Reise zur deutschen Front, 1915

By Ludwig Ganghofer

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Title: Reise zu deutschen Front

Author: Ludwig Ganghofer

Release Date: February 18, 2014 [EBook #44961]

Language: German


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                              Kriegsbücher




                               Reise zur
                            deutschen Front
                                  1915


                               Reise zur
                            deutschen Front
                                  1915

                                 =von=

                                 Ludwig
                               Ganghofer

                             [Illustration]

                                 =1915=
                   Verlag Ullstein & Co Berlin / Wien

                         150. bis 200. Tausend

      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
        Amerikanisches Copyright 1915 by Ullstein & Co, Berlin.




                                   1.


                                                        12. Januar 1915.

Ich soll das Gesicht dieser großen Zeit mit eigenen Augen sehen. Die
Erwartung brennt in mir wie ein Höhenfeuer.

Gleich am ersten Abend der Reise, in Frankfurt, faßt mich ein starker
Eindruck. Hier sieht der mächtige Bahnhof aus wie eine Festungshalle.
Ein von Westen kommender Zug schüttet ein paar hundert Offiziere
und Mannschaften aus. Meist sind es Leichtverwundete. Ein junger,
bildhübscher Offizier, den geschienten, dick verbundenen Arm in
der Schlinge, den Waffenrock umgehängt, macht sich vor dem Zug ein
bißchen Bewegung und raucht dazu mit Behagen seine Zigarette. Ein
Schwerverwundeter wird auf einem Wägelchen rasch vorübergefahren.
Ich sehe ein abgezehrtes Leidensgesicht mit sehnsuchtsvollen Augen.
Das Gezitter und Gewackel des Wägelchens, auf dem der Brave an mir
vorbeigefahren wird, scheint ihm schwere Schmerzen zu verursachen.
Ich höre sein leises, ein bißchen unwilliges »Ach!«. Dann dreht er
langsam das Gesicht auf die andere Seite und schließt die Augen. Das
Wägelchen verschwindet im Gewühl der Feldgrauen. Sehr viele von ihnen,
Offiziere und Mannschaften, tragen das Eiserne Kreuz. Alle tragen es mit
sichtlichem Stolz, jeder scheint sich still innerlich zu freuen, wenn
es gesehen wird und einen dankbaren Blick erweckt. Ja! Dankbar müssen
wir jedem sein, der dieses Zeichen der deutschen Ehre trägt. Und daß wir
der Ausgezeichneten so viele sehen, das muß uns freudig stimmen, muß uns
Vertrauen und Ruhe geben. Ein Heer von Helden! Wer, außer Gott, könnte
uns besser schützen?

Neben den Verwundeten sind viele, die nur heimkehren, um irgendeinen
militärischen Auftrag auszuführen. Ihr Auftreten ist ernst und würdig,
ihr Schritt rasch und beschwingt. Überaus wohltuend ist die Fürsorge,
die man diese Offiziere den Mannschaften erweisen sieht. Wenn da ein
Soldat steht, der etwas ratlos herumsieht und nicht weiß, was er
beginnen soll, ist gleich ein Offizier bei ihm und fragt: »Was ist
mit Ihnen, woher kommen Sie, wohin wollen Sie, haben Sie einen guten
Platz?« Jedes Anliegen findet Hilfe. Ich sehe einen Offizier, der den
Arm um einen blassen, müd und schwerfällig vorwärts tappenden Soldaten
geschlungen hält und den Schaffner des Schlafwagens anruft: »Haben Sie
noch Platz? Der Mann muß ein Bett haben.« Die Antwort: »Alles besetzt!«
Und der Offizier sagt: »Dann geben Sie dem Mann mein Bett, er muß
liegen, muß schlafen können, ich komme schon irgendwo unter.« --

Früh, vor Tageserwachen, geht die Reise weiter. Ich bin der einzige
Zivilist in dieser endlos scheinenden Wagenkette. Das zu wissen, ist
unerquicklich. Die Zeit ist so, daß man als Nicht-Soldat immer in
Versuchung gerät, sich seines bürgerlichen Rockes zu schämen. Außer
mir und vielen hundert Soldaten ist nur noch ein junges Mädel im Zuge.
Wahrhaftig, ich bin in großer Sorge um ihr Schicksal. Sie selbst ist
vergnügt und plaudert lebhaft. Ihr Kupee ist überfüllt, und ein halbes
Dutzend der Feldgrauen steht noch lachend um die Türe herum. Das mindert
die Gefahr.

Der Morgen beginnt zu grauen, während der Zug aus der mächtigen
Frankfurter Bahnhofshalle hinausrollt. Gleich vielen großen
Morgensternen hängen die hochmastigen Streckenlampen in der stahlblauen
Luft. Die Häuser gleiten vorüber, mit Hunderten von erleuchteten
Fenstern. Am Morgen hat ein erleuchtetes Fenster etwas Widersinniges;
bei seinem Anblick hat man unwillkürlich das Gefühl: es ist nicht
Morgen, es will Abend werden. Mir rinnt es bei diesem Gedanken heiß
durch Seele und Knochen. Nein! In Deutschland geht es nicht einem Abend
und nicht der Nacht entgegen; ein Morgen wird kommen, schöner als jeder
Morgen, den das deutsche Volk noch jemals erlebte.

Ein Dröhnen und Rauschen. Der Zug gleitet über die eiserne Brücke,
und gleich einem wundervollen Silberband, das die Ferne mit der Nähe
verknüpft, so glänzt der Mainstrom ins erwachende Land hinaus.

Immer wieder übersetzt der Zug eine Straße und immer seh' ich das
gleiche Bild: bei den Schlagbäumen stehen lange Züge von Soldaten,
die auf ihrem Wege zum Exerzierplatz einige Minuten aufgehalten sind.
Millionenheere stehen draußen im Kampfe, und noch immer wimmelt die
ganze Heimat von Feldgrauen. Überall Soldaten, Soldaten, Soldaten! Und
jeder von ihnen hat ein gesundes deutsches Herz und zwei kraftvolle
Fäuste, jeder von ihnen ist ein Vertrauender, ein Lachender! --
Deutschland! Nur die Törichten und Engherzigen können in Sorge geraten
um deine Zukunft.

Heller und heller wird der Morgen. Kleine Städte mit lieblichen
Silhouetten huschen vorüber und Dörfer, in denen schon die Arbeit des
Tages beginnt. Von außen klingt keine Stimme herein in den rauschenden
Zug; aber man sieht eine ruhige Heiterkeit in allen Gesichtern.

Gut gepflegte Wälder wechseln mit sauber abgeernteten Fluren, auf
denen der milde Winter das Grün schon daumenhoch wachsen ließ. Dann
wieder die braunen Spitzdächer zwischen großen Obstgärten, in denen
die regelmäßigen Reihen der Apfelbäume mit den kalkweiß angestrichenen
Stämmen aussehen wie Nymphenburger Tafelaufsätze.

In der Nähe und in der Ferne mehren sich die hoch emporgestreckten
Schornsteine der Industriestätten. So viele sind es, daß man glauben
könnte, Gott hätte soeben durch diesen erwachenden Morgen vom Himmel
herunter gerufen: »Fleißiges Volk der Deutschen, wo bist du?« Und
unzählige riesige Steinfinger fuhren in die Höhe: »Da bin ich!«

Unter dunstigen Schleiern schwingen sich drei mächtige Bogen über blaue
Lufträume hinüber: eine Rheinbrücke!

Rhein!

Tausend deutsche Lieder klingen aus diesem Worte, tausend Bilder der
Vergangenheit tauchen herauf aus der schimmernden Tiefe dieser einen
Silbe. Von allen Zukunftsbildern, die sich mit dem Rhein verweben, seh'
ich nur immer dieses Eine mit dem ewigen Eigenschaftsworte: =Deutsch=!

Der Morgen ist klar geworden, mit einem weißen Himmel, aus dem wie ein
winkender Feuerfinger das Mondviertel herausbrennt. Mit hell erwachenden
Farben wellt sich die Umgebung von Mainz in die Ferne, eine reizende,
liebenswürdig gegliederte Landschaft.

Jetzt fahr' ich über die drei hohen Eisenbogen, die ich vor einer Weile
gesehen. Wie eine wohlhabende und ordnungsliebende Hausfrau vor einem
befreundeten Gast ihre Laden und Truhen öffnet, so kramt eine große,
fleißige deutsche Stadt ihre Straßen, Gassen und Häuserfluchten vor mir
aus.

Der Zug taucht in den langen Tunnel hinein, der die alten Festungswerke
durchschneidet. Die Finsternis endet, strahlendes Licht, wieder das
weite Städtebild und in den Straßen die Menschen, von denen noch keiner
einen Geißelschlag des tobenden Krieges zu fühlen bekam. Jeder fühlte
nur den Segen der friedlichen Ruhe im Herzen des Deutschen Reiches.

Nebel kämpfen, langgestreckte Wolkenzüge umwürgen die Weinberge und
die Waldhöhen, und unter den Dunstfahnen des Himmels mischen sich die
langen, braunen Rauchwimpel der Fabrikskamine.

Jetzt ein entzückendes Bild! Die über weite Flurstrecken hinreichenden
Krautgärten der Mainzer Vorstadt sind überflattert von einem weißen
Möwengewimmel. Dahinter glänzt die lange Silberborte des Rheines mit
gleitenden Schiffen in allen Farben.

Ein kleines friedliches Dorf. Viele Frauen und Kinder. Alle lachen und
rufen, alle winken mit weißen Tüchern -- aus den Fenstern meines Zuges
gucken wohl viele, viele Soldatengesichter heraus? Immer aufs neue
wiederholt sich dieses Bild der grüßenden Frauen, Mädchen und Kinder,
das Bild dieser weißen Flattergrüße. Mir gelten sie nicht. Ich bin ein
Überflüssiger, ein Nutzloser, ein Altgewordener ohne Waffe in der Faust!

Nun fliegt an mir ein seltsames Bild vorüber, dessen Symbolik mich
tief ergreift: Ein großes umzäuntes Flurgeviert, durchsetzt mit
regelmäßigen Reihen kleiner, weiß bemalter Kreuze. Ein Friedhof?
Eine Gräberstätte? Ein Garten des Todes? Nein! Es ist ein junger
deutscher Weingarten mit sprossenden Reben, dessen blattlose, dem nahen
Frühling entgegendürstende Ranken sich emporstrecken über die weißen,
kreuzförmigen Stützen.

Jetzt geht ein köstliches Funkeln und goldenes Erblitzen über alle Höhen
und Tiefen der schönen deutschen Erde hin.

Du friedsames, du verheißungsreiches, du sonnbeglänztes Land des
heimatlichen Bodens! Alle Kräfte meiner Seele grüßen und lieben dich!
Komm und nimm, was ich habe, komm und nimm, was ich bin! Dir will ich
dienen, mein ganzes Leben soll nichts anderes sein als ein geduldiges
Mich-Einfügen in dein Wachsen und Erblühen, nichts anderes als ein
Samenkorn auf dem Acker deiner werdenden Größe! --

Meine Augen trinken das Bild der friedlichen Landschaft. Schwärme von
Wildenten rinnen auf den Altwässern und Kanälen des Rheines umher. Vor
Bingen sieht man die Bogen einer neuen Brücke entstehen, die eben gebaut
wird. Welch ein Gegensatz: der Gedanke an den Krieg, den wir führen --
und das erhebende Bild dieses deutschen Friedensfleißes!

Der rauschende Zug lenkt gegen Südwesten ab, und die Weinberge und das
Silberband des Rheines gleiten von mir zurück. Scharf hebt sich noch
der zierliche Umriß einer alten Burg vom sonnigen Himmel ab und fängt
zu wandern an und verschwindet. Auf Wiedersehen, du deutscher Rhein, du
flutende, rauschende Lebensader des Deutschtums!

Die Fahrt geht durch ein enges Flußtal. Auf der einen Seite die
Hügelkette mit den Weinbergen, deren Stabgewirre anzusehen ist wie
ein endloser Zug von Lanzenreitern, die sich hinter braunen Erdwällen
verbergen und nur die Spitzen ihrer Speere gewahren lassen; auf der
anderen Seite der mit Dörfern und Städtchen besetzte und mit alten
Steinbrücken überspannte Fluß, den die Regenmassen der letzten Wochen
braun und reißend gemacht haben. Alle paar hundert Schritte stehen
Fischer mit Angelstöcken oder Tauchnetzen, und Buben rennen mit
Netztrichtern an langen Stangen. Alle sind sehr vergnügt. Die denken im
sicheren Frieden ihrer Heimat wohl gar nicht an den Krieg, den irgendwo
da draußen oder da hinten die Völker miteinander führen.

Das enge Tal weitet sich zu schönen Geländen, durchblitzt von
Wasserläufen, überwölbt von einem leuchtenden Himmel. Die Welt sieht
aus, als möchte der Frühling um drei Monate früher kommen als sonst.
Jeder Windhauch trägt mir den Wohlgeruch der bräutlichen Erde entgegen,
auf allen sonnseitigen Hängen wuchert das frische Grün -- es fehlen in
diesem verfrühten Frühlingsbilde nur die Schwärme der Wandervögel.
Aber fliegt da nicht der lange feldgraue Wanderzug, in dessen Mitte ich
selber mitflattere als brauner Kuckuck? Der Frühling des Deutschtums hat
Wandervögel in unzählbarer Menge.

Die Nähe von Metz verrät sich. Jeder Tunnel, jede Brücke, jede
Wegübersetzung ist militärisch bewacht. In den Bahnhöfen, in denen Züge
sich kreuzen, tauchen Soldaten auf, die aussehen, als hätten sie am
Morgen noch in den lehmigen, von Regensumpf erfüllten Schützengräben
gelegen. Stiefel, Uniform und Mantel, alles ist erdfarben, und bei
manchem dieser Tapferen ist das Band des Eisernen Kreuzes anzusehen, als
wär's eine österreichische Auszeichnung: schwarz-gelb.

An der Bahnstrecke tauchen französische Namen auf: Remilly, Courcelles.
Hier sieht man zuweilen an den Mauern frisch getünchte Stellen. Da
standen französische Aufschriften, die man jetzt überstrich und durch
deutsche Klänge ersetzte. Sehr erfreulich ist das! Ein Glück, daß man
es endlich lernt, aller unpraktischen Duldung zu vergessen und dieses
Inlands-Französische in gutes Deutsch zu verwandeln! Mit der hübschen
Landschaft werden sich die deutschen Klänge ganz gut vertragen. Wälder
und Fluren, wenn auch augenblicklich ein bißchen überschwemmt, haben
jene Linie, die das deutsche Wesen und Volkstum ihnen gab vor vielen
Jahrhunderten. Das bißchen französische Herrschaft inzwischen war nur,
was der Österreicher ein »Übergangl« nennt.

In einer Station mit französischem Namen guckt aus einem Fenster ein
uniformierter Mann heraus, mit französischem Schnurrbart und mit einer
spiegelblanken Glatze, die noch viel französischer ist. Seine Frau
grüßt mit der Hand nach romanischer Art, so, wie die Italiener auf
den Bahnhöfen winken, mit Handflächen und Fingerspitzen nach vorne.
Frankreich scheint nimmer weit zu sein. Aber wo ist der Krieg? Ich sehe
nur Bilder des Friedens und der ungestörten Ruhe, sehe nur lachende
Gesichter.

Entlang der Bahnstrecke taucht ab und zu eine soldatische Wache auf.
Der Zug biegt um eine Waldecke, und plötzlich sieht man einen großen
Häusersee mit turmloser Kathedrale. Die deutsche Festung Metz! Aber
man sieht nur eine Stadt. Wo ist die Festung? Ich kann sie nicht
finden. Im Bahnhof gleicht das Umsteigen von Zug zu Zug einem Sturm
auf ein feindliches Fort. Kein Mittagessen, nicht so viel Zeit, um eine
Schinkensemmel zu erwischen. Der Gedanke an unsere braven Soldaten,
die unter dem Kugelregen tage- und nächtelang hungern müssen, macht
mich geduldig und zufrieden. Auf einem Gepäckskarren werden vier hübsch
gearbeitete Särge herbeigefahren. Sie kommen leer und werden beschwert
in die Heimat zurückwandern.

Der Zug fährt nordwärts durch reiche deutsche Industriebezirke, immer
entlang der französischen Grenze, die sich hinzieht über dunkle
Waldhügel. Hinter ihnen, gegen Westen, wallt es von dichten Nebeln, die
den Mittagshimmel immer trüber umschleiern. Ein feiner Regen beginnt zu
fallen und kleidet allen Wechsel der Landschaft in ein ruhiges Feldgrau.

Aus einem großen Hüttenwerke leuchten rotstrahlende Glutaugen heraus.
Sind es Essenfeuer oder glühende Eisenblöcke? Was immer, es sind
strahlende Augen des deutschen Fleißes. Trotz allem Lärm des Zuges
vernehme ich das Dröhnen mächtiger Stahlhämmer. Und aus hohen
Schornsteinen wirbelt Rauch in drei Farben empor: tiefschwarz, nebelweiß
und zinnoberrot. Eine Riesenfahne in deutschen Farben! Das war wohl
immer so, seit vielen Jahren ruheloser Arbeit. So oft die Franzosen von
den nahen Grenzbergen herunterguckten, mußten sie dieses wallende Banner
der deutschen Rührsamkeit gewahren.

Die Bahn macht eine Kurve und wendet sich gegen Westen. Es geht nach
Frankreich hinein. Ein heißer Schauer rinnt mir durch die deutsche
Seele, über die Haut, durch alle Glieder. Meine fiebernden Gedanken
fliegen zurück über die Wege, auf denen ich von München hierher gekommen
bin. Wo war der Krieg? Ich habe nur das blühende Leben der Heimat
gesehen, sah nur unverwüstete Fluren, nur unbeschädigte Häuser, aus
deren Fenstern die Ruhe eines verläßlich behüteten Glückes herausredete.
Ich sah die tausend Zeugen unseres schöpferischen Fleißes, sah Jugend
und männliche Kraft in unermeßbarer Fülle, sah Frauen und Mädchen mit
frohen, gläubigen Augen, sah unbedrohten Besitz und sicheres Eigentum,
sah alle Güter und Segnungen eines von eisernen Kräften beschützten
Landes, und habe bis zur Stunde nur gesehen und empfunden, was Friede
heißt, und was es für ein Volk bedeutet: so kraftvoll zu sein, daß es
auch in kriegerischen Zeiten jeden kostbaren Wert des Friedens für sich
erzwingen kann auf dem heiligen Boden, den es bewohnt!

Ein suchender Blick durch die grauen Schleier des trüb gewordenen Tages.
Und mir fährt ein Schreck in das Herz, so kalt wie Eis, und wieder so
brennend wie der Stoß eines glühenden Dolches.

Zwischen kahlen Höhen ein wogender Qualm. Neben dem Gleise liegt der
wüste Trümmerhaufen eines zerschossenen Bahnwärterhäuschens, aus dessen
wirrem Schutt noch die Reste von Dingen und Geräten hervorlugen, die
einst einem freundlichen Leben dienten. Und hinter den zurückweichenden
Hügeln taucht etwas Grauenvolles heraus, hinaufgestellt auf eine weithin
sichtbare Höhe, wie eine Warnung, eine Mahnung und ein Wegweiser für
alles deutsche Denken der Gegenwart.

Lautlos und dennoch begabt mit einer schreienden Stimme, verlassen von
allem Leben, ein steingewordenes Sterben, so steht dieses Fürchterliche
da droben. Zerbrochene Mauern sind von Ruß geschwärzt, alle Fenster
sind aus den Höhlen gerissen, nur manchmal hängen noch in grotesker
Verrenkung die Reste von grün bemalten Läden an dem zerschmetterten
Gemäuer. Kein Dach mehr. Alles, was Holz war, ist verbrannt, verkohlt.
Kaminschächte, Giebel und aberwitzige Ruinenformen starren in die
graue Regenluft empor wie Hunderte von verkrüppelten Riesenhänden mit
gespreizten und zerkrümmten Steinfingern. Überall die Spuren eines
wilden, gewaltigen und verzweifelten Kampfes, überall Tod, Vernichtung
und Zerstörung, überall der hohläugige Schauder des Untergangs.

Was ich da sehe, war einmal ein französisches Städtchen, war
Audun-le-Roman.

Mir zittern bei diesem Anblick alle Nerven. Das Grauen dieser
Todesstätte befällt mich mit doppelter Macht nach allen ruhigen und
fröhlichen Friedensbildern, die ich auf der Fahrt durch unsere Heimat
immer und überall gesehen. Wie etwas grausam Quälendes ist in mir der
Schrei: »So hätte es kommen können bei =uns=, so hätte von schwer zu
schützenden Grenzmarken, die das Schaudervolle erleben mußten, der
Untergang und jeder Todesschreck auf Vernichtungswegen sich hineinwühlen
können bis ins innerste Herz unseres Landes, alles verwüstend und alles
erwürgend!«

Eine zornvolle, brennende Sehnsucht ist in mir. Ich möchte hundert,
möchte tausend, möchte Millionen Fäuste haben, möchte zurückgreifen
in alle Höhen und Tiefen unseres Volkes, in alle Straßen und Winkel
unserer Heimat, und möchte hundert, möchte tausend, möchte Millionen der
Daheimgebliebenen an den Armen fassen, möchte sie herziehen vor dieses
grauenvolle Bild und möchte hineinschreien in ihre Herzen:

»=Das seht euch an=! Das hat die eiserne Kraft des Deutschtums, das
hat der unzerbrochene, unter freudigen Blutopfern glühende Heldenmut
des deutschen Heeres im Westen euch erspart, euch und euren Kindern,
eurem Gut und eurem Boden! =Das seht euch an=! Und vergleicht es mit
dem, was ihr in heiterem Frieden noch immer besitzen dürft! Vergleicht
es mit dem, was der Mut und die Treue des deutschen Heeres für euch
erfocht von Anbeginn des Krieges bis zur heutigen Stunde! Dann prüft
eure Seelen, prüft euer Heimatswerk! Und ihr werdet geduldig werden, ihr
werdet gläubig sein und unerschütterlich in eurem deutschen Vertrauen!
Und im siebenten, im zehnten und -- wenn es sein müßte -- auch noch im
zwölften Monat eines Kampfes, den eine Welt von Widersachern und Neidern
über uns heraufbeschworen, werdet ihr alle, die ihr euch Deutsche nennt,
immer noch die gleichen sein, die unzerbrechbar Festen und Verläßlichen,
die Geduldigen und Opferwilligen, die Ehrlichen und Starken, die von
einem einzigen Gedanken der Kraft und Treue Durchbrausten, wie ihr alle
es gewesen seid in den ersten Tagen und Wochen dieses heiligen deutschen
Erlösungskrieges!«

Da droben grinsen und drohen und warnen die schwarzen Ruinen!

Ich wende die Augen ab, ich schaue heimwärts in die klare Redlichkeit
und in die ausdauernde Kraft unseres Volkes. Und mir wird wohler und
freier um die bedrückte Seele.




                                   2.


                                                        15. Januar 1915.

Weiter und weiter geht die Fahrt, immer neuen Bildern der kriegerischen
Zerstörung entgegen, aber auch immer neuen Bildern, die es mit
hinreißender Kraft verstehen, einem deutschen Herzen jeden notwendigen
Glauben und alles Vertrauen einzureden.

Von der Bahnstrecke ziehen sich liebenswürdige Buchentäler nach allen
Seiten hin, mit vielfach geschlängelten Bachläufen -- eine Landschaft
wie in Franken daheim.

In einem Bachtal, das an den »kühlen Grund« des Volksliedes erinnert,
huscht eine Mühle vorüber, sieben vergnügte Landstürmer stehen im Hof,
und unter ihnen, auch nicht gerade traurig, steht eine dunkeläugige und
schwarzhaarige Französin. Vielleicht spielt sich hier so was Ähnliches
wie das deutsche Märchen vom Schneewittchen und den sieben Zwergen ab --
ein Märlein vom Kohlschwärzchen und den sieben Riesen?

Eine kleine Stadt -- Longuion. Vernichtung, wohin das Auge sieht. Am
tiefsten erschüttert mich der Anblick eines kleinen, völlig verwüsteten
Hauses, an dem noch einzelne Zeichen verraten, wie hübsch es einmal
gewesen sein muß; im ersten Stock ein Balkon mit geschmiedetem Geländer;
die eisernen Ranken und Blumen sind zu völlig sinnlosen Formen
verzerrt, und rings um die leere, löchrig ausgefranste Balkontüre zieht
sich ein großer, aus vielen Hunderten von weißen Punkten gebildeter
Heiligenschein -- die Arbeit eines Maschinengewehres. Der Kampf um
dieses kleine hübsche Haus und seine Balkontüre muß furchtbar gewesen
sein.

Man sieht in zerstörte und noch ganze Straßen hinein. Die meisten der
Leute, die da herumwandern, sind Feldgraue, sind deutsche Soldaten.
Außer ihnen noch ein paar an Ecken und in Winkeln umherstehende Greise
mit kummervollen Gesichtern, mit den Händen in den Taschen der weiten
Schlotterhosen; jeder hat die Kappe tief in die Stirn gezogen und trägt
einen dicken Schlips um den Hals gewickelt. Ein paar Kinder sieht man,
die harmlos und heiter spielen, mit etwas kreischenden Stimmchen;
sieht junge Mädchen, die sehr hastig gehen, und sieht Frauen, von denen
die einen immer die Augen gesenkt halten, während andere frech und
unternehmungslustig umherspähen; dieser Blick des lukrativen Lasters
ist nur eine Maske für den Blick des Hungers und der Not; es sind
junge Mütter, die ihre darbenden Kinder ernähren müssen, gleichviel um
welchen Preis! -- Vergeßt es niemals, ihr deutschen Frauen, vor welch
entsetzlichen Dingen euch die treuen Blutopfer unseres Heeres behüteten!
Ihr solltet diese Müttergesichter sehen, diese suchenden Weiberaugen!
Wohl haben die Hände deutscher Wohltätigkeit und Fürsorge hier das
Härteste der französischen Not schon gelindert; die Verzweiflung beginnt
sich in stumpfe Ruhe zu verwandeln, aber aus allen Bildern, die man
sieht, grinst unverkennbar noch immer der Schreck und das Grauen jener
Stunden heraus, in denen die Dächer brannten, die Häuser zerbarsten, die
Kanonen brüllten, die Maschinengewehre knatterten und zwischen rinnendem
Blut alle Schmerzen des Lebens ihre erbitterten Flüche knirschten.

Immer von neuem brennt der Gedanke in mir auf: »So könnt' es aussehen
bei uns daheim!« Und noch immer kann solch ein Furchtbares uns befallen,
wenn wir nicht stark und verläßlich bleiben, nicht gläubig und
vertrauensvoll, nicht hilfsbereit und opferwillig bis zum Letzten!

Plötzlich ist finstere Nacht um mich herum. Langsam und vorsichtig fährt
der Zug durch einen von den Franzosen zerstörten Tunnel, den unsere
wackeren deutschen Pioniere in unglaublich kurzer Zeit wieder wegbar
gemacht haben. Kleine Lichter blitzen im Dunkel auf, die Gestalten der
feldgrauen Arbeiter sind grell und grotesk beleuchtet, zwischen ihnen
und den Insassen des Zuges werden heitere Zurufe gewechselt -- und nun
fährt der Zug in den Tag hinaus. Es ist ein trüber Tag, schon nahe dem
Abend, und dennoch wirkt sein Licht wie eine Himmelsglorie. Und neben
der Bahnstrecke, im Höfchen einer Soldatenbaracke, stehen noch vom
Heiligen Abend her die drei mit Silberfäden geschmückten Christbäume.
Das unaufhörliche Regengepritschel der letzten Wochen hat sie freilich
schon übel zugerichtet; dennoch sind sie noch immer umwoben von
zärtlicher Heimatsehnsucht und lieblichen Erlösungsbildern.

Überall gewahrt man arbeitende Soldatenschwärme; endlose Kolonnen
knattern über die Wege hin; auf den Straßen sind Züge von französischen
Gefangenen in roten Hosen damit beschäftigt, die von den Lastautomobilen
ausgerissenen Stellen und die tiefen Granatenlöcher zu ebnen. Und in der
Ferne, über weite und öde Felder, sieht man die zierlichen Figürchen
feldgrauer Patrouillenreiter hintraben. Auch die Pferde, ob Rappen,
Schimmel, Fuchsen oder Schecken, sind alle grau vom bodenlosen Morast
dieser Regenzeit.

Da kommt wieder ein Dorf, in das sich Überschwemmung und Zerstörung
teilen. Inmitten der Verwüstung steht manchmal ein unversehrtes Haus,
aus dessen Fenstern das Leben herausguckt mit den Augen einer scheuen
Zufriedenheit -- Augen, welche sagen: »Auch das Dasein in Elend und
Trauer ist noch ein besseres Ding als Tod und Verwesung.«

Das Fort Montmédy, auf einer malerischen Höhe gelegen, zeichnet sich
schwarz wie Tinte in den Abendhimmel. Der tiefere Stadtteil am Ufer
des Stromes zeigt nur geringe Spuren von Zerstörung. Überall sieht man
Baracken und Zelte der deutschen Landstürmer. Die nassen Tücher glänzen
und pludern im Winde. Hier mag die Nachtruhe nicht sonderlich gemütlich
sein. Mitten in den weiten Flächen der Überschwemmung stehen große Zelte
bis zur halben Höhe unter Wasser. Hier kam die Überflutung in der Nacht
so schnell, daß man die Zelte nimmer abbrechen, nur das Leben noch
retten konnte. Mit Beschämung denke ich an mein behagliches und warmes
Bett daheim; es ist wahr, ich habe viele Nachtstunden schlaflos in ihm
verbracht, wachgehalten von der Sorge um Heimat und Heer; aber bei den
Gedanken an das, was unser Heer im Felde leistet und was es an Mühsal
zu ertragen hat, gab mir meine suchende Phantasie kaum ein annäherndes
Bild der Wahrheit, wie ich sie jetzt zu sehen bekomme. Wir in der
Heimat müssen noch viel, =viel= nachdenklicher werden, um den großen
Unterschied zwischen der deutschen Heeresarbeit im Felde und unserem
bescheidenen Hilfswerk in der Heimat mit ausreichender Dankbarkeit zu
erfassen. Und =sehr= bescheiden müssen wir werden, müssen erkennen, daß
alles, was wir tun, noch immer zu klein, noch immer zu wenig ist.

Auf einem Bahnhof hält mein Zug neben einer langen, mit Tannenreis
geschmückten Wagenreihe, vollgepfropft mit frischen Truppen, mit etwa
tausend Bonner Burschen, jung, heiter und gesund. Jahrgang 1914. Alle
Wagenwände sind bedeckt mit Kreidekarikaturen von Engländern und
Franzosen. Drollige Inschriften:

»Achtung! Deutsche Bluthunde!« -- »Platz frei, die Barbaren kommen!« --
»Blaue Bohnen zur Fütterung britischer Löwen!« -- »Weinet nicht, ihr
Bonner Mädels, wir kommen bald wieder!« Aus jedem Fenster guckt ein
halbes Dutzend dieser frischen fröhlichen Gesichter heraus. Ich frage:
»Wohin geht's?«

Die kurze Antwort: »Dreschen helfen!«

Von Wagenfenster zu Wagenfenster gibt es eine muntere Konversation, bis
aus dem Wagen da drüben eine strenge Unteroffiziersstimme herausruft:
»Vorsicht beim Antworten! Der olle Kunde fragt zu viel!«

Weiter geht's. Es öffnet sich der Blick in eine lange, enge Stadtgasse.
Nur Soldaten sieht man, Hunderte von Feldgrauen. Dazu zwei barmherzige
Schwestern, schwarz, mit weißen Hauben. Und zahlreiche Rekonvaleszenten
in Spitalkitteln erholen sich bei einem Spaziergang, ehe die Dämmerung
kommen will.

Wieder die öden Felder. Eine Arbeiterhütte mit weißblauem Fähnchen
gleitet vorüber. Ich möchte beim Anblick dieser Heimatfarben vor Freude
schreien. Bevor ich das Fenster aufbringe, ist die Hütte davongelaufen,
das liebe Fähnchen verschwunden.

Bei Chauvancy bauen deutsche Pioniere an einer von den Franzosen
gesprengten Brücke. Ich brülle zum Fenster hinaus und winke mit beiden
Händen. Die Pioniere gucken und lachen und fragen sich, was für ein Narr
da im Zuge ist? Kein Narr! Ein Deutscher voll stürmischer Dankbarkeit
und Bewunderung! Nur eine kurze Strecke feindlichen Landes hab' ich von
der Grenze bis hierher durchfahren, kaum ein paar hundert Kilometer
lang. Doch in jeder Minute fand ich reichlich Ursache, über das immense
Maß von Arbeit zu staunen, das deutscher Fleiß und deutsche Intelligenz
hier geleistet haben, um alles von den Franzosen und vom Krieg Zerstörte
wieder zurückzugewinnen für die Bedürfnisse des deutschen Heeres und
für den allgemeinen Verkehr. Wenn der kommende Friede unsere deutschen
Helden mit Eichenlaub und Lorbeer bekränzen wird, muß er einen besonders
schönen und reichverdienten Kranz für die deutschen Pioniere flechten.
Wären die Pioniere, die ich da gesehen habe, nicht so feste, stramme und
derbschlächtige Gestalten, ich möchte sie die lieben Heinzelmännchen
des Deutschtums nennen! An ihnen besonders wollen wir Daheimgebliebenen
uns ein Beispiel nehmen! Ein ganzes Volk von Pionieren wollen wir
sein, von Pionieren des deutschen Gedankens, der deutschen Treue und
Hilfsbereitschaft, der deutschen Ausdauer und Beharrlichkeit!

Man muß, was unsere Pioniere entlang der Maas und im Wasser und Sumpf
dieser meilenweiten Überschwemmungsgebiete geleistet haben, mit eigenen
Augen sehen. Sonst glaubt man es nicht, sonst hält man das deutsche
Arbeitswunder, das hier gewirkt wurde, für ein phantastisches Märchen.

Immer trüber sinkt der Abend. Doch die Dunkelheit beendet das Werk
dieses Fleißes nicht. Hunderte von Fackeln und Pechflammen brennen auf
-- leuchtende Sterne der deutschen Gewissenhaftigkeit!

Jenseits einer mächtigen Wasserfläche, die aussieht wie ein großer,
milchweißer See, steigt zwischen kleinen hübschen Wäldchen eine
weitläufige Stadt über sanft geneigte Hügel empor -- =Sedan=!

Du heiliger Name! Deine beiden Silben sind wie ein weihevoller Zauber,
der eine Fülle von herrlichen Bildern in mir erweckt und mich träumen
läßt von deutscher Kraft und Größe, von deutscher Vergangenheit und
deutscher Zukunft.

Der Bahnhof ist ein Gewühl von Soldaten. Tausende von Feldgrauen!
Heimkehrende und Ankommende. Wohin man die Ohren dreht, überall hört
man die lieben deutschen Laute. Sie wirken doppelt eindrucksvoll, hier,
auf dem Boden der feindlichen Fremde, hier, auf dem Frühlingsacker des
deutschen Werdens!

Ganz unfaßbare Mengen von Postsäcken und Gepäckballen werden hin und her
geschoben, ausgeladen und neu verstaut -- Wagenladungen mütterlicher
Grüße und Zärtlichkeiten, Wagenladungen treuer Heimatsgedanken unserer
Soldaten. Und der ganze Bahnhof ist ein unübersehbares Gewimmel von
stehenden und kommenden Zügen, von qualmenden oder rastenden Lokomotiven.

Weiter geht's. Die sinkende Nacht umhüllt mir alles Kommende. In der
stahlblauen Dämmerung glänzen wieder die großen Streckenlaternen. Der
Tag endet im Feindesland, wie er am Morgen in der Heimat begann: mit
strahlenden Lichtern in der Dunkelheit.

Unter strömendem Regen rauscht der Zug durch die Finsternis. Geht's über
eine Brücke, so hört man das dumpfe Brausen des hochgestiegenen Stromes.
Draußen ist wenig zu sehen: gleitende Laternen, pechschwarze Hügelketten
und die matt blinkenden Wasserflächen der großen, noch immer wachsenden
Überschwemmung.

In einer Station bei längerem Aufenthalt kommt eine strenge Kontrolle
aller Reisenden, die der Zug noch enthält. Der Offizier, der meinen
Ausweis musterte, nickt mir freundlich zu: »Sie werden erwartet!«

Noch eine kurze Fahrt und ich bin am ersten Ziel meiner Reise, im Großen
Hauptquartier. Auf dem Bahnhof ein liebenswürdiger Empfang. Es ist
sieben Uhr abends. Für acht Uhr bin ich zur kaiserlichen Tafel geladen.

Das Wetter will sich klären. Der Regen hat aufgehört. Helle Sterne
glänzen aus den Wolkenklüften, während ich den großen, stillen
Bahnhofplatz überschreite. Ein Automobil mit Offizieren saust vorüber,
und wie langgestreckte Lichtvögel flattern die Scheinbündel der
Autolaternen in die Finsternis. Schlagbäume und Schilderhäuschen in den
deutschen Farben leuchten auf, Wachen schreiten hin und her, und überall
ist ein leises Klirren, ein Gefunkel von Metall.

Hinter dem laublosen Astgewirre hoher Bäume strahlt eine Reihe von
erleuchteten Fenstern.




                                   3.


                                                        17. Januar 1915.

Zwischen den hohen Bäumen eines stillen Parkes steht eine schmucke
Villa. Ihre Besitzer sind geflohen, als das deutsche Heer erschien und
das französische sich auch auf die Socken machte. Es waren wohlhabende
Leute, die stolz waren auf ihr Haus; das merkt man schon am Äußern des
Baues, an der Gepflegtheit des Parkes, den jetzt eine schweigsame Nacht
umträumt, und an der etwas großtuenden Freitreppe, auf der jetzt im
Flackerschein der Laternen zwei regungslose Schildwachen mit blanken
Klingen stehen. Und es waren Leute, die es liebten, an regenreichen
und stürmischen Winterabenden behaglich am Kamin zu sitzen und amüsant
zu plaudern, vielleicht nach etwas altmodischem Stil, so ähnlich, wie
Konversation in einem Lustspiel von Scribe oder Pailleron gemacht wird;
das vermutet man beim Anblick der Räume, deren Komfort eine wunderliche
Mischung von gutem Geschmack und provinzialer Anbequemung zeigt, von
ererbter Gediegenheit und wahllos Gesammeltem.

Diese Leute, die nicht mehr da sind und irgendwo im Süden von Frankreich
sitzen, in Bordeaux oder bei Nizza, denken wohl in ruheloser Sorge an
ihr verlassenes, unbeschütztes Haus und glauben es verwüstet durch
alle »Barbarengreuel«, die sie in ihren Journalen als Zugabe zu jedem
Frühstück genießen. Ihre Sorge ist ein Irrtum, ist eine von jenen halb
grauenhaften und halb lächerlichen Verzerrungen der Wahrheit, wie
sie rings um unsere Grenzen üblich wurden, »seit Deutschland diesen
schaudervollen Krieg über die ganze Welt heraufbeschwor« -- so sagen
unsere Feinde, obwohl sie es besser wissen. Das Haus dieser entflohenen
Leute -- statt »entflohen« gebraucht man hier in Frankreich die mildere
Wendung »abgereist« -- dieses Haus, das sie aller Verwüstung ausgesetzt
vermuten, ist in Wahrheit sorglicher behütet, als sie selbst es vor
jedem Vernichtungsschreck des Krieges hätten behüten können, wenn
sie geblieben wären. Denn unter diesem verlassenen Dache, in dessen
Räumen jetzt aus allen Richtungen der Erde die Fäden eines großen
Weltgeschehens zusammenlaufen, wohnt heute der =Deutsche Kaiser=,
der Führer unseres in Begeisterung und Lebenstrotz geeinten Volkes,
der oberste Kriegsherr unseres siegreichen Millionenheeres, das der
deutschen Heimat erspart, was unsere Feinde unter den Schlägen des von
ihnen entfesselten Krieges zu leiden haben.

Zwischen den Mauern dieses stillen, gutbehüteten Hauses ist nichts von
einem großzügigen Hofhalt zu gewahren. In dieser ernsten Zeit ist auch
das Leben des Kaisers von feldmäßiger Schlichtheit, ist wie gekleidet in
ruhiges, unauffälliges Feldgrau.

Die wenigen Gäste der Abendtafel versammeln sich in einem kleinen
Empfangsraum. Schon das begrüßende Wort, das jeder Kommende mit den
schon Anwesenden tauscht, ist der Beginn eines lebhaft bewegten
Gespräches über die jüngsten Vorfälle des Krieges, über den
verheißungsvollen Stand der Dinge im Osten, über den Fortschritt im
Westen.

Nun verstummt das Gespräch, und man tritt von der Türe zurück, die ein
Diener öffnet.

Heftig schlägt mir das Herz unter dem Touristenkittel, schlägt mir vor
Erregung fast bis an den Hals herauf. Aller Wirbel meiner Gedanken
drängt auf die Frage hin: »Wie wird der Kaiser aussehen, was werde ich
lesen können aus seinen Zügen, was wird herausklingen aus seinen Worten,
was werde ich fühlen müssen unter dem Blick seiner blanken Augen, jetzt,
in dieser Zeit des Ringens, in der jedes deutsche Herz sich sehnt nach
dem aufrichtenden Orakel eines Wissenden, nach einem Halt und einer
Stütze in jenen beklommenen Minuten, die heute auch dem Gläubigsten und
Vertrauensvollsten nicht völlig erspart bleiben können?«

Es war mir seit einem Jahrzehnt vergönnt, den Kaiser zu sehen in
manch einer heiteren Stunde des Friedens, den er liebte und bis zum
äußersten zu erhalten suchte, er, der diese Friedensliebe durch ein
Vierteljahrhundert in zahllosen Taten der Versöhnlichkeit und des
Entgegenkommens erhärtete, und den unsere Feinde jetzt in grotesker
Gehirnverwirrung als Friedensstörer und Eroberungslüstling bezeichnen,
als Hunnenmogul und zweiten Attila.

Immer hab ich am Kaiser das von jedem Schwanken freie Gleichmaß
seiner aus Ernst und Frohsinn gemischten Art verehrt und bewundert,
habe mich erfreut an dem klaren Seelenspiegel seines Blickes, an
der temperamentvollen Offenheit seines Wortes, an seinem kräftigen
Lachen, an der freien Menschlichkeit und Frische seines persönlichen
Wesens, wie an der gesunden Innerlichkeit, die ihm eine besonnene,
für jeden deutschen Bürger vorbildliche Lebensführung und sein
unerschütterliches Vertrauen auf Gott, Welt und Menschen bis über
die Reife des Mannesalters bewahrte. Mein Glaube an den Kaiser als
Menschen vermittelte mir auch immer das Verständnis seiner Eigenart als
Herrscher. Ich meine, das ist so unter dem Kronreif: Ganz ein Mensch
bleiben, heißt ganz ein Fürst werden.

Aber jetzt? Wie viel Hartes, wie viel gewaltsam Formendes mögen
diese fünf Monate seit Kriegsbeginn über den Kaiser gebracht haben,
an Verantwortung, an Gewissenskämpfen, auch an schmerzvollen
Enttäuschungen? Was hat die Last und das Gewicht dieses Weltaufruhrs
ihm gegeben, was ihm genommen? In dieser Zeit, in der die
widersinnigsten Gerüchte -- aus Haß oder Liebe, aus Furcht oder Hoffnung
geboren -- so unzählbar aufschnellen, wie die Heuschrecken aus dem Kraut
einer Sommerwiese -- in dieser letzten Zeit hab ich oft erzählen hören:
das Haar des Kaisers wäre weiß geworden, sein Gesicht und seine Haltung
um Jahre gealtert. Ich habe das nie geglaubt. Gesunde und starke Bäume
erfüllen ihre Zeit, trotz Sturm und Ungewitter. Und dennoch muß ich
bekennen: Jetzt, vor dem Augenblick, in dem ich unter dem dröhnenden
Glockenschlage einer über Wohl und Wehe unseres Reiches entscheidenden
Zeit, hier, in Feindesland, auf erobertem Boden, den Kaiser des
deutschen Volkes sehen sollte, befiel mich etwas Bedrückendes, eine
fiebernde Erregung, fast eine quälende Angst. Wie werde ich ihn
wiedersehen? Wird die frohe Güte, die immer aus ihm redete, gemindert
sein, verwandelt in Zorn und Härte? Werden Mißmut, Zweifel und Sorge
aus seinen sonst so gläubigen Augen sprechen? Haben die Fäuste des
Geschehens ihn gefaßt, ihn umgemodelt, wie sie es mit vielen machen,
die der Widerstandskraft entbehren und sich von den Ereignissen
zerren lassen? Hat der heiße Atem des Krieges ihn angehaucht und in
ihm geweckt, was nie noch in seinem Innern war? Ist in ihm unter dem
Donnerdröhnen des Schlachtfeldes ein Neues entstanden, das man beklagen,
vor dem man erschrecken müßte? --

Da tritt er ein, in der feldgrauen Generalsuniform, mit dem gleichen
ruhig-elastischen Schritt, den ich immer an ihm gesehen. Wohl wahr: sein
Haar, mit der kleinen, trotzigen Welle über der rechten Schläfe, ist
seit dem Frühjahr ein wenig grauer geworden, kaum merklich. Und eine
Furchenlinie, die ich früher nie gewahren konnte, ist in seine Stirne
geschnitten und schattet zwischen seinen Brauen. Aber nur eines einzigen
Blickes in diese klaren und offen sprechenden Augen bedarf es -- und
gleich einer glühenden Welle durchströmt mich der sehnsüchtige Wunsch:
es möchten alle Tausendscharen der Deutschen, namentlich jene, in denen
Sorge und Bangigkeit zu erwachen drohen, jetzt an meiner Stelle stehen!
Dann würden sie in freudiger Ruhe aufatmen, wie ich!

Unter allem Sturm dieser vierundzwanzig roten Wochen ist der Kaiser
in jeder Wertlinie seines Wesens der gleiche geblieben -- nein, nicht
der gleiche, er ist einer geworden, der gewann und nichts verlor. Der
Kaiser ist ein durch die Zeit Erhöhter! Man empfindet es vor dem Bilde
seiner Würde und Haltung, empfindet es bei seinem ruhigen Lächeln, vor
seinem ruhigen Blick. Und bevor ich noch ein erstes Wort von ihm höre,
strömt etwas Aufrichtendes in mich über. Ein frohes Gefühl der deutschen
Sicherheit ist in mir, erneuter Glaube und erhöhtes Vertrauen. Ich weiß:
bei =uns= ist die Wahrheit, bei =uns= das Recht, bei =uns= die Kraft und
bei =uns= der Sieg!

Ob der Kaiser ahnt, was in mir vorgeht? Er sieht mich plötzlich mit
einem jener forschenden Blicke an, die in seinen stählernen Augen sein
können. Dann nickt er freundlich, reicht mir die Hand und erhöht mir
die Freude dieser Minute durch ein ebenso herzliches wie impulsives Lob
meiner Landsleute: »=Na, Ganghofer, Ihre Bayern! Prachtvolle Leute! Die
haben feste und tüchtige Arbeit gemacht! Und vorwärts geht es, überall,
Gott sei Dank!=« Dann ein Erinnern an die letzte Begegnung im Frühjahr,
wo zu Berlin im Palais des deutschen Kronprinzen meine kleine Dorfsatire
»Tod und Leben« vor dem Kaiser aufgeführt wurde. Nun schweigt er eine
Weile, und sein Lächeln mindert sich und verschwindet. Tief atmend sieht
er mir ernst in die Augen und sagt mit einer langsamen und strengen
Stimme: »=Wer hätte damals ahnen können, was jetzt gekommen ist? Und
daß wir uns hier in Frankreich wiedersehen würden? So!=« -- In einem
diplomatischen Aktenstücke, das die deutsche Schuldlosigkeit an diesem
Kriege zu dokumentieren hat, können dieser Atemzug, dieser ernste Blick
und diese Worte des Kaisers nicht aufgezählt werden. Aber Beweiskraft
haben sie. Eine überzeugende.

Man geht zur Tafel. Das Speisezimmer ist ein gemütlicher Raum, der mich
weidmännisch anheimelt. Von den braunverschalten Wänden blinken die
weißen Hauer wuchtiger Eberköpfe herunter -- Jagdtrophäen, die in den
Argonnen erbeutet wurden.

Nur wenige Diener. Und eine kurze, rasche Mahlzeit. Was zur Tafel kam,
das weiß ich nimmer. Der Platz an der Seite des Kaisers und der Kreis
seiner zehn Gäste, hoher Würdenträger des Heeres und Hofes, gibt mir
so viel Beruhigendes, Erfreuliches und Fesselndes zu hören, daß ich
der Mahlzeit völlig vergesse, obwohl ich so hungrig wie ein Wolf aus
dem Eisenbahnwagen gekommen war und seit vierundzwanzig Stunden auf
jagender Reise keinen verschlingbaren Bissen erwischt hatte. Aber wie
feldmäßig einfach die Tafel des Kaisers bestellt ist, beweist eine
Speisenfolge, die ich mir an einem anderen Abend als Erinnerung mitnahm.
Auf dem kleinen Zettelchen, nicht größer als eine Visitenkarte, steht
geschrieben:

                                                         11. Januar 1915

                        =Königliche Abendtafel=
                          Gebackene Seezungen
                Kaltes Fleisch, Kartoffeln in der Schale
                                  Obst

Dazu als Getränk: französischer Landwein und Wasser. Und Kriegsbrot
gibt es. =Nur= Kriegsbrot! Daran könnte sich mancher bei uns daheim,
der unsere Soldaten im Felde kämpfen, leiden, bluten und siegen läßt,
mit Strenge und Ungeduld die militärischen Tagesberichte kritisiert und
nebenbei nicht die Heldenkraft oder nicht den Willen besitzt, sich die
gewohnte Frühstückssemmel zu versagen, ein lehrreiches und mahnendes
Beispiel nehmen! Wir müssen lernen, unsere kleinen Liebhabereien
beiseite zu schieben, jeden der Allgemeinheit schädlichen Eigennutz
aus uns herauszuklopfen und jedes Gefühl, jeden Gedanken und jede
Lebenshandlung auf das Ziel einzustellen, das wir für Heimat und Volk
erkämpfen müssen.

Alles, was ich an des Kaisers einfacher Tafel sehe und höre, wird mir
zur Ursache einer sprunghaften Gedankenteilung. Mit Ohr und Herz bin ich
bei jedem Worte, das da gesprochen wird, und bin zugleich in der Heimat,
um zu schauen und zu vergleichen. Und immer deutlicher wird es mir, daß
manches, was wir Daheimgebliebenen zu denken und zu tun lieben, ganz
wesentlich anders werden müßte, wenn wir gleichwertig werden wollen mit
jenen, die bei harter Arbeit draußen stehen im Felde.

Nach der Mahlzeit kommt eine ernste, manchmal auch von einem Lachen
erhellte Plauderstunde in einem kleinen, netten Wintergarten, wie wir
ihn auf der deutschen Bühne schon in vielen französischen Komödien
gesehen haben. Zigaretten und kurze Pfeifen brennen, und in Kelchgläsern
wird Münchner Bier gereicht. Auf dem Tisch, an dem sich der Kaiser
niederläßt, stehen blühender Flieder und Rosen, die ihm die Kaiserin
aus Berlin sandte. Alles Gespräch dreht sich um den Lauf der Dinge
in der Heimat und um wichtige Episoden des Krieges. Das ist eine
wesentlich andere Art, vom Kriege zu sprechen, als wir sie daheim bei
unserm Bierbank- und Teetischklatsch zu hören bekommen. Hier wird
nicht die Welt geteilt, hier werden nicht Länder genommen und Reiche
verschenkt, hier gründet man nicht »Pufferstaaten« und korrigiert nicht
die Landkarte von Europa mit einem anspruchsvollen Blaustift. Hier
gilt alles Denken nur dem Ernst und den Notwendigkeiten der Gegenwart;
von der Zukunft ist nicht die Rede. Unausgesprochen klingt aus allen
bedeutsamen Worten, die ich höre, das feste und klare Zeitgesetz
heraus: »Erst arbeiten und siegen. Alles weitere wird kommen, wie es
kommen muß und wie wir es uns verdienen.«

-- Ich gestehe, daß ich da manchmal ein bißchen schamrot wurde. Und
in meinem Inneren hab' ich heilig geschworen, niemals wieder in
phantastischen Nächten meinen Handatlas durch ausschweifende Linien
zu verunreinigen und nebulose Zukunftsgeographie von Mittelafrika zu
betreiben. Und während ich hier, in einem hundekalten Stübchen zu
Peronne, diesen heißen Schwur mit frierenden Fingern niederschreibe,
klirrt unter meinem Fenster der feste Taktschritt deutscher Soldaten
vorüber, die zu den Schützengräben marschieren, Automobile rasseln
vorbei in sausender Fahrt, und unaufhörlich rollt von der nicht allzu
weit entfernten Front das Murren schwerer Geschütze zu mir her. Die
gaukelnden Kriegsvorstellungen, die ich aus der Heimat mitbrachte,
beginnen sich jetzt unter den harten Wirklichkeitsbildern, die mich bei
Tag und Nacht umwirbeln, sehr gründlich zu verändern. --

Jener erste Abend, an dem ich Gast des Kaisers war, bescherte mir
auch ein eindringliches Exempel der Art, wie im Großen Hauptquartier
gearbeitet wird, bis spät in die Mitternacht hinein. Bevor ich davon
erzähle -- d. h. erzählend alles verschweige -- will ich, man liebt
als Poet die Kontraste, dem großen Zeitbilde noch ein niedlich-intimes
Lichtchen aufsetzen.

Die Gesellschaft im französischen Wintergarten hat sich nach der
Mahlzeit noch um einen schweigsamen, höchst wohlerzogenen Gast vermehrt;
das ist ein kleiner schwarzer Teckel mit gescheiten Augen, des Kaisers
Lieblingshund, augenblicklich ein bißchen invalide, mit verbundener
Pfote; so oft er will, darf er es sich auf dem Schoß seines Herrn bequem
oder, richtiger gesagt, unbequem machen; manchmal nimmt er auf des
Kaisers Knie höchst schwierige und bedrohsame Stellungen ein, die fast
an die Kletterkünste einer Gemse erinnern -- und dann muß der Deutsche
Kaiser so lange stillhalten, bis es dem zappeligen Teckelchen wieder
beliebt, auf den Boden zu springen. Von der rührenden Geduld, die der
Kaiser an dieser kleinen Quälkrabbe erweist, läßt sich eine Brücke zu
einem tiefen Zug seines Charakterbildes hinüberschlagen. Denn er kann
eine bewundernswerte Geduld auch mit Dingen und Menschen haben, die ihn
viel gröber belästigen, als es der kleine, nette Teckel zu tun gewöhnt
ist.

Gegen die elfte Abendstunde wird für den Kaiser und eine Anzahl
hoher Offiziere ein militärischer Vortrag angesagt. Eine Neuheit der
Kriegstechnik soll in Projektionsbildern vorgeführt werden, die der
begleitende Vortrag eines Offiziers erläutern wird.

Durch die dunkle, schneelose Winternacht wandern die Gäste der stillen
Villa zu einem nahen Hause hinüber. Der Himmel ist klar geworden und
alle Sterne funkeln. Die kleine Stadt liegt in schwarzem Schweigen, ohne
Lichter, wie ausgestorben. Nur ein scharf suchender Blick erkennt die
regungslos in der Finsternis stehenden Wachen.

Ein verdunkelter Saal, mit etwa vierzig Stühlen; hinter ihnen ein
Vergrößerungsapparat mit elektrischen Schnüren, vor ihnen an der Mauer
eine große Leinwand. Fest und gleichmäßig klingt in dem matten Zwielicht
die Stimme des vortragenden Offiziers, während Ruck um Ruck eine lange
Reihe von Bildern über die Leinwand gleitet. Die ersten sind für mich
als Laien eine völlig unverständliche Sache; erst nach einer Weile lehrt
das gesprochene Wort mich begreifen, was ich sehe, und ich beginne in
erregter Spannung zu ahnen, daß es sich hier um eine neue, wichtige und
für die Kriegführung hilfreiche Sache handelt. Immer wieder und wieder
stellt der Kaiser mit raschen, knappen Worten eine Zwischenfrage; der
Offizier gibt Antwort. Bis Mitternacht dauert das. Nach dem letzten
Bilde glänzen die Flammen des Lüsters auf. Lebhaft tritt der Kaiser auf
den jungen Offizier zu, der den Vortrag gehalten, reicht ihm die Hand
und sagt:

»=Ich danke Ihnen! Das ist eine gute Sache! Glauben Sie, daß uns die
Franzosen das nachmachen können?=«

Der junge Offizier in dem verwitterten Feldgrau lächelt: »So schnell
=nicht=, Majestät! Wir haben das erst jetzt gefunden.«

In dem erhellten Saal ein Zusammenstehen von Gruppen, eine mit
halblauten Stimmen geführte Debatte.

Während ich diese Gespräche höre, klingt in mir immer wieder das
verheißungsvolle Wort, das der junge Offizier gesprochen: »Wir haben das
jetzt gefunden!«

=Wir=! Das sind wir Deutschen! Wir, bei denen das Recht und die Kraft
ist, und bei denen der Sieg sein wird!

Ich trage stolz und beglückt dieses Wort in mir davon durch die
sternhelle Nacht -- dazu die mich heiß erfreuende Einladung: morgen im
Auto mit dem Kaiser hinüberzufahren zum deutschen Kronprinzen.

Von den tiefen, meinen deutschen Glauben und mein Vertrauen wie mit
eisernen Stäben stärkenden Eindrücken dieses Abends schwirren mir
Kopf und Herz, während ich das winzige Stübchen betrete, in dem ich
einquartiert bin. Es ist, nach französischer Sparsamkeit mit dem Raume,
so klein, daß man beim ersten Schritt über die Schwelle schon gleich
mit dem Ellbogen an die Fensterscheibe stößt. Fast vier Fünftel dieses
Grillenhäuschens ist bestellt mit dem großen, ganz famosen Bett. Wie
herrlich werde ich da schlafen heute nacht, mit aller Verheißung der
vergangenen Stunden in meiner Seele!

Aber der Mensch hat neben der Seele auch einen Leib. Während ich im
Dunkel liege und mit offenen Augen fröhlich träume, beginne ich, der ich
an der Tafel des Deutschen Kaisers speiste -- nein, =nicht= speiste, nur
lauschte -- einen nagenden Hunger zu fühlen. Und dann knappere ich mit
Hochgenuß und Zärtlichkeit an dem Dutzend guter Weihnachtslebkuchen, die
mir meine Frau vor der Abreise von München in die Handtasche steckte.

»Wir! Wir Deutschen!«

Mit diesem Wort im Herzen mache ich meine Augen zu. Und mit dem anderen:

»Morgen!«




                                   4.


                                                        19. Januar 1915.

Der Deutsche Kaiser ist kein Frömmler, aber ein frommer, tiefgläubiger
Christ, der seinen Tag mit Gott beginnt und mit Gott beendet.

In der kleinen Stadt, die das Große Hauptquartier beherbergt, wurde ein
großer Raum zu einer Feldkirche umgewandelt. Hier wird der Gottesdienst
für den Kaiser und die Garnison des Hauptquartiers abgehalten. Den
langen, mächtigen Hallenraum füllen in dichten Reihen die Soldaten,
deren Abteilungen sich aus Linie, Reserve und Landsturm mischen, feste
und stramme Gestalten, mit gesunden und ruhigen Bartgesichtern; dazu die
kleine, aus allen Reiterregimentern der deutschen Bruderstämme gebildete
Kavallerietruppe der kaiserlichen Wache; nahe dem Altar, zu beiden
Seiten des auf den Kaiser wartenden Kirchenstuhles, sind die Plätze
der Offiziere und des Orchesters, das aus Harmonium und acht Bläsern
besteht.

Das Bild des mit roten Tüchern ausgeschlagenen und durch drei Stufen
erhöhten Altars hat etwas freudig Aufwärtsstrebendes. Zur Rechten
und Linken schmücken ihn zwei große Banner in den deutschen Farben,
zwischen denen das Kreuzbild des Erlösers auf die Reihen der Soldaten
niederblickt. Das heilige Zeichen leuchtet freundlich in der durch die
Fenster hereinflutenden Morgensonne. Und gleich einem Symbol des vor
Gottes Antlitz ruhenden Krieges sind auf beiden Seiten des Altars die
mit allen Landesfarben der deutschen Stämme bewimpelten Reiterlanzen zu
schlanken, friedsamen Pyramiden aneinandergestellt.

Ein Kommando. Das Zusammenklirren der Soldatenstiefel klingt wie ein
einziger harter Eisenschlag. Auf dem Bretterboden die ruhigen Schritte
eines einzelnen Mannes. Durch die Reihen der Soldaten schreitet der
Kaiser zu seinem Kirchenstuhl. Sein Gesicht ist ernst, fast unbeweglich.
Und immer, mit einem sinnenden Blick, sind seine Augen emporgehoben zum
Bilde Gottes, auf dessen gerechte Hilfe er hofft und baut.

Harmonium und Bläser beginnen den Choral, und Feldprediger =Goens= --
eine Gestalt wie aus einem Holzschnitt des 17. Jahrhunderts in das Leben
von heute herausgetreten -- steigt zum Altar empor. Mit gewaltiger,
Herz und Nerven durchbrausender Tonwelle schwillt aus zweitausend
deutschen Soldatenkehlen das alte fromme Kirchenlied durch die goldenen
Sonnenbänder empor in das klingende Hallengewölbe. Und noch weiter,
noch höher wird es tönen. Solch ein gläubiges Lied voll Kraft und
Christentreue und Inbrunst muß der Himmel erhören. Der schöne machtvolle
Klang erschüttert mich bis in die tiefste Seele, und alles Denken in mir
ist deutsche Andacht.

Der Prediger liest das Epiphanias-Evangelium, die Geschichte der
morgenländischen Magier, die in gläubiger Sehnsucht auszogen, geführt
von ihrem Sterne, und in Redlichkeit alle Tücke und Hinterlist des
Herodes zuschanden machten und wieder heimkehrten in ihr Land,
den gefundenen Gott im Herzen. Tief und warm, in einer ebenso zum
anspruchsvollsten Verstande wie zu aller Einfalt der Volksseele
sprechenden Weise deutet der Prediger die biblische Überlieferung
zuerst in christlichem Sinne. Dann hebt er das Ewig-Menschliche aus
dem schönen Gleichnis hervor: das ruhelose Wandern und Streben der
irdischen Hoffnung nach allem Höheren und Besseren. Aus der wachsenden
Flamme seines Wortes steigen die großen Bilder eines in Sehnsucht und
Gottvertrauen suchenden Volkes empor, das in unübersehbaren Scharen
und im Gefunkel seiner gesegneten Waffen auszog und Heimat und Herd
verließ, um die Freiheit seines bedrohten Lebens zu beschützen. Geführt
vom leuchtenden Stern der deutschen Hoffnung, von Wahrheit und Treue
geleitet, wird dieses Volk durch Kampf und Prüfung einer Zeit der Blüte
und Ernte entgegenschreiten und jede feindliche Tücke und herodianische
Hinterlist zuschanden machen. Und heimkehren wird es in sein Land, mit
dem Glauben an Gottes Kraft in der Seele, mit der Freude des gewahrten
Rechts im Herzen, mit den Kränzen des Sieges an seinen Fahnen.

Die heilige Verheißung, die von den Stufen des Altars hinausklang über
den weiten, von Feldgrauen dicht erfüllten Raum, scheint wie ein
frohes Feuer in diese zweitausend deutschen Soldatenbrüste zu fallen.
Ihr Danklied braust wie das feierliche Spiel einer riesigen Orgel, und
aus diesem machtvoll schwingenden Seelenliede hör' ich außer Andacht
und Gottvertrauen noch andere Klänge heraus: heiße Sehnsucht nach
der Heimat, zärtliche Grüße der Söhne an Väter und Mütter, dürstende
Liebesträume junger Herzen, glühende Segenswünsche der Graubärtigen für
ihre Kinder.

Nun wird es still über alle Köpfe hin. Kein Scharren einer Sohle, kein
Räuspern. Ein Schweigen, das lautlos ist. Der Kaiser hat sich erhoben
und den Helm vom Haupte genommen. Warmes Leben ist in seinen Zügen,
sein Gesicht und seine Augen sind froher und heller, als sie waren, da
er kam; das Antlitz emporgehoben zum Kreuzbilde, betet der Deutsche
Kaiser stumm zu dem gerechten Gotte, an den er glaubt. Um was er betet,
das hört nur ein Einziger. Doch wir Deutschen, die wir ihn kennen, wir
wissen alle: er betet als Vater für Frau und Kind, betet als Mensch für
die Menschen, betet als Herrscher für Heimat und Volk und Heer.

Immer mußte ich ihn ansehen. Mich erfüllt eine Stimmung voll schöner
Weihe und ruhiger Zuversicht. Sie hält noch immer in mir an, während
ich schon draußen in der Sonne stehe und die Truppen sich ordnen, um
vor dem Kaiser zu defilieren. Trommeln und Pfeifen. Dann der alte, das
Blut befeuernde Yorck-Marsch. Mit Klirren und Stampfen geht's vorüber,
jeder Truppenteil wie ein festgeschlossener, unzerreißbarer Felsklotz.
Die gesunden, straffen Gestalten erzittern von der Wucht des Marsches,
und wie Eisenhämmer schlagen die gut deutschen Stiefelsohlen in den
französischen Morast.

Da hör' ich ein frohes Auflachen des Kaisers. Er winkt mir. »=Ganghofer!
Haben Sie sich das angesehen? Wie großartig die Leute marschieren! Ganz
famose Menschen!=« Wieder lacht der Kaiser, herzlicher als ich es jemals
von ihm hörte. Und eine starke Freude glänzt in seinen Augen.

Ein paar Minuten später beginnt die Fahrt im offenen Auto. Schade, daß
jetzt die Sonne ein bißchen Verstecken spielt und nur zeitweilig durch
die Klüfte der trüben Wolken hinausguckt. Über dem Lande, das ich sehen
soll, liegt so viel dunkle Trauer, daß nur reichliche und ausdauernde
Sonne sie etwas aufhellen könnte.

Den Kaiser begleiten im Auto zwei Herren des militärischen Gefolges.
Und zwei Militärkarabiner, mit den Patronentaschen daneben, lehnen in
den Ecken des Wagens. Sonst kein Geleit, kein Schutz. Der Kaiser will
es so. Auch haben die Deutschen alles okkupierte Land schon friedlich
und ruhig gemacht und haben ihm reichliche Hilfe in seiner wachsenden
Not geleistet. Mit flinker Fahrt geht es neben gesprengten Steinbogen
über eine hölzerne Notbrücke, gegen deren Balken die rauschende Flut
des hochgestiegenen Stromes anstürmt wie ein grimmiger Feind. Nur noch
handbreit ist der Brückenbogen über dem schießenden Wasser. Das sieht
aus, als müsse man Sorge um die Brücke haben; aber der Kaiser sagt: »=Da
ist keine Gefahr. Was deutsche Pioniere bauen, das hält.=«

Was ich an Landschaft zu sehen bekomme, hat liebenswürdige Linien. Doch
keine Ferne will sich richtig aufklären.

An kleinen Dörfern geht es vorüber, in die noch keine deutsche Granate
gefallen ist. Auch unbeschädigt sehen sie abscheulich aus. Solch ein
Bild von Verwahrlosung und gleichförmiger Geschmacklosigkeit, von
Mangel an Hausfreude, von gartenloser Nüchternheit, von bedrückender
Aneinanderpferchung, von Schmutz und Unordnung hab' ich außer hier
in Nordfrankreich noch nie in einem Lande gesehen, das Anspruch auf
Kultur erhebt. Wohin die Deutschen da kommen, überall müssen sie erst
Ordnung schaffen und fegen und scheuern, bevor sie sich auf einen Sessel
niedersetzen oder in einer Stube ruhen können.

Und dieses Graue da drüben über dem Strom, dieses Leblose, von jedem
Atemzug Verlassene, dieses Zerrissene und Zerfetzte, dieses widersinnnig
Ausgefranste, durchschlungen von rauchschwarzen Zerrbildern? Was ist
das? Wie ein anderes Pompeji sieht es aus, nur ohne Tempel und Säulen,
alle Ruinen zu einem grauenhaften Schutthaufen übereinandergerüttelt
durch ein neues Erdbeben?

Das ist =Donchery= gewesen, um dessen Mauern einer der härtesten Kämpfe
tobte.

Heimat, Heimat, wehre dich mit allen Kräften deines Volkes, mit jeder
Waffe deines Heeres und jedem Opfer deiner Bürger, um solch ein
Furchtbares von dir abzuwenden! Dieses Grauen hat mit der Übermacht
der Feinde schon hereingezüngelt über unsere Grenzen. Es soll nicht
weiterschreiten, wir wollen uns stemmen dagegen mit unseren Leibern, mit
unserem Gut, mit allem, was wir sind und was wir haben! Der Gedanke,
daß unsere sieghaft vorschreitende Befreiung und Erlösung scheitern
könnte am eigennützigen Kleinmut und am kurzsichtigen Egoismus Weniger
-- dieser Gedanke legt sich wie eine Klammer um mein Herz, wie ein
quälender Eisenreif um meine Kehle.

Gibt es Zufälle, die wie geheimnisvolle Gesetze sind? Während ich die
Gedanken, die mich durchschüttern, stumm in mir verschließe, beginnt
der Kaiser plötzlich, ohne jede Beziehung zu einem vorausgegangenen
Worte, von dem herrlichen, wundervollen Zusammenhalt des ganzen
deutschen Volkes zu sprechen, von der heiligen Begeisterungsflamme der
ersten Augusttage. »=Es ist meine schönste Freude, daß ich das erleben
durfte=.« Und nach kurzem, nachdenklichem Schweigen sagt er: »=Wenn es
nicht so gewesen wäre --=« Er spricht diesen Satz nicht zu Ende, aber er
atmet auf und sieht gegen Donchery zurück, dessen Trümmerstätte schon
verschwunden ist.

Mir wird leichter um die Brust. Auch die Landschaft, durch die wir
fahren, bringt aufrichtende und verheißungsvolle Erinnerungsbilder.
Historischer Boden! Heiliger Boden für uns Deutsche! Das
Schlachtengelände von Sedan!

»=Dort oben=«, sagt der Kaiser und deutet nach einer Feldhöhe, »=da ist
mein Vater gestanden=.«

Neben der Landstraße huscht ein kleines, einsames Haus vorüber.

»=Hier ist Napoleon mit Bismarck zusammengetroffen.=«

Aus einem hübschen, in seiner Laublosigkeit durchsichtigen Wäldchen
lugen die Türme und Mauern eines zierlichen Schlosses heraus.

»=Das ist Bellevue. Hier war die Unterredung meines Großvaters mit
Napoleon.=«

Diese Worte des Kaisers wecken in mir das Feuer eines frohen deutschen
Stolzes. Gerne hätte ich haltgemacht und wäre ausgestiegen, um diese
geweihten Stätten der Reichswerdung als Andächtiger zu besuchen. Aber
ich nahm mir heilig vor, noch einmal hierher zurückzukehren.

Nun geht es seitwärts, mitten durch das weite Überschwemmungsgebiet
der Maas. Von der Straße wird es auf hohem Damm durchschnitten. Lange
Proviantkolonnen knattern vorüber, feldgraue Radfahrer sausen vorbei.
Die meisten der Soldaten grüßen, wie man unbekannte Offiziere grüßt,
doch mancher, trotz der schnellen Fahrt des Autos, erkennt den Kaiser
und ist mit jähem Ruck in eine unbewegliche Säule verwandelt, die zwei
groß aufgerissene, freudige Augen hat.

Eine Ortschaft kommt, die sich hell abzeichnet auf dem dunklen
Hintergrund des Waldes von Woevre. Und über die Mauer eines Parkes hebt
sich ein schmuckes, kleines Schloß empor: das Ziel der Fahrt.

Im Schloßhofe begrüßt der =deutsche Kronprinz= mit den sechs Herren
seines Stabes den kaiserlichen Vater, der den Sohn herzlich umarmt.

Seit dem Frühjahr scheint sich die schlanke Gestalt des jungen
Heerführers, den wir Deutschen jetzt den Sieger von Longwy nennen, noch
gestreckt zu haben. Auch in ihm wirken die starken Mächte der großen
Zeit. Die Sonne des Sommerfeldzuges und Wind und Wetter des Winters
haben sein frisches, gesundes Gesicht gebräunt. Und seine frohen Augen
glänzen in Freude -- kann er doch dem Vater von einem großen Erfolge
der letzten Nacht erzählen. »Ein festes Stück vorwärts gekommen, und
zwölfhundert Franzosen gefangen!« Die müssen auf dem Marsche zur Bahn in
einer Stunde da vorbei kommen.

Mir hämmert es in der Brust. Eine Siegesnachricht, die so warm und neu
aus dem Schützengraben heraufschnellt, wirkt wesentlich anders, als wenn
man sie daheim an der Mauer oder in der Zeitung liest. Man hat auch da
seine heiße Freude. Aber wie frischer, um so besser.

Die gute Nachricht belebt und erwärmt die Stimmung am Frühstückstisch.
Dem Kaiser schmeckt das Mahl, und scherzend sagt er zum Kronprinzen:
»=Bei dir ißt man besser als bei mir. Ich muß mir das überlegen, ob ich
nicht deinen Koch requirieren lasse?=«

Kaum ist an der Tafel das Obst gereicht, da heißt es: »Sie kommen!«

Die Straße hat sich schon zu beiden Seiten mit langen und dichten Reihen
der Feldgrauen gefüllt. Durch diese Soldatengasse bewegt sich ein Zug
von seltsam aussehenden Gestalten einher. Franzosen? Wo ist denn die
berühmte rote Sache, die man die Hose von Frankreich nennt? Davon ist
nichts zu sehen. Ein bißchen Blau sieht man, ein dunkles Blau, alles
andere an diesen Kommenden ist gelb. So tappen und taumeln sie durch
die Gasse her. Und ein Photograph hat sich auch schon eingefunden;
glückselig dreht er die Kurbel seines Kinokastens, immer mit dem
Objektiv gegen den Kaiser hin. Der sieht es, wird sehr unwillig, deutet
auf den näherkommenden Zug der Gefangenen und ruft dem Photographen
zu: »=Sie! Photographieren Sie doch das da! Die Soldaten! Nicht immer
mich!=« Ich habe selten einen verlegeneren und hilfloseren Menschen
gesehen als diesen aus allen Himmeln gerissenen Filmkünstler. Er
dattert mit dem Apparat, rutscht hin und her, dreht an der Kurbel,
stockt wieder -- und ich besorge, der Film ist gründlich mißlungen.
Und wenn die deutschen Fürstenkritiker diese zerrupfte Sache sehen,
werden sie sagen: »Wenn sich der Kaiser schon immer photographieren
lassen will, soll er sich wenigstens einen geschickteren Photographen
aussuchen.« So entsteht, was man als gerechtes und objektives Urteil
bezeichnet. Es ist, wie im großen so auch im kleinen, immer wieder die
Geschichte von Helgoland und Sansibar.

Die heitere Stimmung, in die ich geraten bin, schlägt mir plötzlich
um in eine schwere und tiefe Erschütterung. Mir scheint, ich muß mich
erst an den Krieg gewöhnen. Unpolitisches Erbarmen ließ mich für einen
Augenblick vergessen, daß ich Deutscher bin und daß diese Gelben, die
da vorüberwandern, unsere erbitterten Feinde sind, die auf deutsche
Soldaten schossen und stachen und schlugen. Das vergaß ich für einen
Augenblick, weil die meisten dieser Menschen da grauenhaft aussehen,
herzergreifend. Sehen =so= auch die =Unseren= im Schützengraben aus?
Dann wissen wir in der Heimat noch immer nicht, was Krieg ist, und was
unsere lieben, treuen Feldgrauen um unserer Sicherheit willen ertragen
müssen.

Was wir in der Heimat an Gefangenen sehen, ist etwas ganz anderes als
hier; bis sie hinauskommen zu uns, hatten sie schon viele Tage Zeit,
sich zu erholen, sind gut ausgeschlafen, sind gekräftigt, ordentlich
genährt, sind gewaschen und gereinigt. Aber hier, im Felde, wo sie vor
wenigen Stunden erst aus den Schützengräben herausgefischt wurden,
stecken die meisten in Kleidern, die nimmer als soldatische Uniform zu
erkennen sind, sondern von Nässe klatschen und von den Stiefeln bis
hinauf zur Brust so dick mit Kot und Lehmklumpen behangen sind, daß
alles gelb ist an ihnen. Einige sehen wohl besser und frischer aus,
bewegen sich leicht und lebhaft, lassen sich ihr Pfeifchen oder die
Zigarette schmecken und können sogar lachen, hochmütig und spöttisch.
Aber die meisten sind schwer erschöpft, schleppen sich mühsam unter der
Last dieses nassen Dreckes an ihrem Leib, sind bleich und verstört,
haben abgezehrte Wangen und eingesunkene, trauervolle Augen. In vielen
Gesichtern ist der seelenlose Stumpfsinn, den ein monatelanges Leiden
in ihnen erzeugte. Einige sind leicht verwundet, schon verbunden. Viele
gehen Arm in Arm gehängt, die noch Kräftigeren stützen die Schwächeren.
Unter dem Tausend sind kaum hundert hoch und gut gewachsene Leute, von
denen wir Deutschen sagen würden: Das sind Mannsbilder. Alle anderen
sind klein, zart und schwächlich von Natur, dazu noch zerrieben von der
Mühsal des Krieges, viele unterhalb unseres Militärmaßes, sogar von
zwerghaft zurückgebliebenem Wuchs.

So wandern sie vorbei -- nicht verspottet und verhöhnt, nicht beschimpft
und mißhandelt, nicht bespien und mit Fußtritten regaliert, wie es
deutschen Gefangenen in Frankreich erging. Unsre Feldgrauen stehen ernst
und schweigsam, sie reden und lachen nicht. Und viele von ihnen, die
doch unter dem Kugelregen der Franzosen gestanden und bedroht waren von
Wunden und Tod -- vielen kann ich es an den Augen ansehen, daß in ihren
»Hunnenseelen« das gleiche menschliche Erbarmen ist wie in mir, der ich
mich an solche Bilder des Krieges erst noch gewöhnen muß und noch keine
von seinen Gefahren verschmeckte.

Während die Gefangenen am Kaiser und der Gruppe seiner Offiziere
vorüberkommen, reden wunderlich verschiedene Dinge aus diesen
französischen Augen: Gleichgültigkeit und Neugier, Hohn oder Haß. Aber
es sind doch auch manche dabei, in denen der Zorn und die Pein der
Stunde nicht völlig die Züge soldatischer Ritterlichkeit ersticken kann.
Ob sie den Kaiser und den Kronprinzen erkennen? Oder ob sie nur glauben:
das sind Generäle? Sie salutieren oder ziehen das Käppi herunter, und
der Kaiser dankt.

Die letzten verschwinden, und eine Gruppe von deutschen Lanzenreitern
klirrt hinter ihnen her.

Das Bild, das ich gesehen, beschäftigt mich noch lange, während
die Fahrt im Auto gegen Süden geht. Der Kronprinz begleitet seinen
kaiserlichen Vater eine Strecke Weges, will ihm eine Stelle mit weiter
Fernsicht gegen die Argonnen zeigen. Das Gespräch der beiden, das sich
immer um Dinge des Krieges dreht, ist ernst, aber die Stimmen bleiben
durchhaucht von einer warmen Herzlichkeit.

Nach einer halben Stunde hält das Auto. Mitten aus der welligen
Landschaft erhebt sich ein großer, steiler Hügel, ein Kalvarienberg,
gekrönt von einem mächtigen Kreuzbild.

Der Weg da hinauf ist mit Schwierigkeiten verknüpft, denn die Regengüsse
vieler Wochen haben den lehmigen Steilhang so durchweicht und versumpft,
daß jeder Schritt ein Glitschen und Rutschen wird. Aber die Kletterei
belohnt sich. Droben eine meilenweite, wundervolle Rundschau! Das
große Stück Welt, das zu sehen ist, gleicht einem in den Wolken
schwimmenden Riesenteller, der belegt ist mit Wäldern und Feldern, mit
Städten und Dörfern, mit Strömen und Bächen. Und alles ist Land, das
die Deutschen eroberten! Und gegen Südosten zieht sich durch das Grau
des fernen Horizonts etwas hin, das einer schwarzen, langgestreckten
Gigantenschlange gleicht. Das ist der Argonnenwald, der unserem Heere
so blutig zu schaffen macht. Immer klingt aus jener Ferne ein dumpfes
Murren her, ganz leise, kaum noch zu hören im Brausen des Windes,
der den Hügel überweht. In der Höhe jagen zerrissene Wolken; und
sieht man empor zu ihrem Flug, so scheint das mächtige Kreuzbild sich
herabzuneigen, als möcht' es in Barmherzigkeit das Menschengeschlecht
der Erde umarmen.

Beim Niederstieg erweist sich der glitschige Boden noch feindseliger.
Ich frage den Kaiser, ob ich ihn stützen darf. »Ja! Kommen Sie her!« Er
faßt mich an der Schulter. So geht es langsam hinunter, und ich haue
bei jedem Schritt den Stiefelhacken ein, wie bei Glatteis auf einer
Gemsbirsche. Halb sind wir schon drunten. Da rutsche ich selber aus. Und
der Kaiser mit seiner starken Faust hält mich aufrecht. Meinen etwas
verlegenen Dank erwidert er mit dem lachenden Wort: »=Soldat und Bürger,
die beiden müssen einander helfen, so gut sie können!=« --

Während der Rückfahrt durch die sinkende Dämmerung spinnen sich in
meiner Seele hundert Gedanken und Bilder um dieses vieldeutige Wort des
Kaisers. --

Und ich glaube, daß man uns Deutschen in dieser Zeit von heute keine
stärkere und tiefere Mahnung sagen kann als dieses Kaiserwort: »Soldat
und Bürger, die beiden müssen einander helfen, so gut sie können!«

Geschieht es so -- nicht nur im ersten Feuerstrom des alle Herzen
durchflammenden nationalen Glaubens, sondern auch in allen Wechselfällen
eines langen und zähen Kampfes, der von Bürger und Soldat das letzte der
deutschen Kraft verlangt -- dann werden wir als Volk nicht niedergleiten
in Schmutz und Tiefe. Wir werden aufrecht stehen! Und gleich den
gläubigen Magiern aus dem Morgenlande, die geführt wurden von ihrem
leuchtenden Sterne, werden wir alle Tücke und Hinterlist des Herodes,
der uns in Neid erwürgen will, zuschanden machen!




                                   5.


                                                        22. Januar 1915.

Wir leben in einer gerechten Zeit, die es sich angelegen sein läßt,
allerlei unzutreffende Urteile in den Köpfen und Herzen des deutschen
Volkes richtigzustellen. Jetzt wissen wir, daß unser Entrüstungssturm
über Zabern keine völlig objektive Sache war; daß uns eine kleine,
wieder deutsch gewordene Insel in der Nordsee viel schutzreichere
Dienste leistete als jenes größere Inselland an der ostafrikanischen
Küste, dessen Abtausch an England wir mit leidenschaftlichem Kummer
beklagten und als Diebstahl an der Schatztruhe des deutschen Michels
bezeichneten; und seit unsere jungen Offiziere das Monokel fallen ließen
und, ein befeuerndes Vorbild für die Mannschaft, mit Heldenruhe und
heiligem Opfermut in den Bleihagel der Feinde schritten, wissen wir
auch, daß wir alle Ursache haben, den Typus des deutschen Leutnants
wesentlich anders und unabhängiger von Äußerlichkeiten zu konturieren,
als dies noch in der letzten Juliwoche des vergangenen Jahres geschehen
ist.

Ein langer Friede, und mag er an sich die schönste und begehrenswerteste
Sache sein, ist doch auch ein diplomierter Pädagoge für Erziehung
ungerechter Nörgelsucht, skrupellosen Haders und ausartenden Mißtrauens;
unter der Engelsmaske schneidet sein Gesicht die Grimassen eines
Verleumders und Lügners; mit dem Motto »Verwirf das Gute und begehre
das Bessere!« zerbröselt er jene menschlichen Werte, deren wir in
stürmischen Zeiten am dringendsten bedürfen, und die -- das mag zu
seiner Entschuldigung gesagt sein -- auch nur in der Morgenröte großer
Ereignisse ihre wahre Gestalt und ihr innerstes Wesen zu zeigen
vermögen. Deutschland wäre ärmer geblieben um einen genialen Feldherrn,
wenn es nicht reicher geworden wäre um diesen heiligen Krieg.

Gewiß sind Witz und Satire zwei völlig unentbehrliche Waffen jeder
Kultur, jeder ethischen und nationalen Entwickelung. Aber künstlerische
Schöpferkraft ist nur dann in ihnen, wenn sie die Größe fördern und
bejahen, die sie zu befehden scheinen. Fehlt es ihrem Maßstab an
gerechtem Gewissen, verliert ihr Scheinbild =jede= Beziehung zum Bilde
der Wirklichkeit, jeden positiven Boden, und wird es zur augenlosen
Negation, die _à la mode_ einen vergnüglich mundenden Kaviar für das
Volk bereitet, dann ist es mit Witz und Satire die gleiche Sache, wie
wenn die völkerrechtlich zulässigen Mantelgeschosse durch sträfliche
Manipulationen zu mörderisch wirkenden Dum-Dum-Kugeln verzwickt werden.

Man verzeihe mir dieses etwas philosophisch angehauchte Vorspiel. Es
begann in mir zu klingen, als ich am dritten Tage meines Aufenthaltes im
Großen Hauptquartier einen für uns Deutsche gerade jetzt sehr wichtigen
Mann kennen und in gesteigertem Maße ehren lernte -- einen Mann, den wir
immer als »Philosophen« zu besteckbriefen liebten -- wenigstens bis zu
jenen Augusttagen, die uns eine gerechtere Meinung von ihm beibrachten.
Ich hab ihn früher niemals so Aug' in Auge gesehen, immer nur aus der
Ferne, wie auch Millionen andere ihn sahen. Nah und genau betrachtet,
sieht er =ganz= anders aus. Ich muß gestehen, daß ich noch nie einen
so krassen Widerspruch zwischen Lebenswahrheit und landläufiger
Karikaturtype beobachtete.

Die Natur hat diesen Mann nicht mit zwölf Kopflängen ausgestattet,
wie den roten Theaterprinzen von Arkadien, und hat ihn auch nicht
so hopfenstangenmager gebildet, wie er immer gezeichnet wird. Er
sieht viel eher wie ein fester, wohlproportionierter, derbgesunder
und breitschulteriger Forstmann aus, der seine Galauniform genau so
bequem und selbstverständlich trägt wie sonst seine Waldjoppe. Dazu
ein wuchtiger, strenggeschnittener Kopf, unter dessen hartknochiger
Stirnwölbung sich kein Versteck für nebulose Theorien vermuten läßt. Was
edles Metall ist, prägt sich anders als lindes Blei; und klare Formen
sind immer eine Gewähr für die Eigenschaften des Inhalts. Bei seiner
umfassenden Geistesbildung mag dieser kraftvoll aussehende Mann wohl
mehr von philosophischen Dingen wissen als mancher unter jenen, die ihm
den »Philosophen« anzukreiden pflegen. Aber er ist weder menschenferne
und trocken wie der große Weise von Königsberg, noch gallig und moros
wie Schopenhauer, noch ein wortschwelgerischer Systematikus wie Hegel,
noch dithyrambisch-bärbeißig oder entrückt-melancholisch wie Nietzsche.
Er ist und blickt und redet und geht und steht wie ein prachtvoll
natürlicher Mensch, der ohne Mittel, nur durch sich selbst und durch
die ruhige Festigkeit seines persönlichen Wesens gewinnt und erobert
-- wenn man sich nicht gewaltsam und eigensinnig dagegen sträubt, wie
die meisten von uns Deutschen es getan haben, seit der ersten Stunde
seiner Amtsführung. Aber dieser Widerstand ist wohl erledigt seit dem
erhebenden Augusttage, an dem unser Reichskanzler sprach, was allen
Deutschen aus der Seele gesprochen war, und an dem er sich als eine
tragende Säule der festen, raschen und entscheidenden Tat erwies, die
notwendig war für die Sicherheit und den Fortbestand unseres Reiches.
Und nun wollen wir Deutschen das niemals wieder vergessen: daß Mißtrauen
und anspruchsvolle Ungeduld aus Vergleichsmanie gefährliche und lähmende
Kräfte sind. Das willige Vertrauen des Volkes formt den begabten
Staatsmann, wie die Gelegenheit des Krieges den geborenen Feldherrn
erscheinen und erkennen läßt. Wir von heute wissen, wie das deutsche
Volk seinen Bismarck auf der Höhe seiner reifen Kraft und seines
Erfolges nahm; aber nicht alle erinnern sich daran, wie er in den Jahren
seiner Entwicklung genommen wurde, und daß man den Abgeordneten von
Bismarck-Schönhausen bei seiner Jungfernrede verhöhnte und auslachte.
Übrigens -- damals wurde viel davon gesprochen, was mit Polen geschehen
soll. Was Bismarck in der Magdeburger Zeitung aussprach, und was in
der Paulskirche der junge Dichter Wilhelm Jordan über Polen sagte, das
sollte man heute nachlesen, sehr aufmerksam. Vieles davon stimmt auch
heute noch und kann Wege zeigen. --

Das Auswärtige Amt ist im Großen Hauptquartier untergebracht in dem
Gartenhaus eines Bankiers, von dem es ebenfalls heißt: »_Il est parti!_«
-- zu deutsch: verduftet! Aber in dem Hause, aus dem er entfloh, ist
ein Odeur seiner seltsam träumerischen Seele zurückgeblieben. Die
Wohlhabenheit seines Besitzes läßt vermuten, daß er in seinem Bureau
ein tüchtiger Finanzmann war. Doch in der Seele dieses erfolgreichen
Geldsammlers muß ein Winkelchen gewesen sein, das angefüllt war: mit
märchenzärtlicher Romantik. Das beweist die ganze Ausstattung seines
Hauses, und vor allem beweist es der große, jetzt zur Arbeitskarte des
deutschen Auswärtigen Amtes umgewandelte Salon, dessen wunderlichen
Schmuck allerlei mechanische Spielwerke bilden. Der Träumer brauchte
da nur in seinen Mußestunden ein paar Schlüssel zu drehen und ein
paar stählerne Federn aufzuziehen: dann tanzte eine Bajadere, ein
schöner Türke machte Gebetsverbeugungen, ein Schlangenbändiger gab eine
Vorstellung und ein Affe fing zu klettern an und produzierte seine
drolligen Kapriolen.

Jetzt stehen diese Spielwerke still. Der deutsche Reichskanzler hat
in dem okkupierten Salon viel notwendigere Dinge zu tun als Affen
klettern und Bajaderen tanzen zu lassen. Doch ist zu vermuten, daß
er wirksam damit beschäftigt ist, die giftige Schlangenschar der von
unseren Feinden in die Welt geworfenen Lügen zu bändigen -- wobei das
deutsche Heer mit nie ermüdendem Fleiß den Eisenschlüssel dreht und die
stählernen Federn aufzieht.

Zwischen den ruhenden Spielwerken stehen die Schreibtische, denen man
es ansieht, wie ruhelos hier gearbeitet wird. In der Mitte des Raumes
befindet sich der Schreibtisch des Reichskanzlers -- und unter den
Büchern, die da liegen, gewahre ich einen Band Satiren von =Ludwig
Thoma=. Es macht mir Freude, das Wohlgefallen des Reichskanzlers von
Bethmann Hollweg am süddeutschen Klang bestätigt zu sehen. Ich äußere
das, und er sagt in seiner warmen, freundlichen Art: »Ja, das ist im
Feld und zwischen der Arbeit meine Lieblingslektüre. Dabei erhole ich
mich und werde ruhig.«

Ein Jagdausflug, den der Reichskanzler im Herbste 1913 nach Linderhof
machte, gibt Veranlassung, von meiner Heimat, ihren Bergen und
ihrem Volk zu sprechen. Wieder höre ich die gleiche Anerkennung der
verläßlichen Tüchtigkeit unseres Bayernheeres, wie schon der Kaiser
sie mir mitgeteilt hatte. Und das Gespräch leitet über auf den Gang
der Dinge zu Hause, auf die Opferwilligkeit und auch auf die nervöse
Ungeduld der Daheimgebliebenen, auf schwer fühlbare Härten der Zeit,
auf akute Probleme der Industrie, des von Schwierigkeiten bedrückten
geschäftlichen Verkehrs und der reichen vaterländischen Fürsorge. Was
ich im Verlaufe dieses Gespräches hörte, läßt sich zusammenfassen in die
Worte:

»Bewundernswert ist es, was zu Hause an Opferwilligkeit geleistet wird!
Aber die Unruhe, die sich daheim in manchen Erscheinungen äußert,
begreift man hier im Felde nicht ganz. Zu irgendwelcher Unruhe ist doch
nicht der geringste Grund vorhanden. Eine Zeit wie die jetzige ist immer
schwer, für alle und für jeden. Das muß eben überwunden werden. Und wir
=werden= es überwinden. Dann wird das Verlorene sich wieder ersetzen,
doppelt. Wie es hier im Felde steht, das werden Sie mit eigenen Augen
sehen. Erzählen Sie es nur daheim! Überall geht's voran, manchmal für
die Ungeduld zu Hause nicht schnell genug, aber man muß einem zähen
Feinde gegenüber vorsichtig sein und unnötige Opfer vermeiden, um Kraft
für entscheidende Stunden zu sparen. Wenn man sieht, wie tüchtig und
beharrlich im Felde gearbeitet wird, nicht nur an der Front, sondern
auch =hinter= der Front und =zwischen= den Kämpfen, dann wird man
ruhig, fühlt sich sicher und wird vertrauensvoll, auch in nötigem Maße
geduldig.«

Wenn man unseren Reichskanzler schon einen »Philosophen« nennt, so
ist das eine Philosophie, die wir Deutschen uns alle zu eigen machen
sollten, bis sie Stein und Bein in uns geworden. Ich habe vor kurzer
Frist in der »Frankfurter Zeitung« ein starkes und tiefes Wort von
Theobald Ziegler gelesen: »Der Sieg ist unser Schicksal, dem wir
entgegenreifen.« Und neben dieses Wort will ich einen japanischen
Ausspruch stellen, von dem wir in diesen Tagen gehört haben: »Wer im
Kriege die Hilfe der anderen braucht, hat schon verloren.« Zwei Worte --
in dem einen kristallisiert sich der Glaube, im anderen der Beweis. Bei
uns ist die Kraft, bei uns der Sieg. Da sollte uns das bißchen Warten
und Geduld doch so leicht werden wie ein Spiel, dessen stählerne Feder
man mit keinem Schlüssel aufzuziehen braucht!

-- (Während ich das niederschreibe, marschiert unter meinem Fenster zu
Peronne ein Bataillon des Münchner Leibregiments vorüber, marschiert
in sausendem Wind und unter strömendem Regen zur Ablösung in die
Schützengräben. An die tausend Feldgraue sind es. Und sie singen! Diese
prächtigen Menschen! Ihr, die ihr zu Hause seid, ihr hört ja diese
Lieder unter =eueren= Fenstern =auch=, fast täglich! Das klingt auch in
der Heimat schön -- und dennoch anders! Hier, während in geringer Ferne
die große Trommel der Geschütze dröhnt, klingt dieses kraftvolle Lied
so ruhig und heiter, so gläubig und zuversichtlich, daß ich es nicht
zu schildern vermag. Die Wirkung ist so mächtig -- man kann es nicht
sagen, nur fühlen. Etwas Starkes und überwältigend Frohes ist in mir --
aber ich muß für eine Weile die Feder fortlegen, weil ich zum Schreiben
nimmer sehe.) --

-- -- Laßt mich wieder erzählen!

Der klärende und erhebende Eindruck, den ich aus dem französischen
Gartenhaus des deutschen Reichskanzlers mit mir fortnahm, sollte noch
ein tragendes Fundament am Abend finden, als ich wieder in dem kleinen
Wintergarten der stillen Villa war, im Kreise der den Kaiser umgebenden
Offiziere.

Ich sah und hörte da ein für uns alle sehr lehrreiches Beispiel von
des Kaisers Geduld und Ruhe gegenüber den Verleumdungsbomben, die
von unseren vielen Feinden mit sehr übel riechendem Pulver gegen uns
abgeschossen werden. Diese Dinge erbittern ihn, daß ihm die Stirne
brennt. Aber auch in der heißesten Erregung verliert er nie die
Herrschaft über sein Wort. Ich hörte den Kaiser in einem solchen Falle
sagen: »=Das ist stark! Aber dumm ist es auch! Ein Glück, daß die
Wahrheit auf die Dauer immer klüger ist und die schnelleren Beine hat.=«

Ritterliches Verhalten einzelner Gegner erfreut ihn. Und noch kaum einen
zweiten Deutschen hab' ich über gute Eigenschaften, über zähe Tapferkeit
und kriegstechnische Leistungen unserer Feinde so objektiv, so gerecht
und anerkennend urteilen hören wie den Deutschen Kaiser. Das sollten
einmal jene von ihm hören, die alle feindliche Welt jetzt erfüllen
mit ihren urteilslosen Pamphleten wider ihn, mit den aberwitzigsten
Karikaturen und den niedrigsten Beschimpfungen.

Auch gegen England hörte ich vom Kaiser kein im Zorn maßloses Wort.
Jedes Urteil, das er da ausspricht, bleibt doch, so streng es
auch manchmal klingt, immer innerhalb der Grenzen einer vornehmen
Zurückhaltung. Doch hört man, wenn von den Germanenvettern über dem
Kanal die Rede ist, aus seiner Stimme ein leises, kaum merkliches
Vibrieren. Dabei mischt sich seine Rede mit Bildern von scharfer
Prägung, mit Gleichnissen von schlagender Kraft.

Im Gespräch mit dem Vertreter eines neutralen Staates sagte der Kaiser:
»=Sie sind doch Sportsmann? Wenn bei einem Wettrennen nach und nach alle
schwächeren Konkurrenten ausscheiden, und es ringen nur noch die zwei
stärksten Pferde um den Sieg -- haben Sie es da schon einmal gesehen,
daß der Jockei des Pferdes, welches nachzulassen droht, mit der Peitsche
nach dem Jockei des Pferdes schlägt, das ehrgeiziger und besser bei
Kräften ist?=« Ein Kopfschütteln des Sportsmannes. »=Nun? Warum schlägt
dann England nach uns? Warum schlägt es nicht auf seinen faulwerdenden
Gaul?=«

Und noch ein anderes Kaiserwort, von dem ich glaube, daß es festgehalten
werden muß:

»=Viele von den Leuten, die uns Deutsche immer nach Äußerlichkeiten des
Schliffes beurteilen und uns immer Barbaren nennen, scheinen nicht zu
wissen, daß zwischen Zivilisation und Kultur ein großer Unterschied ist.
England ist gewiß eine höchst zivilisierte Nation. Im Salon merkt man
das immer. Aber Kultur haben, bedeutet: tiefstes Gewissen und höchste
Moral besitzen. Moral und Gewissen haben meine Deutschen. Wenn man im
Ausland von mir sagt, ich hätte die Absicht, ein Weltreich zu gründen,
so ist das der heiterste Unsinn, der je über mich geredet wurde. Aber in
der Moral, im Gewissen und im Fleiß der Deutschen steckt eine erobernde
Kraft, die sich die Welt erschließen wird!=«

Unser Kaiser ist ein Deutscher im Sinne seines eigenen Wortes.

Das alles durfte ich erzählen und glaubte es erzählen zu müssen. Wird
auch den toll gewordenen Lästerhähnen aller uns feindlichen Länder
der »zweite Attila« vorerst nicht auszureden sein, so werden diese
Charakterzüge und Worte des Kaisers doch dazu beitragen, daß wir
Deutschen sein innerstes Wesen richtig erkennen.

Dieser Abend in dem kleinen französischen Wintergarten -- es waren
außer dem Großadmiral von =Tirpitz= als Gäste noch zwei Offiziere da,
von denen der eine als Kurier aus Konstantinopel, der andere als Kurier
aus dem Osten, vom Heere des Feldmarschalls Hindenburg, gekommen war --
dieser Abend gab mir auch noch andere Dinge zu hören, sehr erfreuliche
und verheißungsvolle! Die muß ich in mir verschließen. Nur dieses eine
darf ich sagen: =Als ich an diesem Abend unter rauschenden Regengüssen
zu meinem engen Grillenhäuschen heimwanderte durch die finstere Nacht,
da sah ich unsere deutsche Sonne glänzen, groß und schön!=




                                   6.


                                                        24. Januar 1915.

Alles ist grau in grau verschwommen. Der Regen plätschert, und was Strom
oder Bach heißt, ist wie ein wildes Tier. Bei jeder Wasserpfütze, in die
ich trete, bei jedem Schlammloch, in das ich hineintappe, muß ich an
unsere Soldaten denken, die in den verpfuhlten Schützengräben liegen.
Bei uns zu Hause geht man unter dem Regenschirm oder bleibt daheim oder
sitzt im Kaffeehaus. Mag es so sein! Wenn wir nur des Unterschiedes nie
vergessen!

Gegen zehn Uhr morgens wird es ein bißchen heller. Im Auto, das mich
abholte, geht's nach Bellevue hinaus. Eine Enttäuschung. Das Schloß,
in dem Napoleon seinen Degen an den König von Preußen übergab, ist
abgesperrt; es hat bei Beginn des Krieges schon empfindlich gelitten;
nun soll diese heilige Gedächtnisstätte der Deutschen vor jeder weiteren
Zeitgefahr behütet werden. Der Park ist umzogen von einem Zaun aus
Stacheldraht, und ein deutscher Posten steht Wache. Das Schloß ist
leer, seine Fenster sind mit Brettern verhüllt, sind geschlossene
Augen. Ich will davongehen. Da befällt mich eine tiefe Erschütterung
-- ich sehe die ersten deutschen Soldatengräber dieses Krieges: kleine
lehmgelbe Hügel, schwächliche Holzkreuze, die geheiligten Namen kunstlos
daraufgeschrieben, geschmückt mit Kränzen und Tannengewinden, denen man
es ansieht, daß sie von harten Männerfäusten geflochten sind.

Lange steh' ich mit entblößtem Kopf. Und ich sehe nimmer die Gräber,
nicht den Acker, nicht das Schloß und nimmer den triefenden Wald. Ich
höre nur in der Morgenstille den leisen, ruhelosen Fall von unzählbar
vielen Tropfen und sehe deutsche Städte und deutsche Dörfer, deutsche
Straßen und deutsche Stuben, sehe Kinder, die froh sein möchten und
verschüchtert sind, und sehe Mütter, Frauen und Mädchen, alle in
schwarzen Kleidern, mit blassen Gesichtern und entzündeten Augen.
Vieltausendfach ist der Tod über die Wiesen des deutschen Glückes
hingegangen, und in der Heimat fallen der Tränen mehr als Tropfen da
drüben in dem regennassen Wäldchen von Bellevue. Doch aus den blassen
Gesichtern, die ich sehe, spricht etwas anderes heraus, als es sonst
der Gram um versunkene Menschen ist, die uns teuer waren. Die Trauer,
die ich sehe, ist gefaßter, edler und heiliger. Stolz und Schmerz sind
verschwistert in ihr. Wir alle, die wir um der Heimat willen verlieren
mußten, sei es an teuerem Leben oder an Gut, wir alle wissen, wofür wir
es hingaben.

Während ich die Gräber verlasse, bleibt in mir eine Stimmung wie
nach dem Gottesdienste, bei dem vom sehnsüchtigen Auszug und von der
gesegneten Heimkehr der Magier aus dem Morgenlande gepredigt wurde.
So betrete ich auf der Landstraße zwischen Bellevue und Donchery
das alte kleine Haus, in welchem Napoleon auf Bismarck wartete. Ein
niederes, fast leeres Stübchen. Es steht da nur ein Glasschrank mit
Erinnerungen und ein Tisch mit zwei Strohsesseln. Auf dem einen
dieser Stühle hat Napoleon gesessen, auf dem anderen Bismarck. In dem
Glaskasten zeigen kleine Blätter die Handschriften unseres Kaisers,
des deutschen Kronprinzen und anderer Fürsten. Jedes Blatt ist an
den Ecken beschwert mit den Zwanzigmarkstücken, welche die Hüterin
dieses Hauses als Geschenk erhielt. Damals, am Sedanstag, war sie eine
Sechsundzwanzigjährige, jetzt ist sie eine Greisin mit weißem Haar. In
dem ruhigen Ton, mit dem die Kustoden von Kunstsammlungen zu sprechen
pflegen, erzählt sie, wie sie während jener Schlacht mit ihrer Familie
im Keller saß und die Granaten sausen hörte, die über das Hausdach
hinüber und herüber flogen. Geradeso wäre es jetzt wieder gewesen, beim
Kampf und bei der Zerstörung von Donchery. Von der freundlichen Güte
unseres Kaisers erzählt sie und von den vielen hohen Gästen, die in ihr
berühmtes Haus kommen. Von den tausend anderen, ungefürsteten Besuchern
dieses Raumes erzählen die Wände, die Türbretter, die Fenstergesimse,
sogar die Stubendecke -- alle Plätze, auf die man seinen Namen schreiben
kann. Eine wunderliche und rührende Tapete: diese Tausende von deutschen
Namenszügen!

Beim Gehen, unter der Türe, sag' ich zerstreut: »Auf Wiedersehen!« Die
Greisin erschrickt: »Nein, mein Herr, nein, nein! Da wäre doch =wieder=
Krieg! Das muß der letzte sein!« Sie lächelt. »Kommt noch einer, so leb'
ich nimmer!«

Ein Anstieg über eine Feldhöhe. Niedergetretener Hafer und ungeerntete
Rüben. Manchmal neben der Straße ein halb wieder zugeschütteter
Schützengraben. Dürr gewordene Laubhütten, die den Soldaten als
Unterstände bei Regen dienten. Und lange, breite Drahthindernisse, jetzt
zerschlagen und zerstampft. Wie kleine dünne Schlangen ringeln sich
überall die entzweigeschnittenen Drähte aus dem Kraut heraus.

Hohe, von Gestrüpp überwucherte Erdwälle und hinter ihnen etwas sehr
Sonderbares -- es sieht aus wie ein gewaltiger Termitenhaufen mit vielen
Einschlupftrichtern: das von den Deutschen eroberte und zerstörte Fort
des Aivelles, dessen Kommandant sich, als die Feste fiel, eine Kugel
durch den Kopf jagte. In einem Föhrenwäldchen liegt das Grab, das ihm
die Deutschen gruben, und das sie zur Ehrung dieses Braven in sinniger
Weise schmückten. Die Hälfte seiner Besatzung war ihm davongelaufen,
bevor die erste deutsche Granate kam -- noch heute liegen an vielen
Stellen die roten Hosen umher, die diese Sorgenvollen herunterzogen, um
sie durch minder gefährliche Bauernhosen zu ersetzen.

Meinen Weg sperrt solch ein riesiger Termitentrichter: die
Einschlagstelle eines deutschen Haubitzengeschosses. Ein Loch vom
Umfang einer Stube, drei Meter tief, und drunten sieht man durch
einen zerrissenen Schacht hinunter in einen schwarzen Keller, in
die »granatensichere« Kasematte, deren Betondach der deutsche Schuß
zertrümmerte. Überall Vernichtung; zwei Meter dicke Mauern sind zerrupft
wie Fließpapier; nur die Torhalle hat standgehalten; hier liegt noch das
französische Pulver in den Gewölben. Heiter schwatzende Landsturmmänner
sind mit dem Sortieren des Beuterestes beschäftigt; alles wird
gesammelt, was sich für deutsche Zwecke wieder verwenden läßt: Eisen,
Kupfer, Messing, Zinkblech, Bleiröhren und Gummi. Über Trümmerhaufen und
durch Granatenlöcher klettere ich hinauf zur Plattform des Forts. Die
Kanonen, die hier stumm gemacht wurden, sind schon verschwunden, nach
Deutschland gebracht. Nur die Verwüstung ist noch da, mit grauenvollem
Gesicht, mit etwa vierzig Granatentrichtern, die aussehen wie tief
eingesunkene Todesaugen. Ein Schuß hat den hohen eisernen Mast der
französischen Flagge umgeworfen, hat die Spitze in den Grund gebohrt und
den schweren Fuß in die Luft gehoben.

Meine Augen irren über dieses stumme und doch schreiende Bild des
Unterganges hin. Ein schmerzender Schauder überrieselt mich bei dem
Gedanken, daß unsere deutschen Festungen so aussehen könnten wie dieser
leblose Trümmerhaufen -- wenn wir nicht die Stärkeren wären und nicht
die Ausdauer und den Willen hätten, es auch zu bleiben.

Immer rieselt der Regen, dichte Wolken jagen über Hügel und Wälder hin,
und graue, wogende Dünste verschleiern, was Landschaft heißt. Alles
Französische scheint sich in deutsches Feldgrau verwandelt zu haben. Aus
diesem unübersehbaren Heere lösen sich immer wieder einzelne Gestalten
sichtbar ab: Soldaten, welche die Landstraßen und die Brücken bewachen.
Bei jedem zweiten oder dritten Kilometer gibt's einen Aufenthalt der
Fahrt, eine Schranke, eine Visitation. Mein Ausweis öffnet mir jeden
Schlagbaum. So geht's in fünfstündiger Autohetze über Hirson und
Guise nach St.-Quentin, in dem es wimmelt von deutschen Kriegern. Wo
kommen sie nur alle her? Ganz märchenhaft ist ihre Menge. Und daheim,
bei meiner Reise durch deutsches Land, war es ebenso! Sei gesegnet,
meine Heimat, du unerschöpflichster aller Menschenbrunnen! Und England
will uns vernichten? Uns? Wäre diese britische Sehnsucht nicht so
verbrecherisch, sie müßte drollig wirken in ihrer Torheit.

Bei sinkendem Abend erreiche ich die Stadt Peronne. Wieder dieses
gleiche Soldatengewimmel, noch dichter als in St.-Quentin! Der große
Stadtplatz, auf dem ein gutes Denkmal der Marie Fouré zu sehen ist,
einer französischen Heimatsheldin vom Geiste der Jungfrau von Orleans --
dieser Platz, den der stumpfköpfige, mit dem gallischen Hahn geschmückte
Turm der Kathedrale überragt, sieht mit seiner Soldatenmenge aus wie
daheim in München der Marienplatz nach einer Parade am Königstag. Aber
bin ich denn in der Fremde? Bin ich nicht wirklich daheim? Überall
bayerische Klänge. Münchner Laute! Ich fasse einen Feldgrauen am Arm:
»Grüß Gott, Landsmann! Woher sind Sie denn?« -- »Von Hoadhausen!« --
»Und wie geht's immer?« -- »Guat. Warum soll's denn schlecht gehn?« --
»Aber eine aufregende Zeit das! Nicht?« -- Er sieht mich an, als hätte
ich eine Sprache geredet, die er nicht versteht; dann lacht er ein
bißchen: »Gell, Sö kommen grad von dahoam? Ja ja, da =san= d' Leut a
so. I woaß net, warum?« -- Was dieser eine sagt, das gleiche lese ich
aus allen Gesichtern und Augen, hör es aus allen Worten. Hier im Feld
ist die Ruhe, das Bewußtsein der deutschen Kraft. Zapplig, ohne Geduld
und aufgeregt sind nur wir zu Hause. -- »=I woaß net, warum?=« sagte
der brave Feldgraue, der jetzt vier Tage Rast hat und dann wieder vier
Tage im Schützengraben stehen muß. =Ohne= Regenschirm! Gäb' es einen,
der ihm dienen könnte, so müßte es einer sein, der, statt mit Seide oder
Baumwolle, mit daumendicken Stahlplatten bezogen ist. Und für =alle=
fallenden Tropfen würde der =auch= nicht helfen!

Mein erster Weg zu Peronne führt mich ins Kriegslazarett. Hier liegt
ein junger deutscher Offizier, der mir lieb ist. Ein stummes, festes
Umhalsen. Dann sitz' ich an seinem Bett, und seine fieberheiße Hand ruht
in der meinen. Aber diese Sorge, die schon wieder verläßliche Hoffnung
ist, gehört mir allein. Davon will ich nicht sprechen. Ich bin hier, um
zu schauen und um der Heimat zu erzählen, wie meine Reise zur deutschen
Front eine Reise zum deutschen Glauben wurde.

Im Lazarett muß ich Bilder sehen, die hart sind und in die Seele
schneiden. Ich will sie nicht schildern; wir alle wissen, was Leiden
und Schmerz des Krieges heißt. Aber was ich sehe, predigt mir gleich in
der ersten Stunde die dankbare Bewunderung für unsere deutschen Ärzte
und für den stillen, geduldigen Opfermut unserer Schwestern vom Roten
Kreuz. Und diese Blankheit des Lazarettes, diese Ordnung und Sauberkeit!
Überall, wo unsere Ärzte einzogen, mußten sie wider den französischen
Schmutz zuerst das Wunder der Reinlichkeit wirken.

Aus einem Lazarettraum, an dessen halboffener Tür ich vorübergehe, hör'
ich in der sonst tiefen Stille des Hauses einen fast kindlich klagenden
Singlaut: »Oooohlala, ooohlala, ooohlala!« So ähnlich sangen einmal auf
der Münchner Theresienwiese die Aschantimädchen. Ich frage einen Wärter:
»Was ist denn das?«

Er brummt: »=Ah mei', so a wehleidiger Franzos, der grad verbunden wird!
Gar nix halten s' aus, allweil müssen s' wuiseln. Die Unsern beißen die
Zähn übereinand, da hörst kein Laut net! Is halt doch an anderer Schlag,
Gott sei Dank!=«

Ich spreche ihm das in meinem Herzen nach: »Gott sei Dank!« -- Noch am
gleichen Abend erzählt mir ein hoher Offizier, daß unsere Feldgrauen
für die Franzosen diesen Spitznamen aufbrachten: »Der =Ohlala=!« Und
noch einen anderen haben sie: »Der =Tuhlömong=!« Wo die feindlichen
Schützengräben nahe bei den unseren liegen, kann man häufig das
französische Kommando hören: »_Tout le monde, en avant!_« -- Das Ganze
vor! Bleibt dieser Befehl ohne Folge, was häufig geschieht, dann sagen
unsere Feldgrauen lachend: »Heut mag er net, der Tuhlömong!«

Als ich aus dem Lazarett auf die Straße trete, fällt der gottverwünschte
Regen schon wieder in dicken Schnüren. Nur dieses Rauschen; die
Häuser der Stadt sind still und finster, alle Türen und Fensterläden
geschlossen; nach Einbruch der Dunkelheit darf sich bei schwerer
Strafe niemand von der einheimischen Bevölkerung mehr auf der Straße
zeigen. Außer den einquartierten Soldaten wohnen da nur noch Greise und
Knaben, Frauen, Mädchen und Kinder. Alle Wehrfähigen sind fortgeführt
oder dienen im französischen Heer. Ob diese Dienenden noch leben,
oder gefallen, oder gefangen sind, das weiß hier niemand. Seit vier
Monaten sind die Einheimischen ohne Nachricht von ihren Vätern und
Söhnen im Heer; jeder Briefverkehr mit Angehörigen jenseits der Front
ist ihnen zur Verhütung von Spionage verboten. Krieg! Was mag hinter
den geschlossenen Fensterläden, durch deren Ritzen das scheue Licht
herausquillt in die Regennacht, aus verschlossenem Gram und Zorn
geflüstert und geknirscht werden! -- Bei uns daheim ist es anders! Da
ist Licht und Leben und unbedrückte Freiheit! Auch Leid und Schmerz,
gewiß! Das hat seine harten, unvermeidlichen Gründe! -- Aber unsere
nervöse Ungeduld, die sich manchmal versteigt zu sinnlosem Klatsch und
zu Worten voll übler Ungerechtigkeit wider unser Heer und seine Führer?
-- Wie sagte der brave Feldgraue von Haidhausen? »I woaß net, warum?«

Auf dem dunklen Stadtplatz, bei dessen wenigen Laternen die
Wasserpfützen des Pflasters glitzern, nähert sich mir ein mächtiges
Rollen, Schnauben und Knattern. Wie ein langer, langer Zug von schwarzen
Ungetümen saust es aus der Nacht heraus und in die Nacht hinein. An
die vierzig oder fünfzig Lastautomobile mit angehängten Wagen! Und
alle sind vollgepfropft mit jungen deutschen Soldaten! Die rauchen ihr
Pfeifchen, ihre Liebeszigarren, und lachen und schwatzen! Und meine
grüßenden Zurufe erwidern sie lustig, mit gesundem Frohsinn! Als ging'
es zu einem Feste! Und sie fahren doch in die schwarze, vom Regen
durchpeitschte Nacht hinaus, der Richtung zu, aus der man seit dem Abend
immer ein dumpfes Rollen wie von einem schweren, näherkommenden Gewitter
hört!

Ich bekomme eine kleine nette Quartierstube, völlig »undevastiert«,
obwohl vor mir schon viele Deutsche da gewohnt haben. Der Kamin hat
Geheimnisse -- man bringt ihn wohl dazu, daß er brennt, aber nicht, daß
er heizt. Doch der Gedanke an die da draußen, die noch viel nässer sind
und noch viel härter frieren, macht mich geduldig. Auch tröstet mich
wieder das famose französische Bett. Ein Segen für uns, daß Frankreichs
gute Armee nicht =so= gut ist, wie seine Betten sind. Da hätten unsere
Feldgrauen noch viel härter zu beißen, und wir zu Hause müßten noch
=viel= geduldiger sein, als wir jetzt schon -- =nicht= sind!

Aller Güte dieses Bettes zum Trotze kann ich nicht schlafen. Immer
rollt der Kanonendonner. Ein paarmal hör' ich den schweren Schlag einer
explodierenden Mine. Die Fensterscheiben klirren und das ganze Hans
zittert, obwohl ich etwa acht Kilometer vom Schusse bin. Spring' ich
zum Fenster hin, so seh' ich die Lichtbündel der Scheinwerfer über die
Wolken huschen. -- Wo sind die Minen aufgegangen? Sind Deutsche, sind
Franzosen zerschmettert und zerrissen in die Luft geflogen? -- So sieht
die »Ruhe« aus, die wir bei der Front vermuten, wenn die Depeschen
melden: »=Nichts Neues!=« Wir müssen lernen, zwischen den Zeilen der
Telegramme zu lesen. Mir ging es kalt durch die Adern, als ich heute von
diesem Minenkrieg erzählen hörte, von dieser Maulwurfsarbeit des Todes
unter der Erde, zwischen Schützengraben und Schützengraben. --

Am Morgen regnet's, regnet's und regnet's. Ein Wetter, um beim Gedanken
an unsere Truppen zu verzweifeln! Dabei ist es noch ein Glück, daß die
Unseren von härterem »Schlag« sind als die Franzosen, denen die Nässe
und der Schlamm noch viel empfindlicher an die Haut gehen. Dieses
fürchterliche Wetter ist schließlich doch auch ein Bundesgenosse der
deutschen Robustheit.

Ich denke das, während ich aus der Haustür trete, und da erbringt
mir die Wirklichkeit einen Beweis, der mir Herz und Leib mit Freude
durchglüht.

Durch die grob gepflasterte Straße stampft es herauf -- wie das
Volkslied sagt: in gleichem Schritt und Tritt. Sind das Franzosen? Die
gleichen Franzosen wieder, die von der Armee des deutschen Kronprinzen
gefangen wurden? Nein! Die Leute sind größer, kräftiger. Auch sind das
keine Gefangenen, sie sind nicht bewacht, und sie tragen Waffen! Aber
die Gewehre sehen aus, als hätte man sie aus einer Pfütze gezogen;
Patronentaschen, Bajonett und Schanzeisen sind mit Schlamm umwickelt;
und genau so, wie jene tausend gefangenen Franzosen, die ich gesehen,
sind diese fünf-, sechshundert Deutschen von den Stiefeln bis über die
Brust hinauf, bis zu Schulter und Hals so dick in gelben, klumpigen Lehm
gewickelt, daß von den feldgrauen Uniformen nur wenige unbekleckerte
Lappen noch zu sehen sind. Nicht anders sehen Tornister und Mäntel aus.
Viele von den Leuten tragen trotz der Kälte die Hälse nackt und haben
die Liebesgabenschlipse um den Rand der Stiefelschäfte herumgewickelt,
damit sie den Dreck nicht auch noch in die Stiefel bekämen! Aber
frische, gesunde, gutgefärbte Gesichter haben sie! Alle! Gut genährt und
kraftvoll sehen sie aus! Und aus ihren hellen, ruhig-frohen Augen redet
eine wahrhaft stoische Zufriedenheit mit aller Mühsal, die sie erdulden
müssen für Heil und Schutz der Heimat.

Nein! Was wir manchmal in den amtlichen Depeschen lesen, vom
Gesundheitszustand und der guten Verfassung unserer Truppen, das ist
nicht Stimmungsmache! Das ist =weniger= als die wundervolle Wahrheit,
die ich jetzt, beglückt bis ins Innerste meiner Seele, mit eigenen Augen
zu sehen bekomme.

Es sind Mannschaften des =Münchener Leibregiments=, die nach der
Ablösung aus den Schützengräben kommen, um vier Tage Rast zu haben.
Straff und strack marschieren sie in dem von Schlamm und Nässe
klatschenden Zeug an mir vorüber -- und weil ihnen ein hoher Offizier
begegnet, rucken sie ihre Körper plötzlich auf, und die Stiefel stechen
und klingen wie bei festlichem Parademarsch. Hinter ihnen bleibt
auf dem groben Pflaster eine lange gelbe Lehmschlange, die im Regen
allmählich ersäuft und verschwindet.

So, wie in dieser Minute, hab' ich noch nie im Leben die Notwendigkeit
und stählende Kraft der militärischen Erziehung unseres Volkes
verstanden. Und ich begreife nun auch die verzagte, hoffnungslose
Trauer, die ich hier in den Augen der Einheimischen sehe, wenn sie einen
Vorbeimarsch unserer Truppen betrachten; sie sprechen es nicht aus; aber
man fühlt es, daß sie denken: »=Ihr seid die Sieger!=«

Neben aller stolzen Freude zitterte mir doch auch eine Sorge im Herzen,
und ich fragte den Offizier, der neben mir stehen geblieben war: »Um
Gottes willen, die Leute haben doch nur die =eine Uniform=, wie werden
sie denn wieder trocken und sauber?«

Er lachte: »Ja, das weiß ich nicht. Aber morgen sind sie's wieder. Die
meisten helfen sich so, daß sie sich in dem nassen Schmutz auf ihr Stroh
legen und die Kleider am Leib trocknen lassen. Andere machen es anders.
Neulich sah ich einen in einer eiskalten Pfütze stehen und die Kleider
waschen, die er am Körper trug. Ich fragte: >Mensch, was machen Sie
denn da?< Der Mann sagte: >Ja, mei', wie soll ich's denn machen? Mei'
Zuig muß i endli amal sauber kriegen, nacket kann i mi net herstellen,
muß i's halt =so= machen!< Er wusch und rippelte weiter! Und das
Merkwürdigste an der Sache ist, daß wir noch nie so wenig Revierkranke
gehabt haben wie jetzt.« --

Ich glaubte bisher, vom ersten Tage des Krieges an, jede Pflicht gegen
meine Heimat als Deutscher gewissenhaft erfüllt zu haben. Jetzt weiß
ich, daß ich noch mehr hätte tun müssen, um als Bürger dem Soldaten zu
helfen.




                                   7.


                                                        27. Januar 1915.

Vorgestern, bei Anbruch der Abenddämmerung, zur Vorfeier von Kaisers
Geburtstag, war Kirchenkonzert in der alten Kathedrale von Peronne.
Die Offiziere in den Chorstühlen. Und die drei Längsschiffe der Kirche
dicht gefüllt mit deutschen Soldaten. An die Tausend waren es, alle
gewaschen und sauber gebürstet. Unbeweglich, den Helm oder die Mütze
vor der Brust, saßen sie und lauschten dem kunstvollen Spiel der Orgel
und den ernsten Liedern, die gut gesungen wurden. Und als zum Schlusse
des Konzerts die Orgel zusammen mit den Bläsern der Militärkapelle
-- wahrhaftig, ein »brausender Donnerhall« -- die Wacht am Rhein
intonierte, erhoben sich die Tausend und das große deutsche Lied
schwoll empor in die gotischen Gewölbe wie ein schönes, kraftvolles und
inbrünstiges Gebet.

Barbaren-Andacht! Ja! Die Franzosen sagen doch jetzt, daß wir spirituell
minderwertig und zivilisatorisch zurückgeblieben wären, weil wir Musik
haben, der Musik bedürfen und sie lieben! Wir sind ihnen wie giftige
Schlangen, die sich durch Pfeifenspiel für Minuten bändigen lassen.
Solchem Wahnwitz gegenüber muß man heiter werden und an den kropfigen
Zillertaler denken, der einem makellos gewachsenen Fremden begegnet und
dabei sein kropfiges Söhnchen ermahnt: »Tu nit spotten, sonst straft
dich Gott, und du wirscht die gleiche Mißgeburt wie der!«

Und gestern, am Vorabend des Kaisertages, als aus schwimmenden Nebeln
eine dunkle Nacht herunterstieg, wurde auf dem großen Stadtplatz der
Zapfenstreich geschlagen. Keine aufdringliche Feier. Ein militärisches
Fest, würdig in Grenzen gehalten, einfach, vornehm, und gerade deshalb
so schön und ergreifend, etwas herrlich Helles auf dem finsteren
Hintergrunde der Zeit. Wie eine ruhige Leuchtwoge schwamm die vierfache
Reihe der Fackeln über den schwarzen Stadtplatz her und formte ihren
Flammenkreis um die Militärmusik. Außerhalb des Kreises standen die
Soldaten. Kopf an Kopf, so weit man in der Nacht zu sehen vermochte.
Die Jubelouvertüre. Noch ein paar andere, gutgewählte Musikstücke.
Dann der alte bayerische Zapfenstreich; seine strengen, geheimnisvoll
verhaltenen Trommelwirbel rütteln das Blut auf, seine munteren
Bläserweisen besänftigen es wieder. Nun tiefe Stille über dem weiten
Platz. Mit kurzen, markigen Worten brachte der Kommandierende des Korps,
General v. Xylander, das Hurra auf unseren Kaiser aus. Und die tausend
jauchzenden Soldatenstimmen klangen, als wär' es nur ein einziger
Schrei, das stolze und frohe Aufjubeln eines Riesen. »Deutschland,
Deutschland über alles!« Und die leuchtende Fackelwoge schwamm still
davon, der Platz wurde finster.

Während der Nacht vernahm ich immer den fernen Kanonendonner. Und noch
etwas anderes hörte ich. Immer. Unter der Stube, in der mein Quartier
ist, wohnen und schlafen der Besitzer des hübschen Hauses, seine
greise Mutter und seine Magd in einer kleinen Kammer. Zwei Söhne und
drei Brüder sind im französischen Heer; von denen haben sie seit Mitte
September nichts mehr gehört. Die Leute sind freundlich zu mir; sie
sagen nur Dinge, von denen sie hoffen, daß ich sie gerne höre. Ich weiß:
was sie denken, verschweigen sie; und wenn sie zu lächeln versuchen,
haben sie einen Zug voll Schmerzen um den Mund. So oft ich in die Küche
trete, schrickt die greise Frau heftig zusammen. Vor =mir=! Sie glaubt
nicht, daß ich lieber ihre runzelige Hand streicheln als sie erschrecken
möchte. Und diese drei Leute hör' ich reden in jeder Nacht, unter meiner
Stube, mit bebenden Stimmen, ganz leise. So hab' ich sie auch immer in
dieser Nacht gehört, nach dem Zapfenstreich. Und die zitternden Stimmen
erloschen nur, wenn draußen auf der Straße die Stahlschritte eines
Soldatentrupps vorüberklirrten, der zur Ablösung in die Schützengräben
zog.

=Mich= sangen diese Lieder, die sich immer aufs neue wiederholten, in
einen festen und ruhigen Schlaf. --

Nun ist der Morgen da. Es regnet nicht. Aber der Himmel ist grau
umdunstet. Sonne, Sonne, wo bleibst du denn? Bist du daheim in
Deutschland?

Eine Ruhe ist in mir, die ich nicht schildern kann. Ich empfinde sie,
wie man die Luft des werdenden Frühlings fühlt. Alle Unzufriedenheit und
Ungeduld, alles Nervöse und Zappelige, auch alle Sorge um materiellen
Verlust ist abgestreift von mir. Das zählt nicht. Nur Arbeit und Kraft
der Gegenwart zählen, nur unsere deutsche Zukunft!

Mit vielen Soldaten hab' ich mich angefreundet. Was in ihren gesunden
Knochen ist, fließt über in mich. Wir zu Hause, wir =glauben= im besten
Falle an den Sieg -- hier im Felde =wissen= sie alle: wir siegen. Aber
eines weiß ich jetzt auch schon: daß der Krieg etwas völlig anderes
ist, als ich in der Heimat vermuten und sehen konnte. Er ist etwas viel
Schrecklicheres, aber auch etwas viel, viel Schöneres!

Was wird dieser neue Tag mir wieder zeigen?

Die Fahrt geht am Ufer der Somme entlang. Auch unter den trüben
Nebelschleiern ist es noch eine wundervolle Landschaft. Über eine Breite
von vierhundert Meter verzweigen sich Kanäle, Strom, Altwasser und
Sümpfe, durchsetzt von malerischen Röhrichtfeldern, in denen Schwärme
von Wasserhühnern und Wildenten umherschlüpfen.

Nun steh' ich vor einem Meisterwerk der deutschen Pionierkunst, vor
der fast fünfhundert Meter langen Holzbrücke über die Sümpfe der
=Somme=. Als der Bau begonnen wurde, verschwanden die ersten als
Pfosten eingetriebenen Baumstämme vollständig im grundlosen Schlamm.
Dennoch wurde dieses Sumpfhindernis, von dem die Franzosen erwartet
hatten, daß es den Anmarsch der Deutschen um viele Wochen verzögern
würde, von zwei bayerischen Pionierkompagnien durch den Bau dieser
Brücke in =fünf Tagen= überwunden. Wie zierliches Filigranwerk sehen
diese Holzverschränkungen aus und tragen Regimenter, schwere Geschütze
und lange Züge von Lastautomobilen. Über den Kanälen hat die Brücke
ausschwingbare Bogen zum Durchlaß der Schiffe! Und alles in fünf Tagen
entstanden!

Das Materialdepot dieser märchenhaften Arbeit, der Pionierpark,
ist untergebracht in einer großen, zerschossenen und ausgebrannten
Fabrik. Was da in kurzer Zeit durch deutschen Fleiß, deutsche
Ordnung und deutsche Gründlichkeit entstand, das wirkt wie etwas
völlig Unglaubhaftes. Man zweifelt noch, wenn man es mit eigenen
Augen sieht. Das ganze Innere des zerstörten, nur noch von den kahlen
Mauern umschlossenen Gebäudes ist durch Brettereinbauten in eine
Reihe von Sälen, Stuben und Kammern verwandelt. Alle Räume sind mit
hölzernem Fachwerk ausgefüllt und in peinlichster Genauigkeit mit
allen Gattungen von Kriegsmaterial und Werkzeug vollgekramt. Alles ist
da, vom Minenwerfer bis zum Schuhnagel. Ein lustiges Wunder ist der
Schlafsaal, in dem ein paar hundert Pioniere und Soldaten ihr Quartier
haben. In drei Reihen durchziehen den großen Raum die zweistöckigen
Schlafschachteln -- ich finde keinen anderen Ausdruck -- die Hälfte der
Leute schläft zu ebener Erde, die andere Hälfte im Oberstock dieser
riesigen sechzigschläfrigen Bettladen. Heu und Stroh ersetzen die
Matratzen, als Kopfkissen dient der Tornister. Ich frage: »Ist denn
da gut zu liegen?« Alle lachen gleich, und einer sagt: »Ah, da is's
gut, jetzt haben wir's fein!« In den Ecken stehen die eisernen Öfen
und rings um die Mauern ziehen sich die hölzernen Tische und Bänke.
Da sitzen die Leute, wenn sie Rast haben, und schreiben Briefe und
Karten, oder essen, oder flicken ihr Zeug, oder spielen Tarock. Ein
bisserl rauchig ist es in dem Raum, nicht von den Öfen -- die ziehen
famos -- nur von den Pfeifen und Zigarren. Auch ein Badhaus ist da, und
ein Duschraum, mit einem Fabrikskessel als Warmwasserreservoir und mit
einer Feuerspritzenpumpe, die den »Hochdruck« liefert. Und der mächtige
Hofraum ist ein Gewimmel von Soldaten, Pferden und Lastkarren, ein
Durcheinanderhuschen von ruhelosem Fleiß.

Weiter geht die Fahrt, über kahles Feld. Bald müssen wir halten -- das
Auto kann oder darf aus irgendwelchem Grunde nimmer vorwärts. Ich stehe
auf dem Acker, gucke herum und frage mich: »=Was ist da los?=« Nichts
zu sehen, nur dieses stille, leblose Feld. Hinter dem Dunst des trüben
Tages liegt da und dort ein Dorf. Und überall dunkle, kleine, niedliche
Wäldchen. Ich denke mir noch: »Das müßte eine gute Fasanengegend sein!«
Da hör' ich irgendwo in der Luft einen merkwürdigen Vogel singen. So
ähnlich klingt es, wenn eine Radfahrersirene zu pfeifen anfängt. Mit
uuuuh beginnt es, und mit iiiih hört es auf. Neben dem Saum eines nahen
Wäldchens fährt weißer Dampf in die Höhe, der sich in schwarzen Rauch
verwandelt und wie zum Qualm einer Brandstatt wird. Eine halbe Sekunde
später ein schwerer Donnerschlag. Jetzt kapiere ich: was ich sehe und
höre, ist der Einschlag einer französischen Granate. Alles ist schon
lange vorüber, da hört man erst, acht oder zehn Sekunden später, den
fernen Hall des feindlichen Geschützes.

Auf dem weiten Felde ist kein Mensch zu gewahren. Doch! Mit dem Glas
erkenne ich einen Soldaten, der nahe bei dem Wäldchen ruhig in einem
Acker steht; er hat ein Notizbuch in der Hand und notiert etwas. Sehr
friedlich sieht das aus. Wieder dieses Sausen in der Luft, wieder der
aufwallende Rauch, ähnlich dem Atemzug eines vulkanischen Kraters,
und wieder dieses Dröhnen. Eine um die andere kommt, über vier oder
fünf Kilometer von der unsichtbaren feindlichen Stellung her. Und
immer näher rücken sie gegen das Auto. Die beiden freundlichen
Offiziere, deren Gast ich bin, wünschen sehr lebhaft, mich wieder im
Auto zu sehen. In jagender Fahrt geht es davon. Hinter uns immer diese
dumpfen Paukenschläge. Ob eine Granate zu der Stelle kam, wo unser
Auto gestanden, weiß ich nicht. Wohl kaum. Die Beschießung gilt einer
deutschen Batterie, die am Saum des Wäldchens vergraben liegt, aber
an einer ganz anderen Stelle. Die Franzosen tasten seit Wochen in
kostspieliger Munitionsverschwendung den ganzen Umkreis des Gehölzes mit
Granaten ab, suchen immer diese fein versteckte Batterie und können sie
nicht finden. Gott sei Dank!

Die deutschen Kanonen bleiben stumm, und nach einer Viertelstunde
schweigen auch die französischen Geschütze.

Auf einem Umweg kehrt das Auto zu dem beschossenen Wäldchen zurück.
Wir halten an der Somme, bei einer zerstörten Mühle, vor der eine von
unseren berühmten =Feldküchen= dampft und sehr einladend duftet. Zum
Kosten fehlt es an Zeit, wir müssen vorwärts. Überall Soldaten, überall
Munitionswagen, überall Reiter und Radfahrer. Wir sind in der Nähe der
deutschen Front. Durch Rübenfelder, deren ungeerntete Früchte schon
wieder frische Blättchen zu treiben beginnen, blaßgrün wie junger Salat,
kommen wir zu dem von den Franzosen angepulverten Wäldchen. Und jetzt
soll =ich= die deutsche Batterie entdecken, die da steht! Ich habe
ein Glas mit achtfacher Vergrößerung; immer gucke ich, aber ich finde
nichts. Wohl sehe ich Prügelwege, die durch knietiefen Kot führen, sehe
verschlammte Zufahrtswege und viele künstlich eingesteckte Bäumchen,
aber keine Batterie. Man muß mich dicht vor das in die Erde eingegrabene
Geschütz hinführen, damit ich merke, wo es steht. Die Höhlung ist
bedeckt mit einem schön gewölbten Holzdach, das auf der Somme von einem
französischen Schleppschiff abgenommen wurde. -- (Ganz wundervoll ist
das, wie unsere Feldgrauen alles und jedes, was sie finden, für den
besten und nützlichsten Zweck verwenden, dem es dienen kann. =Was=
hier französisches Gut heißt, wird deutsche Wehr und Waffe.) -- Über
dem Schiffsdeck ist wieder dicke Erde und wieder ein künstliches
Gebüsch, als Deckung gegen die Späheraugen der Flieger. Unten nur ein
schmaler Einschlupf, auf der anderen Seite die Ausschußöffnung für die
Kanone. Zärtlich streiche ich das metallene Rohr, das für unser liebes
Deutschland schon viele wirksame Donnerkeile aussandte. Und den klugen,
lachenden Kanonieren drücke ich die Hände.

Man zeigt mir ein deutsches Geschoß und ein belgisches von gleichem
Kaliber -- die beiden sehen nebeneinander aus wie ein Mann und ein
Kind. Solange die Sache nur Geplänkel ist, läßt man die belgischen
Kinder fliegen, um deutsche Munition und deutsches Geld zu sparen.
Wird's ernst, dann kommen unsere eisernen Männer dran. Ganz fürchterlich
schlagen sie drein. In einem Kellerloch sind sie zu hohen Stößen
aufgeschichtet, um ihrer Stunde zu warten.

Nun spaziere ich am Waldsaum entlang, wo ich die französischen Granaten
einschlagen sah. Zwischen fünfzehn Explosionstrichtern, die gegen die
stubengroßen Granatenlöcher auf dem Fort des Aivelles aussehen wie
Spucknäpfe, finde ich vier »Ausbläser« und drei »Blindgänger«.

Durch Schlupfwege im verwüsteten Walde geht's zu einer Stelle, die
genau so aussieht wie alles andere Gehölz. Hier soll ich abermals
etwas entdecken. Erst nach längerem Spähen bemerke ich, daß aus einer
Bodenstelle des gegen die französischen Linien gerichteten Waldsaumes
etwas Bläuliches herauswirbelt. Dampft die Erde? Oder ist's Ofenrauch?
Oder Zigarrenqualm? Über ein verstecktes Trepplein geht es hinunter.
Das ist die Beobachtungsstelle der Batterie: ein Lehmsalon von etwa
vier Quadratmeter; warm wie ein Backofen; immer schwitzen und triefen
die Wände; ein Rauch, der die Augen zerbeißt; und ein Zwielicht,
an das ich mich erst gewöhnen muß, bevor ich zu sehen beginne.
Beim Ausguck steht das Scherenfernrohr; in die Lehmwand sind drei
Telephonapparate eingebaut, und eine Ofenröhre dient als Sprachrohr.
Ganz mystisch berührt es, wenn aus der Erde heraus die Stimmen quellen,
die von der Batterie kommen, vom Unterstand der Mannschaft oder vom
Offizierskellerchen. Mit uns dreien, die wir kamen, sind nun sieben
Leute in dem kleinen Raum. Umdrehen kann man sich nimmer. Aber man
plaudert und lacht -- und in dem kleinen Dreckloch ist ein frischer,
gesunder Humor, den ich mit Herz und Händen fassen und heimschicken
möchte.

Ich sehe noch das feine Kellerchen, in dem der Batterie-Offizier
sich aufhält. Das ist ein Lebenskünstler. Er hat ein Tischerl, ein
Rokokofauteuilchen und ein zierliches Boudoirsofa, das ihm als Bett
dient. Um darauf zu schlafen, ist es freilich viel zu kurz. -- »Aber«,
sagt er, »wenn man die Beine gegen die Wand hinaufstellt, liegt man
ganz ausgezeichnet!« Diese Wand ist mit persischen Teppichen bekleidet,
die aus einer kaputtgeschossenen Villa stammen; immer dampfen sie im
Kampf zwischen Wärme und Feuchtigkeit, und ihre Farben beginnen unter
sprossendem Schimmel zu erlöschen. »Wenn 's Frühjahr wird,« sagt der
junge Offizier mit seinem gesunden Lachen, »dann kann ich da Schwammerln
züchten! Die eß ich gerne.«

Durch einen Laufgraben, der nicht tief genug ist, um die Köpfe völlig zu
schützen, müssen wir geduckt hinschleichen. Dieses stete Niederbeugen
des Gesichtes hat etwas Gutes: man sieht immer ganz genau, wie tief
die Stiefel in den vom Regen durchweichten Lehm hineinquatschen. --
(Neulich versank ein allzu gewichtiger Reserveleutnant bis zu den
Hüften; er selber konnte sich nimmer freimachen; als man ihn herauszog,
hatte er keinen Stiefel mehr, nur noch =einen= Socken.)

Immer ist ein feines Pfeifen in der Luft. Und von der Tiefe des
Feldhanges, der sich hinuntersenkt gegen das Tal der Somme, klingt
ununterbrochen ein lustiges Knallen herauf, als stände da drunten die
Schießstätte des Münchner Oktoberfestes.

Einmal, bei einer Biegung des Laufgrabens, sieht man hinunter ins
Tal. Bis in weite Ferne kann ich mit dem Glas die aufgeworfenen Lehm-
und Kreidesteinwälle der deutschen und französischen Schützengräben
verfolgen. Manchmal nähern sie sich einander bis auf siebzig Meter
und ziehen sich wieder auf drei-, vierhundert Meter zurück. Diese in
die Ferne laufenden, gelben oder weißgrauen Striche bilden seltsame
Ornamentlinien -- und diese kunstvolle Durchackerung der Natur läuft
jetzt von der Kanalküste durch Nord- und Ostfrankreich bis gegen Basel.
In diesen Ackerfurchen des Krieges liegt eine Million unserer Feldgrauen
und wacht in verläßlicher Treue bei Tag und Finsternis, um unsere
deutsche Heimat vor den Bildern der Vernichtung zu behüten, die ich
hier auf französischem Boden sehe bei Schritt und Tritt. Seid dankbar,
ihr Deutschen daheim! Bleibt ruhig, zuversichtlich und opferfreudig!
Und denkt bei jedem Atemzuge an das Kaiserwort: »Soldat und Bürger, die
beiden müssen einander helfen, so gut sie können!«

Nirgends in der Landschaft ist ein Mensch zu sehen, alles öde, wie
ausgestorben. Drunten im Tal, zwischen den deutschen und feindlichen
Erdwällen, entdecke ich mit dem Glas auf einer fahlen Wiese zwei
dunkelblaue Körper. Sie bewegen sich nicht, haben aber doch Menschenform
und sehen aus wie friedliche Schläfer, die sich mit ihren Mänteln
bedeckten: zwei gefallene Franzosen, die der Feind nicht zu holen und zu
bergen wagte. So liegen die beiden schon seit dem 30. Oktober. Früher
hatten sie vom Morgen bis zum Abend krächzende Gesellschaft; seit Wochen
sind auch die Raben ausgeblieben.

Der Laufgraben mündet in einen tiefen Lehmkessel. Früher war da eine
französische Stellung, die zurückweichen mußte um zwei Kilometer;
noch sieht man die Feuerlöcher und die aufgeschütteten Deckungen,
Feldflaschen, Konservenbüchsen, auch eine rote, vom Regen fast farblos
gewordene Reithose. Und zwischen Stauden guckt aus der Erde der stumme,
grinsende Tod heraus. Ein gefallener Franzose! Seine Kameraden, denen
nicht die Zeit blieb, ihn zu bestatten, haben ihn nur fußhoch mit Erde
bedeckt. Der Regen hat die Schollen halb wieder davongeschwemmt. Eine
skelettierte Hand, die noch im blauen Soldatenärmel steckt, greift
sehnsüchtig heraus ins Leben, und der ganze Kopf liegt frei, fast schon
ein Totenschädel, aber noch mit Augenbrauen und Haarbüscheln. Die
Hirnschale ist völlig zertrümmert -- dieser Franzose hatte das Unglück,
einem bayerischen Gewehrkolben in den Weg zu geraten.

Das Bild, das sich da herausstahl, aus der gelben Erde, ist nicht
widerlich, nicht ekelerregend. Nur ernst, tiefernst und erschütternd ist
es.

Du stiller Schläfer! Wer warst du? Wie klang dein Name? Wer weint
um dich? Aus welchem Glück bist du herausgefallen, weil England es
so begehrte von dir? Wir Deutschen hätten dir Leben und Namen und
Glück gelassen. Aber England will bessere Geschäfte machen und seine
Dividenden aufwärtsschrauben. Drum mußte dein Leben hinuntersinken!
Bist du, früher ein Tor um Englands willen, jetzt unter der Erde ein
Wissender geworden? Willst du wieder herauf in den Tag und die Hand
erheben, um vor deinem Volk und Lande gegen den britischen Handelsmann
zu klagen? -- Der Schläfer gibt keine Antwort. Er schweigt, wird ewig
schweigen.

Ich wende mich erschüttert ab. Weiter! Wieder in einen Laufgraben
hinein, der sich immer tiefer in die Erde wühlt! Eine Wendung, und
ich bin im Schützengraben. In langer Zeile seh' ich die Feldgrauen,
nein, die Lehmgelben, bei den Schießscharten stehen. Scharf und hastig
knallen die Schüsse, hin und her. Und immer wieder fliegt eines von den
unsichtbaren Vögelchen, die so wunderlich pfeifen, über unsere Köpfe
hinweg, surrt in die Erde hinein oder schlägt mit hellem Klirrton gegen
einen Stahlschild.

Etwas Heißes ist in mir. Der schwüle Atem des Krieges hat mich
angehaucht.




                                   8.


                                                        30. Januar 1915.

Eine tiefe Erregung brennt mir in allen Nerven. Das Herz schlägt mir bis
in den Hals herauf.

Bei jedem Blick, bei jedem Schritt im Schützengraben seh' ich die
tapfere Mühsal, die mutige Beharrlichkeit und treue Ausdauer unserer
Feldgrauen, deren Uniformsfarbe völlig verschwindet unter dem gelben,
klumpigen Lehmbehang.

Alle zehn Schritte steht bei einem kleinen, mit Bohlen ausgelegten
Guckloch oder bei den schmalen Schießscharten der Stahlschilde ein
Wachtposten mit blitzenden Späheraugen, in den von Nässe und Kälte
zerschrumpften Händen das schußbereite Gewehr. Immer wieder sticht
dieses scharfe Knallen in die dunstige Luft, hier im Graben und drunten
im Tal, und immer wieder geht dieses feine Pfeifen der Kugeln über
unsere Köpfe weg. Keiner von den Wachtposten kümmert sich um uns, keiner
salutiert die Offiziere, die mich führen, jeder ist mit gespannter
Aufmerksamkeit bei den feindlichen Dingen, die da draußen sind.

Von denen, die nicht auf Wache stehen, rasten die einen, die anderen
arbeiten. Hier wird hastig geschaufelt, um den Schutt und Schlamm
der vom Regen unterwaschenen und heruntergerutschten Lehmwände
aus dem Graben zu werfen, eine Erdbewegung, die bei schlechtem
Wetter ununterbrochen durch Tage und Nächte fortdauert. Dort werden
Entwässerungskanäle gezogen und Löcher gegraben, in denen das Regen- und
Sickerwasser versitzen kann.

Der Boden des Grabens ist, weil es einen Tag lang nimmer geregnet hat,
schon leidlich trocken; aber die mannshohen Wände sind so klebrig, daß
sich bei jedem stützenden Griff alle Finger gelb umwickeln. Und so eng
ist der Gang, daß man bald rechts und bald links mit Ellenbogen und
Schultern, mit Knien und Hüften, beim Umdrehen und Ausweichen auch mit
Brust oder Rücken an diesen Lehmteig anstreift.

Jene Grabenschützen, die ein bißchen rasten können, sitzen oder liegen
in den winzigen Schlupfen, die unterhalb der Schießscharten in die
Lehmwände hineingehöhlt sind. Jedes Unterstandsloch hat knapp so viel
Raum, daß zwei Soldaten sich nebeneinander zusammenhuscheln können;
Wände und Decken sind manchmal, nicht immer, mit Brettern ausgepölzt;
der Boden ist handhoch mit Stroh belegt, meist mit ungedroschenem
Getreide, das von den Feldern weggerafft wurde; Mäntel, Zeltbahnen
und Wolldecken, die in den Nächten vom Tropfwasser durchnäßt wurden,
sind neben den Einschlupflöchern zum Trocknen aufgehängt; zuweilen
ist in die Seitenwand der Löcher mit einigen Steinen ein kleiner,
urweltlich ausschauender Ofen eingemauert, in dem die feuchten
Prügelchen glühen und qualmen. Manche der Löcher sind mit Säcken
verhängt, andere haben ein schützendes Türchen, das meist nur aus zwei
oder drei zusammengenagelten Brettstücken besteht; aber auch feineres
Material wurde zu diesem Zwecke verwendet: der grüne Fensterladen einer
Villa, eine polierte Schranktüre, das bunt verglaste Fenster eines
Gartenhäuschens; sogar die Kupeetür einer Droschke ist vertreten --
alles herbeigeschleppt in finsteren Nächten, und an all diesen Dingen
ist die Farbe halb verschwunden, alles ist gelb, alles gesprenkelt von
den Griffen der lehmigen Hände.

In diesen Löchern sitzen die Rastenden und schwatzen ruhig und heiter;
jene, die in der Nacht bei den Schießscharten wachen mußten, liegen
jetzt am Tag in einem so bleischweren Schlaf, daß kein lautes Wort und
kein knallender Gewehrschuß sie zu wecken vermag; andere liegen auf
dem Bauch, benützen den Tornister als Schreibtisch und kritzeln einen
Kartengruß, der in die Heimat wandern soll.

Von solch einem Schreibenden sah ich den Körper und die langsam bewegte,
schwere Hand. Ich frage in das Loch hinein: »So? Wird an den Schatz
geschrieben?« Da dreht sich ein blondbärtiges, strenges Gesicht herum,
zwei blaue Mannsaugen sehen mich aus dem Zwielicht heraus sehr mißlaunig
an, und eine unwillige Stimme sagt: »Was glaubst denn? An d' Frau!«

Ich kann nicht schildern, wie dieses schöne grobe Wort auf mich wirkte.
Es war mir wie ein wundervolles Lied von der redlichen Herzensreinheit
dieses deutschen Mannes. Seine Frau, seine Kinder, seine Heimatstreue
und seine Soldatenpflicht -- das ist seine Welt. Was anderes gibt es
nicht für ihn. Und wie dieser eine, so sind Tausende, sind Millionen der
Unseren. Wer will uns besiegen?

Auf- und niederklimmend durch den engen Graben, stapfe ich an hundert
Lehmgelben vorüber, an vielen Dutzenden von diesen Schlupfen und
Löchern. Ich höre nimmer die Schüsse knallen, höre nimmer das Pfeifen
der bleiernen Vögelchen, die über uns wegfliegen oder in die Lehmwälle
preschen. Immer muß ich schauen, immer vergleichen zwischen der
heldenhaften Geduld, die ich hier sehe auf Schritt und Tritt, und
zwischen der nervösen und krittelnden Ungeduld, deren wir uns schuldig
machen in der Heimat. Und immer muß ich rechnen: daß diese Tapferen seit
Ende September, die mit Arbeit ausgefüllten »Ruhezeiten« abgerechnet, in
diesem Graben und in diesen Lehmlöchern volle sechzig oder siebzig Tage
und Nächte ausgehalten haben, ohne an Kraft und Gesundheit einzubüßen,
ohne von ihrer treuen Beharrlichkeit, von ihrer geduldigen Ausdauer
nur eine Faser zu verlieren. Nicht verloren haben sie, nein, sie haben
noch gewonnen. Einer sagt zu mir: »Z'erst is mir's schon a bisserl hart
worden. Jetzt kennt man sich besser aus und weiß, wie man's machen muß.
Auf d'Letzt lernt der Mensch alles.«

Mir werden die Augen feucht, und eine Weile vermag ich nimmer zu reden.
Immer brennt die Frage in mir: »Was hat =der= da als Soldat geleistet,
was =ich= als Bürger?« Ein bißchen gezahlt hab' ich, ein bißchen Geld
eingebüßt, einen Teil meines Einkommens verloren, fast das ganze. Und
da glaubte ich immer, was wunder ich leiste und trage und erdulde um
meiner Heimat willen! Jetzt bin ich klein und stumm. Und eine heiße,
schmerzende Scham ist in mir.

Einer von den Gelben sitzt in seinem Lehmloch neben dem heftig
rauchenden Steinherdchen. Er scheint sich sehr wohl zu fühlen, schneidet
feine Scheibchen sorgfältig und liebevoll von einer heimatlichen
Speckschwarte herunter und schmaust.

Ich frage: »Schmeckt es?«

Da nickt er lachend: »Ah ja! A bißl ebbes darf man sich schon vergunnen.
Wer weiß, wie lang 's dauert?«

Jetzt hör' ich plötzlich die Schüsse wieder, höre das Pfeifen der
Kugeln. Und nicht weit von der Stelle, wo ich stehe, vernehm' ich einen
wütenden Fluch: »Himi Herrgott Kreizteifi überanand!« Erschrocken
springe ich hin. Ein langer Kerl mit zausigem Rotbart steht bei einer
Schießscharte und repetiert das abgeschossene Gewehr. »Was ist denn,«
frage ich, »sind Sie verwundet?«

»I? Ah na! Aber da drunt, an dem roten Stadel, da is a Loch. Da schießt
allerweil einer außi. Und dös Luder kann i net derwischen. Allweil
pulver i ums Loch umanand. Nie bring' i's sauber hin.«

Ich gucke neben dem Mann durch die Schießscharte hinaus und ins Tal
hinunter. Der Ausschnitt der Landschaft, den ich sehe, ist wie ein
Bild in hölzernem Rahmen: ein Stück Talgelände, die Erdwälle des
französischen Schützengrabens und in der Mitte des Bildes ein halb
in Schutt geschossenes, tot und öde liegendes Dorf mit umgestürztem
Kirchturm und ausgebrannter Kirche. Alles, was Leben heißt, scheint
erloschen da drunten. Aber Schüsse knallen, bald hier, bald dort; man
sieht keinen Rauch, sieht keinen Feuerstrahl, weiß nicht, woher die
pfeifenden Vögelchen kommen. Jetzt entdecke ich den »roten Stadel«; es
ist ein plumper Bau aus Ziegelsteinen; und mitten in der roten Mauer
ist ein kleiner, runder, schwarzer Fleck, ein in die Mauer geschlagenes
Schießloch; von hier oben sieht es aus wie ein Tintenfleck, in
Wirklichkeit mag es so groß sein wie ein Hut. Vierhundert Meter sind es
bis dort hinunter. Eine feste Hand und ein sicheres Auge gehört dazu, um
über solche Entfernung eine Kugel richtig auf den Fleck zu bringen. Ich
gucke mit dem Feldstecher. In dem Loch ist nicht das geringste zu sehen,
aber rings um den schwarzen Fleck herum erkenne ich an der roten Mauer
die Einschlagtupfen der Kugeln, die umsonst da hinuntergeflogen sind.

»Wart', Brüderl,« sagt der Rotbärtige, noch mit heißem Zorn in der
Stimme, und schiebt den Gewehrlauf langsam durch die kleine Scharte des
Stahlschildes hinaus, »jetzt wird amal aufpaßt, urdentli!«

Drunten knallt es, der französische Vogel pfeift, und über unseren
Köpfen spritzt der Lehm auseinander. Ich mache flink einen Schritt nach
rückwärts, drehe mich um dabei -- und muß herzlich lachen. Neben einem
Gängelchen, das seitwärts hinaus gegraben ist, seh' ich eine kleine
Holztafel hängen mit der Inschrift: »Zur Latrine und zur Kochstelle!
Bitte nicht verwechseln!«

Solcher Heiterkeiten sind im Schützengraben neben der schlummerlosen
Gefahr noch viele zu finden. Ein paar Dutzend Schritte weiter, neben
dem Türchen, hinter dem der Unteroffizier seinen Nachtschlupf hat,
steht angeschrieben: »Villa Granateneck«. Dieser Bezeichnung ist noch
das lyrische Motto beigefügt: »Im tiefen Keller sitz' ich hier!« Und
eine steil nach abwärts führende Stelle des Schützengrabens, die dem
feindlichen Feuer ausgesetzt war und deshalb mit Wellblech und dick mit
Erde überdeckt wurde, trägt die Inschrift: »Nordfranzösische Rodelbahn«.

Solcher Humor in einer Luft, in der bei jedem Kugelpfiff der Tod auf
dem Sprunge nach einem deutschen Leben steht, ist nicht allein als der
Ausfluß derber Gesundheit und guter Rasse zu erklären. Der schöne, klare
Brunnen solch unverwüstlicher Heiterkeit am Rande des immer harrenden
Grabes kann nur aus dem kraftschenkenden Bewußtsein redlichster
Pflichterfüllung strömen.

Von dem Frohsinn, den ich hier sehe und höre, fliegen meine Gedanken
immer heimwärts. Es ist wahr: wir in der Heimat leisten viel, Tausende
leisten weit über ihre Kräfte, und gerade hier, auf erobertem Boden,
höre ich immer wieder die herzlichste Anerkennung unseres Heimatwerkes.
Aber neben den Opferwilligen gibt es auch Drückeberger, Vorsichtige,
Zurückhaltende und Ängstliche. Täten wir =alle= daheim so bis zum
letzten Atemzug unsere deutsche Pflicht, wie diese Getreuen hier im
Schützengraben, dann wäre nicht ruhelose Ungeduld in vielen von uns,
sondern Ruhe, Zuversicht und frohe Festigkeit wäre in uns allen. Da
würde der Groschen nicht zählen, den wir verlieren, keine Bedrängnis
unserer wirtschaftlichen Lage, keine nötige Einschränkung, keine Sorge
und kein Opfer unseres Lebens! --

Der Schützengraben macht eine Wendung und ich stehe vor einem Bilde,
das mich tief ergreift. Außerhalb des Grabens, gegen die französische
Seite hin, ragt zwischen laublosen Bäumen ein mächtiges Feldkreuz in die
Luft. Nicht nur das schwarze Kreuzholz, sondern auch das farbig bemalte,
überlebensgroße Schnitzwerk, das den Erlöser zeigt, ist von vielen
Kugelschüssen durchsplittert, von Schüssen, die aus der französischen
Stellung kamen. Und der zerschossene Leib der ewigen Güte hält die
Arme ausgebreitet mit einer großen, heiligen Gebärde, aus der etwas
Schützendes und Hilfreiches zu mir redet.

Einer von den beiden Offizieren, die mich geführt haben, sagt nach einer
Weile: »Es wird Abend. Irgendwo =müssen= wir umkehren. Das geht ja hier
so weiter bis nach Ostende.«

Auf dem Rückweg gibt's einen Aufenthalt. Eine Lehmwand ist
heruntergebrochen und hat auf zehn Schritte weit den Graben
verschüttet. Vier Soldaten schaufeln, daß ihnen der Schweiß von
den Gesichtern tropft; mehr können bei der Enge des Grabens an der
Ausbesserung des Schadens nicht arbeiten. Während wir wartend dastehen,
schlüpft einer, der mich kennt, durch das Türloch seines Höhlchens
heraus -- einer aus der Garmischer Gegend, der mich vor Jahren einmal
auf die Alpspitze führte. Er begrüßt mich so herzlich und freudig,
als wäre seine Heimat mit Haus und Berg zu ihm gekommen. Während wir
schwatzen, immer von daheim, treten noch ein paar andere zu uns, jeder
so gelb wie sein Kamerad, aber jeder mit dem gleichen, ruhigen, gesunden
Gesicht. Allerlei Fragen richten sie an mich -- gar manche ist darunter,
die zu beantworten mir schwer fällt. Einer, mit dürstender Sehnsucht in
den Augen, fragt mich: »Was meinen S', wie lang wird's denn noch dauern?«

Ich suche nach Worten. »Da bin ich überfragt. Es ist möglich, sogar
wahrscheinlich, daß auf dem Festland die Hauptsache schon in sechs bis
sieben Wochen zur Erledigung kommt. Aber es kann auch noch ebensoviele
Monate dauern.«

Nach kurzem Schweigen eine feste Soldatenstimme: »No ja, muß man halt
aushalten! Durchreißen tun wir's alleweil, so oder so!«

An dieses tapfere, zuversichtliche Wort schließt sich eine etwas
wunderliche Frage, die mit dem vorausgegangenen Gespräch keinen
Zusammenhang zu haben scheint. Dennoch ist eine Beziehung vorhanden.
Eine sehr ernste.

»Sie, sagen S' amal, ob dös wahr is, was die Meinige allweil schreibt:
daß daheim in der Stadt die jungen Weibsbilder so ausg'schaamt in die
Kaffeehäuser hocken, pariserisch anzogen, daß man d' Haxen sieht bis
halbert zur Grattl auffi?«

Trotz der derben Ausdrucksweise lacht keiner von den Lehmgelben; sie
scheinen die Frage für eine sehr wichtige und würdevolle zu halten. Ich
schüttle den Kopf. »Nein! So stimmt das nicht. Unsere deutschen Frauen
und Mädchen sind da nicht gemeint. Nur ein paar dumme Modegänse, ein
paar krankhafte Auslandsaffen. So was zählt doch nicht.«

Einer sagt: »Dö sollten =uns= anschauen!« Ein anderer brummt: »Bal s'
vier Nächt lang da im Graben hocken müßten, in der nassen Sooß, bis
übers Knie nauf, i glaub, dö taaten si' bald an andre Montur verlangen!«
Und ein dritter gibt den Rat: man sollte diesen Ausnahmen jeden Tag ein
paarmal jene Sache vollhauen, die Goethe durch einen Gedankenstrich
bezeichnete -- von diesem Gedankenstrich weiß natürlich der lehmgelbe
Pädagoge nichts, er gebraucht im Ärger sehr ungeniert das übliche
Volkswort.

Der Weg ist ausgeschaufelt. Wir können weitergehen. Ich komme an dem
Rotbärtigen vorüber, der das Gewehr im Anschlag hat und immer lauert,
ganz unbeweglich.

Nach wenigen Schritten gewahre ich etwas Seltsames. Beim Herweg fiel es
mir nicht auf, erst jetzt entdecke ich's. Will mitten im harten Winter
der grüne Frühling kommen? Eine Bodenstelle des Schützengrabens ist dick
mit frischem, spannenlangem Gras überwuchert. Gras? Nein! Das ist junges
Getreide. Von den ungedroschenen Garben, die ein Feldgrauer vor vier
Monaten in seinen Unterschlupf hineinstreute, sind die Körner abgefallen
und in die nasse Erde hineingetreten worden. Jetzt gehen sie auf.
Ich sehe dieses frische, üppige Grün, und etwas Freudiges, Warmes und
Hoffnungsvolles ist mir im Herzen.

Drunten bei den Franzosen kracht ein Schuß. In der Luft das feine
Singen. Und wenige Schritte hinter mir spritzen von der Holzversteifung
einer Schießscharte die Splitter weg. Jetzt ein Schuß im deutschen
Graben. Dann die ruhige Stimme des Rotbärtigen, den ich nimmer sehe: »No
also! Endli amal!«

Ich brauche nicht umzukehren. Auch ohne zu fragen, weiß ich, was der
kurze, zufriedene Monolog des Rotbärtigen bedeutet. Wohl denke ich auch
daran, daß jetzt da drunten im roten Stadel ein Leben verblutet; aber
vor allem muß ich denken: daß unsere Feinde wieder weniger wurden um
einen.

Ein langer Weg noch, durch den Laufgraben und über die dämmernden
Rübenfelder.

Kanonenschüsse und Granatenschläge dröhnen in rascher Folge. Die
Franzosen tasten wieder nach der deutschen Batterie umher und können sie
nicht finden.

Beim Einsteigen in den Wagen bemerke ich, daß ich nicht viel anders
ausschaue als die Lehmgelben im Schützengraben. Ich fühle aber doch
einen beträchtlichen Unterschied. So heiß, wie an diesem Abend, hat noch
nie die Frage in mir gebrannt: »Was kann ich leisten als Bürger, wie
kann ich nützen?«

Im Westen ein leuchtender Streif und drüber ein zartes Blau und Weiß.
Auch die Höhe klärt sich auf, und ich sehe den Schimmer des Vollmondes.
Der Kaisertag hat gutes Wetter gebracht. Bleibt der Himmel so, dann
werden es die Unseren im Schützengraben besser bekommen.




                                   9.


                                                        3. Februar 1915.

Das gute Wetter hat nur drei Tage gedauert, war also immerhin
lebenskräftiger, als schöne Träume zu sein pflegen. Jetzt ist die Welt
wieder grau umhangen.

Den letzten Gutwettertag benutzten die Franzosen zu einer schweren
Kanonade, die von den Deutschen nur mit einzelnen Meldeschüssen
»=Wir sind noch immer da!=« erwidert wurde, um aus dem französischen
Tagesbericht den Satz auszuschalten: »Eine deutsche Batterie
wurde stumm gemacht und vernichtet.« Es waren im Hörbereich an
die zwölfhundert Schüsse zu zählen. Dazu etwa zwanzig grobe
Detonationen von Minenwerfern. So verpulverten die Franzosen an
diesem Schönwettertage über eine Frontlänge von dreißig Kilometer ca.
hundertfünfundzwanzigtausend Franken. Die auf deutscher Seite am Abend
festgestellte »Verlustziffer« lautete: =kein= Toter, =kein= Verwundeter,
=kein= Materialschaden. Gelitten hatten nur die französischen Dörfer
und Äcker. Für Frankreich ein kostspieliges Vergnügen! Wenn die
nordfranzösischen Bauern wieder einmal zu ihrer Scholle heimkehren,
werden sie entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Was würden wohl die =deutschen= Bauern dazu sagen, wenn es bei =uns= so
gekommen wäre, im ganzen Reich! Im Feuerbereich der Franzosen kein Haus
mehr, keine gefüllte Scheune, kein Vieh! Jeder Wald verwüstet, die Zäune
zerstampft, jeder Acker zerrissen von den Granatentrichtern, alles Feld
zerschnitten, zerrupft, entzweigesägt und unterwühlt von Laufgängen,
Schützengräben und Minenkellern! Jahre und Jahre werden nötig sein, bis
hier wieder fruchtbares Feld und blühende Dörfer entstehen. Um unseren
deutschen Bauern deutlich zu machen, was ihnen erspart blieb, sollte man
sie mit Extrazügen hierherbringen und ihnen diese Vernichtungsbilder des
Krieges zeigen. Da würde der Wille, die deutsche Kraft zu nähren und zu
erhalten, baumdick in ihnen erwachsen.

Jetzt eben sitze ich in einem der hohen, zweirädrigen Bauernwägelchen,
wie sie hier in Nordfrankreich üblich sind. Der Bauer, dem das
Wägelchen samt Gaul und Geschirr gehörte, ist »abgereist« -- zum
Unterschied von seinen vornehmen Landsleuten tat er es nicht freiwillig.
Solche Wagen sollten auch bei uns in Deutschland heimisch werden; sie
sind billig, sind bequem, gleiten leicht dahin und strengen auch auf
schlechten Wegen den Gaul nicht an. Auch sieht man nett in die Weite,
wenn man so hoch oben sitzt. Heute ist's mit der Rundsicht freilich
mager bestellt; es regnet nicht, aber alles ist grau verschleiert.

Mein Kutscher, feldgrau natürlich, ist ein Hausmeister aus
Fürstenfeldbruck, ein braver und ruhiger Mann, der gerne von seiner
Frau und seinen Kindern erzählt. Aber er hat die cholerische Gewohnheit
angenommen, jedesmal, so oft er das Wort »Franzosen« oder »Frankreich«
gebraucht, den wütenden Zwischenruf zu machen: »So a Sauvolk auf der
Welt!« Vor allem ärgert ihn der französische Mist in den Dörfern und
Häusern. Und ganz besonders ergrimmt ihn die Pietätlosigkeit der
französischen Soldaten, die viele ihrer gefallenen Kameraden seit
Monaten unbestattet vor ihren Schützengräben liegen lassen. »So
ebbes muß sich doch strafen an die Franzosen. Bal a Volk kein Respekt
vor'm Heldentod von seine Brüder nimmer hat, so a Volk kommt seiner
Lebtag nimmer in d'Höh, sag i! Dös gibt's einfach gar nicht, daß uns
d'Franzosen besiegen kunnten!«

Während dieses Ergusses hatte der Erbitterte eine Warnungstafel
übersehen und war einer Straße nachgefahren, die nicht granatensicher
ist. Ein fester Paukenschlag. Der französische Gaul will scheu werden,
mein Fürstenfeldbrucker redet ihm freundlich zu -- »Ja ja, jetzt
versteht er schon ganz gut Deutsch!« -- und richtig, der Gaul kehrt
verständig um, und nun müssen wir einen weiten Umweg machen, um mein
Ziel zu erreichen: den Schützengraben eines Münchner Regiments.

Eine Wache gebietet Halt, mein Philosoph mit seinem deutschverständigen
Rössel muß zurückbleiben, und geführt von einem jungen, freundlichen
Kriegsfreiwilligen wate ich durch die Lehmsümpfe der verwüsteten Felder.
Wenn es hier nach drei Schönwettertagen so aussieht, wie muß es aussehen
nach einem Platzregen? Ich komme an Wagen und Karren vorüber, die bei
ihren Nachtfahrten im Moraste stecken blieben. Neben einer Hecke duftet
ein totes Pferd; sein Bauch ist wie ein buckliges Faß.

Ein Rollen und Brüllen, bald nah, bald ferne; die Franzosen vertrödeln
schon wieder ein Häuflein Staatsgelder. Über einen die Wegmulde
sperrenden Rübenacker müssen wir flink und mit geduckten Köpfen
hinüberspringen; das Feld sieht aus wie ein Sieb, dessen Boden ein
bißchen unregelmäßig durchlöchert ist.

Nun empfängt mich ein kleiner Wald; er hat einen neuen Namen bekommen:
»das bayerische Hölzl«. In dem wirren Gezweige leuchten viele, viele
blinkweiße Flecken: die Splitterwunden der von Granaten getroffenen
Bäume. Vor dem Eingang in den Wald ist ein Damm aufgeschichtet, um
das Regenwasser und die Schlammbäche abzuwehren. Jetzt geht es einen
schmalen Weg entlang, der mit festen Prügeln belegt ist, damit man
nicht bei jedem Schritte einsinkt bis über die Knöchel. Zur Rechten des
Weges gucken aus der Lehmböschung kleine, trübe, gläserne Äugelchen
heraus: die winzigen Fenster der in die Erde hineingegrabenen
Offizierskellerchen und Mannschaftshütten. Hier wohnt und schläft und
ißt und arbeitet, wer nicht Dienst im Schützengraben hat.

Junge Offiziere empfangen mich, liebenswürdig und gastfreundlich. Wie
alt muß ich schon sein, weil auch ein Major für mich noch aussieht
wie ein Jüngling in Uniform! Ein flinker, prächtig mundender Imbiß in
solch einem kleinen, ganz gemütlichen Kellerchen. Dann geht es hinaus.
Überall, wohin meine Augen im Walde fliegen, seh' ich Arbeit, Arbeit und
Arbeit. Wege werden gebaut und mit Prügeln gepflastert; hier gräbt man
Rinnen zur Trockenlegung des Bodens und zur Ableitung des Wassers; eine
steile, rutschige Waldtreppe wird ausgebessert -- es steht da auf einem
Täfelchen: »Gasteiger Anlagen, Automobile fünfzehn Kilometer.« Hier baut
man neue Unterstände für je dreißig Mann, überwölbt sie mit Wellblech
und behütet das Dach mit dicker Lehmlage. Dort, im Gewirr der Stauden,
geht es reihenweise hin und her, da schleppt man die Eisenbahnschwellen,
die Bretter, die Balken und Pfähle, die Strohgarben und Lattenroste
durch den Wald hinauf, und droben wird alles zurechtgelegt für die
Nachtarbeit, bei der diese notwendigen Dinge auf Pfaden, die man am Tage
wegen der singenden Vögelchen nicht begehen kann, in die Schützengräben
wandern. Dieses Gewimmel fleißiger Arbeit -- das ist die »Ruhepause«
unserer Feldgrauen! Schließt man die Augen und sieht diese schleppende
Plage nimmer, so glaubt man wirklich an heitere Ruhe, denn immer hört
man ein Lachen, überall klingen fröhliche Worte.

Ich sehe zwei von unseren gesegneten Feldküchen am Werke; sie brodeln
und qualmen und riechen gut und werden am Abend den gesunden Hunger
der Unseren stillen. Wie eine liebe Freude ist dieser Gedanke in mir!
Und da greift mir plötzlich etwas Hartes und doch etwas wunderbar
Schönes an den Hals und tief in das Herz hinein -- ich stehe vor dem
»Waldfriedhof«! So nennen sie diesen kleinen stillen Platz. Zwischen
vier großen Eichen haben sie sauber gemacht, den Weg besandet und einen
Zaun gezogen. Alles, was in dem schneelosen nordfranzösischen Winter
immergrün ist, das haben sie weit in der ganzen Gegend gesammelt, haben
es hier mit den Wurzeln eingepflanzt und haben es so sorgsam gepflegt,
daß es schon jetzt zu treiben beginnt und neue Blätter bildet: Lorbeer
und Stechpalme und Buchs und Efeu. Aus den zerschossenen Dörfern haben
sie Marienstatuettchen und Kruzifixe herbeigetragen, eins für jedes Grab
-- und haben die Holzkreuze schön ausgeschnitten, haben sie bemalt,
haben in hübscher Schrift die deutschen Heldennamen draufgeschrieben,
haben rührend kindliche Verse gedichtet -- und haben so diesem ernsten
Platz, auf dem die grün geschmückten Hügel in breiter Reihe liegen,
etwas Heiligfrohes gegeben, etwas Frühlingshaftes in aller Kahlheit
dieser Winterszeit. Das ist keine Stätte des Todes -- das ist ein grüner
Tempel der Auferstehung und des ewig blühenden Lebens.

Meine Deutschen! -- -- Wenn du von =denen= sprichst, du Philosoph aus
Fürstenfeldbruck, dann mußt du =anders= sagen: »=So ein Prachtvolk
auf der Welt!=« -- Solch ein Volk? Und untergehen? Nicht Sieger und
Lebensgärtner auf Erden bleiben? Dieser Gedanke wäre Irrsinn oder
verbrecherischer Zweifel an Gottes logischem Schöpferwillen!

Das deutsche Bild, das ich gesehen, verläßt mich nimmer! Heiß zittert
in mir die dankbare Ehrfurcht nach, während ich hinter den führenden
Offizieren hinaufwate durch den engen, pfützigen Lehmgraben, dessen
Boden und Wände mich einwickeln in gelben Schlamm. Immer weiter führt
er hinaus in das vom schärfsten und gröbsten aller Pflüge, vom Pflug
des Krieges, durchackerte Feld. Immer knallt es und dröhnt. Wieder muß
ich an ein friedliches Schützenfest denken -- so pufft und donnert es
immer, wenn gegen Abend die Schützen sich beeilen, und wenn im guten
Büchsenlicht vor der Dämmerstunde bei vielen Punktschüssen die Böller
gelöst werden.

Jetzt stehe ich auf der Wallbank und spähe durch die Scharte eines
Stahlschildes nach der feindlichen Stellung hinüber. Ein Grauen, das
mir durch alle Knochen rieselt, macht mich schauern wie bei Frost. Da
draußen liegen sie. Es sind nicht die ersten verwesenden Toten, die
ich sehe. Aber in solcher Menge! Zorn und Ekel und Erbarmen kämpfen
in mir. Dreiundfünfzig kann ich zählen. Jene, die am mutigsten waren,
liegen weit voran, jeder für sich allein -- hinter ihnen die anderen,
zuerst eine kurze, dann eine lange Reihe. Manche liegen wie behagliche
Schläfer; manche sehen aus, als wollten sie eben aufstehen und hätten
in den Beinen einen Krampf bekommen, der sie unbeweglich machte; andere
haben die Füße hochgeschlagen, wie erstarrt inmitten eines Purzelbaumes;
einer gleicht einem orientalischen Beter, der auf den Knien liegt und
mit ausgebreiteten Armen die Stirne zur Erde beugt; und einer scheint
wie in wildem Zorne stumm zu lachen und hält die beiden geballten Fäuste
gegen den Himmel gestreckt. Ganz braun sind diese Fäuste, so braun wie
die Fäuste eines Arabers. Und die gleiche braunschwarze Farbe liegt auch
über allen Gesichtern dieser einst weiß gewesenen Europäer -- soweit
ihre Gesichter noch vorhanden sind. Vögel und Mäuse haben da schon ihre
abmindernde Arbeit getan. Die Farben der Mäntel und Uniformen sind
verblichen; und jenen Toten, die beim Sturz das Käppi verloren, hat der
wochenlange Regen das Haar über Stirn und Schläfe gekämmt. So liegen sie
seit dem 18. Dezember; und ein Dutzend Schritte hinter diesen von aller
Heimat Verlassenen, die doch tapfere Helden ihres Volkes waren, schlafen
und essen und trinken im französischen Schützengraben ihre lebenden
Brüder! Denen boten die Deutschen einen Waffenstillstand zur Bestattung
ihrer Gefallenen an. Die Franzosen lehnten ihn ab. Warum? Weil sie darin
einen Vorteil für die Deutschen witterten? Weil sie glaubten, der stete
Anblick dieses Todes würde die Deutschen verzagt machen? Oder weil sie
hofften, dieser Leichenwall würde ihr empfindliches Ohlala-Häutchen vor
den bayerischen Gewehrkolben behüten? Oder nur, weil sie zu zivilisiert
und zu faul waren, um eine etwas mühsame und unästhetische Pflicht der
Pietät zu erfüllen?

Fürstenfeldbrucker! Ich will beim Gedanken an diese verlassenen Toten
dein zorniges Philosophenwort nicht nachsprechen. Aber =recht= hast du!

Nach diesen Minuten des Schauders ist mir der Anblick unserer
Feldgrauen, die den Waldfriedhof anlegten, wie Erlösung und Trost, wie
aufatmende Befreiung.

Der Schützengraben, in dem ich da stehe, ist einer der
niederträchtigsten -- nur haltloser Lehm, immer in rutschender Bewegung,
alles eine Spottgeburt aus Dreck und Wasser. Mit Spaten und Brettern,
mit Flechtwerk und Lattenrost kann man dieses klebrigen, schleichenden
Feindes nicht Herr werden -- nur mit Humor. Recht bezeichnend heißt
eine Strecke dieses Schützengrabens das »Pfuiteufelgasserl«. Ein
Verbindungsgang hat sogar einen variablen Namen: bei leidlich trockenem
Wetter heißt er »König-Ludwig-Straße«; steigt das Grundwasser, so heißt
er »König-Ludwigs-Kanal«. Und in einer Grabensenkung, die =immer=
Wasser hat, bis übers Knie herauf, zeigt ein Täfelchen die Inschrift:
»Bitte nicht auf den Boden spucken!« Man begreift da den Sänger aus
dem feldgrauen Volke, der sich in einer lyrischen Schilderung des ihm
geläufigen Milieus zu dem Verse verstieg:

    »Der Schützengraben, wenn ich nicht irr',
    Ist dem heiligen Peterl sein Nachtgeschirr!«

In einem Höhlchen sitzen drei mit gekreuzten Beinen wie Türken und
spielen Tarock. Einen hör' ich sagen: »Daheim ist daheim!« Nebenan
spielt einer die Mundharmonika, sein Kamerad singt leise dazu, ein
bißchen melancholisch -- und ich höre im Vorübergehen den Vers:

    »Jatz hot sie einen andern Buam!«

Auf dem Türchen eines Schlupfes steht: »Meilerhütte« -- auf dem
nächsten: »Arminshütte«; da hausen Mitglieder des Alpenvereins; einer
ruft mir zu: »Dös weard jetzt wieder a schöner Roman, gelt?« Und weil
ich auf dem Hirndach eine ziemlich dicke Mähne habe, die sich in meinen
drei Feldwochen schon merklich streckte, winkt mir ein Lachender: »Sö,
i bin Frisör, soll i Eahna vielleicht d' Haar stutzen?« Und beim Sausen
eines Haubitzenschusses hör' ich, wie einer warnt: »Obacht, a Rollwagerl
kimmt!«

Einer sitzt ruhig in seinem Höhlchen und guckt aus der
Liebesgabenkopfhaube heraus wie ein mittelalterlicher Ritter aus seinem
Eisenhut. Ich frage: »Ist's warm da drinnen?« Er lacht: »Hundskalt!
Aber halbert trocken, Gott sei Dank! Vor acht Tagen hast allweil gmoant,
du mußt a Fisch wearn!« Ein anderer fällt ein: »Ah, dös is gut so!
Früher, daheim, da is man so von eim Tag in andern einitorkelt, und nie
hat man verstanden, was man hat vom Leben. Jetzt, bal i heimkomm, jetzt
weiß i, was 's Leben wert is und wie man leben muß!«

An dem meterbreiten Zwischenraum zweier Unterschlupfe ist eine
Blechtafel befestigt: »Hier ruht in Gott ...« Ehe der Schützengraben
ausgehoben wurde, begruben hier die Deutschen einen Unteroffizier; diese
Erdstelle ließ man beim Bau des Grabens unberührt; zur Rechten und
Linken des Todes wärmt sich jetzt und ruht und schlummert das gesunde
Leben.

Während des Weiterstapfens durch den Graben erzählen mir die Offiziere
von dem mißglückten Durchbruchversuch der Franzosen am 18. Dezember.
Mitten im heißesten Gefecht ereignete sich da ein heiteres Intermezzo.
Ein Bayer, der mit dem Bajonett losrennen wollte, erkannte in seinem
Feind einen »Spezi«, der drei Jahre in München als Kellner gedient
hatte. »Jesses! Du? Was tust denn =Du= da?« Der Franzose antwortete im
reinsten Münchnerisch: »Durchbrecha tean mer.« Und der Bayer lachte: »So
so? Da gib nur glei' dei' G'wehr her!« Die Sache war erledigt.

Im Unterstand eines Artillerieleutnants bekomme ich noch ein kleines,
verheißungsvolles Stilleben zu sehen: das Fensterchen ist mit
sprossenden Efeustöcken bestellt -- und die Blumentöpfe bestehen aus
feindlichen »Ausbläsern«, aus den Stahlhülsen französischer Granaten,
die keinen Schaden anrichteten.

Steil geht's hinunter und drüben noch steiler hinauf; ein Drahtseil ist
angebracht, wie bei einer gefährlichen Kletterstelle im Hochgebirge. In
der Mulde ist der Wall Schulter an Schulter besetzt. Und drüben, wo es
aufwärts geht, an etwas exponierter Stelle, warnt mich der Offizier:
»Den Kopf ducken! Für die Stelle haben die Franzosen drüben einen
Spezialisten.« Nicht weit von dieser Platte ist in der vergangenen Nacht
ein junger Fähnrich bei einer Erkundung gefallen.

Meine Führer wollen umkehren, wir sind an der Grenze ihres Gebietes;
aber der junge freundliche Leutnant des Nachbargrabens erklärt: »Wir
haben was da droben, das =muß= man sehen!« Mit flinker Kletterei geht es
aufwärts.

Ja! Das =mußte= ich sehen: =die Madonna im Schützengraben=! Früher
stand sie draußen an einem Feldweg, zwischen der deutschen und der
französischen Stellung, immer von den Kugeln bedroht. Vier stämmige
Bayern haben sie in einer finsteren Nacht hereingeholt in den Graben:
eine lebensgroße Mutter Maria mit dem Kinde, aus schwarzem Eisenguß.
Der Schöpfer dieses Bildwerkes muß halb ein Künstler, halb ein Bauer
gewesen sein. Etwas Naiv-Rührendes spricht aus dem zarten Schmalgesicht
der Maria, wie aus der spielenden Geste des heiligen Kindes. Nun steht
diese schwarze Madonna kugelsicher in einer Lehmnische des deutschen
Schützengrabens, ist mit Buchs umkränzt, mit Efeu umwunden -- und unsere
Feldgrauen, ehe sie sich schlafen legen, knien da, mit der Mütze vor der
Brust.

Die sinkende Dämmerung umwebt das Bildwerk mit immer dichter werdenden
Schleiern. In mir ist ein Sinnen, so andächtig und froh, wie ein
gläubiges Gebet. Dann steigen wir über das offene Feld zum »Bayerischen
Hölzl« hinunter und brauchen dabei die Köpfe nimmer zu ducken; für den
»Spezialisten« im französischen Schützengraben ist es bereits zu dunkel
geworden.

Eine deutsche Batterie gibt noch vier Schüsse ab. Ihr Hall und das
Krachen der platzenden Granaten weckt ein langrollendes Echo an den
Waldsäumen. Abendläuten im Felde!

Ich werde bleiben bis zum Morgen, weil ich die »Nachtruhe« der
Feldgrauen am eigenen Leib erfahren will. Was man würdigen soll, das muß
man kennen.

       *       *       *       *       *

                                                        4. Februar 1915.

Draußen die Nacht, von der man nicht sagen kann, daß sie still ist. Nur
dunkel ist sie.

Wir sitzen zu fünft bei einer schmackhaften Mahlzeit im
»Offizierskasino« des Schützengrabens. Unter der Erde liegt es, ist
zwei Meter breit und drei Meter lang. Steigt man aus der Oberwelt über
das Trepplein herab, so muß man sich =sehr= tief bücken, sonst gibt es
gleich =zwei= Beulen, eine an der Stirn und eine am Hinterkopf. Hat man
aber diese Gefahr überwunden, dann wird die Sache ganz reizend.

An die dreißig solcher Hütten und Kellerchen hab' ich schon besucht; in
allen merkt man die gleiche deutsche Sehnsucht: ein Heim zu haben, in
dem man sich gerne aufhält.

Naturherd aus gedörrten Lehmpatzen oder eisernes Öfelchen, beide haben
die verwandte Eigenschaft: sie rußen und rauchen. Aber das macht
nichts. Den Ruß kann man wieder hinauskehren, und gegen den Rauch kann
man die Tür aufmachen -- wenn's nicht gerade hereinpritschelt. Von
den Lehmwänden schwitzt immer die Nässe durch; aber in der Wärme von
Ofen und Menschen verdunstet sie wieder. Die nachrutschenden Erdmauern
haben das beharrliche Bestreben, die Verschalungsbretter krumm zu
biegen und herauszudrücken; dann werden sie eben wieder aufgepölzt
und festgenagelt; das hilft mit Sicherheit einen oder zwei Tage. Daß
es von oben hereinregnet, das ist ja eine ganz natürliche Sache; ein
verständiger Mensch wird sich gegen die ewigen Gesetze der Schwere und
des Falles nicht auflehnen. Etwas irritierend wird die Sache, wenn das
Wasser von unten heraufquillt; na, da schöpft man eben und schöpft und
schöpft -- und schließlich kommt man zu der beruhigenden Überzeugung,
daß auch hier eine sehr alte Naturnotwendigkeit mitspielt: nämlich das
Gesetz vom Gleichgewicht der Flüssigkeiten. Wir haben doch das in der
Schule gelernt, daß das Wasser in den beiden Schenkeln einer gebogenen
Glasröhre gleich =hoch= stehen muß. Wenn also draußen das Lehmwasser
bis ans Fensterchen steigt, =muß= es sich einen Meter tiefer auf dem
Stubenboden herinnen doch =auch= ein bißchen zeigen. Und da sucht sich
der kluge Mensch eben nach Kräften zu schützen. Das ist das Wunderbare
im Feld: man wird so ruhig, daß man mit allem einverstanden ist und mit
allem fertig wird.

Aber jetzt fragt einmal eine von unseren braven deutschen Hausfrauen
daheim: ob sie nicht längst schon im Irrenhause wäre, wenn sie das
vier Monate hätte mitmachen müssen. Sie wäre schon während der ersten
vier =Tage= in Verzweiflung geraten über die sonderbaren Flecken, durch
die bei solchen chronischen Wasserbewegungserscheinungen die Tapeten
in den seltsamsten Ornamenten gesprenkelt werden. Man könnte der Frage
nähertreten: ob man nicht einmal durch Parlamentsbeschluß die =Frauen=
in den Krieg schicken sollte. Ich denke =sehr= gut von ihnen, bin
aber doch überzeugt, daß sie =viel= nachsichtsvoller und geduldiger
heimkehren würden, als sie waren, da sie auszogen.

Ja, wahrhaftig, diese Kellerchen sind tapeziert! Manchmal nur mit
Zeitungspapier und den Packbogen unterschiedlicher Liebesgaben. Zuweilen
aber auch mit persischen Teppichen, die aus einer nordfranzösischen
Villa stammen und -- wie ich bereits erzählte -- sich schon nach der
zweiten oder dritten Woche durch lebhafte Pilzbildung auszeichnen,
um sich schließlich in Warmbeete zur Züchtung von Schwammerlingen zu
verwandeln.

An derart gestalteten Wänden sind nun allerlei nette Dinge angebracht.
Nie fehlt das Brettregal, auf das man die Schuhschmiere, das
Liebesgabenklosettpapier oder sonstige Kulturgegenstände hinauflegen
kann. Irgendwo ist immer ein möglichst wasserdicht gemachtes Archiv für
Schreibmappe und militärische Akten angebracht. Die reiche, mit Sorgfalt
und Liebe gesammelte Kunstgalerie besteht aus kolorierten Kupferstichen,
die aus dem Schutt der niedergeschossenen Bauernhäuser herausgeholt
wurden, aus den vielen Ansichtskarten, die von daheim gekommen, aus
Titelblättern der »Jugend« und aus Kriegsbildern des »Simplicissimus«.
In dem Offizierskasino, in dem ich mich augenblicklich befinde, ist
sogar eine Schwarzwälderuhr vertreten; aber sie geht nicht; infolge der
andauernden Feuchtigkeit ist das ganze Räderwerk zu einem unentwirrbaren
Oxydklumpen zusammengerostet; so hat diese Uhr jetzt nur noch den
einen Zweck, mit ihren eisernen Gewichten allerlei unangenehme Püffe
auszuteilen und sich mit ihren Ketten in die Haare der Tischgäste zu
verwickeln; aber -- »Eine Uhr im Zimmer, das sieht doch immer nett aus!
Nicht?« So behauptet der Major mit einem zärtlichen Blick auf diese
Kostbarkeit seines Bataillonskasinos.

Geradezu vornehm ist die Beleuchtung. Es ist bekanntlich =viel= nobler,
Kerzen zu brennen, als elektrisches Licht zu benützen. Diese im Felde
selbst fabrizierten Talgkerzen haben jedoch bei ihrem aristokratischen
Glanze zwei mißliche Eigenschaften; ist es kalt und zieht es durch
Tür und Fenster herein, so brennen sie schief und tränen in die
Suppenschüssel; und ist es so warm, daß man von »Bullenhitze« redet, so
biegen sie sich in geschwungenen Barockformen über den Leuchter herunter
und lassen ihre Fetttropfen auf das magere Kommißbrot fallen. Na ja,
frische Alpenbutter wäre schmackhafter! --

-- Vielleicht erheben nachdenkliche Leser jetzt den Vorwurf gegen
mich, daß ich mit unangebrachter Heiterkeit von Dingen rede, die man
eigentlich doch sehr ernst nehmen sollte. Dieser Vorwurf wäre ungerecht.
Ich glaube, daß man, was ich da erlebt und gesehen habe, =nur= heiter
nehmen kann! Wollte ich =ernst= von der unbeschreiblichen Mühsal
erzählen, die unsere Offiziere und Soldaten seit Monaten mit namenloser
Geduld und entzückendem Humor ertragen, so würdet ihr in der Heimat bei
jedem meiner ernsten Worte ein wehes Zittern in euren Herzen haben! Aber
seid ohne Sorge! Ich =darf= heiter erzählen. Die Unseren im Felde sind
von so gesundem Schlag, daß sie monatelang die ruhelose Marter dieses
nassen Dreckes und die Drohung steter Gefahr für Leib und Leben ertragen
und dabei doch immer noch lachen können.

Gerade im Anschluß an dieses Wort bekenne ich, daß ich an diesem von
Kerzentropfen und sonstigen Wirtschaftsrätseln bekleckerten Tische eine
der schönsten, tiefsten und wertvollsten Stunden meines Lebens genießen
durfte. Denn als wir gespeist hatten und der gute französische Landwein
geheimnisvoll in den sehr verschiedenartigen Gläsern leuchtete, begannen
sie zu erzählen, diese Feldgrauen; jeder von ihnen hat viel Hartes
durchmachen müssen; und einer trägt zwei kleine rote Narbensternchen
auf der Stirne -- wo die Kugel hinein und wieder hinaus gegangen, ohne
diesen festen deutschen Jünglingsschädel zerbrechen zu können. Von den
ersten schweren Wochen des Krieges erzählten sie, von den furchtbaren
Tagen und Nächten in Lothringen und Belgien, von Stunden, in denen
manchmal auch die Nerven des tapfersten Mannes zu versagen drohten. Ganz
ruhig erzählten sie, fast so ruhig, wie man von einem beschwichtigten
Ungewitter redet; nur ihre Worte wurden langsamer, ihre Stimmen leiser,
innerlicher; sie gebrauchten keine aufputzenden Adjektiva, sie sagten
jedes Ding so hart und streng vor sich hin, wie es geschehen war, und
keiner redete von sich selbst, jeder nur immer von der großen Sache.
Und während ich atemlos lauschte, an Herz und Knochen vom Grauen des
Krieges gerüttelt, war es mir immer, als müßte ich etwas Dankbares aus
mir herausschreien und müßte mit beiden Händen hinübergreifen über den
Tisch, um diese jungen deutschen Mannsfäuste zu fassen und zu drücken.
Hätten es mir diese drei Wochen im Felde noch =nie= gezeigt und gesagt,
so hätt' ich es jetzt an diesem kleinen Tisch verstanden, was für uns
Bürger in der Heimat das kraftvolle und sieghafte Wort bedeuten muß:
ein deutscher Soldat, ein deutscher Offizier! -- Freilich, im Sinne
eines Kunstgeschmackes, der die Abwechslung liebt, haben sie auch einen
Mangel: in ihren besten und wesentlichsten Zügen sind sie alle gleich,
da ist einer wie der andere! An vielen hundert kleinen Tischen dieser
kleinen Lehmlöcher könnte ich ein Gleiches hören, wie ich es an =diesem=
Tische vernahm.

Es wirkte auf mich, daß ich lange wortkarg bleiben mußte, als es
schon wieder heiter wurde, weil Besuch erschien. In Begleitung
eines Reichsrates, den wir in München kennen und verehren, kam der
Regimentskommandeur zur Besichtigung der Nachtarbeit im Schützengraben
-- als Vorgesetzter ein Freund und Vater seiner Soldaten. Davon sollte
ich gleich eine Probe erfahren, die mir unvergeßlich bleiben wird.
Der Kommandeur wollte bei diesem Nachtweg eine Beförderung verkünden.
»Nach dem Regimentsschimmel müßte man's eigentlich anders machen. Aber
was einer verdient, muß er bekommen. Den Lohn verschieben, heißt ihn
entwerten.«

Nun geht's hinaus in die dunkle Nacht, die geheimnisvoll durchklirrt
ist von einem gedämpften Arbeitslärm. Manchmal ein Schuß in der
Ferne, manchmal einer im nahen Schützengraben -- Schüsse, die bei
der Finsternis nicht treffen können, nur sagen wollen: »Wir wachen!«
Zuweilen leuchtet droben über dem Wald eine rote Helle auf und
verschwindet wieder. Und herunten zwischen den Bäumen schreiten oder
stehen schwarze Gestalten mit klumpigen Lasten auf den Schultern.
Schritt um Schritt geht es über klappernde Prügel hin oder durch
quatschenden Lehmteig. Bei etwas schwierigen Stellen leuchtet für einen
Moment der Strahl eines elektrischen Lämpchens auf.

Ein Kriegsfreiwilliger wird herbeigerufen. Kaum unterscheide ich in der
Nacht den Umriß der schlanken, unbeweglich stehenden Gestalt.

Die Stimme des Kommandeurs: »Lieber R.! Sie haben nicht nur zwei famose,
schneidige Erkundungen gemacht, ich weiß auch, daß Sie in allen Stücken
ein tüchtiger, verläßlicher Soldat sind! Nicht wahr, Sie streben den
Offizier an?«

»Jawohl, Herr Oberstleutnant!«

»Sind Sie schon Fähnrich?«

»Nein, Herr Oberstleutnant!«

»Dann sind Sie es jetzt. Ich gratuliere Ihnen!«

Da hör' ich einen leisen Laut -- wie von einem Jungen, dem beim Baden im
Bach das kalte Wasser heraufsteigt an die Lenden. Dieser leise Laut --
das war tiefste deutsche Soldatenfreude.

Ich muß die Hand strecken. »Darf ich Ihnen auch gratulieren?« Keine
Erwiderung. Aber den Händedruck hab' ich noch eine Stunde lang gespürt.

Der Weg durch Laufgang und Schützengraben ist mit Schwierigkeiten
verknüpft. Immer wandern die langen, endlos scheinenden Reihen der
lastschleppenden Soldaten an uns vorüber. Beim Ausweichen muß ich immer
den verwünschten Bauch in die nasse Lehmwand hineinquetschen. Oft komm'
ich von diesem klebrigen Teige kaum mehr los. Pfundweis hängt er an
meinen Händen. Was will man machen, man wischt ihn an der Hose ab.

Überall im Schützengraben wird geschanzt, geschaufelt und gearbeitet,
überall wird gebessert, was schlecht wurde, überall ausgetauscht, was
unbrauchbar geworden.

In ihren Schlupfen liegen die Abgelösten; keine Stimme, kein Öffnen des
Türchens, kein Zug der kalten Nachtluft und auch kein Schuß vermag
sie zu wecken. Sie schlafen, wie nur die Zufriedenen und Glücklichen
schlummern. Wie Aschensäcke sehen sie aus, in ihre Mäntel gewickelt, die
Zeltbahnen über die Köpfe gezogen.

Die Schützen, die im Graben auf Wache sind, stehen regungslos bei
ihren Scharten und spähen in die Nacht hinaus, die der Mond, hinter
dicken Wolken verborgen, ein bißchen aufzuhellen beginnt. Oder gewöhnen
sich nur die Augen an die Finsternis? Manchmal ein Schuß -- weil ein
Wachtposten was gesehen hat oder was zu sehen glaubte. Und zuweilen,
in den benachbarten Stellungen drüben, das Dröhnen einer platzenden
Granate. Eine kann ich aufgehen sehen. Das sieht aus wie ein Strauß aus
Feuerblumen, der eine schwarze Manschette hat.

Durch den ganzen Schützengraben geht es. Die schußbereiten
Maschinengewehre werden revidiert. In einen finsteren, engen Gang hinein
und unter die Erde hinunter! Ganz vorne arbeitet einer wie ein Bergmann,
ein zweiter karrt den ausgehobenen Lehm davon, ein dritter versteift den
Minengang mit stützenden Bohlen.

Wieder im Graben. Ein schönes, rotglänzendes Sternchen surrt in die Luft
hinauf und fängt in der Höhe grell zu brennen an. Das ganze Gelände
zwischen unseren und den feindlichen Gräben ist taghell beleuchtet.
Drüben liegen die toten Franzosen als schwarze, unbewegliche Klumpen
-- aber ganz in der Nähe liegt etwas Lebendiges, das sich bewegt: ein
deutscher Horchposten. Und ein Gewirre von Drähten ist zu sehen -- das
sind die Stacheldrahthindernisse und die aus dem Graben hinausgerollten
Spanischen Reiter. Ein letztes Lichtgezitter, alles versinkt wieder
in undurchdringliche Finsternis, um nach wenigen Minuten wieder
aufzuglänzen -- -- und wir daheim, wir sagen immer: »Was ist denn nur da
draußen? Warum geschieht da nichts? Warum geht da nichts vorwärts?«

Es ist Mitternacht geworden. Nun dürfen auch die letzten der Geplagten
ein bißchen ruhen. Ehe der Morgen kommt, müssen sie wieder bei den
Scharten stehen. Und Nässe und Schlamm an Rock und Stiefel und Hose
müssen trocken geworden sein von der Wärme ihres eigenen Körpers. Seit
dem 5. August haben sie dieses Soldatenkleid am Leib und haben es nur
abgelegt, wenn sie hinter der Front im Ablösungsquartier die Wäsche
wechseln und baden und sich säubern konnten. Und diese Gesundheit,
dieser Humor, diese treue Beharrlichkeit, diese unzerbrechbare Geduld!
-- Und, wahrhaftig, da gibt es Leute in der Heimat, denen der deutsche
Sieg nicht schnell genug in die warmen Betten läuft! --

Im »Offizierskasino« noch ein kurzer Schwatz und ein Schlummertrunk. Im
Felde nennt man ihn »heißes Wasser«. Natürlich ist etwas drin, etwas
sehr Kräftiges!

Und jetzt -- ins Bett. [+] [+] [+] Gott beschütze mich!

Eine freundliche Ordonnanz zieht mir die zehn Pfund schweren Lehmgebilde
von den Beinen herunter. »Gut Nacht, Herr Doktor!« Dann bin ich
allein auf einer »Flur«, die alles andere ist, nur nicht »weit«. Das
Lehmherdchen glutet noch ein bißchen und raucht sehr heftig. Also die
Tür auf! Aber es hat zu regnen begonnen, und ein ungemütlicher Wind
peitscht die Traufenfäden herein. Also die Tür wieder zu! Und in den
Kleidern auf die Pritsche! Bevor ich das Kerzenstümpfchen auslösche,
seh' ich noch etwas sehr Schönes: die ganze Bretterdecke meines
Unterschlupfes ist behängt mit großen, blitzenden Diamanten. Jetzt
lieg' ich im Dunkeln. Da fängt es auch schon zu tropfen an. Pitsch,
pitsch, pitsch, pitsch! Ich ziehe, wie ich es bei den Soldaten gesehen,
die Zeltbahn über den Kopf. Nach einer Viertelstunde bricht mir am
ganzen Leib der Schweiß aus. Ich entkleide mich und krieche wieder
unter das raschelnde Segeltuch. Pitsch, pitsch, pitsch, pitsch! Nach
einer halben Stunde friere ich, daß mir die Zähne klappern. Ich ziehe
mich wieder an, und weil mir vom Rauch, der nach Erlöschen jeglicher
Wärme reichlich zurückblieb, die Augen heftig brennen, mache ich wieder
die Tür auf, drücke sie aber sofort sehr energisch zu. Ich liege
wieder, und trotz der Dunkelheit bemerke ich an meinem nachlassenden
Hustenreiz, daß der Rauch verschwindet. Aber das andere bleibt:
Pitschpitschpitschpitschpitschpitsch ... jetzt klingt es viel schneller
und ununterbrochen. Nicht nur von oben kommt der feuchte Segen, auch
von unten her. Schon will ich in einem drohenden Tobsuchtsanfall
fluchen wie ein Berserker. Aber da muß ich denken: »So machen es unsere
Feldgrauen seit sechzig oder siebzig Nächten durch!« Wobei noch zu
berücksichtigen ist, daß ich als Gast ein »Kavalierhüttl« bekam, also
eine Sache, die so gut ist, wie sie sonst kein anderer hat! Ein Wunder
geschieht -- ich, das nervöseste von allen nervösen Äsern, ich werde
plötzlich so geduldig wie ein Lamm, drehe mich still auf die Seite und
fange, um den Schlaf herbeizuschmeicheln, die fallenden Tropfen zu
zählen an: Pitsch, pitsch, pitsch, pitsch ...

Ich glaube, bis nah' an siebenhundert kam ich. Ja, wahrhaftiger Gott:
gegen drei Uhr bin ich zufrieden eingeschlafen. Ein paarmal erwachte
ich, hatte rückwärts das Gefühl einer immer feuchter werdenden Unterlage
und im Hirn eine seltsame Idiosynkrasie: ich vermutete immer, daß
vor meinem Kavaliershüttl irgend jemand Holz hacke. Es waren die
Gewehrschüsse, die vom Schützengraben herunterklangen. Und einmal fuhr
ich sehr heftig auf und hörte noch ein doppeltes Rollen -- es war ein
Granatenpärchen in den Wald geflogen. Ich drehte mich um und schlief
wieder ein. Und habe geschlafen, bis im Ergrauen des Tages die Ordonnanz
mich weckte und meine schöngeschmierten Stiefel brachte: »No, Herr
Doktor, wie war's?«

»Ganz gut! Ein bisserl feucht halt!«

»Mein, da haben wir's jetzt noch wie im Himmel! Aber die vorig' Woch',
da haben wir sechs Nächt lang im Wasser hocken müssen. Niederlegen
hat man sich gar nimmer können. Auf'm Tornister hat man halt sitzen
müssen. Da hat's die meisten von uns a bißl verdrossen. Alle haben wir
g'schimpft, ja! Bloß an einziger is zufrieden g'wesen. Dös war a Tölzer
Floßknecht. Der hat allweil g'sagt: >Dös bin i g'wohnt!< -- Da haben wir
uns a guts Beispiel g'nommen.«

Draußen rauschte der schwere Regen.

Heißer Tee. Fünf Tassen. Dann hinauf in den Schützengraben. Hier sind
im Morgengrau schon alle bei der Arbeit. Fast durch die ganze Länge des
Grabens liegen die Lehmwände niedergebrochen. Alles, was Boden heißt,
ist verschlammt und überschwemmt. Und den schanzenden Soldaten rinnt
das Wasser über Gesichter, Rock und Hosen herunter. Und immer noch
schwatzen sie lustig und machen jene kleinen, netten Späße, in denen
eine große, tiefe Seele steckt -- die Seele des deutschen Volkes!

Ist der Krieg im Regen ertrunken? Kein Schuß mehr. Den ganzen Vormittag
bleibt es still. Doch am Nachmittage, während ich durch die klatschenden
Regengüsse und unter peitschenden Windstößen zurückwandere zu meinem
Fürstenfeldbrucker Philosophen, beginnen die Haubitzen wieder zu
donnern, und von überall klingt das Knallen, das die pfeifenden
Vögelchen fliegen macht.

Mein ganzes Denken ist ein einziges heißes, inbrünstiges Gebet zur Sonne:

»Komm! Und scheine den Unseren! Meinetwegen auch den andern! Wenn nur
die Unseren trocken werden und sich wärmen können!«




                                  10.


                                                        7. Februar 1915.

Einen Tag lang war herrliches Wetter. Alles funkelte von Sonne. Die
reinste Frühlingsstimmung! Dachte man an die Truppen, so fühlte
man immer den gleichen Gedanken: »=Gott sei Dank, jetzt werden
sie trocken!=« Wie eine tiefe Wohltat war's, mir vorzustellen,
daß unsere Feldgrauen vor Wärme dampfen. Und mit Lachen mußte ich
besonders an =einen= denken. Den hatte ich in seinem triefenden
Schützengrabenhöhlchen knien sehen, mit einer ganz sonderbar
verbuckelten Gestalt. »Um Gottes willen, was ist denn mit Ihnen?« hatte
ich erschrocken gefragt, denn ich hielt ihn für einen Schwerverwundeten
im Notverband. Aber nun kam eine heitere Lösung. Der kluge Mann hatte,
um sich gegen die von unten heraufquellende Nässe zu schützen, =sieben=
wollene Liebesgabenbauchbinden =hinten= herumgebunden. Er behauptete:
das bewahre ihn bis zum Morgen vor dem tieferen Eindringen jeglicher
Feuchtigkeit. Weil die äußerste dieser sieben wollenen Sitzfleischhäute
zinnoberrot war -- möglicherweise aus dem ehemaligen Unterrock einer
Dorfschönen geschnitten -- glich der Eingewickelte einem Pavian in der
Paarungszeit. Wie feucht die sieben konträr verwendeten Bauchbinden
auch geworden sein mögen -- jetzt konnte er sie einen Tag lang in die
freundliche Sonne hängen.

Die drollige Episode ist auch ein ernster Beweis für die opulente
=Liebesgabenfülle=, mit der unsere Feldgrauen von der Heimat aus bedacht
werden. Was sie mehrfach bekommen, wird oft in höchst sinniger Weise
aufgebraucht. Einen sah ich, der vier Paar Kniewärmer zu ganz famosen,
tütenförmig übereinandergreifenden Gamaschen zusammengenäht hatte; der
Mann muß übrigens auch künstlerischen Geschmack haben, weil er bei
Erzeugung dieses Meisterwerkes der Feldflickerei die Farben harmonisch
gliederte: grau, braun, grau, braun. Überzählige Schlipse werden
häufig als Lehmhindernisse oben um die Stiefelröhren herumgewickelt;
entbehrliche Pulswärmer finden Verwendung als Zehenfutterale, und
Kopfschläuche werden zu »Kniehösln« degradiert. Einstimmig ist bei
allen Feldgrauen die =dankbare Anerkennung der Liebesgabenmenge=. Zu
Dutzend Malen hörte ich in wechselnden Worten den gleichen Sinn: »=Die
Leut daheim sind so viel gut! Jetzt haben wir's oft besser wie in der
Friedenszeit.=«

Die segensreichste von allen Liebesgabenspenderinnen ist aber doch
die warme Sonne. Sie macht überflüssig, was Wolle heißt, und legt die
Soldaten trocken wie liebe Kinderchen. Nur die Kanonen macht sie nervös;
denn wenn die Nebel verschwinden und der Himmel blau wird, erscheinen
die feindlichen Flieger. Vorgestern hörte man fast ununterbrochen vom
Morgen bis zum Abend die Schrapnellschüsse krachen, die den Fliegern
entgegenflammten und hinter ihnen herjagten. Das ist ein aufregendes
Bild: wenn hoch droben im Blau dieser winzig aussehende Menschenvogel
kreist, den das unbewaffnete Auge erst nach langem Spähen zu entdecken
vermag. In so großer Höhe ist seine Bewegung eine kaum merkliche: oft
scheint er völlig stillzustehen wie ein Falke, der auf seine Beute
lauert. Und dann plötzlich springen aus dem blauen Himmel, während
herunten auf der Welt die Schüsse krachen, kleine silbergraue kuglige
Wölklein heraus, immer wieder und wieder eins, hinter dem Vogel,
vor ihm, über ihm, unter ihm -- die Rauchklumpen der platzenden
Schrapnellgeschosse. Ganz ruhig bleiben sie hängen im Blau, erweitern
sich ein bißchen, werden zu weißen Himmelsschäfchen -- und wenn der
Flieger schon lange verschwunden ist, hängen sie noch immer da droben
und bezeichnen den Weg, den der feindliche Menschenvogel genommen hat.

Schwebt der Flieger in zwei- bis dreitausend Meter Höhe, so ist er fast
völlig sicher. Nur bei ganz besonderem Glücksfall -- der feindliche
Vogel würde sich natürlich anders ausdrücken -- kann ihn ein Schuß
herunterholen. Freilich, je höher der Flug, um so bescheidener auch
das Resultat der Erkundung, trotz Photographie und Funkenspruch.
Die vielen Schrapnellschüsse, die man hinaufschickt, bringen also
immerhin den Gewinn, daß der französische Flieger, dem die glückliche
Heimkehr wesentlich sympathischer als der Absturz ist, außerhalb
einer ergebnisreicheren Spähweite gehalten wird. Trifft ein Schuß,
so geht's dem Flugzeug noch lange nicht ans Leben; die Stellen, wo es
sterblich ist, sind keine Scheunentore, sondern kleine Achillesfersen.
Jeder Doppeldecker der deutschen Fliegerabteilung zu H., bei der ich
einen mir unvergeßlichen Tag verbrachte, ist ausgezeichnet durch die
Ehrenmale vieler Schußnarben; neben jenen ausgeheilten Wunden, die
für das Flugzeug lebensgefährlich waren, steht unter dem Bild des
Eisernen Kreuzes der sieghafte Tag angeschrieben, an welchem deutsche
Unerschrockenheit und Geistesgegenwart eine drohende Todesstunde
überstanden. Mit dankbarer Bewunderung hab' ich das Eiserne Kreuz
erster Klasse unseres kühnen Fliegeroffiziers betrachtet, der auf einem
ebenso verwegenen wie ergebnisreichen Erkundungsfluge schwer verwundet
wurde und noch in äußerster Erschöpfung, auf dem Verdeck des Flugzeuges
stehend, =ein Schußloch des rinnenden Benzinbehälters so lange mit dem
Daumen verstopfte, bis der Doppeldecker innerhalb der deutschen Stellung
glücklich zu landen vermochte=.

Der Satz, den ich da niedergeschrieben habe, ist schnell gelesen. Doch
wer die Ewigkeitsminuten eines solchen Nervenkampfes in den Lüften
auszudenken vermag, wird einen atembeklemmenden Schauder empfinden und
sich dabei doch aufrichten in deutschem Stolz. Vor Beginn des Krieges
hatte das französische Flugwesen gegen das deutsche eine siebenfache
Übermacht. Unsere Flieger haben sie ausgeglichen durch zähe Schulung und
technisches Geschick, durch stählerne Herzhaftigkeit und erhöhten Mut.
Wie man von altersher sagte: »Ein Mann, ein Wort« -- so wird man sagen:
»Ein deutscher Flieger, ein deutscher Held!« -- Bei uns ist die Kraft,
bei uns der Sieg! Alles was ich sehe und erlebe im Feld, klingt mir
immer wieder aus in diesen herrlich läutenden Refrain.

Neuer Nebel und Regen brachte mich gestern um den Anblick eines
=Geschwaderfluges= der Unseren. Ein solcher Flug war geplant zur
Begrüßung unseres Königs, der die bayerischen Armeeverbände an der Front
besichtigte. Wetter und Wind verriegelten die Fliegerschuppen. Aber der
Vorbeimarsch unseres =Leibregiments= sowie der anderen, auf Ablösung
in den Stadtquartieren weilenden Truppen war auf dem großen Stadtplatz
trotz Nebelreißen und spritzenden Pfützen eine ganz prachtvolle
Sache. =Jede Schießscharte in unseren Schützengräben ist Schulter an
Schulter besetzt -- und hinter der Front dieses fast unübersehbare
Gewimmel unserer gesunden, hochgewachsenen, kraftvollen und tadellos
ausgerüsteten Soldaten!= Im Gefühl der Zuversicht, die dieses Bild und
der klingende Taktschritt vieler Tausende von festen deutschen Beinen
mir einflößte, hätt' ich vor Freude immer schreien mögen. Das verbot
nicht nur der militärische Ernst der Stunde, auch jeder Blick auf die
Einheimischen, die in dichten Gruppen umherstanden; sie sprachen kein
lautes, vernehmbares Wort; entweder blieben sie stumm oder flüsterten
ganz leise miteinander; immer unruhiger irrten ihre Augen über diese
festgefügten Soldatenzüge hin, und in ihren Gesichtern wurden Schreck
und Staunen immer größer, je länger der Vorbeimarsch der Bataillone
und Batterien dauerte. -- Neulich, als große Rekrutennachschübe hier
eintrafen, tuschelten die Einheimischen mit glänzenden Augen einander
zu: das wären fliehende, von den Franzosen aus den Schützengräben
verjagte Deutsche. Gestern begriffen sie die Wahrheit und bekamen
eine erschreckende Vorstellung von Deutschlands unerschöpflichem
Menschenbrunnen. Und da war in ihren Augen die Trauer des Wissens:
daß der Sieg ein unentreißbarer Besitz der Deutschen ist. Wenn die
=Franzosen= zittern und Unruhe und Verzagtheit fühlen, so haben sie
Grund dazu!

Immer war im Blick und im Lachen unseres Königs die Freude zu sehen,
die ihm das straffe Bild seiner Truppen bereitete. Bei dem Festmahl,
dem als Gast der Generalfeldmarschall =von Bülow= beiwohnte, war der
König in einer Stimmung, die ihn zu verjüngen schien. Aus seiner
heiteren, lebhaften Unterhaltung war herauszuhören, was dieser von Kraft
klirrende Tag ihm gezeigt hatte. Im Anschluß an ein Gespräch über meine
Schilderungen des Hauptquartiers sagte der König: »=Wann dieser Krieg
zu Ende sein wird, ob später oder früher, das weiß heute mit Sicherheit
kein Mensch auf Erden. Aber wie er ausgehen wird, das wissen wir doch
alle. Da kann man ruhig sein.=«

Vorhin gebrauchte ich das Wort »Festmahl«. Das klingt ein bißchen
wunderlich: ein Festmahl im Kriegslager. Man muß da nur wissen, wie
es war. Eine Stimmung von festlicher Gehobenheit, gewiß! Aber dieses
Mittagessen, an dem der König teilnahm, fand im zweiten Stockwerk
eines hohen, schmalbrüstigen Hauses statt, dessen rechte Mauerseite
ungestützt und ein bißchen schief in der Luft hängt. Das Nachbarhaus,
das diese Mauer vor einigen Monaten noch tragen half, die Präfektur,
ist niedergebrannt und in einen Schutthaufen verwandelt -- nicht von
den Deutschen in Trümmer geschossen, sondern =vor= ihrem Einmarsch
abgebrannt, nachdem die Staatsgelder, wie hier erzählt wird, auf
unerklärliche Weise verschwunden waren. In diesem schmalbrüstigen, von
seiner staatlichen Stütze jetzt völlig verlassenen Hause wurde im Juli
des vergangenen Jahres, kurz vor Ausbruch des Krieges, ein Galadiner
zu Ehren des Präsidenten der französischen Republik abgehalten. Von
der Herrlichkeit dieses peronnesischen Nationalfestes unter Monsieur
Poincarés Vorsitz ist nur das künstlerisch verzierte Menü noch übrig
geblieben: ein Dutzend der leckersten Gänge mit einer Himmelsleiter
aller besten französischen Weine! Bei dem Mittagessen, das gestern für
unseren König und seine Offiziere gerichtet war, ging es einfacher zu;
man trank dabei Bayerisches Bier und ein paar Gläser Sekt. Und als
von der freihängenden Wand gesprochen wurde, die bei jedem schweren
Kanonendonner sehr merklich wackelt, sagte der König lachend: »=Wo
Deutsche sitzen, da hält schon alles!=«

Ja! Wir Deutschen sitzen hier in erobertem Land! Und das hält. Sicher
und fest.

       *       *       *       *       *

Es war um die elfte Nachtstunde. Und plötzlich hörte ich ein Lied von
vielen Soldaten, hörte den stahlfesten Hammerschlag marschierender
Schritte, warf die Feder weg und sprang an das Fenster und riß die
Scheiben auf.

Über der laternenlosen Straße hing eine schwarze, finstere Nacht, in der
mein Blick nur mühsam die Umrisse der gegenüberliegenden Hausdächer
unterschied. Und ein heulender Sturmwind peitschte mir den Regen ins
Gesicht.

In solcher Nacht kamen sie heranmarschiert und sangen, kamen aus der
Stadt und stampften hinaus zu den Schützengräben. Es müssen zwei
Bataillone des =Leibregiments= gewesen sein. So finster war es, daß
ich einzelne Gestalten nicht auszunehmen vermochte. Nur die großen,
dichten Menschenklumpen unterschied ich. Das einzig Helle und deutlich
Sichtbare waren die wehenden Glutfunken, die von den Zigarren oder aus
den brennenden Pfeifen im Sturmwind davonflogen.

Immer sangen die Soldaten, immer das gleiche Lied:

    »=In der Heimat, in der Heimat,
    Da gibt's ein Wiedersehn!=«

Und dann kam etwas, was ich von singenden Soldaten noch nie gehört
habe: als sie schon außerhalb der Stadt waren, außerhalb der alten,
zerbrochenen Festungswerke, verwandelte sich das Ende ihres Liedes in
ein mit wirren und hohen Stimmen durcheinanderklingendes Jauchzen und
Jodeln, wie wir es kennen von unseren Hochlandsfesten bei strahlender
Morgensonne.

Ein Gedanke sagte mir noch: Du irrst dich, es hat nur der Sturmwind ihr
Lied zerrissen, und drum tönt es so, wie wirr durcheinanderklingende
Schreie! -- Aber nein! Ganz deutlich, jeder Täuschung entrückt, wahr
und wirklich, klang es nun abermals durch die Finsternis aus der Ferne
zu mir her! Sie jauchzten und jodelten wie junge Menschen in froher
Trunkenheit! Und da war es in mir wie ein klares Sehen, wie ein festes
und heiliges Wissen: daß Soldaten, die mit solchem Liede und mit solchem
Jauchzen in eine stürmische Nacht hinausmarschieren, der Gefahr und
dem drohenden Tod entgegen -- daß solche Soldaten siegen =müssen=!
Gleichviel, wann!




                                  11.


                                                       16. Februar 1915.

Vor wenigen Tagen war es. Niemand sprach davon, daß man einen Angriff
der Franzosen erwarte. Aber es lag was in der Luft, nicht nur deshalb,
weil die feindlichen Geschütze seit zwei Tagen lebhafter als sonst über
die fernen Waldhügel herüberdonnerten. Auch am Verhalten der Feldgrauen
fiel mir etwas auf. Ich glaube, militärisch nennt man es »erhöhte
Bereitschaft«.

Mit Anbruch der Nacht war für mich der Besuch einer weit entlegenen
Artilleriestellung verabredet, zu der es am Tage keine Zufahrt gibt.
-- Acht Uhr vorüber. Ich saß in einer engen, finsteren Sache, wie
ein Sträfling in seinem Zellenwagen. Das kleine Kupee hatte keine
Glasscheiben, sondern Brettfensterchen mit winzigen Ausschnitten, durch
die ich manchmal ein wässeriges Sternchen flüchtig aufschimmern sah.

Nach zwei Stunden hält der Wagen. Ich bin im Hof einer großen Ferme.
Alle Läden geschlossen, nirgends ein Licht. Nur droben am klar
gewordenen Himmel brennen die vielen Sterne. Die Haustür wird geöffnet,
und die freundlichen Stimmen dunkler Gestalten begrüßen mich. Dann
sitzen wir in der etwas schummerigen Stube, und der Zigarrenrauch
schwimmt in geschlängelten Fäden um das sparsame Flämmchen der
Petroleumlampe. Die Offiziere sind heiter wie sonst; in dieser
Heiterkeit ist eine Ruhe, die alle Spannung meiner Nerven beschwichtigt.
Mir ist sehr wohl an diesem Tisch. Im Geplauder frag' ich einmal: »Da
ist doch hier in der Gegend eine von den Franzosen kaputt geschossene
Villa, deren Turm neulich noch ganz war? Da droben sitzt doch immer ein
Beobachter. Steht der Turm noch? Oder ...« Um den Tisch geht ein Lachen
herum. Und der junge Artilleriehauptmann schmunzelt: »Gott sei Dank, er
steht noch! Da droben sitze doch =ich= immer! Wenn Sie morgen nachmittag
zu mir hinaufkommen wollen? Ich denke, da werden Sie etwas sehen!«

Während wir weiterschwatzen, hör' ich etwas: manchmal klingt es wie eine
Karfreitagsklapper; dann wieder, als kollerten viele Holzkugeln über
eine steile Treppe herunter; oder als würden hundert Teppiche geklopft.
Jede Sekunde klingt es anders und bleibt doch immer das gleiche. »Was
ist das?« -- »Noch ist es kein Angriff. Aber möglich, daß es einer wird.«

Wir treten in den schwarzen, vom Sternenhimmel überfunkelten Hof
hinaus. Nun vernehm' ich es deutlich. So hatt' ich es noch =nie=
gehört, auch nicht im Schützengraben. Was da so unregelmäßig hämmert
in der Nacht, ist wie das Zähneklappern eines frierenden Riesen. Hoch
über uns fahren kurze Zischlaute durch die Luft: die »Hochgänger«, die
von den zerrissenen Salven der Franzosen zwei Kilometer weit über den
schwarzen Waldgrat herüberfliegen. Auf dem Dach geht eine Schieferplatte
in Scherben, und die Splitter bröseln in den Hof herunter. Dieses
ziellose Gepulver in der Finsternis hat etwas unsagbar Aberwitziges.
»Schießen denn da die Unseren =auch=?« -- »Nein. Die warten, bis es
notwendig wird.« -- »Aber auf was schießen denn die Franzosen, jetzt,
in der Nacht?« -- Ein Lachen. »Auf nichts. Vielleicht glauben sie,
eine Patrouille zu sehen. Oder es ist wieder ein Bluff, mit dem sie uns
herauslocken möchten. So machen sie es oft. Aber die Unseren sitzen fest
und warten ruhig, bis die Franzosen kommen. Dann kracht es bei =uns=.
Das hat einen ganz anderen Ton!« --

Diese Erklärung gab mir ein äußerst behagliches Zufriedenheitsgefühl.
Mit ihm vereinigte sich das Bild der Schützengräben, die ich gesehen --
und die deutsche Seßhaftigkeit in diesem Maulwurfskriege begann mir als
etwas sehr Notwendiges und Vorteilhaftes einzuleuchten. Bei gleichen
Kräften eine unzerbrechbare Mauer verteidigen, ist schon der Sieg --
mit dem Kopf gegen unbeugsame Steine rennen zu müssen, ist schon die
Niederlage, noch ehe der letzte Kampf beginnt. Die festen Stellungen,
die hier seit Monaten geschaffen und mit jedem Tage stärker ausgebaut
wurden, können nur durch eine große Übermacht überrannt werden. Eine
solche Übermacht werden die Franzosen auch mit englischer Hilfe niemals
wieder haben! Aber =wir= werden sie haben! Bald! Dann wird die Stunde
der Entscheidung im Westen gekommen sein! --

Am Morgen schien die Sonne aus blauem Himmel heraus. War dem frierenden
Riesen warm geworden? Er hatte seinen klapprigen Zähneschauer
eingestellt. Nur ab und zu noch klangen einzelne Schüsse von der
feindlichen Stellung herüber.

Die Offiziere waren aus der Ferme verschwunden; ein junger Doktor sollte
mich führen. Vor dem Hause ging es lebhaft zu. Feldgraue kamen über
die Lehmwege hergewatet, jeder mit sechs kleinen Kesseln, um von der
Feldküche das Frühstück für die Kameraden im Schützengraben zu holen.
Die Schüsse, die sich noch hören ließen, wurden übertönt vom friedlichen
Geräusch einer Dreschmaschine, die den französischen Weizen für den
deutschen Appetit ausklopfte. Zwölf Bauernweiber lupften die Garben,
bedienten die Maschinen und banden das ausgedroschene Stroh. Bei ihnen
stand zur Aufsicht ein braunbärtiger deutscher Unteroffizier, der sein
Pfeiflein rauchte und gemütlich dreinguckte, solange die Weiber tüchtig
schafften; wurden sie faul, dann nahm er die Pfeife aus den Zähnen und
sagte energisch: »Trawalliöh!« Worauf die Weiber wieder sehr fleißig
wurden. -- Besser so, als daß ein französischer Korporal unseren
deutschen Bauernfrauen befehlen dürfte: »Harbeiiitet!«

Manchmal donnerte irgendwo ein Kanonenschuß, während wir in den
glänzenden Vormittag hinauswanderten. Wir mußten gedeckte Schleichwege
suchen, durch Pfützen waten, durch dornige Wäldchen kriechen. Auf einem
großen Teiche sahen wir ein deutsches Idyll: eine mit Weizengarben
beladene Zille kam auf dem Wasser herangeglitten; vier Feldgraue saßen
auf der Strohladung des Schiffleins, und zu dieser netten Fahrt blies
einer die Mundharmonika; warme Sonne umglänzte das hübsche Bild, das
doppelt zu sehen war: in der Luft und im spiegelnden Wasser. Dazu der
französische Kontrast: ein grauenvoll verwüstetes Gehöft! Welch ein
entzückendes Landhaus mit Obstwiese und Blumengarten, mit Fischzucht und
Weihern, mit Rosenhecken und Lauben muß das gewesen sein, ehe der Krieg
begann! Und jetzt ein wüstes Durcheinander von verkohlten Balken, von
Brandschutt und zerstückelten Mauern!

Ein Rauschen in den Lüften -- ein Flieger! Ich fand ihn mit dem Glas.
Ein deutscher Doppeldecker! Wie etwas ganz Feines und Zierliches flog
er zweitausend Meter hoch im Blau. Da begann auch schon die Kanonade
von der französischen Stellung her, ein feindliches Maschinengewehr
erhob seine langsame Unkenstimme: »Tack, tack, tack, tack ...«, und
neben der Sonne pufften in langer Reihe die grauen Kugelwölklein der
Schrapnellschüsse aus dem blauen Nichts heraus. In meiner Seele war
ein heißer Schrei: »Fliege, fliege, du deutscher Bruder da droben,
erfülle deine kühne Pflicht, laß dich nicht herunterholen vom Haß deiner
Feinde!« Er flog und flog, immer blieben die Explosionswölklein weit
hinter ihm zurück. Geradhin und ruhig segelte er wie ein wilder Schwan,
der die Tiefe verachtet. Keiner von den hundert Schüssen, die nach ihm
abgefeuert wurden, konnte ihn auch nur zum leisesten Ausbiegen von der
Richtung seines Erkundungsfluges zwingen. Im Glanz der Sonne, den meine
Augen nimmer ertrugen, verschwand er. Ich mußte zwei Worte flüstern:
»Deutscher Flug!« Aus diesen Silben und ihren Bildern wuchsen mir
stolze, hoffnungsfrohe Gedanken heraus. --

Ein zerrissener Wald, in den die Mittagssonne steil herunterglänzte.
Hier sah ich etwas Neues: einen von den großen Mörsern, die vor wenigen
Tagen hierhergebracht wurden. Steht ein Mensch neben solch einem
metallenen Ungetüm, so sieht er aus wie ein Zwerg neben einem Nashorn.
An der Kugel, die dieser deutsche Kampfgigant über zehn Kilometer
schleudert, haben vier Feldgraue zu schleppen. Und solcher Kugeln stehen
Hunderte aufgeschichtet, jede in ihrem binsenen Moseskörbchen! Ich
frage: »Wird geschossen?« -- »Vor dem Abend kaum. Der Feuerbefehl muß
von der Turmstelle kommen.« Also von dort, wo ich in einer Stunde sein
werde!

Bei dem weiten Umweg über die Felder zappelt mir die Ungeduld in den
Beinen. Hinter einer Deckung erwarten uns die beiden Pferde. Wir reiten
los. Da beginnt auf einem langgestreckten Höhenzuge der frierende Riese
heftig mit den Zähnen zu klappern. Immer rascher klingt es ineinander,
fast ist es schon ein ununterbrochenes Salvenrollen. Und in vielen
Richtungen fangen die Geschütze zu dröhnen an, vorerst nur französische.
Jeder Schuß ist ein doppelter Donner: Abschuß und Granatenschlag.
Wir lassen die Pferde rennen, um so rasch wie möglich unser Ziel zu
erreichen. -- Da ist es!

Auf einem von winzigen Waldflecken umhuschelten Hügel stand einmal ein
kleines Dorf. Jetzt ist es ein Schutthaufen, den alles Leben verlassen
hat. Nicht weit davon liegt die Trümmerstätte der kastellartigen Villa
mit dem hohen Turme, der noch immer steht. Wer diesen Turm erbauen ließ,
muß Ritterträume gehabt haben _à la_ Don Quixote! Vom Haus ist nimmer
viel übrig, und auch der Turm ist ausgebrannt bis in die zerrissene
Blechkuppel hinauf. Sein Inneres ist eng und dunkel; von den vier
verbrannten Turmböden sind nur noch ein paar verkohlte Balkenstümpfe
vorhanden. In diesem leeren Mauerdarme haben die deutschen Pioniere
acht Leitern hin und her übereinander gebunden. Draußen der ruhelose
Geschützdonner, im Turme das Schweigen. Aber ganz in der Kuppel droben
trillert ununterbrochen die Klingel eines Telephons. Und ruhige Stimmen
tönen herunter; immer wieder höre ich die beiden Worte: »Turmstelle
hier!«

Während der Doktor die beiden Pferde irgendwo versorgt, beginn' ich zu
klettern. Durch schießschartenähnliche Fensterchen fällt spärliches
Licht herein; das hilft mir, die Leitergriffe zu finden. In der
dunklen Höhe stoße ich mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Über mir eine
lachende Stimme: »Herein!« Ein schmales Falltürchen wird geöffnet.
Zwei feste Hände greifen herunter und ziehen mich vollends hinauf. Ein
freundlicher, aber kurzer Gruß des jungen Hauptmanns -- ich bekomme in
dem kleinen Dachkäfig ein Winkelchen, wo ich stehen muß, ohne mich viel
rühren zu können -- dann geht die ernste militärische Arbeit weiter,
mit raschen und knappen Schlagworten, die mir, da fast immer in Zahlen
geredet wird, eine unverständliche Sprache sind. Außer dem Hauptmann
ist noch ein Leutnant da, ein Unteroffizier zur Bedienung des Telephons
und einer zur Meßarbeit auf der Karte, die über ein Brett gespannt ist.
Zwischen dem Mauerbord und der Dachkuppel ist eine handbreite Lücke; da
kann man hinausgucken, kann sogar den Feldstecher dazwischenstecken. Und
während bei jedem schweren Granatenschlag das Gemäuer des Turmes leise
schüttert, beginne ich zu schauen, durchwühlt von einer heißen Erregung,
die mir fast den Atem erwürgt.

Was ich sehe, ist ein Bild von unsagbarer Schönheit, ein wundervolles,
im Gold der Abendsonne leuchtendes Land. Als ich noch da drunten war, da
sah ich Hügel und Wälder; jetzt seh' ich nur einen ebenen Felderschild
mit dunklen Flecken, aus denen sich höhere Bäume zierlich oder seltsam
geformt herausheben. Zerstörte Dörfer und zertrümmerte Gehöfte sehen
aus wie kleine, gesprenkelte, sonderbare Blumen. Gleich den niederen
Versatzstücken einer Theaterdekoration schieben sich die Konturen
von Gehölzen und Ortschaften durch- und hintereinander, alles wie
niedliches Spielzeug. Ich sehe geschlängelte Bäche und schnurgerade
Straßenzüge, sehe weit in südlicher Ferne den blitzenden Lauf der Somme
mit ihren Sümpfen und Kanälen, und sehe -- vergleichbar einem endlosen,
vielgewundenen, doppelten Kupferkettchen -- die von Osten kommenden
und gegen Norden ziehenden Linien der deutschen und feindlichen
Schützengräben. Über allem der blaue Himmel mit seiner niedersteigenden
Sonne; und in der Tiefe ein feines, wunderlich zu Streifen gestaltetes
Nebelziehen, das sich unter dem ruhelosen Donner des Geschützkampfes
mehr und mehr zu verstärken scheint.

Dieses herrliche Land da drunten? Ist das ein Herzogtum ohne Volk?
Nirgends ist ein Mensch zu entdecken, nirgends ein Bauer auf den
Feldern, nirgends ein Wagen, der sich bewegt, nirgends ein Tier der
Erde! Alle Schönheit da drunten ist leer und öde. Nur manchmal, unter
dem aufschreckenden Granatendröhnen, flattern braune, dichte Schwärme
von Wandervögeln nahe bei meinem Ausguck vorüber, wie Wolken von dürren
Blättchen, die der Sturmwind treibt.

Mir werden Lippen und Zunge trocken, und vor Erregung fiebert mir jeder
Nerv im Leib. Immer spähe ich durch das Glas nach den Schützengräben,
bei denen der Riese mit den Zähnen schauert. Ich gewahre nichts, nichts,
nichts, keinen Rauch, keinen Feuerblitz, keine Bewegung, =nichts=! Und
immer dieses Donnern und Brüllen in der Luft! Gierig suche ich mit dem
Glas die bald umschleierte, bald wieder von Sonne leuchtende Leere
ab. In weiter Ferne, auf etwa vierzehn Kilometer, gewahre ich vor
einem Waldstreif vier kleine, weiße Punkte, als hätte man da ein paar
Taschentücher zum Trocknen aufgehängt. Jetzt bewegen sie sich langsam
und schweben aufwärts und werden größer, ein feindlicher Flieger. Das
Telephon klingelt und die ruhige Stimme des jungen Hauptmanns, der
beim Scherenfernrohr sitzt, gibt eine Meldung in Ziffern. Der Flieger,
den ich mit dem Glas beobachte, macht plötzlich eine Schwenkung, und
ich sehe einen zweiten erscheinen. Ist das ein Deutscher? Der den
Franzosen verfolgt? Beide verschwinden im Dunst. Während ich suche,
kommt mir eine kleine blaugraue Kugel mit langem Schwänzlein ins Glas:
ein französischer Fesselballon. Unbeweglich hängt er in der Luft, etwa
zwölf Kilometer von uns entfernt. Nun gleitet er zur Erde hinunter und
verschwindet hinter einem Waldstreif. Beim Scherenfernrohr ein kurzes,
heiteres Lachen: »Dem war unser Flieger nicht geheuer!«

Allmählich wird der Geschützdonner seltener und verstummt beinahe ganz.
Die grauen Dünste in der Landschaft zerflattern und verschwinden.
Die Sonne ist rot geworden, Felder und Wälder gluten oder liegen in
schwarzblauem Schatten. Das Telephon trillert, der Hauptmann wird zum
Hörrohr gerufen. »Jawohl, Herr General, der Ballon ist niedergegangen.«
Ein langes, leises Geräusch im Apparat, ähnlich dem Krächzen eines
Grammophons, bevor es zu spielen beginnt. Da sieht der Leutnant, der den
Platz am Scherenfernrohr einnahm, daß der Fesselballon wieder hochgeht.
Die Meldung wird ins Telephon gegeben. Wieder beginnt im goldschönen
Abend dieses Brüllen und Dröhnen, das die Lüfte erschüttert, gleich dem
Donner eines grauenvollen Gewitters. Wieder die ruhige Zahlensprache und
die kurzen Worte. Meldung um Meldung kommt, Meldung um Meldung fliegt
zu den Batteriestellungen und zum Divisionsstabe. Ich möchte lauschen,
möchte diese Ziffern und Worte deuten, aber immer muß ich schauen und
suchen.

Der Geschützkampf, der sich bisher in größerer Entfernung abspielte,
scheint sich näher heranzuziehen. Auf zwei Kilometer steht plötzlich ein
gewaltiger, grauschwarzer Rauchbaum in einem Acker. Ein Krachen, daß
mir die Ohren klingen. Schlag um Schlag. Eine ganze Reihe von solchen
Rauchbäumen fährt aus der Erde heraus, dicht bei einem Wallstrich
unserer Schützengräben. Der Granatenregen kommt von zwei französischen
Batterien; ihr Feuer wird vom Fesselballon geleitet; sie schießen gut;
in gerader Zeile setzen sie eine Granate dicht neben die andere. Immer
muß ich an die Unseren in dem mit Flammen und Eisen überschütteten
Graben denken, und während mir das Gesicht brennt, rinnen mir kalte
Schauer durch das Herz.

Die Sonne ist schon drunten, immer grauer wird die Dämmerung, immer
dichter dieses Dunstgewoge. In dem engen Dachkäfig des Turmes ist es
schon so dunkel geworden, daß man die Karte beim Messen nimmer ablesen
kann; man muß sie mit einem elektrischen Taschenlämpchen beleuchten.
Die Worte, die ich höre, lassen mich vermuten, daß die eine der beiden
feindlichen Batterien -- eine Waldbatterie -- jetzt gleich unter
deutsches Feuer genommen wird. Nach der anderen sucht der Hauptmann
mit dem Scherenfernrohr. »Da drüben, dreihundert Meter westlicher,
muß sie stehen, aber die Stellung verschwimmt im Dunst.« Ich spähe
durch mein Glas -- und ein Zufall will es, daß ich in der Dämmerung
die Stichflamme eines feuernden Geschützes erkenne. Im Scherenfernrohr
sieht der Hauptmann noch den Feuerstrahl von zwei weiteren Geschützen.
Durchs Telephon fliegt der Bereitschaftsbefehl zu den Mörsern. Aber
bis im Dunkel des Turmkäfigs bei Laternenschein die Richtung auf der
Karte gemessen und die Entfernung, achttausend Meter, berechnet werden
konnte, ist draußen der Abend schon so tief gesunken, daß das Feuer der
Mörser dem Feind ihre Stellung verraten würde. Das Telephon trillert.
»Die Mörser bleiben in Richtung. Schluß.« Eine andere Meldung geht zum
Stab. Und plötzlich dröhnen viele deutsche Schüsse rasch ineinander --
weit aus den Lüften hör' ich etwas wie das ferne Sausen eines wackligen
Eisenbahnzuges -- und dort, wo die feindliche Waldbatterie gestanden,
seh' ich etwas Furchtbares und Wildschönes aufbrennen. Sieben oder acht
Granaten müssen es gewesen sein, die innerhalb zweier Sekunden auf die
gleiche Stelle gefallen sind. Für meine Augen sah es aus, als wär's nur
eine einzige Flamme, die wie ein riesiges Irrlicht zuckend und sinnlos
umherhüpfte. Eine schwere Wolke wirbelt da drüben in die sinkende
Nacht hinauf, die Stelle umhüllt sich mit Dunst -- und dann erst, da
alles für den Blick schon verschwunden ist, hört man den dröhnenden
Explosionsdonner und sein Echo.

Eine ruhige Stimme sagt: »Die ist erledigt. Die andere kommt morgen
dran!«

Nun tiefes Schweigen in der Dunkelheit. Kein Schuß mehr. Nichts.

Ich kann nicht sprechen. Ganz stumm bin ich. Und während ich mich in der
Finsternis des Turmes über die Leitersprossen hinuntertaste, kommt mir
eine Erinnerung aus meiner Kinderzeit. Damals, 1864, sah ich in einem
Guckkasten die Beschießung der Düppeler Schanzen. Das war anders!

Wir reiten durch die still gewordene Nacht. Zwischen den erwachenden
Sternen glänzt die feine Goldspange des zunehmenden Mondes. Das ganze
Rund seiner Scheibe ist als bläulicher Hauch zu erkennen. Sein Licht
wird wachsen mit jedem Tag, wird schön und vollkommen werden. Ich fühle
diesen Gedanken wie ein Gleichnis für den deutschen Sieg.

Auf der dunklen Straße begegnen uns die langen Züge der zu ihren
Quartieren heimkehrenden Verstärkungstruppen; ihr Eingreifen ist nicht
nötig geworden; der Vorstoß, den die Franzosen versuchen wollten,
zerflatterte, bevor er noch richtig begonnen hatte.

Die Feldgrauen, die in der Finsternis an uns vorübermarschieren, singen
nicht; sie reden mit ruhigen, halblauten Stimmen; und die Funken ihrer
Zigarren und Pfeifen wehen leuchtend in die Dunkelheit hinaus, gleich
schwärmenden Glühwürmchen einer Frühlingsnacht.




                                  12.


                                                       21. Februar 1915.

Wenn wir daheim den militärischen Tagesbericht studieren und dabei
die häufig wiederkehrende Stelle finden: »Im Westen hat sich nichts
Wesentliches ereignet« -- dann pflegen wir uns in Mißmut und Unbehagen
mit der Erörterung von Dingen und Taten zu beschäftigen, die nach
unserer Meinung notwendig geschehen müßten, aber unbegreiflicherweise
unterlassen werden. Keine von unseren Vorstellungen vom Kriege
ist so ungerecht wie diese! Gerade in den Zeiten, in denen wir
Daheimgebliebenen nichts von Siegen zu hören glauben, wird hier im Felde
so viel tüchtige, musterhafte und erfolgreiche Arbeit geleistet, daß ich
Glücklicher, der ich diese rastlose deutsche Tat jetzt mit eigenen Augen
sehen darf, jeden Tag mit dem frohen Gefühl beschließe: »Heute hab' ich
wieder einen großen deutschen Sieg gesehen!«

Wie die »Ruhepausen« in den Schützengräben aussehen, wie hier in
bewundernswerter Ausdauer jede Minute bei Tag und Nacht benutzt wird,
wie man schaufelt und schanzt und unsere Stellungen in unzerbrechbare
Erdfestungen verwandelt, wie man mit äußerster Kraftanstrengung alles
erzwingt, was die Gefahr für unsere Feldgrauen vermindern und ihre
namenlose Mühsal etwas erträglicher machen kann -- davon habe ich
schon erzählt. Nun laßt mich heute davon sprechen, wieviel stille
deutsche Siege =hinter= der Front erfochten werden. Und je weniger
Nervengeprickel in den Schilderungen dieser von keinem militärischen
Tagesbericht verkündeten Siegesarbeit sein kann, um so aufmerksamer müßt
ihr daheim gerade =diese= Bilder betrachten. Sind die Siege an der Front
die weithin läutenden Türme unserer Kraft, so ist die Arbeit hinter der
Front das Fundament, auf dem sie errichtet werden und das sie trägt.

Vor allem will ich da erzählen, was unsere deutschen Mütter und Frauen
mit tröstendem Aufatmen hören werden: in welcher Weise hier im Feld für
Ernährung, Unterkunft und Gesundheit ihrer Söhne und Männer gesorgt
wird. Wie es mit solchen Dingen bei den Heeren unserer Gegner gehalten
wird, das weiß ich nicht. Aus eigener Anschauung muß ich aber glauben:
=so, wie bei uns, kann es nirgends sein=! Was ich hier gesehen habe, das
kann nur =deutsche= Schulung, nur deutsche Umsicht und Fürsorge fertig
bringen!

Ich will einen typischen, das Ganze im kleinen illustrierenden
Einzelfall herausgreifen, den ich selbst mit angesehen habe. Ein
Rekrutennachschub von dreitausendfünfhundert Mann war angemeldet, und es
hieß: in =vier= Tagen kommen sie, und bis dahin muß alles Nötige für die
Unterkunft der Leute fertig sein. Am Mittag des vierten Tages =war= es
fertig! Die Bahnzüge kamen, einer flink hinter dem anderen, und entluden
dieses junge Gewimmel der Feldfrischen. Hier, tief in Feindesland,
sechs oder sieben Kilometer hinter der Front, an der gekämpft wird,
funktioniert dieser gewaltige Bahnbetrieb mit der gleichen Ordnung und
Pünktlichkeit, wie wir sie bei uns daheim in friedlichen Zeiten kennen.
Eine lange Reise macht hungrig. Also das erste: die Leute müssen satt
werden. In einer von allem Französischen gesäuberten Güterhalle sind
in langen Reihen die hölzernen Tische und Bänke aufgeschlagen. Wer es
sieht, denkt an einen Münchner Bräukeller. Die »Gulaschkanonen« dampfen,
und in einem qualmenden Nebenraum sind Backsteinherde mit eisernen
Kesseln gebaut -- in diesen Kesseln, die aus einer Spinnerei stammen,
wurde früher die französische Seide gedünstet; jetzt siedet da drin für
unsere Deutschen das belgische Ochsenfleisch. Der Krieg nimmt, was er
brauchen kann und was ihm nützlich ist. Und nun sitzen die paar tausend
Feldgrauen auf den langen Holzbänken, lachend und schwatzend, und jeder
bekommt sein festes Mahl, jeder seinen Krug Bier, gutes Bier, das hier
von deutschen Brauern für die Unseren gesotten wird.

Vom Bahnhof marschieren die Gesättigten zu ihren Quartierstellen, und
wenn sie von der nahen Front her den ersten Kanonendonner hören, blitzen
ihre Augen vor Ungeduld. Wo sie hinkommen, in Häusern, Meierhöfen,
Fabriken oder Schulen, finden sie alles zu ihrer Unterkunft bereit;
auf jeder Türe steht angeschrieben, wieviel Mann hier wohnen sollen.
Fünfzehnhundert werden untergebracht in einer großen Tuchfabrik. Vier
riesige Webersäle mit guter Luft und hellen Oberlichtfenstern. Aus drei
von diesen Sälen wurden die mechanischen Webstühle herausgeschleppt
und im vierten dicht aneinander gerückt; ein bißchen schnell hat es
gehen müssen; wenn der »abgereiste« Fabrikant dereinstens heimkehrt,
wird er geraumer Zeit bedürfen, um diesen eisernen Hexenknäuel wieder
auseinander zu dröseln. Die drei freigemachten Säle sind verwandelt
in Schlafräume; was in der Umgegend an Bettstellen noch aufzutreiben
war, wurde hier zusammengetragen; daneben lange Reihen von Lagerstätten
auf dem mit Brettern belegten Boden: für jeden Mann ein doppelter
Strohsack, eine wollene Decke, ein Kissen, ein Handtuch; jeder hat sein
Brettregal für den kleinen Kram, und die ganzen Räume sind durchzogen
von Lattengestellen für Waffen, Mäntel und Tornister. Jeder Feldwebel
bekommt separat seinen Bretterverschlag, der verwandelt ist in ein
wohnliches Stüberl. Auch die Kochherde mit Geschirr, die Waschküchen
und Desinfektionsräume, alles steht schon zum Gebrauche bereit. Und das
alles wurde herbeigeschafft und fertiggestellt in =vier= Tagen. Wie
schwatzlustig man sein mag, beim Anblick einer solchen Arbeitsleistung
wird man still.

Ehe die Neugekommenen ruhen dürfen, müssen sie sich säubern. Und da
hab' ich ein Bild gesehen, das mir mein Lebenlang in froher Erinnerung
bleiben wird. Die Tuchfabrik, in der die Fünfzehnhundert einquartiert
wurden, hat eine mächtige Wäschereihalle. Die Maschinen, die
Rohrleitungen, die Transmissionen, die Treibriemen, alles ist noch da.
Aber jede Wasserpumpe ist in eine Badebrause umgezaubert, und in den
tiefen, halbstubengroßen Holzkufen, in denen früher die neugewobenen
Tücher gesotten und ausgewaschen wurden, sitzen jetzt unsere deutschen
Jungen im dampfenden Wasser, ein Dutzend in jeder Kufe, die Arme und
Köpfe von Seifenschaum bedeckt, rippelnd und scheuernd und plätschernd,
munter und schreivergnügt wie pritschelnde Dorfbuben.

Aus diesem Bild redet eine so gesunde Lebensfreude heraus, daß ich sie
nicht zu schildern vermag. Und beim Anblick dieser lustigen Köpfe und
dieser blinkweißen Jünglingsschultern mußte ich mich der schwarzgrau
gewordenen Gesichter und Fäuste jener dreiundfünfzig toten Franzosen
erinnern, die seit acht Wochen vor dem feindlichen Schützengraben von
Maricourt liegen, verlassen von ihren Brüdern, verlassen von ihrer
pietätlosen Heimat! Wie zwischen einzelnen Menschen, so gibt es auch
zwischen Völkern sieghafte Unterschiede. Aber wir, natürlich wir,
sind die »Barbaren«, und Frankreich »marschiert an der Spitze der
Zivilisation«!

Wie ich Unterkunft, Verpflegung und Hygiene unserer Truppen hier an
einem Einzelfall im kleinen geschildert habe, so wird es innerhalb der
Möglichkeitsgrenzen im großen durch das ganze deutsche Heer gehalten,
immer nach dem Grundsatz: Die Gesundheit des Soldaten ist sein Schild
und seine stärkste Waffe.

In =jedem= mit deutschen Truppen belegten Städtchen, sogar in
jedem Dorfquartier wurde eine Badegelegenheit eingerichtet. Wo nur
zwanzig Feldgraue beisammen sind, gibt es wenigstens ein mit Blech
ausgeschlagenes Fußbad und eine Warmwasserdusche. In Peronne wurde
eine militärische Badeanstalt installiert, in der immer hundert Mann
gleichzeitig baden können. Ein Erquicken ist es, das anzusehen: wie
die Leute, die nach der Ablösung aus dem Schützengraben dreckig da
hineinwandern, frisch und sauber wieder herauskommen, jeder mit dem
zusammengewickelten Handtuch unter dem Arm. In dieser Badeanstalt
gibt es sogar ein =elektrisches Lichtbad= zur Bekämpfung der
Schützengraben-Rheumatismen -- eine große Warenkiste, deren Deckel mit
einem Halsausschnitt versehen ist, und deren Inneres mit Wachsleinwand
tapeziert und mit Glühlampen behängt wurde.

Dieser obligatorische und streng überwachte Badebetrieb ist ein
gesegnetes Mittel gegen Krankheiten und Verlausung, ein wunderwirkender
Erneuerungsbrunnen für die körperliche Spannkraft unserer Soldaten. Aber
der Krieg schlägt Wunden, und die Mühsal des Dienstes ist eine so harte,
daß sie trotz aller hygienischen Fürsorge schließlich doch manchem
Feldgrauen die feste Gesundheit erschüttert. Wie diese Verwundeten und
Erkrankten in unseren Feldlazaretten betreut werden, das glauben wir
in der Heimat zu wissen. Es hat mich aber doch ein frohes, dankbares
Staunen befallen, als ich dieser Tage das Lazarett von Caudry besuchte.
Vor vier Monaten war das noch eine französische Spitzenfabrik. Jetzt
steht da ein deutsches Lazarett von so mustergültiger Ordnung und
Einrichtung, daß man Riesenkräfte haben möchte, um es vom französischen
Boden wegzuheben und in eine deutsche Stadt hineinzustellen. Da
sieht man =nichts= mehr, was den Anschein des in Eile und notdürftig
Adaptierten hat, alles ist so, als wär' es von Anfang für sanitäre
Zwecke gebaut und eingerichtet.

Die vom üblichen französischen Schmutz versumpften Höfe wurden mit
gepflasterten Wegen durchzogen, alle Gebäude und Räume spiegeln
von Sauberkeit, alle Mauern sind weiß getüncht und sehen aus, als
wären sie mit frischgewaschener Leinwand überzogen. Von der nächsten
Bahnstation wurde ein Geleise bis vor die Tür des Lazaretts gelegt,
damit die Verwundeten und Kranken ohne Gerüttel und Plage hergebracht
werden können. Die innere Einrichtung ist gegliedert wie in jedem
großen städtischen Spital. Neben der Amtsstube und den Zimmern der
Ärzte und Schwestern ist die Apotheke, ein zahnärztliches Atelier,
der Operationssaal und die Röntgen-Kammer. Alle Wirtschaftsräume,
die appetitlichen Vorratshallen, die große Küche, die Spülkammer,
die Wäscherei, der Trocknungsraum und die Bügelstube, das alles ist
praktisch und bequem aneinander gereiht zu einem zusammenhängenden
Ganzen. Im Oberstock sind die Nähstuben für Anfertigung der
Lazarettkleidung und Bettwäsche, sowie die Handwerksräume, die
Schneiderwerkstatt und Schusterei, wo die Uniformen und Stiefel der
eingebrachten Verwundeten gesäubert und ausgebessert werden. In einem
großen Dachraum liegen diese neu hergerichteten Soldatenhüllen mit
Helmen und Waffen in langen Reihen, Nummer an Nummer, und warten auf
das genesene Leben, das wieder in sie hineinschlüpfen und wieder dem
Vaterlande dienen soll. Das stille Bild dieser Kriegsgarderobe hat etwas
tief Ergreifendes. Und unter solch einem feldgrauen Kleiderbündelchen
seh ich nur =einen= braunen Soldatenstiefel stehen. Wo mag der andere
geblieben sein? Und der Fuß, der dazu gehörte?

Das Lazarett hat zwölfhundert Betten. Alle waren schon in Gebrauch.
Jetzt, Gott sei Dank, sind nur fünfhundertsiebzig belegt. Tritt man
in einen dieser breiten und langen Bettsäle, so hat man nicht den
Eindruck eines Krankenraumes. Man glaubt: das ist eine weiße, luftige
Erholungshalle, durch deren große Deckenfenster eine Fülle ruhigen
Lichtes hereinströmt. Die meisten der Genesenden sind schon außer Bett;
sie plaudern oder schreiben Briefe, lesen oder spielen und tragen die
hellen, sauberen Lazarettkittel, die aus requirierten belgischen Stoffen
von französischen Näherinnen gefertigt wurden. Alle Betten sind weiß --
gute eiserne Bettstellen mit Drahtfederung und dreiteiligen Matratzen --
und zu Häupten eines jeden Bettes hängt ein Täfelchen mit dem Namen des
Bettgastes und dem Datum seiner Ankunft. Nur in wenigen Gesichtern ist
noch die Blässe des überstandenen Leidens, fast in allen schon die gute
Farbe der wiederkehrenden Gesundheit. Ich spreche mit vielen, auch mit
solchen, die noch liegen müssen. Nie hör' ich eine Klage, nie einen Laut
des Mißmutes, höre nur gutmütige, herzhafte, auch heitere Antworten, und
in allen, wie verschieden sie auch klingen, ist immer der gleiche Sinn:
»Jetzt darf ich bald wieder antreten!«

Bei einem von denen, die noch liegen, zeigt die weiße Bettdecke eine
Form, als wäre unter ihr etwas nicht mehr vorhanden, was zu einem
ganzen Menschen gehört. Ob es =der= ist, für den der einsam gewordene
Stiefel aufbewahrt wird? Ich bring' es nicht fertig, diesen Kranken
nach seiner Verwundung zu fragen, drücke stumm seine Hand und nicke
ihm zu; auch er lächelt und nickt, aber seine Augen werden ein bißchen
feucht. Und gleich beginnt eine Schwester heiter und herzlich mit ihm
zu plaudern. Von solchen Schwestern in ihren dunklen Kleidern sind etwa
zwanzig in dem großen weißen Saal -- ernste und dennoch freundliche
Frauen- und Mädchengesichter mit guten Augen -- man möchte einer jeden
in deutscher Dankbarkeit die hilfreichen Hände küssen.

In mir ist eine Stimmung, die sich wunderlich mischt aus tiefer
Erschütterung und glücklichem Aufatmen. Was könnte einen Deutschen
froher machen, als mit eigenen Augen sehen zu dürfen: =so= werden unsere
leidenden Soldaten gepflegt und wieder dem Leben entgegengeführt.

Es fällt mir schwer, dieses weiße Heiligtum der deutschen
Lebenserneuerung zu verlassen. Auf der Schwelle muß ich zögern, muß
das Gesicht drehen. Und da fällt mir etwas auf, was ich vorher nicht
bemerkt hatte, etwas mir Unverständliches; über die Decke des langen
Saales, in welchem früher die Spitzenwebstühle standen, zieht sich
eine Transmissionswelle mit vielen Riemenscheiben hin; und diese
Welle =läuft=, ganz leer, ohne Riemen, lautlos. Mein liebenswürdiger
Führer, General v. Nieber, der mit den Ärzten seiner Etappe dieses
mustergültige Kriegslazarett geschaffen hat, erklärt mir die sonderbare
und anscheinend zwecklose Sache: »Wenn die Welle längere Zeit
unbeweglich liegt, rosten die Lager und verderben. Drum lassen wir alle
Transmissionen abwechselnd jeden Tag eine Stunde lang laufen. Wenn der
Besitzer dieser Fabrik wieder heimkommt, soll er sein Eigentum so weit
in Ordnung finden, als es der Krieg und die Fürsorge für die Unseren
erlaubte.«

Ein deutsches Wort! Ob es von dem Fabrikbesitzer -- »_il est parti!_«
-- bei der Heimkehr den verdienten Dank erfahren wird? Ich besorge: der
wird nur entdecken, was der Krieg ihm verdarb, und wird für das, was
deutsche Gewissenhaftigkeit ihm unverdorben bewahrte, kein sehendes Auge
haben.

Nicht weit von Caudry, in Le Cateau, befinden sich die ebenso musterhaft
eingerichteten Genesungsheime für Mannschaften und Offiziere, umgeben
von einem lückenlosen Apparat für gute Ernährung. Da ist alles
herbeigeschafft, was dem Erstarken der Gesundheit dienen kann. Und
weil frische Eier für Rekonvaleszenten sehr bekömmlich, aber im
geflügelverschlingenden Kriege und dazu noch im Winter äußerst selten
sind -- es wurde einmal für dreißig Eier ein Automobil in Tausch gegeben
und für ein halbes Pfund Butter ein ganzes Veloziped -- drum haben die
deutschen Ärzte in Le Cateau eine geheizte Hühnerzucht installiert. Ein
großer Scheunenraum wurde in ein Warmhaus für tausend Hennen verwandelt,
und ein beharrlich glühender, von einem Drahtgitter umzogener Ofen redet
dem gackernden Völklein der gefiederten Französinnen mit lieblichen
Wärmestrahlen zu, recht viele, viele Eier für unsere genesenden
Feldgrauen zu legen. Zwanzig gallische Hähne befördern das nützliche
Werk. Überraschenderweise vertragen sie sich sehr gut miteinander; sie
haben der Friedensarbeit so viel zu verrichten, daß sie der angeborenen
Kriegslust völlig vergessen.

Hinter diesem heiteren Bildchen steht eine ernste Wahrheit. Wieviel
deutsche Hände mußten sich rühren in ruhelosem Fleiß, wieviel kluge
Gedanken mußten in deutschen Gehirnen aufglänzen, wieviel Geduld mußte
sich in hilfreiche Arbeit verwandeln und wieviel energischer Wille mußte
umgesetzt werden in wirksame Tat, bis innerhalb weniger Monate ins
Leben gerufen war, was ich auf Schritt und Tritt hier leuchten sehe als
ruhmvollen Sieg der deutschen Regsamkeit und des deutschen Wesens.


              Verlag von =Adolf Bonz & Comp.= in Stuttgart




                            $Eiserne Zither$

                              Kriegslieder
                         von =Ludwig Ganghofer=

                                1914/15

                       Erster Teil -- 16. Tausend
                      Zweiter Teil -- 10. Tausend
               Klein-Oktav. In Leinwand gebunden M. 1.--.


=Auszüge aus Urteilen der Presse=:

Wer diese weichen und doch herzhaften, diese poetischen und doch ganz
realistischen Verse liest, der wird, wenn er ein Deutscher ist, seine
Seele in ihnen wiederfühlen. Dr. St.

                                    (=München-Augsburger Abendzeitung=.)

Das Buch kann als ein vorzügliches Werk der Kriegsliteratur bezeichnet
werden. Sein Studium bereitet Genuß und ist zugleich Erbauung.

                                               (=Darmstädter Tagblatt=.)

Vaterlandsliebe und heiliger Zorn haben ihm diese aus tiefster Seele
flutenden Verse eingegeben; ungekünstelt, aber voll heißen Lebens
klingen diese Verse, die aus der deutschen Not geboren und vom Glauben
an Deutschlands Recht und Sieg durchzittert sind.

                                     (=Schwäbischer Merkur, Stuttgart=.)

Gehaltvolle, geharnischte Lieder des berühmten kerndeutschen Erzählers.

                                    (=Braunschweigische Landeszeitung=.)

Es sind zündende, poetisch schöne Gedichte über Kriegs- und damit
zusammenhängende Ereignisse, welche der allgemein bekannte und beliebte
Dichter uns bietet. Wir sind überzeugt, daß die hübsch ausgestattete
Sammlung Begeisterung hervorrufen und in allen deutschen Landen guten
Absatz finden wird.

                                      (=Volckmar's Weihnachts-Katalog=.)

Diese Kriegslieder gehören mit zum Besten, was die eiserne Zeit bisher
hervorgebracht hat. Sie reißen unwillkürlich mit fort und müssen auch
den Sorgenvollen guten Mutes machen.

                                              (=Die Wartburg, Leipzig=.)


              Verlag von =Adolf Bonz & Comp.= in Stuttgart




                          1914 ist erschienen:

                           $Der Ochsenkrieg$

                     Roman aus dem 15. Jahrhundert
                         von =Ludwig Ganghofer=

                           1. bis 15. Tausend

        2 Bände. Oktav. Geheftet M. 8.-, fein gebunden M. 10.-.


Ganghofer bietet das nicht alltägliche Schauspiel eines Dichters,
der nach einer dreißigjährigen Produktion noch jugendfrisch, ohne
Altersrunzeln der Ermüdung dasteht, und dessen jüngste Schöpfung im
Glanz edler Meisterschaft alle Qualitäten seiner Dichternatur in
unverminderter Kraft offenbart. In keinem seiner früheren Werke hat
er seine kompositorische Kraft in so hohem Maße wie hier bewiesen. Er
fesselt den Leser gleich mit dem dramatisch wuchtigen Auftakt des Romans
und läßt ihn bis zur letzten Zeile nicht los. Das Mittelalter mit seiner
wilden Brutalität, mit seiner derben Erotik, mit seinem Elend, seiner
Pestilenz und mit seiner bei alldem doch urwüchsigen Kraft, steht, mit
realistischen Mitteln hervorgezaubert, in leuchtenden Visionen vor uns.
Markig sind die Hauptgestalten des Romans gezeichnet, mit überzeugendem
Leben gefüllt. Eine Figur verdient ganz besonders hervorgehoben zu
werden: der Söldner Malimmes, ein köstlicher Bursche, der in seiner
Art das deutsche Wesen ebenso vollwichtig repräsentiert, wie Cyrano de
Bergerac das Franzosentum. Hier hat ein Poet seine Löwenklauen gezeigt.
Der »Ochsenkrieg« ist ein meisterhaftes Kulturgemälde; als Roman ist das
Buch durch seine Naturschilderungen, durch seine Charakterzeichnung und
durch die suggestive Kraft der Sprache dem Besten ebenbürtig, was die
deutsche Kunst auf erzählendem Gebiet gezeitigt hat.

                                              (=Neues Wiener Tagblatt.=)

                             [Illustration]

                             Ullstein & Co
                              Berlin SW 68





End of Project Gutenberg's Reise zu deutschen Front, by Ludwig Ganghofer

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electronic work or group of works on different terms than are set
forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1.  Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
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property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
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of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
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LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
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TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

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written explanation to the person you received the work from.  If you
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO OTHER
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WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
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If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

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that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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