Ssanin: Roman

By M. Artsybashev

The Project Gutenberg EBook of Sanin, by Michail Arzybaschew

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Title: Sanin

Author: Michail Arzybaschew

Commentator: André Villard
             Georg Müller

Translator: André Villard
            Sergej Bugow

Release Date: September 15, 2018 [EBook #57909]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SANIN ***




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                            M. Artzibaschew
                                 Ssanin




                                 Ssanin


                                 Roman
                                  von
                            M. Artzibaschew

                     Uebertragen von André Villard
                              und S. Bugow

               Mit einer Einleitung von André Villard,
               einem Vorwort des Verlegers,
               und sämtlichen die Konfiskation des
               Werkes in deutscher Sprache betreffenden
               Gerichtsbeschlüssen und
                         Sachverständigengutachten.

                           Siebzehnte Auflage


                          München und Leipzig
                            bei Georg Müller
                                  1909


                 -- ich habe gefunden, daß Gott den
                 Menschen hat aufrichtig gemacht!
                 aber sie suchen viele Künste.

                                       (Pred. 7, 29.)




            Der »Ssanin« und seine Schicksale in Deutschland


Der Vertrag über die deutsche Ausgabe des Ssanin wurde im Frühjahre 1908
abgeschlossen. Der Name des Verfassers dieses Romanes, der in Rußland,
wie es in der Vorrede des Mitübersetzers André Villard des näheren
ausgeführt ist, ein so kolossales Aufsehen erregte, war damals in
Deutschland noch so gut wie unbekannt. Nur wenige mit den russischen
Literatur- und Kulturverhältnissen Vertraute wußten, daß M. Artzibaschew
einer der vielversprechendsten jungrussischen Dichter ist. Erst während
der Drucklegung der deutschen Ausgabe des Romanes erfuhr man so langsam
durch vereinzelte Notizen in der Presse von diesem Buche und seinen
Folgen und hörte schließlich auch, daß der Roman in Rußland verboten
worden sei. Hier handelt es sich nun darum festzustellen, welche
Schicksale der Roman in Deutschland erlebte.

Die Nachfrage des Publikums war vor Erscheinen der deutschen Ausgabe,
die Mitte September 1908 erfolgte, eine sehr geringe, dagegen war das
Interesse der Presse, durch die aus Rußland kommenden Meldungen
veranlaßt, ein außerordentlich reges, und umfangreiche Feuilletons
erschienen in rascher Folge. Alle diese eingehenden Würdigungen waren
sich bei verschiedenartiger Einschätzung der literarischen Qualitäten
des Romanes darüber einig, daß es sich in diesem Werke Artzibaschews um
eine der bedeutsamsten Neuerscheinungen der neueren russischen Literatur
handele. Ja, manche behaupteten sogar, daß man erst durch dieses Buch
die gegenwärtigen kulturellen Strömungen Rußlands so recht begreife.

Um so sonderbarer mußte es berühren, als das Buch am 28. November 1908
auf Veranlassung der Münchener Staatsanwaltschaft mit Beschlag belegt
wurde. Ganz unvorbereitet traf ja diese Maßnahme den Verleger nicht,
denn schon vierzehn Tage vor Zustellung des Konfiskationsbeschlusses
waren auf Veranlassung der Münchener Polizeidirektion bei dem Drucker
des Werkes in Rudolstadt und bei dem Leipziger Kommissionär des Verlages
Recherchen über die Höhe der bisherigen Auflage, den Orten, an denen die
noch vorhandenen Exemplare lagerten usw., angestellt worden. Und dabei
wäre es doch das Nächstliegende gewesen, wenn die Behörde zunächst bei
dem in München domizilierenden Verleger des Werkes diese Erkundigungen
eingezogen hätte, denn doch nur dieser war zu derlei Auskünften der
einzig Befugte. Auch eine sofort nach Bekanntwerden dieser sonderbaren
Maßnahme bei der Polizeidirektion gemachte Beschwerde blieb ohne weitere
Aufklärung. Die Konfiskation des Romanes erfolgte gleichzeitig in
München und Leipzig. In München waren die Vorräte erschöpft, und es
fielen den konfiszierenden Organen nur wenig Exemplare in die Hand.
Reicher war die Ausbeute in Leipzig. Hier sollte gerade mit dem
neuerschienenen Novellenbande Millionen die siebente Auflage des Romanes
versandt werden; demzufolge fielen 1200 Exemplare des Ssanin der Polizei
in die Hände und fristeten an einem ihr durch die Polizei angewiesenen
sicheren Orte ein geruhiges, aber keineswegs in ihrer Bestimmung
liegendes Dasein. Die »Millionen« aber mußten ihren Weg allein antreten
und haben sich auch so bei Publikum und Presse rühmlich behauptet und
mit dazu beigetragen, daß der Name Artzibaschew nun auch in Deutschland
ein literarisches Gepräge besitzt, das ihm wohl nicht so leicht streitig
gemacht werden kann. Eine rege Tätigkeit entfalteten die Polizeiorgane
in den verschiedensten Städten Deutschlands, überall wurden die
Schaufenster und auch sehr oft das Innere der Buchläden inspiziert und
alle noch vorzufindenden Exemplare des Romanes in sicheren Verwahr
gebracht.

Die gegen diesen Beschlagnahmebeschluß vom Verlag sofort eingereichte
Beschwerde wurde nach einigen Wochen abschlägig beschieden, weil das
einzige von der Staatsanwaltschaft eingeholte Gutachten nicht günstig
lautete. (Es ist unter Nr. 2 abgedruckt.) Den zahlreichen in der Presse
erschienenen Feuilletons und Notizen über das Werk, die doch in gewissem
Maße die Stellung des deutschen Publikums dokumentierten, maß das
Gericht scheinbar keinerlei Bedeutung bei. Auch eine von dem Vorstand
des Deutschen Goethebundes gegen diese Konfiskation abgegebene
Protesterklärung, die fast in der gesamten Presse abgedruckt wurde,
machte offenbar nur geringen Eindruck auf die die Konfiskation
vertretende Behörde. Merkwürdig muß es aber auch hier wieder berühren,
daß man sich nicht an einen mit der modernen Literatur oder gar den
russischen Verhältnissen vertrauten Herrn, sondern an einen
Kunsthistoriker von Beruf wandte, der zudem in seinem Gutachten selbst
bemerkt, daß es ihm nicht zustehe, über das Buch und seine Uebersetzung
in seinem ganzen Umfange zu urteilen, da er nicht russisch kenne.

Im Dezember 1908 erfolgte dann die Ladung des Verlegers vor den
Untersuchungsrichter. Nachdem der Tatbestand aufgenommen worden war,
wurde ihm die Benennung einer Reihe von Sachverständigen anheimgestellt,
während auch von seiten des Gerichts noch eine Reihe von Gutachten
eingefordert wurden. Wie aus den nachstehend abgedruckten Gutachten
hervorgeht, lauteten diese mit Ausnahme des des Herrn Studienrates
Nicklas, der von falschen Voraussetzungen ausging und in dem Buche eine
Gefahr für die heranwachsende Jugend sah, für das Buch sehr günstig.

Außerordentlich interessant ist es, diese verschiedenen Gutachten
nebeneinander zu halten. Wie wohltuend berührt die Sachlichkeit in den
meisten dieser Schriftstücke, und wie merkwürdig nimmt sich unter ihnen
das Gutachten des Herrn Professor Brunner in Pforzheim aus, der sich
eigentlich nur mit der gar nicht unter Anklage gestellten Einleitung
befaßt. Das, was in der Einleitung des Herrn Villard gesagt wird, das
konnte man eine Zeitlang fast tagtäglich in der Presse lesen, und zwar
schon bevor die deutsche Ausgabe erschienen war. Ist der Herr
Sachverständige denn derart mit der russischen Literatur und Kultur
vertraut, daß er Behauptungen wie die in seinem Gutachten aufgestellten
beweisen kann? Wer kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn er
hört, daß die russischen Studenten nur die deutschen Universitäten und
Hochschulen besuchen, um sich erotisch ausleben zu können? Die russische
Jugend sollte wirklich zu derartigen Auslassungen einmal energisch
Stellung nehmen. Derartige Ausführungen gehören am allerwenigsten in ein
Sachverständigengutachten, dessen erste Vorzüge Sachlichkeit, Kürze,
Gründlichkeit und Sicherheit des Urteils sind. Die Ausführungen des
Herrn Professor aus Pforzheim hier zu widerlegen erübrigt sich, denn das
Gutachten des Herrn Universitätsprofessors Dr. Muncker, das in seiner
vornehmen Sachlichkeit so wohltuend von dem seinen absticht und eine
Kapazität wie den Staatsrat Zielinski in St. Petersburg als Zeugen für
die Richtigkeit der Ausführungen des Vorwortes herbeiruft, enthebt mich
dieser Mühe.

Auf eine Sache aber muß im Interesse des Verlagsbuchhandels und der
beteiligten Autoren hier einmal mit allem Nachdruck hingewiesen werden,
denn es ist durchaus notwendig, daß diese Frage einmal in der breitesten
Oeffentlichkeit behandelt wird. Es mehren sich in letzter Zeit die auf
durchaus unbegründete Denunziationen hin erfolgten Konfiskationen in
erschreckendem Maße, und der Schaden, der in materieller und moralischer
Beziehung dadurch angerichtet wird, ist kaum zu berechnen. Der Ssanin,
um auf diesen speziellen Fall hier einzugehen, war nun seit dem 23.
November 1908 beschlagnahmt. Volle vier Monate liegen die Vorräte des
Buches in sicherem Gewahr. Das Interesse für ein Buch verebbt, denn der,
der es gern besitzen wollte, konnte es nicht bekommen. Wird ein
vermutlicher Räuber oder Mörder in Untersuchungshaft gehalten, und es
stellt sich in der Voruntersuchung oder in der Verhandlung heraus, daß
die Anklage nicht aufrecht erhalten werden kann, so ersetzt das Gericht
dem Betreffenden freiwillig den ihm entgangenen Vermögensausfall. Anders
bei einer derartigen Konfiskation. Hier sind die schwer geschädigten
Verleger und die in Mitleidenschaft gezogenen Verfasser machtlos. Aber
nicht nur materiell, sondern auch ideell wird der Betreffende
geschädigt, ganz abgesehen von den die Gesundheit untergrabenden
Aufregungen, die ja schließlich bei derartigen Maßnahmen nicht zu
vermeiden sind. Wer ersetzt ihm nun den Verlust, wer entschädigt ihn für
den Aufwand an Zeit und Nerven? Wäre nicht wenigstens zu erwarten, daß
das Gericht derartige Verfahren beschleunigt, sie in der kürzesten Zeit
erledigt? Im vorliegenden Falle ist von einer Beschleunigung des
Verfahrens nichts zu bemerken gewesen, denn trotz fortgesetzter
energischer Reklamationen durch den Rechtsvertreter des Verlags zog sich
die Angelegenheit durch vier Monate hindurch. Mit dem Ammenmärchen aber,
daß das konfisziert gewesene Buch unter allen Umständen nach Freigabe
stark gekauft werde, sollte endlich einmal aufgeräumt werden. Wenn
dieser Fall wirklich eintritt, dann müssen andere Gründe gesucht werden.
Entweder wohnt dem Buch von vornherein eine suggestive Kraft, die auf
den Absatz fördernd einwirkt, inne, oder aber der Verleger nutzt die
erfolgte Konfiskation und die endlich verfügte Freigabe des Werkes mit
allen ihm nur zur Verfügung stehenden Mitteln zu Propagandazwecken aus.
Der ihm entstandene Schaden zwingt ihn in den meisten Fällen zu diesen
Maßnahmen. Wehe ihm aber, wenn es sich um ein aktuelles Thema gehandelt
hat, für das das Interesse in den vier Monaten -- und was ändert sich in
vier Monaten nicht alles -- vollständig geschwunden ist, dann kann er
die glücklich losgeeisten Vorräte in die Makulatur werfen.

Die Allgemeinheit betrifft jedoch noch folgendes. Der Ssanin ist, wie
aus allen noch vor der Konfiskation erschienenen Besprechungen in den
Zeitungen und Revuen hervorgeht, ein Werk, das die weitgehendste
Beachtung auch in Deutschland verdient, schon allein seiner
kulturgeschichtlichen Bedeutung halber. Hat das deutsche Volk nicht von
vornherein das Recht, ein derartiges Werk kennen zu lernen? Genügt nicht
ein oberflächlicher Blick in das Buch, daß es sich hier nicht um ein
Werk handelt, das eine Gefahr für die heranwachsende Jugend bildet, da
schon die seitenlangen philosophischen Betrachtungen den jugendlichen
Leser von vornherein abschrecken, ganz abgesehen von dem Preise, der die
Anschaffung des Buches jugendlichen Lesern unmöglich macht. Dieser sucht
etwas ganz anderes in den Büchern, die ihm zum Unheil gereichen können:
spannenden und erregenden Inhalt, aber nicht breite Schilderung und
philosophische Betrachtung, wie sie russischen Romanen eigen ist. Und
überhaupt: ist denn die Schädlichkeit für jugendliche Leser ein Grund,
ein von vornherein doch keineswegs für die Jugend bestimmtes Werk zu
konfiszieren? Sind denn alle der Jugend viel leichter zugänglichen
Schaustellungen unserer Theater und Ausstellungen für die Jugend
bestimmt? Gibt es nicht Fragen, die in der breiteren Oeffentlichkeit
behandelt werden müssen und die gar nichts für die Jugend sind? Ich
weise hier nur auf die Zeitungen hin, die doch der Jugend tagtäglich
ohne weiteres zugänglich sind. Soll schließlich der Verleger moderner
Literatur die ihm zugehenden Manuskripte einzig und allein nach dem
Grundsatze prüfen, ob nicht eventuell in dem Werke eine Stelle enthalten
ist, die den jugendlichen Leser, der später nach Erscheinen das Buch
durch Zufall in die Hand bekommt, auf wunderbare Gedanken bringen
könnte, die zudem noch Unverständnis ihre Entstehung verdanken. Welche
Perspektiven eröffnen sich, wenn man unsere gesamte Weltliteratur unter
diesen Gesichtspunkten beurteilt.

Und damit gewinnt diese Frage auch eine weitere Bedeutung. Inwieweit ist
es notwendig, daß der gebildete Leser in seiner Lektüre durch Polizei
und Staatsanwaltschaft bevormundet wird? Sollte im freien Deutschland
nicht auch jeder Gebildete seine Lektüre dort suchen dürfen, wo er
glaubt, daß sie ihm am meisten gibt. Die schlechten nur für den
Sinneskitzel geschriebenen und veröffentlichten Werke richten sich schon
von selbst. Wird durch eine Konfiskation auf dieselben hingewiesen, so
werden sie auf Schleichwegen leicht doch in die Hände derer kommen, die
sich nun für dieselben interessieren, und die jedenfalls nie danach
gegriffen hätten, wenn sie nicht durch die Konfiskation darauf
aufmerksam gemacht worden wären.

Der Ssanin aber geht aus seiner viermonatlichen Verbannung nur als
Sieger hervor, und selbst das Gericht in seinem Freigabebeschluß muß nun
anerkennen, daß es sich hier um »ein dichterisches Werk von hoher
kulturgeschichtlicher und auch literarischer Bedeutung« handelt.

München, am Tage der Freigabe des Ssanin, dem 26. März 1909.

                                                          Georg Müller


                       1. Konfiskationsbeschluß.

                München, 23. November 1908. Anz.-Verz. Nr. VII 610/08.


                                Betreff:

Müller, Georg, Verleger hier, wegen Vergehens wider die Sittlichkeit. --


                               Beschluß:

Angeordnet wird die Beschlagnahme aller Exemplare des Romans »Ssanin«
von M. Artzibaschew in der Villard-Bugowschen Uebersetzung, soweit sie
sich im Besitze des Verfassers, Druckers, Herausgebers, Verlegers oder
Buchhändlers befinden, öffentlich ausgelegt oder öffentlich angeboten
sind,

sowie der zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen.

                                                   (§ 94 R.-St.-P.-O.)


                                Gründe:

Der Roman »Ssanin« ist geeignet, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl
eines normal empfindenden Lesers in geschlechtlicher Beziehung
gröblichst zu verletzen. Er ist seinem Inhalte nach von ausgesprochener
erotischer Tendenz. Hierbei ist die Behandlung der aufgeworfenen
erotischen Fragen nicht eine derart wissenschaftliche, daß hierdurch die
gleichzeitige Darstellung geschlechtlicher Vorgänge in den Hintergrund
gedrängt würde. Der Held des Romans vertritt die Ansicht, daß nur noch
der Geschlechtsgenuß Wert habe, er will die freie Liebe.

Eine ernstliche Besprechung der Gründe für und wider diese Ansicht
bringt der Roman nicht. Hierzu kommt noch, daß geschlechtliche Vorgänge
und Gedanken hierüber in krankhaft erotischer Weise realistisch
geschildert werden. (_cfr._ unter anderem Seite 89, 211/212, 440/441,
471/473 des Romans.)

Der Roman erscheint sohin als unzüchtige Schrift im Sinne der Ziffer 1
des § 184 des R.-St.-G.-B.

          K. Amtsgericht München I, Abteilung für Strafsachen.
                          der k. Amtsrichter:
                            gez.: Kaufmann.


                              2. Gutachten

    über den Roman »Ssanin« von Artzibaschew von Professor Dr. Karl
                                 Voll.

Artzibaschew gilt in russischen Schriftstellerkreisen als ein sehr
begabter junger Mann. Sein Roman »Ssanin« ist in der Tat, rein nach
seiner Schreibweise beurteilt, talentvoll und künstlerisch zu nennen,
obschon das Buch in Komposition und Handlung sehr unreif und auch
unbedeutend ist. Die wissenschaftliche Bedeutung der Erörterungen
erotischer Fragen halte ich dagegen für wertlos und ganz dilettantisch.
Ssanin will die freie Liebe, das genügt ihm und soll auch dem Leser
genügen; auf eine regelrechte ernsthafte Besprechung der für und wider
seine Ansicht geltend machenden Gründe läßt er sich nicht ein. Was er
aber zu gesunder reiner »Lebensanschauung« sagt, ist arg jugendlich.

Die Uebersetzung ist zwar leicht leserlich; aber obschon ich selbst
nicht russisch kann, so glaube ich doch sagen zu dürfen, daß sie nicht
gerade charakteristisch im Ton ist. Sie ist glatt, mehr aus
Oberflächlichkeit, als durch Feile. Die Darstellung geschlechtlicher
Vorgänge ist unverhüllt und krankhaft erotisch, in jener nervös
krankhaften Weise sogar, daß sie ansteckend wirkt. Man wird sich zumal
in jungen -- oder auch vorgeschrittenen -- Jahren dieser aufreizenden
Wirkung kaum ohne Mühe entziehen können. Das Buch ist Gift, vor allem
für die Jugend, worunter ich nicht allein die heranwachsende Jugend
verstehe; das ausgesprochen Krankhafte kann meines Erachtens dadurch
nachgewiesen werden, daß der Roman schon nahe an sadistischen
Schilderungen steht. Im Gegensatz zu der Behauptung, die Kurt Aram in
seiner beigelegten Besprechung aufstellt, ergaben sich die jungen
Mädchen, soweit sie aus besseren Kreisen stammen, durchaus nicht
freiwillig ihrem Freund oder Verführer, sondern selbst, wenn
Artzibaschew vorher alles mögliche beibringt, um die Mädchen in
erotische Hitze hineinzutreiben, so unterliegen sie regelmäßig nur der
brutalen Gewalt und es werden dann auch für die eine der Damen dann
sadistische Mißhandlungen angedeutet.

Aus diesem Grunde ist es mir nun aber schwer, zu beurteilen, ob der
Verfasser noch bona fide gehandelt hat. Es kann sein, daß er nach dem
Spruch zu betrachten ist: kratzt den Russen und ihr werdet den Barbaren
sehen; dann wäre es möglich, daß ihm, im Lande der Knute, solch
sadistische Betrachtungsweise nicht als Zeichen pornographischer Erotik
anzurechnen ist. Es kann aber auch das Gegenteil der Fall sein, und ich
neige persönlich zu der Annahme, daß die aufreizende Wirkung
beabsichtigt war, nicht um ehrlicherweise ein soziales Programm zu
vertreten, sondern um die Sinne zu kitzeln.

Jedenfalls ist die Frage aufzuwerfen, ob das Buch jenes
kulturhistorische Interesse hat, um seine Uebersetzung zu rechtfertigen,
und ob wir in Deutschland uns diese Leistung eines jungen erotischen
Doktrinärs vorsetzen lassen sollen. Ich glaube beide Fragen mit nein
beantworten zu dürfen. Dagegen glaube ich, daß bei dem Verleger ein
dolus nicht gegeben oder wenigstens nicht nachweisbar sein wird.

                                                   gez. Dr. Karl Voll.


                              3. Ablehnung

        der durch den Verleger eingelegten Beschwerde durch das
                              Landgericht.

Ziffer des Anz.-Verz. 610 08. Beglaubigte Abschrift.

Die 4. Strafkammer des kgl. Landgerichts München I hat am 1. Dezember
1908 vormittags 10 Uhr, versammelt in geheimer Sitzung, wobei zugegen
waren:

der Vorsitzende, Oberlandesgerichtsrat Freiherr von Dobeneck,

die Landgerichtsräte Heuser und Maier B. E. in der Untersuchungssache
gegen Müller Georg, Verleger in München, wegen Vergehens wider die
Sittlichkeit folgenden Beschluß gefaßt

nach Einsicht und Verlesung der wichtigeren Aktenstücke des bisherigen
Verfahrens,

nach Ansicht des vom kgl. Staatsanwalte unterm 14. November 1908
gestellten Antrages:

Die Beschwerde des Beschuldigten Georg Müller gegen den Beschluß des
kgl. Amtsgerichts München I vom 23. November 1908 wird kostenfällig
zurückgewiesen.


                                Gründe:

Der Verleger Georg Müller in München vertreibt die Druckschrift »Ssanin,
ein Roman von M. Artzibaschew«, in der von André Villard und S. Bugow
hergestellten deutschen Uebersetzung im Wege des Buchhandels.

Auf Antrag des Staatsanwalts hat das kgl. Amtsgericht München I,
Abteilung für Strafsachen vom 23. November 1908 auf Grund des § 94
R.-St.-P.-O. durch Beschluß die Beschlagnahme aller Exemplare des Romans
Ssanin von M. Artzibaschew in der Villard-Bugowschen Uebersetzung,
soweit sie sich im Besitze des Verfassers, Druckers, Herausgebers,
Verlegers oder Buchhändlers befinden, öffentlich ausgelegt oder
öffentlich ausgeboten sind, sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten
Platten und Formen angeordnet mit der Begründung, daß der Roman eine
unzüchtige Schrift im Sinne des § 184 Ziffer 1 R.-St.-G.-B. sei.

Der Beschluß wurde am 26. November 1908 bei Georg Müller vollzogen. Mit
Schriftsatz vom 27. _pr._ 28. November 1908 legte Rechtsanwalt Dr. W.
Rosenthal in München namens des Georg Müller auf Grund dessen
schriftlicher Vollmacht gegen diesen Beschluß Beschwerde ein mit dem
Antrage auf Aufhebung des Beschlagnahmebeschlusses mit der Begründung,
daß der Roman nicht unzüchtig sei.

Die Beschwerde ist an sich statthaft und formell nicht zu beanstanden,
sachlich aber nicht gerechtfertigt.

Nach § 94 ff. St.-P.-O. können Gegenstände, welche als Beweismittel für
die Untersuchung von Bedeutung sein können oder der Einziehung
unterliegen, durch den Richter mit Beschlag belegt werden.

Nach § 40 ff. St.-G.-B. können, wenn der Inhalt einer Schrift strafbar
ist, in der Regel alle Exemplare der Schrift, sowie die zu ihrer
Herstellung bestimmten Platten und Formen unbrauchbar gemacht, also zu
diesem Zweck eingezogen werden, selbst, wenn die Verfolgung oder
Verurteilung einer bestimmten Person nicht ausführbar ist.

Es fragt sich also lediglich, ob der Inhalt der deutschen Uebersetzung
des Romans Ssanin von M. Artzibaschew strafbar ist.

Diese Frage wird vom Beschwerdegericht in Uebereinstimmung mit dem
angefochtenen Beschlusse bejaht.

Nach § 184 Ziffer 1 R.-St.-G.-B. wird nämlich bestraft, wer unzüchtige
Schriften feilhält, verkauft oder sonst verbreitet.

Der Roman Ssanin stellt nun nach dem Inhalte der deutschen Uebersetzung
in der Tat eine unzüchtige Schrift dar. Die ausgesprochene Tendenz des
Romans ist die Darlegung, daß uneingeschränkter Geschlechtsgenuß das
einzige erstrebenswerte Ziel des Menschen sei. Demgemäß finden sich im
Roman eine Anzahl von Stellen, z. B. Seite 88/90, 94, 196/197, 211/213,
231/233, 236, 248, 311, 316/318, 419/421, 430, 439/443, 470/473, welche
teils den Geschlechtsverkehr selbst, teils die Vorbereitungen dazu und
dessen Folgen und deren Beseitigung schildern oder erörtern, teils mit
Beziehung auf den Geschlechtsverkehr Körperteile schildern, immer aber
nach dem Gegenstande und der Art der Darstellung geeignet sind,
Lüsternheit zu erwecken. Diese Eigenschaft tritt so stark hervor, daß
nach einer Behauptung des Vorworts des Uebersetzers und nach Notizen der
öffentlichen Blätter die Lektüre des Romans in Rußland zu
geschlechtlichen Ausschweifungen, namentlich bei jugendlichen Lesern
Anlaß gegeben hat.

Hiernach ist der Roman in der deutschen Uebersetzung nach seinem
Gesamtcharakter und nach einzelnen Stellen geeignet, das normale im
deutschen Volk herrschende Scham- und Sittlichkeitsgefühl in
geschlechtlicher Beziehung gröblich zu verletzen. Der Inhalt des Romans
ist also unzüchtig. Daran ändert die künstlerische, wissenschaftliche
oder geschichtliche Bedeutung, die dem Roman von manchen zugesprochen
wird, nichts, sie ist nicht so erheblich, daß durch sie der unzüchtige
Charakter in den Hintergrund gedrängt würde.

An dieser Beurteilung des Romans ändern auch die teils vom
Beschwerdeführer, teils von anderer Seite vorgelegten öffentlichen
Kritiken nichts; sie sind trotz vielfacher Abweichungen im wesentlichen
darüber einig, daß die literarische Bedeutung des Romanes keine
außergewöhnliche ist, daß die dort vertretene Auffassung
geschlechtlicher Sittlichkeit mit der in Deutschland herrschenden,
sittlichen Auffassung in grobem Widerspruch steht; ein Teil dieser
Kritiken spricht sich überdies mehr oder weniger offen auch über die
sittlichen Eigenschaften des Romans verurteilend aus; wenn einige der
Kritiken bestreiten, daß der Roman unsittlich oder pornographisch sei,
so mag dies auf einer Verkennung der Begriffe oder auf anderen
besonderen Gründen beruhen, ist aber jedenfalls für die allgemeine
Beurteilung nicht entscheidend.

Der Roman Ssanin stellt daher in seiner Villard-Bugowschen deutschen
Uebersetzung eine unzüchtige Schrift im Sinne des § 184 Ziffer 1
St.-G.-B. dar. Das Amtsgericht hat also nach § 40 ff. R.-St.-G.-B., 94
ff. R.-St.-P.-O. mit Recht die Beschlagnahme angeordnet.

Die Beschwerde des von der Beschlagnahme betroffenen Verlegers ist daher
unbegründet und zurückzuweisen.

Die Kosten treffen nach § 505 St.-P.-O. den Beschwerdeführer.

(_L. S._)

                                  gez.
                      Dobeneck, Dr. Heuser, Maier.


                 4. Freigabebeschluß des Landgerichts.

Ziffer des Anz.-Verz. VII, 610/08. Beglaubigte Abschrift.

Die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichts München I hat am 16. März 1909,
vormittags 10 Uhr, versammelt in geheimer Sitzung, wobei zugegen waren:

der Vorsitzende kgl. Ldgr.-Direktor Hezner

die Landgerichtsräte Dr. Heuser Cl. und Graf in der Untersuchungssache
gegen Müller Georg, Verleger in München, wegen Vergehens wider die
Sittlichkeit nach § 184 I R.-St.-G.-B.

nach Einsicht und Verlesung der wichtigeren Aktenstücke des bisherigen
Verfahrens

nach Ansicht des vom kgl. Staatsanwalt unterm 12. Februar 1909
gestellten Antrags den Beschuldigten außer Verfolgung zu setzen,
beschlossen:

1. Der Angeschuldigte Georg Müller wird wegen eines Vergehens wider die
Sittlichkeit nach § 184 Abs. 1 Z. 1 D. R.-St.-G.-B. außer Verfolgung
gesetzt.

2. Der Beschlagnahmebeschluß des kgl. Amtsgerichts München I Abteilung
für Strafsachen vom 23. November 1908 wird aufgehoben.

3. Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last.


                                Gründe:

Der gesetzliche Tatbestand des § 184 Abs. 1 Z. 1 D. R.-St.-G.-B.
erfordert nach der objektiven Seite, daß die Schrift in ihrer
gegenständlichen Erscheinung und dem daraus sich ergebenden geistigen
Inhalte geeignet ist, das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl --
nicht das abgestumpfte gewisser Personenkreise -- in geschlechtlicher
Beziehung zu verletzen. Trifft dies zu, dann ist die Schrift als
unzüchtig zu erachten. Ob sie geeignet oder darauf berechnet ist, im
Leser wollüstige Empfindungen zu erregen, ist belanglos, ebenso auch, zu
welchen Zwecken die Schrift nach dem bloßen inneren Wollen des
Verfassers dienen soll. Vgl. E. d. R. G. i. St. S. Einziehung von
Anekdoten. Urteil vom 9. Dezember 1907, dann Bd. 31 S. 260, 4 S. 87, 24
S. 365, 27 S. 114.

Maßgebend ist also auch nicht die Anschauung und individuelle Empfindung
einer einzelnen Person, insbesondere auch nicht die Besorgnis für die
sittliche Integrität der Jugend.

Vor Eröffnung der Voruntersuchung hat sich nur ein Sachverständiger,
Professor Dr. Voll, über den Roman Ssanin gutachtlich geäußert. Sein
Gutachten läuft darauf hinaus, daß wohl das Werk als unzüchtig zu
erachten ist, daß aber die _bona fides_ des Verlegers, er sei sich des
unzüchtigen Charakters der Schrift nicht bewußt geworden, nicht
bezweifelt werden könne. Mit Durchführung der Voruntersuchung haben sich
sechs weitere Sachverständige über den Charakter des Buches geäußert.
Darunter haben mehrere namhafte Kenner der Literatur sich dafür
ausgesprochen, daß es sich nicht um eine unzüchtige Schrift, dagegen um
ein dichterisches Werk von hohem kulturgeschichtlichem und auch
literarischem Wert handelt. Hierzu äußert sich Professor Dr. Munker
wörtlich: »Was der Verfasser an solchen Stellen (den beanstandeten)
erzählt, das scheint mir meistens zur Charakteristik der Menschen und
Zustände, um die es sich handelt, künstlerisch und psychologisch
geradezu notwendig; wie er es aber erzählt, das beweist durchaus den
vornehmen Schriftsteller, der rein sachlich, objektiv episch darstellt
und von jeder Lüsternheit weit entfernt ist.« Von den übrigen
Sachverständigen haben sich Wilhelm Weigand, Prof. Dr. Schneegans und
Ludwig Ganghofer ohne Einschränkung dahin ausgesprochen, daß der Roman
Ssanin nicht als unzüchtig zu erachten sei. Prof. Dr. Brunner erachtet
ihn nur mit dem Vorworte, nicht aber für sich unzüchtig, während
Oberstudienrat Dr. Nicklas den Roman, in der Hauptsache wohl von der
durchaus zu billigenden Ansicht geleitet, daß »Ssanin« für die
heranwachsende Jugend eine keineswegs geeignete, in unreifen Köpfen nur
Verwirrung erzeugende Lektüre ist, für unzüchtig hält.

Angesichts der den unzüchtigen Charakter der Schrift verneinenden
Gutachten der Sachverständigen, denen sich das Gericht nach sorgfältiger
Prüfung des Werkes auf seinen gesamten Inhalt und den sich daraus
ergebenden Gesamtcharakter, den seines literarischen und
kulturgeschichtlichen Wertes angeschlossen hat, kann nicht davon
gesprochen werden, daß der Roman Ssanin eine unzüchtige Schrift im Sinne
des § 184 des St.-G.-B. nach der eingangs gegebenen Begriffserklärung
ist. Fehlt es aber schon an einem strafbaren Tatbestande in objektiver
Hinsicht, so entfällt ohne weiteres die Prüfung nach der subjektiven
Seite, und es bedarf also der Einwand des Angeschuldigten, er sei sich
des unzüchtigen Charakters des Werkes nicht bewußt gewesen, keinerlei
Erörterung.

Hiernach erübrigte nur dem Antrage des Staatsanwalts, den
Angeschuldigten wegen eines Vergehens nach § 184 Abs. I Ziffer 1 des
R.-St.-G.-B. außer Verfolgung zu setzen, stattzugeben, wie geschehen.

Mangels strafbaren Tatbestandes aus § 184 war auch der
Beschlagnahmebeschluß des k. Amtsgericht München I Abt. f. St.-S. vom
23. November 1908 aufzuheben.

Die Kosten des Strafverfahrens fallen der k. Staatskasse zur Last.
R.-St.-P.-O. §§ 202, 99, 496, 499.

_L. S._

                     gez. Hezner, Dr. Heuser, Graf.
                      München, den 23. März 1909.


                              5. Gutachten

              von Professor Dr. Karl Brunner in Pforzheim.


                              Erster Teil.

Das Vorwort des einen Uebersetzers (André Villard) ist in seinen starken
Uebertreibungen und in seiner einseitigen Tendenz, die dem Buch selber
gar nicht in dem Maße eigen ist, geradezu irreführend und zwar, wie mir
scheint, in der Absicht, dem Roman einen sensationellen Empfehlungsbrief
mit auf den Weg zu geben. Ich halte diese Vorrede für bedenklich vom
literarischen wie vom ethischen Standpunkt aus, und zwar aus dem Grunde,
weil sie ein vorurteilsloses Herantreten an das Buch erschwert, ja für
viele unmöglich macht und diesem eine Tendenz vindiziert, die, so an die
Reklameglocke gehängt, den Verdacht erweckt, als wäre die Uebertragung
des Romans auf den deutschen Büchermarkt in dem Bestreben erfolgt, durch
Hervorkehren der erotischen Reize als den Aeußerungen einer neuen, fast
möchte man sagen, beglückenden Weltanschauung auf das Lesepublikum
bestechend zu wirken.

Kann dies nicht ohne starke Uebertreibungen, ja Entstellungen des
Inhalts des Romans geschehen, so ist der Verfasser des Vorworts auch um
solche Uebertreibungen nicht verlegen, wenn es sich darum handelt, diese
meines Erachtens unter § 184 Ziffer 1 fallenden Versuche einer mit
Sensationsmitteln arbeitenden Reklame mit hochtrabenden, den
oberflächlichen Leser bestrickenden Redewendungen von politischen,
kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen und Tendenzen des Buches
so zu verschleiern, daß sie nicht ohne weiteres faßbar erscheinen. Aber
ein dünn verschleiertes Objekt erotischer Neigungen ist erfahrungsgemäß
viel geheimnis- und reizvoller, als ein unverhülltes. Und wenn
beispielsweise S. 8 auf den wilden sexuellen Rausch, der auf den Ssanin
zurückgeht, in ziemlicher Breite hingewiesen wird. Anmerkung. Die Stelle
lautet: »Der wilde sexuelle Rausch, der auf den Ssanin zurückgeht, hat
auch schon genug von sich hören lassen. Die Organisation der Ssaninisti,
die Propaganda-Vereine der freien Liebe, die Verbindungen zum
ungehinderten Geschlechtsgenuß unter Gymnasiasten und Gymnasiastinnen,
die orgiastischen Klubs, die fälschlicherweise behaupteten, die
Weltanschauung des Ssanin zu vertreten und es jedenfalls mit Verve
taten, haben nur das Recht der Geschmacklosigkeit für sich.« -- So muß
das den oben ausgesprochenen Verdacht um so mehr bekräftigen, als
derartige »orgiastische Klubs« in Rußland längst vor dem Erscheinen des
Ssanin bestanden haben, hier also gewissermaßen künstlich herbeigezogen
werden, als eine Folge des Romans. Daran ändert nichts die scheinbare
Verurteilung solcher Exzesse durch den Vorredner. Wenn aber tatsächlich
solche »Propaganda-Vereine der freien Liebe« u. a. in Schüler- und
Schülerinnenkreisen, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, ihre
Daseinsberechtigung auf Ssanin zurückführen, dann möchte man wahrlich
noch vor Beginn der Lektüre selbst das Buch weit, weit wegwünschen aus
dem Bannkreis deutschen Lebens -- zurück in den tiefen moralischen
Sumpf, aus dem es erwachsen ist.

Doch damit habe ich noch nicht das Buch selbst charakterisieren wollen.
Es sind dies nur Gedanken, die die Vorrede nahelegt.

Es erwächst mir nur die Pflicht, durch eine eingehende Kritik des
Vorwortes diese meine Auffassung zu begründen, um dann im zweiten Teil
meines Gutachtens das Buch selbst zu behandeln.

Wenn ich auf die kaum acht Seiten umfassenden Vorbemerkungen so
ausführlich eingehe, so dürfte das in der starken Wirkung dieser
Darlegungen seine Berechtigung finden.

Mir scheint, als hätte selten ein Verleger einen so geschickten
Verkünder der Sensation, die zudem der Roman selbst gar nicht hat,
gefunden. Offenbar haben die Ausführungen Villards über das Buch viel
mehr als dieses selbst die Auffassung weiterer Kreise über Ssanin
beeinflußt und die Lust es zu lesen hervorgerufen und gesteigert. Ich
konnte das aus dem Mund verschiedener Leute erfahren, die den Ssanin vom
Hörensagen kennen, wie ich es auch aus den Kritiken über das Buch
ersehen konnte, deren Abhängigkeit vom Vorwort unverkennbar ist.

                   *       *       *       *       *

Auf Seite 8 heißt es: »Selbst wenn er (Ssanin) nicht durch seine
künstlerischen Qualitäten zu einer der wichtigsten Erscheinungen in der
modernen Literatur Rußlands geworden wäre, hätten ihm doch
kulturhistorische Gründe bleibende Bedeutung gegeben. Man wird die
gegenwärtige Epoche, also die, welche die revolutionäre ablöste,
psychologisch und soziologisch nicht beurteilen können, ohne den
»Ssanin« als ihren charakteristischen Niederschlag in den Mittelpunkt
der Betrachtung zu ziehen.«

Welche starke Uebertreibung in diesem Lobpreis der künstlerischen
Qualitäten des Buches liegt, wird im zweiten Teil zu beweisen sein.

»Die kulturhistorischen Gründe«, die Ssanin als den charakteristischen
Niederschlag der ganzen jetzigen Epoche in den Mittelpunkt der
Betrachtung stellen sollen, sind keineswegs so besonderer,
eigentümlicher Art. Vielmehr lassen sich gerade die Prinzipien der
freien Liebe und ihre Betätigung längst vor der Revolution, so gut wie
in der Revolution und nach ihr, als in breiten Kreisen der russischen
Intelligenz vorhanden, nachweisen (s. u.). Durch diese Einreihung an
hervorragender, kulturhistorischer Stelle sollte nur dem Buch, das eine
realistische Schilderung tatsächlicher, keineswegs neuer Zustände
bietet, eine interessante Folie gegeben werden.

Auf Seite 9 heißt es: »Interessanter ist die Feststellung, wie es
überhaupt dazu kam, daß ein ganzes Volk für seine Gesamtäußerungen mit
einem Mal nur noch erotische Beziehungen finden konnte. Und daß ein
einziges Werk -- eben der Roman Ssanin -- genügt, um sie hervorzurufen,
und sie mit seinem Namen zu decken. -- -- --

Die einzige Antwort ist: Ein russisches Volk existiert gar nicht -- wohl
aber eine russische Gesellschaft, die den Charakter des nationalen
Lebens ausprägt ... Einst beschränkte sie sich auf den Adel, -- heute
umfaßt sie die Schichten der akademisch gebildeten Berufe -- die
Intelligenz.«

»Ein ganzes Volk« -- bedeutet doch etwas anderes -- auch für Rußland --,
als wie wenige Zeilen weiter unten gesagt ist mit der Bezeichnung
»russische Gesellschaft«. Denn abgesehen davon, daß selbst diese Kreise
der Intelligenz keineswegs ein irgendwie einheitliches Gepräge tragen,
kommen doch für jedwede Beobachtung des russischen Lebens in seiner
Gesamtheit die Millionen von Angehörigen anderer sozialer Schichten in
Betracht, die selbst in ihrer Stagnation und Hemmung eine Macht bilden,
wie die Bauern, wenn sie nicht, wie die sozialistischen Kreise der
Städtebevölkerung eine aktive Rolle spielen.

Doch selbst diese Beschränkung des Begriffs »russisches Volk« zugegeben,
-- heißt es nicht _die Tatsachen vergewaltigen_, wenn man 1. die ganze
russische Gesellschaft »für ihre Gesamtäußerungen _nur noch erotische
Beziehungen_ finden läßt«, das lehrt uns ja der Roman mit seinen
zahlreichen Personen ganz und gar nicht -- und 2. »mit einem Mal« und
zwar »durch ein einziges Werk« so etwas hervorgerufen sehen will? Die
erste kühne Bemerkung muß jeden auf die Lektüre des Buches äußerst
gespannt machen. Denn selbst die Rolle der Erotik im Siecle de Louis
XIV. oder im Zeitalter der französischen Revolution, die dem
Geschichtskenner denkbar wichtig und tiefgehend erscheint, muß weit
zurücktreten, gegenüber einer so absolut allgemein gewordenen Lebens-
und Weltanschauung, wie sie uns hier verkündigt wird. Wohl folgen auf
Perioden ungeheuren Aufschwungs des Gemeinsinns und der Opferwilligkeit,
kurz der praktisch betätigten Begeisterung für hohe Ideale, wie sie der
russischen Revolutionsbewegung ohne Zweifel zugrunde lagen, solche des
Gegenteils, sei es stumpfer Apathie oder krassen Egoismus. Und gerade
der slavische Rassencharakter neigt mehr als ein anderer besonders stark
zu solchen Widersprüchen. Aber daß eine große Volksbewegung die im Zug
der Zeit liegt und sich wohl vorübergehend -- aus inneren sozialen,
kulturellen und nicht zum wenigsten religiösen Gründen -- unterdrücken,
niemals aber mehr ganz ausrotten läßt, eine Bewegung, die bei allem
Terrorismus so gut wie einstens die französische Revolution vom
Idealismus getragen war, sich ganz und gar auf den Standpunkt des
Zynismus zurückwerfen läßt -- durch ein einziges »Buch der
Contre-Revolution«, das zu behaupten ist eine Ungeheuerlichkeit. Aber es
klingt äußerst pikant, wenn gesagt wird: »Nichts hat in Rußland die
sozialrevolutionäre Bewegung, nachdem sie zum Stillstand gekommen war,
so endgültig der Zersetzung zugeführt, wie Ssanin mit seiner erotischen
Suggestion.«

Der Uebersetzer Villard, der solche Ungeheuerlichkeiten als Kenner der
russischen Verhältnisse, der er sein will, im Vorwort geschrieben hat,
kann nicht als so naiv erscheinen, daß er sich dessen nicht bewußt
gewesen wäre. Ich sehe in seinem Vorwort, das von Widersprüchen mit
feststehenden Tatsachen und mit dem Inhalt des Romans strotzt, einen
plumpen Versuch »einer erotischen Suggestion« auf den Leser um seine
eigenen Worte zu gebrauchen, d. h. einer Spekulation auf die besondere
Empfänglichkeit des Lesers für Erotika. Und dieser Suggestion kann sich
angesichts solch hoher Studienzwecke, wie sie die Vorrede vorspiegelt,
mit Beziehung auf den Ausgang der russischen Revolution, für die sich
doch alle Welt lebhaft interessiert hat, gar mancher nicht entziehen.

Ich behaupte, -- ich habe an einzelnen, sogar graß erscheinenden Stellen
mit urteilsfähigen Lesern, die die Vorrede nicht kannten, die Probe
darauf gemacht -- daß man, ohne die Vorrede gelesen zu haben, an dem
Buch als Ganzem keinen oder wenigstens keinen erheblicheren Anstoß
nehmen kann, als an zahlreichen anderen Büchern auch, die ungehindert im
Verkehr sind und daß die meisten der inkriminierten Stellen geradezu
besonders aufgesucht werden müssen, um an ihnen etwas Schlimmes zu
finden. Ich behaupte aber zugleich, daß das Vorwort geradezu diese
Stellen heraushebt, indem es der Erotik in dem Buch einen solchen
Einfluß zuschreibt mit der Aeußerung: »Wohl noch niemals wurden durch
ein Buch in so kurzer Zeit die gesamten Anschauungen einer Gesellschaft
von Grund aus verändert zum Ausdruck gebracht.«

Mit wenigen Ausnahmen werden die meisten Leser nach Einblick in die
Vorrede auch in den Kreisen, denen allein das Buch für 6,50 Mark
zugänglich ist, -- Anmerkung: Ich betone das, weil mir im Kampf gegen
die schlechte Literatur öfters entgegen gehalten wurde, daß Bücher mit
verhältnismäßig hohem Preise, schon ihres beschränkteren Leserkreises
wegen nicht zur Schundliteratur gerechnet werden könnten, -- von
vornherein ihr besonderes Augenmerk auf die erotischen Stellen richten
und darüber die künstlerische Seite des Werkes und die tatsächlich
interessante Darstellung des sozialen und kulturellen Lebens, kurz die
wissenschaftliche Seite, vernachlässigen oder die oft langatmigen, nicht
eben tiefen Philosopheme einfach überschlagen, bis sie wieder den von
dem Vorwort angedeuteten Spuren begegnen. Dadurch bekommt das Werk einen
Charakter, den ihm der Verfasser ganz und gar nicht gegeben hat.

Statt daß der Leser mit einem auf das Große gerichteten Interesse eine
realistische, meines Erachtens überhaupt kaum tendenziös gefärbte
Schilderung der Verhältnisse und Zustände in der russischen Gesellschaft
hinnimmt, muß er sich im Vorwort suggerieren lassen, daß es sich hier um
»das Neue« handelt, das man sucht, er muß sich sagen lassen, daß es sich
hier -- ausgerechnet in diesem Buch -- um die Veränderung einer gesamten
Anschauung von Grund aus handle, er hört -- und das wird vielen aus
gesellschaftlichen Gründen verkappten Anhängern der »freien Liebe«
willkommen sein, -- daß die Ssaninisten, »endlich die leidige
Konspirativität, die traditionelle Geheimniskrämerei beiseite werfen
können«, daß die Erotomanie -- frei von gesellschaftlichen Vorurteilen
eben wegen jener fundamentalen Umwälzung der Gesellschaftsanschauungen,
nun stolz das Haupt erheben darf -- nur soll sie es nicht so laut und
lärmend machen, wie die Ssaninisten, sondern mit »behutsamem Stolz.«
Diese Ausführungen des Vorworts stehen, wie bereits angedeutet, in
völligem Widerspruch 1. mit den Tatsachen der Wirklichkeit wie 2. mit
dem Inhalt des Romans und involvieren eine Tendenz, die meines Erachtens
mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen ist, denn sie machen erst den
Roman zu einem sittlich minderwertigen Literaturprodukt, das er, an sich
betrachtet, nicht ist.

Fürs erste (Widerspruch mit den Tatsachen) mögen einige wenige Hinweise
genügen. Aus eigener Kenntnis und auf speziell eingezogene Erkundigungen
weiß ich, daß sich bei russischen und polnischen Studenten, die bei uns
auf deutschen Hochschulen weilen, das weitaus größte Interesse in der
Betätigung erotischer Neigungen erschöpft -- ein besonders grasser Fall
ist erst unlängst in Karlsruhe vorgekommen, der mit Mord und Selbstmord
endete. Und beim russischen Militär, insbesondere beim Offizierskorps,
ist eine ähnliche oder noch niedrigere Stellung des Weibes, wie sie ihm
in diesem Roman der Offizier Sarudin zuweist, wahrlich schon längst
traditionell geworden. Ich kann dafür Belege aus unserem hiesigen
industriellen Leben beibringen, die ich mir für diesen Zweck aus
authentischen Quellen verschafft habe.

Eine einzige hiesige Firma hat zusammen mit ihrem Pariser Hause während
des russisch-japanischen Krieges Bijouterie für Damen nach Ostasien,
speziell an ihr eigenes dafür errichtetes Geschäftshaus in Charbin im
Betrag von 4-5 Mill. Frcs. geliefert -- für die mit der russischen Armee
ausgerückten Scharen von Halbweltdamen. Nach Beendigung des Krieges
mußte das Importhaus dieser Firma in Charbin wieder ganz aufhören, und
der Vertreter einer anderen hiesigen Bijouteriefirma, der persönlich
monatelang auf dem Kriegsschauplatz war, kann grauenhafte Dinge von der
Erotik im russischen Lager erzählen, der man ja wohl mit Recht einen
großen Teil der Schuld gibt an der Niederlage der Russen.

Daß solche Anschauungen bei russischen Studenten, wie bei russischen
Offizieren herrschten, wußte man im Grunde genommen bei uns und überall;
man stieß sich nicht einmal daran, man nahm das eben als »russisch« hin,
als Ausdruck der Korruption gewisser Kreise, mit denen wir sonst keine
Gemeinschaft suchen.

Wenn aber, wie das im Vorwort geschieht, diese speziell »slavische
Schweinerei« -- so hört man sie wohl gelegentlich bei uns nennen -- auf
eine allgemein menschliche Basis gestellt wird, wenn damit eine
Passivität gegenüber aller Auflehnung gegen die staatliche Ordnung,
namentlich aber die Befriedigung eines persönlichen Freiheitsdranges
(»Ich lebe für mich« Seite 12), verknüpft wird, so liegt darin meines
Erachtens eine schwere Gefahr, zugleich aber auch eine ungeheuere
Anmaßung der Träger jener zersetzenden Weltanschauung, die die Kraft der
slavischen Rasse so verhängnisvoll untergraben hat, die auch
erschreckend am Mark der romanischen Völker nagt und auch in unserem
Volk, besonders durch die herrschenden Richtungen in der Literatur,
immer mehr Boden gewinnt. Es ist wohl kein Zufall, daß sich ein Franzose
-- als solchen darf ich wohl Herrn A. Villard, den Verfasser des
Vorworts, vermuten -- so lebhaft zum Propheten des neuen Evangeliums der
freien Liebe aufwirft.

Wenn in der Tat das Buch als Ausdruck einer längst vorhandenen Stimmung
»dessen was in der Jugend schon seit Jahren gärte --« so korrigiert Kurt
Aram in der »Frankfurter Zeitung« das Vorwort -- (»Frkf. Ztg.« 1908, 16.
September, Abendblatt), nicht als Ausgang einer neuen Bewegung -- auch
nur annähernd die Wirkung in Rußland hervorrief, die die Vorrede
andeutet -- ich kann das mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln
nicht genügend beurteilen, habe aber Nachforschungen in Rußland selbst
angestellt, über die literarischen Wirkungen des Buches, deren Ergebnis
ich nachzutragen hoffe --, wenn diese Wirkungen tatsächlich
hervorgerufen wurden, dann ist bei der Sensationssucht, mit der unsere
Presse sowohl wie nicht selten auch aus rein geschäftlichen Gründen
unser Buchhandel spekuliert (vgl. den Fall Ganter), nicht
ausgeschlossen, daß auch bei uns das Buch eine Mission erfüllt -- von
erschreckender Wirkung. Denn die Faktoren, die einem Buch -- ohne
Rücksicht auf seinen Inhalt und wirklichen Wert -- einen Riesenerfolg
bereiten, sind vollkommen unberechenbar, wie die Schicksale mancher
literarischer Produkte der jüngsten Zeit beweisen.

Die reklamehaften Behauptungen des Vorworts stehen aber zweitens auch im
Widerspruch mit dem Roman und seinem Inhalt selbst. Aus der
überschwenglichen Art, wie hier im Vorwort gerade die erotische Seite
des »Ssanin« dargestellt wird, möchte ich fast den Schluß ziehen, daß
die erotischen Momente, die im Roman selbst für das ins Auge gefaßte
Publikum zu nüchtern behandelt sind, im Vorwort zum Zweck größeren
Erfolgs aufgebauscht, ja direkt in falsches Licht der Beurteilung
gerückt werden.

Sonst könnte Villard nicht von »Veränderungen der gesamten Anschauungen
einer Gesellschaft von Grund aus« sprechen, er könnte auch nicht
sprechen vom Beiseitewerfen der traditionellen Geheimniskrämerei in
solchen Dingen. Die beiden praktischen Vertreter der freien Liebe im
»Ssanin« sind genau so befangen in den konventionellen Schranken und
genau so ehrbar nach außen, wie solche Leute bei uns zu sein pflegen.
Ja, wenn sie noch die Schranken durchbrächen und in ihrer »neuen
Weltanschauung« sich vor die breite Oeffentlichkeit stellten, das denkt
und wünscht sich offenbar der Uebersetzer, der Autor ist ganz anderer
Meinung.

Zunächst konnte der im Vorwort besprochene Zusammenhang zwischen dem
Sexualleben und der russischen Revolution einem, der von sexuellen
Erregungen, von besonderen seelischen Schwingungen bei derartigen
sozialen Erschütterungen gehört hat, einleuchtend erscheinen, zumal,
wenn es sich um solche Erscheinungen während der Revolution handelt, von
denen Villard (S. 11) andeutungsweise spricht. Der Hinweis auf die
Anarchisten mit ihrem Terrorismus, die Villard als die Pfadfinder
Ssanins und der Ssaninisten bezeichnet, erinnert daran, daß in den
Kreisen der Anarchisten in der Tat auch »ein sexueller Rausch«
herrschte, freilich ganz anderer Art, als der von Villard angedeutete,
-- Anmerkung: Die von Villard geradezu als vorbildlich für die russische
Intelligenz hingestellte Betätigung der freien Liebe, seitens der
terroristischen Anarchisten, ist bekanntlich eine propagandistische
Forderung des Anarchismus überhaupt, -- nämlich eine pathologische
Ausprägung des Sexuallebens, der Sadismus.

Ueber diesen sagt Forel (Die sexuelle Frage, S. 239) in Uebereinstimmung
mit Lombroso, daß »durch Kampf und Schlacht und die vom Krieg
entfesselte Mordlust aufgeregte Soldaten zu viehischen sexuellen,
wollüstigen Exzessen geführt werden.« Ein erschütternder,
sinnverwirrender Beleg dafür findet sich speziell mit Bezug auf die
russische Revolution bei Bloch (Das Sexualleben unserer Zeit, 2. und 3.
Aufl., S. 646 ff.) mitgeteilt von Magnus Hirschfeld: »Ein Beitrag zur
Psychologie der russischen Revolution« (Entwicklungsgeschichte eines
algotagnistischen Revolutionärs, von diesem selbst verfaßt).

Von sadistischen Regungen ist aber in vorliegendem Roman nur ganz selten
andeutungsweise die Rede, solche Regungen kommen nach dem Urteil
hervorragender Sexualpsychologen häufig bei exzessiver Betätigung eines
normalen Geschlechtstriebes vor, sie geben darum auch dem »Ssanin«
keineswegs ein abnormes Gepräge.


                             Zweiter Teil.

(Disposition nach den im Schreiben des Untersuchungsrichters vom 31.
Dezember 1908 gestellten Fragen:)

1. Ueber den literarischen und kulturhistorischen Wert des Romans.

Der Gesamteindruck des Werkes in literarischer Hinsicht ist kein
günstiger. Es fehlt der einheitliche Aufbau und die das Ganze mehr oder
minder beherrschende Haupthandlung. Es sind vielmehr aneinandergereihte,
innerlich wenig oder gar nicht verknüpfte Bilder, meist Gruppenbilder
von Personen, die der Verfasser uns eigens vorführt, um interessante
Typen aus dem russischen Gesellschaftsleben zu zeigen. So ist meines
Erachtens die Bezeichnung »Roman« nicht recht angebracht. Die Bilder
sind mit starkem Realismus gezeichnet und gewähren in der Tat tiefe
Einblicke in die russischen Verhältnisse, da sie sowohl das
landschaftliche, das soziale und das geistige Milieu, überhaupt das
Zuständliche, wie auch das individuelle Seelenleben anschaulich und
eindrucksvoll schildern. Insofern kommt dem »Ssanin« ohne Zweifel ein
kulturhistorischer Wert zu. Was aber den literarischen Genuß empfindlich
beeinträchtigt, ist die breite Wiedergabe zahlreicher, meist ziemlich
oberflächlicher philosophischer Erörterungen und Monologe, die -- im
Gegensatz zum Vorwort sei dies betont -- häufig nichts von Erotik
enthalten. Direkt unkünstlerisch, ja unästhetisch wirkt nach meinem
Geschmack die Behandlung geschlechtlicher Vorgänge -- ich lasse dabei
zunächst die moralische Seite außer acht. Wenn das Weib sonst in der
schönen Literatur auftritt, selbst da, wo ihm eine im ganzen
erniedrigende Rolle zugewiesen wird -- ich erinnere nur an Sudermanns
neuesten Roman »Das hohe Lied« -- so trägt seine Erscheinung doch
wenigstens stellenweise das Gepräge echter Schönheit und Weiblichkeit im
edlen Sinne. Das fehlt hier bei Artzibaschew ganz. Stets ist nur vom
Weib in rein physischer Beziehung, ich möchte sagen, in zynischer
Nacktheit, die Rede, von seinen Schenkeln, Brüsten, dem Rücken usw. --
sei es in der Phantasie des Mannes oder in Wirklichkeit. Und selbst der
Bruder tritt der Schwester mit solchen Empfindungen gegenüber, diese
einseitige Auffassung und Vorstellung des Verfassers hat literarisch
einen schweren, meines Erachtens seine ganze künstlerische Qualität in
Frage stellenden Mangel zur Folge, nämlich die Unfähigkeit zum
Differenzieren, was gerade bei einem so schwierigen Problem, wie dem des
Weibes und des Sexuallebens, besonders schwer ins Gewicht fällt.
Darunter leidet namentlich auch seine Charakterschilderung der Männer in
ihrem Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Man hat das Gefühl, wie wenn
alle diese Männer das Weib durch genau die gleiche Brille besehen,
gleich begehrlich, gleichweit entfernt von jeder noch so bescheidenen
Würdigung des weiblichen Charakters als etwas nicht rein Sinnlichen,
Animalischen.

Nun mag vielleicht seine Grundauffassung vom Weib seitens des Mannes in
Rußland typisch sein -- ich kann mir das zwar nicht recht vorstellen,
daß in der Heimat der Frauenemanzipation und des weiblichen
Studententums die Frau keine andere Stellung gegenüber dem Manne sich zu
erringen vermochte und stehe diesem »Typus« des russischen
Gesellschaftslebens skeptisch gegenüber -- künstlerisch ist sie gewiß
nicht. Die Verwickelungen, die das Buch enthält, stehen zum Teil auf
sehr schwachen Füßen, oft spielen Zufälligkeiten, die keinerlei
logischen und psychologischen Zusammenhang mit dem sonstigen Verlauf der
Dinge haben (Karssawina und Ssanin im intimen Verkehr) eine
ausschlaggebende Rolle, und Lösungen (wie der Selbstmord Juriis) der
Konflikte treten mitunter ganz plötzlich und unmotiviert ein.

So darf denn meines Erachtens der literarische Wert des Buches trotz
mancher anerkennenswerter Lichtseiten im ganzen nicht hoch angeschlagen
werden. Schwerwiegende Mängel treten zu sehr in den Vordergrund, als daß
der Gesamteindruck ein erfreulicher genannt werden könnte.

2. Ueber die wissenschaftliche Bedeutung der Behandlung erotischer
Fragen.

Wissenschaftlich, d. h. in der Absicht, unser Wissen über das
menschliche Liebesleben irgendwie zu fördern, hat der Verfasser
erotische Fragen sicher nicht behandelt. Nicht ein höherer Zweck, wie
ihn das wissenschaftliche Streben im Auge hat, sondern einfach die
Absicht, Zustände und Anschauungen wie sie sind, darzustellen, hat dem
Verfasser die Feder geführt. Dann kann ich -- unbeschadet meiner
späteren Ausführungen unter Nr. 4 -- gleich hier beifügen, daß dem
Verfasser nach meiner Meinung auch kein verwerflicher Nebenzweck, etwa
absichtlichen Sinnenreizes bei Darstellung geschlechtlicher Vorgänge,
vorgeschwebt hat.

3. Ueber die Güte der Uebersetzung.

Darüber vermag ich mich nicht zu äußern in Ermangelung russischer
Sprachkenntnisse. Aber der Eindruck, den die sprachliche Form in der
vorliegenden Uebersetzung macht, ist fast durchweg günstig. Ich habe nur
an einigen Stellen Anstoß an Wortformen genommen, die anscheinend auf
kleine Mängel in der Sprachkenntnis zurückgehen, u. a. an dem öfters
wiederkehrenden Adjektiv »bange«, das -- entgegen unserem Sprachgebrauch
-- zu sachlichen Qualifikationen verwendet wird, so S. 263, 359, 364 und
373.

4. Wird die Darstellung geschlechtlicher Vorgänge durch die
vorherrschenden wissenschaftlichen Zwecke dermaßen in den Hintergrund
gedrängt, daß das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden
Lesers nicht verletzt wird?

Die so gestellte Frage muß ich bejahen. Wer ohne Voreingenommenheit an
die Lektüre des Ganzen herantritt, kann wohl an der oft bis zum Krassen,
Frivolen, ja Zynischen gesteigerten Realistik (bes. S. 196-197, 215,
231-233, 248, Kap. 26, S. 318, 428-429, 440-441 u. a.) Anstoß nehmen. Er
wird aber aus dieser Realistik nicht dem Autor einen sittlichen Vorwurf
machen, weil meines Erachtens auch das Ausmalen widerlicher Vorgänge,
die Darstellung abstoßender, niedriger Denkweise nirgends in der Absicht
geboten ist, Freude an pikanten, den Sinnenreiz erregenden Szenen zu
bezeigen und diese Freude etwa auf andere zu übertragen.

Die ganze Eigenart des Buches, das den Eindruck starker Wahrheitsliebe
und rückhaltloser Ehrlichkeit macht, ist nicht auf den gemeinen Grundton
pornographischer Schreibweise gestimmt. Der Verfasser, der nun einmal
die Zustände der russischen Gesellschaft ohne Schminke schildern wollte,
mußte die Farbe so auftragen, wenn aus einem Gemälde überhaupt etwas
Echtes, Brauchbares werden, wenn dabei ein »kulturhistorischer« rein
»wissenschaftlicher« Zweck im Auge behalten werden sollte.

Wenn ich krasse Vorkommnisse zu erzählen und dekadente Stimmungen zu
schildern habe, dann kann ich jene nicht formlos und diese nicht ideal
hinstellen -- will ich nicht der höchsten sittlichen Pflicht als Autor
mich entledigen. So sind nun einmal die Dinge in Rußland. Würde sie
Artzibaschew nicht schildern, wie sie sind, sondern, wie er sie haben
möchte, dann läge in Anbetracht zahlreicher Stellen seines »Ssanin« ein
Bestreben vor, das bei solch rauhem Realismus, wie er da zum Ausdruck
kommt, als äußerst bedenklich bezeichnet werden müßte. Das schließt aber
ohne Zweifel die Behauptung in sich, daß wir es hier mit einem
ausgesprochenen Tendenzroman zu tun haben. Und dieser Behauptung
widerspreche ich mit Entschiedenheit.

Wer sie verteidigt, der verurteilt indirekt den Ssanin als eine
pornographische Schrift. Denn wenn das geschlechtliche Leben und alles,
was damit zusammenhängt, nicht wirklich so wäre, wie es uns hier vor
Augen geführt wird, wenn es vom Autor mit seiner angeblichen Tendenz nur
so erdacht wäre, um die Unterlage einer neuen, erotischen Weltanschauung
zu bilden, -- das Vorwort Villards will das glauben machen -- dann müßte
sich allerdings das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normal
empfindenden Lesers schwer verletzt fühlen.

Zustände und Anschauungen, noch dazu in einem fremden Lande, die aus
tausend Ursachen so geworden sind, die können wir aber, ob wir nun
Kenntnis davon haben oder nicht, ob sie sittlich gut oder verwerflich
sind, nicht ändern, nicht ablehnen, nicht durch literarische
Konfiskationen usw. beseitigen, Zumutungen aber, Aufdringlichkeiten
unsittlicher Art, kurzum Tendenzen, die im Gehirn eines Schriftstellers
ihren Ursprung haben, können wir ablehnen, von uns fernhalten, ebenso
gut wie die Zudringlichkeiten von Leuten, die uns am Leib und Leben, an
Hab und Gut schädigen wollen, nötigenfalls unter Anrufung des
gesetzlichen Schutzes. _Wer dem Ssanin des Artzibaschew anstelle der
harten und herben Realistik der Tatsachen eine solche Tendenz
vindiziert, der tut ihm meines Erachtens unrecht._

Indem nun aber das oben im ersten Teil meines Gutachtens ausführlich
erörterte Vorwort in denkbar anspruchsvollster Weise dem Buch eine
geradezu das Ganze beherrschende _erotische Tendenz_ zuschreibt, und
indem es die Schilderung der _ungeheuerlichen Wirkung solcher Tendenz_
dem, der das Buch zu lesen beabsichtigt, als die beste Empfehlung, die
wirksamste Reklame zur Weiterempfehlung aufdrängt, stempelt es, wie
ich oben bereits ausgeführt habe, das ganze Buch _zu einem
erotisch-tendenziösen_. Es zerstört seine nüchterne Realistik und nimmt
ihm seinen unverkennbaren kulturhistorischen, belehrenden,
wissenschaftlichen Charakter.

Ich stehe nicht an, zum Schluß meines Gutachtens meine Meinung dahin
zusammenzufassen: _Artzibaschews Ssanin an sich halte ich vom Standpunkt
des § 183 Ziffer 1 des St.-G.-B. für einwandfrei. Die vorliegende
deutsche Ausgabe jedoch mit Villards Vorwort fällt meines Erachtens
unter den Begriff einer unzüchtigen Schrift im Sinne des erwähnten
Paragraphen._

Pforzheim, 2. Februar 1909.

                                         gez.: Prof. Dr. Karl Brunner.


                              6. Gutachten

                    von Ludwig Ganghofer in München.

Der mir zur Beurteilung vorgelegte Roman ist als eine dichterisch
hochstehende, aus künstlerischem Geist entsprungene Schöpfung zu
bezeichnen, die in der Geschichte der russischen Literatur neben den
Meisterwerken von Gogol, Turgenjew, Dostojewski und Gontscharow ihren
verdienten Ehrenplatz finden wird.

Die Komposition des Romans ist von schöner und strenger Geschlossenheit;
die Handlung ist ein starkes und überzeugendes Bild des Lebens, klar
geschaut, großzügig erfaßt und mit künstlerischer Kraft aus der
Wirklichkeit emporgehoben zu dichterischer Wahrheit; alle Gestalten des
Buches sind mit Meisterhand gezeichnet, ohne Beschönigung, ohne
Uebertreibung, ohne Absichtlichkeit, im plumperen Sinne dieses Wortes,
ohne tendenziöse Verschiebung der Linien, die das Leben dem Dichter
zeigte; von fesselnder Wirkung sind die mit den Lebensvorgängen
künstlerisch verwobenen Naturschilderungen, die in ihrem malerischen
Reiz an die feinsten landschaftlichen Stimmungen bei Turgenjew erinnern;
und als glühende Seele dieses Buches redet zu uns die leidenschaftliche
Vaterlandsliebe des Dichters, seine schwermutsvolle Trauer über das
Schicksal seiner Heimat und ihrer Jugend, deren wertvolle Lebenskräfte
zwischen politischem Unglück und sozialer Entartung nutzlos verbraucht
und zerrieben werden.

Die Lektüre dieses Buches brachte mir jenen hohen Genuß, wie ihn nur das
Werk eines echten Dichters dem Leser zu bieten vermag -- gleichviel, ob
es nun licht und erhebend oder erschütternd und bedrückend wirkt.

Ich würde nicht nur als Schriftsteller das lebhafteste Bedauern darüber
empfinden, wenn dieses Werk aus Gründen, die nur außerhalb seines
dichterischen Wertes liegen könnten, bei uns in Bayern eine zensurelle
Maßregelung erführe. Denn die an mich gestellte Frage, ob die im
»Ssanin« geschilderten sexuellen Vorgänge geeignet wären, das Scham- und
Sittlichkeitsgefühl eines »normal empfindenden Lesers« zu verletzen, muß
ich mit Nein beantworten. Dabei verstehe ich allerdings unter einem
»normal empfindenden Leser« auch einen gesunden, natürlich fühlenden
Menschen von relativer Bildung und ernsten Kulturinteressen. Auf
entartete und krankhaft gereizte Menschheitsexemplare kann ja auch ein
viel harmloseres Kunsterzeugnis, als es der Ssanin ist, eine zu
sexueller Nervosität umschlagende Wirkung üben. Aber in einem halbwegs
gesunden, natürlich fühlenden und verständigen Menschen wird die Lektüre
dieses Buches niemals ein Gefühl der Lüsternheit erwecken, also meines
Erachtens auch nie ein Gefühl der sittlichen Empörung über die Form
hervorrufen, in welcher die von der Handlung des Romans untrennbaren
sexuellen Vorgänge hier geschildert sind.

Von einer »wissenschaftlichen Behandlung der erotischen Fragen« oder von
einem »wissenschaftlichen Zwecke« der hier gegebenen Darstellung
geschlechtlicher Vorgänge zu sprechen, erscheint mir diesem Werke
gegenüber als nicht ganz zutreffend. Der Schöpfer dieses Werkes wollte
nicht als Arzt oder als Gelehrter sprechen, sondern als Dichter. Er
wollte kein wissenschaftliches Compendium der modernen Erotik seiner
Heimat verfassen, sondern mit Wahrheit und künstlerischer Kraft das
versinkende Leben einer bedrückten und irregeleiteten Jugend schildern,
die sich -- von höheren kulturellen Lebenszielen auf politischem und
sozialem Gebiete gewaltsam abgedrängt -- auf die tierischen
Reservatrechte der Menschheit beschränkt sieht und sich in verschärfter
Intensität mit allem beschäftigt, was ihr als erotisches Problem
erscheint. Diese Jugend sagt: Untergang und Niederbruch auf allen
Seiten, suchen wir also wenigstens einen Fortschritt auf diesem _einen_
Gebiete zu erzielen, auf dem uns die Arbeit nicht unterbunden werden
kann. Die latente Nähe des Galgens erzeugt sexuelle Subtilitäten.

Ich halte es für einen der Grundgedanken des vorliegenden Romans, daß
der Dichter aussprechen wollte: Hindert eine blutvoll und stürmisch
heranwachsende Jugend an der redlichen Betätigung ihrer besten
Lebenskräfte, nehmt ihr die fliegenden Hoffnungen, die sie emportragen
über die Dunkelheiten des ewig Menschlichen, so werden die
Feinfühligsten dieser Jugend zu Unglücklichen wie Ssoloveitschik, die
gedankenvollen Schwächlinge zu ratlosen Selbstmördern wie Jurii, die
geistig minderwertigen Menschtiere zu perversen Schweinen wie Woloschin
und Sarudin, die seelisch und körperlich Starken zu einsamen Spöttern
und zu rücksichtslosen Lebenstrinkern wie Wladimir Ssanin, der aus allem
schwülen Sturm dieses Buches höhnisch und lachend hinausschreitet ins
Ziellose, ein Zyniker und doch ein Held, der keinen Menschen haßt, aber
auch um keines Menschen willen leidet.

Man mag erschrecken vor aller Wahrheit, die hier geschildert wird; aber
man darf für diese Wahrheit nicht den Dichter verantwortlich machen, der
solche Wahrheit sah und zeigte.

Aus dem ernsten Lebensklang seines Buches, aus dem Gang der Handlung,
aus dem Kontrast der geschilderten Figuren, aus der Schärfe des
Gegensatzes, mit dem der Dichter das Helle gegen das Dunkle stellt, das
Kraftvolle gegen die Schwäche, gesunde Natur gegen das Verkrüppelte und
Entartete, die Reinheit gegen die Vertierung, das Ersehnenswerte gegen
das wirklich Bestehende -- aus diesen kontrastierenden Farben und
Bildern des Werkes wäre ohne mühsame Kombination zu erweisen, daß dieses
erschütternde Werk geschaffen wurde, um an giftige Lebenswunden das
brennende Eisen zu legen. Aber mit Worten ist eine solche Absicht im
»Ssanin« nirgends ausgesprochen. Der echte Künstler hat es nicht nötig,
seinem großgefaßten Werke jenes Moralfähnchen anzuhängen, wie es in der
kleinen Fabel des Kinderbuches üblich ist.

Im Zusammenhange mit allem mutigen Ernste dieses Buches vermag die
Darstellung der für die Handlung unumgänglichen erotischen Szenen einen
normalen und gesunden Leser weder sinnlich zu erregen, noch sein Scham-
und Sittlichkeitsgefühl zu verletzen. Aber auch losgelöst aus dem
künstlerischen Zusammenhange dieses Buches, jede der inkriminierten
Stellen für sich allein betrachtet -- so, wie sie in der an mich
gerichteten Zuschrift von der Kgl. Staatsanwaltschaft nach Seitenzahlen
aufgeführt wurden -- können diese Darstellungen nicht als unsittlich
oder unzüchtig bezeichnet werden. Diese Schilderungen gehen nie von der
Absicht aus, die Lüsternheit des Lesers zu erwecken oder eine Wirkung
durch die Spekulation auf seine tierischen Instinkte zu erzielen. Hinter
all diesen Szenen stehen ernste, psychologische, kulturelle und
nationale Werte; die Form der Darstellung ist immer ruhig, abgeklärt,
reinlich und vornehm, sie vermeidet mit Geschmack jede Linie und jedes
Wort, das über die Grenzen des künstlerisch Notwendigen und Zulässigen
hinausginge. Mit einer einzigen Ausnahme. In der Szene zwischen Jurii
und Karssawina -- Seite 440 -- störte mich die textliche Brutalität der
drei Worte auf Zeile 25. Diese Wendung ist geschmacklos, eine
stilistische Entgleisung, von der ich nicht entscheiden kann, ob sie dem
Dichter oder dem Uebersetzer anzukreiden ist. Ich möchte das letztere
vermuten.

Im übrigen wird die Uebersetzung, von kleinen Nachlässigkeiten der
Sprache abgesehen, dem ernsten Charakter des Buches wohl gerecht, so daß
sie als literarische Arbeit zu bezeichnen ist.

Nicht völlig einverstanden bin ich mit einem Abschnitt der Vorrede. Die
Behauptung, daß »der wilde sexuelle Rausch«, der einen Teil der
russischen Jugend erfaßte, »auf den »Ssanin« zurückgeht«, scheint mir
historisch nicht richtig. Ich erwähne das, weil ich mich zu der
Bemerkung verpflichtet fühle, daß jene Stelle der Vorrede -- Seite VIII
-- für mich den unbehaglichen Beigeschmack einer nicht sehr delikaten
Anpreisung des Buches bekam. Es ist möglich, daß ein solcher Eindruck in
mir vorbereitet war durch den geschmacklosen und marktschreierischen
Aufdruck der Buchhändlerschleife, mit welcher der Band verschlossen war.
Es ist richtig, daß der »Ssanin« in Rußland verboten wurde. Aber mit
dieser Tatsache buchhändlerischer Reklame zu machen, erscheint mir als
unanständig. Und Reklame der gleichen Gattung ist der Aufdruck:
»Ursprung der sexuellen Revolution«. Dieser Reklameschrei, der sich übel
an eine literarisch und kulturhistorische Sache anhängt, ist überdies
eine Unwahrheit, denn der »Ssanin« ist weder der »Weltanschauungsroman
des heutigen Rußland«, noch weniger »der Ursprung der sexuellen
Revolution«. Durch _solche Reklame_ wird das Anstandsgefühl eines
normalen Menschen verletzt, nicht aber durch dieses künstlerisch
wertvolle Buch, das meines Wissens in Rußland nicht aus
Sittlichkeitsgründen, sondern aus politischen Motiven verboten wurde.
Denn dieses Buch -- dessen sittlicher Wert allein schon durch das
grauenvolle Schicksal dokumentiert wird, dem der Dichter die Gestalt des
Masochisten Sarudin überantwortet -- dieses Buch mit seinem flammende
Geiste und seiner peitschenden Ironie war geeignet, die russische Jugend
aus ihrer seit Jahrzehnten entwickelten, schon _vor_ dem »Raskolnikow«
und »Oblomow« angebahnten Verirrung und Versumpfung aufzurütteln und zu
neuem Widerstande gegen die in Rußland herrschenden politischen
Mißstände zu beseelen.

Daß der »Ssanin« nach seinem Erscheinen in unreifen Gehirnen und
krankhaften Organismen der russischen Jugend mancherlei Mißverständnisse
und Verwirrungen anrichtete, das ist dem Dichter und seinem Werke
ebensowenig zur Last zu legen, wie die nationale und kulturelle Wirkung
Goethes durch die Tatsache zu belasten wäre, daß sich nach dem
Erscheinen der »Leiden des jungen Werthers« ein paar sensible
Schwächlinge aus törichter Eitelkeit erschossen. Geniale dichterische
Werke pflegen nach einigen Erschütterungen, die sie bei Unverständigen
anrichten, reinigend zu wirken und gesunde Erneuerungen des Lebens
vorzubereiten.

München, den 29. Januar 1909.

                                                gez. Ludwig Ganghofer.


                              7. Gutachten

      von Dr. Franz Muncker, Professor an der Universität München.

                                              München, 7. Januar 1909.

Ein Sachverständigengutachten über den Roman »Ssanin« von Artzibaschew
in dem ganzen Umfang, wie es von mir gefordert wurde, kann ich nicht
abgeben:

Zunächst kann ich über den Wert der Uebersetzung nur mit Einschränkung
urteilen. Das russische Original liegt mir nicht vor, und auch wenn dies
der Fall wäre, würde meine -- ziemlich dürftige -- Kenntnis der
russischen Sprache nicht ausreichen, daß ich wirklich über die Treue und
Güte der Uebersetzung sprechen dürfte. Von meinen näheren Kollegen an
der Universität wäre dazu meines Wissens am ersten Professor Dr.
Krumbacher befähigt. Ich kann nur beurteilen, ob das Deutsch, das der
Uebersetzer schreibt, gut und künstlerisch ist. Darin sind mir hie und
da kleine grammatikalische Sorglosigkeiten, bisweilen auch eine allzu
russisch klingende Wendung aufgefallen; im ganzen aber ist die
sprachliche Darstellung ungezwungen, frisch und gewandt: die
Uebersetzung liest sich wie ein gutes deutsches Originalwerk.

Auch über den kulturhistorischen Wert des Romans habe ich kein
eigentliches Sachverständigenurteil. Von Berufs wegen gehen mich die
kulturellen Verhältnisse des modernen Rußland nichts an; was ich von
ihnen weiß, stammt in der Hauptsache aus den Quellen, aus denen sich
jeder andere Gebildete ebensogut wie ich über solche Dinge unterrichten
kann, aus Zeitungen oder aus Gesprächen mit Leuten, die mehr davon zu
wissen scheinen. So vermag ich nicht mit Sicherheit darüber zu urteilen,
ob Ssanin wirklich, wie es in der Vorrede der deutschen Ausgabe heißt,
die sexuelle Revolution in Rußland hervorgerufen hat, oder ob er nur ein
künstlerisches Abbild von dieser Revolution gibt.

Daß jedoch die in ihm gekennzeichneten philosophisch sittlichen
Anschauungen und Freiheiten des geschlechtlichen Lebens tatsächlich der
Wahrheit entsprechen, steht nach den Berichten der Zeitungen außer
Frage. Auch könnte ich mich dafür auf bestätigende Aeußerungen berufen,
die eine der ersten Persönlichkeiten der Petersburger Universität,
Staatsrat Th. v. Zielinski, hiesigen Freunden -- namentlich auch dem
Geheimrat Professor Dr. Crusius hier, dem ich den Roman zu rascher
Lektüre gab, eben weil ich wußte, daß Zielinski gerade mit ihm über
diese russischen Verhältnisse ausführlich gesprochen hatte; Crusius,
einer der größten Kenner alter und neuerer Literatur, stimmt übrigens in
allem Wesentlichen meinem Urteil über »Ssanin« bei -- gegenüber getan
hat. Durch diese Wahrheit des Inhalts gewinnt der Roman Ssanin,
gleichviel wie seine Bedeutung in Rußland selbst geschätzt wird, für uns
deutsche Leser allerdings einen hohen kulturgeschichtlichen Wert; und
insofern verdient er zweifellos ins Deutsche übersetzt zu werden. Daß er
in Rußland verboten worden ist, kann dabei nicht in Betracht kommen. In
Rußland wird manches von der Zensur unterdrückt, was bei uns als
vortrefflich gilt. Den Roman Ssanin verbot man dort, weil man fürchtete,
sein Inhalt möchte der dortigen Jugend gefährlich werden, weil man sah,
daß diese Jugend die in dem Roman geschilderte freie Liebe und überhaupt
die Lebensanschauung des Titelhelden in wildem Rausche praktisch zum
Gesetz erheben wolle. Diese Gefahr besteht bei uns durchaus nicht, weil
bei uns die ganze revolutionäre Gärung, überhaupt die politisch sozialen
Voraussetzungen fehlen, die in Rußland solchen Bestrebungen die Wege
bahnen.

Unbestreitbar aber verdiente »Ssanin« auch um seines literarischen
Wertes willen die Uebersetzung ins Deutsche. Mit großer Kraft und Kunst
zeichnet der Verfasser eine Reihe von Personen lebenswahr und
psychologisch sorgfältig in allen ihren Gedanken, Empfindungen, Reden
und Handlungen individuelle Charaktere, die zugleich bedeutsame Typen
der verschiedenen Arten von Menschen sind, mit nicht geringerer Kunst
erzählt er eine Reihe von Vorgängen, die sich zu einem lebensvollen
Gesamtbilde zusammenschließen, und trotz der Breite, mit der er das
Meiste in ihnen ausmalt, trotz mancher ermüdenden Einförmigkeit der
einzelnen Geschehnisse weiß er sehr wohl den Leser dichterisch
anzuziehen, zu spannen und zu fesseln. Ohne falsche Ueberladung, aber
anschaulich und wirksam schildert er bald die Natur, bald Einzelheiten
aus dem sozialen Treiben. Ausführliche Gespräche über Religion,
Christentum, philosophische Weltanschauung flicht er ein, um die
wechselnden Gedanken und Bestrebungen der russischen Jugend genau zu
beleuchten. Diese Gespräche erstrecken sich oft über Dutzende von
Seiten; ihnen sind unter anderem die Kapitel 23-25 (S. 276-311), 31-33
(S. 378-409) usw. gewidmet. Mehr als alles übrige beweisen diese
umfangreichen und nicht immer gerade kurzweiligen Abschnitte, wie ernste
Absichten der Verfasser mit seinem Roman verfolgte. Wer mit unreinen
sinnlichen Begierden zu dem Buche greifen würde, den müßten diese
Abschnitte unbedingt abschrecken. Er käme aber auch sonst wohl nicht auf
seine Rechnung, obwohl von geschlechtlichen Regungen und Handlungen
mehrfach in dem Roman die Rede ist. Was der Verfasser an solchen Stellen
erzählt, das scheint mir meistens zur Charakteristik der Menschen und
der Zustände, um die es sich handelt, künstlerisch und psychologisch
geradezu notwendig; wie er es aber erzählt, beweist durchaus den
vornehmen Schriftsteller, der rein sachlich, objektiv episch darstellt
und von jeder Lüsternheit weit entfernt ist.

Ich gehe sogleich zu den einzelnen Stellen über, die in dem
gerichtlichen Schreiben an mich vom 28. Dezember 1908 besonders
hervorgehoben sind.

S. 88-90. Die Hingabe Lydas an Sarudin ist eines der Grundmotive des
Romans, als solches daher unentbehrlich. Die Darstellung dieser Hingabe
ist ganz sachlich, fast nüchtern, von jeder Beschönigung durch den
Erzähler, von jeder lüstern schlüpfrigen Ausmalung frei; streng genommen
wird nur das fieberhafte Verlangen Lydas vor dem Akt der Hingabe selbst
charakterisiert und zwar durch kurze Andeutungen. Für kleine Mädchen und
unreife Jüngelchen sind diese Andeutungen freilich nicht, der
ausgewachsene, normal empfindende Leser aber kann in ihnen nichts
Unsittliches entdecken.

S. 94 u. 96. Wo hier überhaupt etwas Unsittliches liegen soll, kann ich
nicht herausbringen. Ebenso geht es mir bei S. 211-213 und 465-466.

S. 196-197. Es handelt sich um die Charakteristik eines gemeinen
Lüstlings, deren Berechtigung in einem Roman kein literarisch
verständiger Mensch leugnen wird. Dieser Charakteristik dient die rohe
Rede. Aber der Verfasser streicht selbst das roheste Wort und deutet es
nur unbestimmt an, so daß es der Leser nicht einmal mit Sicherheit
ergänzen kann. Er weicht hier also geradezu dem aus, was das Schamgefühl
des Lesers verletzen könnte.

S. 231-233 und 236. Eine sittlich verwerfliche Anschauung wird von dem
Helden des Romans ausgesprochen, den der Dichter aber keineswegs als
Ideal gezeichnet hat, dessen Gesinnungen er in keiner Weise billigt.
Dabei werden verschiedene rücksichtslose Ausdrücke (z. B. das Wort
»schwanger«) gebraucht, allein noch besonders hervorgehoben, daß diese
unverblümte Rede die schuldige Hörerin aufs tiefste beschämte. Wie diese
Stellen aber das Sittlichkeitsgefühl des normal empfindenden Lesers
verletzen sollen, ist mir unfaßbar.

S. 246-248. Ssanins Worte sind roh, aber ohne jeden lüsternen,
geschlechtlich erregenden Sinn. Die künstlerische Wahrheit erforderte
übrigens gerade hier unbedingt die Roheit des Ausdrucks, und die gröbste
Stelle in Ssanins Rede (S. 248) ist vom dichterischen Standpunkt aus
ebenso notwendig wie etwa die Schimpfwörter, die der sterbende Valentin
in Goethes »Faust« ausstößt.

S. 316-318. Wieder handelt es sich um die Charakteristik zweier elender
Gesellen, die der Verfasser überdies wiederholt als schamlos bezeichnet.
Ganz objektiv nüchtern berichtet er über ihre gemeinen Reden, die er
verurteilt, deutet aber von diesen Reden nur das Nötigste an, und läßt
ihre unzüchtig-witzige Pointe nicht einmal ahnen. Die Stelle ist
geradezu ein Beweis dafür, daß er nichts weniger als lüstern wirken
will, sonst hätte er von dem Gespräch der erbärmlichen Patrone, sogar
mit einem Schein von künstlerischer Berechtigung, viel mehr mitteilen
können. Was er sagt, ist kaum unsittlicher als was bei einer Verhandlung
über seinen Roman im Gerichtssaal Ankläger und Verteidiger auch sagen
müßten. Denn auch aus seinen Worten klingt überall der sittliche Ernst
heraus; sein sittliches Urteil schwankt nicht einen Augenblick, hier so
wenig wie an anderer Stelle des Romans.

S. 419-421. Das Gespräch der zwei Männer, ob man eine nackte Frau
betrachten dürfe oder nicht, ist rein theoretisch, von jeder Roheit oder
Niedrigkeit frei, die folgende Szene aber, wie beide die badenden
Mädchen beobachten, ist so einfach, fast naiv, jedenfalls dichterisch so
hübsch, daß sie einen gebildeten, rein empfindenden Leser ebenso wenig
verletzen kann, wie etwa ein schönes Gemälde, das eine nackte Frau
zeigt. Jede unsittliche Wirkung ist hier ausgeschlossen, wenn die
Phantasie des Lesers nicht an sich schon verdorben ist.

S. 430 u. 435. Rein sachlich, ohne Lüsternheit von seiten des
Schriftstellers, wird hier ausgesprochen, daß sich in die Liebesgedanken
Juriis auch sinnlich begehrliche Vorstellungen einmischen. Solange nicht
bewiesen wird, daß so etwas bei einem jungen Mann, der von wirklicher
Liebe erfüllt ist, niemals vorkommt, kann ich das Anstößige oder
Verwerfliche dieser Darstellung nicht verstehen.

S. 439-443 und 470-473. Sinnlich geschlechtliche Vorgänge werden hier
allerdings dargestellt, aber in sachlicher, nüchtern objektiver Weise
ohne lüsterne Zutat. Die Vorgänge selbst sind im Gefüge des Romans
unentbehrlich; die Form der Darstellung aber kann nicht unzüchtig
wirken, weil sie einen rein geschichtlichen Charakter trägt. Wollte man
um dieser Szenen willen das Buch verurteilen, so müßte man vorher
zahllose Werke alter und neuer Literatur verbieten, so z. B. allerlei
griechische, lateinische, italienische, französische, englische, ältere
wie moderne deutsche Dichtungen berühmter Autoren, besonders auch
mehrere Erzählungen Wielands und Heinses, die viel reicher an ähnlichen,
nur zwanzigmal sinnlicheren Stellen sind als der Roman »Ssanin«.

S. 494. Auch hier fehlt jede Lüsternheit in dem geschichtlich nüchternen
Bericht, von Unsittlichkeit kann keine Rede sein.

Ueberblicke ich alle diese Stellen auf einmal und fasse zugleich den
Sinn und Inhalt des ganzen Romans zusammen, so kann ich nirgends etwas
wahrnehmen, was als unzüchtig gelten könnte. Regungen einer starken
Sinnlichkeit werden in den Personen des Romans geschildert, entsprechend
den kulturgeschichtlichen und sozialen Absichten, die der Verfasser als
künstlerischer Darsteller der modernen russischen Jugend verfolgt. Das
Buch ist somit keine Lektüre für unreife Leser, für Kinder oder für
Ungebildete. Solche könnten sich allerdings an einzelne unverstandene
Szenen halten und dann allerlei Anstoß daran nehmen; die Schuld daran
trüge aber nur ihr eigener literarisch und moralisch nicht genügend
ausgebildeter Geist. Normal empfindende Leser, die auch die nötige
künstlerische Bildung besitzen, können meines Erachtens unmöglich in
ihrem Scham- und Sittlichkeitsgefühl durch diesen Roman verletzt werden;
solche Leser werden vielmehr die Anklage und eine etwaige Verurteilung
des Romans, wenn diese aus mir unbekannten juristischen Gründen möglich
sein sollte, nicht verstehen können.

                                               gez. Dr. Franz Muncker.


                              8. Gutachten

            des kgl. Oberstudienrats J. Nicklas in München.

Der Roman »Ssanin« von Artzibaschew ist nach meiner Meinung eine
Publikation ohne künstlerischen bezw. literarischen Wert. Das Werk, das
die jetzige Jugend Rußlands schildern will, wie sie von revolutionären
Ideen und Handlungen zur Erotomanie überging, entbehrt vor allem des
Rückgrates eines jeden literarischen Kunstwerks, der Handlung und der
Charaktere. Der Verfasser läßt seine »Helden«, die mit Ausnahme des
Egoisten Ssanin blasierte, abgelebte, lüsterne, erbärmliche junge Leute
sind, lediglich Zigaretten rauchen, in breiter, selbstgefälliger und
geschwätzigster Weise ohne tiefere Kenntnis der Welt über alles
mögliche, namentlich über ihre weltschmerzlichen Gefühle Raisonnements
anstellen; da sie sich in ihrem überreizten Empfinden in der Welt nicht
zurechtfinden und keinen Begriff von der Bedeutung der Pflicht und der
Arbeit haben, gefallen sie sich fortgesetzt in nichtigen
Gefühlsentladungen und suchen den Wert des Lebens in der Befriedigung
sexuellen Genusses. Nur die Darstellung der psychologischen Vorgänge in
der Brust der gefallenen Mädchen Lyda und Karssawina erhebt sich zu
einer gewissen literarischen Bedeutsamkeit.

Die Uebersetzung ist in fließender und gewandter Sprache gegeben, wenn
sie auch nicht immer frei ist von Inkorrektheiten.

Eine kulturhistorische Bedeutung, wie sie etwa Goethes »Werthers Leiden«
hat, oder gar einen wissenschaftlichen Wert kann ich dem Buche nicht
beimessen; denn auch ohne diesen Roman hat die Welt Kenntnis von den
gegenwärtigen soziologisch wichtigen Verhältnissen Rußlands und von
seiner Jugend. Diese Bedeutung kann das Werk schon deshalb nicht haben,
weil das Geschlechtsproblem nicht in ernster, zurückhaltender und
taktvoller Weise behandelt ist, sondern weil die Absicht des Verfassers
immer wieder allzu deutlich hervortritt, unter dem Deckmantel
künstlerischer Offenbarung auf den Kitzel niedriger Sinnlichkeit und auf
gemeine und teilweise perverse Instinkte zu spekulieren. Geradezu
abstoßend, ekelerregend und schamlos sind die unflätigen Szenen, in
denen ausführlich, eingehend und mit breiter Behaglichkeit dargestellt
wird, wie Sarudin gegenüber Lyda, sowie Jurii und besonders Ssanin dem
Mädchen Karssawina gegenüber sich benehmen. (S. 211 ff., 430 ff., 439
ff., 470 ff.)

Diese Darstellungen haben mit Kunst gar nichts zu schaffen, da sie nicht
die mindeste ästhetische Befriedigung hervorrufen und himmelweit
entfernt sind von einer Erhebung zu höherer sittlicher oder ästhetischer
Auffassung; sie gehen nur darauf aus, die Lüsternheit zu erwecken.

Schon diese Stellen allein würden das Urteil rechtfertigen, daß das Buch
geeignet ist, eine Verwirrung in die Vorstellungen von Sittlichkeit zu
bringen; aber auch noch viele andere Partien sind geeignet, die normalen
sittlichen Empfindungen der Leser zu verletzen. (S. 233, 248 ff., 311,
316 ff., 338, 419 f., 494.)

Auch das Vorwort, besonders S. VIII, wo von der Organisation der
Ssaninisti und von Verbindungen zum freien Geschlechtsgenuß unter
Gymnasiasten und Gymnasiastinnen die Rede ist, ist angetan, die Jugend
sittlich zu gefährden; es ist dies umsomehr zu befürchten, als
anzunehmen ist, daß das Buch, falls es frei gegeben würde, besonders von
der Jugend gelesen werden würde.

Die Rücksicht auf die körperliche und seelische Gesundheit unserer
Jugend verlangt gebieterisch, die deutsche Jugend vor der Lektüre
solcher literarischer Erzeugnisse zu schützen, und zwar umsomehr, als
die Welt nichts verliert, wenn das in Rußland beschlagnahmte Buch auch
in Deutschland verboten wird.

München, 15. Januar 1909.

                                   gez. J. Nicklas, K. Oberstudienrat.


                              9. Gutachten

           des Dr. H. Schneegans, Univ.-Professor, Würzburg.

Dem mir im Schreiben des kgl. Untersuchungsrichters E. A.-V.-Z. VII
610-08 Tab. Nr. 73/08 E. vom 28. Dezember 1908 auferlegten Auftrage, ein
Gutachten abzugeben ȟber den literarischen und kulturhistorischen Wert
des Romans »_Ssanin_« von Artzibaschew, über die wissenschaftliche
Bedeutung der Behandlung erotischer Fragen in ihm und die Güte der
Uebersetzung, sowie darüber, ob die Darstellung geschlechtlicher
Vorgänge (s. insbesondere S. 88-90, 94, 96, 196-197, 211-213, 231-233,
236, 246-248, 316-318, 419-421, 430, 435, 439-443, 445-446, 470-473,
494) durch die vorherrschenden wissenschaftlichen Zwecke dermaßen in den
Hintergrund gedrängt wird, daß das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des
normal empfindenden Lesers nicht verletzt wird«, erlaube ich mir im
folgenden nachzukommen.

Zunächst glaube ich feststellen zu müssen, daß nach meiner Ansicht im
Roman von einer _wissenschaftlichen_ Bedeutung oder Tendenz keine Rede
sein kann. Ich wüßte nicht, welche »wissenschaftlichen Zwecke« hier
vorherrschen sollten. Eine wissenschaftliche »Belehrung« über erotische
Fragen will der Roman nicht geben. Er ist nicht wissenschaftlicher als
irgend ein anderer Roman. Es wäre ein ungerechtfertigter Mißbrauch, wenn
er diesen Namen beanspruchen wollte. Eine andere Sache ist es natürlich,
ob man vielleicht in späterer Zeit aus der Darstellung erotischer
Vorgänge, resp. der Erörterung erotischer Fragen in diesem Roman für
eine Kulturgeschichte Rußlands im zwanzigsten Jahrhundert Nutzen wird
ziehen können. Das glaube ich allerdings, doch gilt das mutatis mutandis
von jedem kulturgeschichtlich interessanten Roman.

Was die _literarische_ Bedeutung des Romans betrifft, so ist er an und
für sich als dichterische Komposition nach meinem Dafürhalten keine
hervorragende Leistung. Die ziemlich lose aneinander gereihten Bilder
der Liebesverhältnisse mäßiger russischer Kleinstädter vermögen kein
sonderliches ästhetisches Interesse zu erwecken. Es fehlt dem Roman an
Geschlossenheit der Handlung und an der Erzählung einer spannenden
Begebenheit, die Personen sind nicht alle scharf gezeichnet, einige
Nebenfiguren heben sich nicht von den andern ab. Im schönsten gelungen
ist die Schilderung der Naturvorgänge und am tiefsten die Darstellung
der psychischen Zustände der einzelnen Personen.

Die wirkliche Bedeutung des Romans ist aber gewiß nach der
_kulturgeschichtlichen_ Seite zu suchen. Darüber sagt treffend das
Vorwort S. VIII: »Man wird die gegenwärtige Epoche, also die, welche die
revolutionäre ablöste, psychologisch und soziologisch nicht beurteilen
können, ohne den Ssanin als ihren charakteristischen Niederschlag in den
Mittelpunkt der Betrachtung zu ziehen.« Nach dem Scheitern der
Revolution zog sich die »Intelligenz« in Rußland, wie aus S. X, XI
hervorgeht, von der Politik zurück. »Man suchte nach dem Neuen.« Dieses
Neue fand man, wie es scheint, in der praktischen Ausübung der freien
Liebe. »Man sah, daß es Gebiete des täglichen Lebens gab, die, trotzdem
sie polizeilich nicht strafbar, doch ganz annehmlich waren. Aber niemals
hätte man diesem Beispiel zu folgen gewagt, wenn nicht in diesem
Zeitpunkt das erlösende »Wort« für die unbewußten Empfindungen
gesprochen worden wäre.« Dieses Wort sprach Ssanin aus. Deshalb gilt
nach dem Vorwort Artzibaschew als der charakteristische Vertreter des
heutigen Rußland. Der Roman scheint ungeheuren Anklang gefunden zu
haben, da nach kurzer Zeit die 10000 Exemplare der ersten Auflage
vergriffen waren. »Für jeden gesunden Menschen,« heißt es im Vorwort S.
XII »ist in einem Lande, wo die geistige Bewegungsfreiheit vollständig
eingeengt ist, die sexuelle Schmackhaftigkeit die zureichendste. Hierin
nun kommt Ssanin den oben erwähnten sozialen Unterströmungen entgegen
und weist ihnen den offenen Weg.« Wenn das in der Tat in Rußland
zutrifft, so bedeutet das für die russische Gesellschaft zugleich den
Bankerott in sittlicher und infolgedessen auch in politischer Beziehung.
Deshalb dürfte in letzterer Hinsicht das Buch weit entfernt sein, eine
Gefahr für die russische Regierung zu bedeuten. Die schwachen, jedem
Liebestaumel sofort erliegenden und bei jeder Schwierigkeit zum
Selbstmord als letzter Zuflucht greifenden Menschen, die der Roman
darstellt, sind keine Revolutionäre, die den Staat in irgend welche
Gefahr stürzen könnten. Ssanin, der »Held« des Romans, ist ein
blasierter, gleichgültiger, kalter Egoist. Er hat so wenig Pietät
gefühlt, daß er z. B. seine Mutter als Idiotin bezeichnet, er hat so
wenig Sinn für Freundschaft, daß er auf dem Grabe eines Freundes, dem er
die Geliebte geraubt hat, als man ihn bittet, auf ihn eine Grabrede zu
halten, antwortet: »Was ist hier zu reden? Die Welt ist um einen
Dummkopf ärmer geworden, das ist alles«; er ist so frei von moralischen
Bedenken, daß er z. B. seiner schwangeren Schwester den Rat erteilt, sie
möchte die Frucht ihres Leibes abtreiben. Den höchsten Zweck der
Menschheit erblickt er in folgendem: Er träumt »immer von der
glücklichen Zeit, wo zwischen den Menschen und dem Glück nichts mehr
stehen wird, wo der Mensch sich frei und furchtlos allen ihm
zugänglichen Genüssen hingeben kann ... Die Menschen sollen die Liebe
genießen ... ohne Furcht und Entsagung ... ganz schrankenlos ... Und
dann werden sich auch alle Formen der Liebe in eine endlose Kette von
Zufälligkeiten, Ueberraschungen und Verbindungen erweitern«. S. 469. Und
diese Freiheit gilt nach diesem russischen Evangelium ebenso für die
Frauen wie für die Männer. Heißt es doch nach S. 179: Entweder müsse man
»ewige Keuschheit bewahren oder sich _und auch der Frau_ natürlich volle
Freiheit gewähren, um sich dem Genuß der Liebe und Leidenschaft voll und
ganz hinzugeben.« So werden wir uns nicht wundern, daß Ssanin dem
Liebhaber seiner Schwester Nowikow gegenüber es zu rechtfertigen sucht,
daß sie sich einem andern Mann vorher hingegeben hat. Es sei nicht
schlimmer, als wenn _er_ eine Frau vorher geliebt habe. Und diesem
Gedanken gibt er den drastischen Ausdruck: »Wie oft bist du auf dem
Bauch irgend einer Hure herumgerutscht, hast dich geil vor Gier
gewunden, betrunken und schmutzig wie ein Hund.«

Aus dieser Stelle mag sogleich hervorgehen, wie kraß die Ausdrucksweise
des Buches ist. Daß ein Roman, der in Liebesfragen eine so vollständige
Freiheit predigt, auch in der Schilderung erotischer Dinge kein Blatt
vor den Mund nimmt, ist selbstverständlich. Freilich einige der oben als
das sittliche Gefühl besonders verletzenden angeführten Stellen sind im
Ausdruck nicht so sehr derb. (S. 94, 96, 196-197, 211-213, 430, 435,
465-466, 494.) -- Dagegen sind die Stellen 88-90, 316-318, 419-421,
439-441, 472 recht kräftig. Immerhin sprechen sie nicht in
unverhüllterer Weise von erotischen Dingen als zahlreiche Stellen in den
Romanen Zolas (so in Nana, Pot Bouille, Germinal, Fécondité, oder in
Daudets Sapho, oder in zahllosen anderen französischen Romanen, die in
aller Händen sind. Ob obige Stellen das Scham- und Sittlichkeitsgefühl
des normal empfindenden Lesers verletzen, ist sehr schwer zu sagen.
Einem in der modernen Literatur nur einigermaßen bewanderten Leser
werden sie nicht besonders auffallen. In der antiken Literatur oder der
Renaissanceliteratur aller Kulturvölker, namentlich Italiens und
Frankreichs, finden sich Stellen, die noch viel freier von der
physischen Liebe reden. Eine Lektüre für die heranwachsende Jugend ist
das Buch natürlich nicht. Doch ist es weniger die Darstellung erotischer
Vorgänge, als die Predigt einer ganz schrankenlosen, über jedes
sittliche Bedenken sich hinwegsetzenden egoistischen Liebe -- oder um
dieses schöne Wort nicht zu entwürdigen, Befriedigung niederer Instinkte
--, die auf die Jugend verderblich wirken könnte. Ein in seinen
Grundsätzen nur einigermaßen gefestigter Leser wird das Buch viel eher
als »document humain« auffassen und auf die wenig interessanten
Persönlichkeiten des Buches das Wort Dantes anwenden: _Non ragioniam di
lor, ma guarda e passa._ (Sprechen wir nicht von ihnen; schau sie an und
gehe deines Weges).

Was endlich die Uebersetzung anlangt, so ist über die Güte derselben ein
wissenschaftliches Urteil nicht abzugeben, wenn man nicht das Original
zum Vergleich daneben hält. Uebrigens wäre es mir gegebenenfalls nicht
möglich, diesen Vergleich anzustellen, da ich kein Russisch verstehe. So
kann ich denn nur im allgemeinen sagen, daß die Uebersetzung sich leicht
und flüssig liest. Nur einige Ausdrücke fielen mir auf, die sich deutsch
merkwürdig ausnehmen. So S. 11, wenn von dem »_gedunsenen_, aber gut
gebauten und kräftigen Körper« die Rede ist, oder den Ausdruck S. 24
»Als Lyda an den Männern vorüberschritt, _zog_ sie den ganzen Körper ein
wenig an« oder S. 48 wenn vom »versterbenden Tag« gesprochen wird, oder
S. 242 »Was _gehst_ du denn gleich in die Höhe?« statt »springst du«
oder etwas ähnliches.

Damit meine ich auf alle Punkte, über die ich befragt worden bin, eine
Antwort erteilt zu haben. Eines kgl. Landgerichts hochachtungsvoll
ergebener

                         gez. Dr. H. Schneegans, Kgl. Univ.-Professor.


                             10. Gutachten

                          von Wilhelm Weigand.

Der Aufforderung des K. Landgerichts München 1. ein Gutachten über den
russischen Roman »Ssanin« von Artzibaschew (übersetzt von André Villard
und S. Bugow, Georg Müllers Verlag) abzugeben, komme ich hiermit nach.

Ich möchte gleich bemerken, daß ich das Einschreiten des Staatsanwalts
gegen das Buch für einen ganz entschiedenen Mißgriff halte. Man mag über
den dichterischen Wert des Romans verschiedener Meinung sein; aber die
große kulturhistorische Bedeutung des Buches steht außer Frage. Das
ganze gebildete Lesepublikum Europas ist darüber einig. Der Roman
»Ssanin« ist ein hochbedeutendes Dokument des gegenwärtigen russischen
Lebens, auf das der Betrachter und Forscher immer wieder zurückkommen
wird, schon weil sein Einfluß und seine Wirkung historisch geworden
sind. Er nimmt eine ähnliche Stellung ein, wie sie Turgenjeffs Roman
»Väter und Söhne« für die ältere Generation in Rußland hatte. Ich
gestehe, daß ich viele Momente des gegenwärtigen geistigen Lebens in
Rußland erst nach der Lektüre dieses Buches verstanden habe. Der Autor
zeigt, wie die Kontre-Revolution auf die sogenannten Intellektuellen
gewirkt hat; er zeigt, wie die westeuropäische Naturwissenschaft
(Darwin, Haeckel) und die Ideen Nietzsches auf die Jugend wirken. Der
Einfluß, den der Roman in Rußland hatte und auch in der Presse vielfach
erörtert wurde, ist bezeichnend für die Krise, die die russische
Gesellschaft gegenwärtig durchmacht. Die Wirkung, die das Buch in
Rußland hatte, ist für Deutschland und Westeuropa ausgeschlossen.

Ueber den dichterischen Wert des »Ssanin« kann man, wie gesagt,
verschiedener Meinung sein; er ist nicht so groß wie der
kulturhistorische. Der Held ist eine konstruierte Gestalt. Er ist mehr
dazu da, die anderen zu treiben, als daß er selbst handelnd eingriffe.
Das ist echt russisch. Das Buch ist ferner, wie die meisten russischen
Romane, nicht besonders gut komponiert, aufgebaut. Doch dies sind
Fragen, die nur insofern zur Erwägung stehen, als sie die Frage nahe
legen, ob der Roman für Massenabsatz geeignet ist. Es fehlt aber
durchaus nicht an sehr schönen dichterischen Stellen in dem Buch.
Keinesfalls aber hat der Autor Zwecke verfolgt, die im Sinne unseres
Strafgesetzbuches verfolgbar wären. Die Stellen, die durch die
Darstellung geschlechtlicher Vorgänge auf das Scham- und
Sittlichkeitsgefühl des Normallesers verletzend wirken sollen, sind im
Verhältnis zu dem dickleibigen Roman gar nicht zahlreich. Einen
sogenannten _Normalleser_, der von dem Staatsanwalt namhaft gemacht
wird, kenne ich allerdings nicht. Es kann, wie jeder ohne weiteres
zugeben wird, sehr wohl sein, daß sich einzelne Leute, die gewissen
Kulturschichten angehören, durch die inkriminierten Stellen verletzt
fühlen; aber es gibt hundert Meisterwerke der Weltliteratur, von denen
man dasselbe sagen kann: Goethe, Shakespeare, um nur die Größten zu
nennen, bieten Gelegenheit zu derartigen Schnüffeleien. Der Autor ist
ferner durch die Schilderung erotischer Vorgänge in keiner Weise aus dem
künstlerischen Ton des Buches herausgefallen, es ist einheitlich. Er
unterstreicht nichts, um der Sensation willen. Er gibt nur das Nötigste.
Er treibt Psychologie als Russe, und wir wissen, in welcher Weise die
großen russischen Romandichter die analytische, oder sagen wir,
zerfasernde Methode lieben. Als Künstler konnte er die psychologische
Zergliederung der erotischen Momente gar nicht außer acht lassen, und er
hat es ohne jede Nebenabsichten getan.

Ich wiederhole noch einmal, daß sich das Buch an Intellektuelle wendet.
Nur für solche kann der Roman Interesse haben; denn stofflich ist er
nicht allzu reizend für europäische Leser, und schon dadurch, daß er
sich an das gebildete Publikum wendet, ist die Gefahr, daß er
demoralisierend wirken könne, ganz ausgeschlossen. Wohin kommen wir,
wenn schon solche Dokumente der Zeit nach Einzelheiten beurteilt werden,
die eine reine Geschmacksfrage, aber keine Moralfrage sind!

Ich kann also nur betonen, daß ich das Vorgehen des Staatsanwalts gegen
den »Ssanin« für einen sehr bedauerlichen Mißgriff halte. Es gibt in der
gegenwärtigen deutschen Romanliteratur viele Bücher, die viel
aufstachelnder wirken, obwohl kein Wort in ihnen steht, das eine äußere
Handhabe zum Einschreiten böte. Auch hier heißt es: _C'est le ton, qui
fait la musique._

Meinem Gutachten möchte ich zum Schlusse nur beifügen, daß es mir nicht
möglich sein wird, der Verhandlung selbst anzuwohnen, da ich auf der
Pariser Nationalbibliothek für einige Zeit beschäftigt sein werde.
Meinem Gutachten könnte ich übrigens auch mündlich im wesentlichen
nichts neues hinzufügen.

München, den 8. Januar 1909.

                                                 gez. Wilhelm Weigand.




                                Vorwort


Der Ssanin wurde zuerst fortsetzungsweise in der Zeitschrift Sowriemenni
Mir veröffentlicht. Bei der Bedeutung, die die großen literarischen
Revuen für das geistige Leben Rußlands besitzen, ist es kein Wunder, daß
man sofort ganz allgemein zu ihm Stellung nahm. Als der Roman dann in
Buchform erschien, war die erste Auflage in wenigen Wochen vergriffen.
Die zweite folgte nach kurzer Zeit; das offizielle Verlagsregister gibt
ihren Umfang auf 10000 Exemplare an. Wenige Wochen später wird sie auf
Anordnung der Zentral-Zensurbehörde konfisziert. Das ist für die
Wichtigkeit, die man dem Roman in den Kreisen der russischen Regierung
beimaß, erwähnenswert; für gewöhnlich gehen die zensorischen Maßnahmen
von den Gouvernementsbehörden aus.

Aber das Verbot des Ssanin war ein Schlag ins Wasser; bei der
Konfiskation in den Buchhandlungen fand sich fast kein Exemplar mehr
vor. Auf diese zweite Auflage war sehnsüchtig gewartet worden; man hatte
schon in der Zwischenzeit für gelesene Exemplare 30 und 40 Rubel
bezahlt; das Publikum verschlang auch diese Auflage in wenigen Tagen.
Einer dritten, die vor kurzem in Deutschland erschien, wird es wohl
ähnlich ergehen; in keinem anderen Lande wie in Rußland sind Verbote nur
dazu da, um erlassen zu werden. Umgangen werden sie doch und von den
revolutionären Jahren her ist der Schriftenschmuggel eine liebgewordene
Tätigkeit.

Artzibaschew gehört seit seinem Ssanin zu den Personen, deren Name
unumgänglich mit der Geschichte ihrer Zeit verknüpft ist. Durch seine
sozialen Wirkungen allein ist der Ssanin aus der Reihe der Werke, die
nur literarisch zu werten sind, ausgeschieden. Selbst wenn er nicht
durch seine künstlerischen Qualitäten zu einer der wichtigsten
Erscheinungen in der modernen Literatur Rußlands geworden wäre, hätten
ihm doch kulturhistorische Gründe bleibende Bedeutung gegeben. Man wird
die gegenwärtige Epoche, also die, welche die revolutionäre ablöste,
psychologisch und soziologisch nicht beurteilen können, ohne den Ssanin
als ihren charakteristischsten Niederschlag in den Mittelpunkt der
Betrachtung zu ziehen.

Es ist hier nicht der Platz, die Ereignisse in Rußland, welche sich um
diesen Roman kristallisiert haben, im einzelnen zu schildern. Der wilde
sexuelle Rausch, der auf den Ssanin zurückgeht, hat auch schon genug von
sich hören lassen. Die Organisationen der Ssaninisti, die
Propaganda-Vereine der freien Liebe, die Verbindungen zum ungehinderten
Geschlechtsgenuß unter Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, die
orgiastischen Klubs, die fälschlicherweise behaupteten, die
Weltanschauung des Ssanin zu vertreten und es jedenfalls mit Verve
taten, haben nur das Recht der Geschmacklosigkeit für sich; es lohnt
sich nicht, ihrer Existenz durch Erörterungen selbst absprechender Art
neues Leben zuzuführen.

Interessanter ist die Feststellung, wie es überhaupt dazu kam, daß ein
ganzes Volk für seine Gesamtäußerungen mit einem Mal nur noch erotische
Beziehungen finden konnte. Und daß ein einziges Werk -- eben der Roman
Ssanin -- genügt, um sie hervorzurufen und sie mit seinem Namen zu
decken. -- -- --

Die einzige Antwort ist: Ein russisches Volk existiert gar nicht.

Da leben hundert Millionen von Mushiks, die ihr Stückchen Feld
bestellen, sich bei Mißernten zu Tode hungern, abwechselnd auch an
Epidemien zugrunde gehen, zwischendurch mit Vergnügen den Kulak -- ihren
Dorfwucherer -- totschlagen würden und außerdem darauf warten, daß
einmal die große Landaufteilung kommt. Und sie wird kommen, der
russische Mushik wird zum freien Bauern werden und aus den breiten
unberührten Kräften, deren Naivität und Intensität schon heute jeden
entzückt, der sie zum Vorschein kommen sieht, -- Tolstoi kennt sie,
Gorki nicht -- wird das große, russische Volk erstehen.

Gegenwärtig existiert kein russisches Volk. Wohl aber eine russische
Gesellschaft, die den Charakter des nationalen Lebens ausprägt.

Einst beschränkte sie sich auf den Adel -- die Zeiten sind längst
vorbei. Heute umfaßt sie die Schichten der akademisch gebildeten Berufe.
Die Repräsentantin des modernen Rußlands ist die studierende Jugend, und
was ihr entstammt -- _die Intelligenz_! Dieses Wort wurde in Rußland
nicht umsonst zu einem soziologischen Begriff; es bezeichnet die Klasse,
an die die aktive Entwicklung des Volkes gebunden ist und in der sie
sich in politisch-soziale Formen umsetzt.

Die russische Intelligenz war Jahrzehnte lang revolutionär; so stand
ganz Rußland im Banne der Revolution. In dieser Epoche strömten
Weltanschauung, Moral, soziale Energien in dem einen großen Becken
zusammen -- -- -- Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse. Für das
Geschlechtsproblem war damals kein Platz. Die freie Liebe existierte
höchstens als ein Punkt des sozialistischen Programms. Aber auch ein
Punkt, von dem man nicht viel sprach, da man kein Interesse an ihm nahm.
Wer in jener Zeit und in jenen Kreisen wirklich ungetraut mit seiner
Frau zusammenlebte, stand auf der höchsten Spitze der Entwicklung; auf
den Gedanken, in der Liebe tatsächliche Freiheit zu suchen, kam man
nicht. Man hatte ja auch gar keine Zeit, _die Liebe_ zu suchen, -- --
man suchte die Revolution. Sie beanspruchte alle Kräfte; sie verlangte
viel. Sie war die stille Frau, der alle Empfindungen zugehörten, ohne
Sentimentalität aber voll Innigkeit. Die freie Liebe der
Revolutions-Epoche war eine gesetzlich nicht geschützte Einehe, die
monogamer gehalten wurde, als manche hochzeitliche Verbindung, vor und
hinter welcher der Pope stand. Und die revolutionäre Bewegung, die
damals die gesamte Intelligenz umfaßte, hätte über jeden ihr wütendes
Anathema ausgesprochen, der es wagen wollte, gegen ihre so ganz
gewöhnliche, so ganz gut bürgerliche, so mehr als bürgerliche Moral zu
verstoßen.

Die Revolution ging in Stücke, die revolutionären Parteien zerfielen,
lösten sich auf; die Intelligenz zog sich von einer Betätigung zurück,
in der es nur, wenn man Glück hatte, ein vergnügtes Ende am Galgen,
sonst ein langwieriges und -weiliges Hinvegetieren in Gefängnissen und
der Zwangsarbeit gab. Doch die aufgepeitschten Erregungen des nationalen
Temperaments ließen sich nicht einfach in die Ecke stellen. An ein
stillverlaufendes, gemäßigtes Leben war man nicht gewöhnt; man konnte es
auch nicht werden, da die Maßnahmen der Regierung auf keinem sonstigen
Gebiet freie Bahn ließen.

Man suchte nach dem »Neuen«.

Die Organisationen der Anarchisten haben den Vorzug, noch ehe man an
Artzibaschew und seinen Ssanin dachte, den Weg dahin gewiesen zu haben.
Nachdem der offene revolutionäre Kampf unmöglich geworden war, führten
sie die terroristischen Aktionen in das Alltagsleben ein. Man warf
Bomben zum Morgenimbiß und machte Expropriationen zum Nachmittagstee --
am Abend hing man am Galgen, -- eine Tageseinteilung, die auf die Dauer
auch den kaltblütigsten Menschen in besondere seelische Schwingungen
versetzen kann.

Derartige Vibrationen lösen sich am leichtesten in geschlechtlichen
Reizen aus; die terroristischen Gruppen der Anarchisten waren die
ersten, in denen die praktische Ausübung der freien Liebe zur Notdurft
wurde. Die Nachrichten hierüber verbreiteten sich bald in den Kreisen
der russischen Gesellschaft, in der Intelligenz; man sah, daß es Gebiete
des täglichen Lebens gab, die, trotzdem sie polizeilich nicht strafbar,
doch ganz annehmlich waren. Aber niemals hätte man diesem Beispiel zu
folgen gewagt, wenn nicht in diesem Zeitpunkt das erlösende »Wort« für
die unbewußten Empfindungen gesprochen worden wäre.

Im Anfang steht das Wort; -- wenigstens in Rußland noch immer.

Man tut nichts, was einem nicht schwarz auf weiß ins Haus getragen wird.

Und dieses Wort spricht Ssanin aus, um dieses Wortes willen ist
Artzibaschew der charakteristische Vertreter des heutigen Rußland.

Ssanin sieht, daß die revolutionäre Politik keinen persönlichen Nutzen
bringt, wie sie auch -- gegenwärtig -- nicht einmal einen sozialen Zweck
nachweisen kann. Daß für ihn weiter der persönliche Nutzen im sexuellen
Genuß zu liegen scheint, kommt dabei erst in zweiter Linie in Betracht;
-- das erste und wichtigste ist wohl, daß in diesem Rußland, wo man
bisher nur die eine Wertbemessung kannte -- wem anderem gereichen unsere
Handlungen zum Guten -- endlich einer hinausschreit: Ich lebe für mich.
Ich pfeife auf unsere Konstitutionen der Welt, die uns nichts angehen.

Für jeden gesunden Menschen ist in einem Lande, wo die geistige
Bewegungsfreiheit vollständig eingeengt ist, die sexuelle
Schmackhaftigkeit die zureichendste. Hierin nun kommt Ssanin den oben
erwähnten sozialen Unterströmungen entgegen und weist ihnen den offenen
Weg.

So wurde der Roman Ssanin zum Programm der Gesellschaft. Und als
Programm hatte er die ungeheuren Wirkungen, wie vor ihm nur drei Werke:
Jewgenii Oniegin, Väter und Söhne, die Kreuzersonate. Die seinen sind
noch umfassender und eindringlicher, weil er sich in seinen
Gesichtspunkten an weitere Kreise wendet; er hat die Jugend hinter sich.

Ssanin ist sicher für sein Land zu einem der revolutionärsten Werke der
Weltliteratur geworden. Wohl noch niemals wurden durch ein Buch in so
kurzer Zeit die gesamten Anschauungen einer Gesellschaft von Grund aus
verändert zum Ausdruck gebracht. Und doch ist der Ssanin gleichzeitig
das Buch der Contre-Revolution. Nichts hat in Rußland die
sozialrevolutionäre Bewegung, nachdem sie zum Stillstand gekommen war,
so endgültig der Zersetzung zugeführt, wie Ssanin mit seiner erotischen
Suggestion.

Die Freudenfeste, die man in seinem Namen beging, waren die
Leichenfeiern der Revolution, und die russische Regierung hätte wohl im
Grunde wenig dagegen einzuwenden gehabt, daß die Jubelhymnen der
Ssaninisten das letzte Röcheln einer verendenden Empörung übertönten.
Doch die Ssaninisten, anscheinend froh, endlich die leidige
»Konspirativität«, die traditionelle Geheimniskrämerei, beiseite werfen
zu können, hatten damit auch den behutsamen Stolz der vorangegangenen
Revolution verloren; sie wälzten sich zu laut, zu lärmend in ihrer
Erotomanie. So mußte die Regierung, wohl mehr der Not gehorchend, als
dem eigenen Triebe, zur Konfiskation des Buches schreiten, das ihr wie
kein anderes Ereignis die Wege geebnet hat.

Immerhin; -- die einfachste Wahrheit der Tatsachen hat Artzibaschew für
sich. Sein Roman packte so unwiderstehlich, weil sich jeder in ihm leben
fühlte. Wer nicht Ssanin ist, ist Jurii oder zum wenigsten Schawrow oder
Iwanow. Die Personen sind über den Rahmen der Einzelschicksale
hinausgewachsen, sie sind zu Typen ihrer Zeit geworden. Auf ihren
Charakteren baut sich nun einmal das gesellschaftliche Leben auf;
dadurch werden sie zur Grundlage jeder kulturellen Betrachtung des
heutigen Rußland.

Artzibaschew war bisher in Deutschland unbekannt; der Ssanin ist das
Werk, welches ihn bei uns einführt! In Rußland gilt er seit langem als
einer der prägnantesten Vertreter der »Jungen«, die die psychologische
Darstellungsweise mit der Leichtigkeit realistischer Schilderung,
hauptsächlich bei Behandlung erotischer Probleme, verbinden. Daß er aber
nicht an ein enges Stoffgebiet gebunden ist, hat er in seinen Novellen
bewiesen, die mit seinen beiden besten Erzählungen »Millionen« und »Der
Tod des Iwan Lande« in deutscher Uebersetzung erschienen sind.

                                                      _André Villard._




                                   I


Die wichtigste Zeit im Leben, in der sich unter dem Einflusse der ersten
Zusammenstöße mit Menschen und Natur der Charakter bildet, verlebte
Wladimir Ssanin fern von seiner Familie. Niemand beaufsichtigte ihn,
niemandes Hand leitete ihn, und die Seele dieses Menschen wuchs frei und
eigenartig heran, wie der Baum im Felde.

Viele Jahre hindurch war er nicht in der kleinen Stadt gewesen und als
er endlich zurückkehrte, erkannten ihn die Mutter und seine Schwester
Lyda kaum wieder: In den Gesichtszügen, in Stimme und Manieren hatte er
sich nur wenig verändert, aber doch zeigte sich an ihm etwas Anderes,
Unbekanntes, das im Innern herangereift war und das Gesicht mit einem
neuen Ausdruck durchleuchtete.

Es war gegen Abend, als er ankam, und er trat so ruhig in das Zimmer
ein, als ob er es erst fünf Minuten vorher verlassen hätte. In seiner
hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt mit den hellen Haaren, in
seinen ruhigen und fast garnicht, höchstens in den Mundwinkeln,
spöttischen Mienen, lag weder Aufregung noch Ermüdung; die lärmende
Freude, mit der ihn die Mutter und Lyda empfingen, schwand wie von
selbst.

Solange er aß und trank, saß ihm seine Schwester gegenüber und schaute
ihn gerade an, ohne die Blicke abwenden zu können. Sie war in ihren
Bruder so verliebt, wie nur exaltierte, junge Mädchen ihre abwesenden
Brüder zu lieben vermögen.

Lyda stellte sich den Bruder als einen ganz besondern Mann vor, dessen
Eigenart sie sich selbst aus den Büchern zusammengeträumt hatte. In
seinem Leben wollte sie einen tragischen Konflikt sehen: Kampf, --
Leiden, -- Einsamkeit einer gewaltigen Individualität. -- -- -- --

»Warum schaust du mich so grade an?« fragte sie Ssanin lächelnd. Dieses
interessierte Lächeln bei dem in sich vertieften Blick der Augen war der
ständige Ausdruck seines Gesichts.

Und seltsam, -- dieses Lächeln, an sich hübsch und sympathisch, mißfiel
Lyda von Anfang an. Es kam ihr selbstgefällig vor, und es schien ihr so
garnichts von Kampf und Leiden und Einsamkeit zu erzählen.

Lyda schwieg und wurde nachdenklich, und, die Augen abwendend, blätterte
sie mechanisch in einem Buche.

Als das Mittagessen beendet war, streichelte die Mutter ihrem Sohne zart
und sanft Haar und Stirne und fragte:

»Nun erzähle uns aber auch! Wie hast du dort gelebt, was hast du alles
getan? ...«

»Was ich getan habe? ...« Ssanin wiederholte es lächelnd. »Na, was
schon? ... Aß, trank, schlief, arbeitete auch mitunter, manchmal tat ich
auch garnichts, ... so ...«

Anfangs schien es ihm peinlich zu sein, von sich selbst zu sprechen,
aber, als die Mutter sich sorgsam nach allem zu erkundigen begann, da
kam er ins Erzählen und es machte den Eindruck, daß er gern erzähle. Und
doch fühlte man heraus, daß es ihm im Grunde ganz gleichgültig war, wie
sich die Andern zu seinen Reden stellten. Trotzdem er zärtlich und
aufmerksam blieb, ließ sich in seinem Benehmen niemals die intime Nähe
eines verwandten Menschen spüren, die von der ganzen Welt absondert, und
man konnte eher glauben, daß all seine Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit
von ihm so einfach und selbstverständlich ausgestrahlt wurde, wie das
Licht einer Kerze. Für alle gleich!

Sie traten auf die Terrasse hinaus, die in den Garten führte, und
setzten sich auf die Stufen nieder. Lyda machte es sich auf einer
tieferen möglichst bequem, und lauschte ganz für sich und schweigend,
dem, was der Bruder ihnen erzählte.

Ein unfaßbarer, kalter Strahl lief durch ihr Herz. Mit dem scharfen
Instinkt des jungen Weibes empfand sie bereits, daß ihr Bruder nichts
von ihren Phantasien in sich trug, und sie wurde dadurch unwillkürlich
eingeschüchtert und befangen, wie einem Fremden gegenüber.

Es war schon Abend, und ein weicher Schatten fiel auf alles. Ssanin
zündete sich eine Zigarette an; das leichte Aroma des Tabaks mischte
sich mit dem duftigen, sommerlichen Hauch des Gartens.

Er begann davon zu reden, wie ihn das Leben hin- und hergeschleudert
hatte, wie er bummelte, manchmal hungern mußte; von seiner Teilnahme am
politischen Kampf und wie er sie wieder beiseite warf, als sie ihn zu
langweilen anfing.

Lyda hörte gespannt zu und saß unbeweglich, schön und etwas eigenartig
da, wie alle jungen Mädchen in der Frühlingsdämmerung. Immer klarer
wurde ihr, daß sein Leben, welches sie sich in so feurigen Zügen
ausgemalt hatte, ganz einfach und gewöhnlich war.

Zwar ... irgend etwas Besonderes klang noch daraus hervor, doch das, was
es sein mochte, konnte Lyda nicht erfassen. Im übrigen aber blieb es
unwichtig und gleichgültig, ja, wie es ihr vorkam, sogar banal. Er
wohnte, wo es grad der Zufall mit sich brachte, tat, was ihm in die
Hände fiel, arbeitete bald, bald bummelte er, alles scheinbar ohne Ziel;
nur trank er mit Vorliebe und kannte gut die Frauen. Hinter diesem Leben
lauerte nicht das schwere und düstere Schicksal, welches die
träumerische Mädchenseele Lydas zu sehen wünschte. In ihm herrschte
keine allumfassende Idee; er haßte niemanden und litt auch um keines
Menschen willen.

Im Gespräch drängten sich Worte in seine Rede, die Lyda aus irgendeinem
Grunde unschön fand.

»Kannst du denn auch nähen? ...« unterbrach sie ihn einmal unwillkürlich
mit verletzendem Erstaunen; das schien ihr häßlich und unmännlich.

»Früher hatte ich gewiß keine Ahnung davon, aber als es sein mußte, gut,
da lernte ich's eben,« antwortete Ssanin mit seinem Lächeln; er empfand,
was in Lyda vorging.

Das Mädchen zuckte, ein wenig unbeholfen, mit den Achseln, schwieg aber;
sie starrte tief in den Garten, mit dem Gefühl, wie wenn man des Morgens
voller Träume an die Sonne erwacht und plötzlich den Himmel grau und
kalt erblickt.

Auch die Mutter ergriff eine drückende, lästige Bangigkeit. Es berührte
sie schmerzlich, daß ihr Sohn nichts dazu tat, um in der Gesellschaft
die Stellung einzunehmen, die sich für ihn gebührt hätte. So begann sie,
darüber zu reden, daß man auf solche Weise nicht weiter fort leben könne
und daß man wenigstens jetzt versuchen müsse, sich anständig
einzurichten. Zuerst sprach sie behutsam, noch in Furcht, den Sohn zu
verletzen; aber sobald sie bemerkte, daß er nur oberflächlich hinhörte,
wurde sie ungeduldig und fing an, mit dem stumpfen Verdruß einer Greisin
auf ihn einzureden, als ob er sie absichtlich gereizt hätte.

Ssanin zeigte keine Verwunderung, wurde auch nicht böse; wie es schien,
hörte er kaum auf sie. Mit zärtlichen Blicken sah er sie vollkommen
gleichgültig an und schwieg. Nur auf ihre Frage:

»Aber wie denkst du denn zu leben?«

gab er gleichmütig zur Antwort:

»So! ... Irgendwie! ...«

Doch seine ruhige, feste Stimme und die hellen, nicht blinzelnden Augen
ließen erkennen, daß diese zwei bedeutungslosen Worte für ihn einen
allumfassenden Sinn voll tiefer Bestimmtheit hatten.

Maria Iwanowna seufzte, hielt einen Augenblick inne und sagte dann
traurig:

»Nun, wie du es für das Beste hältst. Es ist deine Sache. Du bist auch
kein Kind mehr ... Doch ihr solltet etwas in den Garten gehen. Seht nur,
wie schön es jetzt ist.«

»Gehen wir wirklich Lyda! Komm, zeig' mir einmal unsern Garten. Ich habe
schon ganz vergessen, wie es dort aussieht.«

Lyda fuhr augenblicklich aus ihren Träumereien empor, seufzte ebenfalls
und stand auf. Langsam schritten sie miteinander den breiten Mittelweg
entlang in die feuchte, dunkle Tiefe hinein.

Das Haus der Ssanins lag an der Hauptstraße der Stadt. Aber die Stadt
war nur klein und der Garten lief direkt zum Fluß herunter, an dessen
gegenüberliegendes Ufer schon die Felder stießen. Das Haus war ein alter
Herrensitz mit nachdenklichen Säulen, von denen der Bewurf in Stücken
abgebröckelt war, und einer breiten Terrasse, die in den Garten führte.
Und dieser Garten war groß, verwachsen und lauschig; man konnte glauben,
daß sich eine dichte, dunkelgrüne Wolke an die Erde schmiegte.

Des Abends war es im Garten geheimnisvoll schaurig, als ob dort in dem
formlosen Gebüsch, geradso wie in den verstaubten Mansarden des Hauses,
irgend ein altes, abgelegtes und trauriges Gespenst herumschleiche.

In dem oberen Stockwerke lagen weite, dunkle Säle und leere Gastzimmer
und im Garten war nur die eine Allee gangbar geblieben, auch sie war mit
abgebrochenen Zweigen und Blättern bedeckt; hin und wieder stieß der Fuß
an einen zertretenen Frosch.

Das ganze gegenwärtige Leben aber hauste still und bescheiden nur in
einer Ecke. Neben dem Hause schimmerte dort der gelbe Kies hervor,
krause Blumenbeete waren mit bunten Blüten durchsetzt; ein hölzernes
Tischchen, an dem man bei gutem Wetter speiste und den Tee einnahm,
hatte dort seinen Platz. Diese ganze, kleine Ecke war von einfachem,
friedlichem Leben durchwärmt, sodaß sie nicht mit der düsternen
Schönheit des weiten, verwahrlosten Ortes verschmolz, der dem
unvermeidlichen Verfall geweiht schien.

Als das Haus im Grünen verschwunden war und um Ssanin und Lyda nur noch
die verträumten Bäume gleich lebendigen Wesen standen, legte er seinen
Arm um ihre Taille und sagte mit einer eigentümlichen Stimme, die
zärtlich und doch bedrückend klang:

»Nein, bist du aber zu einer Schönheit herangewachsen. Muß der Mann
glücklich sein, dem du dich als Erstem hingeben wirst ...«

Ein heißer Strom zuckte aus seinem kräftigen, wie aus Eisen
geschmiedeten Arm durch den schmiegsamen und zarten Körper Lydas.

Sie wurde verwirrt, erzitterte, und schwankte fast von ihm zurück, als
fühlte sie das Herannahen eines unsichtbaren Tieres.

Sie waren schon an den Fluß herangekommen, wo man den feuchten Dunst des
Wassers roch, das spitze Schilf nachdenklich hin und her trieb und sich
den Blicken die breite Fläche des andern Ufers öffnete, mit dem tiefen,
warmen Himmel und dem ersten Aufblitzen der Sterne.

Ssanin trat einige Schritte zurück und erfaßte irgendwo mit den Händen
einen dicken, trockenen Baumast; er brach ihn geräuschvoll ab und warf
ihn ins Wasser.

Zarte Kreise erwachten und liefen nach allen Seiten auseinander; das
Schilf am Ufer begann eilig zu nicken, als bestände zwischen ihm und
Ssanin eine geheime Verbindung.




                                   II


Es war gegen ein Uhr mittags. Die Sonne strahlte hell, doch rückte schon
vom Garten wieder ein weicher, grünlicher Schatten heran. Licht, Stille
und Wärme bebten gespannt in der Luft.

Maria Iwanowna kochte Eingemachtes und unter der grünen Linde roch es
schmackhaft und eindringlich nach brodelndem Zucker.

Ssanin hatte sich seit dem frühen Morgen an den Blumenbeeten zu schaffen
gemacht; er bemühte sich eifrig, die Blumen, welche ihre Köpfchen unter
der Hitze und dem Staube sinken ließen, wieder aufzurichten.

»Du solltest doch erst das Unkraut ausjäten,« rief ihm Maria Iwanowna
zu, indem sie versuchte, durch den bläulichen, zitternden Dunst des
Herdes zu ihm herüberzublicken. »Sage es doch Gruschka, sie wird es dir
machen.«

Ssanin hob sein schweißbedecktes, heiteres Gesicht empor.

»Wozu,« sagte er und schüttelte mit einer Bewegung das an die Stirn
geklebte Haar zurück, »mag es doch wachsen. Ich liebe überhaupt jedes
Grün.«

»Ein komischer Kauz bist du!« meinte die Mutter gutmütig die Achsel
zuckend; aber doch waren ihr seine Worte nicht angenehm.

»Ihr seid selbst komische Käuze,« rief Ssanin im Tone fester
Ueberzeugung und ging ins Haus, um sich die Hände zu waschen; er kehrte
bald wieder zurück und ließ sich behaglich in dem geflochtenen Korbstuhl
am Tische nieder.

Ihm war froh zumute, leicht und freudig. Das Grün, die Sonne, die Bläue
des Himmels drängten sich in einem so starken Strahl in seine Seele, daß
sie sich in dem weiten Empfinden vollkommenen Glückes breit öffnete.

Die großen Städte mit ihrem eiligen Lärm und dem hastenden Leben waren
ihm zum Ekel geworden. Rings um ihn war Sonne und Freiheit und die
Zukunft bekümmerte ihn nicht, weil er bereit war, alles vom Leben
hinzunehmen, was es ihm bieten konnte.

Ssanin kniff die Augen zusammen und dehnte mit kräftigem Behagen seine
gesunden Muskeln; dehnte und streckte sie. Es wehte eine stille, weiche
Kühle durch den ganzen Garten; er schien tief und sanft aufzuseufzen.
Die Spatzen zwitscherten von irgendwo, zugleich nah und fern und der
gefleckte Foxterrier Mill lauschte, die rote Zunge heraushängend und das
eine Ohr aufgerichtet, nachlässig aus dem dichten, hohen Grase hervor.
Ueber seinem Kopfe rauschten leise die Blätter und ihre runden Schatten
bewegten sich lautlos auf dem glatten Sande des Weges.

Maria Iwanowna verdroß die Ruhe ihres Sohnes. Sie liebte ihn ebenso wie
ihre anderen Kinder. Doch eben deshalb kochte es in ihr vor Erregung; --
sie wünschte, seine eigensinnige Kälte anzupacken und zu verletzen; sie
wollte ihn zwingen, ihren Worten und ihrer Auffassung vom Leben Wert
beizulegen. Alle Augenblicke ihres langen Daseins durchwühlte sie wie
eine Ameise, die sich im Grase herumgräbt, um den zertretenen Bau ihrer
häuslichen Wohlfahrt wieder aufzurichten.

Dieses langweilige, eintönige Gebäude, einer Kaserne und einem
Krankenhaus ähnlich, bestand aus winzigen Ziegelsteinen, die ihr jedoch,
dem talentlosen Baumeister, als der Schmuck des Lebens erschienen. In
Wirklichkeit beengten sie nur Maria Iwanowna, verdrossen und ängstigten
sie; stets wurde sie von ihnen in eine bekümmerte Trübsal versetzt. Aber
trotzdem glaubte sie, daß kein Mensch ein anderes Leben führen könne.

»Nun, wie also, soll es etwa so weitergehen? ...« Sie tat, als ob sie
angestrengt in die Schüssel mit dem Eingemachten blicke.

»Wie ... so ... weiter?« ... fragte der Sohn und nieste mehrmals.

Maria Iwanowna war überzeugt, daß auch dieses Niesen nur in der Absicht
geschah, sie zu verletzen. Und obgleich sie offensichtlich unrecht
hatte, fühlte sie sich dadurch gekränkt und wurde noch mißmutiger.

»Es haust sich doch ganz gut bei euch,« meinte Ssanin träumerisch.

»Nicht schlecht,« gab Maria Iwanowna reserviert zur Antwort, da sie es
für notwendig hielt, böse zu sein. Aber doch war es ihr angenehm, daß
ihr Sohn Haus und Garten gelobt hatte, mit denen sie wie mit nahen,
lieben Wesen verwachsen war.

Ssanin blickte zu ihr auf und erwiderte nachdenklich:

»Und wenn ihr mich nicht noch mit allerlei Kleinlichkeiten belästigen
wolltet, so wäre es noch besser.« Der harmlose Ton, mit dem er dies
hinredete, widersprach dem verletzenden Inhalt seiner Worte, sodaß die
Mutter nicht wußte, ob sie böse sein oder lachen sollte.

»Wenn ich dich so ansehe, ... du bist auch als Kind immer anders
gewesen, abnorm, aber jetzt, ...«

»Was jetzt? ...« fragte Ssanin so heiter, als erwartete er etwas sehr
Interessantes und Angenehmes zu hören.

»... und jetzt bist du schon ganz vollkommen!« antwortete Maria Iwanowna
und schwenkte den Löffel aus.

»Nun um so besser!« lächelte er und fügte nach kurzem Schweigen hinzu:
»Da kommt auch Nowikow!«

Vom Hause her kam ein hochgewachsener, hübscher und blonder Mann. Sein
rotes Seidenhemd, das sich dicht an den gedunsenen, aber gut gebauten
und kräftigen Körper legte, flammte unter den Sonnentupfen grell und mit
rötlichen Spiegeln auf; seine blauen Augen schauten zärtlich und lässig
gradeaus.

»Und Sie zanken sich noch immer?« ließ er sich schon von weitem mit
einer ebenso zärtlichen und lässigen Stimme vernehmen. »Worüber nur, um
des Himmels willen?«

»Ja, siehst du, Mama findet, daß meinem Gesicht eine griechische Nase
besser gestanden hätte; ich aber meine, wie sie auch ist, dem Himmel sei
Dank!«

Ssanin schielte von der Seite auf seine Nase, lächelte und drückte
Nowikows weiche, breite Hand.

»Nun, was noch gar!« rief Maria Iwanowna verdrossen aus.

Nowikow lachte laut und heiter auf und der abgerundete, weiche
Wiederhall ließ sein Lachen gutmütig und dröhnend aus dem grünen
Dickicht zurückschallen, gleichsam, als ob sich dort jemand stille
seiner Heiterkeit gefreut hätte.

»Ja, das weiß ich selbst; hier sorgt man in einem fort um dein
Schicksal!«

»Was soll ich nur damit anfangen? ...« sagte Ssanin in komischer
Verlegenheit.

»Du hast's ja reichlich verdient.«

»Hoho, wenn ihr euch meiner etwa von beiden Seiten annehmen wollt, so
steht es mir immer noch frei, davonzulaufen.«

»Nein, bleib nur, ich werde selbst lieber fortgehen,« unterbrach ihn
plötzlich Maria Iwanowna mit ganz unerwartetem Aerger. Sie riß mit
einemmal die Schüssel vom Herde herunter und ging ins Haus, ohne einen
von ihnen anzublicken.

Mill sprang aus dem Grase auf, spitzte die Ohren, und sah ihr fragend
nach. Dann rieb er die Nase an der Vorderpfote, blickte wieder
aufmerksam aufs Haus und lief schließlich ärgerlich irgendwo tief in den
Garten hinein.

»Zigaretten! ... Hast du welche? ...« fragte Ssanin äußerst zufrieden,
daß seine Mutter fortgegangen war.

Nowikow nahm, seinen Körper lässig zurückreckend, das Etui heraus: »Du
neckst sie doch rein umsonst. Laß doch das Necken!« sprach er gedehnt
mit zärtlichem Vorwurf in der Stimme. »Sie ist doch eine alte Frau.«

»Womit necke ich sie denn? ...«

»Nun, mit alledem.«

»Ach was, alledem! Sie hackt selbst auf mir herum. Ich verlange nie
etwas von den Leuten, Brüderchen, mögen sie mich auch in Ruhe lassen.«

Beide schwiegen.

»Nun, wie geht's dir, Doktor? ...« Ssanin verfolgte während seiner Frage
angespannt die zierlichen und kapriziösen Gebilde des Tabakrauches, die
sich in der reinen Luft zart um seinen Kopf wanden.

Nowikow, der über etwas anderes nachdachte, antwortete nicht sogleich.

»Schlimm,« sagte er schließlich.

»Weshalb das? ...«

»Na so im allgemeinen! Langweilig! ... Dieses Nest hängt mir längst zum
Halse heraus. Gibt nichts zu tun hier.«

»Du? ... Für dich gibt es hier nichts zu tun? ... Du hast ja selbst dein
Leid geklagt, kämst garnicht zum Aufatmen.«

»Davon spreche ich ja nicht. Man kann doch nicht nur ewig kurieren und
Mixturen verschreiben. Es gibt doch noch was anderes im Leben.«

»Und was stört dich, auch für dieses andere zu leben? ...«

»Nun, das ist schon eine komplizierte Geschichte.«

»Durch was kompliziert? ... Ueberhaupt, sage mal, was fehlt dir denn
eigentlich? ... Du bist ein junger Kerl; hübsch, gesund ...«

»Und das ist, wie sich herausstellt, im Grunde sehr wenig,« erwiderte
Nowikow mit gutmütiger Ironie.

»Wie soll man dir das beibringen. Viel ist das, sehr viel sogar.«

»Und für mich nicht genug ...« Nowikow schmunzelte ein wenig. Und aus
diesem Schmunzeln konnte Ssanin entnehmen, daß ihm das Lob über seine
Gesundheit, Kraft und Schönheit angenehm gewesen war. Er wurde sogar ein
wenig verlegen und errötete wie ein junges Mädchen auf der Brautschau.

»Dir fehlt nur eins,« sagte Ssanin nach einer Weile.

»Und das wäre? ...«

»Der richtige Blick fürs Leben ... Siehst du, du fühlst dich von der
Einförmigkeit deines Lebens bedrückt. Aber wollte dir jemand
vorschlagen, alles beiseite zu werfen und deiner Nase nachzulaufen, so
wärest du einfach platt. Vor Staunen.«

»Wohin? ... Vielleicht als Landstreicher?«

»Meinetwegen auch als Landstreicher! Warum denn nicht? Ich seh dich so
an und denke mir: Das ist nun auch so einer, der bei Gelegenheit fähig
wäre, für irgendeine Konstitution im russischen Reich auf Lebenslang
nach Schlüsselburg zu gehen, alle Rechte, seine Freiheit einzubüßen ...
und man sollte doch meinen: Was kann ihm die Verfassung sein? ... Aber
handelt es sich darum, sein eigenes, überflüssiges Leben umzugestalten
und fortzugeben, um einen Sinn und Interesse darin zu suchen, so steht
auch schon die Frage vor ihm: Wovon werde ich leben? ... Und werde ich
auch ja nicht untergehen, ich der gesunde, kräftige Mann, wenn ich mal
mein Gehalt verliere und damit auch die Sahne zum Morgentee, das seidene
Hemd und den gestärkten Kragen ... Komisch ist das ... bei Gott
komisch!«

»Daran ist garnichts Komisches! Dort handelt es sich um eine Frage der
Weltanschauung und hier ...«

»Was hier? ...«

»Ja, wie soll man das auseinandersetzen,« Nowikow knackte mit den
Fingern.

»Hier siehst du, wie du urteilst! Gleich hast du Unterscheidungen zur
Hand. Ich werde es dir noch nicht glauben, daß dich die Sehnsucht nach
einer Verfassung mehr aufreibt, als Sinn und Interesse an deinem eigenen
Leben.«

»Nun, das ist immer noch eine Frage ... Vielleicht doch mehr.«

Ssanin winkte ihm verdrießlich mit der Hand ab:

»Ach laß doch den Unsinn. Schneidet man dir in den Finger, so wird's dir
sicher weher tun, als tut man's irgendeinem andern Untertanen
Väterchens. Das ist Tatsache!«

»Oder Zynismus,« Nowikow wollte beißend antworten, aber er forderte nur
zum Lachen heraus.

»Mag übrigens sein. Aber das steht fest. Obwohl es nicht nur in Rußland,
auch in vielen andern Ländern der Welt keine Verfassung, ja nicht einmal
eine Andeutung davon gibt, grämst du dich jetzt nur, weil dir dein
eigenes Leben nicht das richtige Vergnügen macht. Aber nicht im
Geringsten einer Konstitution wegen. Und wenn du was anderes behauptest,
so, nun so schwindelst du eben.« Plötzlich unterbrach sich Ssanin selbst
mit frohem Aufleuchten in seinen hellen Augen und richtete sich halb
auf: »Du grämst dich ja auch jetzt garnicht, weil dich vielleicht dein
Leben anekelt, sondern ganz einfach, weil dich Lyda bisher nicht lieben
wollte. Nun, ist es nicht so? ...«

»Jetzt redest du schon ganz und gar dummes Zeug,« rief Nowikow rot
werdend wie sein rotes Hemd und in seine guten, ruhigen Augen stiegen
Tränen der naivsten und aufrichtigsten Verlegenheit.

»Warum denn dummes Zeug, wenn du über Lyda die ganze Welt vergißt. Von
Kopf bis zu den Füßen steht auf dir der eine Wunsch geschrieben, sie
hinzunehmen. Und dann sagst du dummes Zeug.« ...

Nowikow zuckte ganz eigentümlich mit der Achsel und ging hastig die
Allee auf und ab. Selbst wenn nicht grade Lydas Bruder davon gesprochen
hätte, wäre er wohl in Verlegenheit geraten, aber es schien ihm ganz
besonders eigentümlich, diese Worte, deren Sinn er garnicht einmal
richtig verstehen mochte, nun von Ssanin zu hören.

»Weißt du was,« murmelte er endlich vor sich hin, »entweder du willst
eine Pose markieren, oder ...«

»Oder? ...« fragte lächelnd Ssanin.

Nowikow zuckte schweigend mit der Schulter und blickte zur Seite. Die
andere Auffassung sollte Ssanin als einen gemeinen, verdorbenen Menschen
bezeichnen. Das aber konnte er ihm nicht sagen, weil er für ihn stets,
schon auf dem Gymnasium, eine aufrichtige Zuneigung empfunden hatte.
Wirklich gefiel ihm dieser schlechte Mensch, trotzdem er fühlte, daß es
eigentlich nicht der Fall sein durfte; das schlug sich in Nowikow als
schwere und trübe Stimmung nieder. Die Erinnerung an Lyda war ihm
schmerzlich und setzte ihn in Verlegenheit; und doch konnte er, da er
Lyda vergötterte und das große und tiefe Gefühl selbst, welches er für
sie empfand, anbetete, Ssanin wegen der Erinnerung nicht böse sein. Sie
war qualvoll, aber gleichzeitig auch beglückend, als hätte jemand sein
Herz ergriffen und leise gedrückt.

Ssanin schwieg und lächelte; sein Lächeln war aufmerksam und zärtlich.

»Nun, denke dir nur die richtige Bezeichnung aus; ich warte ein
Weilchen, ich habe es nicht eilig.«

Nowikow schritt noch immer die Allee auf und ab und man sah ihm an, daß
er aufrichtig litt.

Mill kam herbeigelaufen, schnüffelte besorgt umher und begann, sich an
Ssanins Knieen zu reiben. Augenscheinlich war er über etwas froh und
wünschte seine Freude auch den andern mitzuteilen.

»Du bist mir ein schönes Hundevieh,« sagte Ssanin, ihn streichelnd.

Nowikow hielt sich mühsam zurück, mit ihm Streit zu beginnen, fürchtete
aber, daß Ssanin noch einmal das berühren könnte, was ihn auf der ganzen
Welt am tiefsten traf. Und doch schien ihm alles andere, das ihm in den
Kopf stieg, gleichgültig, leer und tot in Vergleich mit jedem Gedanken
an Lyda.

»Und wo ist Lyda Petrowna? ...« fragte er ganz mechanisch, grade das,
was er am liebsten fragen wollte, aber sich eigentlich nicht zu fragen
getraute.

»Lyda? ... Wo soll sie sein? ... Sie wird auf dem Boulevard mit den
Offizieren herumlaufen.«

Nowikow empfand einen schmerzlichen Stich. Eifersüchtig erwiderte er:
»Lyda Petrowna ... sie ist so klug und entwickelt, ... wie kann sie ihre
Zeit mit diesen vernagelten Kerlen verbringen? ...«

»Eh, mein Freund, Lyda ist jung, schön und gesund, ganz wie du auch; --
-- vielleicht noch mehr, weil sie das hat, was dir fehlt, die Gier nach
allem. Sie möchte gerne alles wissen, alles durchempfinden. Ah, da ist
sie ja selbst. Schau sie nur an und begreife doch, was für eine
Schönheit sie ist.«

Lyda war im Wuchse kleiner, aber bedeutend schöner als ihr Bruder. In
ihr überraschte die feine und zauberhafte Verknüpfung reizender
Zärtlichkeit und gewandter Kraft; der leidenschaftliche, stolze Ausdruck
ihrer dunklen Augen und ihre weiche und klangvolle Stimme, auf die sie
stolz war. Langsam und sich beim Gehen ein wenig mit dem ganzen Körper
wiegend, wie eine junge, prachtvolle Stute, stieg sie die Steinstufen,
ihr langes, graues Kleid geschickt und sicher raffend, herab. Hinter ihr
gingen zwei junge, hübsche Offiziere in glänzenden, hohen Reitstiefeln
und enganliegenden Hosen; sie verwickelten sich in die Sporen, deren
Klirren den Eindruck hervorrief, als ob es von ihnen selbst übertrieben
würde.

»Wer ist das? ... Eine Schönheit?« ... fragte Lyda, indem sie den ganzen
Garten mit ihrer weiblichen Frische und ihrer klangvollen Stimme
erfüllte.

Sie reichte Nowikow die Hand und schielte argwöhnisch auf den Bruder, an
den sie sich immer noch nicht gewöhnen konnte; sie begriff nicht, wann
er lachte und wann er im Ernst sprach. Als ihr Nowikow die Hand drückte,
bemerkte sie nicht, wie scheu und ehrfurchtsvoll seine Blicke auf ihr
ruhten; sie erregten sie nicht mehr wie früher.

»Guten Abend, Wladimir Petrowitsch,« grüßte, die Sporen
aneinanderklirrend und den ganzen Körper reckend, der Offizier, der von
größerem Wuchs und der Schönere war.

Ssanin wußte schon, daß er Sarudin hieß, Rittmeister war und sich
beharrlich und eindringlich um Lyda bemühte. Der andere Offizier war ein
Leutnant Tanarow, der Sarudin für das Muster eines Offiziers hielt und
nur den einen Wunsch hatte, ihm in allen Dingen gleichen zu können. Er
war aber schweigsam und wenig gewandt, auch war sein Gesicht weniger
hübsch als das Sarudins. Er klirrte ebenso mit den Sporen, sagte aber
nichts.

»Du!« antwortete Ssanin plötzlich auf die Frage seiner Schwester, doch
in einem Tone, der viel zu ernst klang.

»Natürlich eine Schönheit und vergiß nur nicht, gleich hinzuzufügen,
eine unbeschreibliche.« Lyda lachte hell auf und warf sich mit dem
ganzen Körper in den Korbsessel, während sie gleichzeitig mit einem
Blick das Gesicht ihres Bruders streifte. Langsam hob sie beide Hände
zum Kopf, wodurch sich ihre hohe, elastische Brust erhaben ausprägte und
begann die Nadeln aus dem Hut zu ziehen. Dabei ließ sie eine dieser
Nadeln, lang wie Stacheln, in den Sand niederfallen und verwickelte
ihren Schleier in das Haar und in die andere Nadel.

»Aber Iwan Pawlowitsch, so kommen Sie mir doch zu Hilfe,« wandte sie
sich kokett bittend an den schweigsamen Leutnant.

»Ja, wirklich, eine Schönheit,« wiederholte Ssanin nachdenklich, ohne
seine Augen von ihr zu lassen.

Lyda schielte wieder mit einem mißtrauischen Blick zu ihm herüber.

»Wir sind hier alle nur Schönheiten!«

»Was sind wir? ...« lachte Sarudin. »Nur eine armselige Staffage, auf
deren Hintergrund sich Ihre Schönheit noch heller und prunkvoller
abhebt.«

»Wie elegant Sie sich ausdrücken,« sagte Wladimir Petrowitsch und durch
seine Worte klang eine leichte Nuance von Spott hindurch.

»Lyda Petrowna wird jeden dazu bringen, sich so auszudrücken,« bemerkte
tiefsinnig der schweigsame Tanarow, der mit vielem Eifer versuchte,
Lydas Hut zu lösen, sie aber so am Haare zerrte, daß sie zugleich
ärgerlich wurde und lachte.

»_Sie_ hat sie also auch schon dazu gebracht,« meinte gedehnt und
verwundert Wladimir Petrowitsch.

»Laß sie doch,« raunte ihm Nowikow unaufrichtig und doch mit einem
Gefühl des Vergnügens zu.

Lyda sah mit zusammengekniffenen Augen grade in die ihres Bruders und an
ihren verdunkelten Pupillen konnte Ssanin deutlich lesen: ... Denke
nicht, ich wüßte nicht gut, was das alles bedeutet. Aber es macht mir
Spaß. Ich bin nicht dümmer als du und weiß genau, was ich tue.

Ssanin lächelte ihr zu; der Hut war endlich abgenommen und Tanarow trug
ihn feierlich auf den Tisch.

»Ach was sind Sie für ein Mensch, Iwan Pawlowitsch,« rief Lyda, im
Augenblick ihren Blick verändernd, wieder liebenswürdig und kokett. »Sie
haben mir die ganze Frisur verdorben. Jetzt muß ich erst ins Haus
gehen.«

»Oh, das werde ich mir niemals verzeihen,« murmelte Tanarow verlegen.

Lyda erhob sich schnell, raffte das Kleid zusammen und während sie die
erregenden Blicke der Männer auf sich gerichtet fühlte, lachte sie
grundlos auf und lief die Steinstufen hinauf.

Als sie verschwunden war, fühlten sich alle unwillkürlich freier,
erschlafften und ließen den Körper zusammenfallen; sie verloren jene
nervöse Spannung der Bewegung, welche die Männer in Anwesenheit eines
jungen und schönen Mädchens empfinden.

Sarudin nahm eine Zigarette aus seinem Etui und begann, schon während er
sie ansteckte, behaglich zu sprechen. Aber man hörte heraus, daß er nur
aus Gewohnheit das Gespräch fortführte, und daß er dabei an etwas ganz
anderes dachte:

»Heute riet ich Lyda Petrowna alles im Stich zu lassen und ganz
ernsthaft mit Gesangsunterricht zu beginnen. Mit ihrer Stimme hat sie
sicher eine Karriere vor sich.«

»Nicht zu leugnen, eine nette Aussicht!« erwiderte ihm düster und zur
Seite schauend Nowikow.

»Und weshalb das? ...« fragte Ssanin voll Erstaunen; er ließ sogar die
Zigarette sinken.

»Was ist denn eine Schauspielerin? ... Auch nichts anderes als eine
Dirne.« Nowikow geriet plötzlich in Erregung. Doch jedes Wort, das er
sprach, quälte und erregte ihn selbst am meisten. Er litt unter dem
Gedanken, daß die Frau, die er liebte, ihren Körper den Blicken anderer
Männer preisgeben sollte. Und dazu in herausfordernden Kostümen, die
diesen Körper bloßstellten und ihn noch verlockender machten.

»Das ist wohl etwas zuviel gesagt,« meinte Sarudin die Augenbrauen
hebend.

Nowikow sah ihn voll Haß an. In seiner Vorstellung gehörte grade Sarudin
zu jenen Männern, die das Mädchen, das er liebte, mit begehrlichen
Blicken betrachteten, und es war ihm schmerzlich, daß jener schön war.

»Nicht im mindesten zuviel. Halb nackt auf die Bühne zu treten. Sich hin
und her zu recken. Unter den Augen von Leuten wollüstige Szenen
darzustellen, von Leuten, die später so fortgehen, wie man von einer
Dirne geht, nachdem man ihr das Geld hingeworfen hat. Nicht zu leugnen,
sehr hübsch.«

»Mein Freund,« bemerkte Wladimir Petrowitsch lächelnd, »einer jeden Frau
ist es vor allem angenehm, wenn man ihren Körper bewundert.« -- --

Nowikow zuckte verdrießlich die Achseln.

»Weißt du, du sprichst sehr abgeschmackte Dinge.«

»Weiß der Teufel, ob es abgeschmackt ist oder nicht. Wahr ist es!«

»Lyda würde sich aber auf dem Theater ganz effektvoll machen. Ich hätte
selbst Lust, das mit anzusehen.«

Obgleich sich durch diese Worte Ssanins bei allen eine instinktive,
gierige Lüsternheit regte, wurde ihnen doch peinlich zumute. Sarudin,
der sich für intelligenter und abgeschliffener als die anderen hielt,
glaubte verpflichtet zu sein, sie aus dieser unangenehmen Situation
herauszureißen.

»Und was muß nach Ihrer Meinung eine Frau tun? ... Heiraten? ... Auf die
Universitäten laufen? ... Und dafür ihr Talent vernachlässigen? ... Das
wäre gradezu ein Verbrechen an der Natur, die sie mit ihren besten Gaben
ausgestattet hat.«

»Nun, nun,« sagte Ssanin mit unverhohlenem Spott. »Aber in der Tat, mir
selbst ist niemals der Gedanke an dieses Verbrechen auch nur in den Kopf
gekommen.«

Nowikow lachte schadenfroh auf, erwiderte aber Sarudin aus Höflichkeit:
»Weshalb denn ein Verbrechen? ... Eine gute Mutter oder eine gute
Aerztin ist doch tausendmal mehr wert als jede Schauspielerin.«

»Nanu,« rief Tanarow entrüstet.

»Wird es euch wirklich nicht langweilig, Herrschaften, all dieses dumme
Zeug zusammenzuschwatzen? ...«

Sarudin blieb die Erwiderung in der Kehle stecken und auch den anderen
schien es mit einemmal, als ob es langweilig und nutzlos wäre, noch
weiter zu sprechen. Nichtsdestoweniger fühlten sich alle durch Ssanins
Einwurf beleidigt. Es wurde still und sehr langweilig.

Maria Iwanowna und Lyda waren bei dem letzten Satze Wladimir
Petrowitschs auf die Terrasse hinausgetreten und hatten ihn gehört; sie
verstanden aber nicht, um was es sich eigentlich handelte.

»Ihr seid ja mit eurer Unterhaltung ziemlich schnell bei der Langeweile
angekommen. Gehen wir zum Fluß hinunter; da ist's jetzt am hübschesten.«

Als Lyda an den Männern vorüberschritt, zog sie den ganzen Körper ein
wenig an, und ihre Augen schimmerten so rätselhaft, als verspräche sie
etwas, doch ohne zu sagen, was ...

»So ist's recht! Geht nur bis zum Abendbrot spazieren,« rief Maria
Iwanowna.

»Sehr schön. Mit Vergnügen!« Sarudin war bereitwilligst dabei und bot
Lyda, wieder mit den Sporen klirrend, seinen Arm.

»Hoffentlich gestatten Sie mir auch, mich Ihnen ...« Nowikow versuchte
seinem Ton einen verletzenden Klang zu geben, doch dadurch erhielt sein
ganzes Gesicht nur einen jämmerlichen Ausdruck.

»Wer hindert Sie denn? ...« fragte Lyda über die Achseln lächelnd.

»Ach, Bruder, geh, geh,« riet ihm Ssanin. »Ich würde selbst mitkommen,
wenn Lyda nicht zu sehr daran dächte, daß ich ihr Bruder bin.«

Lyda erzitterte eigentümlich; ihre Aufmerksamkeit spannte sich. Dann maß
sie den Bruder mit einem raschen Blick und lachte kurz und nervös auf.

Auch Maria Iwanowna hatte diese Aeußerung ihres Sohnes chokiert:

»Wozu redest du solche Dummheiten,« fragte sie grob. »Mußt dich durchaus
originell machen.«

»Fällt mir garnicht ein.«

Maria Iwanowna blickte ihren Sohn mit Erstaunen an. Sie konnte ihn
absolut nicht verstehen; sie begriff ebensowenig wie Lyda, wenn er
scherzte oder Ernst machte; und vor allem nicht, warum er grade
entgegengesetzt dachte und empfand wie sie, während doch alle ihre
Bekannten mit ihr fast gleicher Auffassung waren. Nach ihren Begriffen
mußte der Mensch immer das denken, empfinden und tun, was alle Menschen
dachten, empfanden und taten, die mit ihm in bezug auf Besitz, Bildung
und soziale Lage gleichstanden.

Für sie war es ganz natürlich, daß Menschen nicht einfach nur Menschen
sein sollten, mit all den individuellen Eigenheiten, welche die Natur in
sie hineingelegt hat, sondern Personen, die in eine allen gemeinsame
Form gegossen waren.

Ihre Umgebung befestigte sie in dieser Anschauung: Darauf wurde auch das
Schwergewicht der erzieherischen Tätigkeit gelegt und allein durch sie
wurden die Unterschiede zwischen Gebildeten und Ungebildeten ausgeprägt.
Die letzteren durften ihre Individualität bewahren und wurden dafür von
den andern verachtet; diese Andern aber zerfielen in Gruppen, die allein
der anerzogenen Bildung entsprachen. Ihre Ueberzeugungen hatten sich
nicht nach ihren persönlichen Anlagen, sondern nach ihrer Stellung zu
richten: -- -- -- jeder Student war revolutionär, jeder Staatsbeamte
bourgeois, jeder Schauspieler schlug über die Stränge und jeder Offizier
war mit übertriebenen Ehrbegriffen ausgestattet. Wenn sich plötzlich ein
Student als Konservativer, ein Offizier als Revolutionär herausgestellt
hätte, so wäre das zum mindesten sehr eigenartig, wahrscheinlich aber
äußerst unangenehm gewesen. Ssanin durfte seiner Herkunft und Erziehung
nach garnicht so sein, wie er sich gab, und Maria Iwanowna sah ihn, wie
Lyda, Nowikow und alle, die auf ihn stießen, mit dem ärgerlichen Gefühl
getäuschter Erwartung an. Mit dem Instinkt der Mutter merkte sie sofort
den Eindruck, den ihr Sohn auf die ganze Umgebung machte und dieser
Eindruck war ihr sehr schmerzlich.

Ssanin empfand es. Er hätte die Mutter gerne beruhigt, wußte aber nicht,
wie er es anfangen sollte. Einen Augenblick kam ihm sogar der Gedanke,
sich zu verstellen und der Mutter einige beruhigende Worte zu sagen.
Aber es wollte ihm nichts einfallen; er lachte auf, erhob sich und ging
ins Haus.

Gelangweilt legte er sich aufs Bett und begann darüber nachzudenken, wie
die Menschen die ganze Welt in ein Kloster verwandeln wollen, mit einer
Regel für alle. Und diese Regel ist auf der Vernichtung jeder
Persönlichkeit und ihrer Unterwerfung unter die strikten Anordnungen
einer geheimnisvollen Greisenhaftigkeit aufgebaut. Dann gingen seine
Gedanken auf das Schicksal des Christentums über und die Rolle, die es
in der Geschichte gespielt hat; diese Gedanken langweilten ihn aber so,
daß ihn unmerklich der Schlummer überkam und er bis zum Abend
durchschlief.

Maria Iwanowna hatte noch lange hinter ihm hergeschaut; endlich seufzte
sie auf und wurde nachdenklich. Sie sann darüber nach, daß Sarudin
offenkundig Lyda den Hof machte und sie wünschte im stillen, daß es ihm
ernst wäre.

-- -- -- Lyduschka ist schon zwanzig Jahre alt, zog es ihr leise durch
den Kopf, und Sarudin scheint ein guter Mensch zu sein. Man sagt, daß er
in diesem Jahre eine Schwadron bekommen wird. Nur, -- -- Schulden hat er
bis über den Kopf. Und weshalb habe ich nur diesen abscheulichen Traum
gehabt. -- -- -- Dieser Traum, den Maria Iwanowna an demselben Tage
gesehen hatte, als Sarudin zum erstenmal zu ihnen ins Haus kam, quälte
sie unaufhörlich und Gott weiß warum. Sie hatte geträumt, daß Lyda in
einem weißen Kleide über ein Feld ging, und die Weiße des Kleides schien
ihr ein großes und schweres Unheil vorauszusagen -- -- --

Maria Iwanowna ließ sich jetzt in einen Korbsessel nieder, stützte nach
Art der alten Frauen den Kopf in die Hand und sah lange in den
allmählich dunkler werdenden Himmel. Kleinliche, aber zähe und
verdrossene Gedanken schoben sich durch ihren Kopf. Es war ihr grämlich
und beängstigend zumute.




                                  III


Es war dunkel geworden, als die Spaziergänger endlich zurückkehrten.
Schon aus der Tiefe des Gartens, der in der Dämmerung weich versunken
lag, vernahm man ihre hellen, belebten Stimmen.

Die lustige, erregte Lyda lief Maria Iwanowna in die Arme. Auf ihr lag
noch der frische Duft des Flusses. Und mit ihm hatte sich jener
reizvolle Hauch schöner, junger Mädchen verbunden, welche bis zur
äußersten Spannung von liebenswürdigen, jungen Männern, die sie selbst
in gierige Stimmung versetzt haben, erregt sind.

»Abendbrot machen, Mütterchen, Abendbrot machen,« sie zupfte Maria
Iwanowna zärtlich an den Ohrläppchen. »Und inzwischen wird uns Viktor
Sergejewitsch etwas vorspielen.«

Maria Iwanowna ging, um das Abendbrot anzuordnen und dachte dabei, daß
das Schicksal eines so interessanten und ihr so klaren Wesens wie Lydas
nicht anders als glücklich sein könne.

Sarudin und Tanarow gingen in den Saal ans Klavier und Lyda ließ sich in
dem Schaukelstuhl nieder, der auf dem Balkon stand; geschmeidig streckte
und reckte sie ihre Glieder.

Nowikow schritt schweigend auf den knarrenden Dielen des Balkons auf und
ab und betrachtete von der Seite ihr Gesicht, ihre hohe Brust und die
schlanken Füße, die in schwarzen Strümpfen und gelben Schuhen steckten.
Sie aber bemerkte weder seine Blicke noch ihn selbst, ganz hingerissen
von dem mächtigen und zauberhaften Eindruck der ersten Leidenschaft. Sie
schloß die Augen und lächelte rätselhaft in sich hinein.

In der Seele Nowikows ging der alte Kampf vor sich.

Er liebte Lyda, aber er konnte sich nicht in ihr zurechtfinden. Manchmal
glaubte er, daß auch sie ihn liebe; -- dann wieder kam ihm dieser
Gedanke ganz ungeheuerlich vor. In Augenblicken, in denen er sich ihrer
Liebe sicher fühlte, schien es ihm sehr wahrscheinlich, ja
selbstverständlich, daß ihm einst ihr schlanker Körper in seiner jungen
Reinheit angehören würde. Sobald jedoch in ihm Zweifel aufstiegen, ob
sie ihn jemals lieben könne, empfand er die gleichen Gedanken als
schamlos und gemein, und wenn er sich dann bei sinnlichen Vorstellungen
ertappte, nannte er sich einen niedrigen, schmutzigen Menschen, der
Lydas nicht wert sei.

Während er so über die Dielen schritt, suchte er sich selbst eine
Entscheidung zu setzen: Trete ich mit dem rechten Fuß zuerst auf die
letzte Diele, so bedeutet es Ja und ich muß mich ihr erklären; ... und
wenn mit dem linken, so ...

Er wollte nicht zu Ende denken, was dann geschehen müsse.

Die letzte Diele betrat er mit dem linken Fuß und wurde von kaltem
Schweiß übergossen; er sagte sich aber sofort: Pfui, was für Dummheiten!
Wie ein altes Weib! Nun, eins, zwei, drei ... Und mit dem Worte drei
gehe ich grade darauf los und sage, ... ja, was sage ich ... nun, ganz
gleich. Also ... eins, zwei, drei ...

Der Kopf brannte ihm, im Munde wurde es ihm trocken und das Herz klopfte
ihm so stark, daß seine Beine anfingen zu zittern.

»Vielleicht wird es Ihnen doch noch einmal über, herumzulaufen,« rief
ihm Lyda zu, ihre Augen öffnend. »Sie lassen einen ja garnicht zum
Zuhören kommen ...«

Nowikow bemerkte erst in diesem Augenblick, daß Sarudin sang.

Es war die alte Romanze:

   Ich liebte dich, vielleicht ist dieses Feuer
   In meinem Herzen noch nicht ganz verglüht,
   Doch deine Ruh' ist mir vor allem teuer,
   Durch nichts betrüben will ich dein Gemüt.

Er sang nicht schlecht, aber doch so wie alle musikalisch nicht
gebildeten Menschen, die den Ausdruck durch Geschrei und Sinkenlassen
der Stimme zu ersetzen suchen. Nowikow erschien der Gesang von Sarudin
besonders unangenehm.

»Was ist denn das? Selbstverfaßt? ...« erkundigte er sich, mit dem
ungewohnten Gefühl des Grolls und der Erregung, nach dieser allbekannten
Romanze.

»Nein! Setzen Sie sich doch hin. Stören Sie doch nicht!« befahl ihm
launisch Lyda. »Wenn Sie die Musik nicht lieben, so gucken Sie eben
solange in den Mond.«

Der völlig runde und rötlichschimmernde Mond sah wirklich eindringlich
und geheimnisvoll hinter den schwarzen Baumwipfeln hervor. Sein
leichtes, unfaßbares Licht strich über die Stufen, über Lydas Kleid, und
über ihr Gesicht, das die eigenen Gedanken belächelte. Die Schatten im
Garten verdichteten sich und wurden allmählich immer schwärzer wie im
Walde.

»Dann schon lieber Sie ansehen,« sagte Nowikow ungeschickt. -- -- »Ach,
was für Abgeschmacktheiten ich zustande bringe, wenn ich rede,« dachte
er weiter.

Lyda lachte laut auf: »Ja, welch ein hölzernes Kompliment.«

»Ich verstehe es nicht, Komplimente zu machen,« erwiderte düster
Nowikow.

»Aber so schweigen Sie doch und hören Sie zu.« Lyda zuckte unwillig die
Achseln.

   Ich liebte dich stumm, hoffnungslos und schmerzlich,
   Mit all der Qual, die solche Liebe gibt,
   Ich liebte dich so wahrhaft und so herzlich,
   Gott gäb', daß dich ein andrer je so liebt.

Die Töne hallten vom Piano wie klingende, kristallene Aufschläge in den
Garten hinein. Der Mondenschein wurde immer leuchtender, die Schatten
immer tiefer. Unten im Grase ging Ssanin leise vorüber, setzte sich
unter die Linde, und saß unbeweglich da, bezaubert von der Stille,
welche die Laute des Klaviers und der leidenschaftliche Gesang nicht
verwischen konnten, sondern im Gegenteil noch erhöhten.

Plötzlich fuhr Nowikow in die Höhe, als wäre es ihm mit einemmal
entschieden ins Bewußtsein gekommen, daß er unmöglich noch einen
Augenblick verlieren dürfe: »Lyda Petrowna!«

»Was?« fragte Lyda mechanisch und schaute auf den Garten und den Mond
und über die schaukelnden Zweige, welche sich von seiner runden und
hellen Scheibe abhoben.

»Ich warte schon so lange! ... Ich möchte jetzt sprechen!« fuhr Nowikow
mit abgerissener Stimme fort.

Ssanin wendete den Kopf und horchte auf.

»Worüber? ...« fragte Lyda zerstreut.

Sarudin beendete grade seine Romanze, schwieg eine Weile, und setzte
dann von neuem ein; er glaubte, eine selten schöne Stimme zu haben, und
liebte es, vorzutragen.

Nowikow fühlte, daß er abwechselnd errötete und erblaßte; ein Gefühl der
Uebelkeit stieg in ihm auf und der Kopf schwindelte ihm.

»Ich ... sehen Sie ... Lyda Petrowna ... wenn Sie ... vielleicht geneigt
wären, meine ... Frau ...« seine Zunge schlotterte und er wurde sich
bewußt, daß man in solchen Augenblicken nicht so sprechen dürfe wie er.
Und bevor er noch geendet hatte, erwartete er es schon als etwas ganz
Selbstverständliches, daß sich sogleich ein sehr beschämender Vorgang,
der ebenso töricht wie lächerlich wäre, abspielen müsse.

Mechanisch erkundigte sich Lyda noch einmal: »Wessen? ...« Und plötzlich
wurde sie glühend rot, stand auf, setzte zu einer Antwort an, sagte aber
nichts und wandte sich voller Verlegenheit ab. Jetzt schaute ihr der
Mond grade ins Gesicht.

»Ich liebe Sie!« Nowikow bebte am ganzen Körper; er hatte die
Empfindung, als ob der Mond zu leuchten aufgehört hätte, als ob es im
Garten überaus schwül sei und alles irgendwo in einen hoffnungslosen,
furchtbaren Abgrund stürze. »Ich verstehe nicht zu reden. Aber das ist
ja gleich. Ich habe Sie sehr gern!«

-- -- -- Wozu brauche ich hier das _sehr_, dachte er plötzlich, als
wollte ich über Vanille-Eis sprechen. Er verfiel in Schweigen. Lyda
zupfte nervös an einem Blättchen, das ihr grade in die Hand kam. Es
machte sie verlegen, weil seine Worte für sie gänzlich unerwartet und
unnötig waren. Sie riefen eine traurige Stimmung, die nichts wieder gut
machen konnte, zwischen ihr und Nowikow hervor, an dessen Person sie
seit langem fast wie an einen Verwandten gewöhnt war und den sie auch
ein wenig liebte.

»Ich weiß wirklich nicht! ... Ich habe niemals an so etwas gedacht.«

Nowikow fühlte sein Herz mit einem stumpfen Schmerz irgendwohin
zurückfallen. Er wurde noch blässer, stand auf und griff zur Mütze.

»Auf Wiedersehen!« sagte er, ohne daß seine Stimme ihm selbst in den
Ohren nachgeklungen hätte. Seine Lippen verzerrten sich zu einem
unpassenden, widersinnigen und bebenden Lächeln.

»Wo wollen Sie denn hin? ... Auf Wiedersehen!« Lyda war verwirrt; beim
Händereichen bemühte sie sich, harmlos zu lächeln.

Nowikow drückte rasch ihre Hand und ohne die Mütze aufzusetzen, lief er
mit hastigen Schritten über das betaute Gras, geradeaus durch den
Garten. Als er in die ersten Schatten eintrat, griff er sich erregt in
die Haare: -- -- -- Oh, mein Gott, warum bin ich so unglücklich? ...
Sich eine Kugel durch den Kopf jagen? ... Ach, das sind ja alles nur
Bagatellen. Aber doch, sich eine Kugel durch den Kopf jagen ... so schoß
es wirbelnd und zusammenhangslos durch seine Gedanken und er hielt sich
für den unglücklichsten Menschen, für völlig entehrt und lächerlich.

Zuerst wollte ihn Ssanin anrufen; er bedachte sich aber anders und
lächelte nur. Es kam ihm sehr komisch vor, daß sich Nowikow an den
Haaren riß und beinahe heulte, nur weil es eine Frau, deren Gesicht,
Schultern und Füße ihm gefielen, ablehnte, sich ihm hinzugeben. Dann
aber war es Ssanin auch angenehm, daß seine schöne Schwester Nowikow
nicht liebte.

Lyda stand einige Minuten unbeweglich auf demselben Fleck und Ssanin
folgte mit scharfer Aufmerksamkeit dem hellen Umriß ihrer Gestalt, auf
die grell das Mondlicht fiel. Durch die schon im Mondlicht liegende Tür
trat Sarudin auf die Terrasse heraus; für Ssanin war sein vorsichtiges
Sporengeklirr deutlich hörbar.

Im Saale spielte jetzt Tanarow einen alten Walzer mit zerrinnenden,
duftigen Lauten zaghaft und grämlich.

Sarudin ging leise auf Lyda zu und umschlang ihre Taille mit einer
weichen, geschmeidigen Bewegung; es fiel Ssanin auf, wie plötzlich zwei
Schatten in einen zusammenflossen, der dann im Mondenlicht sonderbar hin
und her schwankte. »Worüber sinnen Sie so verloren nach?« flüsterte
Sarudin leise; seine Lippen ergriffen ihr kleines, zartes Ohr, und seine
Augen blinkten dicht vor den ihren.

Lyda schwamm es süß und ängstlich durch den Kopf. Wie immer, wenn sie
und Sarudin sich umarmten, erfaßte sie ein eigentümliches Gefühl. Sie
war sich klar, daß er seiner geistigen Entwicklung nach unendlich
niedriger stände als sie und daß sie sich ihm niemals unterwerfen würde.
Gleichzeitig aber beherrschte sie ein angenehmer Schauer der
Unsicherheit bei dem Gedanken, diese Berührungen einem starken und
schönen Mann zu gewähren; es war, als blicke sie in einen bodenlosen
Abgrund: -- -- -- Und mit einemmal raffe ich mich auf und stürze mich
hinunter ... will es und stürze mich ...

»Man wird uns sehen ...« flüsterte sie kaum hörbar, ohne sich aber
stärker an ihn zu drücken oder sich weiter von ihm zu entfernen, während
sie ihn grade durch diese hingebende Passivität noch mehr lockte und
erregte.

»Ein Wort!« fuhr Sarudin fort, indem er sich, mit heißem Blut
übergossen, stärker an sie drängte.

Lyda zitterte. Diese Frage stellte er nicht zum ersten Mal an sie und
stets begann in ihr etwas zu sehnen und zu beben, das sie schwach und
willenlos machte.

»Wozu das?« fragte sie ihn dumpf und ihre Augen blickten, von
irgendeinem feuchten Schimmer überzogen, weit geöffnet in den Mond.

Sarudin konnte und wollte ihr nicht die Wahrheit sagen, obgleich er wie
alle Männer, die bei Frauen Glück haben, fest davon überzeugt war, daß
Lyda ihn verstand und im Inneren dieselben Wünsche hatte; sie ängstigte
sich nur.

»Wozu? ... Nun, um Sie endlich einmal frei anschauen zu können. Um mit
Ihnen ein freies Wort zu sprechen. Wie wir jetzt zusammenkommen, das ist
eine Folter. Sie quälen mich. Lyda, Sie kommen, ja? ...« wiederholte er,
seine bebenden Kniee an ihren elastischen und warmen Schenkel drückend.

Diese Berührung seiner Kniee brannte in ihr wie glühendes Eisen; um sie
erhob sich nur noch ein dichter, traumschwüler Nebel. Ihr ganzer,
biegsamer Körper erstarb; er schob und zog sich ohne ihren Willen dem
seinen entgegen. Ihr wurde qualvoll gut und scheu zumute. Ringsumher
hatte sich alles in sonderbarer, unbegreiflicher Weise verändert. Der
Mond war kein Mond mehr, er leuchtete nahe, ganz nahe durch das Gitter
der Terrasse, als hinge er grade über der hellerleuchteten Lichtung. Der
Garten, nicht jener, den sie bisher gekannt hatte, sondern ein anderer,
der viel dunkler und geheimnisvoller war, rückte dicht an sie heran und
drängte sich um sie. Ihr Kopf schwindelte langsam und nachhaltig. Doch,
sich mit eigenartiger Lässigkeit biegend, entwand sie sich seinen Armen
und flüsterte mühsam durch die plötzlich wie ausgetrockneten Lippen:

»Gut!«

Schwankend und schwerfällig ging sie ins Haus; sie verstand daß etwas
Furchtbares, Unabwendbares geschehen war, das sie lockte, lockte, das
sie in den Abgrund zog.

-- -- Es ist ja nur eine Bagatelle, es wird nichts sein, ich mache nur
Spaß; ganz einfach, weil es mir interessant ist, ein Scherz, weiter
nichts; -- -- so bemühte sie sich selbst zu überzeugen, als sie in ihrem
dunklen Zimmer vor dem Spiegel stand und darin nur ihren Schatten sah,
welcher durch den Widerschein der vom Eßzimmer aus beleuchteten Türe
hineingeworfen wurde. Sie hob langsam die Hände über den Kopf, knackte
die Finger zusammen und dehnte sich leidenschaftlich; dabei beobachtete
sie die Bewegungen ihrer schlanken Taille und ihrer breiten, runden
Hüften.

Sarudin durchschauerte es, als er allein geblieben war; er knirschte mit
den Zähnen und zuckte, die Augen schließend, mit den Achseln. Wie
gewöhnlich fühlte er sich glücklich und er empfand, daß ihm ein noch
größeres Glück bevorstände. Lyda erschien ihm in dem Augenblick, in dem
sie sich ihm hingeben würde, so ungewöhnlich, so wollüstig schön, daß
ihm die Erregung physische Schmerzen verursachte.

In der ersten Zeit, als er anfing, ihr den Hof zu machen und auch später
noch, als sie ihm schon erlaubte, sie zu umarmen, konnte er ein Gefühl
der Furcht in sich nicht unterdrücken. In ihren verdunkelten Augen lag
etwas Fremdes, das ihm unbegreiflich war, wie, wenn sie ihn trotz ihrer
Liebkosungen doch im geheimen verachtete. Sie erschien ihm so klug, so
allen jenen Frauen und Mädchen unähnlich, bei denen er stolz seine
Ueberlegenheit empfunden hatte; -- -- ihr klares Selbstbewußtsein zeigte
sie so deutlich, auch während er sie küßte, daß er bei den Umarmungen
zurückhaltend und ängstlich wurde, als erwartete er in jedem Augenblick,
eine Ohrfeige zu bekommen. Der Gedanke, sie ganz zu besitzen, rief in
ihm nur stärkere Furcht hervor. Mitunter kam es ihm geradeso vor, als
spielte sie nur mit ihm und seine Rolle schien ihm dann einfach dumm und
lächerlich.

Nach dem heutigen Versprechen jedoch, welches sie ihm mit einer
eigentümlich ersterbenden, willenlosen Stimme, die er schon von anderen
Frauen her kannte, gegeben hatte, fühlte er, wie seine Kraft unerwartet
zurückkehrte. Er verstand, daß nun alles so kommen mußte, wie er es
wollte.

Und in das beklemmende Gefühl wollüstiger Sehnsucht mischte sich fein
und unbewußt eine Spur von Schadenfreude darüber, daß dieses kluge und
gebildete Mädchen, welches so stolz und rein war, ihm ebenso unterliegen
würde, wie alle die anderen, und daß sie mit sich dasselbe vornehmen
lassen sollte, was er bei den andern zu tun pflegte.

Harte, brutale Szenen stiegen vor ihm empor und schwebten nebelhaft vor
seinen Augen auf und ab; sie waren voll überreizter Wollust und von
ausgesprochener Niedrigkeit. Als Mittelpunkt drängte sich allmählich das
Bild von Lydas nacktem Körper hervor. Sarudin sah ihr aufgelöstes Haar,
ihre klugen Augen; alles das verband sich zu einer wilden Orgie
überhitzter Grausamkeit. Plötzlich erblickte er sie deutlich vor sich
auf dem Boden liegen, hörte das Sausen seiner Reitpeitsche und ein
rosiger Streifen zog über ihren nackten, zarten Körper, der sich in
sklavischer Unterwürfigkeit zuckend dehnte und streckte. Unter einem
plötzlichen Aufschießen des Blutes, das ihm ins Gehirn stieg, schwankte
er zitternd gegen das eiserne Geländer der Terrasse. Goldene Kreise,
Flammen schwirrten ihm vor den Augen. Es war ihm physisch unerträglich,
weiter zu denken. Mit bebenden Fingern zündete er eine Zigarette an,
seine starken Füße hatten alle Kraft verloren; er trat ins Haus.

Wladimir Petrowitsch, der nichts von allem gehört, aber doch genug
gesehen hatte, um Sarudins Lage zu begreifen, ging ihm mit einer
Empfindung der Eifersucht nach. -- -- -- Welch ein Glück doch solche
Bestien haben, dachte er. Weiß der Teufel ... Lyda und dieser ...

Das Abendbrot wurde im Eßzimmer eingenommen. Maria Iwanowna war nicht
gut aufgelegt, Tanarow schwieg gewohnheitsmäßig und träumte davon, wie
angenehm es sein müßte, Sarudin zu ähneln und von einem Mädchen wie Lyda
geliebt zu werden. Es schien ihm, daß er sie nicht so wie Sarudin lieben
würde, der nicht imstande war, ein solches Glück zu schätzen.

Lyda war blaß und schweigsam; sie schaute niemanden an. Listig und
behutsam dagegen benahm sich Sarudin, wie ein Raubtier auf der Fährte,
und Ssanin gähnte wie immer, aß, trank sehr viel Wodka; dem Anschein
nach war er äußerst schläfrig. Das hinderte ihn aber nicht, nach dem
Abendessen zu erklären, er wolle sich noch nicht hinlegen und werde
statt eines Spazierganges Sarudin nach Hause begleiten.

Ssanin und Sarudin gingen bis zur Wohnung des Offiziers in fast völligem
Schweigen; -- -- um sich die tiefe Nacht. Nur in den obersten
Wolkenschichten schwamm, kaum sichtbar, der Mond. Ab und zu blickte
Ssanin auf den Offizier und überlegte, ob es nicht das beste wäre, ihm
eine herunterzuhauen.

»Ja,« sagte er plötzlich, schon dicht vor Sarudins Wohnung, »es gibt
Verschiedenes in der Welt; zum Beispiel so allerlei Lumpen.«

»Wie meinen Sie das? ...« fragte Sarudin, vor Verwunderung die
Augenbrauen hochziehend.

»Ja, so im allgemeinen. Aber grade die Lumpen, das sind die
interessantesten Kerle.«

»Was sagen Sie da? ...«

»Natürlich, es gibt nichts Langweiligeres in der Welt, als ein
rechtschaffener Mensch zu sein. Was ist so einer? Das Programm der
Rechtschaffenheit und Tugend, das ist doch eine allbekannte Geschichte;
was sollte es darin Neues geben? In diesem alten Plunder geht dem
Menschen jede Individualität verloren. Das ganze Leben engt sich in
einen öden, platten Rahmen der Anständigkeit ein. Hehle nicht, lüge
nicht, verrate nicht, brich nicht die Ehe, und dabei ist die Hauptsache,
daß grade alles dies am festesten im Menschen sitzt; jeder Mensch lügt,
verrät, und betreibt besagtes Ehebrechen, nach Maßgabe seiner Kräfte.«

»Doch nicht jeder,« bemerkte nachsichtig Sarudin.

»Nein, jeder! Es genügt schon, sich in das Leben eines anderen Menschen
hineinzuversetzen, um darin auf die Sünde zu stoßen. Sehen Sie, in dem
Augenblick, wo wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, uns dann ruhig
schlafen legen und zum Mittagessen niedersetzen, verüben wir schon
Verrat.«

»Aber was sprechen Sie da?« rief Sarudin unwillkürlich entrüstet.

»Nun wir zahlen Steuern, genügen unsern Bürgerpflichten und die Folge
davon ist, daß wir dem Staat die Mittel geben, Tausende von Menschen in
denselben Krieg zu schicken, über dessen Ungerechtigkeit wir uns
empören. Wir legen uns schlafen und wir denken garnicht daran, die zu
retten, die sich gleichzeitig für unsere Ideen aufopfern. Wir verzehren
soviele überflüssige Bissen und lassen Menschen Hungers sterben, für
deren Wohlergehen wir sorgen müßten, wenn wir wirklich tugendhafte
Menschen wären. Und so fort. Das ist ja verständlich. Aber eine andere
Sache ist es mit dem Lumpen, dem echten, aufrichtigen Lumpen. Das ist
vor allen Dingen ein vollkommen offener, natürlicher Mensch.«

»Ein natürlicher? ...«

»Gewiß, unbedingt. Er tut eben das, was für einen Menschen ganz
natürlich ist. Er sieht irgendetwas, was ihm nicht gehört, aber gefällt,
und nimmt es sich. Er sieht ein prachtvolles Weib, das sich ihm nicht
gleich hingeben will, also nimmt er es mit Gewalt oder mit List. Und das
ist vollkommen natürlich, weil das Bedürfnis und Verständnis für den
Genuß grade einer der wenigen Züge ist, wodurch sich der Mensch vom
Tiere unterscheidet. Je mehr Tier das Tier ist, um so weniger weiß es
etwas vom Genuß oder ist imstande, ihn zu suchen. Tiere befriedigen nur
ihre Triebe. Ich glaube, darüber sind wir uns doch alle klar, daß der
Mensch nicht zum Leide geschaffen ist, und daß Leiden nicht das Ideal
menschlichen Strebens sein kann.«

»Selbstredend,« gab Sarudin zu.

»Also liegt im Genuß das Ziel des Lebens. Paradies ist gleichbedeutend
mit absolutem Genuß und alle Menschen träumen auch, so oder so, vom
Paradies auf Erden. Ursprünglich war es ja auch hier unten, wie man
sagt. Und dieses Märchen vom Paradies ist keineswegs ein Unsinn; es ist
ein Traum und ein Symbol.«

»Ja,« sagte nach einigem Schweigen Sarudin, »die Enthaltsamkeit ist
wirklich keine natürliche Eigenschaft des Menschen; am aufrichtigsten
sind tatsächlich die, welche ihre Begierden garnicht zu unterdrücken
suchen.«

»Ganz recht,« fiel ihm Ssanin ins Wort, »das heißt also solche, die man
in unserer Gesellschaft Lumpen nennt. Sehen Sie, wie Sie zum Beispiel.«

Sarudin zitterte und prallte zurück.

»Sie sind natürlich,« fuhr Ssanin fort und tat so, als wenn er nichts
bemerkt hätte, »der beste Mensch von der Welt. Wenigstens in Ihren
eigenen Augen. Aber gestehen Sie, trafen Sie jemals einen Menschen, der
besser war als Sie? ...«

»Viele,« antwortete unentschlossen Sarudin, der ihn jetzt überhaupt
nicht mehr begriff und nicht mit sich ins Reine kommen konnte, ob es
angebracht wäre, sich beleidigt zu fühlen oder nicht.

»Sagen Sie wen? ...«

Sarudin zog schwankend die Schultern an.

»Nun da haben Sie's,« rief Ssanin heiter, »zuletzt bleiben Sie doch
selbst der allerbeste Mensch. Und ich zähle mich natürlich auch zu
ihnen. Und haben wir beide nicht, wenn's drauf ankommt, den Wunsch, zu
stehlen, zu lügen und ehezubrechen? Selbstverständlich, ... vor allen
Dingen ehezubrechen.«

Sarudin schob wieder die Schultern in die Höhe.

»Originell,« murmelte er.

»Meinen Sie?« fragte Ssanin, mit einer unfaßbaren Nuance von Spott. »Von
der Seite habe ich es noch garnicht angesehen. Ja, Lumpen sind die
aufrichtigsten Menschen. Nebenbei auch die interessantesten. Weil man
sich in der menschlichen Lumpenhaftigkeit gar keine Schranken und
Begrenztheit vorstellen kann. Einem Lumpen werde ich stets mit ganz
besonderer Hochachtung und großem Genuß die Hand drücken.«

Und mit einem ungewöhnlich offenen, freudigen Gesicht drückte Ssanin dem
Offizier die Hand, schaute ihm dabei liebenswürdig gerade in die Augen,
verdüsterte sich aber plötzlich und murmelte, nun schon mit völlig
veränderter Stimme: »Adieu, gute Nacht!« und ging fort.

Sarudin blickte, einige Minuten unbeweglich auf demselben Flecke
stehend, dem fortgehenden Ssanin ganz verdutzt nach. Er wußte nicht, wie
er seine Worte aufnehmen sollte und er befand sich daher in einer selten
peinlichen Stimmung. Aber sofort wurde sie durch die Erinnerung an Lyda
verdrängt; -- -- er dachte daran, daß Ssanin ja ihr Bruder sei und daß
er im Grunde wohl recht hätte; im selben Augenblick empfand er für ihn
auch ein Gefühl brüderlicher Liebe und Freundschaft.

-- -- -- »Er bleibt aber doch ein interessanter Kerl,« dachte er
selbstgefällig, als wenn ihm Ssanin bis zu einem gewissen Grade angehöre
und er selbst für dieses Interesse in Frage komme. Dann öffnete er die
Haustür und schritt, immer noch kopfschüttelnd und von angenehmem
Nachdenken angeregt, in seine Wohnung.

Ssanin kehrte gleichmütig nach Hause zurück, kleidete sich aus, legte
sich nieder, zog die dicke Decke hoch und wollte zum Zarathustra
greifen, den er bei Lyda gefunden hatte.

Aber schon von der ersten Seite an war ihm das Buch langweilig. Die
aufgeblasenen Bilder erweckten in seiner Seele keinen Rhythmus, er
spuckte drauf, warf es beiseite und schlief sofort ein.




                                   IV


In das Haus des Obersten Nikolai Jegorowitsch Swaroschitsch, das nicht
weit von dem der Ssanins lag, war der Sohn zurückgekehrt, ein Student
der technischen Hochschule. Die Behörde hatte ihn aus Moskau ausgewiesen
und unter Aufsicht der Heimatspolizei gestellt, weil er verdächtig war,
an einer revolutionären Verbindung teilgenommen zu haben. Jurii
Swaroschitsch hatte seine Familie schon früher davon benachrichtigt, daß
er verhaftet worden sei und ein halbes Jahr lang im Gefängnis sitzen
mußte; auch von seiner Ausweisung schrieb er ihnen, sodaß seine Ankunft
niemanden überraschte. Gewiß war Nikolai Jegorowitsch anderer Ansicht
wie sein Sohn und die ganze Geschichte hatte ihn aufs äußerste betrübt,
aber doch sah er in dessen Handlungsweise nur jugendliche Torheit, und
empfing ihn voll zärtlicher Liebe. Absichtlich vermied er es, die
Unterhaltung auf dieses Thema zu bringen.

Jurii war drei Tage lang ununterbrochen in der dritten Klasse gefahren,
wo man vor dem Gebrüll kleiner Kinder und den schwülen, muffigen
Ausdünstungen nicht schlafen konnte. Er kam furchtbar müde und
abgespannt nach Hause. Kaum hatte er den Vater und seine Schwester
Ludmilla, die in der ganzen Stadt nur mit ihrem Kindernamen Ljalja
gerufen wurde, begrüßt, so legte er sich schon in ihrem Zimmer schlafen.

Er erwachte erst gegen Abend, als die Sonne im Untergehen war, und ihre
rötlichen Strahlen die Umrisse des Fensters an der Wand mit bunten
Farben umzogen.

Aus dem Nebenzimmer hörte man das Geklirr von Gläsern und Löffeln, das
Rücken von Stühlen; dazwischen das lustige Lachen Ljaljas und eine
aristokratische Herrenstimme, die Jurii völlig unbekannt war.

Zuerst kam es ihm vor, als ob er noch immer im Eisenbahnwagen
dahinführe, dessen Fensterscheiben und Puffer klapperten und krachten
und wo vom Nachbarabteil her Stimmen unbekannter Leute zu ihm drangen.
Doch sofort besann er sich wieder auf seine Umgebung; er erhob sich
rasch und setzte sich im Bette aufrecht hin.

»Ach ja,« er dehnte das Wort lang durch die Lippen und fuhr sich mit
allen fünf Fingern durch das dichte und widerspenstige, schwarze Haar.
Nun bin ich also wirklich hier gelandet ... Seine Gedanken sammelten
sich und mit einem Mal kam er ganz erstaunt zu dem Schlusse, daß er
eigentlich garnicht nach Hause hätte zurückkehren sollen. Die Wahl des
Aufenthaltsortes war ihm freigestellt worden; wie er glaubte, folgte er
nur einem plötzlichen Einfall, als er, ohne sich lange zu besinnen, nach
Hause fuhr. Doch in Wirklichkeit war dem nicht so: In seinem ganzen
Leben hatte er niemals versucht, sich durch eigene Arbeit zu erhalten.
Stets war er auf die Unterstützung des Vaters angewiesen gewesen und
daher scheute er sich jetzt davor, ohne Hilfe an einen fremden Ort zu
gehen. Innerlich schämte er sich dieses Gefühls, gestand es sich aber
selbst nicht ein. Plötzlich kam es ihm vor, als ob er grundfalsch
gehandelt hätte. Seine Verwandten konnten seine Situation nicht
begreifen und billigen; das war klar. Dazu kamen auch hier materielle
Fragen; denn es schien ihm wenig angenehm, dem Vater noch einige Jahre
hindurch auf der Tasche zu liegen. All das mußte von Anfang an bewirken,
daß zwischen ihnen keine harmonischen Beziehungen aufkommen konnten.
Schließlich würde auch das Leben in dieser kleinen Landstadt, in der er
seit zwei Jahren nicht gewesen war, sehr langweilig sein. Alle Einwohner
kleiner Landstädte hielt Jurii von vornherein für Spießbürger,
vollkommen unfähig, Fragen der Philosophie und Politik, in denen er den
einzigen Sinn und Wert des Lebens sah, zu begreifen oder sich auch nur
für sie zu interessieren.

Langsam stand er endlich, noch bedrückt von all diesen Gedanken, auf,
ging auf das Fenster zu, öffnete es und lehnte sich in das Vorgärtchen
hinaus, welches an diese Seite des Hauses stieß. Eigentümlich sahen von
oben die auffallend bunten Flecken der vielfarbigen Blumenköpfe aus, die
über das ganze Stückchen Erde verstreut, wie in einem Kaleidoskop,
durcheinandergeworfen waren. Diesem Vorgärtchen gegenüber lag dunkel ein
dichter Garten, der wie alle in diesem kleinen Städtchen zum Flusse
hinunterlief. Ganz von weitem sah man den blassen Glanz dieses Flusses
durch die Bäume schimmern; zart und fein stiegen Nebelschleier aus ihm
empor. Der Abend war still und lag schwer und trächtig in der Luft.

Jurii wurde es traurig zumute. Zu lange hatte er in der großen,
steinernen Stadt gelebt, sodaß die Natur für ihn, trotzdem er sie zu
lieben glaubte, leer und öde blieb. Sie beruhigte und erfreute ihn
nicht, sondern erregte in ihm einen unbegreiflichen Gram und krankhafte
Träumereien.

»Aha, Lieber, du bist ja schon aus den Federn gekrochen! Nun gut, es ist
auch Zeit,« rief Ljalja, die mit einem Schwung ins Zimmer kam.

Jurii trat melancholisch vom Fenster zurück. Das schwere Bewußtsein
seiner einsamen, abgesonderten Lage und eine stille unbestimmbare
Sehnsucht, von dem versterbenden Tag genährt, bewirkten es, daß er sich
von der Heiterkeit seiner Schwester verletzt fühlte und es unangenehm
fand, plötzlich ihre helle Stimme zu vernehmen.

»Bist du vergnügt?« Zu seinem eigenen Erstaunen richtete er plötzlich
eine Frage an sie.

»Na, mit einem Mal aufgewacht!« Ljalja riß die Augen auf, lachte aber
gleich noch lustiger weiter, als hätte sie die Frage des Bruders an
etwas sehr Freudiges und Vergnügliches erinnert.

»Wie kam es dir nur in den Sinn, dich plötzlich nach meiner Stimmung zu
erkundigen. Uebrigens ich langweile mich niemals. Hab keine Zeit dazu
...« Und mit ernstem Gesicht, augenscheinlich stolz auf ihre Worte,
fügte sie hinzu: »Es ist jetzt eine interessante Zeit; da wäre es Sünde
und Schande, sich zu langweilen. Ich habe auch einige Arbeiterzirkel,
mit denen ich mich beschäftige. Und dann nimmt unsre Bibliothek viel
Zeit in Anspruch. Wir haben hier auch ohne dich eine Volksbibliothek
gegründet; sehr gut geht sie.«

Zu anderer Zeit wäre all das für Jurii interessant gewesen und hätte
sicher seine Aufmerksamkeit erregt. Jetzt aber störte ihn irgend etwas.
Doch da er sah, daß Ljalja zwar ihrem Gesicht einen über alles erhabenen
Ausdruck zu geben versuchte, aber dabei komisch wie ein kleines Kind auf
Anerkennung wartete, überwand er sich mit vieler Mühe und sagte:

»So? ... Nun gut!«

»Wie sollte ich mich da also langweilen? ...«

»Na, und ich komme vor Langweile um,« gab Jurii ohne Ueberlegung zur
Antwort.

»Wie liebenswürdig du bist! ... Garnicht zu sagen! ... Bist gerad erst
ein paar Stunden zu Hause, hast die auch verschlafen und dann langweilst
du dich schon.«

»Dagegen ist nichts zu tun. Das kommt von Gott,« erwiderte Jurii mit
einem Anstrich von Selbstgefälligkeit. Sich zu langweilen, schien ihm
viel eindrucksvoller und ernster, als vergnügt zu sein. -- -- -- -- Das
kann jeder, dachte er.

»Von Gott, von Gott,« schmollte Ljalja scherzhaft und drohte ihm mit der
Hand: »Uuuuuu!«

Jurii fiel es garnicht auf, daß sich seine Stimmung inzwischen bedeutend
gebessert hatte. Die helle Stimme und die Lebensfreudigkeit Ljaljas
zerstreute rasch die schalen Empfindungen, die er für tief und wichtig
hielt. Auch Ljalja glaubte nicht, doch ohne sich darüber klar zu sein,
an seine Trübsal und wurde deshalb nicht im geringsten durch sein Gerede
verletzt.

Ganz vergnügt sah ihr Jurii jetzt ins Gesicht und sagte: »Ich fühle mich
niemals froh.«

Ljalja lächelte sehr interessiert und meinte in diesem Augenblick
wirklich, daß er ihr etwas sehr Witziges erzählt hätte.

»Nun gut, mein Ritter von der traurigen Gestalt, ... niemals ist
niemals! Aber wir wollen gehen! Paß auf, gleich werde ich dir einen
netten, jungen Mann vorstellen. Gehen wir!« Ljalja zog den Bruder
lachend an der Hand hinter sich her.

»So warte doch. Was für ein junger Mann ist denn das!«

»Mein Bräutigam!« rief ihm Ljalja glücklich und jubelnd grade ins
Gesicht und drehte sich voll Freude und Entzücken im Zimmer herum, so
daß sich ihr Kleid von allen Seiten aufblähte.

Jurii wußte schon aus früheren Briefen des Vaters und Ljaljas selbst,
daß ein junger Arzt, der sich vor kurzem in der Stadt niedergelassen
hatte, ihr eifrig den Hof machte; -- -- er wußte jedoch noch nicht, daß
sie mit ihm schon verlobt war.

»So? ...« meinte er unwillkürlich gedehnt und mit tiefer Verwunderung.
Es erschien ihm ganz sonderbar, daß diese reine und frische Ljalja, die
er immer noch für einen Backfisch hielt, bereits einen Bräutigam haben
sollte und bald Frau und Gattin sein würde. In ihm stieg ein zärtliches
Empfinden für die Schwester auf, das sich aber fast gleichzeitig in
stilles Mitleid verwandelte.

Jurii legte ihr den Arm um die Taille und sie schritten zusammen in das
Eßzimmer, in dem bereits die Lampe brannte, und ein großer, sehr
blankgeputzter Samowar an der Schmalseite des breiten Tisches stand. Am
Tische saß auch Nikolai Jegorowitsch und unterhielt sich mit einem
starkgebauten, doch noch jungen Menschen, an dem Jurii sofort auffiel,
daß er nicht den großrussischen Typus zeigte.

Unbefangen, mit ruhiger Liebenswürdigkeit erhob sich dieser und trat
Jurii entgegen.

»Nun, machen wir Bekanntschaft miteinander! -- -- Anatoli Pawlowitsch
Rjäsanzew.«

»Von einer komischen Feierlichkeit seid ihr,« rief Ljalja und machte
gleichzeitig mit der offenen Handfläche eine erhabene Bewegung, als
wollte sie die Vorstellung unterstützen.

»Ich bitte Sie, mich zu lieben und zu achten,« fügte Rjäsanzew ebenso
scherzhaft hinzu.

Mit dem Wunsche aufrichtiger Zuneigung drückten sich beide die Hände und
dachten auch einen Augenblick daran, sich, wie üblich, zu küssen; sie
taten es jedoch nicht, sondern sahen sich nur freundschaftlich und
aufmunternd in die Augen.

-- -- -- So also sieht der Bruder aus, dachte verwundert Rjäsanzew, der
aus irgendeinem Grunde erwartet hatte, daß die flinke, kleine Ljalja in
ihrer blühenden Blondheit durchaus einen ebensolchen Bruder haben müsse.
Jurii aber war hochgewachsen, hager, hatte dunkles Haar, wenn es auch in
seiner Art ebenso hübsch war, wie das Ljaljas; doch er hatte dieselben
feinen, regelmäßigen Gesichtszüge, wodurch er ihr ähnlich wurde.

Jurii, der seinerseits interessiert auf Rjäsanzew blickte, kam in diesem
Augenblick nur der eine Gedanke, daß vor ihm der Mann stände, der in
diesem kleinen Mädchen, seiner Schwester, das Weib gefunden und
liebgewonnen hatte, in diesem zarten, kleinen Mädchen, das so klar und
frisch wie ein Frühlingsmorgen war. Natürlich so liebgewonnen, wie auch
Jurii Frauen gegenüber empfand; ... dieser Gedanke wurde ihm plötzlich
unangenehm. Es war ihm peinlich, beide zu betrachten, als müßten sie
sofort seine geheime Ueberlegung erraten.

Jurii wie auch Rjäsanzew fühlten, daß sie viele Fragen aneinander zu
richten hätten. Jenen drängte es, sich zu erkundigen: Lieben Sie Ljalja?
... Lieben Sie sie rein, ... ernst? ... Das wäre doch schade, nein,
widerwärtig, wenn Sie sie täuschen wollten. Sehen Sie nur, wie rein und
unschuldig sie ist.

Und Rjäsanzew hätte ihm geantwortet: Aber ich liebe doch ihre Schwester.
Ja, wirklich, ich liebe sie sehr. Und man kann garnicht anders, als sie
zu lieben. Sehen Sie, wie keck und frisch und lieb sie ist. Wie
entzückend sie sich selbst in ihrer Liebe benimmt. Und wie reizend sich
der Ausschnitt am Halse macht.

Doch statt all dieser Gedanken sprach Jurii überhaupt nicht und
Rjäsanzew fragte nur höflich:

»Sind Sie für längere Zeit ausgewiesen worden?«

Nikolai Jegorowitsch, der im Zimmer auf und ab ging, hielt bei
Rjäsanzews Frage einen Augenblick inne; fuhr aber gleich wieder fort,
mit den übertrieben regelmäßigen, abgemessenen Schritten eines alten
Soldaten hin und her zu wandern. Er kannte die Einzelheiten der
Ausweisung noch nicht und die unerwartete Erinnerung an sie stieg ihm zu
Kopf. Weiß es der Teufel, murmelte er vor sich hin, um seiner Empörung
einen Ausdruck zu geben.

Ljalja hatte die Bewegung des Vaters sofort verstanden und erschrak; sie
fürchtete schon im Voraus allerlei Zank, Streitigkeiten und unangenehme
Erörterungen und bemühte sich, das Gespräch abzubrechen. Innerlich
machte sie sich Vorwürfe: Wie dumm bin ich doch. Natürlich hätte ich
daran denken und Tolja vorher warnen sollen.

Aber da Rjäsanzew garnicht wußte, worum es sich handele, erkundigte er
sich, nachdem er Ljaljas Frage, ob er Tee wünsche, bejaht hatte, von
neuem:

»Und was beabsichtigen Sie, zunächst hier zu tun?«

Nikolai Jegorowitschs Mienen verdüsterten sich zusehends; sein dumpfes
Schweigen kam Jurii mit einem Mal zum Bewußtsein. Ohne einer Ueberlegung
Raum zu lassen, kochte in ihm die Erregung und der Trotz auf;
absichtlich antwortete er mit dem lässigsten Tone, der ihm möglich war:

»Vorläufig garnichts!«

»Was soll das bedeuten -- -- garnichts? ...« fragte stehenbleibend
Nikolai Jegorowitsch. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, und doch
klang aus ihr deutlich der Vorwurf heraus:

-- -- -- »Wie kannst du eine solche Antwort geben? ... Garnichts!
Erlaubt dir denn dein Gewissen diese Antwort? ... Habe ich denn die
Verpflichtung, dich mein ganzes Leben lang auf meinen Schultern zu
tragen? ... Wie kannst du es vergessen, daß dein Vater schon alt ist; es
ist längst an der Zeit, daß du selbst für dein Brot sorgen mußt. Ich
mache dir ja gar keine Vorschriften ... Gut, lebe! Aber begreifst du
denn selbst nicht, wie du zu leben hast? ...« Alle diese vorwurfsvollen
Fragen klangen aus seiner Stimme und trotzdem der Eindruck auf Jurii um
so stärker war, als er seinem Vater innerlich vollkommen recht geben
mußte, fühlte er sich doch bis in die Tiefen seines Wesens verletzt.

»Gewiß nichts? ... Was soll ich denn tun? ...« fragte er herausfordernd
zurück.

Nikolai Jegorowitsch wollte ihm eine scharfe Antwort geben, schwieg aber
und zuckte nur die Achseln. Dann begann er wieder aus einer Ecke in die
andere zu gehen, mit schwerfälligen in drei Tempi zerfallenden
Schritten. Seine korrekte Erziehung gestattete ihm nicht, die Erregung
schon am ersten Tage, an dem sein Sohn wieder ins Haus gekommen war, zu
äußern.

Jurii verfolgte ihn mit glänzenden Augen; er konnte sich nicht mehr
zurückhalten, gespitzt und wachsam auf den geringsten Anlaß zum
Widerspruch zu lauern. Er war sich durchaus klar, daß er den Streit
hervorrufen würde, aber es war ihm doch unmöglich, sein
Auflehnungsbedürfnis zu bewältigen. Am unglücklichsten fühlte sich
Ljalja, die dem Weinen nahe, bald den Vater, bald wieder den Bruder
hülflos ansah; sie wagte kein Wort zu sprechen, aus Furcht, dadurch
irgendwie den Ausbruch des Sturmes zu beschleunigen. -- -- -- Auch
Rjäsanzew, der endlich begriffen hatte, was vorging, suchte ihr zu Hilfe
zu kommen; doch die Art und Weise, wie er mühsam das Gespräch in andere
Bahnen lenkte und mit aller Gewalt immer neue und allen uninteressante
Themen herbeizog, war nicht besonders geschickt und verstärkte nur die
gegenseitige Gereiztheit. So ging der Abend langweilig und gleichzeitig
gespannt vorüber. Jurii wollte sich nicht als schuldig betrachten, denn
Nikolai Jegorowitsch verlangte im Grunde, daß er mit dem politischen
Kampf nichts zu tun haben dürfe, und das mochte er unter keiner
Bedingung zugestehen. Ihm schien es, daß der Vater nicht fähig sein
konnte, die einfachsten Dinge zu begreifen, weil er alt und
unintelligent war, und daß er nun ganz unbewußt einen Groll auf ihn als
den nächsten Zeugen seines Alters und seiner Unintelligenz habe.

Zum Abendessen kamen Nowikow, Iwanow und Semionow. Letzterer studierte
an der Universität und war im höchsten Grade schwindsüchtig; seit
einigen Monaten lebte er in der Stadt als Privatlehrer eines Knaben. An
ihm fiel jedem sofort seine eckige Häßlichkeit und Schwäche auf; sein
vorzeitig gealtertes Gesicht trug den schaudererregenden und doch so
unfaßbar zarten Schatten des nahen Todes.

Sein Begleiter Iwanow war ein langhaariger und breitschultriger
Volksschullehrer von ungeschliffenem Benehmen. Sie waren beide auf dem
Boulevard spazieren gegangen; sobald sie jedoch von Juriis Ankunft
hörten, kamen sie, um ihn zu begrüßen. Ihr Erscheinen belebte alles.
Witze, Scherze, Lachen erscholl. Beim Abendbrot wurde von allen viel
getrunken, doch von Iwanow am meisten. Auch Nowikow war schließlich von
der allgemeinen Heiterkeit fortgerissen worden und lachte kräftig mit
den andern. Im Laufe der wenigen Tage, die seit seiner Erklärung an Lyda
verflossen waren, hatte er sich wieder ein wenig beruhigt. Trotzdem war
es ihm beschämend und peinlich, zu Ssanins zu gehen; um Lyda zu sehen,
lief er zu gemeinsamen Bekannten oder nur die Straßen entlang, die sie
hinunterzukommen pflegte. Trafen sie sich, dann war Lyda zu ihm
übertrieben aufmerksam mit einem Anflug von verschämter Zärtlichkeit.
Und schon begannen sich in Nowikow neue Hoffnungen zu regen.

»Was meint ihr, Herrschaften,« sagte er, als sie schon beim
Verabschieden waren, »wollen wir nicht einmal ein Piknik am Kloster
veranstalten.«

Das Kloster war ein beliebter Ausflugsort, da es nicht zu weit entfernt
von der Stadt auf einer Anhöhe lag, in einer freien, stromumflossenen
Ebene; der Weg zu ihm war sehr bequem.

Ljalja konnte in der ganzen Welt nichts mehr begeistern, als allerlei
Lärm, Spaziergänge, Baden, Rudern und durch den Wald laufen. Daher griff
sie Nowikows Idee mit überquellendem Enthusiasmus auf.

»Unbedingt, das machen wir! Unbedingt! Aber wann? ...«

»Wann wir wollen. Schon morgen meinetwegen.«

»Und wen werden wir noch auffordern,« fragte Rjäsanzew, dem der Gedanke
des Ausflugs ebenso gefiel. Im Walde war Ljaljas Körper, dessen Frische
ihn mit seinen ganzen Sinnen anzog, sicher zwanglos in seiner Nähe; er
konnte sie liebkosen und ungehindert küssen.

»Ja, wen denn noch? ...«

»Wir sechs hier, und dann Schawrow.«

»Wer ist das?« fragte Jurii.

»Ach, hier läuft so ein junger Studiosus herum.«

»Und Ludmilla Nikolajewna wird Karssawina und Olga Iwanowna auffordern.«

»Wen?« erkundigte sich Jurii wieder.

Ljalja lächelte: »Das wirst du schon sehen!« und sie küßte geheimnisvoll
vielsagend ihre Fingerspitzen.

»So? ... Nun, wollen wir sehen.«

Nowikow setzte eine zurechtgestutzte Miene auf und fügte mit
unnatürlicher Gleichgültigkeit hinzu: »Die Ssanins könnte man auch
mitnehmen.«

»Lyda vor allen Dingen,« rief Ljalja, nicht, weil sie ihr gefiel,
sondern weil sie von Nowikows Liebe wußte und ihm eine Freude bereiten
wollte. Von ihrer eigenen Liebe war sie so entzückt, daß sie wünschte,
alle Menschen um sie wären von demselben zufriedenen Glück erfüllt.

Bissig fiel Iwanow gleich nach ihr ein: »Dann wollen wir aber auch ja
nicht vergessen, die Offiziere einzuladen.«

»Ganz gewiß, sie ebenfalls! Je mehr Volk, um so besser.«

Die jungen Leute traten auf die Terrasse hinaus; der Mond verbreitete
eine gleichmäßige Helle und alles war in warme Stille eingehüllt.

»Oh, welche Nacht,« sagte Ljalja, sich unmerklich an Rjäsanzew
schmiegend. Er drückte ihren runden, warmen Arm mit seinem Ellenbogen
fest an sich; er fühlte, wie sie wünschte, daß er noch bei ihr bleiben
möge.

»Ja, die Nacht ist wunderschön,« wiederholte er, diesen einfachen Worten
einen tiefen, nur ihnen verständlichen Sinn gebend.

»Mag ihr wohl sein,« rief Iwanow im Baß. »Meinen Segen, aber ich möchte
schlafen. Gute Nacht, Signori!« Er schritt gleichmäßig die Straße hinab,
mit den Armen um sich fuchtelnd, wie eine Mühle mit ihren Flügeln.
Nowikow und Semionow gingen zusammen fort. Rjäsanzew brauchte unter dem
Vorwand, noch das Piknik mit Ljalja zu besprechen, sehr viel Zeit zu
seinem Abschied.

»Nun, baba, baba,« sagte Ljalja endlich scherzhaft und schob ihn von
sich. Als er ging, reckte sie sich und seufzte auf; es wurde ihr schwer,
das Mondlicht, die warme Nachtluft zu verlassen und alles das, wozu sie
ihr kräftiger, junger Körper lockte.

Jurii überlegte, daß sich der Vater wahrscheinlich noch nicht
niedergelegt hätte und daß es nun unvermeidlich zu dieser
unerquicklichen und zwecklosen Auseinandersetzung kommen müsse, wenn sie
beide aufblieben.

»Nein,« sagte er zögernd zu Ljalja, die wartend auf der Treppe stand,
»ich laufe noch ein wenig spazieren.« Er blickte gradeaus auf die
bläulichen Wogen des Nebels, die wie ein Vorhang über dem Flusse hin und
her schwankten und die ganze Luft in zitternde Bewegung brachten.

»Wie du willst. Gute Nacht!« Ljalja sprach mit einer eigentümlich
zärtlichen Stimme. Dann reckte sie sich noch einmal in die Höhe, kniff
die Augen wie ein Kätzchen zusammen, lächelte irgendwohin dem Mondschein
nach und schritt schleppend ins Haus.

Jurii blieb allein. Eine Minute lang stand er unbeweglich und starrte
auf die schwarzen Schatten der Häuser, die tief und kalt dalagen,
schreckte plötzlich zusammen und schritt ebenfalls in der Richtung aus,
in der er den kranken Semionow dahinschleichen sah.

Der Kranke war noch nicht weit gekommen. Er ging eigentümlich langsam,
Schritt für Schritt, mit einer besonderen Betonung; er schleifte die
Füße herum, während sein Oberkörper gebückt und nach vorn hing und nur
von Zeit zu Zeit in einem dumpfen Husten zusammenfuhr. Auf der hellen
Erde lief sein kalter, schwarzer Schatten aufmerksam hinter ihm her.

Sowie Jurii ihn eingeholt hatte, fiel es ihm auf, daß er sich völlig
verändert hatte. Während des ganzen Abendessens hatte Semionow mehr
gescherzt und gelacht als all die andern; jetzt aber lief er traurig und
zerbrochen hin und aus seinem harten Husten klangen leidvolle,
hoffnungslose Töne heraus; gleichzeitig drohend und grausam, wie die
Krankheit selbst, an der er litt.

»Ach, Sie sind es,« meinte er zerstreut, als er Jurii bemerkte, -- wie
es diesem vorkam, unfreundlich.

»Ich habe gar keine Lust, zu schlafen. Ich möchte Sie ein Stückchen
begleiten.«

»So begleiten Sie mich,« willigte Semionow mit deutlicher
Gleichgültigkeit ein.

Sie gingen langsam, schweigend weiter; Semionow hustete noch immer und
beugte sich jedesmal nach vornüber.

»Ist es Ihnen denn nicht zu kühl,« fragte Jurii oberflächlich, weil ihn
dieser traurige Husten zu belästigen anfing.

»Ich friere immer,« erwiderte Semionow verdrießlich.

Jurii wurde es peinlich zumut, als hätte er versehentlich eine kranke
Stelle berührt. Wie, um diese Empfindung zu überwinden, erkundigte er
sich wieder teilnahmsvoll: »Sind Sie schon lange von der Universität
herunter? ...«

Semionow gab nicht sogleich eine Antwort. »Lange,« sagte er endlich.

Jurii begann, ihm von den Stimmungen in der Studentenschaft zu erzählen,
von alledem, was er für das Wichtigste und Aktuellste hielt. Zuerst
sprach er ziemlich gleichmütig, dann aber ereiferte er sich, erzählte
lebhaft und voll Feuer.

Semionow hörte zu und schwieg. Allmählich kam Jurii dann auf die Gründe
zu sprechen, welche zur Abschwächung der revolutionären Propaganda in
den Massen führten, und man konnte merken, daß ihm jedes Wort, das er
hierüber sagte, aufrichtig leid tat.

»Haben Sie die letzte Rede Bebels gelesen,« fragte er hitzig.

»Gelesen!«

»Nun, nett ist das? ... Was? ...«

Aber statt einer zusammenhängenden Antwort schwenkte Semionow plötzlich
in großer Erregung seinen Stock mit der breiten Krücke. Sein Schatten
bewegte neben ihm in gleicher Weise seinen langen, grauen Arm und Jurii
mußte in diesem Augenblick an das unheilvolle Flügelschlagen irgend
eines schwarzen Raubvogels denken.

Dann setzte Semionow eilig und zusammenhanglos zum Sprechen ein, als
dürfe er keine Zeit mehr verlieren und seine Worte stürzten sich wild
auf Jurii:

»Was ich Ihnen sagen werde, ... ich werde Ihnen sagen, daß ich hier
sterbe. Verstehen Sie, einfach sterbe.«

Und noch einmal schwang er den Stock und nochmals wiederholte der
schwarze Schatten seine drohende Geste.

Diesmal hatte Semionow selbst sie bemerkt.

»Da,« sagte er bitter, »hinter meinem Rücken steht der Tod und lauert
auf jede meiner Bewegungen. Ach, was ist mir Bebel! Ein Schwätzer
schwatzt _das_, ein andrer etwas Anderes, ins volle Leben schwatzen sie
hinein, und mir steht sowieso bevor, heute oder morgen abzufahren.
Verstehen Sie, zum Teufel zu gehen.«

Jurii schwieg verlegen, ihn überkam eine schmerzliche Trauer; das, was
er gehört hatte, verletzte ihn.

»Denken Sie vielleicht, daß mir das alles wichtig ist? ... Das, was in
der Universität geschah oder was Bebel zu reden beliebte. Ich meine,
wenn es einmal mit Ihnen so zum Sterben kommt, wie jetzt mit mir,
verstehen Sie, es handelt sich hier darum, zuversichtlich zu wissen, daß
man stirbt, dann, nun zum Teufel, Ihnen wird noch nicht einmal der
Gedanke in den Kopf kommen, daß da Worte eines Bebels, Tolstois,
Nietzsches oder von sonst irgend einem Trottel existieren und einen Sinn
haben sollen.«

Semionow brach ab.

Der Mond leuchtete hell und gleichmäßig wie früher, und unablässig glitt
der schwarze Schatten hinter ihnen her.

»Also, der Organismus zerfällt,« ließ er sich plötzlich wieder mit einer
ganz schwachen, jämmerlichen Stimme vernehmen. »Wenn Sie wüßten, wie
schwer es einem wird, so zu sterben. Besonders in einer solchen hellen,
warmen Nacht.« Er wendete Jurii sein häßliches Gesicht aus Haut und
Knochen und mit anormal glänzenden Augen zu, aus denen eine wimmernde
Sehnsucht sprach. »Alles lebt und ich sterbe. Diese Phrase wird Ihnen
selbstverständlich abgeleiert vorkommen, gewiß, sie muß Ihnen so
vorkommen, aber ich ... ich sterbe. Nicht in einem Roman, nicht auf
einem Fest mit künstlerischer Wahrheit niedergeschrieben, nein, einfach
so, in Wirklichkeit sterbe ich. Und mir scheint das wahrhaftig nicht
banal. Ihnen wird dabei auch einmal anders zu Mute sein. Ich sterbe, ...
sterbe, ... und weiter nicht.«

Semionow geriet in anhaltenden Husten; es dauerte einige furchtbare
Minuten, bis er ihn überwunden hatte.

»Manchmal fange ich an, darüber nachzudenken, daß ich bald in völliger
Dunkelheit liegen werde. Verstehen Sie, in kalter Erde, mit
eingefallener Nase und abgefaulten Gliedern. Und hier oben bei Ihnen auf
der Erde wird alles weiter so seinen Gang gehen wie jetzt, wo ich noch
lebend mit herumlaufe. Sie werden ja dann noch am Leben sein. Werden
weiter herumlaufen, auf diesen Mond schauen, Sie werden atmen, an meinem
Grabe vorübergehen; ... vielleicht werden Sie sich dort hinstellen und
ein Bedürfnis erledigen. Und ich werde liegen und ekelhaft weiter
faulen. He,« schrie Semionow plötzlich haßerfüllt auf, »was ist mir da
Bebel und Millionen anderer fratzenschneidender Esel ...«

Jurii konnte sich noch immer nicht diesen angstdurchbebten Reden
gegenüber zurechtfinden und wurde nur verlegener.

»Nun leben Sie wohl,« sagte Semionow ganz leise und weich, »ich bin hier
zu Hause.«

Jurii drückte ihm die Hand; er sah mit tiefem Mitgefühl auf seine
eingedrückte Brust, die angezogenen Schultern und auf den Stock mit der
dicken Krücke, den Semionow zwischen die Knopflöcher seines abgetragenen
Studentenpaletots eingehängt hatte. Er wollte ein gutes Wort zu ihm
sprechen, ihn irgendwie trösten, und ihm Hoffnung einflößen; er fühlte
aber, daß er ihm damit doch keine Ruhe bringen könne. So seufzte er nur
und sagte: »Auf Wiedersehen.«

Semionow faßte an die Mütze und öffnete die Pforte. Noch hinter dem
Zaune her hörte man seine schlürfenden Schritte und das hohle Husten.

Dann wurde alles still. Jurii ging langsam zurück. Und alles, was ihm
noch vor einer halben Stunde hell, leicht und ruhig erschienen war, ...
der Mondenschein, der Sternenhimmel, die Pappelbäume vom Monde bestrahlt
und ihre geheimnisvollen Schatten, das lag jetzt tot und grauenhaft vor
ihm, wie die Kälte eines ungeheuren Weltengrabes.

Als er nach Hause kam, ging er leise in sein Zimmer, und während er das
Fenster nach dem Garten öffnete, stieg ihm zum erstenmal der Gedanke
auf, daß all die Ueberzeugungen, denen er sich so vertrauensselig und
selbstlos hingegeben hatte, nicht das gaben, was in Wirklichkeit nottat.
Einst, wenn er wie Semionow zum Sterben kommt, dann wird er ebenso
vieles bedauern müssen ... Nicht, daß es ihm unmöglich war, die Menschen
glücklich zu machen, die Ideale, die ihn beseelten, zu verwirklichen,
... nein, ganz allein, daß im Tode seine Empfindungen schwinden, ohne
daß er im vollen Maße durchkostet hatte, was ihm das Leben bieten
konnte. Doch sogleich schien ihm dieses Gefühl beschämend; er überwand
sich und suchte nach einer Erklärung: Das Leben besteht eben im Kampfe.

Doch für wen? ... Warum nicht für sich? ... Für seinen eigenen Anteil an
der Sonne, raunte traurig ein Gedanke in ihm. Jurii wollte ihn
unterdrücken und begann sich mit anderem zu beschäftigen. Aber das war
schwierig und uninteressant. Immer wieder lief sein Denken in dieselben
Kreise zurück und verdichtete sich zu einem quälenden Druck, der sich
durch nichts abschütteln ließ.




                                   V


Als Lyda Ssanina den Zettel mit der Aufforderung zum Ausflug von Ljalja
Swaroschitsch erhielt, reichte sie ihn dem Bruder hin. Sie glaubte, er
würde für sich absagen, und sie wünschte es auch. Schon im voraus
durchkostete sie den interessanten und bangen Genuß, sich dort am Fluß
beim Mondlicht wie früher drängend und beklemmend zu Sarudin hingezogen
zu fühlen; zugleich erfüllte es sie dem Bruder gegenüber mit Scham, daß
es sich gerade um den Offizier handeln mußte, den er augenscheinlich von
ganzem Herzen verachtete.

Doch Ssanin erklärte sich sofort mit Vergnügen bereit, an dem Ausflug
teilzunehmen.

Es war ein vollständig wolkenloser, warmer Tag; trotzdem wurde es nicht
zu heiß. Man konnte nur mit Schmerzen in den glänzenden Himmel schauen;
er erbebte fortwährend unter der Reinheit der Luft und dem Schimmern der
weißgoldenen Sonnenstrahlen.

»Mädchen werden auch dabei sein,« sagte ganz mechanisch Lyda. »Du wirst
mit ihnen bekannt werden.«

»Ah, das ist ja nett!«

»Eigentlich können wir uns ein besseres Wetter gar nicht wünschen ...
Fahren wir also.«

Zur bestimmten Stunde kamen Sarudin und Tanarow in dem breiten
Schwadrons-Jagdwagen, vor dem zwei hochbugige Soldatenpferde gingen,
angefahren.

»Lyda Petrowna, wir erwarten Sie!« rief heiter Sarudin, peinlich sauber,
ganz weiß gekleidet und stark parfümiert.

Lyda in leichtem, hellem Kleide mit rosa Samtkragen und ebensolchem
Gürtel lief von der Terrasse herab und reichte Sarudin beide Hände. Eine
Weile hielt er sie vieldeutig vor sich hin, ihre Gestalt mit einem
raschen, vollen Blick überfliegend.

»Fahren wir, fahren wir,« rief Lyda, die seinen Blick verstand und durch
ihn erregt wurde.

Kurze Zeit darauf rollte der Wagen schnell auf dem wenig befahrenen
Steppenweg dahin, wobei er die harten Halme des Feldgrases zum Boden
bog, die dann aufschnellend die Füße streiften. Der frische Steppenwind
bewegte leise das Haar der Fahrenden, er lief zu beiden Seiten des Weges
in den zarten Wellen des Grases nebenher.

Bald holten sie einen anderen Kremser ein, in welchem Ljalja
Swaroschitsch, Jurii, Rjäsanzew, Nowikow, Iwanow und Semionow saßen. In
ihrem Wagen war es eng und unbequem; aber darum waren sie auch doppelt
lustig und alle in freudiger Stimmung.

Nur Jurii Swaroschitsch fühlte sich in der Gesellschaft Semionows noch
ein wenig von dem Gespräch am vorhergehenden Abend bedrückt. Daß
Semionow ebenso sorglos wie die anderen scherzte und lachte, machte
einen sonderbaren und fast unangenehmen Eindruck auf ihn; dieses
Vergnügtsein konnte er nach allem dem, was er gestern von ihm gehört
hatte, nicht begreifen. War es denn nur eine Pose gewesen, dachte er. Er
überflog ihn von der Seite mit einem schiefen Blick und wollte sich
überzeugen, daß es mit ihm gar nicht so schlimm stehen könne. Aber
trotzdem brachten ihn seine Gedanken fortgesetzt in Verwirrung, und er
versuchte stets mit aller Mühe, sie zu vergessen.

Aus den beiden Kremsern flogen Scherze und Grüße über Kreuz hin und her.
Nowikow, der ununterbrochen Possen trieb, sprang plötzlich von seinem
Sitz im Fahren herunter und lief eine Zeitlang lachend neben dem Wagen
her, in welchem Lyda saß. Zwischen beiden schien eine schweigende
Uebereinkunft geschlossen zu sein, sich in übertriebener Weise
Freundschaft zu bekunden und jedes Wort, das sie sprachen, erhielt
dadurch eine besondere, liebenswürdige Unterstreichung.

Immer klarer stieg vor ihnen der Berg empor, auf dessen Gipfel
Kirchtürme blinkten und weiße Klostermauern glänzend hell
hervorschimmerten. Die ganze Höhe, mit einem Eichenwäldchen bedeckt,
erschien wie krausgelockt unter den wogenden Baumwipfeln. Eichen wuchsen
auch unterhalb des Berges an beiden Ufern des Flusses, der sich am Fuße
der Hügelkette in breiter, träger Ruhe hinwälzte; auch seine Inseln, die
wie aus einer silbernen Decke hervorbrachen, waren mit starken Eichen
bestanden.

Ueberall roch es nach Wasser und kräftigen Baumblättern, nach Wiesengras
und Feldblumen; ein starker, belebender Geruch, der den Frohsinn aller
noch steigerte.

Die Pferde bogen von selbst von dem befahrenen Wege ab und lenkten auf
das weiche, saftige Wiesengras hinüber, das unter den Hufen zu Boden
klatschte, sich aber hinter den Rädern der leichten Wagen gleich wieder
in die Höhe richtete. Als Treffpunkt hatte man eine besonders beliebte
Waldwiese bestimmt; dort wurden sie schon von drei Personen erwartet,
die vor ihnen angelangt waren; einem Student und zwei jungen Mädchen,
beide in kleinrussischen, buntgestickten Blusen. Auf dem Grase hatten
sie schon Decken ausgebreitet und unter Lachen und Neckereien waren sie
beschäftigt, Tee und Imbiß zurechtzumachen.

Die Pferde blieben mit einem Ruck stehen und ließen augenblicklich die
Schweife auf das Fell klatschen, um die Fliegen zu vertreiben; die
Ausflügler, von der Fahrt, der Luft und dem Dunst des Wasser und des
Waldes angeregt, drängten sich alle gleichzeitig aus den Kremsern
heraus, stießen sich und sprangen lachend auf den Boden.

Ljalja begann sofort die beiden Mädchen, die den Tee bereiteten, laut zu
begrüßen. Lyda nickte, ohne unhöflich zu sein, doch merklich
zurückhaltender, stellte dann aber ihren Bruder und Jurii Swaroschitsch
vor. Die Mädchen blickten hoch und sahen beide mit jugendlicher,
heimlicher Neugierde an.

»Aber ihr seid ja selbst noch garnicht bekannt,« rief plötzlich Lyda,
auf ihren Bruder und Jurii blickend. »Bitte, das ist mein Bruder,
Wladimir Petrowitsch, und dies, Jurii Nikolajewitsch Swaroschitsch.«

Ssanin drückte lächelnd und mit weicher Bewegung, doch nachdrücklich die
Hand Juriis, der ihm bis dahin gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte
und sich auch bei der Vorstellung vollkommen gleichgültig verhielt.

Für Ssanin war jeder Mensch, der ihm begegnete, interessant, und es
freute ihn stets, neue Menschen kennen zu lernen; Jurii war dagegen
überzeugt, daß es für ihn nur sehr wenig bemerkenswerte Menschen geben
könne und verhielt sich daher im Anfange sehr reserviert. Iwanow kannte
Ssanin bereits oberflächlich und das, was er von ihm gehört hatte, fand
er sehr sympathisch. Neugierig sah er ihn jetzt an, trat als erster auf
ihn zu und suchte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Semionow reichte ihm
nur im Vorbeigehen flüchtig die Hand.

»Nun, jetzt dürfen wir aber schon vergnügt sein,« rief Ljalja, »mit der
langweiligen Vorstellerei sind wir endlich fertig.«

Doch trotz ihrer Aufmunterung fühlte man sich im Anfang etwas befangen,
da sich zu viele von ihnen das erste Mal sahen; erst, als man mit dem
Essen begonnen hatte und die Männer Wodka, die Mädchen Wein tranken,
schwand die Spannung und alle wurden heiter. Es wurde viel getrunken,
Scherze, denen dann jedesmal helles Lachen folgte, flogen hin und her,
man tanzte und lief um die Wette und schließlich stiegen sie alle den
Berg hinauf. Der Wald lag in grüner Schönheit da, still, in verhaltener
Ruhe, rings um sie regte sich kein fremdes Geräusch, sodaß keinem von
ihnen ein trübes Gefühl oder irgendwelche Besorgnis im Herzen blieb.

»Ja, meine Herrschaften,« sagte keuchend Rjäsanzew, als man sich wieder
auf der Wiese gelagert hatte, »wenn die Menschen mehr springen und
laufen wollten, würde es neunzig Prozent aller Krankheiten nicht geben.«

»Auch aller Laster nicht!« rief Ljalja, ihm zärtlich zunickend.

»Nanu, das wäre!« fiel Iwanow fast entrüstet über diese Zumutung ein.
»Laster wird der Mensch immer übergenug mit sich herumschleppen. Warum
auch nicht?«

Obgleich niemand hätte erklären können, daß seine Worte besonders
treffend oder scharfsinnig waren, lachten doch alle aufrichtig über sie.

Während man jetzt den Tee trank, war die Sonne im Untergehen und der
Strom wurde von ihrem matten Lichte golden überspiegelt; auch zwischen
den Bäumen zogen schon die rötlichen Strahlen des Abends.

»Jetzt aber, Herrschaften, zum Boote. Vorwärts,« rief Lyda und lief,
sich die Kleider raffend, den andern zum Ufer voraus. »Wer am
schnellsten dort ist,« schrie sie noch zurück, während sie übermütig den
Kopf wendete.

Im Laufschritt die einen, die andern bedächtiger, ging's zum Ufer
hinunter, und wieder mit dem Lachen, das allen so wichtig schien, nahmen
sie im Boote Platz.

»Abstoßen!« kommandierte Lyda, und das Boot glitt leicht vom Ufer ab,
zog breite Streifen hinter sich, die dann in eleganten Wellen nach dem
Ufer zu auseinanderflossen.

»Jurii Nikolajewitsch, warum schweigen Sie eigentlich?« fragte Lyda, als
erste das Gespräch beginnend.

»Es gibt nichts, worüber zu sprechen wäre.«

»Wirklich? ...« sagte sie gedehnt und warf den Kopf zurück, von dem
unbestimmten Gefühl beherrscht, daß alle Männer sie bewundern müßten.

»Jurii Nikolajewitsch liebt es nicht, sich mit Bagatellen abzugeben,«
meinte Semionow.

»Aha, Sie brauchen ein ernstes Thema? ...«

»Nun, schauen Sie, da haben Sie eins!« unterbrach Sarudin Lyda. Er
zeigte aufs Ufer. Dort tauchte unterhalb des Abhangs zwischen den
knorpligen Wurzeln einer mächtigen Eiche ein enges und düsteres Loch
auf, das noch zur Hälfte von Gestrüpp verdeckt wurde.

»Was ist denn das?« fragte Schawrow, der Student, welcher mit den beiden
Mädchen zusammengekommen war. Er kannte die Gegend noch nicht, da er aus
einem andern Gouvernement stammte.

»'ne Art Spelunke ist das,« antwortete ihm Iwanow. »Und was für eine!
Weiß der Teufel, die Leute erzählen sowas, hier wäre einmal eine
Falschmünzer-Werkstätte etabliert gewesen. Natürlich, wie das immer so
kommt; sie sind alle gefaßt worden. Sehr bedauerlich übrigens, daß es
immer so kommt.«

»Sonst würdest du schnellstens eine Fabrik von 20 Kopeken-Stücken
aufmachen, was?« fragte Nowikow.

»Aber nicht doch, ... wozu das? Von Rubeln, mein Freund, von Rubeln,
aber sofort.«

»Hm,« räusperte sich Sarudin vernehmlich und zuckte die Achseln. Ihm
mißfiel die Anwesenheit Iwanows und dessen Scherze verletzten ihn.

Iwanow achtete nicht darauf und fuhr fort.

»Also, eines schönen Tages hob man die Gesellschaft aus. Seitdem erfüllt
die Höhle kein Zweckbedürfnis mehr. Kein Wunder, daß sie verwahrlost
ist. Eingestürzt ist sie wohl auch. Traut sich niemand mehr hinein. Als
ich noch ein Junge war, kroch ich selbstverständlich durch. Ziemlich
interessant ist es darin.«

»Wie könnte es darin nicht interessant sein,« rief Lyda begeistert.
»Viktor Sergeitsch, ich bitte Sie, kriechen Sie hinein. Sie sind doch
tapfer.«

Ihr Ton war eigentümlich, gleichsam, als wollte sie jetzt im Licht und
unter Leuten Sarudin verspotten und sich für den bangen Zauber rächen,
unter den er sie an Abenden zwang, an denen sie allein zusammen waren.

»Wozu das?«

»Ich werde es tun,« rief plötzlich Jurii, errötete aber im selben
Augenblick, weil ihn der Gedanke erschreckte, daß man glauben könnte, er
wolle sich auszeichnen.

Iwanow billigte seinen Vorschlag durchaus.

»Vielleicht gehst du selbst mit, kannst ja Führer sein,« neckte ihn
Nowikow. »Du weißt doch in diesem Mauseloch Bescheid.«

»Ach nein, Bruder, ich bleibe schon lieber hier sitzen.« Und damit
rekelte er sich bequem im Boote zurecht.

Alle lachten auf.

Das Boot stieß ans Ufer, und die schwarze Höhlung lag nun grade über
ihren Köpfen.

Ljalja wurde mit einem Mal ängstlich.

»Jurii, mach gefälligst keine Dummheiten,« bat sie ihn. »Das sind
wirklich nur Dummheiten, bei Gott, nur Dummheiten.«

»Gewiß, nur Dummheiten,« gab ihr Jurii ruhig zu. »Aber bitte Semionow
reichen Sie mir die Kerze rüber.«

»Wo soll ich denn eine hernehmen? ...«

»Sehen Sie nur hinter sich, im Korb.«

Semionow holte, ohne sich zu beeilen, mit besonderem Ausdruck seines
Phlegmas eine Kerze vor.

»Wie? Wollen Sie denn tatsächlich da hineinkriechen?« fragte eins der
Mädchen. Sie war groß und schön; ihre volle Brust hob ihre Gestalt, ohne
die feinen Linien zu verwischen. Ljalja nannte sie Sina; ihr
Familienname war Karssawina.

»Natürlich, weshalb nicht. Mal etwas anderes,« erwiderte Jurii, indem er
gewaltsam eine gleichgültige Miene aufsetzte; unwillkürlich erinnerte er
sich, wie oft er bei Partei-Unternehmungen dasselbe gleichgültige
Gesicht zur Schau getragen hatte. Doch aus irgend einem Grunde erweckte
diese Erinnerung in ihm ein unangenehmes Gefühl.

Am Eingang zur Höhle war es feucht und dunkel.

Ssanin blickte hinein: »Brrrr,« machte er voll Ekel. Ihm schien es ganz
unverständlich und lächerlich, daß dieser Jurii sich in eine unbequeme,
vielleicht gefährliche Situation begeben wollte, nur weil ein paar
Mädchen dabei auf ihn hinschauten. Das kann man doch viel leichter
haben, dachte er.

Jurii steckte die Kerze an und bemühte sich keinen der andern anzusehen.
Ihm kam es jetzt ebenfalls so vor, als ob er sich mit seinem Mut nur
lächerlich mache. Gleichzeitig tauchte aber die andere Empfindung in ihm
auf, daß es schön und bewunderswert sei, und damit regte sich in ihm
eine angenehme und bange Neugierde.

Er wartete, bis die Kerze aufflackerte, und lachend, um sich gegen den
Spott zu sichern, schritt er vorwärts; sogleich verschwand er in der
Dunkelheit. Das rief den Eindruck hervor, als wäre die Kerze selbst
ausgelöscht, und allen wurde es in der Tat unheimlich zumute; man war
besorgt um ihn und doch wieder neugierig.

»Seien Sie vorsichtig, Jurii Nikolajewitsch,« rief Rjäsanzew noch hinter
ihm her, um seine Besorgnis auszudrücken. »Geben Sie gut acht. Dort
halten sich mitunter Wölfe versteckt.«

»Ich habe einen Revolver bei mir,« schallte Juriis Stimme dumpf zurück;
sie erklang aus der Erde, so eigentümlich, wie die eines Toten.

Jurii tastete sich vorsichtig vorwärts. Die Wände waren uneben und
feucht, wie in einem tiefen Keller. Abwechselnd hob sich der Boden und
senkte sich dann wieder; ein paarmal wäre er beinahe in glitschige
Löcher gestürzt. Dann kam ihm der Gedanke, doch noch umzukehren. Er
konnte sich ja einfach niedersetzen, sich eine Weile ruhig verhalten,
und ihnen dann draußen vorreden, daß er tief hineingegangen wäre.

Aber mit einem Male wurden hinter ihm Schritte, die über den feuchten
Lehmboden hinglitten, hörbar; dazwischen unterbrochenes Atmen.

Jurii hob die Kerze über seinen Kopf; er erkannte hinter sich das schöne
Mädchen.

»Sinaida Pawlowna!« rief er erstaunt.

»In höchsteigener Person!« schallte es von Karssawina lustig zurück und
das Kleid aufraffend, übersprang sie eine breite Pfütze.

Jurii durchlief ein angenehmes Gefühl, als er ihre stolze Gestalt neben
sich sah; er lächelte glücklich.

Das Mädchen wurde unter seinem Blick verlegen:

»Nun gehen wir doch weiter,« sagte sie hastig. Folgsam und leicht
schritt Jurii voran, mit keinem Gedanken mehr bei der Gefahr verweilend;
sorgsam suchte er den Weg vor Karssawinas Füßen zu beleuchten.

Die braunen, feuchten Wände der Höhle näherten sich ihnen bald wie mit
einer erstarrten Geste, bald bogen sie sich plötzlich wieder zurück, als
wünschten sie selbst, diesen jungen, frohen Menschen den Weg frei zu
machen. Stellenweise waren große Erdblöcke herausgebrochen, Steintrümmer
niedergestürzt, und an ihrem Platze gähnten nun tiefe, schwarze
Höhlungen, die durch die Dunkelheit noch bedeutend auseinandergedrängt
schienen. Ueber ihren Köpfen hingen ungeheure Erdmassen tot und starr;
es lag eine furchtbare Drohung darin, daß sie nicht herunterschlugen,
sondern von einem mächtigen, unfaßbaren Gesetz gehalten, unbeweglich
über ihnen wuchteten.

Schließlich mündeten die Gänge in ein breites, düsteres Gewölbe, das von
stickiger Luft erfüllt war.

Auch das Licht erlosch beinahe in dieser bedrückenden Finsternis,
während Jurii an den Wänden entlang tastete, um einen neuen Ausweg zu
suchen; dabei sprangen schwankende Schatten und getupfte Flecken, die
das Licht zurückwarf, um ihn herum.

Es gab noch einige andere Ausgänge, sie waren jedoch sämtlich durch
Erdrutsche verschüttet. Alles machte den Eindruck des Grabes und es wäre
nicht denkbar gewesen, daß hier Menschen gehaust haben sollten, wenn
nicht in einer Ecke die Ueberreste einer hölzernen Lagerstatt traurig
verfault wären. Aber auch sie glich nur einem alten, längst zermorschten
Sarge.

»Hier ist es nun grade nicht sehr interessant,« meinte Jurii, ohne es
selbst zu bemerken, mit gedämpfter Stimme. Die Erdmassen drückten so
stark auf beide, daß Karssawina unwillkürlich ihre Lippen zu einem
Flüstern bewegte, während ihre Augen im Lichtschein flimmernd
umherirrten. Ihr wurde es bange, sie drängte sich näher an Jurii, als
suche sie bei ihm Hilfe. Er bemerkte es und es erfüllte ihn mit Freuden,
daß er, neben der Schönheit und Schwäche dieses Mädchens, noch eine
leise Zärtlichkeit hervorrief, von der sie nichts wußte, die sie aber
deutlich in ihren behutsamen Bewegungen ausstrahlte.

»Wir sind wie lebend Begrabene,« flüsterte Karssawina. »Ich glaube, wenn
hier jemand schreit, so kann ihn draußen keiner hören.«

»Gewiß nicht!« Jurii lächelte. Plötzlich wurde sein Kopf von einem
Schwindel ergriffen. Er blickte von der Seite auf ihre hohe Brust, kaum
von dem dünnen Stoff der kleinrussischen Bluse verhüllt und sah ihre
runden, weich abfallenden Schultern. Der Gedanke, daß sie sich in
Wirklichkeit hier in seinen Händen befand und daß niemand ihre Schreie
hören würde, packte ihn mit furchtbarer Ueberraschung; im Kopf wirbelte
es ihm so stark, daß es ihm einen Augenblick lang dunkel vor den Augen
wurde.

Doch sofort wurde er wieder seiner Herr. Er empfand, wie widerwärtig der
Gedanke allein war, mit Gewalt auf eine Frau einzudringen. Und vor allem
für ihn, Jurii Swaroschitsch, den Revolutionär. Anstatt der beißenden
Erregung, die jeden Nerv in ihm aufreizte, nachzugeben, sprach er ganz
ruhig:

»Versuchen wir, wie es hallt.«

Ein seltsames Zittern seiner Stimme konnte er nicht unterdrücken; er war
sicher, daß auch Karssawina empfinden mußte, was in ihm vorging.

»Wie?« fragte sie.

Jurii zog seinen Revolver heraus:

»Ich werde einen Schuß abfeuern.«

»Kann dabei nichts einstürzen? ...«

»Ich weiß nicht,« antwortete er aus irgend einem Grunde, trotzdem er
sicher war, daß nichts geschehen würde. Doch dann wendete er sich
plötzlich zu ihr: »Fürchten Sie sich denn?«

»Nein, schießen Sie nur!« Karssawina rückte etwas von ihm zurück.

Jurii hob die Hand mit dem Revolver und feuerte ihn ab.

Ein blendender Streifen blitzte dicht vor ihren Augen auf; in einem
Moment wurde alles um sie mit einem trüben Dunst überzogen, dann rollte
ein schwerer, dumpfer Lärm grollend durch den Berg.

Aber die Erde hing ebenso unbeweglich wie früher über ihren Köpfen.

»Und das ist alles,« sagte eintönig Jurii.

»Gehen wir zurück! Kommen Sie!«

Sie gingen zurück, doch als Karssawina voraus schritt und Jurii nun den
Rücken zukehrte, sodaß er ihre kräftigen, elastischen Hüften sah, stieg
die heiße Gier in der alten Stärke wieder in ihm auf.

»Hören Sie, Sinaida Pawlowna,« fing Jurii an, obgleich er schon im
voraus von seiner Stimme und der Frage erschreckte; er bemühte sich, sie
möglichst harmlos zu gestalten. »Hören Sie. Es ist ein interessantes,
psychologisches Problem! Warum fürchten Sie nicht, mit mir hier
herumzukriechen? Sie sagten selbst, daß es niemand hören würde, wenn
hier drinnen jemand schreit. Und Sie kannten mich doch absolut nicht.«

Karssawina fühlte, daß sie in der Finsternis tief errötete, schwieg
aber; Jurii atmete schwer und sie konnte jedem dieser Atemzüge deutlich
folgen. Er war von glühender Scham erfaßt worden und doch durchflutete
ihn ein angenehmes Gefühl, als glitte er sicher über einen breiten
Abgrund.

»Ich nahm selbstverständlich an, daß Sie ein anständiger Mensch sind,«
stammelte schwach und zitternd das Mädchen.

»Vielleicht haben Sie das umsonst gedacht,« erwiderte Jurii, noch immer
das heiße Gefühl durchkostend. Plötzlich erschien es ihm originell, daß
er so und nicht anders zu ihr sprach; er fand sich und die ganze
Situation, in die er sie gebracht hatte, bewundernswert.

»So hätte ich mich ertränkt,« sagte Karssawina einfach, noch stiller und
noch mehr errötend.

Aus diesem kurzen Satz strömte eine weite und mitleidvolle Bewegung in
Juriis Seele über. Die Erregung versank mit einemmal, und ihm wurde
vollkommen frei und leicht zumut.

Welch famoses Mädchen, dachte er warm und aufrichtig. Und das
Bewußtsein, daß diese warme und aufrichtige Empfindung rein von jedem
beschmutzenden Gedanken war, erfreute ihn so, daß aus seinen Augen
Tränen traten.

Karssawina lächelte ihm glücklich zu, stolz auf ihre Antwort und auf
seinen lautlosen Beifall, der sich stumm auf sie übertragen hatte.

Solange sie dem Ausgang zuschritten, dachte sie mit eigentümlicher
Erregung darüber nach, warum es ihr garnicht beleidigend und beschämend
gewesen war, sondern angenehm erregend, daß er diese Frage an sie
gerichtet hatte.




                                   VI


Die draußen Gebliebenen hatten eine ganze Zeit vor der Höhle gestanden
und über Jurii und Karssawina gescherzt; dann zerstreuten sie sich am
Ufer.

Die Männer zündeten sich ihre Zigaretten an, warfen die Streichhölzer
ins Wasser und beobachteten nachlässig, wie der Rauch breite, glatte
Kreise zog. Im Grase schritt Lyda leise singend hin und her und machte,
die Finger um die Taille legend, halb unbewußt einige Pas mit ihren
niedlichen Füßchen. Ljalja pflückte Blumen und warf sie dann Rjäsanzew
zu; er fühlte, wie ihn ihre Augen küßten.

»Trinken wir doch lieber was,« sagte Iwanow zu Ssanin.

»Das ist eine gute Idee,« meinte dieser entzückt. »Gehen wir.«

Sie stiegen zum Boot hinunter, öffneten die Bierflaschen und machten es
sich bequem.

»Ihr gewissenlosen Säufer!« rief Ljalja, und warf ein Bündel Gras, das
sie rasch am Ufer ausgerissen hatte, auf sie hinab.

»Im Gegenteil, das ist vorzüglich!« schrie Iwanow. Und scherzend fuhr er
fort: »Ich kann es durchaus nicht begreifen, warum die Menschen gegen
den Alkohol ankämpfen. Meiner Meinung nach lebt überhaupt nur der
Betrunkene so, wie es sich gehört.«

»Oder wie ein Tier,« ließ sich Nowikow vom Ufer her vernehmen.

»Und doch, -- -- nur der Betrunkene tut, was er will,« rief Ssanin zu
ihm herauf. »Er möchte singen, gut, er singt; will er tanzen, tanzt er;
kurz, er schämt sich seiner Freude und Heiterkeit durchaus nicht.«

»Manchmal prügelt er sich auch, oder prügelt andere,« bemerkte trocken
Rjäsanzew.

»Kommt auch vor! Aber das ist's eben, die Leute verstehen nicht, zu
trinken; sie werden gleich gehässig.«

»Und du schlägst dich im betrunkenen Zustande nicht?«

»Nein,« meinte Ssanin. »Eher im nüchternen. Im Rausch bin ich der beste
Kerl von der Welt, wahrscheinlich, weil ich viele Gemeinheiten
vergesse.«

»Nicht alle Menschen haben einen so liebenswürdigen Charakter,« warf
Rjäsanzew ein. »Die meisten wirklich nicht.«

»Und wenn schon -- was geht mich das an?« Mit seinem frohen Lächeln
führte Ssanin das Glas zum Mund.

»Nein, man darf nicht so sprechen, wie du,« erklärte Nowikow scharf.

»Warum denn nicht? ... Und wenn es doch einmal die Wahrheit ist? ...«

»Eine schöne Wahrheit,« Ljalja schlug vor Schreck die Hände zusammen.

»Die beste und schönste, die ich kenne,« erwiderte Iwanow für Ssanin.

Lyda, die bis dahin laut gesungen hatte, brach das Gespräch verdrießlich
ab. Sie versuchte es auf ein anderes Thema zu lenken.

»Die beiden Herrschaften beeilen sich auch nicht.«

»Wozu hätten sie es nötig? ...« warf Iwanow hin. »Man soll sich
überhaupt niemals beeilen.«

»Und dann die Heldin ohne Furcht, -- -- und natürlich ohne Tadel!«
bemerkte Lyda in sarkastischem Ton.

Tanarow platzte mit lautem Lachen heraus, weil diese letzten Worte grade
seine eigenen Gedanken kreuzten; doch sofort wurde er verlegen. Lyda
blickte auf ihn, umfaßte wieder ihre Taille und wiegte sich elastisch
hin und her.

»Vielleicht sind sie dort sehr vergnügt,« fügte sie hinzu und zuckte die
Achseln.

»Sssst,« unterbrach sie Rjäsanzew. Ein dumpfes Grollen ertönte aus dem
schwarzen Loch.

»Ein Schuß,« rief Nowikow.

»Was bedeutet das? ...« fragte Ljalja mit ängstlicher Stimme und
klammerte sich an den Aermel ihres Bräutigams.

»Aengstige dich nicht! Sollte es auch ein Wolf sein, so sind sie doch um
diese Zeit nicht gefährlich.« Rjäsanzew suchte sie zu beruhigen,
innerlich auf Jurii und seinen kindischen Einfall ärgerlich.

»Und über zwei Menschen werden sie gewiß nicht herfallen,« brummte
Iwanow gleichgültig.

»Eh, um Gotteswillen!« Schawrow, der junge Student war ganz außer sich.

Lyda empfand diese Aufregung als eine unberechtigte Störung.

»Aber sie werden ja schon kommen,« sagte sie und schürzte verächtlich
die Lippen.

Da tauchten mit einem Mal Jurii und Karssawina aus der Finsternis auf.
Er verlöschte die Kerze und lächelte allen liebenswürdig und
unentschieden zu, weil er noch nicht wußte, wie sie sich zu seinem
Einfall verhielten.

Er war von oben bis unten mit gelbem Lehm befleckt und auch die Schulter
Karssawinas, mit der sie die Wand gestreift hatte, war beschmutzt.

»Nun, was war? ...« fragte gleichgültig Semionow, der sich die ganze
Zeit über scheinbar um nichts gekümmert hatte.

»Ziemlich originell und ganz hübsch,« gab Jurii unentschlossen, wie um
sich zu rechtfertigen, zur Antwort. »Nur reichen die Gänge nicht weit
hinein. Aber irgend ein Holzgestell fault da seinem Ende entgegen.«

»Und haben Sie den Schuß gehört?« fragte lebhaft und mit den Augen
blinkend Karssawina.

»Wozu die Heldentaten berichten? ... Meine Herrschaften, das ganze Bier
ist schon ausgetrunken und unsere Seelen sind also in genügendem Maße
erquickt worden. Fahren wir los!« schrie Iwanow.

Als das Boot wieder die Mitte des Flusses erreichte, war der Mond schon
aufgegangen. Die Luft war wunderbar still und durchsichtig. Im Himmel
und im Wasser, über und unter ihnen, prangten, goldenen Feuerhäufchen
gleich, die Sterne, und es schien, daß das Boot zwischen zwei
unendlichen, erleuchteten Lufttiefen dahinglitt.

Der Wald an den Uferseiten und sein Schatten, der nicht bis in das
Wasser fiel, war düster und geheimnisvoll. Eine Nachtigall begann zu
schlagen. Und wenn alle schwiegen, so war es, als ob nicht ein Vogel
sänge, sondern irgendein vernunftbegabtes, in seinem Glücke
nachdenkliches Wesen.

»Wie schön,« sagte Ljalja, die Augen hebend und legte ihren Kopf auf die
runde Schulter Karssawinas, deren Wärme sie durchdrang.

Dann schwieg man wieder lange und lauschte. Das Schlagen der Nachtigall
erfüllte den Wald, hallte trillernd über den tiefsinnigen Strom und zog
über die Wiesen dahin, wo lauschig Gräser und Blumen in den
monddurchleuchteten Nebel starrten.

»Wovon singt sie?« fragte Ljalja wieder. Wie unbeabsichtigt fiel ihr Arm
mit der Handfläche nach unten auf die Kniee Rjäsanzews. Sie fühlte, wie
dieses harte, starke Knie unter ihrer zarten Hand erbebte, und sie wurde
froh und erschrak gleichzeitig über diese Bewegung.

»Von der Liebe natürlich!« erwiderte halb scherzhaft, halb im Ernst
Rjäsanzew; er bedeckte sachte Ljaljas Hand, die vertrauensvoll auf
seinem Knie lag, mit der seinen.

»In einer solchen Nacht möchte man nicht über Gutes, nicht über Böses
nachdenken,« sprach Lyda vor sich hin und gab damit nur ihren eigenen
Gedanken lauten Ausdruck. Sie dachte daran, ob sie gut oder schlecht
handle, das bange und verlockende Spiel mit Sarudin zu genießen. Als sie
auf sein Gesicht blickte, das im Mondenschein noch hübscher und
mannhafter erschien, fühlte sie plötzlich die gleiche bekannte, süße
Schwäche, die bange Willenlosigkeit ihr ganzes Wesen durchfluten und mit
sich fortreißen.

»Sondern über etwas ganz anderes,« setzte Iwanow ihre Gedanken fort.

Ssanin lächelte zu diesen Worten, wendete aber seine Augen nicht von der
Brust und dem weißen, im Mondenschein schimmernden Halse Karssawinas,
die ihm gegenübersaß. Auf den ovalen Ausschnitt ihres Kleides fiel
plötzlich ein dunkler Schatten von einer der vorspringenden Uferstellen
her; sobald jedoch das Boot, immer den glänzenden Silberstreifen hinter
sich, wieder über beleuchtete Wellen glitt, kam es Ssanin vor, als ob
dieser Ausschnitt heller, weiter und freier geworden wäre.

Karssawina warf ihren breiten Strohhut beiseite, und während sie ihre
Brust noch höher hob, begann sie zu singen; ihre Stimme war hübsch und
klar, wenn auch nicht groß.

Es war ein kleinrussisches Volkslied, so weich und traurig, wie all
diese Lieder.

»Aeußerst gefühlvoll,« murmelte Iwanow gähnend.

»Es ist schön,« sagte Ssanin.

Als Karssawina endete, klatschten alle Beifall; es schallte scharf in
den dunklen Wald hinein und den Fluß hinab.

»Singe noch Sinotschka!« bat Ljalja »oder, besser, trage deine eigenen
Gedichte vor.«

»Sind Sie etwa auch Dichterin? ... Welche Menge von Talenten kann doch
der liebe Gott einem einzigen Menschen zukommen lassen, wenn er es gut
mit ihm meint!«

»Ist das denn schlimm? ...« Aus Karssawinas Frage klang ein verlegenes
Scherzen.

»Nein im Gegenteil, es ist sehr gut,« sagte Ssanin mit ehrlicher
Bewunderung.

»Wenn, sagen wir, das betreffende Mädchen nebenbei jung und schön ist,
so kann es nichts schaden,« stimmte ihm Iwanow bei.

»Trage doch vor, Sinotschka,« bat Ljalja ganz zärtlich und voll Liebe.

Karssawina blickte verlegen lächelnd über das Wasser und begann, ohne
sich zu zieren, mit derselben lauten und klaren Stimme.

   Liebster, mein Liebster, nie sollst du es wissen
   Wie mich mein Herz dir entgegentreibt;
   Will meine träumenden Augen verschließen,
   Daß tief mein Geheimnis verborgen bleibt.

   Niemand auf Erden soll es erraten,
   Nur Tage der Trauer haben's gekannt,
   Nur schweigende Nächte durften es ahnen,
   Nur Sterne, die golden am Himmel gebrannt.

   Und nur die zitternden, blinkenden Netze
   Der Zweige, die stillen Märchen gelauscht.
   Wissen's und werden's doch nimmer verraten,
   Wie meine Liebe mich glühend durchrauscht.

Alle gerieten wieder in Entzücken und klatschten voller Begeisterung
Beifall; nicht, weil sie dieses Gedicht so gut fanden, sondern weil sie
sich alle selbst gut und frei fühlten und nach Liebe, Glück und
Sehnsucht verlangten.

Man schwieg, man sah über das Wasser, lächelte vor sich hin.

Plötzlich rief Iwanow so laut und in so tiefem Baß, daß alle erschreckt
zusammenfuhren:

»Nacht, ... Tag ... und Sinaida Pawlownas Augen! ... Seid großmütig und
teilt mir mit, ob ich nicht dieser Glücksvogel bin.«

»Das kannst du auch von mir zu hören bekommen,« erwiderte Ssanin. »Du
gewiß nicht.«

»Oh, weh mir,« heulte Iwanow.

»Sind meine Verse schlecht?« fragte Karssawina Jurii.

Jurii fand eigentlich, daß sie nicht sehr originell und hundert anderen
ähnlich seien. Aber Karssawina war so schön und sah ihn mit ihren
schwarzen, schüchternen Augen so reizend an, daß er ein ernstes Gesicht
machte und ihr antwortete:

»Mir schienen sie klangvoll und schön.«

Karssawina lächelte ihm zu, selbst verwundert, daß ihr sein Lob so
angenehm war.

»Du kennst meine Sina noch nicht,« rief Ljalja voll Entzücken ihrem
Bruder zu. »Sie ist selbst so klangvoll und schön.«

»Schaut mal an!« meinte Iwanow erstaunt.

»Ihre Stimme ist klangvoll und schön, sie selbst ist eine Schönheit,
ihre Verse sind klangvoll und schön, und selbst ihr Name ist klangvoll
und schön.« Ljalja umarmte sie und drückte ihren Körper an den
Karssawinas.

»Uebrigens, auch ich habe nichts dagegen einzuwenden,« erklärte Iwanow.
Karssawina errötete und lächelte doch zufrieden vor sich hin.

»Es ist Zeit, nach Hause zu kommen,« sagte Lyda plötzlich schroff; es
berührte sie unangenehm, daß alle Karssawina lobten.

Ssanin fragte sie: »Und willst du nichts singen? ...«

»Nein,« antwortete Lyda in gereiztem Ton, »ich bin nicht in Stimmung.«

Rjäsanzew erinnerte sich, daß er am nächsten Tage sehr früh aufstehen
und ins Krankenhaus gehen mußte; dann hatte er zu einer Sektion zu
fahren. Darum stimmte er Lyda bei und drang ebenfalls darauf, sich ein
wenig zu beeilen.

Aber alle anderen bedauerten es, weiterfahren zu müssen; sie schienen
durch die Verse Karssawinas noch immer mit diesem Flecken verbunden zu
sein.

Als man später im Wagen nach Hause fuhr, verspürte niemand mehr den
Wunsch, sich zu unterhalten; in sich gekehrt saßen sie in den Kremsern,
keiner konnte der schweren Ermattung Herr werden, die sie alle
bedrückte. Man fühlte das Steppengras, jetzt unsichtbar, über die
Stiefel streichen; hin und wieder haftete das Auge an den grauen
Staubwolken, die die Wagen hinter ihnen aufwirbelten. Und weiter dehnten
sich die Felder unendlich aus, ganz verschwommen im bläulichen Glanze
des Mondlichts, ohne dem Auge einen Anhaltspunkt zu geben. Gleichmäßig
schlugen die Hufe der Pferde auf den Boden; es war das einzige Geräusch,
das die Dunkelheit durchbrach.




                                  VII


Drei Tage darauf kehrte Lyda spät abends heim; sie war wie zerschlagen,
müde und unglücklich. In ihren Gliedern lag eine erstarrte Mattigkeit,
die sie niederzog; die träge Abspannung in ihrem Denken war so stark,
daß es ihr Mühe machte, auch nur einen Gedanken zu formen. Sie verstand
sich und begriff doch wieder nichts; in manchen Augenblicken schien sie
sich selber fremd zu werden.

Als sie endlich in ihr Zimmer gekommen war, blieb sie jäh stehen,
faltete die Hände, und sah, langsam erblassend, zu Boden. Mit einem Mal
zerriß etwas in ihrem Hirn und erst jetzt erfaßte sie mit Entsetzen, das
sich sofort in physischem Widerwillen auslöste, was eigentlich mit ihr
vorgegangen war, als sie sich Sarudin hingab. Seit diesem Augenblick,
den nichts mehr gut machen konnte, war ihr in dem dummen, eitlen
Offizier, mit dem sie keine geistigen Beziehungen verbanden, eine Macht
entstanden, der sie sich auf keine Weise mehr entziehen konnte.

Sie war rechtlos geworden; jetzt durfte er nach Belieben mit ihr
schalten. Sie konnte sich nicht mehr weigern, ihn zu besuchen, sobald er
es verlangte; nun hatte es aufgehört, daß sie mit ihm nach ihrer Laune
spielte, einmal sich seinen Küssen hingab, dann wieder ihn beiseite
schob und auslachte. Seinen gröbsten Zärtlichkeiten mußte sie willenlos
und demütig wie eine Sklavin gehorchen.

Wie alles abgelaufen war, suchte sie vergebens in der Erinnerung
festzuhalten; alles verschwamm in der brennenden Hitze, die sie
ergriffen hatte. Wie immer hatten sich ihr seine Zärtlichkeiten zuerst
untergeordnet, wie immer waren sie ihr angenehm und doch bange gewesen
und nur mit einemmal schien ihr ein blasser Nebel in den Kopf zu
steigen, worin jede Klarheit und Ueberlegung versank. Plötzlich befand
sich in ihr nur ein glühender Wunsch, der sie in einen Abgrund von
Begierden und Erregungen zog. Der Boden schwoll unter ihren Füßen an,
ihr Körper wurde kraftlos und unterwürfig, die drängenden, furchtbaren
Blicke Sarudins klammerten sich an ihn und dann erzitterten ihre nackten
Beine schamlos und qualvoll unter der rohen Berührung zweier grober
Hände. Alles in ihr schob sich diesen Händen entgegen; in ihr lebte nur
noch der eine Wunsch, -- -- der Neugierde, dem Schmerze und der Wollust
zu folgen.

Lyda erbebte unter der Erinnerung, hob langsam ihre Schultern in die
Höhe und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Schwankend ging sie auf
das Fenster zu, öffnete es und blickte fast ohne Bewußtsein auf den
Mond, der über dem Garten stand.

Die trübe Stimmung drückte sie zu Boden; es war eine sonderbare Mischung
von häßlicher Begierde und sehnsüchtigem Stolze, die sie bei dem
Gedanken beschlich, daß sie ihr ganzes Leben mit einem Hohlkopf befleckt
hatte und daß ihre Erniedrigung nur sinnlos und zufällig gewesen war.
Etwas Drohendes erhob sich vor ihr; sie suchte es vergebens durch
trotzige Verachtung zu zerstreuen.

... wir sind eben zusammengetroffen und ich bin mit ihm mitgelaufen,
dachte sie, und mit schmerzlicher Wollust wiederholte sie sich das Wort
»mitgelaufen« ... Ich wollte es und darum gab ich mich ihm hin. Aber
doch wurde ich glücklich; es war ja so ... es wurde ihr unmöglich, diese
Gedankenreihe zu Ende zu führen.

Lyda schrak zusammen und reckte sich, indem sie die geballten Hände nach
vorn streckte. Dann strich sie mit den geöffneten Handflächen durch die
Luft, als wenn sie alles von sich fortschieben wollte.

Mit Ueberwindung trat sie vom Fenster zurück und begann sich zu
entkleiden; sie löste mechanisch die Bänder der Röcke und ließ sie
gleich dort, wo sie stand, zur Erde fallen.

-- -- -- Warum auch nicht, dachte sie, das Leben ist nun einmal so.

Sie erschauerte unter dem frischen Luftzug, der weich ihre Schultern
berührte.

-- -- -- Was hätte ich gewonnen, wenn ich wirklich die legitime Ehe
abwartete. Was kann sie viel für mich sein. Es ist ja im Grunde ganz
gleichgültig. Ich bin dumm, daß ich dem, was geschah, irgend eine
Bedeutung beimesse ... Dummheiten!

Am Ende dieser Gedanken schien ihr wirklich, daß es sich nur um
Kleinlichkeiten handle. Vom nächsten Tage an würde alle Unruhe ein Ende
haben; sie hatte in diesem Spiel gewonnen, sie war jetzt frei wie ein
Vogel.

   Gefällt es mir, so lieb ich ihn,
   Und hab ich's satt, so ist's vorbei.

Und dem Klange ihrer Stimme lauschend, dachte sie mit Vergnügen, daß sie
doch viel besser singe, als Karssawina.

-- -- -- Ja, das sind alles nur Dummheiten. Wenn es mir paßt, so gebe
ich mich dem Teufel hin ..., sie gab ihren Gedanken einen endgültigen
Stoß, dessen Rücksichtslosigkeit sie selbst erstaunte. Mit einem gleich
schroffen, körperlichen Ruck richtete sie sich auf, verschränkte, wie
zum Halt, ihre Arme hinter dem Kopf und reckte sich so stark, daß es
ihre Brust erschütterte.

»Schläfst du noch nicht, Lyda?« fragte die Stimme ihres Bruders hinter
dem Fenster.

Lyda erzitterte schreckhaft, lächelte aber sofort, schlug um ihre
Schultern ein großes Tuch und lief ans Fenster.

»Wie hast du mich erschreckt,« sagte sie.

Ssanin trat auf sie zu und stützte den Ellenbogen auf das Fensterbrett;
seine Augen blinkten, und er lächelte.

»Es war aber doch umsonst,« erklärte er heiter und leise.

Lyda wandte fragend den Kopf.

»Ohne Tuch sähst du viel hübscher aus.« Er sprach mit bedeutungsvoller
Stimme. Lyda jedoch verstand ihn nicht und wandte sich ihm erstaunt zu;
gleichzeitig aber wickelte sie sich instinktiv noch fester in ihr Tuch.
Verlegen lehnte sie ihre Brust an das Fensterbrett und beugte sich
heraus; sie wurde noch verlegener, als Ssanin plötzlich leise spöttisch
auflachte und sein heißer Atem ihre Wange streifte.

»Du bist eine Schönheit, Liebste,« sagte er unvermittelt.

Lyda schaute rasch auf ihn hin und erschrak vor dem Ausdruck seines
Gesichts. Hastig wendete sie sich zum Garten, und sie fühlte es bis in
die äußersten Nervenenden, daß Ssanin sie ganz besonders anblickte. Das
machte auf sie einen so entsetzlichen Eindruck, daß es ihr in der Brust
kalt wurde und ihr Herz schmerzhaft erbebte. Doch sie überwand sich und
lächelte.

»Ich weiß.« Sie hatte das Gefühl, als wäre sie gezwungen, ihn so und
nicht anders anzulächeln. Um es zu vermeiden, lehnte sie sich noch
weiter aus dem Fenster. Dabei glitten das Hemd und Tuch herunter, und
der obere Teil ihrer weißen und unfaßbar zarten Brust, unter den
Strahlen des Mondes noch zarter und weißer, wurde sichtbar.

»Die Menschen errichten stets eine chinesische Mauer zwischen sich und
dem Glück.« Ssanins unnatürlich leise Stimme schluchzte fast vor
Erregung und Lyda erstarrte noch mehr unter ihren Lauten.

»Wieso?« fragte sie tonlos, ohne die Augen von dem dunklen Garten
abzuwenden, in der Furcht, seinem Blick zu begegnen.

Sie fühlte mit Sicherheit, daß in dem Augenblick, wo sie ihn ansehe,
etwas Furchtbares geschehen würde, etwas, dessen Möglichkeit sie nicht
einmal in Gedanken fassen konnte.

Und zur selben Zeit wußte sie schon, daß alles so kommen mußte. Sie
ängstigte sich, sie hatte eine widerwärtige Empfindung und doch war es
ihr gleichzeitig interessant. Ihr Kopf glühte und sie sah nichts mehr
vor sich. Mit Abscheu und Verlangen spürte sie auf der Wange das heiße
Atmen ihres Bruders, das ihr Haar an der Schläfe bewegte und in ihr das
Gefühl erweckte, als ob unter dem Tuche Ameisen ihren nackten Körper
herunterliefen.

»Ganz einfach!« erwiderte Ssanin, doch seine Stimme riß mit einem Male
ab.

Lyda fuhr es wie ein Blitz durch den ganzen Körper; sie richtete sich
auf und ohne zu wissen, was sie tat, neigte sie sich zum Tisch hinüber
und löschte die Lampe aus.

»Zeit schlafen zu gehen,« sie zog das Fenster zu.

Als die Lampe erloschen war, wurde es draußen nur heller, die Gestalt
Ssanins und sein Gesicht traten unter dem Licht des Mondes noch stärker
hervor. Er stand im hohen, taubedeckten Gras und lachte.

Lyda ging vom Fenster zurück und ließ sich fast ohne Bewußtsein auf das
Bett nieder. Alles schwankte und klopfte in ihr und ihre Gedanken
verwirrten sich. Sie hörte die Schritte des Bruders, der mit seinen
Füßen das Gras beiseite schob, und sie suchte mit ihrer Hand das
Schlagen ihres Herzens zu unterdrücken.

-- -- -- Bin ich denn wirklich verrückt geworden, dachte sie mit
Widerwillen. Wie ekelhaft ist das alles. Ein Satz, zufällig gesprochen
und ich bin schon ... Was ist das? ... Erotomanie? Bin ich denn wirklich
so verdorben? ... Wie tief muß man fallen, um so zu denken ...

Und plötzlich weinte Lyda, den Kopf in die Kissen gedrückt, still und
bitter auf. Sie fühlte sich gedemütigt und unglücklich und verstand doch
den Grund ihrer Tränen nicht. Sie weinte, weil sie mit der Hingabe an
Sarudin ihren frühern Stolz zerbrochen hatte und weil der verletzende
Blick ihres Bruders immer noch an ihr nagte. Früher hatte er es nicht
gewagt, sie so anzusehen; jetzt tat er es; -- denn er hielt sie für eine
Gefallene. Doch am stärksten beherrschte sie das Gefühl, wie schmerzhaft
und erniedrigend es ist, eine Frau zu sein, und daß sie immer, solange
sie jung und schön bleibt, ihre besten Kräfte darauf verwenden muß, sich
den Männern hinzugeben. Ihr ganzes Leben gipfelte nur darin, ihnen Genuß
zu bereiten, und sie konnte doch nur erwarten, von ihnen um so mehr
verachtet zu werden, je mehr sie ihnen von diesem Genuß zuteil werden
ließ.

-- -- -- Woher kam diese Herrschaft der Männer? ... Lyda starrte mit
angespanntem Blick in die Finsternis, bis ihr die Augen schmerzten. --
-- -- Werde ich denn wirklich kein besseres Leben mehr sehen? ... Ihr
junger, kräftiger Körper gab ihr eindringlich die Antwort. Er rief ihr
zu, daß sie vor allem das Recht habe, vom Leben zu nehmen, was ihr
angenehm und notwendig sei, ein Recht, alles mit diesem lebendigen,
kraftvollen Körper zu wagen. Der Körper bin ich und ich bin frei, sang
es in ihr, in einer monotonen, einschläfernden Melodie. Doch plötzlich
verfing sich dieser Satz in einem verwickelten Netz von Gedanken,
versuchte sich aus den Maschen zu reißen und fiel kraftlos und trübselig
zu Boden nieder.




                                  VIII


Jurii Swaroschitsch beschäftigte sich seit langem mit Malerei; er liebte
sie und opferte ihr seine ganze freie Zeit. Einmal hatte er davon
geträumt, Kunstmaler zu werden. Zuerst hinderte ihn Geldmangel an der
Ausführung seiner Pläne, später kam die Parteitätigkeit dazwischen,
schließlich griff er nur hin und wieder einmal zu Pinsel und Palette.

Da ihm jede Schulung fehlte, brachte ihm seine Kunst nur Unzufriedenheit
und Enttäuschung. Jedesmal, wenn die Arbeit plötzlich nicht mehr weiter
gehen wollte, erregte sich Jurii furchtbar und litt tagelang unter dem
Bewußtsein seiner künstlerischen Unzulänglichkeit. Gelang ihm aber
wirklich einmal ein Werk, so geriet er in träumerisches Nachdenken; dann
fraß der Gedanke an ihm, daß sein ganzes Arbeiten zwecklos sei und ihm
doch kein Glück bringen könne.

Von Karssawina war Jurii entzückt.

Er liebte solche hochgewachsenen und vollen Frauen mit den reinen
Stimmen und etwas sentimentalen Augen. Aber alles, was er von
Karssawinas Reinheit und seelischer Feinheit empfand, war nur durch ihre
Schönheit, ihr zärtliches Wesen in ihm hervorgerufen worden. Aus irgend
einem Grunde jedoch wollte er sich das selbst nicht eingestehen und
suchte sich mit aller Mühe zu überzeugen, daß ihm nicht die Schultern,
die Brust und die Augen dieses Mädchens gefielen, sondern ihre
Jungfräulichkeit und Unberührtheit. Zwar hätte er nicht leugnen können,
daß ihn gerade diese jungfräuliche Unberührtheit in Erregung versetzte;
trotzdem schienen ihm seine Gedanken in dieser Gestalt edler und besser.
Doch schon vom ersten Abend an entstand in ihm ganz langsam die unklare
Gier, welche er von früher her kannte, die ihm aber bis jetzt noch nicht
zum Bewußtsein gekommen war, Karssawina ihrer Reinheit zu berauben. Es
waren Gedanken, wie sie stets in ihm auftauchten, wenn er auffallend
schönen Mädchen begegnete.

Diesmal aber schlugen sie einen besonderen, eigenartigen Weg ein. Je
mehr er sich mit Karssawina beschäftigte und ihr blühendes Leben vor
Augen sah, um so dringender wurde er von dem Wunsche gepackt, das Symbol
dieses Lebens zu malen.

Kaum war die Idee in ihm aufgetaucht, als er sich auch schon voll
Begeisterung auf sie stürzte, ganz berauscht von ihr und fest überzeugt,
sie dieses Mal bis zu Ende durchführen zu können.

Er spannte sich eine große Leinwand auf und machte sich mit fieberhafter
Eile, als befürchtete er, sich zu verspäten, an das Bild. Sowie er die
ersten Pinselstriche hingeklatscht hatte und auf der Leinwand
strahlende, saftige Flecken erschienen, bebte er am ganzen Körper vor
Begeisterung und Kraft; sein zukünftiges Werk stand in allen
Einzelheiten leicht und interessant vor seinen Augen.

Je weiter die Arbeit vorschritt, um so stärkere technische
Schwierigkeiten, die ihm unüberwindlich erschienen, ergaben sich. Was
ihm die Phantasie hell und kraftvoll vorgespiegelt hatte, wurde auf der
Leinwand schwach und flach. Auch die Einzelheiten, die ihn zuerst so
stark anzogen, lockten ihn jetzt nicht mehr; sie verwirrten ihn nur und
blendeten ihn.

Jurii hielt sich nicht länger bei den Details auf und begann statt ihrer
die Striche breit und nachlässig anzulegen. Allmählich trat ein
oberflächlich hingeworfenes, graues Frauenzimmer hervor, ohne jede
Originalität; alles matt und schwerfällig. Jurii trat ein paar Schritte
zurück, eine Zeitlang starrte er abwesend auf die bunte Fläche. Dann sah
er plötzlich ein, daß sein Bild nichts Persönliches ausdrückte, sondern
einfach die Kartons von Much nachahmte; selbst seine Idee war nur banal
gewesen.

Ihm wurde matt und traurig zumute.

Hätte er nicht geglaubt, daß Weinen beschämend sei, so wären ihm jetzt
die Tränen gekommen. Am liebsten würde er den Kopf in die Hände
vergraben haben, schluchzend und über irgend etwas klagend, nur nicht
über seine eigene Kraftlosigkeit. Doch so saß er nur finster vor seinem
Bilde und dachte, daß sich das Leben selbst langweilig und schwächlich
abrolle und nichts mehr enthalte, was ihn anregen könne. Und plötzlich
überfiel ihn geradezu mit Entsetzen der Gedanke, daß er vielleicht dazu
verurteilt sei, noch viele Jahre in diesem Neste zuzubringen.

-- -- -- Dann besser der Tod, dachte Jurii und ein Kälteschauer überlief
ihn. Und unter der Anspannung, in der sich sein Hirn befand, setzte sich
dieser Gedanke sofort in den Wunsch um, den Tod zu malen.

Jurii griff zum Messer und begann mit einer Gehässigkeit, die ihn selbst
empörte, sein »Leben« abzuschaben. Gleichzeitig aber ärgerte es ihn, daß
dieses Bild, an welchem er mit solcher Begeisterung gemalt hatte, jetzt
nur mit Mühe von der Leinwand verschwinden wollte.

Die Farben lösten sich nur wie unwillig, das Messer schmierte, sprang ab
und machte jedesmal zu Juriis größter Wut einige Risse in den Grund.
Dann stellte es sich heraus, daß die neuen Kohlenstriche nicht auf der
öligen Unterlage sitzen wollten, und dies verursachte ihm wiederum
geradezu körperliche Schmerzen.

Er griff zum Pinsel und begann sofort Braun aufzusetzen, verlor aber
gleich wieder alle Energie und malte langsam, nachlässig, unter schwerem
und trübem Nachsinnen weiter.

Das Bild, das er jetzt im Kopfe hatte, verlor nicht, sondern gewann
geradezu durch die Oberflächlichkeit der Pinselführung und den matten,
schleppenden Ton der Farben. Dazu war die ursprüngliche Idee des Todes
wie von selbst geschwunden, das Motiv wurde unter Juriis Pinsel zu einer
Darstellung des Greisentums. Er malte es in der Gestalt einer
abgerackerten, knochigen, alten Frau, die auf einem ausgetretenen Wege,
einen Sarg auf dem Rücken, in grauer, trauriger Dämmerung
dahinschleicht.

Man rief Jurii zum Mittagessen, aber er ließ sich nicht aufhalten,
sondern malte ununterbrochen weiter. Später kam auch Nowikow und begann
ein Gespräch mit ihm, doch er hörte ebensowenig hin, blieb stetig bei
seiner Arbeit und gab ihm keine Antwort.

Nowikow ließ sich aufseufzend auf dem Divan nieder; er war es ganz
zufrieden, schweigen und denken zu können. Zu Jurii war er nur gekommen,
weil er es nicht ertragen konnte, allein zu Hause zu sein.

Die Ablehnung Lydas quälte ihn sehr; aber er war sich selbst nicht klar,
ob er sich ihrer mehr schämte oder an ihr seelisch verkümmerte. Die
Klatschereien über Lyda und Sarudin waren ihm noch nicht zu Ohren
gekommen, trotzdem sie schon überall in der Stadt aufstiegen. Daher war
er auf niemanden eifersüchtig, sondern litt nur unter der Zerstörung
seines Traumes, der ihm eine Zeitlang nahe und glänzend erschienen war,
so daß er sich bereits voll seinem Glück hingegeben hatte.

Obgleich er, während er auf Juriis Bild starrte, darüber nachsann, wie
jetzt auch sein Leben verderben und alt werden mußte, kam ihm nicht
einen Augenblick lang der Gedanke, daß er sterben könne. Er begriff nur,
daß es nunmehr, seitdem er sein persönliches Leben aufgegeben hatte,
seine Pflicht sei, für andere Menschen zu leben. So war ihm bereits
unklar der Gedanke aufgetaucht, hier alles stehen und liegen zu lassen
und nach Petersburg zu fahren, wo er wieder die Beziehungen zur Partei
anknüpfen konnte. Von dort bis zum Tode war es nicht weit.

Schon das Bewußtsein, daß ihm diese Idee, die ihm erhaben und schön
dünkte, ganz allein gehöre, gab ihm Trost. Sein eigenes Bild umrahmte
sich vor seinen Augen mit einer lichten, schwermütigen Glorie, und durch
den unwillkürlichen leisen Vorwurf gegen Lyda, der sich darin zeigte,
wurde er so tief gerührt, daß ihn fast ein trockenes Weinen ergriff.

Allmählich wurde ihm das Nachdenken langweilig. Jurii malte
ununterbrochen fort und schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Nowikow erhob
sich mit seiner angeborenen Bequemlichkeit und trat auf ihn zu.

Vorläufig fehlte dem Bilde noch jede tiefere Ausführung, aber gerade
deswegen machten seine grellen Andeutungen auf Nowikow einen tiefen
Eindruck. Ihm schien das Bild wunderbar. Er öffnete ein wenig den Mund
und blickte mit naiver, unverhohlener Begeisterung auf Jurii.

»Nun was?« fragte Jurii zur Seite blickend.

Nowikow sagte einfach und begeistert: »Sehr ... gut!«

In diesem Augenblick fühlte sich Jurii ganz als Genie, das mit
Verachtung auf sein Werk herabblickt. Er seufzte gefühlvoll auf, warf
den Pinsel hin, so daß die Sofaecke bespritzt wurde und trat zur Seite,
ohne das Bild nur mit einem Blick zu streifen.

»Eh, Bruder,« sagte er. Beinahe hätte er sich und Nowikow in diesem
Augenblick die trübe Erkenntnis eingestanden, die einen Moment von der
Freude am Erfolge durchbrochen worden war, daß er doch nicht imstande
sei, die Skizze ernsthaft auszuführen. Statt dessen aber meinte er nur
wegwerfend:

»Das nützt doch alles nichts.«

Nowikow wollte das für eine Pose Juriis halten, aber in dieser Minute
gab ihm sein eigener, enttäuschungsvoller Gram einen Stich durch das
Herz und er dachte: Wahr. Sehr wahr. Doch wenige Sekunden später
erwiderte er ganz ohne Ueberlegung:

»Was meinst du, es nützt nicht?«

Jurii konnte diese Frage nicht gleich beantworten und schwieg; auch
Nowikow blickte nur noch einmal flüchtig auf das Bild und legte sich
dann auf den Divan.

»Weißt du, Bruder,« begann er, »sogar deinen Artikel im »Süden« habe ich
gelesen. Er ist ganz gut.«

»Hol ihn der Teufel,« rief Jurii mit einer Erbitterung, die ihm völlig
unverständlich war; er erinnerte sich plötzlich der Worte Semionows.
Dann fuhr er fort: »Was erreicht man mit dem allem? ... Man wird weiter
rauben, hinrichten und Gewalttätigkeiten begehen. Mit Artikeln ist da
gar nichts zu machen; es tut mir leid, daß ich ihn überhaupt geschrieben
habe. Was ist nun schon? ... Einige Idioten werden ihn lesen. Welchen
Zweck hat das? ... Und schließlich, was geht es mich an. Weswegen soll
ich mit dem Kopf die Wände einrennen?«

Vor den Augen Juriis zogen die ersten Jahre seiner Parteitätigkeit
vorüber. Die geheimen Zusammenkünfte, die Propaganda, die Gefahr und die
Mißerfolge, der heiße Enthusiasmus und die völlige Apathie gerade jener
Schichten, für die er kämpfen wollte. Er ging im Zimmer auf und ab und
machte eine wegwerfende Handbewegung.

Nowikow brauste plötzlich auf.

»Von dem Standpunkt aus lohnte es sich überhaupt nicht, irgend was zu
tun.« Und sich Ssanins erinnernd, fügte er hinzu: »Egoisten seid ihr
alle! Weiter nichts.«

»Ja, es verlohnt sich in Wirklichkeit nicht, etwas zu tun,« setzte Jurii
zu sprechen ein; er befand sich plötzlich, unter dem Einfluß der
gleichen Erinnerung und der matten Dämmerung, die schon ganz sachte
alles im Zimmer zum Erblassen brachte, in einer glühenden, aufrichtigen
Stimmung. Während er fortfuhr, schien er sich immer mehr zu erregen:

»Wollen wir wirklich über die Menschheit sprechen, so sage, was bedeuten
denn alle unsere Bemühungen. Diese Konstitutionen, diese Revolutionen,
-- und wir können uns doch noch nicht einmal annähernd die Perspektive
vorstellen, die die Menschheit in der Zukunft entlang laufen wird.
Vielleicht, vielleicht liegen gerade in der Freiheit, von der wir
träumen, die ersten Keime der Zersetzung? Vielleicht, nachdem der Mensch
sein Ideal erreicht haben wird, geht es wieder mit ihm rückwärts, und
schließlich läuft er von neuem auf allen Vieren ... Und dann wird die
ganze Geschichte von vorne anfangen. Oder denkt man auch nur an sich
selber. Sage doch,« -- schrie er plötzlich schmerzlich auf, -- »was kann
ich im allerbesten Fall erreichen? ... Natürlich, ich kann mit meinen
Talenten und Taten, wenn alles gut geht, Ruhm einsammeln. Ich kann mich
an der Ehrerbietung von allerlei Volk besaufen ... Sehr schön, von
solchen, die noch niedriger stehen, als ich, also gerade die, welche ich
noch nicht einmal achten kann. Deren Anerkennung mir in der Wirklichkeit
nicht einen Pfifferling wert sein sollte. Und so ... leben, leben bis
zum Ende! ... Weiter nichts! Und war ich noch so bedeutend, -- am Ende
wird mir der Lorbeerkranz an den kahlen Schädel wachsen, daß es mir nur
Ekel hervorruft.«

»So? ... Vor dir selbst? ...« fragte Nowikow mit gemachtem Spott, völlig
unklar, warum er eigentlich fragte und woher ihm die Lust zum Spotten
kam.

Aber Jurii achtete garnicht darauf. Er fuhr, voll Trauer in seinen
Worten, fort, zu reden, ohne zu merken, mit welcher Befriedigung er
ihnen lauschte; sie schienen ihm prachtvoll und eindringlich und riefen
in ihm ein eigensinniges, erhebendes Gefühl hervor.

»Und schlimmstenfalls bleibe ich ein unbekanntes Genie, ein lächerlicher
Schwärmer, wert als Objekt für Witzblätter zu dienen, ein Mensch ohne
Sinn und Verstand. Keinem zu Nutzen ...«

Nowikow fiel ihm ins Wort. Er wünschte sich seine eigenen Gedanken
wegreden zu können, wenn er auch fühlte, wie zwecklos dieses Gerede war.

»Aha! -- -- -- Niemandem nützlich, sagst du! Du merkst also selbst, das
heißt, du gestehst ...«

»Welch ein komischer Kerl du bist,« unterbrach ihn seinerseits Jurii.
»Meinst du wirklich, daß ich mir nicht ganz klar bin, wofür man leben
und was man glauben könnte? ... Vielleicht würde ich mich mit Freuden
kreuzigen lassen, wenn ich nur wüßte, daß mein Tod die Welt retten wird.
Aber so, was ich auch tun mag, an der Endsumme, die einmal die
Geschichte ziehen muß, ändere ich verdammt wenig. Ach, garnichts, und
der ganze Nutzen, den ich bringen kann, -- -- -- Ihr redet ja immer vom
Nutzen, -- -- -- das ist ja alles so gering, so nichtig, -- -- -- und
wenn ich überhaupt nicht wäre, die Welt hätte keinen Jota Nachteil
davon. Aber es gehört sich nun einmal so, und ich muß für diesen Wert,
geringer als ein Jota, leben und leiden und qualvoll auf meinen Tod
warten. -- -- -- Als anständiger Mensch, -- -- --«

Es fiel Jurii garnicht auf, daß er allmählich auf ein anderes Thema
übergegangen war und zuletzt nicht mehr auf Nowikows Worte antwortete,
sondern zu sich selbst sprach, zu seinen eigenen, sonderbaren und
unbestimmten Empfindungen. In diesem Augenblick erinnerte er sich wieder
Semionows Reden über den Tod und ein kaltes, widerwärtiges Grauen lief
ihm den Rücken herunter.

»Weißt du, diese Unvermeidlichkeit quält mich,« sagte er still und
vertrauensvoll, indem er mechanisch durch das dunkel gewordene Fenster
schaute. »Ich weiß, daß alles ganz natürlich ist, daß es dagegen gar
kein Ankämpfen gibt, -- -- aber doch, es ist entsetzlich und
abscheulich.«

Nowikow verstand, daß in diesen Worten etwas Richtiges liegen mochte; er
wurde noch trübseliger. Dennoch zwang er sich, ruhig und nüchtern zu
erwidern: »Der Tod ist eine nützliche, physiologische Erscheinung.«

-- -- Welch ein Narr ist das, dachte wütend Jurii; aufgeregt gab er ihm
zur Antwort:

»Ach mein Gott, was geht es mich im Grunde an, ob unser Tod jemandem
Nutzen bringt oder nicht. Alles Unsinn!«

»Und deine Kreuzigung? ...«

»Das ist eine ganz andere Sache,« antwortete er unentschlossen und mit
einemmal ernüchtert.

»Du widersprichst dir selbst,« bemerkte Nowikow; er fühlte seine
Ueberlegenheit, war aber doch großmütig genug, Jurii in diesem
Augenblick nicht anzusehen.

Jurii fing diesen Ton auf. Er war empört und erhitzte sich aufs äußerste
über Nowikows Ruhe. Wild fuhr er sich mit seinen Händen durch die
widerspenstigen, schwarzen Haare, und schrie wütend:

»Ich widerspreche mir überhaupt nicht. Das ist ganz klar. Es ist ein
großer Unterschied, ob ich selbst nach meinem eigenen Wunsche sterbe
...«

»Ganz egal ist es, mein Lieber.« Nowikow fuhr in seinem überlegenen Ton
fort, ohne aufzublicken. »Was euch kränkt, -- -- -- ihr wollt eben alle
Feuerwerk und Applaus haben. Egoismus, mein Lieber, das ist alles.«

»Und wenn schon, das ändert an der Sache nichts.«

Das Gespräch verwickelte sich. Jurii merkte, daß etwas nicht in Ordnung
war, er konnte aber nicht mehr den Faden herausfinden, der ihm noch eine
Minute vorher, so straff gespannt wie eine Saite schien. Aergerlich
rannte er im Zimmer auf und ab und dachte wie immer in solchen Fällen,
um sich selbst zu beruhigen: Es kann einfach nichts Vernünftiges
herauskommen, wenn die Stimmung nicht klappt. Mal spricht man so klar,
daß einem alles wie selbstverständlich vor den Augen liegt, und ein
anderes Mal wieder ist es einem, als ob die Zunge im Munde festgebunden
wäre. Alles platzt dann so ungeschickt und grob heraus, ja, das kommt
schon vor.

Sie schwiegen beide eine Weile. Jurii lief immer noch im Zimmer umher,
dann blieb er kurze Zeit vor dem Fenster stehen. Er starrte hinaus.
Plötzlich wendete er sich um und griff zur Mütze.

»Gehen wir etwas spazieren,« sagte er hastig.

»Gut, gehen wir!« Nowikow willigte mit der geheimen Hoffnung ein, daß
ihnen der Zufall vielleicht Lyda Ssanina in den Weg führen werde.




                                   IX


Sie gingen den Boulevard hinauf und hinunter, ohne Bekannten zu begegnen
und lauschten interesselos der Musikkapelle, die wie gewöhnlich im
Stadtgarten spielte. Jedesmal setzte sie mit falschen Intonationen ein,
kam im Takt immer mehr auseinander, sodaß man hätte glauben können, die
Musiker versuchten im Spiel einander zuvorzukommen; trotz alldem klang
aber die Melodie von ferne zart und traurig. Stets dieselben
Spaziergänger kamen an ihnen vorüber, flirteten miteinander und ihr
Lachen, ihre aufgeregten, heißen Stimmen paßten nicht zu der stillen,
traurigen Musik, dem stillen, traurigen Abend; sie versetzten Jurii in
eine verdrießliche, gehässige Stimmung.

Als sie wieder einmal am Ende des Boulevard angelangt waren und gerade
umkehren wollten, trat Ssanin an sie heran und begrüßte sie vergnügt.
Doch er gefiel Jurii offensichtlich nicht und so wollte das Gespräch
nicht recht in Fluß kommen. Mit einemmal verletzte es auch Jurii, daß
Ssanin alles, was ihm vor die Augen kam, mit seinem leichten Spott
übergoß; jedes Wort klang ihm schmerzhaft in den Ohren. Seine Stimmung
veränderte sich auch nicht, als Iwanow auf sie zukam und sich ihnen
ebenfalls mit lauter Fröhlichkeit anschloß.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Nowikow den Lehrer, um dadurch dessen
Fragen zuvorzukommen.

»Ich will meine Freunde freihalten,« erwiderte dieser lachend, zog eine
Flasche Wodka aus der Tasche und zeigte sie mit feierlicher Miene im
Kreise herum. Ssanin stimmte sofort in das Lachen ein.

Jurii erschien das Lachen und der Wodka wiederum unnatürlich und platt;
widerwillig wendete er den Kopf ab. Trotzdem es Ssanin bemerkte, ging er
nicht darauf ein und behielt ruhig sein vergnügtes Lächeln bei. Iwanow
jedoch machte eine zweideutige Miene und sagte in gedehntem Baß:

»Ich danke dir, Herr, daß ich nicht bin, wie diese Zöllner.«

Jurii errötete: -- Der muß natürlich auch noch seinen Senf drauf geben,
dachte er verächtlich, zuckte mit den Schultern und trat zur Seite.

»Nowikow, du unbewußter Pharisäer, so komme du wenigstens mit uns mit,«
drang Iwanow in ihn.

»Um welches Teufels willen? ...«

»Nun, um einen zu nehmen.«

Nowikow gab nicht gleich eine Antwort, sondern überblickte mit
gleichgültigen Mienen den Boulevard; es schmerzte ihn, daß er Lyda
nirgends erblickte.

»Lyda sitzt zu Hause und büßt ihre Sünden,« bemerkte Ssanin lächelnd.

»Dummheiten,« murmelte verlegen Nowikow, »ich habe einen Kranken.«

»Der auch ohne deine Hilfe verrecken wird,« fiel ihm Iwanow ins Wort.
»Uebrigens können wir uns auch ebenso ohne deine Hilfe dem Wodka
widmen.«

-- und uns besaufen! Und das ist noch das beste, dachte Nowikow bitter.
Laut sagte er: »Nun gut, gehen wir!«

Sie verabschiedeten sich flüchtig von Jurii und schritten fort; er hörte
noch von weitem den groben Baß Iwanows und das harmlos-zärtliche Lachen
Ssanins.

Er ging wieder, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, den Boulevard
hinunter, bis ihn Frauenstimmen anriefen. Sina Karssawina und die
Lehrerin Dubowa saßen auf einer der Boulevardbänke, und ihre Figuren in
dunklen Kleidern und ohne Hüte, aber mit Büchern unter den Armen, waren
in dem tiefen Schatten kaum erkennbar.

Rasch und erfreut trat er auf sie zu.

»Woher kommen Sie?« fragte er, sie begrüßend.

»Wir waren in der Bibliothek,« gab Karssawina zur Antwort.

Dubowa rückte schweigend zur Seite, sodaß an ihrer Seite Platz wurde;
aber trotzdem Jurii wünschte, sich an Karssawinas Seite zu setzen, wagte
er es nicht recht und ließ sich neben der häßlichen Lehrerin nieder.

»Warum machen Sie ein so ärgerliches, wütendes Gesicht?« fragte Dubowa,
wobei sie ihre schmalen und trockenen Lippen gewohnheitsmäßig mißmutig
aneinanderpreßte.

»Sieht es denn so aus? Es ist heiter genug und denn, ich glaube, es ist
hier tatsächlich etwas langweilig.«

»Vielleicht liegt's an Ihnen?« erwiderte spöttisch Dubowa.

»Und verstehen Sie, hier was anzufangen?«

»Ja, ich habe keine Zeit zu greinen!«

»Ich auch nicht.«

»Na, dann quietschen Sie eben,« -- scherzte Dubowa.

»Das ist nun einmal mein Leben. Ich habe sogar das Lachen verlernt.«

In seiner Stimme lag eine so bittere Nuance, daß die Mädchen
unwillkürlich stille wurden.

Auch Jurii schwieg; dann lächelte er: »Ein Freund von mir sagte einmal,
daß mein Leben sehr erstaunlich sei.«

»In welchem Sinne?«

»Ich lebe, wie man nicht leben soll,« antwortete er bestimmt, ohne daß
er zuvor von einem Menschen derartiges gehört hätte.

Jurii hielt sein ganzes Leben für mißraten und sich selbst für einen
außerordentlich unglücklichen Menschen. Darin verbarg sich für ihn eine
traurige Genugtuung, und es machte ihm Vergnügen, sich über sein Leben
und die Menschen zu beklagen. Zu Männern sprach er niemals davon, weil
er instinktiv fühlte, daß sie ihm nicht glauben würden. Aber Frauen und
besonders jungen und schönen Mädchen erzählte er gern und lange von
sich. Er war hübsch und sprach schön, und die Frauen hatten mit ihm
stets das Mitleid, das mit Verliebtheit durchsetzt ist.

Auch diesmal, im Scherz begonnen, ging Jurii leicht in den gewohnten,
sentimentalen Ton über und redete viel über sein Leben. Nach seinen
Worten mußte man glauben, daß er, ein Mensch von ungeheurer Kraft und
bedeutender Veranlagung, an dem Milieu und den Umständen zerbrochen war
und daß man ihn auch in der Partei nicht verstanden hatte. Wenn aus ihm
nicht ein Volksführer, sondern ein Student wurde, der aus irgend einem
nichtigen Anlaß verschickt worden war, so trug daran nur eine fatale
Zufälligkeit und menschliche Dummheit, nicht er selber, die Schuld.

Jurii kam, wie allen Menschen mit großer Eigenliebe, niemals der Gedanke
in den Kopf, daß diese Auffassung keineswegs außerordentliche Kraft
beweise und daß jeder geniale Mensch von gleichen Zufälligkeiten und
Personen umgeben ist. Ihm schien, daß nur ihn allein ein schweres,
unüberwindliches Schicksal verfolge.

Doch da alles, was er erzählte, voller Farben und Leben war, machte es
auf die Mädchen den Eindruck, als ob es wirklich der Wahrheit ähnlich
sei. Sie glaubten seinen Worten, bemitleideten ihn und wurden mit ihm
traurig.

Die Musik spielte ebenso ungleichmäßig und sentimental wie vorher, der
Abend war finster und nachdenklich, und ihnen allen wurde es träumerisch
befangen zumute.

Als Jurii schwieg, richtete Dubowa eine Frage an ihn, die eigentlich nur
den eigenen Gedanken, wie langweilig und eintönig ihr Leben sei, und wie
bald sie alt würde, ohne Liebe und Glück gekostet zu haben,
beantwortete.

»Sagen Sie, Jurii Nikolajewitsch, ist Ihnen niemals der Gedanke an
Selbstmord gekommen?«

»Weshalb fragen Sie mich danach?«

»So!«

Alle schwiegen. Jurii vergaß die Antwort.

»Sie waren also im Komitee?«[1] fragte Karssawina voller Neugierde.

[Fußnote 1: Es ist das lokale Komitee der politischen Partei gemeint, zu
der Jurii gehörte. Es galt als ein besonderes Verdienst, ihm
anzugehören.]

»Ja,« antwortete Jurii kurz und wie gezwungen; das Eingeständnis war ihm
aber doch angenehm, weil er glaubte, daß es ihm in den Augen des
hübschen Mädchens ein neues, geheimnisvolles Interesse verleihen würde.

Und der Eindruck, den diese kurze Bejahung auf Karssawina und Dubowa
machte, war so stark, daß sie beide in Schweigen verfielen und nur hin
und wieder einen fast ehrerbietigen Blick über Jurii streifen ließen. Er
fühlte sich von dieser guten Stimmung zärtlich geliebkost; um sie nicht
zu stören, vermied er jede Bewegung und saß andächtig neben den Mädchen.
Die Luft um sie wurde von der Sehnsucht, die sich aus ihnen allen
drängte, durchsättigt und schien sich schwerer um sie zu legen, in leise
Kreise getrieben, von den fern herüberschallenden Melodien. Endlich
erhob sich Karssawina, sah mit freudig glänzenden Augen, in denen sie
mühsam ihre unbewußte Erregung zurückhielt, auf Jurii und Dubowa und
rief ihnen zu: »Gehen wir, Herrschaften, gehen wir doch, es wird spät.
Wir verbummeln uns ja hier.« Und wieder glücklich lachend, fügte sie
hinzu: »Jurii Nikolajewitsch, diesmal aber sind Sie Schuld!«

Jurii neigte fröhlich den Kopf, trat an ihre Seite und wartete, indem er
ebenfalls ohne Grund in ihr leises freies Lachen einstimmte, auf Dubowa,
die etwas schwerfälliger aufstand und erst die Bücher in ihrem Arm
zurechtschob, ehe sie sich ihnen anschloß.

Jurii begleitete die Mädchen nach Haus. Unterwegs sprachen sie lebhaft
und lachten viel; die traurige Stimmung war verflogen.

»Welch ein netter Kerl ist er,« sagte Karssawina, als Jurii fortging.

»Sieh, sieh, verlieb dich nicht!« Dubowa drohte mit den Fingern.

»Nun, was dir gleich in den Kopf kommt,« rief Karssawina mit
verborgenem, instinktivem Schrecken.

Jurii kam in leichter und freudiger Erregung nach Hause.

Er blickte auf das begonnene Bild, empfand nichts Sonderliches dabei und
legte sich vergnügt schlafen.

Und in der Nacht träumte er wollüstige und sonnige Bilder, träumte er
von jungen und schönen Frauen.




                                   X


Am nächsten Abend ging Jurii wieder auf denselben Platz, wo er
Karssawina und Dubowa begegnet war.

Den ganzen Tag über machte es ihm Vergnügen, sich an den Abend, den er
mit ihnen verbracht hatte, zu erinnern und er wünschte, sie wieder zu
treffen, mit ihnen über dasselbe zu sprechen und wieder den gleichen
Ausdruck von Teilnahme und Zärtlichkeit in den lustigen und hingebenden
Augen Karssawinas zu sehen. Der Abend war überaus heiter, war still und
schwül. Auf dem Boulevard traf er außer einigen flüchtigen Bekannten
keinen Menschen.

Jurii schüttelte den Kopf, ärgerlich über das verdrießliche Gefühl, das
in seiner Brust Platz griff, als wenn er von jemandem beleidigt worden
wäre, und ging langsam, stumpf vor sich auf die Füße blickend, über den
Boulevard.

»Wie langweilig,« dachte er, »was soll man jetzt anfangen?«

Plötzlich kam ihm mit eiligen Schritten der Student Schawrow entgegen,
der seine freie Hand auf und nieder schwenkte und ihm schon von ferne
höflich zulächelte.

»Was bummeln Sie herum,« fragte Schawrow freundlich, blieb stehen und
reichte Swaroschitsch die Hand.

»Es ist langweilig, ich habe nichts zu tun. Und wo wollen Sie hin?«
Juriis Worte klangen faul und herablassend. Er sprach stets in diesem
Tone mit Schawrow, auf den er, als ehemaliges Komiteemitglied, wie auf
ein einfaches Studentchen, das ein wenig Revolution mitspielt,
herabblickte.

Schawrow lächelte mit der Selbstgefälligkeit eines glücklichen Menschen:
»Wir haben heute einen Volksvortrag,« und er wies auf einen Stoß dünner,
bunter Broschüren hin, die er im Arm trug.

Jurii nahm aus seiner Hand mechanisch eine der Broschüren, schlug
sie auf und las den langen, dürren Titel eines populären,
sozialwissenschaftlichen Artikels, den er selbst schon längst gelesen
und wieder vergessen hatte.

»Wo ist denn Ihr Vortrag?« fragte er mit demselben herablassenden
Lächeln die Broschüre wieder zurückgebend.

»In der städtischen Volksschule.« Schawrow nannte die Schule, in der
Karssawina und Dubowa unterrichteten.

Jurii erinnerte sich, daß Ljalja ihm bereits von diesen Vorträgen
erzählte, ohne daß er damals besonders darauf geachtet hatte.

»Darf ich mit Ihnen mitgehen?«

»Bitte,« Schawrow gab mit freudigem Lächeln seine Einwilligung. Er hielt
Jurii für einen echten Mitkämpfer und, indem er dessen Parteirolle
übertrieb, empfand er für ihn eine Achtung, die beinahe an Verliebtheit
grenzte.

»Ich interessiere mich sehr für diese Geschichte.« Jurii hielt es doch
für nötig, dies hinzuzufügen, dachte aber in Wirklichkeit nur daran, daß
ein Abend ausgefüllt und es ihm möglich sein würde, Karssawina zu
begegnen.

»Bitte, bitte,« wiederholte Schawrow.

»Nun, so gehen wir denn.«

Und sie schritten rasch den Boulevard entlang, bogen zur Brücke um, an
deren beiden Seiten ein herber Wassergeruch emporstieg und traten
endlich in das zweistöckige Schulgebäude ein, wo sich bereits Menschen
zu versammeln begannen.

In dem großen, noch dunklen Saal, der mit geraden Reihen von Stühlen und
Bänken durchstellt war, schimmerte ihnen die Leinwand für den
Projektionsapparat weiß entgegen, und aus irgendwelchen Ecken wurde
zurückhaltendes, heiteres Lachen vernehmbar. Neben dem Fenster, durch
das der verfinsterte Himmel und die Gipfel tiefgrüner Bäume sichtbar
wurden, standen Ljalja und Dubowa. Sie begrüßten Jurii mit freudigen
Ausrufen.

»Das ist aber schön, daß du mitgekommen bist! ...«

Dubowa drückte ihm kräftig die Hand.

»Warum fangt ihr denn nicht an?« fragte Jurii, der verstohlen durch den
dunklen Saal schaute, ohne doch Karssawina zu bemerken. »Und beteiligt
sich Sinaida Pawlowna nicht?« fügte er in unebenem Ton ein wenig
enttäuscht hinzu.

Aber in diesem Augenblick zuckte am Katheder, dicht an der Leinwand, ein
Streichholz auf und beleuchtete das Gesicht Karssawinas, die im Begriff
war, einige Lichter anzustecken.

»Wie sollte ich nicht dabei sein,« rief sie mit klingender Stimme und
streckte Jurii von oben her die Hand hin. Erfreut, aber schweigend,
reichte er ihr die seine und sie sprang elastisch vom Katheder herab,
während sie sich leicht auf ihn stützte, wobei sie in sein Gesicht den
eigenartigen Duft von Frische und Gesundheit hinüberströmte.

»Es ist Zeit anzufangen,« sagte Schawrow, der geschäftig aus dem
nächsten Zimmer kam.

Schwer mit seinen klobigen Stiefeln auftrampfend, ging der Diener im
Saal umher und zündete die Kerzen an, sodaß es bald von hellen, lustigen
Lichtern wimmelte.

Schawrow öffnete die Tür zum Korridor und rief laut:

»Bitte, meine Herrschaften, es beginnt.«

Ein Füßescharren, erst scheu, dann eiliger wurde laut, und durch die
Türen drängten sich die Haufen der Besucher in den Saal.

Jurii sah sie mit Neugierde an. Das gewohnheitsmäßige eindringliche
Interesse des Propagandisten wurde in ihm rege. Da tauchten alte und
junge Leute auf und auch Kinder waren unter ihnen; sie stachen mit ihren
frischen Köpfen hell von den dunklen Kleidern der hinter ihnen
Drängenden ab. In der ersten Reihe hatte niemand Platz zu nehmen gewagt;
sie wurde erst später durch einige Damen, die Jurii unbekannt waren und
wenig interessant aussahen, den dicken Schulinspektor und die Lehrer und
Lehrerinnen des Knaben- und Mädchenprogymnasiums besetzt.

Der ganze übrige Saal aber schien im Augenblick überschwemmt von Leuten
in Jacken und Joppen, von Soldaten, Bauern, Weibern und zahlreichen
Kindern in bunten Hemdblusen.

Jurii setzte sich neben Karssawina an den Tisch und hörte aufmerksam
hin, wie Schawrow ruhig, aber schlecht, über das allgemeine Wahlrecht
vorzulesen begann.

Schawrow hatte eine dumpfe starke Stimme und alles, was er las, machte
dadurch den Eindruck einer trockenen statistischen Tabelle.

Und doch hörte man ihm aufmerksam zu; nur in der ersten Reihe fingen die
Vertreter der Intelligenz bald an zu tuscheln und sich zu bewegen. Jurii
wurde dadurch gestört und ärgerte sich; er bedauerte, daß Schawrow so
schlecht vorlas. Als er merkte, daß dieser müde wurde, neigte er sich zu
Karssawina und flüsterte ihr ins Ohr: »Lassen Sie mich doch zu Ende
lesen.«

Karssawina warf durch ihre Wimpern einen zärtlichen Blick auf ihn: »Das
ist sehr schön! Lesen Sie!«

»Läßt es sich denn machen?« fragte Jurii nun, indem er ihr, wie einem
heimlichen Verbündeten, zulächelte.

»Gewiß geht es, alle werden damit zufrieden sein.«

Sie benutzte eine kurze Pause, um es Schawrow zu sagen. Dieser war müde
und empfand selbst lästig, daß seine Stimme so häßlich klang. Er
willigte ein, indem er deutlich seine Freude darüber zeigte.

»Bitte, bitte,« sagte er; nach seiner Gewohnheit wiederholte er das
Wort, ihm dadurch eine besondere Wichtigkeit verleihend, und trat seinen
Platz ab.

Jurii liebte es vorzulesen; er verstand es.

Ohne auf jemanden hinzusehen, stieg er auf das Katheder und begann mit
markigem, kraftvollem Ton. Mehrmals schaute er sich nach Karssawina um
und jedesmal begegnete er dann ihren blinkenden und ausdrucksvollen
Augen, die fest auf ihn gerichtet waren. Verwirrt und erfreut lächelnd
wandte er sich dann wieder zum Buch und suchte sein Vorlesen noch
eindringlicher zu gestalten. Und er war überzeugt, daß er für sie irgend
etwas unergründlich Schönes und Interessantes darstellen müsse.

Als er geendet hatte, klatschte ihm auch die erste Reihe Beifall zu.

Jurii verneigte sich ernst, und vom Katheder forttretend, lächelte er im
geheimen zu Karssawina hinüber, als wenn er sagen wollte: Für dich ist
das alles.

Das Publikum fing an, mit den Füßen zu scharren, Stühle wurden gerückt,
Zwiegespräche setzten ein, und langsam gingen die Anwesenden
auseinander.

Jurii achtete kaum darauf, daß er noch ein paar Leuten vorgestellt
wurde, die ihm Liebenswürdigkeiten über sein Lesen sagten.

Nach und nach verlöschten die Lichter, und nun schien es mit einem Male
noch dunkler zu werden, als es je vordem im Saal gewesen war.

»Ich danke Ihnen,« sagte Schawrow, Jurii herzlich die Hand drückend.
»Wenn man bei uns nur immer so vorlesen könnte.«

Die Veranstaltung der Bildungsabende lag in seinen Händen, und er hielt
sich daher für verpflichtet, Jurii in ausführlicher Weise zu danken, als
ob ihm eine persönliche Gefälligkeit erwiesen worden wäre. Dabei klang
aber durch seinen Worten unwillkürlich die Nuance, als ob er ihm im
Namen des ganzen Volkes spreche. Er benahm sich sehr ernst und
gewichtig.

»Für das Volk wird bei uns viel zu wenig getan,« sagte er mit Mienen,
als weihe er Jurii in ein großes Geheimnis ein. »Und wenn wirklich mal
irgend etwas geschieht, dann auch nur ganz oberflächlich und nachlässig.
Es scheint mir in der Tat sonderbar; -- -- um einigen Herrschaften, die
sich langweilen, ein Vergnügen zu machen, werden Sänger, Schauspieler,
Deklamatoren nach Dutzenden auf das Podium gestellt; um aber dem Volk
etwas zu bieten, muß sich solch elender Vorleser wie ich ans Pult
setzen.« Mit gutmütiger Ironie schwenkte er seine Hand hin und her. »Und
das Beste ist, -- alle sind noch damit zufrieden. Ja, -- was hätte es
denn auch zu wollen, das Volk --« seine Stimme wurde bitter,
schmerzlich.

»Das ist ganz richtig,« sagte Dubowa. »Es ist widerwärtig, etwas
Gedrucktes in die Hand zu nehmen. In den Zeitungen werden ganze Spalten
damit gefüllt, wie wunderbar irgendwelche Schauspieler spielen und hier
...«

»Und wie schön doch unsere Sachen hier stehen,« meinte Schawrow und
begann zärtlich seine Broschüren zusammenzupacken.

»Die reine Einfalt,« dachte Jurii, aber die Anwesenheit Karssawinas, und
sein eigener Erfolg stimmten ihn weich und gutmütig. Die Einfachheit
Schawrows rührte ihn sogar ein wenig.

»Wohin gehen Sie jetzt?« fragte ihn Dubowa, als sie auf die Straße
hinaustraten.

Draußen war es nicht viel heller als in den Zimmern, obgleich am Himmel
schon die Sterne aufleuchteten.

»Schawrow und ich gehen zu Ratowa,« fuhr sie selber fort. »Und Sie
begleiten Sina?«

»Mit Vergnügen,« gab Jurii aufrichtig zur Antwort.

So trennten sie sich.

Den ganzen Weg bis zu der Wohnung Karssawinas, die sie mit Dubowa
gemeinsam in einem kleinen Häuschen gemietet hatte, sprachen sie über
den Eindruck, den die Vorlesung in ihnen hervorgerufen hatte, und Jurii
gewann mehr und mehr die Ueberzeugung, daß von ihm etwas Wunderschönes
und sehr Wichtiges geleistet worden war.

An der Pforte sagte Karssawina: »Kommen Sie zu uns herein!«

»Das kann ich!« Jurii willigte heiter ein. Karssawina öffnete die Tür
und sie traten in einen kleinen, grasbewachsenen Hof, hinter dem der
Garten in dichtem Schwarz auftauchte.

»Gehen Sie in den Garten,« sagte Karssawina lachend. »Zwar möchte ich
Sie in unsere Wohnung einladen, aber ich fürchte, -- wissen Sie, ich war
seit heute morgen nicht zu Hause und da ist es unsicher, ob bei uns zur
Genüge aufgeräumt ist.«

Sie lief allein in das Haus, und Jurii schlenderte langsam in den
duftigen grünen Garten hinüber. Er ging nicht weit, sondern blieb am
Anfang des Pfades stehen, starrte erst zwecklos auf den Boden, drehte
sich dann plötzlich um und sah mit brennendem Verlangen in die offenen,
dunklen Fenster des Hauses. Ihm schien, daß sich dort ein entzückendes
Geheimnis abspielen müsse.

Fast bewegungslos war Karssawina auf die Vortreppe hinausgetreten. Jurii
erkannte sie kaum. Sie hatte ihr schwarzes Kleid abgelegt und eine
dünne, kleinrussische Bluse, mit tiefem Ausschnitt und kurzen Aermeln,
dazu ein leichter, blauer Kleiderrock bedeckten, von der Luft durchweht,
die prächtigen Formen ihres Körpers.

»Hier bin ich!« sagte sie; ein verlegenes Lächeln überzog aus einem
Grunde, der ihnen beiden unverständlich war, ihr Gesicht.

»Ja, ich sehe,« erwiderte Jurii, und jetzt begriff auch sie den
bedeutsamen Ausdruck, der in den wenigen Worten lag.

Sie lächelte wieder und wandte sich ein wenig zurück. Beide schritten
den Pfad zwischen den grünen, niedrigen Fliederbüschen und Rasenhecken
entlang. Die Bäume, die zerstreut standen, waren noch klein, meistens
Kirschen mit saftigen, jungen Blättern; sie strömten einen starken,
herben Geruch aus.

Hinten an den Garten stieß eine Wiese, reich mit Blumen bedeckt, die
hohes ungemähtes Gras trug.

Sie ließen sich auf einem halbeingebrochenen Zaun nieder und schauten
bedächtig auf die Wiese, die durchsichtige, vergehende Abendröte. Jurii
zog einen biegsamen Fliederzweig zu sich herab; zarte Tautröpfchen
glitten dabei auf ihr Haar und setzten sich dort glitzernd fest.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen etwas vorsinge,« sagte Karssawina.

»Natürlich möchte ich das!«

Karssawina reckte, wie auch damals auf dem Fluß, ihre Brust, die
deutlich unter dem zarten Stoff hervortrat, und begann zu singen.

Der schöne Stern der Liebe -- -- -- -- --

Ihre Stimme klang leicht und rein, aber voller Leidenschaft, durch die
abendliche Luft.

Jurii saß still und wagte kaum zu atmen; er schaute auf sie, ohne die
Augen von ihr einen Augenblick abzuwenden.

Sie fühlte seinen Blick, schloß ihre Augen, dehnte die Brust noch höher;
ihr Gesang wurde immer schöner und kräftiger. Es schien, daß alles
einhielte und lausche. Und Jurii kam die scheinbare, geheimnisvolle und
gespannte Stille in den Sinn, die plötzlich eintritt, sobald eine
Nachtigall zu schlagen anhebt.

Als sie mit einem hohen, silbernen Ton abbrach, wurde alles noch
stiller. Die Abendröte war vollends erloschen, und der Himmel
verdunkelte mehr und mehr.

Kaum sichtbar, kaum hörbar begannen sich die Blätter zu bewegen, das
Gras zu schwanken, und durch die Lüfte schwebend, zog ein zarter und
duftiger Laut, wie ein Seufzer, von der Wiese herüber und zerrann im
Garten.

Karssawina wandte sich mit Augen, die im Dunkel blitzten, zu Jurii:

»Warum schweigen Sie?«

»Zu schön ist es hier.« Jurii flüsterte es leise und zog wieder an dem
tautriefenden Zweig.

»Ja, sehr schön,« rief sie träumerisch, »es ist überhaupt schön, auf der
Welt zu sein,« fügte sie, nach kurzem Schweigen, hinzu.

In Jurii stieg ein leidiges Gefühl empor, nahm aber keine greifbaren
Formen an und verschwand sofort wieder. Einmal ertönten plötzlich hinter
der Wiese zwei schrille Pfiffe, doch gleich fiel alles wieder in die
zitternde Ruhe zurück.

»Gefällt Ihnen Schawrow?« fragte unerwartet Karssawina und lachte selbst
über das Plötzliche ihrer Frage.

In Juriis Brust regte sich eine eifersüchtige Stimmung, doch er zwang
sich selbst zu einer ernsten Antwort.

»Er ist ein guter Bursche. Mit welchem Enthusiasmus gibt er sich seiner
Ueberzeugung hin.«

Jurii schwieg. Auf der Wiese erhob sich ein leichter, weißlicher Nebel,
und selbst das Gras nahm unter dem Tau einen weißen Schimmer an.

»Es wird feucht,« sagte Karssawina, sich schnell erhebend. Unwillkürlich
blickte Jurii auf ihre runden weichen Schultern; er wurde verlegen. Sie
fing seinen Blick auf und geriet ebenfalls in Verwirrung, obgleich ihr
angenehm und froh zumute war.

»Gehen wir!« Und sie schritten mit innerem Bedauern auf dem schmalen
Pfad zurück, hin und wieder streiften sie sich mit den Körpern.

Der Garten blieb leer und schwarz hinter ihnen, und als Jurii sich
umsah, setzte sich der Gedanke in ihm fest, daß dort jetzt ein ganz
neues Leben erwachen müsse; -- allen verborgen, allen ein Geheimnis.
Zwischen den niedrigen Bäumen, über dem taubedeckten Rasen werden
Schatten hingleiten. Die Dämmerung wird sich verdichten und die Stille
muß beginnen, mit matter Stimme leise Worte zu murmeln.

Er erzählte ihr die Phantasie. Das Mädchen schaute sich um, blickte
lange in den Garten mit Augen, die nachdenklich und tief geworden waren.

Und Jurii dachte: Wenn sie plötzlich die Kleider von sich würfe und in
fröhlicher, glücklicher Nacktheit hinein in das grüne Dickicht liefe,
dann wäre das gar nicht sonderbar, -- nur wundervoll und natürlich. Und
es würde das grüne Leben des Gartens nicht stören, sondern ergänzen,
ausfüllen und erhöhen.

Jurii verlangte es, ihr auch diesen Gedanken mitzuteilen, er wagte es
aber nicht und sprach wieder von verschiedenen Referaten und der
allgemeinen Volksbewegung. Das Gespräch stockte bald und versiegte, als
ob sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Nächste gewesen wäre. So
gingen sie lächelnd bis zur Pforte und streiften mit ihren Schultern die
nassen, triefenden Büsche. Ihnen schien alles ins Schweigen zu
versinken, ebenso nachdenklich und im gleichen Glück wie sie selbst.

Im Hofe war es wie vorher still und leer. Nur das weiße Häuschen sah mit
seinen offenen Fenstern schwarz zu ihnen herüber. Doch die Pforte nach
der Straße zu stand offen, und aus dem Zimmer hörte man Schritte und
Poltern, als würde das Schubfach einer Kommode mit Gewalt aufgerissen.

»Ah, Ola ist gekommen,« rief Karssawina.

»Sina, bist du da,« fragte Dubowa vom Zimmer her. Ihrer Stimme merkten
beide sogleich an, daß etwas Schlimmes vorgefallen war. Dubowa trat auf
die Treppe hinaus, blaß und fassungslos. »Wo steckst du? Ich suchte
dich, Semionow stirbt!« rief sie keuchend und sich überstürzend.

»Was,« fragte Karssawina entsetzt und lief auf sie zu.

»Ja, er stirbt. Er hat einen Blutsturz gehabt. Anatoli Pawlowitsch
meint, daß es zu Ende geht. Wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Und
wie eigentümlich und unerwartet. Wir saßen bei Ratows und tranken Tee.
Er war so lustig, stritt sich mit Nowikow herum, und dann hustete er
plötzlich, stand auf, schwankte, und Blut stürzte, stürzte -- so --
einfach -- direkt aufs Tischtuch, -- in den Teller mit Eingemachtem
hinein. Dicht, schwarz -- -- --«

»Und wie? Er -- weiß er ...,« fragte mit brennender Neugierde Jurii, dem
in diesem Augenblick die Mondnacht, die schwarzen Schatten, und die
aufgeregte, traurige Schwäche jener Stimme einfiel: -- -- -- Und Sie
werden noch leben, werden an meinem Grabe vorbeigehen, irgend eines
Bedürfnisses wegen stehen bleiben und ich -- -- -- --

»Er scheint es zu wissen,« unterbrach Dubowa, mit nervösem Zucken ihrer
Arme, seine Gedanken. »Er sah uns alle an und fragte: >Was bedeutet das?
...< Und dann bebte er am ganzen Körper und sagte noch: >Schon? ...<
Ach, wie abscheulich und furchtbar das ist.«

Alle schwiegen. Nun wurde es ganz still und trotzdem die Luft ebenso
durchsichtig und klar wie früher war, kam es ihnen vor, als wäre die
ganze Welt plötzlich mit einer dunklen Decke überzogen worden.

»Eine entsetzliche Sache -- der Tod,« sagte Jurii und erblaßte.

Dubowa seufzte und senkte die Blicke zu Boden, Karssawina bebte das
Kinn; sie lächelte schuldbewußt und bedauernswert. Sie konnte das
niederdrückende Gefühl der anderen nicht ertragen, weil ihr ganzes Wesen
von Leben erfüllt war. Es ließ nicht zu, daß sie sich den Tod
vergegenwärtigte. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß jetzt, wo sie ein
so prächtiger Sommerabend umgab und alles in ihr voll Glück und Freuden
schwankte, ein Mensch leiden und sterben sollte.

Ihre Empfindungen waren nur natürlich; aber ihr schien, daß sie schlecht
seien. Sie schämte sich ihrer; unbewußt bemühte sie sich, sie zu
unterdrücken und an ihrer Statt bessere hervorzurufen. Mehr als Jurii
und Dubowa drückte sie deshalb jetzt in ihrer Frage Teilnahme und
Schrecken aus:

»Ach der Arme, wie geht es ihm?« Sie wollte sich noch weiter erkundigen:
... wird er bald sterben; aber sie stockte bei diesem Wort und richtete
an Dubowa, während sie sich an sie klammerte, leere Fragen ohne Sinn und
Nutzen ...

»Anatoli Pawlowitsch meinte, daß es mit ihm heute Nacht oder morgen früh
zu Ende gehen wird,« entgegnete diese dumpf.

Karssawina sprach scheu und leise: »Wollen wir zu ihm gehen? ... Oder
vielleicht nicht? Ich weiß garnicht ...«

Und vor allen tauchte plötzlich die gleiche Frage auf: -- -- -- Darf man
dorthin gehen und zusehen, wie dieser Semionow stirbt, und würde es gut
oder schlecht sein ...

Jurii zuckte unentschlossen die Achseln, sagte aber schließlich: »Gehen
wir wirklich hin. Wir werden vielleicht nicht eintreten dürfen, aber
möglicherweise ...«

»Vielleicht will er sogar jemanden sehen.« Dubowa willigte erleichtert
ein und auch Karssawina sagte entschlossen: »So gehen wir.«

»Schawrow und Nowikow sind dort,« fügte Dubowa wie zur Rechtfertigung
hinzu.

Karssawina lief schnell ins Haus, um ihr Jackett zu holen, dann
schritten alle drei düster und traurig durch die Stadt nach dem grauen,
schlecht abgeputzten, dreistöckigen Gebäude, in dem sich das Krankenhaus
befand und wo Semionow jetzt sterben mußte.

In den Korridoren mit niedrigen, hallenden Decken war es düster; es roch
scharf nach einem Gemisch von Karbol und Jodoform.

Als sie an dem Irrenabteil vorbeikamen, vernahmen sie eine sonderbar
gespannte Stimme schnell und böse sprechen; als dann niemand zu sehen
war, überlief sie eine bange Empfindung. Erschrocken sahen sie nach dem
kleinen quadratischen Fensterchen hin. Doch gleich darauf begegnete
ihnen im Korridor ein alter Bauer mit weißem Vollbart, der in seiner
Dichtigkeit einem gewebten Brusttuch ähnlich sah, und einer großen
weißen Schürze; höflich scharrend zog er seine schweren Füße an.

»Wohin wünschen Sie?«

»Hier wurde ein Student hergebracht, Semionow. Heute!« sagte Dubowa.

»Auf der sechsten Station. Bitte, oben! --«

Man hörte, wie er fortgehend laut auf den Boden spuckte und wiederum mit
den Füßen scharrte.

Oben war es heller und sauberer, und die Decken waren ungewölbt. Die Tür
des Kabinetts, an dem ein Schild mit der Aufschrift: Diensttuender Arzt!
angeschlagen war, stand offen. Dort brannte die Lampe; jemand klirrte
mit Glasflaschen.

Jurii blickte hinein und rief etwas. Das Klirren der Fläschchen hörte
auf und Rjäsanzew kam heraus, frisch und heiter, wie immer, offenbar an
die Umgebung, die die Anderen bedrückte, gewöhnt.

»Ah! Heute habe ich Dienst! Guten Abend, meine Herrschaften.« Aber
sogleich zog er die Augenbrauen in die Höhe und fuhr mit völlig
veränderter, trauriger und bedeutungsvoller Stimme fort:

»Ich glaube, er ist schon ohne Bewußtsein. Gehen wir zu ihm. Dort ist
Nowikow und die anderen.« Und während sie einer nach dem anderen den
übermäßig sauberen Korridor an großen weißen Türen mit schwarzen
Nummerschildern vorbeigingen, sprach Rjäsanzew leise weiter:

»Man hat schon nach dem Geistlichen geschickt. Es ist ganz erstaunlich,
wie schnell es ihn klein gekriegt hat. Ich habe mich selbst gewundert.
Dazu hat er sich in der letzten Zeit in einem fort erkältet, und das war
in seiner Lage gewagt. So, hier liegt er.«

Rjäsanzew öffnete eine hohe weiße Tür und trat hinein. Die anderen
drängten sich in den Türrahmen und stießen sich gegenseitig an, als sie
hinter ihm hergingen.

Die Station war groß und sauber. Vier Betten waren leer und sorgfältig
mit rauhen, grünen Decken, durch die gerade weiße Falten liefen,
zugedeckt. Sie erinnerten an Särge. Auf dem einen saß ein kleiner,
zusammengeschrumpfter Greis im Bauernkaftan, der sich erschrocken nach
den Eingetretenen wie auch nach dem sechsten Bett umsah, wo unter einer
ebenso harten Decke Semionow lag. Neben ihm hockte Nowikow
vornübergebeugt auf dem Stuhl; am Fenster standen Iwanow und Schawrow.
Alle fanden es sonderbar und unpassend, daß sie sich in Gegenwart des
sterbenden Semionow begrüßen mußten und sich die Hände drückten. Aber
merkwürdigerweise schien es ihnen ebenso unrichtig, es zu unterlassen,
als würden sie dadurch die Nähe des Todes besonders betonen.

Daraus ergab sich eine allgemeine Konfusion; einige von ihnen grüßten
sich; andere nicht. Jeder blieb dort stehen, wo er gerade stand, und
blickte mit scheuer und banger Neugierde auf Semionow.

Semionow atmete schwer und selten. Er war garnicht mehr jenem Semionow
ähnlich, der ihnen allen bekannt war, sah überhaupt kaum noch einem
Lebenden ähnlich. Obgleich ihm dieselben Gesichtszüge wie im Leben,
dieselben Glieder, wie allen anderen Menschen, geblieben waren, hatten
sie doch den Eindruck, daß sich seine Mienen irgendwie furchtbar und
unverrückbar verändert hätten. Das, was die Körper Anderer belebt und so
selbstverständlich bewegt, schien für ihn nicht mehr vorhanden zu sein.
Irgendwo in der Tiefe seines grauenhaft regungslosen Körpers vollzog
sich eilig ein entsetzenerregender Vorgang, als tastete er jetzt schon
nach einer neuen, unabwendbaren Arbeit.

Sein ganzes Leben hatte sich in die Tiefe verkrochen, um dieser Arbeit
mit einer intensiven, unerklärlichen Aufmerksamkeit lauschen zu können.

Die Lampe, welche inmitten der Zimmerdecke hing, beleuchtete mit greller
Schärfe seine unbeweglichen Gesichtszüge, die nichts mehr sahen, nichts
hörten.

Alle standen schweigend da und schauten, ohne die Augen abzuwenden, auf
ihn; sie hielten den Atem ein in der Furcht, den großartigen Prozeß zu
stören.

Und in dieser Stille war nur mit schrecklicher Deutlichkeit das
verkrüppelte, pfeifende Atmen Semionows vernehmbar.

Die Tür öffnete sich, und trippelnde Greisenschritte klappten auf dem
Boden.

Ein alter dicker Pope kam mit dem Küster, einem mageren und schwarzen
Menschen; hinter ihnen ging leicht und ruhig Ssanin.

Der Pope grüßte höflich die Aerzte und verneigte sich dann, ebenso
zuvorkommend vor den anderen. Sie antworteten ihm alle gleichzeitig,
übertrieben den Gruß eilig und überhöflich; dann fielen sie sofort
wieder in ihre Erstarrung zurück.

Ssanin setzte sich, ohne ein Wort, aufs Fensterbrett und sah neugierig
auf Semionow und die Anwesenden; man merkte ihm deutlich den Wunsch an,
das, was er und sie empfanden und dachten bis ins Einzelne zu begreifen.

Der Sterbende atmete in gleicher Weise fort und bewegte sich nicht.

»Kein Bewußtsein?« fragte weich der Geistliche, ohne sich aber mit
seiner Frage an einen von ihnen direkt zu wenden.

»Ja,« beeilte sich Nowikow zu antworten.

Der Pope ließ irgend einen unbestimmten Laut vernehmen; wendete sich
aber, als er nichts weiter hörte, um, stellte das Kreuz zurecht, legte
die Stola an und begann mit dünnem, süßlichem Tenor und vertieftem
Ausdruck herunter zu lesen, was zum Tode eines Menschen orthodoxen
Glaubens gehört. Vom Küster her ertönten heisere, unangenehme Baßlaute,
und diese beiden Stimmen, die nicht zusammen paßten, gingen fortgesetzt
auseinander und verklangen in ihrer Dissonanz seltsam und traurig an der
hohen Decke.

Als der scharfe, laute Klagegesang erscholl, sahen alle mit
unwillkürlichem Schrecken auf das Gesicht des Sterbenden. Nowikow, der
näher als die anderen stand, fiel es auf, daß Semionows Lider ein wenig
erzitterten und daß sich auch seine blicklosen Augen kaum merklich nach
der Seite wandten, woher die Stimmen ertönten. Aber für die anderen
blieb Semionow genau so sonderbar unbeweglich, wie vorher.

Karssawina weinte gleich bei dem ersten Laut still und klagend vor sich
hin, ohne die Tränen, die über ihr junges schönes Gesicht rollten,
abzutrocknen. Alle blickten hoch, und auch Dubowa begann zu weinen;
selbst die Männer fühlten Tränen in ihre Augen steigen und bissen die
Zähne zusammen, um sie zurückzuhalten. Immer, wenn sich der Gesang der
Priester verstärkte, weinten die Mädchen heftiger. Dann runzelte Ssanin
jedesmal bei dem Gedanken die Stirn, wie unerträglich dieser Gesang, der
auch auf gesunde Menschen, die dem Tode fernstanden, schwer einwirkte,
erst für Semionow sein müßte, wenn er ihn höre.

»Machen Sie es doch leiser ab,« sagte er zornig zum Pfarrer. Dieser
neigte erst liebenswürdig das Ohr, aber sobald er die Worte verstanden
hatte, zog er die Brauen zusammen und sang noch lauter. Der Küster
blickte sich strenge nach Ssanin um und auch die anderen sahen sich
erschrocken an, als ob er eine Unanständigkeit gesagt hätte.

Ssanin winkte die stummen Vorwürfe mit einer verdrießlichen Handbewegung
ab und schwieg still.

Als die Zeremonie beendet war und der Pfarrer das Kreuz wieder in die
Stola gewickelt hatte, wurde es noch schwüler. Semionow lag unbeweglich
wie vorher.

Und plötzlich begann sich in ihnen allen ein entsetzliches Gefühl, das
keiner überwinden konnte, zu regen: Sie wünschten, daß dieser ganze
Vorgang endlich zu Ende gehe und Semionow schneller sterbe. Trotzdem
sich dieses Gefühl immer deutlicher in ihnen festsetzte, gaben sie sich
voll Angst und Scham alle Mühe, es zu unterdrücken und zu verbergen; sie
wagten es nicht, sich einander anzublicken.

»Ginge es doch nur schneller,« meinte endlich Ssanin leise, »welche
schwere Geschichte.«

»Tja,« rief Iwanow.

Beide sprachen still zusammen; es war ganz klar, daß Semionow nichts
mehr hören konnte. Und doch schauten sich die Andern entrüstet nach
ihnen um.

Schawrow wollte etwas bemerken, aber gerade in diesem Augenblick brach
ein neuer, unsagbar kläglicher Laut hervor, der alle krankhaft erzittern
ließ.

Fffft -- seufzte Semionow und begann dann, als wenn er endlich das
gefunden hätte, was allein ihm nötig war, dieses langgezogene Stöhnen
ohne Einhalt zu wiederholen; nur manchmal wurde es durch ein heiseres,
beschwertes Atmen unterbrochen.

Zuerst hatten die Umstehenden nicht fassen können, um was es sich
handele, aber gleich darauf setzte das Weinen Dubowas und Karssawinas
wieder stärker ein, und auch Nowikow stürzten die Tränen aus dem Auge.

Der Pfarrer begann langsam und feierlich die Sündenvergebung zu lesen.
Auf seinem gedunsenen, rührseligen Gesicht drückte sich sentimentale
Teilnahme und erhabene Trauer aus. Einige Minuten vergingen. Plötzlich
wurde Semionow still.

»Ausgelebt,« murmelte der Pfarrer.

Aber im selben Augenblick versuchte Semionow langsam und mit Anstrengung
die zusammengeklebten Lippen zu bewegen; sein Gesicht verzerrte sich wie
zu einem Lächeln. Gleich darauf vernahmen Alle eine dumpfe, unglaublich
schwache und ergreifende Stimme, die sich von irgend woher aus der Tiefe
seiner Brust wie unter einem Sargdeckel hervor quetschen mußte. Und
diese Stimme sagte:

»Ein kompletter Lump.«

Die Augen Semionows waren dabei starr auf den Popen gerichtet. Dann
erzitterte er, riß die Augen mit dem Ausdruck eines wahnsinnigen
Schreckens noch weiter auf und reckte sich. Alle hörten seine Worte,
doch keiner bewegte sich. Allein von dem feucht gewordenen, geröteten
Antlitz des Popen schwand in einem Augenblick der Ausdruck erhabener
Trauer. Aengstlich sah er sich um, doch niemand beachtete ihn; allein
Ssanin lächelte ihm interessiert zu.

Semionow bewegte sich, doch kein Laut drang hervor, und nur die eine
Seite seines dünnen, hellen Schnurrbarts senkte sich. Dann streckte er
sich wieder; wurde dadurch noch ausgezogener und grauenhafter. Aber
plötzlich gab es keinen Laut, keine Bewegung mehr.

Jetzt weinte auch niemand. Das Nahen des Todes war furchtbarer und
trauriger als sein Erscheinen. Ja, es kam ihnen jetzt sogar sonderbar
vor, daß diese feierliche und qualvolle Geschichte so einfach und
schnell beendet war. Sie standen noch eine Weile um das Bett und
schauten in das scharf gewordene, zugespitzte Gesicht des Toten, als
wenn sie noch etwas erwarteten, und bemühten sich auch, Entsetzen und
Mitleid in sich hervorzurufen; mit gespannter Aufmerksamkeit sahen sie
zu, wie Nowikow ihm die Augen zudrückte und seine Hände auf der Brust
faltete. Dann begannen sie fortzugehen; zurückhaltend, mit den Füßen
scharrend. Im Korridor brannte die Lampe, und hier sah es so gleichmäßig
und gemütlich aus, daß alle befreit aufatmeten.

Voran schritt der Pope. Er machte häufige, kleine Schritte, und in dem
Wunsch, bei der Jugend einen guten Eindruck hervorzurufen oder irgend
eine Liebenswürdigkeit zu sagen, seufzte er tief auf und sprach weich:

»Es ist schade um den jungen Mann. Um so mehr, als er augenscheinlich
als ein unbereuter ... Aber, Gottes Barmherzigkeit, nicht wahr.«

»Ja, gewiß,« antwortete aus Höflichkeit Schawrow, der ihm am nächsten
ging.

»Hat er Familie?« fragte der Pope, zuversichtlich werdend.

»Ich weiß wirklich nicht,« gab Schawrow zur Antwort.

Bei dieser Antwort schauten sich alle an; sie fanden es selber sonderbar
und unschön, daß keiner von ihnen wußte, ob Semionow Familie habe und wo
sie lebe.

»Eine Schwester von ihm besucht irgendwo das Gymnasium,« bemerkte
Karssawina.

»So, nun adieu,« sagte der Pfarrer, indem er mit weichen Fingern seinen
Hut lüftete.

»Adieu,« antworteten alle gleichzeitig.

Als sie auf die Straße traten, atmeten sie erleichtert auf und blieben
stehen.

»Nun, wohin jetzt,« fragte Schawrow.

Zuerst bewegten sie sich unentschlossen auf dem Platz hin und her, dann
begannen sie sich, wie auf Verabredung, plötzlich zu verabschieden und
nach allen Seiten auseinander zu gehen.




                                   XI


»Wollen wir zu mir gehen, um des in Gott entschlafenen treuen Knechtes
zu gedenken,« sagte Iwanow feierlich zu Ssanin.

Ssanin nickte schweigend mit dem Kopf.

Im Vorbeigehen kauften sie in einem Laden Wodka und einige Kleinigkeiten
zum Essen und holten dann Jurii Swaroschitsch ein, der langsam mit
gesenktem Kopf den Boulevard entlangschritt.

Der Tod Semionows hatte auf Jurii trübe und niederdrückend eingewirkt;
es schien ihm ganz unmöglich, sich damit abzufinden.

-- -- -- Ja, das ist so; das alles ist sehr einfach. -- -- -- Jurii
versuchte in seinen Gedanken eine gerade und kurze Linie zu ziehen. Der
Mensch existiert nicht früher, als bis er geboren ist und niemandem
scheint das entsetzlich und unbegreiflich. Der Mensch wird nicht mehr
sein, wenn er gestorben ist, und das ist gerade so einfach und
verständlich. Der Tod als völliges Stehenbleiben einer Maschine, die die
Lebenskraft produzierte, ist vollkommen natürlich, und es gibt nichts
darin, was Entsetzen einflößen könnte. Es gab einen Jura, der einst aufs
Gymnasium ging, seinen Feinden in der Sexta die Nasen blutig schlug und
Distelköpfe mit Stöcken abhieb. Er besaß ein eigenes und wunderbar
kompliziertes Leben. Dann ist dieser Jura gestorben, und jetzt geht an
seiner Statt ein ganz anderer Mensch herum, der Student Swaroschitsch.
Könnte man diese beiden gegenüberstellen, so würde Jura nicht imstande
sein, Jurii wiederzuerkennen. Ja, er würde sogar gegen ihn einen
instinktiven Haß empfinden, wie gegen einen Menschen, der sein Repetitor
werden soll und ihm noch eine Menge Unannehmlichkeiten bereiten kann.
Folglich liegt zwischen ihnen eine breite Kluft, folglich ist der Junge
Jura wirklich gestorben ... ich selbst bin gestorben, und habe es bis
jetzt noch nicht einmal bemerkt.

Das war so einfach und natürlich geschehen. Und mit allem, was wir im
Tode verlieren, wird uns im Grunde nichts genommen. Im Leben gibt es auf
jeden Fall mehr unangenehme als freudige Ereignisse. Zwar wird es einem
schwer, auch die wenigen Freuden hingeben zu müssen. Aber die Befreiung
von der Last des Schlechten, die der Tod mit sich bringt, muß doch
zuletzt ein Plus ergeben.

»Ja, wirklich, das ist ja ganz einfach und gar nicht furchtbar,« sagte
Jurii leise mit einem erleichternden Seufzer vor sich hin, aber sofort
unterbrach wieder ein schneidendes Gefühl feinsten, seelischen Schmerzes
diesen Gedanken. Nein, daß eine volle, lebende, unendlich feine und
komplizierte Welt in einem Augenblick in ein Nichts verwandelt wird, in
einen Klotz, in ein gefrorenes Scheit, das ist nicht mehr die
Verwandlung des Knaben Jura in Jurii Swaroschitsch, sondern das ist eine
bis zum Ekel abschreckende Widersinnigkeit und darum entsetzlich und
unbegreiflich.

Ein feiner, kalter Schweiß bedeckte die Stirn Juriis. Er mußte alle
Kräfte seines Hirns zusammennehmen, um sich den Zustand, den zu erleben
jedem Menschen unmöglich erscheint und den doch ein jeder erleben wird,
vorzustellen. So wie ihn eben Semionow erlebt hatte. Und der war auch
nicht vor Angst gestorben, dachte Jurii und lächelte über das Sonderbare
dieses Gedankens. Er verspottete sogar noch diesen Popen, den Gesang und
die Tränen.

Es schien, daß hier irgend ein Punkt verborgen sein mußte, der, wenn er
erst einmal begriffen war, auch alles andere erleuchten würde.

Aber zwischen seiner Seele und diesem unbekannten Punkt befand sich eine
dichte, undurchdringliche Mauer. Seine Gedanken glitten über eine
ungreifbar glatte Fläche und in dem Augenblick, als er glaubte, der
Lösung des Rätsels nahe zu sein, befanden sie sich wieder unten auf
demselben Platz. Und nach welcher Seite er auch das Netz der feinsten
Gedanken und Vorstellungen auswarf, er fing nur immer dieselben platten
und bis zur Schmerzhaftigkeit überdrüssigen Worte: Entsetzlich und
unbegreiflich.

Dieses Spiel quälte und schwächte ihn seelisch und körperlich. Bis ins
Herz stieg die wehe Trübsal, die Gedanken wurden farblos, der Kopf
begann zu schmerzen und ihm kam der Wunsch, sich jetzt hier auf dem
Boulevard niederzulegen, und alles, alles beiseite zu schieben, --
selbst die Tatsache des Lebens.

Aber wie konnte Semionow lachen, da er wußte, daß nach einigen
Augenblicken das Ende kommt? Was war er? Ein Held! Nein, das hatte mit
Heldentum nichts zu tun. Es bedeutete einfach: Der Tod ist nicht so
schrecklich, als ich denke.

In diesem Augenblick rief ihn Iwanow an:

»Ach, Sie sind es?« Jurii fuhr mit dem ganzen Körper zusammen.

»Ja, und des Sterbens des soeben dahingeschiedenen Knecht Gottes
gedenkend,« antwortete fröhlich und gerötet Iwanow.

»Wollen Sie mit uns gehen? Warum treiben Sie sich immer allein herum?«

Jurii war es so ängstlich und traurig zumute, daß ihm Ssanin und Iwanow
nicht so antipathisch wie sonst erschienen.

»Schön, wollen wir gehen!« -- Doch kaum hatte er eingewilligt, als er
sich seiner Ueberlegenheit erinnerte und sich sagte: Nun, was werde ich
mit ihnen anfangen. Wodka saufen und Gemeinheiten reden. Er wollte sich
schon zwingen, die Einladung doch noch abzulehnen, aber sein ganzes
Wesen widerstrebte der Einsamkeit und so ging er mit ihnen mit.

Iwanow und Ssanin schwiegen; sie gingen ohne ein Wort bis zur Wohnung
Iwanows. Es war schon tiefe, nächtliche Dunkelheit und nur auf einer
Bank an der Pforte spukte die Figur eines Menschen, der einen dicken
gekrümmten Knüppel in der Hand trug, herum.

»Ah, Onkel? Pjotr Iliitsch?« rief laut Iwanow.

»Ich!« rollte es im tiefsten Ton einer menschlichen Stimme zurück;
kraftvoll und männlich schallte es durch die Luft.

Jurii erinnerte sich, daß der Onkel Iwanows ein dem konsequenten Trunk
ergebener Sänger des Domchors war.

Er hatte einen grauen Schnurrbart, wie ein Soldat Nikolai des Ersten und
sein abgetragenes Jackett strömte einen häßlichen Geruch aus.

»Bububu,« -- klang es wie ein dumpfer Stoß gegen ein leeres Faß von ihm
her, als ihn Iwanow mit Jurii bekannt machte. Jurii reichte ihm
eingeschreckt die Hand und wußte nicht, was er sprechen und wie er sich
ihm gegenüber benehmen sollte. Doch im Augenblick fiel ihm ein, daß ja
für Jurii Swaroschitsch alle Menschen gleich sein müßten, und so ging er
neben dem alten Sänger einher, wobei er darauf achtete, ihn bei jeder
Gelegenheit höflich voranschreiten zu lassen. Iwanow wohnte in einem
Zimmer, das einer Rumpelkammer mehr als einer menschlichen Wohnstätte
ähnelte, so viel Plunder, Staub und Unordnung war da. Doch als ihr Wirt
die Lampe ansteckte, sah Jurii, daß alle Wände mit Gravüren von
Wasnitzow beklebt waren und die Haufen Plunder entpuppten sich als
Bücherstöße.

Jurii fühlte sich immer noch etwas peinlich berührt, und um es zu
verbergen, begann er aufmerksam die Bilder zu betrachten.

»Lieben Sie auch Wasnitzow?« fragte Iwanow, wartete aber nicht auf die
Antwort, sondern lief fort, um das Geschirr zu holen. Ssanin erzählte
Pjotr Iliitsch, daß Semionow gestorben sei.

»Mög' ihm das Himmelreich beschieden sein,« so ertönte es wieder wie aus
einem Bierfaß zurück. Und nach kurzem Schweigen fügte Pjotr Iliitsch
hinzu: »Nun gut, so ist also alles vollbracht.«

Jurii sah ihn nachdenklich an und empfand mit einemmal Sympathie für den
Alten. Iwanow kam zurück, brachte Brot, saure Gurken und Weingläser. Er
stellte alles auf dem Tisch zurecht, der mit Zeitungspapier bedeckt war,
und mit einem kurzen Schlag der Handfläche gegen die Flaschenböden trieb
er die Pfropfen hinaus, ohne einen Tropfen zu verschütten.

»Das ist geschickt!« lobte Pjotr Iliitsch.

»Man merkt es doch gleich, wenn ein Mensch sein Handwerk versteht,«
scherzte Iwanow selbstgefällig und goß die grünlich-weiße Flüssigkeit in
die Gläschen ein.

»Nun, meine Herrschaften,« er nahm sein Glas in die Hand und erhöhte
seine Stimme, -- »auf die Ruhe der Seele und alles sonstige.«

Man griff zum Essen und trank bald mehr und mehr. Es wurde nur wenig
gesprochen. Zumeist tranken sie.

In dem kleinen Zimmer wurde es bald heiß und dumpf. Pjotr Iliitsch
zündete eine Zigarette an und überschwemmte alles mit blauen Streifen
schlechten Tabaksqualmes. Von dem Wodka, dem Rauch und der Hitze begann
Jurii der Kopf zu schwindeln.

Er erinnerte sich wieder an Semionow: »Eine dumme Geschichte ist der
Tod!«

»Warum denn?« fragte Pjotr Iliitsch, »der Tod, -- oho -- aber im
Gegenteil, er -- er ist ja etwas durchaus Notwendiges. Der Tod, -- und
wenn man ewig leben sollte. Oho! -- Nehmen Sie sich in acht, -- -- so zu
sprechen. Ewiges Leben -- was ist das? ...«

Jurii dachte plötzlich, daß falls er ewig leben sollte ...

Vor ihm breitete sich ein unendlicher grauer Streifen aus, der sich
qualvoll und ziellos im Leeren aufrollte, als wenn er von einer Walze
auf die andere herübergezogen würde. Jede Vorstellung von Farben und
Lauten, von Tiefe und Fülle der Erlebnisse verwischte sich und verblaßte
wieder, zerrann zu einer grauen Masse, die ohne Bett und Strömung
dahinfloß. Das war nicht mehr Leben, das war wieder Tod. Jurii wurde
geradezu schreckhaft ängstlich.

»Ja, gewiß!« murmelte er.

»Auf Sie scheint der Tod einen großen Eindruck gemacht zu haben,«
bemerkte Iwanow.

»An wem könnte er so vorübergehen?« fragte Jurii statt einer Antwort.

Iwanow nickte unbestimmt mit dem Kopf und fing an, Pjotr Iliitsch von
den letzten Augenblicken Semionows zu erzählen.

Im Zimmer wurde es allmählich unerträglich schwül. Jurii beobachtete
mechanisch, wie der Wodka, im Schein der Lampe glänzend, in die dünnen,
roten Lippen Iwanows hineinfloß und fühlte, wie alles um ihn langsam zu
drehen und zu zerrinnen begann. »Aaaaah --,« sang es in seinen Ohren mit
dünner, geheimnisvoll trauriger Stimme.

»Nein, der Tod ist eine furchtbare Sache,« wiederholte er, ohne es
selbst zu bemerken, als müßte er dieser geheimnisvollen Stimme eine
Antwort geben.

»Sie sind zu nervös,« meinte Iwanow mit noch lässigerer Herablassung zu
ihm.

»Und können Sie das nicht empfinden?«

»Ich -- nein, nicht! Zu sterben habe ich gewiß keine Lust. Das ist eine
dumme Geschichte und es ist ganz ohne Vergleich vergnüglicher zu leben
... Aber wenn es denn einmal zum Sterben kommt, gut, ich mache mit. Ich
sterbe innerhalb einer Stunde und ohne jeden Apparat.«

»Du stirbst nicht und weißt deshalb nichts davon,« sagte Ssanin
lächelnd.

»Das stimmt auch,« Iwanow lachte auf.

»Alles das haben wir schon gehört,« Jurii sprach plötzlich mit
trübseliger Erbitterung. »Reden kann man vieles, aber Tod bleibt Tod. Er
ist an sich entsetzlich. Und einem Menschen, der sich -- -- -- nun, der
sich von seinem Leben Rechenschaft gibt, dem muß dieses im Keim
tödliche, gewaltsame Ende jede Lebenslust ertöten.«

»Was hätte das für einen Sinn? ...«

»Auch das haben wir schon gehört,« unterbrach ihn spöttisch Iwanow, der
plötzlich ebenfalls erbittert wurde. »Ihr meint alle, daß nur ihr ...«

»Welchen Sinn hat es?« fragte nachdenklich Pjotr Iliitsch.

»Aber gar keinen,« brüllte Iwanow mit derselben unbegreiflichen
Erbitterung.

»Nein, das ist unmöglich,« erwiderte Jurii. »Alles um uns ist zu weise.«

»Na, ich denke, es gibt nichts Gutes,« meinte Ssanin.

»Und die Natur?«

»Was? die Natur?« Ssanin schwenkte mit einem schwachen Lächeln abwehrend
mit der Hand. »Es ist ja Brauch, zu sagen, daß die Natur vollkommen ist
... In Wirklichkeit ist sie genau so schlimm, wie der Mensch. Jeder von
uns wird sich ohne jede besondere Anstrengung der Phantasie eine Welt
vorstellen können, die hundertmal besser wäre, als die heutige. Warum
sollte es nicht ewige Wärme und Licht und einen ununterbrochenen Garten
geben, ewig grün und freudig.

Und der Sinn? Einen Sinn gibt es natürlich. Der kann nicht fehlen.
Einfach darum, das Ziel muß außerhalb unseres Lebens liegen, in den
Gründen des Universums selbst. Das ist begreiflich. Wir sind nicht der
Anfang, also können wir auch nicht das Ende sein. Uns ist nur ganz
allein eine Aushilfsrolle bestimmt, eine passive Rolle. Durch die
Tatsache, daß wir leben, erfüllen wir schon unseren Zweck. Unser Leben
ist nötig und folglich ist auch der Tod nötig.«

»Für wen? ...«

»Woher soll ich denn das wissen,« lachte Ssanin. »Und was geht es mich
denn im Grunde an. Mein Leben, das sind meine Empfindungen; die
angenehmen und unangenehmen. Und was hinter ihren Grenzen liegt, -- ich
spucke drauf. Welche Hypothese wir auch hinstellen mögen; es bleibt
immer nur Hypothese und auf dieser Grundlage sein Leben aufzubauen, das
wäre Dummheit. Wem es Bedürfnis ist, der mag sich dafür absorgen; ich
aber will leben.«

»So trinken wir aus diesem Anlaß aus,« schlug Iwan vor.

»Und glauben Sie an Gott?« fragte Pjotr Iliitsch, Ssanin seine
trübgewordenen Augen zuwendend. »Jetzt glaubt ja niemand mehr. Man
glaubt nicht einmal, daß man an Gott glauben darf.«

»O, an Gott glaube ich schon,« sagte Ssanin wieder lächelnd. »Der Glaube
an Gott steckt noch von der Kindheit her in mir und ich sehe keine
Notwendigkeit, ihn zu bekämpfen oder auch ihn zu stärken. So ist es am
besten. Gibt es einen Gott, so werde ich wahrhaft aufrichtig an ihn
glauben; gibt's keinen -- -- nun, um so besser für mich.«

»Aber auf der Grundlage des Glaubens oder Nichtglaubens baut sich ja das
ganze Leben auf,« bemerkte Jurii.

»Nein,« Ssanin machte eine abwehrende Kopfbewegung und seine Züge legten
sich in ein gleichgültig fröhliches Lächeln. »Ich brauche diese
Grundlage des Lebens nicht.«

»Welche haben Sie denn?« fragte müde Jurii. -- -- -- Ah, ich darf nicht
mehr trinken, dachte er traurig und strich mit seiner Hand über die mit
kaltem Schweiß bedeckte Stirn.

Vielleicht hatte Ssanin irgend etwas darauf geantwortet, vielleicht auch
nicht. -- Jurii hörte nichts mehr, ihm schwindelte der Kopf und für
einen Augenblick wurde ihm übel.

»... Ich glaube, daß ein Gott existiert. Aber dieser Glaube ist in mir
ganz abgesondert. Hat seine eigene Ecke,« sprach Ssanin weiter. »Doch
... mag er existieren oder nicht, ich kenne ihn nicht und weiß nicht,
was er von mir will. Woher sollte ich es auch wissen; selbst bei dem
heißesten Glauben. Gott ist Gott und kein Mensch, -- -- -- mit keinem
menschlichen Maß kann er gemessen werden. In seiner Schöpfung, soweit
wir es beobachten können, gibt es alles: Gut und Böse, Leben und Tod,
Schönheit und Häßlichkeit ... Alles. Und da jede Bestimmtheit oder Sinn
in ihr verschwindet und sich ein Chaos offenbart, so ist sein Sinn
folglich kein menschlicher, -- -- sein Gut und Böse ist kein
menschliches Gut und Böse. Unsere Definition Gottes wird immer eine
Götzenanbeterei sein und wir werden unseren Fetisch stets mit dem
Gesicht und den Kleidern ausstatten, die den lokalen klimatischen
Verhältnissen entsprechen. Unsinn.«

»So,« Iwanow räusperte sich stark, »richtig, sehr richtig!«

»Wofür denn aber eigentlich leben?« fragte Jurii und stieß sein Weinglas
mit Widerwillen von sich.

»Und wozu sollte man sterben? ...«

»Ich weiß nur eines,« antwortete Ssanin. »Ich lebe und will, daß das
Leben für mich ohne Unannehmlichkeiten sei. Deshalb muß man zunächst die
natürlichen Begierden befriedigen können. Sie sind alles. Sterben im
Menschen die Wünsche, so stirbt auch sein Leben, und wenn er in sich die
Wünsche ertötet, so tötet er sich selbst.«

»Aber die Wünsche könnten doch schlecht sein ...«

»Das ist schon möglich.«

»Und was denn?«

»Dasselbe!« antwortete Ssanin mit seiner zärtlichen Stimme, und schaute
Jurii mit hellen Augen, ohne zu blinzeln, ins Gesicht.

Iwanow zog die Augenbrauen an, sah mißtrauisch auf Ssanin und schwieg.
Auch Jurii sprach nicht mehr; aus irgend einem Grunde wurde es ihm
bänglich in diese hellen, klaren Augen zu sehen, und doch bemühte er
sich wieder, seinen Blick nicht zu senken.

Einige Minuten war es still; man hörte deutlich, wie sich ein
Nachtfalter, einsam und verzweifelt, an der Fensterscheibe zerschlug.
Pjotr Iliitsch schüttelte traurig den Kopf, während er sein betrunkenes
Gesicht auf eine Zeitung gesenkt hielt.

Ssanin lächelte immer noch.

Dieses beständige Lächeln reizte Jurii und zog ihn gleichzeitig an. --
-- -- Wie hell seine Augen sind, dachte er unbewußt.

Ssanin stand plötzlich auf, öffnete das Fenster und ließ den Falter
heraus. Wie ein großer weicher Flügelschlag rauschte eine Welle reiner
kühler Luft durch die Stube.

»Ja,« sagte Iwanow auf seine eigenen Gedanken eingehend, »es gibt
verschiedene Leute. Also darum, Rest weg.«

»Nein,« Jurii schüttelte den Kopf, »ich trinke nicht mehr.«

»Warum?«

»Ich trinke überhaupt wenig.«

Vom Wodka und von der Hitze hatte Jurii bereits Kopfschmerzen und
wünschte an die frische Luft zu kommen.

»Nun, ich gehe,« sagte er sich erhebend.

»Wohin? Trinken wir doch noch aus!«

»Nein! Ich muß wirklich fort,« er suchte zerstreut nach seiner Mütze.

»Na, auf Wiedersehen!«

Als Jurii die Tür schloß, hörte er, wie Ssanin Pjotr Iliitsch die
Antwort gab: »Ja, wenn ihr nicht wie Kinder sein werdet! Kinder
unterscheiden doch nicht Gut und Böse, sie sind nichts als aufrichtig.
Und darin lügt ihr ...«

Jurii drückte die Tür ins Schloß und ganz plötzlich wurde es still um
ihn.

Der Mond stand hoch, und strahlte in leichter Helligkeit hernieder. Die
Luft wehte auf ihn, vom Tau durchfeuchtet, frisch ein. Alles war wie aus
Mondenschein gewebt, war schön und nachdenklich. Als Jurii allein durch
die Straßen schritt, die von dem gelben Licht geglättet waren, berührte
ihn die Erinnerung eigentümlich, daß es irgendwo ein schweigsames,
schwarzes Zimmer gibt, wo auf einem kahlen Tische gelb und unbeweglich
der tote Semionow liegt.

Doch es war ihm nicht möglich, jene furchtbaren und schweren Gedanken
wieder in sich hervorzurufen, die seine Seele noch vor kurzem
niederdrückten, und die ganze Welt in einen schwarzen Nebel hüllten. Ihm
war nur still und traurig zumute und er wünschte mit seinen Blicken
unverwandt den fernen Mond festhalten zu können.

Als Jurii einen leeren Platz, der im Mondenlicht besonders weit und eben
erschien, überschritt, kam ihm wieder Ssanin in den Kopf.

-- -- -- Was ist das für Einer, fragte er sich und konnte lange nicht
ins Reine kommen.

Ihm war es unangenehm, daß da mit einem Mal ein Mensch aufgetaucht war,
der sich von ihm nicht in eine Formel fassen ließ; deshalb wünschte er
unbedingt, über ihn aburteilen zu können.

Ein Phraseur, dachte er mit häßlicher Freude. Einst posierte man mit
Lebensverachtung, mit höheren, unverstandenen Aphorismen und jetzt
erlangt die Pose der Bestialität ihre Geltung.

Jurii lenkte seine Gedanken von Ssanin ab und begann sich mit sich
selbst zu beschäftigen. Er überlegte, daß er sich niemals in Pose
stelle, sondern daß sein Leiden, wie jeder seiner Gedanken ganz
originell und keinem ähnlich sei. Das war angenehm, aber es fehlte ihm
noch etwas und so begann er sich wieder des verstorbenen Semionow zu
erinnern. Es machte ihn traurig, daß er den kranken Studenten niemals
wiedersehen würde; dieser Semionow, der ihm garnicht besonders gefallen
hatte, stand ihm mit einem Male nahe und wurde ihm teuer. Es rührte ihn
zu Tränen.

Jurii stellte sich den Studenten vor, wie er im Grabe liegt, mit
verfaultem Gesicht, mit einem Körper voller Würmer, die langsam und
ekelhaft in dem zerfallenden Brei, der von einer grünen und feuchten
Studentenuniform eingeschlossen wird, herumwimmeln.

Und vom Ekel durchrüttelt, erinnerte er sich der Worte des Toten.

-- -- -- Ich werde liegen und Sie werden hier vorbeigehen und an meinem
Grabe irgend eines Bedürfnisses wegen stehen bleiben ...

Auch das waren doch alles Menschen, dachte Jurii mit Entsetzen und
starrte auf den fetten Straßenstaub herunter. Ich gehe und trete auf
Gehirne, Herzen und Augen. Eh! -- -- -- er fühlte mit einem Mal eine
widrige Schwäche in den Knieen.

Ich werde auch sterben, werde es auch, -- und über mir wird man ebenso
hinweg schreiten und sich dieselben Gedanken machen, wie ich jetzt. Ja,
man muß leben, solange es noch nicht zu spät ist. Es ist schön zu leben,
aber nur so, daß kein Augenblick ungenützt vorübergeht.

Doch wie soll man das tun? -- --

Auf dem Platz war es leer und licht und über der ganzen Stadt schwebte
eine leuchtende, rätselhafte Mondenhelle.

   -- -- -- Und Bajans helle Saiten tönten,
       Kein Lied, das uns von ihm erzählt.

sang leise Jurii.

Langweilig, traurig, furchtbar, rief er laut, als wollte er gegen irgend
etwas seine Anklage richten. Doch er erschrak selbst über seine Stimme
und wendete sich um, ob ihn auch niemand gehört hatte.

-- -- -- Ich bin betrunken, dachte er.

Die Nacht war hell und schweigsam.




                                  XII


Karssawina und Dubowa waren irgendwohin auf Besuch gereist, und seitdem
verlief das Leben Jurii Swaroschitschs einförmig und ohne Interesse.

Sein Vater, Nikolai Jegorowitsch, war von häuslichen Angelegenheiten und
dem Klub so in Anspruch genommen, und Ljalja und Rjäsanzew wurden in so
offensichtlicher Weise von jeder Anwesenheit eines Dritten gestört, daß
sich Jurii in ihrer Gegenwart vollständig überflüssig fühlte.
Schließlich kam es dahin, daß er sehr spät schlafen ging, aber auch erst
gegen Mittag aufstand. Und die ganzen Tage lang, während er bald im
Garten, bald in seinem Zimmer saß, schwirrten ihm ununterbrochen
Gedanken durch den Kopf; er erwartete eine mächtige Welle von Energie,
durch die er etwas Ganzes in Angriff nehmen würde. Dieses »Ganze«
erhielt jeden Tag neue Gestalt. Einmal war es ein Bild, dann wieder eine
Folge von Artikeln, die, ohne daß es Jurii bewußt wurde, der ganzen Welt
beweisen mußten, welchen großen Fehler die Sozialdemokratie beging, als
sie Jurii Swaroschitsch nicht die führende Rolle in der Partei zuwies.
Manchmal auch wollte er Anschluß an das Volk und eine rege, innige
Tätigkeit in ihm finden -- immer aber war alles von Bedeutung und in
jedem Zuge grandios.

Doch die Tage gingen ebenso fort, wie sie kamen, und brachten nichts
außer Langeweile mit sich. Einige Mal besuchten ihn Nowikow und
Schawrow; auch Jurii selbst ging auf Vorträge und machte Besuche. Doch
alles blieb ihm innerlich fremd, zerstreute ihn nicht; es hatte keinen
Zusammenhang mit dem, was tief in ihm trauerte.

Eines Tages ging Jurii im Vorbeigehen zu Rjäsanzew mit hinein. Der Arzt
bewohnte eine große und saubere Wohnung; in den Zimmern gab es eine
Menge Gegenstände, die zur Zerstreuung eines gesunden und intelligenten
Menschen dienen. Turnapparate, Hanteln, Schläger, Angelgerätschaften,
Netze für Wachteln, Pfeifen und Zigarrenspitzen. Ueber allem lag die
Ausdünstung eines kräftigen, männlichen Körpers ausgebreitet.

Rjäsanzew trat ihm liebenswürdig und zutraulich entgegen, zeigte ihm
alle seine Schätze, lachte, erzählte eine Anekdote, bot zu rauchen und
zu trinken an, und forderte ihn schließlich auf, mit ihm auf die Jagd zu
gehen.

»Aber ich habe ja keine Büchse,« sagte Jurii.

»So nehmen Sie eine von mir. Ich habe acht Stück.«

Rjäsanzew sah in Jurii den Bruder Ljaljas; er wünschte mit ihm
befreundet zu werden und ihm zu gefallen. So brachte er selbst
bereitwillig seine Gewehre herbei, bat Jurii, sich eins auszuwählen,
nahm sie auseinander, erklärte ihren Mechanismus und schoß dann im Hof
nach der Scheibe, so daß schließlich auch in Jurii der Wunsch rege
wurde, ebenso freudig zu lachen und zu schießen wie er. Jetzt machte es
ihm sogar Vergnügen, Gewehr und Patronen gleich an sich nehmen zu
können.

»Also vorzüglich,« Rjäsanzew war aufrichtig erfreut. »Grade morgen
wollte ich auf den Entenstrich. Fahren wir zusammen, was?«

Erfreut willigte Jurii ein. Nachdem er nach Hause gekommen war, bastelte
er zwei Stunden lang am Gewehr herum, beschaute es gut, paßte sich den
Riemen über den Schultern zurecht, legte den Kolben an und zielte gegen
die Lampe; mit aller Sorgfalt schmierte er sich selbst die alten
Jagdstiefel.

Am andern Tag kam Rjäsanzew gegen Abend zu ihm, um ihn auf einem Begunki
-- einem leichten Wagen, zwischen dessen vier Rädern ein gepolstertes
Brett liegt, auf dem man rittlings sitzt -- abzuholen.

»Sind Sie fertig?« rief er heiter zu Jurii ins Fenster hinein.

Jurii, der sich schon Gewehr, Jagdtasche und Patronen aufgepackt hatte,
trat verlegen lächelnd, aus dem Hause; er verwickelte sich fortgesetzt
in den Jagdutensilien.

»Fertig, fertig!« sagte er.

Rjäsanzew war leicht und bequem angezogen und schaute mit einer gewissen
Verwunderung Juriis Ausrüstung an.

»So wird es Ihnen unbequem werden. Nehmen Sie vorläufig lieber alles
herunter. Wenn wir an Ort und Stelle sind, legen Sie es wieder an.«

Er half Jurii, die Ausrüstung wieder abzulegen und sie im Holzkasten des
Wagens unterzubringen. Dann fuhren sie im schnellen Trabe davon. Der Tag
ging zu Ende, doch noch war es heiß und staubig. Das Stuckern der Räder
schnellte das Sitzbrett des Wagens auf und nieder; -- Jurii, der das
Fahren in diesem kleinen Jagdwagen nicht gewohnt war, mußte sich am Sitz
anklammern. Rjäsanzew lachte und sprach ohne Aufhören, und Jurii blickte
mit vollem Vergnügen auf seinen starken Rücken, der von einem unter den
Achseln durchschwitzten Seidenrock dicht überspannt war; unwillkürlich
machte er es ihm im Lachen und Scherzen nach.

Als sie auf die Straße hinauskamen, und die dürren Feldgräser leicht
ihre Füße streiften, wurde es frischer und der Staub hielt sich am
Boden. An einem unendlich ebenen, mit Wassermelonen bestandenen
Gemüsefeld hielt Rjäsanzew das schweißbedeckte Pferd an und rief in
seinem vollen Bariton, indem er beide Hände hohl um den Mund legte,
anhaltend: »Kusma! Kusma!«

Zwerghaft kleine Menschen, die am anderen Ende des Gemüsefeldes kaum
sichtbar auftauchten, starrten eine Zeitlang unbeweglich auf die
Schreienden, bis sich schließlich einer von ihnen loslöste und langsam
zwischen den Furchen herüberschritt. Endlich ließ sich erkennen, daß es
ein großer Bauer war, mit langem Vollbart und mit herabhängenden
knochigen Armen. Er kam auf sie zu und sagte mit breitem Lächeln:

»Guten Tag, Anatoli Pawlowitsch, du hast es aber raus, -- das Schreien.«

»Guten Tag, Kusma, was machst du? Kann ich das Pferd bei dir
einstellen?«

»Kann bei mir stehen,« sagte ruhig und freundlich der Bauer, das Pferd
am Zügel greifend. »Soll wohl auf die Jagd gehen, nicht? Und wer werden
jener Herr sein?« fragte er zutunlich auf Jurii blickend.

»Der Sohn von Nikolai Jegorowitsch,« antwortete Rjäsanzew heiter.

»So? ... Das merkt sich doch gleich, daß der Herr unsrer Ludmilla
Nikolajewna ähnlich sind.«

»Ja?« Jurii berührte es aus irgend einem Grunde angenehm, daß dieser
alte, freundliche Bauer seine Schwester kannte und sie so einfach und
nett erwähnte.

»Nun, gehen wir also,« sagte Rjäsanzew, indem er unter dem Vordersitz
Gewehr und Tasche hervorholte und sich umlegte.

»Weidmannsheil,« rief ihnen Kusma nach und man hörte, wie er auf das
Pferd einsprach, während er es zu seiner Hütte führte.

Bis zum Sumpf hatten sie noch gegen einen Werst zu laufen, und die Sonne
war schon völlig im Untergehen, als der Boden saftiger und allmählich
von frischem Wiesengras, Rohr und niedrigem Weidengebüsch bedeckt wurde.
Wasser blinkte vor ihnen auf, es roch nach feuchter Luft. Die Dämmerung
senkte sich, immer dunkler werdend, nieder. Rjäsanzew hörte auf zu
rauchen, und wurde plötzlich ganz ernst, als trete er an ein wichtiges
und verantwortungsvolles Werk. Jurii ging von ihm nach rechts ab, und
wählte sich hinter dem Rohr ein trockeneres und zum Stehen geeignetes
Fleckchen. Grad vor ihm lag das Wasser, das in der hellen Abendröte rein
und tief aussah; hinter ihm schimmerte das andere Ufer herüber, doch
völlig zu einem schmalen, schwarzen Streifen zusammengezogen.

Fast im selben Augenblick tauchten Enten auf, und strichen zu zweien und
dreien, schwer mit den Flügeln schlagend an ihnen vorüber. Zuerst schoß
Rjäsanzew und erfolgreich. Ein von ihm getroffener Enterich stürzte,
sich in der Luft überschlagend, nieder und prallte irgendwo abseits auf,
wobei das Wasser hoch aufspritzte und die Rohrstengel mit Geräusch
durchschlagen wurden.

»Weidmannsheil,« schrie Rjäsanzew und lachte laut auf.

-- -- -- Im Grunde genommen ist er doch ein sehr guter Kerl, dachte
Jurii plötzlich.

Dann schoß er und ebenfalls mit Glück; doch diese von ihm getötete Ente
konnte er später nicht auffinden, trotzdem er sich die Hände an den
Rohrstengeln zerschnitt und bis an die Knie ins Wasser geriet. Von jetzt
ab schien ihm alles, was passierte, vergnüglich zu sein. Das Pulver
verbreitete in der durchsichtigen, kühlen Luft über dem See einen
eigenartig reizvollen Geruch und bei jedem Schuß leuchteten unter dem
hellen Geknatter die Feuerfunken zwischen dem dunkelgewordenen Grün auf.

Die getroffenen Enten überstürzten sich ebenfalls schön und zierlich am
Hintergrund des hellroten Himmels, bis die Abendröte zerrann und die
ersten funkelnden Sterne schwach hervortraten.

Jurii empfand einen ungewöhnlichen Zustrom von Kraft und Freude; er
glaubte, noch niemals etwas so Interessantes und Lebensvolles mitgemacht
zu haben. Doch schließlich flogen die Enten immer seltener auf und das
Zielen wurde in der dichten Dämmerung immer schwieriger.

»Ehoi!« rief Rjäsanzew, »Zeit nach Hause zu fahren.« Jurii tat es leid,
die Jagd abzubrechen, aber er schritt doch Rjäsanzew entgegen, ohne die
Wasserlachen zu seinen Füßen zu vermeiden; er platschte durch die
Pfützen und blieb im Rohrgestrüpp hängen. Mit glühenden Augen und freien
Atemzügen trafen sie zusammen.

»Nun, wie steht's?« fragte Rjäsanzew. »Hatten Sie Glück?«

»Und wie!« Jurii zeigte auf seine gefüllte Jagdtasche.

»Sie schießen ja besser als ich,« rief Rjäsanzew erfreut.

Jurii war dieses Lob angenehm, trotzdem er bisher geglaubt hatte, daß er
auf physische Kraft und Gewandtheit keinen Wert zu legen brauche. »I wo
denn besser,« sagte er selbstgefällig. »Einfach Glück, das ist alles.«

Es war schon tiefdunkel, als sie die Hütte Kusmas erreichten. Das Feld
lag in tiefer Schwärze und nur die nächsten Beete kleiner Wassermelonen
waren vom Feuer erhellt und warfen lange, flache Schatten.

Neben der Hütte schnaubte, nicht sichtbar, ein Pferd; ein kleines, aber
grelles, gewandt aus dürrem Steppengestrüpp hergerichtetes Feuer brannte
knallend; man hörte harte Bauernstimmen, Weiberlachen. Dazwischen
mischte sich eine heitere gleichmäßige Stimme, die Jurii bekannt vorkam.

»Aber da sitzt doch Ssanin,« meinte Rjäsanzew verwundert. »Wie ist der
denn hierher gekommen?«

Sie traten an das Feuer. Der weißbärtige Kusma, der inmitten des
Lichtkreises saß, hob seinen Kopf und winkte ihnen freundlich zu.

»Glück gehabt?« fragte er mit dumpfer Baßstimme hinter seinem
herunterhängenden Schnurrbart hervor.

Ssanin, der auf einem großen Kürbis hockte, hob ebenfalls den Kopf und
lächelte ihnen zu.

»Was hat Sie denn hierher verschlagen?« fragte Rjäsanzew.

»Ich und Kusma Prochorowitsch sind alte Freunde,« erklärte Ssanin, sein
Lachen etwas verstärkend.

Kusma zeigte vergnügt die gelben Wurzeln seiner abgenützten Zähne und
klopfte Ssanin fröhlich mit harten unbiegsamen Fingern auf das Knie.

»So, so,« sagte er, »setze dich hierher, Anatoli Pawlowitsch. Und Sie
auch Junker. Wie nennt man Sie denn?«

»Jurii Nikolajewitsch,« gab dieser mit fast zuvorkommendem Lächeln zur
Antwort. Er fühlte sich etwas deplaziert, aber dieser alte Bauer, mit
dem halb russischen, halb ukrainischen Dialekt, gefiel ihm ausnehmend
gut.

»Jurii Nikolajewitsch, gut! So, nun sind wir also Bekannte. Setze dich,
Jurii Nikolajewitsch.«

Jurii und Rjäsanzew ließen sich am Feuer nieder, nachdem sie sich zwei
schwere harte Kürbisse herangewälzt hatten.

»Nun zeigt doch, was ihr geschossen habt,« bat Kusma voll Interesse.

Ein Haufen Enten fiel aus den Jagdtaschen und bedeckten den Boden mit
Blut. Beim flackernden Feuerschein hatten sie ein sonderbares und
unangenehmes Aussehen. Das Blut war wie schwarz und die
zusammengekrampften Krallen schienen sich zu bewegen. Kusma befühlte
einen Enterich unter den Flügeln.

»Fett ist er,« sagte er billigend. »Du solltest mir doch ein Pärchen
hier lassen, Anatoli Pawlowitsch. Wozu brauchst du so viele?«

»Nehmen Sie die meinen alle,« schlug Jurii lebhaft vor, errötete aber
sofort über seinen Eifer.

»Wozu denn alle? Sieh welch ein guter Kerl,« lachte der Greis. »Und ich
möchte nur ein Pärchen, damit jeder was hat.«

Auch die anderen Bauern und Weiber kamen herbei, um die Beute zu sehen.
Aber als Jurii die Blicke vom Feuer weglenkte, konnte er nichts
unterscheiden. In der Dunkelheit schien bald das eine, bald wieder ein
anderes Gesicht, je nachdem es von dem Feuerschein getroffen wurde.

Ssanin blickte stirnrunzelnd auf die getöteten Vögel, rückte etwas
beiseite und stand rasch auf. Es wurde ihm peinlich, auf die toten Tiere
zu sehen, wie sie in Staub und Blut mit zerschmetterten Flügeln
herumlagen. Jurii verfolgte mit Neugierde das Leben um sich her, biß
gierig in die Schnitten der reinen saftigen Wassermelonen, die Kusma mit
einem Taschenmesser mit gelbem Horngriff absäbelte.

»Iß, Jurii Nikolajewitsch, die Wassermelone ist gut. Auch Ihre Schwester
Ludmilla Nikolajewna und den Herrn Papa kenne ich. Iß und sei gesund.«

Jurii gefiel hier alles. Die Ausdünstungen der Bauern, die dem Geruch
frischen Brotes gemischt mit dem von Schafpelzen ähnlich sind, der kecke
Glanz des Feuers und die runden Kürbisse, auf denen er saß, und daß man
Kusmas Gesicht nur sah, wenn er nach unten blickte, während es bis auf
die glänzenden Augen verschwand, sobald er den Kopf hoch richtete. Die
Finsternis schien dicht über den Köpfen zu hängen, so daß sich eine
heitere Freundlichkeit über den beleuchteten Fleck ausbreitete; man
mußte sie erst allmählich durchdringen, bis sich dann plötzlich ein
hoher, majestätisch-ruhiger, dunkler Himmel auftat, an dem sich kleine
Sterne zeigten. Doch hatte er während der ganzen Zeit, ohne daß es ihn
bedrückte, ein peinliches Gefühl; er wußte nicht, worüber er mit den
Bauern sprechen sollte. Die Anderen aber, sowohl Kusma wie Ssanin und
Rjäsanzew, unterhielten sich, ohne erst ein besonderes Thema zu wählen,
so einfach und frei über alles, was ihnen in den Kopf kam, daß Jurii
erstaunte.

»Nun und wie geht es bei Ihnen mit dem Land?« fragte er, als alle für
einen Augenblick schwiegen; dabei fühlte er selbst, daß die Frage
hergeholt und unangebracht erscheinen mußte.

Kusma sah ihn an und antwortete:

»Wir warten immer noch! Vielleicht kommt etwas heraus.« Dann sprach er
wieder über den Gemüsegarten, den Preis der Wassermelonen und seine
persönlichen Verhältnisse.

Man hörte Schritte. Ein kleines Hündchen mit aufgerolltem weichem
Schwanz kam in den Lichtkreis, wedelte, beschnupperte Jurii und
Rjäsanzew und begann sich an Ssanins Knieen zu reiben, der ihm glättend
über das Fell strich. Hinter ihm tauchte ein kleiner Greis mit
struppigem Barte und kleinen Aeuglein auf. In der Hand hielt er ein
verrostetes einläufiges Gewehr.

»Unser Wächter,« sagte Kusma.

Der Greis ließ sich auf dem Boden nieder, legte das Gewehr beiseite und
schaute auf Jurii und Rjäsanzew.

»Von der Jagd, so?« brummelte er und zeigte sein hohles Zahnfleisch.

»Aehä Kusma, es wird Zeit die Kartoffeln zu kochen, ähä.«

Rjäsanzew hob das Gewehr des Alten auf und zeigte es lachend Jurii. Es
war eine schwere, rostbedeckte und mit Drahtfäden umschnürte
Pistonflinte.

»Das ist eine Muskete,« lachte er. »Wie kannst du dich nicht fürchten,
Großväterchen, daraus zu schießen?«

»Jawohl, sieh mal, habe mich auch beinahe totgeschossen. Stepan Schapka
sagte mir, daß man gar nicht Piston zum Schießen braucht, ehe -- ganz
ohne 'n Piston. Er sagt, wo der Schwefel bleibt, da geht's auch ohne 'n
Piston mit dem Schießen. Da leg ich sie mir nun so übers Knie, zieh den
Hahn an, bloß so mit dem Finger und knack, knallt es los. Hat mich
beinah totgeschossen. Ehe, ehe, zieh den Hahn bloß an und schieß. Knack,
knallte es, hat mich beinahe totgeschossen.«

Alle lachten und Jurii traten sogar Tränen in die Augen, so rührte ihn
der Greis mit dem struppigen grauen Bärtchen und dem brummelnden Munde.

Auch der Alte lachte und seine Aeuglein trieften.

»Mich beinahe totgeschossen, ähä.«

Im Dunkel hinter dem Feuerschein hörte man Lachen und Kreischen der
Mädchen, die sich vor den fremden Männern schämten. Einige Schritte
entfernt, gar nicht dort, wo es Jurii erwartete, knirschte Ssanin mit
einem Streichholz, und als ein Flämmchen aufbrannte, sah Jurii seine
ruhigen freundlichen Züge und das frische Gesicht eines Mädchens, das
Ssanin bewundernd ansah.

Rjäsanzew blinzelte ebenfalls nach dieser Seite.

»Großväterchen, du solltest doch auf deine Enkelin aufpassen, nicht?«

»Wozu denn aufpassen?« Der alte Mann machte eine gutmütige Handbewegung.
»Das ist Sache der Jugend.«

»Aehä, ähä,« rief der Alte und holte aus dem Feuer mit bloßer Hand eine
Kohle heraus.

Ssanin lachte lustig aus der Dunkelheit zu ihnen herüber. Aber das
Mädchen war wohl verlegen geworden, denn beide gingen plötzlich fort und
ihre Stimmen waren kaum noch zu vernehmen.

»Nun, es wird Zeit,« sagte Rjäsanzew aufstehend.

»Sorgt euch nicht,« rief freundlich Kusma, und streifte mit seinen Armen
die schwarzen Kernchen der Wassermelonen ab, die an ihren Anzügen kleben
geblieben waren. Er reichte Jurii und Rjäsanzew herzlich die Hand.

Jurii war es wieder peinlich und doch angenehm, seine harten und steifen
Finger zu drücken.

Als sie vom Feuer fortgingen, wurde es heller.

Ueber ihnen glänzten die Sterne und alles schien in wunderbarer
Schönheit und stiller Unendlichkeit dazuliegen. Schwarz hoben sich die
Körper der am Feuer Sitzenden ab. Die Pferde, der Schatten eines Wagens,
ein Haufen Wassermelonen. Jurii stolperte über einen runden Kürbis und
wäre beinahe gefallen.

»Vorsichtig! Na, auf Wiedersehen!« hörte er Ssanin rufen.

»Auf Wiedersehen,« sagte Jurii, sah sich noch einmal um und bemerkte,
daß sich an Ssanins dunkle Gestalt die schlanke Figur eines Mädchens
schmiegte. Sein Herz zog sich zusammen; er empfand einen leisen tiefen
Schmerz. Mit einem Mal kam ihm Karssawina in Erinnerung und
augenblicklich wurde er auf Ssanin ärgerlich.

Wieder rollten die Räder des Wagens über die Steppe. Das gut ausgeruhte
Pferd schnaubte, das Feuer blieb hinter ihnen zurück, das Sprechen und
Lachen brach ab. Jurii hob seine Blicke langsam zum Himmel und sah ein
unendliches Meer von glitzernden Sternen. Sie schwiegen beide während
der ganzen Fahrt. Erst als sich die Lichter und Zäune der Stadt zeigten,
sagte Rjäsanzew:

»Ein Philosoph ist doch dieser Kusma nicht?« Jurii blickte auf seinen
dunklen Nacken und gab sich Mühe, trotz seiner nachdenklichen
traurig-zärtlichen Stimmung, die ihn innerlich von der ganzen Umgebung
abschloß, zu verstehen, was er meinte.

»Ach ja,« antwortete er, doch erst nach einigem Besinnen.

»Ich wußte aber gar nicht, daß Ssanin ein so tüchtiger Kerl ist,« lachte
Rjäsanzew.

Jurii kam endlich wieder zu sich und stellte sich Ssanin und jenes
Mädchengesicht vor, welches ihm wunderbar schön und zärtlich erschienen
war, als er es im Aufleuchten des Streichholzes plötzlich erblickte.
Unbewußt stieg aber gleichzeitig wieder Aerger in ihm auf und da fand er
mit einem Male, daß er Ssanins Verhalten zu diesem Bauernmädchen
verurteilen müsse.

»So? -- -- und ich bemerkte das noch nicht!« erklärte er mit harter
Stimme.

Rjäsanzew verstand seinen Ton gar nicht; er schnalzte mit der Zunge, um
das Pferd anzutreiben, schwieg dann eine Weile und sagte schließlich mit
Nachdruck: »Ein hübsches Mädel, wie. Ich kenne sie, das ist die Enkelin
des Alten!«

Jurii erwiderte nichts. Der gutmütige heiter nachdenkliche Eindruck des
heutigen Abends glitt rasch von ihm ab, der frühere Jurii schob sich
wieder vor und sah bereits klar und bestimmt, daß Ssanin ein schlechter
und banaler Mensch sei.

Rjäsanzew zuckte endlich komisch mit Kopf und Schultern und räusperte
sich entschlossen. »Weiß der Teufel, diese Nacht, die ist selbst mir in
die Glieder gefahren. Was meinen Sie, wollen wir nicht mal rüber
fahren?« Jurii verstand ihn nicht gleich.

»Da gibt es ein paar hübsche Mädel. Fahren wir hin, was? ...« fuhr
Rjäsanzew mit kichernder Stimme fort. Dichte Röte stieg Jurii ins
Gesicht. Der lang unterdrückte Instinkt regte sich in ihm mit tierischer
Gier; bange neugierige Phantasien durchzogen sein entflammtes Hirn. Doch
sofort gelang es ihm sich zu bezwingen und er erwiderte trocken: »Nein,
es ist Zeit nach Hause zu fahren«; und dann fügte er, schon boshaft,
hinzu: »Ljalja erwartet uns.«

Rjäsanzew schrumpfte mit einem Schlag zusammen, als wenn er im
Augenblick kleiner geworden wäre.

»Na ja, -- -- übrigens scheint es in der Tat an der Zeit ...« murmelte
er eilig.

Jurii preßte vor Grimm und Ekel die Zähne zusammen und starrte
haßerfüllt auf den Rücken mit dem festgespannten Rock. Erst nach einer
Weile sagte er:

»Ich bin überhaupt kein Freund derartiger Abenteuer.«

»Nun ja,« lachte Rjäsanzew feige und feindlich. Dann blieb er still.

-- -- -- Teufel, dachte er für sich, das habe ich recht ungeschickt
herausgebracht. Sie fuhren im Schweigen nach Hause, der Weg kam beiden
unendlich lang vor.

»Treten Sie ein?« Jurii blickte während der Frage glatt an Rjäsanzew
vorbei.

»Nein, wissen Sie, ich habe einen Kranken ... es ist auch spät,«
erwiderte dieser unentschlossen.

Jurii stieg vom Wagen; es war ihm unangenehm, die Flinte und das Wild
mitzunehmen. Alles was Rjäsanzew gehörte, erschien ihm jetzt
widerwärtig. Doch dieser fragte aufmerksam: »Und die Flinte?«

Gegen seinen Willen kehrte Jurii wieder um, griff mit Abscheu zu der
Flinte und den Enten, reichte Rjäsanzew ungeschickt die Hand und ging
ins Haus. Rjäsanzew fuhr die erste Minute ganz ruhig weiter. Mit einem
Mal polterten aber die Räder rasch in eine Nebengasse nach der
entgegengesetzten Seite hin. Jurii lauschte mit Haß, in dem unbewußter
Neid und geheime Wünsche steckten, bis das letzte Geräusch verhallt war.
»Dieser Plattkopf,« murmelte er; -- es tat ihm um Ljalja leid.




                                  XIII


Nachdem Jurii die Sachen ins Haus gebracht hatte, ging er wieder, ohne
zu wissen, was er mit sich anfangen sollte, in den Garten hinaus. Dort
war es dunkel wie in einem Abgrund. Es berührte ihn eigentümlich,
darüber den mit Sternen besäten Himmel glänzen zu sehen.

Auf den Stufen saß Ljalja; ihre kleine graue Gestalt schimmerte
undeutlich durch die Finsternis.

»Bist du es, Jura?« fragte sie.

»Ich,« antwortete Jurii, stieg behutsam hinab und setzte sich an ihre
Seite. Verträumt neigte Ljalja ihr Köpfchen an seine Schulter. Aus ihrem
unbedeckten Haare stieg ein frischer und reiner Hauch in Juriis Gesicht.
Es war der weiche Duft eines jungen Weibes und Jurii zog ihn mit Genuß
in sich ein.

»Habt ihr Glück gehabt?« fragte ihn Ljalja freundlich, und nach kurzem
Schweigen fügte sie leise und zärtlich hinzu:

»Und wo ist Anatoli Pawlowitsch geblieben? Ich hörte, wie ihr heranfuhrt
...«

»Dein Anatoli Pawlowitsch ist ein schmutziges Vieh,« wollte Jurii in
plötzlicher Wutaufwallung herausschreien. Doch statt dessen antwortete
er zögernd: »Wahrscheinlich ist er zu einem Kranken gefahren.«

»Zu einem Kranken,« wiederholte Ljalja mechanisch. Sie verstummte aber
gleich wieder und blickte auf die Sterne.

Sie war nicht betrübt darüber, daß Rjäsanzew nicht mit hereingekommen
war. Sie wünschte selbst eine Weile allein zu bleiben, damit sie sich,
ganz ungestört von seiner Anwesenheit, das Verlangen, das ihr den ganzen
Körper und ihre junge Seele durchwühlte, vergegenwärtigen konnte. Es war
der brennende Wunsch, jenen unvermeidlichen und doch beängstigenden
Bruch herbeizuführen, nach dem ihr ganzes früheres Leben abfallen und
ein neues beginnen möchte. Ein neues Dasein, das sie zu einem anderen
Menschen machen mußte.

Jurii berührte es sonderbar, wie diese immer lustige, lachende Ljalja,
mit einem Male still und nachdenklich geworden, neben ihm saß. Und weil
er selbst ganz voller trauriger aufregender Stimmungen war, so kam ihm
alles um Ljalja, wie auch der ferne Sternenhimmel und der dunkle Garten,
traurig und kalt vor. Er begriff nicht, daß hinter dieser lautlosen und
unbeweglichen Nachdenklichkeit nicht Trauer, sondern rauschendes Leben
gelegen haben sollte. In den weiten Wolken brauste eine überschäumend
machtvolle, unverkennbare Kraft, der dunkle Garten zog in jeder Bewegung
aus der Finsternis lebensprühende Regungen ein und in der Brust der
stillen Ljalja verbarg sich soviel Glück, daß sie jeden Eindruck
fürchtet, der diesen Zauber verletzen konnte. Nur lauschen wollte sie
ihrer Harmonie von Liebe und Sehnsucht, die ebenso glänzte wie der
Sternenhimmel, ebenso lockte wie der geheimnisvolle Garten und unbeengt
in ihrer Seele wiederklang.

»Ljalja, liebst du Anatoli Pawlowitsch sehr?« fragte Jurii leise und
behutsam, als müßte er fürchten, sie mit jedem Laut aufzuschrecken.

... Kann man danach noch fragen ..., dachte verloren Ljalja, sie kam
aber gleich zu sich und schmiegte sich an den Bruder, dankbar dafür, daß
er jetzt nicht über etwas Gleichgültiges, sondern gerade von ihrer Liebe
zu sprechen begann.

»Sehr,« antwortete sie so innig, daß Jurii ihre Antwort eher erriet als
hörte. Ljalja mußte sich energisch zwingen, die glücklichen Tränen
zurückzuhalten, die ihr in die Augen stiegen.

Jurii bemerkte es nicht. Ihm schien eine traurige Note aus der Stimme
herauszuklingen, und so regte sich von neuem in ihm der Haß auf
Rjäsanzew und ein stärkeres Bedauern für Ljalja.

»Aber wofür nur,« fragte er unwillkürlich, gleichzeitig vor der eigenen
Frage erschreckend.

Ljalja blickte verwundert zu ihm auf, konnte jedoch sein Gesicht nicht
erkennen. Ganz leise lachte sie auf.

»Dummer, wofür? ... Für alles! ... Warst du niemals selbst verliebt? Er
ist doch so gut, so nobel -- -- --«

Schön, kräftig, wollte Ljalja hinzufügen, aber sie errötete tief in der
Dunkelheit und brach kurz ab.

»... Kennst du ihn denn auch jetzt?« fragte Jurii. Ach, man sollte doch
nicht davon reden, dachte er mit Trauer und Erregung, -- wozu? Natürlich
ist er für sie der Allerbeste in der Welt.

»Anatoli hat kein Geheimnis vor mir,« gab Ljalja mit unterdrücktem
Triumph zur Antwort.

»Bist du dessen sicher?« lächelte Jurii verzerrt in dem Gefühl, daß es
nun keinen Halt mehr gab.

In der Stimme Ljaljas klang eine unruhige Schwäche, als sie erwiderte:
»Natürlich, was denn sonst?«

»Nichts, -- ich meinte nur so,« sagte Jurii erschrocken.

Ljalja schwieg. Man konnte nicht verstehen, was in ihr vorging.

»Vielleicht weißt du irgend etwas darüber,« fragte sie plötzlich und ihr
sonderbar krankhafter Ton überraschte und ängstigte Jurii.

»Ach nichts, was sollte ich wissen und besonders über Anatoli
Pawlowitsch. Ich meinte nur so.«

»Nein, nein, du würdest so nicht geredet haben,« sagte Ljalja beharrlich
mit einem Klingen in der Stimme.

»Ich wollte ganz einfach sagen, daß überhaupt ...« Jurii wurde verwirrt
und erstarb fast vor Scham. Dann fuhr er gewaltsam fort: »Wir Männer
sind doch nach allen Regeln verdorben. Alle ...«

Ljalja schwieg und mit einem Male lachte sie erleichtert auf: »Nun, das
weiß ich schon.«

Dieses Lachen erschien Jurii ganz unangebracht.

»So einfach ist die Geschichte doch nicht, wie es dir vorkommt.«

Die Aufregung hetzte Jurii in eine boshafte Ironie hinein. »Alles kannst
du sowieso nicht wissen. Du kannst dir gar nicht alles Gemeine im Leben
vorstellen. Du bist viel zu rein dazu.«

»Nun, nun,« lächelte Ljalja geschmeichelt, fuhr aber gleich sehr ernst
fort, während sie die Hand auf die Knie ihres Bruders stützte: »Du
meinst wohl, ich habe über alles das noch nicht nachgedacht. O, ich habe
viel nachgedacht. Es war mir immer schmerzlich und beleidigend, weißt
du. Warum halten wir unsere Reinheit und unseren Ruf so hoch -- wir
fürchten jeden Schritt, fürchten zu fallen -- oder so was -- aber die
Männer, die denken fast, es ist eine Heldentat, eine Frau zu verführen.
Das ist doch furchtbar ungerecht, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Jurii bitter und suchte einen Genuß darin, seine eigenen
Erinnerungen zu geißeln, doch gleichzeitig davon überzeugt, daß er,
Jurii, etwas ganz anderes wäre als alle anderen.

»Das ist eine der größten Ungerechtigkeiten in der Welt. Frage nur den
ersten Besten von uns. Wird er eine ...« Er wollte >Straßendirne< sagen,
aber er stockte und fuhr statt dessen fort: »eine Kokotte heiraten?
Jeder wird dir >Nein< antworten. Und warum ist denn eigentlich ein Mann
besser als die Kokotte. Jene verkauft sich wenigstens für Geld, für ihr
tägliches Brot; der Mann treibt sich einfach in -- in Ausschweifungen
herum und immer auf die roheste und auf die perverseste Art und Weise.«

Ljalja schwieg.

Eine unsichtbare Fledermaus schwirrte rasch und schüchtern am Balkon
vorbei, streifte mehrmals mit den schwingenden Flügeln die Wand und
glitt dann wieder mit einem leichten Laut hinaus. Jurii lauschte auf die
so geheimnisvolle Regung des nächtlichen Lebens, dann sprach er mit
steigender Erregung, von seinen eigenen Worten fortgerissen: »Und das
Schlimmste ist dabei, daß es nicht nur alle wissen und hinnehmen, als
wenn es ganz selbstverständlich wäre; nein, sie spielen sogar die
schwierigsten Tragikomödien; sie heiligen die Ehe -- lügen, wie man sagt
-- vor Gott und den Menschen! Und immer geraten die reinsten, idealsten
Mädchen« -- das fügte er im Gedanken an Karssawina und mit einer
leichten Eifersucht auf etwas Unbekanntes hinzu -- »an die
verdorbensten, schmutzigsten Männer. Oft genug sind sie ja infiziert.
Semionow, der Tote, sagte einmal: >Je reiner die Frau ist, um so
schmutziger ist der Mann, der sie besitzt.< Und das stimmt!«

»Es ist nicht möglich ...«

»O gewiß«; über Juriis Gesicht flog ein bitteres Lächeln.

»Davon weiß ich nichts,« sagte Ljalja nach einer schweren Weile, und in
ihrer Stimme erzitterten Tränen.

»Wie?« fragte Jurii zurück, da er nicht mehr hingehört hatte.

»Ist denn Tolja wirklich so wie alle anderen?« sagte Ljalja, indem sie
zum ersten Male dem Bruder gegenüber Rjäsanzew mit dem Kosenamen nannte.
Sie begann zu schluchzen. »Nun gewiß, er ist auch so einer.«

Jurii packte mit Schmerz und Grauen ihre beiden Hände.

»Ljalja -- Ljalitschka -- was hast du denn? Ich wollte ja gar nicht --
mein Täubchen, höre auf -- weine doch nicht,« stammelte er
zusammenhanglos, riß ihre feuchten kleinen Fingerchen von ihrem Gesicht
und küßte sie.

»Nein, nun verstehe ich schon, es ist wahr,« wiederholte Ljalja; sie
erstickte fast unter dem Schluchzen.

Obgleich sie ihm vorher sagte, daß sie früher bereits über all das
nachgedacht hätte, war dem in Wirklichkeit doch nicht so. Niemals hatte
sie sich das intime Leben Rjäsanzews vorzustellen versucht. Sie wußte
natürlich, daß sie nicht die Erste war, die er liebte, und verstand, was
das bedeutete. Aber dieses Bewußtsein verdichtete sich niemals zu einem
klaren Bilde und glitt an ihrer Seele nur leicht vorüber. Sie fühlte,
daß sie sich beide liebten und das war ihr genug. Alles andere blieb
dagegen unwichtig. Als ihr Bruder jetzt mit scharfer Betonung der
Verurteilung und der Verachtung sprach, tat sich vor ihr ein Abgrund
auf, aus dem unzerstörbar qualvolle Vorstellungen aufstiegen. Ihr Glück
war darin für immer versunken; es schien ihr undenkbar, Rjäsanzew je
wieder zu lieben. Jurii versuchte ihr, selbst fast weinend, gut
zuzureden; er küßte sie und fuhr streichelnd über ihr Haar. Aber sie
schluchzte ununterbrochen fort; -- zerbrochen und hoffnungslos.

»Ach, mein Gott, mein Gott,« wiederholte sie immer wieder und zerfloß
wie ein Kind in Tränen. In der Dunkelheit kam sie Jurii so klein und so
bemitleidenswert, ihre Tränen so hilflos vor, daß er von unerträglichem
Mitleid fortgerissen wurde. Blaß und kopflos lief er ins Haus, stieß
schmerzhaft mit der Schläfe gegen die Tür und holte ihr ein Glas Wasser,
das er sich zur Hälfte über die Hände goß.

»Ljalitschka, höre doch auf! Wie darf man sich so -- --. Nun was ist
denn mit dir. Vielleicht ist Anatoli Pawlowitsch gar nicht so ... besser
als die anderen. Ljalja,« stammelte der Bruder verzweifelt.

Ljaljas Körper bebte unter dem Schluchzen und ihre Zähne schlugen gegen
die Wand des Glases.

»Was ist denn hier los?« fragte aufgeregt das Zimmermädchen, in die Tür
stürzend. »Gnädiges Fräulein, was ist denn mit Ihnen?« Ljalja stand auf,
stützte sich auf das Geländer und ging, ohne im Weinen nachzulassen,
schwankend und schleppend auf ihr Zimmer.

»Liebes gnädiges Fräulein, was ist denn nur los? Soll ich vielleicht den
gnädigen Herrn holen? Jurii Nikolajewitsch! Sagen Sie doch ...«

Aus seinem Zimmer kam mit festen, abgemessenen Schritten Nikolai
Jegorowitsch und blieb in der Tür stehen; er starrte verwundert auf die
weinende Ljalja.

»Was gibt's hier?« fragte er.

»Aber nichts, -- ganz unwichtige Geschichten,« antwortete gezwungen
lächelnd Jurii. »Wir sprachen über Rjäsanzew -- Kleinigkeiten.«

Nikolai Jegorowitsch blickte ihn spähend an; ihm schien plötzlich ein
Gedanke zu kommen. Mit einem Mal drückte sich auf dem Gesicht des
greisen Gentleman äußerste Entrüstung aus.

»Hol's der Teufel«; er zuckte kurz mit den Achseln und machte linksum
kehrt; abgerissen schritt er hinaus.

Jurii errötete, wollte eine Grobheit nachrufen; aber es wurde ihm
beschämend und bange zumute. Mit dem Gefühl aufgestachelten Ingrimms
gegen den Vater und kopflosen Mitleids zu Ljalja, mit der schmerzlichen
Verachtung gegen sich, trat er leise auf die Treppe, stieg die Stufen
hinunter und ging in den Garten.

Ein kleiner Frosch winselte heftig und zuckte unter seinem Fuß,
aufplatzend wie eine zerdrückte Eichel. Jurii glitt aus, fuhr zusammen,
stöhnte und sprang mit einem Satze zur Seite. Eine Zeitlang rieb er
mechanisch den Fuß am feuchten Gras, in seinen Rücken grub sich ein
nervöses Gefühl von Ekel und Kälte. Er wurde immer mißgestimmter; am
Fuße haftete unverändert die widerwärtige Empfindung des weichen
Körpers; er wand sich schmerzhaft unter ihr. Er war mit Abscheu vor
allem geladen. Tastend suchte er in der Dunkelheit eine Bank und ließ
sich schwerfällig auf ihr nieder. Dann starrte er mit gespanntem
trockenem Blick in den Garten hinein, sah aber nur einige verschwommene
Nebelfetzen. Durch seinen Kopf krochen trübe plumpe Gedanken. Er blickte
auf den Flecken, wo irgendwo im dunklen Grase das von ihm zerdrückte
Fröschlein lag und wahrscheinlich bereits unter gräßlichen Qualen
verendet war. Dort nahm jetzt eine ganz Welt voll eigenartigen,
selbständigen Lebens ihr Ende und doch war der Abschluß, der tatsächlich
unsagbar martervoll sein mußte, allen verborgen geblieben. Plötzlich zog
dieselbe Gedankenkette eine neue, ganz fremde Vorstellung heran, von der
er sich nicht mehr losreißen konnte. Alles das, was sein Leben bis in
die feinsten Fäden durchsetzte, die gewaltigen Kräfte, die in Liebe und
Haß zum Ausbruch kamen, die unbekannten Triebe, durch die er eines von
sich stieß und anderes wieder gegen seinen Willen ergreifen mußte, das
Gute und das Böse, für das er kämpfte und litt, seine ganze
Persönlichkeit -- alles war im Grunde nichts mehr als eine dünne
Nebelwolke, die sich schemenhaft um ihn ausstreckte. Für die Welt in
ihrem unermeßlichen Ganzen existierten seine schmerzlichsten und seine
innigsten Erlebnisse ebensowenig, wie hier die Qualen des kleinen
Tieres, von denen außer ihm niemand etwas wußte. In dem Glauben, daß
seine Leiden, seine Vernunft, sein Gut und Böse noch für andere Menschen
von großer Bedeutung seien, flocht er absichtlich und offenbar ohne Sinn
ein kompliziertes Netzwerk zwischen sich und der Welt. Aber der einzige
Augenblick des Todes reißt jäh die blinkenden Maschen in ihrer Mitte
durch und wirft die Reste hinter sich zurück, ohne daß er auch nur einen
einzigen Blick über sie werfen ließe.

Ihm kam wieder Semionow in Erinnerung und seine Gleichgültigkeit gegen
die erhabenen Ziele und Ideen, die ihn, Jurii, und Millionen andere so
tief bewegten. Plötzlich wurde ihm wieder der scharfe Gegensatz bewußt
zwischen der naiven unversteckten Freude am Leben in der Mondnacht, als
sie im Boote nach dem Kloster zurückkehrten, und jenem dumpfen,
gehässigen Gespräch am Abend zuvor. Wieder fiel ihm ein, wie scharf
dieser Kontrast hervorgetreten war und wie unangenehm er davon berührt
wurde.

Als sie damals durch die Nacht fuhren, war es ihm unbegreiflich gewesen,
daß dieser Semionow so nichtigen Sachen wie dem Rudern oder schönen
Mädchenkörpern irgend eine Bedeutung beimessen konnte, nachdem er am
Abend zuvor die höchsten Ideale bewußt von sich gestoßen hatte. Jetzt
aber verstand Jurii leicht, daß es gar nicht anders sein konnte: jene
Kleinigkeiten entrollten das Leben, -- das echte Leben voll ergreifender
Ereignisse und verlockender Genüsse, während die großen Ideen nichts
waren als leere Zusammenhänge von Worten und Gedanken, die auf das
unergründliche Geheimnis des Lebens und des Todes ohne Einfluß blieben.
Diese Schlußfolgerung hätte Jurii früher ganz fern gelegen und stieg
jetzt so unerwartet aus dem Nachsinnen über Gut und Böse hervor, daß er
selber in Verlegenheit geriet. Eine hemmungslose Leere eröffnete sich
vor ihm, doch gleichzeitig durchleuchtete ein scharfes Gefühl von
Klarheit und Freiheit, ähnlich dem, das den Schlafenden im Traum in die
Lüfte hebt und fliegen läßt, wohin er will, für einen Augenblick sein
Gehirn. Jurii erschrak. Mit angespannter Anstrengung sammelte er all die
auseinanderfallenden, gewohnheitsmäßigen Ueberzeugungen und Begriffe und
sofort verschwand wieder die überkühne und beängstigende Empfindung. Es
wurde dunkel und verworren um ihn.

In dieser Minute wäre Jurii geneigt gewesen, einzugestehen, daß der Sinn
eines echten lebendigen Lebens in der Ausübung seiner Freiheit liege,
daß es natürlich und folgerichtig sei, seinen Genüssen zu leben. Selbst
Rjäsanzew schien von dieser einheitlichen Erkenntnis eines primitiveren
Standpunktes aus klarer und logischer, als Jurii selbst, schon allein
dadurch, daß er möglichst vielen Geschlechtsgenüssen als den
tiefgehendsten Lebensäußerungen nachstrebte. Aber nach einer solchen
Ueberlegung müßte man auch zugeben, daß die Begriffe des Lasters und der
Reinheit nichts als dürre Blätter sind, die frischer, keimender
Graswuchs bedeckt, und daß selbst schamhafte keusche Mädchen wie Ljalja
und Karssawina das Recht haben, sich frei in den Strudel sinnlicher
Genüsse zu stürzen. Jurii scheute sich, diesen Gedanken zu bejahen, er
schien ihm gemein und schmutzig. Er empfand Entsetzen über die Erregung,
die sich seiner dabei bemächtigte, und suchte ihn durch altgewohnte,
wuchtige Drohungen aus Kopf und Herz zu drängen. -- Ja gewiß, dachte er,
während er zum grundlosen, mit strahlendem Sternenstaub bedeckten Himmel
aufblickte: Das Leben ist Empfindung, aber die Menschen sind keine
unvernünftigen Tiere; sie müssen ihre Wünsche zum Guten lenken und sich
nicht ihrer Gewalt unterwerfen. »Und wie, wenn es einen Gott dort über
den Sternen gibt!« erinnerte sich Jurii plötzlich und eine bange
ehrfürchtige Stimmung drückte ihn zu Boden nieder. Er starrte auf den
leuchtenden Stern im Schweif des großen Bären und unwillkürlich fiel ihm
ein, daß der Bauer Kusma vom Gemüsegarten dieses majestätische Gestirn
»Karren« genannt hatte.

Diese Erinnerung kam ihm, ebenfalls unwillkürlich, unpassend und fast
wie verletzend vor. Er blickte wieder in den Garten, der ihm, im
Gegensatz zum Sternenhimmel, ganz schwarz erschien, und begann wieder zu
grübeln. -- Beraubt man die Welt der weiblichen Reinheit, welche den
ersten jungen Blüten, die noch ganz schüchtern aber schon prächtig und
rührend hervorgucken, so ähnlich ist, was wird dann noch Heiliges im
Menschen bleiben?

Tausende von Mädchen, prächtig und rührend wie Frühlingsblumen, tauchten
vor ihm im Sonnenschein, im Frühlingsgras, unter blühenden Bäumen auf.
Zarte Brüste, runde Schultern, biegsame Arme, schlanke Hüften huschten,
sich schamhaft und geheimnisvoll biegend, an seinen Augen vorbei und ein
heißer Schwindel verwirrte in wollüstigem Entzücken seinen Kopf.

Jurii fuhr sich langsam mit der Hand über die Stirn und kam sofort
wieder zu sich.

»Meine Nerven sind ganz kaput ... Ich muß mich in die Klappe legen.«

Unbefriedigt, verstimmt, immer noch durch die blitzartig erschienenen
wollüstigen Phantasien erregt, ging er mit gegenstandsloser Wut, durch
die alle Bewegungen heftige Formen annahmen, ins Haus.

Als er schon im Bette lag und sich vergebens zu schlafen bemühte,
erinnerte er sich Rjäsanzews und Ljaljas.

»Warum ist es einem eigentlich empörend, daß Rjäsanzew Ljalja nicht als
erste und Einzige liebt?«

Seine Gedanken wollten darauf keine Antwort geben, aber vor ihm stieg
das Bild Sina Karssawinas auf. Von stiller Zärtlichkeit umflossen,
liebkoste es sein Gehirn unsagbar wohltuend. So sehr er sich auch Mühe
gab, die traditionelle Empfindung zu unterdrücken, wurde es ihm doch
klar, warum er selbst danach verlangte, daß sie rein und unberührt sei.

»Aber ich liebe sie ja!« kam es Jurii zum ersten Mal ins Bewußtsein, und
diese leise Regung verdrängte alle anderen. Dieser einfache, klare
Gedanke trieb Tränen der Rührung in seine Augen ...

Doch im nächsten Augenblick fragte sich Jurii schon mit bitterm Hohn:
Aber mit welchem Recht liebte ich dann andere Frauen vor ihr. Allerdings
wußte ich noch nichts von ihrer Existenz, aber ebensowenig wußte
Rjäsanzew etwas von Ljalja. Und seinerzeit glaubten wir beide, daß
diejenige Frau, die wir im Moment zu besitzen wünschten, grade die Echte
wäre, die, welche zu uns am besten paßte. Wir hatten uns geirrt, das
sahen wir später ein, als wir stets wieder Andere liebten; aber
vielleicht irren wir uns dann auch dieses Mal. Folglich heißt es:
Entweder ewige Keuschheit zu bewahren, oder sich und auch der Frau
natürlich volle Freiheit zu gewähren, um sich dem Genuß der Liebe und
Leidenschaft voll und ganz hinzugeben.

Aber was rede ich mir nur ein, zum Teufel, fiel sich Jurii plötzlich
selbst in seine Ueberlegungen: Rjäsanzew, ... ja es ist auch nicht
schlimm, daß er überhaupt geliebt hat, sondern nur, daß er jetzt ruhig
fortfährt, mit verschiedenen Frauen zu verkehren; das aber tue ich nicht
...

Dieser Gedanke versetzte Jurii in einen Taumel von Stolz über seine
Reinheit; aber nur für einen Augenblick. Schon in der folgenden Minute
erinnerte er sich wieder der gierigen Empfindung, die sich seiner bei
der Vorstellung tausender, sonnenüberströmter nackter Mädchen bemächtigt
hatte. Ratlos hielt er ein, völlig ohnmächtig, sich selbst zu
beherrschen und das Chaos von Gedanken und Empfindungen zu meistern.

Er merkte, daß es ihm unbequem würde, auf der rechten Seite zu liegen.
Mit einer ungeschickten Bewegung warf er sich herum.

-- -- -- Im Grunde genommen, dachte er, wären doch sämtliche Frauen, die
ich kennen gelernt hatte, nicht imstande, mich für das ganze Leben zu
befriedigen.

-- -- -- Nun gut, so ist eben alles, was ich echte Liebe nannte,
unerreichbar und dafür zu schwärmen ist einfach dumm.

Das Liegen auf der linken Seite wurde ihm bald ebenso unbequem. Wieder
warf er den verschwitzten, klebrigen Körper, in das zusammengepappte,
brennende Laken verwickelt, herum. Es war drückend heiß und unbequem.
Der Kopf begann ihm zu schmerzen.

-- -- -- Die Keuschheit mag ein Ideal sein, aber die Menschheit würde
zugrunde gehen, wenn man es verwirklichen wollte ... Und darum ist es
ein Unsinn. -- -- -- Jurii seufzte verzweifelt. -- -- -- Ja dann, dann
ist das ganze Leben ein Unsinn, schrie Jurii fast brüllend heraus und
preßte vor Grimm so fest die Zähne aufeinander, daß vor seinen Augen
goldene Kreise aufschwirrten.

Und bis tief in das Morgengrauen hinein wälzte er in schwerer,
unbequemer Lage, die Seele voll dumpfer Verzweiflung, mächtigen
Steinblöcken gleich, harte und widerständige Gedanken in seinem Kopfe.
Endlich, um sich von ihnen zu befreien, begann er sich einzureden, daß
er selbst ein schlechter, wollüstiger und egoistischer Mensch sei und
sein ganzes Zweifeln nichts als unterdrückte Lüste wäre. Das jedoch
legte auf seine Seele nur schwerere Lasten, entfachte in seinem Gehirn
ein wildes Durcheinander der verschiedenartigsten Vorstellungen und die
ganze verzweifelte Anspannung löste sich zuletzt in der Frage aus: -- --
-- Aber warum eigentlich muß ich, gerade ich mich so quälen? ...

Mit überreiztem Ekel vor jedem Denken und Ueberlegen schlief Jurii in
dumpfer nervöser Uebermüdung ein.




                                  XIV


Ljalja weinte in ihrem Bett noch so lange, bis sie, das Gesicht tief in
die Kissen vergraben, endlich einschlief. Am nächsten Morgen stand sie
mit schwerem Kopf und geschwollenen Augen auf. Ihr erster Gedanke war,
daß sie nicht mehr weinen dürfe, da Rjäsanzew zum Mittag kommen werde;
es mußte ihm unangenehm sein, wenn sie ein verweintes, häßliches Gesicht
hätte. Doch gleich darauf dachte sie wieder, daß es ja gar nicht mehr
darauf ankäme, weil doch alles zu Ende sei. Sie empfand einen scharfen
Schmerz, als sie dachte, daß Rjäsanzew sie nicht mehr lieben könne und
weinte von neuem. Wie häßlich, wie abscheulich, flüsterte Ljalja in dem
Gefühl, von bitteren, noch nicht frei gewordenen Tränen erstickt zu
werden ... Warum, warum ist das ..., fragte sie sich beharrlich und in
ihre Seele legte sich eine Traurigkeit über das für ewig vergangene,
nicht mehr wiederkehrende Glück, die keinen Ausweg vor sich sah.

Es war ihr unerklärlich, wie Rjäsanzew sie so leicht und ununterbrochen
belügen konnte.

... Aber nicht nur er allein, nein, alle lügen, sagt man, dachte Ljalja
verwirrt ... Alle, alle freuten sich ja über meine Heirat und sagten, er
ist ein guter, anständiger Kerl. Und nein, sie logen auch nicht ... Sie
hielten das einfach nicht für schlecht ... Wie gräßlich.

Ljalja war es widerwärtig, die gewohnte Umgebung, die ihr Gestalten in
die Erinnerung warf, welche ihr jetzt unerträglich schienen, vor Augen
zu haben. Sie preßte ihr Gesicht an die Fensterscheiben und begann durch
Tränen hindurch in den Garten zu blicken.

Draußen war es trübe; es rieselte ein loser Regen, doch in starken
Tropfen, nieder. Die fallenden Tropfen klopften hart gegen die Scheiben
und rollten dann rasch hinunter; Ljalja wurde es schwer, zu
unterscheiden, wann es ihre Tränen, wann es diese harten Regentropfen
waren, die ihr die Aussicht in den Garten benahmen. Im Garten war es
feucht; die herabhängenden Blätter waren naß und bewegten sich traurig.
Selbst die Baumstämme hatte die Nässe geschwärzt und das feuchte Gras
neigte sich demütig zur Erde.

Ljalja schien es, daß ihr ganzes Leben voller Unglück, ihre Zukunft
hoffnungslos, ihre Vergangenheit grau sei.

Das Dienstmädchen kam herein, um sie zum Tee zu rufen, doch lange Zeit
verstand Ljalja nicht ein Wort. Später im Eßzimmer schämte sie sich, als
sie der Vater ansprach. Ihr kam es vor, wie wenn er in seine Stimme ein
besonderes Mitleid legte. Alle mußten es bereits wissen, daß sie dieser
Mann, den sie liebte, schmutzig und gemein betrogen hatte.

Aus jedem Wort hörte sie das verletzende Mitleid heraus. Bald lief sie
wieder in ihr Zimmer. Wieder setzte sie sich ans Fenster und wieder fing
sie an, nachdenklich in den rinnenden, grauen Garten zu blicken.

... Warum heuchelt er, -- warum hat er mich so tief beleidigt? Bedeutet
es, daß er mich nicht liebt? Nein, Tolja liebt mich, so wie ich ihn. Und
worum handelt es sich eigentlich? Gewiß, er hat mich betrogen. Schon
früher liebte er irgendwelche andere, niedrige Frauen und sie liebten
ihn. -- Ob so wie ich, fragte sie sich mit naiver und brennender
Neugierde. Welch ein Unsinn -- was geht mich das jetzt noch an. Er hat
mich ja mit ihnen verwechselt und nun muß alles zu Ende sein. Wie arm,
wie unglücklich bin ich. Aber nein, es ist ganz meine Sache. Er betrog
mich doch. Und, wenn er es gestanden hätte. Aber nein -- ganz gleich; --
es bleibt mir widerwärtig. Er hat schon andere ebenso geliebkost wie
mich, sogar mehr -- das ist entsetzlich. Ich bin sehr unglücklich.

   Ein Fröschlein aus dem Grase quäkt,
   Wobei es seine Beine streckt,

Ljalja sang in Gedanken den alten Kindervers vor sich hin, während sie
auf einen kleinen grauen Knäuel starrte, der ängstlich über den
glitschrigen Weg sprang.

... Ja, ich bin unglücklich und alles ist zu Ende, begannen die Gedanken
wieder, als der Frosch im Grase verschwunden war. Für mich war es so
wunderbar und schön und für ihn war es nur eine altgewohnte Geschichte.
Darum vermied er es immer, über seine Vergangenheit zu sprechen. Darum
machte mir sein Gesicht auch während der ganzen Zeit den Eindruck, als
ob er über etwas nachsänne. Er dachte sich: Alles das kenne ich schon,
alles weiß ich. Ich weiß auch, was du empfindest und was du bald tun
wirst. Aber ich, wie beschämend, wie widerlich; -- niemals, nie werde
ich wieder jemanden lieben können.

Ljalja weinte und legte den Kopf mit der Wange an das kalte
Fensterbrett, während sie durch Tränen beobachtete, nach welcher
Richtung die Wolken zogen.

Plötzlich erinnerte sie sich wiederum, daß Rjäsanzew an diesem Tage zum
Mittagessen kommen werde. Erschrocken sprang sie auf.

... Was werde ich ihm sagen. Wie muß man in solchen Fällen sprechen.
Ljalja öffnete den Mund und starrte mit erschrockenen, verwirrten Augen
auf die Wand. Es fiel ihr ein, daß sie sich bei Jurii danach erkundigen
könne und das beruhigte sie.

... Wie ehrlich und gut er ist, dachte sie, mit zärtlichen Tränen in den
Augen. Und wie sie stets alles ohne Verzug tat, ging sie sofort in
Juriis Zimmer.

Doch dort saß Schawrow und redete über irgendwelche Angelegenheiten.
Ljalja blieb unschlüssig an der Türe stehen.

»Guten Tag,« sagte sie nachdenklich.

»Guten Tag,« begrüßte sie Schawrow. »Kommen Sie zu uns, Ludmilla
Nikolajewna. Wir haben hier eine Sache vor, bei der Ihre Hilfe
unentbehrlich ist.«

Immer noch mit demselben unschlüssigen Gesicht setzte sich Ljalja
demütig an den Tisch und begann mechanisch in den grünen und roten
Broschürchen, die in Haufen aufgestapelt lagen, mit den Fingern
herumzustöbern.

»Hören Sie, worum es sich handelt,« Schawrow wendete sich ihr zu und
begann zu erzählen; dabei machte er ein Gesicht, als wollte er ein
äußerst verwickeltes und umfangreiches Problem auseinandersetzen. »Die
Genossen in Kursk befinden sich in äußerst schwieriger Lage. Man muß
ihnen unbedingt helfen. Da bin ich auf den Gedanken gekommen, ein
kleines Konzert zu veranstalten, wie?« Dieses Wie, das bei Schawrows
Reden gewöhnliche Anhängsel, erinnerte Ljalja, weshalb sie hierher
gekommen war; voll Vertrauen und Hoffnung schaute sie auf Jurii.

»Warum denn nicht? Das ist sehr schön!« Sie antwortete ganz mechanisch,
während sie sich im stillen wunderte, daß Jurii sie garnicht anblickte.

Jurii fühlte sich noch nach dem gestrigen Tränenausbruch Ljaljas und
seinem eigenen nächtlichen Nachdenken wie zerschlagen; er war unfähig,
Ljalja anzusehen. Er hatte es erwartet, daß die Schwester bei ihm Rat
holen würde, fand sich aber, in seiner völligen Ohnmacht, selbst zu
einer befriedigenden Lösung zu kommen, in nichts mehr zurecht. So wenig
er es fertig bringen mochte, seine eigenen Worte zu widerrufen, Ljalja
umzustimmen und sie wieder Rjäsanzew zuzuführen, hätte er gar ihrem
naiven kindlichen Glück einen entschiedenen Schlag versetzen können.

»Also, wir haben nun folgendes beschlossen,« fuhr Schawrow fort, indem
er sich noch näher an Ljalja heranschob, als ob sich die Angelegenheit
noch weiter kompliziere und verwickelter gestalte. »Wir laden Ssanina
und Karssawina zum Singen ein ... Zuerst jede Solo, dann zusammen. Die
eine hat einen famosen Alt, die andere einen feinen Sopran, das wird
sich sehr schön machen. Nachher werde ich Geige spielen. Später muß
Sarudin singen und Tanarow kann ihn begleiten.«

Ebenso mechanisch wie vorher, mit ihren Gedanken bei ganz etwas anderem,
fragte Ljalja: »Werden denn die Offiziere solch ein Konzert mitmachen?
...«

»Na, gewiß doch!« Schawrow schwenkte die Hände. »Wenn Lyda Ssanina nur
einwilligt, werden die gewiß nicht zu Hause bleiben. Uebrigens liebt es
Sarudin, sich überall zu produzieren, wo man es zuläßt. Wenn er nur
singen kann. Und das wird uns das Regiment heranziehen; wir werden eine
Einnahme haben, na einfach glänzend, wie?«

»Ja, laden Sie Karssawina ein,« stimmte Ljalja bei und sah den Bruder
mit trauriger Unschlüssigkeit an ... Er kann es doch unmöglich vergessen
haben, dachte sie ... Und wie kann er sich nur über dieses törichte
Konzert unterhalten, während ich ...

»Aber das schlage ich doch selber eben vor ...« Schawrow staunte sie in
höchster Verwunderung an ...

»Ach ja!« Ljalja lächelte müde. »Nun, und Lyda Ssanina ... Ach ja doch,
sie sprachen ja schon von ihr.«

Schawrow nickte eifrig mit dem Kopf: »Gewiß, gewiß! Aber wen laden wir
denn noch ein? ... Wie? ...«

»Ich weiß nicht ... Ich habe Kopfschmerzen ...«

Jurii drehte sich im Augenblick nach ihr um, wandte sich aber gleich
wieder ohne ein Wort seinen Büchern zu. Mit ihrem blassen Gesichtchen
und den großen umschatteten Augen, erschien sie ihm ganz erstaunlich
schwach und bemitleidenswert.

... Ach wozu, wozu hab ich ihr nur diese Geschichte erzählt, dachte er.
Für mich selbst ist es ja noch ganz unklar. Und überhaupt ist das für
alle Menschen eine verdammt ungeklärte Frage. Nun erst für ihr kleines,
winziges Herzchen ... Wozu habe ich das zusammengeredet? ...

Er riß sich beinahe die Haare aus.

»Gnädiges Fräulein,« rief das Zimmermädchen in der Türe, »Anatoli
Pawlowitsch sind gekommen ...«

Jurii blickte wiederum erschrocken auf Ljalja, doch als er ihrem starren
Märtyrerblick begegnete, meinte er unschlüssig zu Schawrow:

»Haben Sie Charles Bredlaugh gelesen?«

»Ja! Wir haben es mit Dubowa und Karssawina zusammen gelesen. Eine
interessante Sache!«

»So? ... Ja, sind die Mädchen schon wieder zurückgekommen? ...«

»Gewiß!«

»Wann,« fragte Jurii und unterdrückte seine Erregung.

»Vorgestern schon!«

»So? ...« Jurii lauschte mit einemmal wieder, was Ljalja tat.

Ein Gefühl von Qual und Angst durchzuckte ihn, als ob er seine Schwester
betrogen hätte.

Sie stand noch ein Weilchen im Zimmer herum, ordnete irgend etwas auf
einer Etagere und schritt dann unschlüssig auf die Türe zu.

Ihre ungewöhnlich nervösen Schritte peinigten Jurii von neuem und noch
stärker als der zitternde Ausdruck ihrer Augen.

Ljalja trat in den Saal; sie empfand, wie in ihr alles in gespannter,
trauriger Verwirrung erstarrte. Es sah so aus, als wenn sie in einem
nebligen Wald den Pfad verloren hatte. Unterwegs blickte sie flüchtig in
den Spiegel und sah darin ein dunkles, krankes Gesicht.

... Nun gut, mag er es nur sehen, dachte sie.

Mitten im Eßzimmer stand Rjäsanzew und sprach zu Nikolai Jegorowitsch
mit seiner heiteren, aristokratisch selbstsicheren Stimme.

»Das ist natürlich eine seltsame Erscheinung, ist aber völlig
unschädlich.«

Beim Laut dieser Stimme erzitterte plötzlich ein unbestimmtes Wehgefühl
in Ljaljas Brust und riß sich ab.

Sowie Rjäsanzew sie erblickte, unterbrach er jäh seine Rede, ging auf
sie zu und streckte ihr beide Arme entgegen, als wollte er sie umarmen.
Aber doch so, daß diese Bewegung nur ihr allein bemerkbar und
verständlich war.

Ljalja sah von unten herauf in sein Gesicht; ihre Lippen erzitterten.
Schweigend und mit Ueberwindung machte sie ihre Hand von ihm los,
schritt durch den Saal und öffnete die Glastür zum Balkon. Rjäsanzew sah
ihr mit ruhiger Verwunderung nach.

»Meine Ludmilla Nikolajewna geruhen zu zürnen.« Er sprach im Tone
scherzhafter Wichtigkeit zu Nikolai Jegorowitsch.

Dieser lachte laut auf: »Sehr gut, ... so laufen Sie, sich zu
versöhnen.«

»Ja, es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben,« seufzte er komisch
und ging hinter Ljalja zum Balkon hinaus.

Es regnete noch immer, und das feine Plätschern des Wassers lag
unaufhörlich in der Luft. Doch in der Höhe zerflossen die Nebel schon
locker und licht.

Mit der Wange an das kalte, nasse Holz des Pfahls gelehnt, stand Ljalja
ihren Kopf dem Regen entgegen gestreckt, so daß ihr Haar sofort
durchnäßt wurde.

»Mein Prinzeßlein zürnt ... Ljalitschka!« sagte Rjäsanzew und zog sie an
sich; leise drückte er seine Lippen auf ihr feuchtes, duftendes Haar.

Unter dieser Berührung, die Ljalja so bekannt und glückverheißend war,
löste sich alles in ihrer Brust auf. Bevor sie noch Zeit hatte, zu einem
Entschluß zu kommen, wand sich ihr Arm, wie von selbst um den festen
Nacken Rjäsanzews und inmitten von langen, betäubenden Küssen sagte
Ljalja: »Wie ich dir furchtbar böse bin, du abscheulicher Kerl!«

Mit einmal schien ihr selbst ihre ganze Stimmung unerklärlich. Es war
doch nichts Schreckliches, Schweres, nichts Unverbesserliches
vorgefallen. Am Ende, was ging es denn sie an ... Nur lieben und von
diesem großen starken Mann geliebt zu werden.

Später beim Essen wurde es ihr peinlich, Jurii anzusehen, der ratlos auf
sie blickte; bei der nächsten Gelegenheit flüsterte sie ihm bittend zu:

»Widerwärtig bin ich!« Jurii lächelte gezwungen. Im Innern war er froh,
daß alles so gut abgelaufen war. Aber gleichzeitig war er doch bemüht,
in sich eine verächtliche Empfindung über die philiströse Duldsamkeit
und die kleinbürgerliche Glückseligkeit Ljaljas aufkommen zu lassen. Er
zog sich auf sein Zimmer zurück und blieb fast bis zum Abend allein.
Erst als es in der Dämmerung draußen etwas freundlicher wurde und der
Himmel sich aufheiterte, griff er zur Büchse und ging auf die Jagd. Mit
schnellen Schritten ging er los, bis er wieder das Feld vor sich liegen
sah, auf dem der alte Bauer ihn und Rjäsanzew am Tage zuvor empfangen
hatte. Jurii zwang sich, nicht über das Vorgefallene nachzudenken.

Jetzt nach dem Regen begann der ganze Sumpf aufzuleben. Eine Menge neuer
und mannigfaltiger Laute wurde vernehmbar und bald hier bald dort geriet
das Gras in Bewegung, wie getrieben von dem in ihm hausenden,
geheimnisvollen Leben. Fröhlich überboten sich die Frösche in allen
Stimmen; ein ferner Vogel ließ anspruchslose, knarrende Töne hören, die
einem Trrrr Trrrr ähnlich waren, die Enten krächzten nahe und doch
unsichtbar, geheimnisvoll im nassen Schilf, zogen aber nicht zum Schuß
hoch.

Jurii hatte garnicht einmal den Wunsch, zum Schuß zu kommen. Gedankenlos
warf er die Flinte über die Schulter und ging wieder nach Hause, während
er angeregt auf die krystallenen Laute horchte und in sich die tiefen
Abendfarben, die bald dunkel, bald wieder hell, um ihn aufleuchteten,
einsog.

-- -- -- Schön ist es, dachte er, alles ist schön -- -- -- nur der
Mensch ist widerwärtig. -- -- --

Von ferne erkannte er das runde Feuer im Gemüsegarten und die
hellerleuchteten Gestalten des alten Kusma und Ssanins, die dicht am
Feuer saßen.

-- -- -- Wohnt denn der Ssanin hier? dachte er verwundert und neugierig.

Kusma erzählte irgendetwas und lachte dabei, die beiden Hände
fortgesetzt hin- und herwerfend. Auch Ssanin lächelte. Das Feuer, jetzt
noch rosig und nicht so grellrot wie in der Nacht, brannte wie eine
Kerze; über ihm bedeckte sich der Himmel friedlich und weich mit
Sternen. Es roch nach frischer Erde und nach taubesprengtem Gras.

Aus irgendeinem Grunde fürchtete Jurii, daß man ihn bemerken würde und
es machte ihn traurig, daß er nicht einfach zu ihnen hingehen konnte,
weil zwischen diesen Menschen und ihm etwas Unbegreifliches stand,
gleichsam etwas, das garnicht existierte, und leer aber doch
unüberwindlich vor ihm lag, wie ein luftleerer Raum.

In diesem Augenblick fühlte er sich völlig vereinsamt. Die große Welt in
ihren abendlichen Farben, mit den Feuerchen, mit Menschen und Lauten,
voller Luft und Leuchten, wie sie sich vor ihm wiegte, war doch weit von
ihm getrennt; -- -- -- er war klein und trübe wie ein dunkles Zimmer, in
dem etwas weint und trauert. Und das Gefühl einsamer Wehmut bemächtigte
sich seiner mit solcher Stärke, daß ihm, als er durch das Gemüsefeld
schritt, die vielen hundert Wassermelonen, die in der Dämmerung
gelblichgrau schimmerten, wie menschliche Schädel erschienen, welche
weit über ein wüstes Feld zerstreut liegen.




                                   XV


Der Sommer entfaltete sich überfüllt von Licht und Wärme; es schien, daß
ein goldener Schleier zwischen dem lichten, blauen Himmel und der
glutmüden Erde bebe und sich in tausend Falten breche. In stumpfer
Ermattung standen die Bäume, von den heißen Dünsten erschlafft mit
gesenkten Blättern; ihre kurzen, durchsichtigen Schatten lagen hilflos
in dem staubigen, matten Gras.

In den Zimmern aber war es kühl. Die Lichtreflexe vom Garten schimmerten
grünlich auf den Decken und die Gardinen schwankten seltsam lebendig,
während alles sonst in gepreßter Ruhe erstarrte, an den Fenstern.

Den weißen Kittel geöffnet, schritt Sarudin langsam von einer Zimmerecke
in die andere. Mit besonderer von ihm mühsam herausgearbeiteter
Nonchalance rauchte er eine Zigarette, wobei seine großen, weißen Zähne
deutlich aus dem Munde hervortraten. Tanarow, ebenfalls
schweißdurchnäßt, lag in breiten Reithosen auf dem Divan und sah mit
kleinen, schwarzen Aeuglein voll verstohlener Besorgnis auf ihn. Er
brauchte fünfzig Rubel erbarmungslos notwendig. Schon zweimal hatte er
Sarudin darum gebeten, aber da er nicht wagte, sie zum drittenmal zu
fordern, wartete er in Aengsten, bis sich Sarudin selbst daran erinnern
würde.

Dieser wußte davon, doch im Laufe des letzten Monats hatte er selbst 700
Rubel verspielt und er ärgerte sich über alles, was mit Schuldenmachen
zusammenhing.

-- -- -- Er ist mir ohnedies noch 250 Rubel schuldig, dachte er, und
ohne auf Tanarow zu blicken, wurde er bei dem Gedanken über die
unvermuteten Ausgaben immer verbissener.

-- -- -- Eigentümlich, wir sind zwar in den besten Beziehungen zu
einander, aber er sollte sich doch wirklich schämen. Müßte sich doch
wenigstens entschuldigen, daß er mir noch soviel schuldig ist, -- -- --
nein, ich gebe ihm nichts, fügte er mit böser Freude in Gedanken hinzu.

Der Bursche trat herein. Ein winziger sommersprossiger Kerl, mit Federn
überdeckt. Krumm und schlapp suchte er seinen Körper in die
vorschriftsmäßige Haltung zurechtzurücken und dabei Tanarow ins Auge zu
fassen.

»Hochwohlgeboren erlauben zu melden, daß, wie Ihre Hochwohlgeboren Bier
verlangt hatten, dieses Bier grade alle ist.«

Mit aufflammender Wut sah Sarudin unwillkürlich Tanarow an.

-- -- -- Na, da haben wir's wieder. Hol ihn der Teufel. Das wird ja
schließlich unerträglich. Er weiß doch, daß ich selbst keinen Groschen
übrig habe und da läßt er sich noch Bier holen.

»Auch der Wodka wird alle,« fügte der Bursche hinzu.

»Aber scher dich doch zum Teufel ... Was, du mußt doch noch zwei Rubel
haben. Kaufe eben, was nötig ist.« Sarudin winkte in wachsendem Zorn dem
Burschen, abzutreten.

»Garnichts! ... Nichts ist übrig geblieben.«

»Was heißt das? ... Was lügst du da? ...« schrie ihn Sarudin an und
blieb stehen.

»Wie Seine Hochwohlgeboren befohlen haben, der Waschfrau zu bezahlen, so
habe ich ihr einen Rubel siebzig Kopeken bezahlt, und dreißig Kopeken
habe ich in Ihre Hochwohlgeboren Arbeitszimmer auf den Tisch gelegt.«

»Ach ja,« warf Tanarow, mit geheuchelter Nachlässigkeit ein, während er
rot wurde und sich aufregte, »ich habe es ihm gestern gesagt. Weißt du,
es war schon peinlich, die ganze Woche lief das Weib mir das Haus ein.«

Rote Flecken erschienen auf den festen, glattrasierten Wangen Sarudins
und unter ihrer feinen Haut gerieten die Backenknochen in zitternde
Erregung. Schweigend ging er im Zimmer auf und ab. Mit einemmal blieb er
neben Tanarow stehen.

»Hör einmal,« sagte er mit seltsam zitternder, scharf verletzender
Stimme, »ich möchte dich doch bitten, nicht über mein Geld zu verfügen
...«

Tanarow errötete über und über und geriet in Bewegung.

»Hm, was ist das? ... Diese Kleinigkeiten ...« murmelte er verletzt und
zog die Schultern zusammen.

»Dabei handelt es sich garnicht um die Kleinigkeiten,« entgegnete
Sarudin ihm mit grausamen Vergnügen, als müßte er sich an ihm rächen.
»Nein, um ein Prinzip. Aus welchem Grunde sage bitte, ...«

»Ich ...«

»Nein, ich muß dich ganz entschieden darum bitten,« fiel ihm Sarudin
hartnäckig mit demselben niederdrückenden Ton ins Wort. »Und schließlich
könntest du dich doch in solchem Fall zunächst einmal an mich wenden.
Auf diese Weise, das ist wirklich sehr wenig angenehm.«

Tanarow bewegte hilflos die Lippen und senkte die Augen; er zupfte mit
zitternden Fingern an dem Perlmuttermundstück seiner Zigarrenspitze.
Sarudin wartete noch eine Weile auf Antwort, dann drehte er sich jäh um
und machte sich, mit dem Schlüssel rasselnd, an der Tischschublade zu
schaffen.

»Hier, kaufe, was du brauchst!« schrie er den Burschen zornig an und
reichte ihm eine Hundertrubelnote.

»Zu Befehl,« sagte der Soldat, machte linksum kehrt und ging hinaus.

Langsam und nachdrücklich klapperte Sarudin mit den Schlüsseln an der
Schublade und schob sie zu. Tanarow sah verstohlen auf das Fach, in dem
die für ihn so notwendigen fünfzig Rubel lagen, begleitete das Schließen
der Schublade mit schüchternen Blicken und begann mechanisch eine
Zigarette anzuzünden. Er fühlte sich sehr gekränkt, gleichzeitig damit
aber fürchtete er, dieser Empfindung Ausdruck zu geben, um Sarudin nicht
noch mehr zu erzürnen.

-- -- -- Was machen schon für ihn zwei Rubel aus. Er weiß doch wie
notwendig ich das Geld brauche ...

Sarudin ging im Zimmer auf und ab; er zitterte noch vor Aufregung. Aber
allmählich begann er sich zu beruhigen und als der Bursche Bier brachte,
trank er selbst mit Genuß ein Glas des eisigen, schäumenden Trankes.
Plötzlich sagte er ganz ruhig, als ob garnichts vorgefallen wäre,
während er die Schnurrbartenden durch die Lippenwinkel zog:

»Gestern war Lyda wieder bei mir! Bruder, das ist ein interessantes
Mädchen. Feuer!«

Tanarow schwieg verdrossen. Ohne es zu bemerken, schritt Sarudin weiter
langsam durch das Zimmer und seine Augen lächelten belebt den
Erinnerungen nach. Sein gesunder, starker Körper war unter der Hitze
erschlafft, sodaß glühende, erregende Gedanken die Oberhand gewinnen
konnten und ihn fortrissen. Plötzlich lachte er laut, kurz wiehernd auf.
Er blieb stehen.

»Weißt du, gestern wollte ich mal, ...« er nannte hier ein sehr
eindeutiges Wort, das für die Frau äußerst verletzend ist. »Da ist sie
zuerst in die Höhe gegangen, hat sich auf die Hinterfüße gesetzt, weißt
du solch ein stolzes Leuchten steigt bei ihr manchmal in die Augen ...«

Tanarow, dessen Leib sich bei diesen Worten rasch und gierig spannte,
löste auf seinem Gesicht erzwungen ein klebriges und aufgeregtes Lächeln
aus.

»Und dann, ... na, sodaß ich selbst fast in Krämpfe verfiel,« schloß
Sarudin, der noch unter der unerträglich scharfen Erinnerung
nachzitterte.

»Du hast Schwein, hol's der Kuckuck,« rief neidisch Tanarow.

Plötzlich ertönte von der Straße her die laute Stimme Iwanows: »Ist
Sarudin zu Haus? ... Darf man zu Ihnen? ...«

Sarudin erschrak bei dem plötzlichen Anruf und fürchtete, wie stets, daß
jemand etwas von seiner Erzählung über Lyda Ssanina gehört hätte.

Aber Iwanow schrie über den Zaun von der Nebengasse her; er war nicht
einmal zu sehen.

»Zu Hause, zu Hause,« rief Sarudin durch das Fenster zurück.

Im Vorzimmer ertönten Stimmen und Lachen, als wenn dort eine ganze
Volksmenge hineingeströmt wäre.

Iwanow, Nowikow, ein Rittmeister Malinowski, zwei andere Offiziere und
Ssanin traten herein.

»Hurra,« brüllte Malinowski, sich schief über die Schwelle schiebend,
während über sein dunkelrotes Gesicht mit zitternden, aufgespannten
Backen und einem buschigen Schnurrbart, der wie zwei Roggengarben in die
Luft starrte, ein grelles Blinken glitt.

»Guten Morgen, Kinder.«

-- -- -- Na, zum Teufel, dachte Sarudin ärgerlich, da geht wieder ein
25-Rubelschein zum Teufel. Aber doch befürchtete er noch mehr, daß
irgend jemand denken könnte, er wäre nicht der freigebigste, reichste
und kameradschaftlichste Kerl im Regiment. Deshalb rief er mit breitem
Lächeln: »Woher kommen Sie in so großer Gesellschaft? ... He,
Tscheriepanow, schleife Wodka her und was du sonst noch hast. Laufe in
das Kasino und lasse sofort einen Kasten Bier heranschleppen. Wollen Sie
Bier, Herrschaften. Es ist doch heiß.«

Als erst Wodka und Bier kamen, wurde der Lärm noch stärker. Man lachte,
brüllte in ungezügelter Lustigkeit; alle tranken und lärmten
durcheinander. Nur Nowikow blieb trübe gestimmt und sein stets
weichliches und bequemes Gesicht war unheilvoll durchleuchtet. Erst
gestern hatte er das erfahren, was für ihn bisher unbekannt geblieben
war, trotzdem die ganze Stadt bereits über die Affäre tuschelte. Das
Gefühl, unerträglich verletzt und in seiner Eifersucht gedemütigt zu
sein, hatte ihn im ersten Augenblick betäubt. Es ist nicht möglich, es
ist Unsinn, Klatsch ... sein Hirn weigerte sich, das Bild Lydas, in die
er so rein und mit Ehrfurcht verliebt war, in widerwärtig schmutzige
Nähe zu Sarudin, den er für unendlich niedriger stehend und dümmer hielt
als sich, kommen zu lassen.

Doch dann brach tief aus seiner Seele wilde, tierische Eifersucht hervor
und begrub alles. Es gab einen Augenblick bitterer Verzweiflung und dann
des fürchterlichsten, fast elementaren Hasses gegen Lyda und vor allem
gegen Sarudin. Diese Empörung war seiner weichen schlaffen Seele so
ungewohnt, daß er für sie nach irgend einem Ausweg suchen mußte, wenn
sie ihn nicht ganz zerreiben sollte. Die ganze Nacht hindurch schwankte
er auf der krankhaften Grenze zwischen quälerischer Selbstpeinigung und
dem vagen Gedanken an Selbstmord. Gegen Morgen war er wie erstarrt und
nur das sonderbare, trübe Verlangen, Sarudin zu sehen, vibrierte noch in
seinen Empfindungen.

Jetzt, unter den Ausrufen der lärmenden und betrunkenen Stimmen, saß er
abseits, trank ganz mechanisch große Massen Bier, und mit jeder Fiber
seiner angespannten Empfindlichkeit beobachtete er die Bewegungen
Sarudins, wie ein Tier, das im Walde einem anderen entgegenschleicht,
schon zum Sprunge gebückt, und sich doch verstellt, als ob es nichts
sähe.

Alles, was von Sarudin ausging, stieß mit scharfen Schlägen an eine
überreizt zarte Stelle Nowikows, die jetzt sein ganzes Wesen zu bilden
schien, alles, sowohl das Lächeln Sarudins, das seine weißen Zähne
zeigte, wie seine Schönheit, sein Lachen, seine brutale Stimme.

»Sarudin,« sagte ein langer eckiger Offizier, mit unmäßig langen, am
Körper baumelnden Armen. »Ich habe dir ein Buch mitgebracht.« Und durch
den wüsten Lärm hindurch hörte Nowikow allein den Namen und die
antwortende Stimme Sarudins heraus, als ob alle anderen schwiegen und
nur dieser eine redete.

»Welches denn? ...«

»Von Tolstoi ... Ueber Frauen,« gab der dürre Offizier mit Stolz aber
deutlich wie beim Dienstrapport zurück.

Auf seinem farblosen schmalen Gesicht stand klar ausgedrückt, daß er
sehr befriedigt war, Tolstoi zu lesen und über ihn zu sprechen.

Iwanow fiel dieser stolze und naive Ausdruck sofort auf und er fragte
ironisch: »Lesen Sie auch manchmal Tolstoi? ...«

»Von Deutz ist ja unser Tolstoianer,« erklärte der betrunkene Malinowski
und lachte auf.

Sarudin nahm die dünne, rote Broschüre zur Hand und blätterte ein paar
Seiten um:

»Ist das interessant? ...«

»Na, das wirst du schon merken!« Die Antwort von Deutz' überstürzte sich
fast vor Begeisterung. »Das ist ein Kopf, sage ich dir. Da kommt's einem
vor, als ob man selber alles wüßte ...«

»Aber wozu ... braucht denn Viktor Sergejewitsch Tolstoi vorzunehmen,
wenn seine eigenen Ansichten über Frauen schon völlig feststehen ...«
sagte Nowikow, nicht laut, ohne daß er dabei die Augen vom Glase
abwendete.

»Woraus schließen Sie das? ...« fragte Sarudin, der instinktiv den
Angriff spürte, aber ihn noch nicht ganz verstand, vorsichtig.

Nowikow schwieg. Alles riß ihn dazu hin, Sarudin anzubrüllen, ihm ins
Gesicht zu schlagen, in dieses prächtige, selbstgefällige Gesicht, ihn
zu Boden zu werfen und ihn in einem wilden Ausbruch seines Zornes, der
endlich in die Freiheit strömen kann, mit den Füßen zu zerstampfen.

Aber kein Wort kam auf seine Zunge. Unter dem klaren Bewußtsein, daß er
garnicht das spräche, worauf es ankomme, litt er nur noch mehr. Er wurde
fast zum Wahnsinn getrieben; er lächelte verzerrt; er sagte: »Es genügt,
Sie nur anzusehen ... um zu diesem Schluß zu kommen.«

Der eigentümlich tragische Ton seiner Stimme zerschnitt im Augenblick
den allgemeinen Lärm und plötzlich verstummte alles, wie vor einem
Morde. Iwanow erriet zuerst, um was es sich handelte.

Sarudins Gesicht hatte sich unter den letzten Worten kaum merklich
verändert, doch sofort beherrschte er sich wieder, als ob er ein scheues
Pferd bestiege, dessen Nervosität er kenne ...

»Nu, ... Herrschaften, Herrschaften, was soll denn hier vorgehen,« rief
Iwanow.

»Laß sie, laß sie sich ruhig prügeln,« fiel ihm Ssanin lächelnd ins
Wort.

»Mir scheint es garnicht, sondern es ist so,« fuhr Nowikow anstelle
Sarudins fort, noch immer nicht den Kopf vom Glase hebend und ohne
seinen Tonfall zu ändern.

Aber eine lebendige Wand von schreienden Stimmen, Armbewegungen,
lachenden Gesichtern und Zwischenrufen, schob sich zwischen sie.

Sarudin wurde von Deutz und Malinowski zur Seite gedrängt; Nowikow von
Iwanow und einem anderen Offizier. Tanarow begann die Gläser zu füllen
und irgendwas zu schreien, ohne sich an jemanden direkt zu wenden.

Es entstand eine falsche, gewaltsam fröhliche Erregung, die für einen
Augenblick den Streit verwischte. Mit einemmal empfand Nowikow, daß er
die Kraft verloren hatte, diesen Zustand fortzusetzen. Er verzog seine
Lippen zu einem unsinnigen Lächeln, sah sich nach Iwanow und einem der
Offiziere um, die ihn mit Gesprächen festzuhalten versuchten und dachte
ratlos:

-- -- -- Was mache ich nur. Zuhauen muß man. Einfach hingehen und in die
Schnauze schlagen. Sonst bleibe ich ja in der dümmsten Lage. Alle müssen
es verstanden haben, daß ich den Streit suchte ...

Aber statt dessen lauschte er mit gemachtem Interesse auf das, was
Iwanow und von Deutz sprachen.

»In seinen Ansichten über die Frau bin ich nicht völlig mit ihm
einverstanden,« sprach selbstgefällig der Offizier.

»Die Frau ist zunächst mal ein Weibchen,« erklärte Iwanow. »Unter
Männern könnte man vielleicht noch einen auf Tausend finden, der den
Namen Mensch verdient. Aber unter den Frauen, nein, unter ihnen gibt es
keinen Einzigen. Nacklige, rosige, fette, schwanzlose Affen sind es und
weiter nichts.«

»Das ist ja äußerst originell bemerkt; -- --« von Deutz kaute sichtbar
an dem Vergnügen über Iwanows letzter Phrase.

Nowikow dachte bitter vor sich hin, wie wahr das sei.

»Eh, mein Lieber,« erwiderte Iwanow, seine Hand grade vor der Nase von
Deutz schwenkend, »erzählen Sie mal den Leuten: »Ich sage euch: jedes
Weib, das einen Mann geil ansieht, treibt in ihrem Herzen schon Unzucht
mit ihm.« Erzählen Sie das und die Meisten werden überzeugt sein, eine
höchst originelle Sache zu hören.«

Von Deutz lachte mit heiserer Stimme, wie wenn ein Windhund plötzlich
anschlägt, und sah Iwanow mißgünstig an. Den Spott verstand er nicht und
er war nur neidisch, daß er sich nicht so witzig ausgedrückt hatte.
Plötzlich reichte ihm Nowikow die Hand.

»Was denn?« fragte von Deutz verwundert. Neugierig und erwartungsvoll
sah er auf die breite Handfläche.

Nowikow gab keine Antwort.

»Wohin?« erkundigte Ssanin sich ebenfalls.

Nowikow schwieg weiter. Er fühlte, daß nur ein Augenblick des Wartens
genügen würde, um das Schluchzen, das ihm in der Kehle steckte,
ausbrechen und jeden Rückhalt überströmen zu lassen.

Ssanin lächelte ihn ruhig und doch mit ernstem Interesse an: -- -- --
»Ich verstehe, was mit dir ist. Spuck darauf! -- -- --«

Nowikow schaute mit wehleidigen Augen über ihn hin, seine Lippen
zitterten; mit einer verzweifelten Handbewegung, als ob er alles, sich
selbst, die Welt, beiseite schieben wollte, ging er fort, ohne weiter
Abschied zu nehmen. Der Druck schwerer Ohnmacht, wie bei einem Menschen,
der eine Last nicht anheben kann, biß sich in ihm fest und preßte ihn zu
Boden. Um sich zu beruhigen, dachte Nowikow:

-- -- -- Nun, was schon, was wäre viel damit bewiesen, wenn ich diesem
Halunken die Fresse eingeschlagen hätte. Es käme doch nur eine platte
Keilerei heraus. Lohnte es sich wirklich, die Hände an ihm dreckig zu
machen. -- --

Doch das Gefühl unbefriedigter Eifersucht und der eigenen Schwäche
verließ ihn nicht. In tiefster Trübsal kam er nach Hause, warf sich mit
dem Gesicht in die Kissen und lag so den ganzen Tag über, nur von dem
einen Gedanken gequält, daß er nichts tun könne ...

»Los, wollen Sie Macao spielen?« fragte Malinowski.

»Immer hingeschmissen!« erwiderte sofort Iwanow.

Der Bursche stellte den Kartentisch zurecht, und das grüne Tuch lächelte
ihnen fröhlich entgegen. Eine konzentrierte Belebung ergriff alle.
Malinowski begann, Karten zu geben, wobei seine behaarten Finger hart
auf dem Tisch anschlugen. Gewandt zerstoben die bunten Karten in
regelmäßigen Kreisen auf der grünen Decke; mit hellem Klang rollten die
silbernen Rubel von einem Tableau zum andern und wie gierige Spinnen
liefen nach allen Richtungen Finger über das Tuch, die das Geld
aufrafften. Nur knappe Worte und eintönige wie auswendig gelernte
Ausrufe des Aergers und des Vergnügens waren vernehmbar.

Sarudin hatte offensichtlich ganz besonderes Mißgeschick. Hartnäckig
machte er immer wieder den Einsatz von fünfzehn Rubeln und bei jedem Mal
wurde er vollständig abgeschlagen. Auf sein hübsches Gesicht traten die
roten Flecke gegenstandsloser Erbitterung. Im Laufe des letzten Monats
hatte er gegen 700 Rubel verspielt; jetzt fürchtete er sogar, den
endgültigen Verlust genau festzustellen. Seine verdrießliche Stimmung
teilte sich auch den andern mit. Von Deutz und Malinowski wechselten
scharfe Worte miteinander.

Sehr bestimmt, wenn auch zurückhaltend, erklärte von Deutz, voller
Verwunderung darüber, daß der betrunkene, ungeschlachte Malinowski sich
überhaupt unterstand, mit ihm, dem klugen und distingierten von Deutz zu
streiten: »Ich hatte wohl auf die Flügel gesetzt.«

»Was wollen Sie mir einreden?« warf ihm dieser grob entgegen. »Hol's der
Teufel. Schlage ich, so sagt man Auf Flügel und wenn ich gebe ...«

Von Deutz brauste auf. »Aber erlauben Sie mal.« Sofort, wie immer, wenn
er aufgeregt war, wurde seine Aussprache unrussisch und deutsche Laute
mengten sich komisch hinein.

»Nichts will ich erlauben. Nehmen Sie das zurück ... nein, bitte, nehmen
Sie das zurück.«

»Meine Herren, aber das ist doch, -- -- wirklich zum Teufel,« schrie
Sarudin wütend, die Karten mit Gewalt auf den Tisch werfend.

Aber sogleich erschrak er seines jähen Ausrufs wegen ebenso wie über die
betrunkenen, verzerrten Gesichter, Karten und Flaschen, über das ganze
Bild eines platten soldatischen Trinkgelages, denn -- -- in der Tür
hatte er plötzlich ein neues Gesicht auftauchen sehen.

Ein hochgewachsener schlanker Mann in einem bequemen, weißen Kostüm
hielt verwundert auf der Schwelle an; seine Augen suchten Sarudin.

»Ah, Pawl Lwowitsch! Welches Schicksal hat Sie zu uns hergeweht?« rief
dieser rot im Gesicht und stürzte ihm eilig entgegen.

Der Herr trat unschlüssig tiefer in das Zimmer ein und den Anwesenden
fielen sofort seine weißen Stiefel auf, die aus dem Morast von
Bierlachen, Korken und zertretenen Zigarrenresten besonders
hervorstachen. Er war so weiß, sauber und parfümiert, daß er zwischen
den Wolken Tabakdampfes und den betrunkenen, überhitzten Menschen, an
eine Lilie im Sumpfe erinnern konnte, wäre er nicht so hilflos dünn, so
ausgemergelt gewandt gewesen und hätte er nicht ein so kleines
Gesichtchen mit schlechten Zähnen und einem winzigen Schnurrbart gehabt.

»Woher kommen Sie? Haben Sie Pitier schon lange hinter sich?« sagte
Sarudin zu ihm mit überflüssiger Eile, wobei er ihm stark die Hand
drückte und gleichzeitig wieder ängstlich überlegte, ob es nicht ein
faux Pas gewesen wäre, das legere Pitier statt des St. Petersburg zu
gebrauchen.

»Ich bin erst gestern angekommen,« antwortete endlich der
Weißgekleidete. Seine Stimme war selbstgefällig aber saftlos, wie ein
abgeschnürter Hahnenschrei.

»Meine Kameraden,« stellte Sarudin vor. »Von Deutz, Malinowski, Tanarow,
die Herren Ssanin, Iwanow. Meine Herren, ... Pawl Lwowitsch Woloschin.«

Woloschin verneigte sich ein wenig.

»Wollen's uns vormerken,« antwortete zum Entsetzen Sarudins der
betrunkene Iwanow.

»Bitte hier, Pawl Lwowitsch, belieben Sie Bier oder vielleicht Wein.«

Woloschin ließ sich vorsichtig ins Fauteuil nieder; er schimmerte auf
dem groben Gummituchüberzug in seinem matten Weiß.

»Ich komme nur auf eine Sekunde mit heran. Bitte, lassen Sie sich nicht
stören,« entgegnete er mit leichter Kühle des Unbehagens, indem er die
Gesellschaft musterte.

»Aber warum das? ... Ich lasse sofort Weißen bringen. Ich weiß doch, Sie
lieben ihn.« Sarudin stürzte ins Vorzimmer. -- -- -- Dieses Luder hatte
auch nichts anderes zu tun, als gerade heute hierherzukommen, dachte er
wütend, während er dem Burschen befahl, nach Wein zu laufen. -- -- --
Später erzählt dieser Woloschin bei allen Bekannten in Petersburg
solchen Unsinn, daß man mich in kein anständiges Haus mehr aufnehmen
wird.

Inzwischen fuhr Woloschin fort, ohne es im geringsten zu verbergen, die
Gesellschaft zu mustern, wie wenn er sich über alle unendlich erhaben
fühlte. Der Blick seiner glasgrauen Aeuglein war voll aufrichtiger
Neugier. Besonders der Wuchs, die offenbare Kraft und das Kostüm Ssanins
lockten seine Aufmerksamkeit. Das ist ein interessanter Typus; darin
liegt Kraft, dachte er mit der starken Zuneigung, die alle schwachen
Menschen großen und starken gegenüber empfinden. Er wünschte Ssanin
anzusprechen. Aber dieser blickte unbekümmert in den Garten, mit der
Brust an das Fensterbrett gelehnt.

Schon das erste Wort seiner Anrede blieb Woloschin in der Kehle stecken;
der saftlose, abgeriebene Klang seiner Stimme verletzte ihn selbst.

-- -- -- Die andern, das ist irgend welch' Lumpenpack, dachte er sich.

Sarudin kehrte zurück. Er setzte sich neben Woloschin nieder. Höflich
begann er ihn nach Petersburg und nach seiner Fabrik auszufragen, auch
um seinen Bekannten verstehen zu geben, welch reicher und
bedeutungsvoller Kerl dieser Gast sei.

»Alles nach dem alten Strich, wie Sie sehen,« antwortete nachlässig
Woloschin. »Und was machen Sie?«

»Was kann man hier tun. Ich vegetiere!«

Woloschin schwieg und sah verächtlich zur Decke hoch, auf der die grünen
Reflexe des Gartens lautlos hin- und herglitten.

»Wir kennen hier nur dies eine Vergnügen,« fuhr Sarudin mit
bedeutungsvoller Geste fort, in der er alles, seine Gäste, die Flaschen
und die Karten einfaßte.

»Jawohl,« sagte Woloschin mit unbestimmter Dehnung; aus seinem Ton hörte
Sarudin die Frage heraus: und was bist du denn selbst? ...

Doch gleich darauf erhob er sich schon:

»Na, aber ich muß doch schon fort. Ich bin hier im Hotel auf dem
Boulevard abgestiegen. Wir sehen uns natürlich noch?« Das letztere
sprach Woloschin in verändertem Ton.

Gerade in diesem Augenblick trat der Bursche ein, nahm nachlässig die
vorschriftsmäßige Haltung an und meldete:

»Hochwohlgeboren, das Fräulein sind da!«

»Wie?« fragte Sarudin erschrocken.

»Jawohl!«

»Ach so, ja, ich weiß schon,« sagte Sarudin rasch und ungeschickt,
während seine Augen unruhig über die Anwesenden hinliefen. Die Ahnung
von Unannehmlichkeiten durchstach ihm das Herz. -- Sollte das wirklich
Lyda sein, dachte er verwundert.

In den Augen Woloschins flammte ein gieriges und neugieriges Feuerchen
auf; sein schwächlicher Körper geriet unter dem weichen, weißen Kostüm
in matte, konvulsivische Bewegungen.

»Na, nun auf Wiedersehen.« Er sprach ausdrucksvoller, mit andeutendem
Lächeln. »Sie sind also immer noch derselbe? ...«

Sarudin lächelte ebenfalls; und war auch dies Lächeln unnatürlich, so
mischten sich doch Selbstgefälligkeit und Besorgnis ein.

Von dem Hausherrn begleitet, ging Woloschin rasch hinaus, seine weißen
Schuhe blinkten und seine scharfen Augen überspähten noch einmal das
Ganze.

Sarudin kehrte zurück.

»Nun, meine Herren, was wird mit den Karten? ... Tanarow, übernimm du
meine Partie, ich komme sofort zurück.«

»Lüge!« brüllte der ganz betrunkene, bullenartige Malinowski. »Wollen
wir doch selbst mal sehen, was für ein Fräulein da ist.«

Tanarow packte ihn an den Schultern und drückte ihn mit Gewalt auf den
Stuhl zurück. Die andern nahmen übereilig ihre Plätze wieder ein, wobei
sie sich bemühten, Sarudin nicht anzuschauen.

Auch Ssanin setzte sich mit ernstem Lächeln nieder.

Er erriet, daß Lyda gekommen war, und das trübe Gefühl eifersüchtigen
Mitleides zu seiner schönen und jetzt augenscheinlich unglücklichen
Schwester erstand in ihm.




                                  XVI


Auf dem Bette Sarudins saß in einer unbestimmbar seitwärtigen Stellung
Lyda Ssanina und knüllte ratlos ihr Taschentuch in den Händen.

Selbst Sarudin war von der Veränderung, die in ihr vorgegangen sein
mußte, überrascht. Von dem schönen Mädchen voll stolzer Kraft war keine
Spur geblieben. Ein krankes, ratloses Frauenzimmer saß da tiefgebückt
vor ihm. Ihr Gesicht war eingefallen, blaß geworden, ihre dunklen Augen
liefen aufgeregt hin und her. Als Sarudin kam, heftete sich ihr schwerer
Blick eilends auf ihn, senkte sich aber sofort wieder. Instinktiv erriet
er, daß sie sich vor ihm fürchtete. Ganz unerwartet stieg Aufregung und
Zorn in ihm krampfartig empor. Er schloß die Tür fest ab, und anders wie
früher, grob und gradeaus, trat er auf sie zu.

Er konnte sich kaum beherrschen; plötzlich hatte er das brennende
Verlangen, sie zu schlagen: »Du bist eine verrückte Person. Bei mir
steckt die ganze Bude voller Menschen, drin sitzt dein Bruder und du ...
als wenn du auch keine andere Zeit finden könntest. Das ist ja ... zum
Teufel.«

Die dunklen Augen hoben sich mit einem sonderbaren Aufleuchten zu ihm
und wie stets erschrak Sarudin sofort wieder über seine Heftigkeit,
bleckte ergeben seine weißen Zähne und, Lydas Hand ergreifend, setzte er
sich an ihre Seite.

»Uebrigens ist es ja ganz gleich; ich fürchte doch nur deinetwegen. Ich
bin froh, daß du kommst; ich hatte Sehnsucht nach dir.«

Er hob ihren weichen, etwas feuchten Arm mit dem vornehmen Geruch und
küßte ihn vorsichtig oberhalb des Handschuhs.

»Ist das wahr? ...« Lyda fragte mit einem ihm unbekannten Ausdruck;
wieder hob sie ihre Augen, deren Blicke Worte zu werden schienen, zu
ihm: »... Ist das wahr, daß du mich liebst? Siehst du denn, wie elend
und zerbrochen ich jetzt bin. Gar nicht mehr, die ich früher war. Ich
fürchte mich vor dir. Ja, ich fange an, das Entsetzliche meiner
Erniedrigung zu erraten. Hab ja aber niemanden, auf den ich mich stützen
könnte ...«

»Zweifelst du? ...« erwiderte Sarudin unsicher, und ein feiner kalter
Strahl, der ihm selbst peinlich war, machte sich in diesen Worten
bemerkbar.

Wieder hob er ihren Arm, um ihn zu küssen.

Ein sonderbares, kompliziertes Durcheinander von Gedanken und Gefühlen
regte sich in ihm. Erst zwei Tage zuvor lagen die matten Haare Lydas
zerstreut auf demselben weißen Kissen, wand sich ihr heißer, biegsamer
Körper im Ausbruche gewaltiger Leidenschaft, ihre Lippen flammten und
Sarudins ganzes Wesen versank in dem fressenden Feuer unerträglichen
Genusses.

In jenem Augenblick verband sich in ihm die ganze Welt, tausende von
Frauen, alle Genüsse, das ganze Leben immer wollüstiger zu der
schamlosen Grausamkeit, gerade diesem demütigen Körper Qualen zu
verursachen.

Doch ebenso plötzlich schlug dieses Gefühl wieder um; Lyda wurde ihm
widerwärtig. Er mußte von ihr fortgehen, sie von sich stoßen, nichts
mehr von ihr hören und sehen. Der Widerwille zeigte sich so
unversöhnlich, daß selbst das Sitzen an ihrer Seite zur Folter wurde.
Aber gleichzeitig machte ihn die dunkle Angst vor ihr, die sich in ihm
wand und krümmte, willenlos und heftete ihn an die Stelle. Mit seinem
ganzen Wesen empfand er, daß ihn nichts mehr mit ihr zusammenhielt. Er
hatte sie mit ihrem Einverständnis, ohne ihr das geringste Versprechen
zu geben, besessen; er gab ihr nur das, was er selbst von ihr erhielt.
Er erwartete, daß Lyda von ihm etwas fordern würde und er mußte entweder
einwilligen oder er handelte lumpenhaft und schmutzig. Das Gefühl
völliger Ohnmacht ergriff ihn, als hätte man aus seinen Gliedern alle
Knochen herausgezogen und in seinen Mund statt seiner Zunge einen nassen
Lappen gehängt. Diese Gedanken verletzten und empörten ihn. Es drängte
ihn aufzuschreien, ihr ein für alle Mal zuzurufen, daß sie kein Recht
hätte, etwas von ihm zu verlangen. Doch sein Herz zog sich nur feige
zusammen und er rief nur eine Dummheit aus, die für ihn selbst
unerwartet kam und garnicht zum Moment paßte.

»Oh, Weib, Weib, -- -- -- so wie Shakespeare sagte.«

Lyda sah ihn erschrocken an. Und plötzlich wurde ihr Hirn von einem
schonungslos grellen Licht durchflammt. Jetzt begriff sie, daß sie
verloren war. Für einen Menschen, der in Wirklichkeit garnicht
existierte, hatte sie das ungeheuer Reine und Große, das zu geben sie
fähig war, von sich gerissen. Ihr herrliches Leben, ihre
unwiederbringliche Reinheit war einem widerwärtigen und feigen Tierchen
vor die Füße geworfen worden; es nahm nichts mit Freude und Dank für den
Genuß entgegen, sondern bespritzte sie nur in Akten stumpfsinniger Gier
mit Kot. Es gab einen Augenblick, wo sie der Ausbruch der Verzweiflung
unter ohnmächtigem Schluchzen und Händeringen fast zu Boden warf.

Aber in krankhafter Geschwindigkeit wurde die Verzweiflung durch eine
Flut rachsüchtigen, stechenden Hasses fortgeschwemmt.

»Begreifen Sie denn wirklich nicht, welch ein Idiot Sie sind?« stieß sie
scharf und leise durch ihre zusammengepreßten Zähne, während sie sich
seinem Gesicht dicht entgegenschob.

Diese groben Worte und der drängende, grimmige Blick waren bei der
feinen und weiblichen Lyda so unerwartet, daß Sarudin unwillkürlich von
ihr abrückte. Aber doch verstand er die ganze Bedeutung dieses Blicks
noch nicht und versuchte ihn noch immer mit einem Scherz beiseite zu
schieben.

»Was sind das für Ausdrücke,« sagte er verwundert und tat ein wenig
verletzt.

»Ich habe an Wichtigeres als an die Ausdrücke zu denken.«

»Aber wozu gleich die Tragik!« Sarudin runzelte unmutig die Stirne. Er
folgte mit plötzlich erwachter Begierde unbewußt der Wölbung ihrer
ausgemeißelten Arme und schlanken Schultern.

Ihre verzweifelt hilflose Geste brachte ihm das Bewußtsein seiner
eigenen Ueberlegenheit wieder zurück.

Es war, als ständen beide auf einer Wage. Senkte sich der eine, so hob
sich sofort der andere. Mit besonderem Vergnügen fühlte Sarudin heraus,
daß dieses Mädchen, das er innerlich für höherstehend wie sich selbst
hielt, und vor dem er in Augenblicken wollüstiger Zärtlichkeiten nicht
seine Scheu überwinden konnte, nach seinen Begriffen jetzt eine
erbärmliche und erniedrigte Rolle spielte. Diese Ueberlegung war ihm
angenehm und stimmte ihn weicher. Sarudin ergriff zärtlich ihre
gesenkten, willenlosen Hände und zog sie leise an sich heran; er erregte
sich schon jetzt und atmete heißer.

»Nun genug doch, es ist ja nichts Schreckliches passiert.«

»Glauben Sie?« fragte Lyda. Sie faßte ihn ganz eigentümlich ins Auge;
aus ihrer Ironie holte sie plötzlich neue Kraft.

»Na, gewiß doch,« antwortete Sarudin und suchte sie mit einer erregenden
und schamlosen Berührung zu umarmen. Aber von Lyda strömte ihm eisige
Kühle, unter der seine Hände unwillkürlich erschlafften, entgegen.

»Nun genug doch! Warum bist du böse geworden, mein Kätzchen,« sagte er
mit zärtlichem Vorwurf.

Mit einer bösen Bewegung riß sich Lyda aus seinen Armen los.

Sarudin fühlte sich physisch darüber verletzt, daß das Aufschnellen
seiner Leidenschaft unnütz verloren gegangen war.

-- -- -- weiß es der Teufel, dachte er. Da fange mal einer mit diesen
Weibern an. Laut fragte er sie: »Was hast du denn eigentlich?« Auf seine
Backenknochen traten rote Flecken.

Als hätte diese Frage in Lyda einen letzten Schleier zerrissen, schlug
sie ihre Hände vors Gesicht und begann ganz unerwartet zu weinen. Sie
schluchzte geradeso wie die Weiber im Dorfe schluchzen. Mit den Händen
das Gesicht bedeckt, den ganzen Körper vornübergeneigt und die Laute
gedehnt ausziehend. Die langen Haarsträhnen hingen längs des nassen
Gesichts; sie wurde häßlich. Lächelnd und doch ängstlich, daß sie dieses
Lächeln kränken könnte, versuchte er ihr die Hände vom Gesichte
loszureißen, aber Lyda drückte sie hartnäckig dagegen und weinte ohne
Unterbrechung.

»Ach du lieber Gott,« stieß Sarudin ärgerlich aus. Wieder kam ihm der
Wunsch, ihr Grobheiten zu sagen, sie zu beschimpfen, an den Haaren zu
zerren.

»Ja, was hast du denn eigentlich. Nun, du bist eben mit mir gelaufen,
was schadet das schon. Und mit einemmal. Was ist denn Großes passiert?
Hör doch endlich damit auf!«

Er ergriff sie am Arm.

Der Kopf Lydas mit dem nassen Gesicht und dem aufgelösten Haar
erschütterte unter dem Stoß, und mit einemmal schwieg sie still, die
Hände gesenkt, ganz zusammengekrümmt; in kindischer Furcht blickte sie
zu ihm herauf. Der wahnsinnige Gedanke, daß von jetzt ab jeder das Recht
hätte, sie zu schlagen, zuckte durch ihr Hirn. Doch Sarudin erschlaffte
selbst wieder und sprach einschmeichelnd und unsicher:

»Aber Lydotschka, genug doch, du bist ja selbst schuld. Wozu diese
Szenen. Nun, du hast gewiß viel verloren. Aber dafür gab es doch auch
viel Glück. Niemals werden wir vergessen, -- -- diese -- --«

Lyda weinte wieder.

»Aber so höre doch endlich auf!« Er ging im Zimmer auf und ab und zupfte
den Schnurrbart über den nervös zitternden Lippen.

Es war still, und hinter dem Fenster schwankten leise, wahrscheinlich
von einem Vogel bewegt, dünne, grüne Zweige.

Sarudin beherrschte sich mit Mühe, kam wieder auf Lyda zu und versuchte
nochmals, sie vorsichtig zu umarmen. Doch sie riß sich augenblicklich
mit scharfem Ruck von ihm los und stieß ihn mit dem Ellenbogen so gegen
das Kinn, daß seine Zähne deutlich aneinanderknackten.

»Ah Teufel!« Er rief es, wütend über den Schmerz, aber noch mehr darum,
weil das Klappern seiner Zähne sehr unerwartet und komisch war.

Obgleich es Lyda selbst garnicht bemerkt hatte, fühlte sie
unwillkürlich, daß die Situation für Sarudin lächerlich geworden war.
Und mit weiblicher Grausamkeit nützte sie diesen Umstand aus.

»Was sind das für Ausdrücke,« äffte sie höhnisch.

»Das kann jeden in Wut bringen, denke ich. Wenn man wenigstens wüßte, um
was es sich handelt.«

»Und das merken Sie noch immer nicht?« Lyda behielt noch immer die
gleiche Ironie bei.

Schweigen trat ein. Lyda sah ihn gerade an und ihr Gesicht flammte auf.
Plötzlich begann Sarudin rasch und gleichmäßig blaß zu werden, als wenn
eine graue Decke von außen über seine Mienen gezogen würde.

»Nun, weshalb schweigen Sie? ... Sagen Sie doch etwas! Trösten Sie doch!
...« Lydas Stimme brach in einen hysterischen Schrei ab, vor dem sie
selbst erschreckte.

»Ich? ...« Sarudins Unterlippe zitterte.

»Gewiß! Kein anderer! Leider sind Sie es gerade!« schrie sie, fast
erstickt von bösen, verzweifelten Worten, die den letzten Schleier der
Feinheit zwischen ihnen zerrissen und mit einemmal aus ihnen eine
verzerrte Bestie herausbrechen ließen.

Reihen von Gedanken durchschlüpften blitzschnell, einem Schwarm flinker
Mäuse gleich, das Hirn Sarudins. Sein erster Gedanke war, Lyda Geld zu
geben, damit sie die Frucht abtreibe und der Sache ein Ende mache. Aber
trotzdem er das für das Beste hielt, wagte er es nicht vorzuschlagen.

»Das habe ich wirklich nicht erwartet,« stammelte er.

»Nicht erwartet? ... So. Und mit welchem Recht wagten Sie es, das nicht
zu erwarten?«

»Lyda ... ich habe doch eigentlich nichts ...« Sarudin fürchtete seine
eigenen Worte schon im Voraus, sah aber ein, daß es gesagt werden mußte.

Lyda verstand ihn auch so. Wilde Verzweiflung durchbrach ihr schönes
Gesicht. Ohnmächtig ließ sie die Hände fallen und setzte sich aufs Bett.

»Gott, was soll ich denn nur machen,« sagte sie mit seltsamer
Nachdenklichkeit vor sich hin. »Soll ich ins Wasser gehen ... oder wie,
was? ...«

»Na, ... warum gleich das!«

»Und wissen Sie, Viktor Sergejewitsch ... Sie hätten wahrscheinlich
garnichts dagegen, wenn ich es wirklich täte!« In ihren Augen und den
Zuckungen der feinen Lippen lag etwas so Trauriges und Furchtbares, daß
Sarudin unwillkürlich die Augen abwendete.

Lyda stand auf. Ekelndes Grauen packte sie plötzlich, daß sie nur einen
Augenblick an ihn als ihren Retter denken konnte; daran, daß sie mit ihm
für immer leben sollte. Und nun wünschte sie, nur noch einmal mit der
Hand abzuwinken, um ihm mit dieser einen Bewegung ihre Verachtung
auszudrücken und alle Demütigungen zu rächen; doch sie fühlte, daß sie,
sobald sie zu sprechen begänne, auch anfangen müsse, zu weinen und sich
dann nur noch mehr erniedrigen würde. Eine Regung des Stolzes, der
letzte Ueberrest der schönen und starken Lyda, hielt sie davon zurück.
Statt dessen sagte sie nur, zusammengepreßt, aber klar und deutlich:

»Rindvieh!«

Dann stürzte sie zur Tür, daß die Spitzenmanschetten der Aermel von der
Klinke erfaßt und zerrissen wurden.

Sarudin stieg das Blut zu Kopf. Hätte sie ihm Halunke oder Schurke
zugerufen, so würde er das ganz ruhig ertragen haben, aber gerade das
Wort Rindvieh klang besonders häßlich und widersprach ganz der
Vorstellung, die er sich über seine Person gebildet hatte, er wurde
vollständig verwirrt. Sogar das Weiße seiner schönen, konvexen Augen
rötete sich. Er lächelte ratlos, zuckte die Schultern, riß seinen Kittel
auf und schloß ihn wieder und empfand im Augenblick nur, daß er tief
unglücklich sei. Aber gleichzeitig damit begann in irgend einem Winkel
unwillkürlich das Gefühl der Freude darüber zu wachsen, daß die Affäre
mit Lyda so oder anders, doch auf jeden Fall zu Ende kam. Ein feiger
Gedanke flüsterte ihm wieder zu, daß ein solches Mädchen wie Lyda ihn
niemals mehr aufsuchen würde. Eine Sekunde lang tat es ihm leid, daß ihm
eine so schöne und geschmackvolle Geliebte verloren gehen sollte, aber
dann schlug er gleichgültig mit der Hand durch die Luft und dachte:
Hol's der Teufel, es gibt deren viele.

Er ordnete den Kittel, zündete sich mit Fingern, die noch zitterten,
eine Zigarette an, markierte auf dem Gesichte einen geschickten,
sorglosen Ausdruck und ging zu seinen Gästen zurück.




                                  XVII


An dem Spiel war außer dem betrunkenen Malinowski niemand mehr
interessiert.

Alle beschäftigte allein die Frage, was für ein Mädchen zu Sarudin
gekommen sei. Die, welche errieten, daß es sich um Lyda Ssanina handele,
waren unbewußt neidisch, und ihre Einbildung störte sie am Spiel, indem
sie ihnen Lydas ungekannte Nacktheit und ihre Intimitäten mit Sarudin
vorspiegelte.

Ssanin blieb nicht lange bei den Karten sitzen. Er stand auf und sagte:
»Ich mache nicht mehr mit! Auf Wiedersehen!«

»Warte, Bruder, wo willst du hin?« fragte Iwanow.

»Will mal hingehen und nachschauen, was da eigentlich passiert.« Ssanin
zeigte mit den Fingern auf die geschlossene Tür. Alle belachten seine
Worte als einen Scherz.

»Genug, den Hans Narr zu spielen! Komm, setz dich hin, genehmigen wir
einen.«

»Du bist selbst ein Hans Narr,« erwiderte Ssanin gleichgültig Iwanow und
ging hinaus.

Als er in eine schmale Gasse trat, in der saftige und dichte
Nesselsträucher wuchsen, machte er sich zunächst klar, wo sich die
Fenster von Sarudins Zimmer befinden mußten. Es gelang ihm, die
Nesselsträucher vorsichtig mit dem Fuße beiseite zu drücken; er kam bis
an den Zaun und kletterte elegant hinauf. Oben vergaß er fast, weshalb
er hinaufgeklettert war, so angenehm war es ihm, von dem hohen Platz
herab, auf das grüne Gras und den dichten Garten zu schauen und mit
allen von der Bewegung angespannten Muskeln, den frischen, weichen
Luftzug zu empfinden, der die Hitze milderte, und frei durch seine dünne
Bluse hindurchlief. Dann sprang er wieder hinab, trat in die Nesseln,
kratzte melancholisch die verbrannten Stellen und schritt durch den
Garten.

Er trat grade in dem Augenblick an das Fenster, als Lyda zu Sarudin
sagte: »Und haben Sie denn selbst nichts gemerkt? ...« Sofort verstand
er an dem seltsamen Tonfall ihrer Stimme, um was es sich handelte. Mit
den Schultern an die Wand gelehnt, blickte er in den Garten hinein und
lauschte doch interessiert den Stimmen, die durch die Erregung entstellt
waren. Es tat ihm um die schöne, in den Schmutz gezogene Lyda leid, zu
derem reizenden Bild das rauhe, tierische Wort schwanger so garnicht
paßte. Aber noch tiefer als der Inhalt ihres Gesprächs berührte ihn der
sonderbare und unsinnige Kontrast zwischen den erbosten Menschen im
Zimmer und der lichten Stille des grünen Gartens, die auch diesen
Menschen von der Natur gegeben war.

Ein weißer Falter schwebte leicht durch das Gras; sich in der sonnigen
Luft badend, senkte er sich und schwirrte wieder empor. Seinen Flug
verfolgte Ssanin ebenso aufmerksam, wie die Worte im Zimmer.

Als Lyda Rindvieh schrie, lachte Ssanin hell auf, prallte mit seinem
ganzen Körper von der Wand zurück und ohne daran zu denken, daß man ihn
sehen könnte, schritt er langsam durch den Garten. Eine Eidechse, die
gewandt seinen Weg kreuzte, lockte seine Aufmerksamkeit; sein Blick lief
lange hinter ihrem biegsamen Körperchen her, das elegant durch die
grünen Grasbüschel glitt.




                                 XVIII


Lyda ging nicht nach Hause, sondern lief in der entgegengesetzten
Richtung gradaus.

Die Straßen waren leer; die Luft, von den heißen Sonnenstrahlen mit
Glutwellen durchsetzt, zitterte schwer. Kurze Schatten lagen hart an
Zäunen und Mauern, wie vernichtet von der triumphierenden Glut.

Lyda schützte sich nur aus Gewohnheit mit ihrem Schirm, ohne zu
bemerken, ob es heiß oder kühl wäre, hell oder dunkel; sie lief schnell
die mit staubigem Gras bewachsenen Zäune entlang und schaute mit
trockenen, glänzenden Augen, gesenkten Kopfes, auf ihre Füße. Ab und zu
begegneten ihr erhitzte und keuchende Menschen, die von der Hitze schon
ganz zermürbt waren; aber es waren nur wenige. Sommerliche
Nachmittagsstille lag über der Stadt.

Ein fremdes, weißes Hündchen beschnüffelte eilig und vorsichtig Lydas
Rock und trottete ihr dann voran, sah sich um und wedelte mit dem
Schwanz, als Beweis, daß es mit ihr zusammenhalten wolle. An einer
Straßenecke stand ein kleiner, grotesk dicker Knabe, aus dessen Hose
hinten das Hemdchen stach; mit beerenbeschmutzten Backen pfiff er
verzweifelt auf einer Schote.

Lyda winkte dem Hündchen mit der Hand zu, lächelte den Jungen an; alles
das aber streifte nur die Oberfläche ihres Bewußtseins; ihre Seele blieb
verschlossen. Eine düstere Macht, die sie von der ganzen Welt trennte,
riß sie, die Einsame und Tote, eilends weiter, an dem lichten Grün der
Sonnenhelle und der Lebensfreude vorbei, immer weiter und weiter, einem
schwarzen Abgrund entgegen, dessen Nähe sie bereits an der kühlen und
erschlaffenden Wehmut fühlte, die ihr Herz umzog.

Ein bekannter Offizier ritt an ihr vorbei. Sobald er sie bemerkte, ließ
er seinen verschwitzten Fuchs tänzeln und karessieren. Auf dem glatten
Fell des Pferdes glitt die Sonne mit goldschmiedenen Tupfen nieder.

»Lydia Petrowna,« rief er mit lauter und fröhlicher Stimme. »Wohin gehen
Sie in dieser Hitze?«

Lyda ließ ihre Augen unbewußt über seine kleine Mütze, die fesch auf
seiner halbgeröteten Stirn saß, gleiten und schwieg, obgleich sie ihn
aus Gewohnheit kokett anlächelte. Doch fragte sie sich in diesem
Augenblick selber ratlos: Wo soll ich denn nur hin? ...

In ihr war kein Haß gegen Sarudin; sie dachte garnicht an ihn. Als sie
vorher, ohne selbst zu wissen, weshalb, zu ihm gegangen war, schien es
ihr unmöglich zu sein, allein weiterzuleben und ihr Unglück ohne ihn zu
überwinden. Aber jetzt war er einfach aus ihrem Leben verschwunden. All
dies war gewesen und war gestorben; -- was zurückblieb, ging nur sie an
und konnte nur durch sie allein gelöst werden. Ihre Gedanken arbeiteten
fieberhaft schnell und deutlich. Das Entsetzlichste war, daß allmählich
die stolze Lyda verschwand und an ihre Stelle ein kleines, gehetztes,
beschmutztes Tierchen trat, das alle Menschen verhöhnen werden und das
nun ganz hilflos gegen Geklatsch und Gekeif dastehen wird. Doch ihr
Stolz und ihre Reinheit mußten davor behütet werden; sie mußte sich aus
dem Schmutze dorthin retten, wo sie die klebrige Welle nicht mehr
erreichen konnte.

Und in einer Sekunde hatte Lyda sich klar gemacht, daß es um sie leer
wurde, daß Sonnenlicht und Menschen nicht mehr für sie existieren; sie
würde unter ihnen einsam bleiben. Es gibt keinen Platz mehr, auf dem sie
frei und aufrecht stehen kann; sie muß sterben, sie muß ins Wasser
gehen.

Das erschien ihr so abgeschlossen und sicher, als wenn sich zwischen ihr
und alldem, was früher war und was noch hätte kommen können, eine
steinerne Kreismauer aufbaute. Für einen Augenblick schwand sogar die
eigenartige, widerwärtige Empfindung, die sich in ihr seit jener Zeit,
da sie zum erstenmal erriet, daß ein unbegreiflich neues Wesen ihr Leben
in Trümmern schlug, festgesetzt hatte.

Um sie herum bildete sich eine leichte, farblose Leere, in der die
Gleichgültigkeit des Todes herrschte.

-- -- -- Wie einfach doch das alles im Grunde ist. -- -- -- Man braucht
doch eigentlich nichts weiter ... dachte Lyda sich umwendend.

Nach und nach schritt sie schneller aus und doch kam es ihr, trotzdem
sie fast nicht mehr ging, sondern rannte, noch immer unerträglich
langsam vor. Dazu verwickelten sich ihre Füße fortgesetzt in ihren zu
weiten, modernen Rock.

Nur dieses Haus und dann noch eines mit grünen Läden und dann nur noch
den Bauplatz ...

Der Fluß, die Brücke, und das, was sich dort unbedingt ereignen würde,
trat nicht vor Lydas Augen. An ihrer Stelle lag irgend ein leerer
Nebelfleck, in dem alles versinken mußte.

Aber dieser Zustand hielt nur so lange an, bis Lyda die Brücke betrat.
Sowie sie am Geländer stehen blieb und das trübe, grüne Wasser unten
plätschern sah, schwand sofort das Gefühl der Gewichtslosigkeit und in
ihr ganzes Wesen senkte sich schwere Angst und klammerndes Verlangen
nach dem Leben.

Sofort vernahm sie auch wieder den Schall der verschiedensten Stimmen,
das Zwitschern der Spatzen, sah das Sonnenlicht, weiße Gänseblümchen
zwischen krausem Ufergras und das weiße Hündchen, welches zu dem
endgültigen Entschluß gekommen war, Lyda als seine legitime Herrin zu
betrachten. Es setzte sich vor sie nieder, zog das Vorderpfötchen etwas
an, und klopfte mit seinem weißen Schwänzchen rührselig auf die Erde.

Lyda sah das Hündchen ernst an und drückte es plötzlich in einer
leidenschaftlichen, verzweifelten Aufwallung an sich. Schwere Tränen
traten ihr in die Augen und das Gefühl des Mitleides mit ihrem schönen,
untergehenden Leben war so stark, daß ihr der Kopf schwindelte und sie
sich auf das sonnenerhitzte Geländer stützte. Bei dieser Bewegung fiel
ihr der Handschuh ins Wasser; mit unbegreiflichem, stummen Entsetzen
verfolgte sie ihn mit den Augen.

Kreisend trieb er auf der Oberfläche, dann sank er lautlos durch die
glatte, schläfrige Wasserdecke nach unten. Rasch wachsende Kreise liefen
dem Ufer zu und Lyda konnte noch immer sehen, wie der hellgelbe
Handschuh dunkler wurde und ganz allmählich in der ernsten, grünlichen
Tiefe verschwand. Plötzlich stieg er noch einmal, eigentümlich, wie in
einer schwermütigen Agonie, nach oben und drehte sich wiederum in
langsamen, kreisförmigen Bewegungen. Lyda spannte ihre Blicke an, um ihn
nicht aus den Augen zu verlieren, aber der gelbe Fleck wurde immer
kleiner und dunkler, durchbrach dann noch einmal die grünliche Decke und
verschwand endlich lautlos. Ebenso wie früher lag jetzt wieder eine
glatte, schläfrige, dunkle Fläche vor Lydas Augen.

»Wie kam es denn, Fräulein!« ertönte in der Nähe eine weibliche Stimme.
Erschrocken wandte sich Lyda um und sah in das Gesicht eines dicken
Weibes, das sie mit neugierigem Mitleid anblickte.

Obgleich sich dieses Mitleid nur auf den hineingefallenen Handschuh
bezog, schien es Lyda, daß dieses dicke, gutmütige Weib sie kennen und
bedauern müsse. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, es würde ihr
leichter werden, wenn sie ihr einfach alles erzählen wollte. Doch zur
gleichen Zeit, wie in zwei Teile gespalten, verstand Lyda, daß diese
Gedanken unsinnig waren. Sie wurde rot, kam in Hast, stammelte: »Ach
nichts, garnichts,« und lief eilig und schwankend, wie eine Betrunkene,
von der Brücke fort.

-- -- -- Hier geht es nicht, das sieht man schon, schwirrte es durch die
kalte Leere, die sich in Lydas Kopf ausgebreitet hatte.

Sie ging nach links abbiegend, einen schmalen Pfad am Ufer entlang, der
zwischen Nesseln, Winden und bitterriechendem Wermut ausgetreten war,
neben sich den Fluß und die verwachsene Hecke eines Gartens. Hier war
alles still und friedlich wie in einer Dorfkirche. Die Weiden blickten
mit nachdenklich gesenkten, feinen Zweigen über das Wasser. Die Sonne
warf bunte Flecken und Streifen auf das grüne, steile Ufer. Die breiten
Windenblätter lagen starr in den hohen Nesselbüschen und harte Disteln
hefteten sich an die breiten Spitzen von Lydas Rock. Irgend ein krauses
Gras, hoch wie ein Bäumchen, bestreute sie mit feinem, weißen Staub.

Jetzt mußte sie sich schon zwingen, entgegen der starken, inneren Kraft,
die mit ihr rang, den Ort zu erreichen, wohin es sie vorher von selbst
getrieben hatte.

... Ich muß, ... ich muß, ... ich muß ... wiederholte sich Lyda mit
eiserner Energie. Doch als ob sie noch auf jedem Schritt irgend welche
zähe Fesseln zu zerreißen hätte, konnte sie ihre Füße nur mit Mühe
vorwärts schieben, einer bestimmten Stelle zu, die ihr jetzt ohne zu
wissen warum, als das Ende des Weges bestimmt schien.

Als sie sie erreicht hatte, und unter dem dünnen, verworrenen Gesträuch
das kalte Wasser erblickte, welches schnell das überhängende Ufer
umfloß, begann sie zu begreifen, wie stark in ihr noch der Drang zu
leben war und wie entsetzlich das Sterben ist. Und daß sie dennoch
sterben mußte, weil sie nicht leben durfte. Ohne hinzusehen, warf sie
den zweiten Handschuh und den Schirm auf das Gras, und ging über den
Pfad hinaus durch dichte Disteln an das Ufer heran.

In diesem Augenblick erinnerte sich Lyda an unermeßlich vieles und
vieles durchlebte sie: -- und tief in ihrer Seele stammelte ohne
Unterlaß ein kindlicher Glaube, der längst vergessen und von neuen
Gedanken zurückgedrängt worden war, voll naiven Flehens und voller
Angst: Mein Gott, mein Gott, hilf mir doch! -- -- --

Irgendwie drängten sich die Töne einer Arie dazwischen, die sie vor
kurzem am Piano übte, und schwirrten lückenlos durch ihren Kopf. Sie
erinnerte sich an Sarudin, hielt sich aber nicht bei diesem Gedanken
auf. Dann stieg das Gesicht der Mutter, das ihr in diesem Augenblick
unendlich teuer und lieb war, vor ihr auf und gerade hierdurch wurde sie
von neuem dem Wasser zugestoßen. Niemals vorher oder später, verstand
Lyda mit solcher Klarheit und Tiefe, daß die Liebe der Mutter und all
der anderen Menschen, im Grunde genommen garnicht ihr selbst, so wie sie
mit ihren Mängeln und Wünschen war, galt, sondern nur dem, was sie in
ihr sehen wollten. Nun aber, wo sie nackt wurde und sich von dem Wege
entfernte, den diese Leute allein für gangbar hielten, mußte sie von
ihnen um so mehr mißhandelt werden, als sie früher geliebt worden war.

Dann verwirrte sich alles wie im Fieber: Angst und der Trieb zu leben,
das Bewußtsein der Unentrinnbarkeit, Hoffnung auf irgend etwas und doch
die Sicherheit, daß alles zu Ende sei, die Verzweiflung, die qualvolle
Erkenntnis der Stelle, an der sie sterben sollte; plötzlich auch die
Gestalt eines Menschen, der ihrem Bruder ähnlich sah und eilig über die
Hecke geklettert kam.

In diesem Augenblick rief er sie auch keuchend an: »Etwas Dümmeres
hättest du dir auch nicht aussuchen können!«

Jener unfaßbare Zusammenhang von Wünschen und Trieben, führte Lyda
gerade zu dem Fleck, wo Sarudins Garten endete, und wo sie sich ihm
einst auf halbzerfallener Hecke, in unbequemer Lage, vor dem Mondlicht
durch den schwarzen Schatten der Bäume gedeckt, hingegeben hatte. Ssanin
hatte sie schon von weitem gesehen und erkannt; er erriet sogleich, was
sie im Sinne hatte. Seine erste Bewegung war fortzugehen und sie in
nichts zu stören. Aber ihre, offenbar unbewußt hastigen Bewegungen,
zogen sein Herz vor Mitleid zusammen; er stürzte, ohne zu überlegen, im
Laufschritt über die Sträucher und Bänke des Gartens springend, zu ihr
hin.

Seine Stimme machte einen furchtbaren Eindruck auf sie. Ihre Nerven, bis
zum äußersten im Kampfe mit sich selbst angespannt, erschlafften
augenblicklich, ihr Kopf wurde von Schwindel ergriffen, und alles um sie
begann sich mit leichten Kreisbewegungen von ihr zu entfernen. Lyda
konnte nicht mehr fassen, wo sie sich eigentlich befand, ob im Wasser
oder auf dem Ufer. Hart am Rande gelang es Ssanin noch, sie zu
ergreifen; seine eigene Geschicklichkeit und Kraft kamen ihm angenehm
zum Bewußtsein und riefen in ihm ein starkes Gefühl der Freude hervor.

»So,« sagte er befriedigt. Dann führte er Lyda zur Hecke, setzte sie
herauf und sah sich ratlos um.

-- -- -- Was soll ich nur mit ihr anfangen, dachte er. Doch Lyda kam
sofort wieder zu sich; blaß, verwirrt und wie zerbrochen, weinte sie
bitter und unaufhaltsam vor sich hin.

»Gott, Gott,« stammelte sie, wie ein Kind schluchzend.

»Du bist ein Dümmchen,« sagte Ssanin zärtlich und mitleidsvoll.

Lyda hörte ihn nicht; aber als er eine Bewegung machte, klammerte sie
sich krampfhaft und fest an seinen Arm und weinte noch lauter.

»Was tue ich nur,« dachte sie mit Entsetzen. Ich darf doch nicht weinen;
ich muß ja jetzt das Ganze als Scherz hinstellen, sonst errät er alles.

»Nun leidest du,« meinte Ssanin, und streichelte sie weich über die
Schultern; es war ihm angenehm, so zärtlich sprechen zu können.

Lyda sah unter dem Rand des Hutes herauf, ganz kindlich in sein Gesicht;
plötzlich wurde er still.

»Ich weiß ja alles. Die ganze Geschichte kenne ich schon lange.«

Trotzdem Lyda wußte, daß ihre Beziehungen zu Sarudin den Leuten bekannt
waren, riß sie sich mit ihrem ganzen biegsamen Körper von Ssanin los,
als wenn er sie über das Gesicht geschlagen hätte. Ihre weitgeöffneten,
im Augenblick ausgetrockneten Augen, hefteten sich mit dem prachtvollen
Entsetzen eines reizenden, gehetzten Tieres auf den Bruder.

»Nun, was tust du so, als wenn ich dir auf den Schwanz getreten hätte.«
Ssanin lächelte gutmütig, griff sie mit Vergnügen an die runden, weichen
Schultern, die unter seinen Händen ängstlich zitterten, und hob sie
wieder auf die Hecke. Unterwürfig nahm Lyda die frühere, gebrochene
Stellung ein.

»Was hat dich denn so zerschmettert? Daß ich alles weiß? ... Als du dich
Sarudin hingabst, glaubtest du da so schlecht zu handeln, daß du dich
jetzt vor dem offenen Eingeständnis fürchtest? Das begreife ich
überhaupt nicht. Und, daß Sarudin dich nicht heiraten wollte. Nun, danke
Gott dafür! Jetzt weißt du es ja selbst ... und du hast es auch früher
gewußt, daß dieses Kerlchen ein ganz schmutziges und niederträchtiges
Kerlchen ist, obgleich er hübsch ist und -- -- sich sicher zur Liebe
eignet. Ja, das war das einzige Schöne in ihm, die Schönheit, na und die
hast du wohl zur Genüge ausgekostet.«

-- -- -- _er_ meine und nicht _ich_ ... oder auch ich? ... Ja, ... Gott,
Gott, ... schwirrte es in dem heißen Kopfe Lydas.

»Ja, daß du schwanger bist ...«

Lyda schloß die Augen und zog den Kopf tief in die Schultern ein.

»Das ist natürlich schlimm,« fuhr Ssanin mit weicher, fast lautloser
Stimme fort. »Erstens, ... es ist eine furchtbar langweilige Geschichte,
Kinder in die Welt zu setzen, ... schmutzig und sinnlos. Zweitens, die
Leute werden dich dann zu Tode hetzen ... Und das wird wohl die
Hauptsache sein! Lydotschka, du meine kleine Lydotschka,« fiel sich
Ssanin selbst in stürmischem Aufwallen schöner, zarter Empfindungen ins
Wort. »Niemandem hast du doch etwas Böses getan, und wenn du selbst ein
Dutzend Göhren zur Welt brächtest; -- Herrgott, kein andrer hat
Unannehmlichkeiten davon als du.«

Ssanin schwieg still und biß nachdenklich auf den Schnurrbart; die Arme
hielt er auf der Brust verschränkt.

»Ich würde dir sagen, was du machen sollst, aber dazu bist du zu schwach
und dumm ... Dafür reicht dein Mut nicht aus. Aber auch zu sterben lohnt
sich nicht. Sieh nur, wie schön alles ist. Sieh, wie die Sonne leuchtet,
sieh, wie das Wasser fließt. Stelle dir doch vor, daß man nach deinem
Tod erfährt, du wärest schwanger gewesen. Was geht es dich dann an.
Folglich stirbst du nicht, weil du schwanger bist, sondern nur weil du
die Menschen fürchtest. Weil du Angst davor hast, daß sie dir keine Ruhe
lassen. Das Entsetzliche deines Unglücks besteht nicht darin, daß es an
und für sich ein Unglück ist; nein, nur darin, daß du es zwischen dich
und dein Leben stellst. Und du denkst dir, es gäbe nichts weiter hinter
ihm. Du fürchtest dich doch nicht vor den Menschen, die dich nicht
kennen; natürlich nur vor denen, die dir am nächsten stehen. Und am
meisten vor allen, die dich lieben. Und für die ist dein Fall ein
schwerer Schlag, aber nur, weil, weil er nicht auf dem Ehebett, sondern
irgendwo im Wald auf dem Grase oder sonstwo vor sich ging. Die werden
doch nicht zögern, dich für deine Sünde zu bestrafen, -- was kann dir
also noch an ihnen liegen? ... Du siehst, sie sind dumm, grausam und
philisterhaft, -- warum sich also quälen und in den Tod gehen, weil
dumme, abgeschmackte, grausame Menschen existieren ...«

Lyda richtete weit geöffnete, fragende Augen auf ihn; in ihrem Blick sah
Ssanin einen Funken von Verständnis aufblitzen.

»Was kann ich aber sonst tun? ... Was kann ich tun? ...« sagte sie
schwermütig.

»Zwei Auswege hast du vor dir: entweder du machst dich von diesem Kinde
frei ... dieses Geschöpf fehlt ja noch niemandem auf der Welt; seine
Geburt wird auch niemandem etwas anderes als Schaden bringen ...«

Schwere Angst zeigte sich in Lydas Augen.

-- -- -- »Es ist vielleicht grausam, ein Wesen zu töten, das bereits die
Freude des Lebens und den Schrecken des Todes verstanden hat, aber einen
Keim zu töten, ein sinnloses Klümpchen von Blut und Fleisch ...«

In Lyda entstand ein sonderbares Gefühl. Zuerst eine prickelnde Scham,
als wenn man sie bis zur Nacktheit entkleidet und mit groben Fingern in
den tiefsten Geheimnissen ihres Körpers gewühlt hätte. Sie fürchtete,
den Bruder anzusehen, damit sie beide nicht vor Scham vergingen. Aber
die grauen Augen Ssanins blinzelten garnicht; sie sahen scharf und klar
vor sich; seine Stimme klang ruhig und fest, es war, als spräche er über
die selbstverständlichsten und gewöhnlichsten Dinge. Unter der
Unbeweglichkeit dieser Worte zerfloß die Scham; sie verlor ihre Schärfe,
ja fast ihren Sinn. Lyda sah den tiefen Grund in diesen Worten und
fühlte, daß sie jetzt jede Angst überwunden hatte. Dann, über die
Schärfe ihres Denkens erschreckt, faßte sie sich mit Verzweiflung an die
Schläfen; die Aermel ihres Kleides schwangen sich wie die Flügel eines
aufgestörten Vogels.

»Ich kann es nicht, kann nicht,« fiel sie ihm ins Wort. »Vielleicht ist
es auch so, ... möglicherweise ... aber ich kann es nicht ... es ist zu
entsetzlich.«

»Nun, wenn du es nicht kannst, ... was ist da zu tun,« sagte Ssanin, vor
ihr niederknieend, und zog ihre Hände still vom Gesicht ab. »Dann werden
wir es verheimlichen. Ich werde es dahin bringen, daß Sarudin von hier
abreist und du ... heiratest Nowikow und wirst glücklich werden ... Ich
weiß sicher, wenn nicht diese hübsche Bestie von Offizier gekommen wäre,
würdest du Nowikow lieb gewonnen haben ... Sicher wäre es dazu
gekommen.«

Bei dem Namen Nowikow schwang sich etwas Helles und Liebes wie ein
lichter Strahl durch Lydas Seele. Weil sie durch Sarudin so unglücklich
geworden war, weil sie fühlte, daß Nowikow sie niemals dahin gebracht
hätte, erschien ihr eine Sekunde lang das Ganze als ein einfacher und
leicht gutzumachender Irrtum, aus dem alles Entsetzliche verschwinden
müsse: Sogleich wird sie aufstehen, gehen, ein paar Worte sprechen und
lächeln; und gleich wird sich das Leben wieder in seinen leuchtenden
Sonnenfarben vor ihr entfalten. Wieder wird sie frei atmen dürfen,
wieder lieben, nur um vieles besser, stärker und reiner. Doch sofort
erinnerte sie sich, daß die Hoffnungen zwecklos wären, da sie bereits
durch die unwürdige, sinnlose Hingabe beschmutzt und zerknüllt sei, wie
ein Fetzen Papier. Ein ungewöhnlich grobes Wort, das ihr kaum bekannt
und niemals von ihr gebraucht war, trat ihr plötzlich ins Bewußtsein.
Mit diesem Ausdruck brandmarkte sie sich wie mit einer schweren Ohrfeige
in schmerzhafter Wollust; sie erschrak vor sich selbst.

-- -- -- Herrgott, aber ist es wirklich schon so weit? ... Bin ich denn
solch eine. Ja, gewiß, so eine. Ganz genau so. Hier zeigt es sich.

»Was sprichst du da? ...« flüsterte sie verzweiflungsvoll ihrem Bruder
zu und schämte sich ihrer wie immer klangvollen und schönen Stimme.

»Und was denn sonst? ...« fragte Ssanin zurück. Er schaute von oben
herab auf ihre schönen in Unordnung geratenen Haare und den gesenkten
weißen Nacken, auf dem ein leichter goldiger Tupfen Sonnenlichts, der
durch die Blätter hindurchgefallen war, schwankte.

Ihm wurde allmählich ängstlich zumute, daß es ihm noch nicht gelungen
war, sie zu überreden und daß dieses schöne, sonnige Mädchen, welches so
vielen Glück zu geben vermochte, in sinnlose Leere versinken sollte.

Lyda schwieg hilflos. Sie strengte sich an, in sich die herbeigesehnte
Hoffnung zu ersticken, die gegen ihren Willen ihren ganzen Körper erfaßt
hatte. Ihr schien, daß es nach dem Geschehenen nicht nur beschämend
wäre, weiterzuleben, sondern daß allein schon der Wunsch nach dem Leben
unrecht war. Aber ihr starker, glutvoller Körper stieß diese
schwächlichen Gedanken wie ein Gift von sich und wollte die
verkrüppelten, mißgeborenen Kinder nicht als die Seinen anerkennen.

»Warum schweigst du denn,« fragte Ssanin.

»Das ist doch unmöglich ... das wäre gemein ... ich ...«

»Hör mit dem Unsinn auf,« erwiderte er mißvergnügt.

Lyda schielte wieder mit ihren schönen Augen voll Tränen und verborgenen
Wünschen auf ihn. Ssanin blieb still, riß an einem kleinen Zweig, bis er
abbrach und warf ihn von sich.

»Gemein, gemein,« wiederholte er. »Dich hat wohl furchtbar überrascht,
was ich dir vorschlug ... Weshalb? ... Glaube, weder du noch ich, wir
werden beide auf diese Frage keine bestimmte Antwort geben können. Und
wenn wir selbst eine fänden; es wird doch keine rechte sein ... Ein
Verbrechen? ... Was ist denn ein Verbrechen? ...«

»Wenn die Mutter bei der Geburt vom Tode bedroht wird, so ist es kein
Verbrechen, ein bereits lebendes Kind, das jeden Augenblick losbrüllen
will, in Stücke zu schneiden, zu vierteilen, ihm den Kopf mit einer
stählernen Zange zu zerdrücken. Es ist eben nur eine unglückliche
Notwendigkeit. Und einen unbewußten physiologischen Prozeß, irgend etwas
noch nicht Existierendes, irgend eine chemische Reaktion, einzuhalten,
das ist ein Verbrechen, etwas Entsetzliches, ja ... Ein Verbrechen!
Obgleich das Leben der Mutter davon genau so gut abhängt und sogar noch
etwas größeres als ihr Leben ... ihr Glück. Warum das eigentlich!
Niemand kann darauf eine Antwort geben, aber alle brüllen Bravo ...«
Ssanin lächelte. »Ja, so sind sie, die Menschen, so machen sie sich
irgend ein Schemen, ein Gesetz, eine Fata Morgana und leiden darunter
... Und dann schreit man noch ... Der Mensch, das ist was herrliches,
ist erhaben, unbegreiflich, ... ein Mensch ist ein König ... Ein König
der Natur, der niemals zum Herrschen kommt ... Immer fürchtet er sich
vor seinem Schatten ...«

Ssanin schwieg eine Weile.

»Aber im Uebrigen handelt es sich ja garnicht darum. Du sagst ...
Niederträchtig ... Nun, ich weiß nicht, ... vielleicht. Aber wenn man
jetzt Nowikow von deiner Geschichte erzählte, wird er ein tragisches
Drama durchleben, sich vielleicht erschießen, aber, er wird doch nicht
aufhören, dich zu lieben. Und er wird selbst daran Schuld haben, weil er
eben an demselben Aberglauben leidet. Vor der Oeffentlichkeit wird er
das natürlich nicht zugeben. Wenn er wirklich vernünftig wäre, würde er
sich gar nicht darum kümmern, daß du schon mit irgend jemandem
zusammengelegen hast. Weder dein Körper noch deine Seele sind dadurch im
Geringsten schlechter geworden. Herrgott, eine Witwe zum Beispiel würde
er doch ohne weiteres heiraten. Also offenbar handelt es sich garnicht
um die Tatsache; es liegt einfach an der Konfusion, die in seinem Kopfe
herrscht. Und du? ... Ja, wenn die Menschen nicht anders können, als nur
einmal zu lieben, ja, dann würde wohl bei dem Versuch, es ein zweites
Mal zu tun, nichts herauskommen. Es müßte nur schmerzhaft, unbequem,
abscheulich sein. Aber das ist doch nicht im geringsten der Fall. Alles
ist gleich angenehm und vergnüglich. Du wirst Nowikow lieben ... oder --
liebst du ihn wirklich nicht? Weißt du, so reise doch mit mir mit,
Lydotschka! Man kann doch überall leben.«

Lyda seufzte, und strengte sich an, aus ihrem Innern etwas Schweres
fortzustoßen.

-- -- -- und vielleicht wird wirklich alles wieder gut. Nowikow ... er
ist doch lieb, gut ... und auch hübsch ... Aber nein, ich weiß nicht ...

»Und welchen Zweck hätte es nun gehabt, wenn du dich wirklich ersäuft
hättest. Gut und Böse würde weder Gewinn noch Verlust dadurch haben,
nein, nur Schleim würde deiner aufgedunsenen, formlosen Leiche ankleben,
dann würde man dich herausziehen und einbuddeln, ... weiter nichts.«

Vor Lydas Augen tat sich eine grüne, unheimliche Tiefe auf, schleimige
Fäden, Streifen, Blasen schlängelten sich in langsamen Windungen an sie
heran; im selben Augenblick packte sie auch schon eine furchtbare
Bangigkeit.

Nein, nein, niemals, ... lieber die Schande, Nowikow, -- alles mögliche,
nur nicht das! dachte sie erblassend.

»Da siehst du, wie du vor Grauen vollständig zusammenklappst.«

Lyda lächelte durch Tränen und dieses zufällige, eigene Lächeln erwärmte
sie, als wenn es ihr bewiese, daß es noch möglich sei, zu lachen. ...
Was auch sein mag, ich werde leben; -- -- sie dachte es mit
leidenschaftlichem und fast triumphierendem Impuls.

»Na siehst du! ... Es gibt nichts Ekelhafteres, als Gedanken an den Tod.
Solange man noch nicht vollständig fertig ist, nichts mehr vom Leben
sieht und hört, lebe man weiter! Nicht? ... Na, gib doch das Pfötchen.«
Lyda reichte ihm ihre Hand und in ihrer scheuen, weiblichen Bewegung lag
kindliche Dankbarkeit.

»Na, welch ein hübsches Händchen du doch hast! ...«

Lyda lächelte und schwieg.

Nicht die Worte Ssanins waren es, die die Veränderung in ihr
hervorgerufen hatten. In ihr selbst pulsierte hartnäckiges und freies
Leben. Eine Minute des Schweigens und der Schwäche spannten es nur noch
stärker wie eine Saite an. Noch eine Bewegung und die Saite wäre
geplatzt. Aber diese Bewegung kam nicht. Ihre ganze Seele sang noch
lauter und klangvoller von Lebenslust und rücksichtsloser Kraft. Mit
Entzücken und Verwunderung über die Frische, die ihr selbst seit langem
nicht mehr bekannt war, lauschte Lyda auf sich und erfaßte in jedem Atom
das mächtige, freudige Leben, das sie umflutete, das heraufbrauste aus
dem Lichte der Sonne, dem grünen Grase, dem fließenden, von der Sonne
tiefdurchtränkten Wasser, dem lächelnden, ruhigen Gesicht des Bruders
und aus ihr selbst. Es schien ihr, daß sie das alles zum ersten Male in
ihrem Leben sah und fühlte.

Lebe! -- -- Lebe! rief es betäubend und freudig in ihr.

»So, -- so ist es gut,« sagte Ssanin. »Ich helfe dir im Kampfe, in
dieser schweren Zeit und du, -- -- gib du mir dafür einen Kuß, -- -- du
bist so schön.«

Lyda lächelte schweigend, ihr Lächeln war unbestimmt. Ssanin legte die
Hand um ihre Taille und, während er fühlte, wie sich ihr warmer,
elastischer Körper in seinen sehnigen Armen dehnte und anschmiegte, zog
er sie fest und überlegen an sich.

In Lydas Seele ging etwas Eigenartiges, aber unsäglich Angenehmes vor.
Alles lebte in ihr und verlangte gierig nach einem noch stärkeren Leben.
Ohne sich selbst Rechenschaft abzulegen, umschloß sie langsam den Nacken
ihres Bruders mit beiden Armen und preßte, die Augen geschlossen, die
Lippen zum Kusse zusammen. Als die heißen Lippen Ssanins lange und
schmerzhaft die ihren küßten, fühlte sie sich unsäglich glücklich. In
dem Augenblick kümmerte es sie nicht, wer sie küsse, so wie es der von
der Sonne beschienenen Blume nicht darauf ankommt, wer sie bescheint.

-- -- -- Was tue ich nur, dachte sie mit freudigem Staunen. Ach ja, ich
wollte mich ja aus irgendeinem Grunde ertränken. O, wie schön ... nur
nochmal, nochmal, ... jetzt küsse ich selbst, oh wie wunderschön und
ganz gleich ist es ja, wer da ist ... nur leben, ... leben ...

»So, -- so,« der Bruder ließ sie aus den Armen, »alles was gut ist, ist
gut. Weiter braucht man nicht darüber nachzudenken.«

Lyda machte langsam ihre Haare zurecht, sie blickte ihn mit einem
glücklichen und doch sinnlosen Lächeln an. Ssanin reichte ihr Schirm und
Handschuh; zuerst wunderte sich Lyda über das Fehlen des einen,
erinnerte sich dann aber an alles und lachte lange leise vor sich hin;
-- sie überlegte, welchen schrecklichen Eindruck vorher das ganz
bedeutungslose Inswasserfallen des einen Handschuhs auf sie gemacht
hatte.

-- -- -- und so ist alles, dachte sie, während sie mit dem Bruder das
Ufer entlang schritt und ihre gespannte Brust der Sonnenglut
entgegenstreckte.




                                  XIX


Nowikow öffnete selbst Ssanin die Türe; er wurde mürrisch, als er ihn
sah. Ihm war alles peinlich, was in ihm die Erinnerung an Lyda und an
all das unbegreiflich Schöne, das in seiner Seele, wie eine
zersprungene, feine Vase in Trümmern gegangen war, wachrief.

Ssanin bemerkte es und trat mit versöhnlichem und zärtlichem Lächeln
ein. In Nowikows Zimmer herrschte Unordnung. Die Sachen waren
durcheinander geworfen, als wenn ein Sturmwind durchgefegt wäre und den
Boden mit Papierfetzen, Stroh und allerlei Plunder bestreut hätte. Ohne
jede Ordnung lagen auf dem Bett, den Stühlen und den aufgezogenen
Schubladen der Kommode Bücher, Wäsche, Instrumente, Taschen aufgestapelt
umher.

»Wohin,« fragte Ssanin, der Nowikows Absichten nicht begriff.

Nowikow schob schweigend, ohne ihn anzusehen, ein paar Kleinigkeiten
zusammen.

»Bruder, ich fahre in die Hungersnot. Ich habe ein Schreiben erhalten.«
Seine Worte waren ungeschickt und er wurde deswegen selbst auf sich
zornig.

Ssanin sah ihn, sah die Koffer an, dann wieder ihn und schmunzelte mit
einem Mal vergnügt. Nowikow schwieg und packte mechanisch ein paar
Stiefel mit Glasröhren in ein Packet. Es war ihm schmerzlich zumute und
er fühlte seine volle, trübe Einsamkeit.

»Wenn du so weiter packen willst, kommst du sicher ohne Instrumente und
ohne Stiefel an.«

»Ah ...« sagte Nowikow. Er blickte flüchtig auf. »Laß mich ... Du
siehst, es wird mir nicht leicht.« Ssanin verstand ihn und schwieg.

Nachdenkliche, sommerliche Dämmerung schwamm schon durch das offene
Fenster und über dem leichten Laub des Gartens verlosch der dünne,
kristallklare Himmel.

»Nach meiner Meinung,« begann Ssanin nach einer Pause, »würdest du
besser tun, dich mit Lyda zu verheiraten, als weiß der Teufel wohin zu
reisen.«

Nowikow drehte sich unnatürlich rasch zu ihm herum und zitterte
plötzlich am ganzen Körper.

»Ich möchte dich ersuchen, diese dummen Späße zu unterlassen,« rief er
mit klirrender Stimme. Dieser scharfe Laut seiner Stimme flog in den
nachdenklichen, kühlen Garten hinein und verklang eigenartig unter den
stillen Bäumen.

»Was gehst du denn gleich in die Höhe?« fragte Ssanin.

»Hör auf, ...« Nowikow sprach heiser, seine Augen wurden rund, seine
Züge ganz unähnlich den weichen, gutmütigen, die Ssanin von früher
kannte; doch er brach sofort wieder ab.

»Und willst du behaupten, daß eine Heirat mit Lyda ein Unglück wäre,«
fragte Ssanin ruhig weiter, wobei er nur mit den Augenwinkeln lächelte.

»Aufhören, hör auf,« winselte Nowikow, schwankte wie ein Betrunkener,
stürzte sich dann plötzlich auf Ssanin, ergriff den ungeputzten Stiefel,
der ihm zur Hand lag, und schwang ihn mit unbekannter Wut über seinen
Kopf.

»Nun, ruhig, du Teufel,« schrie Ssanin zornig und wich unwillkürlich
zurück.

Nowikow warf den Stiefel mit Widerwillen von sich und blieb vor Ssanin
schwer keuchend stehen.

»Du wolltest mich mit dem alten Stiefel ...« Ssanin schüttelte
mißbilligend den Kopf. Ihm war es um Nowikow leid; dabei schien ihm
alles lächerlich, was er tat.

»Bist selbst daran Schuld ...« erwiderte Nowikow sofort wieder schlaff
werdend und sich schämend. Aber gleichzeitig empfand er Anhänglichkeit
und Vertrauen zu Ssanin. Als wenn dieser groß und ruhig wäre, er aber
nur ein kleiner Knabe, so wollte er sich an ihn schmiegen, ihm klagen,
was ihn bedrückte. Sogar Tränen traten in seine Augen.

»Wenn du wüßtest, wie schwer mir ist,« sagte er abgebrochen, mit Mund
und Kehle schluckend, um nicht in Weinen auszubrechen.

»Ja, mein Lieber, ich weiß alles,« suchte ihn Ssanin zärtlich lächelnd
zu beruhigen.

»Nein, das kannst du nicht wissen,« erwiderte Nowikow, während er sich
mechanisch an Ssanins Seite setzte. Ihm erschien sein Zustand so
ausnahmsweise schwer, daß niemand fähig sein konnte, ihn zu verstehen.

»Doch, ich weiß es,« sagte Ssanin. »Nun, wenn du nicht glaubst -- -- bei
Gott! Wenn du dich nicht mehr mit deinem alten Stiefel auf mich stürzen
willst, werde ich sogar den Beweis antreten. Nun, wirst du nicht?«

»Nein, entschuldige, Wolodja,« stammelte Nowikow, beschämt, daß er
Ssanin mit dem Vornamen anredete, was er sonst nie tat. Ssanin gefiel es
gerade und darum wurde in ihm der Wunsch, zu helfen und alles
beizulegen, nur noch stärker.

»Höre zu, mein Lieber, wollen wir ganz klar sprechen,« begann er, wobei
er seine Hand auf Nowikows Kniee legte. »Du hast dich doch nur auf die
Reise machen wollen, weil Lyda dich ablaufen ließ, und weiter, weil du
damals bei Sarudin annahmst, daß _sie_ gekommen wäre.«

Nowikow wurde finster. Ihm war es, als wenn Ssanin eine frische,
unerträglich schmerzliche Wunde von neuem aufreiße. Ssanin sah ihn an
und dachte sich ... Ach du liebes, dummes Viecherl, wie töricht bist du
doch.

»Ich werde nicht versuchen, dir zu versichern,« fuhr er fort, »daß Lyda
mit Sarudin nichts gehabt hat. Das weiß ich nicht. Ich glaub es nicht.«
Er fügte es eilig hinzu, weil er den Ausdruck des Schmerzes bemerkte,
der wie der Schatten einer vorbeifliegenden Wolke über Nowikows Gesicht
huschte.

Nowikow sah ihn mit trüber Ahnung an.

»Ihre Beziehungen sind von so kurzer Dauer gewesen, daß nichts Ernstes
vorgefallen sein kann. Besonders, wenn man Lydas Charakter in Betracht
zieht. Du kennst doch Lyda.«

Vor den Augen Nowikows erstand das Bild Lydas, so wie er sie kannte und
liebte; das stolze, schlanke Mädchen, mit den großen, bald zärtlichen,
bald fast drohenden Augen, von reiner Kälte wie einer eisigen Gloriole
umstrahlt. Er schloß die Augen; er glaubte alles, was Ssanin sprach.

»Und wenn es auch wirklich zwischen ihnen so was, wie einen gewöhnlichen
Promenaden-Flirt gab, so ist jetzt sicher alles zu Ende. Und was geht
dich im Grunde die kleine Leidenschaft eines freien Mädchens an, das
doch nichts als ihr Glück suchen will. Du wirst sicher, auch ohne lange
im Gedächtnis nachzugraben, Dutzende solcher Leidenschaften oder
wahrscheinlich noch viel schlimmere bei dir selber finden.«

Nowikow wandte sich nach ihm um, und das Vertrauen, von dem seine Seele
übervoll war, machte seine Augen hell und durchsichtig. In seiner Seele
bewegte sich eine zitternde Blüte leise schwankend hin und her, doch so
schwach, so bereit, in jedem Augenblick zu verschwinden, daß er selbst
fürchtete, sie mit einem unvorsichtigen Wort oder Gedanken zum Welken zu
bringen.

»Weißt du, wenn ich ...« Nowikow sprach nicht zu Ende, weil er gar nicht
imstande war, das, was in ihm arbeitete, in Worte zu fassen; er fühlte
leise, zarte Tränen der Rührung über sein Leiden und seine tiefe
Bewegung in die Kehle steigen.

»Was? ... Wenn nun? ...« wiederholte Ssanin feierlich, mit erhobener
Stimme und glänzenden Augen. »Ich kann dir nur eins sagen, -- --
zwischen Lyda und Sarudin gab es nichts und wird es nichts geben.«

»Ich dachte aber ...« Nowikow fühlte mit Entsetzen, daß er ihm nicht
glauben konnte.

»Dummheiten hast du gedacht? ...« Ssanin sprach mit steigender Erregung.
»Verstehst du denn Lyda nicht? ... Wenn sie bisher schwankte, was war es
dann für eine Liebe?« Nowikow ergriff seine Hand und blickte ihm mit
Entzücken auf die Lippen.

Ssanin wurde plötzlich von furchtbarer Wut und Ekel gepackt.

Eine Zeitlang sah er diesem Menschen, den der Gedanke selig machte, daß
die Frau, mit der er geschlechtlich verkehren wollte, niemals vor ihm
jemandem angehört hatte, empört ins Gesicht. Nackte, tierische
Eifersucht, flach und gierig wie eine Reptilie, kroch ihm aus den
gutmütigen Menschenaugen Nowikows, die dabei von aufrichtigem Leid
verklärt waren, entgegen.

»Oho,« rief Ssanin in drohendem Ton, »nun, so will ich es dir sagen.
Lyda war nicht nur in Sarudin verliebt, -- -- nein, Bruder, sie hatte
auch ein Verhältnis mit ihm; und, -- -- jetzt ist sie von ihm
geschwängert.«

Klingende Stille griff durchs Zimmer. Mit abwehrend schwachem Lächeln
sah Nowikow Ssanin an; plötzlich begann er, sich die Hände zu reiben.
Seine Lippen gerieten in Bewegung, aber nur ein elendes Wimmern drang
hervor und verstarb sogleich. Ssanin blickte ihm von oben herab in die
Augen; in seine Mundwinkel legte sich eine grausame und gefährliche
Falte.

»Nun, warum schweigst du denn?« fragte er.

Nowikow hob die Augen rasch zu ihm empor, senkte sie aber ebenso schnell
wieder, schwieg und lächelte weiter; -- schwach und abwehrend.

»Lyda durchlebt jetzt ein furchtbares Drama.« Ssanin sprach ganz leise,
wie zufällig vor sich hin. »Hätte mich nicht der Zufall grade im
richtigen Augenblick zu ihr gebracht, so würde sie schon nicht mehr
sein. Und was gestern noch ein prachtvoller Mensch voller Leben war,
läge jetzt nackt und ekelerregend von Krebsen benagt, irgendwo im
Schlamm ... Aber -- -- daß sie nun tot wäre -- darum handelt es sich am
wenigsten! Jeder Mensch stirbt. Aber mit ihr wäre zugleich die ungeheure
Freude gestorben, die sie in das Leben ihrer Umgebung hineintrug ...
Lyda ist natürlich kein einziger Mensch; doch in ihr zeigt sich das
Ganze. Und wenn die weibliche Jugend zugrunde gehen würde, dann wäre es
in der Welt still, wie in einem Grab. Ja, ich muß sagen, wenn ich sehe,
daß man ein schönes, junges Mädchen stumpfsinnig zu Tode hetzt, dann
habe ich das dringende Verlangen, jemanden totzuschlagen ... eins über
den Schädel ... So ... Ja, hör mal, mein Lieber, mir ist es ganz gleich,
ob du Lyda wirklich heiratest oder ob du zum Teufel gehst. Ich möchte
dir nur eins sagen ... Du Idiot, du, denke doch, wenn in deinem Schädel
nur ein einziger, gesunder Gedanke hockt, würdest du dich dann selbst so
quälen, dich und andere unglücklich machen, nur weil ein freies, junges
Weib sich geirrt hatte, als sie sich das Männchen aussuchte. Grade nach
dem Geschlechtsakte ist sie doch erst zu dem freien Menschen geworden
und nicht vor ihm. Ich spreche nur zu dir. Aber du bist es ja nicht nur
allein. Oh, diese Idioten, die das Leben zu einem unerträglichen
Gefängnis, ohne Sonnenlicht und Bewegung, machen, sie zählen ja nach
Millionen. Nun und du selbst. Wie oft bist du auf dem Bauch irgend einer
Hure herumgerutscht, hast dich geil vor Gier gewunden, betrunken und
schmutzig wie ein Hund, -- -- Du! Bei Lyda war Leidenschaft; es war eine
Poesie der Schönheit und Kraft und dagegen bei dir ... Welches Recht
hast du nun, dich von ihr wegzuwenden. Du, du hältst dich für einen
klugen und gebildeten Menschen. Zwischen eurer Vernunft und dem
Verständnis für das Leben sollen angeblich keine Scheidewände sein. Was
geht dich ihre Vergangenheit an! Ist sie dadurch schlechter geworden?
... Wird sie dir vielleicht weniger Genuß geben können? ... Wolltest du
ihr nicht selbst die Unschuld nehmen -- -- nein?«

»Du weißt selbst, das ist nicht so ...« Nowikows Lippen bebten beim
Sprechen.

»Nein, gerade so! Und wenn nicht das, was denn?«

Nowikow schwieg. In seiner Seele war es leer und dunkel geworden; nur
wie ein erleuchtetes Fensterchen in dunkelem Feld zuckte in weiter Ferne
das trübselige Glück der Vergebung, des Opfers und des Heroismus auf.

Ssanin schaute ihn an und es schien, als fange er seine Gedanken aus
allen Windungen des Gehirnes heraus.

»Ich sehe,« sagte er wieder mit leisem aber eindringlichem Ton, »daß du
an Selbstaufopferung denkst. Hast für dich bereits ein Loch zum
Durchkriechen herausgefunden. Sehr schön, ich lasse mich zu ihr herab,
ich decke sie vor der Menge und so weiter ... Und nun wächst du schon in
deinen Augen wie ein Wurm auf dem Mist. Nein, du belügst dich da! Nicht
für einen Augenblick hast du Selbstaufopferung zu üben. Hätten Lyda die
Pocken zerfressen, so müßtest du dich jetzt vielleicht bis zu einem
gewissen Grade anstrengen; aber nach zwei Tagen würdest du anfangen, ihr
das Leben zu verekeln. Dann hättest du über das Schicksal gejammert, und
wärst entweder davongelaufen, oder, ... du würdest ihr das Leben ganz
gehörig versalzen und dich verzweifelt als Opfer fühlen. Jetzt siehst du
wie ein Heiligenbild auf dich. Warum auch nicht. Mache nur noch ein
liebenswürdiges Gesicht und jeder wird dir bestätigen, daß du ein
Heiliger bist. Zum Teufel, in Wirklichkeit hast du garnichts verloren
... Was willst du denn? Lyda hat genau dieselben Arme behalten,
dieselben Beine, dieselbe Brust, dieselbe Leidenschaft, das gleiche,
starke Leben ... Ja, Bruder, es ist doch wirklich ganz wunderschön, all
das zu genießen und dabei noch mit dem Bewußtsein, ein edles Werk zu
tun.«

Unter Ssanins Worten schrumpfte die rührselige Selbstbewunderung in
Nowikows Seele zu einem kleinen Klümpchen zusammen und verendete wie ein
zerquetschter Wurm, der sich daran vollgefressen hatte. In seiner Seele
entstand ein neues Gefühl, reiner und aufrichtiger als das erste. Mit
traurigem Vorwurf sagte er Ssanin:

»Du denkst schlimmer von mir, als in Wirklichkeit recht ist. Ich bin
garnicht so stumpfsinnig, wie du meinst. Vielleicht ... ich will's nicht
bestreiten, ist in mir auch ein Stück von dem alten Aberglauben, aber
... sieh, Lyda Petrowna hab ich lieb. Und wenn ich nur wüßte, daß sie
mich liebte, -- -- -- ich würde mich nicht daran stoßen ...« Das »daran«
sprach er nur mit Mühe. Die Schwierigkeit, dies eine Wort ebenso glatt
auszusprechen, die ihm sofort zum Bewußtsein kam, verursachte ihm einen
scharfen Schmerz.

Ssanin war plötzlich abgekühlt. Er wurde nachdenklich, ging durch das
Zimmer, blieb am Fenster bei dem dämmrigen Garten stehen und redete
leise vor sich hin:

»Sie ist jetzt unglücklich ... Sie ist jetzt nicht in der Stimmung, zu
lieben ... Und ob sie dich liebt oder nicht ... wer kann es wissen ...
Ich glaube nur, wenn du jetzt zu ihr hingingst, und -- -- du dann für
sie zu dem zweiten Menschen in der Welt wirst, der sie nicht für das
momentane, zufällige Glück steinigt, sondern -- -- nun, so kann sie ...
aber man kann nicht wissen ...«

Nowikow blickte nachdenklich vor sich hin. In ihm mischten sich Trübsal
und Freude; beide bildeten in seiner Seele ein klares, wehmütiges Glück,
das einem absterbenden Sommerabend ähnlich war.

»Gehen wir zu ihr! Was auch sein mag, es wird ihr leichter sein, unter
all den tierischen Fratzen, ein paar menschliche Gesichter um sich zu
sehen ... Du bist zur Genüge dumm, mein Freund. Aber selbst in deiner
Dummheit besitzt du etwas, was andere nicht haben. Was soll man tun. Auf
diese Dummheit hat die Welt lange genug ihr Glück und ihre Hoffnungen
gebaut. Gehen wir!«

Nowikow lächelte ihm schüchtern zu: »Ich will gehen. Aber wird ihr das
auch angenehm sein?«

»Daran brauchst du nicht zu denken.« Ssanin legte ihm beide Hände auf
die Schultern. »Glaubst du, daß du richtig handelst, dann wird schon
alles von selber werden.«

»Gut, so gehen wir.« In der Tür blieb Nowikow noch einmal stehen und
blickte Ssanin gerade in die Augen. Mit einer Kraft, die ihm selbst
unbekannt war, sagte er:

»Weißt du; -- -- wenn es nur möglich ist, so werde ich sie glücklich
machen. Natürlich, die Phrase ist banal. Aber ich kann nicht anders
ausdrücken, was ich fühle.«

»Das tut nichts, Bruder. Wirklich, ich verstehe dich so.«




                                   XX


Glühender Sommer lag über der Stadt. In den Nächten stieg der helle,
runde Mond hoch über dem Himmel, die Luft war warm und dicht und rief,
vom Duft der Gärten durchtränkt, mächtige, wirre Wünsche hervor. Am Tage
arbeiteten die Menschen, beschäftigten sich mit Politik, Kunst, mit der
Durchführung verschiedener Ideen, mit Essen, Baden, Trinken, Sprechen,
doch sobald die Hitze nachließ, die ruhig gewordenen Staubmassen sich
schwerfällig legten und am dunkeln Horizont hinter dem fernen Wäldchen
oder den nahen Dächern der Rand einer runden, rätselhaften Scheibe
erschien, die die Gärten mit kühlem geheimnisvollen Licht überschwemmte,
dann blieb alles stehen, gleichsam als ob man plötzlich irgendwelche
bunte Kleider von sich abwarf, um frei und leicht ein echtes Leben zu
beginnen. Und je jünger die Menschen waren, desto freier und voller
wurde dieses Leben. Von den Gärten her sprudelten die Triller der
Nachtigall, die Gräser von leichten Frauenkleidern erfaßt schwenkten
eigenartig ihre Köpfchen, die Schatten wurden tief, in der Luft lag
dumpfes Liebeswirren, die Augen blitzten bald auf, bald bedeckten sie
sich mit Nebeln, Wangen wurden rosig, Stimmen verlangend und
geheimnisvoll haschend, und neues menschliches Leben entstand
urplötzlich unter kühlem Mondlicht im Schatten der schweigsamen Bäume,
die Kühle atmeten, auf niedergebogenem saftigem Gras.

Auch Jurii Swaroschitsch glaubte, als er mit Schawrow Politik trieb,
sich mit Selbstbildungsvereinen und der Lektüre der neuesten Bücher
abgab, daß er gerade darin sein echtes Leben und die Auflösung und
Klärung aller Zweifel und Unruhen finden müsse.

Aber soviel er auch las und was er auch begann, alles wurde ihm
langweilig und niederdrückend; er sah kein Licht in seinem Leben. Ein
solches Licht wollte nur in den Augenblicken aufflammen, in denen Jurii
sich gesund und kräftig fühlte und in eine Frau verliebt war.

Früher schienen ihm alle jungen und schönen Mädchen gleich interessant;
sie erregten ihn auch in gleicher Weise. Aber jetzt begann sich eine
einzige abzuheben; sie nahm allmählich alle Farben und Schönheiten für
sich allein und stand prächtig und liebenswürdig wie im Frühlingslicht
ein Birkenbäumchen am Waldessaum vor ihm.

Sie war sehr schön, von hohem Wuchs, stark und kräftig, bewegte bei
jedem Schritt ihre gespannte hohe Brust, trug den Kopf hoch aufgerichtet
auf dem schlanken, weißen Hals, lachte hell, sang schön, und obgleich
sie viel las, kluge Gedanken und ihre Gedichte liebte, empfand ihr
ganzes Wesen doch nur dann volle Befriedigung, wenn sie irgend etwas
Anstrengendes vorhatte, sich mit ihrem elastischen Busen gegen etwas
stemmen mußte, etwas aus aller Kraft mit den Armen umschließen, mit den
Füßen stoßen, lachen, singen und auf kräftige und schöne Männer blicken
konnte. Manchmal wenn die Sonne schien, alles Dunkle niederbrechend,
oder wenn auf dunklem Himmel der Mond glänzte, wünschte sie sich die
Kleider herunterzureißen und nackt auf dem grünen Grase herumzulaufen,
sich ins schwarze, schwankende Wasser zu stürzen, jemanden zu erwarten
und zu suchen und dann mit einem klangvollen jubelnden Ruf an sich zu
locken.

Ihre Anwesenheit erregte Jurii, und zauberte in ihm frische,
unausgenützte Kräfte hervor. Vor ihr war seine Sprache farbiger und
heller, seine Muskeln wurden kräftiger, sein Herz stärker und sein
Denken schärfer. Den ganzen Tag hindurch dachte er nur an sie, des
Abends ging er sie zu suchen; und doch verbarg er es auch vor sich
selbst. In seiner Seele lag noch etwas, wie ein abgenagter Knochen, der
sich der Kraft, die von innen heraus zur Freiheit drängte, in den Weg
legte. Jedes Gefühl, das in ihm auftauchte, hielt er fest, um es zu
analysieren. Dadurch wurde das Gefühl farblos und fahl und verlor seine
Blätter, wie eine Blume im Frost. Wenn er sich danach fragte, was ihn zu
Karssawina ziehe, so antwortete er sich, daß es der Geschlechtstrieb sei
und weiter nichts. Und obgleich er selbst keinen Grund dafür angeben
konnte, rief dieses eckige, harte Wort nachlässige und niederdrückende
Verachtung vor sich selbst hervor.

Inzwischen legte sich ein geheimnisvolles Band um sie und wie in einem
Spiegel fand sich jede seiner Bewegungen in ihr und ihrer in ihm wieder.

Karssawina versuchte nicht, sich über die geheimen Regungen ihrer Seele
klar zu werden. Nur wie von ferne lauschte sie ihnen glücklich,
gleichzeitig aber bemüht, sie vor den Anderen geheim zu halten. Es
verursachte ihr quälende Unruhe, daß sie nicht alles verstehen konnte,
was in Seele und Körper des schönen und jungen Menschen, den sie liebte,
vorging. Zeitweilig redete sie sich ein, daß zwischen ihnen keine
besonderen Beziehungen beständen; dann brach sie plötzlich in Schluchzen
aus, als ob sie einen unersetzlichen Schatz verloren hätte. Auch die
Aufmerksamkeit anderer Männer, deren seltsame Blicke sie oft auf sich
gerichtet spürte, vermochte sie dann nicht zu trösten. Fast immer blieb
sie ihnen gegenüber vollständig gleichgültig. Nur zu Zeiten, wenn sie
sicher war, von Jurii geliebt zu werden und unter diesem Gedanken wie
eine Braut aufblühte, bemerkte sie, daß sie auf andere besonders
aufreizend wirkte; dann wurde sie selbst von den geheimnisvoll gierigen
Wünschen in Aufruhr gebracht.

Eine besondere sinnliche Spannung empfand sie, wenn sich ihr Ssanin mit
seinen breiten Schultern, ruhigen Augen und den sicheren, kräftigen
Bewegungen näherte. Sobald sie sich bei dieser unfaßbaren Erregung
ertappte, erschrak sie, hielt sich für schlecht und verdorben, konnte es
aber doch nicht unterlassen, Ssanin auch weiter mit Neugierde zu
betrachten.

An dem Abend des Tages, an dem Lyda ihr furchtbares Drama durchlebte,
trafen sich Jurii und Karssawina in der Bibliothek. Sie grüßten sich
einfach; jeder war von seiner Arbeit in Anspruch genommen. Karssawina
suchte sich Bücher aus, während Jurii die Petersburger Zeitungen
durchblätterte. Doch traf es sich wieder, daß sie zusammen hinausgingen
und so begleitete Jurii Karssawina durch die schon leeren vom Mond
beleuchteten Straßen.

In der Luft lag eine ungewöhnliche Stille und nur die Knarre des
Nachtwächters drang von der Entfernung gemildert zu ihnen herüber, hin
und wieder auch hinter den Häusern hervor das Belfern eines kleinen
Hundes.

Am Boulevard stießen sie auf eine Gesellschaft, die im Schatten der
Bäume saß. Von ihr schallten lebhafte Stimmen zu ihnen her, die
Feuerchen von Zigaretten glimmten einen Augenblick auf und zeigten
Schnurrbärte und rote Gesichter. Als sie bereits vorbeigegangen waren,
hörten sie eine helle, fröhliche Männerstimme ein Lied beginnen: Das
Herz der Schönen ist ein Hauch im Felde ...

Dicht bei dem Hause, in dem Karssawina wohnte, setzten sie sich auf eine
Bank, die an einem fremden Tore stand. Aus seinem tiefen Schatten heraus
hatten sie jetzt die breite vom Mondlicht gleichmäßig beschienene Straße
bis zu einer weiß schimmernden Kirchenkuppel vor sich liegen. Dort
hinten schwankten breite Linden, die das leuchtende Bild in einen
dunklen Rahmen spannten; über ihnen funkelte kühl wie ein Stern das
goldene Kirchenkreuz gegen den Himmel.

»Sehen Sie, wie schön,« sagte Karssawina gedehnt und wies mit der Hand
durch die Luft.

Jurii warf verstohlen einen entzückten Blick auf ihren weißen Oberarm,
der weich durch die kurzen Aermel der kleinrussischen Bluse blickte; er
hatte das unbändige Verlangen, sie an sich zu reißen und auf die vollen
saftigen Lippen zu küssen, die den seinen verführerisch nahe standen.
Plötzlich fühlte er, daß es sogleich geschehen müsse; auch sie schien
mit Furcht und Sehnsucht nur darauf zu warten.

Aber dieser Augenblick entfiel ihm. Er wurde schlaff, zog die Lippen
zusammen und stieß ein spöttisches Räuspern aus.

»Warum das? ...« fragte Karssawina.

»Ach nichts,« Jurii konnte das leidenschaftliche Beben in seinen Füßen
nur mit Mühe überwinden. »Es ist zu schön ... hier.«

Sie schwiegen, lauschten den entfernten Lauten, die von den dunklen
Gärten und den vom Mond bestrahlten Gärten her herüberklangen.

»Waren Sie schon einmal verliebt,« fragte plötzlich Karssawina.

»Ja, ...« antwortete Jurii langsam und dachte ... wie wäre es, wenn ich
ihr gleich alles sagte. Zögernd fuhr er fort: »Ich bin auch jetzt
verliebt.«

»In wen?« Karssawinas Stimme zitterte voll scheuer Zuversicht.

»In wen? ... Aber in Sie doch!« Jurii neigte sich vor und suchte ihre
Augen, aus denen er nur durch die Schleier des Schatten ein seltsames
Glänzen aufblinken sah. Er versuchte scherzhaft zu sprechen, kam aber
nicht in den Ton hinein.

Sie schaute ihn rasch und erschrocken an und ihr beengtes glückseliges
Gesicht war voll Erwartung.

Jurii wollte sie umarmen; in seinen Händen fühlte er schon die weichen
warmen Schultern und die elastische Brust, erschrak aber wieder vor sich
selbst und kraftlos, ohne seinem Wunsch nachzugeben, gähnte er.

-- -- -- Er scherzt nur, dachte bitter Karssawina und im selben
Augenblick wurde in ihr alles unter der Empfindung, gekränkt zu sein,
eiseskalt. Sie spürte, daß sie gleich weinen müsse; in dem krampfhaften
Versuch, die Tränen zurückzuhalten, preßte sie die Zähne zusammen.

»Dummheiten,« murmelte sie und erhob sich eiligst; in dem einen Wort
tönte ihre Stimme völlig verändert.

»Ich spreche ernst,« sagte Jurii in einem Ton, der jetzt gegen seinen
Willen unnatürlich klang. »Ich liebe Sie und ... glauben Sie es mir, von
ganzem Herzen.«

Karssawina nahm ohne Antwort ihre Bücher zusammen.

»Warum das? ...« dachte sie mit Gram und plötzlich ergriff sie eine
entsetzliche Scham bei dem Gedanken, daß er ihre Empfindungen erraten
hatte und sie nun verachten würde.

Jurii reichte ihr ein Buch, das auf den Boden gefallen war.

»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen,« sagte sie leise.

Jurii bedauerte es selbstquälerisch, daß sie fortgehen wollte;
gleichzeitig fiel es ihm auf, wie alles, was sie sagte, so originell und
schön, weit entfernt von jeder Banalität, erschien.

Als Karssawina ihm die Hand reichte, verneigte er sich unbeabsichtigt
und küßte die weiche, warme Handfläche, von der ihm ein lieblich
frischer Geruch ins Gesicht stieg. Karssawina riß sofort mit einem
leisen Aufschrei die Hand zurück:

»Was tun Sie!«

Doch die flüchtige Empfindung, die seine Lippen bei der Berührung aus
ihrem warmen, jungfräulichen Körper mit sich rissen, war so stark, daß
sie ihm den Kopf benahm und er nur glückselig und sinnlos dem raschen
Rauschen ihrer sich entfernenden Schritte nachlächeln konnte.

Bald hörte er die Pforte knarren. Immer noch mit demselben Lächeln
schritt Jurii nach Hause; aus vollen Kräften atmete er die reine Luft
ein. Er fühlte seine Kräfte wachsen; er war glücklich.




                                  XXI


Sobald Jurii in sein Zimmer trat, das ihm nach der Freiheit und Kühle
der Mondnacht eng und dumpf wie ein Gefängnis vorkam, begann er darüber
nachzudenken, wie das Leben doch nichts als eine Kette von öden
Banalitäten sei.

-- -- -- einen Kuß abgepflückt ... was für ein Glück, nein, wahrlich was
für eine Heldentat, -- -- -- denk einer an ... wie würdig und poetisch
... Es scheint der Mond ... der Held verführt die Jungfrau mit feurigen
Reden und Küssen ... pfui Teufel welche Abgeschmacktheit, -- -- -- in
diesem verfluchten Nest merkt man garnicht, wie flach man wird.

Als Jurii noch in der Großstadt lebte, war er niemals über den Gedanken
fortgekommen, daß er nur aufs Land zu gehen brauche, um in dem einfachen
Leben der bäuerlichen, schwarzen Erde, voll echter, nicht erst mühsam
konstruierter Arbeit, mit Feldern, Sonne und Bauern unterzutauchen,
damit sein nutzloses Dasein endlich einen tiefen, wahren Sinn erhalte.
Jetzt war er wieder ebenso fest überzeugt, daß er sein Leben sofort in
die richtige Bahn bringen würde, wenn er anstatt in diesem Nest zu
stecken, plötzlich in die Hauptstadt fliegen könnte.

   Es lärmt die Stadt, es brausen Reden,
   Es tobt der wüste Tintenkrieg,
   Doch Rußland liegt in tiefem Schweigen,
   Wie es Jahrhunderte lang schwieg.

deklamierte Jurii mit nachdenklichem Gesicht und unwillkürlichen Pathos.

Aber gleich ertappte er sich bei seiner knabenhaften Begeisterung und
fiel automatisch wieder in die teilnahmslose Stimmung zurück.

-- -- -- und übrigens, was hat das alles zu bedeuten ... Alles ganz
gleich. -- -- -- Politik, Wissenschaft, das ist Alles sehr gut und
schön, aber nur aus der Ferne, im Ideal. -- -- -- Im Allgemeinen und im
Leben eines einzelnen Menschen ist es gradso gut ein Handwerk wie jedes
andere. Kampf, titanische Krafteinsetzung, ja, -- -- -- im gegenwärtigen
Leben ist es doch unmöglich. -- -- -- Gut ich leide aufrichtig, ich
kämpfe, ich suche mich zu überwinden, -- -- aber was bleibt mir denn zu
guter Letzt. Der endgültige Abschluß des Kampfes liegt außerhalb meines
Lebens. Prometeus wollte den Menschen das Feuer bringen; er tat es auch
wirklich. Das war sein Sieg! Wir aber, wir können nur Späne in das Feuer
werfen, das wir nicht entfacht haben und das von uns ebensowenig einmal
verlöscht werden wird.

Plötzlich stieg ihm der Gedanke auf, daß seine Schwäche nur daher käme,
weil er kein Prometeus sei. Diese Erkenntnis war ihm unangenehm, und
doch ergriff er sie mit krankhafter Selbstpeinigung.

-- -- -- Was für ein Prometeus bin ich! Bei mir läuft alles sofort aufs
persönliche Gebiet über; ich, ich ... für mich, mich ... Ich bin ebenso
schwach und nichtig wie alle diese Leutchen, die ich von ganzem Herzen
verachtete.

Die Parallele wirkte so niederschlagend auf ihn, daß er zusammenzuckte
und eine Zeitlang stumpf vor sich hinstarrte, um nach einer
Rechtfertigung für sich zu suchen.

-- -- -- Nein, ich bin nicht wie die Andern, dachte er endlich mit
Erleichterung ... Schon aus dem einfachen Grunde, weil ich mir hierüber
Gedanken mache. Die Rjäsanzew, Nowikow, Ssanin, die kommen garnicht zum
Nachdenken ... sie sind weit entfernt von tragischer Selbstkasteiung,
wie die triumphierenden Schweine Zaratustras. Bei ihnen liegt das ganze
Leben in ihrem eigenen, mikroskopisch kleinen Ich; sie sind es gerade,
die auch mich mit ihrer Flachheit anstecken. Mit den Wölfen muß man
heulen, das ist natürlich!

Jurii begann im Zimmer herumzulaufen, und wie es oft der Fall ist,
änderten sich seine Gedanken mit dem Wechsel der Stellung.

-- -- -- Nun gut, das ist so ... Aber ich habe noch mehr zu überlegen.
Wie sind eigentlich meine Beziehungen zu Karssawina. Ob ich sie liebe
oder nicht, das ist gleich ... Aber was kann daraus werden ... Wenn ich
sie heiraten würde, oder einfach mit ihr für eine Zeit ein Verhältnis
anfinge ... wäre das für mich wirklich ein Glück? Sie zu betrügen, ist
ein Verbrechen, und -- falls ich sie liebe ... nun gut, sie bekommt
Kinder, -- -- -- Jurii errötete plötzlich ohne Grund. -- -- -- Das ist
noch nichts Schlimmes, aber dennoch wird es mich binden, und für immer
meiner Freiheit berauben ... Familienglück, Spießerfreuden, nein, das
ist nichts für mich.

Eins, zwei, drei, dachte Jurii und bemühte sich mechanisch so zu gehen,
daß er mit jedem Schritt über zwei Dielen fort, immer erst die dritte
mit seinem Fuße berührte. -- -- -- Wenn ich nur sicher wüßte, daß es
kein Kind geben wird. Oder wenn ich meine Kinder so voll und ganz
liebgewinnen würde, daß ich Ihnen mein Leben hingeben könnte. Nein, das
ist auch banal, genau so wird auch ein Rjäsanzew seine Sprößlinge
lieben. Wodurch werden wir uns dann voneinander unterscheiden. Leben und
sich opfern, das ist das echte Leben. Ja, aber wem sich opfern. Wie? ...
Auf welchen Weg ich mich auch stürzen werde, und was für ein Ziel ich
mir auch vorstelle, wo gibt es jenes reine und zweifelsfreie Ideal, für
das man nicht einen Augenblick zu bedauern brauchte, -- -- -- zu
sterben. Ja, nicht ich bin schwach, sondern das Leben ist keiner Opfer
und Hingabe wert ... Ist es aber so, ... dann lohnt es sich ja garnicht
zu leben.

Diese Schlußfolgerung hatte sich noch niemals vorher so stark in Juriis
Hirn festgesetzt.

Auf seinem Tisch lag stets ein Browning. Jetzt bekam er ihn zu Gesicht,
sobald er beim Gehen am Tisch vorbeikam und kehrt machte; jedesmal
fielen ihm dann die glänzenden Teile ins Auge, die gegen das Mondlicht
spiegelten. Schließlich nahm er ihn in die Hand und betrachtete ihn
aufmerksam. Er war geladen. Jurii spannte den Hahn und drückte ihn an
die Schläfe. So, dachte er ... nur einmal abgedrückt und alles ist
fertig. Ist es klug oder nur eine blödsinnige Dummheit sich
niederzuknallen. Selbstmord ist Kleinmut. Auch gut, so bin ich feige.

Die vorsichtige Berührung des kalten Eisens mit der heißen Schläfe war
angenehm und gleichzeitig bange.

-- -- -- Und Karssawina? ... schwirrte es ihm mit einem Mal kalt durch
den Kopf ... Ich werde sie also nicht besitzen und diesen Genuß, der mir
vielleicht zufallen würde, irgend einem anderen überlassen müssen.

Bei dem Gedanken an Karssawina zitterte in ihm alles vor zarter Wollust.
Aber mit scharfer Willensspannung zwang sich Jurii zu der Ueberlegung,
daß Alles nur Kleinigkeiten seien, nichts im Vergleich mit jenen tiefen
und wichtigen Ideen, die seinen Kopf durchwühlten. Doch das blieb Zwang
und das unterdrückte Gefühl rächte sich, indem es den unbestimmten Gram
und seine Abneigung gegen das Leben noch verstärkte.

-- -- -- Warum soll ich es in der Tat nicht tun? ... fragte sich Jurii
mit zitterndem Herzen.

Mit einer Bewegung, an die er selbst nicht glaubte und über die er sogar
schamhaft lächelte, setzte er den Revolver nochmals an die Schläfe. Doch
dann drückte er, ohne sich noch einen Augenblick über sein Vorhaben
Rechenschaft abzulegen, den Hahn ab. Im selben Augenblick durchzuckte
ihn eine kalte, schneidende Empfindung und riß sich plötzlich in ihm in
entsetzlicher Angst los. Es rauschte in seinen Ohren, das ganze Zimmer
brach hinter ihm fort. Doch es gab keinen Schuß, die Waffe hatte
versagt; nur das schwache, metallische Klappern des Hahnes verklang
deutlich in seinen Ohren.

Eine Schwäche erfaßte ihn vom Kopf bis zu den Füßen, sodaß er
unwillkürlich die Hand mit dem Revolver sinken ließ. Alles bebte an ihm
und schmerzte ihn, der Kopf schwindelte, der Mund trocknete plötzlich
aus; als er den Revolver aus der Hand legen wollte, schlugen seine Hände
nervös hin und her und klapperten einige Mal mit der Waffe gegen die
Tischplatte.

-- -- -- Ein schöner Kerl bin ich, dachte er. Er bemeisterte seine
Aufregung, trat vor den Spiegel und blickte in die dunkle Fläche. -- --
So bin ich also ein Feigling? ... Nein, dachte er mit einem Anflug von
Stolz. Nein, kein Feigling! Getan hab ich's, -- -- -- ist nicht meine
Schuld, daß es versagte.

Aus dem dunklen Spiegel sah ihm wie immer ein bleiches Gesicht entgegen;
Jurii aber schien es feierlich und streng. Befriedigt streckte er sich
die Zunge heraus ... dabei gab er sich Mühe, sich selbst die
Ueberzeugung beizubringen, daß er diesem Akte der Selbstbeherrschung
keine Bedeutung beimesse und trat wieder zur Seite.

-- -- -- Nicht mein Schicksal also, sagte er laut, und dieses Wort
tröstete und ermunterte ihn. Was? ... wenn mich jetzt einer sähe, dachte
er mit ängstlicher Verwirrung und schaute sich um.

Aber Alles blieb still. Hinter der geschlossenen Tür war nichts zu
hören, es schien, daß es hinter den Grenzen dieses Zimmers kein lebendes
Wesen mehr gäbe, daß Jurii ganz allein in unendlicher Leere existiere
und leide. Er löschte die Lampe aus und wunderte sich, daß durch die
Spalten der Jalousieen hellrosiges Morgenlicht ins Zimmer hereindrang.

Er legte sich schlafen, und im Traum fühlte er, daß sich eine Gestalt,
die unheimlich rotes Feuer ausstrahlte, schwer und ungelenk auf ihn
setze. Das ist der Teufel, zuckte es voll Entsetzen durch seine Seele.

Jurii machte krampfhafte Anstrengungen, frei zu werden. Aber der Rote
ging nicht fort, sprach auch nicht, lachte nicht; er schnalzte nur mit
der Zunge. Man konnte nicht erkennen, ob dieses Schnalzen spöttisch oder
mitleidig klingen sollte ... Jurii verursachte diese Unsicherheit tiefe
Qualen ...




                                  XXII


Weich und liebevoll quoll die Dämmerung, von Gräser- und Blumenduft
durchtränkt, durchs offene Fenster herein. Ssanin saß hinter dem Tisch
und las bei den letzten Tagesstrahlen eine Erzählung von Tschechow, die
er ganz besonders liebte, -- -- -- ein alter Vikar, umringt von
Menschen, umgeben von Achtung, Weihrauchdunst, umkleidet mit goldenem
Talare, Brillantenkreuzen und allgemeiner Ehrfurcht stirbt -- --

Im Zimmer war es ebenso kühl und rein, wie auf dem Hof, der leichte Atem
des Abends lief frei durch den Raum, füllte Ssanins Brust, bewegte seine
weichen Haare, und hätschelte seine festen Schultern, die aufmerksam und
ernst über das Buch gebeugt waren.

Ssanin las, sann nach, bewegte die Lippen; er war so einem großen
kleinen Jungen ähnlich, der über seinem Schmöker vertieft die ganze Welt
vergessen hat. Je weiter er las, um so stärker durchdrangen ihn traurige
Gedanken über das schwere Grauen, das im menschlichen Leben liegt, über
den Stumpfsinn und die Roheit der Masse; er fühlte wieder, wie fern er
ihr stand. Sicher wäre es sehr nett gewesen, mit dem alten Vikar bekannt
zu sein; sein Leben wäre dann gewiß nicht so einsam verlaufen.

Die Tür zum Zimmer öffnete sich und Nowikow trat herein. Ssanin schaute
sich um.

»Ah, guten Tag,« er schob das Buch von sich. »Nun, was bringst du
Neues?« Nowikow drückte ihm schwach die Hand; sein Lächeln gab nur eine
blasse, traurige Grimasse.

»Nichts. Alles ist ebenso gräßlich wie es früher war.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung und trat zum Fenster.

Von Ssanins Platz aus war nur seine gut gebaute Figur sichtbar; durch
den erlöschenden Hintergrund der Abenddämmerung wurde von ihr ein zarter
Schatten zurückgeworfen.

Ssanin betrachtete ihn lange voll Aufmerksamkeit.

Als er zum ersten Mal Nowikow, der wie vor den Kopf gestoßen war, zu
Lyda schleppte, die selbst völlig ratlos, dem früheren stolzen und
schönen Mädchen gar nicht mehr glich, sprachen die beiden kein Wort über
das, was ihre Seelen bis zum tiefen Grunde erschütterte. Ssanin
verstand, daß sie unglücklich werden mußten, sobald erst das erste Wort
gesprochen wäre, doppelt unglücklich aber, wenn sie weiterschwiegen. Er
fühlte, daß sie nur durch Leid hindurchtastend, das, was für ihn klar
und selbstverständlich war, finden konnten.

Aber er versuchte nicht, sie vorwärtszustoßen, weil er schon damals
erkannte, daß sich diese beiden Menschen in einem geschlossenen Zirkel
bewegten, in dem sie sich doch unvermeidlich früher oder später treffen
mußten.

-- -- -- Nun es wird schon gut werden, dachte Ssanin. Sie werden es
verschmerzen. Im Leide können sie nur reiner und inniger werden.

Als er jetzt Nowikow einsam am Fenster stehen sah, sagte er sich, daß
diese Zeit gekommen wäre. Schweigend blickte jener auf den verlöschenden
Himmel. Er war von dem seltsamen Gefühl erfüllt, in dem sich Trauer nach
einem unwiederbringlich verlorenen Glück zart mit dem Zittern
sehnsuchtsvoller Erwartung nach neuem Glück verbindet. In dieser traurig
feinen Dämmerung stellte er sich Lyda klarer als je schüchtern,
unglücklich, von allen gedemütigt vor. Es trieb ihn, sich vor ihr auf
die Kniee zu werfen, ihre kalten Finger mit Küssen zu erwärmen und sie
durch seine allvergessende, große Liebe zu neuem Leben zu erwecken.
Alles in ihm verlangte nach diesem Opfer; doch er hatte nicht die Kraft,
zu ihr zu gehen.

Ssanin empfand auch diese Stimmung. Langsam erhob er sich, warf den Kopf
nach hinten und sagte:

»Lyda ist im Garten. Gehen wir.«

Mit einer erbarmungswürdigen Regung des Schmerzes, und doch glücklich,
zog sich Nowikows Herz zusammen. Eine lichte Zuckung lief über sein
Gesicht und verschwand. Es war ersichtlich, wie stark seine Finger beim
Drehen des Schnurrbartes zitterten.

»Wie also? ... Gehen wir nun zu ihr? ...« Ssanin wiederholte es mit
gemessener Stimme, als wenn er an eine wichtige aber selbstverständliche
Angelegenheit heranträte.

An diesem Ton begriff Nowikow, daß Ssanin alles in ihm verstand; er
empfand eine große Erleichterung, gleichzeitig aber naiven, kindischen
Schreck.

»... Also gehen wir!« sagte Ssanin noch einmal zart, ergriff Nowikows
Schultern und schob ihn zur Tür.

»Nun gut, ja,« murmelte Nowikow. Eine rührselige Zärtlichkeit, der
Wunsch, Ssanin zu umarmen, stieg in ihm auf. Aber er hatte doch nicht
den Mut dazu, er sah ihm nur mit tiefen, feuchten Blicken ins Gesicht.

Im Garten war es dunkel, es roch nach warmem Thon. Die Baumdurchschläge
leuchteten in der Dämmerung wie gotische Fenster. Ueber den weißen
Lichtungen rauchte feiner, gelber Nebel; es war, als ginge ein
unsichtbares Wesen zwischen den schweigenden Sträuchern und leise
erzitterten die schlafbefangenen Gräser und Blumen bei seiner
Annäherung.

Am Ufer war es heller; die Dämmerung umfaßte erst die Hälfte des
Flusses, der sich noch immer glänzend gegen die dunklen Wiesen abhob.

Lyda saß hier dicht am Wasser und ihre feine, gesenkte Silhouette stach
weiß vom Grase ab, wie ein geheimnisvoller Schatten, der über dem Wasser
trauert.

Jene leichte, kühne Ueberlegenheit, die sich ihrer unter dem Einfluß der
beruhigenden Stimme des Bruders bemächtigt hatte, verschwand ebenso
rasch wieder, als sie gekommen war. An ihre Stelle schlichen sich die
schwarzen Gespenster Scham und Furcht, legten sich neben sie und
flüsterten ihr von neuem zu, daß sie kein Recht mehr auf ein anderes
Glück, ja nicht einmal selbst auf ihr Leben hätte.

Ganze Tage lang saß sie mit dem Buche im Garten, weil sie der Mutter
nicht mehr einfach und gerade in die Augen zu blicken vermochte.
Tausende Mal empörte sich alles in ihr. Immer wieder sagte sie sich, daß
die Mutter nichts mit ihrem Leben zu tun hätte. Aber jedesmal, wenn sie
sich ihr näherte, änderte sich ihre Stimme und in ihren Augen zeigte
sich ein scheuer, schuldbewußter Ausdruck. Die Mutter wurde durch ihre
Verwirrung, ihr Erröten, die unsichere Stimme, den irren Blick
beunruhigt. Peinliche Verhöre folgten nun; argwöhnische Augen liefen
hinter ihr her und quälten sie, bis sie sich zu verstecken begann.

So saß sie auch an diesem Abend, verfolgte gramvoll die am Horizont
niedersteigende Dämmerung und dachte ihre schweren, auswegslosen
Gedanken durch.

Sie begriff nicht, warum es ihr nicht möglich war, das Leben zu
verstehen. Nur eine unfaßbare Ahnung, unentwirrbar wie ein Polyp,
klebrig und bedrückend, erhob sich vor ihren Augen.

Eine Menge von Schriften, die sie gelesen hatte, eine Reihe von großen
und freien Ideen durchzogen ihr Hirn. Maß sie an ihnen ihre
Handlungsweise, dann war sie nicht nur natürlich; sie war auch schön.
Niemandem hatte sie Böses getan; sich und einem zweiten Menschen gab sie
reiche Lust.

Ohne diese Lust hätte sie nichts von der Fülle ihrer Jugend gewußt und
das Leben wäre trostlos, wie ein Baum im Herbst, geblieben, wenn alle
Blätter abgefallen sind. Der Einwurf, daß die Kirche den Bund mit diesem
Manne nicht sanktioniert hatte, kam ihr lächerlich vor; schon längst
waren alle Stützen dieser traditionellen Forderung durch das freie,
menschliche Denken zerbröckelt und zermürbt worden. Schließlich kam sie
zu dem Schluß, daß sie sich eigentlich freuen müßte, wie sich eine Blume
freut, die sich an einem sonnigen Morgen von neuem Leben befruchtet
fühlt. Aber in ihrem Innern litt Lyda doch, sah sich tief am Boden eines
Abgrundes, tiefer gesunken als alle Menschen; sie war zur Letzten der
Letzten geworden. Mochte sie auch die erhabensten Ideen, unverrückbare
Wahrheiten zu Hilfe rufen, vor dem kommenden Tage der Schande schmolzen
sie dahin, wie Wachs im Feuer schmilzt. Anstatt den Menschen, die sie
wegen ihres Stumpfsinns und ihrer Beschränktheit verachtete, den Fuß auf
den Nacken zu setzen, dachte sie nur daran, wie sie sich retten und jene
täuschen könne.

In dieser ganzen Zeit fühlte sich Lyda, wenn sie einsam weinte und ihre
Tränen sorgsam vor jedem Menschen verbarg, oder wenn sie plötzlich in
stumpfe Verzweiflung versank, nachdem sie ihrer Umgebung falsche
Fröhlichkeit vorgeheuchelt hatte, doch stets, wie eine Blume zum warmen
Sonnenstrahl, nur zu Nowikow hingezogen. Aber wie ein niederträchtiges
Verbrechen schien ihr der Plan, sich von ihm retten zu lassen. Oft
loderte in ihr wilde Verzweiflung darüber auf, daß sie von seiner
Vergebung und Liebe abhängen solle. Doch stärker als ihr Stolz, stärker
als der innere Protest war das Bewußtsein ihrer Ohnmacht und die Liebe
zum Leben. Statt sich über die menschliche Dummheit zu empören, zitterte
sie vor ihr, statt Nowikow frei in die Augen zu blicken, demütigte sie
sich wie eine Sklavin vor ihm.

In diesem zerspaltenen Mädchen lag etwas Bemitleidenswertes und
Hilfloses, wie in einem Vogel, dem die Schwingen gebrochen sind und der
sich nun nicht mehr fortbewegen kann.

In Augenblicken, in denen ihre Qualen ganz unerträglich werden wollten,
kam ihr stets der Bruder in den Kopf; dann füllte sich ihre Seele mit
naiver Bewunderung. Ihr war es klar, daß ihm nichts heilig sei, daß er
sie, die Schwester, nur mit den Blicken des Mannes betrachtete. Sicher
war er egoistisch, unmoralisch, aber doch blieb er der einzige Mensch,
in dessen Gegenwart ihr leichter wurde, mit dem sie ohne Scham über die
intimsten Geheimnisse ihres Lebens sprechen konnte. In seiner
Anwesenheit nahm alles andere einfache und nichtige Formen an! -- -- --
Sie war schwanger, nun gut, was hat das weiter zu bedeuten, -- -- -- sie
hatte eine Liebes-Affäre hinter sich, um so besser, also hatte es ihr
gradso gefallen; man wird sie verachten und demütigen wollen, was macht
es denn? ... Das Leben, die Sonne und die Freiheit liegen vor ihr und
Menschen gibt es überall. Die Mutter wird leiden, na, wenn sie es
durchaus will? ... Das ist ihre Sache! Lyda hat das Leben der Mutter
nicht mit angesehen, als diese ihre Jugend durchkostete, und die Mutter
wird Lyda nicht mehr beobachten, wenn sie erst gestorben ist. Zufällig
auf der Lebensbahn begegnet, nur eine Strecke des Weges miteinander
gehend, können und dürfen sie nicht einander die Bahn versperren.

Lyda sah ein, daß sie allein niemals so frei werden würde, wie Ssanin.
Um so zu denken, mußte sie sich dem Einfluß dieses starken und freien
Mannes unterwerfen. Doch mit um so stärkerer Bewunderung und größerer
Zärtlichkeit blickte sie auf ihn, -- -- -- eigenartige, zügellose
Gedanken flatterten durch ihre Seele. Wenn er doch ein Fremder, nicht
der Bruder wäre ... dachte sie zaghaft und scheu; doch sie erstickte
schleunigst den Schluß dieses beschämenden, aber verlockenden Gedankens.

Und wieder wendeten sich dann ihre Gedanken Nowikow zu; sie wartete und
hoffte auf seine Liebe.

So schloß dieser Zauberkreis ab; kraftlos zerschlug sich Lyda in ihm.
Die letzten Kräfte und Farben ihrer jungen, hellen Seele gingen darin
verloren.

Sie hörte Schritte und schaute sich um.

Nowikow und Ssanin kamen auf sie schweigend zu; ohne darauf zu achten,
schritten sie durch das hohe Gras gradeaus. Man konnte ihre Gesichter in
der blassen Dämmerung nicht gut erkennen, aber eine plötzliche Ahnung
blitzte in Lyda auf, daß der gefürchtete Moment nahe sei. Sie sah aus,
als wenn sie das Leben verließe, so blaß und schwach wurde sie.

»Nun, hier,« sagte Ssanin, »ich habe dir Nowikow gebracht, was er will,
wird er dir selbst sagen. Bleib ruhig hier, ich gehe Tee trinken.«

Jäh wandte er sich um; mit weiten Schritten ging er ins Haus. Eine
Zeitlang, nur ganz allmählich in der Dunkelheit versinkend, schimmerte
noch sein weißes Hemd zu ihnen herüber; dann verschwand es hinter den
Bäumen. Es wurde so still, daß man garnicht glauben konnte, er wäre
fortgegangen und stehe nicht mehr im Schatten der Bäume.

Nowikow und Lyda begleiteten ihn mit den Blicken und beide verstanden,
daß in dieser einen Bewegung schon alles gesagt war; jetzt mußte man es
nur noch einmal in Worten wiederholen.

»Lydia Petrowna,« sprach Nowikow leise, und der Klang seiner Stimme trug
so viel Trauer, war so rührend aufrichtig, daß sich Lydas Herz zart
zusammenzog.

-- -- -- Es kann einem auch leid um ihn tun ... Wie unglücklich und gut
er ist, dachte sie mit wehmütiger Freude.

»Ich weiß alles, Lydia Petrowna,« fuhr Nowikow fort, er fühlte, wie die
Rührung über sein Tun und das Mitleid mit ihrer traurigen Gestalt in ihm
wuchs. »Aber ich liebe Sie wie vorher. Vielleicht werden Sie auch mich
einmal lieb gewinnen. Sagen Sie, wollen Sie meine Frau werden ...« -- --
-- ich brauche ihr nichts weiter zu erzählen; sie braucht nicht zu
wissen, welch Opfer ich ihr bringe. -- -- --

Lyda schwieg. Es war so still, daß man das flinke Aufschlagen des
Wassers hörte, das gegen das Gebüsch des Ufers plätscherte.

»Beide sind wir unglücklich,« sagte plötzlich aus der Tiefe seiner
Seele, für sich selbst unerwartet, Nowikow. »Aber vielleicht werden wir
zu zweien das Leben leichter tragen können.«

Lyda erhob ihr Gesicht zu ihm:

»Ja, vielleicht ...« antwortete sie einfach, aber ihre Augen sagten: --
-- -- Gott sei mein Zeuge, daß ich eine gute Frau sein werde, ich werde
dich immer lieben und alles mit dir fühlen.

Nowikow verstand diesen Blick; er ließ sich rasch und impulsiv neben ihr
auf die Kniee nieder und begann ihre zitternde Hand zu küssen. Er
zitterte selbst am ganzen Körper vor Erregung und plötzlicher froher
Leidenschaft. Diese Erregung teilte sich Lyda so tief und leuchtend mit,
daß das schmerzliche bange Gefühl der Scham mit einem Mal verschwunden
war.

-- -- Nun, jetzt ist alles zu Ende, ich werde wieder glücklich sein, --
-- du, mein Lieber, mein Armer, dachte sie, glückliche Tränen weinend.
Sie zog ihre Hand nicht zurück, sie beugte sich selbst auf die weichen
Haare Nowikows, die ihr stets gefallen hatten, herab und küßte sie. Die
Erinnerung an Sarudin huschte grell an ihr vorüber; erlosch aber sofort
wieder.

Als Ssanin, der fand, daß nun Zeit genug für Erklärungen verflossen
wäre, zu ihnen zurückkam, hielten sich Lyda und Nowikow bei den Händen
und sprachen leise und vertrauensvoll miteinander. Nowikow sagte ihr,
daß er niemals aufhören könne, sie zu lieben; Lyda ihm, daß sie ihn von
nun an immer lieben werde. Es war die Wahrheit; denn Lyda verlangte nach
Liebe und Glück, sie hoffte sie in ihm zu finden und liebte ihre
Hoffnung.

Beide glaubten, niemals so glücklich gewesen zu sein. Als sie Ssanin
erblickten, schwiegen sie still und schauten ihn mit verwirrten,
freudigen und vertrauensvollen Augen an.

»Nun, ich verstehe,« sagte Ssanin ernst, als er sie erblickte, »... Gott
sei's gedankt. Wenn Ihr nur glücklich werdet.« Er wollte noch etwas
hinzufügen, mußte aber niesen und tat es so laut und zufrieden, daß es
über den ganzen Fluß schallte. »Feucht ist es hier. Na, seht zu, daß ihr
keinen Schnupfen kriegt,« er rieb die Augen.

Vergnügt lachte Lyda auf und glücklich und schön klang es vom Flusse
zurück.

»Ich gehe! ...« sagte Ssanin.

»Wohin? ...«

»Da ist Swaroschitsch gekommen und dann der eine Offizier, der
Tolstoischwärmer, -- -- -- wie heißt er doch gleich, dieser lange
Deutsche?«

»Von Deutz,« half Lyda mit grundlosem Lächeln ein.

»Ja, ... er! Sie wollen uns zu einer Besprechung abholen. Na, ich sagte
ihnen, daß ihr nicht hier wäret.«

»Warum?« fragte Lyda, noch immer lachend.

»Bleib du nur hier sitzen. Ich hätte mir auch lieber hier ein Eckchen
zurecht gemacht, wenn ich nur jemanden dazu hätte.«

Wieder ging Ssanin fort; diesmal endgültig.

Es wurde Abend. Im dunklen fließenden Wasser schwankten die Sterne.




                                 XXIII


Der Abend war dunkel und dumpf. Ueber den Wipfeln der schwarzen,
versteinerten Bäume drängten in schweren Klumpen Wolken dahin, von einem
Ende des Himmels bis zum andern, schnell, als wenn sie einem
unsichtbaren Ziel zueilen müßten. In ihren grünlichen Lücken tauchten
blasse Sterne auf und nieder. Der Himmel quoll über von unaufhörlicher,
unheimlicher Bewegung; auf der Erde kauerte alles in gespannter
Erwartung.

In dieser Stille hörten sich die Stimmen streitender Menschen so
widerwärtig schrill und zänkisch an, wie das Kläffen kleiner, unruhiger
Köter.

»Wie dem auch sei,« stieß, mit den langen Beinen wie ein Storch
stolpernd, von Deutz hervor. »Aber das Christentum hat der Menschheit
als einzige volkstümlich humanitäre Lehre einen unvergänglichen Reichtum
gegeben.«

»Was Sie nicht sagen,« erwiderte Jurii, der hinter ihm ging, mit einer
hartnäckigen Kopfbewegung, während er zornig auf seinen Rücken blickte.
»Im Kampfe gegen die tierischen Instinkte hat sich das Christentum
ebenso unzulänglich gezeigt, wie alle and -- -- --«

»Wieso denn gezeigt? ...« rief voll Empörung von Deutz. »Die ganze
Zukunft liegt frei vor dem Christentum. Und dann von ihm wie von einer
abgetanen Sache sprechen. -- -- --«

»Das Christentum hat keine Zukunft,« fiel ihm Jurii mit grundloser
Erbitterung ins Wort. »Wenn das Christentum die Menschheit nicht in der
Zeit seiner höchsten Entwickelung unterjochen konnte, wenn es nur einem
Haufen Schurken in die Hände geraten konnte, die es als Werkzeug ihrer
frechen Betrügereien gebrauchten, dann ist es jetzt, wo bereits das Wort
Christentum abgeschmackt klingt, doppelt lächerlich und komisch, irgend
ein Wunder seiner Erneuerung abzuwarten. Die Geschichte verzeiht
niemals. Was einmal von der Bühne herunter ist, kommt niemals wieder
herauf.«

Der hölzerne Bürgersteig war unter den Füßen kaum sichtbar. Ging man
unter den Bäumen, war überhaupt nichts mehr zu erkennen, auch die
Stimmen machten, weil man keine Gesichter unterscheiden konnte, einen
unnatürlichen Eindruck. Stieß einer oder der andere gegen einen
Straßenpfosten, so wurde seine Stimme sofort noch aufgeregter und
wütender.

»Das Christentum von der Bühne fort? ...« rief von Deutz. In seinem Ton
klang übertriebenes Staunen und Entrüstung.

»Natürlich! Weg, -- -- einfach weg,« beharrte Jurii. »Sie tuen so
erstaunt, als wenn man das gar nicht ausdenken dürfe. Wie der
Mosesglauben zur rechten Zeit von der Szene abgetreten ist, wie Buddha
und die hellenischen Götter für uns nicht mehr leben, so ist auch
Christus gestorben. Das Gesetz der Evolution ... was erschrecken Sie
denn davor! Sie glauben doch wohl nicht an die Göttlichkeit seiner
Lehre.«

»Selbstredend nicht,« fauchte verletzt von Deutz. Er antwortete weniger
auf die Frage als auf den verletzenden Ton Juriis.

»Wollen Sie also wirklich die Behauptung aufstellen, daß der Mensch ein
ewiges Gesetz schaffen kann?« ... dieser Idiot, dachte er im stillen
weiter. Die unerschütterliche Sicherheit, daß dieser Mensch niemals
imstande sein würde, das, was für ihn selbst so tagesklar und einfach
war, zu verstehen, die angenehme Empfindung, daß jener dümmer sei,
verband sich im Kopfe Juriis unsinnigerweise mit dem wütenden Verlangen,
ihn unter allen Umständen zu überzeugen und umzustimmen.

»Zugegeben, daß dem selbst so wäre,« erwiderte dieser jetzt ebenfalls
erbittert. »Aber das Christentum ist nun einmal zur Grundlage der
Zukunft geworden. Es ist nicht zugrunde gegangen, sondern wie ein jeder
Same in den Boden gesunken, -- seine Früchte werden ...«

»Wer hat denn davon gesprochen -- ich nicht,« schrie Jurii, aus dem
Konzept gebracht und darüber noch erboster. »Ich wollte sagen ...«

»Nein, erlauben Sie bitte,« fiel ihm von Deutz triumphierend ins Wort,
er fürchtete wieder die Oberhand zu verlieren. Im Gehen drehte er sich
fortgesetzt um und kam dabei stets vom Bürgersteig herunter. »Sie haben
grade so gesagt ...«

»Wenn ich sage, daß es nicht so war, dann war es eben nicht so ... Es
ist eigentümlich,« unterbrach ihn Jurii seinerseits. Er empfand
einfachen, bitteren Haß, bei dem Gedanken, daß dieser Dummkopf von
Offizier einen Augenblick glauben konnte, er wäre der Intelligentere.
»Ich wollte sagen ...«

»Nun, mag sein. Verzeihen Sie bitte, daß ich Sie nicht richtig
verstanden habe.« Von Deutz zuckte mit nachsichtigem Lächeln seine
schmalen Achseln; es sollte heißen, daß er Jurii für zurückgeschlagen
halte, und daß alle Entgegnungen nichts anderes mehr sein würden, als
eine verspätete Retirade.

Jurii begriff das und fühlte sich dadurch so furchtbar gekränkt, daß
sich seine Kehle zuschnürte.

»Ich will gar nicht die ungeheure Bedeutung des Christentums leugnen.«

»Dann widersprechen Sie sich,« verschluckte sich von Deutz mit neuem
triumphierendem Entzücken. Es war ihm durchaus klar, daß Jurii unendlich
dümmer wäre, als er und daß er augenscheinlich nicht annähernd das
wußte, was in seinem Hirne so harmonisch aufgestapelt war.

»Das kommt _Ihnen_ so vor, daß ich mir widerspreche. Aber tatsächlich
gerade im Gegenteil, ... mein Gedanke ist ganz logisch. Ist nicht meine
Schuld, wenn Sie ... mich nicht verstehen wollen,« rief Jurii mit
verletzender Schärfe, durch die er das Gefühl des Leidens in sich
unterdrücken wollte. »Ich sagte vorher und das sage ich auch jetzt, ...
das Christentum ist ein durch und durch wiedergekäuter Stoff, und von
ihm, so wie er ist, hat man keine Ernährung zu erwarten.«

»Nun ja ... Aber, wollen Sie denn den wohltuenden Einfluß des
Christentums leugnen. ... Das heißt, daß es einfach zur Grundlage wurde
...« Auch von Deutz erhob seine Stimme, mit hilfloser Eile suchte er
seine weiteren Schlüsse, die ihm bei dieser Wendung des Gesprächs zu
entgleiten drohten, wieder einzufangen.

»Das leugne ich gar nicht!«

»Aber ich leugne es!« mischte sich plötzlich Ssanin, der die ganze Zeit
schweigend hinter ihnen herging, lächelnd ins Gespräch. Seine Stimme war
leicht und ruhig und schnitt eigentümlich in den wirbelnden, ätzenden
Ton des Streites ein.

Jurii schwieg. Er fühlte sich durch diese kühle Stimme und den
offensichtlichen Spott, der aus ihr herausklang, verletzt; aber er fand
kein Wort zur Entgegnung. Für ihn war es stets peinlich und unbequem,
mit Ssanin zu streiten, -- als wenn all die Worte, welche er gewöhnlich
brauchte, bei Ssanin nicht am richtigen Platz waren. Dann fühlte er
sich, als müßte er eine Mauer umstürzen, während seine Füße auf glattem
Eis standen.

Von Deutz konnte nicht schweigen. In seiner Erregung über den
unerwarteten Angriff stolperte er und klirrte schrill mit den Sporen;
dazwischen schrie er mit sich überschlagender Stimme: »Aber warum denn
das, wenn ich fragen darf?«

»Ganz einfach -- -- -- so,« erklärte Ssanin mit unfaßbarem Unterklang.

»Wie denn _so_? ... Wenn man solche Behauptungen aufstellt, muß man sie
auch beweisen.«

»Wozu hätte ich es nötig, sie zu beweisen?«

»Was heißt das: ... wozu? ...«

»Gar nichts habe ich zu beweisen. Es ist meine Ueberzeugung; aber Sie zu
überzeugen, fehlt mir der geringste Wunsch. Es hätte auch keinen Zweck.«

»Wenn man in dieser Weise urteilen will,« sagte Jurii zurückhaltend, »so
könnte man wohl die ganze Literatur zum alten Eisen werfen.«

»Aber nicht im geringsten! Die Literatur, nein, das ist eine wichtige
und interessante Sache. Die Literatur, -- -- ja, nämlich die, die ich so
bezeichne, die ist nicht dazu da, mit jedem dahergelaufenen Kopfwackler
zu polemisieren. Der selbst nichts zu tun hat, und nur alle Menschen mit
seiner Klugheit breitschlagen möchte. Sie baut das ganze Leben um,
dringt von Generation zu Generation in das Blut der Menschheit hinein.
Wenn man die Literatur vernichten wollte, würden im Leben viel Farben
verbleichen.«

Von Deutz blieb stehen, ließ Jurii vorbeigehen, und als Ssanin neben ihn
kam, sagte er zu ihm:

»Nein, bitte, die Idee, die Sie da eben streifen, interessiert mich aufs
äußerste.«

»Mein Gedanke ist sehr einfach. Wenn Sie durchaus wollen, will ich ihn
Ihnen klar machen. Meiner Meinung nach hat das Christentum in der
Geschichte eine traurige Rolle gespielt. In der Zeit, als die Menschheit
ihr Dasein nicht mehr ertragen konnte und nur wenig daran fehlte, daß
alle Demütigen und Unglücklichen zur Vernunft kämen und mit einem Stoß
die ganze unerträgliche und ungerechte Ordnung der Dinge zerschlagen
hätten, -- -- -- einfach alles vernichteten, was sich von fremdem Blute
nährt, ja, gerade in dieser Zeit erschien das stille, demütige, viel
verheißende Christentum. Es verurteilte den Kampf, versprach innere
Seligkeit, säuselte die Menschen in einen sanften Schlummer ein, brachte
eine Religion des >Nicht dem Bösen mit Gewalt widerstehen<, nun kurz
ausgedrückt, ließ den ganzen Dampf ab. Die gewaltigen Charaktere, die
durch den jahrhundertelangen Schmerz zum Kampf erzogen worden waren,
gingen wie die blödesten Idioten in die Arena hinab und mit einem Mut,
der unendlich bessere Verwendung verdient hätte, zogen sie sich mit
eigenen Händen die Haut in Striemen herunter! ... Ihre Feinde haben
natürlich garnichts Besseres gewünscht. Und jetzt sind wieder
Jahrhunderte nötig, es muß wieder unendliche Versklavung und Knebelung
kommen, um die Empörung in Schwung zu bringen. Der menschlichen
Persönlichkeit, die zu wild war, um zum Sklaven zu werden, zog das
Christentum ein Bußhemd über und verbarg darunter alle Farben des freien
menschlichen Geistes ... Die Starken, die sofort im Augenblick ihr Glück
in ihre Hände nehmen konnten, hat es betrogen, den Schwerpunkt ihres
Lebens in irgend eine Zukunft verlegt, in den Traum an etwas nicht
Existierendes, an etwas, das keiner von ihnen jemals erblicken kann ...
Und alle Schönheit des Lebens verschwand dadurch: Der Stolz, die freie
Leidenschaft, die Willenskraft, und nur die Pflicht ist übrig geblieben
und dann, -- der unsinnige Traum an das kommende goldene Zeitalter,
golden natürlich für die anderen. Ja, das Christentum hat eine häßliche
Rolle gespielt und der Name Jesu Christi wird noch lange wie ein Fluch
auf der Menschheit lasten.«

Von Deutz blieb plötzlich stehen und man konnte trotz der Dunkelheit
bemerken, wie sich seine langen Arme hoben und senkten.

»Nun wissen Sie -- -- --« er stammelte in Schreck und Ratlosigkeit.

Auch in Jurii regte sich ein eigenartiges Gefühl. Einerseits schien in
Ssanins Worten nichts Besonderes zu liegen, auch konnte ja Ssanin wie
Jurii alles aussprechen, was er dachte und für gut hielt. Aber doch
wieder legte sich, gleich einem Schatten des »Unbewußten«, ein schwerer
Druck auf sein stehengebliebenes Denken. Die Existenz dieser vererbten
Furcht hatte Jurii längst vergessen; er kam niemals darauf, sie sich zu
vergegenwärtigen. Jetzt empfand er sie um so intensiver; es verletzte
ihn.

»Denken Sie denn garnicht an die blutige Messe, die über die Menschheit
losgebrochen wäre, wenn sie das Christentum nicht abgewendet hätte,«
fragte er Ssanin mit eigentümlich nervösem Grimm.

»Eh,« Ssanin wehrte mit der Hand ab. »Unter dem Deckmantel des
Christentums wurden zuerst die Arenen mit Märtyrerblut berieselt, dann
tötete man Menschen, steckte sie in Gefängnisse, warf sie in
Irrenhäuser, tagaus, tagein, noch jetzt strömt Blut in solcher Menge, --
-- kein Weltumsturz wäre imstande, ein größeres Quantum in Fluß zu
bringen. Am schlimmsten ist ja, daß die Menschen noch immer jede
Verbesserung mit Blut, durch Revolution erkämpfen müssen. Warum stellen
sie denn als Grundlage ihrer Existenz die Humanität und Nächstenliebe
auf. Eine platte Tragödie, Lüge und Heuchelei kommt da zutage, weder
Fisch noch Fleisch. Ich würde jetzt lieber eine Weltkatastrophe als das
trübe waschlappig-schleimige Leben von zwei Jahrtausenden kommen sehen!«

Jurii erwiderte nichts. Es war eigentümlich, daß sein Denken sich nicht
über dem Sinn der Worte halten konnte, sondern sich stets an die
Persönlichkeit Ssanins klammerte. Ihm schien dessen absolute Sicherheit
äußerst beleidigend, ja, geradezu unerträglich.

»Sagen Sie bitte,« meinte er plötzlich, ohne daß er selbst erwartet
hätte, er würde dem dringenden Verlangen, Ssanin zu verletzen,
nachgeben. »Warum sprechen Sie immer in einem Ton, als ob Sie kleine
Kinder belehren wollten?«

Von Deutz wunderte sich über Juriis Angriffe, wurde verwirrt und hielt
sich für verpflichtet, ein paar begütigende Worte vor sich hinzumurmeln.

»Da haben Sie's,« auch Ssanin war ärgerlich. »Warum sind Sie denn böse?«

Jurii fühlte selbst, daß er ausfallend geworden war und daß er nicht
weitergehen dürfe, aber die Erregung, die sich tief in ihm eingefressen
hatte und der, bis auf die Nerven nackte Eigensinn rissen ihn fort.

»Ihr Ton ist wirklich unangenehm,« gab er hartnäckig, fast drohend
zurück.

»Es ist nun einmal so meine Art zu reden,« meinte Ssanin, trotz des
erkennbaren Aergers, doch mit dem Wunsche zu beruhigen.

»Er ist aber nicht überall angebracht! Ich begreife überhaupt nicht,
warum Sie immer mit solchem Aplomb auftreten ...«

»Wahrscheinlich in dem Bewußtsein, daß ich klüger bin als Sie,«
antwortete Ssanin noch ruhiger.

Jurii blieb, von Kopf bis zu den Füßen durchgehend erzitternd, stehen:
»Hören Sie mal,« obgleich man sein Gesicht nicht erkennen konnte, fühlte
man, daß es blaß wurde.

»Regen Sie sich doch nicht auf,« Ssanin hielt ihn liebenswürdig zurück.
»Ich hatte gar nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Ich habe Ihnen nur
meine aufrichtige Meinung gesagt. Und dieselbe Meinung haben Sie von
mir, von Deutz hat sie von uns beiden, -- -- -- was wollen Sie, das ist
ganz natürlich ...« Ssanins Stimme war so aufrichtig und zart, daß es
nur komisch gewesen wäre, mit dem aufgeregten Schreien fortzufahren.
Jurii schwieg eine Minute still. Von Deutz, der offenbar die unangenehme
Situation für ihn mitempfand, klirrte ernsthaft mit den Sporen und
atmete schwer und deutlich.

»Aber ich spreche es doch nicht aus,« sagte Jurii gepreßt.

»Recht schade darum! Ich habe vorhin Ihrer Diskussion mit Deutz
zugehört; in jedem ihrer Worte klang ganz handgreiflich und verletzend
dasselbe durch. Es handelt sich also nur um die Form. Ich sage frei
heraus, was ich denke, und Sie tun es nicht. Das aber wird auf die Dauer
uninteressant. Wenn Sie aufrichtig sein wollten, wären Sie viel
genießbarer.«

Von Deutz lachte plötzlich kleinlich auf: »Das ist aber originell!« Er
verschluckte sich wieder einmal vor Entzücken.

Jurii antwortete nichts. Aber sein Aerger legte sich. Er wurde sogar im
Augenblick innerlich froh. Immerhin bedrückte es ihn, daß er schließlich
hatte nachgeben müssen; doch das wollte er nicht zu erkennen geben.

Von Deutz war inzwischen mit seinem Entzücken zu Ende gekommen, und
erklärte nunmehr gewichtig:

»Auf diese Weise würde es aber zu primitiv hergehen.«

»Müssen Sie denn alles durchaus verwickelt und kompliziert haben? ...«

Von Deutz zuckte die Achseln und wurde nachdenklich.




                                  XXIV


Sie kamen auf den Boulevard, schritten ihn herunter und bogen in einen
entlegenen Stadtteil ein, auf dessen kahlen Straßen viel mehr Licht
schwamm.

Die trockenen Bretter des Bürgersteigs hoben sich deutlich von der
schwarzen Erde ab und über ihnen öffnete sich der blasse Himmel, auf dem
dunstige Wolkenfetzen zerstreut hingen. Nur hin und wieder funkelte ein
Stern.

»Hier ist es!« Von Deutz klinkte eine niedrige Pforte auf und verschwand
im Augenblick.

Sofort schlug in der Nähe ein alter, heiserer Köter an; dann schrie
jemand von einer kleinen Holztreppe herunter: »Sultan, -- -- Still.«

Ein ungeheurer, verwahrloster Hof lag vor ihnen. An seinem einen Ende
stand wie mit Kohle hingezeichnet, die stumpfe Masse einer Dampfmühle,
auf der sich ein dünner, schwarzer Schornstein traurig zu den fernen
Wolken hinaufreckte. Um sie herum lagen schwarze Schuppen. Nirgends war
ein Baum zu sehen, nur unter den Fenstern des Seitenflügels stand in
einem kleinen Vorgärtchen einsam ein Bäumchen. Dort war ein Fenster
geöffnet und eine Garbe grellen Lichts durchdrang die trübe Finsternis
und die durchsichtig grünen Blätter.

»Na, das ist ein trostloser Flecken,« meinte Ssanin.

»Die Mühle arbeitet wohl schon lange nicht mehr,« erkundigte sich Jurii.

»Oh ja, die steht schon eine ganze Weile,« antwortete von Deutz. Im
Vorbeigehen schaute er in das erleuchtete Fenster und wandte sich dann
mit ungewöhnlich zufriedener Stimme zu ihnen:

»Oho, es ist ja schon eine ganze Menge Volk drin.«

Jurii und Ssanin blickten ebenfalls durch das Vorgärtchen hinüber. In
dem hellen, fröhlichen Viereck sah man schwarze Köpfe sich bewegen;
blauer Tabakdunst schwamm darüber.

Jemand lehnte sich in die Dunkelheit hinaus; die dunkle verschobene
Gestalt, der krause Kopf, von einer Gloriole langer Haare umgeben,
verdeckte die ganze Oeffnung.

»Wer da? ...« wurde laut gefragt.

»Von uns,« schrie Jurii zurück.

Sie stiegen die Steintreppe hinauf und stießen auf einen Menschen, der
ihnen in bereitwilliger Eile die Hände drückte.

»Ich dachte schon, daß Sie werden garnicht mehr kommen ...« sprach er
mit stark jüdischem Akzent.

»Ssoloveitschik ... Ssanin,« stellte von Deutz vor und drückte
freundlich die kalte, sehr zapplige Hand des Unsichtbaren.

Dieser kicherte verwirrt und schüchtern.

»Sehr angenehm für mich ... Wissen Sie, ich habe doch so viel gehört von
Ihnen und sehen Sie, -- -- -- es ist sehr ...« Ssoloveitschik sprach in
der Aufregung ganz zusammenhanglos, schob sich dabei nach rückwärts,
hörte aber nicht einen Moment auf, Ssanins Hand zu drücken. Mit seinem
Rücken stieß er auf Jurii und trat von Deutz auf den Fuß.

»Verzeihen Sie mir gütigst, Alexander Adolphowitsch,« rief er Ssanin
verlassend; er klammerte sich jetzt an Deutz an.

Dadurch verwickelten sie sich alle in dem dunklen Flur, sodaß lange Zeit
hindurch keiner von ihnen die Tür oder einer den andern finden konnte.

Im Vorzimmer hingen auf Nägeln, die von dem ordnungsliebenden
Ssoloveitschik eigens für diesen Abend eingeschlagen waren, Hüte und
Mützen. Auf dem Fensterbrett stand eine enge Reihe von Gläsern der
verschiedensten Formen, die für den Tee vorbereitet waren. Auch dieses
Vorzimmer war schon von Tabaksrauch durchzogen. Bei Licht besehen,
stellte sich Ssoloveitschik als ein junger Jude dar, mit schwarzen
Augen, krausem Haar, einem schönen mageren Gesicht und verdorbenen
Zähnen, die sich jeden Augenblick bei seinem schüchternen, gefälligen
Lächeln zeigten.

Die Eintretenden wurden von einem Chor lebhafter und heller Stimmen
empfangen.

Jurii erblickte vor allen Karssawina, die am Fensterbrett saß; sofort
nahm alles für ihn ein besonderes freudiges Aussehen an, als wenn hier
nicht eine Zusammenkunft im dumpfen vollgerauchten Zimmer wäre, sondern
ein Frühlingsfest auf einer Waldlichtung.

Sie lächelte ihm verwirrt entgegen.

»Nun meine Herrschaften, nun -- -- -- wir werden wohl sein vollzählig,«
rief Ssoloveitschik; er mußte seine kränkliche und unsichere Stimme
anstrengen, weil er ihr einen hellen, fröhlichen Klang zu geben
versuchte. Beim Sprechen konnte er gewisse sonderbare Handbewegungen
nicht unterlassen.

»Sie müssen schon mich entschuldigen, Jurii Nikolajewitsch, ich glaube,
daß ich Sie habe angestoßen,« wendete er sich an Jurii; vor Höflichkeit
bog er sich ganz auseinander.

»Tut ja nichts.« Jurii ergriff ihn gutmütig an der Hand.

»Alle sind wir nicht! Aber hol sie der Teufel, die andern,« rief ein
gutgewachsener, hübscher Student. An seiner breiten, kräftigen Stimme
konnte man gleich den sicheren, selbstbewußten Menschen erkennen.

Ssoloveitschik sprang zum Tisch und schellte schleunigst mit einer
kleinen Glocke, wobei er selbst, vergnügt über diesen kleinen Scherz,
den er seit dem Morgen vorbereitet hatte, lächelte.

»Aber lassen Sie doch das!« erboste sich der Student. »Immer schleppen
Sie irgendwelche Dummheiten heran. Diese Feierlichkeit ist doch wirklich
überflüssig.«

»Ich habe es nicht, -- -- -- ich wollte ... habe ja nur ...«
Ssoloveitschik kicherte verlegen, steckte aber die Glocke sofort in die
Tasche.

»Ich glaube, den Tisch rücken wir in die Mitte des Zimmers!« sprach der
Student wieder.

»Sofort ... Werde sofort ...« Eilig stürzte sich Ssoloveitschik auf den
Tisch und packte ihn in ohnmächtiger Anstrengung am Rande an.

»Aber doch die Lampe ... Werfen Sie die Lampe nur nicht um,« rief
Dubowa.

»So beruhigen Sie sich doch. Es ist ja nicht so eilig,« mischte sich der
Student wieder ein.

»Lassen Sie mich Ihnen behilflich sein,« schlug Ssanin ihm liebenswürdig
vor.

»Aber ich bitte sehr,« sagte Ssoloveitschik so hastig, daß die Worte
kaum unterscheidbar ineinander klangen.

Ssanin schob den Tisch in die Mitte des Zimmers und solange er damit zu
tun hatte, blickten alle auf seinen Rücken und seine Schultern, deren
Linien unter dem dünnen Stoff seiner russischen Bluse leicht hin und her
liefen.

»Nun, Hoshijenko, Sie als Initiator des Ganzen haben die Antrittsrede zu
halten,« sagte die blasse, farblose Dubowa. Aus ihren klugen, häßlichen
Augen ließ sich kaum ersehen, ob sie es ernsthaft meinte oder sich über
den breiten Studenten lustig machen wollte.

»Meine Herrschaften,« begann Hoshijenko, indem er seine Stimme anhob.
»Sie wissen alle natürlich, aus welchem Grunde wir uns versammelt haben.
Deshalb könnten wir eine Einleitung eigentlich entbehren, aber ...«

Ssanin unterbrach ihn lächelnd: »Ich für meine Person weiß leider nicht,
warum ich mich versammelt habe. Es hieß so etwas, es würde hier Bier
geben ... Uebrigens, die Einleitung will ich gerne entbehren.«

Hoshijenko sah herablassend über die Lampe auf ihn hin und fuhr fort:
»Der Zweck unseres Zirkels ist, auf dem Wege gegenseitigen Lesens, der
Besprechung des Gelesenen, und dann des selbständigen Referierens ...«

»Wie meinen Sie ... gegenseitigen Lesens,« rief Dubowa dazwischen und es
war wieder nicht zu verstehen, ob sie im Ernst fragte oder zum Spott.

Der dicke Hoshijenko errötete etwas.

»Ich wollte sagen ... gemeinsamen Lesens. So ist also der Zweck unseres
Zirkels, indem er beiläufig die geistige Entwicklung seiner Mitglieder
fördert, die individuellen Anschauungen herauszuarbeiten, um dadurch die
Entstehung einer Parteiorganisation auf sozialdemokratischer Grundlage
in unserer Stadt in die Wege zu leiten.«

»Aha,« schrie Iwanow gedehnt und rieb sich andauernd den Nacken, dicht
unter dem Kopfhaar, -- »so läuft der Hase.«

»Aber das kommt erst später. Vorläufig wollen wir uns aber keine so
weiten ...«

»Oder engen ...« brach Dubowa wieder in ihrem sonderbaren Ton
dazwischen.

»... Aufgaben stellen,« der dicke Hoshijenko tat, als wenn er nicht
gehört hätte, »sondern werden mit der Ausarbeitung eines Leseplans
beginnen. Was auch, wie ich vorschlagen möchte, die Tagesordnung unserer
heutigen Versammlung bilden soll.«

»Ssoloveitschik! ... Und Ihre Arbeiter ... Werden Sie kommen? ...«

»Aber gewiß, ja!« Ssoloveitschik schnellte aus seiner gebückten Stellung
in die Höhe, als wenn ihn jemand gebissen hätte und sprang mit seiner
Antwort zu Dubowa herüber. »Man ist sie schon holen gegangen.«

»Ssoloveitschik, regen Sie sich doch nicht jedesmal auf. Seien Sie doch
ruhig,« bemerkte Hoshijenko in strengem Ton.

»Sie kommen schon,« rief Schawrow, der ernst und aufmerksam fast mit
ehrfurchtsvoller Miene den Ausführungen Hoshijenkos zugehört hatte.

Hinter dem Fenster ertönte das Knarren der Pforte und gleich darauf
wieder das heisere Bellen des Hundes.

Ssoloveitschik sprang impulsiv mit unverkennbarem Entzücken aus dem
Zimmer.

»Sultan, ... still ...« schrie er schrill von der Steintreppe herab.

Man hörte schwere Schritte, Stimmen und Husten.

Ein kleiner Student der technischen Hochschule, der Hoshijenko ziemlich
ähnlich sah, nur daß er brünett und häßlich war, trat ein; hinter ihm
kamen verwirrt und ungeschickt zwei Arbeiter. Ueber ihre schmutzigen
roten Hemden hatten sie Jacken gezogen; ihre Hände sahen schon von
weitem geschwärzt aus.

Der eine von ihnen war hoch gewachsen, hager mit bart- und blutlosem
Gesicht, auf dem die langjährige Unterernährung, die ewige Sorge und der
tief in die Seele eingepreßte Grimm unverwischbare Furchen gezogen
hatten. Der andere sah wie ein Athlet aus, war breitschultrig,
kraushaarig und schön; er machte den Eindruck eines Bauernburschen, der
zum ersten Mal in die fremden städtischen Verhältnisse, in denen ihm
zunächst noch alles lächerlich vorkommt, untergetaucht war. Hinter ihnen
schlüpfte, sich mit der Seite voranschiebend, Ssoloveitschik durch.

»Meine Herrschaften, nun ...« wollte er feierlich beginnen.

Wie gewöhnlich fiel ihm Hoshijenko nervös ins Wort:

»Aber lassen Sie doch!« Dann fuhr er selbst fort: »Guten Abend,
Genossen.«

Der Technologe übernahm sofort die Vorstellung: »Erlauben Sie, hier
Piszow und dies Kudriawi.«

Schwer und vorsichtig schritten die beiden Arbeiter durch das Zimmer und
schüttelten verlegen die Hände, die ihnen von den meisten Anwesenden mit
besonderer Zuvorkommenheit entgegengereicht wurden.

Piszow, der Bauer, lächelte unentschlossen und Kudriawi -- er war mager
und blaß -- machte mit dem langen, dünnen Hals Bewegungen, als wenn er
an dem engen Hemdkragen ersticken müßte.

Dann setzten sie sich nebeneinander ans Fenster zu Karssawina, die auf
dem Fensterbrett hockte.

»Aber warum ist denn Nikolajew nicht gekommen? ...« fragte unzufrieden
Hoshijenko.

»Nikolajew konnte nicht!« antwortete zuvorkommend Piszow.

»Nikolajew ist besoffen wie ein Stint,« fiel ihm düster und abgerissen
Kudriawi ins Wort, wobei er eigentümlich nervös mit dem Hals zuckte.

»Ah so, ... so ...« Hoshijenko nickte ungeschickt mit dem Kopf.
Unwillkürlich erschien Jurii Swaroschitsch diese Bewegung widerwärtig,
und von diesem Augenblick an sah er in dem Studenten seinen persönlichen
Feind.

»Also wählte er den besseren Teil,« bemerkte Iwanow in tiefem
Nachdenken. Der Hund schlug im Hofe an.

»Noch einer,« sagte Dubowa.

»Wenn nicht zu guter Letzt die Polizei ...« meinte mit gemachter
Nachlässigkeit Hoshijenko.

»Das würde Ihnen wohl ganz gut in den Kram passen, wenn es die Polizei
wäre,« versetzte sofort Dubowa.

Ssanin blickte auf ihre intelligenten Augen, die aus ihrem häßlichen
Gesicht interessiert hervorsprangen. Sie nicht allein verfeinerten es;
auch der helle Zopf, der über die Achsel auf die Brust geworfen war,
umrahmte es sehr niedlich von der Seite ... Welch ein famoses Mädchen,
dachte Ssanin, ohne die Augen von ihr abzuwenden.

Ssoloveitschik wollte wieder in die Höhe fahren, erschrak aber
rechtzeitig und tat, als ob er auf dem Tisch nach einer Zigarette
suchte. Aber Hoshijenko, der wie gespitzt auf jede seiner Bewegungen zu
lauern schien, hatte es auch diesmal wieder bemerkt und machte eine
abweisende strenge Geste, durch die seine Antwort auf Dubowas Einwurf
abgelenkt wurde. Ssoloveitschik klappte unter ihr plötzlich zusammen;
ihm schien das Verständnis aufzudämmern, daß sein einfacher Wunsch,
allen Menschen zu helfen und gefällig zu sein, bei weitem keine so
schroffe Zurückweisung verdiente.

»Vielleicht kümmern Sie sich nicht in einem fort um Ssoloveitschik,«
rief Dubowa zu Hoshijenko herüber. »Seien Sie doch ruhig.«

Rasch und lärmend trat Nowikow ins Zimmer.

»Nun, da bin ich,« bemerkte er mit freudigem Lächeln.

»Das konstatieren wir,« Ssanin nickte ihm zu.

Nowikow lächelte verlegen und flüsterte ihm beim Händedruck eilig und
wie zu seiner Rechtfertigung ins Ohr:

»Lydia Petrowna hat Besuch bekommen.«

»Na, sollen wir uns auch weiterhin mit Privat-Unterhaltungen
unterhalten,« fragte wütend der Technologe.

»Beginnen wir doch meinetwegen!«

»Hatten Sie denn noch garnicht begonnen?« erkundigte sich Nowikow
erfreut, während er den Arbeitern, die eilig vor ihm aufgestanden waren,
die Hände drückte.

Es war ihnen peinlich, daß ihnen der Arzt, der sie im Krankenhaus von
oben herab behandelte, jetzt die Hand als Genosse reichte.

»Ja, mit Ihnen soll einer anfangen,« zischte Hoshijenko unangenehm durch
die Zähne. Dann fuhr er fort:

»Also, meine Herrschaften, uns allen wäre es natürlich erwünscht, unsere
Weltanschauung zu erweitern. Da wir nun glauben, daß die beste
Möglichkeit der Selbstentwickelung und Selbstbildung durch
systematisches, gemeinsames Lesen und durch Gedankenaustausch über das
Gelesene gegeben wird, so haben wir beschlossen, einen kleinen Zirkel zu
bilden ...«

»So ...« Piszow atmete begeistert auf und ließ seine freudig glänzenden
Augen über alle Köpfe gleiten.

»Die Frage dreht sich nur noch darum, was wir jetzt lesen sollen.
Vielleicht ist jemand bereit, ein Programm vorzuschlagen.«

Schawrow zupfte an seiner Brille herum, dann erhob er sich langsam, ein
Heft in der Hand.

»Ich glaube,« begann er mit trockener, langweiliger Stimme, »daß wir
unser Lesen unbedingt in zwei Teile zerlegen müssen, wie? Es ist
unzweifelhaft, daß sich jede Bildung aus zwei Teilen zusammensetzt, aus
der Kenntnis des Lebens, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, und der
Kenntnisse der Lebensvorgänge als solcher.«

»Schawrow spricht gescheiter,« bemerkte Dubowa.

»Das erstere wird durch das Lesen von Büchern erreicht, die
Naturwissenschaften zur Grundlage haben, das zweite durch Lektüre
künstlerischer Literatur, und die wird uns mitten in das Leben
einführen.«

Dubowa konnte nicht zur Ruhe kommen: »Wenn wir so langsam
weitersprechen, schlafen wir alle ein.« In ihren Augen leuchtete
zärtlicher Spott wie ein lustiges Feuer auf.

»Ich bemühe mich, so zu sprechen, daß mich alle verstehen können, wie?«
erwiderte Schawrow sanftmütig.

»Nun, Gott mit Ihnen, sprechen Sie schon, wie Sie wollen.« Dubowa machte
eine wegwerfende Handbewegung. Auch Karssawina lachte zärtlich über
Schawrow und warf vor Lachen den Kopf so weit in den Nacken zurück, daß
sich ihr voller, weißer Hals zeigte.

»Ich habe ein Programm zusammengestellt, aber vielleicht würde es
langweilig sein, es vorzulesen. Darum möchte ich zunächst vorschlagen --
zu -- lesen: Der Ursprung der Familie von Engels, und daneben: Darwin,
und als Belletristisches: Tolstoi.«

»Tolstoi gewiß.« Zum ersten Mal beteiligte sich von Deutz, der bis
dahin, nur neugierig auf alles starrend, Zigaretten geraucht hatte, an
der Diskussion. Auch jetzt zündete er sich, sehr befriedigt von seinem
Einwurf, eine neue Zigarette an.

Schawrow wartete, Gott weiß warum, bis die Zigarette in Brand gesetzt
war, dann fuhr er methodisch fort:

»Tschechow, Ibsen, Knut Hamsun ...«

»Aber das hat man doch schon längst gelesen!« Karssawina war sehr
erstaunt. Jurii lauschte mit Freude ihrer klingenden Stimme und schloß
sich ihr sofort an:

»Selbstverständlich! Schawrow vergißt ganz, daß er hier nicht bei seinen
Sonntagsvorlesungen ist. Und dann, was ist das für eine komische
Zusammenstellung: Tolstoi und Hamsun.«

Schawrow führte ruhig und weitschweifig einige Einwände zur Verteidigung
seines Programms an, aber keiner konnte verstehen, was er eigentlich
sagen wollte.

»Nein,« widersprach ihm Jurii laut und entschieden, während er den Blick
Karssawinas ganz besonders auf sich ruhen fühlte und darüber froh wurde.
»Ich kann da nicht zustimmen.«

Nunmehr entwickelte er seinen Standpunkt, und je länger er sprach, um so
mehr gab er sich Mühe, Karssawinas Beifall zu erringen. Er spürte, daß
es ihm gelang. Schonungslos schlug er auf Schawrow auch in solchen
Punkten los, in denen er sonst mit ihm einverstanden gewesen wäre.

Der dicke Hoshijenko setzte sofort, nachdem Jurii geendet hatte, mit
scharfem Widerspruch ein. Er hielt sich für gebildeter, intelligenter
und vor allem für einen besseren Redner als die anderen, im Grunde hatte
er diesen Zirkel nur gegründet, weil er hoffte, so eine erste Rolle zu
spielen. Der Beifall, den Jurii fand, berührte ihn unangenehm und zwang
ihn, sofort gegen ihn aufzutreten. Die Ansichten Juriis waren ihm vorher
nicht bekannt gewesen, und er war daher nicht fähig, sie in vollem
Umfange zu bekämpfen. So griff er nur die schwachen Stellen heraus und
stürzte bissig auf sie los. Ein langer Streit, von dem offenbar das Ende
garnicht vorauszusehen war, schloß sich an. Der Technologe, Iwanow,
Nowikow ergriffen ebenfalls das Wort; bald leuchteten durch den
Tabaksrauch aufgeregte Gesichter. Die Worte verwickelten sich in ein
unentwirrbares, formloses Chaos, in dem man fast nichts mehr
herausfinden konnte.

Dubowa war in Nachdenken versunken; schweigend sah sie in das Feuer der
Lampe und Karssawina, die auch auf nichts mehr hinhörte, öffnete ihr
Fenster zum Vorgärtchen und starrte sinnend, die straffen Arme auf der
Brust verschränkt, den vollen Nacken gegen den Fensterrahmen gelehnt,
durch die nächtliche Finsternis.

Zuerst konnte sie nichts erkennen, aber allmählich traten aus dem
schwarzen Dunkel die trächtigen Bäume, der beleuchtete Vorgartenzaun und
weiter hinten ein trüb schwankender Lichtfleck, der über das Gras auf
den Fußpfad glitt, deutlich heraus. Der weiche, elastische Wind umgab
ihr Schultern und Nacken mit kühlen Strichen, -- leise bewegte er zarte,
einzelne Härchen an ihrer Schläfe. Karssawina hob den Kopf und
unterschied in der allmählich klarer werdenden Finsternis den
unaufhörlichen, eigenartig gespannten Zug dunkler Wolken. Sie dachte
über Jurii, über ihre Liebe nach und glückliche schwere Gedanken
erfüllten mit liebkosender Erregung ihr Hirn. Es war so schön, hier zu
sitzen, sich mit dem glühenden Körper der Nacht hinzugeben und dabei mit
ganzem Herzen der einen aufreizenden Männerstimme zuzuhören, die für sie
ganz besonders laut aus dem allgemeinen Gewirr herausklang.

Im Zimmer herrschte unterdessen ununterbrochenes Lärmen; es stellte sich
immer klarer heraus, daß jeder einzelne sich für gebildeter und
intelligenter hielt, und die anderen zu belehren suchte. Darin lag ein
schwerer, aufpeitschender Vorwurf, der selbst die Friedfertigsten
erbitterte.

»Ja, wenn wir es von der Seite nehmen, dann müssen wir auf den Urgrund
aller Ideen zurückgehen.« Jurii schrie es mit hartnäckiger Anstrengung,
-- einen gleichen hartnäckigen Glanz in den Augen. Er fürchtete, in
Gegenwart Karssawinas, nur einen Schritt von seiner Meinung
zurückweichen zu müssen. Er wußte nicht, daß sie ganz allein auf seine
Stimme hörte, ohne auch nur einen Augenblick auf den Inhalt seiner Worte
zu achten.

»Was sollen wir denn dann Ihrer Meinung nach lesen?« fragte Hoshijenko
spöttisch.

»Meiner nach? ... Nun, Confucius, das Evangelium, den Ecclesiast ...«

Hoshijenko lächelte schadenfroh; dachte aber garnicht daran, daß er
bisher noch kein einziges dieser Bücher gelesen hatte.

»Aber was wollen Sie denn? ... Das geht doch nicht, wie?« meinte
Schawrow gedehnt.

»Die Psalter und das Leben der Heiligen ... nur los!« bemerkte ironisch
der Technologe.

»Wie in der Kirche,« kicherte Piszow.

Jurii wurde vor Wut dunkelrot.

»Ich scherze nicht. Wollen Sie logisch sein ...«

»Und was erzählten Sie vorhin über Christus? ...« fiel ihm von Deutz
triumphierend ins Wort.

»Was ich gesagt habe? ... Wenn man an das Studium des Lebens herangeht,
so, -- -- so will man sich eine bestimmte Weltanschauung bilden, um die
gesamten Beziehungen zwischen sich und den Menschen zu klären. Dann ist
doch wohl das Richtigste: zunächst hält man sich bei der titanischen
Arbeit jener Menschen auf, die die besten Repräsentanten des
Menschengeschlechts waren. Sie haben ja in ihrem eigenen Leben alles
getan, um die verschiedensten Zusammenhänge in der menschlichen
Gesellschaft von den einfachsten bis zu den kompliziertesten, zu prüfen
und festzustellen.«

Hoshijenko, der die ganze Zeit über wie gespannt saß, fiel ihm jetzt
gewaltsam ins Wort: »Bitte sehr, ich erkläre mich damit durchaus nicht
einverstanden. Bitte, ich kann das unter keiner Bedingung zugeben.«
Nowikow überschrie ihn: »Aber ich bin ganz derselben Meinung. Sehr
richtig war das.«

Wieder entstand ein sinnloser, brutaler Wirrwarr der Reden, in dem man
weder Anfang noch Ende einer Ansicht herausfinden konnte.

Ssoloveitschik, der sofort, als die anderen zu sprechen begannen, sich
schweigend in die Ecke gesetzt hatte, achtete intensiv auf jedes Wort.
Zuerst lag auf seinem Gesicht ungeteilte Aufmerksamkeit, die in ihrem
Ernst fast kindlich wirkte. Dann schärfte sich in seinen Mienen mehr und
mehr der Zug voller Verständnislosigkeit und innigen Leides.

Ssanin schwieg, trank Tee und rauchte. Man konnte Aerger und Langeweile
aus ihm herauslesen. Als nun gar gehässige Nuancen das wirre Geschrei
durchtönten, erhob er sich, drückte seine Zigarette aus und sagte:

»Ja, wißt ihr, Herrschaften, eure Geschichte hier wird mit der Zeit
langweilig.«

»Wirklich. Von ganzem Herzen langweilig,« unterstützte ihn Dubowa.

»Oh Eitelkeit aller Eitelkeiten, Qual für den Geist!« sprach Iwanow in
einem Ton, als ob er diese Phrasen die ganze Zeit auf der Zunge gehabt
und nur auf die Gelegenheit gewartet hätte, sie anzubringen.

»Und weshalb finden Sie das,« fragte wütend der brünette Technologe.

Ssanin schenkte ihm keine Aufmerksamkeit und wendete sich an Jurii:
»Glauben Sie ernsthaft, daß man sich nach irgend welchen Büchern eine
gewisse Weltanschauung aufbauen könne?«

»Aber gewiß!«

»Ganz im Gegenteil. Wenn dem so wäre, müßte man ja die ganze Menschheit
auf eine Form bringen können. Man brauchte ihr nur Bücher von einer
Richtung zu lesen geben. Nein, die Weltanschauung wird nur vom Leben
selbst gestaltet. In dem ist die Literatur und selbst das menschliche
Denken ein verschwindender Teil. Die Weltanschauung ist keine Theorie
des Lebens. -- -- Nein, gewiß nicht! Ganz allein die -- nun, warten Sie,
-- die Stimmung der einzelnen Persönlichkeit. Und diese Stimmung wird so
oft wechseln, solange der Mensch seine lebende Seele besitzt. Folglich
kann es überhaupt nicht eine singuläre, abgeschlossene Weltanschauung
geben, für die sie so energisch eintreten könnten.«

»Aber wieso denn nicht,« rief Jurii empört. Wieder trat auf das Gesicht
Ssanins der Ausdruck von Langeweile.

»Natürlich nicht. Wenn eine Weltanschauung als fertige Theorie möglich
wäre, so müßte ja unser Denken völlig zum Stillstand kommen. Aber das
gibt es ja garnicht. Jeder Augenblick unseres Daseins schreit uns sein
neues, eigenes Wort ins Ohr und auf dieses Wort muß man hören, ohne sich
vorher durch Begrenzungen festzulegen. -- -- Wozu übrigens darüber
diskutieren,« fiel er sich plötzlich, über seine Interessiertheit
erstaunt, selbst in die Rede. »Denken Sie, was Sie wollen. Doch nur noch
eins möchte ich Sie fragen. Warum haben Sie sich denn, -- Sie haben doch
wahrscheinlich schon hunderte von Büchern gelesen, vom Ecclesiast bis
auf den Marx -- noch keine Weltanschauung gebildet.«

»Ich hätte mir keine gebildet? ...« Jurii fühlte sich tief verletzt.
»Bitte, ich habe schon eine. Vielleicht ist sie falsch, aber feststehend
ist sie.«

»Ja, was wollen Sie sich dann eigentlich hier noch anschaffen? ...«

Piszow kicherte. »Eh, du!« herrschte ihn verachtungsvoll Kudriawi an,
drohend den Hals anreckend.

Mit naivem Entzücken starrte Karssawina jetzt auf Ssanin, -- -- -- wie
klug er doch ist, dachte sie.

Sie verglich ihn mit Swaroschitsch; ihren ganzen Körper durchwühlte ein
schamhaftes, frohes Gefühl, das ihr aber nicht bewußt wurde. Als wenn
sich diese beiden nicht aus allgemeinen Gründen stritten, sondern nur,
um vor ihr zu glänzen.

»Also ... am letzten Ende zeigt sich ... Ihr habt euch hier alle ohne
jede innere Notwendigkeit versammelt. Ich verstehe auch das! Es ist ganz
klar. Einer will nur den andern zwingen, seine Ansichten anzuerkennen
und anzunehmen; dabei fürchtet jeder, daß man ihn selbst überreden
könnte. Offen gestanden, Herrschaften, das ist öde und platt.«

»Erlauben Sie mal,« schrie Hoshijenko.

»Nein. Sie glauben hier die allerherrlichste Weltanschauung zu haben,
sicher haben Sie auch in Ihrem Leben eine Menge von Büchern in der Hand
gehabt. Und doch regen Sie sich darüber auf, daß nicht alle so denken,
wie Sie. Außerdem verletzten Sie noch vorhin ein paar Mal den Genossen
Ssoloveitschik, der Ihnen absolut nichts zuleide getan hatte.«

Hoshijenko schwieg verwundert, als ob ihm etwas ganz Unerhörtes gesagt
worden wäre.

»Jurii Nikolajewitsch,« fuhr Ssanin lustig fort, »seien Sie mir nicht
böse, wenn ich Ihnen vorhin etwas derb gekommen bin. Ich sehe, daß in
Ihnen tatsächlich ein Zwiespalt vorgeht.«

Jurii errötete; er war unsicher, ob er sich verletzt fühlen müsse oder
nicht. »Wieso? ... Weshalb ein Zwiespalt? ...« Ebenso wie auf dem
Herwege berührte ihn auch jetzt die zärtliche, beruhigende Stimme
Ssanins angenehm.

»Das wissen Sie doch selbst,« erwiderte ihm Ssanin lächelnd. »Und auf
dieses kindische Unternehmen hier, da, wirklich, da muß man einfach
spucken; sonst läßt man es sich tatsächlich noch zu nahe gehen.«

»Hören Sie mal,« schrie Hoshijenko wieder tief errötend. »Sie erlauben
sich aber zu viel.«

»Weniger als Sie.«

»Was -- als ich?«

»Denken Sie nur,« sagte Ssanin lustig. »In jedem Ihrer gehässigen Worte
liegt sicher viel mehr Grobheit und Taktlosigkeit, als in einem
vergnügten von mir.«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Das ist nicht meine Schuld.«

»Was?«

Ohne zu antworten, nahm Ssanin den Hut und sagte: »Ich gehe fort. Das
wird wirklich zu uninteressant.«

»Eine gute Tat. Und Bier gab es auch nicht mal,« stimmte ihm Iwanow bei
und ging ins Vorzimmer hinaus.

Dubowa stand ebenfalls auf: »Ja, aus der Sache wird wohl nichts werden.«

»Kommen Sie mit, Jurii Nikolajewitsch?« wendete sich Karssawina an
diesen. »Auf Wiedersehen,« sie reichte Ssanin die Hand. Für eine Minute
trafen sich ihre Blicke, unwillkürlich wurde sie betroffen.

Beim Fortgehen sagte Dubowa: »Der Zirkel ist verwelkt, bevor er geblüht
hat.«

»Aber warum denn nur,« fragte traurig und ratlos Ssoloveitschik, der
allen wie ein Pfahl im Wege stand.

Erst in diesem Augenblick erinnerte man sich an ihn; der sonderbare
Ausdruck seines Gesichts fiel ihnen auf.

»Hören Sie, Ssoloveitschik,« sagte nachdenklich Ssanin. »Ich möchte
einmal zu Ihnen kommen. Mich mit Ihnen ein bißchen persönlich
unterhalten.«

»Ich bitte recht sehr ...« Ssoloveitschik verbeugte sich hocherfreut.

Auf dem Hofe schien es nach der Helle des Zimmers so dunkel, daß man die
Nebenstehenden garnicht bemerken konnte, man hörte nur laute Stimmen um
sich.

Die Arbeiter gingen abseits von den anderen. Als sie schon in der
Finsternis untergetaucht waren, sagte Piszow:

»So geht's doch ein für alle Mal. Ich möchte mal sehn, ob's nicht immer
dasselbe ist. Da laufen die Herrschaftens nun zusammen und wollen ne
Sache machen. Und was? ... Jeder will's in seine Hände kriegen. Aber
dieser gesunde Kerl da, der, der da immer zuletzt red'te, Donnerwetter,
der macht Laune.«

»Na, du hast auch 'ne Ahnung, wenn gebildete Leute unter sich zu reden
haben,« erwiderte Kudriawi und drehte wieder seinen Hals als wenn er
einen Erstickungsanfall bekäme. Seine Stimme war stumpf und erbittert.

Piszow pfiff selbstsicher und spöttisch.




                                  XXV


Ssoloveitschik stand noch ziemlich lange unbeweglich auf der Steintreppe
und starrte in den sternenlosen Himmel; mechanisch rieb er die mageren
Finger gegeneinander.

Der Wind bog hinter den schwarzen Scheunen und Schuppen, an deren
Eisenpfosten er klirrte, die Wipfel der Bäume, die sich wie Gespenster
lautlos drängten, hin und her; über ihnen zogen Wolken in furchtbarer
Hast, wie von einer unwiderstehlich mächtigen Bewegung erfaßt, vorbei.
Ihre schwarzen Massen bauten sich schweigend am Horizont auf, türmten
sich in unerreichbare Höhen; plötzlich brachen sie weit in der Ferne in
einem jähen Abgrund nieder. Man hätte glauben können, daß ihre
unübersehbaren Regimenter hinter dem weiten Rand der Erde ungeduldig
warteten und eins nach dem andern mit wehenden, dumpf grauen Fahnen in
eine phantastische Schlacht zöge. Ab und zu dröhnte mit dem ruhelosen
Wind das Tosen und Wuchten ihres Kampfes herüber.

Mit kindlicher Furcht blickte Ssoloveitschik hinauf; niemals früher
hatte er so stark als in dieser Nacht empfunden, wie klein und
ohnmächtig, fast garnicht existierend er sich inmitten dieses
grandiosen, sich verschlingenden Chaos ausnahm.

»-- -- -- Oh Gott, Gott,« seufzte er und sein Herz krümmte sich vor
Trauer.

Angesichts des Himmels und der tiefen Nacht war er nicht mehr derselbe
wie unter den Augen der Menschen. Die hastige Gefälligkeit der
verzerrten Bewegungen war in irgend eine Tiefe versunken, die häßlichen
Zähne, die den Eindruck eines fletschenden alten Köters hervorriefen,
verbargen sich hinter den dünnen Lippen eines jungen Juden; seine
schwarzen Augen blickten traurig und ernst.

Langsam ging er ins Zimmer zurück, löschte eine überflüssige Lampe aus,
rückte ungeschickt den Tisch an seinen alten Platz und setzte die Stühle
mit peinlicher Mühe zurecht. Durch die Zimmer zogen noch immer Schwalme
dünnen Tabaksrauches, auf dem Boden lag viel Schmutz, zertretene
Zigarettenstummel und abgebrannte Streichhölzer.

Ssoloveitschik holte den Besen und fegte das Zimmer aus. Wie immer
bemühte er sich, den Ort, wo er wohnte, mit einer seltsamen,
nachdenklichen Liebe so schön und gemütlich als möglich zu machen. Dann
brachte er aus der Kammer einen alten Eimer mit Schmutzwasser, krümelte
noch Brod hinein und ging über den dunklen Hof, wobei er, um das
Gleichgewicht zu halten, gezwungen war, den ganzen Körper auszurecken,
die Füße in trippelnden Schritten voreinanderzusetzen und mit dem freien
Arm hin und herzuschlenkern.

Um sich ein wenig Licht zu schaffen, hatte er die Lampe auf das
Fensterbrett gestellt; dennoch war es im Hof dunkel und bänglich.
Ssoloveitschik war froh, als er an der Hütte Sultans angelangt war.

Der zottige Hund kroch ihm keuchend entgegen und rasselte traurig mit
der eisernen Kette.

»Ah Sultan, still,« schrie Ssoloveitschik, um sich an seiner eigenen
lauten Stimme zu beruhigen. In der Finsternis stieß ihn der Hund mit der
nassen, kalten Schnauze an die Hand.

»Hier, hier,« Ssoloveitschik stellte den Eimer nieder.

Sultan glubschte und prustete im Eimer und Ssoloveitschik stand neben
ihm; er lächelte traurig in die Finsternis hinein.

-- -- -- Was kann ich tun, dachte er, kann ich denn die Menschen
zwingen, anders zu denken, als sie Lust haben? Ich hatte selbst
geglaubt, von ihnen zu hören, wie man leben und denken soll. Gott gab
mir keine Prophetenstimme ... Was muß ich also tun ...

Sultan knurrte freundlich.

»Friß schon, friß, ... ja, ja, ist ja gut ... Ich möchte dich schon von
der Kette losmachen, damit du ein bißchen herumlaufen kannst, aber ich
habe keinen Schlüssel. So bin ich zu schwach.«

-- -- -- Was für kluge, wunderbare Menschen das sind ... Und wieviel sie
wissen ... Und dennoch ... Oder vielleicht bin ich selbst schuld. Ich
müßte ein einziges Wort sagen. Und doch, ... dieses Wort fand ich nicht.
-- --

Fern hinter der Stadt erklang ein gedehntes trübseliges Pfeifen. Sultan
hob den Kopf und lauschte. Man konnte hören, wie von seiner Schnauze
schwere Tropfen klingend in den Eimer fielen.

»Aber friß doch weiter, da pfeift der Zug ...«

Sultan seufzte schwer.

-- -- -- Und werden einmal die Menschen so leben können ... oder
vielleicht können sie es garnicht. -- -- -- Ssoloveitschik sprach diesen
letzten Satz laut in die Luft.

Ein endloses Menschenheer, das aus der Finsternis heraufstieg und wieder
in sie hineinwallte, schob sich plötzlich an seinen Augen vorüber. Eine
Reihe von Jahrhunderten ohne Anfang und Ende, eine Kette von Leiden ohne
Lichtstrahl, ohne Sinn, ohne Erlösung ... Und oben, wo Gott thront,
herrscht ewiges Schweigen. -- -- --

Sultan klapperte mit dem leeren Eimer, stieß ihn um und wedelte unter
schwachem Kettengeklirr mit dem Schwanz.

»Nu, ... hast du gefressen, ... nu ...«

Ssoloveitschik streichelte den rauhen Rücken, fühlte einen Augenblick an
der Hand den lebendigen, sich zärtlich biegenden Körper und ging ins
Haus.

Weit hinter ihm klirrte Sultan mit der Kette; auf dem Hof war es etwas
heller, aber gerade dagegen erschien das alte, schwarze Gebäude der
Mühle mit dem zum Himmel ragenden Schornstein und dem schmalen,
sargartigen Schuppen noch dunkler und furchtbarer. Ein schmaler
Lichtstreifen schob sich vom Fenster durch das Vorgärtchen. Schwankende
Köpfe zarter Blumen hoben sich von ihm ab, bewegten sich unter dem
schwarzen Himmel, der seine grauen Fahnen unendlich entfaltet hatte,
geängstigt hin und her, als wenn sie die dumpfe Ahnung des Sterbens
heranschleichen fühlten.

Ssoloveitschik ging ins Zimmer; er war von der erdrückenden Trauer,
etwas unwiderbringlich verloren zu haben und jetzt ganz einsam zu sein,
durchdrungen. Er setzte sich an den Tisch und begann langsam und schwer
zu weinen.




                                  XXVI


Gewaltsam waren den müden Sinnen immer neue Genüsse abgetrotzt worden
und doch reagierte der Körper, den die Ausschweifungen bis zu Schmerzen
gepeinigt hatten, immer von neuem auf die eine Tatsache: Weib! ...

Das Weib stand vor Woloschin nur nackt, stets zugänglich; in jedem
Augenblick seines Lebens setzten Frauenkleider, die sich vollen,
biegsamen Figuren eng anschmiegten, seine Nerven in Spannung, bis seine
Knie scharf erzitterten und alle Muskeln an ihm zerrten.

In Petersburg hatte er einen ganzen Haufen luxuriöser und gutgepflegter
Weiber zurückgelassen, die in jeder Nacht seinen Körper mit den
raffiniertesten Perversitäten aufpeitschten. Am Tage lag in seinen
Händen die Leitung eines wichtigen, umfangreichen Werkes, von dem die
Existenz vieler Menschen, die für ihn arbeiten mußten, abhängig war;
doch sobald er es gegen Abend verließ, stürzten sich alle seine Gedanken
auf das eine Ziel: Weib! ...

Als er wenige Tage zuvor von Petersburg abgereist, weil in seiner Fabrik
ein umfangreicher Streik eingesetzt hatte, entstanden vor seinen Augen
welke Träume von blutjungen, unberührten Frauen kleiner Provinznester.
Er stellte sie sich scheu und ängstlich, saftig wie Waldpilzchen vor,
und schon von der Ferne her sog er gierig ihren aufreizenden Duft von
Jugendfrische und Reinheit in sich ein.

Nachdem er die Verbindungen mit den hungrigen, schmutzigen und innerlich
erbitterten Leuten frei zerrissen hatte, erfrischte er seinen
bleichsüchtigen, zermürbten Körper mit Parfüms und der schneeweißen
Sauberkeit eines hellen Kostüms, nahm eine Droschke und fuhr zu Sarudin.
Auf dem Wege zu ihm zitterte er fast vor Ungeduld, obgleich ihn seine
Gesellschaft eigentlich chokierte.

Der Offizier saß am Fenster zum Garten, trank kalten Tee und bemühte
sich, in bessere Stimmung zu kommen.

... Ein sehr schöner Abend, wiederholte er sich mechanisch, aber er
konnte seine Gedanken nicht an diesen einfachen Phrasen festhalten; er
war mit sich selbst unzufrieden; er schämte sich.

Er fürchtete Lyda. Seit dem Tage ihrer Auseinandersetzung hatte er sie
nicht mehr gesehen. Sie stand jetzt ganz anders vor seinen Augen, als in
der Zeit ihrer Hingabe.

... Wie dem auch sein mag; die Sache ist sicher noch nicht zu Ende. Man
muß auf irgend eine Weise das Kind los werden. Oder ... sollte man
einfach darauf spucken? ...

... Was mag sie jetzt tun? ... Vor ihm tauchte das hübsche Gesicht des
Mädchens auf, aber mit drohendem, rachsüchtigem Ausdruck, mit
festzusammengepreßten Lippen und seinen rätselhaften Augen.

... Und wenn sie mir hier einen Tanz aufführen wird. -- So Eine, wie
sie, läßt die Geschichte nicht ruhig ablaufen ... Ich müßte doch
eigentlich etwas ...

Das Gespenst eines entsetzlichen Skandals, der sich in seiner Form noch
gar nicht voraussehen ließ, tauchte vor ihm auf; sein Herz begann feige
schneller zu schlagen.

... Aber am Ende, fragte er sich immer, was kann sie denn schließlich
tun ... Nichts! ... Dann erhellte sich etwas in seinem Hirn, alles wurde
klar und einfach, und er war zuletzt überzeugt, daß nichts passieren
würde.

... Sie ersäuft sich? ... Nun, mag sie der Teufel holen ... Ich habe sie
auch nicht mit Gewalt zu mir hergeschleppt. Sie sagt, daß sie nicht
meine Geliebte war ... Was bedeutet das viel? ... Das Ganze zeigt doch
nur, daß ich ein hübscher Kerl bin. Daß ich sie heiraten werde, habe ich
niemals versprochen.

... Sonderbar, bei Gott! ... Sarudin zuckte mit den Achseln; wieder
legte sich in diesem Moment der trübe, bange Druck in seine Seele ...
Aber doch, auf jeden Fall gibt's Klatschereien, ... ich werde mich schon
nirgends mehr zeigen dürfen ... Ein wenig zitternd führte seine Hand das
Glas mit kaltem Tee zum Mund.

Er war ebenso reinlich und hübsch wie immer, aber zumute war ihm, als
wenn auf ihm, auf seiner ganzen Persönlichkeit, auf dem Gesicht, dem
schneeweißen Kittel, den Händen, ja selbst auf dem Herzen ein
schmutziger Fleck läge, der langsam weiter um sich frißt.

... Eh, das geht schon mit der Zeit vorüber, ist ja nicht das erste Mal,
tröstete er sich. Doch in seinem Innern wollte sich das unbekannte
Gefühl nicht damit beruhigen lassen.

Woloschin trat ein, scharrte mit den Stiefelsohlen und zeigte
nachsichtig die kleinen Zähne in einem zufriedenen Lächeln. Mit einem
Mal erfüllte sich das ganze Zimmer mit dem Geruch von Parfüms, Tabak und
Moschus, der den Duft des grünen Gartens und der Kühle ablöste.

»Ah, Pawl Lwowitsch,« Sarudin erschrak etwas.

Woloschin begrüßte ihn, setzte sich ebenfalls ans Fenster und zündete
eine Zigarre an. In Sarudins Augen schien er so selbstsicher, so
elegant, daß dieser leichten Neid darüber empfand. Aus allen Kräften
bemühte er sich, ein ebenso sorgloses und keckes Aussehen zu gewinnen.
Aber seine Augen liefen die ganze Zeit ruhelos umher. Seitdem ihm Lyda
das Wort Rindvieh ins Gesicht geschleudert hatte, kam es ihm vor, daß
jeder Mensch davon wüßte und innerlich über ihn spottete.

Mit Lächeln und alten, aber ungeschickten Witzen begann Woloschin über
Kleinigkeiten zu schwätzen, doch wurde es ihm schwer, den Ton aufrecht
zu halten; das ungeduldige Verlangen nach dem Worte _Weib_ preßte sich
bald durch alle seine Witze, die Erzählungen von Petersburg und den
Streik in seiner Fabrik.

Er wollte die Pause, die durch das Anrauchen einer neuen Zigarre
entstanden war, ausnutzen, schwieg aber noch eine Weile und blickte
Sarudin zunächst nur ausdrucksvoll ins Gesicht.

Etwas Schlüpfrig-Schamloses glitt aus seinem Blick in die Augen des
Offiziers herüber, und dieser verstand ihn sofort. Woloschin rückte sein
Pincenez zurecht und lächelte weiter. Sofort spiegelte sich dieses
Lächeln auf dem hübschen Gesicht Sarudins wieder; doch dadurch nahm es
einen frechen Ausdruck an.

»Sie verlieren hier Ihre Zeit wohl auch nicht,« fragte Woloschin, ein
Auge listig und bestimmt zusammenkneifend.

Sarudin antwortete mit einer prahlerisch wegwerfenden Bewegung der
Schultern:

»Das ist so schon Sitte. Was sollte man hier auch anderes tun.«

Sie lachten und schwiegen. Woloschin erwartete gierig Details; unter
seinem linken Knie zog sich krampfhaft eine kleine Ader an. Aber Sarudin
dachte wiederum nicht mehr an die Einzelheiten, die Woloschin meinte,
sondern an all das, was ihn seit Tagen quälte.

Er wandte sich ein wenig zum Garten hinaus und trommelte mit seinen
Fingern unruhig auf dem Fensterbrett.

Der Besuch wartete schweigend, und Sarudin empfand die Notwendigkeit,
wieder in den eingeschlagenen Ton hineinzukommen.

»Ich weiß,« begann er mit gemachter Selbstsicherheit. »Ihr von der
Hauptstadt meint, die hiesigen Frauen hätten was Besonderes. Aber ihr
irrt euch gewaltig. Allerdings die haben Frische, doch dafür fehlt ihnen
die Eleganz, ... wie sollte ich es sagen ... nun -- die Kunst, zu
lieben.«

Woloschin bebte im Augenblick. Seine Stimme nahm einen anderen Klang an:

»Ja, allerdings ... Aber auch das wird schließlich langweilig. Unsere
Damen aus Petersburg haben keinen Körper, verstehen Sie ... Das sind
Nervenknäuel, und weiter nichts, während hier ...«

»Das ist schon wahr,« gab Sarudin zu. Unmerklich wurde er aufgeheitert,
behaglich drehte er seinen Schnurrbart.

»Ziehen Sie der elegantesten Hauptstädterin das Korsett vom Leibe und
Sie sehen dort ... Halt, hier haben Sie's ... Kennen Sie den neuesten
Witz? ...«

»Welchen. Ich kenne ihn gewiß noch nicht.« Sarudin beugte sich mit
entflammtem Interesse vornüber.

»So ... er ist recht bezeichnend. Eine Pariser Kokotte ...« und
Woloschin erzählte ausführlich und kunstgerecht eine raffiniert
schamlose Geschichte, in der gemeine Gier und magere Frauenbrüste zu
einem so berückenden und benebelnden Bild ineinandergriffen, daß Sarudin
nervös zu lachen und sich hin- und herzuwerfen begann, als wenn er am
Spieße steckte.

»Ja, das Allerwichtigste bei den Weibern sind die Brüste. Eine Frau mit
mangelhafter Büste existiert einfach nicht für mich,« schloß Woloschin
und klappte seine Augen, die sich mit einer weißen Hülle zu überziehen
schienen, nach oben.

Sarudin kam Lydas Brust in Erinnerung, zart, hell, rosig, mit
elastischen Wölbungen, die wie Trauben einer unbekannten herrlichen
Frucht aussahen. Er erinnerte sich, wie sie stets danach lechzte, daß er
ihre Brust küßte. Plötzlich wurde es ihm peinlich, mit Woloschin weiter
darüber zu sprechen, gleichzeitig auch schmerzlich zumute, daß nunmehr
alles vorbei war und nicht zurückkehren würde.

Doch überzeugt, daß dieses Gefühl eines Mannes und Offiziers unwürdig
sei, erwiderte er gleich darauf mit unnatürlicher Uebertreibung:

»Jeder hat seinen Gott! Für mich ist an der Frau der Rücken, wissen Sie,
so -- seine Biegung das Wichtigste.«

»Ja,« meinte nervös gedehnt Woloschin, »bei einigen Frauen, besonders
bei sehr jungen ...«

Der Bursche, der die Lampe anstecken wollte, trampelte mit seinen
plumpen Kommißstiefeln herein. Solange er sich am Tische zu schaffen
machte, mit dem Zylinder klirrte und Streichhölzer anrieb, schwiegen
Woloschin und Sarudin; bei dem aufflammenden Lampenlicht sah man nur
ihre glänzenden Augen und die krankhaft aufzuckenden Zigarettenfeuer.

Nachdem er fortgegangen war, griffen sie sofort wieder dasselbe Thema
auf; das Wort Weib hing nackt und schamlos, zu perversen, fast sinnlosen
Formen ausgezogen, in der Luft. Die Renommiersucht des Männchens packte
Sarudin. Das unerträgliche Verlangen, Woloschin zu überbieten, riß ihn
fort; um sich zu rühmen, welch prachtvolles Frauenzimmer ihm gehört
hatte, fing er an von Lyda zu sprechen und enthüllte mit jedem Wort die
geheimen Quellen seiner Lust mehr und mehr. In völliger Nacktheit stand
Lyda vor Woloschins Augen; in den süßesten Geheimnissen ihres Körpers
und ihrer Leidenschaften entblößt, wie ein Vieh, das zum Markt getrieben
und durch den Dreck geschleift wird. Die Gedanken dieser Männer krochen
über sie dahin, beleckten sie, kneteten ihren Körper, ihre Triebe,
verspotteten sie nach ihren augenblicklichen Gelüsten; stinkendes Gift
troff auf dieses herrliche Mädchen, das nichts gewollt hatte, als Lust
und Liebe zu verschenken. Sie liebten die Frauen nicht, dankten ihnen
nicht für die gereichte Gunst; alles spornte sie an, sie zu demütigen
und zu verletzen, ihnen den infamsten und unerträglichsten Schmerz
zuzufügen.

Im Zimmer wurde es dumpf und raucherfüllt. Ihre verschwitzten Körper
dünsteten schwer und ungesund aus, die Augen glitzten trüb, ihre Stimmen
klangen abgebrochen, gedämpft, wie das Scharren wildgewordener Tiere.
Hinter dem Fenster erhob sich auf leisen Sohlen die Mondnacht; aber die
ganze Welt mit allen Farben, Tönen und Reichtümern war irgendwohin
verschwunden, in der Erde versunken. Allein das nackte Weib blieb vor
ihren Augen. Bald zwängten sich diese Bilder so gewaltsam in ihre
Einbildung, daß es ihnen unumgänglich notwendig schien, diese Lyda zu
sehen, die sie schon nicht mehr Lyda oder gar Lydia, sondern kurzweg
Lydka nannten.

Sarudin ließ eine Droschke rufen, und sie fuhren nach einem gewissen
Stadtviertel.




                                 XXVII


Ein Brief, den Lydia Ssanina am nächsten Tage von Sarudin erhielt, kam
Maria Iwanowna in die Hände, weil ihn das Stubenmädchen auf dem
Küchentisch hatte liegen lassen. Unter undeutlichen ungeschickten
Anspielungen, daß sich immer noch vieles ändern ließe, bat der Offizier
darin um die Erlaubnis, sie zu sehen.

Aus den Seiten dieses Briefes schien Maria Iwanowna ein unheimlicher
Schatten beschmutzend auf das Bild ihrer Tochter, das sie nur umgeben
von reiner, heiliger Zärtlichkeit kannte, zu fallen. Ihr erstes Gefühl
war kummervolle Ratlosigkeit. Dann stiegen Erinnerungen an die eigene
Jugend, an Liebe und Enttäuschungen, vor ihr auf; sie gedachte der
schweren Schicksalsschläge, die sie in der Zeit ihres Ehelebens
durchgemacht hatte. Ein langes Band von Leiden, die durch ein fest
geregeltes Leben ineinander verwebt worden waren, reichte bis an ihr
Alter heran. Es war ein grauer Streifen mit trüben Flecken von Kummer
und Langeweile, mit den abgerissenen Rändern gezähmter Wünsche und
Träume; in ihrer Vorstellung rollte er sich als eine lebende Reihe
gleichgültiger Tage auf.

Bei dem Gedanken jedoch, daß ihre Tochter die tönerne Wand dieses
grauen, verstaubten Lebens durchbrochen haben könnte und vielleicht
schon in den hellen Strudel geraten war, wo Lust und Glück chaotisch mit
Schmerz und Tod zusammenbranden, ergriff die alte Frau Entsetzen.

Sehr bald löste es sich in Zorn auf. Wenn es in diesem Augenblick
möglich gewesen wäre, hätte sie Lyda am Halse gepackt, zu Boden
niedergedrückt, mit Gewalt in den engen Gang ihres eigenen Lebens
gezogen, von dem in die sonnige Welt nur gefahrlose, winzige Fensterlein
eisenvergittert führten, um sie von neuem zu zwingen, den gleichen Weg
herunter zu laufen, den sie einst hatte gehen müssen.

... Garstiges, abscheuliches Mädchen, dachte Maria Iwanowna, während
ihre Hände verzweifelt auf die Kniee sanken. Doch der Gedanke, daß ja
alles nicht über eine gewisse ungefährliche Grenze hinausgegangen sein
konnte, beruhigte sie ein wenig. Ihr Gesicht wurde stumpf. Sie begann
den Zettel wieder und wieder zu lesen; es gelang ihr aber nicht, aus dem
gemacht kühlen Styl etwas Bestimmtes herauszulesen. Da weinte die alte
Frau bitterlich im Gefühl ihrer Ohnmacht, rückte ihre Haube zurecht und
fragte das Hausmädchen:

»Dunka, ist Wladimir Petrowitsch in seinem Zimmer?«

»Was? ...«

»Dumme Gans, ich frage, ob der junge Herr zu Hause ist.«

»Der Herr sind soeben in ihr Arbeitszimmer gegangen. Sie schreiben einen
Brief.«

Maria Iwanowna blickte dem Mädchen hart und streng in die Augen; in
ihren gutmütigen, verblaßten Pupillen zeigte sich mit einem Mal wütende
Empörung.

»Und du ... wenn du niederträchtiges Frauenzimmer noch einmal Briefchen
abgeben wirst, so nehme ich dich mir mal vor, daß dir grün und blau vor
den Augen wird.«

Ssanin saß und schrieb. Maria Iwanowna war nicht gewöhnt, ihren Sohn an
der Arbeit zu sehen; trotz ihres Kummers wurde sie interessiert. »Was
schreibst du da ...?«

»Einen Brief,« erwiderte Ssanin, seinen fröhlichen, ruhigen Kopf
erhebend.

»An wen ...?«

»So ... an einen bekannten Redakteur. Ich will sehen, vielleicht werde
ich wieder bei ihm auf der Redaktion eintreten.«

»Ja, kannst du denn wirklich für Zeitungen schreiben? ...«

»Ich tue alles ...« Ssanin lächelte.

»Wozu mußt du dorthin gehen?«

»Bei euch hängt mir schon alles zum Halse heraus. Alles.« Ssanin
erwiderte es mit aufrichtigem Lächeln. Ein leichtes Gefühl der
Verletzung durchstach Maria Iwanowna.

»Sehr nett von dir!« ...

Ssanin sah sie aufmerksam an, er wollte noch hinzufügen, sie könne doch
nicht so dumm sein, um nicht zu begreifen, daß es schließlich jedem
langweilig werden müsse, auf einer Stelle und dazu noch ohne jede
Beschäftigung zu sitzen; aber er schwieg. Es war ihm ekelhaft, der
Mutter eine so kleinliche und selbstverständliche Sache erst
auseinanderzusetzen. Maria Iwanowna zog das Taschentuch heraus und
zerknüllte es in ihren dürren Greisenfingern. Wäre der Zettel von
Sarudin nicht gewesen und ihre Seele durch ihn in einen Wirrwarr von
Zweifeln und Aengsten gestürzt worden, so hätte sie jetzt ihrem Sohne
eine lange, bittere Predigt über seine Schroffheit gehalten. So aber
beschränkte sie sich nur in tragischem Ton auf die Gegenüberstellung:
»Ja, der eine bricht wie ein Wolf aus dem Hause und die andere ...«

Sie machte eine wegwerfende, müde Handbewegung.

Ssanin hob neugierig den Kopf. Augenscheinlich nahm das Drama mit Lyda
seinen Fortgang.

»Woher wissen _Sie_ denn das, Mutter? ...«

Mit einem Mal empfand Maria Iwanowna ein unerklärliches Gefühl der
Beschämung, weil sie den Brief an die Tochter geöffnet hatte. Auf ihre
eingefallenen Wangen trat ziegelrote Farbe; sie versetzte unsicher, aber
zornig:

»Ich bin Gott sei Dank nicht blind. Ich hab doch noch meine zwei Augen
im Kopf.«

Ssanin dachte eine Weile nach: »Nichts sehen Sie, ... nun, ich kann
Ihnen zur Verlobung Ihrer Tochter gratulieren. Lyda wollte es Ihnen
selbst sagen, aber ... ist ja alles egal.«

Ihm tat es leid, daß sich in das junge Leben Lydas eine neue Tortur
eindrängen sollte -- -- stumpfsinnige Greisenliebe, die fähig ist, den
Menschen durch die feinste und furchtbarste Qual zu Tode zu martern.

»Wie?« ... Maria Iwanowna setzte sich streng aufgerichtet auf ihren
Stuhl.

»Lyda wird heiraten.«

»Wen?« ... rief sie freudig und ungläubig.

»Nowikow natürlich.« ...

»Ja, ... aber, was ist denn mit ...?«

»Ach hol ihn doch der Teufel! Kann es Ihnen denn nicht ganz gleich sein?
... Warum müssen Sie denn durchaus fremde Seelen überwachen.«

»Nein, ... ich begreife nur nicht, Wolodja ...« Die Greisin suchte sich
verwirrt zu rechtfertigen.

Ssanin zuckte streng die Achseln: »Was ist denn hierbei nicht zu
verstehen? ... Sie liebte einen, hat jetzt einen andern liebgewonnen,
mit Gottes Hilfe wird sie morgen einen dritten lieben ... na also ...«

»Was sprichst du da? ...« rief Maria Iwanowna entrüstet.

Ssanin lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tisch und verschränkte seine
Arme.

»Haben Sie denn Ihr ganzes Leben lang nur einen Mann geliebt, Mutter?«

Maria erhob sich; auf ihrem unintelligenten Gesicht prägte sich
steinkalter Stolz aus.

»So spricht man nicht zu seiner Mutter!«

»Wer? ...«

»Was ... wer? ...«

»Wer nicht? ...« Ssanin wiederholte seine Frage mit angezogenen
Augenbrauen. Er blickte scharf auf die Mutter; zum ersten Mal kam es ihm
ins Bewußtsein, wie stumpfsinnig und nichtig der Ausdruck ihrer Augen
war; ihre Haube wackelte auf ihrem Kopf ganz haltlos, wie der rote
Lappen einer Henne, hin und her.

»Niemand spricht so! Kein Mensch!«

»Aber ich doch! Das ist eben der Unterschied,« Ssanin wurde plötzlich
ruhig, seine gute Laune kehrte wieder zurück; er wandte sich ab und
setzte sich. »Sie haben alles vom Leben genommen, Mutter, was Sie
wollten. Sie haben durchaus kein Recht, jetzt Lyda ersticken zu wollen,«
sagte er, ohne sich abzuwenden, mit ziemlicher Gleichgültigkeit. Er
hatte wieder zur Feder gegriffen.

Maria Iwanowna sah den Sohn mit großen Augen an; in ihren Ohren klebte
nur die einzige Phrase: Wie darf er es wagen, so mit seiner Mutter zu
sprechen. Wie unter einem Bann erstarrt, wußte sie nicht mehr, was sie
tun sollte. Doch bevor sie noch zu einem Entschluß kam, wandte sich
Wladimir Petrowitsch zu ihr, ergriff ihre Hand und sagte zärtlich:

»Aber lassen Sie doch das alles. Und Sarudin lassen Sie herauswerfen,
wenn er kommen sollte. Sonst wird er womöglich tatsächlich noch
Unzuträglichkeiten anrichten.«

Eine weiche Welle durchglitt das Herz der Mutter.

»Nun, Gott sei mit dir. Ich bin froh. Mir gefiel Sascha Nowikow immer.
Und Sarudin werden wir natürlich nicht mehr empfangen. Wenn auch nur aus
Achtung vor Sascha.«

»Wenn auch nur aus Achtung vor Sascha,« willigte Ssanin ein; seine Augen
lachten.

»Wo aber ist Lyda?« fragte schon mit ruhiger Freude die Mutter.

»Auf ihrem Zimmer? ...«

»Und Sascha? ...« Maria Iwanowna sprach den Namen ganz zärtlich aus.

»Ich weiß wirklich nicht ... Er ging wohl, ...« begann Ssanin, doch in
diesem Augenblick erschien Dunja in der Tür und meldete:

»Viktor Sergejewitsch sind gekommen und noch ein fremder Herr.«

»So? ... schmeiß sie die Treppe runter,« sagte Ssanin ruhig.

Dunja kicherte verstohlen.

»Was Sie sagen, junger Herr? ... Darf ich's denn? ...«

»Selbstverständlich! Du darfst es! Was sollen wir mit ihnen anfangen,
zum Teufel!«

Dunja bedeckte ihr Gesicht mit dem Aermel und lief hinaus.

Maria Iwanowna richtete sich auf; sie verjüngte sich fast. In ihre Seele
trat, als ob sie mit einer Karte geschickt eine Volte geschlagen hätte,
eine vollständige Aenderung ein. So warm ihr Herz für Sarudin auch
früher, als sie noch annahm, daß er Lyda heiraten werde, schlug, so kühl
wurde es jetzt, als sich herausstellte, daß ein anderer Lydas Gatte
würde.

Wie sie sich dem Ausgange zuwendete, blickte Ssanin auf ihr steinernes
Profil, aus dem das eine Auge unfreundlich hervorbrach, und dachte sich:
Ist das aber eine Idiotin ...

Dann faltete er das Papier und ging ihr nach. Er war sehr neugierig, wie
sich die neue verwickelte Situation, in die diese Menschen geraten
waren, wieder lösen würde.

Sarudin und Woloschin traten ihm mit übertriebener Liebenswürdigkeit,
doch ohne die Freiheit, die der Offizier sonst in seinem Wesen
ausdrückte, entgegen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich augenscheinlich
schüchterne Verlegenheit. Er begriff selbst, daß er nicht hätte kommen
dürfen; er schämte sich und war verwirrt. Er konnte sich nicht
vorstellen, wie er Lyda entgegentreten sollte. Aber doch würde er diese
Regung unter keinen Umständen Woloschin verraten und etwa auf den
gewohnten selbstsicheren Ton verzichtet haben. Trotzdem er diesen
Woloschin zuzeiten geradezu haßte, lief er doch wie gefesselt,
ohnmächtig, seine wahre Seele zur Geltung zu bringen, hinter ihm her.

»Meine gnädigste Maria Iwanowna, gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen
guten Freund Pawl Lwowitsch Woloschin vorstelle.« Bei diesen Worten
lächelte er mit einem unfaßbar kniffligen Zug um Mund und Augenwinkeln
Woloschin zu.

Woloschin verneigte sich, während er Sarudin das gleiche Lächeln, aber
bemerkbarer, fast frech, zurückgab.

»Sehr angenehm,« erwiderte kühl Maria Iwanowna.

Verborgene Unfreundlichkeit glitt aus ihren Blicken auf Sarudin hinab;
der vorsichtig auf der Lauer liegende Offizier bemerkte es sofort.

Im Augenblick war sein letzter Rest von Sicherheit verschwunden, und
sein Besuch verlor endgültig den scherzhaften Charakter. Jetzt kam er
ihm selbst einfach sinnlos und unpassend vor.

... Eh, ich hätte lieber doch nicht kommen sollen, dachte er. Zum ersten
Mal kam ihm hier nachdrücklich zum Bewußtsein, woran er in der
animierten Gesellschaft Woloschins immer vergaß: Gleich muß ja Lyda
eintreten. Dieselbe Lyda, die mit ihm in intimstem Verkehr gestanden
hat, die von ihm geschwängert wurde, die Mutter seines eigenen künftigen
Kindes, das doch auf jeden Fall einmal zur Welt kommen muß. Was wird er
ihr denn sagen? Wie wird er sie anblicken? ...

Sein Herz zog sich schüchtern zusammen, wie ein schwerer Klumpen drückte
es nach unten. Er wagte nicht, auf Maria Iwanowna zu sehen ... wenn die
nun alles weiß, dachte er mit Entsetzen. Er begann auf dem Stuhl hin-
und herzurutschen, bewegte sich beim Anzünden einer Zigarette, schob
Schultern und Füße vor und zurück, und ließ die Augen nach allen Seiten
laufen.

... wäre ich doch nur nicht hergekommen ...

»Kommen Sie für längere Zeit zu uns? ...« Maria Iwanowna wendete sich
kühl an Woloschin.

»Oh nein.« Er blickte die Dame aus der Provinz ungeniert spöttisch an.
Mit einer geschickten Handbewegung schob er die Zigarre in die
Mundwinkel, sodaß der Rauch der alten Dame ins Gesicht zog.

»Nach Pitier wird es Ihnen bei uns langweilig sein.«

»Ganz im Gegenteil. Es gefällt mir hier ausgezeichnet. Ihr Städtchen ist
so patriarchalisch.«

»Machen Sie einmal Ausflüge. Wir haben eine prachtvolle Umgebung ...
Badeplätze, Reitwege ...«

»Oh gewiß,« rief Woloschin, zwar mit spöttischer Zuvorkommenheit, aber
doch gelangweilt.

Das Gespräch kam nicht vom Fleck; es war schwer und farblos, wie eine
lächelnde Pappmaske, unter welcher böswillige Blicke hervorschießen.

Woloschin begann von neuem, Sarudin Blicke zuzuwerfen; ihr Sinn war
nicht nur dem Offizier, sondern auch Ssanin, der die beiden aus seiner
Ecke aufmerksam beobachtete, verständlich.

Die Unsicherheit Sarudins trat allmählich hinter dem Wunsch zurück, in
Woloschin den Eindruck hervorzurufen, daß er ein gewandter,
unverfrorener Mensch und zu allem fähig sei. So überwand er sich und
fragte:

»Wo ist denn Lydia Petrowna?« Wieder geriet er ganz unnötig in zuckende
Bewegungen.

Maria Iwanowna sah ihn mit erstaunter Feindseligkeit an: ... was
interessiert dich das, da du sie ja nicht heiraten willst, fragten diese
Blicke.

»Wahrscheinlich bei sich auf dem Zimmer. Ich weiß es nicht,« erwiderte
sie kühl.

Woloschin warf Sarudin wieder einen ausdrucksvollen Blick zu: ... Wäre
es denn nicht irgendwie möglich, diese Lydka schneller herauszuholen;
dieses alte Stück Möbel ist doch wirklich nicht besonders interessant.

Sarudin öffnete den Mund und wedelte hilflos mit dem Schnurrbart.

»Ich habe soviel Schmeichelhaftes über Ihre Tochter gehört,« sprach
Woloschin, bog sich mit dem ganzen Körper nach vorn und rieb sich die
Hände. »Ich hege die Hoffnung, daß ich die Ehre habe, ihr vorgestellt zu
werden.«

Maria Iwanowna ließ ihren Blick über das unwillkürlich veränderte
Gesicht Sarudins gleiten und begriff in diesem Augenblick, was
eigentlich dieser Kerl, der mit einem Mal einem faulen Pilz ähnlich sah,
von ihrer Tochter wollte. Der Gedanke durchschnitt so scharf ihr Herz,
daß in ihr die furchtbare Ahnung von Lydas Fall aufstieg, die sie
hilflosem Schrecken preisgab. Sie saß ratlos da, ihre Augen wurden
menschlicher und weicher.

-- -- -- Wenn man diese Bande nicht sofort aus dem Hause jagt, werden
sie Lyda und Nowikow sicher noch viel Aerger machen, dachte Ssanin und
richtete sich plötzlich auf. Ruhig sprach er plötzlich aus seiner Ecke,
dabei nachdenklich auf den Boden starrend:

»Ich habe gehört, daß Sie abreisen wollen?«

Sarudin wunderte sich, daß ihm selbst dieser einfache und bequeme
Gedanke noch nicht in den Kopf gekommen war. -- -- -- Gewiß auf ein paar
Monate Urlaub nehmen, das ist ja das Einfachste, -- -- -- schwirrte es
durch sein Hirn. Er beeilte sich zu antworten:

»Ganz recht, -- -- das wollte ich auch. Ich möchte mich ein wenig
erholen ... Wissen Sie, ein bißchen auslüften, ewig auf einem Fleck,
dabei kann man ja verschimmeln.«

Ssanin lachte hell auf. Dieses ganze Gespräch, in dem kein einziges Wort
ausdrückte, was die Leute in Wirklichkeit dachten und fühlten, diese
ganze Kette von Lügen, die doch niemanden betrog, die Einfachheit, mit
der alle fortfuhren, zu heucheln, trotzdem sie ganz klar sahen, daß
keiner von ihnen dem anderen glaubte, hatten ihn zum Lachen gebracht.
Ein resolutes fröhliches Gefühl packte wie ein froher Windstoß sein
Herz.

»Na, denn glücklichen Rutsch,« er nahm den ersten Ausdruck, der ihm auf
die Zunge kam.

Momentan veränderten sich die drei Menschen, als ob ein steifgestärkter
Anzug von ihnen abgestreift würde.

Maria Iwanowna erblaßte und sank in sich zusammen, in Woloschins Augen
blitzte ein feiges, tierisches Leuchten auf, und Sarudin erhob sich
langsam und unsicher von seinem Stuhle.

Eine lebende Bewegung lief durch das Zimmer.

»Wie sagten Sie eben? ...« fragte der Offizier mit gepreßter Stimme und
in diesem Augenblick klangen seine Worte zum ersten Mal aufrichtig.
Woloschin kicherte kleinlich auf, indem er schon mit schüchternen
Aeuglein nach dem Hute suchte. Ohne Sarudin zu antworten, ergriff Ssanin
Woloschins Hut und reichte ihn ihm mit fröhlichem Lächeln hin.

Woloschin öffnete seinen Mund; ein dünner winselnder Laut schob sich
langsam hervor.

»Wie soll ich Sie verstehen,« fragte Sarudin noch einmal; er hatte das
Gefühl, den Boden vollständig unter den Füßen verloren zu haben. Dieser
Skandal, zuckte es durch sein erstarrtes Hirn.

»Verstehen Sie es nur recht genau. Hier sind Sie nämlich vollständig
überflüssig. Unser Genuß wird um so größer sein, je eher Sie sich
herausscheren!«

Sarudin tat einen Schritt nach vorwärts. Sein Gesicht wurde blaß.

»Ah so,« stieß er krampfhaft keuchend hervor.

»Also raus!« sagte kurz und hart Ssanin.

In seiner stählernen Stimme lag eine so furchtbare Drohung, daß Sarudin
zurückwich, stillschwieg, sinnlos und wild die Augen verdrehte.

»Aber das ist ja unerhört,« murmelte Woloschin kleinlaut; doch
gleichzeitig wandte er sich eilig, den Kopf in die Schultern eingezogen,
zur Türe.

In diesem Augenblick trat Lyda ein.

Noch niemals -- weder früher noch später -- hatte sie sich so gedemütigt
gefühlt. Als sie zuerst von dem Besuch Sarudins und Woloschins hörte und
deutlich seinen Sinn verstand, war in ihr die Empfindung körperlicher
Erniedrigung so stark, daß sie nervös aufschluchzte und mit dem wieder
erwachten Gedanken an Selbstmord zum Fluß herunterlief.

... was ist das nur? ... wird es denn niemals ein Ende geben. Habe ich
denn wirklich ein so großes Verbrechen begangen, daß es mir niemals
verziehen, ... daß ein jeder stets das Recht haben wird ... schrie sie
fast ... und rang die Hände.

Aber im Garten war es hell und voll Licht, grelle Blumen, Bienen und
Vögel lebten dort so friedlich nebeneinander, so blau schimmerte der
Himmel, so zart glänzte am Wasser das Schilf, und Mill umsprang sie so
vergnügt, als er sie zum Flusse laufen sah, daß Lyda wieder zu sich kam.
Instinktiv fiel ihr mit einem Mal ein, daß ihr die Männer immer gierig
nachliefen; sie gedachte der Spannung, die ihr Körper stets unter den
Blicken dieser Männer angenommen hatte, und vollbewußt erwachte das
stolze Gefühl, im Recht zu sein.

... nun gut, dachte sie, was geht es mich an. Ist er da, gut, mag er es
sein. Ich liebte ihn früher, jetzt sind wir auseinander; niemand hat
deswegen ein Recht, mich zu verachten ... Jäh drehte sie sich um und
ging ins Haus. Sie trug ihr Haar nicht in einer koketten Frisur, sondern
in einfachem Doppelzopf über den Nacken hängend, und sie zog auch keine
moderne Toilette an, sondern blieb in dem einfachen Hauskleid, das sie
gerade trug.

Als sie mit gemachter Ruhe über die Schwelle schritt, warf sie ihrem
Bruder ein seltsames Lächeln zu und sprach in besonders mädchenhaftem
Tone:

»Hier bin ich! Wo wollen Sie denn hin, Viktor Sergejewitsch? ... Bitte,
legen Sie doch Ihre Mütze aus der Hand.«

Ssanin schwieg und sah mit neugierigem Entzücken die Schwester an ...
Was ist mit ihr, dachte er sich.

Eine unüberwindliche Kraft, drohend und doch frauenhaft lieblich, war
ins Zimmer getreten. Wie eine Tierbändigerin im Käfig wütender Raubtiere
stand Lyda unter den Männern. Und sogleich wurden sie weich und gefügig.

»Sehen Sie, Lydia Petrowna ...« stammelte verwirrt Sarudin. Als er zu
sprechen begann, huschte über Lydas Gesicht ein lieblicher, hilfloser
Ausdruck; sie schaute rasch auf; plötzlich erfüllte sie ein
unerträglicher Schmerz. In ihr bewegte sich krankhafte Zärtlichkeit und
das Verlangen, auf etwas zu hoffen. Doch im selben Augenblick schlug das
Verlangen in den Wunsch um, Sarudin zu beweisen, wie viel er verloren
und wie stark und rein sie sich trotz des Leides und der Erniedrigung,
die er ihr zufügte, erhalten hatte.

»Ich will garnichts sehen,« sagte sie mit etwas theatralischem Ausdruck
und schloß richtig ihre schönen Augen.

Mit Woloschin geschah etwas Sonderbares. Die weiche Wärme, die dem kaum
eingehüllten, weiblichen Körper entströmte, zerkochte sein ganzes Wesen.
Seine spitze Zunge beleckte die trocken gewordenen Lippen, seine
Aeuglein wurden klein, und der ganze Körper zerfloß unter dem weichen
Anzug in kraftloser, physischer Entzückung.

»Aber bitte, machen Sie mich doch bekannt,« sagte Lyda und blickte über
die Schultern auf Sarudin hin.

»Woloschin, Pawl Lwowitsch,« murmelte dieser, von dem Gedanken, daß
dieses prächtige Mädchen seine Geliebte gewesen sein sollte, vollständig
hingerissen.

Lyda wandte sich langsam zur Mutter.

»Mama, draußen wollte Sie jemand sprechen.«

»Das hat Zeit ...«

»Verzeihen Sie, auch wir hatten uns ...« Sarudin kam mit seinem Satz
nicht zu Ende. Lyda schien ihn garnicht zu beachten. Strenger
wiederholte sie der Mutter:

»Aber Sie hören doch,« unerwartet brachen sich an ihren Worten Tränen.

Maria Iwanowna erhob sich eilig.

Sarudin und Woloschin waren ratlos zurückgetreten, sie schauten sich
nervös an und schienen keinen Weg mehr zu finden, um sich
zurückzuziehen.

Ssanins Nasenflügel weiteten sich stark und kraftvoll.

»Meine Herren, bitte, wir gehen in den Garten. Hier ist es zu heiß.«
Lyda schritt zum Balkon voran, ohne sich umzusehen, ob man ihr folge.
Wie suggeriert gingen die Männer hinter ihr her; es machte den Eindruck,
daß sie sie mit ihrem Zopf umschlungen hielt und mit Gewalt nach sich
zöge, wohin sie wollte.

Als erster kam Woloschin, entzückt, gespannt; er hatte alles in der Welt
außer ihr vergessen.

Lyda warf sich in den Schaukelstuhl unter der Linde und steckte ihre
kleinen Füße, die in durchbrochenen Strümpfen steckten, lässig aus. Zwei
Wesen arbeiteten in ihr. Das eine quälte sich vor Scham und Kränkung;
das andere nahm bewußt aufregende Posen an, eine immer schöner und
elastischer als die andere.

»Nun, Pawl Lwowitsch, welchen Eindruck macht unser Nest auf sie?«

Woloschin spreizte und rieb seine Finger.

»Nun, so ungefähr wie ihn vielleicht ein Mensch hat, der plötzlich im
wildesten Walde eine Blume vor sich sieht.«

Und nun entspann sich zwischen ihnen eine leichtfertige durch und durch
verlogene Unterhaltung, in der jedes ausgesprochene Wort eine Lüge war
und Wahrheit nur das, was in ihr verschwiegen blieb. Ssanin beteiligte
sich nicht am Gespräch; dafür beobachtete er gerade jene stummen,
eigentlichen Reden, die sich ohne Worte in den Gesichtszügen, den
Bewegungen der Hände und Füße, im Klingen und Zittern der Stimmen
offenbarten.

Lyda litt. Woloschin sog unbefriedigt ihre Schönheit und ihren Duft in
sich ein. Sarudin haßte ihn, Ssanin, Lyda, die ganze Welt; er wünschte
fortzugehen und blieb dennoch sitzen; er wollte irgend etwas Grobes
begehen und rauchte doch nur eine Zigarette nach der andern.
Währenddessen lastete das unbändige Verlangen, daß Lyda sich vor allen
als seine Geliebte erweisen müsse, wie ein Alpdruck auf seinem Hirn.

»Also gefällt es Ihnen wirklich bei uns? Bedauern Sie nicht, daß Sie
Petersburg verlassen haben?«

»_Mais au contraire!_« erwiderte Woloschin mit einer koketten
Handbewegung und starrte Lydas Brust an.

»Aber ohne Phrasen!« befahl Lyda liebenswürdig. Immer noch kämpften in
ihr zwei Wesen. Das eine trieb ihr die Röte ins Gesicht, das andere
streckte noch gewaltiger und schamloser ihre Brust dem entblößenden
Blick entgegen.

... Du glaubst, ich wäre sehr unglücklich, ... ich wäre vollständig
zerbrochen. So sieh denn das Gegenteil! Ich brauche mich meiner
Handlungen nicht zu schämen! Und wenn ich tausendmal mehr und
Schlechteres getan hätte, ich brauchte mich nicht zu schämen ... sprach
sie innerlich zu Sarudin.

»Ah, Lydia Petrowna!« Sarudin mischte sich trotz seiner gehässigen Laune
ins Gespräch. »Das brauchen doch wahrhaftig keine Phrasen zu sein!«

»Ich glaube, Sie sagten etwas?« meinte Lyda kühl; doch sofort wandte sie
sich wieder in verändertem Ton zu Woloschin. »Erzählen Sie doch bitte
von dem Leben in Petersburg ... Bei uns lebt man ja nicht, wir
vegetieren nur!«

Sarudin fühlte, daß Woloschin kaum merklich nach seiner Richtung hin
lächelte; ihm kam der Gedanke, jener glaube nicht mehr, daß Lyda seine
Geliebte gewesen wäre.

»Unser Leben? O, dieses rühmlichst bekannte >Petersburger LebenIch merke,< sagte dieser Pjotr
Iliitsch, >wie die Köchin betet.< -- -- -- Und ich begreife auch
momentan, daß in der Küche auf der Schlafbank die Köchin in der Tat
betet. -- -- -- >Mir mag es unklar sein und verstehen kann ich es auch
nicht, aber ein Mensch, der reinen Herzens ist, ... begreifst du das,
reinen Herzens ... Als sie nun betete und uns alle erwähnte, da
passierte noch nichts, aber als sie dich, mich und Ssanin erwähnte, so
...< Als Onkelchen dies sprach, da fühlte ich, daß etwas ganz
Ungewöhnliches geschehen muß ... >Nicht umsonst beten doch alle
einfachen Leute vom Tage der Schöpfung an ...< Und da leuchtete es mir
ein, gerade zur rechten Zeit, daß es garnicht anders sein konnte, als
daß Gott der Köchin erschienen war. Und Pjotr Iliitsch zerfloß
vollständig in nichts, aber doch redete er immer weiter ... >Ihr soll
sich eine Erscheinung gezeigt haben ...< Dabei fühlte ich mich weiter
garnicht schlecht, denn wenn es auch nicht gerade Gott war, so gab es
also doch etwas ... es ist immerhin schmeichelhaft ... Ihr erschien zwar
keine Erscheinung, aber dennoch eine Erscheinung. Darauf existierte das
Onkelchen überhaupt nicht mehr. Ich wurde unruhig ... Dieses andere, das
keine Erscheinung war, hatte meine Ruhe vollständig vernichtet. Um sie
wieder herzustellen, mußte man unverzüglich das zerstören, was sich in
der Zimmerecke befand und was winselte. Offenbar war es einfach eine
Maus. Sie nagte an etwas und nagte es durch ... Sie schien sogar darüber
erfreut zu sein. Schwermut packte mich ... die Maus nagte und nagte
immerzu ... gleichmäßig und im Takt ... Und dabei erwachte ich gerade.«

»Wärst du doch lieber noch eine Weile nicht aufgewacht,« bemerkte
Ssanin.

»Ja, später habe ich das selber eingesehen.«

Trotz des scherzhaften Tones, in dem Iwanow seinen Traum erzählte,
merkte man doch, daß er auf ihn einen starken Eindruck gemacht hatte,
der sich in der Tiefe seiner Seele in unbegreiflicher Furcht
verwandelte. Er lächelte verzerrt und griff wieder zum Bier.

Alle schwiegen. In diesem Schweigen schien die Finsternis hinter dem
Balkon noch näher heranzurücken; keinem war mehr fröhlich, allen nur
bange und gelangweilt zumute. Der unbegreifliche Traum drang mit dem
dünnen Stachel trübseligen Grauens durch Spott und Unglauben hindurch in
die Herzen.

»Ja,« sagte feierlich Pjotr Iliitsch, »klug seid ihr alle ... Klug wie
die Teufel ... Aber es existiert etwas, ... es existiert. Ihr kennt es
nicht, aber doch -- -- -- es spricht zu euch.«

Lag es an den Worten des Sängers oder an den lauten Stimmen, die durch
die vom Wodka bedrückten Gehirne krochen oder an der plötzlich
aufgeflammten Nähe des Geheimnisses von Leben und Tod; irgend etwas
hallte in der Seele eines jeden von ihnen traurig wieder.

-- -- -- Vielleicht existiert es wirklich ...

Ssanin erhob sich; sein wie immer ruhiges Gesicht sah gelangweilt aus.
Er gähnte und schob die Hand abwehrend durch die Luft:

»Das sind alles Aengste! Wenn ihr euch nur noch etwas zur Nacht graulich
machen könnt. Sterben wir, dann merken wir's.«

Er zündete langsam eine Zigarette an und schritt zur Tür hinaus. Auf dem
Balkon wurde weiter gebrüllt und gestritten, und in dem Lärm der lauten
betrunkenen Stimmen flatterten auf dem Tisch noch immer lautlose Falter,
die auf das Feuer zugeflogen waren, halb versengt herum.

Ssanin trat in den Hof des Gasthauses hinaus; die laue Nacht strich
erfrischend über seinen erhitzten Körper.

Wie ein Goldei lugte der Mond hinter der Waldecke hervor und sein halb
märchenhaftes Licht glitt flüssig über die schwarze Erde. Hinter dem
Garten, aus dem ein zäher und süßer Geruch von Birnen und Pflaumen
drang, schimmerte trüb das weiße Gebäude des zweiten Gasthauses hervor.
Ein Fenster blickte Ssanin von dort durch die grünen Blätter hell an.

In der Finsternis schallte das Klatschen barfüßiger Schritte, dem
Auftreten von Tierpfoten ähnlich. Ssanin konnte mit seinen Augen, die
nicht an die Finsternis gewöhnt waren, kaum die Silhouette eines Knaben
erkennen.

»Wohin willst du?« fragte er.

»Zu Fräulein Karssawina, -- -- -- die Lehrerin.«

»Wozu? ...« Ssanin fiel es bei ihrem Namen wieder ein, wie sie nackt
ganz durchtränkt vom Licht der hellen Sonne und ihrer Jugend vor ihm am
Ufer stand.

»Ich muß ihnen einen Zettel bringen,« antwortete der Knabe.

»Aha, na, sie wird wohl im anderen Gasthaus sein. Also, mein Sohn, walle
dorthin.«

Wieder klatschte der Knabe wie ein Tierchen mit den bloßen Sohlen auf
den Boden und verschwand in der Finsternis so schnell, als ob er sich in
den Büschen versteckt hätte.

Ssanin schritt langsam hinter ihm her und atmete mit voller Brust die
Gartenluft, dicht wie Honig, ein.

Er trat an dem Gasthaus dicht unter das beleuchtete Fenster heran und
ein Streifen Licht legte sich über sein nachdenkliches und ruhiges
Gesicht. Im Licht waren unter dem grünen Laub große schwere Birnen
sichtbar. Ssanin erhob sich auf die Zehenspitzen und pflückte eine; im
Fenster sah er Karssawina.

Sie stand im Profil, im Hemd; über ihre runden Schultern glitten
Lichtstupfen wie Atlasblenden.

Ganz in Gedanken versunken, blickte sie unverwandt nach unten auf den
Boden. Wahrscheinlich erregte sie das, woran sie dachte, mit Scham und
Freude; denn ihre Augenlider zitterten und ihre Lippen lächelten. Dieses
Lächeln erstaunte Ssanin. Eine unfaßbare Zärtlichkeit und Leidenschaft
bebte darin, als lächelte das Mädchen einem nahen Kusse entgegen.

Er stand und schaute auf sie hin, ein Gefühl, das stärker war als er
selbst, hatte ihn ergriffen. Karssawina dachte darüber nach, was mit ihr
geschehen war, es war ihr qualvoll, niederdrückend und süß ums Herz.

-- -- -- Mein Gott, fragte sie sich mit einer reinen Empfindung, wie sie
wohl die knospenbrechende Blume ergreifen mag, bin ich denn wirklich so
verdorben. -- -- --

Mit tiefster Freude erinnerte sie sich dabei an die unbegreiflich
hinreißende Empfindung, die von ihr Besitz genommen hatte, als sie sich
zum ersten Mal Jurii unterwarf.

-- -- -- Mein Liebster, es zog sie heiß und ermattend in Gedanken zu
ihm. Wieder sah Ssanin, wie ihre Wimpern zuckten und ihre rosigen Lippen
lächelten.

Der abscheulich rohen Szene, die später vorgefallen war, gedachte sie
garnicht mehr. Irgend eine geheime Bewegung riß sie immer wieder aus der
Ecke heraus, in der wie ein dünner Splitter eine krankhaft verletzte
Ratlosigkeit stecken geblieben war.

Es wurde gegen die Zimmertür geklopft.

»Wer ist da?« fragte Karssawina den Kopf erhebend.

»Ich bringe einen Brief,« piepste die Stimme des Knaben hinter der Tür.
Karssawina warf ein großes Tuch um, und der barfüßige Knabe bis an die
Knie mit Schmutz bespritzt, trat herein; er riß eilig die Mütze vom
Kopf.

»Das Fräulein haben ihn Ihnen zugeschickt,« sagte er.

Dubowa schrieb an Karssawina:

»Sinotschka, wenn es Dir irgend möglich ist, so komme noch heute in die
Stadt zurück. Der Schulinspektor ist angekommen und wird morgen bei uns
inspizieren. Es geht nicht gut, daß Du dann gerade fehlst.«

»Was ist denn los? ...« fragte die alte Tante.

»Ola schreibt ... Der Schulinspektor ist gekommen.«

Der Knabe rieb einen Fuß an den anderen.

»Sie haben mächtigen Fetz gemacht, daß Sie auch sicher kommen sollen.«

»Gehst du hin? ...«

»Wie kann ich denn allein gehen. Es ist doch finster.«

»Der Mond ist ja da,« mischte sich der Knabe ein. »Es ist ganz hell.«

»Ja, ich müßte eigentlich gehen,« meinte Karssawina unschlüssig.

»Gewiß, du mußt gehen. Nachher hast du Aerger.«

»Also ja, ich gehe,« das Mädchen nickte entschlossen mit dem Kopf.

Sie zog sich rasch an, befestigte den Hut und ging zur Tante.

»Auf Wiedersehen, Tante.«

»Auf Wiedersehen, Kindchen. Jesus mit dir.«

»Und willst du mit mir gehen,« fragte sie den Knaben.

Der Knabe drückte sich hin und her und rieb sich wieder den Fuß.

»Ich bin hier zu Muttern gekommen. Sie ist hier bei den Mönchen, auf
Wäsche.«

»Aber wie soll ich denn allein gehen, Grischa? ...«

»Nun gut, also, ich komme mit.« Der Knabe warf mit starkem Entschluß die
Haare zurück.

Sie traten in den Garten hinaus und die blaue Nacht umfaßte das Mädchen
ganz weich und behutsam.

»Wie gut riecht es hier,« sagte sie; gleich aber schrie sie erschrocken
auf, als sie plötzlich auf Ssanin stieß.

»Das bin ich ja,« meldete er sich lächelnd.

Karssawina reichte ihm durch das Dunkel ihre Hand, die noch vor Schreck
bebte.

»Sieh mal, was für 'ne Angst, ...« bemerkte Grischa herablassend. Das
Mädchen lächelte verwirrt.

»Es ist nichts zu sehen,« suchte sie sich zu rechtfertigen.

»Wo wollen Sie denn noch hin?«

»In die Stadt. Deshalb hat man mir den Jungen geschickt.«

»Allein? ...«

»Nein, ich gehe mit ihm. Er soll mein Ritter sein.«

»'n Ritter,« wiederholte Grischa grinsend und rieb sich sein Bein.

»Und was tun Sie hier? ...«

»Wir sind in flüssigen Angelegenheiten hier,« erklärte Ssanin scherzend.

»Wer ... wir? ...«

»Schawrow, Swaroschitsch, Iwanow -- --«

»Auch Jurii Nikolajewitsch ist mit Ihnen?« Es war ihr bange und
angenehm, diesen Namen laut auszusprechen, als blickte sie in eine tiefe
Höhle.

»Und was? ...«

»So? ... Ich hatte ihn hier allein getroffen,« sie errötete noch tiefer,
wie schon bei der ersten Antwort. »Nun auf Wiedersehen.«

Ssanin hielt die gereichte Hand eine Weile zärtlich in der seinen.

»Erlauben Sie, daß ich Sie aufs andere Ufer übersetze. Warum sollen Sie
erst ringsherum laufen?«

»Nein, wozu denn,« erwiderte sie mit unbegreiflicher Schüchternheit.

»Laß ihn lieber übersetzen. Auf dem Damm ist es dreckig genug,« sagte
mit Autorität der barfüßige Grischa.

»Nun schön ... Dann kannst du zur Mutter gehen.«

»Aber fürchtest du dich nicht, nachher allein übers Feld zu laufen,«
fragte Grischa solide.

»Ich werde sie doch bis zur Stadt begleiten.«

»Und wo bleibt dann Ihre Gesellschaft? ...«

»Die saufen sich hier noch bis zum Morgen durch. Und sie sind mir auch
so schon zur Genüge über.«

»Nun, wenn Sie so freundlich sein wollen. Dann kannst du ja gehen,
Grischa.«

»Auf Wiedersehen. Fräuleinchen.«

Der Knabe schien sich wieder plötzlich in dem Gesträuch zu verlieren.
Karssawina blieb mit Ssanin allein.

»Geben Sie mir Ihren Arm, sonst könnten Sie noch vom Berg abstürzen.«

Karssawina reichte ihm den Arm; sie fühlte mit eigenartig beklemmender
und stickiger Erregung seine eisenharten Muskeln, die sich unter dem
dünnen Hemd bewegten. So gingen sie durch den Wald zum Flusse hinunter,
stießen sich unwillkürlich an und empfanden bei jedem Schritt die
Elastizität und Wärme ihrer Körper. Im Walde stand eine ununterbrochene
Finsternis, als ob sie ewig wäre, und es schien, daß es dort keine Bäume
gab, sondern nur diese dichte, wärmeatmende Finsternis.

»Oh, wie dunkel ...«

»Tut nichts,« sagte leise, dicht an ihrem Ohr Ssanin; in seiner Stimme
zitterte etwas. »Ich liebe den Wald des Nachts noch mehr. Im nächtlichen
Wald verlieren die Menschen ihre gewohnten Gesichter, sie werden viel
rätselhafter, kühner, interessanter.«

Die Erde glitt unter ihren Füßen ab und sie mußten sich mit Mühe
aufeinander stützen, um nicht zu fallen.

Durch das Dunkel, durch das Anschmiegen des elastischen und festen
Körpers, durch die Nähe des starken Mannes, der ihr immer gefallen
hatte, bemächtigte sich des Mädchens eine unbekannte Aufregung. Sie
wurde rot und ihr Arm schien auf dem Ssanins zu brennen. Oft lachte sie
auf; es klang hoch und kurz.

Unter ihnen wurde es allmählich lichter und über dem Fluß leuchtete
schon hell und ruhig der Mond. Die Kühle des Wassers schlug ihnen ins
Gesicht und der schwere Wald atmete so düster und geheimnisvoll zurück,
als trete er sie dem Flusse ab.

»Und wo ist Ihr Boot? ...«

»Hier!«

Das Boot hob sich wie gezeichnet von der glatten hellen Fläche ab.

Während Ssanin die Ruder anlegte, ging Karssawina ein wenig mit den
Händen die Balance haltend, zum Steuer und setzte sich dort nieder. Mit
einem Mal wurde sie phantastisch von dem blauen Mond und der
schwankenden Wiederspiegelung des Wassers beleuchtet.

Ssanin stieß das Boot ab und sprang hinein. Mit leisem Knirschen glitt
es über den Sand, klang im Wasser und kam schnell ins Mondlicht, während
es hinter sich breite Wellen, die sich leicht entfernten, zurückließ.

»Lassen Sie, ich werde rudern ...« Karssawina war voll von einer
mächtigen gebieterischen Kraft, die sie zum Ausdruck bringen wollte.
»Ich liebe es, selbst zu rudern.«

»Gut, setzen Sie sich hierher,« rief Ssanin mitten im Boot stehend.

Wieder stieg sie leicht und geschmeidig über die Bänke an ihm vorbei und
berührte mit den Fingerspitzen kaum seine ausgestreckte Hand. Ssanin
schaute sie, als sie neben ihm war, von unten herauf an und ihre Brust
berührte kaum die seine, während sie ihm doch den kräftigen Geruch ihres
frischen Körpers zustrahlte.

Sie glitten über das Wasser. Um sie spiegelte sich der blaue Himmel
wieder, sodaß das Boot im hellen ruhigen Luftraum zu schweben schien!
Karssawina saß aufrecht, bewegte kaum die Ruder und plätscherte mit dem
Wasser, während sie ihren Busen elastisch anhob.

Ssanin lehnte am Steuer, schaute sie an, ihre Brust, auf die man so
schön den heißen Kopf hätte legen können, ihre runden geschmeidigen
Arme, die sich so kräftig und zärtlich um den Nacken schmiegen mochten,
ihren jugendlichen wonnevollen Körper, den man so toll und alles
vergessend an sich zu reißen wünschte. Der Mond leuchtete auf ihr weißes
Gesicht mit den schwarzen Strichen über den Augen und den glänzenden
Augen selbst, glitt über ihre weiße Bluse, die leicht auf ihrer Brust
anlag, über den Rock auf den vollen Knieen und in Ssanin ging etwas vor,
als wenn er mit ihr immer weiter und weiter in ein fernes Märchenreich
schwimme, und sich immer mehr von den Menschen, der Vernunft, und den
vernünftigen menschlichen Gesetzen entferne.

»Wie schön ist es heute,« sagte Karssawina sich umschauend.

»Ja, schön!« erwiderte er leise.

Sie lachte plötzlich ...

»Aus irgend einem Grunde möchte ich den Hut ins Wasser werfen und den
Zopf aufreißen,« rief sie einem unbewußten Drang nachgebend.

»Sehr gut, tun Sie es nur!« Ssanin sprach noch leiser.

Aber sie wurde wieder verschämt und verstummte.

Und von neuem stiegen in der Seele des Mädchens Erinnerungen, die von
der Nacht, der Schwüle und der Freiheit hervorgerufen waren, auf; es war
ihr wieder peinlich und doch angenehm, um sich zu schauen.

Ihr schien immer mehr, daß Ssanin unmöglich von dem nichts wissen
konnte, was mit ihr vorgegangen war. Dadurch wurde ihr Gefühl aber nur
stärker und komplizierter. Ein unbändiges, ihr kaum bewußtes Verlangen
überkam sie, ihm anzudeuten, daß sie nicht immer ein so zurückhaltendes
stilles Mädchen sei, daß sie sich ganz anders, auch nackt und schamlos,
benehmen könnte. Diese instinktive Regung berührte sie freudig und ließ
ihr Herz leichter schlagen.

»Kennen Sie Jurii Nikolajewitsch schon lange?« fragte sie mit unruhiger
Stimme.

»Nein,« erwiderte Ssanin. »Warum?«

»So? ... Nicht wahr, er ist doch ein hübscher netter Kerl.«

Durch ihre Worte klang fast kindliche Schüchternheit, als ob sie sich
bei einem erwachsenen Menschen, der sie liebkosen und bestrafen konnte,
eine Ueberraschung ausbat.

Ssanin sah sie lächelnd an und antwortete: »Ja!«

Karssawina erriet an seiner Stimme, daß er über sie lächele und wurde
über und über rot.

»Nein, wirklich ... und wie sehr er ... Er hat wahrscheinlich viel
durchgemacht.«

»Wahrscheinlich! Daß er unglücklich ist, stimmt ... Doch haben Sie mit
ihm Mitleid?«

»Gewiß!« sie sagte es mit gemacht naivem Ton.

»Ja, das ist begreiflich. Nur fassen Sie das Wort unglücklich sehr
eigenartig auf. Sie glauben doch sicher, daß ein seelisch
unbefriedigter, über alles nachdenkender Mensch nicht einfach
unglücklich und bemitleidenswert sei, sondern etwas ganz anderes, etwas
Besonders darstellt ... Er ist kräftiger, stärker. Das ewige Hin- und
Herschleudern seiner Taten von rechts nach links erscheint Ihnen als ein
schöner Zug, der dem Menschen das Recht gibt, sich höher als andere
einzuschätzen, das heißt nicht so sehr das Recht auf Mitleid, wie auf
Achtung und Liebe.«

»Aber wie denn anders? ...« fragte sie naiv.

Sie hatte noch nie viel mit Ssanin gesprochen. Doch sie hörte ihn stets
als einen ganz eigenartigen Menschen beurteilen, und sie empfand in
seiner Gegenwart die Nähe von etwas Neuem, Interessantem, das sie
erregte.

Ssanin lächelte: »Es gab eine Zeit, wo der Mensch ein beschränktes
viehisches Leben führte, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, was
er treibt und fühlt. Dann kam die Zeit des bewußten Lebens. Die zweite
Stufe war die der Umwertung aller Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche. Auf
dieser steht auch Jurii Swaroschitsch, der letzte der Mohikaner einer in
die Ewigkeit versinkenden Periode menschlicher Entwickelung. Wie alles,
was am Ende steht, sog er alle Säfte seiner Zeit in sich ein. Bis in das
Innere seiner Seele ist er durch sie vergiftet. Er kennt kein Leben als
dieses eine ... Alles, was er tut, ruft in ihm endlosen Streit darüber
hervor, ob es gut, ob es schlecht ist. Das ist bei ihm bis zur
Lächerlichkeit übertrieben. Als er der Partei beitrat, zweifelte er, ob
es nicht unter seiner Würde sei, in Reih und Glied mit den andern zu
stehen. Seit seinem Austritt aus der Partei quält ihn wieder der
Gedanke, ob es nicht erniedrigend ist, sich abseits von der allgemeinen
Bewegung zu halten. Uebrigens, solche Menschen gibt's in Menge. Es ist
die Mehrzahl ... Jurii Swaroschitsch bildet nur darin eine Ausnahme, daß
er nicht so dumm ist wie die anderen und daß der Kampf mit sich selbst
in ihm nicht lächerliche, sondern manchmal wirklich tragische Formen
annimmt. Irgend ein Nowikow, der mästet sich nur an seinen Zweifeln und
Leiden wie eine im Stall eingesperrte Zuchtsau, Swaroschitsch aber, der
schleppt vielleicht tatsächlich eine Katastrophe in sich herum.«

Ssanin hielt plötzlich an. Seine eigene laute Stimme und die täglichen
einfachen Worte, scheuchten den nächtlichen Zauber fort; das tat ihm
leid. Er schwieg still, sah nur das Mädchen an, ihre schwarzen
Augenbrauen auf dem weißen Gesicht, ihre hohe Brust.

»Ich verstehe nicht, wie Sie so von Jurii Nikolajewitsch reden können.
Als wenn er selbst daran schuld wäre, daß er so ist und nicht anders.
Wenn ein Mensch vom Leben unbefriedigt ist, so steht er also höher als
das Leben.«

»Ein Mensch kann niemals höher als das Leben stehen. Er ist selbst nur
ein Teilchen des Lebens. Unbefriedigt kann es wohl sein, aber die
Ursachen liegen in seiner eigenen Person. Er kann es entweder nicht oder
wagt es nicht, sich von dem Reichtum des Lebens so viel anzueignen, wie
er tatsächlich für sich bedarf. Die einen sind lebenslang in einem
Gefängnis eingesperrt, die andern wagen einfach nicht aus ihrem Bauer
herauszufliegen, so wie Vögel, die schon zu lange in einem festgehalten
wurden. Der Mensch ist solange eine harmonische Verbindung von Geist und
Seele, wie sie noch nicht durchbrochen ist. Auf natürlichem Wege wird
sie nur durch das Nahen des Todes gelöst, aber auch wir selbst können
sie aufheben -- -- -- durch eine mißglückte Weltanschauung. Wir haben
die Wünsche unseres Körpers als Bestialität gebrandmarkt, fingen an, uns
ihrer zu schämen, umkleideten sie mit einer erniedrigenden Form, und
schafften ihnen eine einseitige Existenz. Diejenigen unter uns, die
ihrem Charakter nach schwach sind, fristen ein Leben in Ketten. Aber
solche, denen die Kräfte nur infolge der falschen Lebensauffassung, an
die sie gebunden sind, fehlen, das sind Märtyrer. Die unterdrückte
Energie reißt an ihren Fesseln, der Körper verlangt nach Freude und
quält sich selbst. Ihr ganzes Leben lang krochen sie zwischen
Zwiespälten, klammern sich an jeden Strohhalm in der Sphäre neuer
sittlicher Ideale und schließlich grämen sie sich zu Tode in der Furcht,
zu leben und zu fühlen.«

Mit unerwarteter Kraft fiel ihm Karssawina ins Wort:

»Ja, ja, so ist es!«

Eine Menge neuer, unerwarteter Gedanken stieg leicht in ihr auf. Sie
schaute mit glänzenden Augen um sich und die machtvolle prächtige
Schönheit der Fülle, die im unbeweglichen Fluß, im finstern Wald, in der
Tiefe des blauen Himmels mit dem nachdenklichen Mond, um sie ausgegossen
war, strömte in tiefen Wellen in ihren Körper und ihre Seele ein.

Des Mädchens begann sich jenes eigentümliche Gefühl zu bemächtigen, das
ihr bereits bekannt war, das sie liebte und fürchtete, das Gefühl trüben
Suchens nach der Auslösung von Kraft und Bewegung, -- -- von Glück.

»Ich träume immer von der glücklichen Zeit,« sprach Ssanin nach einer
Weile, »wo zwischen den Menschen und dem Glück nichts mehr stehen wird,
wo der Mensch sich frei und furchtlos allen ihm zugänglichen Genüssen
hingeben kann.«

»Und was dann? ... Wieder Barbarei? ...«

»Nein! Das Zeitalter, in dem die Menschen nur mit dem Unterleib lebten,
war zwar barbarisch grob und arm ... unseres aber, wo der Körper dem
Geist unterworfen ist und in die Rumpelkammer gedrängt wurde, ist auch
nur sinnlos schwach. Doch die Menschheit hat nicht umsonst gelebt. Sie
wird neue Lebensbedingungen ausfinden ... in denen es keinen Platz mehr
geben wird ... weder für Bestialität noch für Asketik.«

»Sagen Sie bitte ... und die Liebe ... gibt sie Pflichten ...« fragte
Karssawina unerwartet.

»Nein, -- -- denn die Pflichten, die die Liebe gibt, sind für den
Menschen nur durch die Eifersucht schwer geworden. Die Eifersucht aber
wurde allein durch die Sklaverei ins Leben gerufen. Jede Sklaverei zieht
Böses nach sich. Die Menschen sollen die Liebe genießen ... ohne Furcht
und Entsagung, ... ganz schrankenlos ... Und dann werden sich auch alle
Formen der Liebe in eine endlose Kette von Zufälligkeiten,
Ueberraschungen und Verbindungen erweitern.«

-- -- -- ich habe doch damals nichts gefürchtet, dachte das Mädchen mit
Stolz und sah Ssanin plötzlich an, als säße er zum ersten Mal vor ihr.

Groß und kräftig lehnte er am Steuer, mit von der Nacht verdunkelten
Augen; seine breiten Schultern waren unbeweglich wie aus Eisen.
Unverwandt blickte ihn Karssawina mit bangem Interesse an. Mit einem Mal
kam ihr der Gedanke, daß sie vor sich eine ganze Welt unbekannter,
eigenartiger Gefühle und Kräfte liegen habe; ihr kam der Wunsch, sie in
sich aufzunehmen.

... er ist doch sehr interessant, schwirrte es fein durch ihren Kopf.
Sie lächelte sich selbst verstohlen zu, aber eine stechende Aufregung
durchzuckte ihren ganzen Körper mit nervösem Zittern.

Wahrscheinlich fühlte auch Ssanin diese plötzliche Flutwelle weiblicher
Neugierde, denn er atmete selbst kräftiger und stärker auf. Die Ruder
verwickelten sich in der engen Straße, in die das Boot langsam
hineinglitt und fielen aus den Händen des Mädchens. Auch in ihrem Innern
schien ganz ebenso etwas niedergefallen zu sein.

»Ich kann hier nicht weiter,« sagte sie schuldbewußt. »Es ist zu
schwer.« Ihre Stimme klang wie zu Boden gesunken, leise und melodisch in
der dunklen, schmalen Wasserenge, wo das unsichtbare Gekräusel der
Wellen still für sich plätscherte.

Ssanin erhob sich und ging auf sie zu.

»Wohin wollen Sie?« rief sie mit unerklärlichem Schrecken.

»Lassen Sie mich.«

Karssawina stand auf und wollte zum Steuer gehen. Das Boot schwankte,
als ob es unter den Füßen fortgleiten wollte. Sie mußte sich
unwillkürlich an Ssanin anklammern, wobei sie mit ihrer elastischen
Brust stark gegen ihn stieß. In diesem Augenblick, in dem ihr selbst
nichts bewußt wurde, in dem sie nichts glaubte und nichts mehr erriet,
hielt sie selber diese Berührung an und verstärkte sie noch, als müßte
sie sich im Fluge an ihn anschmiegen. Und so fing er in einer Sekunde
mit seiner ganzen Person den märchenhaften Zauber der Nähe einer Frau in
sich auf. Sie verstand sein Gefühl in der Fülle ihres Wesens, empfand
die ganze Stärke seiner Erregung und wurde daran trunken, bevor sie
begriffen hatte, was sie tat.

... Ahaaaaa, riß es sich erstaunt und entzückt durch Ssanins Brust;
schmerzhaft und leidenschaftlich umarmte er sie, so daß sie sich hinten
übergebeugt fast in der Luft befand und instinktiv nach dem fallenden
Hut und der Frisur griff. Das Boot schwankte noch stärker, und die
unsichtbaren Wellen stieben mit aufgewirbeltem Lärmen an die Ufer.

»Was tun Sie? ...« schrie sie schwach auf. »Lassen Sie mich. Um
Gotteswillen, was tun Sie? ...« Sie flüsterte atemlos, während sie sich
nach kurzem, lautlosen Schweigen aus seinen stählernen Armen reißen
wollte.

Aber kräftig, ihre weiche Brust fast zerquetschend, preßte Ssanin das
Mädchen an sich ... ihr wurde schwül, alles, was zwischen ihnen als
Scheidewand stand, war mit einem Mal irgendwohin versunken.

Ringsherum war Stille, würziger Geruch von Wasser und Gräsern,
eigentümliche Kälte und Glut und Schweigen. Plötzlich senkten sich ihre
Arme, sie fühlte sich selbst von einer völligen Willenlosigkeit
überwunden, lag ohne etwas zu sehen oder wahrzunehmen am Boden und gab
sich dem fremden männlichen Willen und seiner Stärke mit brennenden
Schmerzen und taumelndem Genusse hin.




                                XXXVIII


Es dauerte lange, bis ihr Bewußtsein zurückkehrte. Sie sah nur
allmählich die Flecken des Mondenlichtes auf dem schwarzen Wasser, das
Gesicht Ssanins mit sonderbaren Augen, und merkte, daß sie halb im Boote
lag; er hielt sie wie die Seine umschlungen, während sich ihr nacktes
Knie am Ruder rieb. Sogleich begann sie leise und unaufhaltsam zu
weinen, ohne sich aus seinen Händen loszureißen; noch immer unterwarf
sie sich ihm mit der gleichen Willenlosigkeit.

In ihren Tränen lag die Trauer über etwas Unwiederbringliches, lag
Furcht und Mitleid mit sich selbst und schwache Zärtlichkeit zu Ssanin,
die nicht aus der Vernunft oder dem Herzen, sondern direkt aus der Tiefe
ihres jungen Körpers, der sich zum ersten Mal in seiner ganzen Kraft und
Schönheit entfalten konnte, heraufquoll. Das Boot glitt langsam auf eine
breitere, kaum beleuchtete Stelle und schwankte in dem dunklen Wasser,
in dem die Wellen der Strömung mit stillem, gleichmäßigen Plätschern
hinunterliefen, leise hin und her.

Ssanin nahm sie in seine Arme und setzte sie auf seine Kniee. Hilflos
und ratlos wie ein kleines Mädchen saß sie da.

Wie durch Träume hindurch hörte sie, daß er sie zu beruhigen suchte, ihr
du sagte, und es berührte sie angenehm, daß seine Stimme voll von
Zärtlichkeit gelöster Kraft und dankbarer Ergebenheit war.

-- -- -- Später gehe ich ins Wasser, dachte sie matt, indem sie doch
dabei auf seine Worte lauschte und gleichsam einem andern Antwort gab,
der von ihr Rechenschaft forderte: Was hast du getan und was wirst du
tun? ...

Ganz unerwartet fragte sie halblaut: »Was nun jetzt?«

»Das werden wir sehen ...« antwortete er.

Sie wollte von seinen Knieen hinuntergleiten, aber er zog sie sofort
wieder an sich und unterwürfig blieb sie sitzen. Es schien ihr selbst
eigentümlich, daß sie weder Zorn noch Widerwillen gegen ihn empfand.

Auch später, wenn sie sich dieser Nacht erinnerte, war ihr alles
unbegreiflich und wie im Traum. Alles um sie schwieg; alles war dunkel,
feierlich, unbeweglich, wie wenn es sich bewußt wäre, ein schweres
Geheimnis wahren zu müssen. Das Licht des Mondes, das die schwarzen
Waldeswipfel glatt abschnitt, blieb sonderbar unbeweglich und
gespensterhaft in einer Richtung liegen. Die unfaßbare Finsternis
blickte sie vom Ufer her mit bodenlosen Augen an; alles erstarrte in
gespannter Erwartung vor irgend etwas, das geschehen mußte. Sie hatte
keine Kraft und keinen Willen mehr, um zu sich zu kommen, sich zu
erinnern, daß sie einen anderen liebte, um wieder das frühere freie
Mädchen zu werden und die männliche Brust zurückzustoßen. Sie sträubte
sich auch garnicht, als er sie wieder zu küssen begann und nahm fast
bewußtlos den neuen brennenden Genuß hin, während sie mit
halbgeschlossenen Augen immer tiefer in die unbekannte Welt, die sie
geheimnisvoll zu locken suchte, hineinglitt. In Minuten kam es ihr vor,
daß sie nichts sah, nichts hörte, nichts empfand. Allein jede seiner
Bewegungen, jeden seiner Angriffe auf ihren unterworfenen Körper nahm
sie doch mit gemischten Regungen von Erniedrigung und heischender
Neugier wahr.

Die Verzweiflung, die sich dicht um ihr Herz wand, flüsterte ihr
zerbrochene, sich kaum biegende Gedanken zu.

-- -- -- Jetzt ist ja alles gleich, ganz gleich, sprach sie zu sich, und
die geheimnisvolle körperliche Neugierde wollte durchaus wissen, was
dieser ferne und nahe, so feindselige und so kräftige Mensch mit ihr
noch beginnen könnte.

Später, als er sie losgelassen und, neben ihr sitzend, zu rudern
begonnen hatte, schloß sie halb liegend die Augen. Trotzdem sie sich
bemühte, alles Leben von sich abzuwerfen, erzitterte sie unter jedem
Stoß seiner Arme, die ihr jetzt so gut bekannt waren und die sich nun
taktmäßig über ihrem Busen bewegten.

Mit leisem Knistern stieß das Boot ans Ufer. Karssawina öffnete die
Augen. Ringsumher dehnte sich Feld, Wasser und weißer Nebel. Der Mond
leuchtete blaß und unklar, wie ein Gespenst, das an der Morgendämmerung
vergehen muß. Es war schon hell und durchsichtig. Durch die Luft zog der
erste leise Windstoß vor dem Morgenrot.

»Darf ich Sie jetzt begleiten,« fragte Ssanin leise.

»Nein, ich -- -- -- allein ...« antwortete sie mechanisch.

Ssanin hob sie in die Arme und trug sie mit dem Genuß kraftvoller
Anstrengung aus dem Boote; er war noch voll von der überströmenden
Empfindung seiner Liebe und dankbarer Zärtlichkeit. Bevor er sie auf den
Boden niedersetzte, preßte er sie noch einmal stark an sich. Karssawina
taumelte; sie konnte sich nicht auf den Füßen halten.

»O, du Schönheit, du,« sagte Ssanin inbrünstig, als ob seine ganze Seele
in einer Flut von Leidenschaft und Mitleid vor ihr entströmen wollte.

Sie lächelte mit unbewußtem Stolz.

Ssanin ergriff sie bei den Händen und zog sie an sich.

»Küß du mich einmal!«

-- -- -- Jetzt ist doch alles gleich, -- -- -- warum hat er soviel
Mitleid mit mir, warum ist er so nahe bei mir? ... Es ist alles ganz
gleich, man braucht nichts mehr denken ... Zusammenhanglos schwirrten
die Gedanken durch Karssawinas Kopf; klingend und zärtlich küßte sie
Ssanin auf die Lippen.

»Nun lebe wohl,« flüsterte sie; sie verwickelte sich in ihre eigenen
Worte ... Sie bemerkte gar nicht, was sie sagte.

»Liebste, sei mir nicht böse ...« sprach Ssanin mit stiller Bitte.

Als sie dann allein den Damm entlang schritt, taumelnd, sich in die
Röcke verwickelnd, sah ihr Ssanin traurig nach. Es packte ihn
schmerzlich, wenn er an die unnötigen Leiden dachte, die sie noch zu
ertragen haben wird, und über die sie sich, wie er glaubte, nicht würde
erheben können.

Ihre Gestalt löste sich im Nebel auf und verlor sich, während sie immer
weiter der Morgenröte entgegenschritt. Als sie nicht mehr zu sehen war,
sprang Ssanin mit Macht in das Boot und unter den mächtigen
triumphierenden Ruderschlägen schlug das Wasser lärmend und glücklich
gegen die Planken. An einer breiten Stelle des Flusses unter dem
Morgenhimmel, inmitten der weißen wogenden Nebel, warf Ssanin die Ruder
hin, sprang in voller Größe auf die Bank und schrie aus aller Kraft laut
und freudig in den Morgen hinein.

Wald und Nebel lebten auf und antworteten ihm mit dem gleichen,
fröhlichen weitverhallenden Rufe.




                                 XXXIX


Sobald sich Karssawina nur niederlegte, schlief sie auch augenblicklich
ein, wie wenn sie ein Schlag über den Schädel zu Boden geworfen hätte.
Doch schon am frühen Morgen erwachte sie wieder nach schwerem kurzem
Schlaf, am ganzen Körper krank und kalt wie eine Leiche. Die
Verzweiflung in ihr schien nicht zur Ruhe gegangen zu sein; nicht für
eine Minute fühlte sie ein Vergessen des Geschehenen. Sie sah sich
scharf nach jeder Kleinigkeit um, als ob sie irgend etwas herausfinden
müßte, das in ihrer Umgebung seit dem letzten Tage anders geworden war.

Aber hell und ruhig, wie an jedem Morgen, sahen sie die Heiligenbilder
aus der Ecke, die Fenster und der Boden, die Möbel und der hellblonde
Kopf Dubowas, die im andern Bett in festem Schlaf lag, an. Alles war so
einfach wie immer, nur ihr armes zerknautschtes Kleid, das sie lässig
über den Stuhl geworfen hatte, schien von etwas zu erzählen.

Die Röte, die der kurze Schlaf auf ihrem Gesicht hervorgerufen hatte,
wurde mehr und mehr von einer toten Blässe fortgeschoben und ihre
schwarzen Augenbrauen hoben sich dagegen so deutlich ab, als ob ihr
Gesicht noch wie gestern vom Monde beschienen wäre.

Mit erstaunlicher Klarheit und mit der Prägnanz eines kranken Gehirns
stand vor ihr wieder das Erlebte auf; am klarsten sah sie, wie sie am
Morgen durch die verschlafenen Straßen der Vorstadt lief. Die Sonne, die
sich soeben über die vom Tau besprenkelten Dächer und Zäune erhoben
hatte, leuchtete ihr schonungslos blendend, wie nie zuvor, ins Gesicht.
Durch die geschlossenen Läden verfolgten sie, wie durch heuchlerisch
geschlossene Lider, die feindseligen Fenster der kleinbürgerlichen
Häuser. Einsame Straßenpassanten schauten sich nach ihr um. Sie lief
unter der gleitenden Morgensonne hin, verwickelte sich in einzelne
Bahnen ihres langen Rockes und konnte den grünen samtenen Pompadour kaum
in den Fingern halten. Wie eine Verbrecherin schlich sie längs der Zäune
mit unsicheren, schwankenden Schritten entlang ... Wenn sich in diesem
Augenblick die ganze Menschheit mit geöffneten Mäulern und gierigen
Augen in ihren Weg gestürzt und sie mit höhnenden Rufen und Worten, die
infam wie Knuten einschnitten, verfolgt hätte, wäre es ihr ebenso
gleichgültig gewesen; weiter würde sie, taumelnd unter den Schlägen,
ziel- und sinnlos mit leerer Trauer in der Seele, vorwärts gelaufen
sein.

Schon im Felde, als im Nebel die schallenden Ruderschläge, die stürmisch
die Wellen durchschnitten, verstummten, erfaßte sie plötzlich die
furchtbare Last, die auf sie niedergefallen war. Ihr Herz, Vernunft und
Leben wurde zu matter Verzweiflung. Sie schrie auf, ließ den Pompadour
auf den nassen Sand fallen und griff sich an den Kopf. Von diesem
Augenblick an befand sie sich nur noch im Banne der Worte, die ihr von
jetzt ab jeder Mensch entgegenschleudern konnte. Ihr eigener Wille war
in der gestrigen Nacht, die wie ein wütender Rausch hinter ihr lag,
verloren gegangen. Es gab nur noch ein Ungewöhnliches, wahnsinnig
Ergreifendes, etwas so kraftvolles wie niemals zuvor.

Und doch konnte sie sich nicht erklären, wie es geschehen war, daß sie
sich bis zum Verlust ihrer Scham und jener Liebe, die ihr Leben
auszufüllen schien, vergessen konnte.

In körperlicher Zerbrochenheit kroch Karssawina unter der Decke hervor,
und fing an, sich mit lautlosen Bewegungen anzukleiden. Sie fühlte, wie
bei jeder Bewegung Dubowas ihr ganzer Körper von eisiger Kühle
durchströmt wurde.

Dann setzte sie sich ans Fenster und starrte mit gespannten,
unbeweglichen Augen in den Garten, wo die vom Morgen durchnäßten Bäume
hellgrün und gelb aufleuchteten.

Ihre Gedanken zogen an ihr vorüber, wie schwarzer Rauch, den der Wind
hin- und hertreibt. Wenn jemand ihre Seele hätte entfalten und wie ein
Buch durchblättern können, er wäre von Entsetzen gepackt worden.

Auf dem Hintergrunde ihres ungewöhnlich kräftigen und frischen Lebens,
in dem jeder Tag, jede Bewegung und jede Empfindung, von
sonnendurchleuchtetem Blut getränkt war, ballten sich furchtbare Bilder
ineinander.

Schwarz und bewegungslos trat der Gedanke an Selbstmord in ihr
Bewußtsein ein, leidenschaftliche Trauer über den Verlust der reinen
hellen Liebe zu Jurii preßte ihr Herz zusammen; alles aber wurde durch
eine trübe Welle der Furcht vor der Menge von bekannten und fremden
Gesichtern, die sich vor ihr drängten, überschwemmt.

Bald kam ihr der Gedanke, zu Jurii hinzustürzen, sich vor ihm auf den
Boden zu werfen, ihm in einem Augenblick ihr ganzes Leben hinzugeben und
dann für immer irgendwohin zu verschwinden. Dann wieder überfiel sie bei
dem Gedanken, mit Jurii zusammenzukommen, jagende Angst, und sie
wünschte gleich zu sterben, im Augenblick, ohne die Stelle verlassen zu
müssen, einfach, indem sie zu leben aufhörte. Dann wieder schien ihr
plötzlich, daß es vielleicht noch möglich wäre, alles gut zu machen. Die
Nacht von gestern konnte in der Wirklichkeit garnicht existiert haben,
-- -- -- sie wollte es nicht glauben. Doch wie ein wilder Schrei blitzte
durch ihre Seele die Erinnerung an ihre Nacktheit, an die Schwere des
männlichen Körpers, an das momentane, brennende Sichvergessen und durch
die unwiderrufliche Macht des Vergangenen ratlos betäubt, lag sie ohne
Regung und ohne Gedanken mit der Brust auf dem Fensterbrett.

Inzwischen erwachte Dubowa. Sie bemerkte sofort die hastigen Bewegungen
und die erregten Mienen der Freundin.

»Ah, du bist schon auf? ... Das ist man ja von dir garnicht gewöhnt.«

Als Karssawina am frühen Morgen zurückgekehrt war, hatte sie Dubowa nur
halb im Schlaf gefragt: »Wie siehst du denn zerzaust aus?« sie war aber
sofort wieder eingeschlafen. Jetzt jedoch fühlte sie, daß etwas
geschehen war, und im Hemd, barfuß, ging sie auf die Freundin zu:

»Was ist dir? ... Fehlt dir etwas?« sie fragte zärtlich und besorgt, wie
eine ältere Schwester.

Karssawina zuckte zusammen, als ob sie einen Schlag erwartete, doch ihre
rosigen Lippen verzogen sich nur zu einem falschen Lächeln und eine
Stimme, die ihr selbst fremd erschien, antwortete viel zu lustig:

»Aber nichts! Garnichts! Ich habe nur zu wenig geschlafen.«

So war das erste Wort der Lüge gefallen und es vernichtete ohne Rest die
Erinnerung an das frühere freie, aufrechte Mädchen. Dies Eine war
gewesen; jetzt wurde es zu einer Anderen. Und dies Andere war verlogen,
feig und beschmutzt.

Während Dubowa sich wusch und ankleidete, blickte Karssawina sie
verstohlen an; die Freundin kam ihr hell und rein vor; sie selbst
dagegen wie eine dunkle, zertretene Kröte. Diese Empfindung ergriff sie
so stark, daß ihr der Teil des Zimmers, in dem sich Dubowa bewegte,
sonnendurchleuchtet erschien, während ihre Ecke in feuchte, klebrige
Finsternis versank. Karssawina erinnerte sich, wie erhaben sie sich in
ihrer Gloriole der Schönheit und Frische über die farblose, alternde
Freundin gefühlt hatte; Gram und Wehmut weinten jetzt in ihr mit Tränen
schwer wie Blutstropfen.

Doch alles das spielte sich tief in ihrem Innern ab; äußerlich blieb sie
ruhig, fast fröhlich. Sie zog ihr schönes blaues Kleid an, nahm Hut und
Schirm und ging mit ihren gewöhnlichen Schritten, die den Eindruck
machten, daß sie klar wie starke Wassertropfen niederfielen, in die
Schule. Dort hatte sie bis zum Mittag zu tun, dann kam sie nach Hause.

Unterwegs begegnete ihr Lydia Ssanina. Die beiden jungen Mädchen standen
von der Sonne überströmt, lächelten mit leidenschaftlichen Lippen und
sprachen von allerlei Nichtigkeiten.

In Lyda entstand sofort wieder krankhafter Haß auf das sorglose
glückliche Mädchen und Karssawina beneidete Lyda um das Glück, so schön,
lustig und unberührt zu sein.

Jede sah in dem Leben der anderen eine schreiende Ungerechtigkeit.

-- -- -- Ich bin doch besser als sie ... Warum hat sie Glück und ich bin
so unglücklich, liefen die Gedanken einer jeden eilig hin und her.

Nach dem Mittagessen nahm Karssawina ein Buch zur Hand, setzte sich ans
Fenster und begann wieder teilnahmslos und unverwandt auf das Licht und
die Wärme des Gartens, der seine letzten Sommertage erlebte,
niederzuschauen.

Der erste scharfe Schmerz war vorüber. In ihrer Seele verschwamm alles
in indifferenter krankhafter Müdigkeit.

-- -- -- Nun sei's denn ... ich gehe unter ... So ist es mir also
bestimmt ... Ich werde sterben, wiederholte sie sich apathisch.

Da sah Karssawina Ssanin kommen; noch früher, als er sie bemerkte.

Er ging stolz und ruhig durch den Garten, sah sich nach allen Seiten um
und strich mit seinen Händen über die Zweige der Büsche, als ob er sie
zärtlich begrüßen wollte.

In die Höhe schnellend, das Buch an die Brust gepreßt, starrte sie
erregt auf ihn, bis er ans Fenster herantrat.

»Grüß Gott,« sagte er ihr die Hand reichend.

Bevor sie noch aufstehen und sich aus dem halb bewußtlosen Sturm der
Empfindungen freimachen konnte, wiederholte Ssanin mit beharrlicher
Zärtlichkeit: »Nun, grüß dich doch Gott!« In seiner Stimme lag etwas,
das Karssawina der Möglichkeit, aufzuschreien, in die Höhe zu springen,
fortzulaufen, beraubte.

Sie verlor jeden Willen und antwortete nur leise: »Guten Tag.«

Nach dieser Antwort fühlte sie, daß er stärker ist als sie und daß sie
alles mit sich muß tun lassen, was er will.

Ssanin lehnte sich an das Fensterbrett und sagte: »Kommen Sie auf einen
Augenblick in den Garten hinaus ... Wir müssen über einiges miteinander
sprechen.«

Karssawina stand auf. Ganz im Banne einer unbegreiflichen Macht wußte
sie nicht, was sie zu tun hätte, wohin und wie sie gehen sollte.

»Ich werde draußen warten,« bemerkte Ssanin.

Sie nickte nur mit dem Kopf.

Er ging mit ruhigen langsamen Schritten fort; sie fürchtete hinter ihm
herzusehen. Einige Sekunden lang stand sie unbeweglich; sie hielt die
Hände fest zusammengepreßt. Dann kam sie in Bewegung, alles wurde
plötzlich in ihr voller Hast; als sie aus dem Hause trat, raffte sie
sogar ihr Kleid, um leichter gehen zu können.

Das goldene Licht der Sonne und das Leuchten der gelben Blätter
durchdrang unaufhaltsam den ganzen Garten. Schon von weitem sah sie
Ssanin, der mitten auf dem Wege stand. Er lächelte ihr entgegen; unter
seinem weichen, anteilnehmenden Blick wurde es dem Mädchen schwer, die
Füße vorwärts zu setzen. Ihr schien es, daß sie das Kleid nicht mehr vor
seinen Augen verhülle, und daß ihm jede Bewegung ihres nackten Körpers,
der ihm nicht mehr fremd war, sichtbar sein müsse. Das Gefühl der
Hilflosigkeit und der Scham wurde in ihr so stark, daß sie den Garten
und das Licht zu fürchten begann. Fast stürzend, eilig, trat sie auf ihn
zu und blieb so dicht vor ihm stehen, daß er sie nicht ganz von Kopf bis
zu Füßen ansehen konnte.

Da nahm er sie an den Händen, führte sie tief in das Dickicht der
verwachsenen Bäume und zog sie sich auf die Kniee, während er sich
selbst halb auf den Stumpf eines alten Apfelbaumes niedersetzte.

Von der Seite sah er ihr gesenktes zartes Profil, ihre runden Schultern,
weich und schwach, neben seiner breiten festen Brust, trotzdem aber
harmonierten sie eigentümlich gut miteinander. Unwillkürlich wurde er
von einem verzückten Rausch über ihre Schönheit erfaßt, und indem er
sich gleichsam vor ihr beugte, bog er sich nieder und küßte den feinen
trockenen Stoff, durch den ihr frischer Körper schimmerte und
Wärmefluten ausstrahlte. Sie erschauerte, zog sich aber nicht zurück. Er
besiegte sie mit seiner Kraft und Sicherheit; sie ihn durch ihre
Zärtlichkeit und Schönheit. Beide hatten Furcht voreinander. Ssanin
wünschte ihr viele zarte beruhigende Worte zu sagen, aber er glaubte,
daß sie der erste Laut verletzen würde; er schwieg. Das Mädchen hörte
das gespannte Geräusch seines Atmens.

-- -- -- Was will er, ... was wird er tun, dachte sie vor Scham und
Furcht fast ersterbend ... Wirklich denn wieder dasselbe? ... Dann reiße
ich mich los ... ich laufe fort.

»Sinotschka,« sagte er endlich. Seine Stimme, die den ungewohnten Namen
ungeschickt aussprach, war doch zärtlich und eindringlich. Karssawina
blickte ihm für einen Augenblick ins Gesicht und begegnete seinen
glänzenden Augen, die entzückt und doch zurückhaltend so nahe in die
ihren blickten, daß sie zurückschrak ... Aber gleichzeitig fühlte sie
instinktiv, daß er garnicht so furchtbar wäre, und daß er sich in diesem
Augenblick mehr vor ihr scheute als sie vor ihm. Eine Regung, ähnlich
einer kecken, mädchenhaften Neugierde, bewegte sich in einem Winkel
ihrer Seele, und plötzlich wurde es ihr leichter und nicht mehr
beschämend, auf seinem Schoße zu sitzen.

»Ich komme mit mir nicht zurecht ...« sprach Ssanin. »Vielleicht bin ich
Ihnen gegenüber sehr schuldig und ich hätte nicht noch kommen dürfen.
Aber ich konnte Sie nicht so lassen. Ich wünschte so sehr, daß Sie mich
verstehen ... und zu mir keinen Widerwillen und keinen Haß empfinden.
Was sollte ich tun ... Es gab einen Augenblick, in dem ich fühlte, daß
zwischen uns etwas niedergefallen war. Ich wußte, wenn ich diesen
Augenblick vergehen lasse, so wird er sich in meinem ganzen Leben nicht
mehr wiederholen. Sie gingen an mir vorbei; und niemals würde ich diesen
Genuß und das Glück erleben, das ich erleben konnte ... Sie sind ja so
schön und so jung.«

Karssawina schwieg. Ihr durchsichtiges Ohr halb mit Haaren bedeckt,
wurde rosiger und ihre Wimpern zuckten.

Und ebenso leise, mit zitternden und unklaren Worten sprach Ssanin
weiter von dem ungeheuren Glück, das sie ihm gegeben hatte, und daß
diese eine Nacht nun für immer in seinem Leben wie ein Märchen
verbleiben wird. An seiner Stimme konnte man hören, daß er offenbar
unter der Unmöglichkeit litt, ihr etwas sagen zu können, worunter die
Trauer vergehen und eine neue fröhliche Welle heranschwellen müßte, die
sie glücklich machen würde.

»Sie leiden und gestern war es doch so schön,« fuhr er fort. »Aber diese
Leiden kommen doch nur daher, daß unser Leben sinnlos aufgebaut ist, daß
die Menschen selbst einen bestimmten Zehnten für ihr eigenes Glück
aufgestellt haben. Wenn wir anders leben würden, dann müßte diese Nacht
in unserer Erinnerung als eines der wertvollsten und wunderbarsten
Erlebnisse, die nur das Leben teuer machen können, bleiben.«

»Wenn ... ja, wenn nur ...« Und plötzlich, auch für sich ganz
unerwartet, lächelte sie neckisch vor sich hin.

Als wenn die Sonne aufginge, als wenn die Vögel zu singen und die Gräser
zu rauschen begonnen hätten, so wurde die Seele leicht und licht von
ihrem Lächeln, das für einen Augenblick das frühere fröhliche und freie
Mädchen auferstehen ließ. Aber es war nur ein Aufflammen, das sofort
wieder erlosch.

Mit einem Mal stieg vor Karssawina ihr zukünftiges Leben auf, wie
abgerissene schmutzige Fetzen von Hohn, Klatsch und Schande. Alle
bekannten Gesichter sah sie vor sich und alle trugen in ihren Mienen
Spott und Ekel; sinnlose Bilder sprangen um sie herum; dichte Furcht
bedeckte wieder ihre Seele und rief in ihr nur Haß hervor.

»Gehen Sie ... lassen Sie mich,« rief sie. Sie erblaßte und preßte ihre
Zähne mit einem grausamen Ausdruck, als wenn sie sich für ihr Lächeln
rächen wollte, zusammen; dann stieß sie sich von seiner Brust ab und
stand auf.

Ein schwerer ohnmächtiger Druck bemächtigte sich Ssanins. Er fühlte, daß
sie keine Worte in dem, was sie offensichtlich mit Leiden und Schande
bedrohte, trösten konnten. Sie hatte Recht in ihrem Zorn und Schmerz; in
seinen Kräften lag es nicht, die Welt mit einem Mal umzugestalten, um
von ihren weiblichen Schultern die entsetzliche Last abzunehmen, die auf
sie, ohne Schuld für die Freuden und das Glück, die er durch ihre junge
Schönheit erhalten hatte, herabgesunken war. Für einen Augenblick stieg
in ihm der Gedanke auf, ihr seinen Namen, ihr jede Hilfe anzubieten,
doch davon hielt ihn etwas zurück. Er fühlte, daß alles das in dieser
Minute zu kleinlich wäre und daß jetzt anderes nottue.

-- -- -- Gut, mag denn das Leben seinen Weg gehen, dachte er
schließlich.

Sie stand in der Nähe, die Arme gesenkt, den Kopf, der mit einer Krone
herrlichen Haares bedeckt war, gebeugt; sie war in Gedanken versunken,
während eine tiefe Falte ihre weiße Stirne durchschnitt.

»Ich weiß,« sprach Ssanin. »Sie lieben Jurii Swaroschitsch. Vielleicht
leiden Sie gerade darunter am allermeisten.«

»Ich liebe niemanden,« flüsterte sie, die Hände krampfhaft ineinander
verschlingend.

Mit scharfen Strichen physischen Schmerzes zeichnete sich das Bewußtsein
ihrer Schuld gegen Jurii und hilflose Verzweiflung auf ihrem Gesicht.

In ihrer Seele stieg inzwischen die ungeheure Frage, die über ihre Kraft
ging, die, wie ihr schien, das ganze Entsetzen und die ganze Auflösung
des Vorgefallenen enthielt, auf und schwankte wie eine Rauchsäule über
ihrem ganzen bisherigen Leben.

-- -- -- Wie ist es möglich, das miteinander zu verbinden, -- -- -- ich
liebe Jurii so sehr, liebe ihn noch jetzt, daß es mein Herz zerreißt.
Beim Gedanken daran, daß ich für ihn nicht mehr so rein und einzig sein
werde, wie ich war, wird in mir alles dunkel wie vor dem Tode. Und
dennoch ... dennoch konnte ich ...

Der Gedanke an Ssanin hatte keinen Ausdruck. Er bewahrte nur die
Erinnerung an tolle Kraft, an überschäumenden Genuß, in dem der Schmerz
mit dem Verlangen nach noch größerer, noch tieferer Innigkeit
zusammenfiel; für Augenblicke sprang aus ihm der Wunsch, zu Tode
gemartert zu werden. Aber weiter trug er die lichte stille Erinnerung an
eine singende, unsagbar innige Zärtlichkeit in sich, die ihr Herz
liebkoste.

-- -- -- Ich bin selbst schuld, sagte sich Karssawina ... Ich bin eben
ein garstiges, lasterhaftes Geschöpf. -- -- --

Am liebsten hätte sie geweint, gebüßt, den weißen herrlichen Körper, der
stärker als die Vernunft, die Liebe und Bewußtsein gewesen war, mit der
Peitsche gezüchtigt.

Einen Augenblick lang schien ihr, daß sie diesen furchtbaren Taumel
nicht ertragen werde; das Bewußtsein wird untergehen, sie muß sterben.
Doch es ging gleich wieder vorüber, entkräftigte sie nur und ließ
hoffnungslose, stille Trauer in ihr zurück.

Da sagte ihr Ssanin mit besonders rührender Bitte: »Gedenken Sie meiner
nicht böse! Sie sind ebenso herrlich wie Sie stets waren ... Dem Mann,
den Sie lieben, werden Sie dasselbe Glück geben können, das Sie mir
gegeben haben ... Nein, noch ein größeres, viel größeres ... Wahrhaftig
... ich wünsche für Sie nichts anderes, als das Allerbeste, das
Allerzarteste ... Immer werde ich Sie so in meinem Gedächtnis haben, ...
wie ... gestern. Leben Sie wohl ... und wenn ich einmal irgend etwas für
Sie tun kann, so ... ich bitte Sie, sagen Sie es ... ich würde Ihnen ja
gerne mein Leben geben, wenn es Ihnen nur nützen könnte ...«

Ganz leise blickte ihn Karssawina an; es tat ihr um etwas leid.

... Aber vielleicht geht alles vorüber ... ging es durch ihren Kopf. Im
Augenblick schien alles nicht mehr so entsetzlich und schwierig. Eine
Minute lang schauten sie einander in die Augen und aus dem Innern ihrer
Herzen trat ein gutes, tiefes Gefühl. Es verband sie, als ob sie beide
mit einem Mal verwandt und nahe wären, und etwas erfahren hatten, das
kein anderer außer ihnen wissen durfte, und das in ihren Seelen immer
als zarte, warme Erinnerung bleiben würde.

»Nun leben Sie wohl,« sprach Karssawina mit mädchenhafter Stimme.

Freude und Zärtlichkeit durchströmte Ssanins Gesicht.

Sie reichte ihm die Hand, doch alles kam so, daß sie sich plötzlich
einfach und warm wie Geschwister geküßt hatten. Als Ssanin fortging,
begleitete sie ihn bis an das Tor und sah ihm lange und nachdenklich
nach. Dann ging sie still in den Garten zurück und legte sich auf das
Gras, die Hände unter dem Kopf. Das verdörrende aber noch immer duftige
Gras knisterte um sie und sie starb fast ab, ohne Gedanken, ohne
Empfindungen, mit geschlossenen Augen. In ihr ging etwas Neues vor. Wenn
es geendet hatte, dann mußte sich wieder das alte fröhliche offne
Mädchen, vor der das Leben seine schönsten und glücklichsten Seiten
auftun wird, erheben.

Zähes Nachsinnen darüber, ob sie Jurii das Vorgefallene erzählen sollte
oder nicht, kam ihr in den Kopf und brachte neues Entsetzen und frische
Scham mit sich, aber sie sagte sich sofort: Ich werde nicht darüber
nachdenken, ... ich werde es nicht ... Alles mag von selbst kommen.

Und wieder verfiel sie in den Zustand schlaffer Erwartung.




                                   XL


Am darauffolgenden Tage stand Jurii erst sehr spät auf; er war in
gedrückter Stimmung, hatte schlechten Geschmack im Mund und feinen
bohrenden Schmerz in den Schläfen. Zuerst konnte er sich an nichts
erinnern, als an das Schreien und Gläsergeklirr, die blassen Feuerchen
und an die Morgendämmerung, die für die trunkenen, stumpf gewordenen
Augen sonderbar klar und durchsichtig war. Dann fiel ihm ein, wie sich
Schawrow und Pjotr Iliitsch von ihren Plätzen taumelnd erhoben hatten
und grunzend auf ihr Zimmer krochen, während er mit Iwanow, der nach dem
Wodka furchtbar blaß aussah, aber sich wie immer gerade hielt, noch
lange auf dem Balkon blieb.

Sie stritten sich; Iwanow bewies Jurii triumphierend, daß Leute seiner
Art zu nichts tauglich wären. Sie wagten nichts vom Leben, das doch ihr
freies Eigentum sei, zu nehmen; es wäre das Allerbeste, wenn sie ohne
jede Spur von der Bildfläche verschwänden. Mit unbegreiflicher
Schadenfreude wiederholte er fortgesetzt den Ausspruch Pjotr Iliitschs:
Solche Leute Menschen zu nennen, davor hüte ich mich. -- -- -- Dabei
lachte er jedesmal wild auf, als wollte er Jurii in seinem Lachen
ersäufen. Dieser fühlte sich eigentümlicherweise garnicht verletzt,
sondern hörte interessiert zu. Er ging überhaupt nur auf den Vorwurf
ein, daß seine Erlebnisse armselig seien, und behauptete dagegen, solche
Menschen wie er, führten im Gegenteil ein besonders feines und
kompliziertes Leben; schließlich aber gab er zu, es wäre tatsächlich
besser, wenn sie untergingen.

Juriis Stimmung quoll von unerträglicher Traurigkeit über; er wünschte
zu weinen und zu büßen. Beschämend kam es ihm ins Bewußtsein, daß es ihn
innerlich fast gedrängt hatte, Iwanow eine Beichte abzulegen. So
trottete er immer um die Episode mit Karssawina herum und hätte das
feine liebe Mädchen beinahe dem aufgeblasenen groben Kerl vor die Füße
geworfen. Doch Iwanow war viel zu betrunken, um irgend etwas zu bemerken
und Jurii wünschte jetzt nachträglich, glauben zu können, daß ihm seine
Niedergeschlagenheit tatsächlich nicht aufgefallen wäre.

Iwanow war zuletzt unter grundlosem Brüllen in den Hof gegangen;
überhaupt schienen mit einem Mal alle verschwunden zu sein. Es wurde um
Jurii ungemein leer; er blieb ganz allein zurück. Sein Gesichtskreis war
von trunkenen Nebeln begrenzt; vor ihm baumelte nur das schmutzige,
begossene Tischtuch, die grünen Schwänzchen der abgebissenen Radieschen,
Gläser mit Zigarettenstummeln und begossene Bieruntersätze.

Jurii saß mit gesenktem Kopf, schaukelte sich hin und her, und fühlte
sich als Mensch, der von der ganzen Welt verlassen ist.

Später kehrte Iwanow nochmals zurück und schleppte Ssanin mit sich, der
irgendwo gesteckt haben mochte.

Ssanin war liebenswürdig und voller Leben, nur blickte er Jurii etwas
eigentümlich bald überzärtlich, bald wieder zu spöttisch, an. Nun kam in
seiner Erinnerung ein weißer leerer Fleck und dann tauchte ein Boot, der
Fluß, milchrosige Luftfetzen, wie er sie noch nie zu Gesicht bekommen
hatte, vor ihm auf. Sie fuhren über kühlem durchsichtigem Wasser, gingen
über glatten Sand, der von der Sonne fast wie von unten durchleuchtet
wurde, ein scharfer Schmerz lief nebenher durch seinen Kopf,
zwischendurch packte ihn hin und wieder wütender Ekel.

-- -- -- Weiß der Teufel, wie widerwärtig das war, dachte Jurii. Grade
Trinken, das hat mir nur noch gefehlt. Doch nachdem er all diese
Erinnerungen, die, gleich Straßenschmutz an den Füßen, in ihm kleben
blieben, von sich abgestreift hatte, dachte er intensiv daran, was
vorher im Walde geschehen war.

In einem Augenblick stand dieser ungewöhnlich geheimnisvolle Wald vor
ihm, die tiefe bewegungslose Finsternis unter den Bäumen, das sonderbare
Licht des Mondes, der weiße kühle Körper des Mädchens, ihre geschlossene
Augen, der betäubende aufregende Geruch, das gierige Verlangen, das ihm
den Kopf bis zur Tollheit benahm.

Die Erinnerung durchlief seinen Körper mit schwerem, wollüstigen
Zittern. Irgend etwas stach anhaltend in seiner Schläfe und preßte sein
Herz zusammen. Voll überflüssiger Einzelheiten schienen daraus die
Bilder der Szene aufzusteigen, wie er das Mädchen, ohne daß ihn die
innere Erregung betäubend fortgerissen hätte, auf den Boden
niederdrückte; -- sie wehrte sich dagegen, stieß ihn zurück, riß sich
los, bis er schließlich einsah, daß er selbst gar nichts tun mochte,
nichts von ihr wollte; und dennoch warf er sich immer von neuem auf sie.

Jurii schauderte unter diesem Nachsinnen in allen Nerven; das Tageslicht
steigerte die Verachtung vor sich. Am liebsten hätte er sich ins Dunkel
verkrochen, sich in die Erde eingegraben, -- um seine Schande selbst
nicht zu sehen. Doch schon im nächsten Augenblick suchte er sich zu
überzeugen, daß all das nicht deshalb so häßlich verlief, weil er einen
mächtigen Trieb der Leidenschaft verunstaltet und herabgewürdigt hatte,
sondern weil er eine Minute lang nahe daran gewesen, eine Vereinigung
mit dem Mädchen gewaltsam erzwingen zu wollen.

Da drehte er mit furchtbarer, fast physischer Anstrengung, als wenn er
einen Menschen, der viel stärker ist, als er, überwinden müßte, sein
Gefühl einfach um. Und jetzt fand er seine Handlungsweise plötzlich in
dieser Form berechtigt und notwendig.

Doch eine neue, viel drückendere Frage schob sich jetzt ein ... Was ist
weiter zu tun? ...

Aus dem Chaos der verschiedensten Gedanken und Wünsche, kristallisierte
sich allmählich der eine: Alles zerreißen!

Sie hinnehmen und an ihr Freude haben! Doch sie dann wegwerfen, das kann
ich nicht ... ich bin nicht solch ein Mensch ... Fremde Leiden gehen mir
zu nahe, als daß ich andern welche zufügen könnte. Und sie heiraten? ...

Dieses Wort klang Jurii ungewöhnlich platt. Er, mit seiner besonderen,
ganz eigenartigen Veranlagung, die ewig an der Grenze großer Gedanken
und erhabener Schmerzen schwankte, kann sich nun einmal nicht ein
Philisterglück mit Frau, Kindern und Wirtschaft zurechtbauen. Er
errötete sogar bei dieser Vorstellung, als ob ihn schon die Annahme
eines solchen Ausweges verletzen müßte.

-- -- -- Also sie von sich stoßen, einfach fortgehen ...

Doch ihr Bild schien ihm jetzt, während es sich allmählich von ihm
entfernte, als das höchste Glück. Es glitt unwiederbringlich aus den
Händen; -- -- die Entsagung zerriß sein Herz. Hinter ihr schleiften
zuckende Sehnen und rissen sich mit bluttriefenden Fetzen ab. Um ihn
schwand das Licht, seine Seele hing leer und schwer; sein Körper selbst
erschlaffte.

Aber ich liebe sie ja, sagte sich Jurii mit dem letzten Aufwand
qualvoller Ratlosigkeit. Wie ist es denn möglich, daß ich selbst mein
eigenes Glück zerstöre. Unsinnig, widerwärtig wäre es doch. Aber was
denn? ... Heiraten? ...

Wieder von dem bloßen Gedanken wie vor den Kopf geschlagen, sank Jurii
von neuem in haltlose Trauer. Um nicht mehr weiter nachdenken zu müssen,
setzte er sich an den Tisch und nahm sich einige Blätter zum Lesen vor,
auf denen er im Tone des Prediger Salomo einige Aufzeichnungen gemacht
hatte:

»In der Welt gibt es nicht Gutes, nicht Böses.

So sagen die einen: Was das Natürliche ist, das sei auch gut und gerecht
sei der Mensch in seinen Wünschen.

Aber eitel Lüge ist das, denn alles ist natürlich, nichts wird aus Leere
und Finsternis geboren. Alles hat seinen Anfang.

So sagen die anderen: Das ist gut, was da von Gott kommt. Aber ebenso
ist das eitel Lüge, denn, wenn ein Gott ist, so kommt alles von ihm, und
so auch die Gotteslästerung.

So sagen die dritten: Das ist gut, was den Menschen Gutes bringt. Aber
gibt es denn solches? Was dem einen das Gute ist, das ist Böses dem
anderen. Dem Sklaven ist seine Freiheit gut, dem Herrn die Knechtschaft
des Sklaven. -- Dem Reichen die Erhaltung seiner Reichtümer, dem Armen
der Untergang des Reichen. -- Dem Ungeliebten, daß sie ihn lieb gewönne,
dem Glücklichen, daß sie alle Anderen verwerfe, außer ihm. -- Dem
Lebenden, er möge nicht sterben, dem Geborenen, daß da alle sterben und
lassen ihm freien Platz. Dem Menschen der Untergang der Tiere, den
Tieren der Untergang der Menschen. Und so ist alles, und so ist es von
Anfang bis an das Ende der Zeiten. Und niemand hat vor dem anderen ein
Vorrecht auf das Gute, das ihm allein das Gute ist.

Hier gilt es unter den Menschen als Wahrheit: Gutes und Liebes schaffen,
sei besser als Böses und Haß. Aber das ist verborgen. Denn so es eine
Vergeltung gibt, ist es den Menschen besser, Gutes zu schaffen und sich
selbst zu opfern, so es aber keine gibt, ist es besser, nach seinem Teil
auf der Erde zu streben.

Hier noch ein Beispiel für die Lüge, die da unter den Menschen lebt: Da
ist einer, der sein Leben, für die anderen hingibt. Und ihm wird gesagt:
Dein Geist wird dich überleben, weil er in den menschlichen Taten, wie
ein ewiger Same, verbleiben werde. Aber das ist Lüge, denn wir wissen,
daß in der Kette der Zeiten der Geist der Schöpfung in gleicher Weise
lebt wie der Geist der Zerstörung und es ist unbekannt, was einst
auferstehen und was zerfallen wird. Hier noch eins: Da denken die
Menschen daran, wie man nach ihnen leben wird, und sagen sich, daß es
gut sei, und daß ihre Kinder ihre Früchte ernten werden. Aber wir wissen
nicht, was nach uns sein wird, wir können uns kein Bild machen von den
Myriaden und Abermyriaden, die auf unseren Pfaden wandeln werden. Und
wir können sie nicht lieben oder hassen, wie wir nicht die lieben oder
hassen können, die vor uns waren. Das Band zwischen den Zeiten ist
zerrissen.

So wird gesagt: Machen wir die Menschen gleich vor der Quelle der Freude
und des Kummers und teilen wir allen nach gleichem Maße zu. Aber kein
Mensch kann Freude und Kummer, Schmerz und Genuß in größerem Maße
bekommen, als er sich selber schafft. Und wenn der Anteil der Menschen
nicht gleich ist, so, weil sie nicht gleich sind. Und so auch ihr Maß
gleich gemacht ist, werden ihre Herzen in Ewigkeit nicht gleich werden.

So spricht Hochmut: Große und Kleine gibt es.

Aber jeder Mensch ist Aufgang und Untergang, Gipfel und Abgrund, ein
Atom und eine Welt. Da wird gesagt: Groß ist die menschliche Vernunft.
Aber das ist Lüge, weil die Vernunft beschränkt ist. Und der Mensch
sieht weder seinen Wahnsinn noch seine Vernunft im unbeschränkten
Weltall, wo Vernunft und Wahnsinn zerfließen wie flüssige Luft.

Was weiß der Mensch? ...

Auch Adam wußte, wie er zu essen und zu trinken hätte und wie sich zu
kleiden nach seinem Bedürfnis und auch hat er seinen Samen erhalten. Und
wir wissen das Gleiche und werden unseren Samen in der Zukunft erhalten.
Aber Adam wußte nicht, was er tun solle, um nicht zu sterben und nicht
zu fürchten. Auch wir wissen es nicht. Viel Kenntnisse sind erfunden
worden, nur ist nicht erfunden Leben und Glück, um sie zu füllen.

Der Mensch hatte stets in allem, vom Haupt bis zu den Füßen das Ziel,
seinen Körper vom Tode zu retten. Und da sehen wir: Hat nicht durch
einen einfachen Stock Kain den Abel umgebracht und kann man denn nicht
mit dem gleichen Stock den Ersten der Menschen umbringen, der auf der
höchsten Stufe der Erkenntnis steht. Lebte denn nicht länger als alle
anderen Methusalem? Aber auch er starb. War nicht glücklicher als alle
Hiob? -- Aber auch ihn traf Gram. Und wird nicht ein jeder der Menschen,
der in seinem Leben solch gerüttelt Maß von Glück und Kummer erduldet
hat, wie es nur seine Schultern zu ertragen vermöchten, den gleichen Tod
sterben, wie ihn sein Urahn starb? ... Jetzt, wo die Menschen Götter der
Wissenschaft krönen, schreien und rühmen sie sich. -- -- -- Doch: Gleich
fressen alle die Würmer!«

Ein kaltes Gefühl kroch über Juriis Rücken und das Bild weißer Würmer,
die in einer dicken Schicht auf der ganzen Erde von einem Ende bis zum
andern wimmeln, durchrüttelte ihn. Doch das, was er geschrieben hatte,
kam ihm ungemein eindringlich und gewaltig vor.

Das ist ja alles richtig, hämmerte es in seinem Hirn und das stolze
Gefühl der Schöpferkraft vermischte sich mit einer breiten Welle Wehmut.
Er trat an das Fenster und blickte lange ziellos in den Garten, wo die
Wege unter einer Schicht gelber und roter Blätter bereits goldig wurden
und neu ersterbende Blätter, leise in der Luft kreisend, lautlos
herunterfielen. Tote rote Farben deckten sich auf alles, Blätter starben
ab ... Milliarden von Insekten, die nur von Licht und Wärme lebten,
starben ab ... alles starb ab im stillen ruhigen Schein des Tages.

Diese Ruhe war Jurii unbegreiflich und der stille Tod rief in seinem
Innern formlosen plumpen Haß hervor.

Hier ... krepiert alles ... und dabei strahlt es noch, als wenn es sich
an Zuckerbrot überfressen hätte, dachte er mit ausgesuchter Grobheit und
es drängte ihn, noch gröbere, härtere Worte auszudenken.

Viele Gedanken kamen; -- -- sie blieben in der Leere hängen und fielen
ihm kraftlos auf die Seele. Und eine Wut packte ihn bis an die
Haarwurzeln, daß er beinahe an ihr erstickte. -- -- --

Hinter dem Fenster dehnte sich der goldene Garten, hinter dem Garten zog
der Fluß den grünblauen herbstlichen Himmel in sich ein, hinter dem Fluß
liefen die von den Netzen der Sommerfäden versilberten Felder, hinter
den Feldern kam wieder ein Fluß; -- -- -- ein umgekehrter Wald auf
seinem Spiegel, dann Ufer, Eichen, schmale Wege ...

-- -- -- Ruhe. -- -- --

Dort geht einer still für sich.




                                  XLI


Der dem Trunke ergebene Kirchensänger Pjotr Iliitsch geht still für
sich.

Wenn der Herbst kommt und die Villenstadt leer und öde wird, wie ein
abgelegener Kirchhof vergangener Freuden, dann steigt in ihr
eigenartige, prächtige Schönheit auf: die feinen durchbrochenen
Gartengitter dringen wie Spitzenwerk durch Bäume und Büsche, roten
Girlanden gleich hängt der Hopfen von ihnen herab, durch die goldenen
Ornamente der entblätterten Aeste leuchten die spielzeugartigen
Sommervillen; auf den leeren Blumenbeeten stehen einsam geordnet rote
Astern, sinnen nach und nicken mit kühlen Köpfchen; Balkons und grüne
Bänke scheinen noch die Spuren des vergangenen fröhlichen, lärmvollen
Lebens zu tragen, nur von Freude, Kraft und Glück mag dieses Leben
erfüllt gewesen sein; es war ein ganz besonderes, schmuckes Leben. Die
verschlossenen Fenster und Türen heben die Stille noch mehr hervor, und
unwillkürlich schleicht sich der Glaube ein, daß sie es allein ist, die
Herbststille, die jetzt hier ihr rätselhaftes menschliches Leben führt.

Pjotr Iliitsch geht feierlich durch die verwahrlosten Wege und raschelt
mit seinem Stock in den abgefallenen gelben Blättern.

Wenn es hier voller Menschen, Lärm und Lust ist, dann kommt Pjotr
Iliitsch niemals hierher. Vielleicht fühlt er instinktiv, wie alt,
armselig unscheinbar er ist, und die Menschen mit ihrem Lachen und
fröhlichen Mienen stören ihn, auf das zu lauschen, was nur für ihn
vernehmbar klingt ...

Er geht an den Villen vorbei, setzt sich auf eine verlassene Bank und
schaut lange, lange vor sich hin, bis der jetzt erkaltete Himmel dunkel
wird; so empfindet er wohl das Wehen der Ewigkeit, die unsichtbar über
diesem Flecken menschlicher Lust und Freude schwebt.

Dann geht er unter den gravitätischen Eichen zum Flusse hinunter; er
schaut auf das verstummte Wasser. Dann legt er sich ins trockene Gras
und hört stundenlang mit dem Ohr an der Erde, ihrem lautlosen Gespräche
zu und atmet ihren ruhigen würzigen Odem ein.

Bis an die wildesten Plätze schlägt er sich durch, wo Fluß und Berg
zusammenstoßen und der Berg sich langsam in den Fluß hineinschiebt, als
ob er ihn erdrücken wollte; es war ihm nur noch nicht gelungen. Der Fluß
lachte über den Berg, erschauerte völlig unter seinem blauen, silbernen
Lachen; der Berg blieb düster, die Bäume rauschten. Manchmal drängten
sich riesige Eichen vom steilen Ufer ins Wasser herab und versenkten
ihre herunterhängenden Aeste in der rollenden lachenden Tiefe.

Wellen spielen im Flusse -- blau vom Himmel und grün von der Erde; es
scheint, daß jemand in fliegender Eile auf der Wasserfläche
unverständliche, geheimnisvolle Schriften schreibt. Schreibt sie und
verwischt sie, und schreibt eilig wieder und verwischt sie von neuem.

Was diese Schriften erzählen -- das kann niemand lesen, aber offenbar
dringen sie Pjotr Iliitsch, der sie stundenlang betrachtet, tief ins
Herz; still und ruhig machen sie ihn wie der verglimmende Abend des
menschlichen Lebens.

Wald, Fluß, Felder und Erde geben ihm etwas, was ihm sein versoffenes
armseliges Leben nicht zu geben vermochte, was aber seine Seele bis in
die tiefsten Winkel erfüllt. Und das Aussehen des alten Kirchensängers
ist bei solchen Streifzügen voll heimlicher Nachdenklichkeit und Würde.

Wenn er dann zurückkehrt und einem seiner wenigen Bekannten begegnet,
erzählt er ihm etwas mit feierlichen Mienen; er versucht mitzuteilen,
was er nicht mitteilen kann. Und immer wieder schließt er, ohne selbst
zu wissen, warum, mit dem gleichen Satz:

»Ja, im Winter ... s' ist dort herrlich! -- Ganz still. -- So, -- -- die
Schneeflöckchen schwanken in der Luft, -- fallen ... die Sänger singen!
...«

Eine Stimme steigt in die höchsten Höhen, sie löst sich in der Luft auf;
oh, man kann fühlen, daß es dieser Mensch trotz seiner Armseligkeit
wahrhaft versteht, auf ganz eigene Weise die tiefsten Feinheiten der
Lebensschönheit zu ergreifen. Wenn er einen Augenblick von Arbeit und
Sorge um das Stück Brot, von Wodka und Krankheit frei wird, dann füllt
er sein Leben so restlos schön aus, daß seine Seele glücklich ist.




                                  XLII


-- -- -- Herbst ... Schon Herbst ... Nun kommt der Winter, -- schnell
... Wieder wird es Frühling werden, Sommer, wieder Herbst ... Winter,
Frühling, Sommer ... Bis zum Ueberdruß der alte Gang! ... Und was werde
ich in dieser Zeit anfangen? Das gleiche, wie jetzt!

Jurii lächelte bitter.

Im besten Fall werde ich ganz verblödet sein, werde über nichts mehr
nachdenken! Und nachher kommt Alter und Tod!

Wieder zogen in endloser Reihenfolge Gedanken durch seinen Kopf: wie das
Leben an ihm vorbeischlich, und daß es eigentlich gar kein
hervorragendes Leben geben kann. Jedes Dasein, auch das der Größten
quillt von Langeweile über, hat seine trübseligen Perioden, in denen es
strichweis vorbereitet wird, in denen es zu freudlosem Ende kommt. Er
erinnerte sich, wie er gewartet hatte, daß sich endlich etwas Neues,
Umwälzendes ereignen würde und wie er alles, was er im Augenblick trieb,
nur als interimistisch ansah, während sich dieses Vorübergehen in
Wirklichkeit gleich einer Raupe auswuchs, neue und immer neue Ringe
ansetzte. Nunmehr ließ sich deutlich erkennen, daß ihr grauer Schwanz
dereinst im Alter und Tod verschwinden wird.

-- -- -- Heldentaten! Alles Heldentaten! -- -- -- Jurii preßte
todestraurig die Hände zusammen. -- Besser schon gleich zu enden und zu
verschwinden, ohne Furcht und Qual! Nur darin kann noch ein Wert des
Lebens liegen!

Tausende heroische Taten, eine grandioser als die andere, standen vor
ihm auf; doch aus jeder starrte ihm ein Totenkopf entgegen.

Jurii schloß die Augen und sah ganz deutlich den kläglichen Petersburger
Tagesanbruch, nasse Ziegelmauern, einen Galgen, der als farblose
Silhouette am bläßlichen Himmel klebte ...

Oder ein bestialisches Gesicht, ein Revolverlauf an der Schläfe,
Entsetzen, das gar nicht auszudenken sein scheint und das doch gedacht
werden muß, der Knall des Schusses gerade ins Gesicht ...

Oder die Nagaiken schlagen über Kopf und Rücken ... über den entblößten
Körper -- -- Auch damit würde ich rechnen müssen! -- Oder würde es mir
gleichgültig sein? -- -- --

Jurii ließ traurig die Hände fallen.

Die Heldentaten verblaßten, versanken und zerrannen im Nebel; an ihrer
Stelle lugte die spöttische Fratze eigener Ohnmacht hervor und des
klaren Bewußtseins, daß alle diese großartigen Träume nichts als
Spielereien seines Hirns sind.

-- -- -- Aus welchen Gründen soll ich meine Person in Schändung und Tod
führen, nur damit die Arbeiter des zweiunddreißigsten Jahrhunderts
keinen Mangel an Nahrung und Geschlechtsgenüssen leiden! Der Teufel möge
sie doch holen, alle Arbeiter und Nichtarbeiter der ganzen Welt! ...

Und wieder fühlte Jurii die Aufwallung seiner lächerlichen, völlig
gegenstandslosen Empörung. Der verzehrende Wunsch, etwas von sich
abzuwälzen, abzuschütteln, peitschte ihn auf. Aber unsichtbare Krallen
hielten ihn fest, und der kriechende Druck endgültiger Erschlaffung
schlich immer näher an Hirn und Herz heran und hüllte den lebendigen
Körper mit toter Gleichgültigkeit ein.

-- -- -- Wenn mich nur irgend jemand niederschlagen wollte ... dachte
Jurii schlaff, -- unerwartet, von hinten, damit ich meinen Tod nicht
bemerke. Pfui Teufel, was für Dummheiten mir in den Kopf kommen! Aber
weshalb denn ein Fremder und ich nicht selbst? Bin ich denn wirklich ein
solches Nichts, daß ich keine Kraft mehr finde, mir selbst das Leben zu
nehmen, wenn ich das klare Bewußtsein habe, daß Leben nur Qual bringt?
Früher oder später muß man sterben, ob man will oder nicht! Was ist das
für eine Art ... wie mit Pfennigen daran herumzurechnen.

Aber jetzt drückte sich Jurii in Gedanken bis zur Erde nieder und sah
sich selbst von oben herab mit verächtlichen Mienen und schmerzhaftem
Spott an:

-- -- -- Nein, warte nur, Bruder, das bringst du nicht fertig! Aufs
Grübeln verstehst du dich gut; sobald es aber zur Tat kommt ... Nein, --
brauchst dir nicht erst Mühe zu geben!

Eine leichte Kühle, neugierig und feige, drängte sich an Juriis Herz.

-- -- -- Vielleicht doch noch einmal probieren, wie? Nicht im Ernst --
so, zum Scherz! Nicht, um gleich ... sondern einfach so ... es wäre doch
immerhin interessant! Er sagte es sich, gleichsam, als müßte er sich vor
jemandem entschuldigen.

Im Augenblick, als er den Revolver aus dem Schubfach des Tisches nahm,
überkam ihn unsinnige Scham; der Gedanke, daß Dubowa, Schawrow, Ssanin
und an allererster Stelle Karssawina erfahren oder erraten könnten, was
für kindische Experimente er mit sich anstellt, erschreckte ihn.

Verstohlen wie ein Dieb steckte er die Waffe in die Tasche und ging auf
die Garten-Terrasse hinaus. Auf ihren Stufen lagen dürre, leichengelbe
Blätter. Jurii berührte sie mit den Stiefelspitzen, lauschte dem
schwachen Knistern und summte eine langgedehnte traurige Weise vor sich
hin.

Ljalja, die mit Buch und Schirm vom Garten ins Haus ging, hörte ihn.

»Was für eine Melodie,« fragte sie ihn. Sie war glücklich; sie war unten
am Fluß mit Rjäsanzew zusammengetroffen und kehrte frisch und bewegt von
seinen Küssen zurück. Niemand hinderte die beiden, sich, wo sie wollten,
zu sehen, aber im Geheimen, in der Leere und dem Schweigen des alten
Gartens lag das Eindringliche, wovon die Küsse krampfhafter wurden und
in Ljalja neue Wünsche erweckten.

»Als wenn du deine Jugend zu Grabe trägst!« fügte sie im Vorbeigehen
hinzu.

»Dummheiten!« erwiderte Jurii böse; von diesem Augenblick an fühlte er
das Nahen eines Schicksals, das stärker war als er selbst ...

Wie ein Tier in Todesnot begann Jurii vorwärts zu laufen und einen
Flecken für sich zu suchen. Im Hofe fand er ihn nicht; er mußte zum Fluß
hinunter gehen, wo gelbe Blätter mit glänzenden Sommerfäden schwammen.
Er warf einen dürren Zweig ins Wasser und schaute lange hin, wie über
die Oberfläche rasch schwache Kreise liefen und die schwimmenden Blätter
erzitterten. Dann schritt er wieder ins Haus, wo sich die letzten roten
Blumen einsam und schwermütig wie roter Trauerschmuck von den
zertretenen, vergilbten Beeten abhoben. Jurii stand hier eine Weile und
schlenderte dann wieder ohne Grund in die Mitte des Gartens.

Auch dort war alles im Verfall; die Zweige traten wie schwarze
Samtarabesken im goldenen Spitzennetz der Blätter hervor. Nur ein Baum
war noch grün -- die Eiche, die majestätisch ihre schönen Blätter trug.
Auf einer Bank hinter der Eiche saß der mächtige Kater mit rotem Fell
und wärmte sich an der Sonne.

Jurii streichelte traurig und zart den molligen Rücken und fühlte, daß
ihm Tränen in die Kehle stiegen.

-- -- Das ganze Leben verloren, das ganze Leben verloren ... wiederholte
er mechanisch Worte, die er selber sinnlos fand und die ihm dennoch mit
feiner Schneide tief ins Herz hineindrangen.

-- -- -- Aber das ist ja alles Unsinn! Ich habe noch mein ganzes Leben
vor mir ... Ich bin doch erst sechsundzwanzig Jahre alt! rief er in
Gedanken. Für eine Sekunde hatte er sich plötzlich von dem Nebel, wie
eine Fliege aus dem Spinnennetz, freigemacht.

-- -- -- Ach, es kommt ja gar nicht darauf an, ob ich sechsundzwanzig
bin, nicht darauf, ob das ganze Leben vor mir liegt ... Aber was ist
eigentlich der Kernpunkt. -- -- --

Plötzlich tauchte der Gedanke an Karssawina auf. Nach der widerwärtigen
Szene von gestern konnten sie unmöglich noch zusammentreffen, doch
ebenso undenkbar schien es ihm, sie nicht mehr zu sehen. Das war
unmöglich. Er stellte sich ihre erste Begegnung vor, Selbstverachtung
stieg betäubend in Kopf und Herz; von neuem schob sich der Gedanke, daß
da der Tod das Beste sei, automatisch vor.

Der Kater bog den Rücken und knurrte rührend, so wie wenn der Samowar
sein Lied zu summen beginnt. Jurii betrachtete ihn aufmerksam. Dann fing
er an, vor ihm auf- und abzugehen.

-- -- -- Vom Leben aufgefressen ... Langweilig, Elend -- -- Uebrigens,
ich weiß nicht mehr, was ... Aber lieber der Tod, als sie nochmals zu
sehen!

Nun schien sie für immer aus seinem Leben geschieden zu sein. Es war
einmal ein Augenblick ergreifender, wilder Bewegung gewesen, weiblicher
Nähe -- -- -- Jetzt ist sie fort und kommt nicht mehr zurück.

Vor Jurii stand plötzlich der blasse kalte Tag seines zukünftigen
Lebens; weder Licht noch Finsternis: leer, grau und schleichend,
schleichend! ...

-- -- -- Lieber Tod!

Mit schweren Schritten ging der Kutscher einen Eimer voll Wasser in der
Hand, an ihm vorbei. Auch im Eimer schwammen die toten gelben Blätter.

Das Hausmädchen trat auf die Steinstufen der Terrasse, die durch die
Zweige schimmerte, winkte Jurii und rief ihm etwas zu. Lange konnte er
nicht verstehen, um was es sich handelte. Die Verbindung zwischen ihm
und allem, was ihn umgab, begann zu reißen, sich aufzulösen. Mit jedem
Augenblick wurde er, von außen nicht merklich, allem ferner und ferner,
weil er sich von der ganzen Welt in die dunkle Tiefe seines einsamen
Wesens zurückzog.

»Ach so, gut ...« sagte er, als er endlich verstanden hatte, daß ihn das
Hausmädchen zu Tisch rufen soll.

-- -- -- Mittag essen? fragte er sich erschrocken. Mittag essen gehen!
Also, alles wird beim alten bleiben ... Wieder leben, wieder jammern,
wieder suchen, wie man die Geschichte mit Karssawina einrenken kann,
einsam sein, mit meinen Gedanken, mit allem? ... Es muß bald geschehen,
sonst ... zu Mittag essen gehen -- -- nachher habe ich keine Zeit mehr!

Eine eigentümliche Hast bemächtigte sich seiner, ein Zittern schüttelte
seinen ganzen Körper, drang fein durch alle Gelenke hindurch, in die
Brust, in die Arme, bis hinunter in die Füße. Dabei hatte er die
Ueberzeugung, daß es doch zu nichts kommen würde, daß eben alles nur so.
-- -- -- Gleichzeitig damit aber prägte sich die Enge des Alltags noch
schärfer aus und Töne des Entsetzens gellten in seinen Ohren. Das
Hausmädchen stand, die Hände unter der weißen Schürze, auf der Terrasse,
und ging nicht fort, sie wollte augenscheinlich noch ein paar Züge der
herbstlichen Gartenluft mit hineinnehmen.

Jurii trat verstohlen unter die Eichen, damit er nicht von der Terrasse
aus gesehen würde, und während er gleichzeitig auf das Stubenmädchen
sah, ob sie nichts bemerke, drückte er den Revolver sehr rasch und
unerwartet gegen die Brust ab. Versagt, -- -- -- schwirrte es im selben
Moment freudig durch seinen Kopf zusammen mit dem drängenden Verlangen,
zu leben und der Furcht vor dem Tode. Jetzt sah er aber gerade über
seinen Augen den Wipfel der Eiche, -- den blauen Himmel und den
rötlichen Kater, der mit ein paar Sätzen fortsprang.

Das Hausmädchen stürzte mit einem Schrei ins Haus und wie es Jurii
vorkam, befanden sich auch sofort eine Menge von Menschen neben ihm.
Jemand goß ihm kaltes Wasser auf den Kopf; auf seiner Stirn klebte ein
gelbes Blatt, das ihn furchtbar störte. Aufgeregte Stimmen ertönten um
ihn herum, jemand weinte und schrie:

»Jura, Jura, wozu ... wozu?« -- -- --

-- -- -- Da weint Ljalja, dachte er.

Im selben Augenblick öffnete er die Augen und begann in wilder
tierischer Verzweiflung um sich zu schlagen und zu schreien: »Einen
Arzt, ruft einen Arzt ... Schneller!«

Doch mit unglaublichem Entsetzen verstand er, daß alles zu Ende sei, und
nichts mehr helfen kann. Die Blätter, die auf seiner Stirn lagen, wurden
rasch schwer und drückten den Kopf zusammen. Jurii reckte den Hals, um
noch etwas hindurchsehen zu können, aber die Blätter wuchsen immer
schneller nach allen Richtungen und verdeckten alles.

Weiter verstand Jurii nichts mehr von dem, was in ihm vorging.




                                 XLIII


Wer Jurii Swaroschitsch gekannt und wer ihn nicht gekannt hatte, wer ihn
liebte und wer ihn mißachtete, auch solche Menschen, die nie zuvor an
ihn gedacht haben, -- sie alle bedauerten ihn jetzt, als er gestorben
war.

Niemand konnte begreifen, weshalb er sich das Leben genommen hatte, aber
doch war jeder überzeugt, daß er ihn verstände und im Grunde seine
Gedanken teile. Dieser Selbstmord machte einen wunderbaren Eindruck, er
schien schön und die Schönheit hatte Tränen, Blumen und prächtige Reden
zur Folge.

Bei der Beerdigung waren die nächsten Angehörigen nicht zugegen, weil
Juriis Vater einen Schlaganfall erlitten hatte, und Ljalja seitdem
keinen Augenblick von ihm wich.

Nur Rjäsanzew nahm teil; er leitete auch die Beisetzungszeremonie. Die
Vereinsamung Juriis schien dadurch noch im Tode besonders
hervorzutreten; sein Bild wuchs zu größerer Bedeutung, seine Person
wurde noch erhabener, so daß die Trauer der Teilnehmenden sich nur noch
mehr verstärkte.

Viele schöne herbstliche Blumen wurden ihm gebracht, und auf ihrer
farbenhellen Unterlage sah Juriis Gesicht, das jetzt keine Spur der
durchlebten Gedanken und Handlungen mehr trug, zum ersten Male beruhigt
aus.

Als der Sarg an der Wohnung von Dubowa und Karssawina vorbei kam, traten
beide aus dem Hause und schlossen sich dem Leichenzuge an. Karssawina
sah so hilflos gebrochen aus, wie ein junges Weib, das man zur Schändung
und Hinrichtung führt. Trotzdem sie wußte, daß Jurii alles, was sich
zwischen ihr und Ssanin abgespielt hatte, unbekannt geblieben war,
konnte sie sich nicht von dem Gedanken losreißen, daß zwischen seinem
Selbstmord und dem »Geschehenen« ein Zusammenhang bestände, der niemals
zu enträtseln sein wird. Sie nahm die schwere Last einer geheimen Schuld
auf sich; sie fühlte sich als das unglücklichste Geschöpf in der ganzen
Welt. Die ganze Nacht hindurch hatte sie geweint, das Bild des Toten
umarmt und geliebkost, und, als sie am Morgen aufstand, floß sie in
unaussprechlicher Liebe zu Swaroschitsch und Haß gegen Ssanin über.

Wie ein Alpdruck erschien ihr die zufällige Annäherung an ihn; aber noch
abscheulicher dann der folgende Tag. Alles, was Ssanin zu ihr gesprochen
und was sie ihm instinktiv geglaubt hatte, machte jetzt auf sie einen
geradezu infamen Eindruck; sie war in einen so tiefen Abgrund
geschleudert worden, daß es für sie keine Rückkehr mehr gab. Als Ssanin
an sie herantrat, sah sie ihn mit einem Blick voll Entsetzen und
Widerwillen an und wandte sich momentan ab.

Die eisige Berührung ihrer starren Finger in seiner Hand, die er zu
einem festen freundlichen Druck ausgestreckt hatte, sagten ihm alles,
was sie empfand und dachte; er verstand, daß er für sie von nun an stets
ein Fremder bleiben wird. Sein Gesicht zuckte zusammen, er überlegte
eine Weile, dann schloß er sich Iwanow an, der nachdenklich hinter allen
mit seinen wehmütig herabhängenden gelben Haaren einherging.

»Höre nur, wie sich Pjotr Iliitsch ehrlich anstrengt,« meinte Ssanin.

Weit voran, hinter dem schwankenden Deckel des Sarges, ertönten die
hohen Noten des Trauergesanges, der Baß von Pjotr Iliitsch zitterte
deutlich und schwermütig durch die Luft und verklang über den anderen
Stimmen.

»Das Ganze ist einfach zum Staunen,« sagte Iwanow. »Im Grunde war doch
dieser Mensch nur eine Kaulquabbe und doch ... sieh mal an!«

»Ich bin überzeugt, mein Lieber,« erwiderte ihm Ssanin, »daß er drei
Sekunden vor dem Schuß noch nicht gewußt hatte, daß er losknallen wird.
Genau so wie er gelebt, so ist er auch gestorben!«

»Das ist 'ne Sache ... Aber, -- seinen Platz hat er schließlich doch
gefunden.« Iwanow gab einem Gedanken Ausdruck, der allen anderen
unverständlich war. Fast freute es ihn, weil er offenbar etwas
aufgegriffen hatte, was ihm allein begreiflich blieb und nur ihn allein
beruhigen konnte.

Auf dem Kirchhof war schon voll der Herbst gekommen; die Bäume standen
da, wie von rotem und goldigem Regen begossen. Nur an einzelnen Stellen
lugte noch grünes Gras unter der Schicht abgefallener Blätter hervor;
auf den Wegen waren die Blätter vom Wind in dichte Haufen
zusammengefegt, so daß gelbe Bäche über den ganzen Kirchhof zu fließen
schienen. Weiß schimmerten die Kreuze, in weichem Schwarz und Grau
standen Marmordenkmäler und goldig funkelten die Spitzen der Gitter. Den
Herzen gab sich die unsichtbare aber trauervolle Gegenwart eines fremden
Wesens kund, als wäre soeben erst, bevor die vielen Menschen kamen,
welche die Ruhe verscheuchten, eine schwermütige Gestalt durch die
Alleen gegangen, hätte an den Gräbern gesessen und ohne Tränen und
Hoffnungen still für sich getrauert.

Die schwarze Erde hatte Jurii verschlungen und schloß sich wieder; um
die Gruft drängten noch lange Menschen, spähten mit banger fragender
Neugierde in die Finsternis ihres Schicksals und sangen ernste
Klagelieder.

In dem furchtbaren Augenblick, als der Deckel des Sarges aus dem
Gesichtsfeld verschwand und sich für immer ewige Erde zwischen den
Lebenden und dem Toten ausbreitete, schluchzte Karssawina gellend auf,
und die hohe weibliche Stimme erhob sich im Weinen hoch über den stillen
Kirchhof und den in Gram und Unruhe verstummten Menschen.

Karssawina nahm nicht mehr darauf Bedacht, daß die Leute ihr Geheimnis
erraten könnten. Und es errieten auch alle. Aber das Grauen des Todes,
der das Band zwischen dem in die Erde Gesenkten und dem weinenden jungen
Mädchen, die ihm ihr ganzes Leben, ihre Jugend, ihre Schönheit geben
wollte, zerschnitt, war so offensichtlich, daß niemand mit einem
heimlichen Gedanken die unverhüllte Frauenseele zu verletzen wagte.

Nur noch tiefer senkten sich voll unbewußter Achtung und voller Mitleid
die Köpfe.

Karssawina wurde fortgeführt, und ihr Schluchzen, das allmählich in ein
stilles hoffnungsloses Wimmern übergegangen war, verhallte in der Ferne.
Ueber der Gruft wuchs ein länglicher grüner Hügel auf, der unheimlich an
den unter ihm verborgenen Körper erinnerte. Schnell überdeckte man ihn
mit einer grünen Tanne, deren Zweige noch seine Seiten umschlossen.

Da geriet Schawrow in Eile. --

»Herrschaften, jetzt muß eine Rede kommen, ... Herrschaften, so geht es
doch nicht, wie?« sprach er geschäftig und doch in auffallend klagendem
Tone, bald zu einem, bald zum anderen.

»Bitten Sie doch Ssanin,« schlug Iwanow hinterlistig vor.

Schawrow sah ihn erstaunt an, aber Iwanows Gesicht sah so treuherzig und
offen aus, daß er ihm glaubte.

»Ssanin, Ssanin ... wo ist Ssanin, Herrschaften?« er eilte und spähte
mit seinen kurzsichtigen Blicken nach allen Seiten umher.

»Ah! Wladimir Petrowitsch ... reden Sie ein paar Worte ... so geht es
doch nicht!«

»Reden Sie selbst, wenn Sie Lust haben,« gab Ssanin verärgert zur
Antwort, während er noch immer der verstummten Stimme Karssawinas
nachlauschte. Er fühlte diese hohe, selbst im Weinen schöne Stimme noch
immer in der Luft schweben.

»Wenn ich reden könnte, würde ich es gewiß tun ... Er war doch im Grunde
genommen ein ganz bedeutender Mensch! -- -- -- Nun, ich bitte Sie ...
nur einige Worte!«

Ssanin sah ihm gerade ins Gesicht und rief ärgerlich: »Was ist hier viel
zu reden? Die Welt ist um einen Dummkopf ärmer geworden, das ist alles!«

Seine scharfen lauten Worte schlugen mit überraschender Kraft und
Deutlichkeit durch. Im ersten Augenblick standen alle wie erstarrt, doch
ehe noch der größte Teil von ihnen zu einem Entschluß gekommen waren, ob
man die Worte gehört haben sollte oder nicht, rief Dubowa mit
zerrissener Stimme: »Das war niederträchtig gemein!«

»Warum?« Ssanin drehte den Kopf und zuckte die Achseln.

Dubowa wollte noch etwas erwidern, doch einige Mädchen umringten sie.
Alles kam in Bewegung. Unsichere, aber empörte Stimmen ertönten, rote
aufgeregte Gesichter tauchten auf, und als ob ein Windzug in einen
Haufen dürrer Blätter geschlagen hätte, so stieb die ganze Gesellschaft
am Grabe auseinander. Schawrow war ebenfalls weggelaufen, kam aber
wieder zurück. In einem getrennten Haufen gestikulierte Rjäsanzew in
voller Empörung.

Ssanin bemerkte oberflächlich ein entrüstetes Gesicht mit Brille, das
auf unbekannte Weise dicht unter seine Nase geraten war, sich aber
völlig schweigsam verhielt, und wandte sich Iwanow zu.

Iwanow war verwirrt. Als er Schawrow gegen Ssanin aufhetzte, ahnte er,
daß es zu einem Zwischenfall kommen würde, doch diese Erregung hatte er
nicht vorausgesehen. Einerseits entzückte ihn das Ganze durch seine
Schärfe, doch aber hatte er das unsichere Gefühl, sich in einer
unbequemen Situation zu befinden.

Er wußte nicht, wie er sich jetzt äußern sollte und blickte daher
unbestimmt über die Kreuze hinweg auf das weite Feld.

Schon längere Zeit hatte ein Gymnasiast vor seinen Augen gestanden, ohne
daß er ihn bis dahin bemerkte; plötzlich wurde er wütend. Eine Minute
lang blickte er dem Gymnasiasten mit kalten Augen gerade ins Gesicht.

»Wozu stehen Sie hier herum, -- -- vielleicht als Schmuck?«

Der Gymnasiast errötete: »Sehr witzig!« antwortete er schließlich.

»Um den Witz handelt es sich nicht, sondern ... scheeren Sie sich
gefälligst zum Teufel!«

In den Augen Iwanows zeigte sich so viel Wut, daß der Gymnasiast blaß
wurde und unschlüssig auf die Seite trat.

Ssanin sah mit schwachem Lächeln zu. Dann machte er eine wegwerfende
Handbewegung.

»Dummes Viehzeug!« meinte er mit aufrichtiger Trauer, den
Auseinandergehenden nachblickend.

Sogleich fühlte sich Iwanow beschämt, daß er über irgend etwas
unschlüssig sein konnte; seine Züge beruhigten sich, er steckte seinen
Stock hinter sich in den Boden, um sich darauf zu stützen und sagte:

»Laß sie zum Teufel gehen! Ziehen auch wir von dannen!«

»Schön, meinetwegen ...«

Sie gingen an Rjäsanzew vorbei, der sie feindselig anblickte, und dem
Häuflein, das sich um ihn drängte, und schritten dem Ausgang zu. Aber
schon von weitem merkte Ssanin eine Gruppe ihm wenig bekannter junger
Leute, die sich wie eine Hammelherde mit den Köpfen nach innen
aneinanderdrückten. In der Mitte stand Schawrow und sprach unter
hastigen Bewegungen auf sie ein, verstummte aber, sobald er Ssanin
erblickte. Alle Gesichter wandten sich diesem zu und auf allen lag ein
eigentümlicher Ausdruck: eine Mischung edler Entrüstung, feuriger
Empörung, kindischer Schüchternheit und naiver Neugierde.

»Da werden gegen dich Ränke geschmiedet,« sagte Iwanow.

Ssanin wurde plötzlich finster, so daß selbst Iwanow erstaunte, als er
den Ausdruck seines Gesichts erblickte. Als sich Schawrow von der Menge
der Studenten und jungen Mädchen mit teils erschreckten, teils
entzückten rosigen Gesichtern trennte und rot wie eine Rübe, die
kurzsichtigen Augen zusammengekniffen, auf Ssanin zuschritt, erwartete
ihn dieser in einer Haltung, wie wenn er jeden, der sich ihm näherte,
niederschlagen wollte.

Schawrow schien es zu erwarten, denn er wurde blaß und blieb etwas
entfernter, als nötig, vor Ssanin stehen. Die Studenten und die Mädchen
drängten ihm, wie eine kleine Herde hinter dem Bock, nach.

»Wünschen Sie noch etwas?« fragte Ssanin nicht laut.

»Wir? -- -- -- Nichts,« meinte Schawrow verwirrt. »Nur, -- -- -- wir
möchten Ihnen im Namen unserer ganzen Gruppe Genossen unsere
Unzufriedenheit und ...«

»Daran liegt mir sehr wenig, an Ihrer Unzufriedenheit,« stieß Ssanin
durch die zusammengepreßten Zähne mit Mienen, die nichts Gutes
verkündeten, hervor. »Sie haben mich gebeten, ich möchte über den
verstorbenen Swaroschitsch etwas sagen, und weil ich das sagte, was ich
für richtig halte, erklären Sie mir Ihre Unzufriedenheit. Meinetwegen
... Wenn Ihr nicht sentimentale dumme Jungen wäret, würde ich Euch
auseinandersetzen, daß ich recht habe, daß Swaroschitsch in der Tat wie
ein Dummkopf gelebt hat, sich mit Nichtigkeiten abquälte und den Tod
eines Narren gestorben ist, aber ihr ... ich habe mit euch ja einfach
eures Stumpfsinns, eurer Dummheit wegen nichts zu tun. Schert euch doch
alle zum Teufel! Pack ich euch an? ... Weg!«

Und Ssanin ging, indem er die Menge, welche ihm den Weg verlegte,
durchschritt, ohne umzuschauen, vorwärts.

»Stoßen Sie nicht!« protestierte Schawrow, rot, fast heulend, mit einer
Stimme, die wie Hahnenkrähen klang.

»Das ist geradezu empörend!« begann jemand, brach aber gleich wieder ab.

Ssanin und Iwanow traten auf die Straße hinaus; beide schwiegen eine
ganze Weile.

»Weshalb erbitterst du die Menschen so?« sagte endlich Iwanow. »Demnach
mußt du als ein ganz bösartiges Geschöpf bezeichnet werden.«

»Wenn es mit dir so ginge, wie mit mir, daß dir dein ganzes Leben lang
diese freiheitsliebenden jungen Menschen ohne Unterbrechung vor die Füße
laufen,« antwortete er ernst, »so hättest du sie noch ganz anders
angefaßt! ... Uebrigens, hol sie der Teufel!«

»Na, rege dich nicht auf, Freund!« sagte Iwanow halb im Scherz, halb
ernst, »weißt du was: wollen wir mal etwas Bier holen gehen und dann des
nun verstorbenen Knecht Gottes Jurii Nikolajewitsch gedenken ... wie?«

»Schön, meinetwegen ...« willigte Ssanin gleichgültig ein.

»Bis wir wiederkommen werden die andern schon fort sein,« fuhr Iwanow
lebhaft fort, »da werden wir gerade über dem Grabe für sein Heil trinken
können ... so, dem Toten als Ehrung und uns zum Vergnügen.«

»Meinetwegen.«

Als sie wieder auf den Kirchhof kamen, war kein Mensch mehr da. Die
Kreuze und Denkmäler standen wie in Erwartung und drückten bewegungslos
auf den gelbgewordenen Boden. Kein Lebewesen war zu sehen und zu hören;
nur eine glitschige schwarze Schlange glitt rasch über den Pfad und
rauschte im abgefallenen Laub.

»Ah, du Biest!« rief Iwanow und schrak zusammen; vergebens schlug er mit
dem Stock hinterher.

Am frischen Grab Juriis, wo es nach aufgerissener kalter Erde, nach
verfaulten alten Blättern und der grünen Tanne roch, stapelten sie im
Gras einen Haufen schwerer Bierflaschen auf.




                                  XLIV


»Weißt du was?« sagte Ssanin, als sie eine Stunde später auf die dunkle
Straße hinaustraten.

»Was denn?«

»Begleite mich zum Bahnhof, ich will von hier fort.«

Iwanow blieb stehen.

»Warum?«

»Mir wird es hier zu langweilig.«

»Hast wohl Angst gekriegt?«

»Nicht im geringsten. Möchte einfach weg von hier, weiter nichts.«

»Wozu denn das?«

»Mein Freund, stelle nicht erst dumme Fragen. Ich will, das ist alles
... Solange man die Menschen nicht kennt, glaubt man immer, sie würden
einem doch noch etwas geben ... Es waren hier ein paar interessante
Leute. Karssawina kam mir neu vor, Semionow war noch am Leben, Lyda
hätte vielleicht einen anderen Weg gehen können ... Jetzt aber ist es
langweilig. Alle fallen mir auf die Nerven. Genügt dir diese Erklärung
nicht? Verstehst du, ich habe diese Leute solange es nur ging, ertragen;
-- -- -- länger kann ich's nicht.«

Iwanow schaute ihn lange an.

»Nun schön, gehn wir also,« sagte er, »du nimmst doch noch von deiner
Familie Abschied, ja?«

»Ah, zum Teufel mit ihnen! Die sind mir am meisten über!«

»Aber deine Sachen mußt du doch mitnehmen?«

»Ich habe nur sehr wenig ... Geh du durch den Garten und ich laufe in
mein Zimmer und reiche dir dann den Koffer zum Fenster raus. Sonst sehen
sie's, hängen sich mit Fragen an mich an, und was soll ich denn sagen,
was trösten könnte?«

»So--o!« Iwanow senkte für eine Minute den Blick und schlug verächtlich
mit der Hand durch die Luft. »Für mich ist es recht traurig ... aber was
liegt daran!«

»Fahre doch mit!«

»Wohin?«

»Das ist ja ganz egal. Das werden wir schon später merken.«

»Ich habe kein Geld.«

»Ich ebenso wenig!« lachte Ssanin.

»Nein, fahr schon allein ... Am fünfzehnten fängt meine Schule an. So
bleibt schon alles im alten Geleise!«

Ssanin schwieg und schaute Iwanow gerade in die Augen, und ebenso gerade
blickte ihn Iwanow an. Doch mit einem Mal wurde es diesem peinlich
zumute, er zog sich zusammen, als wenn ein Spiegel sein Gesicht als
tierische Fratze zurückgeworfen hätte.

Ssanin wandte sich ab.

Sie gingen durch den Hof.

Ssanin trat in das Haus, Iwanow bog in den abendlichen Garten ein, wo
ihn der Schatten des späten Herbstes und der Duft stiller Verwesung
traurig umschloß. Ueber Gras und Büsche, begleitet vom Rauschen der
Blätter und Aechzen der Zweige, kam er zum Fenster von Ssanins Zimmer.
Es war offen und dunkel.

Ssanin war inzwischen durch den Saal gegangen; an der Balkontür, von wo
er bekannte Stimmen hörte, blieb er stehen.

»Was willst du also von mir?« klang die Stimme Lydas zu ihm herüber; er
war von ihrem matten, gequälten Ton überrascht.

»Nichts will ich,« erwiderte Nowikow, seine Stimme hörte sich offenbar
gegen seinen Willen, mürrisch und verdrießlich an, »es kommt mir nur
komisch vor, daß du die Sache so ansiehst, als wenn du mir ein Opfer
bringst. Ich wollte doch ...«

»Schön,« brach es aus Lyda heraus. Die kristallenen Töne naher Tränen
drangen unerwartet durch die Stille der Abenddämmerung: »Nicht ich ...
du bringst mir also das Opfer ... du! Ich weiß es! Was willst du also
noch hören?«

Nowikow gab einen verwirrten und ratlosen »Hm«-Laut von sich; man konnte
aber herausmerken, daß er sich Mühe gab, seine Ratlosigkeit zu
verbergen.

»Wie wenig scheinst du mich zu verstehen! Ich liebe dich, und daher kann
von einem Opfer keine Rede sein ... Aber wenn du selbst unser
Zusammensein als ein Opfer von einem von uns beiden ansiehst, welch ein
Leben soll dann für uns werden?«

Nowikows Stimme wurde fester und sicherer, fast froher, als hätte er
jetzt das Wichtigste herausgefunden und wäre glücklich, Lyda überzeugen
zu können.

»Du mußt es begreifen ... Wir können nur unter einer Bedingung
zusammenleben: daß an kein Opfer, weder von deiner, noch von meiner
Seite zu denken ist ... Eins von beiden: entweder wir lieben uns, und
dann ist unsere Zusammengehörigkeit vernünftig und naturgemäß, oder wir
lieben uns nicht, und dann ...«

Lyda schluchzte plötzlich auf.

»Was weinst du!« fragte Nowikow erstaunt und erregt. »Ich verstehe dich
nicht! Ich glaube, -- -- ich kann doch nichts Verletzendes gesagt haben
... Höre doch auf! Ich hatte uns beide ganz gleich im Auge ... Aber das
ist doch zum Teufel! Was weinst du eigentlich! ... Man darf sich kein
Wort erlauben --«

»Ich weiß nicht ... ich weiß nicht ...« Die gedrückte, bemitleidenswerte
Stimme Lydas klang unsagbar traurig, voll unfaßbarer, ohnmächtiger
Klage.

Ssanin machte eine verdrossene Miene und ging in sein Zimmer.

-- -- -- Nun, Lyda ist wohl auch fertig! dachte er. Am Ende hätte sie
besser getan, wenn sie damals ins Wasser gegangen wäre -- -- aber
vielleicht kommt sie trotz allem noch in die Höhe ... Man kann es nie
voraussehen!

Iwanow hörte hinter dem Fenster Ssanin etwas eilig zusammensuchen; dann
raschelte er mit Papier und ließ etwas fallen.

»Bist du bald fertig?« fragte er ungeduldig. Es war ihm langweilig und
bedrückend, in der blassen Dämmerung des Herbstabends unter dem
finsteren Fenster zu stehen, hinter sich den dunklen geheimnisvollen
Garten. Das Rauschen erinnerte ihn an seinen Traum.

»Sofort,« antwortete Ssanin so dicht am Fenster, daß Iwanow
zusammenfuhr. Die Finsternis im Fenster geriet in Schwanken; dann hob
sich von ihr der Handkoffer und das weiße Gesicht Ssanins ab.

»Halt fest!«

»Nun, gehn wir los!«

Sie schritten schnell durch den Garten.

Blasse Dämmerung und der feine kalte Geruch der abgekühlten Erde lag um
ihnen. Die Bäume standen schon ziemlich kahl; alles machte einen
ungeheuer leeren geräumigen Eindruck. Hinter dem Fluß erlosch allmählich
die Abendröte, und das Wasser erglänzte einsam, vergessen und verlassen
hinter dem Garten, der mit einem Mal ebenfalls für niemanden mehr von
Interesse schien.

Als sie zum Bahnhof kamen, brannten schon Signalfeuer auf den unzähligen
schwarzen Gleispaaren, und die Lokomotive eines abfahrtbereiten Zuges
keuchte gleichmäßig und schwer. Menschen liefen umher, klappten mit den
Türen, riefen einander an und schimpften mit herben, gehässigen Stimmen,
gleichsam, als wären alle in trauriger Stimmung und suchten das unter
der Maske der Gehässigkeit zu verbergen. Ein dunkler Haufen ratloser
Bauern mit Bündeln beladen, drängte sich auf dem Bahnsteig.

Im Wartesaal tranken sich Ssanin und Iwanow noch einmal zu.

»Nun, Glück auf die Reise!« wünschte Iwanow traurig.

»Ich habe immer gleiches Glück, Freund,« lächelte Ssanin. »Ich verlange
nichts vom Schicksal, ich erwarte auch nichts von ihm. Und das Ziel der
Reise ist doch niemals glücklich. Alter und Tod, weiter bleibt nichts!
...«

Sie gingen zusammen auf den Bahnsteig und blieben vor dem Waggon stehen:
»Na, Lebewohl!«

»Lebewohl!«

Es war beiden unerwartet, daß sie sich küßten.

Knirschend und zischend setzte sich der Zug in Bewegung.

»Ach, Bruder, wie lieb, wie lieb du mir geworden bist!« rief plötzlich
Iwanow Ssanin zu. »Der einzige wahre Mensch bist du für mich!«

»Und du bist der einzige, der mich gern hat,« Ssanin lächelte, er sprang
auf das Trittbrett eines vorbeirollenden Wagens.

»Abgefahren!« rief er lustig. »Lebewohl!«

»Lebewohl!«

Schnell eilten die Wagen an Iwanow vorbei, als ob sie sich plötzlich
verabredet hätten, von ihm fortzulaufen. In der Dunkelheit huschte die
rote Laterne vorbei und strahlte lange, noch lange rot im Finstern, so
daß sie sich garnicht zu entfernen schien.

Iwanow sah dem Zug nach; er fühlte sich traurig und niedergeschlagen.
Unmutig schlenderte er durch die Straßen der Stadt und schaute auf die
armseligen, kleinlichen Lichter.

-- -- -- Sich bis zu Ende durchsaufen, was? fragte er sich, und das
blasse, dürre Gespenst eines farb- und klanglosen Lebens trat mit ihm
ins Wirtshaus ein.




                                  XLV


In der Dunkelheit und Enge erstickten die Wagenlaternen, und zwischen
schwankenden, rußigen Schatten und trüben Flecken Lichts krümmten sich
zerknüllte müde Menschen.

Ssanin setzte sich neben drei Bauern.

Als er eintrat, unterhielten sie sich, und einer von ihnen, in der
Dunkelheit kaum sichtbar, fragte gerade:

»Also meinst du, mit dem Land kommt nichts heraus?«

»Kann auch nichts herauskommen,« antwortete mit hoher gebrochener Stimme
ein alter zottiger Bauer, der neben Ssanin saß. »Die Gutsbesitzer haben
ihr Eigenes im Auge, unsertwegen wollen sie nicht zum Teufel gehen. Da
kann man erzählen, soviel man will; wenn es einem an den Leib geht, so
wird am Ende der das Blut austrinken, der stärker ist!«

»Aber warum braucht ihr so lange zu warten?« fragte Ssanin, der sofort
verstanden hatte, um was sich das gierige, ekelhaft eintönige Gespräch
drehte.

Der Alte wandte sich zu ihm und schlug die Arme auseinander.

»Was sollen wir tun? ...«

Ssanin stand auf und ging auf einen andern Platz. Er kannte diese
Menschen zur Genüge, die wie Tiere lebten und dabei weder selbst
zugrunde gehen, noch andere vernichten konnten. Sie lebten immer das
viehische Leben fort in trüber Hoffnung auf ein Wunder, das niemals
kommen wird und in dessen Erwartung Millionen ihresgleichen bereits
gestorben sind.

Die Nacht verging. Alle schliefen und nur ein Kleinbürger im langen Rock
zankte sich erbittert mit seiner Frau, die ängstlich schwieg und allein
ihre erschrockenen Augen krampfhaft bewegte.

»Warte nur, du Aas, ich werde dir das noch beibringen!« zischte der Mann
wie eine mit dem Fuß getretene Schlange.

Ssanin war schon eingeschlummert, als das leise Aechzen der Frau ihn aus
dem Schlafe weckte. Der Kleinbürger zog rasch seine Hand zurück, doch
Ssanin konnte noch bemerken, daß er die eine Brust der Frau um seine
Finger drehte.

»Na, Brüderchen, du bist ein Biest!« schrie er zornig.

Der Kleinbürger blieb erschrocken stumm und blickte ihn nur mit kleinen
bösen Augen an.

Ssanin sah voll Ekel auf ihn hin, dann trat er auf die Plattform hinaus.
Als er durch den Wagen ging, sah er eine Menge Menschen, die in dichtem
Gedränge fast übereinander lagen. Bei dem blassen bläulichen Licht des
kommenden Morgens, das durch die Fenster des Wagens eindrang, schienen
ihre Gesichter wie tot, und nüchterne, traurige Schatten, die über sie
glitten, gaben ihnen einen ohnmächtigen leidenden Ausdruck.

Auf der Plattform atmete Ssanin mit vollen Zügen die frische Morgenluft
ein.

»Ein widerwärtiges Ding ist doch der Mensch!« dachte er weniger, als daß
er es mit seinem ganzen Körper fühlte. Und plötzlich brach in ihm das
Verlangen durch, sich sofort, wenn auch nur für eine Zeit, von allen
diesen Menschen, vom Zuge, von der stickigen Luft, vom Rauch und
Gerassel freizumachen.

Die Morgenröte stieg schon deutlich am Horizont auf. Die letzten
Schatten der Nacht verliefen, blaß und krank, spurlos in der blauen
Finsternis, die sich weit in der Steppe auflöste.

Ohne sich lange zu besinnen, trat er auf das Trittbrett des Wagens, ließ
seinen Koffer im Stich und sprang auf den Boden herab.

Mit Fauchen und Rasseln sauste der Zug neben ihm vorbei; der Boden glitt
unter seinen Füßen hin, und er fiel auf den nassen Sand der Böschung.
Die rote hintere Laterne war schon weit, als er sich erhob. Er lächelte
sich selber zu.

»Auch das ist schön!« rief er laut und stieß einen freien, gellen Schrei
aus.

Weit und geräumig war es um ihn her. Das Gras, noch immer grün, breitete
sich in einem endlosen, ebenen Feld nach allen Seiten aus und versank
erst hinten in den fernen Morgennebeln.

Leicht atmete Ssanin auf und schaute mit frohen Augen in die unendliche
Weite der Erde, als er mit großen, kräftigen Schritten in den lichten,
freudigen Schein der Morgenröte hineinwanderte. Und als die erwachte
Steppe in der grünen und blauen Ferne aufzuleuchten begann und vor
seinen Augen die ungeheure Himmelswölbung auf sich lud, als gerade vor
ihm die Sonne aufging, blitzend und funkensprühend, da schien es Ssanin,
daß er ihrem Lichte entgegenschreite.


                  In Kürze erscheint im gleichen Verlage:

                              M. Artzibaschew


                                 Millionen
                            und andere Novellen

                             Ein starker Band

                       Geh. Mk. 4.--, geb. Mk. 5.50

   Tritt in Ssanin die Tendenz des Buches etwas zu sehr in den
   Vordergrund, so haben wir es hier in diesem Novellenbande mit
   novellistischen Meisterwerken zu tun, die Artzibaschew in die
   erste Reihe russischer Erzähler stellen.


                            Anna Croissant-Rust


                              Winkelquartett

                    Eine komische Kleinstadtgeschichte

                       Geh. Mk. 4.--, geb. Mk. 5.--

   _Gabriele Reuter_ schreibt über das Buch in einem 7spaltigen
   Feuilleton der Neuen Freien Presse in Wien vom 26. September 1908
   unter dem Titel:

                        _»Eine moderne Humoristin«_

   unter anderem:

   »Zu diesen Lebenshumoristen mit der großen, freien menschlichen
   Seele und dem Mut zu jeder Entdeckung hat sich nun doch eine Frau
   gesellt. Trotz aller gegenteiligen Theorieen, welche ihr die
   Existenz eigentlich verbieten, hat sie sich hingesetzt und ein
   Buch geschrieben, das zu den wenigen, wirklich guten
   humoristischen Romanen der Jetztzeit gehört. Die Frau heißt Anna
   Croissant-Rust und ihr Buch ist das Winkelquartett. »Anna
   Croissant-Rust?« fragt manch ein Leser zögernd, »kenne ich den
   Namen? Erinnere mich nicht -- wird wohl ein Erstlingswerk sein.«
   Verzeihung -- nein! Ein solches Buch schreibt man nicht, wenn man
   jung ist, schreibt man nicht als Erstlingswerk. Dazu ist diese
   Menschenschilderung viel zu reif, dazu ist die künstlerische Luft
   viel zu klar und herbe, trotz aller blitzenden Sonnenlichter, die
   in Stil und Darstellungsart hin und wieder spiegeln. So
   souverain gelassen sieht man die Welt nur in ersten
   Septembertagen, wenn die schwülen Sommergewitter vorübergerauscht
   sind und alle Bäume fruchtbeladen winken. -- -- (Nun folgt eine
   eingehende Analyse des Inhalts, voll größter Bewunderung über das
   Buch und zum Schluß fährt Gabriele Reuter fort): Das
   Winkelquartett ist eine so durch und durch originelle Schöpfung,
   daß es betrübend für das Urteil des Publikums wäre, wenn sie
   nicht die ihr gebührende Beachtung fände.«


                      Im gleichen Verlage erschienen:

                           Otto Julius Bierbaum


                               Prinz Kuckuck

        Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings

                            In einem Zeitroman

          3 Bde geh. Mk. 15.--, geb. Mk. 18.--, Luxusausgabe Mk.
                                  30.--.

   Fritz Engel im »Berliner Tageblatt«:

   »Ein strotzendes Buch, aus dem das Leben wie in tausend Lichtern
   ins Auge des Beschauers zurückfällt. Der beste Erziehungsroman
   der letztjährigen Literatur und hocherhaben über alle die Götz
   Kraffts, die nun durch die Leihbibliotheken spuken. Ein
   Zeitroman, in dem sich der gehetzte, zwischen Totem und Werdendem
   hin und her gerissene Charakter der Gegenwart spiegelt ... So
   sage ich noch einmal: ein starkes, männliches, ernstes Buch,
   trotz aller Schelmereien. Reif wie es ist, möge es nicht in
   unreife Hände fallen. Es gehört in die Hände der Erzieher. Nicht
   in die der Mucker, die unreif bleiben selbst mit grauen Haaren.
   Sie würden an Bierbaum ein Ketzergericht vollziehen wollen, weil
   er auf gewisse Entartungen der Zeit mit ruhiger Sachlichkeit und
   -- nebenbei bemerkt -- mit stupender Darstellungskunst hinweist.«


                           Weitere Urteile über


                               Prinz Kuckuck

   Leonhard Adelt in der »Neuen Hamburger Zeitung«:

   »... Alles aber wird weit in den Schatten gestellt durch den
   einleitenden Abschnitt von der Mutter, der schon im Stil eine
   Novelle für sich bildet -- eine Meisternovelle, graziös, mokant,
   geistreich, schillernd und sprühend, ein Stück Welt, gesehen
   durch eine originelle, dichterische Natur, in einem köstlichen,
   geschliffenen und verzierten Spiegel.«

   Fritz Droop in der »Dortmunder Zeitung«:

   »... Es ist ein _reifes kraftvolles Buch_, das nicht zuletzt dem
   Berufserzieher eine Fülle von Anregungen und manche ernste Lehre
   gibt ... Wer die wahren Schäden unserer Zeit kennt und sich
   nicht fürchtet, dieses zu bekennen, der wird Bierbaums neuen
   Roman mit _noch größerer Freude begrüßen wie einst den Stilpe_.
   Lest dieses Buch!«

   Dr. Ludwig Finckh in den »Propyläen«:

   »... Seid stille: Stilpe, der alte Stilpe, hat den Mund wieder
   aufgetan. _Das ist ein Ereignis in Deutschland_, denn wir haben
   alle seit Jahren eine _Lustanwandlung und Sehnsucht danach_
   gehabt, ihn wieder zu begrüßen. Der junge Stilpe heißt Prinz
   Kuckuck, seine Geschichte ist nicht bloß die eines einzelnen
   Menschen, sondern die einer ganzen Zeit mit ihren Ansätzen,
   Ausläufern und Entwicklungen ... Eins ist gewiß, _keiner
   handhabt heute in Deutschland den galanten Roman so in aller
   Grazie wie Bierbaum_; es ist sein wahres Element und er ist
   unübertroffen. Ein Buch voll Freude am schönen, am
   abenteuerlichen, lebendigen Leben, darin das Blut rauscht hin und
   her und seine Gefäße oft zu sprengen droht.«


               »Als Ausströmung einer reichen Seele, als
               Dokument von Johannes Schlafs innerer
               Persönlichkeit ist dieser Roman
               ein ungewöhnliches und
               großenteils stark fesselndes Buch.«

                                                (Kunstwart).

             Willi Rath urteilt so an der Spitze einer langen
                             Besprechung über

                              Johannes Schlaf


                                 Der Prinz

                           Roman in zwei Bänden

                  Broschiert 8.-- Mk., gebunden 10.-- Mk.

   und ähnlich und noch mehr anerkennend eine Reihe von maßgebenden
   Schriftstellern, z. B.

   Professor Dr. Ludwig Geiger in »Die Zeit«:

   »Ich erkläre es für das tüchtige Buch eines Denkers. Eines
   Denkers mehr als eines Dichters. Denn wenn auch der Dichter in
   einzelnen Episoden (Naturschilderungen, Liebesszenen) das Wort
   führt -- auch der Humorist macht sich geltend in der Zeichnung
   eines kleinen Krämers aus Halle und der Figur eines Sonderlings,
   Traugott Taube, eines bemoosten Hauptes, der Zahnarzt werden
   will, der in allerlei Schrullen verfällt -- das Hauptwort hat
   der Denker ... Das Werk ist gedankenreich, voll trefflicher
   Episoden, bietet eine ausgezeichnete Entwicklungsgeschichte,
   lebensvolle Zeichnungen von Menschen und Gegenden ...

   Gegenüber den zahlreichen widerwärtigen und unerfreulichen
   Erscheinungen der modernen Romanliteratur ein erfreuliches Buch,
   das man nicht als Lesefutter bezeichnen, sondern als ein
   literarisches Werk anzusprechen und einzuordnen hat.«


                                Rudolf Huch


                           Die beiden Ritterhelm

                                   Roman

                   Geheftet Mk. 4.--, gebunden Mk. 5.--

   In einer umfangreichen Kritik schreibt Willy Rath in der
   Täglichen Rundschau:

   »Die beiden Ritterhelm« sind ein sehr ernstes und doch heiter
   anmutendes Buch, ein Werk schönster Reife. Zwei, eigentlich drei
   Sprossen einer Patrizierfamilie werden mit kundiger Liebe und
   zugleich mit gelassener Sachlichkeit dargestellt ... In der
   Darstellung selbst und ebenso zwischen Darstellung und Stoff
   herrscht eine undurchbrochene Einheit, als sei das Ganze
   mühelos in einem Zuge heruntergeschrieben. Und der Einheit
   gesellt sich eine außerordentliche Feinheit, die in diskretester
   Form sehr bedeutsame psychologische und gesellschaftkritische
   Ausblicke eröffnet. »Die beiden Ritterhelm« -- so darf prophezeit
   werden -- gehören im literarischen Heute zu dem wenigen, das
   bleiben wird.


                  Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt


                     Anmerkungen zur Transkription

In den Materialien zum Verbot des Buches (Seiten VII-LXX) wird
wiederholt auf Seiten im Vorwort des Übersetzers (Seiten LXXI-LXXVIII)
verwiesen. Diese Verweise beziehen sich auf die Seitenzahlen in den
Ausgaben vor dem Verbot, in denen sich das Vorwort auf den Seiten
VII-XIV fand. Zu den entsprechenden Seitenangaben müssen also in der
vorliegenden Ausgabe 64 hinzugezählt werden.

In der Druckvorlage auf Seite 54 war die Zeile »Jurii verfolgte ihn mit
glänzenden Augen; er« mit der Zeile »Jurii konnte sich noch immer nicht
diesen« auf Seite 62 vertauscht. Außerdem war die Zeile »spazieren
gegangen, hatte immer dieselben herrlichen« auf Seite 401 an das Ende
des vorhergehenden Absatzes verschoben.

In Kapitel XVIII setzt Ssanin Lyda auf eine »Hecke«, was unlogisch
erscheint. Die richtige Übersetzung für den entsprechenden Ausdruck im
russischen Original wäre aber »Flechtzaun« oder einfach »Zaun«. Dies
wurde hier dennoch beibehalten wie in der Buchvorlage.

Häufig fehlende Fragezeichen wurden nach Abgleich mit dem russischen
Original ergänzt.

Andere offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Die
variierende Transliteration häufig vorkommender russischer Personennamen
wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Formen in Klammern):

   Anatoli (Anatol, Anatole)
   Jurii (Juri)
   Kusma (Kußma)
   Pjotr (Peter)
   Schawrow (Schaffrow)

Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme des russischen
Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 44]:
   ... er spuckte drauf, warf sie beiseite und schlief sofort ...
   ... er spuckte drauf, warf es beiseite und schlief sofort ...

   [S. 236]:
   ... ich; wir werden beide auf diese Frage keine bestimmte ...
   ... ich, wir werden beide auf diese Frage keine bestimmte ...

   [S. 279]:
   ... »Dann widersprechen Sie sich,« verschluckerte ...
   ... »Dann widersprechen Sie sich,« verschluckte ...

   [S. 283]:
   ... auf sein stehengebliebenes Denken. An die Existenz ...
   ... auf sein stehengebliebenes Denken. Die Existenz ...

   [S. 319]:
   ... Sehr bald löste es sich in Zorn aus. Wenn ...
   ... Sehr bald löste es sich in Zorn auf. Wenn ...






End of the Project Gutenberg EBook of Sanin, by Michail Arzybaschew

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1.F.

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works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
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violates the law of the state applicable to this agreement, the
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including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org

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