei ihm gewohnt sind, genug,
diese Hilfe richtete mich plötzlich auf. Es war mir in diesem Augenblick
sehr angenehm, mich ihm und keinem andern verpflichtet zu fühlen. Zu den
Gründen, die mich veranlaßten, mit neuer Kraft an die Arbeit zu gehen,
kam auch noch folgender Gedanke hinzu. Wenn Gott mich für würdig halten
sollte, mir die Liebe und Zuneigung vieler Menschen zu erwerben und mich
der Liebe derer würdig zu erweisen, die mich liebten, dann wollte ich
ihnen sagen: »Vergeßt es niemals, ich wäre jetzt vielleicht nicht mehr
auf der Welt, wenn der Kaiser nicht dagewesen wäre«]. In solch eine Lage
kommt man mitunter. Außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß ich gerade zu
dieser Zeit oft den Vorwurf zu hören bekam, ich sei ein Egoist: Viele
konnten es mir nicht verzeihen, daß ich mich nicht an Unternehmungen
beteiligen wollte, die sie, wie sie glaubten, im Interesse der
Allgemeinheit planten. Meine Einwände, ich könne nicht schreiben und ich
dürfe nicht für Zeitschriften und Almanache arbeiten, wurden für eine
Laune gehalten. Selbst der Umstand, daß ich im Ausland lebte, wurde auf
ein sybaritisches Bedürfnis zurückgeführt, die Schönheiten Italiens zu
genießen. Ich konnte es nicht einmal meinen nächsten Freunden
klarmachen, daß mir nicht nur aus Rücksicht auf meine Krankheit eine
zeitweilige Trennung von ihnen selbst ein Bedürfnis war, gerade weil ich
nicht in ein falsches Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine
Unannehmlichkeiten bereiten wollte -- selbst dies vermochte ich ihnen
nicht klarzumachen!

Ich hatte selbst die Empfindung, mein Seelenzustand sei so seltsam
geworden, daß ich ihn keinem Menschen auf der Welt in klarer und
verständlicher Weise hätte mitteilen können. Wenn ich mich bemühte,
einem Menschen wenigstens einen Teil von meinem Selbst zu enthüllen, so
stand es mir sofort klar vor Augen, daß ich den Menschen, zu denen ich
sprach, mit meinen Worten nur den Kopf verwirrte und umnebelte, und ich
bereute bitterlich, daß ich auch nur den Wunsch gehabt hatte, aufrichtig
zu sein. Ich möchte darauf schwören: es gibt Situationen von solcher
Schwierigkeit, die sich nur mit der Lage eines Menschen vergleichen
lassen, der in einem lethargischen Schlaf versunken daliegt, der selbst
sieht, wie er lebendig begraben wird -- und nicht einmal einen Finger
rühren und ein Zeichen geben kann, daß er noch lebt. Nein, Gott bewahre
uns vor dem bloßen Versuch, im Moment eines solchen inneren
Übergangszustandes einem Menschen unser Herz zu öffnen. Zu Gott allein
sollte man seine Zuflucht nehmen; zu niemand sonst. So kam es, daß
viele, selbst solche Menschen, die mir sehr nahe standen, ungerecht
gegen mich wurden und doch waren sie eigentlich ganz unschuldig daran:
ich selbst hätte genau so gehandelt, wenn ich an ihrer Stelle gewesen
wäre.

Und ebenso verhält es sich mit dem Fall Iwanow: wenn er vor Armut und
aus Mangel an Mitteln sterben sollte, so würden sich alle sofort empört
gegen die wenden, die dies zugelassen haben. Vorwürfe und Anklagen gegen
die andern Künstler würden laut werden, und man würde sie der
Gefühllosigkeit und des Neides bezichtigen. Am Ende würde gar ein
dramatischer Dichter ein rührsames Drama über dieses Sujet schreiben,
das Publikum bis zu Tränen rühren und Zorn und Abscheu wider die Feinde
Iwanows erregen. Und doch wäre dies alles nichts wie lauter Lüge und
Unwahrheit, weil in Wahrheit doch eigentlich niemand an seinem Tode
schuld wäre. Nur _ein_ Mensch hätte Anlaß, sich einer unehrenhaften
Handlungsweise anzuklagen und sich die Schuld zuzuschreiben. Dieser
Mensch wäre -- ich. Ich habe mich in einer ganz ähnlichen Lage befunden,
habe alles am eigenen Leibe erfahren und habe es doch den andern nicht
klarmachen können, und das ist der Grund, weswegen ich Ihnen jetzt
schreibe. Suchen Sie diese Sache zu arrangieren und in Ordnung zu
bringen, sonst nehmen Sie eine schwere Verantwortung auf Ihre Seele. Ich
habe sie durch diesen Brief von meinem Herzen abgewälzt. Nun liegt sie
auf Ihnen. [Richten Sie es so ein, daß Iwanow nicht nur jene armselige
Pension, um die er bittet, bewilligt wird, sondern außerdem auch noch
eine Prämie dafür, daß er so lange an seinem Gemälde gearbeitet hat und
daß er während dieser Zeit an nichts anderem arbeiten wollte, trotzdem
ihn die Menschen und seine eigene Not dazu drängten]. Sparen Sie nicht
mit dem Gelde: es wird reiche Zinsen tragen. Schon fängt man überall an,
den Wert des Bildes zu erkennen, schon spricht ganz Rom davon, obwohl es
sich doch nur nach dem jetzigen Stadium, das die Idee und Absicht des
Künstlers noch nicht in vollem Maße widerspiegelt, ein Urteil erlauben
kann, schon sagt ganz Rom, daß eine ähnliche Erscheinung seit den Zeiten
Raphaels und Leonardo da Vincis noch nicht dagewesen sei. Das Gemälde
wird vollendet werden [-- dann wird auch der ärmste Fürstenhof in Europa
gern soviel dafür bezahlen, wie man heute für ein neu entdecktes Gemälde
eines großen alten Meisters auszugeben pflegt]. Solche Gemälde erzielen
selten Preise unter 100000 oder 200000. [Richten Sie es so ein, daß ihm
die Prämie nicht für sein Gemälde, sondern für seine Selbstaufopferung
und seine beispiellose Liebe zur Kunst zugesprochen wird, auf daß dies
Beispiel allen Künstlern zur Lehre diene. Wir haben eine solche Lehre
nötig, damit alle erkennen, wie man die Kunst lieben soll: daß man allen
Lockungen des Lebens absterben müsse wie Iwanow, daß man nicht aufhören
dürfe, zu lernen, und sich stets für einen Schüler halten solle wie
Iwanow, daß man die größten Entbehrungen auf sich nehmen, ja selbst an
Feiertagen sich beim Mittagessen den Extragang versagen muß wie Iwanow,
daß man, wenn einem alle Mittel ausgegangen sind, eine einfache
Leinwandjacke anziehen und alle leeren Rücksichten des Anstands außer
acht lassen muß wie Iwanow, daß man alle Leiden auskosten und selbst bei
einer so hohen und feinen Seelenbildung, bei einer so außerordentlichen
feinsinnigen Empfindlichkeit für alles, alle bitteren Niederlagen
ertragen, ja selbst ruhig dulden muß, daß einzelne einen für verrückt
erklären und überall das Gerücht verbreiten, man sei nicht bei
Verstande, so daß man es auf Schritt und Tritt mit eigenen Ohren hören
muß, wie Iwanow dies getan hat. Für alle diese großen Verdienste sollte
ihm eine Prämie zugesprochen werden. Dies ist besonders ein Bedürfnis
für unsere jungen Künstler und für die, die ihre Künstlerlaufbahn erst
eben beginnen, damit sie ihre Gedanken nicht bloß darauf richten, sich
feine Krawatten und Röcke anzuschaffen und Schulden zu machen, um ihr
Ansehen in der Gesellschaft zu heben, sondern damit sie erkennen, daß
die Hilfe und Unterstützung der Regierung nur solchen unter ihnen zuteil
wird, die nicht an feine Röcke denken und von Zechgelagen mit ihren
Kameraden träumen, sondern die sich ganz ihrer Aufgabe widmen und in ihr
ganz aufgehen wie ein Mönch in der Klosterzelle. Es wäre sogar gut, wenn
die Summe, die Iwanow bewilligt würde, recht groß wäre, damit sich alle
anderen unwillkürlich hinter den Ohren kratzen. Fürchten Sie nicht, daß
er diese Summe nur für seinen eigenen Bedarf verwenden könnte.
Vielleicht wird er sich selbst nicht einmal eine Kopeke davon nehmen.
Diese Summe wird ganz darauf verwandt werden, um den wirklichen
Arbeitern auf dem Gebiete der Kunst, die der Künstler besser kennt als
irgendein Beamter, zur Unterstützung zu dienen, und er wird besser
darüber verfügen, als ein Beamter dies vermöchte. Weiß Gott, was ein
Beamter alles auf dem Kerbholz haben kann; er kann eine Modedame zur
Frau, oder er kann Freunde haben, die große Feinschmecker sind und denen
er ein feines Mittagessen vorsetzen muß. Ein Beamter kann einen großen
Aufwand machen und vielen Glanz entfalten, und wird dann womöglich noch
behaupten, daß dies notwendig sei, um das Ansehen der russischen Nation
hochzuhalten, um den Ausländern Sand in die Augen zu streuen, und Geld
dafür verlangen. Mit dem dagegen, der selbst auf dem Gebiet tätig ist,
auf dem er später anderen behilflich sein soll, der den Schrei der
Bedürftigkeit und keiner vorgespiegelten, sondern der wirklichen Not
vernommen, der selbst gelitten und gesehen hat, wie andere leiden, der
mit ihnen gelitten und sein letztes Hemd mit dem armen Arbeiter geteilt
hat, während er selbst nichts zu essen und nichts anzuziehen hatte, wie
dies Iwanow getan hat, -- mit dem verhält es sich ganz anders. Ihm kann
man dreist Millionen anvertrauen und sich ruhig schlafen legen. Von
dieser Million wird keine Kopeke umsonst verloren gehen]. Also seien Sie
billig. Meinen Brief aber zeigen Sie sowohl meinen wie Ihren Freunden,
besonders aber denen, denen die Verwaltung eines Ressorts anvertraut
ist. Denn fleißige Arbeiter wie Iwanow kommen in allen Berufen vor, und
man sollte doch nicht zulassen, daß solche Menschen vor Hunger sterben.
Wenn es einmal passieren sollte, daß einer von ihnen sich von den andern
zurückzieht und sich intensiver und eifriger seiner Sache widmet, ja
selbst in dem Falle, wenn es seine _eigene_ Sache ist und er nur sagt,
daß diese Sache, die scheinbar bloß seine eigene Sache ist, einem
allgemeinen Bedürfnis dient, müssen Sie so tun, als ob er den Menschen
wissentlich diente, und für seinen notwendigen Lebensunterhalt sorgen.
Damit Sie sich aber überzeugen, daß hierbei kein Betrug im Spiele ist,
weil sich unter dieser Maske leicht auch ein fauler Mensch, der nichts
tut, einschleichen kann, so sehen Sie zu, was für einen Lebenswandel er
führt. Seine Lebensweise wird Ihnen alles sagen. Wenn er ebenso wie
Iwanow alle Anstandsrücksichten und alle Konventionen der vornehmen Welt
verachtet und hintan setzt, wenn er eine einfache Jacke anzieht, jeden
Gedanken an Vergnügungen und Zechgelage, selbst den Gedanken, sich ein
Weib zu nehmen, um eine Familie oder einen Hausstand zu begründen, von
sich gewiesen hat und ein wahrhaft mönchisches Leben führt, Tag und
Nacht an seiner Arbeit sitzt und jeden Augenblick dem Gebet widmet, dann
sind keine langen Überlegungen am Platz, sondern dann muß man ihm die
Mittel zur Arbeit verschaffen. Man soll ihn auch nicht drängen und
anfeuern, sondern man soll ihn in Ruhe lassen: Gott wird ihn auch ohne
uns vorwärts treiben. Ihre Aufgabe ist es nur, dafür zu sorgen, daß er
nicht vor Hunger stirbt. Sie sollen ihm auch keine große Pension
bewilligen, setzen Sie ihm eine bescheidene, ja armselige Pension aus
und halten Sie die Lockungen und Verführungen der Welt von ihm fern. Es
gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang Bettler bleiben müssen. Der
Bettlerstand ist eine Seligkeit, die die Welt noch nicht recht begriffen
hat. Aber wen Gott für würdig gehalten hat, ihre Süßigkeit zu kosten,
und wer seinen Bettelsack wirklich lieben gelernt hat, der wird ihn für
keine Schätze dieser Welt verkaufen wollen.

                                                                 1846.




                                  XXIV
    Was die Frau ihrem Manne im häuslichen Leben des Alltags und bei
                den heutigen Zuständen in Rußland sein kann


Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen beiden ich tüchtig
auszanken soll, Sie oder Ihren Mann. Schließlich aber habe ich mich
entschlossen, mir Sie vorzunehmen: denn eine Frau ist eher dazu fähig,
sich auf sich selbst zu besinnen und sich aufzuraffen. Obwohl Sie beide
auf dem Gipfel der Seligkeit zu schweben glauben, ist Ihre Lage meiner
Ansicht nach nicht nur keineswegs glücklich, sondern noch weit elender
als die jener Menschen, die tief im Unglück und im Elend zu stecken
meinen. Sie besitzen alle beide viele gute Eigenschaften, sowohl solche
des Gemüts als auch des Herzens, Sie besitzen auch geistige Fähigkeiten,
und es fehlt Ihnen nur das eine, ohne das dies alles zu nichts dienen
kann. Es fehlt Ihnen an der inneren Disziplin. Keiner von Ihnen ist Herr
über sich selbst. Es fehlt Ihnen an Charakter, wenn man unter Charakter
einen _starken Willen_ zu verstehen hat. Ihr Mann hat ein Gefühl für
diesen inneren Mangel gehabt. Er hat sich gerade deswegen verheiratet,
um in seiner Frau ein Wesen zu finden, das ihn zur Tätigkeit und zu
wirklichen Leistungen anspornt. Und _Sie_ haben ihn geheiratet, damit er
Ihnen in allen Angelegenheiten des Lebens ein Erwecker und Anreger
werde. Sie erwarten beide gerade das voneinander, was keiner von Ihnen
besitzt. Ich sage Ihnen, dieser Zustand ist nicht nur keineswegs
glücklich, sondern sogar gefährlich. Sie beide zerfließen und gehen im
Leben auf wie ein Stück Seife im Wasser. Alle ihre Vorzüge und ihre
guten Eigenschaften werden spurlos verloren gehen in der Unordnung und
der Zuchtlosigkeit Ihrer Handlungen, die allein Ihren Charakter
ausmachen werden, und so werden Sie beide die leibhaftige Ohnmacht und
Kraftlosigkeit darstellen. Bitten Sie Gott um _Kraft und Willensstärke_.
Durch Gebet kann man alles von Gott erlangen, selbst Kraft und
Willensstärke, die sich ein schwacher und kraftloser Mensch bekanntlich
auf keine Weise anzueignen vermag. Vor allem handeln Sie vernünftig:
_bete und rudere auf das Ufer zu_, sagt ein russisches Sprichwort.
Sprechen Sie jeden Morgen, mittags und abends immer wieder in Ihrem
Innern: Lieber Gott, fasse all meine Kräfte und mein ganzes Ich in mir
selbst zusammen und stärke mich!« Und dann tun Sie ein ganzes Jahr lang
so, wie ich es Ihnen gleich angeben werde, ohne nachzugrübeln, wozu und
zu welchem Zwecke Sie so handeln. Den ganzen Haushalt müssen Sie auf
Ihre Schultern nehmen. Alle Ausgaben und Einnahmen sollen durch Ihre
Hände gehen. Legen Sie sich kein allgemeines Kassenbuch an, sondern
machen Sie gleich zu Beginn des Jahres einen Überschlag über den
gesamten Haushalt. Suchen Sie sich eine Übersicht über all Ihre
Bedürfnisse zu verschaffen. Überlegen Sie sich im voraus, wieviel Sie
bei Ihrem Einkommen in einem jeden Jahr ausgeben dürfen und ausgeben
müssen, und rechnen Sie sich alles in runden Summen aus. Teilen Sie Ihr
ganzes Geld in sieben nahezu gleiche Haufen. Der erste Haufen sei zur
Deckung der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung,
Wasserversorgung, Holz sowie alles, was sich auf die vier Wände Ihres
Hauses und die Sauberkeit Ihres Hofes bezieht, bestimmt. Der zweite
Haufen muß das Geld für die Kost und sämtliche Lebensmittel, den Gehalt
des Kochs und den Lebensunterhalt aller, die mit Ihnen in Ihrem Hause
leben, enthalten. Der dritte Haufen sei für den Stall, für den Wagen,
den Kutscher, die Pferde, Heu, Hafer, kurz für alles, was sich auf
diesen Teil des Haushalts bezieht, bestimmt. Aus dem vierten Haufen
müssen die Unkosten für die Garderobe, d. h. für alles, was Sie beide
brauchen, wenn Sie sich in der Gesellschaft sehen lassen oder wenn Sie
zu Hause sitzen, beglichen werden. Der fünfte Haufen enthalte Ihr
Taschengeld, der sechste Geld für allerhand außerordentliche Ausgaben,
die ja häufig vorzukommen pflegen: wie etwa bei Anschaffung neuer Möbel,
einer neuen Equipage, oder für die Unterstützung eines Verwandten, wenn
er plötzlich in die Lage kommen sollte, ihrer zu bedürfen. Der siebente
Haufen aber sei Gott geweiht, d. h. er diene zur Deckung der Ausgaben
für die Kirche und für die Armen. Sorgen Sie dafür, daß Ihnen diese
sieben Haufen niemals durcheinander geraten, sondern stets gesondert für
sich bestehen bleiben, wie sieben besondere Ministerien. Führen Sie über
jeden von ihnen besondere Rechnung. Unter keinem Vorwand aber machen Sie
eine Anleihe bei dem einen zugunsten des andern; selbst wenn sich Ihnen
während dieser Zeit auch noch so günstige Kaufgelegenheiten bieten
sollten, oder wenn ein Gegenstand Sie durch seine Wohlfeilheit noch so
sehr zum Kaufe reizen sollte -- dürfen Sie ihn nicht kaufen. Das können
Sie sich erst erlauben, wenn Sie sich innerlich genügend gefestigt und
gekräftigt haben. Jetzt aber dürfen Sie keinen Augenblick vergessen, daß
Sie dies alles nur tun, um sich einen starken Charakter zu erwerben, und
daß diese Erwerbung fürs erste weit wichtiger für Sie ist als jede
andere. Seien Sie daher in solchen Fällen geradezu eigensinnig, bitten
Sie Gott, er möge Sie eigensinnig machen. Selbst dann, wenn die
Notwendigkeit an Sie herantritt, einem Armen zu helfen, dürfen Sie doch
nicht mehr ausgeben, als der für diesen Zweck bestimmte Haufen enthält.
Ja selbst dann, wenn sich Ihnen das Bild eines herzzerreißenden Jammers
und Elends darbietet, dessen Zeugin Sie sein müssen, und wenn Sie sehen,
daß hier durch Geld etwas auszurichten und zu helfen wäre, dürfen Sie
dennoch unter keinen Umständen einen von den andern Haufen angreifen.
Fahren Sie lieber in der ganzen Stadt herum, besuchen Sie alle Ihre
Bekannten und suchen Sie ihr Mitleid zu erwecken; bitten Sie, flehen Sie
sie an, seien Sie sogar zu jeder Selbsterniedrigung bereit, damit Ihnen
dies eine Lehre sei, und Sie sich ewig daran erinnern, wie Sie einmal
vor die bittere Notwendigkeit gestellt waren, einem Unglücklichen Ihre
Hilfe zu versagen; wie Sie sich deswegen allen möglichen Erniedrigungen
aussetzen und sogar den öffentlichen Spott auf sich lenken mußten, auf
daß Ihnen dies nie aus dem Sinn komme, und Sie hierdurch lernen, alle
Ihre Ausgaben von jedem Haufen einzuschränken und im voraus daran zu
denken, so daß am Ende des Jahres von jedem noch etwas für die Armen
übrig bleibe und das Geld nicht nur gerade knapp zur Deckung der
Ausgaben ausreiche. Wenn Sie dieses beständig im Kopfe behalten werden,
werden Sie niemals ohne dringende Not in einen Kaufladen fahren und sich
plötzlich einen Schmuckgegenstand für Ihren Tisch oder Kamin kaufen,
wozu bei uns sowohl unsere Frauen wie unsere Männer so leicht geneigt
sind. [Die letzten sogar noch mehr, diese sind nicht einmal Frauen,
sondern alte Weiber.] Ihre Wünsche und Launen werden auf diese Weise
unwillkürlich und kaum merklich immer mehr und mehr zusammenschrumpfen,
und schließlich wird es so weit kommen, daß Sie selbst das Gefühl haben
werden, Sie brauchten nicht mehr als _einen_ Wagen und ein Paar Pferde
und bei der Mittagstafel nicht mehr als vier Gänge, dann werden Sie
erkennen, daß man seine Gäste ebensogut mit einem einfach servierten
Diner, mit einem einzigen Extragang und einer Flasche Wein, der ohne
alle Finessen in einfachen Gläsern verschenkt wird, zu befriedigen
vermag. Sie werden nicht vor Scham vergehen, wenn sich in der Stadt das
Gerücht verbreitet, bei Ihnen sei es nicht _comme il faut_, sondern Sie
werden selbst darüber lachen, da Sie sich aufs tiefste davon überzeugen
werden, das wahre _comme il faut_ sei das, das Der von dem Menschen
fordert, Der ihn erschaffen hat, nicht aber irgendein Mensch, der
allerhand Satzungen und Systeme für die Diners erfindet, nicht einmal
der, der Etiketten austiftelt, die jeden Tag wechseln, ja nicht einmal
Madame Sichler in eigener Person. Schaffen Sie sich ein besonderes
Kassenbuch für jeden einzelnen Geldhaufen an. Ziehen Sie jeden Monat die
Bilanz über die Einnahmen und Ausgaben, die sich auf die einzelnen
Haufen beziehen, prüfen Sie am letzten Tage jedes Monats alles nach und
vergleichen Sie jedes Ding mit jedem andern, damit Sie erkennen lernen,
um wievielmal notwendiger und nützlicher es ist als ein anderes, und
damit Sie sich ganz klar darüber werden, auf welchen Gegenstand Sie im
Fall der Not zuerst verzichten müssen, und so die Kunst lernen, zu
erkennen, was vom Notwendigen das Allernotwendigste ist.

Halten Sie sich während eines ganzen Jahres streng an diese Grundsätze.
Werden Sie stark, werden Sie eigensinnig und beten Sie während der
ganzen Zeit zu Gott, er möge Ihnen einen starken Willen verleihen --
dann werden Sie wirklich stark und fest werden. Worauf es ankommt, ist
dies: daß in dem Menschen wenigstens _etwas_ stark und unerschütterlich
werde. Hierdurch kommt ganz unwillkürlich auch Ordnung in alles andere.
Wenn Sie in Angelegenheiten materiellen Charakters stark werden, werden
Sie unwillkürlich in den geistigen und seelischen Angelegenheiten
sicheren Boden gewinnen. Machen Sie sich eine feste Zeiteinteilung,
setzen Sie für jedes Ding eine bestimmte Stunde fest, und gehen Sie
nicht von ihr ab; bleiben Sie nicht den ganzen Morgen bei Ihrem Mann,
sondern schicken Sie ihn ins Departement und spornen Sie ihn zur
Tätigkeit an. Erinnern Sie ihn jeden Augenblick daran, daß er sich ganz
der allgemeinen Sache und dem ganzen Staatshaushalt widmen muß -- [sein
eigener Haushalt dagegen sei nicht seine Sorge: dieser muß nicht auf
seinen, sondern auf Ihren Schultern ruhen], daß er ja gerade darum
geheiratet habe, um sich aller kleinen Sorgen zu entschlagen und sich
ganz dem Vaterlande zu widmen, und daß ihm die Frau nicht dazu geschenkt
ward, um ihm ein Hemmnis zu sein, durch das er in seinem Dienst
behindert wird, sondern gerade um ihn für den Dienst zu stärken und zu
kräftigen. Ein jedes von Ihnen arbeite den Morgen über für sich, jeder
in seinem Kreise, damit Sie sich vor dem Mittagessen in froher Stimmung
wieder begegnen und sich so übereinander freuen, als hätten Sie sich
viele Jahre lang nicht gesehen, damit Sie sich auch etwas zu erzählen
haben und nicht dasitzen und einander angähnen: erzählen Sie ihm alles,
was Sie in Ihrem Hause und in Ihrem Haushalt vollbracht haben, und
lassen Sie sich alles von ihm erzählen, was er in seinem Departement für
den allgemeinen Haushalt geleistet hat. Sie müssen unbedingt darüber
unterrichtet sein, worin das Wesen seiner beruflichen Tätigkeit besteht,
Sie müssen wissen, was sein Ressort ist, was für Angelegenheiten er an
jenem Tag zu erledigen hatte und worin sie bestanden. Achten Sie diese
Dinge nicht gering und denken Sie stets daran, daß die Frau ihrem Manne
eine Stütze und Helferin sein muß. Wenn Sie sich während eines Jahres
alles von ihm erzählen lassen und aufmerksam zuhören, so werden Sie im
folgenden Jahre bereits imstande sein, ihm einen Rat zu erteilen, und
werden wissen, wie Sie ihn trösten und ermutigen können, wenn ihm im
Dienst eine Unannehmlichkeit zustößt, wie Sie ihm behilflich sein
können, über sie hinwegzukommen und das zu ertragen, womit er sonst
nicht fertig geworden wäre, da ihm der Mut dazu gefehlt hätte. So werden
Sie ihm eine wahre Erweckerin zu allem Schönen und Guten werden.

Fangen Sie schon heute an und tun Sie, wie ich es Ihnen soeben gesagt
habe. Werden Sie stark, beten Sie, flehen Sie unablässig zu Gott, er
möge Ihnen helfen, sich innerlich zu sammeln und sich selbst
festzuhalten. Heute fängt bei uns alles an, sich zu lockern und aus den
Fugen zu gehen. Die Menschen sind heutzutage allzumal solch traurige
jämmerliche Waschlappen geworden, sie haben sich selbst zu Stützen alles
Gemeinen und zu Sklaven der kleinsten und törichtesten Umstände und
Verhältnisse gemacht, und es gibt heute nirgends etwas wie wahre
Freiheit im wirklichen Sinne dieses Wortes. Diese Freiheit hat einer
meiner Freunde, mit dem Sie nicht persönlich bekannt sind, den aber ganz
Rußland kennt, folgendermaßen definiert: »Die Freiheit besteht nicht
darin, daß man zu jeder willkürlichen Laune _Ja_ sagt, sondern darin,
daß man auch _Nein_ zu ihr zu sagen vermag.« Und er hat recht wie die
Wahrheit selbst. Heutzutage ist niemand imstande, sich selbst ein solch
starkes _Nein_ zuzurufen. Ich vermag nirgends einen _Mann_ zu entdecken.
So muß denn das schwache Weib ihn daran mahnen. Heute ist alles so
seltsam und so wundersam geworden, heute muß die Frau dem Manne
befehlen, er solle ihr Haupt und ihr Gebieter sein.

                                                                 1845.




                                  XXV
            Ueber ländliche Rechtspflege und Gerichtsbarkeit
                         Aus einem Briefe an M.


Vernachlässigen Sie die Rechtspflege und Gerichtsbarkeit unter keinen
Umständen. Beauftragen Sie nie einen Verwalter oder einen andern Mann
aus dem Dorfe mit dieser Angelegenheit. Das ist eine Sache, die noch
wichtiger ist als die Landwirtschaft. Halten Sie selbst Gericht. Allein
hierdurch können Sie das Band zwischen Gutsbesitzer und Bauer kräftigen.
Richten -- das ist etwas Göttliches, und ich weiß nicht, was es Höheres
gibt. Nicht umsonst wird im Volke _der_ so hoch geehrt, der es versteht,
ein gerechtes Urteil zu fällen. Nicht nur alle Bauern Ihres Gutes, sogar
die Bauern aus anderen umliegenden Dörfern werden zu Ihnen hinströmen,
wenn sie erfahren, daß Sie es verstehen, Recht zu sprechen. Achten Sie
keinen von denen, die zu Ihnen kommen, für zu gering und übernehmen Sie
das Richteramt in allen Fällen, selbst bei einem unbedeutenden Streit
oder bei einer Rauferei. Bei solchen Gelegenheiten können Sie dem Bauern
vieles sagen, was seiner Seele zu Nutz und Frommen gereichen kann und
was Sie ihm zu einer andern Zeit nicht zu sagen vermöchten, da Sie
nichts finden könnten, woran Sie anknüpfen sollen.

Sitzen Sie über jeden Menschen in zwiefacher Weise zu Gericht und
entscheiden Sie über jede Sache gleichfalls in doppelter Weise. Das
Gericht muß erstens ein menschliches Gericht sein. Durch ein solches
Gericht muß der Schuldige verurteilt und dem Unschuldigen zu seinem
Rechte verholfen werden. Sorgen Sie dafür, daß dies in Gegenwart von
Zeugen geschieht, und daß hierbei auch andere Bauern zugegen sind, damit
es allen klar werde wie der lichte Tag, in welchem Punkte der eine recht
und der andere unrecht hat. Daneben müssen Sie aber noch in anderer
Weise nach einem andern Rechte Gericht halten, nämlich nach göttlichem
Rechte: hierbei müssen Sie _beide_, den Schuldigen sowohl wie den, der
_recht_ hat, verurteilen. Beweisen Sie dem zweiten aufs deutlichste, daß
er selbst daran Schuld war, daß der andere ihn beleidigt hat, und zeigen
Sie dem ersten, daß er eine doppelte Schuld auf sich geladen hat: vor
Gott und vor den Menschen. Sprechen Sie dem einen Ihren Tadel aus, weil
er seinem Bruder nicht verzeihen wollte, wie Christus es uns geboten
hat. Dem andern aber sprechen Sie Ihre Mißbilligung aus, weil er
Christus selbst in seinem Bruder gekränkt hat. Beiden aber erteilen Sie
eine Rüge, weil sie sich nicht von selbst miteinander ausgesöhnt,
sondern das Gericht angerufen haben, und nehmen Sie beiden das
Versprechen ab, daß sie dem Priester in der Beichte alles beichten und
bekennen werden. [Wenn Sie in solcher Weise Recht sprechen werden,
werden Sie aus höchster Vollmacht richten, wie Gott selbst, denn Gott
wird Sie dazu bevollmächtigen.] Sie werden hieraus vielen Nutzen ziehen,
vieles, das Ihnen zugute kommen wird, und viel unmittelbares und
wahrhaftes Wissen daraus schöpfen. [Wenn viele Staatsleute nicht gleich
mit dem Aktenschreiben, sondern damit beginnen würden, über die
einfachen Leute Recht zu sprechen, so würden sie den Geist des Landes,
die Eigenart ihres Volkes und die menschliche Seele im allgemeinen weit
besser kennen lernen und nicht Neuerungen bei uns einführen, die sie
fremden Ländern entlehnen und die nicht zu uns passen.] Die Rechtspflege
könnte bei uns weit besser sein als in allen anderen Staaten, denn von
allen Völkern ist es allein das russische, in dem der so wahre Gedanke
entsprungen und lebendig ist, daß es keinen gerechten Menschen gibt und
daß Gott allein gerecht ist. Dieser Gedanke hat sich wie ein
unerschütterlicher Glaube durch unser ganzes Volk verbreitet. Von ihm
erfüllt, mit ihm ausgerüstet, gewinnt selbst ein einfacher und nicht
übermäßig gescheiter Mensch Autorität im Volke, und wird hierdurch
befähigt, Streitigkeiten zu schlichten. Nur wir Menschen der höheren
Kreise haben kein Gefühl, kein Verständnis für diesen Gedanken, weil wir
uns nach dem Vorbild Europas allerhand törichte ritterliche Begriffe von
der Gerechtigkeit zurechtgelegt haben. Wir streiten bloß darüber, wer
recht hat und wer schuldig ist. Wenn wir jedoch alle unsere
Streitigkeiten genau untersuchen, so können wir sie alle auf einen
Nenner bringen, nämlich auf den, daß alle beide Teile schuldig sind. Und
dann erkennt man, daß die Kommandantin in Puschkins Erzählung »Die
Hauptmannstochter« ganz recht hatte, als sie den Leutnant aussandte, um
den Streit des Polizeisoldaten mit dem Weibe zu schlichten, die im Bade
wegen einer Schöpfkelle aneinander geraten waren, und die ihm dabei
folgende Instruktion mitgab: »Untersuche, wer recht und wer unrecht hat,
und bestrafe alle beide.«

                                                                 1845.




                                  XXVI
                     Rußlands Schrecken und Grauen
                           An die Gräfin ***


Auf Ihren langen Brief, den Sie mit solch innerem Grauen geschrieben
haben, antworte ich, obwohl Sie mich bitten, ihn, nachdem ich ihn
gelesen habe, sofort zu vernichten, und obwohl Sie mich darum ersuchen,
Ihnen die Antwort nicht anders als durch die Hand einer zuverlässigen
Persönlichkeit und nicht durch die Post zuzustellen, nicht nur
keineswegs in aller Heimlichkeit, sondern, wie Sie sehen, in einem
gedruckten Buche, das vielleicht von der Hälfte aller Menschen in
Rußland, die da lesen können, gelesen werden wird. Was mich dazu
veranlaßte, war der Umstand, daß mein Brief vielleicht auch manchen
andern als Antwort dienen wird, die sich ebenso wie Sie durch die
gleichen Befürchtungen und Schrecken beunruhigen lassen. Das, was Sie
mir im geheimen mitteilen, ist nur ein Teil der ganzen Angelegenheit.
Wenn ich Ihnen alles erzählen wollte, was ich weiß (und ich weiß ohne
Zweifel noch bei weitem nicht alles), dann würde sich Ihr Geist
verfinstern, es würde Ihnen dunkel vor den Augen werden, und Sie würden
nur noch daran denken, wie Sie aus Rußland entfliehen könnten. Wohin
aber soll man fliehen? Das ist die Frage. Die Lage Europas ist noch
schwieriger als die Rußlands. Der Unterschied ist bloß der, daß es dort
noch niemand einsieht. Alle, und davon sind selbst die Staatsleute nicht
auszunehmen, bewegen sich noch immer an der Oberfläche eines
oberflächlichen Wissens, d. h. sie kommen nicht aus jenem in einem
fehlerhaften Zirkel verlaufenden Wissen heraus, wie es von den
Zeitschriften in Form frühreifer Folgerungen und übereilter
Feststellungen angeschwemmt worden ist, die, durch das trügerische
Prisma aller möglicher Parteien entstellt, gar nicht in ihrem wahren und
wirklichen Lichte erscheinen. Warten Sie nur, bald werden gerade in
jenen so wohlgeordneten Staaten, deren äußerer Schein und Glanz uns in
solche Begeisterung versetzt, die wir uns in allem nachzuahmen bemühen
und deren Einrichtungen wir uns anzupassen suchen, von unten herauf,
solche furchtbare Schreie ertönen, daß selbst jenen berühmten
Staatsleuten, deren Auftreten in den Gerichten und Parlamenten Sie so
entzückt hat, der Kopf schwindeln wird. In Europa bereiten sich jetzt
überall solche Wirren vor, gegen die kein menschliches Mittel etwas wird
ausrichten können, wenn sie erst ausgebrochen sein werden, und gegen die
alle Schrecken nichts sind, die wir in Rußland vor unseren Augen sehen.
In Rußland schimmert doch noch hie und da etwas wie ein Lichtstrahl
hindurch. Es gibt doch noch Mittel und Wege zur Rettung, und diese
Schrecken sind, Gott sei Dank, gerade heute und nicht zu einer späteren
Zeit zum Vorschein gekommen. Ihre Worte: »Alle lassen den Mut sinken wie
in Erwartung eines unvermeidlichen Schicksals« treffen in der Tat das
Richtige, ebenso wie Ihre andre Bemerkung. Jeder denkt nur daran, seine
eigene Habe in Sicherheit zu bringen, er denkt nur an seinen eigenen
Vorteil, wie auf dem Schlachtfeld nach einer verlorenen Schlacht ein
jeder nur daran denkt, wie er sein eigenes Leben retten könne: »_sauve
qui peut_«. So liegen die Dinge heute wirklich, und so muß es auch sein.
Gott hat gewollt, daß es so sei. Jeder soll jetzt an sich selbst und
zwar gerade an seine eigene Rettung denken. Aber nun handelt es sich um
eine andere Art der Rettung. Wir sollen heute nicht etwa ein Schiff
besteigen, aus unserem Lande fliehen und all unsern verächtlichen
irdischen Besitz in Sicherheit zu bringen suchen, sondern ein jeder von
uns soll seine Seele retten, ohne sein Land zu verlassen. Er soll sich
selbst zu retten suchen, während er mitten im Herzen des eigenen Staates
weilt. Auf dem Schiff seines Berufs und seiner Tätigkeit soll heute ein
jeder von uns dem Strudel entfliehen, indem er beständig auf den
himmlischen Steuermann hinblickt. Selbst der, der nicht im Staatsdienst
steht, soll jetzt in den Dienst des Staates treten und sich an sein Amt
klammern, wie ein Ertrinkender nach einer Planke greift, denn ohne dies
kann keiner gerettet werden. Heutzutage muß ein jeder von uns den Dienst
auf sich nehmen, aber nicht in der Weise, wie in dem Rußland von ehedem,
sondern gleichsam, wie wenn er Bürger eines andern himmlischen Reiches
wäre, dessen Haupt Christus selbst ist, und daher müssen wir alle unsere
Pflichten gegen die Obrigkeit, die über uns gesetzt ist, gegen die
Menschen, die uns gleichgestellt sind und die sich um uns herum bewegen,
sowie gegen die Menschen niederen Standes, die unter uns stehen, so
erfüllen, wie uns kein anderer als Christus selbst dies geboten hat.
Daher ist es jetzt auch nicht mehr am Platze, dem eine große Bedeutung
beizumessen, wenn irgend jemand unserem Ehrgefühl oder unserer
Eigenliebe einen kleinen Stich versetzt -- wir müssen immer im Auge
behalten, daß wir unser Amt um Christi willen auf uns genommen haben und
daß wir es darum so verwalten müssen, wie kein anderer als Christus es
uns geboten hat. Nur auf diese Weise kann ein jeder von uns seine Seele
retten, und wehe dem, der nicht jetzt schon seine Gedanken darauf
richtet. Sein Geist wird sich verdunkeln, seine Gedanken werden sich
verfinstern, und er wird keinen Fleck auf der Erde finden, wohin er vor
seinen eigenen Schrecken und Grauen entfliehen kann. Denken Sie an die
_ägyptische Finsternis_, die uns König Salomon so gewaltig geschildert
hat, als der Herr, um einen Teil der Menschen zu strafen, unerhörte und
unbegreifliche Schrecken und Finsternisse auf sie herabsandte.
Stockfinstere Nacht umfing sie plötzlich inmitten des hellen Tages; von
allen Seiten starrten ihnen furchtbare Fratzen entgegen, morsche
klapprige Schreckgespenster mit traurigen Gesichtern schwebten ihnen
unaufhörlich vor Augen, ohne stählerne Ketten fesselte sie alle eine
furchtbare Angst und raubte ihnen alles: Alle Gefühle, alle Regungen,
alle Kräfte schwanden ihnen dahin außer der einen einzigen Furcht, und
dies alles geschah nur mit denen, die Gott strafen wollte. Die andern
sahen während derselben Zeit keinerlei Schreckbilder, sondern wandelten
im Licht und im Tage.

Sehen Sie zu, daß mit Ihnen nichts Ähnliches geschehe. Beten Sie lieber
und bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchten möge, wie Sie sich in Ihrer
Stellung zu verhalten haben und wie sie in ihr alles so erfüllen können,
wie Christus es uns geboten hat. Jetzt ist kein Platz mehr für Scherze.
Jetzt wird die Sache ernst. Statt sich durch die Unordnung um uns herum
erschrecken zu lassen, sollten wir lieber zuvor Einkehr in uns selbst
halten. So blicken denn auch Sie in Ihre Seele hinein, weiß Gott,
vielleicht werden Sie in ihr dieselbe Unordnung entdecken, um deren
willen Sie die andern schelten. Vielleicht nistet darin ein häßlicher,
zuchtloser Zorn, der sich jeden Augenblick zur Freude des Feindes
Christi Ihrer Seele bemächtigen kann. Vielleicht ist sie von jener
schwächlichen Neigung beherrscht, sich bei jeder Gelegenheit dem
Kleinmut und der Mutlosigkeit dieser traurigen Tochter des Unglaubens zu
ergeben. Vielleicht lebt in ihr der eitle Wunsch, allem nachzujagen, was
glänzt und was Ruhm und Ansehen in der Welt genießt. Vielleicht birgt
sie Hochmut und Stolz auf die besten Eigenschaften Ihrer Seele, ein
Stolz, der alles Gute, alle Güter, die wir besitzen, zu vernichten
vermag. Es ist unvergleichlich viel besser, darüber zu erschrecken, was
in uns selbst, als darüber, was außer uns und um uns herum vorgeht. Was
aber die Schrecken und Grauen Rußlands anbelangt, so sind auch sie nicht
ohne Nutzen. Sie waren für viele ein Erziehungsmittel, wie sie keine
Schule uns darzubieten vermag. Selbst die Schwierigkeit der
Verhältnisse, die dem Verstande neue Schleichwege eröffnet hat, hat bei
vielen schlummernde Fähigkeiten geweckt, und zur selben Zeit, wo an dem
einen Ende Rußlands noch weiter Polka getanzt und weiter Preference
gespielt wird, erstehen, ohne das man es merkt, in den verschiedensten
Wirkungskreisen Männer von echter Lebensweisheit und wahre Helden des
Lebens. Lassen Sie noch einige zehn Jahre vergehen, und Sie werden
sehen, wie Europa zu uns kommen wird, nicht mehr um Hanf und Talg,
sondern um Weisheit bei uns einzukaufen, die heute auf den europäischen
Märkten nicht mehr feilgeboten wird. Ich könnte Ihnen viele Leute
nennen, die einstmals die Zierde Rußlands sein und ihm zu
unvergänglichem Heil gereichen werden. Aber zur Ehre Ihres Geschlechts
sei es gesagt, daß die Zahl solcher _Frauen_ größer ist als die der
Männer. Eine ganze Perlenschnur solcher Frauen halte ich in dem Fach
meines Gedächtnisses verschlossen. Sie alle, um mit Ihren Töchtern zu
beginnen, die es mir so lebendig zum Bewußtsein gebracht haben, wieviel
mächtiger die Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft
(Gott gebe, daß die beste Schwester die Bitte Ihres Bruders mit solcher
Bereitwilligkeit erfüllen möge, wie Sie jeden kleinsten Wunsch meiner
Seele erfüllt haben) -- Sie, Ihre Töchter, ferner alle die, von denen
Sie kaum etwas gehört haben, und endlich die, von denen Sie vielleicht
nie etwas hören werden, die aber noch weit vollkommener sind als die,
von denen Sie etwas gehört haben -- Sie alle gleichen einander kaum, und
jede von ihnen ist für sich genommen eine außergewöhnliche Erscheinung.
Nur Rußland allein konnte eine solche Mannigfaltigkeit von Charakteren
hervorbringen, und nur in unserer heutigen Zeit mit all ihren
schwierigen Verhältnissen, ihrer Entnervung, ihrer allgemeinen
Korruption und bei der allgemeinen Nichtigkeit und Armseligkeit unserer
Gesellschaft konnten sie erstehen. Sie alle aber werden überragt von
einer, die ich nicht persönlich kenne und nicht gesehen habe, und von
der nur ein dunkles Gerücht bis zu mir gedrungen ist. Ich habe nie
geglaubt, daß es auf der Erde etwas derart Vollkommenes geben kann. Eine
so kluge und großmütige Tat zu vollbringen und sie so zu vollbringen,
wie sie dies verstanden hat: es so einzurichten, daß nicht einmal der
Verdacht, sie könne an dieser Sache beteiligt sein, auf sie falle, und
das ganze Verdienst auf die andern abzuwälzen, so daß diese sich des von
jener vollbrachten Werks rühmen, als ob es ihr eigenes wäre, in der
festen Überzeugung, daß sie selbst es vollbracht haben, -- es sich so
klug im voraus zu überlegen, wie man dem entgehen könne, daß der Name
der Urheberin bekannt wird, während die Sache selbst notwendig laut von
sich künden und sie bekanntmachen mußte, und dies alles dennoch zu
vollbringen und unbekannt zu bleiben, nein, eine ähnliche hohe Weisheit
habe ich noch nie kennen gelernt, bei keinem von unsereinem, d. h. bei
keinem Mann, ja mir erschienen in diesem Augenblick alle idealen
Frauengestalten, die je von einem Dichter geschaffen wurden, als blaß
und matt; im Vergleich zu dieser Wirklichkeit erscheinen sie wie der
Fiebertraum der Phantasie gegenüber der vollen Klarheit des Verstandes.
Wie armselig erschienen mir in diesem Augenblick auch alle die Frauen,
die dem Glanz und Ruhm nachjagen. Und wo konnte ein solches Wunder
erstehen? In einem unscheinbaren Flecken, in einem Winkel Rußlands und
gerade zu einer Zeit, wo es für den Menschen besonders schwierig
geworden ist, sich durchzuwinden und durchzusetzen, wo sich alle unsere
Verhältnisse so verwirrt und so verwickelt haben und wo solche Schrecken
und Grauen in Rußland erstanden sind, die sie so sehr in Angst und
Unruhe versetzen.

                                                                 1846.




                                 XXVII
                     An einen kurzsichtigen Freund


Du hast dich mit dem kurzsichtigen Auge der heutigen Menschen bewaffnet
und glaubst nun, ein richtiges Urteil über die Ereignisse zu haben.
Deine Schlüsse sind morsch und hinfällig, deine Rechnung ist ohne Gott
gemacht. Was berufst du dich auf die Geschichte? Die Geschichte ist tot,
sie ist nur ein verschlossenes Buch für dich; ohne Gott in Rechnung zu
stellen, wirst du nie einen großen tiefen Sinn in ihr finden, sondern
nur armselige kleine und nichtige Ergebnisse. [Rußland ist nicht
Frankreich, das französische Element ist nicht das russische Element.]
Du hast es sogar vergessen, die Eigenart eines jeden Volkes in Betracht
zu ziehen, und glaubst nun, daß ein und dieselben Ereignisse die gleiche
Wirkung auf jedes Volk ausüben müssen. Der Hammer, der auf ein Stück
Glas herabfällt und es in Stücke schlägt, schmiedet das Eisen, auf das
er herniedersaust. Deine Gedanken [über die Finanzen] beruhen auf der
Lektüre ausländischer Bücher und englischer Zeitschriften und sind darum
tote Gedanken. Du solltest dich schämen, daß du, ein so kluger Mensch,
dich noch immer nicht selbst gefunden hast und es noch nicht gelernt
hast, mit deinem eigenen Verstande, der sich doch so frei und urwüchsig
entfalten könnte, zu denken, sondern daß du ihn mit allerhand
fremdländischem Plunder verstopft und verunreinigt hast. Ich sehe auch
nicht, daß du bei deinen Projekten mit Gott rechnest. Auch aus den
Worten deines Briefes kann ich trotz des Geistes und des blendenden
Witzes nicht erkennen, daß du an Gott gedacht hast, während du den Brief
schriebst. Ich vermisse die himmlische Erleuchtung und Weihe in deinen
Gedanken. Nein, du wirst [in deiner Stellung] nichts Gutes vollbringen,
obwohl du dies gerne möchtest, und deine Taten werden nicht die Früchte
tragen, die du von ihnen erwartest. Mit den schönsten Absichten kann man
Böses vollbringen, wie dies schon vielen passiert ist. In der letzten
Zeit haben nicht etwa die Dummen, sondern gerade die klugen Leute viel
Verwirrung angerichtet, und dies alles kam nur daher, weil sie ihren
Kräften und ihrem Verstande zu sehr vertrauten. Du bist stolz, aber
worauf bist du stolz? Wenn du noch stolz auf deinen Verstand wärest,
aber nein, du hast deinen wahrhaft bedeutenden und großen Verstand mit
allerhand Plunder verunreinigt und ihn zu einem Fremdling gemacht, der
dir selbst fremd ist. Du bist stolz auf einen fremden, toten Verstand
und gibst ihn für deinen eigenen aus. Gib acht auf dich; du gehst einen
gefährlichen Weg. Du hast den Ehrgeiz, ein Staatsmann zu werden, und du
wirst auch Staatsmann werden, weil du tatsächlich die Fähigkeiten dazu
besitzt. Aber um so strenger mußt du jetzt über dich wachen. Führe die
Neuerungen nicht ein, von denen dein Kopf schon ganz voll war [noch ehe
du deine Stellung angetreten hattest], und denke stets daran, daß man
heute durch eine unvorsichtige Handlung unendlich viel Böses anrichten
kann. Schon aus deinen gegenwärtigen Projekten spricht mehr
Ängstlichkeit als Vorsicht. Alle deine Gedanken sind darauf gerichtet,
in der Zukunft einer großen drohenden Gefahr zu entgehen. Statt dessen
solltest du lieber nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart
besorgt sein. Gott will es, daß wir für die Gegenwart sorgen sollen. Von
dem, dessen Seele durch die Angst um die Zukunft verdunkelt wird, hat
die heilige Kraft bereits ihre Hand abgezogen. Wer mit Gott im Bunde
ist, der schaut heiter in die Zukunft und ist schon in der Gegenwart der
Schöpfer einer glänzenden Zukunft. Du aber bist stolz: du willst auch
jetzt noch nichts sehen, du hast ein zu großes Selbstvertrauen: du
glaubst schon alles zu wissen, du meinst, daß alle Zustände und
Verhältnisse [in Rußland] dir bekannt sind. Du glaubst, daß es niemand
gibt, von dem du etwas lernen könntest. Du bist aus allen Kräften darum
bemüht, jenen (Staats)-Leuten ähnlich zu sein, die sich durch eine kurze
glänzende Laufbahn berühmt gemacht haben und ebenso schnell wieder
verschwanden, die alle Mittel dazu besaßen, um sehr viel Gutes zu
vollbringen, ja die sogar von dem glühenden Wunsche durchdrungen waren,
Gutes zu wirken, und sogar ihr ganzes Leben lang wie die Ameisen
arbeiteten und doch trotz alledem keine Spur von sich hinterlassen
haben, ja deren Namen bereits völlig vergessen ist: wie ein Ring auf dem
Wasser, so ist die Spur von ihrem Leben inmitten Rußlands verschwunden,
und noch immer weisen uns die Europäer zu unserer Beschämung auf ihre
großen Männer hin, obwohl manch einer von uns, der keineswegs ein großer
Mann ist, klüger ist als sie. Sie aber haben doch wenigstens etwas
_Dauerndes_ hinterlassen, wir aber schichten einen ganzen Haufen von
Taten übereinander auf -- die doch zugleich mit uns wie Staub vom
Angesicht der Erde hinweggeweht werden. »Du bist stolz,« sage ich dir,
und muß es dir immer wieder sagen: »du bist stolz.« Wache über dich und
rette dich noch rechtzeitig vor deinem Stolz. Beginne damit, daß du dich
zu allererst davon zu überzeugen suchst, daß du der dümmste von allen
bist und daß du von nun ab erst ernsthaft daran gehen mußt, klüger zu
werden. Höre jeden Mann der Tat so aufmerksam an, wie wenn du überhaupt
nichts wüßtest und alles von ihm lernen wolltest. Aber meine Worte sind
noch ein Rätsel für dich. Sie werden keinen Eindruck auf dich machen.
Dann wäre es nötig, daß dich irgendein Unglück trifft oder daß du von
einer schweren Erschütterung heimgesucht wirst. Bete zu Gott, er möge
dir diese Erschütterung senden, daß dir irgendeine unerträgliche
Unannehmlichkeit [im Dienste] zustoßen möge, daß sich ein Mensch finden
möge, der dich aufs tiefste beleidigt und in Gegenwart aller beschimpft,
so daß du nicht weißt, wo du dich vor Scham verstecken sollst und mit
einem Schlage die zartesten und empfindlichsten Saiten deiner Eitelkeit
entzweireißest. Er wird dir ein wahrhafter Bruder und Retter sein. O wie
sehr haben wir es nötig, einmal öffentlich und in Gegenwart aller eine
Ohrfeige zu empfangen.

                                                                 1844.




                                 XXVIII
                      An einen hochgestellten Mann


Nehmen Sie um Gottes willen jede Stellung an, die man Ihnen anbietet,
und lassen Sie sich nicht irre machen. Ob Sie nun in den Kaukasus zu den
Tscherkessen fahren, oder, auch weiterhin die Stellung eines
Generalgouverneurs bekleiden werden, Sie sind jetzt überall notwendig.
Was aber die Schwierigkeiten anbetrifft, von denen Sie reden, so ist
jetzt alles schwierig. Heute ist alles so kompliziert geworden, es gibt
überall so viel Arbeit. Je tiefer ich mit meinem Verstande in das Wesen
der gegenwärtigen Verhältnisse eindringe, um so weniger vermag ich zu
entscheiden, welches Amt, welcher Beruf heute der schwierigste und
welcher der leichteste ist. Für einen Menschen, der kein Christ ist, ist
heutzutage alles schwierig; für einen solchen dagegen, der Christus in
all seine Angelegenheiten und in alle Taten seines Lebens hineinträgt,
ist alles leicht. Ich will nicht sagen, daß Sie schon im vollen Sinne
des Wortes ein Christ sind, aber Sie sind doch nahe daran, es zu sein.
Sie werden nicht mehr von Ehrgeiz gestachelt. Weder die Aussicht auf
Titel, Ehren und Auszeichnungen treibt Sie vorwärts. Sie denken nicht
mehr daran, sich vor Europa auszuzeichnen und in Szene zu setzen und
eine historische Persönlichkeit aus sich zu machen. Kurz, Sie haben
bereits jene Stufe, jenen Seelenzustand erreicht, in dem sich ein Mensch
befinden muß, der heute Rußland von Nutzen sein will. Was also brauchen
Sie zu fürchten? Ich verstehe nicht einmal, wie ein Mensch sich vor
etwas fürchten kann, der bereits erkannt hat, daß man überall als Christ
handeln muß. Ein solcher Mann ist an jeder Stelle ein Weiser und ist in
allen Dingen sachkundig. Wenn Sie in den Kaukasus reisen -- so sehen Sie
sich dort zunächst einmal gründlich und aufmerksam um. Ihre christliche
Demut und Bescheidenheit wird Sie vor jeder Hastigkeit und Übereilung
bewahren. Sie werden vor allem lernen wie ein Schüler. Sie werden keinen
alten Offizier an sich vorüber gehen lassen, ohne ihn über seine
persönlichen Zusammenstöße mit dem Feinde ausgefragt zu haben, denn Sie
wissen, daß nur aus der Kenntnis der Einzelheiten die Kenntnis des
Ganzen gewonnen werden kann. Sie werden sich von jedem von ihnen ihre
Taten und Erlebnisse während des Kriegs- und Biwaklebens erzählen
lassen, Sie werden die Tsitsianower und die Jermolower ausfragen ebenso
wie die Offiziere der heutigen Epoche, und wenn Sie alle Daten, die Sie
brauchen, gesammelt, wenn Sie alle Details kennen gelernt haben werden,
werden Sie die einzelnen Ziffern und Posten zusammenfassen und die Summe
daraus ziehen. Aus dieser wird sich ganz von selbst ein Feldzugsplan für
den Feldherrn ergeben. Sie werden sich nicht erst den Kopf zu zerbrechen
brauchen, es wird Ihnen klar sein, wie der lichte Tag, wie Sie zu
handeln haben. Und wenn Sie den ganzen Plan in Ihrem Kopfe haben werden,
so werden Sie sich auch dann noch nicht übereilen. Ihre christliche
Demut wird Ihnen dies nicht erlauben. Sie werden ihn niemand mitteilen,
werden alle bedeutenden Offiziere um Rat fragen, wie sie an Ihrer Stelle
handeln würden, werden keine Meinung und keinen Rat gering achten, von
wem er auch kommen möge, selbst wenn er von einem Menschen in niedriger
Stellung herrührt, denn Sie wissen, daß Gott zuweilen auch einem
einfachen Manne einen klugen Gedanken eingeben kann. Zu diesem Zwecke
werden Sie jedoch keinen Kriegsrat einberufen, da Sie wissen, daß es ja
nicht auf Debatten und Streitereien ankommt, sondern Sie werden der
Meinung jedes einzelnen, der mit Ihnen reden will, Gehör schenken. Kurz,
Sie werden jeden anhören, dann aber so handeln, wie es Ihnen Ihr eigener
Verstand gebietet. Ihre eigene Vernunft aber wird Ihnen sicherlich klug
raten, denn Sie werden alle anhören. Sie werden nicht einmal imstande
sein, unvernünftig zu handeln, denn unvernünftige Handlungen entspringen
nur aus Hochmut und übermäßigem Selbstvertrauen, aber die christliche
Demut wird Sie überall retten und Sie vor Verblendung bewahren, der
sogar viele sehr kluge Menschen zum Opfer fallen, die, wenn sie nur eine
Hälfte einer Sache kennen gelernt haben, bereits glauben, die ganze
Sache zu kennen und voller Hast und Übereilung zur Tat drängen, während
doch selbst von einer Sache, die wir scheinbar von Grund aus zu kennen
glauben, uns die gute Hälfte unbekannt und verborgen sein kann. Nein,
Gott wird Sie vor dieser groben Verblendung bewahren. Weswegen also
brauchen Sie sich vor dem Kaukasus zu fürchten?

Oder nehmen wir an, Sie würden auch weiterhin irgendwo in Rußland
Generalgouverneur bleiben, so wird Sie auch hier die gleiche christliche
Weisheit erleuchten. Ich weiß sehr wohl, daß es jetzt äußerst schwierig
ist, in Rußland den Vorgesetzten zu spielen, -- weit schwieriger als
jemals und vielleicht auch schwieriger als im Kaukasus: es kommen soviel
Mißbräuche vor, die Durchstechereien und die Bestechlichkeit haben so
überhand genommen, daß ihre Beseitigung unsere menschliche Kraft
übersteigt. Ich weiß auch, daß heutzutage eine besondere Art
ungesetzlicher Geschäftspraxis unter Umgehung der Gesetze üblich
geworden ist und sich bereits beinahe gesetzliche Geltung verschafft
hat, so daß die Gesetze nur noch zum Scheine da sind, und wenn man sich
die Dinge, über die andere oberflächlich hinwegsehen, ohne etwas Böses
zu ahnen, bloß aufmerksam anschaut, so muß auch dem gescheitesten
Menschen der Kopf schwindeln. Aber Sie werden auch hier klug zu handeln
verstehen. Die christliche Demut und Bescheidenheit wird Sie auch in
solchen Fällen lehren, nicht den Schlüssen des stolzen Verstandes Folge
zu leisten, sondern sich geduldig umzusehen und auf Ihrer Hut zu sein.
Sie wissen, wie vielen fremden Einflüssen ein jeder Mensch heutzutage
ausgesetzt ist und wie sie alle auf seine Berufstätigkeit zurückwirken,
und daher werden Sie sich dafür interessieren, die Männer, die die
wichtigsten Ämter bekleiden, alle kennen zu lernen und zwar sie nach
allen Richtungen kennen zu lernen: in ihrem häuslichen und in ihrem
Familienleben, in ihrer Art, zu denken, in ihren Neigungen und ihren
Gewohnheiten. Zu diesem Zwecke werden Sie sich jedoch keiner Spitzel
bedienen. Nein, Sie werden sie selbst ausfragen, und sie werden Ihnen
alles sagen, und sich Ihnen offen mitteilen, denn in Ihrem Wesen liegt
etwas, was allen Vertrauen einflößt. Hierdurch werden Sie alles
erfahren, was ein Schreier oder ein sogenannter Polterer niemals
erfahren würde. Sie werden nie einen einzelnen wegen einer
ungesetzlichen Handlung verfolgen, ehe Ihnen nicht die ganze Kette vor
Augen liegt, innerhalb deren der von Ihnen ins Auge gefaßte Beamte nur
ein notwendiges Glied ist. Sie wissen bereits, daß sich die Schuld
heutzutage auf alle verteilt, daß man unmöglich gleich zu Anfang sagen
kann, wer mehr Schuld trägt als die andern: es gibt Schuldige, die
unschuldig und es gibt Schuldige, die schuldig sind. Aus diesem Grunde
werden Sie jetzt weit vorsichtiger und bedächtiger sein, als Sie es
jemals gewesen sind. Sie werden tiefer und genauer in die Seele des
Menschen hineinzublicken suchen, da Sie wissen, daß _sie_ der Schlüssel
zu allem ist. _Die Seele_ muß man heute kennen lernen, immer wieder die
Seele, denn ohne dies kann man nichts ausrichten. Die Seele aber kann
nur ein Mensch kennen lernen, der bereits begonnen hat, an seiner
eigenen Seele zu arbeiten, wie Sie dies jetzt tun. Wenn Sie in dem
Gauner nicht nur den Gauner, sondern zugleich den Menschen sehen, wenn
sie alle seine geistigen Kräfte und Fähigkeiten, die ihm dazu gegeben
wurden, um Gutes zu vollbringen und die er angewandt hat, um Übles zu
tun, oder überhaupt hat brachliegen lassen, erkennen werden, dann wird
es Ihnen gelingen, ihm so ins Gewissen zu reden und ihn gegen sich
selbst auszuspielen, daß er nicht wissen wird, wo er sich vor sich
selbst verbergen soll. Die Sache wird plötzlich eine ganz andere Wendung
nehmen, wenn man dem Menschen zeigen wird, worin er sich nicht gegen die
andern, sondern gegen sich selbst vergangen hat. Hierdurch kann man ihn
so sehr in seinem ganzen Wesen erschüttern, daß er plötzlich Mut und
Lust bekommen wird, ein anderer zu werden, und dann erst werden Sie
erkennen, wie dankbar die Natur eines Russen selbst noch im Gauner sein
kann. Ihre gegenwärtige Tätigkeit als Generalgouverneur wird etwas
gänzlich anderes darstellen als Ihre ehemalige Tätigkeit. Der
Hauptfehler in Ihrer ehemaligen Regierungstätigkeit (die indessen sehr
viel Nutzen gebracht hat, obwohl Sie sie jetzt verurteilen und lästern),
bestand meiner Ansicht nach gerade darin, daß Sie das Wesen Ihres Berufs
nicht ganz richtig bestimmt hatten. Sie hielten den Generalgouverneur
für den dauernden Vorgesetzten und den eigentlichen wirtschaftlichen
Verwalter und Regenten der Provinz, dessen wohltätiger Einfluß nur bei
einem längeren Aufenthalt an ein und demselben Orte der Provinz spürbar
werden kann. Einer unser Staatsmänner hat dieses Amt folgendermaßen
definiert: »Der Generalgouverneur ist der Minister des Innern, der sich
auf der Durchreise befindet.« Diese Definition ist genauer und
entspricht mehr dem, was die Regierung selbst von den Vertretern dieses
Amtes verlangt. Dieses Amt ist mehr ein provisorisches als ein
dauerndes. Der Generalgouverneur wird darum in die Provinz entsandt, um
den Pulsschlag des Staats innerhalb der Provinz zu beschleunigen, in den
Gouvernements den ganzen Regierungsapparat in schnellste Bewegung zu
setzen, und zwar sowohl in den Instanzen der Provinz, die miteinander in
Verbindung stehen, wie in denen, die unabhängig sind und unter der
Verwaltung der einzelnen Ministerien stehen; allen einen Anstoß zu
geben, durch seine unumschränkte Macht die schwierige Situation vieler
Instanzen in ihrem Verkehr mit den weit entfernten Ministerien zu
erleichtern, und ohne neue Prinzipien und ohne von sich selbst aus etwas
Eigenes einzuführen, alles innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die
bereits vorgeschrieben und ein für allemal gezogen sind, in eine
schnellere Bewegung zu bringen. Diese Gewalt, die in der höchsten
Kontrolle und Überwachung alles dessen besteht, was schon vorhanden und
bereits eingeführt ist, haben Sie mit der mühevollen Pflicht des
Regenten verwechselt, der sich selbst in dem ganzen Haushalt
zurechtfinden und mit ihm fertig werden muß und der alle kleinen
Ausgaben auf sich zu nehmen hat. Sie haben einen Teil davon, was zu den
Obliegenheiten des Gouverneurs und nicht zu denen des Generalgouverneurs
gehört, an sich gerissen, und haben damit die Bedeutung Ihres höchsten
Amtes verringert, Sie haben Ihre Stellung für eine lebenslängliche
gehalten. Sie wollten in Ihren eigenen Schöpfungen und Einrichtungen ein
Denkmal, ein Erinnerungszeichen an Ihren Aufenthalt hinterlassen. Ein
edles Streben. Aber wenn Sie schon damals das gewesen wären, was Sie
jetzt sind, d. h. wenn Sie mehr Christ gewesen wären, dann hätten Sie
für ein anderes Denkmal Sorge getragen. Wege, Brücken und allerhand
Verkehrsmittel zu schaffen und sie so klug anzulegen, wie Sie dies getan
haben, ist in der Tat eine notwendige Sache, aber manchen inneren Weg zu
ebnen, auf dem der Russe bei seinem Streben nach voller Entfaltung
seiner Kräfte bisher noch aufgehalten und daran gehindert wird, aus den
Landstraßen wie aus allen anderen Äußerlichkeiten der Bildung, um die
wir heute so eifrig bemüht sind, Nutzen zu ziehen, ist eine noch
notwendigere Sache. Wenn Puschkin sah, daß man sich nicht um das Wesen
einer Sache, sondern um etwas bemühte, was nur eine Folge der
eigentlichen, der Hauptsache war, pflegte er sich gewöhnlich des
russischen Sprichworts zu bedienen: »Wenn nur erst der Zuber da ist, an
den Schweinen wird es nicht fehlen.« Die Brücken, die Wege und all diese
Verkehrsmittel, das sind die Schweine und nichts anderes: wenn nur erst
Städte da sind, dann werden sie schon von selbst kommen. In Europa hat
man sich viel um sie bemüht und viel Sorgen um sie gemacht. Als jedoch
die Städte entstanden, entstanden auch die Verkehrswege von selbst:
Privatleute haben sie erbaut ohne jede Unterstützung der Regierung, und
jetzt haben sie sich in solch ungeheurem Maße vermehrt, daß man sich
schon ernstlich die Frage vorzulegen beginnt: Wozu brauchen wir nur so
schnelle Verkehrsmittel? Was hat die Menschheit durch all diese
Eisenbahnen und andere Bahnen gewonnen, was hat sie auf allen Gebieten
ihrer Kulturentwicklung gewonnen, und was hat es für einen Wert, daß
heute eine Stadt verarmt, und eine andere dafür zu einem Trödelmarkt
wird und daß die Zahl der Müßiggänger auf der ganzen Welt so zunimmt. In
Rußland wäre dieser ganze Plunder schon längst von selbst entstanden und
zwar mit all dem Zubehör von Bequemlichkeiten, wie sie selbst in Europa
nicht vorhanden sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich
gehört, um ihre inneren Angelegenheiten bekümmert hätten. »Denket zuerst
daran,« sagt der Heiland, »alles andere wird euch von selbst zufallen.«
Ihre Leistungen auf moralischem Gebiete waren viel bedeutender. Wen ich
auch gehört habe, alle urteilen mit großer Achtung über Ihre
Verfügungen, alle sagen, Sie hätten viele Mißbräuche ausgerottet und
sehr viel wahrhaft edle und vorzügliche Beamte angestellt. Ich habe
davon gehört, obwohl Sie es mir aus Bescheidenheit nicht mitgeteilt
haben. Aber Sie hätten noch mehr geleistet, wenn Sie damals in Betracht
gezogen hätten, daß Ihre Tätigkeit nur provisorischer Art ist und daß
Sie nicht nur dafür hätten sorgen sollen, daß alles gut steht, solange
Sie da sind, sondern vielmehr dafür, daß auch nach Ihrem Scheiden alles
in bester Ordnung sei. Sie hätten sich fortwährend vorstellen sollen,
daß Ihr Amt nach Ihnen von einem schwachen und unfähigen Nachfolger
besetzt werden wird, der die von Ihnen eingeführte Ordnung nicht nur
nicht aufrechterhalten, sondern Sie auch in Verfall kommen lassen wird,
und daher hätten Sie von vornherein daran denken müssen, etwas so
Starkes und Dauerndes zu schaffen und das Geschaffene so zu befestigen
und so stark zu verwurzeln, daß nach Ihnen schon niemand mehr imstande
wäre, umzustoßen, was Sie einmal in Gang gebracht haben. Sie hätten die
Axt an die Wurzel des Übels legen sollen und nicht an die Stämme und
Zweige, und Sie hätten dem allgemeinen Getriebe einen solchen Impuls
geben sollen, daß die Maschine nach Ihrem Fortgang von selbst arbeitet
und daß kein Aufseher es mehr nötig hätte, neben ihr zu stehen, um sie
zu beaufsichtigen, und hierdurch erst hätten Sie sich ein ewiges Denkmal
Ihrer Generalgouverneurschaft errichtet. Jetzt weiß ich, daß Sie ganz
anders handeln werden, aber darum dürfen Sie dieses Amt nicht gering
achten, wenn es Ihnen aufs neue angeboten wird. Noch niemals war ein
Generalgouverneur eine so wichtige und notwendige Persönlichkeit wie in
unserer Zeit. Ich will Ihnen einige Leistungen nennen, zu denen
heutzutage niemand fähig ist außer dem Generalgouverneur.

Die erste ist folgende: Alle Stände und Berufe in ihre gesetzlichen
Grenzen zurückzuführen und einem jeden Provinzbeamten die Pflichten, die
sein Beruf ihm auferlegt, zu vollem Bewußtsein zu bringen; das ist
keineswegs unnütz. In der letzten Zeit sind alle Berufe und Ämter der
Provinz in ganz unmerklicher Weise aus ihren Grenzen und Schranken
getreten, die ihnen vom Gesetze vorgeschrieben werden. Die Kompetenzen
der einen sind viel zu sehr beschnitten und begrenzt, andere wieder in
ihrer Bewegungsfreiheit auf Kosten der Übrigen allzusehr erweitert
worden. Die eigentlichen Hauptinstanzen haben durch die Schaffung einer
großen Zahl abhängiger und provisorischer Stellungen an Macht und Kraft
verloren. In der letzten Zeit hat es sich besonders fühlbar gemacht, daß
gerade dort, wo man hemmend eingreifen sollte, die Macht und die
Kompetenzen viel zu unbeschränkt waren und die Handlungsfreiheit zu groß
war, und andererseits machte sich wiederum der Umstand bemerkbar, daß
einem die Hände gebunden waren, wo man fördernd eingreifen mußte. Es ist
jetzt soviel schwieriger geworden, jeden Beruf in den ihm durch das
Gesetz angewiesenen Wirkungskreis zurückzuführen, weil die Beamten
selbst an ihren Begriffen von ihrem Beruf irre geworden sind. Sie
übernehmen ihn als Erbschaft von ihrem Vorgänger und zwar genau in der
Gestalt, die ihm von jenem gegeben worden ist. Sie nehmen mehr oder
weniger Rücksicht auf diese Form und Gestalt und nicht auf das
eigentliche Urbild, das ihnen schon völlig aus dem Bewußtsein
entschwunden ist. Aus diesem Grunde haben schon viele wohlmeinende und
sogar kluge Vorgesetzte die Ämter, die man bloß sich selbst
wiederzugeben brauchte, gänzlich aufgehoben oder doch von Grund aus
umgestaltet. Das aber kann nur von dem höchsten und souveränen
Vorgesetzten ausgehen, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst
gründlich über das Wesen eines jedes Berufes zu unterrichten. Alle
unsere Ämter und Berufe stellen in ihrer ursprünglichen Form wirklich
gute und schöne Einrichtungen dar und sind geradezu wie geschaffen für
unser Land. Sehen wir uns zu diesem Zwecke einmal den ganzen Organismus
eines Gouvernements etwas näher an.

Die erste Person ist der Gouverneur. Seine Kompetenzen sind sehr
umfangreich. Er ist der Vorgesetzte und der unumschränkte Regent und
Leiter von allem, was mit der wirtschaftlichen und polizeilichen
Verwaltung des ganzen Gouvernements, d. h. sowohl mit der städtischen
(hierunter verstehe ich alles, was sich auf die inneren Einrichtungen
der Städte und die Aufrechterhaltung der Ordnung in ihnen bezieht) als
auch mit der Verwaltung der Landschaften zusammenhängt, wozu ich alles
rechne, was in den Gegenden, die außerhalb des Stadtbildes liegen,
geschieht: die Erhebung der Steuern, die Verteilung der Lasten, die
Anlage von Straßen und allerhand Bauangelegenheiten und Reparaturen. Im
ersten Falle hängen der Polizeimeister der Provinz und die Bürgermeister
aller Städte völlig von ihm ab und stehen ihm gänzlich zur Verfügung; im
zweiten Falle kann er über den Hauptmann der Landpolizei
und die Assessoren der Landschaft verfügen, die durch die
Gouvernementsverwaltung, welche nach der Art der Kollegialverwaltungen
aus Räten zusammengesetzt ist und kein eigenes Bureau mit einem Sekretär
darstellt, mit ihm verkehren, so daß die Verantwortlichkeit bei jedem
schweren Mißbrauch, den sich der Gouverneur zuschulden kommen läßt,
unbedingt auf die Räte und die Beamten fällt und daß er trotz all seiner
unumschränkten Gewalt dennoch in gewissem Sinne beschränkt ist. Er ist
mehr als ein bloßes Mitglied der Verwaltung und ein Zeuge des
Geschäftsganges in den andern staatlichen Organen, die gar nicht von ihm
abhängen und unter ihren eigenen besonderen Ministerien stehen. Wenn
diese Instanzen irgendwelche Abmachungen treffen oder Verträge
schließen, die sich auf die Verpachtung oder den Rückkauf von
Staatsländereien, Seen oder überhaupt über irgendwelche Ein- oder
Verkäufe beziehen und irgendwelche Abkommen hierüber eingehen, so muß er
schon zugegen sein. Es darf kein staatlicher Auftrag vergeben und kein
Vertrag geschlossen werden, ohne daß _er_ anwesend ist. Demnach werden
auch die Instanzen, die hinsichtlich ihrer inneren Geschäftsführung gar
nicht von ihm abhängen, doch durch seine Anwesenheit daran gehindert,
irgendwelche Mißbräuche zu begehen.

Der ganze Apparat der Justiz, wie z. B alle Kreisgerichte und ihre
höchste Instanz, das Zivilgericht, scheint, da dieses völlig von seinem
Ministerium abhängig ist, ganz unabhängig vom Gouverneur zu sein, und
doch werden diese Instanzen auf Schritt und Tritt durch den Gouverneur
daran gehindert, Mißbräuche zu begehen, da dieser während seiner
Inspektionsreisen durch die Provinz, die mindestens zweimal im Jahre
stattfinden, das Recht hat, dem Gericht einen Besuch abzustatten und zu
verlangen, daß ihm zwei oder drei Gerichtsentscheidungen vorgelegt
werden, die er auf gut Glück herausgreifen kann, um sie bei sich zu
Hause mit seinem Sekretär nachzuprüfen und auf diese Weise alle in
Schrecken zu halten. Kurz, obwohl er keinerlei Oberhoheit über die
Instanzen hat, die von anderen Vorgesetzten abhängen, hat er doch das
Recht, überall Mißbräuche zu verhindern, wo solche immer vorkommen
mögen. Auf den Adel kann er lediglich einen moralischen Einfluß ausüben.
Im übrigen ist es so eingerichtet, daß er es in seinem amtlichen Verkehr
mit dem Adel, mit dem eigenen Vertreter des Adels, dem Adelsmarschall
der Provinz zu tun hat und sich lediglich durch diesen mit dem ganzen
Adel in Beziehung und ins Einvernehmen setzt; an diesem Punkte tritt die
Weisheit des Gesetzgebers mit besonderer Deutlichkeit zutage, denn auf
eine andere Weise wäre es dem Generalgouverneur gänzlich unmöglich, sich
mit dem Adel in Beziehung und ins Einvernehmen zu setzen, wenn man
nämlich die große Verschiedenheit in der Erziehung, in den Sitten, der
Denkweise und die ungeheure Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der
Charaktere in unserem Adelstande in Betracht zieht, wie sie in keinem
europäischen Adelsgeschlechte vorkommt und wie sie sich bei uns in
unserem Adel verkörpert hat. Der Rang des Adelsmarschalls ist dem des
Gouverneurs beinahe gleich, denn der Adelsmarschall hat nächst dem
Gouverneur Anspruch auf den ersten Platz in der Provinz; schon allein
dadurch werden beide auf die Notwendigkeit hingewiesen, gute
Freundschaft zu halten, da ihre gesellschaftlichen Beziehungen sonst
etwas Gezwungenes haben, und da sie sich in ihrem amtlichen Verhältnis
unfrei und beengt fühlen würden. Auch die Ämter des Polizeihauptmanns
und der Assessoren, die beide vom Adel gewählt werden, aber ganz von dem
Gouverneur abhängen, weisen darauf hin, wie notwendig es ist, daß beide
Teile sich gegenseitig unterstützen. Der Adelsmarschall kann auch in
solchen Fällen sehr viel ausrichten, wo seine eigene Macht beschränkt
ist, indem er sich auf den Gouverneur beruft und mit ihm droht; und
ebenso vermag der Gouverneur durch den Adelsmarschall weit erfolgreicher
und kraftvoller auf den Adel einzuwirken.

Fehler und Versehen können überall vorkommen, überall können sich
Unrecht, Lüge und Trug einschleichen; selbst der Gouverneur kann fehlen
und irren. Doch auch dieser Fall ist vorgesehen: dafür gibt es eine
besondere Persönlichkeit, die von niemand abhängt, und die allen, selbst
dem Gouverneur gegenüber ihre Unabhängigkeit wahren muß -- das ist der
Staatsanwalt, der das Auge des Gesetzes ist, ohne das kein Stück
Aktenpapier über die Grenzen der Provinz hinausgelangen kann. Keine
Angelegenheit kann vor einer Instanz des Gouvernements zur Verhandlung
kommen, ohne ihm vorgelegt zu werden. Es kann kein Beschluß gefaßt
werden, ohne daß er zuvor jede Seite mit dem Vermerk »Gelesen« versehen
hat. Er selbst aber hat niemand in der ganzen Provinz über sich; er hat
niemand Rechenschaft abzulegen außer dem Justizminister; nur mit diesem
steht er in unmittelbarem Verkehr, und er kann jederzeit gegen alles,
was in der Provinz unternommen wird, Beschwerde einlegen.

Mit einem Wort, es fehlt nirgends an etwas, und aus allem spricht die
Weisheit des Gesetzgebers; aus der Einsetzung der einzelnen staatlichen
Autoritäten sowohl wie aus der Art ihres Verkehrs miteinander. Ich rede
nicht einmal von den Institutionen, die auf einen noch größeren
Weitblick der Regierung schließen lassen; ich will nur an das
Gewissensgericht erinnern, denn etwas Ähnliches ist mir in keinem
anderen Staate bekannt geworden. Meiner Überzeugung nach ist das der
Gipfel der Menschenliebe und der Herzenskenntnis. Alle Fälle, in denen
ein Konflikt mit dem Gesetz als eine Last und als Härte empfunden werden
würde, alle Angelegenheiten, an denen Jugendliche oder Geisteskranke
beteiligt sind, alles, worüber nur das menschliche Gewissen zu
entscheiden vermag, und jene Fälle, wo selbst die Anwendung des
gerichtlichen Gesetzes zur Ungerechtigkeit würde; kurz alles, was im
höchsten Sinne des Christentums in liebevoller und friedlicher Weise und
unter Vermeidung aller Weiterungen vor höheren Instanzen entschieden und
erledigt werden muß -- fällt unter die Kompetenzen dieses Gerichts. Wie
weise ist doch die Einrichtung, daß die Wahl des »Gewissensrichters« vom
Adel abhängt, denn der Adel wählt hierzu gewöhnlich einen Mann, den die
allgemeine Stimme für den menschenfreundlichsten und uneigennützigsten
Menschen erklärt. Wie gut ist es ferner, daß er keinerlei Gehalt oder
Lohn für seine Mühe erhält, und daß diese Tätigkeit für den Menschen mit
keinerlei weltlichen Lockungen verbunden ist! Eine Zeitlang war ich von
dem lebhaften Wunsch beseelt, dieses Amt zu übernehmen. Wieviel
verwickelte Streitfälle kann man da schlichten! Die Parteien werden ihre
Streitigkeiten ohne Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil dem
Gewissensgericht unterbreiten, so wie es bekannt wird, daß der Richter
tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet und daß er sich
durch die Verwaltung seines göttlichen Richteramts berühmt gemacht hat.
Denn wer von uns sehnt sich nicht nach Frieden und Versöhnung?

Kurz, je genaueren Einblick man in den Verwaltungsorganismus unserer
Provinzen gewinnt, um so mehr staunt man über die Weisheit der
Gesetzgeber: man hat das Gefühl, Gott selbst habe die Herrscher und
Regenten mit unsichtbarer Hand geleitet und gelenkt. Hier fehlt es an
nichts, ist alles vollendet, alles ist so darauf angelegt, daß wir uns
gegenseitig die Hand reichen, uns zu guten Handlungen anfeuern und uns
gegenseitig helfen und fördern, nur die Wege zu Mißbräuchen sollen uns
verbaut werden. Ich kann mir nicht einmal denken, was ein besonderer
Beamter hier noch sollte, jede neue Person wäre hier nicht am Platze,
jede Neuerung wäre eine überflüssige Zutat. Und doch haben sich, wie Sie
ja selbst wissen, in den Provinzen Regierungsbeamte gefunden, die es
verstanden, diesen ganzen Mechanismus noch durch eine Schar von Beamten
mit besonderen Aufträgen und eine lange Reihe von provisorischen
Kommissionen und Untersuchungskommissionen zu belasten, die die
Funktionen jeder Instanz noch weiter geteilt und zerlegt und den Beamten
so den Kopf verwirrt haben, daß sie jeden Begriff von den genauen
Grenzen ihres Berufs verloren. Es ist sehr gut, daß Sie es nicht auch so
gemacht haben, Sie verstanden die Sache nämlich schon damals viel
besser, als die andern. Sie wissen zu gut: einen neuen Beamten
anstellen, der einem andern auf die Finger sehen soll, damit er nicht
soviel stiehlt, das bedeutet soviel, wie _zwei_ Diebe statt eines
schaffen. Überhaupt ist dies System der gegenseitigen Beschränkung und
Überwachung eine höchst kleinliche Methode. Man kann die Wirkungssphäre
eines Menschen nicht durch die eines anderen beschränken, schon im
folgenden Jahre wird sich die Notwendigkeit herausstellen, auch den
unter Aufsicht und Kontrolle zu stellen, den man angestellt hat, um die
Macht des ersten zu beschränken, und so würden die gegenseitigen
Einschränkungen kein Ende nehmen. Das ist ein trauriges und törichtes
System; gleich allen andern negativen Systemen konnte es sich nur in
Kolonialstaaten herausbilden, die sich aus allerhand zusammengelaufenen
Völkern zusammensetzten, kein nationales Ganzes bildeten und von keinem
gemeinsamen Volksgeist beseelt wurden, bei solchen Völkern gibt es weder
so etwas wie Selbstaufopferung noch vornehme Gesinnung, solche Nationen
lassen sich nur von ihrem persönlichen Eigennutz leiten. Man muß
Zutrauen zum Adel menschlicher Gesinnung haben, sonst kann es überhaupt
keinen Adel der Gesinnung geben. Wer da weiß, daß man ihn mit Mißtrauen
ansieht, wie einen Gauner, und ihm überall Aufseher zugesellt, die ihn
überwachen sollen, der läßt unwillkürlich die Hände sinken. Man muß den
Menschen die Hände lösen und sie nicht noch fester binden. Man muß
darauf dringen, daß sich jeder allein beherrschen lernt, damit er nicht
von andern festgehalten zu werden braucht; er muß weit strenger gegen
sich sein, als das Gesetz, und selbst einsehen lernen, worin er sich an
seinem Amte versündigt. Kurz, man muß ihm einen Begriff von dem Wesen
seiner höheren Aufgabe beibringen. Das aber vermag allein der
Generalgouverneur, wenn er es nicht verschmäht, sich selbst über das
wahre Wesen jedes Amts und Berufs zu unterrichten, sich an die Stelle
jedes Beamten zu versetzen, den er zum vollen Verständnis seiner
Pflichten erziehen möchte, und in Gedanken mit ihm zusammen den Dienst
zu verrichten. Hierdurch wird Ihr ganzer Verkehr mit den Beamten einen
persönlichen Charakter annehmen; Sie werden dazu keiner Sekretäre und
keiner Schreibereien auf totem Aktenpapier bedürfen; infolgedessen
werden Sie nur ein kleines eigenes Bureau haben, das keine Ähnlichkeit
mit jenen ungeheueren riesenhaften Kanzleien haben wird, wie sie sich
andere Regierungsbeamte einrichten. Diese ungeheueren Bureaus aber sind,
wie Sie selbst wissen, ein großer Schaden, denn sie tragen dazu bei,
allen Beamten ihre eigentliche Arbeit abzunehmen, eine neue Instanz und
folglich neue Schwierigkeiten zu schaffen, ja sie sind der Anlaß,
daß ganz unmerklich neue Persönlichkeiten mit wichtigen
Machtvollkommenheiten auftauchen, z. B. irgendein gewöhnlicher Sekretär,
den häufig niemand bemerkt und durch dessen Hände dennoch alle Akten
gehen; ein solcher Sekretär schafft sich eine Geliebte an, dies führt zu
Intrigen und Streitigkeiten, und bald ist der Teufel in eigener Person
da, der doch jederzeit auf der Lauer liegt. Das Ende vom Liede aber ist
dies: daß abgesehen von der Heraufbeschwörung neuer Verwirrungen und
Verwickelungen noch unübersehbare Summen von Staatsgeldern verschlungen
werden. Gott bewahre Sie davor, sich ein Bureau einzurichten. Setzen Sie
sich nie anders als persönlich mit jemand auseinander. Wie kann man bloß
gering von einem Gespräch mit einem Menschen denken, besonders wenn es
sich dabei um etwas, was ihm nahe liegt, um seinen Beruf und seine
Pflichten, und folglich um seine Seele selbst handelt? Wie kann man nur
ein törichtes Zeitungsgeschwätz und totes Gerede über allerhand
Schwindelnachrichten, wie sie aus den verlogenen europäischen
Zeitschriften geschöpft werden, einem solchen Gespräch vorziehen? Die
Pflicht der Menschen ist ein Gegenstand, über den man sich so
unterhalten kann, daß es beiden Teilnehmern so scheint, als sprächen sie
in Gottes eigener Gegenwart mit den Engeln. Nun denn, so reden auch Sie
auf diese Weise mit Ihren Untergebenen, d. h. reden Sie so mit ihnen,
daß ihre Seele Nahrung und Belehrung aus dem Gespräch schöpft! Vor allem
aber -- und dies dürfen Sie nie vergessen -- sprechen Sie russisch mit
ihnen. Damit meine ich nicht jene Sprache, der wir uns jetzt in der
Praxis des täglichen Lebens bedienen und die hierbei der Verhunzung
verfällt, auch nicht die Büchersprache oder die Sprache, die sich zu
einer Zeit herausgebildet hat, als bei uns noch allerhand Mißbräuche an
der Tagesordnung waren, sondern jene echte wahrhafte russische Sprache,
deren unsichtbare Schwingungen das ganze russische Land durchdringen,
trotz unserer Ausländerei in unserem eigenen Lande, jene Sprache, die
zwar noch nicht mitbeteiligt ist an dem Werke unseres Lebens und die wir
doch alle als die wahre russische Sprache empfinden. In dieser Sprache
heißt der Vorgesetzte: _Vater_. Seien auch Sie ihnen das, was ein Vater
seinen Kindern ist. Ein Vater aber führt keine papierene Korrespondenz
mit seinen Kindern, sondern verständigt sich direkt und unmittelbar mit
einem jeden von ihnen. Wenn Sie es so machen werden, werden Sie jedem
das echte Verständnis für seinen Beruf mitteilen und eine wahrhaft große
Leistung vollbringen.

Und nun will ich Ihnen noch eine Aufgabe nennen, die niemand lösen kann,
außer einem Generalgouverneur, und die heute nicht bloß einem Bedürfnis,
sondern geradezu einer dringenden Notwendigkeit entspricht; es ist dies
die Aufgabe, dem Adel eine richtige Auffassung von seiner Bestimmung
beizubringen. Der Adel in seinem wahrhaft russischen Wesenskern ist
etwas sehr Schönes, trotz der fremdländischen Schale, von der er
zeitweilig überwachsen ist. Aber unser Adel hat noch kein Gefühl dafür.
Vielen dämmert zwar schon eine dunkle Ahnung davon auf, andre jedoch
wissen noch immer nicht das Geringste davon, wiederum andere nehmen sich
den Adelsstand fremder Länder zum Vorbild, und schließlich gibt es noch
solche, die sich nicht einmal die Frage stellen, ob es überhaupt einen
Adel auf der Welt zu geben brauchte? Aber selbst wenn sich unter ihnen
einige Leute befinden, die ein Paar vernünftige und klare Gedanken über
diese Frage haben, so dringen diese Gedanken doch noch nicht in die
Massen, und die Masse hört sie noch nicht. In der letzten Zeit hat sich
in unserem Adelsstande zu alledem wieder ein Geist des Mißtrauens gegen
die Regierung verbreitet. Während der letzten europäischen Revolutionen
und Wirren aller Art waren einige Bösewichte besonders bemüht, in den
Kreisen unseres Adels das Gerücht zu verbreiten, als suche die Regierung
die Bedeutung des Adels herabzusetzen und ihn bis zur völligen
Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Allerhand Flüchtlinge, Emigranten
und Leute, die es nicht gut mit Rußland meinten, schrieben allerlei
Aufsätze und füllten die Spalten der ausländischen Zeitungen mit ihnen
an, in der Absicht, Feindschaft zwischen der Regierung und dem Adel zu
säen: einerseits wollte man dem russischen Kaiser beweisen, daß es eine
phantastische Partei von Bojaren gäbe, die an der regierenden Gewalt
selbst rüttelten, und andererseits wollte man dem Adel einreden, daß der
Kaiser ihm nicht wohlwolle und diesen Stand überhaupt nicht schätze, das
heißt, diese Leute wollten eine solche Suppe in Rußland einbrocken und
solche Wirren hervorrufen, die ihnen Gelegenheit geben sollten, selbst
eine Rolle zu spielen. Man spekulierte darauf, daß Furcht und
gegenseitiges Mißtrauen etwas Schreckliches sind und allmählig selbst
die heiligsten Bande zu zerreißen vermögen. Aber Gott sei Dank, die
Zeiten sind vorüber, wo ein paar verrückte Menschen einen ganzen Staat
in Aufruhr bringen konnten. Dieser Versuch blieb nichts als ein
phantastisches Projekt; dennoch aber haben die Funken des gegenseitigen
Mißtrauens und Mißverstehens gezündet, und ich kenne viele Adelige, die
ganz ernstlich davon überzeugt sind, daß der Kaiser den Adelstand nicht
liebt, und die sogar tief betrübt darüber sind. Bringen Sie diese Sache
ins reine und klären Sie diese Leute über die ganze Wahrheit auf, ohne
ihnen das Geringste vorzuenthalten. Sagen Sie ihnen, daß der Kaiser
diesen Stand mehr liebt als alle anderen Stände, aber freilich nur den
Adel in seinem echt russischen Wesen, nur jene schöne edle Form und
Gestalt des Adels, die dem eigentlichen Geiste unseres Landes
entspricht. Es kann ja auch gar nicht anders sein. Sollte er etwa die
Zierde, die Blüte seines Landes nicht lieben? Denn bei uns ist der Adel
die Blüte des eigenen Volkes und nicht ein fremdes eingewandertes
Element. Allein der Adel muß selbst zeigen, was er ist, und die
Bedeutung seines Berufs beweisen, denn so wie er jetzt ist, bei diesem
völligen Mangel eines einheitlichen gemeinsamen Besitzes, bei dieser
Verschiedenartigkeit der Anschauungen, der Erziehung, der Lebensweise
und der Gewohnheiten, bei dieser falschen und verworrenen Ansicht über
sich selbst kann der Adel niemand eine wirkliche, wahrhafte Vorstellung
davon mitteilen, was der Adel in unserem Lande eigentlich darstellt.
Daher kann auch der weiseste Mann heute nicht wissen, was er mit diesen
Leuten anfangen soll. Der Adel muß sich selbst seine wahre und volle
Bedeutung wieder erobern. Und dabei können Sie allen in wahrem Sinne
behilflich sein, denn Sie sind doch selbst ein russischer Edelmann, und
da Sie Verständnis für die Bedeutung unseres Adels besitzen, werden Sie
sie auch den Leuten am besten klarmachen können. Dazu bedarf es nicht
etwa vieler Worte, denn das, was Sie ihnen erklären werden, liegt ja
schon im Keim angelegt in ihrer Brust. Unser Adel ist in der Tat eine
ganz ungewöhnliche Erscheinung. Dieser Stand hat sich bei uns ganz
anders herausgebildet als in anderen Ländern. Er führt seinen Ursprung
nicht etwa auf eine gewaltsame Invasion eines fremden Stammes zurück, er
ist nicht aus Vasallen und ihrem Heeresgefolge hervorgegangen, die sich
in beständiger Auflehnung gegen die höchste Gewalt befinden und die
Bedrücker der unteren Klassen sind; unser Adel leitet seinen Ursprung
von Diensten her, die er dem Kaiser und dem ganzen Lande geleistet hat,
von Leistungen, die auf sittlichen Vorzügen und Verdiensten und nicht
auf roher Gewalt beruhten. Unser Adel kennt den Stolz auf irgendwelche
Vorzüge und Privilegien seines Standes nicht, wie man ihn wohl in
anderen Ländern findet, der Hochmut der deutschen Aristokraten ist ihm
fremd; bei uns prahlt niemand mit seinem Geschlecht oder mit dem alten
Ursprung seiner Familie, obwohl unsere Aristokratie die älteste ist --
dies tun höchstens ein paar Anglophile, die diese Gewohnheit während
ihrer Reisen in England angenommen haben; es mag wohl hin und wieder
einmal vorkommen, daß sich jemand seiner Ahnen rühmt, doch auch dann nur
solcher, die ihrem Kaiser und ihrem Land wirkliche treue Dienste
geleistet haben, dagegen soll er es nur versuchen, mit einem Ahnherrn zu
prahlen, der ein schlechter Kerl war, seine eigenen Standesgenossen
würden sofort ein Epigramm gegen ihn loslassen. Es gibt nur eine Sache,
der sich ein jeder zu rühmen wagt, -- das ist das Gefühl für sittlichen
Anstand, das ihm Gott selbst in die Brust gelegt hat. Und wenn es darauf
ankommt, diese höchste innere Vornehmheit durch die Tat zu beweisen, so
bleibt bei uns kein einziger hinter dem andern zurück, selbst wenn es
der schlechteste von ihnen allen ist und wenn er ganz tief in Schmutz
und Asche drinsteckt. Der Adel ist bei uns etwas wie ein Gefäß für
diesen sittlichen Anstand, der sich über das ganze russische Land
verbreiten muß, damit alle anderen Stände einen Begriff davon erhalten,
warum der höchste Stand die Blüte des Volkes genannt wird. Wenn Sie
ihnen annähernd das sagen werden, was ich Ihnen hier sage, und was die
lauterste Wahrheit ist, und wenn Sie sie auf den Wirkungskreis hinweisen
werden, der sich jetzt vor ihnen allen auftut: auf den Wirkungskreis, in
dem sie ihren Namen verewigen und ihm ein dauerndes Leben in der
Nachwelt sichern können, wenn Sie es ihnen völlig klarmachen werden, daß
das ganze russische Land um Hilfe schreit und daß man dem Lande nur
durch große, hochherzige Taten helfen kann, daß man aber vor allem denen
mit großen Taten vorangehen soll, denen Adel und Vornehmheit schon bei
der Geburt geschenkt wurden, so werden Sie sehen, daß ihre Herzen mit
dem Ihren zusammenklingen werden, wie zwei Becher bei einem Festmahl.
Verheimlichen Sie ihnen nichts, sondern eröffnen Sie ihnen die volle
Wahrheit. Sollen sie etwa dieselben Dinge aus lügenhaften Berichten
ausländischer Zeitungen erfahren und soll man etwa allerhand Brauseköpfe
ihnen den Kopf verwirren lassen? Decken Sie ihnen die ganze Wahrheit
auf. Sagen Sie ihnen, daß Rußland wirklich unter den räuberischen
Praktiken und unter den Betrügereien zu leiden hat, die heute mit einer
Dreistigkeit ihr Haupt erheben, wie noch nie zuvor, und daß dem Kaiser
das Herz so weh tut, wie niemand von ihnen es ahnt oder glaubt und auch
nur ahnen kann. Ja und könnte es denn anders sein beim Anblick dieses
Knäuels neuer Verworrenheiten und Verwickelungen, die sich zwischen den
Menschen aufgetürmt, sie voneinander getrennt und jedermann die
Möglichkeit geraubt haben, Gutes und wahrhaft Nützliches für sein
Vaterland zu leisten, angesichts endlich dieser allgemeinen
Verfinsterung und Entfremdung gegenüber dem Geist des Vaterlandes,
angesichts endlich all dieser Erpresser und Gauner, dieser käuflichen
Rechtsverdreher und Räuber, die wie die Raben von allen Seiten
herbeigeflogen kommen, um uns bei lebendigem Leibe zu fressen und im
Trüben nach ihrem elenden Vorteil zu fischen. Wenn Sie ihnen das sagen
und ihnen sodann beweisen werden, daß Sie jetzt vor der großen Aufgabe
stehen, dem Kaiser einen wahrhaft edlen und hohen Dienst zu leisten:
nämlich ebenso hochherzig wie ihre Väter einstmals in Reih und Glied
wider die Feinde des Landes traten, nunmehr in die unscheinbarsten
Posten und Stellungen einzurücken, selbst wenn diese von elenden
Pöbelmenschen entehrt und in den Kot gezerrt sein sollten, so werden Sie
sehen, wie unser Adel sich aufraffen wird. Man wird sich kaum retten
können von all den Leuten, die den Wunsch haben, sich dem Staatsdienst
zu widmen und die allerunbedeutendsten Stellungen einzunehmen. Und nach
geleisteten Diensten werden sie keinen Lohn, keine Auszeichnungen, ja
nicht einmal irgendwelche Vorrechte und Privilegien für sich verlangen,
zufrieden, daß sie ihre hohen inneren Vorzüge ans Licht stellen konnten.
Kurz -- machen Sie ihnen bloß die Hoheit ihrer Bestimmung klar, und Sie
werden sich von der Vornehmheit ihres Wesens überzeugen. Sie können sie
auch auf eine zweite große Aufgabe hinweisen, der sie sich widmen
können: auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Bauern; sie sollen
Menschen aus ihnen machen, die ganz Europa zum Vorbild ihres Standes
werden, denn heute fangen manche Leute in Europa ernsthaft an, über die
alte patriarchalische Lebensordnung nachzudenken, deren Fundamente
überall, außer in Rußland, verschwunden sind, und man beginnt schon laut
über die Vorzüge unseres ländlichen Lebens zu reden, nachdem man die
Ohnmacht und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und Einrichtungen,
sich aus eigener Kraft zu verbessern und zu reformieren, erkannt hat.
Daher müssen wir den Adel dazu bewegen, das wahrhaft russische
Verhältnis zwischen Gutsbesitzer und Bauer zu erforschen, nicht aber den
verlogenen unwahren Zustand, wie er sich infolge ihrer schmählichen
Gleichgültigkeit gegen ihre eigenen Güter, die sie der Obhut fremder
Tagelöhner und Verwalter überließen, herausgebildet hat, -- wirklich und
wahrhaftig für die Bauern zu sorgen, wie für ihre eigenen
Blutsverwandten und nicht wie für fremde Leute; ja Sie sollten sie
lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater seine Kinder. Hierdurch
allein können sie diesen Stand dazu machen, was er wirklich sein soll,
diesen Stand, der bei uns wie mit Vorbedacht weder den Namen der Freien
noch der Sklaven, sondern den Namen Krestjane (Bauern), nach dem eigenen
Namen Christi trägt. Dies alles kann der Generalgouverneur dem Adel sehr
gut klarmachen, wenn er nur zur rechten Zeit daran denkt, sich's
überlegt und selbst zum vollen Verständnis der Bedeutung unseres Adels
gelangt. Und dies wird die zweite unter Ihren großen Leistungen sein.

Und nun zur dritten Leistung, die gleichfalls niemand außer dem
Generalgouverneur zu vollbringen vermag. Alle europäischen Staaten haben
heute unter der Kompliziertheit aller Gesetze und Verordnungen zu
leiden. Überall macht sich eine eigentümliche Erscheinung bemerkbar: die
eigentlichen bürgerlichen Gesetze sind über ihre Grenzen und Schranken
hinausgewachsen und sind in fremde Gebiete eingedrungen, die außer ihrem
Bereich liegen. Einerseits haben sie einen Einbruch in ein Gebiet
vollzogen, das lange Zeit unter der Herrschaft der Volkssitten stand,
andererseits aber sind sie in ein Bereich eingedrungen, das ewig unter
dem Zepter der Kirche verbleiben muß. Dieser Prozeß hat sich nicht etwa
gewaltsam vollzogen, dieser Austritt der bürgerlichen Gesetze aus ihrem
Bett geschah ganz von selbst, da sich überall leere unausgefüllte Lücken
darboten, die einem solchen Einbruch keinen Widerstand bereiteten. Die
Mode unterwühlte die alten Sitten, die Geistlichkeit wandte sich immer
mehr von dem geraden einfachen Leben in Christo ab und überließ so alle
privaten Verhältnisse der Menschen und das Privatleben ihrem Schicksal.
Die bürgerlichen Gesetze nahmen beide, wie verlassene Waisen unter ihre
Obhut, und gerade dies war der Grund, weswegen die Gesetze so verwickelt
wurden. Denn an und für sich sind sie gar nicht sehr zahlreich und
weitläufig, und wenn wir wieder dazu zurückkehren, was von Rechts wegen
der Herrschaft der Sitte untersteht und ein ewiges Besitztum der Kirche
ist, wird das ganze bürgerliche Gesetz in einem Buche Platz finden
können, das nur lediglich die großen Abweichungen von der sozialen
Ordnung und die eigentlichen staatlichen Verhältnisse enthält. Heute
sieht jedermann, daß eine große Menge von Fällen, von Mißbräuchen und
Intrigen nur dadurch entstehen konnte, daß die philosophisch gebildeten
Gesetzgeber Europas von vornherein sämtliche möglichen Abweichungen bis
in ihre feinsten Einzelheiten feststellen wollten und damit jedermann,
selbst den besten und vornehmsten Leuten, einen Weg zu unendlichen und
ganz unberechtigten Prozessen ebneten; früher hätten diese Leute es für
unanständig gehalten, einen solchen Prozeß zu beginnen, heute dagegen
wagen sie es dreist, da sie aus irgendeinem Paragraphen, oder einer
Verfügung die Möglichkeit oder die Hoffnung herauslesen, ein einstmals
verlorenes Gut wieder zu erlangen oder auch nur einem andern sein
Besitzrecht streitig zu machen. Und nun geht so ein Mensch gleich aufs
Ganze, wie ein Held sich zum Sturm rüstet, und nimmt überhaupt keine
Rücksicht auf seinen Gegner; mag dieser dabei auch sein letztes Hemd
verlieren oder mit seiner ganzen Familie betteln gehn. Ein leidlich
menschenfreundlicher Mensch ist heute fähig, ganz offen die größten
Grausamkeiten zu begehen, ja er rühmt sich ihrer noch, während er sich
schon des bloßen Gedankens schämen würde, wenn ein Diener der Kirche
beide Parteien, statt ihnen ihren persönlichen Vorteil vorzuhalten, vor
das Angesicht Christi stellen wollte und wenn es Sitte würde, daß, wie
es in der Tat die Regel sein sollte, in allen verwickelten, dunklen,
kasuistischen Fragen, kurz in allen Fällen, wo die Weiterungen vor den
Instanzen drohen, die _Kirche_ und nicht das bürgerliche Gesetz die
Menschen miteinander zur Versöhnung bringt. Es ist nur die Frage: wie
ist das zu bewerkstelligen? Wie soll man es einrichten, daß dem
bürgerlichen Rechte tatsächlich nur die Fälle zugewiesen werden, die
wirklich unter das bürgerliche Recht fallen, daß der Herrschaft der
Sitte wiedergegeben werde, was unter der Herrschaft der Sitte verbleiben
muß, und daß der Kirche wieder zurückerstattet werde, was ihr ewiglich
angehört? Kurz, wie soll alles wieder an seinen rechten Platz gebracht
werden? In Europa ist es unmöglich, solches zu vollbringen: Dazu müßten
Ströme von Blut vergossen werden, Europa würde in unnützen Kämpfen
erliegen und doch nichts erreichen. In Rußland aber ist die Möglichkeit
hierzu vorhanden: in Rußland könnte es sich ganz unmerklich und
schmerzlos vollziehen -- nicht durch irgendwelche Neuerungen,
Umwälzungen oder Reformen, ja nicht einmal mit Hilfe von allerhand
Sitzungen oder durch Bildung von Komitees, nicht durch Debatten,
Zeitungsgerede und Zeitungsgeschwätz, in Rußland kann ein jeder
Generalgouverneur eines Gebietes, das seiner Obhut anvertraut ist, den
Grund dazu legen; und wie einfach! -- Durch nichts andres als nur durch
sein eignes Leben. Durch die patriotische Schlichtheit seiner
Lebensweise und die einfache Art seines Umgangs mit allen Leuten kann er
die Herrschaft der Mode mit ihrer leeren, hohlen Etikette beseitigen und
die russischen Sitten befestigen, die wirklich gut sind und mit Nutzen
auf unser gegenwärtiges Leben angewandt werden können. Er kann eine
mächtige Wirkung in der Richtung ausüben, daß die Beziehungen zwischen
den Stadtbewohnern untereinander wie die der Gutsbesitzer unter sich
schlichter und einfacher werden, denn die Beseitigung dieser
komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie heute bestehen,
muß unbedingt auch die Streitigkeiten und die Unzufriedenheit
beseitigen, die sich wie ein Wirbelwind zwischen den Bewohnern der
Städte erhoben haben. Und ebenso wie zur Einführung und Befestigung der
Sitten kann der Generalgouverneur dazu beitragen, daß die Kirche heute
ihre rechtmäßige Stellung im Leben des Russenvolkes wiedergewinnt: er
kann dies erstlich durch sein eigenes Beispiel, durch sein Leben, und
zweitens auch durch bestimmte Maßnahmen erreichen -- aber nicht etwa
durch erzwungene und gewaltsame Maßregeln, sondern durch solche, die
weit wirksamer sind als jede Gewalt. Hierüber wollen wir später einmal
miteinander reden, wenn Sie wirklich eine Stellung angenommen haben
werden; bis dahin aber will ich Ihnen nur dies sagen: wenn schon die
einfache Sitte mächtiger ist als jedes geschriebene Gesetz -- und was
ist denn übrigens die Sitte, wenn man sie ganz streng betrachtet?
Mitunter hat sie überhaupt keine Bedeutung für unsere Zeit, man kennt
den Grund nicht, weswegen sie eingeführt wurde, man weiß nicht, woher
sie stammt, und fühlt und merkt nichts von einer Autorität, die sie
eingesetzt hätte; mitunter aber ist sie sogar ein Überbleibsel aus den
Zeiten des Heidentums, das im absoluten Gegensatz zum Christentum und zu
allen Grundlagen des modernen Lebens steht -- wenn nun nach alledem
schon die Sitte etwas so Mächtiges ist, daß es schwierig ist, sie selbst
im Laufe von vielen Jahren auszurotten -- wie würden sich wohl die Dinge
gestalten, wenn man Sitten einführen wollte, die sich auf die Vernunft
gründen, die einstimmig und einmütig von allen anerkannt werden und die
höhere Billigung und den Segen Christi und Seiner Kirche erhalten
würden? Eine solche Sitte würde sich von Jahrhundert zu Jahrhundert
fortpflanzen, und keine Macht der Erde würde sie vernichten können, was
die Welt auch für Erschütterungen heimsuchen sollten. Aber das ist ein
gewaltiger Gegenstand, über ihn muß man vernünftig reden, und dazu bin
ich zu dumm. Vielleicht werde ich später einmal, wenn Gott mir hilft und
mich erleuchtet, etwas darüber zu sagen haben. An Arbeit wird es Ihnen
also nicht fehlen. Darin also suchen Sie stark zu werden; greifen Sie
daher mit fester Hand zu, wenn Ihnen das Amt eines Generalgouverneurs
angeboten werden sollte. Sie werden es jetzt so verwalten, wie es
verwaltet sein muß, und sich dabei im Einklang mit den Wünschen und
Forderungen der Regierung befinden -- d. h. Sie werden das ganze Gebiet
wie eine frischen Mut spendende Kraft durchziehen, alles aufrütteln,
alle erfrischen, Begeisterung um sich verbreiten, allem einen frischen
Impuls geben und dann in eine andere Provinz reisen, um dort das Gleiche
zu wirken. Sie werden selbst sehen, daß dieser Beruf immer nur
provisorisch sein kann, sonst hätte er keinen Sinn, denn der innere
Organismus eines Gouvernements ist etwas in sich Abgeschlossenes und
Vollendetes, und bedarf keines weiteren Regierungsbeamten außer dem
Bürgergouverneur. So gehen Sie denn mit Gott und fürchten Sie sich vor
nichts! Aber selbst wenn Sie ein andres Amt übernehmen sollten, halten
Sie sich stets an die gleichen Grundsätze. Vergessen sie niemals, daß
die Zeit ihres Wirkens begrenzt ist. Richten Sie alles so ein, ordnen
Sie alle Angelegenheiten in der Weise, daß sich alles, nicht nur so
lange Sie da sind, sondern auch nach Ihrem Weggang in geordneter Weise
abwickelt, daß Ihr Nachfolger kein Ding von seiner Stelle zu rücken
vermag, sondern sich unwillkürlich auch selbst innerhalb der von Ihnen
gezogenen Grenzen betätigen und die von Ihnen vorgezeichnete,
vernünftige Richtung einhalten muß. Christus wird Sie lehren, Ihr Werk
dauernd, für alle Zeiten zu begründen und zu befestigen. Seien Sie allen
Ihren Untergebenen, seien Sie Ihren Beamten im wahren Sinne des Wortes
ein Vater und seien Sie einem jeden dabei behilflich, seine Pflicht und
Schuldigkeit treu und redlich zu tun. Reichen Sie jedem freundlich die
Bruderhand, wenn er sich von seinen eigenen Fehlern und Lastern befreien
will. Suchen Sie auf alle Einfluß zu gewinnen, aber nur in der Absicht,
jeden zu lehren, wie er selbst auf sich Einfluß gewinnen kann. Sorgen
Sie ferner dafür, daß keiner sich allzusehr auf Sie verläßt und stützt
wie auf seinen eigenen Stab, so wie die römisch-katholischen Damen sich
ganz auf ihre Beichtväter stützen, ohne deren Erlaubnis sie es nicht
einmal wagen, aus einem Zimmer ins andere zu gehen, warten sie doch
stets auf die Beichtstunde, um sich beim Priester Rat einzuholen; der
Mensch muß vielmehr wissen, daß die Wärterin ihm nur für eine bestimmte
Zeit und nicht für immer beigegeben wird, und daß, wenn der Lehrer ihn
im Stiche läßt, der Zeitpunkt gekommen ist, wo er noch eifriger und
sorgfältiger auf sich acht geben muß als früher, stets eingedenk, daß es
nun niemand mehr gibt, der über ihn wacht, und jede Lehre, die ihm
gegeben ward, treu wie ein Heiligtum in seinem Gedächtnis bewahrend.
Sorgen Sie auch dafür, daß es beim Abschied, wenn Sie Ihr Amt
niederlegen sollten, keine Tränen und kein Gejammer gibt, sondern daß
ein jeder noch frischer und mutiger in die Zukunft sehe, und daher
sparen Sie sich alles, was Sie einem jeglichen zu seiner Belehrung sagen
möchten, sorgsam für den Tag des Abschieds auf: an diesem Tage werden
alle Ihre Worte ihnen heilig sein, und was sie sonst nicht anerkannt und
wonach sie sich sonst nicht gerichtet hätten, das werden sie jetzt
willig aufnehmen und danach handeln. Für mich ist die Stunde des
Abschieds von meinen Freunden -- der schönste Augenblick; jeder meiner
Freunde, der jetzt von mir Abschied nimmt, tut es frohen Mutes, und
seine Seele ist heiter. Das werden Ihnen alle bezeugen, die in der
letzten Zeit Abschied von mir genommen haben. Ich bin sogar davon
überzeugt, daß wenn ich einmal sterben werde, alle die mich lieb gehabt
haben, fröhlich und heiteren Mutes von mir Abschied nehmen werden.
Keiner von Ihnen wird weinen, und alle werden nach meinem Tode weit
fröhlicher sein als bei meinen Lebzeiten, und endlich will ich Ihnen
noch etwas über die Liebe und die allgemeine Sympathie für uns sagen,
nach der viele so sehr haschen. Sich die Liebe anderer erschmeicheln zu
wollen -- das ist ein falsches Streben, das den Menschen nicht
beschäftigen sollte. Streben Sie danach, -- die andern Menschen zu
lieben, und nicht danach, daß andere Menschen _Sie_ lieben. Wer einen
Lohn für seine Liebe verlangt, der ist ein gemeiner Mensch und noch weit
vom Christentum entfernt. O wie dankbar bin ich, daß Gott mir schon in
meiner Jugend diese merkwürdige und mir selbst kaum verständliche
Abneigung gegen jegliche unpassende, überflüssige Gefühlsergüsse
eingepflanzt hat; ich habe ihnen stets zu entfliehen gesucht, wie etwas
Unangenehmem und Widerwärtigem, selbst wenn sie von Verwandten oder
Freunden herrührten! Wie wichtig ist es doch, daß unsere ganze Liebe
keinem Wesen dieser Erde angehören darf! Sie sollte sich von einem
Vorgesetzten auf den andern übertragen, und sowie ein Vorgesetzter
merkt, daß sie sich ihm zuwendet, sollte er sie sofort von sich auf den
über ihm stehenden höheren Vorgesetzten abzulenken suchen, bis sie so
endlich zu ihrer rechtmäßigen Quelle gelangt und bis ein von allen
geliebter Kaiser sie feierlich und angesichts der ganzen Welt Gott
selbst darbringt.

                                                                 1845.




                                  XXIX
                   Wessen Los auf Erden das beste ist
                        Aus einem Briefe an U--


Ich vermag Ihnen durchaus nicht zu sagen, wessen Los auf Erden das
schönere ist und wem das bessere Teil beschieden ward. Früher als ich
noch törichter und dümmer war, zog ich einen Beruf einem andern vor;
jetzt dagegen erkenne ich, daß das Los aller Menschen gleich
beneidenswert ist. Alle erhielten den gleichen Lohn -- sowohl der, dem
ein Talent anvertraut ward und der ein zweites hinzuerwarb, wie der, dem
fünf Talente verliehen wurden und der noch fünf weitere dafür
zurückbrachte. Ich glaube sogar, daß das Los des ersten noch besser ist,
gerade weil er auf Erden keinen Ruhm genossen und nicht von dem
Zaubertrank irdischer Ehren gekostet hat, wie der letzte. Wie wunderbar
ist doch die göttliche Gnade, die jedem den gleichen Lohn bestimmte, der
redlich seine Schuldigkeit getan hat, ob er nun der Zar oder der ärmste
Bettler ist. Dort werden sie alle gleich sein, denn sie alle werden
eingehen in die Freude ihres Herrn und werden alle _gleichermaßen_ in
Gott sein. Freilich hat Christus selbst an einer andern Stelle gesagt:
»_Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen_«, aber wenn ich mir diese
Wohnungen vorstelle, wenn ich darüber nachdenke, was die Wohnungen
Gottes sein mögen, kann ich mich nicht der Tränen enthalten, und ich
weiß, daß ich mich nie entscheiden könnte, welche ich wählen soll, wenn
ich wirklich einmal gewürdigt sein sollte, am himmlischen Reiche
teilzunehmen, und wenn die Frage an mich erginge: »welche von ihnen
möchtest du wählen?« Ich weiß nur das eine, daß ich antworten würde:
»die letzte, Herr, wenn sie nur in Deinem Hause ist.« Ich glaube, man
kann sich nichts Schöneres wünschen, als jenen Auserwählten zu dienen,
die bereite gewürdigt wurden, Seinen Ruhm in all Seiner majestätischen
Größe zu schauen, zu ihren heiligen Füßen liegen und sie zu küssen!

                                                                 1845.




                                  XXX
                            Ein Geleitspruch


Auf deinen Brief werde ich dir jetzt nicht antworten, die Antwort
erhältst du später. Ich sehe und begreife alles: deine Leiden sind groß.
Bei einer solch zarten, feinfühligen Seele so grobe Beschuldigungen
anhören, mit so hohen Gefühlen unter so groben, plumpen Menschen weilen
zu müssen, wie die Bewohner dieses armseligen Städtchens, in dem du dich
niedergelassen hast und deren rohe täppische Berührung, ohne daß sie es
wissen, schon allein ausreicht, um die edelsten Schätze und
Kostbarkeiten des Herzens in Scherben zu schlagen; dulden zu müssen, daß
mit plumper Bärentatze auf die zarten Saiten der Seele losgeschlagen
wird, die dem Menschen dazu verliehen werden, um himmlische Laute
auszuströmen, bis sie verstimmt sind und reißen, und über dies alles
noch all die Gemeinheiten und Schändlichkeiten mit ansehen zu müssen,
die sich täglich ereignen und die Verachtung derer dulden zu müssen, die
selbst der Verachtung wert sind -- ich weiß wohl, daß ist alles sehr
bitter. Und deine physischen Leiden sind nicht weniger qualvoll. Dein
Nervenleiden, deine Melancholie und diese furchtbaren Ohnmachtsanfälle,
die dich jetzt heimsuchen -- das alles ist hart, sehr hart, ich vermag
dir nichts andres zu sagen, als daß es wirklich sehr hart, sehr bitter
ist! Aber hier hast du einen Trost. Das alles ist nur der Anfang; du
wirst noch mehr Kränkungen zu erdulden haben, dir stehen noch härtere
Kämpfe [mit der Bestechlichkeit] mit allerhand Schuften und Gaunern und
schamlosen Leuten bevor, Leuten, für die es nichts Heiliges gibt, die
nicht nur einer solchen Schändlichkeit fähig sind, von der du schreibst
[d. h. eine fremde Unterschrift zu fälschen] -- die den Mut haben, ein
so furchtbares Verbrechen auf einen Unschuldigen zu laden, mit eigenen
Augen anzusehen, wie das Opfer ihrer Verleumdung bestraft wird und nicht
mit der Wimper zu zucken -- ja die nicht nur einer solchen Niedertracht,
sondern noch weit niederträchtigerer Handlungen fähig sind, deren bloße
Beschreibung einem mitleidigen Menschen für immer den Schlaf rauben
könnte (o wenn doch solche Leute nie geboren würden!) Alle himmlischen
Heerscharen zittern vor Schrecken beim Gedanken an die furchtbaren
Strafen, die sie in jener Welt erwarten und vor denen sie niemand mehr
zu retten vermag. Unzählige neue und ganz unvorhergesehene Niederlagen
warten deiner. In deiner exponierten [und unscheinbaren] Stellung kann
alles passieren. Deine Nervenanfälle und deine Leiden werden noch
stärker werden, deine Melancholie wird noch zunehmen, deine Mutlosigkeit
wird sich bis zur Verzweiflung steigern, und deine Schmerzen und Qualen
werden noch furchtbarer und vernichtender werden. Allein denke stets
daran, daß wir nicht in diese Welt berufen werden, um Feiertage und
Feste zu feiern -- wir werden hierher berufen, um Schlachten zu
schlagen, den Sieg werden wir _dort_ feiern. Daher dürfen wir keinen
Augenblick vergessen, daß wir ausgezogen sind, um zu kämpfen, und hier
gibt es nichts zu wählen und zu überlegen, wo uns weniger Gefahren
drohen! Wie ein guter Soldat muß sich ein jeder von uns in den Kampf
stürzen, wo er am heißesten tobt. Der himmlische Feldherr schaut von
oben auf uns alle herab, und Seinem Blick entgeht nicht die geringste
von unseren Handlungen. Du darfst daher das Schlachtfeld nicht meiden,
sondern mußt mutig in den Kampf stürmen; auch darfst du dir nicht etwa
einen schwachen Feind aussuchen, sondern du mußt dir einen Starken zum
Gegner wählen. Der Kampf mit einem kleinen Schmerz und mit geringen
Leiden wird dir keine großen Ehren eintragen. [Für einen Russen ist es
nicht sehr rühmlich, sich mit einem friedfertigen Deutschen einzulassen,
wenn man im voraus weiß, daß er davonlaufen wird; es mit einem
Tscherkessen aufzunehmen, vor dem alle zittern, weil sie ihn für
unüberwindlich halten, den Kampf mit einem solchen Tscherkessen
aufzunehmen und ihn zu besiegen, das ist eine Leistung, deren man sich
rühmen kann!] Nun denn, vorwärts mein tapferer Kämpe! Gott helfe dir,
mein braver Kamerad! Gott voran, mein herrlicher Freund!




                                  XXXI
                Wesen und Eigenart der russischen Poesie


Trotz des äußeren Anscheins der Nachahmung besitzt unsere Dichtung sehr
viel Eigenartiges. Ihr natürlicher Quell regte sich schon in der Brust
des Volkes, als noch ihr Name in keines Menschen Munde war. Ein Strahl
dieses Quells bricht in unsern Liedern hervor, in denen zwar wenig Liebe
zum Leben und zu den Dingen dieser Welt, dafür aber eine mächtige
Sehnsucht nach einer grenzenlosen, zügellosen Freiheit, ein Streben,
sich von den Tönen in eine unendliche Ferne forttragen zu lassen, lebt.
Sein Strom bricht auch in unsern Sprichworten hervor, die von dem
ungewöhnlich reichen Verstande unseres Volkes zeugen, der alles in ein
Werkzeug für seine Zwecke zu verwandeln gewußt hat: die Ironie, den
Spott, die Anschaulichkeit, die Treffsicherheit eines plastischen
Denkens, um ein von Leben strotzendes Werk zu erschaffen, das das ganze
Wesen des Russen ergreift und erschüttert, indem es seine
empfindlichsten Stellen zu treffen weiß. Sein Strom bricht endlich auch
aus den Reden der Diener unserer Kirche hervor -- Reden, die so einfach,
so schmucklos und doch so bedeutsam sind, durch das Streben, sich bis zu
dem Gipfel leidenschaftsloser, heiliger Ruhe zu erheben, den zu
erklimmen, jedes Christen Bestimmung ist, sowie durch die Bemühung,
nicht etwa die Leidenschaften des Herzens zu entfachen, sondern den
Menschen zu höchster, geistiger Nüchternheit und Besonnenheit zu
erziehen. Dies alles versprach unserer Dichtung eine eigenartige und
urwüchsige Entwicklung, wie sie den andern Völkern unbekannt war. Aber
nicht von diesen drei Quellen, die bereits in uns ruhten, leitet unsere
wohllautende Poesie, die uns heute einen so hohen Genuß bereitet, ihren
Ursprung her, so wenig als die Struktur unserer gegenwärtigen
bürgerlichen Ordnung sich auf Elemente zurückführen läßt, die unserem
Lande schon früher eigen waren. Unsere bürgerliche Ordnung ist ja auch
nicht durch eine geregelte allmähliche Entwicklung der Dinge, nicht
durch eine langsame wohlüberlegte Verpflanzung europäischer Sitten in
unser Land entstanden -- was schon aus dem einfachen Grunde unmöglich
war, weil die europäische Aufklärung bereits eine viel zu hohe Stufe der
Reife erreicht hatte, weil ihre Wogen schon zu hoch gingen, als daß sie
nicht früher oder später von allen Seiten über Rußland hereinbrechen und
ohne einen solchen Führer, wie Peter es war, in allen Dingen eine viel
größere Unordnung hervorrufen mußten, als sie sich später tatsächlich
bemerkbar machte. Unsere bürgerliche Ordnung entsprang aus einer
Erschütterung, aus jener gewaltigen Erschütterung des ganzen Staates,
die der Zar, dieser große Reformator, hervorrief, als Gottes Wille ihm
den Gedanken eingab, sein junges Volk in den Kreis der europäischen
Staaten einzureihen und es plötzlich mit allem bekannt zu machen, was
sich Europa durch lange Jahre blutiger Kämpfe und Leiden errungen hatte.
Eine so plötzliche Umkehr war eine Notwendigkeit für das russische Volk,
und die europäische Aufklärung war der Feuerstahl, der diese ganze
Volksmasse treffen mußte, die im Begriff war, einzuschlafen. Der Stahl
verleiht dem Stein kein Feuer, wenn aber der Stahl den Stein nicht
trifft, gibt der Stein kein Feuer von sich. Und sogleich schlug aus dem
Volk eine Flamme empor. Diese Flamme war die Freude, die Freude über das
Erwachen, die im Anfang freilich noch unbewußt war. Noch hatte keiner
das Gefühl, daß er dazu erwacht sei, um im Licht der europäischen
Bildung sich selbst besser kennen zu lernen, nicht aber Europa zu
kopieren. Jeder fühlte nur, daß er erwacht war. Aber schon diese bloße
Umwälzung des ganzen Staates, die durch einen einzigen Menschen, und
zwar durch den Zaren selbst, bewirkt war, der zeitweilig sogar großmütig
auf seine Zarenwürde verzichtete, um jedes Handwerk kennen zu lernen und
mit der Axt in der Hand in allen Dingen voranzugehen, damit keine von
den Wirrungen und Verwicklungen entstünde, die selbst die
geringfügigsten Veränderungen der Staatsform zu begleiten pflegen --
schon diese Umwälzung war in der Tat eine Sache, die der Freude und der
Begeisterung wert war. Eine Staatsumwälzung, die gewöhnlich das in
Mitleidenschaft gezogene Volk auf Jahre unter Ströme von Blut setzt,
wenn sie die Folge innerer Parteikämpfe ist, wurde hier im Angesicht von
ganz Europa in so geordneter Weise vollzogen, wie das glänzende Manöver
eines vortrefflich geschulten Heeres. Rußland erhob sich plötzlich zur
Würde eines großen Staates, seine Stimme wurde dem Donner gleich, ein
Glanz strahlte von ihm aus: der Widerschein der europäischen Bildung.
Alles in dem jungen Staate geriet in Begeisterung, allen entrang sich
ein Schrei des Staunens, wie ihn ein Wilder angesichts neueingeführter
kostbarer Schätze ausstößt. Diese Begeisterung spiegelt sich in unserer
Poesie oder richtiger: sie hat diese Poesie erst erschaffen. Das ist der
Grund, warum diese Poesie mit dem ersten Gedicht, das veröffentlicht
wurde, einen so feierlichen Klang annimmt. Spricht doch aus ihr das
Bestreben, einen Ausdruck für die Begeisterung über das neue Licht, das
sich über Rußland ergossen hatte, für das Staunen über die große
Aufgabe, die dem Lande bevorstand und für den Dank zu finden, den es dem
Zaren für dies alles schuldete. Seit dieser Zeit wurde das Streben nach
dem Licht unser eigentliches Element, der sechste Sinn des Russen, und
es erschuf unsere gegenwärtige Poesie, indem es ihr jenes neue
lichtbringende Prinzip einhauchte, das wir in keiner der drei Quellen,
von denen zu Beginn die Rede war, entdecken konnten.

Was ist Lomonossow, wenn wir ihn an sich betrachten? Ein schwärmerischer
Jüngling, begeistert von dem Licht der Wissenschaft und der hohen
Aufgabe, die er vor sich sieht. Wie durch Zufall wird er Poet. Die
Freude über den ersten Sieg der Russen läßt ihn seine erste Ode aufs
Papier werfen, hastig entlehnt er bei unsern deutschen Nachbarn Form und
Metrum, wie sie in jener Zeit bei ihnen üblich waren, ohne zu überlegen,
ob sie sich für unsere russische Sprache eignen oder nicht. Seine
künstlichen rhetorischen Oden lassen auch nicht eine Spur schöpferischer
Kraft erkennen, aber die Begeisterung bricht doch schon allenthalben
hervor, wo er einen Gegenstand berührt, der seiner wissensdurstigen
Seele nahesteht. Das Nordlicht, mit dem er sich in seinen
wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte, kommt ihm in Sinn, und die
Frucht dieses Einfalls ist die Ode: _Abendbetrachtungen über Gottes
Größe_, die von Anfang bis Ende eine hohe Majestät und Würde atmet und
die kein anderer außer Lomonossow hätte schreiben können. Ein ähnlicher
Einfall wird der Anlaß für die Epistel an Schuwalow: _Über den Nutzen
des Glases._ Jede Erwähnung Rußlands, das seinem Herzen so nahesteht und
das er immer durch die Perspektive seiner glänzenden Zukunft sieht,
erfüllt ihn mit wunderbarer Kraft. Mitten unter kalten nüchternen
Strophen begegnen wir Versen, die uns plötzlich in eine andere Welt
versetzen. Man hat das Gefühl, als ob -- um uns seiner eigenen Worte zu
bedienen --

   Der Götterjüngling David leicht
   Der Harfe heil'ge Saiten meistert
   Und aus Jesaias Mund begeistert
   Ein Psalm empor zum Himmel steigt.

Er überschaut das ganze russische Land von einem Ende bis zum andern,
wie von einem lichten Gipfel herab, begeistert und entzückt von seiner
grenzenlosen Weite und seiner jungfräulichen Natur, und es scheint, als
wolle sein Entzücken kein Ende nehmen. Aus seinen Schilderungen spricht
mehr die Ansicht eines gelehrten Naturforschers als die eines Dichters,
aber die treuherzige reine Kraft seiner Begeisterung verwandelt den
Naturforscher in einen Dichter, und was das Merkwürdigste ist, indem er
seine Verse in die strengen Maße des deutschen Jambus preßt, tut er der
Sprache durchaus keine Gewalt an; die Sprache fließt innerhalb der engen
Grenzen dieses Versmaßes mit der gleichen Würde und Freiheit dahin, wie
ein wasserreicher Fluß in seinem breiten Bette. Ja, sie klingt in seinen
Versen noch schöner und freier als in seiner Prosa, und Lomonossow heißt
daher nicht umsonst der Vater unserer Verskunst. Das Merkwürdige ist,
daß der Urheber unserer Sprache zugleich auch ihr Herr und Gesetzgeber
wird. Lomonossow steht an der Spitze unserer Dichter wie die Vorrede zu
einem Buche. Seine Poesie ist die aufsteigende Morgenröte: sie gleicht
einem Wetterleuchten, das zwar nicht allem Helligkeit verleiht, sondern
sein Licht nur auf einzelne Strophen wirft. Rußland erscheint bei ihm
nur in seinen allgemeinen geographischen Umrissen; er scheint
ausschließlich darum bemüht zu sein, eine Skizze von dem gewaltigen
Reich zu entwerfen, und seine Grenzen durch Punkte und Linien
abzustecken, während er die Ausmalung den andern überläßt. Er selbst ist
gleichsam nur ein erster prophetischer Entwurf der Dinge, die da kommen
sollen.

Durch den Einfall Lomonossows wurde bei uns die Ode eingeführt. Feste,
Siegesfeiern, Geburtstage hoher Persönlichkeiten, ja sogar eine
Illumination oder ein Feuerwerk werden Gegenstände dieser Oden. Die
Verfasser dieser Dichtungen brachten es jedoch bestenfalls nur zu einer
gewissen Bravour, ohne daß ihre Produkte von wahrer Begeisterung
getragen wurden. Höchstens _Petrow_ macht eine Ausnahme, dem es nicht an
einer gewissen Kraft und einem gewissen poetischen Feuer fehlt. Er war
ein wirklicher Dichter trotz der Härte und Trockenheit seiner Verse. Die
andern erreichten bestenfalls nur die kalte äußere Rhetorik der Oden
Lomonossows, und an Stelle des Wohllauts seiner Sprache tritt ein leeres
zuchtloses Wortgeklapper, das unser Ohr peinigt. Aber schon hatte der
Stahl den Feuerstein getroffen. Schon hatte der Funke der Poesie
gezündet. Noch hatte Lomonossow die Leier nicht aus der Hand gelegt, als
Dershawin seine ersten Lieder dichtete.

In der Epoche Katharinas, deren Regierung einer glänzenden Sammlung der
vorzüglichsten Werke russischer Schöpferkraft gleicht, als sich auf
allen Gebieten bedeutende russische Talente regten, in glorreichen
Schlachten ruhmgekrönte Feldherren auftraten, große Staatsmänner in der
inneren Organisation des Reiches tätig waren, geschickte Diplomaten sich
beim Abschluß von Verträgen auszeichneten, in den Akademien Gelehrte und
Sprachforscher eine rege Tätigkeit entfalteten, da trat auch der Dichter
Dershawin auf. Er hatte das gleiche malerische würdevolle Äußere wie
alle Männer aus der Zeit Katharinas, die in einer noch ungezügelten
Freiheit den Spielraum für ihre freie Entwicklung fanden. Bei ihnen
allen gibt es noch viel Unfertiges, und in den Details Unausgeführtes,
wie man es wohl in Werken findet, die allzufrüh in die Öffentlichkeit
gebracht werden. Die Möglichkeit einer Vergleichung Lomonossows und
Dershawins, die sich einem bei der ersten Bekanntschaft mit beiden
Dichtern aufdrängt, schwindet sofort, wenn man Dershawin eingehender
kennen lernt. Er bildet vielmehr in allem, selbst in seiner Erziehung,
den vollkommenen Gegensatz zu dem ersteren. Während sich Lomonossow
völlig den Wissenschaften widmet und das Dichten ausschließlich als eine
Zerstreuung und eine Erholung betrachtet, gibt _er_ sich gänzlich der
Dichtkunst hin und hält eine vielseitige wissenschaftliche Bildung für
unnütz und überflüssig. Rußlands Größe und Staatsmacht kommt auch bei
ihm zum Ausdruck, aber nun treten nicht nur die geographischen Umrisse
des Reiches hervor, sondern auch die Menschen und ihr Leben werden
sichtbar. Was ihn beschäftigt, ist nicht die abstrakte Wissenschaft:
sondern die Kenntnis des Lebens. Seine Oden wenden sich bereits an die
Menschen aller Berufe und Stände und zeugen von dem Streben, ein Gesetz
des richtigen Handelns aufzustellen, nach dem sich der Mensch in allem,
selbst in seinen Genüssen zu richten hat. Bei ihm macht sich schon eine
wirkliche schöpferische Kraft bemerkbar, er besitzt etwas noch
Gewaltigeres und Überirdischeres als Lomonossow, und man begreift nicht,
woher der hyperbolische Schwung seiner Rede stammt. Ist es ein Nachklang
unseres sagenhaften russischen Rittertums, das noch immer wie eine
dunkle Weissagung über unserem Lande schwebt und uns eine bessere
Zukunft vorhält, zu der wir bestimmt sind -- oder ist es ein Echo seines
alten tatarischen Ursprungs? Jener Steppen, in denen noch heute die
armseligen Überreste nomadisierender Horden umherirren, die ihre
Einbildungskraft an Erzählungen von klafterhohen Helden, die tausend
Jahre alt werden, entzünden? -- was es auch sein mag: dieser
Charakterzug Dershawins hat etwas Wunderbares! Mitunter holt er seine
Ausdrücke und Wendungen Gott weiß wie weit her: nur um möglichst nahe an
seinen Gegenstand heranzukommen. Hier ist alles kolossal und ungeheuer,
aber dort, wo ihn die Kraft der Begeisterung überkommt, da dienen diese
ungeheuerlichen Massen nur dazu, um den Gegenstand mit einer schier
unbegreiflichen Kraft zu beleben, so daß es uns so vorkommt, als blicke
er uns mit tausend Augen an. Man überlese den »_Wasserfall_«: man hat
den Eindruck, als wäre hier eine ganze Epopöe in eine gewaltig
dahinstürmende Ode zusammengedrängt. Gemessen an dieser Ode erscheinen
alle Dichter neben ihm wie Pygmäen, die Natur erscheint hier wie eine
höhere Wirklichkeit neben der, die wir mit unseren Augen sehen, die
Menschen gewaltiger als die, die wir kennen, und unser Dasein verglichen
mit dem mächtigen Leben, wie es dort dargestellt ist, wie das eines
fernen Ameisenhaufens. Von Dershawin kann man sagen: er ist der Sänger
des Erhabenen. Bei ihm ist alles erhaben: die Gestalt Katharinens und
Rußlands, das sich in seinen acht Meeren spiegelt; seine Feldherrn sind
königliche Adler, kurz, bei ihm ist alles groß und majestätisch. Man hat
jedoch das Gefühl: was seine Gedanken am meisten beschäftigte, was ihn
am meisten bewegte, war der Wunsch, einen im Kampf des Lebens gestählten
starken Menschen zu gestalten, bereit, es nicht nur mit seiner Zeit,
sondern mit allen Zeitaltern aufzunehmen, ihn so zu zeichnen, wie er
nach seiner Ansicht aus den ureigenen Wurzeln unserer russischen Natur
erwachsen müßte, genährt und groß geworden auf dem unerschütterlichen
Felsen unserer Kirche. Oft läßt er die Person, an die die Ode gerichtet
ist, beiseite, um an ihre Stelle seinen unbeugsamen wahrhaftigen Helden
zu setzen. Dann spricht er seine tiefen Wahrheiten mit einer Stimme aus,
die sich hoch über das gewöhnliche Maß erhebt. Das, was wir einen
Gemeinplatz zu nennen gewohnt sind, erhält seine hohe heilige Bedeutung
wieder, und wir lauschen seinen ewigen Worten, als wenn der Mund der
Kirche selbst zu uns spräche. Verglichen mit den Werken anderer Dichter
erscheint alles bei ihm groß und gigantisch: seinen poetischen Metaphern
fehlt es an der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam
in einer Art vergeistigter Kontur zu verlieren, erhalten aber gerade
dadurch etwas noch Großartigeres und Erhabeneres. So schildert zum
Beispiel der Dichter den greisen Caspius, wie er über den Sturm empört,
über das Meer rast:

   Wild springt er auf die Wellen los,
   Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen,
   Stürmt himmelwärts, stürzt in den Schoß
   Des Hades mit gesträubten Haaren,
   Und durchs Gebirge hallt sein Schrei.

Hier schien sich ein _plastisches_ Bild des greisen Caspius gestalten zu
wollen, aber die Zeichnung verlor sich in abstrakt geistigen Konturen:
das Ohr hört nichts als den Donner des brausenden Meeres, und wie dem
grauköpfigen Greise, so sträuben sich auch dem Leser die Haare, der
erschüttert ist von der rauhen Größe des Bildes. Bei ihm ist alles
monumental. Sein Stil ist von einer Größe, wie bei keinem unserer
Dichter. Wenn wir diesen Stil mit dem Messer des Anatomen sezieren, so
sehen wir, daß dies in einer fremdartigen Verkuppelung pathetischer
Worte mit schlichten, ja trivialen begründet ist, wessen sich kein
anderer außer Dershawin erkühnen würde. Wer außer ihm würde es wagen,
sich so auszudrücken, wie er es an einer Stelle tut, wo er von seinem
großen Helden spricht: der nach Vollendung seiner irdischen Aufgabe

   den Tod wie einen Gast erwartet
   und sinnend sich den Schnurrbart streicht.

Wer außer Dershawin hätte es gewagt, eine so ernste Angelegenheit wie
die Erwartung des Todes zu einer so trivialen Geste wie das Streichen
des Schnurrbarts in Beziehung zu setzen? Aber wie ungeheuer gewinnt
hierdurch der Held an Anschaulichkeit und welch melancholisch-tiefes
Gefühl bleibt in unserer Seele zurück! Man muß jedoch sagen, daß sowohl
diese wie alle andern gigantischen Züge, die ihn weit über alle unsere
Dichter erheben, bei ihm etwas Zügelloses und Formloses annehmen, sowie
ihn die Inspiration verläßt: Alles gerät in Unordnung: Satzbau, Sprache,
Stil, alles knarrt wie ein schlechtgeölter Karren, und sein Vers gleicht
einem entseelten Leichnam. Seine Werke tragen die Spuren seiner
unvollkommenen geistigen und sittlichen Bildung. Der Mann, der andern
Selbstbeherrschung predigte, wußte sich selbst nicht zu beherrschen, hat
sich nie ganz selbst gefunden und hat mühsam und mit der ganzen Kraft
seiner Begeisterung den Weg zu seinem Ich suchen müssen, um das
aussprechen zu können, was sich der Seele des Dichters von selbst
entringen müßte. Hätte er sich die wahre Bildung zu erringen gewußt, es
würde keinen größeren Dichter als Dershawin gegeben haben. So aber
gleicht er nur einem gewaltigen unförmlichen Felsblock, vor dem zwar
niemand ohne Bewunderung stehen bleiben wird: jedoch kein Mensch wird
lange vor ihm verweilen, sondern bald zu andern reizvolleren Eindrücken
fortzueilen suchen.

Noch hatte Dershawin die Leier nicht aus der Hand gelegt, und schon
hatte sich alles um ihn verändert: das Zeitalter Katharinas, die
königlichen Feldherren, der höfische Luxus und das ganze höfische Leben
waren dahingeschwunden wie ein Traum, die Epoche Alexanders war
angebrochen: sauber, spiegelblank und manierlich. Die Menschen zogen
sich mehr in sich selbst zurück und wetteiferten, aus dem Gefühl heraus,
daß sie sich bisher allzusehr gehen gelassen hatten, ihren Handlungen
und Bewegungen Schönheit und edlen Anstand zu verleihen. Die Franzosen
galten in allen Dingen als Vorbild, und wie einst die Pariser Stutzer
den Ton in unserer Gesellschaft angaben, so beherrschten eine Zeitlang
die flinken französischen Poeten unsere Dichtung. Zur Rechtfertigung
unseres sicheren dichterischen Gefühls sei jedoch an dieser Stelle
erwähnt, daß uns nur einer dieser Dichter wirklich als Vorbild gedient
hat: _Lafontaine_, und zwar nur deshalb, weil er der Natur am nächsten
stand: _Dmitriew_, _Chemnitzer_ und _Bogdanowitsch_ dichteten in der
gleichen Art und behandelten ähnliche Stoffe wie er. Die russische
Sprache erhielt plötzlich eine gewisse Freiheit und die Fähigkeit, mit
angenehmer Leichtigkeit von Gegenstand zu Gegenstand überzugehen -- eine
Leichtigkeit, die Dershawin noch unbekannt war. Man pflegte nicht nur
die Ode, sondern versuchte sich in allen Arten und Formen der Poesie.
_Dmitriew_ bewies überall viel Talent, Geschmack, Einfachheit und
Anstand, und hierdurch wurde der Schwulst und das falsche Pathos
überwunden, das durch die talentlosen Nachahmer Dershawins und
Lomonossows üblich geworden war. Aber die Oberflächlichkeit der Epoche
vermochte unserer Dichtung keinen reicheren Inhalt darzubieten: sie
blieb allein auf das Gesellschaftsleben beschränkt, und man konnte sie
bald einem gewandten und gescheiten Weltmann vergleichen, der im Salon
sitzt und plaudert, nicht etwa um andern sein Herz zu öffnen oder sie zu
tüchtigen Handeln anzufeuern, sondern lediglich, um Konversation zu
machen und zu beweisen, daß er über jeden Gegenstand etwas zu sagen
habe. Die letzten Töne Dershawins waren verhallt wie die verklingenden
Töne einer Orgel und unsere Poesie schien plötzlich aus der Kirche in
den Ballsaal versetzt. Nur der eine _Kapnist_ ließ den Duft eines
wahrhaft beseelten Gefühls und eine eigenartige anthologische Anmut
verspüren, wie sie bisher noch nicht bekannt war. Man denke zum Beispiel
an sein Landhaus Obuchowka:

   Mein liebes Häuschen, strohgedecket,
   Ist nicht zu groß, noch ist's zu klein,
   Der Freund wird stets willkommen sein
   Und selbst den armen Bettler schrecket
   Kein Türschloß fort, will er hinein.

Aber unsere Poesie vermochte nicht lange auf diesem Gipfel eines
oberflächlichen Gesellschaftslebens zu verweilen. Schon war ihre
Empfänglichkeit durch jenen Schlag Peters mit dem Stahl europäischer
Bildung geweckt, und sie erkannte plötzlich, daß sie von den Franzosen
nichts als eine gewisse Leichtigkeit entlehnen und für ihre Entwicklung
nutzbar machen konnte, und so wandte sie sich den Deutschen zu. In der
deutschen Literatur ging um diese Zeit etwas Merkwürdiges vor. Eine
unklare Sehnsucht, geheimnisvolle Überlieferungen, wunderbare
unerklärliche Ereignisse, dunkle Schatten aus einer unsichtbaren Welt,
Träume und Schrecken, wie sie die Kindheit des Menschen zu begleiten
pflegen, bildeten den Gegenstand der deutschen Dichtung. Man hätte eine
solche Poesie für die Laune eines Schulbuben halten können, wenn nicht
jenes kindliche Lallen in ihr vernehmbar gewesen wäre, durch das die
unsterbliche nach lebendiger Nahrung dürstende Seele von sich Kunde
gibt. Wie ein neugieriges Kind blieb unsere feinfühlige Dichtung von
dieser Erscheinung gebannt. Ihr nationaler Instinkt rief plötzlich in
ihr die Erinnerung an etwas Verwandtes wach. Bei alledem wären wir uns
nie mit den Deutschen begegnet, wenn nicht ein Poet in unserer Mitte
erstanden wäre, der uns diese neue wunderbare Welt durch den klaren
Kristall seines Wesens gezeigt hätte, das uns weit verständlicher war,
als das deutsche. Dieser Dichter ist _Shukowski_: die stärkste
Individualität in unserer Literatur. Durch die geheimnisvolle Fügung des
Höchsten war ihm von seinen Kindheitstagen an eine ihm selbst
unbegreifliche Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, Mystischen in die Seele
gelegt. Wie der Held seiner Ballade _Wadim_ vernahm er immer einen
himmlischen Glockenton in seinem Herzen, der ihn in die Ferne rief.
Dieser Lockung folgend, stürzte er sich auf alles Unerklärliche und
Geheimnisvolle, wo immer es ihm begegnete, um es in Töne zu fassen, die
eine verwandte Saite in unserer Seele erklingen ließen. Alles dieser Art
entlehnt er fremden Dichtern, vor allem den Deutschen, und das Meiste
davon sind Übersetzungen. Aber diese Übersetzungen tragen so sehr die
Spur jener inneren Sehnsucht an sich, werden so heftig von ihrer Kraft
belebt und durchglüht, daß selbst Deutsche, die des Russischen mächtig
sind, zugestehen, die Originale erschienen neben ihnen wie Kopien,
während seine Übersetzungen den Charakter echter Originale besitzen. Man
weiß nicht, ob man ihn einen Übersetzer oder einen ursprünglichen
Dichter nennen soll; der Übersetzer gibt seine eigene Persönlichkeit
auf, während sie bei Shukowski stärker hervortritt als bei irgendeinem
unserer Dichter. Wenn wir die ganze Reihe seiner Dichtungen durchlaufen,
so werden wir finden, daß das eine von _Schiller_, ein anderes von
_Uhland_, ein drittes von _Walter Scott_, ein viertes von _Byron_
entlehnt ist; und alle diese Werke sind bis auf das einzelne Wort
getreue Abbilder ihrer Vorlagen. Die Persönlichkeit jedes Dichters ist
durchaus erhalten; als Übersetzer hatte Shukowski ja auch keine
Gelegenheit, sich vorzudrängen. Liest man jedoch mehrere Gedichte
nacheinander und fragt man sich, wessen Gedichte man gelesen habe, dann
fallen einem weder Schiller, noch Uhland, noch Walter Scott ein, sondern
ein Dichter, der sich von allen diesen unterscheidet, dessen Platz nicht
zu ihren Füßen ist, sondern der ein Recht hat, als Gleicher neben
Gleichen an ihrer Seite zu sitzen. Wie es jedoch möglich war, daß seine
eigene Persönlichkeit all diese Dichterpersönlichkeiten durchdringen
konnte, das bleibt ein Geheimnis, das sich jedem Leser aufdrängt. Es
gibt keinen Russen, der sich nicht aus den Werken Shukowskis selbst ein
getreues Abbild seiner geistigen Persönlichkeit bilden könnte. Man muß
auch sagen, daß sich in keinem der von ihm übertragenen Dichter eine so
starke Sehnsucht regt, in ein wolkenfernes, unsichtbares Traumland zu
entfliehen. Bei keinem von ihnen finden wir diesen festen Glauben an
übersinnliche Kräfte, die den Menschen überall schützend umschweben.
Wenn man Shukowski liest, so hat man beständig das Gefühl, für das
Dershawin die Worte gefunden hat:

   »Dem Schutz des Himmels übergeben
   Ward deines Lebens Sicherheit
   Und Legionen Engel schweben
   Ob deinem Haupte hilfsbereit.«

Er hat durch seine Übersetzungen eine Wirkung ausgeübt, wie ein
ursprünglicher urwüchsiger Dichter. Indem er unserer Dichtkunst dieses
ihr bis dahin ganz unbekannte Streben nach einer unsichtbaren
geheimnisvollen Welt einpflanzte, befreite er sie von dem Materialismus
nicht nur ihrer Gedanken und ihrer Sprache, sondern auch ihrer Versform,
die damit etwas Leichtes und Unkörperliches wie eine Vision erhielt. Mit
diesen Übersetzungen legte er den Grund zu allem Originalen, schuf er
neue Formen und Metren, die dann später auch von allen andern russischen
Dichtern angewandt wurden. Sein träger Geist hinderte ihn daran, vor
allem ein schöpferisches Talent zu sein -- es fehlte ihm nicht an
schöpferischer Kraft, er war nur zu träge im Erfinden. Im Beginn seiner
Schriftstellerlaufbahn gab er schon Beweise seiner Produktivität:
_Swetlana_ und _Ludmilla_ trugen zuerst die erwärmenden Klänge unserer
slawischen Seele durch die Lande und sie berührten uns weit verwandter
als die Lieder anderer Dichter -- ein Beweis dafür, daß sie zu einer
Zeit, als unser poetisches Empfinden noch schwach entwickelt war, einen
mächtigen Eindruck auf alle machten. Die Elegie ist eine Schöpfung
Shukowskis. Es gibt übrigens einen noch tieferliegenden Grund, auf den
diese Trägheit des Verstandes zurückzuführen ist: es ist seine
Veranlagung zur Kritik, die, nachdem sie sich einmal in seinem Geiste
festgesetzt hatte, ihn dazu drängte, auch noch bei jedem fertigen Werk
liebevoll zu verweilen. Daher sein feiner kritischer Instinkt, der
Puschkin so sehr in Erstaunen setzte. Puschkin zürnte ihm sehr, daß er
keine Kritiken schrieb. Seiner Meinung nach konnte niemand ein Kunstwerk
so gut zerlegen und beurteilen wie Shukowski. Diese Begabung für Kritik
und Analyse tritt besonders in seinen farbigen Naturschilderungen
hervor, die seine eigensten, selbständigsten Leistungen sind. Bezaubert
von einer Landschaft, bemächtigt er sich ihrer und läßt nicht eher von
ihr ab, als bis er wie mit dem Seziermesser noch ihr kleinstes,
verschwindendes Detail herausgehoben hat. Wer das Gedicht an die Sonne
zu schreiben vermochte, wer so das bunte Spiel der Sonnenstrahlen und
die Magie der Bilder, belauschen konnte, die sie zu jeder Tageszeit
hervorzaubert, wer in seinem »Bericht über den Mond« die magische Pracht
der Mondnächte und die Reihe der Bilder, die sie begleiten, so eingehend
und anschaulich zu schildern vermochte: der mußte natürlich im hohen
Maße die Begabung zur _Kritik_ besitzen. Seine »Slawin« mit ihren
Schilderungen von Pawlowsk ist vollkommene Malerei; die andächtige
träumerische Stimmung, die alle seine Bilder durchweht, verbreitet ein
warmes und erwärmendes Licht um sich, das den Leser mit einer
unbegreiflichen Ruhe erfüllt. Alle unsere Leidenschaften beruhigen sich
und eine geheimnisvolle Kraft scheint uns den Mund zu verschließen.

In der letzten Zeit trat ein Wendepunkt in Shukowskis dichterischer
Entwicklung ein. In dem Maße, als sich die in einem leuchtenden Dämmer
verschwebende Ferne, die er bis dahin nur in einer unklaren poetischen
Distanz erschaut hatte, zu immer reinerer Klarheit läuterte, begann er,
den Geschmack und die Vorliebe für die Gespenster und Phantome der
deutschen Balladen zu verlieren. Seine Neigung zur Träumerei machte
einer geistigen Heiterkeit Platz. Die Frucht dieser Stimmung war die
»Undine«, ein Werk, das ganz Eigentum Shukowskis war. Der deutsche
Dichter, der die gleiche Sage in Prosaform behandelt hatte, konnte ihm
nicht zum Vorbild dienen: erst Shukowski hat diesem Stoff zu seiner
vollen Klarheit und Heiterkeit verholfen. Von hier an wird ihm eine
kristallene Durchsichtigkeit der Sprache eigen, die dem Gegenstand eine
Klarheit verleiht, welche er nicht einmal bei dem ersten Darsteller des
Stoffes besitzt, dem er ihn entlehnt. Selbst sein Vers verliert das
Ätherische, Unbestimmte, das er früher besaß: er schreitet kräftiger und
sicherer einher. In Shukowski schienen sich alle Vorbedingungen zu
vereinigen, um mit Hilfe dieses Verses eine Dichtung von höchster
Vollkommenheit zu gestalten. Bei seiner Art des Schaffens, bei solchem
Erfülltsein des ganzen Menschen mit dem Geist der Antike und bei einer
so erleuchteten und hohen Lebensanschauung hätte uns ein solches Werk
sicherlich die ursprüngliche patriarchalische Welt des Altertums in
einer vertrauten und heimischen Beleuchtung näherbringen müssen -- eine
Leistung, die weit höher zu bewerten ist, als jede eigene Schöpfung und
die Shukowski eine universelle Bedeutung verleihen würde. Shukowski
verhält sich zu unsern andern Dichtern wie ein Goldschmied zu andern
Handwerksmeistern: das heißt wie ein Meister, der sich nur mit der
letzten Verarbeitung des Materials beschäftigt. Es ist nicht seine
Aufgabe, den Edelstein aus Bergestiefen ans Licht zu fördern: er hat dem
Diamanten lediglich die Fassung zu geben, die ihn in seinem vollen
Glanze erstrahlen läßt und jedem seinen ganzen Wert vor Augen führt. Ein
solcher Dichter konnte nur aus dem russischen Volke hervorgehen, dem
vielleicht nur darum eine geniale Empfänglichkeit verliehen ward, um all
dem, was die andern Völker noch nicht in ihrem Wert erkannt, nicht
verarbeitet oder übersehen hatten, eine edlere Form zu verleihen.

Während Shukowski noch in der ersten Periode seiner Dichtung stand,
während er noch bemüht war, die Poesie aus den Fesseln des Irdischen und
Greifbaren zu befreien und sie in die Sphäre unkörperlicher Gesichte zu
erheben, suchte ein anderer Dichter, Batjuschkow, wie im bewußten
Gegensatz zu ihm sie fester in der Erde und im Physischen zu verwurzeln,
indem er uns den ganzen bezaubernden Reiz einer plastischen
Körperlichkeit verspüren ließ. Während jener sich ganz in den ihm selbst
noch nicht völlig klaren Idealen verlor, tauchte dieser vollkommen in
der üppigen Pracht des Sichtbaren unter, das er so deutlich empfand und
das ihn so stark ergriff. Er suchte das Schöne in allen Gestalten und
Formen, selbst in den abstraktesten, in die unmittelbare lebendige Lust
des Genusses aufzulösen. Er empfand, um sich seiner eigenen Worte zu
bedienen, »des Denkens und des Dichtens Wollust«. Es schien, als ob eine
innere Kraft im Schoße unserer Poesie diesen Dichter erschaffen hätte,
um sie von einer allzuweit gehenden Übertreibung zu bewahren, damit uns
der eine die nordischen Klänge der europäischen Sänger brächte, während
der andere unser Ohr mit den süßen Tönen des Südens labte, indem er uns
die Bekanntschaft mit Ariost, Tasso, Petrarka, Parni und den sanften
Klängen des alten Hellas vermittelte, auf daß selbst der Vers, der eine
gewisse ätherische Unbestimmtheit anzunehmen begann, sich mit einer fast
skulpturhaften Plastik, wie wir sie bei den Alten finden, und mit jenem
klingenden Wohllaute erfüllte, der uns im neuen Europa aus den Dichtern
des Südens entgegentönt.

Zwei ganz verschieden geartete Dichter hatten zwei durchaus verschiedene
Prinzipien in unsere Poesie hineingetragen; aus diesen beiden Prinzipien
bildete sich mit einem Schlage ein drittes: Puschkin trat auf den Plan.
Er bildet die Mitte: ohne die abstrakte Idealität des ersten und ohne
die schwellend-üppige Wollust des andern. Bei ihm hat alles sein
Gleichgewicht gewonnen, ist alles gedrängt, konzentriert wie in dem
russischen Menschen, der in der Wiedergabe seiner Empfindungen sparsam
mit Worten ist, und sie lange in sich hegt und zusammendrängt. Durch
eine lange Aufspeicherung nehmen sie einen explosiven Charakter an, wenn
sie herausbrechen. Ich will hier ein Beispiel anführen. Der Kasbek,
einer der höchsten Berge des Kaukasus, machte einen starken Eindruck auf
den Dichter. Er entdeckte auf dem Gipfel ein Kloster, das ihm wie die in
der Luft schwebende Arche Noahs erschien. Ein anderer Dichter hätte bei
dieser Gelegenheit viele Seiten mit glühenden Versen bedeckt: Puschkin
aber sagt alles in zehn Zeilen und beendet sein Gedicht mit folgender
unerwarteter Apostrophe:

   Ersehntes fernes Friedensreich!
   Könnt ich zu deiner Gnadenstelle
   Mich aus der Schluchten Haft befrein
   Und in der ätherlichten Zelle
   Allzeit dem Schöpfer nahe sein!

                                                            (Fiedler.)

Das und nur das durfte ein Russe sagen, während ein Franzose, ein
Engländer oder ein Deutscher einen langen Bericht über ihre Empfindungen
gegeben hätten. Noch nie haben wir einen Dichter gehabt, der so sparsam
in Wort und Ausdruck war wie Puschkin, der sich selbst so wenig
beobachtete, nur um nie etwas Überflüssiges oder Übertriebenes zu sagen,
da er in beiden Fällen die Banalität scheute.

Was war nun der Gegenstand seiner Dichtung? Das Ganze, nicht das
Einzelne war das Objekt seiner Dichtung. Unser Denken versagt vor der
ungeheuren Mannigfaltigkeit seiner Stoffe. Was hat ihn nicht ergriffen
und was hat ihn nicht gefesselt? Von den über den Wolken thronenden
Gipfeln des Kaukasus oder einem malerischen Tscherkessen, bis zu der
elenden Hütte des Nordens und einer Schenke mit Balaleikaspiel und
Trepak; -- überall und allerorten: wird ihm der Ball, die Hütte, die
Steppe, der Reisewagen, kurz, alles zum Objekt seiner Dichtung. Auf
alles, was im Innern des Menschen vorgeht, von den höchsten und
erhabensten Charakterzügen bis zum kleinsten Seufzer menschlicher
Schwäche, bis zur kleinsten Regung des Aberglaubens, die ihn beunruhigt,
reagiert er mit der gleichen Stärke wie auf jeden Vorgang der äußeren
und sichtbaren Natur. Alles formt sich ihm zu einem abgeschlossenen
Bilde, alles wird ihm zum Gegenstand, aus dem Größten schlägt er
elektrische Funken jenes poetischen Feuers, das in jeder von Gottes
Schöpfungen lebt: jedem Ding weiß er seine schönste Seite abzugewinnen,
die nur dem Dichter bekannt ist, ohne daß er dabei an eine Anwendung auf
das praktische Leben oder an die Befriedigung eines menschlichen
Bedürfnisses denkt. Er verrät niemand, warum dieser Funke aufsprühte,
und reicht keinen von denen, die taub für die Poesie sind, eine Leiter,
die dorthin führt. Er kümmerte sich um niemand, es gab für ihn nur einen
Wunsch: den mit poetischen Gefühl Begabten zuzurufen: »Schaut hin, wie
herrlich ist doch Gottes Schöpfung!«, und sich dann sogleich, ohne noch
etwas hinzuzufügen, dem nächsten Gegenstand zuzuwenden, um abermals
auszurufen: »Schaut hin, wie herrlich ist Gottes Schöpfung!« Was daher
an seinen Werken immer wieder in Erstaunen setzt, ist der Widerspruch
der Gefühle, die sie in dem Leser hervorrufen. Nach der Ansicht von
sonst vielleicht klugen Leuten, denen es jedoch an poetischem Empfinden
fehlt, sind seine Dichtungen unvollendete, leicht hingeworfene Fragmente
-- Kinder des Augenblicks. Nach der Ansicht dichterisch empfindender
Menschen dagegen stellen sie reiche, wohldurchdachte, vollendete
Dichtungen dar, die alle Elemente eines wirklichen Kunstwerks ich sich
vereinigen.

Puschkin gegenüber verstummten alle Fragen, die bis dahin noch an keinen
von unsern Dichtern gerichtet worden waren, und die von dem Geist eines
erwachenden Zeitalters Zeugnis ablegen. Wozu diente, welchen Sinn hatte
seine Poesie? Was für eine neue Richtung, welche neue Wendung hat
Puschkin der Welt des Geistes gegeben? Was hat er ausgesprochen, dessen
sein Zeitalter bedurfte, wonach es verlangte? Hat er einen heilsamen
oder wohl gar einen destruktiven Einfluß auf dieses Zeitalter ausgeübt?
Hat er, wenn auch nur durch seinen eigenen Charakter oder seine
Persönlichkeit auf andre Menschen gewirkt: durch die Genialität seiner
Verirrungen, wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter zweiten
Ranges und minderwertige Poeten? Warum ward er der Welt geschenkt, und
was hat er mit seinem Auftreten bewiesen? Puschkin ward der Welt
geschenkt, um durch sein Dasein zu demonstrieren, was der Dichter ist,
und sonst nichts -- _was der Dichter ist_, sofern man ihn nicht als
Produkt einer bestimmten Epoche oder bestimmter Verhältnisse aber auch
nicht als Produkt seines eigenen persönlichen Charakters, d. h. als
Mensch betrachtet, sondern unabhängig von allen diesen Faktoren in
Betracht zieht, damit, wenn später einmal irgendein höherer Seelenanatom
der Sache auf den Grund gehen und sich darüber klar werden wollte, was
der Dichter in seinem innersten Wesen eigentlich ist: dieses zarte
feinnervige Geschöpf, das auf alles in der Welt reagiert, selbst ewig
einsam bleibt, und bei keinem Verständnis findet -- damit es ihm dann an
nichts fehle, da er in Puschkin alle diese Züge vereint finden würde.
Puschkin war der einzige, dem diese unabhängige Geistesart und eine so
fein gestimmte Seele beschieden ward, in der alles ein Echo fand und die
bei jedem Ton, der die Luft durchbebte, mitschwang. Wenn wir an einen
Dichter denken, stellen wir ihn uns mehr oder weniger leibhaftig vor.
Vor wem ersteht nicht bei dem Gedanken an Schiller sofort diese reine
kindliche Seele, die stets von den höchsten und letzten Idealen träumte,
sich eine Welt aus ihnen erschuf und damit zufrieden war, daß sie in
dieser poetischen Welt leben durfte? Wer denkt, wenn er Byron liest,
nicht an Byron selbst, diesen stolzen, mit allen Gaben des Himmels
begnadeten Mann, der doch der Vorsehung nie seinen geringfügigen
körperlichen Fehler vergeben konnte, tönt doch der Groll des Dichters
über dies Gebrechen bis in seine Dichtungen hinein. Selbst Goethe,
dieser Proteus unter den Poeten, der alles umfassen wollte, die ganze
Welt der Natur und die gesamte Welt der Wissenschaft, bringt gerade in
diesem wissenschaftlichen Streben seine Persönlichkeit zu so deutlichem
Ausdruck, eine Persönlichkeit, die eine echt deutsche Würde atmet und
nach echt deutscher Art den Anspruch erhebt, allen Zeitaltern und
Epochen genug zu tun. Alle unsere Dichter: Dershawin, Schukowski,
Batjuschkow haben ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Physionomie.
Nur Puschkin hat keine. Was wollte man auch aus seinen Dichtungen für
Züge herauslesen, die für ihn persönlich charakteristisch wären? Man
versuche es doch einmal, seinen Charakter als Mensch zu fassen. Statt
seiner wird man sich immer wieder jener wunderbaren Gestalt
gegenübersehen: der Gestalt des Menschen, in dessen Seele alles ein Echo
findet, und der allein einsam und unverstanden bleibt. Alle seine Werke
sind ein reiches Arsenal aller Werkzeuge, Waffen und Rüstungen der
Dichtung. Nun denn, so tretet herein und wählet euch das Werkzeug, das
euch paßt, und zieht mit ihm hinaus in die Schlacht; nur der Dichter
selbst mischt sich nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf. Und
warum hat er das nicht getan? -- Das ist eine andre Frage. Er selbst
beantwortet sie mit den Versen:

   Nicht unser Teil ist das Getümmel
   Des Pöbels Hast und Waffenklang,
   Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
   Begeistrung, Inbrunst und Gesang.

                                                          (Eliasberg.)

Puschkin verstand seine Bedeutung besser als die, die ihm solche Fragen
vorlegten, und widmete sich voller Liebe seiner Aufgabe. Selbst in
Zeiten, wo er im Dunst der Leidenschaften versank, war die Poesie ihm
heilig -- wie ein Tempel. Nie betrat er unrein und ungeschmückt dies
Heiligtum; und er brachte nie etwas Unüberlegtes und Übereiltes aus
seinem Leben mit sich, wenn er ihn betrat; nie durfte sich die rohe
ungezügelte Wirklichkeit in ihrer Nacktheit dort hineinwagen. Und doch
ist alles darin -- seine eigene Geschichte. Allein das bleibt allen
verborgen. Der Leser atmet nichts als Wohlgeruch, was jedoch alles im
Busen des Dichters zu Asche verbrennen mußte, damit diese Wohlgerüche
aus ihm aufsteigen konnten, das ahnt keiner. Und wie hütete er sie in
seinem Innern; wie sorgsam hegte er sie in sich! Kein italienischer
Dichter hat seine Sonette so sorgfältig gefeilt, wie er an diesen
leichten Werken gearbeitet hat, die uns wie Kinder des Augenblicks
anmuten. Welche peinliche Genauigkeit liegt in jedem Wort! Wie bedeutend
ist jeder Ausdruck! Wie ist hier alles abgerundet, wie vollkommen und in
sich geschlossen. Jedes Gedicht ist eine Perle, es ist schwer, zu
entscheiden, welche Elegie die vorzüglichste ist -- sie gleichen alle
den glänzenden Zähnen des schönen Mädchens, die der König Salomo mit den
jungen Schafen vergleicht, welche eben aus dem Taufbecken steigen und
alle gleich schön sind.

Wie hätte er über die Dinge sprechen können, die unsere moderne
Gesellschaft interessieren und die für sie von Bedeutung sind, wenn er
für jegliches Ding dieser Welt ein offenes Ohr haben wollte, wenn alles
ein Echo bei ihm finden sollte und wenn jeder Gegenstand ihn in gleicher
Weise anzog? Er wollte in seinem »Onegin« den modernen Menschen
darstellen und ein modernes Problem lösen -- allein er vermochte es
nicht. Er stieß seine Helden von ihrem Postament herunter, trat selbst
an ihre Stelle und fühlte sich in ihrer Person auf's tiefste von allem
ergriffen, was den Poeten ergreift. So wurde dies Poem zu einer Sammlung
heterogenster Gefühle, zarter Elegien, boshafter Epigramme und
malerischer Idylle; wenn man es durchgelesen hat, behält man wiederum
nichts zurück als das Bild des Dichters, dessen Seele auf alles reagiert
und für alles Verständnis hat. Seine vollkommensten Schöpfungen: »_Boris
Godunow_« und die Dichtung »Poltawa« sind gleichfalls treue Spiegelungen
der Vergangenheit. Er hatte durchaus nicht die Absicht, durch sie zu
seiner Zeit zu reden; er dachte nicht daran, seinen Landleuten einen
Dienst zu leisten, als er sich diese beiden Stoffe auserwählte, man hat
auch nicht das Gefühl, daß er eine besondere Sympathie für einen der
hier dargestellten Helden empfunden und gerade aus diesem Grunde den
Plan zu diesen beiden Dichtungen gefaßt hätte, die so meisterhaft und so
künstlerisch gestaltet und durchgearbeitet sind. Das Staunen und die
Verwunderung über diese beiden historischen Ereignisse trieben ihn dazu,
sie zu gestalten, denn er wollte, daß auch andere Menschen über sie
staunen und sich über sie wundern sollten.

Die Lektüre der Dichter aller Zeitalter und Nationen erzeugte bei ihm
dieselbe Resonanz. Der spanische Held Don Juan, dies unerschöpfliche
Thema unzähliger dramatischer Dichtungen, gab ihm plötzlich die Idee
ein, den ganzen Stoff in einem kurzen dramatischen Bilde konzentriert
darzustellen, in dem die unwiderstehliche lockende Macht dieses
Verführers und die Schwäche des Weibes mit einer unerhörten
Seelenkenntnis geschildert ist und in dem Spanien mit ungewöhnlicher
Anschaulichkeit vor uns ersteht. Goethes Faust brachte ihn plötzlich auf
den Gedanken, die Grundidee des deutschen Dichters auf zwei oder drei
Seiten zusammenzudrängen, und man ist erstaunt, mit welcher
Treffsicherheit sie erfaßt und trotz der Unbestimmtheit und
Sprunghaftigkeit, die sie bei Goethe hat, zu einem festen kernhaften
Ganzen zusammengefaßt ist. Die strengen Terzinen Dantes legten ihm die
Idee nahe, im gleichen Versmaß und im Geiste Dantes die kindlichen
Anfänge seines dichterischen Schaffens während seines Aufenthalts in
Zarskoje Selo zu schildern, die Wissenschaft als strenge Frau, die die
Kinder in die Schule treibt, und sich selbst als Schuljungen
darzustellen, der aus der Klasse entronnen ist, sich in den Garten
geflüchtet hat, und nun vor den antiken Statuen steht, die Zirkel und
Lyra in der Hand tragen, und die ihm mehr zu sagen haben und eine
lebendigere Sprache führen, als die Wissenschaft. Das beweist wieder,
wie früh schon diese große Feinfühligkeit und diese Fähigkeit, auf alle
Dinge der Welt mit äußerster Feinheit zu reagieren, in ihm erwachten.

Und wie wahr und treu spiegelt er alles wieder! Wie empfindlich ist sein
Gehör. Man spürt förmlich den Duft, man glaubt die Farbe der Länder, der
Zeiten und Völker förmlich mit dem Auge zu schauen. In Spanien ist er
ein Spanier, unter Griechen ist er ein Grieche, im Kaukasus ist er der
freie Bergbewohner im vollsten Sinne des Worts; weilt er unter den
Menschen vergangener Epochen, so geht von ihm selbst ein Hauch der
versunkenen Zeit aus; blickt er in die Hütte des Bauern -- so ist er
jeder Zoll ein Russe; alle Züge unseres Wesens finden sich bei ihm
vertreten, und das alles ist häufig in ein einziges Wort, in ein
einziges mit wunderbarer Feinheit gewähltes, treffendes Adjektivum
zusammengefaßt.

Diese Fähigkeit entwickelte sich immer kräftiger in ihm, und er hätte
sicherlich noch einmal das ganze russische Leben dichterisch gestaltet,
wie er ja auch auf jeden einzelnen Zug dieses Lebens reagiert und ihm
Beachtung geschenkt hat. Der Gedanke eines Romans, in dem er die
schlichte kunstlose Geschichte vom einfachen ehrlichen russischen Leben
erzählen wollte, beschäftigte ihn während dieser Zeit unablässig. Er
schrieb nur deshalb keine Gedichte mehr, um sich durch nichts ablenken
zu lassen, um sich einen schlichteren Erzählerton anzugewöhnen, und er
befleißigte sich in der Prosa einer solchen Einfachheit, daß man an
seinen ersten Erzählungen so gar nichts zu loben fand. Puschkin freute
sich darüber und schrieb dann die »_Hauptmannstochter_«, sicherlich das
beste Werk unserer Erzählungsliteratur. Gemessen an der
»Hauptmannstochter« erscheinen alle unsere Romane und Erzählungen wie
fades Gesalbader. Die Reinheit und Kunstlosigkeit der Darstellung haben
hier eine solche Höhe erreicht, daß die Wirklichkeit daneben fast wie
gekünstelt und wie eine Karikatur erscheint. Zum erstenmal treten uns
hier wahrhaft russische Charakter entgegen: der einfache Kommandant der
Festung, die Hauptmannsgattin, der Leutnant, die Festung selbst mit
ihrer einzigen Kanone, die Unruhe und Verworrenheit der Epoche und die
schlichte Größe dieser einfachen Leute, -- das alles ist nicht nur
lauterste Wahrheit, sondern beinahe etwas noch Höheres als sie. Und so
muß es auch wirklich sein: das ist ja gerade die Bestimmung des
Dichters, uns selbst, unser Ich -- aus uns herauszuheben und uns unser
Selbst in geläuterter veredelter Gestalt zurückzugeben. In Puschkin
deutete alles darauf hin, daß er für diesen Beruf geboren, daß dies sein
Streben war. Fast zugleich mit der Hauptmannstochter entstanden die
wundervollen Fragmente zweier Romane, die er uns hinterlassen hat: »Die
Handschrift des Dorfes Gorochino« und »Der Mohr des Zaren«, sowie der
mit Bleistift geschriebene Entwurf zu dem großen Roman »Dubrowski«.
Während der letzten Jahre hatte er viel vom russischen Leben kennen
gelernt, und er sprach so gescheit und so klug über alle Dinge, daß man
jedes Wort hätte aufschreiben mögen: denn seine Worte waren mindestens
so bedeutend wie seine besten Verse. Was aber noch merkwürdiger war, das
war der Bau, der in seiner eigenen Seele emporwuchs und von dem aus sich
ein noch helleres Licht über das Leben verbreitet hätte. Die Anklänge
daran kann man in einem, erst nach seinem Tode veröffentlichten Gedicht
vornehmen [hier wird in fast apokolyptischen Tönen die Flucht aus einer
dem Untergang geweihten Stadt und zum Teil auch sein eigener
Seelenzustand geschildert]. Wieviel Schönes reifte in diesem Menschen
heran, was Rußland zum Heil und Segen hätte gereichen können. -- Aber in
dem Maße, als er sich dem Mannesalter näherte und von überall her Kräfte
zu großen Taten sammelte, dachte er um so weniger darüber nach, wie er
mit den kleinen und nichtigen Dingen fertig werden sollte. Ein
plötzlicher Tod riß ihn mit einem Schlage von uns hinweg, und jeder Mann
im ganzen Staate erfuhr plötzlich, daß wir einen großen Mann verloren
hatten. Der Einfluß des Dichters Puschkin auf die Gesellschaft war
äußerst geringfügig. Das Publikum beachtete ihn nur zu Beginn seiner
dichterischen Laufbahn, als er mit seinen ersten Jugenddichtungen noch
an die Töne der Byronschen Leier erinnerte; als er sich jedoch selbst
gefunden hatte und nun nicht mehr Byron, sondern Puschkin selbst wurde,
da wandte sich das Publikum von ihm ab. Allein sein Einfluß auf die
Dichter war sehr groß. Karamsin hat auf dem Gebiet der Prosa lange nicht
das geleistet, was Puschkin auf dem Gebiet des Verses gewirkt hat. Die
Nachahmer Karamsins lieferten traurige Karikaturen seiner Manier, und
ihr Stil und ihre Gedanken nahmen etwas unangenehm Süßliches an.
Puschkin dagegen wirkte auf alle Dichter seiner Zeit wie ein vom Himmel
fallendes poetisches Feuer, an dem sich alle andern Dichter, die selbst
Charakter und eigene Farbe hatten, entzündeten wie die Lichter. Ein
ganzer Sternenkreis von Dichtern scharte sich um ihn: _Delwig_, dieser
Sybarit unter den Poeten, der jeden Ton seiner fast hellenischen Leier
förmlich auszukosten schien und den Trank der Poesie nicht etwa mit
einem Zug hinabstürzte, sondern tropfenweise schlürfte, wie ein
Weinkenner seine Blume genießt und seinen Duft einsaugt. _Koslow_, eine
harmonische Natur, aus dessen Mund ungewohnte Töne einer zu Herzen
gehenden Musik, wie man sie bisher noch nie vernommen hatte, an unser
Ohr klangen. _Baratynski_, ein Dichter von strenger, fast finsterer
Eigenart, der schon früh ein tief in seinem Wesen wurzelndes Streben
nach innen an den Tag legte, dessen Gedanken ganz auf die Welt unserer
Seele gerichtet waren und der sich bereits um ihre äußere Formung
bemühte, noch ehe sie in ihm selbst völlig ausgereift waren. Finster und
noch unfertig, wie er war, trat er vor das Publikum, entfremdete sich so
alle Leute, und so gelang es ihm nie, jemand nahezukommen. Alle diese
Dichter hat Puschkin zum Dichten angeregt, während er andre geradezu
erst erschaffen hat. Ich meine hier unsere sogenannten anthologischen
Poeten, die nur wenig produziert haben, aber wenn wir unter diesen
duftigen Blumen eine Auswahl treffen, so ließe sich wohl ein Buch daraus
machen, unter das die besten Dichter ruhig ihren Namen setzen könnten.
Ich brauche nur die beiden Tumanski, A. Krylow, Tjutschew, Pletnjew und
einige andere zu nennen, die nie ihr eigenes poetisches Licht hätten
leuchten lassen und nie solch reiner, schöner seelischer Regungen fähig
gewesen wären, wenn sie ihr Feuer nicht an dem Puschkins hätten
entzünden können. Selbst ältere Dichter stimmten unter seinem Einfluß
ihre Leier um. Der bekannte Übersetzer der Odyssee, _Gneditsch_, der
Nachdichter der _Psalmen_, _Th. Glinka_, der Freischärler und Dichter
_Dawydow_ und endlich selbst Shukowski, Puschkins Lehrer und Erzieher in
der Dichtkunst, gingen bei ihm in die Schule, und der Lehrer lernte von
seinem Schüler. Selbst solche Köpfe wurden zu Poeten, die gar nicht für
den Dichterberuf geboren waren, sondern vor denen sich eine keineswegs
geringere Laufbahn eröffnete, wenn man nach den geistigen Kräften und
Leistungen urteilen darf, die sie mit ihren dichterischen Versuchen
vollbrachten, so z. B. _Wenewitinow_, der uns so früh entrissen wurde,
oder Chomjakow, der Gott sei Dank noch am Leben ist und dem noch eine
herrliche Zukunft bevorsteht, die sich ihm selbst noch nicht völlig
enthüllt hat. Diese anregende erweckende Kraft Puschkins ist sogar für
manche gefährlich geworden, besonders für Baratynski und für noch einen
Dichter, von dem unten die Rede sein wird; sie wurde ihnen dadurch
gefährlich, weil sie sie veranlaßte, gleich einen Ausdruck für ihre noch
gänzlich unausgereiften seelischen Regungen zu suchen, obwohl ihre
Seelen noch gar nicht von einer solchen Poesie erfüllt und durchdrungen
waren, die allen vertraut und verständlich gewesen wäre; sie hätten
lieber noch ein wenig an sich und an ihrem inneren Ich arbeiten und eine
Zeitlang schweigen sollen. Sie standen alle völlig im Bann dieser
unerhört künstlerischen Gestaltung und Formung dichterischer
Schöpfungen, deren Puschkin fähig war. Die ganze moderne Gesellschaft
und alle Bande, die den Menschen unserer Zeit mit ihr verbinden, alle
Ansprüche und Forderungen, die das Vaterland an ihn stellt, waren
vergessen, und alles lebte in einer Art poetischem Hellas und
deklamierte Puschkins Verse.

   Nicht unser Teil ist das Getümmel,
   Des Pöbels Hast und Waffenklang.
   Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
   Begeistrung, Inbrunst und Gesang.

Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt _Jasykow_ eine ganz
besondere Stelle ein. Gleich aus seinen ersten Versen dringt einem der
Ton einer neuen Leier entgegen, das sind ganz neue Laute, eine freie
wilde entfesselnde Kraft, eine Kühnheit in jedem Ausdruck, eine helle
jugendliche Begeisterung, wie sie in solcher Stärke und Vollendung bei
einer seelischen Beherrschung noch bei keinem Dichter dagewesen war. Es
ist kein Zufall, daß er den Namen _Jasykow_ (Herr der Zunge) trug: er
ist Herr über seine Zunge, wie ein Araber über sein wildes Roß, und es
ist fast so, als brüstete er sich mit seiner Macht über die Sprache. Er
mag eine Periode beginnen, wie er will: mit dem Kopf oder mit dem
Schwanze, sie steht in ihrer ganzen anschaulichen Bildhaftigkeit da, er
führt sie stets zu Ende und rundet sie ab, daß man von Staunen und
Bewunderung ergriffen wird. Das was die Kraft einer noch ungebrochenen
mächtigen, schwellenden Jugend ausmacht, einer Jugend, die noch voller
Zukunft ist, ist der Gegenstand seiner Dichtungen. Alles, was er
berührt, sprüht und strömt förmlich über von jugendlicher Frische.

Man denke zum Beispiel an sein Gedicht »Der Fluß«:

   Die Hüllen fort. Mit frischem Mut
   Streckt sich die Hand zu kräft'gen Schlägen,
   Und nun hinab. Und aus der Flut
   Sprüht auf ein Diamantenregen.
   Wie sind so stark, so frisch und kühl
   Die Elemente, die mich wiegen.
   Welch süßes, seliges Gefühl.
   Wenn kosend sie den Leib umschmiegen!

Oder man denke daran, wie er das Swaikaspiel schildert, das er geradezu
ein russisches Spiel genannt hat. Kraftvolle junge Burschen bilden einen
Kreis und

   Durch den Ring nach seinem Ziele
   Saust der Nagel -- er erklingt,
   Bis bei heitrem Scherz und Spiele
   Mild der Frühlingstag versinkt.

Alles, was den Jüngling zum kühnen Wagnis reizt -- das Meer, ein Sturm,
Festgelage und klingende Becher, ein brüderliches Bündnis voller
Tatkraft und Tatenlust, ein felsenfester Glaube an die Zukunft, die
Bereitschaft, jeden Kampf für das Vaterland zu bestehen -- dies alles
findet in seinen Gedichten einen Ausdruck von geradezu unerhörter Kraft.
Als die erste Buchausgabe seiner Gedichte erschien, sagte Puschkin
ärgerlich: Warum hat er das Buch: _Gedichte von Jasykow_ genannt, er
hätte es einfach _Rausch!_ betiteln sollen. Ein Mensch von
durchschnittsmäßiger Kraft wird nie etwas Ähnliches zustande bringen;
dazu bedurfte es einer Entfesselung aller Kräfte. Ich erinnere mich noch
lebhaft daran, wie begeistert er war, als er Jasykows Gedicht an Davydow
gelesen hatte, das gerade in einer Zeitschrift erschienen war. Damals
sah ich zum erstenmal eine Träne in Puschkins Auge (Puschkin pflegte nie
zu weinen, er sagt in der Epistel an Ovid von sich selbst: »Als rauher
Slawe kannt ich keine Tränen, doch ich verstehe sie.«) Ich erinnere mich
auch, welche Strophen ihn so bis zu Tränen rührten: es sind die beiden
ersten, in denen sich der Dichter an Rußland wendet, das man bereits für
schwach und kraftlos erklärt hatte, und in denen er ausruft

   Hört ihr die Trompete schmettern?
   Auf, der Feind ruft, Vaterland!
   Denk wie du beim Kriegeswettern
   Stets dem Gegner hieltest stand.
   Laß zum blut'gen Kampf sich rüsten
   Deine Recken, mutig, frei.
   Ruf aus Steppen sie und Wüsten,
   Von den Flüssen, von den Küsten,
   Aus dem fernsten Land herbei.

Und dann folgt die Strophe, in der jene unerhörte Tat der Aufopferung
dargestellt wird, wo der Dichter schildert, wie die eigene Hauptstadt
mit allen ihren Schätzen, die dem ganzen Lande heilig und teuer sind,
den Flammen geweiht wird.

   Erd' und Himmel stehn in Flammen,
   Goldgeschmückte, heilge Stadt.
   Moskau! Wie? Du stürzst zusammen?
   Hörst du's, Rußland? Auf zur Tat!
   Rase Feuer der Zerstörung!
   Du erhöhst nur unsern Mut.
   Diese flammende Verheerung
   Bringt uns Rettung, bringt Verklärung,
   Phönix schwingt sich aus der Glut.

Wem sollten solche Strophen nicht Tränen entlocken? Seine Verse sind wie
ein alle Kräfte entbindender durcheinanderrüttelnder Rausch, aber in
diesem Rausch liegt eine höhere Gewalt, die nach oben zieht. Für Jasykow
ist ein studentisches Gelage nicht so sehr eine Äußerung der Lust am
Zechen und am Rausch, als vielmehr die Freude über die Kraft, die die
jungen Arme schwellt, und über die große Zukunft, die der Jugend
bevorsteht, einer Freude darüber, daß die Studenten einmal fortstürmen
werden, um

   Der großen Sache treu zu dienen,
   Der Wahrheit, Ehre und dem Rechte.

Leider geht nur diese Rauschstimmung häufig bis ins Maßlose, und der
Dichter gibt sich allzusehr der Freude über die ihnen winkende Zukunft
hin, wie dies bei uns in Rußland so viele Leute tun, ohne über einen
großartigen Anlauf hinauszukommen.

Aller Augen waren auf Jasykow gerichtet. Alle Welt erwartete etwas
Außerordentliches von dem neuen Dichter, dessen Verse voll ritterlicher
Großsprechereien und voll Verheißungen gewaltiger Taten waren. Allein
die Erwartungen wurden nicht erfüllt. Es erschienen zwar noch ein paar
Gedichte von ihm, in denen die alten Töne noch einmal, wenn auch etwas
abgeschwächt, erklangen; dann aber wurde der Dichter von einer schweren
Krankheit heimgesucht, die nicht ohne Folgen für seine Geistesverfassung
blieb. In seinen letzten Versen gab es nichts mehr, was die russische
Seele ergriff. Sie enthielten nichts als eine Beschreibung der
Langenweile deutscher Städte, gleichgültige Reiseschilderungen und einen
Bericht über den einförmigen Verlauf peinvoller Tage. Das alles war dem
russischen Geiste fremd. Man achtete nicht einmal auf die
außerordentliche Sorgfalt, mit der in diesen späten Gedichten die Form
behandelt war. Allein seine Sprache, die hier noch kräftiger ist, wird
ihm gerade dadurch zur Verräterin: sie dient nur dazu, einen mageren
Gedanken und einen dürftigen Inhalt einzukleiden und gleicht so dem
Panzer eines Riesen, der den Leib eines Zwerges umschließt. Es wurde
sogar die Meinung laut, Jasykow hätte überhaupt keine Gedanken; er könne
nur hohle tönende Verse schmieden und sei überhaupt kein Dichter. Alles
begann wider ihn zu murren. Dieser Groll fand in den Zeitschriften ein
recht törichtes Echo, allein ihm lag wirklich ein berechtigter Kern
zugrunde. Jasykow hat, wenn er vom Dichter sprach, nie ausgerufen wie
Puschkin:

   Nicht unser Teil ist das Getümmel,
   Des Pöbels Hast und Waffenklang.
   Uns gab zur süßen Pflicht der Himmel
   Begeisterung, Inbrunst und Gesang.

Er läßt den Dichter vielmehr sagen:

   Poet, ist alles in dir reif zum Werke,
   Worin der Gott dem Menschen Gunst erweist,
   Des feurigen Gedankens hoher Geist,
   Der Rede Glut, des Wortes Stärke,
   So geh und künde, daß die Welt höre.

Freilich ist hier von dem idealen Dichter die Rede, aber er hat doch
sein Ideal aus seinem eigenen Wesen geschöpft. Wenn die Elemente dazu
nicht in ihm selbst gelegen hätten, dann hätte er sich den Dichter auch
nicht so denken können. Nein, nicht die Kraft hatte ihn verlassen, nicht
Mangel an Talent und an Ideen sind schuld an dem dürftigen Inhalt der
letzten Gedichte, wie anmaßende Kritiker behauptet haben, nicht einmal
seine Krankheit trägt die Schuld (die Krankheiten sind immer nur dazu
da, die Arbeit an einem Werk zu beschleunigen -- vorausgesetzt, daß der
Mensch ihren Sinn richtig erkennt) -- nein, es war etwas anderes, was
ihm die Kraft raubte: das Licht der Liebe war in seiner Seele erloschen.
Das war der Grund, weswegen auch das Licht seiner Poesie so viel trüber
brannte.

Du mußt das, dessen die Seele bedarf, was ihr not tut, mit solcher Kraft
und Stärke lieben lernen, wie du einst den Rausch deiner Jugend liebtest
-- dann werden deine Gedanken denselben Höhenflug nehmen, wie deine
Verse, und deinem Munde werden feueratmende Worte entströmen. Du wirst
uns dann die große Leere deines peinvollen Lebens schildern, aber du
wirst sie so schildern, daß der Mensch erschauert, daß er sich der
stählernen Kraft, die sich plötzlich in ihm regt, bewußt wird, und Gott
für das Übel danken wird, das ihm seine Kraft zum Bewußtsein brachte.
Jasykow hätte nicht in die Fußstapfen Puschkins treten und seinen Vers
nach seinem Vorbilde behandeln und formen dürfen; seine Domäne ist weder
die Elegie, noch sind es die Formen der Anthologie, sondern die des
Dithyrambus und des Hymnus. Das Gefühl haben alle. Und er hätte seine
Fackel eher an Dershawin als an Puschkin entzünden sollen. Seine Verse
gehen auch nur dann zu Herzen, wenn sie sich im vollen Glanz der Lyrik
entfalten; ein Gegenstand gewinnt nur dann Leben, wenn er sich entweder
bewegt, oder tönt, oder leuchtet, und nicht, wenn er ruht. Das Los der
verschiedenen Dichter ist sehr ungleich. Der eine hat die Aufgabe, ein
treuer Spiegel und ein treues Echo des Lebens zu sein, und dazu ward ihm
ein vielseitiges Talent für das beschreibende Genre verliehen. Ein
anderer erhält die Bestimmung, eine die Gesellschaft vorwärtstreibende,
sie erweckende Kraft zu sein, sie zu den höchsten und hochherzigsten
Regungen anzufeuern -- und dazu ward ihm ein lyrisches Talent verliehen.
Wenn ein solches Talent seinen Weg nicht findet, so liegt es daran, daß
es seine geistigen Augen nicht auf sich selbst richtet. Aber die
Vorsehung sorgt besser für den Menschen. Sie führt ihn durch Unglück,
Bosheit und Krankheit mit Gewalt dahin, wohin er allein nicht den Weg
gefunden hätte. In der Lyrik Jasykows machte sich übrigens wieder ein
Streben zur Umkehr auf den rechten, ihm vorgezeichneten Weg erkennbar.
Erst neulich haben wir sein Gedicht »Das Erdbeben« kennen gelernt, das
nach der Ansicht Shukowskis unser bestes Gedicht ist.

Unter den Dichtern der Puschkinschen Epoche nimmt Fürst Wjasemski eine
besondere Stelle ein. Obwohl seine literarische Wirksamkeit lange vor
Puschkin begann, müssen wir ihn doch erst hier nennen, da er erst nach
dem Auftreten Puschkins den Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte.
Fürst Wjasemski steht in diametralem Gegensatz zu Jasykow: während jener
durch seine Gedankenarmut auffällt, setzt dieser durch die Fülle seiner
Ideen in Erstaunen. Der Vers ist für ihn nur Mittel zum Zweck, das erste
beste Werkzeug, das sich ihm darbietet. Er verwendet nicht die geringste
Sorgfalt auf seine äußere Form, ebensowenig wie auf die Konzentration,
auf die Vollendung und Abrundung der Gedanken, um seine Idee dem Leser
wie ein kostbares Kleinod vor Augen zu stellen: er ist kein Künstler und
legt wenig Wert auf das alles. Seine Gedichte sind -- Improvisationen,
obwohl man freilich für derartige Improvisationen sehr große und
vielseitige Fähigkeiten und einen Kopf von großer Reife und Ausbildung
mitbringen muß. Er vereinigt in sich eine außerordentliche Menge
vielseitiger Talente, eine starke Anschauung, Beobachtungsgabe, eine
Fähigkeit für unerwartete Schlüsse und Folgerungen, Gefühl, Verstand,
Scharfsinn, Heiterkeit und sogar Melancholie. Jedes dieser Gedichte ist
ein buntes Gemisch aus all diesen Eigenschaften. Er ist kein geborener
Poet. Die Vorsehung, die ihn mit allen Talenten begabt hatte, hatte ihm
gleichsam als Zugabe auch noch die Gabe der Dichtkunst verliehen, um
etwas Ganzes und Vollkommenes aus ihm zu machen. In seinem Buch: Die
Biographie Von Wisins tritt die reiche Fülle seiner Talente, über die er
verfügte, mit besonderer Deutlichkeit zu Tage. Aus diesem Buche spricht
der Politiker, der Philosoph, der feine Kunstliebhaber und Kritiker, der
gediegene Staatsmann und sogar der erfahrene Kenner der praktischen
Seiten des Lebens -- kurz, hier finden sich alle Fähigkeiten vereinigt,
über die ein tiefer, ernster Historiker im höchsten Sinne dieses Wortes
verfügen muß. Und wenn dieselbe Feder, die die Biographie Von Wisins
geschrieben hat, uns die Regierungszeit Katharinas geschildert hätte,
die uns heute bereits durch ihren Reichtum, ihre Buntheit und durch die
große Zahl außerordentlicher Menschen und Charaktere, die sich hier
begegneten, in einem beinahe phantastischen Lichte erscheint, so könnte
man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß Europa wohl nie ein
historisches Werk von ähnlicher Bedeutung hervorgebracht hätte. Das aber
ist gerade der wunde Punkt im Schaffen des Fürsten Wjasemski, daß es ihm
an einer großen, umfassenden Aufgabe fehlt, und das macht sich sogar in
seinen Gedichten bemerkbar. Man hat das Gefühl, daß sich die einzelnen
Teile nicht zu einer harmonischen Gesamtwirkung zusammenfügen und merkt
ihnen einen großen, inneren Zwiespalt an. Die Worte harmonieren nicht
miteinander, ebensowenig wie die Verse; dicht neben einem starken
kraftvollen Vers, wie wir ihn in ähnlicher Schönheit bei keinem andern
Dichter finden, steht eine andere Zeile, die der ersten nicht im
mindesten gleichkommt; bald greift er uns mit einem Gefühl an die Seele,
das mitten aus unserem Herzen gerissen scheint; bald wieder stößt er uns
ab durch einen Ton, der uns innerlich fremd ist, und der dem Gegenstand
nicht im mindesten entspricht, man fühlt, daß ihm die innere Sammlung
fehlt, daß er nicht zur vollen, lebendigen Entfaltung seiner Kräfte
gelangen kann. Tief unten auf dem Grunde des Ganzen macht sich eine
gewisse Gedrücktheit und Unfreiheit bemerkbar. Das Los eines Menschen,
dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente verliehen werden, und der
keine große Aufgabe finden kann, die alle seine Fähigkeiten bis auf die
letzte in Anspruch nimmt, ist schlimmer, als das des ärmsten Bettlers.
Nur eine solche Sache, die den Menschen in sein Inneres zurückführt und
ihn veranlaßt, in sich selbst einzukehren, bringt wahre Erlösung. Nur
bei solch einer Arbeit, sagt der Dichter, können

   Der Seele Flügel sich entfalten,
   Erstarkt der Wille, und das Walten
   Des Schicksals zeichnet klar sich ab.

Während unsere Poesie ihren Weg unter der Führung und Leitung der
Dichter aller Zeiten und Völker so schnell und in so eigenartiger Weise
zurücklegte, während die Klänge aller Länder, in denen es eine
Dichtkunst gibt, ihr Ohr trafen und sie selbst sich in allen Tonarten
und Akkorden versuchte, stand ein Dichter einsam und abseits von allen
andern. Er hatte den unscheinbarsten und schmalsten Pfad gewählt und
schritt solange still und geräuschlos auf ihm dahin, bis er eines Tages
über alle andern hinausgewachsen war, wie eine starke Eiche sich hoch
über ein Gehölz erhebt, in dem sie sich anfänglich versteckte. Dieser
Dichter war -- Krylow. Er hatte die Form der Fabel gewählt, die alle
Welt bisher für eine alte, kaum noch verwendbare Gattung oder gar für
ein Kinderspielzeug gehalten und darum vernachlässigt hatte, und er
brachte es fertig, mit Hilfe dieser Fabel zu einem wirklichen
Volksdichter zu werden. Das war einer von unsern harten starken
russischen Köpfen, ein Geist, der dem Geist unserer Sprichwörter so nahe
verwandt ist; hier regt sich jener Verstand, der die Stärke des Russen
ausmacht, und sich in der Fähigkeit, Folgerungen zu ziehen, bekundet,
der sogenannte nachhinkende Verstand. Das Sprichwort stellt nicht etwa
eine vorgefaßte Meinung oder eine Vermutung über eine Sache dar, sondern
vielmehr das Fazit, die Summe des Ganzen, den Bodensatz, den
Niederschlag völlig durchgegorener und bereits vollendeter Tatsachen,
den endgültigen Extrakt, die Essenz aus der ganzen Sache, aus allen
ihren Faktoren und nicht bloß aus einem einzigen Faktor. Das kommt auch
in dem Spruch zum Ausdruck: »Bloße Reden ergeben noch kein Sprichwort.«
Dieser »nachhinkende« Verstand, dieses Talent für radikale endgültige
Folgerungen, das dem russischen Volk vor allen andern Völkern eigen ist,
macht, daß unsere Sprichworte so viel bedeutsamer sind, als die aller
andern Nationen. Nicht nur in dem reichen Gedankengehalt, sondern auch
in dem Ausdruck spiegeln sich viele von unseren nationalen
Eigentümlichkeiten. In ihnen ist alles enthalten: Spott, Ironie, eine
Mahnung, kurz alles, was geeignet ist, den Menschen aufzurütteln und
seinen wundesten Punkt zu berühren; wie ein hundertäugiger Argus blickt
jedes von ihnen den Menschen an. Alle großen Männer von Puschkin bis auf
Suworow und Peter den Großen haben unsere Sprichwörter geliebt und
bewundert. Die hohe Würdigung, die man ihnen angedeihen ließ, kommt in
vielen Aussprüchen zum Ausdruck: »Ein Sprichwort wird nicht umsonst
geprägt« oder »ein Sprichwort bleibt ewig bestehen.« Es ist ja bekannt,
daß, wenn man sich darauf versteht, seine Rede durch ein geschickt
gewähltes Sprichwort zu bekräftigen, man sie dadurch dem Volke mit einem
Schlage verständlich macht, selbst wenn sie seine Begriffe noch so sehr
übersteigt.

Das sind die Wurzeln, aus denen Krylow hervorgewachsen ist. Seine Fabeln
sind nicht etwa für Kinder geschrieben. Man würde sich eines groben
Irrtums schuldig machen, wenn man ihn einen Fabeldichter von der Art der
Lafontaines, Dmitriews, Chemnitzers oder gar eines Ismailow nennen
wollte. Seine Gleichnisse sind ein festes nationales Besitztum und
bilden das Buch der Weisheit unsers Volkes. Seine Tiere denken und
handeln nach echt russischer Weise. Die Streiche, die sie einander
spielen, sind ein Spiegelbild der Kniffe, der Listen, der Streiche, die
in Rußland üblich sind und dessen, was in unserem Lande zu passieren
pflegt. Abgesehen von der getreuen Erfassung des tierischen Charakters,
die bei ihm so genau und treffend ist, daß nicht nur der Fuchs, der Bär
und der Wolf, sondern sogar der Topf lebendig werden, lassen alle
Geschöpfe auch ihre echt russische Wesensart erkennen.

Selbst der Esel, der bei ihm so wunderbar typisch charakterisiert ist,
daß er nur seine Ohren aus irgendeiner Fabel hervorzustecken braucht,
damit der Leser sofort ausruft: das ist Krylows Esel, -- selbst der Esel
ist, trotzdem er doch den Ländern einer andern Zone angehört, bei Krylow
ein echter Russe. Nachdem er mehrere Jahre hindurch fremde Gemüsegärten
geplündert hat, wird er plötzlich von einem mächtigen Ehrgeiz erfaßt, er
will durchaus einen Orden haben, und tut fürchterlich wichtig, als sein
Herr ihm ein Glöckchen um den Hals gehängt hat, denn er kommt nicht auf
den Gedanken, daß ja jetzt jeder seiner Diebstähle und jeder schlechte
Streich, den er begehen wird, von allen bemerkt werden und daß es nun
bei jeder Gelegenheit kräftige Schläge auf die Lenden setzen wird. Kurz
-- überall befindet man sich bei ihm in Rußland, überall fühlt man sich
an Rußland erinnert. Überdies hat jede seiner Fabeln noch ihren
historischen Ursprung. Denn trotz seiner Bedachtsamkeit und seiner
scheinbaren Gleichgültigkeit gegen die Vorgänge und Ereignisse seiner
Zeit verfolgte der Dichter jede Begebenheit, die sich in seinem
Vaterlande abspielte mit großer Aufmerksamkeit: alles fand bei ihm eine
Resonanz, und in seinen Urteilen findet stets das kluge Maß, die rechte
Mitte ihren Ausdruck, aus ihnen spricht die versöhnende Stimme des
Mittlers, eine Eigentümlichkeit, die Rußlands Stärke ausmacht, wenn der
russische Geist sich zu seiner wirklichen Höhe emporschwingt. Durch ein
streng abgewogenes kräftiges Wort beleuchtet Krylow mit einem Schlage
den ganzen Gegenstand und bestimmt er sein wahres eigentliches Wesen.
Als einmal ein paar allzusehr für das militärische Wesen begeisterte
Leute behauptet hatten, daß der ganze Staat ausschließlich auf die
militärische Macht gegründet werden müsse und daß in ihr das ganze Heil
liege, während die Zivilbeamten sich ihrerseits über alles, was mit dem
Militär zusammenhing, lustig machten, bloß weil ein Paar Leute das ganze
Militärwesen zu einer Epauletten- und Litzenfrage gemacht hatten, da
schrieb er seinen berühmten Streit zwischen den Kanonen und den Segeln,
in dem er beide Parteien mit folgenden vier Zeilen in ihre rechtmäßigen
Grenzen verweist:

   Darin besteht des Staates wahre Macht,
   Daß alle Teile weise Frieden halten.
   Die Waffen stehen drohend auf der Wacht,
   Die Segel sind der Bürger -- Rechtsgewalten.

Wie treffend ist diese Entscheidung! Ohne Kanonen ist keine Verteidigung
möglich, ohne Segel aber kommt man auf der See überhaupt nicht vom
Flecke. Ein anderes Mal wiederum, als ein Paar Regierungsbeamte, die die
allerbesten Absichten hatten, sich jedoch durch eine große
Kurzsichtigkeit auszeichneten, auf den seltsamen Gedanken verfallen
waren, man müsse sich vor den gescheiten und energischen Leuten in acht
nehmen und sie bei der Besetzung der Ämter übergehen, bloß weil sich
gerade damals einzelne von ihnen einige lose Streiche hatten zuschulden
kommen lassen und sich an einem törichten Unternehmen beteiligt hatten,
da schrieb Krylow seine nicht weniger bedeutende Fabel: Die beiden
Rasiermesser, in der er sich gegen die Beamten wendet, die

   Die klugen Menschen fürchten
   Und lieber sich an einen Dummkopf halten.

Man merkt, daß er überall Partei für den Verstand nimmt, überall mahnt
er immer wieder, man solle den klugen Mann nur ja nicht unterschätzen,
sondern man solle ihn richtig behandeln lernen. Dieser Gedanke kommt in
der Fabel »_Die Musikanten_« zum Ausdruck, die mit den Worten schließt:
»Ich möcht dich lieber trinken sehn, tust du nur deine Sache ganz
verstehn.« Das sagt er nicht etwa, um das Trinken und Zechen zu
verherrlichen, sondern weil ihm das Herz wehe tat, wenn er mit ansehen
mußte, wie manche Leute sich statt tüchtiger sachverständiger Männer
allerhand hergelaufenes Gesindel herholten, und sich dann noch dessen
rühmten und erklärten, sie verständen zwar nichts von ihrer Sache,
hätten dafür aber ein ausgezeichnetes Benehmen. Er wußte, daß man bei
einem klugen Menschen alles erreichen könne und daß es nicht schwer sei,
ihm auch ein gutes Betragen beizubringen, wenn man es nur versteht,
verständig mit ihm zu sprechen, dagegen sei es sehr schwer, einem
Dummkopf Verstand beizubringen, selbst wenn man noch so viel auf ihn
einredet: »Mit einem Diebe -- ist man wie auf hoher See, mit einem
Dummkopf wie in einem Topf mit abgerahmter Milch.« Aber auch dem
Gescheiten weiß er ein kräftiges Wort zu sagen, in der Fabel »Teich und
Fluß« tadelt er ihn heftig, weil er seine Fähigkeiten einschlafen läßt,
und in der Fabel »Der Schriftsteller und der Räuber« straft er ihn, weil
er sie zu schlimmen und lasterhaften Zwecken mißbraucht. Überhaupt
beschäftigten ihn immer nur große und bedeutende Fragen. Aus einem Buch
kann jeder Mensch Belehrung schöpfen, alle Stände und Ränge im Staate,
in erster Linie das Oberhaupt, von dem er sagt:

   Wenn ein Monarch sein Volk erfolgreich lenken will,
   Muß er die Zügel fest, doch allzu straff nicht halten,

ebenso wie der letzte Tagelöhner, der in den untersten Reihen des
Staatskörpers steht und wirkt. Ihn weist er auf seine hohe Aufgabe hin,
indem er ihn an die Biene erinnert, die nie darum bemüht ist, ihrer
Arbeit eine besondere Würde zu verleihen.

   Welch hoher Achtung wert ist auch der niedre Mann,
   Der ungeehrt und im Verborgnen lebt
   Und den für alle Sorgen, Mühn und Plagen
   Der einzige Gedanke nur erhebt!
   Er muß sie für das allgemeine Beste tragen.

Diese Worte werden ein ewiges Zeugnis für den hohen Sinn Krylows
bleiben. Kein Dichter hat je vermocht, seinen Gedanken eine so greifbare
Form zu geben, sie so allgemein verständlich auszudrücken, wie Krylow.
Der Dichter und der Weise sind in ihm eins geworden. Bei ihm ist alles
plastisch und anschaulich, seine Schilderungen der Natur in ihren hohen
Reizen und in ihrer drohenden Größe, ja selbst in ihrer Häßlichkeit und
in ihrem Schmutz, bis zu den feinsten Wendungen eines Gesprächs, die
eine lebendige Offenbarung der innersten seelischen Regungen sind. Alles
ist so treffend ausgedrückt, so richtig beobachtet, die Dinge sind mit
einer solchen Sicherheit erfaßt, daß es eigentlich unmöglich ist,
festzustellen, was das Charakterische der Krylowschen Schreibweise
ausmacht. Der Versuch wäre vergeblich, das Wesen seines Stils zu
ergründen. Der Gegenstand scheint überhaupt keine sprachliche Hülle zu
besitzen und ganz nackt, ganz nur er selbst, so wie die Natur ihn
geschaffen hat, vor unseren Augen zu stehen. Seine Verskunst spottet
gleichfalls jeder Definition. Es läßt sich nicht sagen, worin ihre
Eigenart besteht: Ist dieser Vers klangvoll, leicht, oder schwerfällig?
Er fängt an zu tönen, wo sein Gegenstand zu tönen beginnt, er wird
lebendig und beweglich, wo sich der Gegenstand bewegt, er wird kraftvoll
und ehern, wo der Gedanke stark und kräftig ist und er wird plötzlich
leicht, wo die Kraft und Schwere der Gedanken dem leichten
oberflächlichen Geschwätz der Toren Platz macht. Seine Sprache folgt
willig und gehorsam dem Gedanken, sie schwirrt hin und her wie eine
Fliege; bald bewegt sie sich in langen sechsfüßigen Versmaßen, bald
wieder in schnellen einfüßigen; in der wohlüberlegten Silbenzahl
offenbart sich aufs deutlichste ihre unfaßbare Geistigkeit. Man denke
bloß an den großartigen Schluß der Fabel »Die beiden Fässer«:

   Den großen Mann erkennt man an der Tat
   Und die Gedanken, die sein Hirn erfüllen,
   Denkt er im Stillen.

Hier glaubt man aus der Anordnung und der Folge der Worte förmlich die
Größe des in sich selbst versenkten Menschen herauszufühlen.

Von Krylow werden wir sofort zu einer andern Gattung unserer Poesie,
nämlich zur satirischen Form hinübergeleitet. Wir Russen besitzen alle
viel Ironie. Sie kommt schon in unseren Sprichwörtern und Liedern zum
Vorschein und, was das Merkwürdigste ist, häufig selbst da, wo die Seele
ganz offenkundig leidet und wo sie gar nicht zur Heiterkeit aufgelegt
ist. Die Tiefe dieser urwüchsigen Ironie hat sich uns noch nicht völlig
erschlossen, weil wir auf allen Gebieten den Einflüssen der europäischen
Bildung unterlegen sind und uns auch in diesem Punkte von unserer
heimatlichen Wurzel losgelöst haben. Die Tendenz zur Ironie haben wir
uns indessen doch erhalten, wenn auch in etwas anderer Form. Es ist
schwer, einen Russen zu finden, in dem sich nicht einerseits die
Fähigkeit ehrfürchtiger Hingabe an einen Gegenstand mit der Neigung zum
Spott und ehrlichem Lachen vereinigt fände. Alle unsere Dichter haben
diese Fähigkeit besessen. Dershawin hat den größeren Teil seiner Oden
mit diesem kräftigen Salze gewürzt. Wir finden sie aber auch bei
Puschkin, bei Krylow, beim Fürsten Wjasemski, wir finden sie selbst bei
solchen Dichtern, deren Charakter eher zu einer sanften Melancholie
neigt: bei Kapnist, bei Shukowski, bei Karamsin, beim Fürsten Dolgoruki;
dies ist ein Zug, der uns allen gemeinsam ist. So wird es begreiflich,
daß unser Volk geborene Satiriker im wahren Sinn dieses Wortes
hervorbringen konnte. Schon zu jener Zeit, als Lomonossow sich bemühte,
seine Leier auf einen hohen lyrischen Ton abzustimmen, entdeckte Fürst
Kantemir mancherlei Stoffe für die Satire und geißelte in seinen
Dichtungen die Torheit unsrer noch im Werden begriffenen Gesellschaft.
Wir besitzen Satiren, Epigramme, boshafte karikaturistische Umdichtungen
der bekanntesten Dichtungen und alle möglichen Parodien voll Spott und
Ironie aus allen Epochen, sie alle werden wahrscheinlich ewig nur im
Manuskript erhalten bleiben, obwohl sie von starkem Talent zeugen. Man
denke nur an die Parodien des Fürsten Gortschakow, an die Satire auf die
Literaten von Wojeikow »Das Irrenhaus« und an die talentvollen Parodien
Michael Dmitrijews, in denen sich die Galle Juvenals mit einer
eigentümlichen slawischen Gutmütigkeit mischt. Indes die Satire brauchte
bald ein größeres Wirkungsfeld für ihre Entwicklung, und so drang sie
allmählig auch in das Drama ein. Das Theater hatte bei uns denselben
Ursprung wie überall; wir begannen zunächst mit Nachahmungen; bald
jedoch kamen auch originelle Züge zum Vorschein. In der Tragödie regten
sich sittliche Mächte und eine Erkenntnis des Menschen, wie er sich
unter dem Einfluß einer bestimmten Epoche, eines bestimmten Zeitalters
darstellte; in der Komödie ergossen die Dichter ihren milden Spott über
die lächerlichen Seiten unserer Gesellschaft, ohne sich um die Seele der
Menschen zu kümmern. Namen wie denen Oserows, Knjaschnins, Kapnists,
Fürst Schahowskois, Chmelnitzkijs, Sagoskins, A. Pissarews usw., haben
wir ein achtungsvolles Gedächtnis bewahrt, sie alle aber verblassen vor
zwei hervorragenden Werken, nämlich vor den beiden Komödien »_Der
Landjunker_« von Von _Wisin_ und vor Gribojedows »_Verstand bringt
Leiden_«, die Fürst Wjasemski geistreich zwei moderne Tragödien genannt
hat. Dies ist mehr als ein leichter milder Spott über die komischen und
lächerlichen Seiten der Gesellschaft, hier werden die Wunden und
Krankheiten der Gesellschaft und schwere Mißbräuche in ihrem Innern
aufgedeckt, die durch die Kraft einer unerbittlichen Ironie mit
erschütternder Deutlichkeit in ihrer ganzen Nacktheit ans Licht gestellt
werden. Von diesen beiden Komödien hat jede eine besondere Epoche zum
Gegenstand; die eine geißelt die Übel, die aus der Unbildung -- die
andere die, die aus einer mißverstandenen Bildung entspringen. Die
Komödie Von Wisins richtet sich gegen die rohe Brutalität des Menschen,
dies Produkt einer stumpfen unerschütterlichen Stagnation der entlegenen
Teile und Provinzen Rußlands. Sie schildert die Rinde von Roheit und
Brutalität, die die Gesellschaft umgibt, in so furchtbaren Farben, daß
man in diesem Stück den Russen kaum noch wiedererkennt. Wer vermag noch
einen russischen Zug in diesem boshaften Wesen voll tyrannischer Gelüste
zu entdecken: in dieser Frau Prostakowa, der Peinigerin ihrer Bauern,
ihres Mannes sowie aller Menschen mit der einzigen Ausnahme ihres
Sohnes? Und doch fühlt man deutlich, daß in keinem Lande, weder in
Frankreich noch in England, ein solches Wesen möglich wäre. Diese
unsinnige Liebe zu ihrem Kinde -- ist unsere eigene, starke russische
Liebe, die sich in einem Menschen, der seine Menschenwürde eingebüßt
hat, in so unnatürlicher Weise äußert: in dieser sonderbaren Mischung
mit einer tyrannischen Sinnesart; denn je mehr sie ihr Kind liebt, um so
mehr haßt sie alles, was nicht ihr Kind ist. Der Charakter Skotinins
stellt ein anderes Beispiel der Verrohung dar. Dieser plumpe
schwerfällige Mensch, der wiederum gar keine starken und wilden
Leidenschaften kennt, geht völlig in einer stillen Liebe zum Vieh auf,
die fast etwas Poetisches hat; statt auf den Menschen, richtet sie sich
auf das Tier: die Schweine bedeuten für ihn ebensoviel wie eine
Gemäldesammlung für einen Kunstliebhaber. Sodann der Mann der Frau
Prostakowa -- dies unglückliche, völlig verschüchterte Geschöpf, in dem
selbst die schwachen Kräfte und Regungen, die noch in ihm waren,
gänzlich durch die ewigen Nörgeleien seiner Gattin erstickt sind -- in
ihm ist alles abgestorben! Und endlich dieser Mitrophan, in dessen Natur
keinerlei Bosheit liegt, der niemand etwas Böses antun will, und der
doch ganz unmerklich, infolge der übermäßigen Verzärtelung, und weil
jeder seiner Wünsche erfüllt wird, zum Tyrannen seiner ganzen Umgebung,
am meisten jedoch der Menschen wird, die ihn am innigsten lieben, d. h.
seiner Mutter und seiner Wärterin, so daß es ihm geradezu ein Genuß ist,
sie zu kränken und zu beleidigen. Kurz, diese Menschen scheinen
eigentlich gar keine Russen zu sein, es ist schwierig, überhaupt noch
einen russischen Zug in ihnen wiederzufinden, abgesehen etwa von der
Jeremejewna und dem alten Soldaten. Man erfährt mit Schrecken, daß bei
ihnen weder der Einfluß der Kirche noch die guten alten Sitten etwas
auszurichten vermögen, von denen sich bei ihnen nichts als das Häßliche
und Gemeine erhalten hat; hier hat nur noch das eherne Gesetz zu
sprechen. In dieser Komödie erscheint alles wie eine monströse Karikatur
auf das Russentum, und doch enthält sie nichts Karikiertes, alles ist
mitten aus dem Leben geschöpft und mit tiefster Seelenkenntis
beobachtet. Dies sind ungeheuerliche schreckliche Beispiele der
Verrohung, wie sie nur ein Mensch, dessen Wiege in Rußland gestanden
hat, nie aber der Sohn eines andern Volkes erschaffen konnte.

Die Komödie von Gribojedow behandelt eine andere gesellschaftliche
Epoche, sie schildert das Übel, das durch eine schlecht verdaute
Aufklärung, die oberflächliche Nachäffung mondäner Äußerlichkeiten statt
des Kernhaften und Wesentlichen hervorgerufen wird, kurz, sie macht sich
die Donquichotterien unserer europäischen Bildung, die unorganische
Vermischung der Sitten und Bräuche, die die Russen so sehr ihrem eigenen
Wesen entfremdet und zu Ausländern gemacht hat, zum Vorwurf. Der Typus
des Famussow ist ebenso tief erfaßt, wie der der Frau Prostakowa. Mit
derselben Naivität, wie Frau Prostakowa sich ihrer Unwissenheit, rühmt
_er_ sich seiner Halbbildung, und zwar sowohl seiner eigenen wie der des
ganzen Standes, dem er angehört: er ist stolz darauf, daß die jungen
Mädchen von Moskau die höchsten Töne singen können, daß sie keine zwei
einfache ungezierte Worte zu sagen vermögen, daß seine Türe allen offen
steht, den Geladenen wie den Ungeladenen, besonders aber den Ausländern
und daß in seinem Bureau lauter Verwandte sitzen, die nichts zu tun
haben. Er ist ein Mann von gutem würdigen Benehmen und zugleich ein
Schwerenöter; er predigt Moral und ist ein Feinschmecker und ein Freund
opulenter Diners, die ihm drei Tage lang im Magen liegen. Er ist sogar
ein Freidenker, wenn er in Gesellschaft ähnlicher alter Herren weilt,
wie er selbst einer ist, und will doch keinen jungen Freigeist auf
Schußweite in die Stadt hineinlassen; diesen Namen hält er nämlich für
jeden bereit, der die Bräuche der vornehmen Welt nicht aufs strengste
beobachtet. Im Grunde genommen ist dies einer jener ausgebrannten
Menschen, die trotz all ihres weltmännischen »_comme il faut_« gänzlich
leer und hohl sind, deren Verweilen in der Hauptstadt und deren
Beschäftigung mit dienstlichen Angelegenheiten für die Gesellschaft
ebenso schädlich sind, wie andere Leute sie dadurch schädigen, daß sie
dem Dienst zu entfliehen suchen und beständig auf dem Lande sitzen, wo
sie vollends verrohen. Erstens leiden schon ihre Güter darunter, da sie
ihre Bewirtschaftung gedungenen Arbeitern und Verwaltern überlassen und
immer nur Geld für Bälle, sowie große und kleine Diners von ihnen
verlangen; damit zerstören sie das gesunde heilige Band, das einstmals
den Gutsherrn mit seinen Bauern einte; ferner aber leiden darunter auch
die dienstlichen Angelegenheiten: indem sie nämlich alle Ämter und
Posten ausschließlich mit ihren Verwandten besetzen, die nichts zu tun
haben und sich dem Müßiggang ergeben, berauben sie den Staat der
wirklichen tätigen Arbeiter und nehmen einem jede Lust, bei einem
ehrlichen Menschen in den Dienst zu treten; endlich aber diskreditieren
sie auch noch das Ansehen der Regierung durch ihren zweideutigen
Lebenswandel -- denn indem sie sich selbst den Anschein geben, als seien
sie wohlgesinnte Leute, die [dem Zaren] treu ergeben sind, -- verlangen
sie von den jungen Leuten, daß sie Tugend heucheln sollen, dabei aber
führen sie selbst einen lasterhaften Lebenswandel, bringen so die Jugend
gegen sich auf und pflanzen denen, deren Köpfe nicht allzu
widerstandsfähig und zu allerhand Extremen geneigt sind, -- Mißachtung
des Alters, wahrer Verdienste und Neigung zu wirklichem Freidenkertum
ein. Nicht weniger bedeutsam ist ein anderer Typus: _Sagorezki_, dieser
ausgesprochene Lump, über den alle schimpfen und der doch
wunderbarerweise überall empfangen wird, ein Lügner und Gauner, der es
aber versteht, sich bei allen hochgestellten und einflußreichen
Persönlichkeiten beliebt zu machen, indem er ihnen das zu verschaffen
weiß, wofür sie eine schmähliche Schwäche haben; ja er ist, wenn es
darauf ankommt, sogar bereit, ein Patriot und ein Vorkämpfer der
Sittlichkeit zu werden, einen Scheiterhaufen zu entzünden und alle
Bücher, die es auf der Welt gibt, und mit ihnen zugleich alle
Fabeldichter [wegen ihrer ewigen Scherze über die Löwen und Adler] zu
verbrennen, womit er übrigens verrät, daß er, der sich vor nichts
scheut, -- nicht einmal vor dem elendsten Geschimpf und Gezänk --
dennoch den Spott fürchtet, wie der Teufel das Kreuz. Nicht minder
hervorragend ist eine dritte Figur: der törichte Liberale _Repetilow_,
dieser Ritter der Hohlheit und Torheit, in welcher Gestalt sie auch
immer erscheinen mag. Die ganze Nacht über eilt er von Versammlung zu
Versammlung, und freut sich, Gott weiß wie sehr, wenn es ihm gelingt,
Anschluß an irgendeine Gesellschaft zu finden, in der viel Lärm gemacht
und laute Reden über Gegenstände geführt werden, die er nicht versteht,
und deren Sinn er nicht einmal wiederzugeben vermag; trotzdem aber hört
er sich all die verrückten Phantastereien begeistert an, und er ist
überzeugt, daß er sich nun endlich auf dem richtigen Wege befindet, und
daß hier wirklich eine große soziale Aufgabe vorliegt: ein Problem, das
zwar noch nicht reif ist, dessen wahre Bedeutung sich jedoch schon
offenbaren wird, wenn man nur gehörig Lärm macht, sich nachts recht
häufig versammeln und heftige Diskussionen führen wird. -- Auf derselben
Höhe steht ein vierter Typus: der dumme [Soldat] _Skalosub_, der seinen
Dienst so versteht, daß es dabei lediglich darauf ankommt, die
verschiedenen Abzeichen und Uniformen unterscheiden zu können, der dabei
aber an einer eigenartigen philosophischen [liberalen] Anschauung über
die Ränge und Titel festhält. Er erklärt ganz offen, er halte sie für
die unentbehrlichen Kanäle, die zum Generalsrang führen; und habe er
erst den, dann möge kommen, was da will. Sonst macht er sich keine
Sorgen, die Zustände seiner Epoche und seines Zeitalters machen ihm
nicht viel Kopfzerbrechen, er ist fest davon überzeugt, daß man Ruhe in
der Welt schaffen könne, wenn man ihr einen Feldwebel zum Voltaire gibt.
Ein prachtvoller Typus ist ferner auch die alte Chlöstowa, diese
traurige Mischung aus der Hohlheit und Trivialität zweier Jahrhunderte.
Von dem ganzen Inhalt der alten Zeiten hat sie lediglich deren Torheit
und Hohlheit ererbt und für diese fordert sie Achtung von der jungen
Generation, sie verlangt, daß dieselben Menschen, die sie verachtet, sie
respektieren sollen, überhäuft jeden, der ihr in den Weg läuft, mit
Vorwürfen, weil er sich in ihrer Gegenwart nicht richtig hingesetzt oder
umgedreht habe, es gibt kein Wesen, das sie liebt und achtet, dafür aber
protegiert sie kleine Negerjungen, Möpse und Leute von der Art einer
Moltschalin, kurz, sie ist ein widerwärtiges altes Weib im vollen Sinn
des Wortes. _Moltschalin_ ist gleichfalls ein glänzender Typus. Diese
stumme gemeine Kreatur ist mit außerordentlicher Treffsicherheit erfaßt.
Dieser Mensch arbeitet sich ganz still und geräuschlos empor, schlummert
doch nach Tschatzkys Worten in ihm ein künftiger Sagorezki. Ein solcher
Haufen von Ungeheuern, deren jedes in sich das Zerrbild einer Meinung,
eines Prinzips, einer Idee darstellt, ihren vernünftigen Sinn in seiner
Weise entstellt und in sein Gegenteil verkehrt, mußte eine Reaktion
hervorrufen und zu dem entgegengesetzten Extrem führen, wie es in seiner
ganzen Schroffheit durch Tschatzky repräsentiert wird. Tschatzky geht in
seinem Ärger und in gerechter Empörung gegen alle diese Leute
gleichfalls viel zu weit und bemerkt nicht, daß er gerade dadurch und
durch seine unbeherrschte Sprache unerträglich und lächerlich wird. Alle
Personen des Gribojedowschen Dramas sind ebensosehr Produkte der
Halbbildung, wie die Personen im Drama Von Wisins Produkte der
Unbildung, russische Ungeheuer, Krüppel, vorübergehende
Zeiterscheinungen sind, die aus einer durch neue Fermente
hervorgerufenen Gärung entsprungen sind. Kein einziger von ihnen stellt
einen echten, wahrhaft russischen Typus dar: in keinem von ihnen regt
sich der russische Bürger. Der Zuschauer bleibt gänzlich im Ungewissen,
wie nun ein Russe in Wahrheit sein soll. Selbst Tschatzky, diese
Persönlichkeit, die offenbar vorbildlich wirken soll, zeigt nur ein
Streben, eine Tendenz zu einem bestimmten Ziel, und äußert bloß ihre
Entrüstung über alles Gemeine und Verächtliche in der Gesellschaft, ohne
in Wirklichkeit in sich selbst der Gesellschaft ein Muster und Vorbild
aufzustellen.

Beide Komödien erfüllen die Forderungen der dramatischen Technik nur
schlecht, in dieser Beziehung ist ihnen jedes noch so minderwertige
französische Stück überlegen. Der Kern der Intrige, der Knoten des
Dramas wird weder straff geknüpft noch kunstvoll gelöst. Man hat den
Eindruck, als hätten die Komödiendichter sich hierfür nur wenig
interessiert, als repräsentiere ihnen der Stoff nur einen andern höheren
Inhalt, der allein für das Auftreten und den Abgang ihrer Person
maßgebend ist. Die Notwendigkeit der Nebenpersonen und Rollen steht
gleichfalls in keinem Zusammenhang mit der Hauptperson, mit dem Helden
des Stücks, sondern wird lediglich daran gemessen, inwieweit diese
Personen geeignet erscheinen, den Gedanken des Dichters durch ihre
Anwesenheit zu erläutern und zu ergänzen und das satirische Gesamtbild
zu vervollständigen. Wäre es anders, d. h. hätten die Dichter die
notwendigen Forderungen der Bühntechnik erfüllt und jede ihrer Personen,
die alle so außerordentlich glücklich erfaßt und gestaltet sind, sich
vor dem Zuschauer in einer lebensvollen Handlung und nicht in bloßen
Reden und Gegenreden ausleben lassen, so wären diese beiden Komödien
sicherlich zwei großartige Schöpfungen des russischen Genius geworden.
Auch jetzt kann man sie zwei echte soziale Komödien nennen; eine so
ausdrucksvolle und bedeutende Komödie hat es bisher, wie ich glaube,
noch bei keinem Volke gegeben. Bei den Griechen finden wir zwar Ansätze
zu einer sozialen Komödie, indessen ließ sich Aristophanes doch mehr
durch persönliche Sympathien leiten, er geißelte die Mißbräuche und
Fehler einzelner und behielt dabei nicht immer lediglich das Interesse
der Wahrheit im Auge: hat er es doch gewagt, was wohl ein genügender
Beweis dafür ist, den Sokrates zu verspotten. Unsere Komödiendichter
aber wurden von sozialen und nicht von persönlichen Motiven bewegt, ihre
Angriffe richteten sich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen
unzählige Mißbräuche, gegen Verirrungen der Gesellschaft und ihr
Abweichen vom geraden Wege des Rechts. Die Gesellschaft schien in ihnen
selbst Fleisch und Blut, schien Körper geworden zu sein; am lyrischen
Feuer der Entrüstung entzündete sich ihr kraftvoller schonungsloser
Spott. Da ist eine Fortsetzung jenes Kampfes von Licht und Finsternis,
den Peter in Rußland entfacht hat, und der jeden hochherzigen Russen
unwillkürlich zu einem Vorkämpfer des Lichts macht. Beide Komödien sind
keine eigentlichen Schöpfungen der Kunst, und sind nicht aus der
Einbildungskraft des Dichters geboren. Es mußte sich schon viel Schmutz
und Unrat in unserem Lande angehäuft haben, damit zwei solche Werke ganz
aus sich selbst entstehen und wie ein reinigendes Gewitter an uns
vorüberziehen konnten. Und das ist der Grund, weswegen in unserer
Literatur kein Werk mehr auf sie gefolgt ist, das ihnen gleichkam, und
daß ihnen wahrscheinlich auch lange kein gleiches mehr folgen wird.

Mit dem Tode Puschkins kommt die Bewegung in unserer Literatur zum
Stillstand. Das bedeutet jedoch noch keineswegs, daß ihr Geist erloschen
ist; im Gegenteil, er sammelt sich gleich einem Gewitter in der Ferne,
und die Trockenheit und die schwüle Luft kündigen sein Nahen an. Schon
heute gibt es viele talentvolle Leute unter uns. Aber noch verspüren wir
die Nachwirkung der harmonischen Puschkinschen Töne; noch vermag niemand
diesem Zauberkreis, den er um uns gezogen hat, zu entrinnen und zu
zeigen, was er selbst vermag. Ja niemand scheint etwas davon zu merken,
daß eine neue Zeit angebrochen ist, daß sich neue Lebensgrundlagen
herausgebildet haben, und daß neue Fragen laut zu werden beginnen, die
wir bisher nicht vernommen haben; daher haben sie alle noch keine eigene
Farbe und keine selbständige Individualität. Man tut sogar besser, diese
Dichter gar nicht beim Namen zu nennen, außer dem einen _Lermontow_, der
die andern weit überholt hat und der nicht mehr unter den Lebenden
weilt. Er hat Zeugnisse eines erstklassigen Talentes abgelegt; eine
große Zukunft hätte ihm bevorgestanden, wenn nicht ein Unstern über ihn
gewaltet hätte und wenn er sich's nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß
dieser sein Schicksal lenke. Er war sehr früh in solche
Gesellschaftskreise gekommen, denen man wohl mit Recht nur eine
vorübergehende und zeitweilige Bedeutung beilegen kann, und die wie ein
armes Pflänzchen, das sich vom mütterlichen Boden losgerissen hat, dazu
verurteilt waren, traurig durch öde Wüsten zu irren, im sicheren Gefühl,
daß sie nie in einem andern Boden Wurzeln schlagen würden und daß es ihr
Los sei -- zu verwelken und elend zugrunde zu gehen -- daher diese
herzzerreißende Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt, die bei ihm
schon so früh zum Durchbruch kommt und die wir bisher noch bei keinem
unserer Dichter antrafen. Freudlose Begegnungen, ein schmerzloser
Abschied, seltsame und sinnlose Liebesbündnisse, die ohne Zweck und Ziel
geknüpft und ebenso ziel- und zwecklos wieder gelöst werden, das sind
die Gegenstände seiner Gedichte, daher konnte Shukowski das Wesen
dieser Poesie sehr treffend mit dem Ausdruck die Poesie der
_Illusionslosigkeit_ kennzeichnen. Lermontows Talent machte diese
Stimmung für eine Weile populär und modern. Wie einst unter dem
anfeuernden Einfluß Schillers eine Begeisterung durch die ganze Welt
ging, wie es eine Zeitlang modern war, sich zu begeistern, und wie eine
Weile nachher unter dem deprimierenden Eindruck der Byronschen Poesie
die Enttäuschung, die »Entgeisterung«, die _Desillusionierung_ im
Schwange war, die vielleicht nur die Folge einer übermäßigen
Begeisterung gewesen sein mag und dann gleichfalls modern wurde, so kam
endlich auch die Reihe an die Illusions_losigkeit_, dieses eigenste Kind
der Byronschen Enttäuschung und Desillusionierung. Die Zeit, während der
diese Stimmung herrschte, war freilich kürzer, als die Dauer der beiden
andern Modeströmungen, denn die Illusionslosigkeit hat für niemand etwas
Verlockendes. Lermontow glaubte, daß ein Dämon der Verführung Macht über
ihn habe, und so hat er es mehr als einmal versucht, sein Bild zu
gestalten, wie wenn er sich durch die dichterische Darstellung hätte von
ihm befreien können. Allein dies Bild nahm keine bestimmten scharfen
Konturen an, ja es fehlte ihm an jener verführerischen Macht über den
Menschen, die der Dichter ihm verleihen wollte. Man merkt es Lermontow
an, daß diese Gestalt nicht ein Produkt der eigenen Kraft, sondern der
Müdigkeit und der Unlust der Menschen ist, den Kampf mit dem Dämon
aufzunehmen. In einem unvollendeten Gedicht: »Ein Märchen für Kinder«
hat diese Gestalt mehr plastische Schärfe gewonnen, ist sie sinnvoller
geworden. Vielleicht hätte sich der Dichter, wenn er diese Erzählung,
die sicherlich sein bestes Gedicht ist, beendigt hätte, ganz von diesem
Dämon und damit auch von seiner trostlosen Stimmung befreit (Anzeichen
einer solchen Befreiung kann man bereits im »_Engel_«, im »_Gebet_« und
einigen andern Gedichten bemerken), wenn er nur selbst etwas mehr
Achtung und Liebe für sein Talent besessen hätte. Noch nie hat jemand
eine _solche_ beinahe prahlerische Mißachtung für sein Können zur Schau
getragen, wie Lermontow. Man hat nie den Eindruck, daß er etwas wie
Liebe für die Kinder seiner Phantasie empfinde. Kein einziges seiner
Gedichte ist liebevoll ausgetragen, sorgsam und mit der Zärtlichkeit
einer Mutter gehegt und gepflegt. Keins ist in sich gefestigt, ins
Gleichgewicht gebracht und konzentriert, sogar der Vers hat keine eigene
feste Physionomie und mutet wie eine matte Reminiszenz an Shukowskis
oder Puschkins Verse an. Überall herrscht Überfluß und ein unnötiger
Wortreichtum. Lermontows Prosawerke dagegen sind weit bedeutender. Noch
nie hat jemand eine so korrekte, schöne, duftige russische Prosa
geschrieben. Aus ihr spricht eine echte Vertiefung in das Leben und die
lebendige Wirklichkeit, hier kündigt sich der künftige große Maler und
Darsteller russischen Lebens an .... Da aber riß der Tod ihn plötzlich
von uns hinweg. Das Schicksal unserer Dichter hat etwas Schreckliches.
Sowie einer von ihnen seine eigentliche Bestimmung, seine wahre Aufgabe
aus den Augen verliert, nach einer andern greift oder in dem Getriebe
der vornehmen Gesellschaft untertaucht, in die er nicht hingehört und in
der ein Dichter nicht weilen darf, reißt ihn mit einem Schlage ein
plötzlicher gewaltsamer Tod aus unserer Mitte. Drei erstklassige
Dichter: Puschkin, Gribojedow und Lermontow wurden uns einer nach dem
andern während eines einzigen Dezenniums in der Blüte ihres Mannesalters
und ihrer Kräfte durch einen gewaltsamen Tod entrissen -- und doch hat
das auf keinen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht: unsere
leichtsinnige Generation fühlte sich nicht im geringsten erschüttert.

Doch es wird endlich Zeit, daß wir zum Schluß noch etwas darüber sagen,
was denn eigentlich unsere Poesie überhaupt darstellt, wozu sie da ist,
welchem Zwecke sie gedient und was sie für unser ganzes russisches
Vaterland geleistet hat. Hat sie zu ihrer Zeit den Geist der
Gesellschaft beeinflußt, hat sie jeden einzelnen je nach dem Platz, den
er einnahm, veredelt, hat sie zu seiner Erziehung beigetragen, hat sie
der Gesamtheit, gemäß dem Geist des Landes und den wurzelhaften Kräften
des Volkes, die die treibenden Mächte des Staates sein müssen, höhere
Begriffe eingepflanzt? Oder war sie lediglich ein treues Abbild unserer
Gesellschaft -- eine vollständige detaillierte Kopie, ein klarer Spiegel
unseres Lebens? -- Sie ist weder das eine noch das andere gewesen und
hat weder das eine noch das andere getan. Sie ist fast völlig unbekannt
geblieben, unsere Gesellschaft wußte so gut wie nichts von ihr; unser
Publikum genoß damals eine andere Erziehung unter der Leitung
französischer, deutscher und englischer Gouverneure, fremder Auswanderer
aus aller Herren Länder, aus allen Ständen und Berufen, von Menschen
ganz verschiedener Sinnesart, ganz verschiedener Grundsätze und
Anschauungen. -- Unsere Gesellschaft wurde -- was bisher noch mit keinem
Volke geschehen ist, mitten im eigenen Vaterlande in der Unkenntnis
ihres eigenen Landes -- erzogen. Selbst die eigene Sprache war
vergessen, so daß unserer Poesie alle Mittel und Wege abgeschnitten
waren, um bis ans Ohr unseres Publikums zu gelangen. Wenn es ihr aber
doch einmal glückte, bis zur Gesellschaft durchzudringen, so geschah
dies stets auf unnatürlichen Seitenwegen: entweder eine glücklich
erfundene Musik trug ein Gedicht bis in die Salons der vornehmen
Gesellschaft, oder die unreife Frucht eines jugendlichen Dichters, ein
minderwertiges Gedicht, das den fremdländischen -- freigeistigen Ideen,
die unserer Gesellschaft von irgendeinem fremden Gouverneur beigebracht
worden waren, nicht entsprach, wurde der Anlaß, daß das Publikum etwas
von der Existenz eines Dichters erfuhr, der sich in seiner Mitte
aufhielt.

Kurz -- unsere Poesie hat weder zur Belehrung und Erziehung unserer
Gesellschaft beigetragen, noch war sie ein Ausdruck dieser Gesellschaft.
Sie schwebte die ganze Zeit über gleichsam hoch _über_ der Gesellschaft,
wie im Gefühl, daß ihre Bestimmung nicht innerhalb der modernen
Gesellschaft liege, und wenn sie sich einmal bis zu ihr herabließ, so
nur zu dem Zwecke, um sie mit der Geißel der Satire zu treffen, nicht
aber, um den Nachkommen durch die Darstellung des gesellschaftlichen
Lebens ein Vorbild aufzustellen. Es ist höchst merkwürdig: trotz alledem
waren wir selbst Gegenstand unserer Dichtkunst, und doch erkennen wir
uns in ihr nicht wieder. Wenn uns ein Dichter unsere besten Seiten vor
Augen stellt, scheint er uns zu übertreiben und wir wollen nicht recht
daran glauben, was Dershawin uns über uns selbst sagt. Wenn aber ein
Schriftsteller die häßlichen und unwürdigen Züge unseres Wesens
schildert, so glauben wir ihm gleichfalls nicht, und wir halten das
Bild, das er von uns entwirft, für eine Karikatur. In der Tat, in beiden
Fällen ist irgendwo eine übertriebene, übersteigerte Kraft oder Potenz
vorhanden, und doch ist tatsächlich nichts übertrieben. Der Grund für
die erstere ist der, daß unsere lyrischen Dichter die Gabe haben, schon
in dem Keim, der dem gewöhnlichen Auge fast verborgen bleibt, die
künftige herrliche Frucht zu ahnen, und daher jeden Zug unseres Wesens
in gereinigter, geläuterter Gestalt vor uns erstehen lassen. Der Grund
der zweiten Erscheinung ist der, daß unsere satirischen Schriftsteller,
wenn auch in verschwommenen Umrissen, das Ideal des besseren russischen
Menschen in der Seele trugen und gerade deswegen alles Häßliche und
Gemeine in den wirklich existierenden Repräsentanten des Russentums nur
um so deutlicher sahen. Die Kraft einer edlen Empörung verlieh ihnen die
Fähigkeit, eine Sache weit klarer und schärfer zu beleuchten, als sie
dem gewöhnlichen Menschen erscheint. Das ist der Grund, weshalb sich in
der letzten Zeit von allen unseren Charakterzügen -- die Spottlust am
allerstärksten entwickelt hat. Bei uns lacht und spottet ein jeder über
seine Mitmenschen; ja im innersten Wesen unseres Landes liegt etwas,
eine Neigung, über alles zu spotten: über das Alte wie über das Neue,
und nur dem Achtung und Ehrfurcht zu bezeugen, was nie veraltet und was
ewig ist. So also hat unsere Dichtkunst nie den russischen Menschen in
seiner Vollständigkeit dargestellt, weder in dem _Ideal_, das er
erreichen _soll_, noch in seinem wirklichen _Dasein_, wie er heute in
Wirklichkeit _ist_. Sie hat lediglich eine schier unendliche Zahl von
Nuancen unserer verschiedensten Charaktereigenschaften aufgehäuft, sie
hat nur alle einzelnen Züge unserer vielseitigen Natur wie in einer
Schatzkammer vereinigt. Unsere Dichter hatten das Gefühl, daß die Zeit
noch nicht gekommen sei, uns vollständig und allseitig darzustellen, uns
unserer Eigenart zu rühmen, daß wir uns vielmehr erst organisieren, uns
selbst finden und Russen werden mußten. Unsere russische Natur ist heute
erst soweit erweicht und vorbereitet, um die ihr entsprechende Form
annehmen zu können; noch haben wir nicht Zeit gehabt, die Summe aller
Elemente und Prinzipien zu ziehen, die von überall her in unser Land
verpflanzt wurden; noch ist jeder von uns der Schauplatz, auf dem sich
Fremdes und Eigenes in bunter sinnloser Mischung begegnen, noch sind wir
nur ein unreifes unvernünftiges Resultat, um dessentwillen Gott diese
Mischung, dieses Zusammentreffen der Elemente angeordnet hat. Das haben
unsere Dichter gefühlt; aus diesem Gefühl heraus war es gleichsam ihre
stete Sorge, in diesem Kampfe die besten Züge unseres Wesens nicht
untergehen zu lassen. Sie nahmen dies Beste überall, wo sie es fanden,
und beeilten sich, es ans Tageslicht zu bringen, ohne viel danach zu
fragen, welchen Platz sie ihm anweisen sollten. So sucht der arme
Besitzer eines Hauses, das ein Raub der Flammen wird, alles Wertvolle,
was es birgt, zu retten, ohne sich viel um das übrige zu kümmern. Unsere
Poesie hat nicht für ihr Zeitalter getönt, sie ließ ihre Stimme
erschallen, damit wir, wenn die herrliche Zeit endlich anbrechen würde,
wo der Gedanke einer inneren Erbauung und Verkörperung des Menschen im
Bilde, für das ihn Gott erschaffen und das er auf sein Geheiß aus den
eigenen urwüchsigen Materialien unseres Landes errichten sollte, ganz
Rußland ergreifen und zum sehnlichsten Wünsche aller Russen werden würde
-- damit wir uns dann darüber klar wären, was alles an Gutem und Schönem
und Eigenem in uns verborgen liegt, und nicht vergessen, es bei diesem
Bau zu verwenden. Unsere eigenen Schätze werden sich uns immer mehr
enthüllen, je aufmerksamer wir uns in unsere Dichter hineinlesen werden.
In dem Maße, als wir sie mehr und besser kennen lernen werden, werden
wir auch ihre anderen höheren Eigenschaften verstehen lernen, die bisher
noch kein Mensch bemerkt hat: wir werden erkennen, daß sie nicht bloß
die Hüter unserer Schätze und Kostbarkeiten, sondern zum Teil auch
unsere Baumeister waren, sei es nun, daß sie sich dessen bewußt waren
oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich zu uns so
viel höheren Natur und Veranlagung einen unserer nationalen
Charakterzüge zur Darstellung gebracht, der in ihnen zu weit
kraftvollerer, deutlicherer Entwicklung gekommen ist, um sich uns in
seinem ganzen Glanz und in seiner ganzen Herrlichkeit zu enthüllen.
Dieses Streben Dershawins, das Bild eines starken, unbeugsamen Mannes
von einer ungeheuren, fast biblischen Größe zu zeichnen, hatte nichts
Willkürliches: den Keim dazu fand er in unserem Volke selbst. Die
mächtigen Züge eines großen und gewaltigen Menschen sind in ganz Rußland
überall so lebendig, daß selbst Ausländer, die etwas von Rußland kennen
gelernt haben, darüber erstaunt sind, noch ehe sie sich mit den Sitten
und Gebräuchen unseres Landes vertraut gemacht haben. Vor kurzem erst
hat einer von ihnen seine Memoiren herausgegeben, um Rußland Europa von
einer recht abschreckenden Seite zu zeigen, aber auch er vermag seine
Verwunderung über die schlichten Bewohner unserer Bauernhütten nicht zu
verhehlen[5]. Mit Staunen betrachtete er unsere ehrwürdigen weißhaarigen
Greise, die an der Schwelle der Hütten sitzen; erschienen sie ihm doch
wie die gewaltigen Patriarchen der alten biblischen Zeiten. Mehr als
einmal mußte er gestehen, daß ihm in keinem Lande Europas, das er
bereist hatte, das Bildnis des Menschen in solch einer an die
patriarchalisch biblische Größe gemahnenden Erhabenheit erschienen war.
Und dieser Gedanke kehrt in seinem Buch, das von einem mächtigen Haß
gegen unser Volk erfüllt ist, mehrfach wieder. Dieser Zug, d. h. diese
Feinfühligkeit, dieser scharfe _Instinkt_, der sich besonders bei
Puschkin mit solcher Stärke äußert, ist eine unserer nationalen
Eigentümlichkeiten. Man denke bloß an die Ausdrücke, mit denen das Volk
selbst diesen eigentümlichen Zug eines Charakters kennzeichnet, z. B. an
den Spitznamen _Ohr_, den man einem Menschen beilegt, in dem jede Fiber
zittert und zu sprechen scheint und der keinen Augenblick untätig sein
kann. Oder man denke an die Bezeichnung _Allerweltskerl_ für einen
Menschen, dem alles gelingt, und der mit allem fertig wird, und die Zahl
derartiger Ausdrücke, die die verschiedensten Nuancen und Schattierungen
dieses Charakterzugs bezeichnen, ist ganz außerordentlich groß.

[Fußnote 5: Der Marquis Custin.]

Das ist ein großer Zug in unserem Wesen: das Bild des russischen Mannes,
das Dershawin gezeichnet hat, wäre noch nicht vollständig und würde noch
nicht die ganze herbe Größe atmen, wenn es diesem Manne an dem feinen
Gefühl, an der Fähigkeit fehlte, lebhaft auf jeden Naturgegenstand zu
reagieren und bei jedem Schritte voll Staunen über die Schönheit der
Schöpfungen Gottes zu verharren. Dieser Verstand, der die richtige
Mitte, das Maß eines jeden Dinges zu finden weiß, wie wir ihn besonders
bei Krylow finden, das ist der echt russische Verstand. Nur in Krylow
äußert sich dieser sichere Takt des russischen Geistes, der es versteht,
das wahre Wesen einer Sache zum Ausdruck zu bringen, und es auszudrücken
vermag, ohne jemand durch ein Wort zu verletzen und Menschen von anderer
Sinnesart gegen sich und seinen Gedanken aufzubringen, kurz jener
sichere Takt, den wir durch unsere weltmännische Erziehung und Bildung
verloren haben und den sich nur noch unsere Bauern erhalten haben. Unser
Bauer versteht es, so freimütig mit allen Höhergestellten und über ihm
Stehenden zu sprechen [selbst mit dem Zaren], wie keiner von uns, und
dabei verletzt er mit keinem Worte den Anstand, während wir es häufig
nicht einmal verstehen, mit einem Gleichgestellten zu reden, ohne ihn
durch einen Ausdruck zu verletzen. Wenn dafür aber einmal in einem von
uns dieser innere sichere, echt russische geistige Takt wirklich
vorhanden ist, dann genießt er bei uns die Achtung aller Leute, ihm wird
kein Mensch es verwehren, etwas zu sagen, was man einem andern nie
gestatten würde, ihm nimmt niemand etwas übel. Alle unsere
Schriftsteller haben Feinde gehabt, selbst die gutmütigsten unter ihnen
und die, die das beste Herz hatten. (Man denke nur an Karamsin und
Shukowski.) Krylow aber hatte nie einen Feind. Dieser _jugendliche
Wagemut_ und dieser stürmische Drang, seine Kräfte für alles Hohe und
Gute einzusetzen, der in den Versen Jasykows pulsiert, das ist die
überschäumende Kraft unseres russischen Volkes, jene herrliche
Eigenschaft, die nur ihm allein eigen ist und die uns Alten und Jungen
ein jugendliches Feuer einhaucht, sowie sich eine Gelegenheit bietet,
sich für eine große Sache, deren kein andres Volk fähig ist, einzusetzen
-- solch eine Aufgabe schmilzt plötzlich die ganze bunte, mit sich im
Streit liegende Masse in einem mächtigen Gefühl zusammen; jeglicher
Streit, alle engherzigen persönlichen Interessen -- alles ist vergessen,
und ganz Rußland steht plötzlich da wie ein einziger Mann. Alle diese
Eigenschaften, die unsere Dichter uns offenbart haben, sind nationale
Eigentümlichkeiten unseres Volks, die in ihnen bloß schärfer und
deutlicher zur Ausprägung gekommen sind; die Dichter tauchen ja nicht
plötzlich wie aus dem Wasser empor, sie gehen aus ihrem Volke hervor.
Sie sind Funken, die von ihm selbst ausgehen, die ersten Herolde, die
von seiner Kraft zeugen. Daneben aber haben unsere Dichter auch schon
dadurch viel Gutes geleistet, daß sie einen bisher noch nie bekannten
Wohllaut verbreitet haben. Ich weiß nicht, ob die Dichter irgendeiner
andern Literatur eine so unendliche Mannigfaltigkeit von Klangnuancen
hervorgebracht haben, wozu ja freilich auch unsere poetische Sprache
manches beigetragen hat. Jeder von ihnen hat sein eigenes Versmaß und
seinen Eigenton. Dieser eherne metallische Vers Dershawins, den unser
Ohr noch bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; dieser Vers
Puschkins, der da tropft wie schweres Harz oder wie ein Strahl alten,
hundertjährigen Tokaiers, dieser leuchtende festliche Vers Jasykows, der
wie ein Lichtstrahl in die Seele dringt und ganz aus Licht gewebt zu
sein scheint, dieser mit allen Düften des Mittags gesalbte Vers
Batjuschkows, süß wie der Honig aus Bergschlüchten, dieser leichte
ätherische Vers Shukowskis, der wie der kaum vernehmbare Ton einer
Äolsharfe verschwebt, dieser schwere, uns zur Erde herabziehende Vers
und häufig von einer bitteren, quälenden russischen Schwermut
durchdrungene Vers Wjasemskis -- sie alle haben wie verschieden
abgestimmte Glocken, oder wie die vielen Flöten einer herrlichen Orgel
einen wundervollen Wohllaut durch das ganze russische Land getragen.
Dieser Wohllaut ist wahrlich nichts Geringes, wie _die_ glauben mögen,
die keinen Begriff von der Poesie haben. Dieser Wohllaut lullt das Volk
in seinen Kinderjahren ebenso ein wie das herrliche Wiegenlied einer
Mutter, noch ehe es den Sinn des Liedes verstehen lernt, und seine
wilden Leidenschaften legen sich und kommen von selbst zur Ruhe. Dieser
Wohllaut ist ebenso notwendig, wie der Weihrauch im Tempel, der unsere
Seele unmerklich, noch ehe der Gottesdienst begonnen hat, zur Aufnahme
von etwas Höheren stimmt und vorbereitet. Unsere Poesie hat alle Akkorde
auserprobt, hat die Einflüsse der Literatur aller Völker erfahren, hat
der Leier aller Dichter gelauscht, hat sich eine Art von Weltsprache
geschaffen, um alle Menschen für eine größere Aufgabe vorzubereiten.
Jetzt kann man nicht mehr von den Torheiten reden, die unsere heutige,
sich ihrer Verantwortlichkeit noch nicht bewußte junge Dichtergeneration
leichtsinnig weiterplappert; man kann auch der Kunst nicht mehr dienen
-- so schön und beglückend ein solcher Dienst auch sein mag --, ohne
ihre höhere Bestimmung zu verstehen und ohne sich darüber klar zu sein,
wozu uns die Kunst verliehen ward; ein Puschkin läßt sich nicht
wiederholen. Nein, weder Puschkin noch irgendein anderer darf uns jetzt
zum Vorbilde dienen; nun sind andre Zeiten gekommen. Heute kann man uns
mit nichts mehr imponieren: weder durch die Eigenart und Eigenwilligkeit
des Verstandes, noch durch die plastische Kraft des Charakters, noch
durch die stolze Selbstbewußtheit der Geste: heute muß der Dichter eine
höhere christliche Bildung erhalten. Andere Aufgaben erwachsen der
Poesie. Wie sie während der Kindheit der Völker dazu diente, die
Nationen zum Kampf anzufeuern und ihren kriegerischen Geist zu wecken,
so ist es jetzt ihre Bestimmung, den Menschen zu einem andern, höheren
Kampf aufzurufen -- zu einem Kampf, in dem es sich schon nicht mehr um
unsere zeitlichen Güter und unsere zeitliche Freiheit [unsere Rechte und
Privilegien], sondern um unsere Seele handelt, die unser himmlischer
Schöpfer selbst für die Perle Seiner Schöpfungen hält. Zahlreiche
Aufgaben stehen heute der Dichtkunst bevor: sie muß der Gesellschaft
alles wahrhaft Schöne wieder zurückerstatten, was ihr durch das sinnlose
Leben von heute geraubt ward. Nein, diese künftigen Dichter werden
keinem von unseren früheren Poeten ähnlich sehen. Sogar ihre Sprache
wird anders klingen; sie wird unserer russischen Seele verwandter und
vertrauter erscheinen, und unsere nationalen Elemente werden viel
lebendiger und kräftiger in ihr zum Ausdruck kommen. Noch sprudelt jener
eigene urwüchsige Quell unserer Poesie nicht kräftig und hoch genug, der
schon zu einer Zeit im Innern unseres Busens kochte und strömte, als
selbst das Wort _Poesie_ noch in keines Menschen Munde war. Noch immer
erscheint dieser unerklärliche Freiheitsdrang, der uns aus unseren
Liedern entgegentönt, und über das Leben und sogar über das Lied selbst
hinweg in unbekannte Fernen stürmt, noch erscheint uns dieser glühende,
verzehrende Wunsch nach einem besseren Vaterland, nach dem sich der
Mensch seit dem Tage seiner Geburt so schmerzlich sehnt -- wie ein
Rätsel. Noch ist in keinem einzigen Wesen jene vielseitige, poetische
Harmonie und das Geschlossene unseres Geistes, die in unseren
vieläugigen Sprichwörtern verborgen ist, völlig Fleisch und Blut
geworden; haben sie es doch verstanden, in einem so armseligen und
traurigen Zeitalter so große und bedeutsame Folgerungen und Schlüsse zu
ziehen, als dem Menschen in Rußland noch so enge Grenzen gezogen waren,
als er noch gezwungen war, in einem so trüben Sumpfe zu leben; so sind
sie uns eine lebendige Mahnung, was für gewaltige Folgerungen der
moderne Mensch in Rußland aus unseren heutigen machtvollen Zeiten ziehen
kann, in denen die Ergebnisse aller Zeitalter aufgespeichert und wie
allerhand ungesiebter Plunder ungeordnet in einem Haufen zusammenliegen.
Noch ist vielen diese Lyrik -- dies Produkt einer höchsten
Verstandsreife und Nüchternheit -- ein Geheimnis! diese Lyrik, die aus
unseren Kirchenliedern und kanonischen Gesängen herstammt und die Seele
unserer Dichter noch unbewußt begeistert, wie ihm die heimatlichen
Klänge unserer Lieder unbewußt ans Herz greifen. Und endlich ist uns
auch unsere merkwürdige Sprache noch ein Geheimnis. Sie enthält
sämtliche Töne und Farben, alle Klangnuancen, von den kräftigsten bis
herab zu den zartesten und weichsten. Sie ist unendlich und grenzenlos
und vermag sich, lebendig wie das Leben selbst, in jedem Augenblick zu
bereichern, indem sie einerseits die hohen gewaltigen Worte aus der
biblischen Kirchensprache schöpft und sich andererseits die treffendsten
Ausdrücke aus den zahllosen Dialekten, die es in unseren Provinzen gibt,
aneignet; so gewinnt sie die Möglichkeit, sich in ein und derselben Rede
bis zu einer Höhe emporzuschwingen, die keiner andern Sprache
erreichbar, und andererseits bis zu einer Einfachheit herabzusteigen,
die selbst dem Sinn des unbegabtesten Menschen verständlich ist; -- eine
Sprache, die selbst und an und für sich schon dichtet, und die nicht
umsonst für eine geraume Zeit von den vornehmen Ständen vergessen worden
war. Es war eine Notwendigkeit, daß wir alles Häßliche und
Minderwertige, das wir uns zugleich mit der fremdländischen Bildung
angeeignet hatten, in den fremden Mundarten ausschwatzten und
ausplauderten, damit alle die unklaren Töne und die ungenauen
Bezeichnungen für die Dinge -- diese Produkte ungeklärter und
verworrener Gedanken, die die Sprachen dunkel machen -- die kindliche
Klarheit unserer Sprache nicht mehr trüben, und daß wir nunmehr mit dem
Drang zum Nachdenken und von dem Wunsche beseelt, unserem eigenen und
nicht mehr einem fremdem Verstande zu folgen, zu ihr zurückkehren
konnten. Das alles sind vorerst nur noch Werkzeuge, Material, noch
Felsblöcke oder ein in der Erzader steckendes Edelmetall, aus dem einmal
eine andre machtvolle Sprache geschmiedet werden wird. Und diese Sprache
wird bis tief auf den Grund der Seele dringen und nicht auf
unfruchtbaren Boden fallen. Ein Schmerz und eine Trauer, wie sie wohl
Engel empfinden mögen, wird unserer Poesie einen mächtigen Impuls
verleihen; sie wird tief in alle Saiten greifen, die in dem Russen
anklingen, und selbst die rohesten Gemüter mit jenem heiligen Gefühl der
Ehrfurcht erfüllen, das keine Kraft und kein Werkzeug dem Menschen
einzupflanzen vermögen; sie wird unser Rußland ans Licht rufen -- unser
russisches Rußland, nicht das, von dem uns irgendwelche Hurrapatrioten
ein rohes Bild entwerfen und auch nicht das, das uns einzelne ihrem
Vaterland entfremdete Russen übers Meer herüberbringen wollen, nein, das
Rußland, das unsere Dichtung aus uns selbst heraufholen und so vor uns
hinstellen wird, daß alle bis auf den letzten, so verschieden ihre
Sinnesart, ihre Erziehung und ihre Anschauungen auch sein mögen,
einstimmig ausrufen werden: »Ja, das ist _unser_ Rußland; hier fühlen
wir uns behaglich und heimisch, jetzt sind wir wirklich zu Hause unter
unserem heimatlichen Dach und nicht irgendwo draußen in der Fremde!«




                                 XXXII
                            Auferstehungstag


Der Russe nimmt einen besonders warmen Anteil an der Feier des
Auferstehungstages. Das empfindet er mit besonderer Lebhaftigkeit, wenn
er um diese Zeit in einem fremden Lande weilt. Wenn er sieht, wie dieser
Tag sich überall in allen andern Ländern kaum von den andern Tagen
unterscheidet -- alles geht seiner gewohnten Tätigkeit nach, das Leben
nimmt seinen gewöhnlichen Lauf, auf allen Gesichtern ruht der gleiche
alltägliche Ausdruck -- wenn der Russe das sieht, so wird er traurig und
seine Gedanken schweifen unwillkürlich nach Rußland hinüber. Es will ihm
so dünken, als ob dieser Tag dort schöner gefeiert wird, als ob dort der
Mensch heiterer und besser sei, als an anderen Tagen und als ob auch das
Leben dort ein anderes und nicht so alltägliches Gewand trage. Er denkt
an die feierliche Mitternacht, an das Glockengeläute, das das ganze Land
durchhallt und alle Stimmen der Erde gleichsam in einem dumpfen Ton
verschmelzen läßt, er denkt an den Ruf »Christ ist erstanden«, der an
diesem Tage an die Stelle aller andern Grüße tritt, an diesen Kuß, den
man nur bei uns vernimmt, und er ist beinahe so weit, daß er ausrufen
möchte. »Nur in Rußland wird dieser Tag so gefeiert, wie er in Wahrheit
gefeiert werden sollte!«

Freilich ist das nur ein Traum, der sofort verschwindet, wenn er
tatsächlich nach Rußland versetzt wird, und sich bloß daran erinnert,
daß dies ein Tag voll schläfrigen Hin- und Herrennens, voll törichten
Getriebes, sinnloser Besuche, bewußten Nichtzuhausetreffens, statt eines
Tages voll froher Begegnungen ist -- wenn man sich an diesem Tage
wirklich einmal trifft, so hat das stets einen recht eigennützigen
Grund; man braucht nur daran zu denken, daß sich der Ehrgeiz an diesem
Tage weit lebhafter regt, als an allen anderen Tagen und daß nicht etwa
von der Auferstehung Christi, sondern davon geredet wird, was für eine
Belohnung einen jeden erwartet und was ein jeder wohl für ein Geschenk
erhalten wird; ja daß selbst das Volk, das doch in dem Rufe steht, sich
an diesem Tage am meisten zu freuen, sofort nach Beendigung der
Festmesse und noch ehe die Sonne über der Erde aufgegangen ist, trunken
über die Straße schwankt. Ein Seufzer entringt sich der Brust des armen
Russen, wenn er an all dieses denkt [und erkennt, daß das höchstens eine
Karikatur und ein Hohn auf diesen Festtag ist und daß es einen solchen
Festtag gar nicht gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem
Invaliden, um die Form zu wahren, einen schmatzenden Kuß auf die Backe,
um den unter ihm stehenden Beamten zu beweisen, wie man seinen Bruder
lieben muß, oder ruft irgendein [rückständiger] Patriot voll Empörung
über unsere Jugend, die unsere alten russischen Volkssitten schlecht
macht und behauptet, bei uns gäbe es überhaupt nichts Ordentliches,
wütend aus: »Wir haben alles: ein schönes Familienleben, schöne
Familientugenden, die Sitten werden bei uns heilig gehalten, wir
erfüllen auch unsere Pflicht und Schuldigkeit, so wie dies nirgends in
Europa geschieht, kurz, wir sind ein Volk, das die Bewunderung aller
Menschen verdient.«

Nein, es kommt nicht auf diese sichtbaren Zeichen und Äußerlichkeiten,
nicht auf das patriotische Geschrei [ebensowenig wie auf den Kuß, der
dem Invaliden verabreicht wird], sondern lediglich darauf an, daß wir an
diesem Tage den Menschen tatsächlich wie unser höchstes Kleinod ansehen
lernen -- und ihn so in unsere Arme schließen und an unser Herz drücken,
wie einen unserem Herzen nahestehenden Bruder, daß wir uns so über ihn
freuen, wie über den unerwarteten Besuch unseres liebsten Freundes, den
wir viele Jahre lang nicht gesehen haben. Ja, noch inniger, noch stärker
sollte unsere Freude sein. Denn die Bande, die uns mit ihm vereinigen,
sind stärker als die irdische Blutsverwandtschaft; sind wir doch mit ihm
durch unseren herrlichen himmlischen Vater verwandt, der uns weit näher
steht, als unser irdischer Vater, und weilen wir doch an diesem Tage --
in unserer wahren Familie, d. h. in Seinem Hause. Dieser Tag ist der Tag
jenes heiligen Festes, an dem die ganze Menschheit bis auf den letzten
unserer Brüder eine himmlische Verbrüderung feiert, und davon ist kein
einziger Mensch ausgeschlossen.

Wie gelegen müßte dieser Tag eigentlich unserem neunzehnten Jahrhundert
kommen, wo der Traum vom allgemeinen Menschenglück der Lieblingsgedanke
fast aller Menschen geworden; wo es der Lieblingswunsch des jungen
Menschen geworden ist, die ganze Menschheit wie einen lieben Bruder zu
umarmen, wo viele beständig davon träumen, den inneren Wert und die
Würde des Menschen zu heben, wo die gute Hälfte der Menschen bereits
feierlich anerkannt hat, daß nur das Christentum das vermag, wo man
bereits fordert, daß das Gesetz Christi weit inniger mit unserem
Familien- und Staatsleben verwachsen müsse [ja wo bereits davon
gesprochen wird, daß alles Gemeingut werden soll: unser Haus und unser
Grund und Boden], wo die hohen Taten des Mitleids und die den Armen und
Unglücklichen erwiesene Hilfe bereits ein beliebter Gesprächsstoff
unserer Salons geworden sind, ja wo uns infolge all dieser humanitären
Anstalten [all dieser Hospize und Asyle für Obdachlose] die Erde schon
zu eng zu werden beginnt. Wie freudig müßte eigentlich das neunzehnte
Jahrhundert diesen Festtag begehen, der all seinen hochherzigen und
ehrgeizigen Regungen so sehr entspricht! Aber gerade dieser Tag wird zum
Probierstein dafür, wie matt all diese christlichen Bestrebungen, wie
sie lediglich [schöne Träume und] bloße Ideen sind, die zu keinen Taten
führen. Und wenn wir an diesem Tage wirklich Gelegenheit haben, einen
unserer Brüder wie einen Bruder zu umarmen -- so tuen wir es nicht. Wir
sehnen uns danach, die ganze Menschheit brüderlich an unseren Busen zu
drücken, unsern Bruder aber wollen wir nicht umarmen. Es braucht sich
nur irgendein einzelner Mensch, der uns beleidigt hat, von dieser
Menschheit abzulösen, dem wir unsere Arme so hochherzig entgegenbreiten,
und dem wir laut Christi Gebot sofort vergeben sollen, -- so werden wir
ihn nicht mehr umarmen. Oder es brauchte sich von dieser Menschheit nur
ein einzelner Mensch abzulösen, der in irgendeinem unwesentlichen Punkt,
in irgendeiner unserer menschlich bedingten Meinungen nicht mit uns
überstimmt -- so werden wir ihn schon nicht mehr umarmen. Oder es
braucht sich endlich nur ein einziger Mensch von dieser Menschheit
abzulösen, der mehr und erkennbarer als die andern an den schweren
Schäden geistiger Fehler und Gebrechen krankt und daher weit mehr
Anspruch auf unser Mitleid hat als sie -- so werden wir ihn von uns
stoßen und ihn nicht umarmen wollen. Wir werden nur die in unsere Arme
schließen, die uns noch nie beleidigt haben, mit denen wir noch nie
zusammengestoßen sind, die wir noch nicht kennen und noch nie mit Augen
gesehen haben. Das sind die Umarmungen, mit denen der Mensch unseres
Jahrhunderts die ganze Menschheit beglücken will, und das sind häufig
gerade die Menschen, die von sich glauben, daß sie wahre Menschenfreunde
und echte Christen sind. [Christen! Sie haben Christus auf die Straße
hinausgejagt und in die Lazarette und Krankenhäuser getrieben, statt Ihn
bei sich in ihrem Hause, unter ihr heimatliches Dach aufzunehmen, und da
glauben sie noch, sie seien Christen!]

Nein, unser Jahrhundert vermag den Auferstehungstag nicht würdig, nicht
so zu feiern, wie er gefeiert werden sollte. Dem steht ein
schreckliches, unüberwindliches Hindernis entgegen: es heißt: _Hochmut_.
Dieser Hochmut war auch den früheren Zeitaltern bekannt, aber jener
Hochmut war mehr ein kindischer Stolz auf die physische Kraft, auf
unseren Reichtum, ein Stolz auf unsere Abstammung und unsere Titel, und
er erreichte nie diesen schrecklichen geistigen Grad wie heutzutage.
Heute tritt er in doppelter Gestalt auf. Die erste Art dieses Hochmuts
ist der Stolz auf unsere Reinheit.

Hocherfreut darüber, daß sie ihre Vorfahren in vielen Beziehungen
überholt und übertroffen hat, hat sich die Menschheit unserer Zeit
völlig in ihre Reinheit und Schönheit verliebt. Niemand schämt sich
mehr, sich öffentlich der Schönheit seiner Seele zu rühmen und sich für
etwas Besseres zu halten, als die anderen Menschen. Man braucht nur
darauf zu achten, wie sich heutzutage jeder Mensch für einen wahren
Heros an Hochherzigkeit und Edelmut hält, wie schonungslos und mit
welcher Schärfe er über andere Leute urteilt. Man muß nur einmal hören,
mit was für Gründen er sich dafür rechtfertigt, daß er seinen Bruder
nicht einmal am Auferstehungstage umarmt hat. Ohne jede Scham und ohne
innerlich zu erbeben, erklärt er: »Ich kann diesen Menschen nicht
umarmen, er ist schmutzig, er hat eine gemeine Seele, er hat sich durch
ehrlose Handlungen befleckt; ich kann diesen Menschen nicht einmal in
mein Vorzimmer hineinlassen; ich kann die Luft nicht atmen, die er
atmet, ich mache einen großen Bogen um ihn, um ihm aus dem Wege zu gehen
und um ihm nicht zu begegnen. -- Ich kann nicht mit gemeinen und
verächtlichen Leuten zusammen leben -- und da sollte ich einen solchen
Menschen wie meinen Bruder umarmen?« Ach! der arme Mensch des
neunzehnten Jahrhunderts hat leider vergessen, daß es an diesem Tage
weder gemeine noch verächtliche Menschen gibt und daß alle Menschen --
Brüder, Kinder derselben Familie sind und daß jeder Mensch keinen andern
Namen als den: _Bruder_ trägt. Er hat alles mit einem Male vergessen. Er
hat vergessen, daß er vielleicht gerade deshalb von diesen gemeinen und
verächtlichen Menschen umgeben ist, damit er durch ihren Anblick
veranlaßt werde, einen Blick in sein eigenes Innere zu werfen, und
nachzusehen, ob er nicht auf dem Grunde seiner Seele gerade das findet,
was ihn an dem andern so sehr erschreckt hat. Er hat vergessen, daß er
auf Schritt und Tritt und ohne es selbst zu merken, wenn auch in einer
etwas anderen Art, eine genau so scheußliche Handlung begehen kann, die
in den Augen der Gesellschaft nicht als schmachvoll gilt, die jedoch auf
dasselbe hinauskommt oder wie ein russisches Sprichwort es ausdrückt,
_derselbe Eierkuchen ist, nur auf einer andern Schüssel serviert_. Es
ist alles vergessen! Er hat vergessen, daß die Zahl der gemeinen und
verächtlichen Menschen vielleicht nur deshalb sehr zugenommen hat, weil
die besten und edelsten Menschen sie in so rauher Weise von sich
gestoßen und so dazu beigetragen haben, daß sie ihr Herz noch mehr
verhärteten und noch verstockter wurden. Als ob es so leicht ist, die
Verachtung anderer Menschen zu ertragen! Weiß Gott, vielleicht wird
mancher gar nicht als ein so ehrloser Mensch geboren; vielleicht hat
seine arme Seele, die nicht stark genug war, um den Kampf mit den
Versuchungen aufzunehmen, um Hilfe gefleht und gerufen, vielleicht hätte
er freudig jedem Hände und Füße geküßt, dessen Seele von Mitleid für ihn
ergriffen, ihn daran verhindert hätte, in den Abgrund zu stürzen;
vielleicht hätte ein einziger Tropfen Liebe ihm genügt, um ihn auf den
rechten Weg zurückzuführen. Wie wenn es so schwer gewesen wäre, auf dem
Wege der Liebe bis zu seinem Herzen vorzudringen! Als ob sich sein
Inneres schon so sehr verhärtet hätte, als ob er schon so ganz zu Stein
geworden, daß er keiner warmen Regung mehr fähig gewesen wäre, wo doch
selbst der Räuber noch dankbar ist für ein Zeichen der Liebe und selbst
das wilde Tier sich freundlich der Hand erinnert, die es geliebkost hat.

Allein der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts hat alles vergessen, er
stößt seinen Bruder von sich, wie ein Reicher einen aussätzigen Bettler
von der Schwelle seines Hauses jagt. Was kümmern ihn die Leiden des
andern, er will bloß seine eiternden Schwären nicht sehen. Er will nicht
einmal sein Klagelied hören, damit seine Nase den übelduftenden Hauch,
der aus dem Munde des Unglücklichen kommt, nicht einzuatmen braucht, er,
der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ein solcher
Mensch sollte das Fest der himmlischen Liebe feiern können?

Aber es gibt noch eine andere Art des Hochmuts, die noch mächtiger ist
als die erste, -- das ist der _geistige_ Hochmut. Nie noch hat er solche
Dimensionen erreicht, wie im neunzehnten Jahrhundert. Er kommt vor allem
in der Furcht zum Ausdruck, für einen Dummkopf gehalten zu werden, einer
Furcht, von der heute jeder Mensch beseelt ist. Der Mensch unserer Zeit
kann alles ertragen: er kann es ertragen, daß man ihn einen Lumpen oder
einen Gauner nennt; gebt ihm jeden beliebigen Namen -- es läßt ihn kalt
-- nur den Namen Dummkopf wird er nicht dulden. Er kann jeden Spott
ertragen, nur eins kann er nicht ertragen, daß man sich über seinen
Verstand lustig macht. Sein Verstand ist ihm heilig. Jeder noch so
leichte Spott über seinen Verstand genügt ihm, um seinen Bruder, wie es
der Anstand erfordert, sich in einer gewissen Entfernung aufstellen zu
lassen und ihm sodann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Kugel in den
Kopf zu jagen. Er glaubt an nichts, das einzige, woran er glaubt, ist
sein Verstand. Was sein Verstand nicht sieht, das existiert nicht für
ihn. Er hat sogar vergessen, daß auch der Verstand erst fortschreitet,
wenn alle sittlichen Kräfte des Menschen fortschreiten und sich
entwickeln, und daß er sich sogar zurückentwickelt, wenn die sittlichen
Kräfte sich nicht heben. Er hat ferner vergessen, daß kein Mensch
sämtliche Verstandeskräfte in sich vereinigt, daß ein anderer Mensch
gerade die Seele einer Sache sehen kann, die er selbst nicht sieht, und
folglich etwas wissen kann, was er nicht zu wissen vermag. Aber das
glaubt er nicht und alles, was er nicht selbst sieht, das ist für ihn
eine Lüge. Sein Vernunftstolz hält jeden Schatten christlicher Demut von
ihm fern. An allem zweifelt er: an dem Herzen eines Menschen, den er
viele Jahre lang kennt, an der Wahrheit, ja selbst an Gott, nur an
seinem Verstande zweifelt er nicht. Schon streitet man sich und kämpft
man nicht mehr um irgendwelche wirkliche Rechte und auch nicht aus
persönlichem Haß oder Feindschaft, nein, heute sind es nicht mehr die
sinnlichen Leidenschaften, die uns beherrschen, sondern die
Leidenschaften des Verstandes: heute bekämpft man sich und streitet man
sich miteinander, weil man verschiedener Meinung ist, und wegen der
Widersprüche in der Welt der Gedanken. Schon haben sich ganze Parteien
gebildet, die sich gegenseitig verabscheuen, die persönlich noch nie
etwas miteinander zu tun hatten, und sich dennoch glühend hassen. Ist es
nicht merkwürdig! Schon glaubten die Menschen, mit Hilfe der Bildung Haß
und Bosheit aus der Welt verbannt zu haben, da dringen Haß und Bosheit
von der andern Seite wieder in die Welt ein, kommen auf den Flügeln der
Zeitungsblätter herangeflogen und fallen wie ein verheerender
Heuschreckenschwarm von allen Seiten über die Herzen der Menschen her.
Schon hört man kaum noch die Stimme der Vernunft. Schon beginnen selbst
die gescheiten Leute sogar gegen ihre eigene Überzeugung zu reden, nur
um der gegnerischen Partei nicht das Feld zu räumen, und nur weil ihr
Stolz es ihnen nicht erlaubt, ihren Fehler vor der Welt einzugestehen --
schon hat die reine Bosheit statt des Verstandes die Oberhand gewonnen.

Und der Mensch einer solchen Zeit sollte der Liebe, der christlichen
Liebe zum Menschen fähig sein? Er sollte sich mit jener reinen
Treuherzigkeit und Einfalt, mit jener engelhaften kindlichen Naivität
erfüllen können, die alle Menschen zu einer großen Familie macht? Er
sollte etwas von der Süßigkeit und Schönheit unserer himmlischen
Brüderschaft empfinden können? Er sollte diesen Tag feiern können? Ist
doch selbst jene äußere gütige Geste, jener Ausdruck der Güte
verschwunden, der den alten schlichten Zeiten eigen war, und dem
gegenüber man das Gefühl hat, als hätte der Mensch damals dem Menschen
viel nähergestanden. Der stolze Verstand des neunzehnten Jahrhunderts
hat ihn vernichtet und zerstört. Ohne jede Maske ist der Teufel in der
Welt erschienen. Der Geist des Hochmuts kommt heute nicht mehr in
verschiedenen Gestalten und schreckt keine abergläubischen Menschen
mehr: er kommt in seiner eigenen Gestalt zu uns. Er fühlt, daß man seine
Herrschaft anerkennt, und darum macht er nicht mehr viel Umstände mit
den Menschen. Dreist und schamlos lacht er denen ins Gesicht, die sich
vor ihm beugen; die törichtesten Gesetze gibt er der Welt, Gesetze, wie
sie bisher noch nie gegeben worden sind -- und die Welt sieht es und
wagt es nicht, sich zu widersetzen! Was bedeutet diese armselige
sinnlose Mode, die der Mensch sich erst als eine Bagatelle, als eine
harmlose Spielerei gefallen ließ und die jetzt als absolute Herrin und
Herrscherin in seinem Hause gebietet und alles Gute und Wesenhafte im
Menschen austreibt. Kein Mensch fürchtet sich noch, die wahrsten und
heiligsten Gebote Christi zu übertreten, wohl aber fürchtet er sich, die
unsinnigste Anordnung der Mode unerfüllt zu lassen, und er zittert vor
ihr wie ein furchtsamer Knabe. Was hat das zu bedeuten, daß selbst die,
die sich über sie lustig machen, wie leichtsinnige windige Gesellen nach
ihrer Pfeife tanzen? Was bedeuten all diese sogenannten Anstandsregeln,
die uns weit stärker binden, als die grundlegendsten fundamentalsten
Gebote? Was bedeuten alle diese seltsamen Autoritäten, die sich neben
den gesetzmäßigen rechtmäßigen Autoritäten installiert haben -- was
bedeuten diese Nebenwirkungen und Nebeneinflüsse? Was hat es zu
bedeuten, daß heute nur noch Näherinnen, Schneider und alle möglichen
Handwerker die Welt regieren, während die Gesalbten Gottes abseits
stehen? Namenlose unbekannte Menschen, ohne Ideen und ohne ehrliche
Überzeugungen beherrschen die Anschauungen und die Meinungen gescheiter
Leute, und ein Zeitungsblättchen, von dem jedermann weiß, daß es nichts
wie Lügen verbreitet, schwingt sich unmerklich zum Gesetzgeber über die
Menschen auf, die es verachten! Was bedeuten all die gesetzwidrigen
Gesetze, die die unreine Macht aus der Tiefe offen und vor aller Welt
aufrichtet? Und die ganze Welt sieht es, steht wie verzaubert da, und
wagt's nicht, sich zu rühren? Welch furchtbarer Hohn auf die Menschheit!
[Wozu sucht man bei diesem Lauf der Dinge überhaupt noch die heiligen
Sitten und Zeremonien der Kirche aufrecht zu erhalten, deren himmlischer
Beherrscher keine Macht mehr über uns hat? Oder ist das etwa ein neuer
Streich des Geistes der Finsternis.] Wozu dieser Feiertag [der jede
Bedeutung verloren hat.] Warum kehrt er immer [aufs neue] wieder, um die
auseinanderstrebenden Menschen [immer dumpfer und schwächer]
zusammenzurufen, um sie in einer Familie zu vereinigen [und, nachdem er
sie mit einem traurigen Blick gestreift, wie ein unbekannter Fremdling
wieder von dannen zu gehen? Ist er denn wirklich für alle ein
unbekannter Fremdling? Aber] warum gibt es denn noch [hie und da]
Menschen, denen es so vorkommt, als würde es an diesem Tage heller in
ihrer Seele, und die an diesem Tage das Fest ihrer Kindheit begehen,
jener Kindheit, von der eine himmlische Liebkosung, gleich dem Kosen
eines ewigen Frühlings, in ihre Seele hinüberströmt, jener herrlichen
Kindheit, die dem stolzen Menschen von heute ganz verloren gegangen ist?
Warum hat der Mensch diese Kindheit noch nicht für immer vergessen und
warum bewegt sie noch immer unsere Herzen gleich einem fernen Traumbild?
Wie kommt das nur, und was hat das alles für einen Zweck? Als ob man
wirklich nicht wüßte, was es für einen Sinn und Zweck hat? Sieht man
denn etwa nicht, wozu das geschieht? Damit es zum mindesten den wenigen,
die noch etwas von dem Frühlingshauch dieses Festtags verspüren,
plötzlich so traurig ums Herz wird, auf daß sie von einer Trauer
befallen werden, wie sie nur ein Engel des Himmels empfindet, und auf
daß sie ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu Füßen
fallen, und sie anflehen, wenigstens diesen einen Tag der langen öden
Reihe der übrigen Tage zu entreißen und nur diesen einzigen Tag nicht
nach der Weise des neunzehnten Jahrhunderts, sondern im Geiste jenes
ewigen Zeitalters zu verbringen, den Menschen nur ein einziges Mal zu
umfassen und in die Arme zu schließen wie ein Freund, der sich schuldig
fühlt, den hochherzigen alles verzeihenden Freund umarmt, selbst wenn er
ihn schon morgen wieder von sich stoßen und ihm erklären sollte, er sei
ihm fremd und unbekannt. Wenn auch nur, um _einmal_ diesen Wunsch zu
fassen, wenn auch nur, um sich mit Gewalt dazu zu zwingen und sich daran
zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke! Gott weiß, vielleicht
wird sich schon um dieses einzigen Wunsches willen eine Leiter vom
Himmel herabsenken und sich uns eine Hand entgegenstrecken, die uns
hilft, an ihr emporzuklimmen.

Aber nicht einmal diesen einen Tag will der Mensch des neunzehnten
Jahrhunderts so verbringen. Schon ist die Erde von einem unnennbaren Weh
und einer Trostlosigkeit ergriffen; immer bitterer, trostloser und
nüchterner wird das Leben; alles wird kleinlich und flach, bloß das
Riesengespenst der Langenweile wächst von Tag zu Tag bis ins Ungeheure.
Alles ist wüst, alles ist wie ein einziges Grab. Mein Gott! Wie öde und
schrecklich wird Deine Welt!

Warum kommt es denn aber nur dem Russen so vor, als ob dieses Fest nur
in seinem Vaterlande würdig gefeiert werde? Ist das etwa nur ein Traum?
Warum sucht denn dieser Traum keinen andern auf als den Russen?
Wirklich, was hat es zu bedeuten, daß [dieser Festtag selbst
verschwunden ist und daß] seine sichtbaren Kennzeichen so deutlich im
Angesicht unseres Landes erkennbar sind. Man hört die von Küssen
begleiteten Worte: _Christ ist erstanden_; mit der gleichen
Feierlichkeit bricht immer wieder die heilige Mitternacht an, und der
dumpfe Ton der ewigen Glocken hallt unaufhörlich über das ganze Land
dahin, als wollten sie uns aus dem Schlummer wecken! Wo die Geister in
so greifbarer Deutlichkeit erscheinen, da erscheinen sie nicht
vergebens. Wo jemand geweckt wird, da gibt es auch ein Erwachen. Die
Sitten und Bräuche, die ewig währen sollen, können nicht vergehen. Der
Buchstabe stirbt, aber ihr Geist lebt wieder auf. Sie können wohl
zeitweilig verblassen, sie können zugrunde gehen und absterben für eine
geist- und herzlose, für eine abgestumpfte Menge, aber sie erstehen neu
gekräftigt auf in den Auserwählten, um in ihnen in hellem Lichte
aufzustrahlen und sich über die ganze Welt zu ergießen. Kein Titelchen
von unseren alten Sitten und Bräuchen, nichts, was an ihnen wahrhaft
russisch ist und was von Christus selbst geheiligt ward, wird untergehn.
Die helltönenden Saiten der Dichter werden es weiter tragen, der
Wohllaut ausströmende Mund unserer Priester wird es weithin verkünden;
das schon erloschene Licht wird wieder aufflammen -- und der heilige
Auferstehungstag wird würdig gefeiert werden --, weit früher, denn von
einem andern Volke.

Worauf aber, auf welche fest in unseren Herzen verschlossene Tatsachen
können wir unsere Behauptung gründen? Sind wir etwa besser als andre
Völker? [Sind wir in unserem Lebenswandel Christus nähergekommen als
sie? Nein, wir sind nicht bessere Menschen, und unser Leben ist noch
weniger geordnet und geregelt als das der andern Nationen. »Wir sind
schlimmer als alle anderen« -- so müssen wir stets von uns sagen.] Aber
es liegt etwas in unserem Wesen, das uns solches verheißt. Gerade die
Unordnung, die bei uns herrscht, ist eine Verheißung. Wir sind noch ein
flüssiges Metall, das noch nicht in seine nationale Form abgegossen ist;
wir haben noch die Möglichkeit, das, was nicht zu uns paßt, abzustoßen
und alles in uns aufzunehmen, wozu die anderen Völker schon nicht mehr
fähig sind, die bereits ihre eigene feste Form angenommen haben und in
ihr erstarrt sind. Daß in unserem innersten wahren Wesen, das wir
vergessen haben, vieles liegt, was dem Geiste des Christentums verwandt
ist -- dafür ist schon allein das ein Beweis, daß Christus nicht mit dem
Schwert in der Hand zu uns gekommen ist, und daß der aufgepflügte und
wohlvorbereitete Grund unseres Herzens sich von selbst Seinem Worte
entgegenstreckte, daß das Prinzip der christlichen Brüderlichkeit tief
in unserer slawischen Natur begründet ist, und daß die Verbrüderung der
Menschen untereinander uns näher am Herzen liegt, als unser heimatliches
Dach und die Blutsverwandtschaft, daß bei uns noch nichts von jenem
unversöhnlichen Haß der Stände und jenen gehässigen Parteiungen bekannt
ist, die wir in Europa finden und die ein unüberwindliches Hemmnis für
die Eintracht der Menschen und die brüderliche Liebe bilden, daß wir
endlich Mut und Kühnheit besitzen, wie sie kein andres Volk in ähnlicher
Stärke besitzt und daß, wenn wir uns vor eine Aufgabe gestellt sehen,
die kein andres Volk zu lösen vermöchte, wie etwa folgende: mit einem
Schlage alle unsere Fehler und Mängel und alles, was den hohen Sinn der
Menschheit schändet, abzuwerfen, -- daß wir uns dann, alle unsere
körperlichen Schmerzen und Qualen vergessend und ohne uns im geringsten
zu schonen, aufraffen und alles, was uns befleckt und schändet, von uns
stoßen werden, so wie die Menschen einst im Jahre 1812 schonungslos ihre
ganze Habe, ihre Häuser und ihre irdischen Besitztümer verbrannten; dann
wird kein einziger Mensch hinter dem andern zurückbleiben wollen; in
solchen Augenblicken ist jeder Haß und Streit, jede Feindseligkeit
vergessen, der Bruder drückt den Bruder an den Busen, und ganz Rußland
ist nur ein einziger Mensch. Das ist's, worauf wir die Behauptung
gründen können, daß der Auferstehungstag von uns früher gefeiert werden
wird, als von den andern Völkern. Das sagt mir deutlich meine innere
Stimme, und das ist kein bloßer Gedanke, der meiner Phantasie
entsprungen ist. Solche Gedanken lassen sich nicht erfinden. Durch eine
göttliche Eingebung werden sie mit einem Schlage im Herzen vieler
Menschen zugleich geboren, die einander noch nie gesehen haben, die in
den entlegensten Provinzen des Landes wohnen, und zu ein und derselben
Zeit werden sie wie aus _einem_ Munde verkündet. Ich weiß es bestimmt,
daß, obwohl ich sie nicht alle kenne, in Rußland mehr als ein Mensch
fest daran glaubt und schon heute spricht: »Früher denn in irgendeinem
andern Lande wird bei uns der heilige Auferstehungstag Christi gefeiert
werden.«


                Druck von Mänicke und Jahn, Rudolstadt.




Anmerkungen zur Transkription


Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Auch
Variationen in der Transliteration der russischen Namen wurden nicht
verändert.

Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt,
teilweise unter Verwendung des russischen Originales (vorher/nachher):

   [S. 18]:
   ... den Weg geben, und dann den Gutsherren über alles ...
   ... den Weg geben, und dann dem Gutsherren über alles ...

   [S. 25]:
   ... ich nicht Mutter eine Familie; dann könnten Sie Ihren ...
   ... ich nicht Mutter einer Familie; dann könnten Sie Ihren ...

   [S. 71]:
   ... Menschen, von Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...
   ... Menschen, vom Kopf bis zu den Füßen, ja bis zu ...

   [S. 125]:
   ... der der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und
       plumpen ...
   ... der äußeren Form nach: seine gewöhnlichen groben und plumpen ...

   [S. 186]:
   ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deulich vernommen ...
   ... Ich weiß nur, daß ich diesen Vorwurf sehr deutlich vernommen ...

   [S. 206]:
   ... besitzen Sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...
   ... besitzen sie nicht. Sie lieben Rußland noch nicht. ...

   [S. 235]:
   ... für erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...
   ... fürs erste damit, mir alles mitzuteilen. Außerdem bitte ...

   [S. 248]:
   ... Äußere, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...
   ... Äußeres, legen Sie auch keinen Wert auf unangenehme ...

   [S. 248]:
   ... harrt, ihre himmliche Bestimmung klarzumachen: uns ...
   ... harrt, ihre himmlische Bestimmung klarzumachen: uns ...

   [S. 253]:
   ... haben, mit neuem frischeren Mut als früher an ...
   ... haben, mit neuem frischerem Mut als früher an ...

   [S. 255]:
   ... An B. I. B. ...
   ... An B. N. B. ...

   [S. 285]:
   ... Verhältns zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...
   ... Verhältnis zu ihnen kommen und ihnen keine Unannehmlichkeiten ...

   [S. 287]:
   ... wiederspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...
   ... widerspiegelt, ein Urteil erlauben kann, schon sagt ganz ...

   [S. 293]:
   ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von ihnen ...
   ... Ich habe lange darüber nachgedacht, wen von Ihnen ...

   [S. 295]:
   ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung; ...
   ... der Ausgaben für die Wohnungsmiete, die Heizung, ...

   [S. 310]:
   ... nicht aus jenem in einen fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...
   ... nicht aus jenem in einem fehlerhaften Zirkel verlaufenden ...

   [S. 313]:
   ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden sie in ihr ...
   ... Seele hinein, weiß Gott, vielleicht werden Sie in ihr ...

   [S. 314]:
   ... Seelenverwandschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...
   ... Seelenverwandtschaft ist als jede Blutsverwandtschaft ...

   [S. 331]:
   ... in Ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...
   ... in ihrem Verkehr mit den weit entfernten ...

   [S. 333]:
   ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sichs ...
   ... sind, wenn sich nur viele von uns zuerst, wie es sich ...

   [S. 334]:
   ... dem Generalgouwerneur. ...
   ... dem Generalgouverneur. ...

   [S. 335]:
   ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Daß ...
   ... aufgehoben oder doch von Grund aus umgestaltet. Das ...

   [S. 344]:
   ... Ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...
   ... ihnen das, was ein Vater seinen Kindern ist. Ein ...

   [S. 350]:
   ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
       Einrichrichtungen, ...
   ... und Unfähigkeit aller heutigen Institutionen und
       Einrichtungen, ...

   [S. 350]:
   ... Sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...
   ... sie lehren, ihre Bauern anzusehen wie ein Vater ...

   [S. 377]:
   ... ersten Bekanntchsaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...
   ... ersten Bekanntschaft mit beiden Dichtern aufdrängt, ...

   [S. 380]:
   ... der voller plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...
   ... der vollen plastischen Rundung, sie scheinen sich gleichsam ...

   [S. 380]:
   ... Schlägt mit den Dreizack nach den Schiffen, ...
   ... Schlägt mit dem Dreizack nach den Schiffen, ...

   [S. 393]: (mehrfache Fälle)
   ... wie z. B. Bayron oder selbst viele andre Dichter ...
   ... wie z. B. Byron oder selbst viele andre Dichter ...

   [S. 412]:
   ... Menschen, dem die reichsten und manigfaltigsten Talente ...
   ... Menschen, dem die reichsten und mannigfaltigsten Talente ...

   [S. 412]:
   ... Bettler. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...
   ... Bettlers. Nur eine solche Sache, die den Menschen in ...

   [S. 413]:
   ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, daß dem ...
   ... Talent für radikale endgültige Folgerungen, das dem ...

   [S. 424]:
   ... singen können, daß sie keine zwei einfachen ungezierten ...
   ... singen können, daß sie keine zwei einfache ungezierte ...

   [S. 438]:
   ... oder nicht; jedesfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...
   ... oder nicht; jedenfalls aber haben sie in ihrer im Vergleich ...

   [S. 450]:
   ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einen Invaliden, ...
   ... gibt]. Im besten Fall gibt ein Vorgesetzter einem Invaliden, ...

   [S. 456]:
   ... der so stolz auf Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...
   ... der so stolz auf den Wohlgeruch seiner Reinheit ist. Und ...

   [S. 461]:
   ... ihren Brüdern mit einem herzerreißenden Aufschrei zu ...
   ... ihren Brüdern mit einem herzzerreißenden Aufschrei zu ...






End of the Project Gutenberg EBook of Sämmtliche Werke 7: Briefwechsel I, by 
Nikolaj Gogol

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