Arnold Beer: Das Schicksal eines Juden

By Max Brod

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Title: Arnold Beer
       Das Schicksal eines Juden

Author: Max Brod

Release Date: December 29, 2010 [EBook #34782]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ARNOLD BEER ***




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  Und Simson sprach:

  »Mit dem Kinnbacken eines Esels einen
  Haufen, zwei Haufen -- mit dem Kinnbacken
  schlug ich tausend Mann. Und als er vollendet
  zu reden, da warf er den Kinnbacken
  aus seiner Hand und nannte selbigen Ort:
  Ramath-Lechi.«
                                Die Richter, 15




                                Max Brod

                              Arnold Beer

                       Das Schicksal eines Juden

                                 Roman


                          Axel Juncker Verlag

                         Berlin/Charlottenburg




I.


Arnold Beer war ein hübscher junger Mann, nicht einmal sehr
elegant, aber da er in der Stadt häufig mit den elegantesten
Leuten zusammen -- überdies auch oft mit anderen -- angetroffen
wurde, nannte man ihn den Eleganten. »Aha, da kommt das Gigerl«, --
oder »Die Parta ist da. Ich erkläre den Bummel für eröffnet«, hieß
es am Abend auf dem Korso, wenn in den Reihen der gewohnten
Spaziergänger und Nichtstuer Arnold samt seiner Freundschaft
erschien; denn schon hatte man hier und dort begonnen, sein
unnützes Treiben mit einigem Mißwollen zu beobachten. -- Was überdies
seine Eleganz anbelangt, so irrten die Leute ganz entschieden.
Näher betrachtet, bestand Arnolds so effektvolle Kleidung durchaus
nicht aus den tadellosesten Stücken, war vielmehr häufig betupft
mit einzelnen großen und mit vielen kleinen Flecken und Tropfen,
manchmal auch leicht angerissen und zerfasert, der Strohhut vom Regen
mattbraun überflossen und weichgedrückt, die Stiefel ohne den
rechten Glanz. Alle diese Fehler erschienen nun freilich niemals
beisammen, sondern sie führten ein einsames Dasein, jeder für sich
und an einem andern Tag, konnten aber dem aufmerksamen Beobachter
auch in dieser gleichsam fluchtartigen Abwechslung nicht entgehen.
Übrigens war Arnold selbst der letzte, der sich den merkwürdigen und
komischen Einzelheiten seines Anzugs verschlossen hätte; im Gegenteil,
er pflegte laut und ungeniert, vor Damen und Herren, auf solche
gelegentliche Schönheitsmängel hinzuweisen und sich selbst
auszulachen, um desto sicherer alle, die über ihn erschraken,
auslachen zu können. Er nannte sich -- denn er hielt für alles
Worte bereit und hatte besonders über seine so fragwürdige
Wesensart schon oft und unter Schmerzen nachgegrübelt -- »eine
typische Fernwirkung« und hob hervor, daß er diese »gute Sache«
seiner schlanken Gestalt, seinem vorzüglichen blassen Teint und seinen
feinen Händen verdanke, lauter Dingen, »für die er natürlich gar
nichts könne«, wie er in einem Anflug pessimistischer und unklarer
Philosophie hinzuzusetzen pflegte. Dann versank er, noch anschließend,
über das Thema »Kleider machen Leute« in ausgedehnte trübe
Betrachtungen. »Ja, meine Eltern haben das Geld dazu, mein Papa
ist eine gute alte Firma. Also gelange ich, wie von selbst, an den
ersten Schneider der Stadt, und der macht mir Röcke und Hosen, ohne
daß ich ihn darum bitten muß, ja bitten darf, aus den teuersten Stoffen
und nach den neuesten Schnitten. Kann ich dafür, nun bekommt sogleich
mein Anblick einen reizenden Schwung und Schmiß, ohne mein Mitarbeiten,
und ich biege ein in eine Richtung des Angeschautwerdens und sogar
des Michselbstfühlens von innen her, die mir gar nicht so besonders
paßt. Wie machtlos ist man dagegen. Schließlich würde mir ja diese
Richtung auch passen, warum nicht, hätte ich nur Zeit dazu. Aber wie
kann ich mich mit solchen Kleinigkeiten abgeben! Es geht einfach
nicht. Stärker wie Löschpapier bin ich eben nicht. Und daher auch
meine schlechte primitive Frisur, meine ungepflegten Nägel, meine
Schnalle nur am Schuh links und nicht auch rechts.« Er pflegte sich
die Haare zu scheiteln, aber aus Unlust, die richtige Teilungsstelle
zu suchen, wurde oft, wenn der erste Hieb mißlang, nur ein Gestrüpp
hängender Strähnen aus den schönen Wellen.

Derselbe äußere Schwung nun, den er mit einiger Selbstgehässigkeit an
seinen Kleidern bemerkt hatte, wallte durch seine ganze Person und mit
so gewaltigem unwiderstehlichem Antrieb, daß er nach allen Seiten
hin sein Schicksal aufbauschte, aber auch begrenzte. -- Arnold war
eine überaus lebhafte Natur. Schon in der Volksschule hatten alle
Lehrer darüber geklagt, daß er »kein Sitzfleisch« habe, und einige
hatten später, bei aller Anerkennung seiner Intelligenz, durch mindere
Noten ihn für sein Übermaß an Temperament strafen zu müssen geglaubt.
Er antwortete auf Fragen, die niemand an ihn gerichtet hatte; er
schrie plötzlich laut auf, rannte aus der Bank und aus der Klasse
hinaus, weil er draußen einen so komischen großen Schmetterling
gesehn hatte, der sich später als eine langsam aus dem dritten Stock
herabflatternde alte Kravatte erweisen mußte. -- Einmal rief ihn
der Lehrer zum Weiterlesen auf; »Bitte, die Übung ist hier zu Ende«
meldete mit hoher Stimme der Kleine, statt in dem gewöhnlichen
dumpfen Tonfall der Schüler fortzuspinnen. Da bekam er seine erste
Strafe. »Ich soll nicht vorlaut sein«, zehnmal abzuschreiben. Seine
Lebhaftigkeit und Naseweisheit hatten ihn nämlich schon in der ganzen
Schule so berühmt gemacht, daß man immer geneigt war, in seinem
Benehmen einen kleinen Unfug zu sehn, auch wenn, wie in diesem Fall,
gar nichts daran war. Denn die Übung war wirklich zu Ende, und obwohl
die nächste Übung ja in unmittelbarem Zusammenhang mit der eben
gelesenen anschloß, wäre wohl auch ein anderer Schüler geneigt und
vielleicht kouragiert genug gewesen, mit dem Herrn Lehrer sich in einen
näheren, gleichsam kameradschaftlichen Zusammenhang durch eine
solche höfliche Frage nach dessen weiterer Absicht zu setzen statt
mechanisch einfach die leere Zeile zu überspringen und sich im Text
als armseliger Lernknabe fortzuhaspeln. Einen Pfiffigen gar wie
Arnold mußte die Situation reizen, und es soll nicht verschwiegen
werden, daß er sich schon oft genug mit aller Sehnsucht in sie
hineingewünscht hatte, als in die einzige, wo er einmal dem
hochverehrten Herrn Lehrer ebenbürtig, sozusagen als Mensch,
gegenübertreten könnte, daß er oft im voraus die Zeilen abzuzählen
pflegte, um herauszubringen, ob diesmal, nach der Sitzordnung, bei der
entscheidenden Übergangsstelle die Reihe an ihn kommen würde. Und
nun war der Moment da und Arnold hatte mit Anstand und stolzer
Gefaßtheit, vollkommen richtig, seine oft vorbereiteten Worte
herausgesungen, hatte sich ausgezeichnet ... mit diesem traurigen
Erfolg leider. Er weinte die ganze Stunde lang, denn er war sehr
ehrgeizig. Und als die liebe Mama sorgfältig um elf Uhr ihn abholen
kam und ihm das Schultäschchen abnahm, weinte er wieder, kaum
beruhigt, und erzählte alles. Nun mußte er gar noch in das schöne
verehrte Papiergeschäft eintreten, wo er sonst nur die ausgestellten
»Münchener Bilderbogen« sich anzuschaun pflegte, zufrieden und
heiter nach der Schultätigkeit, oder zaghaft die imponierenden
Schatzhaufen verschiedenartiger Klaps-, Glocken-, Kuhn-, und
Aluminiumfedern, mußte eintreten und um einen Bogen liniierten Papiers
kaufend bitten. Schon dieser Umstand, daß er einen einzelnen
gottverlassenen losen Bogen kaufen mußte statt wie sonst ein
ordentliches Heft zum ehrenvollen Vollschreiben, schien ihm so sehr
schlampig, heruntergekommen und Sache eines schlechten Schülers, daß er
sich schämte, -- und als ihn gar noch der Kommis mit irgend einer
gleichgiltigen Frage nach der Zeilenbreite beunruhigte, brach er aufs
neue in Tränen aus und erklärte heulend: »Es ist für eine Strafe.« Er
weinte so bitterlich, daß alle im Geschäft stockten und auf den Knirps
hinsahn. Zwei in Schwarz gekleidete Damen traten näher und, tief zu ihm
herabgebeugt, begannen sie, ihm zuzusprechen. Er aber hielt die Händchen
in Fäusten vor den Augen, so daß er nichts sah und auch gar keine
Anstalten machte, zu zahlen und den Laden wieder zu verlassen. Sondern
rücksichtslos und ohne Verlegenheit ergab er sich seiner Reue und seinem
tiefen Schmerze, bis die Mutter, der das lange Ausbleiben draußen
verdächtig wurde, hereinkam und ihr Kind, dem sich inzwischen das
allgemeine Mitleid der Angestellten und Kunden, der Kassiererin, des
Geschäftsinhabers sogar zugewendet hatte, energisch herausholte.

Natürlich konnten Strafen und schlechte Klassen dieser Lust des
lebendigen Gemüts wenig anhaben. In der Schule lernte er allmählich
die kalte Ordnung respektieren, nun warf er sich aber auf Eltern
und Verwandte. Der Vater mußte ihm schon Ohrfeigen androhn, um sein
ewig erregtes »Papa, schau ...« auf den Spaziergängen zum Schweigen
zu bringen. Niemand wollte mit ihm ausgehn, denn er war gefürchtet
wegen seiner unaufhörlichen bohrenden Fragen, die sich mit keinerlei
Ausweichen abstellen ließen. Eine Gouvernante nahm ausdrücklich
deshalb ihren Abschied. Und noch in späteren Jahren pflegte ihn
Frau Direktor Wahlberg, mit der seine Eltern verkehrten, mit einem
seiner Aussprüche zu necken: »Tante, bitte, erkläre mir, ist der Mond
ein Fixstern oder ein Planet«, das hatte er in großer öffentlicher
Prachtgesellschaft ihrer damenhaften Glätte zugemutet.

Es kam eine Zeit, in der er von den Menschen, die seinen reißenden und
dabei so liebevollen Ansturm nicht aushalten mochten, sich abwandte
und nichts tat als stille vertrauliche Bücher lesen. Nachmittags auf
dem Sopha, wenn er aus der Schule kam; nicht liegend, nicht
sitzend, sondern zusammengekauert, den ganzen Körper zwischen Polster
und Lehne gedrängt, während das Buch frei auf dem Sopha lag -- so
ruhte seine Wange über den beiden verschränkten Armen, und nur wenn er
umblättern mußte, langte er unter Verrenkungen eine Hand aus dem
Knäuel hervor ... sonst rührte er das Buch nicht an, er hatte es
gern in einiger Entfernung von sich, selbstständig wie ein
lebendiges Wesen, mit dem man sich unterredete, vom Polster her
blickte es ihn an, gab seine schrägen tiefen Blicke atmend zurück. Und
er las so ziemlich alles, was sein angebeteter Vater, ein in jüngeren
Jahren kunstbeflissener Mann, im Bücherkasten hatte. Dieser Kasten
war versperrt. Arnold mußte jeden Mittag, in der knappen Zeit
zwischen der Beendigung der Mahlzeit und dem Mittagsschläfchen des
Vaters, sein Anliegen vorbringen, um dieses oder jenes Buch: »Papa, gib
mir heraus ...« Dann wurde der rätselhafte Kasten mit den
undurchsichtigen Scheiben geöffnet, und nur in diesem Augenblick
durfte der Sohn die Verlockung all dieser mannigfachen Goldrücken
empfinden und, schnell einige Titel überfliegend, bei sich die
Bücher feststellen, die er die nächsten Male herausverlangen
wollte. Niemals wurde ihm erlaubt, einer seltsamen Pedanterie des
Vaters zufolge, alle Bücher der Reihe nach durchzusehen und in Ruhe
auszuwählen. Niemals wurde ihm auch mehr als ein Buch geborgt. Und so
rasch ging der Vater dabei vor, militärisch mit Wunsch und Ausführung,
Hinzeigen und Herausnehmen, daß manchmal ein Fingerlein oder die
Nase des in all die Pracht versunkenen Knaben Gefahr lief, an der
Kante der wieder zuklappenden Türe eingeklemmt zu werden. Allmählich
kam er daher auf Listen; er sagte um »Kleist« und zeigte dabei auf
die oberste Reihe, obwohl er gut wußte, daß die Kleist-Bände rechts
unten aufmarschiert waren. Aber in der Zwischenzeit, während der
Vater vergeblich oben kramte, hatte er Zeit, einen Überblick über
andere nie gesehene Partien des großen Büchergartens zu erwischen. Oft
allerdings nützte alles nichts, und er sah sich mit einem Buch,
das er nur des fremden Titels oder des hübschen Einbandes wegen
gewählt hatte und das ihn bei näherem Durchblättern gar nicht
interessierte, enttäuscht und leer vor den wieder gesperrten
Kasten gestellt, in einen steinigen leeren Nachmittag verschlagen
wie ein Schiffbrüchiger auf eine öde Insel, wo der ersten Freude des
Gerettetseins eine umfassendere Angst vor der Zukunft folgen muß.
Denn niemals nahm der Papa ein schon herausgegebenes Buch noch an
demselben Tag zurück, das war eherne Regel ... Im Verlauf der Zeit
nun las Arnold alles, von der Bibel und Goethe an bis zu dicken
staubigen Lieferungsromanen wie »Die Geheimnisse der Bastille«, die
noch uneingebunden in den untersten Schubläden lagen. Sein Kopf
füllte sich mit den Gestalten Schillers und Heines, mit den
Kreuzfahrern und Schillschen Offizieren der Weltgeschichte, mit
Lokomotiven aller Konstruktionen aus einer vielbändigen »Geschichte
der Erfindungen und Industrien«, mit den Jägergeschichten und
rührenden Affen-Szenen der Gefangenschaft aus »Brehms Tierleben«. Und
nur eines hatte ihm der Vater verboten, in den Shakespearebänden
den Othello. Arnold befolgte auch getreu diese Absperrung, ängstlich
wich er dem Stück aus, obwohl seine Neugierde aufs höchste erregt
war und niemand ihn überwachte, und nur die Vorrede mit der
Inhaltsangabe las er einmal doch, indem er sich sagte, daß die ja
nicht eigentlich zu dem gebannten Stück gehöre. Welch ein Geheimnis,
diese überblätterten und stets wie mit Leim zusammengehaltenen
Seiten hie und da, wie durch Zufall, aufzuschlagen, vom Wind
aufblättern zu lassen, unbeachtet ein Wort, einen Satz aus dem
Zusammenhang zu packen, eine Abbildung vorbeiträumen zu sehn,
niemals aber dem lieben strengen Vater durch wirkliches Lesen der
Reihe nach ungehorsam zu werden. Wie peinigte das sein pochendes
Herz!... Überdies hatte der Vater dieses Verbot nur einmal und nur
beiläufig fallen lassen, nie mehr wiederholt, vielleicht selbst nicht
so wichtig genommen und längst vergessen. Und als Arnold, zu
Jahren gekommen, später einmal diesen fürchterlichen »Othello«
durchnahm, fand er zwar gleich in der ersten Szene eine obszöne
Phrase, im Ganzen aber nichts, was dieses Stück vor den vielen, die
er lesen gedurft hatte, ausgezeichnet hätte. Derartige Phrasen hatte er
ja als Kind zu hunderten unverstanden eingeschluckt. Und so blieb
ihm dieses Verbot seiner Kinderjahre weiterhin ein Geheimnis, über das
er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen
sich getraute.

Indessen kam der Hausarzt einmal, anläßlich einer Masernerkrankung
-- man mußte dem Kerlchen mit den verklebten Augen unermüdlich von
früh an bis in die späte Nacht vorlesen -- auf Arnolds überreichen
Bücherkonsum. »Ihr Junge ist mit achtzehn Jahren ein Idiot«, schrie
er die tödlich erschrockene Mutter an, und von nun an war es mit
der Lektüre zu Ende. Furchtsam wachte die Mutter darüber, daß
Arnold keine Zeile mehr außer den Schulaufgaben zur Hand nahm. Auf
vielfaches Jammern und als sich die Folgen der Langweile in seiner
gesteigerten Wildheit zu zeigen begannen (er stach der Köchin mit
ihrer Hutnadel den Daumen durch), wurde ihm endlich jeder dritte Tag
als Lesetag eingeräumt ... Arnold erinnerte sich überdies später
oft mit Vergnügen daran, wie großen Eindruck der Schrei des erzürnten
Arztes auf ihn gemacht hatte. Bis zu seinem achtzehnten Jahre erwartete
er allen Ernstes mit Grausen täglich das Eintreten der prophezeiten
Verblödung, erst nachher fiel es ihm plötzlich als Erlösung ein,
daß der Arzt vielleicht nur in einer Metapher geredet hatte. Ja, als
Kind pflegte er eben Aussprüche älterer Leute unauslöschlich ernst zu
nehmen ...

Die Lesewut machte zu Beginn des Gymnasiums einer unbändigen
Sammelfreude Platz. Arnold besaß bald, wie ein Onkel sich ausdrückte,
eine »Sammlung von Sammlungen«, er hob alte Tramwayzettel auf, flehte
alle Abreisenden an, ihn in fremden Städten auf Zahnradbahnen und
Elektrischen ja nicht zu vergessen, ferner ordnete er in
Schachteln und Kistchen abgesondert: Knöpfe, alle Arten von
Zündholzschachteln, Zigarrenbinden, Ansichtskarten mit und ohne Marke
auf der Bildseite, Bleistifte, Autogramme, Münzen, Vereinsmarken,
Siegelabdrücke, Mineralien, hinter Glas spannte er Schmetterlinge
und Käfer auf, in Mappen hatte er bald mehrere Tausende von
Bildern, aus alten Zeitschriften ausgeschnitten und sauber auf dünne
Pappendeckel aufgeklebt. Er brannte um diese Zeit auf derartige alte
Bände der »Gartenlaube«, der »Guten Stunde«, und unzerschnitten
schienen ihm diese Hefte ihren wahren Zweck vollständig verfehlt zu
haben, so daß ihm bei ihrem Anblick und wenn er sie nicht in seine
Sphäre ziehen konnte, das Herz zerbrach. -- Wie alles, betrieb er
solchen Sport mit dem ganzen Eifer seiner ganzen Natur, und wenig
fruchtete da die stereotype Warnung des Vaters: »Arnold, du
übertreibst alles.« Dem Kinde, das zwei oder drei Sachen derselben
Art beisammen sah, lag nichts näher als der Gedanke, solcher Dinge
noch mehr auf einen Haufen oder in schöne Reihen zusammenzukriegen,
und namentlich bestärkte ihn in diesem immer neu wiederholten und
dadurch schon ganz geläufigen schnellen Gedankengang die Beobachtung,
daß es ja so leicht war, eine Sammlung irgendwelcher Manier
anzufangen, ja, daß eigentlich die Sammlungen schon um ihn herumlagen,
nur freilich noch unentdeckt, ungeordnet, daher unwirksam. Es
bedurfte aber jedenfalls keiner schöpferischen Tätigkeit, keines
Hervorstampfens. Er mußte nur, wenn er beispielshalber auf die Idee
gekommen war, Stahlfedern zu sammeln, seine alte Liebe, zuerst
einmal seine Pennale ausleeren. Da lagen sie ja schon beisammen,
halbverbraucht, aber immer noch Muster ihrer Art, er brauchte nur die
besten herauszuklauben. Dann ging es über die Vorräte des Vaters
im Comptoir her, wo die seltenen großen Stücke, wie Kolumbusfedern,
oder die komisch verkrümmten Soennecken oder die zierlich-spitzen
Stenographiefedern, die fast wie Nadeln aussahen, eiligst
zusammengerafft wurden. Und mit dem Taschengeld, das ihm zum Ankauf
von Schreibzeug übergeben wurde, ging nur eine kleine Verschiebung
vor, er kaufte, statt wie bisher gedankenlos Federn immer derselben
Art, möglichst verschiedenartige und exotische, natürlich nicht
zum Schreiben, sondern zum Aufheben, während zum Schreiben
möglichst lange derselbe Invalide herhielt. So rückte die Sammlung
feurig vorwärts, es war gar keine Unmöglichkeit, tausend Stück
zusammenzubekommmen oder die größte Sammlung von Europa überhaupt, es
galt nur die richtigen Stege und Zuflüsse zu graben, durch rein
geistige Überlegungen, denn der Rohstoff war ja vorhanden. Nur ihn
gescheit in die Grube zu leiten, das war das Problem, ihn nicht
unnütz an den Seiten abrinnen zu lassen. So hatte er beim Sammeln das
Gefühl, nicht nur sich durch nützliche Tätigkeit auszuzeichnen, sondern
auch irgendwie der ganzen Welt zu dienen -- und übersah er dann an
einem der ersten Abende, da alle Quellen noch munter der neuen Sammlung
zuflossen, seinen sauber geschlichteten Reichtum, so überfiel ihn
ein beinahe schwindelndes Glück von Größe, Schönheit und Triumph, und
der Wunsch, mit dem er einschlief, die Sammlung möge so weiter und
weiter gedeihn, war um nichts weniger innig als das Nachtgebet ...
Freilich nahm sein Interesse bald ab, wenn in seiner Nähe keine neuen
Höhlen mehr zu sprengen waren, in denen schon große Haufen der
gewünschten Dinge wie vorbereitet dalagen und auf ihn warteten;
wenn es galt, nun ein Stück ums andere mühsam heranzulocken. Dann
wurde die Sammlung aus den Kasten ins Dunkle gestellt, halb vergessen,
eine andere trat mit neuen Hoffnungen ans Licht. So ging es zwei
Jahre lang, bis endlich sein Streben an einer Briefmarkensammlung
hängen blieb und sich gewitterwolkenähnlich verdichtete, da hier
nebst dem Reiz der Ausdehnung und Vollständigkeit nun auch der des
nicht mehr bloß kindischen Wertes in Aussicht gestellt wurde. Nun
begann er in den Zehnuhrpausen zu »tauschen«, nicht ohne Streit und
Schwindel, nun wußte er bald alle Wasserzeichen, Fehldrucke,
Zahnungsunterschiede und Farbennüancen auswendig, niemand kam ihm
darin gleich, ja sein stürmisches Interesse für alles, was mit Marken
zusammenhing, ging so weit, daß er sogar den Flächeninhalt, die
Hauptstadt und die Münzsorten jedes Landes wie dies in seinem Album
angegeben war, schnell und genau erlernte. Mit seinem »Senf« in der
Tasche, den er stets sorgfältig nach der neuesten Ausgabe korrigiert
hatte, galt er unter den Kollegen als Autorität, wurde in
schwierigen Fällen befragt und entschied unwidersprochen. Und nur
etwas unterschied ihn von einem kühlen Fachmann: während er die
verlockendsten Stücke fremder Sammlungen nachsichtslos, von
ängstlichen Blicken ungerührt, als »falsch« oder »Neudruck«
verurteilte, konnte er selbst sich von den Fälschungen, die ihm
gehörten und die er als solche längst erkannt hatte, in einer
seltsamen grundlosen Zärtlichkeit nicht trennen. Er glich da dem
glühenden Liebhaber, der seine Leidenschaft nicht bezwingen kann,
obwohl er die triftigsten Gründe hat, von dem Unwert des geliebten
Gegenstandes überzeugt zu sein. So besaß Arnold, beispielsweise, eine
alte Schweiz »mit der sitzenden Helvetia« -- nachgemacht, ganz
plump nachgemacht. »Ich weiß ja, daß sie falsch ist« pflegte er zu
sagen und sah die Marke mit stillverliebten, unendlich traurigen
Blicken an, »aber ich laß sie doch drin, sie schadet ja doch
nichts«, während er einen Kameraden in gleichem Fall unfehlbar mit
den Worten: »So ein Stück ist eine _Schmach_ für jedes anständige
Album« ausgescholten hätte ... Ja es gab sogar Zeiten, allerdings nur
zu Anfang der Markenperiode, in denen Arnold selbst fälschte, sich
selbst betrog, indem er aus einem alten Album einfach die vorgedruckten
Markenbilder, sofern sie mit »grau« oder »schwarz« bezeichnet waren,
ausschnitt und als wirkliche Marken in sein Album einklebte. Davon
ließ er bald, konnte aber von den einmal gewonnenen Exemplaren auch in
der Folge nicht Abschied nehmen, in einer ganz unbestimmten,
sinnlosen Hoffnung, wie sie eben den Ekstatiker auszeichnet: diese
Scheinmarken könnten eines Tages doch vielleicht, wie durch ein
alchymistisches Wunder, in echte und allgemein anerkennenswerte
verwandelt werden. Ebensowenig mochte er sich entschließen,
beschmutzte oder lädierte Stücke auszuscheiden. »Sie fehlt mir ja
gerade zum Satz,« dieses Zauberwort hielt ihn fest. O welche Freude war
das, welcher Anblick konnte schöner sein als der einer Albumseite,
deren vorgezeichnete Reihen --, manche sind länger, manche kürzer,
mancher seltsame »Satz« besteht nur aus zwei oder drei Stück --
komplett mit Marken besteckt waren; »komplett«, das war das Wort, das
er mit scheinbarer Flüchtigkeit, mit leichter stolzer Handbewegung
dem Kollegen zurief, vor dem er eben die Sammlung durchblätterte,
»Belgien komplett«, o wie das klang! Und dabei wurde schon
umgeblättert, mit selbstverständlichem Besitzergleichmut, während
des andern Augen bewundernd umherschossen; da flatterten wie kleine
bunte Regenbogenwimpel die Marken, jede sauber gewaschen, jede von
ihrem geknickten Spannleisten lustig getragen. Manchmal blies Arnold
unter eine Reihe, um die Wasserzeichen, Netz oder Posthorn,
Gummierungsfeinheiten oder die Stampiglie »Geprüft« einer großen
Firma zu zeigen -- dann drückte er sanft wieder mit weichen
Fingerballen die kostbaren Papierchen nieder. Sie waren leuchtend
wie sein Ehrgeiz, vielfältig wie seine Träume, leicht erregbar in
ihren Reihen wie sein junges Gemüt. Seinen einzigen Schatz machten sie
aus, beinahe seine Religion. Markensammler zu sein schien ihm,
wenn er sich selbst ernstlich bewertete, seine beste Eigenschaft
und jeden Burschen, den er kennen lernte, fragte er sofort: »Was ist
mit dir? Sammelst du?« ... An langen Nachmittagen grübelte er über
Auswahlsendungen nach, verglich die Vorteile und Preise der
heimatlichen Markenhändler, studierte Katalog oder Sammlerzeitung,
oder er ließ leise Glücksschauer über seinen Kopf kräuseln, indem
er sich einbildete, er käme durch Zufall, Fund oder glücklichen Tausch,
zu den gepriesenen Glanzstücken der Philatelisten, Mecklenburg
oder Bergedorf, Mauritius, Kirchenstaat, alte Sachsen. Für die kleinen
verschollenen Staaten, deren Marken in seinem Album sämtlich den
hochzuverehrenden Vermerk =R= oder =GR= trugen, was »Rarität« oder
»Große Rarität« bedeutete, hegte er eine schwärmerische Verehrung, die
sich auf ihre längstverstorbenen Regenten und Tyrannen, auf ihre
ganze Historie ausdehnte. Schon vor =S=, das ist: Seltenheiten,
erzitterte er in Glücksfieber. Denn seine Sammlung war ja leider,
trotz aller Anspannungen und theoretischen Kenntnisse, nur klein
... Allmählich erweiterte er sie, übertrug sie, nach Art großer
Sammler, aus dem festen Album auf lose Pappendeckelblätter, gab dann
hochmütig die »Ganzsachen« und alle außereuropäischen Länder auf. Nur
Europa sammeln, das war die Devise eines soliden vornehmen Kenners;
diese exotischen Gschnasstückerl sind ja nur schön fürs Auge, nichts
wert. Mit wachsendem Taschengeld stiegen seine Ankäufe und so blieben
die Marken, zu Zeiten vergessen, dann wieder einmal hervorgeholt und
gestreichelt, immer aber wohlbehütet, seine liebste Spielerei bis in
die Mannesjahre hinein.

Diese Sammlung führte ihn auf dem Wege des Verkehrs und der
allgemeinen Schätzungen wieder zu den Kameraden zurück, denen er
eine Zeit lang eigensinnig ausgewichen war. Gegen das Obergymnasium
hin wurde er wieder kollegialer und bald entwickelte sich als erste
Frucht dieses menschlichen Umgangs eine neue Eigenschaft aufs höchste
in ihm ... die unbezähmbare Schwatzhaftigkeit. Es war, als müsse er
für jahrelanges stilles Vorsichhinspielen auf einmal sich
entschädigen. Angepfropft mit Zitaten, mit Bücherereignissen, wie
er war, begann er zunächst in den Pausen, auf den Korridoren vor den
Kollegen lange Reden zu führen, in denen keiner ihn unterbrechen
konnte, denn er hatte die lauteste müheloseste Stimme, die selbst, wenn
er gemütlich sprach, zu zanken und zu drohn schien. Man hörte ihm in
einer Mischung von Spott und Bewunderung zu, wenn er einen Professor
mit Don Quixote und die andern mit den Pickwickiern spaßhaft verglich.
So gezierte ausgewählte Scherze klangen allen ungewohnt, ja
unbehaglich; da er aber in seinem Eifer die frostige Wirkung, die er
hervorbrachte, selbst nicht zu bemerken schien, vielmehr immer in
derselben Richtung sich steigerte, sich überbot, berauscht von
eigenem Beifall immer freundliche Zurufe der andern um sich zu
hören glaubte und so sich noch mehr erhitzte, begann er zu imponieren.
Jedenfalls bereicherte er den seit langer Zeit festgewordenen
Gesprächsstoff, brachte ein paar neue Redensarten auf. Man ahmte ihn
nach, eine Partei bildete sich um ihn. Einige begleiteten ihn
täglich nach Hause. Auf offener Straße nun entfaltete sich seine neue
Kunst, denn anders als in den öden glatten Gängen gab es hier
tausend Dinge, an die er seine effektvollen Betrachtungen anknüpfen
konnte. Von der Tramway kam er auf Elektrizität zu sprechen,
brachte verworrenes Zeug vor, das er sich selbst nach wenigen
Andeutungen seiner Erfahrung zurechtgemacht hatte und von dem die
andern nur wußten, daß sie »das noch nicht genommen hatten.« Wie
erbebte er vor Entzücken, wenn ihn nun einer seiner Anhänger um
Erklärung einer Sache bat, wie begann er gleich mit sanftem Anstand,
ernsthaft, auch wenn er gar nichts wußte, zu erklären. »Das ist a sehr
einfach« waren immer die ersten Worte. Allen Ernstes glaubte er,
daß es nur eines recht guten innigen Drauflossprechens bedürfte, um
alle Dinge der Welt klar zu machen. Und wenn er es dann nur
aushielt, recht lange bei dieser einen Sache zu bleiben, recht
ausführlich und immer verwickelter über sie zu reden, meinte er,
seine Aufgabe aufs beste vollführt zu haben. Er glaubte nämlich,
auch in den sogenannten wissenschaftlichen Büchern einigemal
bemerkt zu haben, daß das Erklären nur in einem recht langen,
mannigfachen und undurchsichtigen Brei bestehe, den man um die
Dinge gieße, und diese Regel bewahrte er als ein Schlauer, der nun
dahintergekommen war und der sich von dem allgemeinen Vorgeben nicht
mehr täuschen ließ, wohl im Gedächtnis. Wenn er aber an seine
Kindheit zurückdachte und an die Mühe, die seine Erzieher angeblich
mit seiner Wißbegierde gehabt, so lachte er sie noch nachträglich
aus. Was für Kunststücke! Nur ein wenig Geistesgewandtheit gehörte
dazu und man hatte die ganze Welt in der Hand, wie ein Ausleger die
Bibel. -- So moralisierte er auch nicht schlecht, hatte Gedanken
über den Staat, über Religion, Gott, Theater, Mode, gute und böse
Menschen. Darin vornehmlich war er Meister: wenn er ein Sprichwort
irgendwo oder einen Satz aufgegabelt hatte, diesen zum Motto langer
Erörterungen zu nehmen, beständig in neuer und überraschender Form
zu wiederholen, hin- und herzuschrauben, so daß ohne viel inneres
Wissen ein verwunderliches farbenreiches Getön und Hohlwerk aus
großartigen Worten entstand. -- Widersprach ihm jemand, so kam ihm
das gerade recht, denn nun konnte er gar erst mit aller Kraft
losbrechen, an die fremden Worte wie an Kähne sich anklammern und
sich von ihnen durch das Wasser obenauf mitschleppen lassen. Ganz
naiv munterte er auch manchmal solche, die ihm dazu geeignet
schienen, auf: »Du, komm, debattier ein bißl mit mir.« Und das war
ein Herumirren in den Straßen, ein Begleiten hin und zurück, die Gasse
hinunter und nochmals hinauf bis zur Ecke, ehe er nach so einem
Schulweg endlich zu Hause anlangte. Gewöhnlich war es eine ganze Gruppe
von Burschen, jeder seinen Pack Bücher lose unter dem Arm (denn
Riemen oder gar Schutzleder waren als unmännlich und schülerhaft
längst verworfen), Arnold immer in der Mitte, neben ihm die
Bevorzugten, die auch schon etwas verstanden, und an den Seiten
unbedeutende Flügelmänner, die sich abwechselnd immer wieder bis zum
Zentrum der Gruppe durchzuquetschen suchten, immer um die
Mittleren mit unbeachteten Fragen und unbegehrten Antworten
herumtanzten und immer wieder, wie nach einem Naturgesetz, an die
kühlen äußeren Enden der Reihe gedrängt wurden, wo sie gelangweilt
mitstolperten. Vor dem Haus sammelte Arnold nochmals alle um sich, gab
gleichsam die Parole aus, irgend eine Schlußpointe, aus dem
allgemeinen Lachen aber gerieten die Zurückgelassenen, sobald Arnolds
Licht verschwunden war, schnell in die gewohnte Balgerei; »wo bist du
wieder so lange gewesen?« empfingen indessen oben den Helden die
besorgten Eltern. -- Nicht zufrieden mit diesen Heimschlendereien
ging Arnold bald dazu über, die Freunde zu sich zu laden, am liebsten
gleich rottenweise, erzürnte die sparsame Mutter mit seinen ewigen
Kaffee- und Kuchenbestellungen und gab ihr, da er nicht immer die
Saubersten sich aussuchte, Anlaß zu häufiger Wiederholung ihrer
beliebten Grußformel: »Guten Tag. Bitte, putzen Sie sich die Stiefel
ordentlich ab, aber ordentlich!« Er gründete einen Lesezirkel für die
»Intelligenz der Klasse«, der sich im Sommer als Fußballklub
fortsetzen sollte; denn Stubenhocker wollten sie ja nicht sein. Da er
um diese Zeit mit einigen Genossen das Schachbuch von Dufresne
studierte, war man auch von einem Schachklub nicht mehr weit
entfernt ... Aber auch sonst noch, auf den Gassen, hielt er die
Kollegen fest, führte sie mit sich oder schloß sich an ihre
Besorgungswege an, oft auch setzte er sie in Verlegenheit, indem
er aus einer Quergasse wie aus einem Hinterhalt hervorstürzte: »Da
bin ich. Jetzt aber laß ich dich nicht los, ob du willst oder nicht
willst. Jetzt bist du mein.« Und zärtlich eingehängt überströmte er den
Zuhörer mit seinen neuesten rhetorischen Eingebungen. Da half kein
Abschied, keine Eile, kein Zugversäumen. Denn es galt ja auch
allgemein als interessant, ihm zuzuhören, und nur ungern und
lässig wurden höhere Pflichten gegen ihn geltend gemacht. Bis ins Tor
der Häuser, bis an die Wohnungstür vor die Glocke folgte er den
Geduckten, geschmeichelt Gepeinigten, eifrig redend, nach und es hatte
gar nicht den Anschein, als sei er der Spender und gieße aus seinem
Innern etwas in den Krug des andern aus; sondern so war es, als
spende der andere, als hinge Arnold mit den Lippen saugend an dem
Zuhörer wie an einem Gefäß mit süßem Wein, das man von ihm wegziehn
wolle und dem er deshalb in Abhängigkeit, immer saugend, nachfolgen
müsse. Rufend entfernte er sich um einen Schritt, machte aber
plötzlich noch einmal einen zwei Schritte langen Sprung nach vorn,
um aus dem Mann an der Türklinke noch das Anhören von sieben oder
acht Sätzen auszupressen.

Es konnte nicht fehlen, daß ein Jüngling solcher Vorzüge bald auch
echte Freunde an sich zog, nebst dem Schwarm geringerer Mitläufer.
Der erste, der sich näher ihm zugesellte, war Philipp Eisig und
dieser Seelenbund blieb fest durch viele Altersstufen hindurch, obwohl
er nur dem kleinen Zufall das Entstehen verdankte, daß die Eisigsche
Familie eines schönen Tages übersiedelt war und nun dem Hause Beer
gerade gegenüber wohnte. Jetzt war ein ständiger Gefährte für die
Heimwege gefunden -- und das genügte als Grundstein einer so langen
und folgenreichen Freundschaft, wie sich überhaupt Arnolds Beziehungen
oft durch ganz geringe Fügungen und gleichsam ohne seinen Willen
anknüpften, in aller Hast. Arnold stürzte sich nun gleich mit wahrer
Glut in das neue Gefühl, seine Redeströme bekamen einen Inhalt, zum
erstenmal ein heimliches inneres Zittern zu ihrem glatten äußeren
Schimmer, enthusiastisch schwärmte er vom Bund fürs Leben, von
Intimität und Herzensgemeinschaft, er machte sogar kleine witzige
Gedichtchen und ein Akrostichon auf den Namen seines Auserwählten.
Alles erzählte er ihm, was er sich bei allen Gelegenheiten dachte,
und sorgsam trug er nach, woran er sich aus der noch nicht
gemeinsamen Vergangenheit erinnerte. Offenheit und Mitteilsamkeit waren
ihm die selbstverständlichsten Freundespflichten, ja eine gewisse
Kühnheit im Aussprechen von Dingen, die man sonst nur mit einer
gewissen Scheu nennt, schmeichelte ihm wie ein Opfer, das er dem
andern brachte, dem Freunde, der mit seinem großen dicken gelben
Gesicht still neben ihm ging, schaukelnd über dem breiten Bauch.
Denn ein Umstand kam dem Verkehr vornehmlich zustatten: Eisig
stotterte ein wenig, daher war es dem lebhaften Arnold leicht
möglich, ihm geschickt in die Rede zu schnellen, während er selbst in
seinem Hinstürmen nie unterbrochen werden konnte. Arnold schien ihn
förmlich mit seiner Zunge zu regieren, sowie er auch mit den Händen
oft durch einen kleinen starken Ruck dem großen, aber haltlos
wankenden Körper des Freundes schnell die richtige Wendung gab, um
ihn auf irgend eine flüchtige Erscheinung aufmerksam zu machen oder
um ihn in die gewünschte Gasse einzubiegen. Und dieses angenehme Gefühl
des sofortigen Befolgtwerdens, der Ungehemmtheit, das er übrigens nicht
durchschaute -- so natürlich und triebhaft entströmten ihm die Befehle
-- verschmolz ihm in eins mit den zärtlichen Aufwallungen der
ersten Zuneigung, mit den Geheimnissen, die die beiden einander
mitteilten, mit dem erhabenen Beispiel von Orest und Pylades, das ihn
seit jeher begeistert hatte. Er fühlte sich zu jeder Heldentat bereit,
hätte gern stoisch Folterungen ausgehalten, um den andern in nichts
zu verraten. Abends gingen sie manchmal, eingeschlossener trotz der
ungleichen Statur und mit seltsam gezwungenem Schritthalten, auf den
Feldern draußen vor der Stadt spazieren, sie starrten in die Sonne
oder vom reinlichen Quai hinab in den großen tiefen Fluß, dann
sprachen sie wieder etwas, und obwohl es nur ein Witz oder
Schultratsch war, kam oft eine ahnungsvolle Verworrenheit in ihre
Worte, wie Wind in die Seiten einer Äolsharfe, und solche Innigkeit
verklärte noch ihr geringstes Gespräch, daß Arnold nicht selten
die Tränen in seinen Augen aufsteigen fühlte. Dann wischte er sie
mit dem Rockärmel ab, während der Dicke in feinfühligem Verständnis
sich zur Seite wegwandte, um ihn nicht beschämen zu müssen. Erst zur
Nachtmahlzeit schieden sie voneinander und am nächsten Morgen, während
des Ankleidens, brannte Arnold unbändig schon wieder auf die nächste
Zusammenkunft, denn es hatten sich ihm noch am Abend vor dem
Einschlafen so viele Dinge aufgehäuft, die er dem Freund auf dem
Schulweg mitzuteilen hatte und die er nun sorgsam ordnete, das minder
Wichtige voran, das Schönste zuletzt, um alles in der richtigen
Reihenfolge und mit der richtigen Wirkung an den Mann zu bringen ...
Indessen war Eisig bei all der aufgedrängten Schweigsamkeit der
Überlegene in diesem Verkehr, da er Billard spielen konnte, auch schon
hie und da Kaffeehäuser besuchte und den Frauen nicht mehr ganz ferne
stand; was alles er dem Muttersöhnchen Arnold binnen kurzem beibrachte.
Welch neue interessante Blütenwelt! Arnold war bald bis über die Ohren
in sie versunken, bestrebt, den Lehrer womöglich zu übertreffen. Denn
kein Ding machte ihm eigentliches Vergnügen, wenn er nicht andere darin
übertreffen konnte. Nur Geld fehlte ihm, Eisig borgte willig die Hälfte
seiner Taschenbezüge, was Arnold übrigens als selbstverständlich
auffaßte und in Eisigs Lage genau so gemacht hätte. Dafür half er dem
Geliebten bei Hausübungen nach. Eisig war nämlich einer der Schwächsten
und Faulsten in der Klasse, Arnold natürlich Primus, was ihn jedoch
nicht hinderte, auch bei den gröberen, untergeordneten Naturen, die
sonst das Fleißige und Erfolgreiche hassen, sehr beliebt zu sein,
an allen ihren Streichen teilzunehmen und bald sogar ihre Führung an
sich zu reißen, während er trotzdem bei den Lehrern das Ansehen
eines willigen Glanzes behielt.

Besonders schlecht stand Eisig beim Professor des Griechischen,
Schleiderer mit Namen, dessen Laufbahn auch sonst von vielen
Verwünschungen der unruhigen Schüler widerhallte, als eines
unglücklichen Menschen übrigens, der er war. Seine Bosheit war
berüchtigt. Und sollte man da nicht wild werden, wenn er dem Eisig
die griechische Schularbeitstheke süßlächelnd mit den Worten reichte:
»Eisig Philipp -- diesmal etwas besser gearbeitet. -- -- Nicht
genügend«. Eisigs gewöhnliche Note bei Schleiderer war nämlich
»Ganz ungenügend« ... Da trat Arnold als Vertreter eines Gedankens
auf, der schon lange ungesprochen durch die Klasse gebebt hatte:
»Wir müssen einen Anti-Schleiderer-Verein gründen!« Der Name
machte allen alles klar, nun wurde die längst vorbereitete Bewegung
grausam organisiert und als alleiniger Zweck des Vereins wurde die
Losung ausgegeben: den Schleiderer heraus- oder totzuärgern. Während
aber die schlechten und eingeübten Randalierer zu unfeinen Mitteln,
wie: Knallerbsen, Stinkbomben -- rieten, war Arnold erfinderisch. Er
leitete es ein, daß einmal während der Griechischstunde hier und dort
einer von seinem Platz aus langsam und allmählich sich erhob, das Buch
in der Hand, an verschiedenen Stellen der Klasse, so daß es zunächst
nicht auffiel. Die Ängstlichen standen in geknickter Verrenkung, als
sei ihnen nur das Sitzen für ein Weilchen unbequem geworden und als
wollten sie sich in halb aufrechter Stellung ein wenig ausruhn;
andere hielten ihre Hefte oder Bücher dem Lichte zu, als hätten
sie unten nicht Licht genug für ihre Arbeit; manche kratzten sich,
wie geistesabwesend, verlegen in den Haaren. Unbemerkt standen nun
andere wieder auf, immer mehr, bis entsetzt der Professor plötzlich
die ganze niegesehene Veränderung rätselhaft aufgestellter, gleichsam
gespensterhafter Schülerreihen vor sich hatte. -- Oder er gab das
»Bänkerücken« an; langsam schoben die in der ersten Bank ihre Sitze
vor, die nächsten folgten, möglichst ohne Geräusch, nur ein kleines
Knarren oder Seufzen des Holzes manchmal, angestrengt arbeitete die
ganze Klasse dem gemeinsamen tückischen Ziel entgegen, keiner paßte auf
den Homer auf, den der Professor wie über aller Köpfe und Ohren hinweg
in die Luft vortrug, -- und schließlich erschreckte den nichtsahnenden
Feind wieder ein so ungewohnter Anblick, als er vom Katheder
herabsteigen wollte und keinen Zwischenraum wie sonst zwischen dem
Podium und der ersten Bank vorfand, da die Bänke bis an die Erhöhung,
wie Belagerer, vorgerückt standen. Und alle machten ein möglichst
unschuldiges dummes Gesicht dazu, ja sie schienen nicht einmal etwas
Auffallendes zu bemerken, so daß sein Blick ratlos an ihren kalten
teuflischen Gesichtern hin wanderte. -- Oder die Derbsten in den
letzten Flegelbänken rauchten gar -- auf Arnolds Anreiz --, verborgen
hinter Büchern, bliesen den Rauch in ihre Hüte, die sie immer wieder
sorgfältig umklappten, bis endlich diese Sammelbüchsen voll waren und
nun schlugen sie sie um, daß ein weißes dampfendes Gewölk unbekannten
Ursprungs langsam zur Decke emporstieg, eindrucksvoll qualmend wie zum
Aktschluß einer Zauberposse ... Jetzt war Arnold Liebling und Stolz der
Klasse; und immer noch brav, immer noch: »Sittliches Betragen:
musterhaft« auf dem Zeugnis. Der Verein hätte ihn aber doch vielleicht
entschiedener in den Unfug gezogen: da ereignete es sich eines Tages,
daß Professor Schleiderer, der Verhaßte, wie von selbst auf der
Schloßtreppe hinstürzte und sich den Schädel brach. War es Wahnsinn?
Selbstmord? Niemand erfuhr es, auch in der Folge nicht. Die jungen
Sieger aber standen nicht an, dies als Folge ihrer gutgelungenen
sinnverwirrenden Quälereien zu erklären und an demselben Tage ein
fröhliches Zusammentreffen in der Eisigschen Wohnung einzurichten, das
ohne Reue als eine Art von kannibalischem Triumphfest geplant war, in
das sich aber unvermerkt mit immer bedenklicheren Reden und gar nicht
mehr knabenhafter Unfrische ein geheimes Todesgrauen einzuschleichen
begann -- viele von den Burschen hatten überhaupt noch nie einen
Todesfall in ihrer näheren Umgebung erlebt -- und das schließlich ganz
appetitlos, ernsthaft, ja mit dem Entsetzen, das in Erfüllung gegangene
Flüche und Orakel umwittert, und in Angst vor allen unberechenbaren
Zufällen des Lebens zu Ende ging -- des Lebens, das auf alle diese
Kinder draußen lauernd wartete.

Die Mutter sah es nicht gern, wenn ihr Arnold in das Eisigsche Haus
hinüber ging. Das ganze Treiben dort gefiel ihr nicht. Schon den
dicken Philipp mochte sie nicht besonders leiden und ermahnte ihn
immer, wenn er sie verlegen anstotterte: »Langsam sprechen, nur
hübsch langsam«, sie hegte nämlich den Wahn, daß alle Krankheiten
und üblen Zustände, die sie nicht verstand, nur schlechte Gewohnheiten
seien ... Arnold aber, der gemach in das Alter kam, in dem man die
Freunde über die Eltern setzt und überhaupt die Ansichten der Eltern
mit einigem Trotz und Mißtrauen prüft, ging nun erst recht zu Eisigs.
Dort konnte sich ein gewisser toller bubenhafter Zug seines Charakters
zu üppiger Entwicklung durchringen, dort hatte alles einen Strich von
ungebundener Räuberromantik, schon die ungeheuerliche Unordnung und
Verwüstung in den großen hohen, dabei nicht hellen Sälen des alten
Gebäudes: all dies mit der ordentlichen Sparsamkeit zu Hause
kontrastierend ... Die Eisigskinder, fünf Söhne recht verschiedener
Altersstufen, bekamen alles, was sie nur wünschten, in Verschwendung,
sie hatten, außer dem besonders auffallenden Billard, in ihrer
Wohnung eine =Laterna magica=, ein herrliches Puppentheater mit
zahllosen Kulissen, Turngeräte, sämtliche Bände von Jules Verne,
Gerstäcker und Karl May, und überdies durften sie nach Herzenslust
alles zerreißen, verborgen und verbrauchen, wobei ihre lustigen
Eltern noch spitzbübisch mitlachten, während bei Beers alles
abgezirkelt und wie am Schnürchen gehn mußte. Schon daß die
Eisigsjungen fünf waren und so mannigfache Talente -- einer konnte
Karikaturen zeichnen, einer photographierte, einer konnte mit dem
Mund das Geräusch einer Säge nachmachen u. s. f. --, mußte dem einzigen
Sohn Arnold imponieren. Welche Kombinationen gab es da, welche von
altersher eingelebten Scherze und Neckereien, welche Wirkungen vereint
und gegeneinander, und wieviel Gerümpel und altes Spielzeug, da jeder
von den ersten Jahren an seine eigenen Sachen hatte! Besonders aber
fand Arnold an dem Ältesten Gefallen, an dem Herrn Gottfried, der
allerdings, wie er sich recht wohl eingestand, eigentlich »noch nichts
für ihn war«, der ihm aber trotzdem hie und da ein Stündchen traulichen
Geplauders gewährte, in unbegreiflicher Herablassung. Arnold bewunderte
den Studenten schrankenlos, der, wie er häufig erklärte, die
Schauspielerei studierte, eigentlich schon alles irgendwie Nötige
gelernt hatte und nur vorläufig, da er ohne Engagement blieb, Gedichte
»im modernsten Genre« schrieb, selbst verfertigte Verse, die sich nicht
reimten und in denen häufig Worte wie »Glast, Sehnsüchte, kranke Finger,
geistern, Silber, Onyx, Chysopras« vorkamen. Gottfried rezitierte sie
selbst gelegentlich im Familienkreise und vor Gästen, nicht ohne Anflug
eines kleinen Familien-Stotterns ... O hier gab es Anregung, hier waren
die neuen Sachen, hierher verlegte Arnold bald das ganze Leben seiner
freien Zeit, und da schließlich das Etablissement Eisig als gewaltiges
Hutexportunternehmen in ansehnlicher Blüte stand, hatten die Eltern
Beer nach näheren Erkundigungen gegen diesen Umgang im Grunde nichts
mehr einzuwenden.

Eisigs besaßen auch einen Fußball. Dieses an Körperinhalt so
geringfügige Ding bewirkte, daß für Arnold eine neue Ära und
Leidenschaft anbrach, ein Fußballjahr ... Schon vorher hatte er
das Spiel geliebt, das als »roh und gesundheitsschädlich« von der
Schule aus und gleichfalls von den Eltern verboten war. Man wies
gern auf Unglücksfälle hin, man las den Kindern aus der Zeitung vor,
daß der oder jener hoffnungsvolle junge Mann durch einen unglücklichen
Fall oder gar infolge eines Tritts beim Fußballspiel unheilbaren
Schaden genommen hatte. Indes verklärten solche Nachrichten in den
Augen Arnolds den gefährlichen Sport, munterten ihn nur auf, und
obwohl man ihm strafweise das kleine Taschengeld entzog, wußte er
sich doch immer wieder einen Ball zu verschaffen und eilte dann mit
Gleichgesinnten in den Stadtpark, um sich für zwei, drei Stunden
am »Kicken« und »Rempeln« gütlich zu tun. Im Stadtpark drohte freilich
eine neue Gefahr, denn dort war auf allen Wegen das Fußballspiel
ebenfalls verboten, und wenn die Buben mit glühenden Wangen gerade im
besten Laufen waren, erschien manchmal der Parkwächter mit Tschako
und Säbel, ein alter Mann, ergriff wortlos den rollenden Ball, den
Puls des Spieles, den Ball, den man mit so viel Schwierigkeiten einem
Mäderl abgeschwatzt oder irgendwo gestohlen hatte, und steckte ihn,
den teuren Ball, in die Tasche, worauf er wortlos hinter den Gebüschen
wieder verschwand; denn mit den unverbesserlichen Sportfreunden zu
zanken oder ihnen die Vorschriften einzuschärfen, hatte er längst wegen
Aussichtslosigkeit aufgegeben ... Man wählte daher, um vor seinen
räuberischen Überfällen sicher zu sein, gern die Abendstunden, in denen
er seine Rundgänge nicht mehr so eifrig einhielt und die auch alles
leicht verhüllten hinter Nebeln über den Wiesen und langen Schatten.
Dann tauchte die Gesellschaft vorsichtig auf, ganz nach Art verfolgter
Gottesdienste im Anfang einer Religion wurden abgelegene Plätzchen
ausgesucht, Vorposten ausgestellt, ängstlich wurde das Heiligtum, der
Ball, hervorgeholt, doch erst, wenn alles sicher schien. Dieser Ball
... o mit welchen bejammernswerten Surrogaten mußten sich die
Enthusiasten manchmal begnügen. Einmal war es ein leichter roter
Gasballon, der zu hoch sprang und der die ganze wohlgeübte Fußtechnik
der Mannschaft störte, einmal ein großer, ganz weicher, mit kindischen
Bildern, dann ein kleiner billiger weißer Gummiball, der jeden Moment
ins Buschwerk lief und kaum mehr aufzufinden war, ein anderes Mal hatte
der Ball schon Luft verloren, das heißt er bekam an einer Seite eine
kleine rätselhafte Einsenkung -- und mochte man ihn nun streicheln und
drücken, wie man wollte, mochte man mit aller Vorsicht die Vertiefung
langsam in weicher Hand aufzurunden suchen, immer zeigte sich die
tückische Grube an einer anderen Stelle, immer wieder genau so tief
wie vorher, eher noch tiefer. War einmal ein Ball so weit, so war er
unrettbar verloren. Man erkannte das an seinem hohlen scheppernden Ton
beim Laufen, man konstatierte es mit einem wahren Todesschreck in
den Gliedern. Denn nun war das richtige Vergnügen vorbei. Trotzdem
hörte man natürlich nicht auf zu spielen, wenn auch der Ball nur
schlecht sprang und von der graden Bahn abwich. Einige Künstler
behaupteten sogar ganz stolz, sie spielten nicht ungern mit so einem
zerkickten Balle, denn sie könnten seine »Fälsche« berechnen. Indes
vergrößerte sich unaufhaltsam mit jedem Stoß der Fehler, schließlich
hatte sich die Senkung über die halbe Fläche schlapp ausgebreitet.
Doch nicht einmal das war ein Hindernis. Man schob nun den Ball
zusammen, machte eine hohle Halbkugel aus ihm, einen Klumpen und in
diesen Überrest stieß man eifrig, trug ihn mehr auf der Fußspitze als
man ihn warf, verzichtete auf jede Elastizität, auf den Fernkampf, so
daß das Spiel endlich in Nahkampf d. h. in eine Prügelei
ausartete ... Primitiv wie der Ball war auch das Goal eingerichtet,
zwischen zwei Bäumen, die man durch eine mit dem Stiefelabsatz
gezogene Linie im Sand verband. Fehlten die Bäume, so legte man
Kleider in zwei Bündeln auf die Erde und bestimmte die Linie
zwischen ihnen als Goal, wobei dann allerdings die Streitfrage
entstand, ob es als Goal zu betrachten sei, wenn der Ball über die
Kleiderbündel fliege oder sie streife. Man nannte das »Stange«,
denn die Röcke vertraten ja die Goalstangen, und belästigte nun die
älteren Spieler, sogar die Sportzeitungen mit diesem Problem. Und
nun gar, wenn es immer dunkler wurde, wer konnte noch entscheiden,
ob ein Schuß richtig getroffen hatte oder nicht! Man spielte
einfach in die Nacht hinein, erstickend, keuchend, man bewegte sich,
es galt auszugleichen oder den Sieg zu entscheiden, in höchster
Spannung und Anstrengung -- und dabei mußte man sich zurückhalten,
durfte nicht schrein, nicht anfeuern und jauchzen, alles mußte lautlos
vor sich gehn, sonst hätte man sich dem Wächter verraten. Erst bei
völliger Finsternis hörte man auf. Die Feinde und Freunde hinkten nach
Hause, hungrig, durstig, zerschunden -- das aber fühlten sie nicht
-- nein für Arnold, wie für alle, lag ein süßer Zusammenhang
zwischen ihrer Abgeschlagenheit, dem Schweiß, den Schuhtritten, die
sie an ihren Waden schmerzten, an den Schienbeinen, längs derer
vielleicht ein gegnerischer Schuhabsatz herabgeglitten war oder
sich eingehackt hatte, daß innen die Sehnen brummten, zwischen all
dem und dem süßen Fliederduft des Parkes, dem nächtlichen Blühn
und einem leisen, eben entschlafenden Vogelgezwitscher -- o ein
Zusammenhang, in dem diese Knaben stärker als jemals ihre Jugend
und die heldenmütige Kraft des Blutes und eine sich weitende Freude
spürten bis an das schwarze Himmelsgewölbe hinauf. Sie marschierten in
die Gassen hinein, sie fürchteten sich nicht vor den Eltern, nicht
vor der morgigen Schularbeit, sie summten ein Lied. -- So weit
stand die Sache, als Arnold mit Eisigs näher bekannt wurde. Damit
erhielt er plötzlich, nach all den dilettantischen Versuchen,
Anteil an einem Fußball, an einem wirklichen englischen Fußball,
der seine hohe Verehrungswürdigkeit schon dadurch bekundete, daß er
wie ein belebtes Wesen eine »Seele« besaß. Nun überstieg die
Fußballbegeisterung alle Grenzen. Täglich nach der Schule zogen die
fünf Eisigs mit Arnold auf die Wiesen, drei gegen drei teilten sie sich
dort und los gings. Nicht genug damit, man übte auch in der kurzen Zeit
zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht, und da war der große
Hof im Eisigschen Haus der geeignetste Platz dazu, dieser Hof mit
seinen Kisten, Handkarren, Holzschuppen, alten Bäumen, Kellertüren,
dieser Hof in glühender Mittagssonne. Nichts konnte die Passionierten
abhalten, nicht, daß der Hof gepflastert war und daher jedes Hinstürzen
hart spüren ließ, auch nicht daß der Ball einmal bei einem Hochkick
ein Fenster im ersten Stock zerschmetterte, was zu großen
Mißhelligkeiten zwischen Papa Eisig und seinem Mieter führte. Es
wurde nur einfach ausgemacht, von nun an keine Hochkicks mehr zu
machen. Und unverdrossen kroch man zwischen Fässern durch, wenn der
Ball sich zwischen sie verloren hatte, kletterte ihm nach durch die
Fenster in die versperrten Keller und Schuppen, breitete sich immer
weiter aus, spielte bei Regenwetter im Vorzimmer der Wohnung, zerbrach
Lampen und Spiegel, umging immer wieder die elterlichen Verbote. Ja
man ging zum Angriff auf ihre Herzen über, suchte sie für den
Fußballsport zu gewinnen, indem man sie überredete, Sonntags sich
einmal ein Wettspiel anzuschaun. Unterwegs wurde ihnen alles auf das
Fachlichste erläutert: die Aufstellung, Goal, Hand, Ecke, der
Elfjardstoß, die Rätsel des Offside. Angesichts des Spieles machte
man sie auf hygienische Nützlichkeiten aufmerksam, zog die
Olympischen Spiele der Griechen zum Vergleich heran, deutete auf die
moralischen Werte gerade dieses Sports hin, der es dem einzelnen
verbiete, »egoistisch« zu spielen und das Gesamtinteresse seiner
Partei auch nur einen Moment aus dem Auge zu lassen ... Um diese
Zeit erschien zum erstenmal eine englische Mannschaft in der Stadt.
Es war eine Umwälzung! Man hatte ein ganz neues Zusammenspiel zu
erlernen, das Zuspielen auf der Erde, Kopfstöße. Die sechs Helden
trainierten unverdrossen, jeder mit dem festen Vorsatz, ein Champion zu
werden. Sie kannten alle Wettspielresultate der letzten Jahre, alle
Meisterschaften auswendig, sie umgaben die berühmten Spieler mit
schwärmerischer Verehrung. Sich selbst photographierten sie im Hof,
in verliebten Stellungen, mit dem Ball im Arm, oder in gestellten
Gruppen, wie einer dribbelte und den Gegner dabei »täuschte« oder
wie er im letzten Augenblick »rettete« oder wie er im Goal dem Schuß
entgegensah, die Hände auf den Schenkeln, den Kopf gesenkt mit
spähendem Blick. Sie schafften sich »Treter« an und hatten dabei ein
an Verbrecherlust grenzendes Gefühl von Grausamkeit und Mut. Ihr
Traum war, sich zu einer Mannschaft auszubilden und siegreich den
Kontinent zu bereisen ... Arnold hatte sich unbestritten zum Kapitän
aufgeworfen. Er trug auch immer den Ball zum Spielplatz, was ein
besonderes Ehrenamt war und außerdem dem Träger Gelegenheit gab,
schon unterwegs einige Kicke in den Ball zu tun. Dies jedoch wurde
ihm von den andern stets mit lautem eifersüchtigen Geschrei
untersagt. Es war verpönt. Der Ball sollte getragen, aber nicht
gekickt werden. Auf das Kicken behielten sich alle das gleiche Recht
vor und wachten streng darüber, so überirdisch schien ihnen dieses
Vergnügen, dieser geschickte Anstoß an die stählern klingende Rundung,
diese Kraft und Richtung ... Ging Arnold allein durch die Gassen, so
phantasierte er sich auch stets einen Ball vor die Fußspitzen, den er
kunstvoll lenkte und an den Spaziergängern knapp vorbeitrieb. Das war
seine liebste Unterhaltung. Und abends konnte man ihn wild, die Mütze
in der Hand, durch leere Gassen rennen sehn. Dann war er in seiner
Vorstellung mitten im Wettspiel, draußen auf dem rechten Flügel
Forward -- dies war sein Posten, wenn er mit Eisigs spielte --,
dann überholte er Feinde, die mit ihm zurückliefen, wich den
Mittelstürmern, die ihm entgegenkamen, gewandt aus. Seine ganze
Mannschaft sah er im gleichen Tempo mitrennen, über das grüne Feld
hin wie einen riesigen Fächer, der sich verlängert, sah aller Augen auf
sich gerichtet, denn er hatte den Ball, -- knapp an der weißen
Outline lief er, während das Publikum mit »Hipp, hipp« ihn anspornte
und erregte Köpfe über die Holzstangen ihm sich nachbogen -- sah
sich als Teil eines Ganzen, als Anführer, all dies in wenige Sekunden
zusammengepreßt -- endlich spielt er den Ball in die Mitte, der
Centre hat ihn und läßt ihn mit der Wucht beinah eines senkrechten
Falles durch das feindliche Goal in das heftig aufzitternde Netz
stürzen, ... während der tapfere unegoistische Flügel langsamer
heranläuft, alles überblickend. Und nun wird applaudiert, es rauscht,
es schreit. Sieg! Sieg!

Eine Zeit lang verkehrte Arnold mit niemandem als den Eisigbuben. Bald
aber wuchs sein Bekanntenkreis und wurde schließlich ihm selbst
unübersehbar und unheimlich. Während er in der Schule voran blieb,
öffentlich und im Geheimen, auch in der Kommerskassa zum Obmann
anstieg, die Kneipzeitung nicht nur redigierte, sondern auch auf einem
selbstgekochten und selbst in die Blechpfanne eingegossenen
Hektographen abzog (welche Schmerzen, wenn schließlich mitten in der
immer dünneren und durchscheinenderen Masse der Blechgrund durchsah
oder wenn die Gelatine in kleinen Kandiszuckertröpfchen an die
feuchten Abziehbogen abbröckelte), während er sogar eine kleine
verbotene Lotterie für die Maturakneipe unter den Kameraden und
deren möglichst weit herangegriffenen Angehörigen veranstaltete,
begann er doch auch noch außerdem ein schwungvolles Privatleben zu
führen. Gottfried Eisig, der Schauspieler, brachte ihn in eine
Gesellschaft von Konservatoristen, in dunkle Hofzimmer, wo es von
Violinskalen und Nässe seufzte; bei einem von ihnen, Waldesau, der
durch besondern Ernst ihn ansprach, lernte er mit reißenden
Fortschritten Klavier. Nebstbei trat er in einen Tennisklub ein
und erwählte auch dort, in der vornehmen Welt, seine Freunde. Dies
alles steigerte sich noch, als er nach glücklich mit allgemeiner
Auszeichnung abgelegten Prüfungen die Hochschule bezog. Eigentlich
sollte er in das Geschäft seines Vaters eintreten, doch zog er dies
durch unschlüssiges Studium und Berufsprobieren noch einige Jahre
hinaus. Er inskribierte dort und da, klaubte aus allen Gegenständen
die üppigen Mandeln heraus, ließ sich von Gefährten zur rechten und
zur linken Seite bald in die »gerichtliche Medizin«, bald zu
»Experimentalphysik« oder »Sanskrit« oder den »Versmaßen des Horaz«
ziehn. Er gewann zu ganz intimen Brüdern: Löb, den sachlich
strebenden Bakteriologen, der zunächst im Schul-Mikroskopieren, bald
auch mit eigenen Ideen Geschicktes leistete -- ferner den ruhigen
kleinen Krause, der mit Jusstudium eine gründliche Erforschung des
jüdischen Wesens und zionistische Propaganda verband. Arnold selbst
trat einem deutschen Studentenverein bei und war dort eine Zeit lang
der Vertraute des in politischen Dingen jugendlich-energischen und
wohlvertrauten Technikers Grünbaum. Grünbaum nahm Malstunden,
natürlich teilte sie Arnold mit ihm ... Das Seltsame nun bei diesen
nach allen Seiten umsichgreifenden Beziehungen war, daß Arnold mit
Sicherheit für jeden seiner Freunde den richtigen Ton traf, daß er
niemals dem Waldesau, sondern immer nur dem eleganten Preisruderer
Bobenheim unanständige Witze erzählte, daß er mit Grünbaum ebenso
schwärmerisch von Rodin, wie mit Löb von »Ehrlich 606« sprach, und
wieder daß ihm Professor Ehrlich für Löb den großen Arzt und für
Krause den großen Juden bedeutete ... Natürlich war er längst klug
geworden und hatte die schwadronierende Art seiner Gymnasiasten-Reden
längst aufgegeben; aber die prächtige und beflügelte Sprechweise, der
strömende Schwall von Ideen, der auch den Hörer in einen Zustand
angenehmer Leichtigkeit versetzte, war geblieben. Hierzu gab nun
sein wirklich übermenschlicher Eifer in allen Bestrebungen, der
Mut, mit dem er immer seine ganze Person, seinen edelfunkelnden Geist
einsetzte, mit dem er immer furchtlos sofort das Herz der Probleme
attackierte, all diese Zauberei einer schnellen Auffassung und eines
unverwüstlichen Gedächtnisses -- gab Untergrund und Quadersteine für
blendende Bauwerke ... Kein Wunder, daß ihn alle Freunde für ein
vielseitiges Genie hielten. Als bedeutender oder, wie man unter ältern
Leuten sagt, als »gescheiter« Mensch war er allgemein bekannt. Er war
jetzt von ziemlich großer Statur, seine Augen lagen unter hohen Knollen
der trotzdem freundlichen Stirne, in tiefen bläulichen Höhlungen also,
aus denen sie wie schattige Gebirgsseen, klar und doch von
unergründlicher Färbung, hervorsahn. Diese großen verfinsterten Flächen
teilten zugleich mit dem Nasenschatten, der über der glattrasierten
Oberlippe spielte, mit den weißen ebenmäßigen Wangen sein Gesicht
überblickbar ein, machten es leicht einprägsam. Dazu der flache
breitgerandete Strohhut, der niedrige Umlegkragen, dem der Hals frei
und künstlerhaft entstieg, der weite gutgeschnittene Überzieher -- und
die markante Persönlichkeit, der angesehene Mitbürger war beinahe
fertig ... Auf solche Äußerlichkeit, die sich ja mit der Zeit von
selbst einstellte, gab jedoch Arnold wenig; sein Flammenstreben
richtete sich vielmehr nur darauf, mit jedem einzelnen der Freunde zu
wetteifern und alle zu überflügeln. Er stieg einfach in alles hinein,
ohne Berechnung, aus purer Lust. Wenn Löb zu wissenschaftlichen
Lektürzwecken Englisch und Französisch erlernte, so begann er
gleich noch Italienisch dazu. Las Krause die Bibel im hebräischen
Urtext, so verschaffte sich Arnold schon Auszüge aus dem Talmud.

Dies jedoch hätte die Verehrung, die ihm diese so verschiedenartigen
jungen Leute zollten, noch nicht erklärt. Es muß noch gesagt
werden, daß er alle nicht nur begleitete, sondern auch stieß und
antrieb und tröstete. Tröstete, indem er sie stieß -- nirgends
Schwierigkeiten sehend und mit der ihm angeborenen nebelhaften Energie
gleich nach Erfüllung aller Wünsche langend. Es war eben seine
eigentümlichste Eigenschaft, daß er, in Gesellschaft mit einem
Freunde, ganz und freudig erfüllt von dessen Liebhaberei, unter
allen Umständen weiterdrängte und in hellstem Optimismus sich und den
andern für fähig zu allem hielt. War etwas in den Lehrbüchern
beiden unverständlich, so war es falsch, eventuell ein Druckfehler.
Stimmte eine Theorie nicht zu eigenen Beobachtungen, so verwarf er
jedesmal ohne Gewissensbisse die Theorie, niemals die noch so
flüchtige Beobachtung ... So kam es, daß er überall nichts als
Reformbedürftigkeit sah. Die Philosophie sollte von Grund aus
umgeformt werden, die Physik war lächerlich, die Welt des öffentlichen
Lebens beruhte ebenso auf falschen Prinzipien wie das Rudertraining.
Wieviel gab es da zu arbeiten, wie zum Verzweifeln wenig war eigentlich
fertig! Und wie schön war diese Verzweiflung!... Arnold hielt sich nie
mit Details auf, nur die großen Grundideen warf er über den Haufen und
schrie: »Das ist überwunden. Da müßte so und so weitergebaut werden!«
Mit erhobener Hand stand er über den Freunden, die in ihrem mühsamen
ehrlichen Kleingewerbe befangen den großen Zug verlernt hatten und gern
den frischen Hauch so freimütiger Weltgedanken hörten, wenn sie auf dem
ersten Schritt zu diesem Luftzug hin über irgend ein ernsthaftes
Kramzeug stolperten. Hatten sie aber auch nur einen kleinen
vorsichtigen Schritt nach vorn getan, gleich war Arnold da und lobte,
nannte das eine »tüchtige Leistung« und ließ das Kommende hochleben.
Er verstand sich besonders darauf, gut und einschmeichelnd zuzuhören;
und dies wieder, weil er das Zuhören nicht affektierte, sondern weil er
ernstlich glaubte, von seinen in die Spezialstudien detachierten
Freunden die reinste Essenz der Wissenschaft einziehn zu können, die
fertigen Resultate, zu deren Erarbeitung er selbst keine Zeit hatte.
So saß er andächtig, behielt immer die Einteilung ihrer ganzen Arbeit
sicher im Kopf, wußte, wie weit man neulich gekommen war, konnte durch
Ausbessern kleiner Flüchtigkeitsfehler oder Dispositionsabweichungen
seine Aufmerksamkeit wohltuend dem andern beweisen ... Natürlich war er
nicht so unliebenswürdig, mit der Türe ins Haus zu fallen, sondern nahm
auch an den Familienverhältnissen der Freunde einen Anteil, an ihren
Liebschaften und Verdrießlichkeiten. Immer aber wußte er, ihre
fortschreitenden Fachkenntnisse und die besondere Richtung ihres
Denkens als das Wichtigste an ihnen und an ihrem Verkehr mit ihm zu
behandeln, wie es ja seiner Überzeugung entsprach, auf diese Facharbeit
kam er nach jeder Einleitung zu sprechen, und da die Freunde bald
merkten, daß aus ihrer Umgebung nur er stets und wirklich aus dem
Herzen auf dem bestand, was sie selbst als das Edelste an sich, wenn
auch manchmal als etwas Unbequemes, ansehn mußten, zogen sie ihn bald
allen übrigen Kameraden vor. Zumindest hatte er eine Sonderstellung.
Man plauschte mit ihm, aber es war kein leerer Zeitvertreib, es war
eine Anspannung, seinem impulsiven Andrücken immer genügen zu können,
man mußte sein Bestes geben. Abschweifungen in andere Gebiete lehnte
er ab, indem er sich plötzlich (und ebenso ehrlich wie vorher
interessiert) uninteressiert verhielt. Solche Laienhaftigkeit schien er
nur sich selbst vorbehalten zu haben ... Doch arbeitete er auch selbst,
vertiefte sich manche Tage lang in irgend eine Frage, die ihm im
Gespräch mit einem Freunde gekommen war, schrieb er ein paar
Klavierstücke, einen »Abriß einer neuen Werttheorie«, einen »Entwurf
zur Kritik Spinozas vom Standpunkte der Rasse aus« -- lauter kleine
Heftchen, vollgeschmiert mit flüchtigen, oft klecksartigen
Schriftzeichen, Abkürzungen, Symbolen -- und mit großem Vergnügen las
er dann die noch unfertigen Darlegungen dem betreffenden Freunde vor,
für den er eigentlich die Arbeit unternommen hatte. Das Vorlesen war
nämlich das Ziel der ganzen Arbeit; Arnold arbeitete mit Unlust und
Ungeduld, unter tausend Ablenkungen, und was ihn während dieser Mühsale
emporhielt, war nichts anderes als der Gedanke an die herannahende
geisterfüllte Vorlesestunde. Und war sie da, dann erschütterte die
Leidenschaft sein blasses Gesicht, seine zuckenden Hände mit
aufschießenden Blutwellen, dann erst begann seine eigene Arbeit ihm
sich zu färben und zu beleben, dann schrie er in melodischen
Akzenten, hielt nur still, um neue Ausblicke einzufügen,
entschuldigte sich, daß dies ja noch nicht die endgiltige Fassung sei,
man möge mehr auf die Absicht sehn als auf das, was wirklich
dastehe, schloß dann mit leuchtenden Augen in einer ausführlichen
Skizze, was und wie es nun weiter zu machen sei: »also, lieber
Krause, das überlasse ich jetzt dir. Da leg dich hinein und schau,
daß was draus wird. Es ist ja so einfach ...« -- Wie er aber selbst
gern vorlas, so verlangte er auch von den Freunden rückhaltlos die
Produkte ihrer Tätigkeit, selbst wenn diese mutlos und schamhaft
lieber ihre halbausgereiften Pläne verborgen hätten. Er brach in ihre
Schreibtische ein, er zwang sie durch flehentliches Bitten, ihm
doch etwas, was sie gerade im Kopf wälzten, zu erzählen. Daß sie in der
letzten Zeit nicht gearbeitet hätten, ließ er einfach nicht gelten.
Ausreden wie: Zweifel an ihrer eignen Tüchtigkeit, Unwohlsein,
Müdigkeit -- schob er mit burschikosen Flüchen weg. Schließlich
schämte man sich, mit leeren Händen vor ihm zu erscheinen. Arnold
verlangte einfach, daß rings um ihn geleistet wurde; als hätte er
selbst das dunkle Gefühl, daß er für seine Person mit seiner
Zersplitterung nichts Nennenswertes hinterlassen würde, suchte er seine
Spannkraft wenigstens durch das Medium anderer Gehirne hindurch
wirken zu lassen. Der starke Wille, der in ihm lebte, in ihm
selbst unfruchtbar, wurde auch tatsächlich die Stütze und der
Sauerteig vieler Arbeiten seiner Freunde. Der verwickelte Ausbau
seiner vielfachen Bedürfnisse und natürlichen Triebkräfte stand wie
ein Turm da, an den sie sich lehnten ... Waldesau zum Beispiel, der
Musiker, der in einem beständigen Ekel vor sich selbst lebte,
gestand oft, daß er keine Note schreiben würde, wenn ihm Arnold
nicht immer wieder mit kollegialen Schimpfreden den Teufel aus dem
Leib triebe. So aber lieferte er Kompositionen, Lieder und Sonaten, die
zwar er selbst erbärmlich, verbrecherisch fand, die aber das
enthusiastische Lob nicht nur Arnolds, auch älterer Musikkenner
hervorriefen.

Arnold ging weiter. Er liebte es -- all dies instinktiv, nicht aus
Überlegung -- seine Freunde, die einander noch nicht kannten, mit
einander zusammenzubringen, falls er sich davon gegenseitige
Anregung und Förderung ihrer Arbeiten versprach. Er hatte seine
Freude an den neuen Konstellationen, er verfolgte mit einer Art von
Zärtlichkeit die weitere innige Verflechtung der Fäden, die er selbst
neben einander gelegt hatte und die jetzt ohne ihn lustig und oft
mit einer in seinem Anstoß gar nicht zu ahnenden Bedeutsamkeit sich
fortspannen. Zu vielen tiefgreifenden Beziehungen legte er so den
Grund, nur selten tat er einen Mißgriff. Kein Wunder, daß ihn Liebe und
Begeisterung der ganzen Gruppe, die er so hübsch organisiert
hatte, umgab. Selbst der spitzige vielüberlegende Grünbaum, der jede
körperliche Berührung mit Menschen scheute, drückte ihm wärmer die
Hand. Alle fühlten, wenn auch undeutlich, daß die zartgebauten
Wurzeln ihres Daseins aus den strömenden übervollen Bächen dieses
Verschwenders immer neue Bewässerung zogen und daß dabei gar kein
Schwindel oder eine Willkürlichkeit Arnolds mitspielte; daß vielmehr
dies alles nach Naturgesetzen so geschehn mußte -- und gerade
dieses Unbedingte, Automatische, Gesetzmäßige war die Ursache, aus der
man ihm vertraute, ihm doppelt verpflichtet war ... An seinem
Geburtstage empfing er nun auch glühende Briefe sonst ruhiger
Genossen, Danksagungen in klugen, nicht alltäglichen Worten, selbst
Geschenke, und wiewohl er selbst sich der Repräsentation so
außergewöhnlicher Beliebtheit nicht ohne Würde und Rührung
unterzog, sagte er sich doch auch manchmal, daß es eigentlich
komisch sei, wie selbstverständlich er diese Opfergaben, den Tribut
gleichsam, einkassierte. Er selbst schenkte keinem seiner Freunde
etwas zum Geburtstage; das fiel ihm auf, die andern schienen es
selbstverständlich zu finden. Es beunruhigte ihn ... Überhaupt
wurde ihm, wenn er einmal allein mit sich zu Rate ging, nicht wohl
nach all dem metallischen Getöse rings um ihn. Kam er zur Ruhe, so
fand er, daß er eigentlich nichts zu Ende führte und nichts ganz von
vorne begann. Eine beklemmende Traurigkeit legte sich auf seine
Lunge. Was interessierte ihn eigentlich? Was wollte er auf der Welt?
Was hatte er geleistet? Daß er der Gschaftlhuber nicht war, als den
ihn Mißgünstige gern ausgeschrieen hätten, fühlte er sehr wohl. Seiner
Redlichkeit und einer gewissen Tüchtigkeit im Kern blieb er sich ja
stets bewußt. Aber mindestens ebensoweit wie vom Gschaftlhuber war der
Abstand zu der »modernen Goethenatur«, für die ihn manche Anhänger aus
ehrlicher Überzeugung hielten. War er allein, so fühlte er sehr
wohl, daß er nicht Goethe war, nicht die in sich ruhende und daher so
wirksame Vollkommenheit. Was war er also eigentlich?... Nun, eben
der Arnold Beer, ein einmaliges Individuum, so und so eingerichtet,
mit den und den Fehlern und Vorzügen, die man noch näher studieren,
entwickeln mußte. Also mit Vorzügen auch -- heraus damit!... Er
dachte nach ... Ihm fiel nichts ein ... Mit warmem Kopf rutschte
er vom Diwan zum Schreibtischsessel, vom Schreibtischsessel zum
Diwan, und vergebens suchte er, während sein Blick über die Dächer
hin in den fernen Himmel, in die rotglänzenden Wolkenkelche
einschlüpfte, beim Anblick dieser leuchtenden Gebilde auch nur einen
jener befeuernden und frischen Einfälle selbst zu empfinden, wie er
sie am Nachmittag seinen Freunden zu Tausenden um die Köpfe
geschlagen hatte ... Ja, wenn er neben ihnen ging, neben Löb zum
Beispiel ins Kolleg, oder neben Eisig in der Weinstube saß, dann
konnte er sich die Wonnen der gedankenreichen Einsamkeit wohl
vorstellen. Einsamkeit -- wie eine Fata Morgana schwebte sie vor ihm,
eine Stadt mit flachen quadratischen Dächern, alle menschenleer, doch
alle wohnlich eingerichtet mit kleinen rauschenden Springbrunnen,
seidenen grünen Kissen am Geländer, süßen Speisen und Limonaden in
elfenbeinernen Kästchen. Und Arnold stieg von Dach zu Dach, auf kleinen
Leitern, ruhte hier und dort aus, sah über die Treppen hinunter in
Wohnungen, in denen Stimmen klangen, freute sich -- o Einsamkeit -- über
die Straßen und Bazare unten, lebendiges Wimmeln, die große Aussicht in
den Abendhimmel ... So vertieft war er in dieses Bild, daß er die Reden
des Gefährten nicht mehr hörte, und verriet sich eine von ihnen durch
die erhobene Stimme als Frage, so mußte er geschwind die letzten Worte,
die der andere gesprochen hatte, aus seinem unbewußten Gedächtnis, in
dem sie eben beinahe verschwanden, zurückholen, um irgend etwas Kleines
erwidern zu können. O wie wünschte er da den Störer seiner Einsamkeit
hinweg, wie hätten, ohne den, diese Bäume oder dieser Wohlgeschmack
eines französischen Weins zu seinem treuen, auf sich allein
gefüllten Herzen gesprochen! War er aber wirklich einsam, so wurde
ihm sofort bang und verlassen zu Mute. Die Gestalten dieser fühllosen
unüberwindlichen Natur, die Blumen und Gräser, erschreckten ihn durch
ihre rohe Gesundheit, die er nicht trösten und nicht anfeuern konnte,
in der es keine Bravourstückchen gab; einsames Trinken gar erschien
ihm langweilig und tierisch ... Also lief er schnell wieder unter
die Menschen, mit denen man reden konnte, begann dies und jenes in
seiner intensiven, aber kurzatmigen Art und brachte sich auch
wirklich, wenn er die Zahl der von ihm bepflügten Gebiete überblickte,
seine Jugend, seine Pläne, nach allen Richtungen ausstrahlend,
seine halbausgeführten Werke, seine Talente, seine Hoffnungen und
die Hoffnungen, die seine Freunde auf ihn setzten, in einen
schönen Rausch von Selbstzufriedenheit. -- Klagte er einmal, in einer
kleinen Erinnerung an seine einsamen Prüfungsstunden, den Freunden,
daß seine Seele so zerrissen sei, so lachte man ihn immer aber mit der
allergrößten Entschiedenheit aus: »Du unglücklich? Und was soll ich
dann sagen? Du machst das und das. Und ganz vergißt Du an das und das.
Solche Erfolge! So eine Arbeitskraft, das ist ja etwas ganz
Abnormales! Und du wirst dich noch beklagen! Das wäre aber eine
Frechheit ...« Man ahmte die Art seiner gutgemeinten Scheltreden
nach. Er aber wandte sich, mit einer kleinen Träne im Auge, ab: »Ich
könnte ja etwas leisten, wenn ich nur Zeit hätte.«

Daß er keine Zeit hatte, war eigentlich für Fernerstehende das
hervorstechendste Merkmal seines Lebens. Und meist befand ja auch er
selbst sich, dank seiner fortreißenden Strudeleien, in der Lage dieser
Fernerstehenden. Dann fiel ihm auf, daß er sich zu viel aufgebürdet
hatte; an einem Tage ein Rudermatch, vier Vorlesungsstunden, Besuch
bei zwei Freunden, bei einer Familie Tee, Klavierüben, und dazu die
vielen angefangenen Bücher mit winkenden Lesezeichen auf dem
Schreibtischregale, das ging entschieden über Menschenkraft. Und da
ja die meisten dieser Verpflichtungen in langvergangene Zeit
zurückreichten, zu denen er sprunghaft immer wieder zurückkehrte,
ohne sie je durch Beendigung loszuwerden, wurde er sich immer nur
bewußt, daß er Verpflichtungen zurückwies, nur selten neue aufnahm.
Also erschien er sich als armer Verfolgter, Begehrter, Bedrängter,
vergaß bald den eigenen Leichtsinn, mit dem er sich nach einander
auf so verschiedene Dinge gestürzt hatte, und begann einen geheimen
Groll gegen seine Freunde insgesamt zu nähren, die ihn in Anspruch
nahmen und ausnützten, ja ausnützten und zu keiner eigenen Arbeit
kommen ließen. Was half es, daß er stets einen Zettel bei sich
trug, mit den wichtigsten Pflichten für die nächsten Tage, daß er ein
Tagebuch begann, in das er die Dinge schrieb, um sie keinem Freund
erzählen zu müssen und um also auf diesem Wege einen Verkehr mit sich
selbst anzubahnen, was halfen alle Anstrengungen, Ordnung in sein so
hinausgestreutes Leben zu bringen ... Und grimmig ging er die Schwächen
seiner Freunde durch, die sie an ihn fesselten, die Blutarmut Waldesaus,
die diesen melancholisch machte und auf lindernden Zuspruch angewiesen,
die Armut Krauses, die ihm den Verkehr mit Arnold als mit dem
gesellschaftlich Höheren unentbehrlich erscheinen ließ, die Dummheit
Bobenheims, der, durch den intelligenten Umgang geschmeichelt, zu
einiger Selbstachtung gekommen war, während er sich vordem nur als einen
»trostlosen Wüstling« gekannt hatte. Und er verfluchte sein gutes Herz,
das ihn aus Mitleid an diese fehlerhaften Menschen klemmte. Zugleich war
er erbost über seine grübelnde Scharfsichtigkeit, seine Lieblosigkeit
gegen so gut verhüllte Schwächen der Freunde. In einem allgemeinen
Katzenjammer fand er dieses Leben erbärmlich, nicht länger zu ertragen.
War dies gemeines Menschenlos, oder nur vielleicht typisches Schicksal
eines jungen Juden? So weit hatten ihn Krauses Ideen schon beeinflußt,
daß er dies in Erwägung zog. Schließlich aber blieb er, ohne
Zusammenhang mit Gott, oder mit irgend einem Volk, in der
zusammenschlagenden Dunkelheit allein, von allen Teilnehmenden
verlassen, verzweifelnd und unsympathisch ... Da traf er den nächsten
auf der Gasse. Sofort heiterte sich sein Antlitz auf, sein Herz
zugleich, er fand schnell wieder die freundlichen Worte, die Fragen
voll Interesse und Ermunterung, und dabei war dies durchaus keine
Heuchelei, sondern die bloße Gegenwart des Freundes eben bewirkte in
ihm jene schnellere Zirkulation von Ideen, die ihn sprudelnd auf
Flammenpfeilen in die Höhe schoß und ihm den Zusammenhang mit einer
glücklichen Menschheit und ihrem wohlwollenden Wirken zurückgab ... Am
wärmsten aber wurde es ihm, wenn er mit Lambert und Genossen (dies war
wieder eine andere Partei besonders eleganter internationaler
Nichtstuer, die aus unbekannten Mitteln glänzend in den Tag lebten) auf
dem Corso erscheinen konnte, auf dem Bummel, den diese Herren nie
versäumten, mit ihren siegesgewissen Mienen, ihrem arroganten
Hütelüpfen. Auch bei ihnen war Arnold beliebt, durch seine schussige
Munterkeit und Originalität, und obwohl er weder der fescheste
noch der witzigste unter ihnen war, räumte man ihm gern eine
beherrschende Stellung ein. Wenn es nur anging, machte er sich
täglich eine Abendstunde dafür frei, und dies nannte er seine
Erholung, mitten in einer dunklen Schar befreundeter Köpfe sich
geschützt und gemütlich zu fühlen, wie in einer Herde auf- und
abzurollen die Gasse entlang, gestoßen werden, stehen bleiben und
ungerührt in die Vorbeigehenden starren wie in die beleuchteten
Auslagen, durch lustiges Flüstern und Blicken fest mit der
Genossenschaft verbunden, beinahe bewußtlos. --

Und gar wenn er sich niedersetzte und Briefe an seine Freunde aller
Heerlager schrieb, in die Ferien hinaus zu Dutzenden! Denn das liebte
er, diese Bulletins waren wieder eine Sache, in der er sein ganzes
Orkantemperament austoben lassen konnte. So wie es Leute gibt,
denen alle Sorgen einfallen, wenn sie einen Brief schreiben und deren
Briefe daher ein wesentlich zu trauriges Abbild ihrer Situation
geben: so wurde im Gegenteil vor Arnolds Blick, wenn er ihn auf das
weiße geradebegrenzte Papier richtete, alles rosig und in gute
Linien geklärt. Ihm war Briefeschreiben eine gesteigerte Form
menschlicher Unterhaltung und alle seine Vorzüge flossen ihm willig
in die Feder, ein Goldglanz ohne irdische Schwere, wenn er seine
strammen, beinahe militärischen Loblieder auf das, was ihn gerade
erregte, losließ. Gern beschrieb er Kunstgenüsse oder gefiel sich
in rückhaltslosen Offenheiten oder schwelgte in gigantischen
Vorsätzen, zu deren Ausführung es Jahre ernsthafter Arbeit bedurft
hätte, in seinem feurigsten Stil, tat sie damit gleichsam für sich
ab, obwohl er sich während des Schreibens gar nicht bewußt war, daß er
sie nie werde in Taten verwandeln können, daß gerade dieser Brief
als Energieableiter zwischen Plan und Ausführung trat. Nein, die
Wahrheit selbst, hinreißende Tatkraft und ansteckend gute Laune
sprachen aus solchen Episteln, die unmittelbar, ohne zu überlegen,
mit allen Quersprüngen und den schlechtesten Witzen, die ihm gerade
einfielen, hingerissen waren; und so verfehlten sie natürlich nicht,
seine Freunde zu rühren und zu neuem Schaffen anzustacheln, während
Arnold mit ausgeschöpftem trockenem Herzen zurückblieb. Überdies
schwankten diese Ergüsse in ihrer Länge von der dreißigseitigen
Dissertation, deren Erscheinen schon im Kuvert beim Adressaten
Erstaunen und ehrfürchtige Schauer hervorrief, bis zum kurzen Zettel
voll mit Gedankenstrichen, Rufzeichen, humoristischen Symbolen,
verschiedenen Buchstabengrößen und Schriftarten, kurz allen Mitteln
einer aufs Höchste gesteigerten Anschaulichkeit, wie sie aus seinem
Hitzkopf explodierte. Die Schrift hatte pomphafte Schnörkel, große
Bäuche, starke Schatten und weit auseinandergezogene Haarstriche, so
daß manchmal ein etwas längeres Wort eine ganze Zeile einnahm. -- Hier
eine der unbedeutenderen Noten an Waldesau:

»Lieber Kerl,

Ich bin durch ununterbrochenes =BACH=-Spielen in den letzten Wochen
endlich dahintergekommen, daß ich -- ein Schöps bin, wenn ich nicht
-- endlich einmal -- und zwar soforrrrrrt -- die _ganze_ Musiktheorie
gründlich durchnehme!! Mein Buchhändler bietet mir ein großes Werk
zum Selbstunterricht, solche Hefte, weißt Du -- mit hübschen Fragen
und Antworten -- Ermahnungen an den faulen Schüler u. s. f. -- bißl
kindisch, aber es gefällt mir vor-Leipzig -- 60 Hefte, 50 Mark
(!!!!) -- Soll ich es kaufen. Bitte, schreibe soforrrrrt, genau und
viel, empfiehl anderes! Ich muß =ALLES= haben, das ganze Gebiet --
also Elementarlehre, Generalbaß, Formen -- Du weißt ja -- ich hab
es satt, so ungebildet weiterzutrotteln -- Also, auf, sattle den
Hippogryphen, schicke mir Pläne -- auch Instrumentation natürlich --
Wenn schon, denn schon -- Ich habe jetzt riesige Lust. Also schreib
nur schnell, damit das Feuer net auskühlt, Du kennst doch -- Deinen
Dichliebenden u. s. f. -- Momentan fühle ich mich so stark, daß ich
Berge bewegen könnte. Und Du auf Deinem Jeschkenberg? (Ein gebirgiger
Brief!) -- Ich arbeite täglich 9 Stunden, kann Abends nie einschlafen
vor _Ideen_. Habe etwas merkwürdiges angefangen, eine neue Art von
Kontrapunkt. =Sei neugierig!= Es steht dafür -- Schrecklich glücklich
bin ich dabei. Und Du? Und Du? Und Du? -- Wieder mal die Flinte ins
Korn geworfen? =Porco maledetto!= Wenn jetzt nicht bald mal eine
fette =Notensendung= (Manuskript!!) von Dir kommt, so treffe ich Dich
wie der Blitz -- der immer die Nabelbeschauer trifft -- wo? Im Popo
-- weil sie so gebückt sitzen. Aber Spaß bei Seite: Was treibst Du --
Ich bin sehr besorgt. -- Servus!«

Ein Bildchen, die rauchende Jagdflinte, vervollständigte diesen
auf einer halbzerrissenen Kuvert-Innenseite in schrägen Zeilen
hingedonnerten Aufruf. Darunter eine Wolke, aus der zwei zackige
Blitze schlagen; alles mit der Feder gekritzelt, beim Abtrocknen
etwas verwischt ...

Gottfried Eisig, der inzwischen (man mußte doch etwas machen) in die
Redaktion eines heimatlichen Blattes eingetreten war, munterte nach
solch einem Brief Arnold auf, doch einmal etwas »Selbstständiges« zu
schreiben. Arnold brachte ein paar »Reisebriefe.« Sie wurden gedruckt,
ohne aber besonderes Aufsehn zu erregen, außer in Arnolds nächster
Umgebung; übrigens waren sie auch, da ihnen der persönliche Anlaß
fehlte, ziemlich matt, ja schablonenhaft ausgefallen.




II.


Eines Tages erklärte der Vater, das Söhnchen habe nun genug gebummelt
-- und am nächsten Morgen schon ging Arnold in dem großen Geschäft auf
und ab, die Schachteln an den Wänden mit neugierigen Blicken musternd.

Der Abschied von der Universität wurde ihm nicht schwer. Daß aus
den allenthalben verzettelten Kollegien nichts Gescheites werden
könne, war ihm längst klar geworden. Nun hoffte er, durch eine
vollständige Umwandlung seines Lebens, wie sie der Eintritt ins
Geschäft bedeutete, sich zu konzentrieren; Dinge, die er nur aus Treue
gegen das einmal Begonnene mit Unlust weiterbetrieb, abzuschütteln;
ein Mann zu werden. Vielleicht im Geschäft. Doch täuschte er sich
da nicht in der Voraussicht, daß der Vater in seinem pedantischen
Geschäftseifer keinen wichtigen Teil des Betriebs selbst aus der Hand
lassen würde. Zunächst versuchte Arnold allerdings Einfluß zu
gewinnen, das Geschäft umzudrehn, da er natürlich sofort, noch ehe
er den naturgemäßen Lauf der Sache kannte, schon Umwälzungsideen im
Kopf hatte. Aber da war er an den Unrechten gekommen; mit nicht
mißzuverstehender Verwunderung wehrte der Alte ab. Und so gewöhnte
sich Arnold bald daran, Vormittags im Kontor Bücher seines Geschmacks
zu lesen und an Nachmittagen sich überhaupt nicht mehr im Geschäft
blicken zu lassen. Auf dem einförmigen Boden des Geschäfts- und
Familienlebens wucherten seine Launen nun noch üppiger und bunter als
vordem.

Doch stand er bei seinen Eltern nicht minder hoch als bei seinen
Freunden im Wert. Schon seit seiner Jugend, da er als »Wunderkind«
frühzeitig aufsagen, lesen und schreiben gelernt, hatte sich ein
großer Stolz auf ihn in ihren Herzen eingebürgert. Dann war er der
Einzige geblieben, und immer lebhaft, bei den Mahlzeiten gesprächig,
heiter und ausgelassen, was den Eltern Freude machen mußte. Auch
zärtlich wurde er zu angemessenen Zeiten. Sie lobten ihn überall
deshalb, in den nahen Familien wurde sein Beispiel als eines
hochbegabten Musterknaben im Munde geführt. Einen Zirkel älterer Damen,
der sich an regelmäßigen Nachmittagen bei Frau Beer einfand,
entzückte er durch sein Klavierspiel. Die Freunde seines Vaters
unterhielt er, bei ihren Kartenabenden manchmal, mit den letzten
Kuplets, die in seinem Jugendkreise eben aufkamen. Er war der Liebling,
die Hoffnung aller. Und Arnold fragte sich vergebens, wodurch er so
viel Enthusiasmus erregt haben konnte. Ja es nützte auch gar
nichts, wenn er einmal sich vornahm unliebenswürdig zu sein. Ein Besuch
kam aus Berlin, eine Geheimratswitwe, schwarzgekleidet, überlaut und
temperamentvoll, vor der er in einem fort seine Arme, Beine und
Wangen in Sicherheit bringen mußte. Zur Strafe sprach er kein Wort
mit ihr, erwiderte ihre mütterlich-verliebten Blicke mit möglichst
gleichgiltigen. Es half nichts, einige Tage nachher schickte sie ihm, in
einem Brief an Frau Beer, spezielle Grüße, zerschmelzende: »Dem lieben
lieben liebenswürdigen Sohn, den ich so schnell liebgewonnen habe.«
»Aber warum denn? -- Ich hab sie gar nicht liebgewonnen. Ich war doch
auch gar nicht lieb zu ihr« fragte er die Mama. »Du hast sie an ihren
Sohn erinnert« war die Antwort. Er seufzte, sein guter Ruf war stärker
als er ... Nur einmal, erinnerte er sich, in frühester Jugend war diese
Weihrauchwolke um ihn zerrissen worden -- durch die Großmutter, die
sonst in Wintertal lebte und nach einer von Spektakeln erfüllten kurzen
Besuchszeit dahin wieder abreisen mußte. Sie hatte an allem etwas
auszusetzen gefunden, auch ihm einmal einen Stoß vor die Brust gegeben,
weil er ihr nicht schnell genug auswich, das wußte er noch genau ...
Doch da sie als unverträglich bekannt war, man sprach von ihr als von
einer »Furie«, dem »bösen Geist der Familie«, tröstete er sich schnell
über diesen Mißerfolg und die alte Glorie war bald wieder hergestellt.
-- Besondere Triumphe feierte er im Musikzimmer der Kurorte. Oder beim
Kurkonzert, wo er in Potpourris die neuen, aber auch die altmodischen
Opern wie »Zampa«, »Wasserträger« vom weiten erkannte, zum allgemeinen
bewundernden Erstaunen, das ihn dann immer mit Abscheu erfüllte. Von
solchen Philistern gelobt werden, pfui! Beschämt gestand er sich selbst,
daß das nur daher komme, weil er seinen Mund nicht halten könne, immer
gleich sagte, was er wußte. Er überlegte eben nicht, vor wem er sprach;
jedes Publikum war ihm recht. Dann fiel ihm ein, daß ja wiederum solche
Leute in keine andere als eine höchst bewundernde Stellung ihm gegenüber
gehörten. Wenngleich er selbst sich für nichts Besonderes halte, diese
dürften schon von ihrem Standpunkt aus ruhig es tun, ja sie müßten es,
und kniefällig dazu. So mischte sich bei ihm Stolz und Ekelgefühl,
Schmeichelei und Überdruß, und diese Mischung beschwingte ihn zwar
nicht, doch drückte sie ihn auch nicht nieder, sie wurde seine
gewöhnliche Atmosphäre ... Von allen Anfechtungen unbesiegt blieb er
der charmante junge Mann, der gute Gesellschafter, die Seele des Heims,
und selbst der Bruder der Mama, Poldi Goldberg, der als armer
Verwandter mit der ganzen Familie zerfallen war, machte ihm gegenüber
eine Ausnahme, dankte ihm freundlich auf seinen Gruß ... So hätte nicht
viel gefehlt, daß er ganz in der Sphäre häuslichen Wohlgefallens
eingeschlossen geblieben wäre, in der er so viel Beifall erntete; aber
seine Eltern waren zu schwach, um ihn andauernd zu fesseln. Die Mutter
eine sanfte Hausfrau, die alles in peinlichster Ordnung hielt, ohne daß
man je ein lautes Wort aus ihrem Munde gehört hätte; der Vater mit
all seiner nicht unbeträchtlichen Energie im Geschäft, sein
einziges Glück »sich zu vergrößern«, daß heißt: den Laden jedes Jahr
umzubauen, Wände durchzubrechen, Keller des Nachbarhauses mit
seinem Hof zu verbinden oder wegen der Portale mit der Stadt zu
prozessieren. Beide waren ordentliche gute gewissenhafte Leute,
aber ohne jede Spur von Romantik, beide alt; und so wurde eben Arnold
zunächst ins Eisigsche Haus, dann in die Kolonnen seiner Freunde
getrieben, wo es so viel Resonanz für sein lautes Geschrei gab.

Sein Kreis hatte sich indessen in den wenigen Jahren nach dem Austritt
aus der Hochschule einigermaßen geändert; Arnold wußte selbst nicht
recht, wie es gekommen war. Da er nicht mehr in die Vorlesungen
ging, hatte er die regelmäßigen Treffpunkte mit einigen verloren.
Andere blieben aus, weil er die studentischen Vereine nicht mehr
besuchte. Mit Krause, der immer fanatischer das Jüdische
herauskehrte und gegen die »Assimilanten« loszog, hatte er sich nach
einem Wortwechsel ganz zerschlagen. Dafür war Philipp Eisig nach
mehrjährigem Aufenthalt in Amerika wieder aufgetaucht, gänzlich
verändert in seinem Äußern, einem eingeborenen Ur-Chicagoer nicht
nur in der Kleidung, sondern zum Erstaunen auch in den Gesichtszügen
gleich, als hätte das fremde Land ihn von Grund aus umgeboren. Die
alte Jugendliebe blühte unverwandelt wieder auf und mit ihr auch das
alte Pumpverhältnis. Während nämlich Eisig für die väterliche Firma
große Reisen unternahm und jedesmal mit einem dicken Haufen von
Banknoten, die er sich angeblich erspart hatte, in die Stadt
zurückkam, wurde Arnold für seine kärgliche Betätigung mit einem
schmalen Taschengeldchen abgefunden und hatte immer unbefriedigte
Bedürfnisse. Eisig stotterte nun auch nur unbedeutend, das hatte
er in einer Anstalt drüben sich abgewöhnt, und behauptete überhaupt in
allem die Oberhand, mit seiner tiefen mürrischen, aber sehr
entschiedenen Stimme, seinem wankenden Korpus, dem sich der breite
Kopf nur ungern nachschob, so daß er manchmal in der Luft
zurückzubleiben schien, unsicher schwebend. Er hatte jetzt breite
Schultern, ein reines Gesicht mit flachem braunem Haar in Wellen, das
in der Mitte gescheitelt war, fast wagrechte Augenbrauen, helle mutige
Augen, den Mund regelmäßig, die Stirn kindlich. Und dieses neue
Gesicht trug er mit derselben Selbstverständlichkeit wie die neue
überseeische Tracht, den niedrigen, wie ein weißer Ring ganz
zusammenschließenden Kragen, die schön hellgelben Stiefel, die
nach vorn in Keulen statt in Spitzen ausliefen. Unter seinem sehr
langen Rock -- er fiel bis fast ans Knie, ein unscheinbarer Stoff,
doch von vollendetem Schnitt -- konnte man keine Weste vermuten,
eher den Leibgurt eines Trappers oder Patronenreihen. Und ebenso
bequem wallten die Hosen herab, oben breit, am Fußgelenk schmal,
wallten wie Fahnen im Wind und man hatte das Gefühl, darunter müsse
gleich das Fleisch nackt und gesund sich regen. So zog er mit Arnold
durch die Nachtlokale der Stadt, von denen keines ihm wüst genug war,
und statt diesen alltäglichen Dingen zuzuschauen, gab er lieber
selbst einen Tanz zum Besten, einen lustigen Niggertanz, der ihm
lauten Beifall eintrug. Da trappelte er mit kleinen Schritten,
fast auf demselben Fleck, während die Arme aufwärts schwebten, sein
Kopf sich langsam senkte, wie um den immer schnelleren Schritten immer
genauer zuzusehn; dann warf sich der Kopf wieder empor, während
die Füße abwechselnd im Cakewalk mit Spitze oder Absatz aufklopften;
dann waren in die Hände plötzlich fremdartige Matrosenbewegungen
gefahren, sie hoben ruckweise ein Tau oder sie schleuderten es
unsichtbar in den Saal; zum Schluß glitten die Beine aus, ganz steif
fiel der Körper hin, lag schon ganz schief dem Boden nah, hupfte aber
unvermutet wieder gerade in die Höhe ... Der Clown verwandelt sich in
einen Gentleman, der, die Hände in den Taschen, ohne Lächeln, ja mit
trüben Augen an seinen Tisch sich zurückbegab, den Applaus
überhaupt nicht hörend. Er beklagte sich darüber, daß es hier kein
starkes Bier gebe. Er probierte die schwersten dunklen Sorten.
Nichts. Er hatte sich eben, Gott verdamme es, an Ale gewöhnt ...
Arnold war entzückt von solchen Kraftausbrüchen. Nun ließ er sich
von Philipp in die Gesellschaft anderer Geschäftsleute und junger
Börsengrößen führen, die Nachmittags in matten Glaszellen, hinten
in einem großen Kaffeehause, an kleinen grünen Tischchen Karten
spielten. Bald beteiligte sich Arnold, verbrachte mit dem größten Eifer
Stunden um Stunden mit Mischen, Abheben und Aufschlagen, mit den
lustigen Zwischenreden dabei, die überlaut klangen, weil sie kurz
waren, fühlte sich gemütlich und doch kampflustig in den Hemdärmeln,
schloß sich von keiner noch so gewagten Kombination aus. Er verliebte
sich ganz in die schlechte aufregende Kaffeeluft; gab es keinen
Tarock, so las er nächtelang Zeitungen. Alle Kellner kannten ihn
schon und schütteten gleich Stöße von Tagesblättern neben ihn auf das
Plüschsopha, wenn er sich niedersetzte. Eisig starrte neben ihm in
die Luft oder malte Zahlen auf den Tisch, wie es überhaupt seine Art
war, sich lange Weilen schweigsamen Berechnungen hinzugeben, über die
er nie etwas Näheres verlautete, die aber den Eindruck von Verwicklung
und oft auch Ärgerlichkeit machten, nach seinen dicken Falten auf der
Stirn zu schließen. Oft kam auch Lambert und die Bummelclique ins
Kaffeehaus, Arnold wunderte sich, wie bekannt Eisig mit allen war
... Diese Art von Geselligkeit nahm ihn nun fast vollständig in
Anspruch; dazu noch Bobenheims Ruderklub, dann Söhne von
Geschäftsfreunden, die sich ihm nach und nach angeschlossen
hatten, jeder mit irgend einer Passion, sei es Okkultismus oder
Weiber oder Jagden, und die Arnold natürlich in der gewohnten Weise
regierte. In Börsekreisen lernte er damals auch den jungen Walder
Nornepygge kennen, einen Chemiker, der sich erfolgreich mit
Erfindungen und Börsenspekulation befaßte. Die gemeinsamen
Freunde, die das Zusammentreffen der beiden arrangiert hatten,
waren überzeugt, daß die beiden so ähnlichen Charaktere, beide so
tätig und so vielseitig, einander schnell verstehn würden. Doch
unerwarteterweise stießen sie einander gegenseitig ab, Nornepygge
äußerte später, daß er Arnold roh gefunden habe, und Arnold nannte
den andern im vertrauten Kreise »einen eingebildeten melancholischen
Narren«. Überdies, so setzte er fort, habe er keine Zeit und Lust zu
neuen Bekanntschaften. Und wirklich war er immer noch außerordentlich
beschäftigt, in Anspruch genommen, und davon war noch lange keine Rede,
daß er endlich einmal Zeit zu seinen eigenen Arbeiten gefunden hätte.
Schon die paar Stunden im Geschäft, nicht viele, aber regelmäßig
einzuhalten, nicht nach Belieben zu schwänzen wie die Universität,
fielen ihm lästig, behinderten ihn aller Ende. Im Geschäft machte er
übrigens bald gar nichts mehr, auch für sich nichts, schon der bloße
Gedanke, daß er dort Gelegenheit habe, allein zu sein und seine innere
Tüchtigkeit und wirkliche Arbeitskraft also zu erproben, reizte und
verdroß ihn, -- daß dies gewissermaßen ein Prüfstein sein könnte. Er
erfand also allerlei Ausreden, wie den Lärm und die unziemliche
Örtlichkeit, und nur in Briefen raffte er sich dazu auf, nebst
schmetternden und daher eigentlich glanzvollen Klagen über den jetzigen
Zustand baldige Änderungen in Aussicht zu stellen. Und im Anschluß an
diese leeren Vormittagsstunden floß der ganze Tag wie von selbst
schnell und lustig dahin, ohne daß Arnold jemals das ausgeführt hätte,
was ihm im Sinne lag. »Ja, stärker wie Löschpapier bin ich eben nicht«
seufzte er manchmal, in humoristischer und doch selbstanklägerischer
Weise ... Im ganzen war sein Umgang jetzt um einiges weniger geistig
als vorher, doch er selbst war genau derselbe geblieben, immer tätig
und befeuernd, auch mit großer Behaglichkeit, wenn er unter
Menschen war; immer auf dem Sprung, sich in ein neues Abenteuer zu
werfen, immer unterwegs, im Wagen oder zu Fuß, wie er sich denn auch
eine eigene, besonders schnelle Gangart angewöhnte, mit weit
gespreizten Beinen, um den vielfachen Rendezvous halbwegs zu genügen
-- und da hatte die Mutter gut sagen: »Kleine Schritte machen,
Arnold, kleine Schritte.« Sie fand nämlich, daß seine schöne aufrechte
Statur unter diesem Galoppieren litt ... Welches Vergnügen fand er nun,
beispielsweise, daran, eine regnerische Abendstunde bei seinem Schneider
zu verbringen, in der hübschen und wohlgeheizten Probierstube, die eng
wurde durch allseits anrückende Stellagen, behangen mit Röcken und
Hosen. Lässig an den Pult gelehnt sah er dem alten Herrn zu, der
mit geübter Hand die scharfe Kante seiner Talgkreide, dieser
angenehm-klebrigen gelblichen Fläche, über die Stoffe wandern ließ und
dann eine Schere -- sie war so schwer, daß sie bei jedem Schnitt
herabzusinken schien -- die schnell geschwungenen Linien entlang in das
Dunkel der hingebreiteten Stofflagen führte. Arnold bewunderte ihn, wie
jede ausgezeichnete Tüchtigkeit, aufs innigste. Und dann kamen so viele
Bekannte hin, um sich Maß nehmen zu lassen oder zu probieren wie er,
man plauderte, der Schneider erzählte die neuesten Anekdoten, empfing
neue von den Kunden dafür, es war ein heiteres erbauliches
Stelldichein, in dem man doch immer durch den Anblick des Chefs, der
bei aller Artigkeit und allen Scherzen eifrig sein ruhiges Geschäft
weiter besorgte, vor dem Gedanken völligen Faulenzens, wie etwa im
Kaffeehaus, bewahrt blieb. Man ging auf und ab, setzte sich auf die
roten Holzsophas, die mit ihren dünnen Stäbchen (wie Möbel beim
Photographen) einen zerbrechlichen Eindruck machten, stellte sich in
Gruppen oder wandte sich in einer zierlichen Langweile ab, um ein
Modegruppenbild an der Wand zum hundertstenmal zu studieren, über
die Ideen und möglichen Beziehungen dieser Leute zu einander
nachzudenken, die doch nur jeder wegen eines andern Kleidungsschnittes
auf dasselbe Blatt gemalt waren, also im Grunde ebenso zufällig und
ohne innern Trieb beisammen wie die wirklichen Menschen in diesem Raum;
plötzlich aber lachte man auf über einen Witz, der hinter dem Rücken
einem andern erzählt wurde, schwang sich wieder zu ihnen herum,
fühlte wieder einen wärmenden menschlichen Zusammenhang in der
beinahe starren Brust. O diese leisen Stimmen, das feine Kommen und
Gehn über Teppiche hin, die gebeugten Köpfe, von denen der schöne Hut
sich entfernt, diese Blicke, still und verbindlich, mit denen ein
geeigneter Platz für den Schirm im Schirmständer gesucht wird, o diese
Wunder einer zivilisierten Gegenwart, einer vornehmen reichen
Stadt, diese laue Luftströmung unserer gefühlvollen Höflichkeiten!
Und dazu klatschte der Regen an die Scheiben, es war nicht ratsam
fortzugehn, man sah hinaus auf die belebte Gasse mit eilenden
Menschen, deren Schirme im Wechsel der Beleuchtung sich unaufhörlich
zu drehn schienen und wie schwarzes Glas funkelten, und in die
gelberleuchteten Auslagen gegenüber, die mit all ihrer Pracht im Kot
zu zerfließen drohten ...

Arnold liebte jetzt solche Orte, an denen man viele Leute sah und
Anregung hatte. Er besuchte alle Bälle, die Rennbahnen, die
Tennisturniere. Ohne irgendwo als Mittelpunkt aufzufallen, eignete er
sich schnell die entsprechenden Umgangsformen und Gewohnheiten an,
entwickelte dann in ihrem Rahmen einen solchen Enthusiasmus, eine
solche lustige Unbekümmertheit, daß stets ein Kreis bedürftiger und
weniger erfinderischer Köpfe ihm Gefolgschaft leistete. Der
harmlose Leichtsinn, mit dem er alles mitmachte, hatte von außen
gesehn etwas Sympathisches, und graue würdevolle Herren klopften ihm
manchmal auf die Schulter als einer Zierde und Hoffnung der Stadt,
erfreut über sein frisches Gesicht, das gesunde Aussehn, die
flotte Konversation, sie machten träumerische Augen, als dächten
sie an ihre Jugend, als hätten sie eine Erinnerung ihm mitzuteilen,
gerade ihm: daß sie früher mal es auch so getrieben, ach lange
lange vorbei --, als unterdrückten sie eben das alles, um ihn nicht
aufzuhalten und weil das ja keinen Zweck habe. Das alles lag
manchmal in solch einem anerkennenden Auf-die-Schulter-Klopfen, mit
dem sie ihn zugleich wegschoben, wieder in das Fest hinein ... Arnold
kannte bald alle wichtigeren Personen der Stadt, mehr oder weniger
flüchtig. Einigen Spaßvögeln gegenüber, die ihm besonders gefielen
und die ihn nicht minder schätzten, hatte er die Gewohnheit
angenommen, sich gegenseitig in scheinbarer Rührung um den Hals zu
fallen, so oft sie einander trafen. Dabei begleitete ihn immer noch der
Ruf besonderer Bildung, besonderer Begabung; und wenn er hie und da ein
kleines Klatsch- und Unterhaltungsfeuilleton im lokalen Blatt
veröffentlichte, gleich hieß es: »Sie sind aber fleißig! Wo nehmen Sie
nur all die Zeit her?« und neidisch fast: »Na, ich gratuliere.« Er
erschrak immer bei so billigem Lob, fand aber zugleich etwas
Angenehmes dabei, wie Betäubung, wie Halbschlaf. Selbst dachte er
immer unlieber über sich nach. »Ich bin halt eine Fernwirkung«
stellte er bei sich fest »von fern schaut's nach was aus, was ich
treibe. Aber wenn man's näher anschaut ...« Nun näherte er sich bald
dem Dreißigerjahr und eigentlich hatte er noch immer keine irgendwie
begründete Lebensstellung, frettete sich so im Nebenberuf als
Anhängsel seines Vaters durch, dessen Geschäft er ja später einmal
erben würde -- ja, aber eben so sicher auch ruinieren. Seine einzige
Hoffnung, sein Rückzug gleichsam auf sich selbst, war in dieser Zeit
-- nichts anderes als seine Markensammlung, die er auf Lamberts Rat
und mit dessen Vermittlung durch beträchtliche Ankäufe vermehrte.
Die gedachte er gelegentlich vorteilhaft loszuschlagen, nach Senff
besaß sie jetzt schon einen Wert von fünfzehntausend Mark, und mit
dem auf diese Art selbstverdienten kleinen Kapital wollte er
sodann etwas Selbständiges und Ehrenvolles beginnen, in irgend
einem fremden Land, eine Buchdruckerei in Amerika vielleicht, endlich
einmal Ruhe und wirkliche Unternehmungsfreude haben. Liebevoll pflegte
er also diese Sammlung, mit großem Ernst schrieb er alljährlich in
kleinen Bleistiftziffern den erfreulich steigenden Wert unter jede
Marke; wobei er sich natürlich nicht verhehlte, daß der wirkliche
Verkaufswert kaum mehr als die Hälfte des angegebenen Katalogwerts
ausmachte. Aber auch er hatte ja die Marken nicht teurer als zum
halben Wert gekauft, noch dazu bei niedrigeren Preisen, gegen diese
Art von Kapitalsanlage war also nichts einzuwenden. Und mochte auch
der Vater diese ganze Sammlerei als dumme Verschwendung, als
hinausgeworfenes Geld beschimpfen, Arnold konnte mit gutem Recht
einwenden: »Und wo wäre das Geld, wenn ich es nicht für Marken
ausgegeben hätte? Ich hätte es für andere Dinge ausgegeben und jetzt
hätte ich gar nichts davon.« »Und was hast du jetzt davon! Großartig!
Du meinst doch nicht, daß dir irgendwer für die Papierl etwas gibt?«
Arnold bestand darauf, daß Marken ein Wert wie jeder andere sei. »Aber
die Zinsen?« jammerte der Vater, in die Enge getrieben. Arnold
lachte ihn aus: »Vierzig Knöpfe jährlich!« und wußte überhaupt für
jeden Grund Gegengründe in Masse, da war er ja in seinem Element. --

Einmal vertrat ihm Eisig den Weg, dessen Gewohnheit es war, von der
Seite plötzlich heranzukommen und mit der ganzen Masse seines Leibes
sich dem Angeredeten in den Weg zu stellen: »Du, was sagst du zu
Blériot?«

Es war die Zeit, in der die Aviatik ihre ersten Erfolge zum Staunen der
ganzen Welt errang. Die Brüder Wright hatten sich mit ihren Apparaten
in beträchtliche Höhen erhoben, Zeppelin war mit seiner ersten Reise
glücklich gewesen, Blériot hatte den Ärmelkanal überflogen ... Eisig,
der eben von einer Tour aus Frankreich kam, wußte Wunderdinge zu
erzählen. Er hatte zum ersten Mal Aeroplane gesehn, ja es war so weit
gekommen, daß er einmal in Reims, als man in die Restauration von
der Gasse hereinrief, draußen fliege eben ein Luftschiff über die
Stadt hin, gar nicht vom Tisch aufgestanden war, so sehr war er an
diesen Anblick schon gewohnt. Er hatte auch bereits ein Projekt:
man müsse Blériot einmal in der Heimatstadt fliegen lassen, wenn nicht
ihn, so doch wenigstens einen Schüler. Das koste nicht viel und man
könne damit ein gutes Geschäft machen.

Arnold wäre nicht er selbst gewesen, wenn ihn die Neuheit dieser Idee
nicht sofort gepackt hätte. Er geriet in Entzückung, beschwor den
Freund um nähere Einzelheiten. Wie sehe so ein Aeroplan aus? Wie
ein Vogel? Sei er groß, so groß wie die Gasse, größer, nein kleiner?
Eisig antwortete, mit seiner tiefen Stimme, der die Langsamkeit der
Aussprache stets einen Beiklang von Verdrossenheit gab, und damit
kontrastierte merkwürdig genug die Zielbewußtheit, die List, die aus
den Worten selbst sprach. Auch war sein Hals kurz und dick, beinahe
null, so daß das dicke Kinn an die Brust stieß, und wollte er einmal
lauter reden, ein Wort besonders betonen, so hob er nicht den Kopf,
sondern senkte, um den Mund besser zu öffnen, mit fauler Miene das Kinn
noch mehr, so daß es sich in Falten und mehreren Lagen über einander
über die Kravatte hin ausbreitete. Für Arnold hatte dieses Stockende,
Langsame, ihm so Entgegensetzte von jeher einen besondern Reiz
gehabt ... Heute bezauberte es ihn so, daß er einen Vereinsabend des
»Bürgerklubs« ausließ, obwohl er dort neulich als jüngstes Mitglied in
den Ausschuß gewählt worden war. Er nachtmahlte mit Eisig im »Schweizer
Keller« und schon zwischen Vorspeise und Braten war der Plan fertig:
ein Konsortium zu bilden, zwecks Veranstaltung des ersten hiesigen
Schaufluges.

Am nächsten Nachmittag konstituierte man sich. Eisig hatte noch
einige Herren mitgebracht, von denen Arnold nur Lambert näher kannte.
Es wurden sofort Listen angelegt, um die reichsten Mitbürger zu einem
Garantiefond heranzuziehn. Man mußte nun von einem zum andern fahren,
ihm die Wichtigkeit, kulturelle und andere, des Unternehmens vorhalten,
den sichern Gewinn, mußte die Regierung einladen, das Militär.
Arnold überlegte gerade für sich, daß er sich da wieder in eine
hübsch zeitraubende Geschichte verwickelt habe; da schlug Eisig vor,
ihn zum Obmann zu wählen. Es geschah mit freudiger Akklamation.

Unser Held hatte, wiewohl er sich darüber nicht klar war, im Grunde
nichts anderes erwartet; pflegte er sich selbst doch manchmal in
ironischer Laune den »geborenen Vereinsobmann« zu nennen. Wie vielen
Ballkomitees, wie vielen Versammlungen hatte er schon präsidiert!...
Nun rannte er in die Sache gleich mit dem frischesten, und doch
gleichsam auch schon geübten Anlauf hinein. Zunächst die Presse. Man
beherrschte sie durch Gottfried Eisig und da machte Arnold doch noch
einmal eine Anleihe bei seiner ehemaligen jugendlich-gegenstandslosen
Beredsamkeit, indem er gänzlich ohne Fachkenntnis, nur aus ein paar
andern Zeitungsartikeln und dem Rest der Gymnasialbildung einen
neuen Artikel zusammenkochte, und was für einen strahlenden, über die
»Eroberung der Luft«. Er begann mit Ikarus, selbstverständlich,
widmete sich in aller Kürze den Brüdern Montgolfier, wobei die drei in
die Gondel mitgenommenen Tiere zu leichthumoristischer Wirkung
gelangten, entfaltete sich behaglich über das Los der unglücklichen
Erfinder von ehemals, über das Unmögliche und unmöglich Scheinende
(Quadratur des Zirkels, Stein der Weisen, Röntgenstrahlen, drahtlose
Telegraphie), gewann allgemach Donnerkräfte, besang in sparsamer
Daten-Melodie, aber mit einer Begleitung rauschender vollgriffiger
Begeisterungs-Akkorde die letzten Fortschritte der Menschheit,
wobei einige Impressionen Eisigs zu geschickter Wirkung kamen,
schüttete nun, oben angelangt, fast ohne Atem, wie aus einem
Füllhorn auf die staunenden Heimatsgenossen die Verheißung nieder,
daß man derartiges vielleicht bald auch in allernächster Nähe zu sehen
bekommen werde, gipfelte aber klugerweise nicht in diesem Effekt,
sondern in einer kurzen farblosen Bemerkung über die Flugwoche in
Brescia. -- An anderer Stelle des Blattes wurden sachlich die Namen
der Arrangeure und ihr Programm bekannt gegeben. Anfragen und
Nachrichten an die Adresse: Arnold Beer u. s. f.

In den nun hereinbrechenden Konferenzen bewies sich Arnold als fest
und schlagfertig, geduldig und kühn, ja mit der Größe der
Veranstaltung schienen sich seine Kräfte zu vervielfachen. Man hatte
mit den Fliegern in Frankreich zu korrespondieren, die von allem
Anfang die unverschämtesten Preise verlangten, wie beleidigt und
zugleich stolz gemacht als echte Franzosen durch die Zumutung, daß
sie ins Ausland sollten. Dagegen drängten sich Deputationen der
Vororte heran, von denen jeder den schönen Vorrang und Profit des
ersten heimatlichen Fluges einheimsen und jeder daher den
geeignetsten Platz zur Verfügung stellen wollte. Indessen wählte das
Komitee, um dieser Eifersucht auszuweichen und auch aus technischen
Gründen angeblich, eine weite Wiesenfläche in der Nähe von Waldbrunn,
dem kleinen Kurort nahe der Stadt. Jede Etappe der fortschreitenden
Verhandlungen veröffentlichte Arnold in handfertigen Artikelchen;
es wurde bald zum Stadtgespräch, daß die Eisenbahndirektion in
entgegenkommendster Weise eine eigene neue Station errichten wollte,
während sonst die Züge nur in der nahegelegenen Stadt Bischofstein
hielten, daß sogar ein Nebengeleise zum Flugplatz gelegt wurde, daß
die Postverwaltung ebenso liebenswürdig die Aktivierung eines eigenen
Post- und Telegraphenamtes mit der Stampiglie »Waldbrunn-Aerodrom« für
die Dauer der Aufstiege zugesagt hatte. Die städtischen Omnibuslinien
nahmen Sonderfahrten in Aussicht, die Hotels erwarteten großen Zuzug
vom Lande und sicherten sich Privatzimmer, die Polizei entwarf Pläne
für diese neue schwierige Aufgabe, auch die Militärbehörde wurde
unruhig. An den Straßenecken, in den Wagen der Straßenbahnen machten
sich die ersten Plakate bemerkbar, Witze begannen zu kursieren.

Und all dies im Zuge erhalten, bewegen, treiben und wieder
beruhigen, war Arnolds Aufgabe. Eisig und die andern besorgten das
Geschäftliche, die Verrechnungen, den Kampf mit den Lieferanten, das
Engagement des Aviatikers, den Kern der Sache gleichsam, alles
hingegen, was das Äußere betraf, Repräsentation und ehrenvolle Fassade
gegen die Mitbürger, oblag Arnold, und es zeigte sich bald, daß das
Komitee allen Grund gehabt hatte, ihm diesen Verkehr mit der Welt zu
übertragen, denn an vielen Stellen, wo er vorfuhr und Anhänger
warb, sagte man ihm: »Wir tun's nur Ihretwegen. Sonst scheint uns
ja die ganze Sache nicht sehr reell.« Man fragte ihn nach der
Solidität dieses und jenes Mitglieds, einer wollte sogar wissen, daß
der Grund, den das Aerodrom beanspruchte, vorher von Lambert gekauft
und durch einen Vormann dem eigenen Konsortium gegen gehörigen
Preisaufschlag weiterverkauft worden sei. Entrüstet wies Arnold
derartige Anwürfe zurück, was für Verleumdungen, und in seinem Innern
war er eigentlich nur darüber verwundert, daß diese jungen Leute,
die mir ihrem Schliff die vornehmsten Gesellschaften in Erstaunen
zu setzen pflegten, doch irgendwie aus rätselhaften Gründen nicht für
voll angesehen wurden, wie sich jetzt herausstellte, während er,
Arnold, ein redliches Ansehn genoß. Doch dachte er darüber nicht
weiter nach, nahm solches nur für die üblichen Schwierigkeiten,
die sich großen unvorhergesehenen Unternehmungen seit jeher in den Weg
stellen müßten, und nicht etwa in seinem Vertrauen machte es ihn
wankend, sondern wie ein leises Prickeln der Gefahr drängte es ihn
nur noch ungeduldiger vorwärts, trieb ihn noch mehr, alle Kräfte
aufzubieten, das Zerbröckelnde zu stützen mit den Armen eines Atlas,
und zu leisten, was nur zu leisten war, in eigener Person. Er kam
nun oft von früh bis Abend nicht aus dem Automobil. Das Telephon
hörte nicht auf zu klingeln. Mittag war er einmal bei Tisch so
zerstreut, daß er die Suppe mit der Gabel zu essen versuchte.
Ängstlich sahn ihm die Eltern zu. »Ich warne dich«, sagte der
Vater, »aber du machst ja doch nur immer, was du willst.« -- »Er ärgert
sich, weil ich jetzt überhaupt nicht mehr ins Geschäft komme,«
registrierte der Sohn und war im Grunde seines Herzens froh, daß er
nun auch die Vormittage mit geistsprühender geselliger Tätigkeit
anfüllen konnte. Er schlief jetzt nur wenige Stunden, so daß er
morgens vor dem Spiegel manchmal erstaunte, gleich nach dem Aufstehn,
wie unversehrt noch seine Nachtfrisur auf dem Kopfe stand, noch
gescheitelt und noch wie zusammengepreßt vom Rauch der Weinlokale.
Aber unter der Stirn ging es wirr und polternd, die Ideen wie
Steinlawinen. Er überredete Bobenheim und seine Sportsfreunde dem
Komitee beizutreten und durch das Ansehn dieser wirklich patrizischen
Familien, nicht solcher Windbeutel, befestigte sich nun die allgemeine
Neigung, mit ihr die Sicherheit des Unternehmens. Die Beiträge liefen
jetzt beträchtlicher ein. Der Landesausschuß gab eine Subvention.
Man trug sich mit Unerhörtem, nach dem ersten Flug sollte ein
ganzer Zyklus veranstaltet werden, ein Wettbewerb der verschiedenen
Systeme, ein Rundflug über viele Städte hin, man wollte die
Maschinen kaufen und eine Schule gründen, das Aerodrom sollte
jedenfalls für ständige Veranstaltungen stehen bleiben. Kurz, Arnold
glaubte endlich den Beruf gefunden zu haben, für den er paßte. Wer
weiß, vielleicht lernte er selbst fliegen, vielleicht gelang ihm
eine epochemachende Verbesserung, und, von dort aus gesehn, würde dann
sein ganzes Leben bisher einen Sinn bekommen, alle seine mannigfachen
Kenntnisse und Beziehungen würden ihn dann wie nach einem Plan zu
diesem großen Ziel hingeleitet haben. Er hatte jetzt nichts im Kopf
wie diese ungeheure Zusammenfassung seines Seins in einer nahen
stürmisch-blitzenden Zukunft, und nur wie ein dunkler Wind wälzte sich
noch der Schwall anderer Lebensverknüpfungen hinter ihm her, die
Vergangenheit mit ihren Ansprüchen, die er möglichst schnell und
nebenher abtat.

Draußen in Waldbrunn erhoben sich schon die gelben rohen Holzplanken
des Aerodroms, und für Arnold, der auch die ganze Korrespondenz
besorgte, war aus ein paar Brettern mitten im Bauplatz ein kleines
Zimmer errichtet worden, sein Bureau. Er arbeitete zwar das Wichtigste
in der Stadt, im Palasthotel, in dem das Komitee über einige Zimmer
verfügte, doch fuhr er gegen Abend täglich auf den Rennplatz
hinaus, um sich vom Fortgang der Arbeiten selbst zu überzeugen, oft
brachte er auch Journalisten, Offiziere, Sportsleute, Gönner mit.
Und da fand er, daß ihm manchmal da draußen, im kühlen Abend, aus
der wehenden duftenden Waldluft, die besten Gedanken kamen --
sofort schreiben, Brief aufgeben, das war ihm Bedürfnis, und da man
ja im Kleinen das Geld nicht sparte, das ganze Komitee vielmehr die
herrlichsten Dinge je nach Geschmack der einzelnen, in Erwartung
des sichern Glücks, herunterschluckte, hatte er eiligst dieses
»Wigwam«, wie er es nannte, sich bauen lassen. Nirgends noch hatte er
sich so wohl gefühlt wie zwischen diesen schnell zusammengenagelten,
groben, harzig-riechenden Brettern, die man nicht anrühren durfte,
ohne einen Span in die Finger zu kriegen, und die nicht einmal bis
ganz auf den Boden reichten, so daß man untendurch den Wiesenboden
sah, die Schuhe der Vorbeigehenden. Herein klangen unaufhörlich
Hammerschläge und Kommandorufe, ein rhythmisches Pfeifen, schwache
Stimmen verwirrt. Man fühlte förmlich das Werk, wie es rüstig
wuchs, wie es mit wonnevollem Gebraus aus dem Tal gegen die
Waldanhöhen hin emporstieg, und Arnold, der sich als das Herz dieses
Lebens fühlte, seinen Willen im entferntesten Maurerjungen noch,
schrieb auf elegantem bläulichen Briefpapier, das eine Art Wappen
des Konsortiums in Reliefpressung trug, seine befehlshaberischen
oder einschmeichelnden Manifeste. O hier war er zu Hause, hier hatte
sein Leben, das fühlte er wohl, zum erstenmal einen Höhepunkt
erreicht. O Gott, hier sich einklammern, dachte er, um diesen
Mittelpunkt Zellen ansetzen, sonst komme ich nie zum Eigentlichen.
Aber was ist es denn, das Eigentliche im Menschenleben, das,
weshalb man lebt? Gibt es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr eine
Phantasie von mir? Vielleicht habe ich dieses Eigentliche schon einmal
in der Hand gehabt und habe es nicht gewußt. Vielleicht geht es allen
Menschen so wie mir. O nein, vielleicht erlebe ich eben jetzt das
Eigentliche oder marschiere geradeaus darauf los ... Seine Angst
verschwand, er atmete tief und kühl, er schaute einen Augenblick durch
das kleine Fensterchen in die Sonne, die dem Untergang entgegenzitterte.
»Die ist doch das größte Etablissement hier in der Nähe« sagte er leise
vor sich hin, wie einen kleinen verliebten Witz, ein Kompliment, als
stünde er auf du und du mit dem roten Gestirn, als streichle er diese
Fläche, von der jetzt wie von einer ungeheuren Pfanne aus die letzte
Hitze emporschlug. Und er errötete bei diesem Gedanken, als fühle er
sich heute, in der Blüte seiner Energie, einer solchen Freundin nicht
unwürdig. Man konnte jetzt den Glanz dieser Sonne mit dem Blick schon
aushalten, man sah ihre Kreiseinfassung deutlich als dünne zitternde
Linie, und die gelbe glänzende Fläche schien gleichsam tiefer in den
Himmel hineingedrückt, wie eine Münze mit scharfem Rand ...

Abends nach getaner Arbeit überfiel ihn ein ruhiger tiefer
Glücksrausch. Er kreuzte die Arme und trat aus seiner Brettertüre ins
Freie, fühlte den schwachen Waldwind an seinen Schläfen, in die
Haare hinein, und obwohl er gar nicht wußte, wohin mit all der
Kraft, machte er keine Bewegung, sie abzuleiten, ließ gleichsam den
Deckel über seine inwendige Zufriedenheit stürzen und sie sorgsam gar
kochen in ihrem eigenen Dunst ... Manchmal rief er auch die Kinder zu
sich, die von der Straße her dem bewegten Arbeitstreiben zusahn, und
begann mit ihnen zu spielen. Es waren Dorfkinder und Kinder von
Waldbrunner Kurgästen, alle freuten sich über das, was da gebaut
wurde, waren gespannt auf das Kommende, verstanden am Ende mehr
davon als ihre erwachsenen blasierten Eltern. Arnold liebte Kinder;
unter ihnen erwachte seine noch kaum verschwundene Lust am
Fußballspielen aufs neue, sein Vergnügen an jedem tollen
Herumschrein und Vorwärtsstürmen, sein oft sinnloses Kommandieren und
Kommandiertwerden. Von Zeit zu Zeit, wenn er zufällig in eine
Kindergesellschaft geriet, fühlte er sich auch immer schnell als
einer der ihren, fand unter ihnen Trost gegenüber dieser langsam
klebrigen Welt, ohne jedoch ein Prinzip daraus zu machen, sondern
von einem zum andern Mal vergaß er diesen Eindruck und war immer aufs
neue überrascht ... Einmal arrangierte er jetzt, in Waldbrunn, ein
Wettrennen längs des Waldsaums. Der blonde Gerhart, ein großer Junge
von etwa fünf Jahren, fiel über jede Baumwurzel hin, endlich aber
so derb, daß er zu schrein anfing ...

Eine Dame eilte heran und Arnold begann sich bei ihr zu entschuldigen.

»Im Gegenteil, sie haben ganz recht, Wichse verdient er, tüchtige.«

Jetzt erst, erstaunt über diese in devotem Ton hervorgebrachte und,
wie ihm gleich auffiel, ziemlich unsinnige Rede, blickte Arnold die
Dame an, während er bisher nur an dem kleinen quäkenden Kerlchen
herumgearbeitet hatte, um ihm einen Schmutzfleck von der Nase zu
wischen ... Es war eine große auffallende Blondine, die er schon
mehrmals gesehn haben mochte, und nun wußte er auch, wo: sie hatte ihm
einigemal, wenn er hier auf Bauplätzen und Gerüsten herumregierte,
mit einer Andacht zugesehn, die ihm zugleich schmeichelhaft und
widerlich vorgekommen war, ohne daß er sich übrigens viel um sie
bekümmert hätte.

»Aber verzeihn Sie, gnädige Frau ...«

»Ich bin nur die Gouvernante« entgegnete sie in einem Ton, als könne
sie sich nicht schnell genug demütigen. »Im Gegenteil, ich habe Ihnen
zu danken, Herr Beer ...«

»Sie kennen mich ...«

Sie lächelte und nickte: »Par Renommée! Ich war einige Jahre bei
Grünbaum, bei der jüngeren Schwester des Herrn Technikers Grünbaum. Da
hat man so oft von Ihnen geredet und immer nur das beste ...«

Etwas, was nicht oft geschah: Arnold wurde verlegen, errötete sogar
ein wenig. Er konnte sich im Augenblick absolut nicht vorstellen,
welches Gute denn die Schwester Grünbaums mit ihrer Gouvernante von ihm
gesprochen haben dürfte ... Als müsse er so unverdientes Lob abwehren,
stotterte er: »Dafür treffen Sie mich jetzt in einer Situation ...«

»O nein, ich bewundere Sie ja -- wie Sie sich auch noch mit Kindern
abgeben können, ein so beschäftigter Mann ...«

»Ja, ich treibe viel unnützes Zeug,« seufzte er.

»Unnütz? O wer dürfte das sagen. Im Gegenteil ...« Sie stockte, und
Arnold fand es grausam süß, sie bei diesem Wort, das sie jetzt schon
zweimal in der kurzen Weile gebraucht hatte, ein wenig zappeln zu
lassen. Endlich fuhr sie fort: »Was Sie leisten, davon erzählt ja die
ganze Stadt.«

»Was man erzählt, das ist nicht immer wahr.«

»Sie sind zu bescheiden, Herr Beer, ich habe es ja auch selbst gesehn
... nur in den letzten Tagen zum Beispiel ...«

»Das war ein hübscher Oberleutnant neulich ... was?«

»Wollen Sie mich auslachen?« Sie machte ein beinah beleidigtes
Gesicht, mit gerunzelter Stirn, doch etwas störte die Wirkung des
Gekränkt-Aussehens: die Wichtigkeit und der durch nichts geforderte,
allzu liebevolle Ernst, mit dem sie das Folgende erklärte: »Sie
meinen, daß ich auf buntes Tuch fliege? O nein, das imponiert mir gar
nicht ...«

»So, so ...« Arnold schüttelte den Kopf. Obwohl ihn diese Beobachtung
wenig interessierte, fand er bei sich, daß das Fräulein allerdings so
aussehe, wie er sich im allgemeinen Frauen oder Geliebte von Offizieren
vorstellte. Sie war groß, blondhaarig, eine »Fernwirkung«. Ihr
starker, doch nicht mehr als anmutig geschwellter Busen zog die
Blicke auf sich. Im Gesicht aber lag eine eigentümliche Disharmonie.
Arnold durchforschte es, kam jedoch zu keiner Erklärung dieses
Eindrucks ... Dabei hatte er sich langsam neben dem Mädchen, das den
Knaben an der Hand führte, in Bewegung gesetzt. Er redete etwas vom
Militär, ganz unklare Dinge, denen ein aufmerksames Lauschen seitens
der Dame begegnete. Er wußte kaum, was er sprach. Vielmehr war er
einzig damit beschäftigt, unter dem Vorwande, daß er die Mütze des
Knaben studierte -- der Knabe ging zwischen ihm und dem Fräulein --
zu bemerken, wie bei jedem Schritte des Knaben über dem roten Bummerl
der Mütze die schöne weibliche Hüftenrundung im blauen Rock
auftauchte und wie eine Welle wieder versank, er sah das mit jenem
Anflug willenloser Schläfrigkeit, die den Beginn sinnlicher Erregungen
zu begleiten pflegt. Dabei hörte ein Widerstand, eine Art von
Ekel, nicht auf, sich in seinem Innern fühlbar zu machen. Plötzlich
hatte der Widerstand gesiegt, Arnold wachte auf, und begann nun die
Scheinbeschäftigung mit dem Knaben in eine wirkliche umzuwandeln. Er
brach mitten im Satz ab, neigte sich wieder, und während sie durch
den Wald weiter dem Kurörtchen zuschritten, kitzelte er das Kind
links am Ohr, indes er sich rechts von ihm hielt. Gerhart sah zum
Fräulein auf. Nun zupfte ihn Arnold geschwind am rechten Ohr und
schaute sofort in die Luft. Der Knabe aber verstand schon den Witz und
drehte sich mit wütendem Gelächter gegen Arnold, um ihn ins Knie zu
boxen. »Wirst du nicht unartig sein!« ermahnte die Bonne und wollte
ihm in die Hand fallen. Inzwischen hatte aber auch Arnold eine
Abwehrbewegung gemacht und so trafen sich vor seinem Bein plötzlich
die drei Hände. Die des Kindes löste sich gleich wieder los, um mit
aller Gewalt auf Arnolds zweites ungeschütztes Knie loszuschlagen;
aber die Finger des Fräuleins und Arnolds blieben fest beisammen,
verschlangen sich einen Augenblick lang ineinander, während auch
ihre Blicke offen ineinander tauchten. Beide waren still; eine
herrliche Gelegenheit für den kleinen Rangen, mit beiden Fäusten auf
Arnolds Knie sich der Rache hinzugeben. Und er trommelte, bis Arnold
mit gleichgültigem, gar nicht mehr kinderfreundlichem Schub ihn
abschüttelte ...

Sie hieß Feistnig und stammte aus Deutschböhmen, aus dem Erzgebirge.
Ihre Eltern waren sehr arm, er solle nur ja nichts anderes dahinter
vermuten, ein armer Bauer, eine arme Spitzenklöpplerin; und deshalb
mußte sie dienen. Übrigens hatte sie die Lehrerinnenbildungsanstalt
absolviert, ja gelernt hatte sie etwas, Gott sei Dank. Einer ihrer
Lehrer habe sie heiraten wollen, aber das hatte sie ausgeschlagen,
weil er ein Witwer war. »Ein Wittmann hat zwei Herzen.« Nein, das
mochte sie nicht. An Heiratsanträgen war kein Mangel. Mochte Gott
wissen, was die Leute an ihr fanden ... Arnold machte ihr ein
Kompliment ... Sie erzählte schon etwas von einem Berg und einem
Bach bei ihrem Heimatsdorfe. Wenn sich ein Mädchen in einer
Märznacht in diesem Bach wasche, dann werde sie schön. »Und das
habe ich ein paar Jahre hinter einander gemacht, so dumm war ich. Ja,
wenn man jung ist. Ja die Heimat ...« Diese sanfte Poesie fand
Arnold unausstehlich, diese schwärmerischen Augen. Zudem bemerkte er
mit Mißvergnügen, daß das Gespräch immer wieder stockte, daß es ihn
solche Mühe kostete, als müsse er jeden Augenblick es von neuem
anknüpfen. Er hatte das Gefühl, als mache er mit jeder seiner Fragen
eine wichtige und schwierige Erfindung, die indes von seiner Partnerin
nur ganz oberflächlich ausgeschöpft wurde; und im nächsten Moment
stand er schon wieder vor der Notwendigkeit, etwas Neues zu erfinden.
Also los, er gab sich einen Anlauf und fragte sie nach ihrem
Vornamen. Sie wollte ihn nicht sagen. Er bestand darauf. Nun aber
blieb sie seltsamerweise eigensinnig, gerade den Vornamen wollte sie
nicht sagen. »Warum denn nicht?« »Sie müssen nicht so neugierig sein.«
Er bat sie: »Nein, das ist aber nicht nett von Ihnen« und dachte
dabei: Endlich ein Gesprächsstoff gefunden! Sie lachte: »Muß ich
denn immer nett sein?« »Aber jetzt haben Sie mir schon so hübsch
erzählt.« »Wer zu viel weiß, wird bald alt.« Endlich gab sie es
ihm frei, zu raten. Er riet: Anna, Toni. »Das i wär richtig.« Er
strengte sich an und jetzt erst zum erstenmal empfand er eine Art
geistiger Erregung ihr gegenüber. Plötzlich wandte sie sich dem
Kleinen zu, der auch beschäftigt sein wollte und unaufhörlich an
ihrem Kleid riß. »Du, fang mich!« ... Sie lief voraus. Ihre Gestalt
war mächtig und dabei schlank in der Taille. Einfach, aber gerade
infolge der Glätte wie durchsichtig zeichnete der Rock, in der
Bewegung jetzt, ein reizendes Spiel langer Beine, das sich im
Ungegliederten fast geheimnisvoll verlor und erst an den sich
drehenden Hüften eine Fortsetzung fand. Der volle Busen lehnte sich
wie ein kleiner Polster neben den Baumstamm, an den sie sich
schmiegte, um sich umzudrehn und aus dem Versteck hervorzugucken, und
zugleich wirbelte es unten am Rocksaum weiß wie Wellenschaum aus dem
Innern hervor, um leichte spitze Füßchen. Dazu strömte der gewaltige
Geruch der Tannen im Abendwind, als verstreue ihn das Mädchen mit
ihren lebhaft hin und hergeworfenen Armen, mit ihren Wendungen, denn
bald lief sie davon, bald stand sie und rief das Kind, machte einen
Tanzschritt zur Seite. Arnold konnte es nicht lassen, er beteiligte
sich am Spiel. Zunächst stellte er dem Knaben die Wahl, ihn oder das
Fräulein zu fangen, und jauchzend trieb sich Gerhart hinter beiden her,
ohne sich zu entschließen. Er war noch zu jung für vernünftiges Spiel,
er wollte nur strampeln und schrein. Dann schrie Arnold -- mehr um sich
mit ihr als mit dem Knirps zu verständigen --: nun würden sie also
beide das Fräulein fangen, und jagte schon hinter ihr drein. Und dabei
hatte er eigentlich nur die Absicht, das Gespräch fortzusetzen, ihren
Widerstand wegen des Namens zu brechen. Aber schnell blieb Gerhart
zurück, das Fräulein floh immer entschiedener, Arnold bekam immer mehr
Lust sie einzuholen, sie bog, da er schon ganz nahe bei ihr war, mit
einem geschickten weiblichen Ruck zur Seite, ins Gehölz, er verfitzte
sich zwischen den Ästen, ihr nach, die ihm ins Gesicht schlugen, -- da
öffnete sich eine freiere Stelle und sie konnte ihm nicht mehr
entrinnen. Von hinten her umklammerte er sie, drückte sich an sie:
»Also wie heißen Sie, schnell, wie heißen Sie?« Sie suchte sich
loszumachen, ermattete und seufzte: »Lina,« wie besiegt ... damit fiel
ihr Rücken an seine Brust zurück, ihr Köpfchen hob sich, das bisher
wild geduckte, während der seine über ihre Schulter herüberkam. Das
hatte kaum eine Sekunde gedauert. Schon spürte er den fremdartigen
Geruch ihrer Haare, ihres Atems, und in demselben Augenblick erschien
es ihm widerstrebend bis zur Unmöglichkeit, einem unbekannten Menschen
plötzlich, unvermittelt so nahe an die Haut zu geraten. Eine bittere
Wolke schien ihm aus ihren dunkelroten, halbgeöffneten Lippen
emporzuquellen, die er jetzt knapp vor den seinen hatte, und allem
Widerstreben zum Trotz zog ihn dieser warme unangenehme ungesunde Dampf
in sich hinein, wie man manchmal Freude daran findet, die Fingernägel
über die eignen Finger schneidend und immer tiefer zu ziehn, vom
Schmerz nicht ablassen kann ... Er hatte sie auf den Mund geküßt. Sie
stieß ihn zurück, nun energisch und mit einer ganz erstaunlichen
Unfreundlichkeit, eilte wieder auf den Weg zurück ... Arnold glaubte,
sie beleidigt zu haben, folgte ihr langsam. Sie tat ihm leid. Eben
hatte er noch in einer leichten Stimmung von Verführungskünsten und von
Gedanken wie: »Na, man muß dem Mädel den Gefallen tun« herrschaftlich
geschwelgt, jetzt sagte er sich: Ich bin ein Barbar, was mag sie sich
von mir denken ... Sie führte nun den kleinen Gerhart an der Hand
und sprach kein Wort, die Augen niedergeschlagen. Er neckte wieder
den Knaben, ziemlich geistesabwesend, nur weil es ihm peinlich war,
ganz stumm zu sein. Allmählich redete auch sie: »Nun also, wirst du dem
Herrn die Hand geben, wirst du hübsch artig sein?« Ein Stein fiel
Arnold von Herzen, da er ihre unveränderte, etwas zu blendendweiche
Stimme wieder hörte; er erhob den Kopf: »Er ist artiger als Sie,
Fräulein Lina ... Lina« wiederholte er leiser und fuhr fort »er hat
keine Launen, benimmt sich artig, nicht war, du?« und bückte sich
zu dem Gesicht des Kleinen herab. »O Sie sollten ihn nur sonst kennen,
was, Geri? Er kann schon sein Stückl bestehn« ... So kam das
Gespräch wieder in Gang, ganz ruhig, als ob nichts geschehen wäre.
Es war so dunkel geworden, daß man einander nicht mehr die
Gemütszustände vom Gesicht ablesen konnte, das gab einen guten
Übergang zur Unbefangenheit, in die sich übrigens das Fräulein, so
schnell ging es, auch ohne Dunkelheit bald hinübergedreht hätte. Nun
klang ihr Lachen wieder wie vorhin, etwas übertrieben und künstlich,
bei jeder Wortwendung Arnolds, die nur ein wenig von der geraden
Ausdrucksweise abwich. Es war ein gewissermaßen tiefernstes, beinahe
tragisches Lachen und verwandt jenem speichelleckerischen, das
Schulkinder bei den kleinen Witzen des Lehrers hervorstoßen. In seiner
Pedanterie blieb es niemals aus, kroch einem wie ein Hund nach.
Arnold, der sich durch Linas Zurückweichen nach dem Kuß angezogen
gefühlt hatte, wurde wieder verdrießlich ... Endlich mündete die
Waldchaussee auf die Landstraße mit ihren Obstbäumen, bald war man
bei den ersten Häuschen von Waldbrunn angelangt, wo sich Arnold mit
einem Handkuß vom Fräulein, von Gerhart mit einem Backenzwickerl
verabschiedete.

Am nächsten Tag dachte er nur mit Unlust an diesen Vorfall. Was
für eine neue Störung!... Arnold war von wenig sinnlicher Anlage,
sein rasches Leben schien tieferen Eindrücken der Frauenschönheit
gleichsam zu entgleiten, so wie etwa ein reißender Bergbach von der
Sonne nicht bis auf den Grund durchwärmt werden kann. Es sind ja meist
die schwerblütigen Naturen, nicht, wie man meinen sollte, die
lebhaften, die an den Frauen untröstlich kleben bleiben ... Er
hatte zwar die ganze nicht eben umfangreiche Skala großstädtischer
Verderbtheit mitgemacht, mit den Freunden eben, war eine Zeit lang von
einer Dirne mit mehr als bezahlter Liebe geliebt worden, hatte
Stubenmädchen und Weinstubenkellnerinnen Sonntags ins Hotel geführt,
oder hatte in der Garderobe eines Klubhauses ein Familienmädchen
eilig abgeküßt, aber all dies ohne rechten inneren Anteil, nur
schnell und stundenweise und mit dem stets wachen Bewußtsein, daß
daran nicht viel sei. Das Vergnügen überhaupt war seine Sache nicht, er
strebte nach Anstrengungen, Leistungen, Wirkungsmöglichkeiten. --
Diesmal aber schien er an ein anständiges Mädchen geraten, die die
Sache ernst nahm, und das machte ihn unruhig. Ein langes Verhältnis
konnte etwa daraus entstehn, mit Zärtlichkeiten, Verpflichtungen,
gebundenen Rendezvous, kurz all den Dingen, zu denen er keine Zeit
und Lust hatte. Sie gefiel ihm auch nicht besonders. Er sagte
sich, indem er ernst wie ein Kaufmann Aktiva und Passiva gegen
einander hielt: No ja, ein fesches G'stell, aber das Gesicht mutet
mich nicht an, eine typische Fernwirkung ... Den Fehler ihres
Gesichtes hatte er allerdings noch nicht herausgefunden, konnte sich
überhaupt nichts mehr an ihr genau vorstellen, nur noch die feine dünne
Empfindung seiner Fingerspitzen an ihrer leise aufrauschenden
Seidenbluse, als er sie umfaßt hatte, und diese Erinnerung regte ihn
freilich doch ein wenig auf. Ueberdies war sie ja so dumm, so
simpel. Arnold hielt die Weiber überhaupt für unfeine inferiore
Geschöpfe; lächerlich, mit ihnen sich abzugeben. Und mehrmals kam er
erleichtert auf den Gedanken zurück, daß ja nichts Großes zwischen
ihnen vorgefallen war, Gott sei Dank. Er stellte sich erschauernd sein
Gefühl heute vor, wenn ... Nein, das auf keinen Fall! Und doch
wußte er, daß es dazu gekommen wäre; gut, daß der kleine Junge
dabei war, o, er segnete ihn nachträglich. Und die ganze Sache wurde
ihm mehr und mehr unheimlich, da er fand, daß sie ihn doch von seinen
wichtigeren würdigeren Geschäften mehrfach in Träumereien abzog.

Am Nachmittag blieb er in seinem Wigwam, schrieb und kümmerte sich
um nichts anderes ... Da stand sie in der Tür, den Jungen an der Hand:
»Ich mußte mir doch mal ansehn, wie Sie wohnen«. Er fand kein Mittel
unhöflich zu sein, auch nicht die Neigung dazu. Mit einem gewissen
Stolz (wie ehemals vor den Kurkapellen) setzte er sich zwanglos vor ihr
in Szene, zeigte ihr den beladenen Tisch, den riesigen Einlauf, das
ganze einfache Gehäuse, das so recht seine eigene Schöpfung war, die
einzige bisher. »Hier möchte ich ganz gerne wohnen« knüpfte er
bedeutungsvoll an ihren Scherz an, mit einem tiefsinnigen Blick
gleichsam in die eigene Seele »hier ist der einzige Ort auf Gottes
weiter Welt, wo ich mich zu Hause fühle ...« Sie fürchtete zu stören,
er hatte so viel zu tun, nicht wahr. Diese Zurückhaltung rührte ihn, er
erklärte, daß es nicht so arg sei, und las den halbfertigen Brief vor,
der auf dem Tisch lag, um ihr zu zeigen, förmlich herablassend, daß das
alles doch gar kein so besonderes Kunststück sei. »Das würde ich auch
zusammenbringen«, lachte sie. Er ermunterte zu einer Probe. »Gerhart,
spiel da draußen«, sie führte das Kind vor die Tür, wo noch große
Sandlöcher um die eingerammten Pflöcke offen lagen, »da hast du Mehl
und Zucker.« Und schnell kehrte sie zurück, entwarf ein paar Briefe,
nach kurzen Andeutungen, die Arnold machte. Ihre Intelligenz
überraschte ihn. »Da hätte ich ja einen perfekten Sekretär, das wünsche
ich mir schon lange, nur hab ich's bisher nicht so weit gebracht.« »Ich
komme jeden Nachmittag, wenn Sie wollen,« stimmte sie erfreut zu und
eifrig schrieb sie weiter, sorgfältige Buchstaben, wobei sie ihre
ohnedies großen hellgrauen Augen noch mehr herauswälzte. Arnold ging
zuerst auf und ab, blieb aber dann stehen und betrachte sie von der
Seite, irgend etwas fesselte seine Aufmerksamkeit, ohne daß er sich
darüber Rechenschaft ablegte, erst nach geraumer Weile bemerkte er, daß
es wieder diese im Verhältnis zur dünnen Taille reizend sich
vorbiegende weiche Linie ihrer Brust war. Er bemerkte es ärgerlich,
trat aber, noch halb im Taumel, hinter ihren Sessel und prüfte mit
schwerem Ernst, ja mit Bekümmernis, die Wölbung ihres Rocks um die
Hüften, dann die Falten der Bluse, denen man es anmerkte, daß darunter
der Leib eng geschnürt war, betrachtete voll Interesse die scharfe,
wenn auch nur wenig gehobene Kante, die der obere Rand des Mieders
deutlich in den Blusenrücken preßte, glitt zum Gürtel mit seinem Blick
und tiefer hinab, wo ihn das in jedem der zart eingewebten Rockstreifen
ausgedrückte Anschwellen und dann das im finstersten Schatten ganz
undeutliche Abschwellen zur Verzweiflung brachte. Endlich raffte er
sich auf; ein Coupletrefrain, oder war es nur ein Spottvers, ging
ihm im Kopf herum, immer lauter: »Er regt soch auf, hat nichts
davon.« O pfui, wie ordinär war das, wie ordinär erschien er sich,
ordinär, ordinär, und welch ein erbärmlicher Kontrast zu diesem
Mädchen, die in ihrem Eifer und Schülerschreiben im Grunde einen so
netten Anblick bieten mußte. -- »... regt soch auf, hat nichts
davon.« Wie ordinär! Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Und so sind
also die Männer. O wenn sie wüßte ... Wahrscheinlich hatte sie gar
keine Ahnung davon, welche ihr gewiß ganz entlegene Wirkung die
Profilansicht ihres Körpers, ihr Rücken auf diesen -- gebildeten
jungen Mann ausübte. Sie arbeitete da, zeigte voll harmloser
Beglücktheit, was für ein kluges Mädchen sie war ... Oder wußte
sie es? Verstellte sie sich so gut? In diesem Gedanken legte ihr
Arnold teuflische Krallenhände zu, Hörner unter der blonden,
welligen Frisur. Er entfernte sich von ihr, bis in die entfernteste
Ecke der Hütte, von wo aus er sie anrief: »Nun, sind Sie bald fertig?«
-- Jetzt erst bemerkte er, wie lange er nichts gesprochen hatte.
Was war denn vorgegangen? Wieder stieg der Coupletrefrain in seinem
Kopfe auf, so daß er sich schüttelte. -- Sie nahm es für Ärger und
beeilte sich noch mehr: »Ja, ja, gleich«, dabei legte sie eine Wange
auf den linken Arm, schob das Papier weit nach rechts und jagte
mit schräger Feder darüber hin. Als sie fertig war, bewegte sie den
kleinen Finger der rechten Hand hin und her: »... tut weh.«
»... regt soch auf«, dachte er unwillkürlich in demselben Moment,
durch den Rhythmus ihres kurzen Sätzchens aufgestachelt, wie ein
höhnisches Echo. »Bin's halt nicht gewöhnt«, setzte sie fort. Ihm
fiel der zweite Teil des Couplets ein, unaufhaltsam. »Wird das so
weitergehn?«, dachte er wütend. Zugleich spürte er eine kindliche
Wichtigtuerei aus ihren Worten heraus, die ihm gefiel, aber
nichtsdestoweniger seine Überlegenheit zurückgab. »Rufen Sie Gerhart«,
befahl er und hütete sich, ein »Bitte« dazuzusetzen. Er sah sie
streng an, mit einer energischen Miene, die eigentlich ihm selbst
galt. Sie ging an ihm vorbei, durch die Türe hinaus. An seinem
gespannten untätigen Stehnbleiben in diesem Moment merkte er, daß er,
wieder verlockt, sie blöde anstarrte ... Erst unterwegs dankte er
ihr für die Mühe. »Jetzt sind Sie so lange gesessen, da müssen Sie
Bewegung machen.« Das war natürlich der Übergang zu derselben
Fang- und Kußszene wie gestern, nur erleichtert dadurch, daß Lina
sofort von der Chaussee bereitwillig zwischen die Baumstämme einbog.

Sie wurde ihm von nun an unentbehrlich. Sie schrieb seine Memoranden
ins Reine, die er in flüchtiger Stenographie skizzierte, sie
übersetzte Französisches, sie machte ihm die Korrespondenz so weit
fertig, daß er nur noch lesen und unterschreiben mußte. So einen
Diener, einen Ausführer konnte er gerade brauchen, dem er nur die
Keime seiner zahllosen Ideen hinwarf, und schon wurden sie sorgsam
aufgelesen, gereinigt, aufgezogen. Alles ging richtig, der kleine
Gerhart spielte indessen draußen vor der Baracke, sie konnte sich mit
einem Blick durch die Türe oder unten durch die Bretterluken durch
schnell davon überzeugen ... Doch mit all ihrer Dienstfertigkeit war
sie Arnold nicht angenehm. Gerade dieses Nutzbringende an ihr,
diese Sklavennatur stieß ihn ab, weil er fühlte, daß er dadurch an
sie gefesselt war. Die Verehrung, mit der sie ihn umgab, fand er
unsinnig, ganz anders als die Anbetung der Freunde, die er doch zu
verdienen geglaubt hatte. Wie sie ihm von fern himmelnd mit den
Blicken folgte, wenn er die Gerüste inspizierte oder Besichtigenden
flink zur Hand war: das lähmte ihn fast. Ihre Kugelaugen waren wohl
auch das entscheidend Häßliche im Gesicht, diese wässrigen,
ausdruckslosen Glasbäuche, doch nicht minder mißfiel ihm, daß ihre
Nase und die Kinnwölbung rot waren, die Backen derb und, aus der Nähe
gesehn, nicht ganz glatt. Dafür entschädigte das reiche blonde Haar
und die auffallend volle, doch biegsame Figur; jedoch, weiter
betrachtet, war es gerade diese unlösliche Verbindung eines
weichen, anmutigen Leibes mit einem so durchaus ungraziösen Gesicht,
eines dämonisch Anziehenden mit einem eiskalt Abstoßenden, was
Arnold unheimlich und widerwärtig wie eine ätzende übelriechende
Flüssigkeit vorkam. Und mit diesem heillosen Eindruck wieder verbunden
ihre offenbare Sanftmut, die Ergebenheit: o es war eine Disharmonie in
allem. Und hatte er denn Zeit, das zu ordnen und zu entschuldigen,
wie ein Verliebter etwa?... O, diese Liebe machte ihn ganz und gar
nicht glücklich, nein, nur unruhig und niedergeschlagen. Er fühlte
sich schwach gegen dieses Mädchen, er beneidete sie manchmal, denn
sie war gewiß beseligt in ihrer aufrichtigen Neigung zu ihm. Sie
sprachen überdies nie über Liebessachen, es fiel ihm nicht einmal ein,
sie zu duzen. Als sie ihm gestand, sie sei einmal schon getäuscht
worden, der Bräutigam habe sie nach schmählichem Tun im Stiche
gelassen, erschrak er heftig. Zwar nicht wegen einer etwaigen Heirat,
dieser Gedanke lag wohl beiden gleich fern; aber daß sie schon einem
angehört hatte, mußte ihre Eroberung beschleunigen, und er selbst
war, das wußte er, im gegebenen Moment zu unbesonnen, um aus eigenem
Willen einzuhalten. So sah er die Gefahr vor sich und keine
Möglichkeit, ihr auszuweichen ... Zudem peinigte ihn der Gedanke,
daß dieses Verhältnis wenig standesgemäß sei, daß er es zu wichtig
nehme, und nur wenn ein Freund ihn neidisch fragte: »Du, wer war
denn gestern diese Fesche?« beruhigte er sich ein wenig. Von außen her,
durch die Wirkung auf andere mußte er sich ihre Schönheit und
Begehrenswürdigkeit deutlich zu machen suchen. Auf ihn selbst blieb
diese Wirkung erstaunlich oft aus. Dann mußte er sich ins Gedächtnis
rufen, wie er sich gestern oder vorgestern in ihrer Nähe in
Erregung wohlgefühlt hatte; sonst hätte er sie überhaupt nicht
ertragen. Oder er hörte gern zu, wenn sie erzählte, wie ihr einer
nachgegangen war, sie vergebens angesprochen hatte. Er forderte sie
selbst zu solchen Berichten auf, die ihm ihren Wert ins Bewußtsein
brachten. Daher hielt sie ihn für eifersüchtig, freute sich darüber,
wenn sie auch viel zu demütig war, um diese seine Schwäche irgendwie
auszunützen. Sie verschwieg ihm also lieber solche Begebenheiten; er,
der beinahe das Gegenteil von eifersüchtig war, mußte sie mit List
hervorlocken. So war ein versteckter Krieg entbrannt, ohne daß sie
es wußten ... Es war nicht zu vermeiden, daß seine Leidenschaft, die
auf bloße Sinnlichkeit ohne die leiseste Spur eines seelischen
Anteils gestellt war, in ihrer Stärke heftige Schwankungen zeigte, je
nach dem Wetter oder seinem Ausgeschlafensein. Sank sein Feuer, so war
es ihm schmerzlich, denn dann kannte er sich in diesem Verhältnis
überhaupt nicht mehr aus, wußte nicht, was er wollte und was das Ganze
bedeutete. Deshalb geriet er auch jedesmal in Unruhe, wenn Lina hie
und da schlecht aussah oder wenn ihr ein Kleid nicht paßte. Es
verdroß ihn, wenn ihre Gestalt in gewissen Stellungen nicht vorteilhaft
wirkte, er konnte dann den Gedanken nicht abweisen: Am Ende ist gar
nichts an ihr -- er fühlte sich wie betrogen. Manche Tage erschien
sie ihm zur Verzweiflung unscheinbar, eine Pustel entstellte den
Mundwinkel. Sorgsam kontrollierte er ihr Abmagern oder Zunehmen, bat
sie, nun in dieser Fasson innezuhalten, scheinbar scherzhaft, mit
verhülltem innerstem Ernst. Er fragte sie, ob sie gut schlafe, wie
viel sie gegessen habe -- alles nur zu dem einen Zwecke: um auf dem
Umwege über ihre Schönheit seine Behaglichkeit zu erlangen. Er hatte
auch einen gewissen zärtlichen unmerklichen Griff, um sie gleich beim
Kommen an der Taille anzurühren und rasch festzustellen, ob die
diesmalige gute Wirkung mit oder ohne Zuhilfenahme eines Korsetts
zustande gebracht sei. Dabei geriet er halb unbewußt in inbrünstige
Gedankengänge wie diese: »Da sie heute so wenig fesch aussieht, so
hat sie doch hoffentlich wenigstens kein Mieder an« -- oder: »Mein
Glück wäre vollständig, wenn der heutige süße Effekt ohne Mieder
hervorgebracht wäre.«

So kam es, daß er niemals an dem, was sie war, an ihrer natürlichen
und begrenzten Organisation ein endgiltiges Wohlgefallen fand.
Sondern oft, wenn er sie in Muße beobachten konnte (sie schrieb, er
diktierte) stellte er sich vor, wie ihre Nase oder die Hände etwas
besser zu machen wären, er probierte in Gedanken, ob ihre Brust
noch etwas voller reizend wäre oder schon unschicklich und übertrieben,
ob man ihr nicht mit Brillantohrgehängen oder mit einer Brille (o
diese Augen!) beispringen könnte. Er kleidete sie in Trachten
verschiedener Zeit, er operierte sie. Wie schwer war es doch, sich
in die Liebe hineinzureden. Da er den naturgemäßen Zusammenhang
ihrer Eigenschaften nicht kannte, auch sich keine Zeit dazu nahm,
über ihn nachzudenken, hatte er Angst, es könnte eines Tages ihre ganze
Schönheit plötzlich verschwunden sein. So war er stets angespannt,
stets auf dem Posten, nervös und erregt. Sie jedoch, natürlich
ohne jedes Verständnis für seine Qualen, störte ihn obendrein durch
Reden wie: »An mir ist ja nichts« oder »Ich weiß, daß ich nicht
schön bin«. Das war immer wie ein Fußtritt in seinen kunstvollen
Ameisenbau, dann kribbelten schnell seine Ideen und Reden heran, um
den Schaden wieder gut zu machen. Er stellte ihr vor, daß er
solche Selbsterniedrigung hasse, daß sie ja damit ihn selbst angreife
und blamiere, denn was sei er, wenn er mit einer, »an der nicht viel
sei«, so viel verkehre. Sie versprach zerknirscht es nie mehr
wieder zu tun, vergaß das aber schnell, da sie es im Grunde nicht
begriff, lobte ihn: »Was bin ich gegen Sie?«, sehr erstaunt, daß ihn
das ärgerte. Dann weinte sie. Er mußte sie trösten, doch wiederum
fand er bald den Unterschied gegenüber seiner früheren Trostwirkung
auf Freunde: Damals hatte es sich um Taten und Ermutigungen zur
Arbeit gehandelt, hier umfaßte der Trost die ganze Person und war eben
deshalb ein leeres Gerede ... Alles in allem empfand er ein Gemisch
von Mitleid, Dankbarkeit, Neugierde, Unmut, Eitelkeit, auch ein
wenig Hingezogenheit und starken Kitzel, all dies wechselnd und heftig,
wie es sich für sein unstetes Gemüt eben schickte.

Inzwischen war auch das Flugunternehmen an einen kritischen Punkt
gelangt. Aus nichtswürdigen Quellen häuften sich die Angriffe, anonyme
Briefe flogen, die Sicherheitsbehörden schritten ein. Ein
radikales Blatt sprach offen von »Schwindel und Bankrott«. Farman,
Blériot sagten ab und so hatte sich der Ausschuß an den jungen
hoffnungsvollen Aviatiker Ponterret gewendet, einen Belgier, der
einen Apparat eigener Konstruktion vorführen sollte. Er war
einverstanden und bald sah man in den Auslagen Photographien eines
hübschen Herrn, frisiert und schlank, der aus dem Hohlsitz seines
Monoplans die Mütze schwenkte oder kühn wie Latham Zigaretten
rauchte oder aus kriegerischer Schutzbrille in die Luft starrte,
die Hand am Lenkhebel. Die Zeitungen brachten seine Biographie, er
hatte sich öffentlich noch wenig hervorgetan, umso mehr privat,
auch zitierte man einen Ausspruch Paulhams, daß dieser junge Mann der
Einzige sei, der ihm jemals gefährlich werden könnte. Auf den
Plakaten führte er daher das ehrende Attribut »Der Rivale
Paulhams«, und bald war sein Name so sehr in aller Munde, daß man
ganz vergaß, ihn vor einer Woche noch gar nicht gekannt zu haben,
daß man beim Aussprechen schon jenen illustren unbeschreiblichen
Beiklang herausschmeckte, den die Namen der großen Helden und
Meister haben: Ponterret!... Der Apparat kam, per Sonderzug, wurde
ausgestellt, photographiert, erklärt, von Mittelschülern
klassenweise offiziell besichtigt, unter sachverständiger Führung
des Physikprofessors. Endlich traf der Champion selbst ein, von der
Stadtvertretung begrüßt, übrigens sehr bescheiden und sympathisch,
nur auf seine Arbeit bedacht. Man beschrieb ihn in den Zeitungen,
wie er eigenhändig, selbst geschickter als seine Monteure, die
niedrigsten Dienste an seiner Maschine zu leisten sich nicht
scheute, keinen Bestandteil für unwichtig hielt, jede Schraube
tausendmal ausprobierte. Schon am nächsten Tag versuchte er einen
Flug, der Motor ging nicht, das Benzin war schuld daran. Bei der
nächsten Probe geriet die wertvolle Dogge des Fliegers in die Schraube,
die gerade angelassen wurde, die Schraube brach, die Dogge blieb
auf der Stelle tot. Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ Ponterret
sofort eine neue Schraube anmontieren, doch setzte der Motor bald
darauf aus, die Probe mußte abgebrochen werden. Die Journalisten
konnten nichts tun als immer wieder den »Piloten« beschreiben, der nach
solchem Mißgeschick mit kaltblütigem Lächeln vor dem Hangar auf- und
abspazierte, winzige Zigaretten rauchte, dann aber gleich wieder im
blauen Arbeitermantel, unter dem die gelben Lackstiefelspitzen
hervorschauten, unverdrossen ans Werk ging, die Verbindungsdrähte
wechselte oder das Traggestell ausbalanzierte. Ponterret plagte sich
unermüdlich, er setzte sein Leben bei den fortgesetzten Proben mehrmals
aufs Spiel, er war zugleich liebenswürdig und energisch, mutig und auf
das Schlimmste gefaßt, er bot eine Vereinigung sämtlicher
Heroentugenden; trotzdem erzielte er nicht den mindesten Erfolg, der
Apparat funktionierte einfach nicht. Kurz und gut, Ponterret bot das
unserer Zeit schon etwas entfremdete, aber für die damalige
Kinderstammelperiode der Flugtechnik typische Bild des
hingebungsvollen, tüchtigen, durchaus ehrenwerten Aviatikers, dem trotz
aller Anstrengungen und Aufopferungen ein leiser Hauch von Komik
anhaftet, weil ihm so gar nichts gelingt, dem vielleicht nur ein
kleiner Handgriff fehlt oder am Ende gar nur unglückliche Zufälle im
Weg stehn. Man wünscht ihm ja das Beste, man wünscht aber zugleich,
peinlich berührt, der beweinenswerte Held wäre hübsch zu Hause
geblieben, da man ja nicht die Möglichkeit hat, seine Handgriffe oder
Zufälle irgendwie günstig zu beeinflussen. Er stellt, man mag ihn
entschuldigen wie man will, das konzentrierteste Symbol menschlicher
Unsicherheit und Machtlosigkeit dar; und das kann man ihm nie verzeihn
... Drei Tage vor dem angesetzten Schauflug brach Ponterret einen
Flügel seines Aeroplans, nun mußte man Ersatz aus Paris
herantelegraphieren, den Flugtag um vierzehn Tage verschieben. Das
Publikum wurde allmählig ungeduldig. Zwei Holzhändler ließen es aber
bei akademischer Ungeduld nicht bewenden, sondern führten Exekution
gegen das Konsortium, das sie auf den Flugtag vertröstet hatte, und
ließen den Apparat mit Beschlag belegen. Die Pfändung mußte natürlich
aufgehoben werden, denn der Apparat war Privateigentum des Fliegers.
Die Sache aber machte Aufsehn, und nur wer finanziell nicht beteiligt
war, lachte.

Jetzt erst begann Arnold stutzig zu werden. Er stürmte zu Philipp
Eisig um Aufklärung. »Was für Aufklärungen« erklärte heiter der Dicke.
»Es wird natürlich ein Reinfall.« -- »Was, du meinst, Ponterret wird
nicht aufsteigen.« -- »Aufsteigen muß er, das steht im Kontrakt,
das heißt: starten. Aber fliegen? Du hast es ja gesehn.« -- »Du
glaubst, nein?« -- »Was willst du von mir. _Ich_ kann nicht an
seiner Stelle fliegen.« -- »Aber wir sind doch verantwortlich, vor
der Öffentlichkeit. Man wird das Entree zurückgeben müssen, dann
liegen wir drin.« -- »Keine Idee. Man wird natürlich das Entree
nicht zurückgeben.« -- »Man wird es. Das verlangt der Anstand.« --
»Du bist ein Narr.« -- »So, dann trete ich aus. Einem betrügerischen
Unternehmen stehe ich nicht vor, das ist nicht meine Art.« -- Nun
aber wurde Eisig ganz ernst und kühl, während man das Bisherige
immerhin noch als Ausdruck seiner spöttisch-mürrischen Sitten
hätte erklären können: »Das wirst du nicht.« -- »Ich werde es.« --
»So, dann bitte ich doch, du Gerechtigkeitsprotz, zunächst auch einmal
deine Verbindlichkeiten gegen mich zu erfüllen. Ich denke,« er
blätterte in einem Notizbuch, das er merkwürdig schnell zur Hand
hatte, »es sind jetzt bald tausend Gulden«. -- »Nur achthundert«
erwiderte Arnold betroffen, halb mechanisch. -- »Ohne Zinsen!« --
»Du weißt, daß ich momentan kein Geld ...« -- »Ach was, momentan,
immer momentan ...« -- »Du hast mich doch heute zum erstenmal
gemahnt.« -- »Nun, und was folgt daraus? Ich brauche momentan Geld,
das ist die Sache, verstehst du. Alles andere ist mir ganz wurscht.
Sonst erfährt nämlich mein Alter, daß ich dort drüben Wechsel für
ihn einkassiert und für mich behalten habe. Lange genug schieb ich's
von einer Seite auf die andre, einmal muß das Loch zugeklebt werden.
Und da wird man aufs Entree verzichten, schöner Gedanke!...« --
Arnold erschauerte; je länger und begründeter Eisig sprach, desto
klarer wurde ihm, daß es sich da um sehr schmutzige Geschäfte
handelte. Jetzt erst sah er, in was er sich eingelassen hatte. Ja,
hätte er's nicht gewußt, jetzt hätte er es an Philipps Gesicht
erkannt, an diesen wulstigen Lippen, den breit wie gelbe Wandteller
hinausgezogenen Wangen und den allzu dichten Haaren darüber, durch
den Scheitel zu zwei gleichmäßigen dicken Polstern aufgeschichtet.
Was Jahre dichtesten Umgangs nicht entschleiert hatten, entdeckte
er jetzt: den verbrecherischen Zug in diesem Kropfgesicht, und
verstand in einem Blitz den gründlichen Unterschied zwischen seinem
eigenen Abenteuerwesen und dem des Freundes. Wütend machte er sich
davon ...

An diesem Nachmittag erschien ihm Lina angenehmer als sonst. Ihre
Güte und Unterwürfigkeit tat ihm wohl, schon die weiche klagende
Stimme verscheuchte ein wenig seine Sorgen. Das war doch ein
befreundeter Mensch, auf den man sich verlassen konnte. O, ein
Glück, daß er die hatte, so ein braves anständiges Mädchen! Er
drückte ihr warm die Hand, doch eilig, denn heute hatte er ihr
besonders viel zu diktieren und anzuregen, ihre Feder flog nur so.
Es fiel ihm zugleich ein, daß er Unrecht tat, ihre Liebe so
auszubeuten, sein moralischer Sinn war gleichsam durch die
Unterredung mit Philipp geschärft. Sie tat ihm leid. Doch heftiger
erfüllte ihn wie ein Nebel die Angst um die eigene nächste Zukunft,
tausend Rettungspläne, das Notwendigste für den Moment. Es war, als
entfache das drohende Fiasko nun noch die letzten Reserven seiner
Willenskraft und Anspannung, seine äußersten Gedanken. Heute
bewunderte er sich selbst, und als er gegen Abend den Haufen der
fertiggestellten Briefe überschaute, darunter ein paar wirklich
gelungene, -- um vorzubeugen, Rückzug zu sichern -- atmete er
zufrieden auf ... Ein Schrei Linas erschreckte ihn. Der kleine
Gerhart war nicht da, verschwunden. Sie suchte vor der Hütte,
überblickte von den Stufen des Amphitheaters aus die Rennbahn,
vergebens. Verzweifelnd gab sie sich, nur sich selbst alle Schuld an
dem gräßlichen Unfall, sie hatte heute weniger aufgepaßt als sonst,
das Kind mochte sich verirrt haben, ins Wasser gefallen sein, Gott
im Himmel, was war da zu tun! -- Arnold forschte indessen die Arbeiter
in der Nähe aus. Ja, man hatte den Kleinen auf dem Wege zum
Weidengestrüpp gesehn, das auf der andern Seite der Flugwiese in
menschenleerer Öde sich erstreckte, gegen den Fluß zu. Schon eilte
Lina in dieser Richtung, Arnold ihr nach. Sie kreuzten durch die
niedrige Wildnis, bückten sich unter verflochtenen Ästen durch,
rissen sich wund, schwitzten. Der Boden wurde schwarz und fett; setzte
man den Fuß auf ihn, so quoll kotiges Wasser hervor. Die Weiden
standen dicht wie ein Kornfeld beisammen, Lina bog sie auseinander,
hielt sie fest, um dem Nachfolgenden Raum zu geben, ließ sie aber
doch noch einen Augenblick zu früh los, so daß sie ihm gerade recht ins
Gesicht peitschten. Gereizt bat er sie umzukehren. Sie waren über
glitschrige Steine an das Schilfufer des Flusses gelangt. Man sah
fast gar nichts mehr, denn der Tag war regnerisch gewesen und jetzt
gegen Abend erfüllte warmer aufsteigender Dunst die Luft. Nun wateten
sie durch Binsen und Röhricht zurück, gerieten wieder in die Bäume ...
plötzlich erblickten sie, beide zugleich, durch eine dichte
Brombeerhecke von ihnen getrennt, das Kind, das arglos ruhig auf einem
steinigen Plätzchen einen Sandturm aufbaute. Ein Anblick, so voll
Kontrast zu der angstzerrissenen Stimmung der beiden, daß sie trotz
Ärgers und Kopfschüttelns und Hastens wie auf einen Schlag stehn
blieben und, wie man es einer Vision gegenüber tun mag, unter
langsamem Händeaufheben beide die Lippen zu einem notwendigen, gar
nicht lustigen Lächeln dehnten ... Den Sand hatte das Kind offenbar
in seinem kleinen Blechkübel vom Flugplatz hierhergetragen,
beschwerlich, in mehrmaligen Gängen, und es gefiel ihm so gut, in
dieser neuen Umgebung zu schippen, wo es eigentlich von rechtswegen
gar keinen Sand gab, als ein kleiner Herrgott also, daß es Augen
und Ohren an sein Spiel verloren hatte ... Lina, aus dem Bann
erwachend, unterdrückte einen Jubelschrei, ihre Augen glänzten
dankbar gegen Arnold, als schulde sie ihm den glücklichen Ausgang
dieses Zwischenfalls. Einen Moment lang fand er sie wirklich schön, in
diesem feuchten dunklen grünen Laubwerk, mit ihren glänzenden
roten Wangen, der klopfenden Brust. Lau brodelte es aus dem Moos,
den alten Stämmen, wie ein Bad, das alle Glieder in Wohlbehagen löst.
Dicke Fliegen setzten sich ihm auf die Stirn, die Augenlider, und wenn
er sie verscheuchte, fielen sie wie besinnungslos wieder auf ihn
zurück, berührten ihn heftig zitternd, kleinen schweren Händchen
gleich. Es schien ihm, als trügen sie ihm Linas Körperduft näher,
als balle er sich um diese schwarzen Körperchen, ja als seien die
Fliegen nichts als kompakte Pillen dieses betäubenden Geruches, o
dieses gar nicht mehr fremden, nein wohlvertrauten Geruches einer Frau,
die er schon oft geküßt, geküßt, aber nur geküßt hatte, ... die jetzt
so dicht bei ihm war, wie in einem Zimmer bei ihm. Und das spielende
gerettete Kind so nah, so nichts ahnend, so unwissend, blind gegen
das, was jetzt sofort neben ihm geschehn wird: diese eigentümliche
Vorstellung, die ihn wie mit der allerdurchtriebensten Freude
erfüllte, entschied. Vielleicht wirkten auch die vielen überstandenen
Aufregungen dieses Tages mit. Plötzlich fühlte er sich sicher, nicht
wie sonst im Kurwäldchen von Menschen bedrängt. Eine seltsam qualvolle
Lust ergriff ihn, wie ein letzter Ausläufer der raschen Gehbewegungen
vorhin, die nicht unvermittelt abbrechen wollten, er strauchelte
vorwärts, über eine Wurzel, er faßte mit beiden Händen geradeaus
langend, die beiden Brüste des Mädchens, diese vorstehenden
nachgiebig-festen Brüste, die ihn immer so gelockt hatten, faßte sie
mit einem Griff, dem man hätte anmerken können, daß er ihn in eben
dieser Art und mit dem glühendsten Feuer in Gedanken oft schon
ausgeführt hatte, er drückte sie wie Ballons, wie um sie auszupressen,
wie um sich an ihnen festzuhalten, über einem Abgrund schwebend
gleichsam, und nun, keuchend, heiß, außer sich, mit hüpfenden Augen,
die Haare gesträubt, singend, matt, verzückt, drängte er Lina an den
nächsten Baum, dessen trockene Rinde in kleinen Stückchen
herabsplitterte. Einen Augenblick später war sie sein.

Seine Empfindung sofort nachher war ohne jeden Übergang: eine maßlose
Wut gegen sich selbst. Also doch, also doch war es geschehn, trotz
allen Inachtnehmens, also doch, also doch ... Er war still,
während Lina sich abwandte und nach einer Weile, da nichts mehr
geschah, das Kind holte. Das Geschrei des kleinen Lausbuben, der
seine Bauten nicht verlassen wollte, zergellte ihm die Ohren. Er
begleitete sie nach Hause, niedergeschlagen, doch so weit gefaßt,
daß er noch einiges sprach, was sanft klang, weil seine Wut sich
inzwischen in eine unsägliche Traurigkeit verwandelt hatte. Lina
flößte ihm mit jeder ihrer Bewegungen Furcht ein, sie war ihm
unheimlich, bald weil sie nach seiner Meinung eine Wendung ins
Zärtliche machte, bald weil er sich von ihr verachtet glaubte. Und
dieses Kind, dieses Teufelskind war schuld an allem, diesen Gerhart
hätte er kaltsinnig erwürgen mögen. Los werden die zwei, das war
sein einziger Wunsch, den er durch Rücksichtnahme und galante,
dankbare Anwandlungen verfälschte, der aber zum Schluß den Abschied
doch bedeutend abkürzte. Arnold hatte das Gefühl, als müsse er auf die
Erde stampfen und mit gerecktem Arm die beiden weit von sich
wegschicken. Er zwang sich noch zu einigen Phrasen; als aber Lina
immer noch nicht ging, drehte er sich auf dem Absatz herum und geriet
rasch in immer schnelleren Schritt ... über die dunkle Ebene jagte er
seiner Baracke zu. Dort stürzte er nieder, konnte nicht mehr weiter.
O ein Wigwam, fragte er sich höhnisch, nein ein Brettersarg ist das!
Er trat ein. Ohnmacht und Reue erfüllten seine Seele, doch zugleich
erschienen wie von einem tieferen Grunde herauf unzusammenhängende
Bilder, halb vergessene, ungerufen zogen sie vorbei und lenkten den
armen wirren Geist in ihre Träumerei ... Da sah er sich, sah sich
als kleinen Knaben, an der Hand der teuren Mama im Schulsaal zum
erstenmal, bei der Aufnahme in die Schule. Und während ihn der
Lehrer für die erste Klasse einschrieb, hatte das Knirpschen schon den
Mund offen: warum hier zwei Tafeln übereinander seien, nicht eine,
wie er es in Puppenschulen bisher gesehn. Freundlich belehrte ihn
der Herr Lehrer: »Ja, wenn die eine vollgeschrieben ist, dann ziehn wir
eben die obere leere hinunter, nichtwahr. Siehst du, so macht man das,
so ...« und hatte es ihm gezeigt, während er sich zugleich lobend
zur Mutter wandte: »Ein aufgeweckter Junge.« O Gott, warum hatte ihn
denn damals jeder lieb gehabt und jeder gestreichelt, sich über ihn
gefreut, und so unschuldig, spielend alles -- und jetzt war es doch
nur derselbe Trieb, der ihn in Schuld und Schande verstrickt
hatte, genau ebendieselbe Glut, die damals allen so wohl getan
hatte, er konnte gar nicht mehr dafür als damals für seinen
kindlichen Reiz ... Zum erstenmal überblickte er sein ganzes Leben
und fand es erschreckend wie ein Gewitter in der Nacht, fand es
sinnlos, trostlos und sich selbst immer unter demselben Stachel
ungerecht leidend, preisgegeben, verschmachtend, ein Spielzeug
übermächtigen himmlischen Zorns. O wer kannte seine Qualen! Wer stand
ihm bei! Wer hatte Mitleid mit der Unbesonnenheit des verblendeten
Kindes, mit dem Unseligen Mitleid!... Hätte er nur ein Herz
gehabt, einen Freund, Eltern, die ihn verständen! O auf die Berge
hätte er steigen mögen und wie Gießbäche seine Arme ausstrecken nach
einem guten menschlichen Herzen ... Doch nein, da hatte man ihn
immer weiter rennen lassen, zurück übersah er es bis hinab zu seiner
dunklen Fußballeidenschaft, zu den ersten Tollheiten, immer weiter
hatte man ihn rennen lassen, den Hitzigen, und so war er bis
hierher gerannt, niemand hatte ihn gewarnt, bis hierher auf diesen
Fleck und auf diese Stunde, wie blind, während von allen Seiten die
Wände des Engpasses immer näher und drohender zusammenrückten, aber
blind immer weitergerannt, bis hierher, wo es kein Zurück mehr gab ...
Tränen entströmten ihm bei diesem Gedanken, er weinte, ein tiefes
Erbarmen mit sich selbst hatte ihn erfaßt, mit seiner reinen
verlorenen Jugend, ja mit der ganzen Welt ... Nur eine Weile. Dann
kehrte der Zorn zurück. Er erinnerte sich -- o war das nicht Warnung
genug gewesen? -- daß er schon mitten in dem kurzen Genuß vorhin den
Widerwillen gespürt hatte, den dieses verdammte Weib ihm einflößte,
einen Ekel und eine Notwendigkeit zugleich, wie wenn man etwa früh in
den noch ungespülten Mund ein Glas Wasser aus Durst hinunterschlucken
muß. Er spie aus ... Da lagen ja noch die Briefe, ein ganzes
Paket. Er verfluchte seine Energie, sie war zu nichts nutze. Und mit
einem gewaltigen Druck riß er mitten an dem Stoß, es ging nicht, da
teilte er ihn in zwei Lagen, hierin wenigstens konsequent, und
zerfetzte jede in kleine Stücke. Mochte alles werden, wie es wollte, er
gab's auf ...

Eine Idee kam ihm. Die Markensammlung verkaufen, und nach
Amerika!... Da waren doch fünfzehntausend Mark nach Senff, ein
Kapital, ein Anfang!... Er fuhr in die Stadt, und obwohl schon bald
zehn Uhr war, beschloß er, Lambert zu besuchen. Der hatte
kommissionsweise die Einkäufe vermittelt, sicher wußte er einen Käufer,
vielleicht war er sogar selbst geneigt ... Er klingelte. Jetzt erst
bemerkte er, wie unschicklich es war, mitten in der Nacht mit dieser
Verkaufsangelegenheit einzudringen; er faßte schnell den Plan, seine
Absicht zu maskieren. »Ich habe da ein Angebot«, rief er, »es muß
sofort entschieden werden, telegraphisch. Soll ich zwanzig Sätze
Jubiläumsmarken bestellen? Das macht so etwa fünfhundert Kronen.«
Lambert, geschmeichelt durch dieses Zutraun zu seiner Fachkenntnis,
rückte sich zurecht. In seinem taubengrauen Schlafrock mit
dunkleren Schnüren, im Lederfauteuil, jetzt Zigaretten anbietend und
der Sitte gemäß sofort sich erhebend, um einen Likör aus dem Kästchen
zu holen, war er ein Musterbild reifer, gesetzter Jugend, ein
Beispiel für jene merkwürdige Leichtigkeit und Unbedingtheit, mit der
gewisse Naturen (es sind nicht immer die wertvollsten) den Übergang
von unverantwortlichem Knabentum zur würdigen repräsentativen
Mannheit vollziehn. Arnold, so tief unterlegen gerade in diesem
wirren Moment er dem Gefestigten war, fühlte doch eine gewisse
lächerliche Schwäche an ihm heraus, in der er sich instinktiv sofort
festnistete: »Ich komme zu Ihnen als einem Kenner, Sie wissen
ja ...« »Nun, ich glaube«, holte Lambert aus, »das ist ein gutes
Geschäft. Die Verwaltung gibt nur eine sehr beschränkte Anzahl aus.
Schließlich ist doch Bayern kein Costa Rica oder sonst ein exotischer
Staat, der an Jubiläen Geld verdienen will.« ... Wie langweilig
waren für Arnold diese selbstverständlichen Gedankengänge, mit denen
Lambert sich ein Ansehen gab. Seine aufgeregte Hast kämpfte mit der
Klugheit, den Schwätzer ausreden zu lassen, endlich fiel er doch ein:
»Ich weiß. Gut, aber das hat man bei der vorigen Emission auch gesagt.
Und da kamen Nachträge. Von Raritäten ist nicht viel zu spüren ...
Schlechte Spekulation. Ich hab's überhaupt satt. Wissen Sie nicht,
wie ich die ganze Sammlung loswerden könnte?« ... Lambert blieb noch
eine Weile im alten Geleise, sei es, daß er Arnolds Wendung für
eine bloße Gesprächslaune hielt, sei es, daß er auf eine so
fernliegende Abschweifung überhaupt nicht aufgepaßt hatte. Er
redete also weiter von steigenden Werten, Neudrucken, Facsimilien,
bis ihn ein nochmaliges Andrängen Arnolds aufhielt. Nun erst ging er
mit gleichgiltiger Miene (auch Arnold blieb äußerlich ruhig) auf das
neue Thema ein: »Ja, das ist eine schwere Sache. Man müßte die
Sammlung ausschreiben, in Fachzeitungen, das dauert lang und dann
werden Ihnen die besten Stücke herausgeklaubt und der Schund
bleibt. Oder Sie tragen das Ganze zum Händler, der gibt Ihnen gar
einen Pappenstiel. Es bleibt also nur irgend ein großer Privatsammler.«
... »Ja, ein Privatsammler«, wiederholte Arnold gierig. »Wissen Sie
also einen?« ... Lambert überlegte ... »Für zehntausend,« begann
Arnold, und da Lambert überrascht lächelnd aufblickte, fuhr er
fort: »Für zweitausend Kronen gebe ich alles. Denken Sie, Altsachsen
vollständig.« ... Lambert machte ein spitzfindiges Gesicht, wie am
Schlusse seiner Überlegung angelangt, als habe er es jetzt
herausgebracht: »Ja, wer legt aber so leicht zweitausend Kronen
auf den Tisch? Das ist ein schönes Geld. Das tut einem weh.« ... »Wie
kommt das aber?« fragte Arnold betrübt und kindlich ... Lambert
erging sich in Vergleichen. Sammelwert sei etwas anderes als Wert im
Allgemeinen. Und wenn man einen neuen Pelz kaufe oder ein
Schmuckstück, ein Möbelstück, wieviel bekomme man beim Weiterverkauf,
auch für die besten, wie neuen Stücke ... Das Gespräch verlor sich
ins Allgemeine, Arnold lobte Lamberts Einrichtung, eine echte
Junggesellenwohnung, dabei sah er im Innern ein, daß hier nichts zu
holen war. Erschöpft und bleich blieb er noch ein Weilchen sitzen,
fand nicht die Kraft, aufzustehn und wegzugehn, seine Gewandtheit
hatte eben auch ihre Grenzen. Endlich empfahl er sich. Lambert
meinte im Weggehen: »Also wegen der Jubiläumsmarken können Sie ganz
unbesorgt sein. Dabei riskieren Sie nichts. Eventuell beteilige ich
mich.« ... Arnold hätte am liebsten laut aufgelacht. »Und unser Meeting
morgen«, fügte er noch hinzu, probierend, »das wird ein schöner Humbug,
was?« Er zwinkerte dabei. Auch Lambert lächelte verschmitzt und kniff
ein Auge halb zu, mit kleinen Fältchen: »No, das glaub ich.« Sie
schüttelten einander die Hände, wie in vergnügtem Einverständnis ...
»Und gegen dieses niederträchtige Leben«, sagte sich Arnold, indem er
Stufe um Stufe hinunterschritt -- Lambert leuchtete, über die
Geländerbrüstung gebeugt, klingelte dem Hausmeister, im finstern Gang
unten erschien etwas Undeutliches, Warmhauchendes, Mann oder Weib,
führte Arnold ans große Eisentor, stellte die Laterne auf den
Steinboden, steckte den Schlüssel ein und gab endlich mit leichter Hand
der massiven Pforte einen ganz kleinen Stoß -- »und gegen dieses
niederträchtige durchdachte kolossale Leben habe ich mit Spielereien
ankämpfen wollen, mit Papierschnitzeln. Da seh' ich erst, wie
ahnungslos ich war ... ein Kind, in allem ...« Von neuem traten ihm
Tränen in die Augen.

Auf seinem Schreibtisch zu Hause lag ein Brief. Gottfried Eisig, der
vor einigen Tagen einen Journalistenposten in Berlin angenommen hatte,
schrieb ihm begeistert (Arnold erkannte den eigenen Stil darin) von
seinem jetzigen Leben, von der Weltstadt. Ob er nicht hinkommen wolle?
Ein dritter Feuilletonredakteur werde eben gesucht. -- Ärgerlich warf
Arnold den Brief weg. Ja, neue Wirren, neue Verlockungen, das wäre so
das Rechte! Man kannte ihn ja, man hielt ihn schon für fähig zu jeder
Dummheit.

Da trat sein Vater herein: »Weißt du es schon? Die Großmutter liegt
im Sterben ... Pst! Die Mama darf es nicht wissen. Ich hab sie nur ein
bißchen vorbereitet. Da lies die Karte von Lichtnegger.«

Arnold las, ohne Bewegung, gedankenlos.

»Den letzten Satz hab ich ihr gar nicht gezeigt. Trotzdem fährt sie
morgen Nachmittag nach Wintertal. Ich kann nicht mit, jetzt in der
Hochsaison. Wenn sie sich nur nicht zu sehr aufregt ...«

So viel Lärm wegen einer alten Frau, dachte Arnold. Plötzlich fiel ihm
ein: »Wenn du willst, begleite ich die Mama ...«

»Du wolltest?... Aber morgen ist ja euer Schauflug.«

»Ja richtig, der Schauflug!« Arnold machte, als ob er sich erst jetzt
darauf besänne. Dann zog er mit dem letzten Rest seiner Energie den
Mund männlich zusammen: »Das kommt nicht in Betracht. Ich fahre mit
der Mama nach Wintertal.«

Der Vater sprach noch eine Weile, bereitete nun auch ihn gleichsam
auf das Unvermeidliche vor: Die Großmutter sei ja schon vierundneunzig
Jahre alt, was für ein Leben ... man könne sich denken ... man müsse
froh sein ... einmal wäre sie jetzt so wie so eingeschlafen, aus
Altersschwäche ... nun diese Lungenentzündung, das würde sie wohl nicht
überstehn. -- Und in allem Sanftmut schien er dieses baldige Ende
förmlich von der Natur zu fordern, als Bestätigung seiner regelmäßigen
Ansichten ... »Sie wird sich freun, wenn sie dich noch einmal sehn
kann« schloß er »du bist ja ihr besonderer Liebling.«

Arnold wich zurück: »Ich -- ihr Liebling? Ist das ein Witz?«

»Natürlich. Wie sie vor fünfzehn Jahren hier war, hat sie sich mit
niemandem vertragen, nur mit dir. Sie ist ja, unter uns gesagt, eine
wahre Furie ... Immer noch erzählt sie von dir, was für ein braver
Junge du warst.«

Um Arnold sauste es. Er mußte die Fäuste ballen, um diesem Sturmwind
standzuhalten. »Die auch,« murmelte er und seine gleißnerische Stellung
in der Welt, all der lügenhafte gute Ruf, der so ungerechtfertigt sein
hirnloses Zappeln umgab, fiel ihm wie höhnischer Vorwurf auf die Seele.

Der Vater trat besorgt näher. »Was sagst du?«

»Nichts, Papa. Gute Nacht also. Ich bin todmüde. Morgen weiter.«




III.


Erst im Eisenbahnkoupee wurde Arnold ruhiger. Nur ein dunkler Mißmut
blieb ihm zurück, unten auf dem Grund, den auch die Stöße des Zuges
nicht aufrüttelten und nach dessen einzelnen Bestandteilen zu forschen
er sich wohl hütete.

Die Mutter hatte eine Unzahl von Paketchen mitgebracht, die er tätig
ins Netz schlichten half: Obst und Buttersemmeln als Reisekost, für
die treue Frau Lichtnegger Würste und einen großen Schinken, für die
Großmutter Magenlikör, den sie immer verlangte, Brustbonbons und
andere Kleinigkeiten ... Erst als sie alles in Ordnung wußte, heiterte
sich ihr Gesicht auf, und indem sie sich bequem zurechtsetzte, gab
sie Arnold Anweisungen, wie er sich verhalten müsse. Laut reden,
natürlich -- und sich nichts draus machen, wenn er manches nicht
verstehe, die Mutter spreche eben noch wie die alten Leute -- er
solle nur recht lustig sein, ihr Witze erzählen, auch sagen, daß
er schon Geld erspart habe, das sei die Hauptsache -- und warum er
so eine schlechte Krawatte anhabe, er solle in Wintertal gleich
eine bessere kaufen, darauf gebe die Mutter sehr viel, letzthin habe
sie zum Beispiel ihr Reisekleid nicht elegant genug gefunden.

»Auf solche Sachen gibt sie noch acht?« meinte Arnold zerstreut. Jetzt
etwa begann der Flug in Waldbrunn.

»O sie gibt auf alles acht. Du würdest staunen. Überhaupt, gescheit
ist sie ...« Es klang so wie: Ja wenn alles an ihr so gut wäre ...

»Ist sie wirklich so bös?« fragte Arnold gleich, etwas übereilt, da
er eben nicht ganz bei der Sache war, trotz innerer Anstrengung.

Der Mutter aber schien diese Wendung nicht unangenehm zu sein; sie
begann gleich von ihrer Jugend zu erzählen, als gingen ihr alle
diese Dinge schon recht eifrig im Kopf herum. Durch die Reise in ihre
Heimatstadt war die Vergangenheit näher an sie herangerückt. Was
für Qualen!... Sie hatten eine Glasperlenerzeugung gehabt, die Mutter
am Platz, der Vater immer auf der Reise, denn zu Hause war ja die
Hölle. Oft mußten die Kinder Nächte und Tage lang Knöpfe auf kleine
Kartons befestigen, bis ihnen die Augen zufielen. Wenn nicht so und so
viel Gros fertig waren, mußten sie auf Erbsen knien und weiterarbeiten.
»Wir haben mehr Schläge gekriegt als zu essen.« Und dabei war solcher
Fleiß gar nicht nötig, denn das Geschäft ging ja damals noch sehr gut,
sie kauften sogar später ein eigenes Haus. Aber die Kinder mußten
weiter arbeiten, nur aus Geiz, daß ihnen die Finger wund wurden,
auf einem Schammerl stehn und große Kisten packen und wehe, wenn etwas
zerbrach! Dann auf den Markt fahren, nach Pilsen. Und immer Lärm,
Schimpf, Prügel, daß schon die Nachbarn sich dessen annahmen. Einmal
wurde die älteste Schwester, die Marie, im Hemd hinausgejagt, mitten im
Winter, weil sie geantwortet hatte. Und niemand da, um die Kinder zu
schützen. Nur der Vater sandte manchmal aus der Ferne zehn Kreuzer, ein
Papierzehnerl an jedes Kind, das war alles. Marie lief denn auch bald
fort in die Fremde, sie wollte Kindergärtnerin werden, war gebildet, an
einem gewissen Ort hatte sie heimlich zu Hause Bücher gelesen --
anderswo, das wäre ihr schlecht bekommen! Aber unbehütet, unerfahren,
wie sie war, geriet sie an einen Kellner, einen Schwadroneur -- nie
hatte sie mit einem Mann reden dürfen, immer zu Hause eingesperrt, kein
Tanz, kein Vergnügen, jetzt war sie natürlich von dem ersten besten
entzückt -- der hatte sie geheiratet, in Not und Elend, und so war sie
untergegangen, gestorben -- so schöne Zähne, schöne Haare, alles weg
-- und wie oft hatten die Geschwister, auch der Bruder, der Poldi,
die Alte auf den Knien gebeten, mit aufgehobenen Händen, ihr doch mit
etwas beizustehn. Die hatte ja immer Geld. Nein, nur ihre Flüche
waren der verbotenen Ehe gefolgt, als Mitgift. Und ebenso der Ehe
des Poldi. Indessen hatte auch der Vater das Heim verlassen, eine
andere Frau in Serbien irgendwo genommen, Prozesse waren gefolgt,
wegen Bigamie, und lauter solche schreckliche Sachen, dann hatte
man vom Vater nichts mehr gehört; verschollen. Die Hütte aber in
Wintertal hatten irgendwelche Feinde angezündet, so sagte wenigstens
die Großmutter, kurz sie war abgebrannt. Das ganze Vermögen ging zu
Grunde, nur noch Herr Beer als Bräutigam, der das gänzlich hilflose
Mädchen nahm, rettete etwas. Denn auch sie -- Mama, als letzte -- war
einmal auf dem Pilsner Markt der Großmutter entwichen: »Und wenn du
jetzt machst, was du willst, wenn du dich auf den Kopf stellst,
ich gehe nicht mehr mit nach Hause« ... Sie hatte zuerst bei Marie
gewohnt und mittags, statt zu essen, hatten die zwei armen Mädchen
halt ein bißl geweint. Mit Näharbeiten auf der Maschine sich das Brot
verdienen, das ging nicht so leicht. Glücklich waren sie, wenn sie
täglich fünf Kreuzer auf eine Wurst hatten. Und drei Jahre lang
kümmerte sich niemand um sie, nicht Vater, nicht Mutter, Waisen
waren sie in der großen Stadt bei lebendigen Eltern, niemand fragte,
ob sie einen Bissen in den Mund zu nehmen hätten, ob sie noch
anständig seien. Jetzt freilich, wenn man der Großmutter zuhöre,
habe sie sich den Kopf für sie ausgesorgt. »Meine süße Marie, was hast
du sterben müssen.« Sie könne solche Reden gar nicht anhören ...
Bestürzt blickte Arnold in den dunklen Abgrund, aus dem er selbst
emporgetaucht war, zu rätselhaftem Geschick. Er kannte ja diese
Familiengeschichte, aber nur unvollständig, nur aus dritter Hand. Nie
noch hatte er die Mutter so erzählen gehört, jetzt war er ergriffen,
und während der Zug an reizenden Wäldchen, heiteren Villen vorbeilief,
tappte er wie im Finstern nach ihrer Hand.

Auch die Mutter meinte: »Nun, das ist ja alles jetzt vorbei und
ich trag ihr's nicht nach. Kann sie denn dafür? Schließlich ist sie
ja doch nur die Mutter. -- Wenn man nur mit ihr auskommen könnt.
Neulich, vor zwei Monaten, wie ich dort war, bin ich doch auch im Bösen
fortgefahren ...«

»Warum denn?« Arnold bewunderte immer mehr die unendliche Güte
seiner Mama, die er ja kannte, die sich ihm aber noch nie in so
ausführlicher Entwicklung gezeigt hatte. Gegen die alte Frau dagegen,
seine Großmutter, verspürte er immer entschiedenere Abneigung, ja Haß.

»Sie ärgert sich halt vielleicht, daß wir sie nicht zu uns nehmen.
Aber geht das denn? Könnte das ein Mensch aushalten?... Und dann
spricht so vieles dagegen. Der Doktor meint, daß nur die Landluft
da draußen sie so lang gesund erhält; sie würde nicht einmal mehr
die lange Fahrt vertragen.« Sie schloß in einiger Verlegenheit.

Arnold verstand sie wohl, und um auf ein anderes Thema zu kommen, aber
nicht auffällig, erkundigte er sich, wovon denn die Frau da draußen
lebe.

Man schickte ihr Geld, doch erst seit heuer, bis dahin hatte sie
eigensinnig keins angenommen und sich selbständig ernährt, Gott
weiß, womit. Sie mache Geschäfte unter den Leuten, verborge Geld,
kaufe und verkaufe allerlei. Und das treibe sie auch jetzt noch,
unverdrossen, nur halte sie es nicht mehr so aus. Wahrscheinlich
beschwindelten sie ja auch die Leute, sie könne ja weder lesen, noch
schreiben, noch rechnen, für sich selbst stelle sie an der Stubentür
mit Kreide irgendwelche seltsame Zeichen zusammen. -- Überdies habe sie
Geld in der Sparkasse, fünf Büchel zu zweihundert Gulden, aber das
rühre sie um keinen Preis der Welt an, das sei ihr größter Stolz, daß
sie einmal jedem ihrer Enkerlen zweihundert Gulden hinterlassen würde,
was nach ihren Begriffen eine enorme Summe sei. »Besonders dir, Arnold,
du bist ja ihr Liebling.«

Arnold war, wie gestern Abend, nicht angenehm berührt. Er beichtete
der Mutter seine Erinnerung, den Streit mit der Großmutter vor Jahren.

»Aber das ist eine Kleinigkeit. Solche Sachen macht sie hundert im Tag.
Das hat sie längst vergessen. -- Jedenfalls bist du jetzt ihr Gott.
Und dein Papa, das ist der Obergott.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. O ja, er war ja die gute Partie. Marie und Poldi haben
arm geheiratet ... Nicht hören kann sie noch jetzt von ihren Familien.
Und wie sie schimpft.«

Die arme Mama schauerte zusammen. Doch angeregt durch die schöne
Landschaft draußen, den Tiergarten und das Schloß von Sichrov,
erinnerte sie sich an heitere Dinge ihrer Jugend, an die spärlichen
Lichtblicke -- einmal hatte sie an einer Dilettantenbühne mitgewirkt.
»Der Herr Registrator auf Reisen«, das war der Titel des Stückes.
O, sie könne noch die Rolle auswendig, das würde sie wohl nie
vergessen. Was für Mühen waren das aber gewesen, um die Großmutter
zur Zustimmung zu überreden. Das ganze Dorf mußte bitten kommen. Der
Lehrer selbst. Auf Lehrer habe die Großmutter überhaupt sehr viel
gegeben, und daß einmal einer, der selige Herr Schmidt, die kleine
Schülerin gerühmt, das vergesse sie niemals zu erzählen. Nun, er
werde ja diese Anekdote morgen selbst hören. -- Diese Wendung
brachte sie auf die nahe Zukunft zurück. Sie äußerte Besorgnisse. »Wie
werden wir sie antreffen.« Und Arnold, der besser unterrichtet war,
dachte im Stillen, ohne besondere Regung, nur um die Mutter besorgt,
man werde diesmal wohl gerade zum Begräbnis zurechtkommen.

Gleich nach der Ankunft, noch Abends, als man kaum das Gepäck im
Hotel untergebracht hatte, gingen sie zu Lichtneggers. Die Mutter eilte
so, voll Ängstlichkeit, und Arnold, der sie nur als friedliches und
ziemlich ausdrucksloses Gestirn durch geglättete Zimmer wandeln gesehn
hatte, wunderte sich, wie erregt sie hier und dort auftauchenden
Lauten des schlesischen Dialekts nachlauschte: »Ai der Bohne --
hörst du -- das heißt: an der Bahn -- ja, so spricht man bei uns,
ich kann's aber nicht mehr, ich versteh's nur.« Sie sprach von der
Heimat, den Örtlichkeiten, an denen sie vorbeigingen. Alles kannte sie
genau, auch die letzten Veränderungen, da sie mindestens alle
Vierteljahre einmal hierher zu Besuch kam. Sie erklärte Arnold, wer
diese Lichtnegger eigentlich seien, eine Maurerfamilie hier,
Jugendfreunde, Christen, nur aus Gefälligkeit hätten sie den schweren
Dienst übernommen, täglich bei der Großmutter nachzusehn und von Zeit
zu Zeit Nachricht von ihr zu geben. Und sie danke es ihnen schlecht, es
sei ein Malheur halt. So habe sie neulich in der Stadt herumerzählt,
Frau Lichtnegger komme nur deshalb zu ihr, weil Herr Beer ihr das
kleine Seifengeschäft eingerichtet habe. Eine vollständige Lüge,
solche Dinge setze sich die alte Frau ganz aus sich selbst zusammen.
Und diese Launen ... Nun, er solle nur bei Lichtneggers recht
freundlich sein, man könne ihnen gar nicht genug danken ... Und
Arnold fand ganz erstaunt, mit was für Dingen, die er noch gar nicht
kannte, er im Grunde zusammenhing. Nun gar mit einer Maurersfamilie.
Davor hatte er doch einen kleinen aristokratischen Abscheu und
fragte: warum Mama nicht lieber gleich zur Großmutter nachschauen
gehe. -- »Nein, ich muß mich zuerst erkundigen. Sie ist vielleicht
im Spital. Und das ist sehr weit von ihrer Wohnung und auf dem Berg,
hoch oben. Ja, hier geht das nicht wie in unserer Stadt, alles
hübsch gradaus, in Wintertal geht's bergauf, bergab.« Und als hätte
sie damit etwas sehr Lobendes gesagt, in großem Stolz zeigte sie die
Reihen winziger Lichter, die sich in der schwarzen Ferne hoch oben
zeigten, wie mit einer Nadelspitze in den Nachthimmel gestochen. Sie
standen in einer Richtung, in der man Sterne, nicht Häuser vermutet
hätte, auf hohen Bergen rings um den Kessel. Und auch die Straße,
die Mutter und Sohn jetzt durchschritten, war steil, an vielen Ecken
führten Stiegen zum Trottoir empor, um die Steigung auszugleichen,
der kalte Gebirgswind ergoß sich wie durch eine Röhre längs der
Häuserwände herab. Frau Beer lief immer erregter, und obwohl Arnold
ihre Liebe zu dieser alten bösen Frau unbegreiflich fand, sagte er
sich, daß er seiner Mutter zuliebe einen vergeblichen Weg bergauf
nicht gescheut hätte. Diese Halbheit, diese Mäßigung in der
Besorgtheit verstand er nicht.

Er konnte sich nicht überwinden und, vor dem Haus der Familie
Lichtnegger angelangt, bat er die Mutter, warten zu dürfen. Seine
goldenen Manschettenknöpfe raschelten, und irgend ein hoher adeliger
Offizier, mit dem er noch gestern angelegentlich sich unterhalten
hatte, trat ihm vor die Augen ... Die Mutter kam bald wieder: »Mir
scheint, diesmal ist es arg. Sie hustet und hat Schmerzen, hat auch
schon heute zweimal nach mir gefragt, warum ich noch immer nicht komme
und man soll nur noch einmal schreiben.« ... Arnold dachte: Also sie
lebt noch, wirklich unverwüstlich ... »Aber denk dir nur. Gestern
noch hat sie der Frau Lichtnegger, die sich so um sie bemüht und
sie pflegt, einen Skandal gemacht. Die hat geweint, die Ärmste, wie
sie mir's erzählt hat. Frau Lichtnegger, hat die Mutter gesagt, Sie
haben da eine schöne Schürze, genau so eine ist mir vor ein paar
Tagen gestohlen worden ... Was soll man da sagen?... Und dabei
würde sie doch elend zugrunde gehn, wenn sie die Frau nicht hätte,
kein Mensch wüßte was davon.« -- »Hast du ihnen den Schinken und das
andere gegeben?« -- »Sie wollten nichts nehmen, erst nach langen
Reden. Es sind so anständige gute Menschen.« -- Arnold bekam aufs
Neue Wut gegen die Alte: »Gehn wir jetzt noch hin?« Er wollte ihr
mal seine Meinung sagen. -- »Nein, sie schläft jetzt. Und das ist
recht, da soll man sie nicht stören. Frau Lichtnegger ist eben
dortgewesen ...«

Im eisigen Hotelbett erst überfielen ihn die eigenen Sorgen.
Unruhig träumend sah er den mißglückenden Flug, die ganze Stadt
hinausgelockt nach Waldbrunn, die Regierung, die Spitzen der
Vornehmheit, und alle murrend in einem einzigen tiefen Donnerlaut;
dann eine Photographie: sich selbst, das Aerodrom verlassend, in
großen Schritten mit gehobenen Schuhsohlen, und sein Gesicht mit
emporgehobener Handfläche vor dem Photographen schützend, wie er dies
bei Bildern von Prozeßberühmtheiten gesehn hatte --, in diesem
Schreck wurde er ein wenig wach, haderte mit sich wegen aller Dinge,
aber noch ganz besonders wegen seines phantastischen Rückhalts an
Lambert und der Sammlung -- jetzt war der Flug längst entschieden
-- ein ganz klarer Gedanke: morgen früh gleich die Zeitung lesen,
nicht vergessen -- er schlummerte wieder ein wenig, da trat Lina ins
Zimmer, sie hatte ein Kind geboren, nein, Zwillinge mit ebensolchen
Glotzaugen, wie sie sie hatte, große gesunde rote Kerle von Kindern,
so groß wie Gerhart, dieser dumme Bursch, auch ihm ziemlich ähnlich,
wenn man's recht nahm -- von neuem riß es Arnold empor, und die
einsamen kahlen Wände anstarrend, die sich schon im Morgengrauen
erhellten, überlegte er hastig, wozu er eigentlich nach Wintertal
gekommen sei, wieder so ein unsinniger Streich, denn hier sich
verbergen, bis zu Hause alle die Geschichten vergessen seien, das ginge
doch nicht -- aber vielleicht ins Gebirge fliehn -- er begann von
Lawinen zu träumen, die sich in Stöße blauen Briefpapiers verwandelten,
auf seine Baracke losstürmend; nun war das Hüttchen überschüttet, ein
paar Schnörkel einer Mädchenhandschrift stiegen aus dem Papier, tanzten
wie Rauch über den Trümmern, sie wollten sich zu Worten ordnen, ein
Wind aber trieb sie immer wieder auseinander, sie waren Schilfrohr,
nein, ein Fußball fuhr zwischen sie, ein roter, die Sonnenkugel ... Am
Morgen erwachte Arnold ganz gedemütigt und sanft; fast ohne zu reden,
folgte er der Mutter durch die sonnigen kühlen Straßen.

Sie bog hinter einem zweistöckigen Häuschen ein, das, in einer
Nebenstraße gelegen, noch ganz das Aussehn eines Großstadthauses
hatte, mit Fensterkrönungen, Quadern, Balkonen, nur etwas verkleinert.
Dahinter lief ein grasiger Fußpfad steil bergab, zwischen freien
und bewachsenen Erdhügeln, wie man sie auf Bauplätzen sieht. Eine
Ziege, an einen Baumstamm gebunden, weidete da. Links führte ein
Nebenweg zu einem verzäunten Garten, der auf einem Hügel lag,
neben ihm die stattliche Hütte. Eine unansehnlichere trat quer gegen
den Fußpfad vor, so daß sie ihn mit einer Spitze berührte. Zu dieser
bog die Mutter ein ... »Hier also?« fragte er beklommen. Er zitterte
ein wenig, in so etwas dörfisch Armem, Zusammengeducktem lebte
also etwas wie sein eigen Fleisch und Blut. »Warte ein bißchen« sagte
die Mutter »ich will sie doch vorbereiten.« Während sie vorausging,
betrachtete Arnold, fast mitfühlend, den dunklen niedrigen Holzbau, die
Wände aus Balken und Latten, in denen nur die kleinen Fensterchen,
weiß eingerahmt und mit Blumen, eine Farbe hatten, darüber dann das
große, mit schwarzer alter Pappe bezogene Dach, rußig und wie
zerfallen; wie eine faltige Haube, höher als das ganze übrige
Gebäude, drückte es mit unverhältnismäßiger Kraft herab und armselig
sah eben deshalb solch ein Bauwerk aus, dessen Hauptkraft in dem
unwohnlichen, sich verjüngenden Dache liegt. Und die kurze Treppe, die
zu einer Art Plattform vor der Türe heraufführte, o diese Plattform
aus großen rohen Steinen, mit einem ureinfachen Geländer -- wie
wenig bequem, wie ländlich das alles!... Die Mutter stand nun
wieder in der engen Türe, in ihrer Stadtjacke und im Hut seltsam
abstechend. Sie winkte. Arnold betrat die Treppe, durchschritt ein
von dunklem Gerät verstelltes modriges Vorhaus, durch das eine mächtige
Holzleiter, zum Boden vielleicht, emporführte; etwas Helles und
Dunkles, Undeutliches, verwirrte seine Augen, jetzt eine wie mit einem
Sofapolster verlegte Tür, an der ein Anklopfen unhörbar geblieben
wäre und die die Mutter vor ihm öffnete, während sie ihm nochmals
zuflüsterte: »Sei nur hübsch lustig ...«

Er trat ein, sich bückend.

Im Bett der Tür gegenüber, unterschied er ein winziges gelbes, von
Falten unendlich tief zerdrücktes Gesicht, das der Zimmerdecke
zugekehrt auf dem Kissen lag, wie im Schlaf oder Tode. Aber eine
leise deutliche Stimme sagte, während er zögernd sich näherte:
»Arnoldele, mei Gold, gesünd sollst de sein bis über hündert Jahr.
Soll dir Gott geben, was du werst brauchen, mei Gold ...« Er beugte
sich, um eine kleine Hand zu küssen, die warm war. Da sah er nebenan
seine Mutter das Taschentuch ziehn und schnell an die Augen pressen.
Und auch die Augen der Großmutter veränderten sich, diese beinahe
hundert Jahre alten Augen, sie weinte nicht, aber die Augen wurden
trübe wie graue Regentropfen, loschen ganz aus -- und dieser Anblick
rührte ihn so, daß er seine Kehle, den Hals noch tiefer unten sich
zusammenziehn fühlte ... Wie ein Gebet murmelte die Großmutter leise
fort, aber durchaus nicht erregt: »Groß bist de geworden, unberufen,
e Gewure von e Menschen, Gott soll ...« Er verstand einige Worte
nicht und sagte nun selbst: »Küß die Hand, Großmutter, no du siehst ja
gut aus, es fehlt dir also nichts, nichtwahr ...« Sie flüsterte
weiter, wie in sich hinein, mehrmals wiederholte sie mit einem ganz
schwach singenden, einschmeichelnden Ton: »Was tu ich dir nur für
e Kowed an, Arnoldele?...«

Die Mutter soufflierte ihm die Übersetzung: »Kowed -- Ehre --«, und
während er sich an sie wandte: »Ich weiß ja«, steckte sie ihm die Düte
mit Brustzelteln in die Hand.

»Ich bin froh, daß ich bei dir bin« sagte Arnold laut und seine
reine Aussprache erschien ihm gegenüber dem stets modulierten,
undeutlichen Herzensmurmeln der Greisin hart und geziert: »Schau, was
ich dir mitgebracht hab. Ich hab gehört, daß du das gern hast ...«
Er wollte sagen: »magst«, doch erschien es ihm plötzlich notwendig,
die einfachsten Worte zu gebrauchen.

»Ich hob immer gewüßt, daß du e braves Kind bist ...« Auf mehrere
deutliche Worte folgten immer ein paar unverständliche. Dann, an die
Mama gewendet, erhob sie ein wenig den Kopf: »Ich sog dir, Regie, von
dem Kind wirst de ka Herzlad haben und immer Freiden sollst de erleben.
Er hat Herz und Gemüt.«

Arnold reichte ihr die Düte.

»Nimm dir, du wirst doch jetzt etwas essen, von deinem Enkerl« sagte
die Mutter, die Gelegenheit benützend, und zu Arnold leise: »Sie hat
zwei Tage lang nichts zu sich genommen.«

»Ich hab ka Appetit.«

»No eine Kleinigkeit« schmeichelte er »wenn ich dich schön drum bitt.«

Sie kam mit ihrer Hand der seinen, die das Bonbon reichte, schwach
entgegen und steckte es in den Mund. Resigniert schloß sie die Augen,
wie eben ein Wohlerfahrener, der dem minder Erfahrenen zum Spaß einmal
nachgibt. Darauf fiel ihre Hand langsam wieder auf die Decke zurück:
»E Mensch soll nix essen, wo er ka Appetit hat ... für e kranken
Menschen is das nix ...« Sie seufzte auf. »Nur herümgehn wenn ich
könnt ...«

»Es wird schon wieder werden« tröstete die Mutter. »Nur Geduld. Eine
gute Patientin, was? Noch ein bißchen Fieber?« Sie tastete ihr auf die
Stirn. »Nicht so arg.«

»Das verfluchte Fieber, ja ja ...« Die Kranke keuchte wieder und
hustete ein wenig, wobei es den Anschein hatte, als übertreibe sie, aus
Zorn, nicht völlig gesund zu sein oder als spiele sie die Wehleidige,
wie ein Kind, um sich interessant zu machen. Dieses regelmäßige
Keuchen erweckte jedenfalls keine Besorgnis. »Wie ich voriges Jahr
operiert bin worden, hab ich gar ka Fieber gehabt, und jetzt diese
Geseres. Alle Kränk auf krumm Gitel ...«

»Das ist die Medizin, nichtwahr.« Die Mutter kramte am Fensterbrett
»wo ist aber das Löfferl?«

»Ich hab ka Löfferl -- ich trink mir e bissel aus dem Fläschel.«

»Aber da kannst du doch nie wissen, wie viel.«

»Mei Deige! Bis ich halt genug hab.«

Die Mutter kramte weiter: »Und das Thermometer, zerbrochen!«

»Mit dem Stückele Glas wird er mich gesünd machen, soll er so leben.«
Die Großmutter, die immer erregter gesprochen hatte, faltete bei
diesen Worten die Stirne mit einer Energie, die Arnolds Herz wie ein
Glockenton ganz erfüllte. Wie magisch angezogen legte nun auch er die
Hand auf ihre Stirn, drängte die Hand der Mutter zart weg ... Da war
Wärme wie unter einer dünnen Schichte, und dieselben wohlgerundeten
Knollen über den Augen, die er auch an sich wußte ... Ein Gefühl
unbeschreiblichen Behagens erfüllte ihn, vielleicht verstärkt durch
das stete Pochen der Adern an seiner Hand, durch die Fieberwärme oder
die Ahnung, daß er hier etwas wie ärztliche Hilfe leiste, ganz
entfernt etwas Liebendes, Sachverständiges. »Hitze, ein bißchen
Hitze« nickte er wie im Traum. Die Großmutter schloß die Augen
wieder. »Was hat der Doktor gesagt?...«

Die Mutter hatte sich indessen im Zimmer weiter umgeschaut: »Was
für eine Wirtschaft, Gott im Himmel ... Mutter, ein bißl Kaffee,
nicht?« und näherte sich mit einer Tasse, die sie vom Ofen nahm,
schmeichlerisch: »Koffi, nicht?«

Die Großmutter nahm eben das nur ein wenig verkleinerte, jetzt
glänzende Bonbon aus dem Mund, und legte es aufs Federbett. Ein
Schleimfaden zog sich daran. »Geh loß mich, wenn ich dir schon emol
gesagt hab« und ihre Augen bekamen plötzlich zwei glänzende scharfe
Punkte wie Dolchspitzen. Dann wandte sie sich an Arnold, der noch
immer, die Hand an ihrer Stirn, dastand: »Nü, setz dich henidder,
mei Kind, was tu ich dir nur für e Kowed an.« Er zog den groben
Stuhl aus weißem Holz ans Bett.

»Brauchst dich nicht zu kümmern, Mutter, wir haben uns schon alles
selbst mitgebracht.« Die Mutter entfaltete aus Papieren kleine
Würstchen. »Ich muß nur Feuer machen. Hab nur keine Angst, wir
sorgen schon für uns.«

Arnold wiederholte, halb zur Mutter gekehrt: »Wann kommt der Doktor,«
da er darauf noch keine Antwort hatte. -- »Um zwei Uhr, hat Frau
Lichtnegger versprochen.« -- Und nun beugte er sich, beruhigt,
zärtlich, zu der alten Frau nieder, scherzhaft: »Nun also, was gibt es
denn? Schöne Geschichten! Krank sein, das würde dir so passen,
nichtwahr ...«

»Ich kann nimmer gehn« jammerte sie schwach. »Ich hab mr ja gewünscht,
ich könnt zwa Täge vor mei Tod hausieren gehn. Aber jetzt dos daliggen
... Ich kömm scho gar nicht mehr vom Fleck. Wenn ich üm zehn weggeh,
bin ich umme zwölf dort, wo ich hab hingewellt ...«

»No es wird schon wieder besser werden. Natürlich es kann nicht immer
so sein wie neulich. Da hast du uns geschrieben, die Mama soll nur
schnell kommen. Und wie sie gekommen ist, war das Zimmer zugesperrt
und du bist erst Mittag gesund von irgend einem weiten Weg nach Haus
spaziert ...«

»Sei haben geschrieben« sagte die Alte still. »Ich hab ihnen nix
gesagt.«

Die Mutter, die beim Ofen kniete, machte ihm ein Zeichen. Er erinnerte
sich, daß sie ihn schon unterwegs auf diese Eigenheit aufmerksam
gemacht hatte, und schwieg ...

»Sei haben geschrieben« wiederholte die Großmutter »Aber jetzt geh i
nimmer aus ... Jetzt bin ich echtfärbig.«

»Echtfärbig?« Er hatte vielleicht falsch gehört.

Ein ganz schwaches Lächeln suchte die Falten zu durchbrechen: »No ja,
weil's nicht ausgeht ...«

Er lachte auf und lachte dann noch einmal, um ihr eine Freude zu
machen. Wie dieser Funke von Geist ihm entgegenleuchtete, er begriff
es kaum. Aber sie sah schon wieder ruhig vor sich hin. Nur ihre Wangen
röteten sich, war es Fieber oder schon Erholung? Jedenfalls keine
Spur eines erregten Wiedersehns, nein, erregt war sie nicht, während
er sich immer noch nicht fassen konnte, und diese ihre Ruhe, vereint
mit ihrer Frische, machte den Eindruck verhaltener Kraft und einer
Weisheit, die schon jenseits der menschlichen Zeit stand.

»Ich sog immer, sei sollen nicht schreiben. Haben sei enk leicht wieder
geschrieben, diesmal, die Ludern. Was sie nur wollen ...«

»Nein, wir sind von selbst gekommen, Großmutter. Oder bist du
vielleicht nicht froh, daß wir da sind, no schau ...«

Sie antwortete nicht, vielleicht weil die Antwort selbstverständlich
war. Doch hatte er manchmal die Empfindung, daß sie ihn nicht verstehe
oder er sie nicht. Auch ihre Müdigkeit schien da mitzuspielen, die
Krankheit, wie eine Wand fühlte er das manchen Moment lang. Hatte er
doch, beispielsweise, einen Vorwurf gefürchtet, daß er noch nie zu
ihr zu Besuch gekommen war. Doch in diesen Bahnen bewegte sich ihr
Denken eben nicht. Er staunte; aber das Bewußtsein einer Verständigung
war ihm so süß, wenn es ihm wieder kam, daß er alles andere übersah,
so wie man etwa bei kleinen Kindern nur ihre Zeichen von Vernunft
bemerkt und daher alle für gescheit hält. »Schau an« meinte sie
plötzlich und ihm schwoll das Herz »dei Mutter, wie se den Hut nicht
auszieht bei mir ... no er paßt ihr auch gut, was nur wahr is.«

»Wenn ich Dir nur gefall« erwiderte die Mutter, und Arnold fand ihren
überlegenen Ton nicht ganz berechtigt. Sie nahm übrigens den Hut ab.

»Schöne Frisur.« Ganz schwach kamen die Bemerkungen und doch mit der
intelligentesten Deutlichkeit, die aus diesem verfallenen Gesicht
erstaunlich tönte wie eine Prophezeiung.

»Gott sei Dank, ich gefall Dir heut ...« Auch etwas Eigensinniges lag
in diesem Ton, wie wenn ein halbwüchsiges Mäderl gegen ihre Eltern die
Erfahrene machen wollte.

»Aber dick biste geworden, eppes dick, Regieleben.«

»Paß nur auf, gleich wird ihr etwas nicht recht sein«, wandte sich die
Mutter an Arnold, doch mit lauter Stimme.

»Die Dicke taugt nischt. Das ist ungesund ... Ich war ach emol so
dick, haben do die Kinderl e Freid gehabt, daß ich dick bin. So die
Ärme haben sie mr gedrückt. Aber es war nix gut ... Und e dörre
Nachbarin haben wir gehabt, die hat gesogt damals: Mei Mo tut mich
auslachen, weil ich so dörr bin. Ich will Dich mit e Zündholz anzünden,
sogt er. Da könnten Sie mir eppes abgeben, Frau Goldberger, hat sie
gesogt, Na ja, wenns geht, so nehmen Se sich nur e Stückele, hab ich
gesogt. Do wär uns beiden recht ...« Die Großmutter wurde zusehends
munter. Sie plauderte mit sichtlicher Lust. Arnold, der immer nur
einige Worte verstand, labte sich an ihrem Feuer, den ausdrucksvollen
Biegungen der Stimme, die jetzt, ohne stärker geworden zu sein,
ohne sich geändert zu haben, wie ihm schien, etwas Metallisches, Helles
wie bei guten Schauspielern hatte und etwas so Jugendliches, wenn sie
Freundliches schildern wollte. Diese Stimme mochte aus dem Halse
kommen, obenhin, nicht aus den Tiefen der Brust, und dennoch klang
sie stark, mannigfaltig, mühelos, sie war süß.

»Es brennt schon« rief die Mutter vom Ofen her. »Das ist halt Dein
Kuksöwile, was, Mutter.« Sie wollte der Großmutter einen Gefallen
machen, indem sie ihren Ausdruck gebrauchte. Die Großmutter merkte
es aber gar nicht, sondern meinte nur ganz ernst: »Ja das is mei
Kuksöwile, e guts Öwile.« -- »Da brauchst Du Dich wenigstens mit
keinem Dienstmädchen abzuärgern.«

»Willst Du Dich nicht auch hersetzen, Mama?«

»Loß se gehn« sagte die Großmutter, mit einem vertraulichen klugen
Zwinkern zu ihm »sei is doch glücklich mit ihrem Gegeh und
Geschwindel und Geputz. Das hat se von der Tante Lise noch. Die hat
auch allemal geputzt und geramt. Wenn man is zu der gekommen, hat alles
geblinkt und gefinkelt und der Fußboden war genau eso rein wie das
Tischtüchele. Meschugge, metorf. Hat ihr emol der alte Schlojme
gesagt, aus Petschau der, kannst Dich erinnern, Regie, -- sei soll
emol die Zimmerdeck ach abwaschen, aber da is ihr das Wasser über
den Kopf geschütt ...« Arnold verlor den Faden von hier an, doch
glücklich, als sehe er sein eigenes Anekdoten- und Unterhaltungswesen
leibhaftig vor sich, blickte er ihr ins Gesicht, aus dem das Kinn
scharf hervortrat. Dieses Kinn war mit vielen großen Poren besetzt,
wie durchlöchert, als hätten die Falten auf dem Kinn die Gestalt von
Löchern angenommen, diese Falten, die auf der Stirn in gleichmäßigen
Krümmungen hinzogen und über die Wangen hin nach allen Richtungen wie
ein Netz lagen, das sich um die Mundwinkel herum undurchdringlich
zusammenschnürte. Hier drängten die Linien so dicht an einander, daß
die schwächeren von den tieferen durchschnitten oder als Hügel an
die Oberfläche gedrängt wurden, und diese tieferen schienen gar
keine Hügel mehr, sondern Einschnitte ins Fleisch, unbeweglich. Die
Nase dagegen hob sich ziemlich glatt und schön gebogen aus dem
Wirrwarr. Mit unendlicher Wehmut betrachtete Arnold diesen
beredten Mund, der keine Zähne mehr hatte; seine Lippen bildeten
dafür zackige Erhöhungen und Ausbuchtungen, die sich an einander
schlossen und wieder auseinander zogen, je nachdem der Mund sich schloß
oder öffnete. Die Augen blitzten. Das Schönste jedoch war das
schneeweiße Haar, reich und ohne jede Beimischung von Gelb an der Stirn
beginnend, übrigens vom Liegen jetzt ein wenig zerrauft ... Arnold
begann es leise zu streicheln; eine Ruhe, noch nie empfunden, eine
gänzliche Sorglosigkeit beschlich ihn dabei, wie am Ende aller Dinge,
er hörte nicht mehr genau zu und doch war ihm, als verstehe er
alles, sein Ohr füllte sich mit verworrenen Tönen, mit Erzählungen
ohne Ende, deren Zusammenhang ihm fragwürdig war, deren Ausgang in
nichts verlief, ohne Pointe, die aber so lebhaft klangen und auch
offenbar der Erzählerin die Erinnerung an so lebhafte Dinge
nahebrachten, daß ein jugendliches warmes Licht durch das ganze
Zimmer aufzustrahlen schien. Plötzlich unterbrach ein stärkerer Husten
und die Großmutter drehte sich der Wand zu ...

»Was ist?« rief die Mutter und kam herbei.

Die Großmutter klagte, mit heftigen Zuckungen des Gesichts, über
Schmerzen. Der Husten reize ihr altes Leiden wieder. Arnold, der
wußte, daß sie einen neulich operierten Bruch habe -- auch schmutzige
Bandagen, unter dem Kopfpolster zusammengerollt, erinnerten ihn
daran -- wandte sich ab, seinen Sitz der Mutter überlassend. Während
die beiden Frauen mit einander flüsterten, ging er durch das Zimmer. Es
war so schmal und klein, daß das Bett beinahe ein Viertel des
Raumes wegnahm. Gleich an die Türe stieß ein Küchenofen, dessen Platte,
mit einem Gewirr von Schüsseln und Töpfchen, dennoch nie benützt zu
werden schien, denn auch alte Papiere, Kleider wälzten sich über sie
und dicht daneben hing an einer Schnur ein Bündel neuer Schürzen,
das Warenlager vielleicht. Über ihn weg ging überdies zu dem
wirklich benützten, kleinen, so beliebten Eisenöfchen, das auch jetzt
brannte, ein schwarzes Rohr, das in zwei herabhängenden wackligen
Drahtschlingen wie etwas Schlafendes schwebte. Und schlafend lagen
auch, in angemessener Entfernung dem Ofen gegenüber, mehrere Koffer
und Kisten auf der Erde, alle in Eisenreifen mit Schlössern, aber alt
und verfallen. Seltsam genug machte sich neben ihnen die Pracht eines
ganz neuen Kanapees, das zwischen sich und dem Bett nur einen ganz
schmalen Durchgang ließ, so breit war es mit seinem roten Leder,
den gepolsterten Armlehnen, den zum Schmuck tief eingenähten
Knöpfen. Es paßte gar nicht herein und, als werde dies auch gefühlt,
stand es mit der Rücklehne nicht ganz an der Wand, sondern
fremdartig suchte es nach Stützpunkten ... Arnold erinnerte sich denn
auch, daß die Mutter es erst neulich angeschafft hatte, damit die
Großmutter zu Mittag darauf ausruhn könne, zum großen Ärger der
Sparsamen übrigens, die alle Geldausgaben verabscheute ... Nur noch
ein Möbelstück außer dem Kanapee gab es in dem kahlen und doch
überfüllten Zimmer: ein mageres Glaskästchen, wieder mit Geschirr
gefüllt; obenauf lagen viele Brillen (Arnold nahm sich vor zu fragen,
warum so viele, vergaß es aber) und Gebetbücher (Also konnte sie doch
lesen. Oder nur hebräisch?). Die Kleider dagegen hingen nicht in
Kästen, sondern frei an der Wand, nur von einem schmutzigen weißen
Tuch, das oben mit zwei Nägeln befestigt war, verhüllt. Das war das
Armseligste, diese nackten graugestrichenen Wände, mit zwei winzigen
quadratischen Fensterchen nur, deren Bretter wieder allerlei
Porzellanzeug füllte -- und die niedrige Decke, nicht glatt, sondern
mit offenem Gebälk, mit Spinnweben und Gott weiß was noch -- und alle
Gegenstände hier nicht etwa Mann für Mann und sauber hingestellt,
sondern durcheinandergeworfen, wie in Schwächeanfällen, mit einander
verbunden durch hingestreute Haufen von Gerümpel, durch Fliegen mit
ihrem unerträglichen Gesumm und Niedersitzen und wieder Kreisen, durch
zerbrochenes Holz, Fetzen, Abfälle, noch hinter dem Bett lugte ein
ganzer Sack mit abgetragener Wäsche hervor. Und dieses Bett, ganz eng,
schwachfüßig, die Federbettdecke grau statt weiß, mit großen
eingesetzten Flecken von andern Leinwandsorten, betropft mit rötlichen
Spuren ... Wenn Arnold an seine Wohnung zu Hause dachte, mit ihren
aufgeputzten hübschen großen Stuben, Palasträumlichkeiten förmlich,
erschrak er. Und wie mochte es im Winter hier aussehn, im Schnee. Oder
die langen einsamen Nächte einer Kranken ... Und kein Mittel, dem
abzuhelfen, denn die alte Frau duldete aus Mißtrauen (alle Leute
bestahlen sie, in dieser Einrichtung!) keine Bedienung, holte sich
lieber selbst das Wasser und wusch sogar noch den Fußboden allein auf
... In sein Graun mischte sich Bewunderung für diesen heißen
eigensinnigen Kopf, und Liebe, Mitleid. Wie fremd und wie vertraut dies
alles. Was mochte sie machen, während er die elektrische Lampe an
seinem schönen Schreibtisch spielen ließ oder wenn er im Ruderboot
saß, mit Millionärssöhnen, in demselben Moment, was tat da die
Großmutter? Gab es gar keine Fäden? War es seine Schuld? Irgend
jemandes Schuld?... O er hing doch mit dieser Bettlerin zusammen
und war stolzer darauf als auf seinen Umgang mit allen Bürgern der
Stadt. Wie kam das alles? So wahr und so sagenhaft. Er hätte weinen
mögen, in seinem Herzen zitterte und klang eine ganze Harfe von
Zärtlichkeiten und Kosenamen. Namentlich aber dem Prunkkanapee näherte
er sich mit jenem tief schweigsamen Blick, der manchmal in einem
einzigen Gegenstand das Symbol ganzer Schicksale erkennt.

»Setz dich nur hernidder« seufzte die Großmutter vom Bett her »auf
dei Kanapee. Das ist doch enkerer Kanapee, das gehört enk und ich
will's nicht. Setz dich nur auf dei Kanapee. Wenn ich nicht mehr bin,
so nehmts enk nur wieder, den Dingerich do.«

Er setzte sich wieder auf den Küchensessel, während die Mutter an ihre
Arbeit zurücklief: »Aber was redest du denn? Davon redet man nicht.
Was fällt dir ein.«

Sie murmelte etwas.

»Ich sitz lieber so bei dir, recht nahe, Großmutter. Das ist mir
lieber.« Obwohl er alles, was er sagte, herzlich fühlte, ja herzlicher,
als er es aussprach, kam ihm doch vor, als rede er nur, um ihr das
Stichwort zu geben.

Sie wandte ihm denn auch das Gesicht zu, in dem wieder der Zug von
Schmerz, eigentlich mehr von Ungeduld, sich zeigte: »Ich möcht scho
gern unten sei, unter der Erd. Oben war ich halt scho genüg, es freut
mich nimmer, ich hob genüg gehabt, glaub mir. E Sof möcht ich machen.«
Plötzlich aber erhob sie sich aus dem Klageton und ein wenig stärker,
für die Mutter berechnet, begann sie zu schelten: »Awere, mit den
Würstlach wärech scho lang fertig. Das is e Kocherei.«

»Ich bin ja auch schon fertig« antwortete die Mama, sichtlich stolz
darauf, daß sie ihren Humor nicht verlor »deine Kocherei natürlich,
da hast du's leicht. Immer Koffi und Koffi noch und wieder.« Wie ein
Dolmetsch wandte sie sich an Arnold: »Die Mutter trinkt nichts als
Kaffee, das ist ihr Liebstes ...« und leiser »Gut, daß sie uns heut
keinen kochen kann. Mich ekelt's, aus dem Zeug da zu trinken.«

Arnold, der die Reden seiner Mutter überflüssig fand und diesen Ton
eigentlich weniger verstand als den der Großmutter -- offenbar lagen
da Verhältnisse zu Grunde, die er nicht kannte, noch aus alten Zeiten
her -- sagte ihr leise scherzend ins Ohr, wie ein Verbündeter: »Daraus
machen wir uns nichts, was?«

Die Alte drehte ihr Händchen, das auf dem Federbett lag, um, mit der
Handfläche nach oben und dann wieder zurück -- eine stumme Verachtung
oder Hoffnungslosigkeit.

»Was macht denn Deine Maus, Mutter, tanzt sie Dir immer noch
zwischen den Kochtöpfen« spottete die Mama weiter, offenbar um zu
belustigen. »Da ist ja die Falle ...« Sie zog aus einem der für
Arnold unergründlichen Haufen ein Gitterwerk: »Leer ...«

»Das Mäusile« lächelte die Großmutter, fast gutmütig. »Was macht denn
mei Mäusile. Do hab ich 'r Speck 'reigetue und sie frißt en weg und
läuft heraus. Is sie nicht drin?... Hast e Chutzpe gehabt.«

»Auf Dich wird sie warten, wenn Du ihr so altes Zeug hinstellst. Aber
ich hab Dir doch unlängst eine ganz neue gekauft, wo ist sie denn?«
Sie stieß Arnold leise an, aber doch so, daß die Großmutter es hören
mußte: »Sie wird sie verkauft haben ...«

»Der Maurer hat mir geraten« schwenkte diese mit natürlicher
Überlegenheit ab »ich soll ihr Glas vor das Loch streuen. Also hab
ich Glas gesammelt und ihr gestrien, do stechen se sich herch.«
Sie ächzte. »Wenn ich nur wieder gesünd wär und aufstehn könnt.
Das is ka Naches, so zu liegen. Nur gesünd sein, wenn mir Gott
gibt.« --

Es klopfte.

Herein trat Frau Lichtnegger, eine große hellblonde Frau im Kopftuch,
mit ihrem Buben, der schnell beim Eintritt den Finger in den Mund
steckte. Sie wollte sich, wie täglich, nach dem Befinden der Frau
Goldberg erkundigen; vorsichtig und bescheiden kam sie näher, stieß
aber plötzlich einen Freudenschrei aus: »Nein, das ist ja unmöglich.
Wenn Sie sie gestern gesehn hätten, Frau Beer. Das ist ja gar kein
Vergleich. No geh's nicht besser, Frau Goldbergen ... Sie hat halt
Freude, daß Sie da sind ... Und das ist der Herr Sohn, nichtwahr.«
Arnold verbeugte sich befangen. Die Großmutter sprach zu ihr wie zu
etwas Fremdem, nicht ganz auf gleicher Stufe Stehendem: »Nehmen Sie
doch Platz, liebe Frau ...« und redete überhaupt so still und
sanft mit ihr, daß man sich ein Zanken von diesem Ton aus gar nicht
recht vorstellen konnte »wie geht's denn?« Und zum Buben: »No, mei
kleins Schekitzele.« Auf die wiederholte Frage der Frau Lichtnegger,
wie sie sich heute fühle, antwortete sie mit einem traurigen, sehr
absichtlich scheinenden Kopfschütteln. »Kein Vergleich mit gestern«
flüsterte die Maurersfrau der Mutter zu.

Die Mutter brachte eben die warmen Würstchen vom Herd, lud auch die
Gäste ein. Man aß von einem ausgebreiteten Papier weg ... »Nun, Mutter,
was wirst du essen?«

»Ich hab ka Appetit.«

»Ein bißchen Himbeersaft mit Kuchen.«

»Ich hab ka Appetit.«

»Aber du mußt doch etwas essen, -- eine Grieskasch?«

»Vielleicht eine Omelette« mischte sich Frau Lichtnegger ein und die
zwei Frauen bedrängten mit wohlgemeintem Eifer die Greisin, so daß
Arnold sie bemitleidete, doch zugleich, da sie fest blieb, anstaunte.
Sie hatte nun einmal keinen Hunger, als Fieberkranke. Er sagte es laut.

Die Mutter war bös: »Hat man dich gefragt?«

»Eppes hat mir heint geträumt« sagte die Großmutter, an so
unvermittelte Übergänge mußte man sich hier gewöhnen »Sie können
auch zuhören, Frau Lichtneggern, von dei seligen Lehrer Schmidt,
nebbich, daß er mir hat erzählt, wie damals, von dir, Regie ...«

»Das ist es« machte ihn die Mutter lachend aufmerksam.

»Er hat gerechnet auf der großen Tafel und gesagt, keiner soll jetzt
reden von die Schüler. Da is die kleine Goldberg aufgestanden: Derf
ich nicht aber doch etwas sagen? -- Aber was willst du denn sagen,
Kind? -- Ich möcht Ihnen was ins Ohr sagen, Herr Lehrer -- Aber
jetzt sagt man nichts -- Derf ich aber nicht doch e kleins bißl
was sagen?... und sagt ihm, die Regie, daß irgendwo e Fehler is, auf
der Tafel. Also hast du ihm einen Fehler ausgebessert, dem Herrn
Lehrer Schmidt, und warst doch die jüngste in der Klasse. Er hat
sich aber dann auch gewundert: Mir hat se selbst e Fehler gezeigt,
so e Tam von e Kind -- derf ich aber nicht doch e kleins bißl was
sagen, so hat er dir nachgemacht ... Und hat es dem hochwürdigen
Herrn selber erzählt, wie sie do zusammsitzen auf die Bierbänk, und
der hochwürdige Herr hats dann mir erzählt.«

Die Mutter hatte nicht zugehört und erkundigte sich, während Arnold
der Großmutter die Hand drückte, bei Frau Lichtnegger, was denn der
Doktor gestern gesagt habe ... Er war eine halbe Stunde geblieben,
so gut habe er sich mit dem Mutterl unterhalten. Was sie denn für
Schätze in all den Kisten hat, habe er gefragt ... »Ja, das mußt du
dir anschaun« sagte die Mutter zu Arnold, wie in einem Museum, indem
sie unter dem Kopfpolster einen Schlüsselbund hervorzog. »Acht
Schlüssel und nur drei ganze Schlösser im ganzen Zimmer« sie zeigte
auf die Kisten »und was ist drin: ein bißchen stinkige Kohle --
und das glaubst du, Mutter, daß dir irgendjemand wegtragen wird --
und dabei kannst du die Kisten nur so aufheben, daß dir der Deckel
in der Hand bleibt, so alt sind sie -- aber wenn sie nur hübsch
zugesperrt sind ...«

Arnold, nun wirklich neugierig, glaubte die Gelegenheit gekommen,
in einem Einzelfall zu sehn, wie es mit diesem Wahn stehe, und
fragte ganz harmlos die Großmutter: »Wozu hast du denn die hübschen
Schlüssel?«

Sie hatte, es schien ihre Gewohnheit, nicht gehört oder beachtet, was
über sie gesprochen wurde, und zählte nun langsam, aber präzis auf:
»Der is für die Almer, der für das Fach in enkerem Kanapee ...« bis
alle acht richtig herum waren. »Nun also« warf er den Kopf gegen die
Mutter auf »Was redest du also? Nichtwahr, Großmama ...«

Indessen fuhr Frau Lichtnegger fort, zu erzählen, wie beschäftigt
dieser Arzt sei, Herr Heiger, er mache nirgends hier Besuche, nur
der alten Frau Goldberg zu Liebe ...

»Er kommt ja bald ... Wir müssen, ich muß aufräumen, das ist ein
Skandal« fuhr die Mutter verzweifelt in die Höhe, sie hatte jetzt
schon zu lange geplauscht »die Betten überziehn ...«

Leise erwiderte die Großmutter, obwohl man sie diesmal nicht direkt
angeredet hatte: »Mei Deige is der Doktor. Er wird zu Haus auch nicht
alles so akrat haben.« -- Trotzdem stimmte sie, ganz wonniglich
sanft, zu, als die Frauen ihr nahelegten, sich zu kämmen. Nur allein
wollte sie es machen. Sie setzte sich im Bett auf, man rückte ihr als
Stütze die Kissen an den Rücken. Vom nahen Fensterbrett nahm sie
den gelben, fast zahnlosen Kamm und fuhr sich heftig, ihre Hand
zitterte nicht, ins Haar. Es war noch voll und ziemlich lang und
ordnete sich schnell. Dann teilte sie es in zwei Teile und flocht
aus jedem einen Zopf, dessen letzte, ganz enge Maschen sie offen ließ,
so daß sie sich wie kleine Fingerchen emporkrümmten. Arnold wußte
nicht, was ihn bewegte, beim Anblick dieser zarten Flechten, deren
äußerste Enden nun doch einen gelblichen Schimmer zeigten ...
Mühevoll legte nun die Großmutter ihre schwarze dicke Winterjacke ab,
die sie bisher angehabt hatte, alle drei mußten sie halten, an dem
gebrechlichen krummen Rücken, unter den weichen Schultern, und endlich
die vielfach Seufzende wieder hinlegen. Indessen erging sich Frau
Lichtnegger in Beschreibungen von Großmutters Krankheitszuständen, als
sei sie gar nicht anwesend. »Wenn nur der Schüttel nicht wiederkommt.«
Damit meinte sie den Schüttelfrost. »Gestern hat sie wieder so
einen Schüttel gehabt« und die immerwährende, selbstverständliche
Wiederholung dieses Wortes dünkte Arnold sehr einfältig, keines der
komischen Worte, die er heute von der Großmutter gehört, zum
erstenmal in seinem Leben, hatte diesen kindischen unernsten Eindruck
auf ihn gemacht. -- Frau Lichtnegger fuhr fort: No Mutterle, habe
der Doktor gesagt, ich seh, Sie sind eine saubere Frau, -- als ihm die
Großmutter erzählt hatte, zur Entschuldigung, sie habe sich heute
nicht waschen können ... Und wieviel er zu tun habe, noch einmal. »Bis
zehn Uhr nachts, von früh sieben. So beliebt ist er. Wenn er nicht
bald von hier wegzieht, so vergeht er.« -- Plötzlich legte sie den
Finger an den Mund und hielt ein. Die Großmutter atmete langsam, sie
war eingeschlafen. Leise schloß sie: »Das tut sie gern, wenn man
vor ihr spricht. Das tut ihr wohl.« -- Und die beiden Frauen
berieten, eine Suppe mußte für die Kranke gekocht werden, eine
kräftige Fleischsuppe. Arnold, der erst jetzt den Sessel am Bett
verließ, trat auf Fußspitzen zu ihnen. Ob sie nicht lieber zum
Doktor sehn wollten, daß er recht bald komme. Er werde schon kommen,
war die Antwort, und der Husten sei ja nur heilsam, weil er den
Schleim entferne, und nun dieser gute Schlaf, -- es sei nicht mehr so
gefährlich. Frau Beer beschloß, ein gutes Stück Rindfleisch kaufen zu
gehn. Frau Lichtnegger wollte ihr einen billigen guten Laden zeigen.
Sie winkte dem Jungen, der lautlos in der Ecke gesessen war.
Arnold reichte ihm ein paar Zuckerl. Der Bursch nahm sie verlegen und
wollte ihm, ohne Worte, seine bunte Holzflöte dafür schenken, die er
fest in der Hand hielt. Arnold schob ihn lächelnd hinaus.

Nun allein mit der Schlafenden schlich er wieder zum Sessel zurück,
wagte aber nicht, sich zu setzen ... Sie war schön. Das Alter
hatte nichts Entstellendes, Unregelmäßiges in ihre verschrumpfenden
Züge bringen können. Man sah förmlich noch durch die Runzeln hindurch,
wie durch viele matte Glasschichten, unten das schöne junge
lebensfrische Mädchen -- und Arnold dachte daran, was ihm die
Mutter manchmal erzählt hatte: daß die Großmutter viele Verehrer
gehabt, aber aus Trotz, vielmehr Gleichgiltigkeit alle abgewiesen habe,
von Jugend an nur auf Gelderwerb bedacht, endlich hatte sie den
reichsten genommen, der aber um zehn Jahre jünger war als sie, den
Großvater, und mit ihm so unglücklich gelebt ... Was lag an all
dem, dachte er. Nach so viel Kampf, nach so viel Leidenschaften,
jetzt lag sie ruhig und schlief nicht anders, als sie in ihrer Jugend
vor all den wilden Erlebnissen geschlafen haben mochte, und wie er
sie ansah, die Unberührte, überfiel ihn auf einmal der Gedanke, wie
leicht eigentlich das Leben sei und wie es so von selbst und allen
Anfechtungen zum Trotz bis ans Ende fortschreite, ganz einerlei, was
man treibe. Nichts ist da, als daß die Zeit vergeht, mehr kann ja
überhaupt nicht geschehn!... Und von hier aus gesehn, schien ihm nun
auch plötzlich die so verwirrte und trostlose Situation, in der er
sich augenblicklich befand, gar nicht mehr so wichtig und so trostlos
-- er nannte sich feig, weil er den kleinen Unannehmlichkeiten durch
diese Reise, diese Flucht besser gesagt, ausgewichen war, das war es --
beim Anblick dieser arbeitsamen wilden Greisin bekam er aufs Neue
Lust, sich ins Leben zu stürzen, aus dem er mit vorschneller
Erfahrung schon hatte entweichen wollen; bekam Lust, wieder zu toben
und zu schaffen, wie es in seiner Art lag. Ein süßes verlockendes
Gefühl von Unverantwortlichkeit befiel ihn, als würde er aus einem
Hohlweg blitzschnell vor eine riesige Aussicht fruchtbarer Ebenen
entrafft und als lenke sich ihm doch alles zum Schluß ehrbar ein,
moralisch beinahe, in allem Ausschweifen sinnvoll begrenzt wie diese
Dorfstube. Denn wohl fühlte er sich der Schlummernden verwandt, das
verstand er nun, dieselben Stürme pochten auch in seinem Blut. Mochten
sie losbrechen und ihre verderblichen Ziele suchen, was lag daran --
nach allen Verwüstungen würde man seinem ergrauten Haar doch nichts
anderes nachsagen als: er ist ein Original, und nicht einmal mehr recht
bös auf ihn sein -- so wie bei der Großmutter -- und die Ruhe in seinem
Innern dann, o wie auf dem Gesicht dieser schlafenden lieben Frau, wie
ohne Gedächtnis ... Nun erfüllte ihn Stolz sogar, daß er auf seine
lebensvolle Manier die Zeit verbrachte. Er mußte nur nach dem Vergleich
mit der Großmutter zu solchen halbtoten Puppen zurückkehren wie diese
Frau Lichtnegger eine war, wie sein Bobenheim zu Hause. ... Ehrlich
waren sie, aber das ist ja keine Kunst, ehrlich zu sein ... Diese
dagegen, dieser Starrkopf, war eine bedeutende Person, die Bedeutendste
der Familie nannte er sie, nach seiner intensiven Art fast schon
verliebt in das neue Erlebnis, -- etwas Großes fühlte er aus ihr
strahlen, etwas bis zum letzten Tropfen Selbstständiges und Unbewußtes
dabei. -- Sie mochte eine Heldin sein, eine Deborah, aus jener alten
Zeit noch, in der es so viele Helden gab, in der jeder Mensch den Kopf
so hoch trug, daß man aus ein bißchen Heldentum gar nicht so viel
machte wie jetzt und daß das Andenken der Starken unter tausend andern,
ebenso Starken vergessen ward. -- Nein, die langen einsamen Nächte
konnten diesem furchtlosen Geist nichts anhaben, der Tod hatte keinen
Schrecken für sie, so erfüllt von ihrem eigentümlichen Leben war sie,
von ihrer leuchtenden Gescheitheit, die alle ihre Fehler von Grund aus
verklärte, o noch viel mehr als ein paar Schwächen gutgemacht hätte.
Und Arnold sagte sich, in einer leichten Freude: »Ja, ja, dem Klugen
wird vieles vergeben, Klugheit ist ja das Licht der Welt« -- und wie
in einem glänzenden Strom von Selbstentschuldigungen und neuem
Selbstbewußtsein löste sich seine Schmach auf ... Plötzlich fand er
sich selbst wieder ganz passabel, all dem Bösen in ihm zum Trotz,
fand sich beschwingt und leuchtend. Aus dieser Wendung heraus
betrachtete er noch einmal das Gesicht der Schlafenden, wie um sich
jeden ihrer Züge zu merken. Die Lippen waren in den Mund tief
hineingesogen, so daß an Stelle der Mundöffnung in einer dunklen
Vertiefung die senkrecht verlaufenden Runzeln unter der Nase und
die über dem Kinn aneinanderstießen und sie paßten auch zu einander,
schienen einander fortzusetzen, die kleinen Rinnen. Der Hals, jetzt
entblößt, da die Großmutter nur eine lose Nachtjacke anhatte, war
nichts als eine Reihe welker fallender Hautlappen, deren Anblick
den jungen Mann tief erschütterte. Und das Erschrecklichste: die
Augen waren nicht ganz geschlossen, sondern starrten halboffen, wie
etwas Schleimigtrübes, geradeaus ... Arnold bekam Angst; die Nase
erschien ihm spitz, vom tiefeingepreßten Mund aus aufragend, ...
vielleicht war die Großmutter tot. Er beugte sich über ihr Gesicht, sie
atmete. Zugleich spürte er den dumpfen Geruch, den er im ganzen Zimmer
bemerkt hatte, gepreßt, schmutzig, lebensvoll -- und wie ein Verbrechen
erschien ihm nun in momentanem Zusammenhang die Rede seines Vaters: Sie
wird einmal einschlafen ... Und was würde er jetzt sagen, der Vater von
seinem Komptoirtisch her: Du übertreibst alles ... Nun natürlich, er
übertrieb, Gott sei Dank ... Er pries die Großmutter schon wie eine
Heilige. Seit er hier eingetreten war, hatte sich sein Schmerz
beruhigt, -- vielleicht auch deshalb, weil es hier so viel Neues zu
sehn, zu bemerken gab, gemütvoll zu umfassen -- oder nein, nicht
deshalb, das Überquellende war ja vielmehr diese Wurzelliebe, dieses
Gefühl -- Seine Vorstellungen begannen sich zu verwirren, so viel hatte
er zu überlegen. Es war ihm, als sitze er an diesem Bett bei der
Schlafenden, seit er überhaupt begonnen habe zu denken, seit
frühester Kindheit, als habe er nie etwas anderes erlebt als immer
nur dies eine, als gebe es kein Vorher und kein Nachher mehr für
ihn ...

Die Mutter trat ein, wieder mit Paketen beladen, die Gute. Fleisch
trug sie, Wein, eine Sardinenbüchse, -- das wünschte die Großmutter
immer -- sie trat ans Bett, musterte es mit einem nachdenklichen
Blick: »Flöhe mag es da geben, nicht wenig ...« Dann war sie wieder
durch ein Bündel mit Strümpfen beleidigt, das vom Sofa fiel, als sie
sich setzte. »Wo nur die neuen Hemden hin sind, die ich ihr gekauft
hab. -- Ich muß ihr wieder ein paar alte Hadern verbrennen, sonst
trägt sie sie ewig. Ihre Blusen mußt du mal sehn. Geflickt, wie ein
Regenbogen ...« Unter solchen Reden begann sie, auf dem kleinen Ofen
eine Suppe zu kochen.

Arnold wagte es: »Mir scheint, Mama, du behandelst sie nicht ganz
richtig. So alte Leute haben ihren eigenen Kopf. Sie möchte sich halt
lieber mit dir ruhig aussprechen, wenn du schon herkommst, als daß du
ihr die Ordnung störst ...«

»Aber wer soll's denn machen! Sie würde ja im Schmutz ersticken«
erwiderte die Mutter mit viel Berechtigung.

Da erwachte die Großmutter: »Ich hab e Naches, daß se fort is.«

»Wer denn?«

»Die Orlte, die dumme, die Reschainte ...«

Die Mutter nahm alle ihre Geduld zusammen: »Aber so darfst du doch
nicht reden. Was fällt dir ein. -- Frau Lichtnegger ist so gut zu dir.«

»Der Schlag soll sie treffen« zürnte die Greisin, jetzt lauter als
bisher während des ganzen Tages. »Was kommt se her und redt und redt!
Lauter Stuß. E Patsch von e Chochem is m'r lieber wie e Kisch von
e Chamer. Das Gebitz nemmt se einem heraus mit ihrem Gebember und
Geschmus.« Sie griff sich jammernd an den Kopf: »Mei Seide-Möach.«

»Mir scheint, es geht dir schon wieder gut. Du wirst schon wieder
lustig.« Die Mutter fühlte ihr den Puls. »Das Fieber hat nachgelassen.
No, geht's nicht besser?«

Die Großmutter schüttelte den Kopf, obwohl man es ihrem strahlenden
Blick ansah, wie sie sich im Schlaf erquickt hatte, -- sie war gegen
ihren Willen gleichsam krank geworden, sie dankte jetzt auch niemandem
für ihr Besserbefinden. Nur trotzig meinte sie: »Wenn ünser Herrgott
mich nix gesünd sei loßt und nix verdienen loßt, so soll er mich ach
nix leben lassen.«

»No das mußt du ihm schon selbst sagen« lachte die Mutter »per Telephon
vielleicht. Vielleicht hast du eine bessere Verbindung mit ihm als
ich. Er folgt halt meist genau so wie du folgst.«

Arnold befürchtete Zank. Die Großmutter aber hatte ihre Schlaflosigkeit
überwunden und meinte liebenswürdig mit einem ironischen Lächeln, für
das man sie hätte küssen mögen: »Güt, nächsten Schabbes wer ich's ihm
sagen.«

»Da hab ich dir was feines gemacht.« Das Süppchen, das die Mutter im
Topf heranbrachte, duftete. »Willst du nicht einmal versuchen ...«

Eine gnädige Antwort mit zimperlicher Stimme: »No jo, e bißl ...«
Offenbar hatte sie einen tüchtigen Hunger, denn sie schnupperte schon
in den Dampf, wie ein freudig erregtes Baby.

»Bißl Salz hinein.«

»Nein -- ka Salz -- Salz reizt doch.« Und sie hustete affektiert.

»Aber es wird keinen Geschmack haben.«

Statt der Antwort nahm die Großmutter das Töpfchen und führte mit
sicherer Hand, ohne zu zittern, den Löffel an den Mund, nachdem die
Mama nochmals geblasen und gekostet hatte. »Was is dos für e Supp?«
fragte sie, nach dem ersten Schluck einhaltend.

»O je, wieder was nicht recht.«

»Aber Mama« wandte Arnold ein »du verstehst das schlecht. Die
Großmutter fragt doch nur, was das für eine Suppe ist, den Namen
möchte sie gern wissen, sonst nichts.«

»Du wirst mir die Großmutter zu erkennen geben ... Nichtwahr, es
schmeckt dir nicht?«

»Aber ja ...« sagte die Großmutter einfach und löffelte weiter »Was
für Flasch is das denn? Wo hast es denn gekauft?«

»No Rindfleisch, vom Körbelwirt. Das ganze Stück« sie brachte es vom
Ofen »kostet zehn Kreuzer ... Die Mutter ist nämlich noch aus dem
billigen Land, mußt du wissen« wandte sie sich an Arnold.

»Wirklich nich teier« lächelte die Alte, sichtlich erfreut »Ja man muß
sparen mit dem Geld ... Waßt de, Geld wenn wär nur Geld -- aber Geld
is alles ...«

Arnold erinnerte sich plötzlich, da die Großmutter aß und die Mama
ihr freudig zusah, daß er ja Witze erzählen sollte, unterhalten, --
bisher hatte er eigentlich nur wie bezaubert herumgeschaut und
zugehört, ganz gegen seine Gewohnheit. Jetzt setzte er sich in Bewegung
und begann von seinen fabelhaften Ersparnissen zu berichten, was
die Großmutter sehr zu freuen schien. Nur durch sachgemäße Fragen, ob
das Geld auch in der Bank liege u. s. f., unterbrach sie ihn ...
Das Gespräch wurde nun immer lebhafter, während die Großmutter immer
wieder nach einer Pause den Suppentopf vornahm; ja Arnold, der diesen
Besuch bisher als ganz außerhalb seiner Welt und städtischer
Konversationsmanieren liegend angesehn hatte, fühlte sich jetzt fast
wie in Gesellschaft, ohne Besonderheit, jedenfalls auf einem Niveau,
das mit dem Küchensessel und den Dorffensterchen nicht das Mindeste zu
tun hatte. Die Großmutter erzählte von ihrem Beruf und wie man sie
überall gern sah. »Frau Goldbergen« rief man ihr zu wenn sie vorbei
ging »was kümmen Sie nit a bißl zu uns rein. Wir brauchen Scherzen,
Ticher. Bleibens ock doue. Es kummt Ra'n.« Eine Bemerkung Arnolds
aber, daß sie also recht viel verdiene, schien ihr zu mißfallen. »Ja,
viel Meloche, wenig Broche« antwortete sie. Nach einer Weile fuhr sie
fort: »Häst e Geschmack von e Supp gehabt!«

»Sie schmeckt dir nicht gut?« rief Arnold besorgt.

Sie antwortete nicht, ihr Gesicht wurde finster.

Nun hielt er den Moment für gekommen, sein Gedächtnis nach Witzen
zu durchsuchen. »Was ist das? Es ist weiß und hat keinen Kopf, und
trotzdem schaut es« gab er auf. Die Großmutter dachte nach, ernstlich.
»Ich werde es dir also ...« »Ich möchte sagen« unterbrach sie »e Kopf
von e Gans.« Er lachte: »Aber nein, es soll ja eben keinen Kopf haben.
Ein Unterhosenbandl ist es.« Sie nickte ihm freundlich zu, schien aber
den Sinn nicht zu verstehn: »Ja in der Stadt, do habts ihr so
verschiedene Wörtlach. -- E komische Supp, was das is. Habts ihr immer
solchene Suppen?«

»Es ist eben kein Salz drin. Du wolltest keins« erklärte die Mama.

Arnold vermittelte: »Du siehst, es geht uns trotzdem gut. Wir sehn ganz
beruhigend aus.«

Sie sah ihn näher an und jetzt erst fiel ihm ein, daß er nach
halbschlafloser Nacht nicht eben sehr blühend sein mochte. »E bißl
schmal« sagte auch sofort die Alte »Schlafst du denn genüg? Schlaf is e
Wohltätigkeit für e schwachen Menschen. Regieleben« als bemerkte
sie es jetzt zum erstenmal »eppes dick biste geworden. Dicker
mußte nix werden, das ist nicht gesünd. So kannste bleiben.«

»Die Mutter meint, ich bin noch ein Kind, ich werde ewig jung bleiben«
sagte Mama, mit niedergeschlagenem Blick; und Arnold sah sich plötzlich
mit einer Deutlichkeit in den Gedanken irdischen Vergänglichseins
versetzt, hier in dieser Stellung von drei Generationen, wie er es nie
vorher auch nur als Andeutung gefühlt hatte, ohne daß ihm übrigens
dabei irgend ein neuer, in Worte faßlicher Einfall kam.

Indessen aber, während er wie in ein Bassin von Schwermut untertauchte,
hatte die Großmutter zu erzählen begonnen: »Marie nebbich hat ach immer
eso gelesen in der Nacht bei der Lampen, ich hab längst gemant se
schläft. Is Poldi emol nach Haus gekommen, e bißl schücker war er
vielleicht und sogt ihr: No was weinst du denn da. Was lieste denn?
-- Von Genofeva, sogt sie ...«

Die Mutter flüsterte: »Genofeva. Schöne Lektüre haben wir gehabt,
was?« -- Aber Arnold, der aus einer Zeit stammte, in der man solche
Kinderbücher und Märchen überhaupt wieder für wertvoll hielt, fand ihre
Bemerkung unverständig. Dagegen überraschte ihn dieser fremde Name im
Munde der Großmutter, was lebte alles noch in diesem Gehirn!

»Sogt sie -- von der Hirschkuh, wie sie ihr Milch zügetragen hat.
-- No warüm hat sie ihr denn Milch zügetragen, sagt Poldi.« Und die
Großmutter machte es nach, wie der Bruder die weinerliche Stimme der
Schwester spöttisch nachmachte. »Aber mir scheints, wenn du nicht
bald schlafen gehst und aufhörst zu wanen und die Lampe auslöschst,
so hau ich dir das Buch aufn Schädel nauf.« Die Stimme brach ab, in
einem kleinen Gelächter.

»Und was hat sie gesagt?« fragte Arnold, obwohl er fühlte, daß nichts
mehr zu erzählen sei, nur um diesen angenehmen Fluß der Erzählung
weiter zu hören.

»Nu, was soll se gesagt habn« setzte die Großmutter wie improvisierend
fort »Was liegt daran? Wenn du schlafst, steh i halt wieder auf und
les weiter von der Hirschkuh ...« Jetzt hatte sie die Suppe zu Ende
gegessen und rief plötzlich, ganz laut: »Pfui Teixel!« wie einen
herzhaft erleichternden Fluch, indem sie den leeren Topf mit einem
Ruck aufs Fensterbrett stellte.

»Aber was ist denn?« die Mutter eilte herbei. Als das Gespräch auf die
verstorbene Schwester Marie gekommen war, hatte sie sich abgewendet.

Zornig fuhr die Großmutter auf: »E schöne Supp haste mir gekocht! Aus
Ferdeflasch? Was?«

Also hat doch die Mama Recht behalten, dachte Arnold. Aber mit den
Schlüsseln hatte sie Unrecht gehabt. -- Und er beeilte sich: »Was fällt
dir ein, die Mama wird dir doch nicht Pferdefleisch kaufen, wie kannst
du nur so etwas denken!« Indem er es aussprach, schien es ihm immer
unerhörter.

»E guter Omensager biste« fuhr ihn die Großmutter an, dann schwieg
sie eine Weile. »Was kafste ach beim Körbel. Der hat doch lauter
verschimmelte Sachen. Wenn ich ihn aber emol anzeig bei der Polizei,
den Ganef, dann 's Kri iber den Goi.«

»Laß sie nur« scherzte die Mutter, etwas bitter. »Sie wird sich schon
wieder beruhigen. Also Adieu, Frau Goldberg, wir gehn jetzt essen, Sie
können sich inzwischen ein bißchen allein so weiter unterhalten, wenn
Sie Lust haben.«

Aber Arnold war indessen mit der Hand des alten Frauchens, die er
ergriffen hatte, schon wieder so gut geworden, daß er den Wunsch nach
einem bessern Abschied nicht unterdrücken konnte: »Schön hast du es
da, Großmutter, gleich möcht ich bei dir dableiben, für immer, nur
noch Blumen sollten in den Fenstern stehn, wie bei den Nachbarn
vorn ...«

Sie lächelte ihn an, als sei gar nichts vorgefallen, als gingen in
ihrem Innern eben die zärtlichsten Dinge vor: »Ich bin ka
Blumenverehrerin. Aber die Kinderl, wie se noch klein waren, die
habn immer Blumen gehabt und gegossen, daß die Stub voll war. Mit
ihre neie Hüte haben se das Wasser getragen von der Pump.«

»Da haben sie wohl Schläge bekommen.« Er reichte ihr noch einmal die
Hand.

Sie drückte sie und machte dabei ein gutmütiges, aber erzieherisches
Gesicht: »Das muß sei.« Die Mutter war schon hinausgegangen. »Also
Adieu, wir kommen bald wieder.« »Eßt nicht beim Körbel« rief ihnen die
Großmutter noch nach »dort is groß Jackeres.«

Als er auf die Gasse trat, mußte er ein wenig die Augen schließen, so
fremd erschien ihm alles, was ihn umgab: Wie konnte der Zugang zu
etwas so innig Bekanntem so unbekannt sein! Gab es denn wirklich noch
eine Welt außer dieser grauen alten Stube? Die Straße mißfiel ihm. Das
Bild der alten Frau im Bett, zu Riesengrößen aufwachsend, stellte
sich wie ein Schatten überallhin, vor jedes Haus. Um wie viel wichtiger
war sie, ja nichts auf der Welt erschien ihm jetzt in gleicher Weise
wichtig. Er hätte für sie sterben mögen, so begeistert war er ...
Die Mutter redete neben ihm her: »Nicht zuhören kann ich, wenn sie
von der seligen Marie spricht und Nebbich dazu sagt, oder von unsern
Hüten. Ich glaube, wir haben überhaupt nie Hüte gehabt. Immer spricht
sie so, als ob sie uns alles in Überfluß gegeben hätte. Gute Schläge,
ja. Du darfst dir das nicht so vorstellen wie zu Hause, Arnold. Aber
das hab ich ihr damals gesagt, bei Maries trauriger Hochzeit, wie sie
uns alle mit so fürchterlichen Worten verflucht hat: -- daß sich alle
dir abwenden und daß du allein und einsam sterben wirst, das wird
dein Fluch sein ... Und so wird es und muß es ja kommen, Gott im
Himmel. Das sind Sorgen, einmal wird sie auslöschen ...«

Arnold fand solche Reden übertrieben, sagte sich aber, daß die Mama
Recht haben mochte. Er kannte ja so wenig von diesen über lange Zeiten
und Räume verteilten Ereignissen, er hatte wohl deshalb einen andern
Eindruck. Ohne diese Erinnerungen der Mama hätte er die Großmutter
vielleicht überhaupt nur für eine fidele gute, etwas wetterwendische
alte Frau gehalten, eine spassige Grobianin, -- und nun, unter Mitwirken
der Mama, entstand etwas ganz Verschwommenes, Widersprechendes und doch,
so weit es ihn betraf, ganz Greifbares. Das war das Verlockende daran.
»Siehst du, der Doktor ist nicht gekommen -- warum habt ihr denn gerade
den genommen, der am meisten zu tun hat?«

Die Mutter erklärte, die Großmutter habe vorgegeben, zu keinem
andern habe sie Vertraun. Indessen erriet wohl Frau Lichtnegger ganz
richtig, woher dieses Vertrauen rühre: Heiger war der billigste
Doktor im Ort, der Armenarzt ... Überhaupt habe sie schöne Dinge
erzählt ... neulich einmal seien einige reiche Leute des Ortes, die die
alte Frau Goldberg immer mühsam mit ihrem Pack die Straßen hatten
hinaufstöhnen sehn, auf die Idee gekommen, für sie eine Kollekte zu
machen, zu Purim, eine Idee, die von der Großmutter mit wahrhaftiger
Begeisterung begrüßt worden sei. Und erst die Drohung der Frau
Lichtnegger, sie werde es der Frau Beer und dem Herrn Schwiegersohn
schreiben, habe sie aus ihrer verstellten Bedürftigkeitsrolle
aufgeschreckt. Daher auch der tiefe Haß ... Überhaupt liebte es die
Großmutter, sich als ganz arm und almosenwürdig hinzustellen, die
Besuche ihrer Tochter kamen ihr daher auch zuzeiten ungelegen, wenn
sie nicht so krank war wie jetzt, und deshalb verbreite sie, diese
elegante Dame sei eine Liqueurfabrikantin und bringe ihr die Flaschen
aus der Hauptstadt mit, eine ganz besondere Spezialität; denn von dem
Magenliqueur trank sie natürlich keinen Schluck, sondern verkaufte ihn
zu den höchsten Preisen ihres Kopfes, die indessen für die neue junge
Welt ringsum noch so mäßige waren, daß sie überraschend viele Käufer
fand. Lauter solche Sachen, über die man lachen müßte, wenn sie nicht
so traurig wären. An Markttagen bewache sie das Geschäft einer gewissen
Frau Heller, nur um einen »Gülden« nebenher zu verdienen, und wenn sie
dort sei, komme nichts weg, habe Frau Lichtnegger gesagt, da paßt sie
gut auf ... aber im Laden, in dieser grimmigen Kälte habe sie sich
neulich eben diese Halsentzündung, den Husten zugezogen. »Viel braucht
es ja nicht, ich bitt dich, bei so einem Alter.« Und von hier aus
kehrte die Mutter zu ihren Sorgen zurück, ob man nicht die Stube bald
weißen lassen müsse, und wie das anstellen ...

Indessen waren Mutter und Sohn in das Restaurant eingetreten und Arnold
hätte sich gern diese Dinge, die ihn bis ins innerste Mark
interessierten, weitererzählen lassen, wäre ihm nicht sogar in dieser
provinzialen gebirgsstädtischen Gaststube die Erinnerung an seine
Schandtat von der Wand entgegengesprungen, -- auch hier das große
Plakat des »Rivalen Paulhans« in den primitivsten ergreifendsten
Farben. So kam es, daß er mit der Speisekarte zugleich die Zeitung
bestellte, an die er bis zum Augenblick nicht gedacht hatte. Nun schien
es ihm plötzlich, als müsse der Flug in Waldbrunn doch gut ausgefallen
sein, gleichsam zur Belohnung, weil er nicht mehr darauf gerechnet und
sich immer nur so selbstverständlich auf das Schlimmste gefaßt gemacht
hatte. Und dann: niemand hatte ihn angerempelt, auch nur verdächtig
angeschaut, hier saß er doch, der Obmann des schönen Konsortiums, nein,
es konnte nichts geschehn sein. Dies war vielleicht der erste Erfolg
seines neuen, von der Großmutter beschützten Lebens ... Herr Körbel
selbst brachte das Blatt, freundlich lächelnd. Gleich oben das
Telegramm: Ponterrets Flug mißglückt. Der Aviatiker landet nach einem
Flug (Sprung) von 13 Sekunden. Pöbelausschreitungen an der Kassa. --
Das eingeklammerte Wort »Sprung« verdroß Arnold ganz besonders, wie
eine persönliche Unbill, konnte man denn nicht ein bißchen
menschenfreundlicher sein! Ja ja, dazu hatte man die guten Freunde in
der Redaktion! -- Er legte das Blatt weg, nur unten fiel ihm noch ein
fettgedruckter Ausspruch des Aviatikers selbst auf: Er schätze sich
glücklich, daß er durch einen geschickten Griff am Lenkrad ein großes
Unglück vermieden habe. Die Tribünen seien in Gefahr gewesen ... »Mama,
ich fahre heute abend nach Hause.« Er war plötzlich mutig geworden,
sah der Gefahr ins Auge wie einer hübschen Aufgabe. »Natürlich, was
sollst du hier machen! Ich hab mir's gleich gedacht, daß du's nicht
lange aushalten wirst.« Er aß schnell auf: »Jetzt geh ich aber
zunächst zum Doktor, ihn treiben. Sag der Großmama, daß ich bald
wiederkomme.« -- »Du willst noch einmal hingehn? Interessiert dich das
denn? Ich könnte dirs nicht verdenken, wenn nicht. Und eine Luft ist
dort.« -- Mit Unlust sah sich Arnold unerwarteterweise vor die
Notwendigkeit gestellt, seiner Mutter all das, was er seit dem
heutigen Morgen durchempfunden hatte, zu erklären -- und recht
schnell. Nein, es ging nicht. Also rief er nur, etwas grell: »Von
Interesse ist da gar keine Rede mehr. Ich habe mich in die
Großmutter verliebt, förmlich verliebt. Kannst es ihr sagen. Sie
ist ja so brav ...«

Die Mutter seufzte tief auf, wie vom Mittelpunkt ihres Gedächtnisses
her: »Ja, vor dir nimmt sie sich noch ein bißchen zusammen.«




IV.


Er war enteilt. Auf der Gasse erst, in frischer Luft, durch die
hindurch man nahe Wälder zu spüren glaubte, fiel ihm ein, daß er
heute den ganzen Tag bisher in der Familie verlebt hatte, noch
keinen Augenblick allein. Das war ihm seit Jahren nicht mehr geschehn,
noch gestern hätte er es für unmöglich gehalten. Vielleicht hing auch
seine eigentümliche Verwirrung damit zusammen, die ihn förmlich
hinderte, klar geradeaus zu sehn und sich über das, was er sah,
Gedanken zu machen. Die Häuserfronten liefen nur so wie lange
Gartenmauern, ohne Abwechslung, an ihm vorbei und er bemerkte es
nicht, ob er über breite Plätze schritt oder durch einen Park, an einem
goldglänzenden Kaiser-Josef-Denkmal vorbei. Nur, daß hier und da,
mitten zwischen eleganten Häusern, auch noch solche Schindelhütten
standen, wie die der Großmutter, fiel ihm auf, dann daß die meisten
Firmatafeln kleine schwarze Glasplatten mit eingeritzten Buchstaben
waren, was einen zierlichen sauberen Eindruck machte. Doch
beschäftigte ihn dies nicht weiter. Nur die eine Frage hatte er im Sinn
und wiederholte sie oft an Vorübergehende: »Wie komm ich hier zu
Doktor Heiger?« Mechanisch folgte er ausgestreckten Fingern,
eindringlich undeutlichen Worten, ging bergauf bergab, die zweite
Gasse hinter der Ecke wieder geradeaus. Endlich fand er das Haus,
immer mit summendem Geräusch im Kopf, stieg Steinstufen hinauf,
die ihn daran erinnerten, daß er noch in Österreich war, wenn auch
nahe der Grenze (in Deutschland gibt es nur Holztreppen, dachte
er), an einem Kontor vorbei, vor dem Kisten beinahe den Weg versperrten
(aha, der Export). Dann trat er in ein menschengefülltes Wartezimmer
ein. Im Arm einer Frau schrie ein schwarz verbundenes Kind leise auf.
Manche von den Leuten standen in stumpfsinnigem Brüten direkt vor
der Tür ins Ordinationszimmer, wie bereit, sofort mit höchster
Aufregung hineinzuspringen. Andere seufzten auf dem Kanapee, in
bequemen Fauteuils saßen sie in unbequemen Haltungen, gelbe Zettelchen
in der Hand, vielleicht von einer Krankenkasse. Arnold erkundigte sich,
er lief ungeduldig wieder hinaus, jemand sagte ihm: »Ja, bei Doktor
Heiger da muß man sich in Geduld fassen«. »Ist er drin?« fragte
Arnold. »Ich weiß nicht.« -- Was für idiotische fischblütige Leute, sie
kamen ihm wie seiner unwürdig vor, er hatte das Gefühl, als errege
er hier allgemeines Aufsehn, als schlage er mit Armen und Beinen um
sich, obwohl er äußerlich ruhig blieb. -- Wie ein Labsal, eine
Zuflucht erschien ihm nun die Erinnerung an die Großmutter. Was war es
denn eigentlich, was ihn an ihr so entzückte, diesen Bürgern hier so
Entgegengesetztes? Ihr Charakter doch nicht? Es fiel ihm ein, daß
ihm manche ihrer Eigenschaften an einem andern Menschen förmlich
widerlich gewesen wären. Man konnte es auch nicht als Tüchtigkeit
oder als Ehrwürdigkeit bezeichnen, als die Weisheit des Alters, nicht
so und nicht so. Vielleicht ein Zug von Freiheit, von unbewußter und
derber Hoheit? Eine Figur aus dem Alten Testament? Nein auch das
wollte nicht ganz stimmen. Und was hätte sie gesagt, wenn er
Ähnliches zu ihr selbst geäußert hätte? Was für Augen hätte sie
gemacht? Wofür hielt sie eigentlich sich selbst? Dachte sie je
darüber nach? Glaubte sie an Gott?... O da war etwas, wofür es in
keiner Menschensprache noch ein Wort gab! Er verstand es nicht --,
nur dunkel fühlte er, daß sie unterhalb der Zuckungen seines
forschenden Verstandes, tief irgendwo in Regionen dunkler Instinkte,
Vererbungen, Verwandtschaften ihn wie mit gebietender Stahlhand ergriff
und seine Eingeweide in eine neue Ordnung zurechtzerrte. Unklare
Pläne stiegen in ihm auf, mit denen seinem ganzen Leben bisher und
von hier an ein neuer Sinn zu geben wäre, Funken ins Pulverfaß, ja
selbst genaue Entschlüsse für die nächste Zukunft, an die er aber
sofort wieder vergaß im Bewußtsein, daß sie ihm auch so unverloren
nahe blieben. Im ganzen befand er sich in einem Zustand äußerster
Verwirrung und Ordnung zugleich, ähnlich einem guten Schüler vor dem
Examen, in dessen Kopf alles gegenwärtig ist und doch nichts
faßbar, und dieses nicht Faßbare, nicht Sichtbare wieder nicht in
starrer Ruhe, sondern in unaufhörlicher Bewegung wie unter einer dünnen
Hülle kreisend und in solcher Menge, daß nichts vortreten kann außer
auf einen äußern Anlaß hin, aber dann wird schon das Richtige in Hülle
und Fülle aus dem Chaos herausmarschieren, und diese Zuversicht gibt
dem dumpfen satten Kopf schon jetzt eine Art von schöpferischer
Einheit, wenn er auch vorderhand noch zerstreut andern Dingen
nachtaumelt, die er gerade vor sich sieht ... In dieser Verfassung
starrte unser Mann durch das Fenster in einen benachbarten Garten und
nur ganz oberflächlich, ohne daß es seine Seele in der eigentlichen
Arbeit störte, kamen ihm Gedanken wie der etwa, daß diese Aussicht
nicht sehr schön sei -- oder daß das Bild dort an der Zimmerwand
»Apollo und die Musen« oder den »Athenäenzug« vorstellen möge, kurz
etwas Klassisches und daß es wohl ein Gymnasialkollege dem Doktor
gemalt und geschenkt habe, vielleicht als Pfand für ein Darlehn
gegeben; denn kaufe ein Landarzt Bilder? Was für Dinge übrigens!
Was ging ihn dieses Bild an, die Griechen, die andere Welt, die fremde
Kultur ... Plötzlich dauerte es ihm zu lange. Er stürzte wieder aus
dem Zimmer, in die Küche, gab der Köchin ein Billett für den Doktor und
lief weg.... Ein Festzug hielt ihn auf. Was, da gab es ja auch
dekorierte Häuser, Musik. Das Schützenfest, ach so! Was für ein
naiver Unsinn! Deutlich fühlte er, daß dieses helle, blonde,
einfache Treiben nicht seine und seiner Großmutter Welt war. Für
Bobenheim hätte das gepaßt. Auch Fahnen hatten sie im Zug, bunte,
wirklich komisch ... Er suchte durchzukommen. Mit Gewalt drängte er
sich in die Menschenmassen wie in etwas Feindliches und war erstaunt,
als man ihm höflich Platz machte. Dann fiel ihm ein, daß er sich
eine neue Krawatte hatte kaufen wollen, der Großmutter zu Ehren. Er
kaufte eine, die violett und blau changierte. Wie wenig hatte er
die Frau überhaupt geehrt, nicht einmal etwas mitgebracht aus
eigenem Antrieb. Er kaufte beschämt Pfirsiche, Kirschen, Schoten ...
das alles nur, während im Innern seine Seele nach ganz andern
grundlegenderen Dingen suchte ... Je mehr er sich aber der Wohnung
der Greisin näherte, desto mehr klärten sich seine bis zur Qual
verfitzten Ideen, sie senkten sich gleichsam aus den Wolken zur Erde
herab, kristallisierten sich und verwandelten sich eben in den steilen
Fußpfad und Großmutters Hütte in demselben Augenblick, in dem er
an dem eleganten Zweistock vorbei diesen Fußpfad und die Hütte
erblickte.

Er stieg die Treppe hinauf und sah dabei flüchtig zur Seite in die
Vorderwohnung, wie anständig und rein konnte es also in so einer
Hütte aussehn, bei einer Arbeiterfamilie. Dann aber durch den finstern
Gang, wo überall leere rötlich durchscheinende Lagerbierflaschen
standen, klopfte ihm das Herz, alles war so anheimelnd und doch
unbekannt, so von Zärtlichkeitswolken erfüllt. Er stieß an ein großes
umgestürztes Holzschaff, endlich fand er die Türe.

Ein überraschender Anblick bot sich ihm. Drei alte Frauen saßen und
standen am Bett der Großmutter und plauderten mit ihr in einem solchen
Schwall von Jargon und schlesischem Dialekt, daß nichts zu verstehn
war. Sie sah jetzt viel besser aus, das Gesicht war größer, die Wangen
in einem natürlichen Rosa, die Falten milder. »Nu, kommste doch, jech
hab scho gemant, dü kommst nix mehr.«

Er mußte sich entschuldigen: daß er beim Doktor gewesen war und Obst
gekauft hatte. Die Großmutter nahm seine Hand und schaute ihn
liebevoll an: »Ganz schön wär's doch, wenn du ach noch dazü e
Madele hättst, Regie.« Dabei wandte sie sich, etwas furchtsam, an
Arnolds Mutter, die auf dem Kanapee saß. -- »Ich dank dir« war die
unfreundliche Antwort. Jetzt erst bemerkte Arnold, daß die Mutter
rote Augen hatte. Er setzte sich neben sie und erfuhr alles. Natürlich,
sie hatten die kurze Zeit, die sie unter vier Augen allein waren, zu
einem ausgiebigen Zank benützt. Zuerst war die Großmutter ohne
sichtbaren Anlaß, aus sich selbst heraus, in Aufregung geraten,
hatte geweint und sie tausendmal um Verzeihung gebeten, sie solle
ihr nur, ehe sie sterbe, alles verzeihn, was sie ihr angetan habe.
Darüber natürlich war die gute Mama in Rührung und unendliche Tränen
geraten. Nach einer Weile, bei einer geringfügigen Sache, die Mama
wollte ihr eine Schüssel mit Sand ausreiben, habe die Großmutter wie
verrückt geschrien: »Ich waß, du willst, ich soll sterben, und just
tu ich dir nicht den Gefallen.« Darauf seien die Freundinnen gekommen
... Es sei wirklich nicht mehr auszuhalten ... Aber Gott sei Dank,
die Sardinenbüchse habe sie über Mittag fast leer gegessen, sie
esse eben am liebsten nur, wenn sie allein sei ... Arnold tröstete
sie, er fühlte eine tiefe Liebe zu dieser netten friedlichen Dame,
seinem Mamachen, die in ihrem weichen Herzen alles so ganz anders
auffaßte als er selbst, doch zugleich empfand er freilich auch über
diesen neuen Vorfall eine schwer erklärliche Freude an der Großmutter,
wie an einem seltsamen Naturschauspiel, einem Nordlicht vielleicht.
-- Und daß sie in diesem Alter noch Freundinnen anzog, jüngere
rüstigere Weiber, die von ihr beherrscht, kaum neugierig nach ihm
zu blicken wagten, daß ihre enge Stube menschengefüllt war: riß
ihn zur Bewunderung hin. Also war sie doch nicht so verlassen. Und
nun mahnte sie sogar die drei zum Aufbruch: »Es is Wochenmarkt heunt«
und stellte sich damit selbst mitten in ihre Unternehmungen, in das
regelmäßige tätige Leben. Gar nichts von einer Ausgedingerin hatte
sie, das war schnell zu sehn, gar nichts von der humpelnden lästigen
Halbtoten, die sich hinter dem Ofen wärmt.

Die Mutter wollte die drei mit städtischer Höflichkeit hinausbegleiten,
knüpfte ein Gespräch an, aber vom Bett her flüsterte es: »Loß se
geihn. Gib ihnen ka Tschüwe«, -- auch im leisen Reden wurden die
betonten Worte gesungen, manchmal mit zwei oder drei verschiedenen
Noten gleichsam.

»Also der Doktor kommt gegen fünf Uhr« sagte Arnold, als sie allein
waren.

Aber kaum hatte sich die Türe geschlossen, so begann die Großmutter
in den erbittertsten Tönen von diesen Frauen zu sprechen, von der
einen besonders, die sie soeben noch mit »mei goldene Frau Keller«
angeredet hatte. »Verschwarzt soll se gehn« rief sie, auf Arnolds
Erkundigungen. Flüchtig erinnerte er sich an seine unwillkürliche
Doppelzüngigkeit gegen seine Freunde, der Vergleich mochte wohl nicht
zutreffen?... Die Mutter aber war über dieses Benehmen entrüstet:
»Schämst du dich nicht.« Aber der alte trockene harte Körper schämte
sich nicht, er erklärte im Gegenteil, aufstehn zu wollen, es sei ihm
schon ganz gut und das Faulenzen habe keinen Zweck. Als man dies
abgewendet hatte, erneuerten sich die Klagen des Vormittags: »Mei
Zores, mei Kopf« ... »Was für Sorgen« wandte sich die Mama ziemlich
derb an die Großmutter »du hast ausgesorgt. Was du brauchst, schicken
wir dir. Wenn du mehr willst, mußt du uns nur zwei Worte schreiben.
Du hast nichts zu tun als zu essen, zu trinken und spazieren zu
gehn.« Ein Projekt kam zur Sprache, das die Großmutter schon einmal
vorübergehend gebilligt hatte, nämlich: sie solle ganz zur Frau
Fischmann, zu einer der drei Freundinnen übersiedeln, dort zur
Miete wohnen. »Die Klafte« schrie sie, daß die Kissen sich bewegten
»die rotzedige Klafte!« Nicht herauszubringen, woher dieser Groll
sich schrieb. Kurz, sie lehnte es ab, sie geniere sich (dieses
Fremdwort brachte sie vor) unter fremden Leuten, einmal wolle sie spät
schlafen gehn und einmal bald und einmal nach Bequemlichkeit den
Topf benützen und einmal etwas verdienen, mit einem Wort sie wolle
selbständig bleiben. Und sie fügte hinzu, wie erdichtend, um ihren
Worten mehr Nachdruck zu geben: »Die Fischmann, die is doch gechitzt.
Die is doch plem-plem« und fuhr mit der Hand, mit gekrümmten vier
Fingern nahe an der eigenen Stirn auf und ab.

Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ihr Arnold, daß er bald
nach Berlin fahren werde. Wirklich war einmal die Rede davon gewesen,
daß er in ein Konfektionshaus in Berlin als Volontär für ein Jahr
eintreten sollte, die steinerne Treppe bei Doktor Heiger hatte ihn
wieder daran erinnert. Zugleich aber fiel ihm jetzt im Reden ein, daß
er ja in Berlin zugleich diesen von Eisig angebotenen Journalistenposten
annehmen könne und, obwohl er das nicht aussprach, verließ ihn der
Gedanke nicht mehr. »Gib nur schön acht und sei gesund. Da is ach zü
der Hausfrau neilich e Mädel zugezogen aus Wien und nebbich nach e paar
Täg is se gestorben.«

Arnold verstand wieder den Zusammenhang nicht, erst später, als von
etwas anderem die Rede war, fiel ihm ein, daß »Luftveränderung« das
Bindeglied gewesen sein mochte.

Denn nun ging es in einem Zuge weiter. Die Großmutter, gesprächig
und bei allen Kräften, schien nur Anlässe zu neuen Erzählungen zu
suchen und all dies machte nicht etwa den Eindruck, als ob sie Arnold
als Gast unterhalten wollte, sondern die reine Freude, sich
mitzuteilen, sprach aus der klangvollen und ruhigen Stimme, die
mühelos ihrem ungetrübten Geiste, ihrer Lebenskraft zu entströmen
schien und dadurch den Hörer unmittelbar einnahm. Arnold verglich
sich freudig mit ihr. »Seh ich der Großmutter nicht ähnlich?« fragte er
die Mutter. Ja, es sei auffallend. »Aber wie willste mir ähnlich sei«
lachte die Großmutter. »Ich bin doch bald iber hündert Jahr und du
nur e Ableger noch.« »Wie alt bist du eigentlich?« mischte sich die
Mutter ein »die Großmutter macht sich immer älter als sie ist, auch so
eine Laune.« Aber die Großmutter wußte gar nicht, wie alt sie sei, es
war ihr auch gleichgiltig. »Ich möcht scho gern weg. I war lang genüg
do. Ich bin so nur allen zur Last und mir ach.« Seltsam, daß solche
Reden den Eindruck ihrer Lebensfreude nicht abschwächten, eher
verstärkten. Ob sie noch einmal jung sein wolle, fragte Arnold. Ohne
direkt zu antworten, begann sie von einem Onkel Jermige zu erzählen
»der hat mich emol im Theater aufgeführt, der gute Jermige, alles hat
er verschenkt aus Rachmonis, an die Arme, und selbst is er im
Dalles gestorben, nebbich Jermige. Selig, habn se geschrien, damals
in dem Stück, selig, wenn man noch jung is. Warüm denn, hat man
gefragt. No da tragen se einen auf den Armen. Willste eppes noch
auf den Armen getragen werden, so haben se ihn ausgespott', wie
halt Theater is.« »Du interessierst dich also auch für das Theater«
fragte Arnold, innerlich erbebend; was für eine verschollene
Operette mochte da eben in dieser Stube zum letztenmal zu einem kleinen
Leben erwacht sein! »Die Großmutter! Na und ob sie sich dafür
interessiert« lobte die Mutter. »Das hab ich per Jerusche« und sie
kam auf ihre Eltern zu sprechen, auf ganze Familienverzweigungen
mit ihren Leidenschaften, von denen längst keine Spur mehr auf der
Erde lebte, und sie zogen vorbei, diese seltsamen Namen wie Moische,
Srole, Peierl, Haschele, und ein Zusammenhang mit fremden Ortschaften
ergab sich, von dem Arnold nie etwas geahnt hatte und der ihn
mächtig aufwühlte, ja in Lichtenstadt hatten ihre Großeltern, die
Großeltern der Großmutter, gewohnt und dort in dem Packerl müßte noch
ein Stück Tuch aus Lichtenstadt sein. »Ihre Einbildungen« flüsterte
die Mutter ihm zu. Auf einmal war diese uralte, eben dem Tode
entrissene Person selbst ein Kind und erzählte, wie sie einmal auf dem
gefrorenen Dorfteiche »geklitscht« hatte und dafür Schläge bekommen.
Wie das Haus ihres Vaters abgebrannt war, der schon damals zehn
Kinder hatte, neun Söhne darunter, und trotzdem sei die Mutter
hundertunddrei Jahre alt geworden, und wie die Bauern der Umgebung
damals für ihn zusammengeschossen hatten, um ihm fürs erste zu
helfen, aber ein Jahr darauf war schon wieder ein Kind da, in all dem
Schmerz. »Die Lait habn damals gemeint, das muß so sein.« Und mit
einer Art von Aufklärung erzählte sie die damaligen Sitten, wie man am
Samstag kein Geld bei sich getragen habe, weil das als eine Art von
Arbeit gedeutet wurde, eine »Newere«, ja die ganz Frommen trugen ihr
Taschentuch um die Hand gewickelt, um es nicht aus der Tasche ziehn zu
müssen. »Aber gewuchert haben sie dabei« tadelte die Mutter, ernst
und modern. Nicht einmal eine Beere habe man abreißen dürfen, fuhr
die Großmutter fort, und da sei einmal jemand (Arnold verstand
diese Geschichte nicht ganz, viele Ausdrücke kannte er nicht, erst
später stellte er es sich so zusammen, daß dieser »jemand« die
Mutter der Großmutter gewesen sein müsse) in den Tempel gegangen,
durch den Wald, damals habe man noch so weit her zum Tempel gehn
müssen, und da habe sie der Versuchung nicht widerstehn können,
eine »Rotbeere« zu pflücken, trotz der Ermahnung des Rabbiners. Und
darauf sei sie, die Großmutter, mit einem häßlichen Muttermal in
Gestalt einer roten Beere zur Welt gekommen. Und einmal habe sie
sich eine Schere genommen, weil man sie auslachte, sei ins Nebenzimmer
gegangen und habe sich die Beere abgeschnitten. »Davon hast du mir
aber noch nie erzählt« wurde die Mutter mißtrauisch. Arnold zeigte
auf einen roten Fleck an ihrer Hand: »Ist es das?«, aus Respekt wies
er nicht mit dem Zeigefinger, sondern schlug alle Finger bis auf
den kleinen ein und streckte diesen vor. »Nein, das hob ich mich
verbrennt, neilich.« Sie wurde nicht irre, und kam nun in der
Reihenfolge der Generationen auf ihre eigenen Kinder. »Marie, mei
guts Schof« rief sie plötzlich und Tränen standen ihr im Aug »Nebbich
hat sie vor mir heruntergemußt. Was hätt ich nicht getan für das
Kind!« Auch von ihrem Zank mit Poldi wußte sie nichts. Er war zwar
ein »ungehachelter Kerl«, ein »Parchköppele«, aber was lag daran, einen
Jux wußte er zu machen und lustig war er, das war doch die
Hauptsache. Sie schrieb ihm den Einfall zu, daß er beim Alcheten, dem
Sündengebet, bei dem man sich als Büßer zeilenweise auf die Brust
klopfte, zu seinem Nebenmann, der besonders heftig klopfte, gesagt
habe: »Sie, mit Gewalt werden Sie da nix ausrichten.« -- Sie lachte
hell wie Glöckchen, während sie das erzählte. -- Ja, einmal habe er
ihr geraten, mit ihrer Stubentür aufs Gericht zu gehn, weil das ihr
Haupt- und Kassabuch sei. -- Überhaupt, wenn er nur Zeit hätte, er
würde schon kommen, er würde sie besuchen, sicher. -- Die Mutter
senkte traurig den Kopf. -- »Poldile, wie haben se den gern gehabt.
Zu jeder Huxt und Kirmes und Gvatterschaft haben se 'n geloden. Wie
gefreckt is er mir immer nach Haus gekommen, wie so ein Babinski.
Einmal aber hab ich gedacht, ich muß ihn holen und hab mer 'n Löffel
genommen, den großen zum Auswinden für die Wäsch und hab gedacht,
ich zerschlug ihn an ihm. Frau Goldbergen, habn se mir dort gesagt,
bleiben's ock do und trinkens Wein mit uns. No so hab ich den
Löffel unter die Bank gelegt und mitgetanzt.« ... »Was, du bist
geblieben« Arnold riß die Augen auf ... »Nur e paar Stücklach«
entschuldigte sich die Großmutter »Jo, das war nicht so wie die
heutige Welt.« -- »So du glaubst auch, daß es früher besser war« fragte
Arnold, zart, wie man etwa einen Professor, mit dem man spazieren
geht, also außer der Stunde, ohne Recht auf Unterricht zu fragen
wagt, ohne eigentliche Hoffnung belehrt zu werden; nur um ihm
Gelegenheit zu geben, ihn zu erfreun, riskiert man es, ihn zu
belästigen. -- »No, es waren halt zugetanere Lait.« -- Als er aber
weiter drang, mit »Wie« und »Wieso«, schnitt sie ab: »Was, ich hab mir
nix den Kopf damit eingenommen.« -- Aber oben auf dem Boden habe sie
einmal einen Korb voll durchgetanzter Schuhe gefunden, alle von Poldi
und Regieleben ... Die Mutter zuckte die Achseln ... Ein Schuster habe
sie darauf aufmerksam gemacht, daß Poldi sich jede Woche frische
Schuhe anmessen lasse. Überhaupt habe er lauter solche »Tipplach und
Sterzlach« gemacht. Auch Ware über die Grenze geschwärzt, und das
ausgezeichnet! -- Arnold meinte, auch heutzutage sei man lustig,
es werde ja eben in Wintertal ein Schützenfest gefeiert: »Nun,
möchtest du nicht auch mit dabei sein, Großmama?« -- »Es wird ohne mir
ach gehn.« -- »Aber es ist zu Ehren unseres Kaisers. Liebst du nicht
unsern Kaisern? Ich habe ihn sehr gern?« -- Ziemlich gleichgiltig
wandte sie sich ab: »Warüm nicht. Er soll immer gut zu die Jehudim
gewesen sein.« Vergebens suchte ihr die Mama klarzumachen, daß das
jetzt nicht mehr so sei, mit dieser Scheidung von Juden und
Christen. »Laß mich gehn. Wenn's emol zu etwas kommt, so geht's doch
nur wieder über die Jehudim her. Es hat immer noch für uns e miesen
Ausbruch genommen.« -- Sie wurde ganz traurig. Um sie zu erheitern,
erzählte ihr Arnold, daß er in einem Komitee sei (verstand sie das
Wort? Ja, sie nickte), mit vielen Christen beisammen und daß man sich
da sehr gut vertrage. Man habe ein lustiges Festessen gefeiert,
alle mit einander. »Ja, das können se, fressen und saufen, die
Chaserim.« Er verzweifelte, doch machte er noch einen Versuch,
indem er ihr von einer Freikarte erzählte, die er als Mitglied des
Komitees habe, für alle Bahnen. Also auch hierher sei er umsonst
gefahren. Er zeigte die Legitimation. (Tatsächlich hatte die
Eisenbahndirektion den Ausschußleuten Ermäßigungen für die Strecke
nach Waldbrunn gewährt.) »Nu, das is schön« er hatte das Richtige
getroffen »da erspart man eppes. Da nimmste de ach die Mama mit, nicht
wahr.« Er lachte: »Nein, das geht nicht.« Und die Großmutter
erzählte, wie ihr einmal fünf Kreuzer an der Bahnkassa gefehlt
hätten und der Beamte dort sie nicht habe mitfahren lassen wollen.
»So e Schlemasl, was ich hab.« Ein Lärm sei das geworden, in dem
Gedränge, sie habe sich aber nicht wegdrängen lassen, bis ein Herr
hinter ihr gesagt habe: So ein Skandal wegen fünf Kreuzern -- die alte
Frau -- und ihr das Geld geschenkt habe. -- Die Mama zuckte nervös
zusammen, Arnold amüsierte sich, dabei fühlte er aber, daß er etwas
vergessen habe, bei einer schon vergangenen Wendung des Gesprächs, so
schnell ging es jetzt. Während die Großmutter weiterplauderte und
immer so vergnügt, als entschädige sie sich jetzt für langes
Alleinsein, fiel es ihm ein: »Aber hier hast du dich ja nicht zu
beklagen. Hier in der Gegend scheinen ja lauter so freundliche offene
Leute zu sein, und alle so schön.« »No ja« meinte sie »selten sieht
man so e Larvengesicht. Aber jetzt sind ach Böhmacken hier, so ein
Haderlumpgesindel, Zorbechol. Was, die verkafen for e Kraizer, was
früher hat e Gülden gekost.« Sie entfesselte laute Anklagen gegen die
Konkurrenz. Arnold erinnerte sich indessen wieder an etwas, was er
vorher hatte fragen wollen: »Du hast schon mehrere Kaiser, erlebt,
was?« Zuerst verstand sie ihn nicht. »Mehrere Regierungen von
Österreich.« Das wußte sie nicht. Aber einmal hatte sie eine Krönung
gesehn: »Do war ich in Prag, und da hat sich was angetan mit Wagen
und Neugierigkeiten.« Der Krieg von Sechsundsechzig fiel ihr ein,
dann die Türken und Russen. »Meinthalben sollen se sich die Köppe
herunterschlagen«, als sei dies alles gestern oder heute geschehn. Sie
wußte alles, sie verstand alles und man konnte daher nicht sagen, ihr
Blick sei beschränkt. Wie kam es trotzdem, daß alles, wie es in ihren
Kreis trat, das Merkmal ihrer eigentümlichen Anschauungsart trug.
Arnold hätte es gern an dem Naheliegendsten erforscht. Er machte sie
also auf seine neue Krawatte aufmerksam. »Sehr schön« war das Urteil,
nach einer strengen Pause jedoch folgte: »aber so verwändlich.« »Ja,
da mußt du dich in Acht nehmen« lachte ihn die Mutter aus. -- »Tut
nichts, wir haben uns doch gern« rief er und strich ihr über das Haar,
das jetzt zu einer runden festen Frisur aus den Zöpfen geschlichtet
war »Ich hab eine schöne Großmutter.«

Jetzt verlangte sie aber schon dringend, aus dem Bett zu steigen.
Dabei rief sie die Mama zu sich und sagte ihr etwas ins Ohr, was
diese sehr zu freuen und umzustimmen schien, denn sie half ihr
sofort auf. Auch Arnold unterstützte und es war eine ziemlich schwere
Sache, die Beine der Greisin von der hohen Bettkante allmählich
vorsichtig auf den Boden zu stellen ... Arnold sah sie nun zum
erstenmal ganz vor sich. Sie stand da, in ihrer zerknitterten
Nachtjacke und im roten Unterrock, viel kleiner noch als er sich sie
aus der liegenden Stellung heraus vorgestellt hatte, mit ganz
gewölbtem Rücken, den Hals verfallen, mit einer tiefen Rinne zwischen
den schlaffen Muskeln. Langsam atmete sie und ging, indem sie sich
zu beiden Seiten am Bett und am Sessel stützte, nur so fortschob. Man
brachte ihr Pantoffeln. Ihre Beine waren dünn, doch an manchen
Stellen geschwollen, die Adern hervortretend wie hartes rotblaues
Holzgeflecht. Und wenn sie ihren Ärmel aufstreifte, sah man die Haut
bis zum Ellbogen in zahllosen regelmäßigen Furchen, einem
schwachgewellten braunen Meere ähnlich, dünn, beinahe durchgewetzt
und so lose, über dem mageren Fleisch, daß sich diese Faltenwellen
zusammenzogen und wieder abflachten, wenn sie den Arm rieb. Sie
keuchte und bückte sich immer tiefer. »De Füß, de woll'n halt
nimmer.« Die Mutter hielt sie fest, hüllte sie in die schwarze Jacke
ein und führte sie hinaus. Da hatte Arnold, gerade wie ihr Rücken in
der Türe verschwand, einen Moment lang, nur einen Moment, ein
flüchtiges unklares unnatürliches Gefühl wie von Sinnlichkeit, diesem
widerstandsfähigen Körper gegenüber, dieser historischen Schönheit in
all dem Ruin, wunderliches Zeug fiel ihm ein und er lachte keck auf,
um es zu verscheuchen.

Nach einer Weile kehrten die beiden zurück. Die Großmutter setzte sich
auf das Kanapee, dort sitze sie immer am liebsten. »Aber du willst es
doch nicht haben, das Kanapee« widersprach Arnold. Sie hielt es nicht
für nötig, ihn aufzuklären, obwohl ihre Miene sehr verständig, gar
nicht zerstreut, blieb. Von hier aus konnte sie durch die beiden
Guckfensterchen hinaussehn, das eine führte gegen ein mehrstöckiges
Hofgebäude, auf der andern Seite war gleichfalls das Licht beinahe ganz
durch einen Gartenzaun abgeschnitten, hinter dem man eine grüne Pumpe,
ein Gärtchen und einen jener nicht sehr reinlichen engen Wege sah, wie
sie seitlich zwischen Hausmauer und Zaun zu führen pflegen ... Über
jedes Fenster wußte die Großmutter Auskunft. Dort wohnte ein Koch,
ein geschickter Mensch, und dort die Witwe hatte drei Töchter, von
denen die älteste an einen Juden verheiratet war und so glücklich, daß
die zwei ledigen Schwestern auch nur Juden heiraten wollten. Die
Schusterin dort dagegen hatte sie im Verdacht, daß sie ihr ein
Pulver gestreut habe, »aus Asis«, wovon sie eben den jetzigen Husten
habe. Es war eben eine Freundin von Frau Keller. »Oine mit Moine.« Ihr
Schwager habe neulich das Hotel gekauft, in dem jener Koch angestellt
war, und so billig ... Der Besitzer war damals betrunken gewesen
und habe es ja auch nachträglich zurücknehmen wollen, aber da war es
schon »mit Zeugen festgemacht. Ja so ist's in der Welt. Der eine
kommt dazü, der andere davon« ... Arnold flocht ein, was er ihr schon
vormittags erzählt hatte, daß auch einer seiner Freunde jüngst ein
großes Geschäft gekauft habe. »So?« Das hatte sie schon wieder
vergessen. Aber mit erstaunlichem Gedächtnis kam sie wieder auf
frühere Dinge zurück. Einmal, bei irgend einem Besuch, habe ihr Poldis
Frau nur »Nickelsupp« vorgesetzt (womit sie »Kaninchensuppe«
meinte), während die Familie selbst Torte zum Mittagmahl hatte.
Nickelsupp, so was!... Lauter Erfindungen, kopfschüttelte die Mama ...
Ein Fleischhacker habe die kleine Regie heiraten wollen, als sie erst
siebzehn Jahre alt war. Die Eltern des Herrn Beer wollten ihr einmal
sechshundert Gulden geben, wenn sie die Partie zurückgehn lasse.
Aber da sei sie, die Großmutter selbst, aus Wintertal herangefahren
und habe ihnen den Kopf zurechtgesetzt: die Hauptsache sei, daß ein
Mädel koscher kochen könne, das Fleisch tüchtig einsalzen und da
sei ihre Regie die Richtige ... »Eine Idee hast du gehabt, daß ich
überhaupt verlobt bin! Ja viel gekümmert hast du dich um uns« sagte
die Mutter, mit zärtlicher Bitterkeit, indem sie ein Glas mit
Himbeersaft vom Kästchen nahm »Willst du nicht ein bißchen? Sonst
trocknet dir noch die Kehle, von dem vielen Erzählen.« -- »Hast e
Geruschber! Stell das Tippele hin.« -- »No ein bißchen.« -- »Aber
Mama, du mußt doch deiner Mama folgen. Wirst du gleich das Tipfel
hinstellen« befahl Arnold mit komischem Ernst.

Ohne zu klopfen war der Doktor eingetreten, ein stattlicher Mann
mit blondem rundgeschnittenem Vollbart, er lächelte: »No, Mutterle,
wieder ganz beinand.« -- Arnold machte sich ihm bekannt, die Mama
kannte ihn schon von früheren Krankheitsfällen her: »Nicht sagen
läßt sich die Mutter, sie folgt halt nicht.« -- »No, wir werden sehn«
erwiderte der Doktor, fühlte den Puls: »fieberfrei.« -- »Die Mutter
will die Medizin nicht nehmen« klatschte ihm die Mama. -- »Medizin
müssen Sie nehmen, Frau Goldberg, das geht nicht«. Er sprach laut und
eindringlich zu ihr, wie man gewöhnlich zu ganz alten Leuten spricht,
er drohte beinahe »das geht nicht«, doch, wie es schien, ohne auf
besondere Wirkung zu rechnen. Sie nickte, ängstlich und folgsam.
Indessen hatte man ihm einen Sessel gebracht, mit einer Geberde, als
sei dies ein Vorzugssessel, obwohl nur zwei ganz gleiche da waren. Er
ließ sich nieder, indem er auf seine breiten Schenkel klatschte: »No,
hammer uns wieder aufgerappelt, was?« und legte seinen Kopf an ihren
Rücken. Nach vorn gebeugt saß die alte Frau auf dem Kanapee, die Augen
ins Ungewisse, geduldig wie ein Lammerl, während der Doktor, immer den
Kopf an ihrem Rücken, mit dumpferer Stimme redete: »Was wollen Sie
haben, gnädige Frau Beer, man muß sie lassen, sie weiß schon selbst
was ihr am besten taugt ... Tut es Ihnen hier weh« fuhr er in
veränderter Stimmlage fort, während er den Rücken der Großmutter mit
einem Finger beklopfte, dessen Spitze er aus der Krümmung
hervorschnellen ließ »Nein? und hier? Ein bißchen. Und hier?... Wie
viel Kinder haben Sie gehabt.« »Vier« war die Antwort mit schwacher
befangener Stimme. Die Mutter war erschrocken, machte Zeichen gegen
Arnold hin, nein, was sich diese Großmutter schon alles einbildete, sie
waren doch nur drei gewesen. »Ans is tot zur Welt gekommen« sagte die
alte Frau, ihre Gedanken erratend. »Davon hab ich aber bisher kein Wort
gewußt« flüsterte Mama, doch schien sie diesmal eher zum Glauben
geneigt. Der Doktor pochte weiter. Nun als schiebe er die Patientin
beiseite, richtete er sich auf: »Ein Vergnügen, das Mutterl zu sehn. In
meiner Praxis sind mir noch nicht viele solcher Fälle vorgekommen, was
glauben Sie. Keine Spur von Altersschwäche. Gehör, Gedächtnis, Augen,
alles intakt. Sie können von Glück reden.« Was spricht er, dachte
Arnold, er tut, als wäre die Großmama gar nicht vorhanden, und
trotz all seiner Gemütlichkeit und Freundlichkeit schien ihm der
Doktor dumm und unfein, eben mit dieser alten Frau verglichen. Und nun
gar, als er abschweifte und von seiner Praxis zu reden anfing, sich
breit machte mit Sechs-Uhr-früh-Aufstehn und Arbeiten-bis-zehn-Uhr,
und dann noch die Gutachten für Gerichte, Versicherungsanstalten,
das Geschmiere, was glauben Sie ... Arnold fragte ihn, wie lange
es mit der Krankheit noch dauern könne. »Husten Sie noch?« wandte
sich der Arzt an die Großmutter, der die Mama indessen wieder ins
Bett geholfen hatte. »Ja, e bissele.« »Ich werde Ihnen ein anderes
Mittel aufschreiben« sagte der Doktor und zog auf einen Ruck die
Füllfeder und sein Ledertäschchen mit dem Rezeptblock hervor, legte
es aufs Knie und schrieb. »E Mittel mecht ich habn, unter die Erd
zu kommen« sagte die Großmutter, wie aus einer andern Welt her, und
schaute ihn dabei mit einer gewissen überlegenen Schalkhaftigkeit
an. »Aber Mutterle, über der Erde ist's doch viel schöner ... Nicht?«
wandte er sich breitspurig an Arnold und die Mama Ȇber der Erde
ist's doch viel schöner, was glauben Sie.« Er zeigte lachend seine
großen weißen Zähne und meinte noch, sachlich: »So lange sie hustet,
ist's gut. Der Schleim muß heraus ... Ja, gestern wie ich hier
war, da hab ich nicht gemeint, daß sie sich so schnell wieder
herausmachen wird. Aber das ist es halt, dieses Fieber tritt
manchmal auf, es ist noch nicht genügend beobachtet worden, in den
medizinischen Fachschriften finden Sie nichts darüber, nur ein
Praktiker kann Ihnen das sagen, dieses Fieber also tritt bei
älteren Leuten mit einer enormen Heftigkeit auf, achtunddreißig,
vierzig Grad, man meint, jetzt muß die schönste Influenza kommen,
mindestens ein Typhus. Und dann ist's auf einmal nichts. Reines
Fieber und vorbei, aus.« In Arnold erwachte für einen Moment die
Erinnerung an zahlreiche ermunternde Gespräche mit seinem Freund Löb:
»Nun, werden Sie das nicht genauer beobachten? Werden Sie nicht
darüber schreiben?« -- Der Arzt sah ihn förmlich mitleidig an: »Ich
und schreiben! Wo hab ich denn Zeit« und er kam auf seinen seltsamen
Studiengang zurück, beinahe wäre er Dozent geworden, nun, man
wisse nicht, ob es so nicht besser sei. Die Arbeit sei sein größtes
Vergnügen, da fühle sich der Mann. Von früh bis Abend zu tun.... Die
Mama war beunruhigt: warum er bei so einem großen Einkommen nicht
heiratete ... Er lachte kräftig: wozu er das nötig habe, ihm fehle
ja nichts, er sei zufrieden ... »Dos da« mischte sich jetzt die
Großmutter ein, die nur scheinbar teilnahmslos dagelegen war »Dos da
is e Köppile, mei Arnoldele, der is ach tüchtig, der hat Chochme, er
schreibt ach in Zeitungen.« Das hatte ihr die Mutter erzählt und
jetzt brachte sie es instinktiv gegen die Protzereien des Doktors
vor. »So, das interessiert mich aber sehr« wandte sich der Doktor
an ihn und redete längere Zeit darüber, daß er sich nicht oder
doch erinnere, seinen Namen einmal gelesen zu haben, und: »Was für
ein Genre kultivieren Sie?« Er werde von nun an achtgeben. Bei der
Erwähnung von Arnolds Reisebriefen kam er auf seine Reisen zu
sprechen, jedes Jahr zwei Monate lang -- was glauben Sie, einmal im
Jahr muß man tüchtig ausspannen. Er gab sich in diesem Zusammenhang
auch noch als »Nimrod« zu erkennen. So blieb er beinahe eine Stunde
und Arnold sagte sich, daß er freilich auf diese Art mit seinen
Patienten bis Abend nicht fertig sein könne. Doch sofort korrigierte
er sich innerlich: es ist dies ja seine einzige Visite, das
betrachtet er wohl nur als Erholung, ich habe ja den Andrang in seiner
Wohnung gesehn -- nur nicht ungerecht sein -- so ein netter Mensch.
Die Großmutter schien er allerdings über seinen Erzählungen etwas
vergessen zu haben, nur als sie hustend seufzte, rief er ihr zu:
»Was wollen Sie! Sie sind die Gesündeste hier im Zimmer. Sie werden
uns noch alle überleben.« Im Weggehn stieß er an die Kohlenkisten
und, als müsse er alles wiederholen, was Frau Lichtnegger über ihn
berichtet hatte, ließ er zum Abschied den Witz fallen: »Nun, was
für Schätze haben S' denn da eingesperrt, Mutterle. Das ist ja wie im
Märchen.«

Sie atmete auf, als er draußen war: »Hast e Kol gehabt. Alles nur was
wahr is.« Dann wurde sie stiller, da gegen Abend ein leichter
Fieberrückfall sich wieder einstellte ... Arnold mußte ans Weggehn
denken, es war spät geworden, und in einer angstvollen Unruhe fragte
er sich, ob er noch einmal im Leben dieses liebe Gesicht, den
eingesenkten Mund, den er küßte, wiedersehn würde, ob das nicht
ein Abschied für immer sei ... Er konnte nichts herausbekommen, was
ihren Anschauungsformen entsprochen hätte. Und doch, wie gern hätte er
etwa vorgebracht, daß dieses Wintertal, bisher ein ihm gänzlich
gleichgiltiger Flecken, von nun an eine ungeheure Bedeutung für ihn
habe -- daß er es stets in seinem Rücken wie eine Festung spüren werde
-- oder was für eine seltsame Reise hierher das eigentlich gewesen
sei, da er von der Stadt aber nicht den geringsten Eindruck gewonnen
habe, nicht einmal wisse, wo der Marktplatz sei, daß diesmal sich alles
nur zu ihrem Bilde verdichtet habe und alle Straßen nur Linien waren,
die durch farblose Luft zu diesem Bilde hinführten ... Er stammelte
und, während er rot wurde, fühlte er, daß seine Wangen schon von
früher her heiß waren, daß er wohl seit dem Morgen mit dieser Röte
gezeichnet herumging. Und plötzlich brach ihm ein Strom von Tränen
wie aus dem Innern des Kopfes hervor, in die Augen, während er sich
zu ihr niederbeugte: »Großmutter, liebe, liebe ...« -- Die
Großmutter indessen schien sich über den Abschied weniger aufzuregen,
als er gefürchtet hatte. Nur ihre Hände zitterten, die sie ein Weilchen
auf seinem Kopf hielt, um ihn zu segnen.... Die Mutter blieb wohl
noch zwei Tage lang hier, sie trug ihm auf, einiges dem Papa und den
Dienstmädchen auszurichten ... In der Stube war es nun ganz dunkel.
Die Mutter hatte eine neue Petroleumlampe gekauft und schickte sich
an, sie anzuzünden, während Arnold langsam hinausschritt. In der
Türe blickte er sich um, fing aber keinen letzten Blick der
Großmutter mehr auf, da sie gerade der Mama angelegentlich, mit
gespanntem Gesicht in die Hand schaute. Der Docht flammte auf und
beleuchtete ihre Stirn, auf der die zwei Halbkugeln über den
Augenbrauen je einen blitzenden Punkt bekamen, wie selbstleuchtende
kleine Sonnen. --

Beinahe verfehlte er den Zug. Welchen Zug denn? -- Natürlich nicht
den in seine Heimat, sondern über Dresden nach Berlin. -- Sowie er
die Hütte verlassen, hatte ihn nämlich dasselbe Gewirr wie zu
Mittag befallen. Auf dem Bahnhof aber war mit einem Mal sein Plan
fertig, wurde ihm wie auf einem Teller von unsichtbarer Hand vor das
Gesicht geschoben: sofort an Gottfried Eisig telegraphieren, daß er
den Journalistenposten in Berlin annehme, den Eltern dasselbe, und
sofort nach Berlin abreisen, obwohl es dort nur hölzerne Treppen,
keine steinernen gab. -- Plötzlich sah er sich aus den kleinen
Verwicklungen seiner Heimatstadt herausgehoben, vor ein neues
Leben gestellt, als hätte ihm die Großmutter erst gezeigt, wie groß
die Welt sei und wie verschiedenartig die Möglichkeit zu wirken für
den Energischen. Und zwischen den glatten hellerleuchteten Wänden
des Eisenbahnkoupees, den Blick auf das schwarze Viereck des
Fensters geheftet, auf die Nacht da draußen, überkam ihn eine schier
übermenschliche Freude ... Was lag ihm am Komitee, was an Lina! Es
würde schon nicht das Ärgste geschehn, es würde sich schon irgendwie
aussitzen. Was war denn eigentlich dabei. Ihre Worte klangen ihm im
Ohr: An Heiratsanträgen habe ich keinen Mangel. Und dann, sie
hatte sich ihm an den Hals geworfen, mochte sie dafür büßen. Ebenso
dieses Komitee, genau so ... Er spürte in sich den bisher nie
geahnten Willen, hart und rücksichtslos vorzugehn, über die Köpfe
dieser unbedeutenden Menschen, die sich an ihn hängten, mit
Gleichgiltigkeit hinweg. Und lustig noch dazu, ohne viele Umstände.
Diese Lina -- den ganzen Tag hatte er an sie nicht gedacht -- jetzt
erinnerte sie ihn mit ihrem Gerhart an der Hand an die klägliche
Frau Lichtnegger mit ihrem einfältigen Jungen, nur daß sie noch
außerdem diesen Exophthalmus hatte, den ekligen, diese kupplerischen
Rollaugen, die ihm sogar krankhaft schienen, da er sich nun auf den
medizinischen Namen besonnen hatte. Es war ihm fast, als hätte sie
ihn beleidigt, als wäre es sein Recht, sich gegen sie zu wehren. Weg
damit! Es war nicht die Hauptsache ... Vielmehr dies: tüchtig sein,
endlich etwas leisten, mit sich selbst zufrieden sein, so lange man
lebt, und wenn man schon die unglückliche Gabe der Vielseitigkeit und
Gewandtheit in sich hat, diese Üppigkeit in den einzig hierfür
möglichen Beruf leiten: den Journalismus. Er hatte die bescheidene
Idee, daß dies allerdings nicht das Letzte, Tiefste, für die Menschheit
Wichtigste sei -- und doch, nun da er erkannt hatte, daß darin seine
eigentliche Begabung lag und daß sein Leben eigentlich von Jugend an
darauf hingezielt hatte, nun fühlte er eine Liebe zu dieser
Öffentlichkeit und allseitigen Bewegung in sich, ein Feuer, das selbst
einen geringeren Gegenstand geadelt hätte. Es war ja so schön: reden,
schreiben, heiß sein, immer im Galopp, aus der weißen kreidigen
Asphaltwüste einer ungeheuren Stadt Lorbeerhaine und grüne duftende
Zedern aufreißen, alles mit sich ziehn, Bühnen gründen, Vereine, neue
Stile, Warenhäuser, Reichtümer -- o, es mußte glücken! Denn nun liebte
er auch sich selbst -- zum erstenmal in seinem Leben -- sich selbst und
alles, was aus ihm herausdrang. Er war allein mit sich und doch nicht
unzufrieden wie sonst immer, er fand sich selbst sympathisch, so wie er
sich als Resultat der Wanderungen und Untaten seiner Väter erkannt
hatte, ihrer Jahrtausende alten Verblendungen, ihres Blutes, ihrer
Tugend und ihres Überschwangs. In seinem unmäßigen Temperament faßte er
heute zum erstenmal das Erbe jenes biblischen Zornes, mit dem ein Volk
von Raubtieren aus der Wüste sich über den Jordan schüttet und die
Städte unbekannter Stämme mit der Schärfe des Schwertes austilgt, jenes
Zornes, den Simson in lachenden, vor Lachen beinahe sinnlosen
Heldentaten ausübt. Arnold fühlte Boden unter seinen Füßen, das war es,
zum erstenmal ... und wie sich ihm eine ganze Nation, eine Reihe von
klotzstirnigen gewalttätigen aufdringlichen Ahnen erschloß, zu deren
Füßen unglückliche Opfer, häßlich schreiend, verbluteten: so spürte
er doch zugleich auch in sich all ihre in die Luft verhauchten
Zärtlichkeiten, ihre feinnervige Sehnsucht, ihr Klagen wie das
Rauschen eines Waldes, ihr freundliches und gescheites Aufpassen
mit Lichtpunkten in den Augen, ihre kühnen unerschrockenen Würfe,
ihr natürliches Führertum und Erzählertum, ihren selbstverständlichen
Lebenswandel, den man fast fromm nennen konnte, und ihre Ergebung
in das große Schicksal aller Menschlichkeit, nicht zu ergründen und
deshalb nicht zu beklagen.

So saß er und bald beschäftigte ihn, da die Erregung nachließ und
endlich der feste Entschluß wie ein starrer Goldklumpen zurückblieb,
nur der Gedanke, ob er auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin rechts oder
links aussteigen werde. Das heißt: er wußte, nach der Fahrtrichtung,
daß der Zug von Südosten in den Bahnhof einfahren müsse und daß also
zur rechten Hand auszusteigen sei, denn auch die Lokalität dieses
Bahnhofs war ihm von früheren Berliner Aufenthalten her wohlbekannt.
Beim Einsteigen in Wintertal mochte er aber irgendwie die Richtungen
verwirrt haben, kurz, nun hatte er immer das Gefühl, daß der Bahnhof
links kommen werde. Er rückte von einer Bank auf die andere, versuchte
gleichsam seinen Kopf umzudrehen, umzustülpen, vergebens, die
richtige Orientierung wollte sich nicht mehr einstellen. Endlich ergab
er sich in seinen Wahn, lächelnd, da die Lösung bei der Einfahrt
sich sowieso von selbst einstellen mußte, und nahm die seltsame, ja
geheimnisvolle Unordnung dieser Nachtfahrt für den letzten Ausklang
seiner jugendlichen Ziellosigkeit, die jetzt für immer abgetan war.




Nachwort


Dem geneigten Leser wird es nicht entgehn, daß der Dichter in diesem
Buche mit verstärkter Entschlossenheit in einer Richtung fortschreitet,
die er in seinem letzten Roman »Jüdinnen« begonnen hat.

Da also Vorwürfe und Einwände, die gegen die »Jüdinnen« erhoben
wurden, das neue Buch wiederum treffen dürften, und zwar verdoppelt
-- denn man wird mit Recht dem Dichter vorhalten, daß er auch
wohlwollende Ausstellungen sich nicht zu Nutze hat machen wollen, man
wird ihn engherzig und verstockt nennen --: so wird es wohl nicht
müßig scheinen, wenn ich auf einige dieser Vorwürfe an dieser
Stelle eingehe, nicht um sie zu entkräften -- denn kann ehrlich aus
dem Herzen Geschleudertes jemals entkräftet werden --, sondern nur,
um zu zeigen, wie ich diese Vorwürfe in meinem Innern geordnet,
gruppiert, teilweise mit meinem Willen in Übereinstimmung gebracht
und teilweise der allgemeinen Harmonie der Welt zum Ausgleichen
überlassen habe.

Nun an die Sache!

Da sei zunächst für das vorige Buch, wie für dieses und für alle
meine zukünftigen das Mißverständnis, als seien in den hier handelnden
Personen irgendwelche lebende Menschen meiner Umgebung porträtiert
worden, weit zurückgewiesen. Wohl haben Beobachtungen des Wirklichen
und Gedanken, die mir das Leben selbst eingab, in meine aufbauende
Arbeit bewußt und unbewußt eingespielt; doch hat jedes, auch das
geringste tatsächliche Detail durch seine Einfügung in ein ganz
andern Gesetzen und höheren Zielen folgendes Ganzes so gründlich
seine Wesenheit geändert, daß ein Rückschluß von dem Kunstwerk auf den
verarbeiteten Rohstoff zu den willkürlichsten Irrungen führen muß --
wie denn überhaupt der Satz, daß alle in einem Kunstwerk irgendwie
vermutete handgreifliche Wirklichkeit sich letzten Endes als eine
Wirklichkeit höheren Ranges, mithin für den gemeinen Kopf als ein
bloßer Schein darstellen muß, hier durchaus und im strengsten Sinne
statthat.

Ein ebenso entschiedenes »Nein« kann ich der zweiten Gruppe der
Unzufriedenen nicht entgegensetzen: denen, die die Figuren meines
Romans »Jüdinnen« oder doch ihre Mehrzahl als »unsympathisch«
bezeichnet haben. Zwar liegt auch diesem Urteil eine allzu enge
Anschmiegung von Lebens-Maßstäben an das Kunstwerk zu Grunde und das
Beiwort »unsympathisch« gehört eher in die Schule des täglichen
Verkehrs als in den Mund eines Kunstrichters: doch will ich mich auf
diesen frostigen Standpunkt nicht zurückziehn, lieber gestehn, daß
ich selbst mit den erfundenen Gestalten der »Jüdinnen«, mit Irene,
Olga, Hugo und den andern, nicht nur durch literarische Gefühle,
auch durch menschliche Parteinahme und Liebe mich verbunden fühle.
Durch Liebe: damit habe ich ausgesprochen, was ich auf den Vorwurf
des »Unsympathischen« zu erwidern habe. Ich gebe zu, daß meine
Gestalten, als Menschen betrachtet, böse Züge und Charakterfehler
aufweisen; aber eben ihr Fehlerhaftes und damit das Fehlerhafte eines
ganzen Menschentypus, zum Beispiel aller Jüdinnen wie Irene, als
etwas durch ungünstige Lebensumstände Bedingtes, als Krankhaftes,
Unverschuldetes, Notwendiges, durch besondere Zufälle sogar Heilbares
anzusehn, das wollte ich lehren. Für mich ist Irene weit eher
bemitleidenswert als unsympathisch. Der flüchtige Betrachter nur wird
bei einem Verdammungsurteil über unglückliche Wesen stehn bleiben,
deren Aufschreie, deren tüchtigen Kern und bis an das Himmelsgewölbe
reichende Wichtigkeiten meine eindringendere Darstellung aufdecken
wollte, die freilich ohne eindringenderes Lesen, ja Studium des
Buches wirkungslos bleibt.

Von hier ist nur ein kleiner Schritt zu machen, um dem Tadel, diesen
Büchern fehle die »Handlung«, entgegenzutreten. In ihnen ist freilich
keine Kaiserkrone zu vergeben, auch Mord und Raub kommt nicht vor. Es
werden Vorgänge geschildert, die einem Nichtbeteiligten oft als
geringfügig erscheinen mögen. Aber eben nur dem Nichtbeteiligten. Daß
aber die Geschehnisse die ganze Seele der handelnden Personen, ihr
Edelstes und ihr Niedrigstes, aufwühlen, daß nur von außen gesehn
alltägliche und langsam fortschreitende Tatsachen, aus dem Herzen
der Betroffenen gesehn aber schnelle Umstürze, Überraschungen,
Verwicklungen, Mord und Raub vor sich gehn: das haben fühlende Leser
wohl nicht unbemerkt gelassen und das weiter auseinanderzusetzen,
würde mir wenig anstehn.

Noch zwei Gegenstimmen. Mein Buch sei zu ausgeprägt jüdisch, sagt die
eine und die andere, es sei nicht jüdisch genug. Nun könnte ich
mit einer nicht einmal sophistischen Wendung diese beiden Sätze gegen
einander ausspielen und gegenseitig für widerlegt erklären. Doch
würde mich eine solche ausweichende Art der Möglichkeit, mich mit
meinen Lesern rechtschaffen zu verständigen, berauben und ohne die
ehrliche Hoffnung auf eine solche Verständigung hätte ich ja diese
ganze Ausführung ungeschrieben lassen können. Ich will also lieber
annehmen, daß hinter diesen beiden schnellen Einwänden ein dritter,
wenn auch nur dunkel gedacht, verborgen liegt und daß er etwa darauf
abzielt: meine Bücher hätten keine entschiedene Tendenz, kein Ethos,
sie äußerten trotz ihrer Titel keine eigentliche Meinung über das
Wesen und die Zukunft des Judentums. -- Wie nun aber, wenn gerade
in diesem Nichtäußern ein Stück meiner Meinung über das Judentum, ja
meines ganzen weltanschaulichen Wollens läge! Ich habe es nirgends
unternommen, den Typus des Juden oder der Jüdin zu schildern, weil
ich einen solchen Typus genau gesprochen nicht anerkenne. Vielmehr
scheint mir die Mannigfaltigkeit und das Umfassen vieler Gegensätze
dem Judentum sehr wesentlich zu sein, und ich habe dementsprechend
meine Aufgabe darin gesehn, zunächst für kleinere Gruppen von Juden
einen Typ zu bilden. Als solcher Typ einer immerhin ziemlich
umfassenden Menschheitsgruppe wollen Irene, Olga u. s. f. angesehn
werden, und auch das vorliegende Buch stellt »das Schicksal _eines_
Juden«, _vieler_ Juden vielleicht, aber nicht einmal andeutungsweise
_aller_ dar. Es sollen vielmehr in einem Zyklus weiterer Romane
ganz andere, zum Teil entgegengesetzte, ergänzende Typen so lange
auftreten, bis ein Aufsteigen von dieser Typenreihe zu einem höheren
Typus vielleicht möglich erscheint, vielleicht als undenkbar für
immer abgelehnt wird. In diesem erhofften Zeitpunkt wird sich das Bild
des Gesamtjudentums allerdings, wie ich schon jetzt voraussehe,
wesentlich komplizierter, kräftereicher, fließender, vor allem auch
harmonischer darbieten als es seinen jetzigen wohl allzu einseitigen,
wenn auch in manchem Hinblick vortrefflichen Theoretikern wie
Birnbaum, Sombart, Buber, Zollschan u. a. erscheinen kann.

Albert Ullrich Buchdruckerei
Berlin SW68/Hollmannstr. 22




  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  werden, daß er sich schon oft genug mit aller Sehn ucht in sie
  werden, daß er sich schon oft genug mit aller Sehnsucht in sie

  ordentliches Heft zum ehrenvollen Vollschreiben, schien ihm o sehr
  ordentliches Heft zum ehrenvollen Vollschreiben, schien ihm so sehr

  er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszu orschen
  er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen

  Sphäre ziehen konnte, daß Herz zerbrach. -- Wie alles, betrieb er
  Sphäre ziehen konnte, das Herz zerbrach. -- Wie alles, betrieb er

  mit dir? Sammelst du?« .. An langen Nachmittagen grübelte er über
  mit dir? Sammelst du?« ... An langen Nachmittagen grübelte er über

  Üeberlegene in diesem Verkehr, da er Billard spielen konnte, auch schon
  Überlegene in diesem Verkehr, da er Billard spielen konnte, auch schon

  gespensterheaftr Schülerreihen vor sich hatte. -- Oder er gab das
  gespensterhafter Schülerreihen vor sich hatte. -- Oder er gab das

  Karrikaturen zeichnen, einer photographierte, einer konnte mit dem
  Karikaturen zeichnen, einer photographierte, einer konnte mit dem

  »im modernsten Genre« schrieb, selbst verfertigte, Verse, die sich nicht
  »im modernsten Genre« schrieb, selbst verfertigte Verse, die sich nicht

  räuberischen Üeberfällen sicher zu sein, gern die Abendstunden, in denen
  räuberischen Überfällen sicher zu sein, gern die Abendstunden, in denen

  es schreit. Sieg! Sieg
  es schreit. Sieg! Sieg!

  attakierte, all diese Zauberei einer schnellen Auffassung und eines
  attackierte, all diese Zauberei einer schnellen Auffassung und eines

  elfenbeinenen Kästchen. Und Arnold stieg von Dach zu Dach, auf kleinen
  elfenbeinernen Kästchen. Und Arnold stieg von Dach zu Dach, auf kleinen

  hinausgestreutes Leben zu bringen .. Und grimmig ging er die
  hinausgestreutes Leben zu bringen ... Und grimmig ging er die

  versäumten, mit ihren siegesgewissen Mienen, ihrem arrogaten
  versäumten, mit ihren siegesgewissen Mienen, ihrem arroganten

  Arnold mit ausgeschöpften trockenem Herzen zurückblieb. Überdies
  Arnold mit ausgeschöpftem trockenem Herzen zurückblieb. Überdies

  mit ihr, erwiederte ihre mütterlich-verliebten Blicke mit möglichst
  mit ihr, erwiderte ihre mütterlich-verliebten Blicke mit möglichst

  Opern wie »Zampa« »Wasserträger« vom weiten erkannte, zum allgemeinen
  Opern wie »Zampa«, »Wasserträger« vom weiten erkannte, zum allgemeinen

  bewundernden Erstaunen, das ihn dann immer mitAbscheu erfüllte. Von
  bewundernden Erstaunen, das ihn dann immer mit Abscheu erfüllte. Von

  unerwarterweise stießen sie einander gegenseitig ab, Nornepygge
  unerwarteterweise stießen sie einander gegenseitig ab, Nornepygge

  Statur unter diesem Galloppieren litt ... Welches Vergnügen fand er nun,
  Statur unter diesem Galoppieren litt ... Welches Vergnügen fand er nun,

  gehabt .. Heute bezauberte es ihn so, daß er einen Vereinsabend des
  gehabt ... Heute bezauberte es ihn so, daß er einen Vereinsabend des

  endgegenkommendster Weise eine eigene neue Station errichten wollte,
  entgegenkommendster Weise eine eigene neue Station errichten wollte,

  weshalb man lebt? Gibt es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr eine eine
  weshalb man lebt? Gibt es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr eine

  Arnold fand es grausam süß, sie bei diesem Wort, daß sie jetzt schon
  Arnold fand es grausam süß, sie bei diesem Wort, das sie jetzt schon

  ihrem lebhaft hin und hergeworfenen Armen, mit ihren Wendungen, denn
  ihren lebhaft hin und hergeworfenen Armen, mit ihren Wendungen, denn

  »Ich mußte mir doch mal ansehn, wie sie wohnen«. Er fand kein Mittel
  »Ich mußte mir doch mal ansehn, wie Sie wohnen«. Er fand kein Mittel

  abspazierte, winzige Zigarretten rauchte, dann aber gleich wieder im
  abspazierte, winzige Zigaretten rauchte, dann aber gleich wieder im

  nachgibig-festen Brüste, die ihn immer so gelockt hatten, faßte sie
  nachgiebig-festen Brüste, die ihn immer so gelockt hatten, faßte sie

  meinte im Weggeben: »Also wegen der Jubiläumsmarken können Sie ganz
  meinte im Weggehen: »Also wegen der Jubiläumsmarken können Sie ganz

  Auf seinen Schreibtisch zu Hause lag ein Brief. Gottfried Eisig, der
  Auf seinem Schreibtisch zu Hause lag ein Brief. Gottfried Eisig, der

  Schimpf Prügel, daß schon die Nachbarn sich dessen annahmen. Einmal
  Schimpf, Prügel, daß schon die Nachbarn sich dessen annahmen. Einmal

  Man schickte ihr Geld, doch erst sei heuer, bis dahin hatte sie
  Man schickte ihr Geld, doch erst seit heuer, bis dahin hatte sie

  mit Kreide irgendwelche selsame Zeichen zusammen. -- Überdies habe sie
  mit Kreide irgendwelche seltsame Zeichen zusammen. -- Überdies habe sie

  Glotzaugen wie sie sie hatte, große gesunde rote Kerle von Kindern,
  Glotzaugen, wie sie sie hatte, große gesunde rote Kerle von Kindern,

  »Ich kann nimmer gehn« jammerte sie schwach »Ich hab mr ja gewünscht,
  »Ich kann nimmer gehn« jammerte sie schwach. »Ich hab mr ja gewünscht,

  »Sei haben geschrieben« sagte die Alte still »Ich hab ihnen nix
  »Sei haben geschrieben« sagte die Alte still. »Ich hab ihnen nix

  Armseligte, diese nackten graugestrichenen Wände, mit zwei winzigen
  Armseligste, diese nackten graugestrichenen Wände, mit zwei winzigen

  Zärtlichkeiten und Kosennamen. Namentlich aber dem Prunkkanapee näherte
  Zärtlichkeiten und Kosenamen. Namentlich aber dem Prunkkanapee näherte

  einzigen Gegenstand das Symbol ganzer Sckicksale erkennt.
  einzigen Gegenstand das Symbol ganzer Schicksale erkennt.

  Gäste ein. Man aß von einem ausgebrriteten Papier weg ... »Nun, Mutter,
  Gäste ein. Man aß von einem ausgebreiteten Papier weg ... »Nun, Mutter,

  Schüssel?«
  Schlüssel?«

  Gefühl von Unverantwortlichkeit befiehl ihn, als würde er aus einem
  Gefühl von Unverantwortlichkeit befiel ihn, als würde er aus einem

  im einem glänzenden Strom von Selbstentschuldigungen und neuem
  in einem glänzenden Strom von Selbstentschuldigungen und neuem

  vielleicht war die Großmutter tot. Er beugte sich über Gesicht, sie
  vielleicht war die Großmutter tot. Er beugte sich über ihr Gesicht, sie

  eeschien ihm nun in momentanem Zusammenhang die Rede seines Vaters: Sie
  erschien ihm nun in momentanem Zusammenhang die Rede seines Vaters: Sie

  Das Gespräch wurde nun immer lehhafter, während die Großmutter immer
  Das Gespräch wurde nun immer lebhafter, während die Großmutter immer

  «Ich werde es dir also ...« »Ich möchte sagen« unterbrach sie »e Kopf
  »Ich werde es dir also ...« »Ich möchte sagen« unterbrach sie »e Kopf

  noch Blumen sollten in den Fenster stehn, wie bei den Nachbarn
  noch Blumen sollten in den Fenstern stehn, wie bei den Nachbarn

  Magenliqeur trank sie natürlich keinen Schluck, sondern verkaufte ihn
  Magenliqueur trank sie natürlich keinen Schluck, sondern verkaufte ihn

  Farben. So kam es, daß er mit er der Speisekarte zugleich die Zeitung
  Farben. So kam es, daß er mit der Speisekarte zugleich die Zeitung

  fettgedruckte Ausspruch des Aviatikers selbst auf: Er schätze sich
  fettgedruckter Ausspruch des Aviatikers selbst auf: Er schätze sich

  Hütte anssehn, bei einer Arbeiterfamilie. Dann aber durch den finstern
  Hütte aussehn, bei einer Arbeiterfamilie. Dann aber durch den finstern

  standen am Bett der Großmutter und plauderte mit ihr in einem solchen
  standen am Bett der Großmutter und plauderten mit ihr in einem solchen

  ein Jahr eintreten sollte, die steinere Treppe bei Doktor Heiger
  ein Jahr eintreten sollte, die steinerne Treppe bei Doktor Heiger

  «So e Schlemasl, was ich hab.« Ein Lärm sei das geworden, in dem
  »So e Schlemasl, was ich hab.« Ein Lärm sei das geworden, in dem

  Holzgeflecht. Und wenn sie ihren Ärmel- aufstreifte, sah man die Haut
  Holzgeflecht. Und wenn sie ihren Ärmel aufstreifte, sah man die Haut

  erwiderte der Doktor, fühlte den Puls. »fieberfrei.« -- »Die Mutter
  erwiderte der Doktor, fühlte den Puls: »fieberfrei.« -- »Die Mutter

  ihn be eidigt, als wäre es sein Recht, sich gegen sie zu wehren. Weg
  ihn beleidigt, als wäre es sein Recht, sich gegen sie zu wehren. Weg

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electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
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1.F.2.  LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
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liability to you for damages, costs and expenses, including legal
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LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3.  YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

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written explanation to the person you received the work from.  If you
received the work on a physical medium, you must return the medium with
your written explanation.  The person or entity that provided you with
the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
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opportunities to fix the problem.

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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
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WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
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with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
https://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at https://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit https://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including including checks, online payments and credit card
donations.  To donate, please visit: https://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     https://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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