Alice's Abenteuer im Wunderland

By Lewis Carroll

Project Gutenberg's Alice's Abenteuer im Wunderland, by Lewis Carroll

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Title: Alice's Abenteuer im Wunderland

Author: Lewis Carroll

Illustrator: John Tenniel

Translator: Antonie Zimmermann

Release Date: February 28, 2007 [EBook #19778]
[This file was first posted on November 13, 2006]
[Last updated: June 22, 2011]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ALICE'S ABENTEUER IM WUNDERLAND ***




Produced by Ralph Janke, David Starner, Marilynda
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Team at http://www.pgdp.net









[Illustration]


Alice's Abenteuer

im Wunderland

von

Lewis Carroll.

Aus dem Englischen von Antonie Zimmermann.




Mit zweiundvierzig Illustrationen

von

John Tenniel.

Autorisirte Ausgabe.


Leipzig

Johann Friedrich Hartknoch.

Originally published in 1869.




    O schöner, goldner Nachmittag,
    Wo Flut und Himmel lacht!
    Von schwacher Kindeshand bewegt,
    Die Ruder plätschern sacht --
    Das Steuer hält ein Kindesarm
    Und lenket unsre Fahrt.

    So fuhren wir gemächlich hin
    Auf träumerischen Wellen --
    Doch ach! die drei vereinten sich,
    Den müden Freund zu quälen --
    Sie trieben ihn, sie drängten ihn,
    Ein Mährchen zu erzählen.

    Die erste gab's Commandowort;
    O schnell, o fange an!
    Und mach' es so, die Zweite bat,
    Daß man recht lachen kann!
    Die Dritte ließ ihm keine Ruh
    Mit wie? und wo? und wann?

    Jetzt lauschen sie vom Zauberland
    Der wunderbaren Mähr';
    Mit Thier und Vogel sind sie bald
    In freundlichem Verkehr,
    Und fühlen sich so heimisch dort,
    Als ob es Wahrheit wär'. --

    Und jedes Mal, wenn Fantasie
    Dem Freunde ganz versiegt: --
    »Das Uebrige ein ander Mal!«
    O nein, sie leiden's nicht.
    »»Es ist ja schon ein ander Mal!«« --
    So rufen sie vergnügt.

    So ward vom schönen Wunderland
    Das Märchen ausgedacht,
    So langsam Stück für Stück erzählt,
    Beplaudert und belacht,
    Und froh, als es zu Ende war,
    Der Weg nach Haus gemacht.

    Alice! o nimm es freundlich an!
    Leg' es mit güt'ger Hand
    Zum Strauße, den Erinnerung
    Aus Kindheitsträumen band,
    Gleich welken Blüthen, mitgebracht
    Aus liebem, fernen Land.




[Der Verfasser wünscht hiermit seine Anerkennung gegen die Uebersetzerin
auszusprechen, die einige eingestreute Parodien englischer Kinderlieder,
welche der deutschen Jugend unverständlich gewesen wären, durch
dergleichen von bekannten deutschen Gedichten ersetzt hat. Ebenso sind
für die oft unübersetzbaren englischen Wortspiele passende deutsche
eingeschoben worden, welche das Buch allein der Gewandtheit der
Uebersetzerin verdankt.]




Inhalt.


1. Hinunter in den Kaninchenbau                   1

2. Der Thränenpfuhl                              14

3. Caucus-Rennen, und was daraus wird            27

4. Die Wohnung des Kaninchens                    39

5. Guter Rath von einer Raupe                    55

6. Ferkel und Pfeffer                            71

7. Die tolle Theegesellschaft                    88

8. Das Croquetfeld der Königin                  104

9. Die Geschichte der falschen Schildkröte      121

10. Das Hummerballet                            137

11. Wer hat die Kuchen gestohlen?               150

12. Alice ist die Klügste                       163




[Illustration]




Erstes Kapitel

Hinunter in den Kaninchenbau.


Alice fing an sich zu langweilen; sie saß schon lange bei ihrer
Schwester am Ufer und hatte nichts zu thun. Das Buch, das ihre Schwester
las, gefiel ihr nicht; denn es waren weder Bilder noch Gespräche darin.
»Und was nützen Bücher,« dachte Alice, »ohne Bilder und Gespräche?«

Sie überlegte sich eben, (so gut es ging, denn sie war schläfrig und
dumm von der Hitze,) ob es der Mühe werth sei aufzustehen und
Gänseblümchen zu pflücken, um eine Kette damit zu machen, als plötzlich
ein weißes Kaninchen mit rothen Augen dicht an ihr vorbeirannte.

Dies war grade nicht _sehr_ merkwürdig; Alice fand es auch nicht _sehr_
außerordentlich, daß sie das Kaninchen sagen hörte: »O weh, o weh! Ich
werde zu spät kommen!« (Als sie es später wieder überlegte, fiel ihr
ein, daß sie sich darüber hätte wundern sollen, doch zur Zeit kam es ihr
Alles ganz natürlich vor.) Aber als das Kaninchen _seine Uhr aus der
Westentasche zog_, nach der Zeit sah und eilig fortlief, sprang Alice
auf; denn es war ihr doch noch nie vorgekommen, ein Kaninchen mit einer
Westentasche und eine Uhr darin zu sehen. Vor Neugierde brennend, rannte
sie ihm nach, über den Grasplatz, und kam noch zur rechten Zeit, um es
in ein großes Loch unter der Hecke schlüpfen zu sehen.

Den nächsten Augenblick war sie ihm nach in das Loch hineingesprungen,
ohne zu bedenken, wie in aller Welt sie wieder herauskommen könnte.

Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel und
ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte
sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, daß sie fiel, wie es
schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen.

Entweder mußte der Brunnen sehr tief sein, oder sie fiel sehr langsam;
denn sie hatte Zeit genug, sich beim Fallen umzusehen und sich zu
wundern, was nun wohl geschehen würde. Zuerst versuchte sie hinunter zu
sehen, um zu wissen wohin sie käme, aber es war zu dunkel etwas zu
erkennen. Da besah sie die Wände des Brunnens und bemerkte, daß sie mit
Küchenschränken und Bücherbrettern bedeckt waren; hier und da erblickte
sie Landkarten und Bilder, an Haken aufgehängt. Sie nahm im Vorbeifallen
von einem der Bretter ein Töpfchen mit der Aufschrift: »_Eingemachte
Apfelsinen_«, aber zu ihrem großen Verdruß war es leer. Sie wollte es
nicht fallen lassen, aus Furcht Jemand unter sich zu tödten; und es
gelang ihr, es in einen andern Schrank, an dem sie vorbeikam, zu
schieben.

»Nun!« dachte Alice bei sich, »nach einem solchen Fall werde ich mir
nichts daraus machen, wenn ich die Treppe hinunter stolpere. Wie muthig
sie mich zu Haus finden werden! Ich würde nicht viel Redens machen, wenn
ich selbst von der Dachspitze hinunter fiele!« (Was sehr wahrscheinlich
war.)

Hinunter, hinunter, hinunter! Wollte denn der Fall nie endigen? »Wie
viele Meilen ich wohl jetzt gefallen bin!« sagte sie laut. »Ich muß
ungefähr am Mittelpunkt der Erde sein. Laß sehen: das wären achthundert
und funfzig Meilen, glaube ich --« (denn ihr müßt wissen, Alice hatte
dergleichen in der Schule gelernt, und obgleich dies keine _sehr_ gute
Gelegenheit war, ihre Kenntnisse zu zeigen, da Niemand zum Zuhören da
war, so übte sie es sich doch dabei ein) -- »ja, das ist ungefähr die
Entfernung; aber zu welchem Länge- und Breitegrade ich wohl gekommen
sein mag?« (Alice hatte nicht den geringsten Begriff, was weder
Längegrad noch Breitegrad war; doch klangen ihr die Worte großartig und
nett zu sagen.)

Bald fing sie wieder an. »Ob ich wohl ganz durch die Erde fallen werde!
Wie komisch das sein wird, bei den Leuten heraus zu kommen, die auf dem
Kopfe gehen! die Antipathien, glaube ich.« (Diesmal war es ihr ganz
lieb, daß Niemand zuhörte, denn das Wort klang ihr gar nicht recht.)
»Aber natürlich werde ich sie fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte,
liebe Dame, ist dies Neu-Seeland oder Australien?« (Und sie versuchte
dabei zu knixen, -- denkt doch, knixen, wenn man durch die Luft fällt!
Könntet ihr das fertig kriegen?) »Aber sie werden mich für ein
unwissendes kleines Mädchen halten, wenn ich frage! Nein, es geht nicht
an zu fragen; vielleicht sehe ich es irgendwo angeschrieben.«

Hinunter, hinunter, hinunter! Sie konnte nichts weiter thun, also fing
_Alice_ bald wieder zu sprechen an. »_Dinah_ wird mich gewiß heut Abend
recht suchen!« (_Dinah_ war die Katze.) »Ich hoffe, sie werden ihren Napf
Milch zur Theestunde nicht vergessen. _Dinah!_ Mies! ich wollte, du wärest
hier unten bei mir. Mir ist nur bange, es giebt keine Mäuse in der Luft;
aber du könntest einen Spatzen fangen; die wird es hier in der Luft wohl
geben, glaubst du nicht? Und Katzen fressen doch Spatzen?« Hier wurde
Alice etwas schläfrig und redete halb im Traum fort. »Fressen Katzen
gern Spatzen? Fressen Katzen gern Spatzen? Fressen Spatzen gern Katzen?«
Und da ihr Niemand zu antworten brauchte, so kam es gar nicht darauf
an, wie sie die Frage stellte. Sie fühlte, daß sie einschlief und hatte
eben angefangen zu träumen, sie gehe Hand in Hand mit _Dinah_ spazieren,
und frage sie ganz ernsthaft: »Nun, _Dinah_, sage die Wahrheit, hast du je
einen Spatzen gefressen?« da mit einem Male, plump! plump! kam sie auf
einen Haufen trocknes Laub und Reisig zu liegen, -- und der Fall war aus.

Alice hatte sich gar nicht weh gethan. Sie sprang sogleich auf und sah
in die Höhe; aber es war dunkel über ihr. Vor ihr lag ein zweiter langer
Gang, und sie konnte noch eben das weiße Kaninchen darin entlang laufen
sehen. Es war kein Augenblick zu verlieren: fort rannte Alice wie der
Wind, und hörte es gerade noch sagen, als es um eine Ecke bog: »O, Ohren
und Schnurrbart, wie spät es ist!« Sie war dicht hinter ihm, aber als
sie um die Ecke bog, da war das Kaninchen nicht mehr zu sehen. Sie
befand sich in einem langen, niedrigen Corridor, der durch eine Reihe
Lampen erleuchtet war, die von der Decke herabhingen.

Zu beiden Seiten des Corridors waren Thüren; aber sie waren alle
verschlossen. Alice versuchte jede Thür erst auf einer Seite, dann auf
der andern; endlich ging sie traurig in der Mitte entlang, überlegend,
wie sie je heraus kommen könnte.

Plötzlich stand sie vor einem kleinen dreibeinigen Tische, _ganz von
dickem Glas_. Es war nichts darauf als ein winziges goldenes
Schlüsselchen, und _Alice's_ erster Gedanke war, dies möchte zu einer der
Thüren des Corridors gehören. Aber ach! entweder waren die Schlösser zu
groß, oder der Schlüssel war zu klein; kurz, er paßte zu keiner
einzigen. Jedoch, als sie das zweite Mal herum ging, kam sie an einen
niedrigen Vorhang, den sie vorher nicht bemerkt hatte, und dahinter war
eine Thür, ungefähr funfzehn Zoll hoch. Sie steckte das goldene
Schlüsselchen in's Schlüsselloch, und zu ihrer großen Freude paßte es.

Alice schloß die Thür auf und fand, daß sie zu einem kleinen Gange
führte, nicht viel größer als ein Mäuseloch. Sie kniete nieder und sah
durch den Gang in den reizendsten Garten, den man sich denken kann. Wie
wünschte sie, aus dem dunkeln Corridor zu gelangen, und unter den bunten
Blumenbeeten und kühlen Springbrunnen umher zu wandern; aber sie konnte
kaum den Kopf durch den Eingang stecken. »Und wenn auch mein Kopf
hindurch ginge,« dachte die arme Alice, »was würde es nützen ohne die
Schultern. O, ich möchte mich zusammenschieben können wie ein Teleskop!
Das geht gewiß, wenn ich nur wüßte, wie man es anfängt.« Denn es war
kürzlich so viel Merkwürdiges mit ihr vorgegangen, daß Alice anfing zu
glauben, es sei fast nichts unmöglich.

[Illustration]

Es schien ihr ganz unnütz, länger bei der kleinen Thür zu warten. Daher
ging sie zum Tisch zurück, halb und halb hoffend, sie würde noch einen
Schlüssel darauf finden, oder jedenfalls ein Buch mit Anweisungen, wie
man sich als Teleskop zusammenschieben könne. Diesmal fand sie ein
Fläschchen darauf. »Das gewiß vorhin nicht hier stand,« sagte Alice; und
um den Hals des Fläschchens war ein Zettel gebunden, mit den Worten
»_Trinke mich!_« wunderschön in großen Buchstaben drauf gedruckt.

[Illustration]

Es war bald gesagt, »Trinke mich«, aber die altkluge kleine Alice wollte
sich damit nicht übereilen. »Nein, ich werde erst nachsehen,« sprach
sie, »ob ein Todtenkopf darauf ist oder nicht.« Denn sie hatte mehre
hübsche Geschichten gelesen von Kindern, die sich verbrannt hatten oder
sich von wilden Thieren hatten fressen lassen, und in andere unangenehme
Lagen gerathen waren, nur weil sie nicht an die Warnungen dachten, die
ihre Freunde ihnen gegeben hatten; zum Beispiel, daß ein rothglühendes
Eisen brennt, wenn man es anfaßt; und daß wenn man sich mit einem
Messer tief in den Finger schneidet, es gewöhnlich blutet. Und sie hatte
nicht vergessen, daß wenn man viel aus einer Flasche mit einem
Todtenkopf darauf trinkt, es einem unfehlbar schlecht bekommt.

Diese Flasche jedoch hatte keinen Todtenkopf. Daher wagte Alice zu
kosten; und da es ihr gut schmeckte (es war eigentlich wie ein Gemisch
von Kirschkuchen, Sahnensauce, Ananas, Putenbraten, Naute und Armen
Rittern), so trank sie die Flasche aus.

       *       *       *       *       *

»Was für ein komisches Gefühl!« sagte Alice. »Ich gehe gewiß zu wie ein
Teleskop.«

Und so war es in der That: jetzt war sie nur noch zehn Zoll hoch, und
ihr Gesicht leuchtete bei dem Gedanken, daß sie nun die rechte Höhe
habe, um durch die kleine Thür in den schönen Garten zu gehen. Doch
erst wartete sie einige Minuten, ob sie noch mehr einschrumpfen werde.
Sie war einigermaßen ängstlich; »denn es könnte damit aufhören,« sagte
Alice zu sich selbst, »daß ich ganz ausginge, wie ein Licht. Mich
wundert, wie ich dann aussähe?« Und sie versuchte sich vorzustellen, wie
die Flamme von einem Lichte aussieht, wenn das Licht ausgeblasen ist;
aber sie konnte sich nicht erinnern, dies je gesehen zu haben.

Nach einer Weile, als sie merkte daß weiter nichts geschah, beschloß
sie, gleich in den Garten zu gehen. Aber, arme Alice! als sie an die
Thür kam, hatte sie das goldene Schlüsselchen vergessen. Sie ging nach
dem Tische zurück, es zu holen, fand aber, daß sie es unmöglich
erreichen konnte. Sie sah es ganz deutlich durch das Glas, und sie gab
sich alle Mühe an einem der Tischfüße hinauf zu klettern, aber er war zu
glatt; und als sie sich ganz müde gearbeitet hatte, setzte sich das
arme, kleine Ding hin und weinte.

»Still, was nützt es so zu weinen!« sagte Alice ganz böse zu sich
selbst; »ich rathe dir, den Augenblick aufzuhören!« Sie gab sich oft
sehr guten Rath (obgleich sie ihn selten befolgte), und manchmal schalt
sie sich selbst so strenge, daß sie sich zum Weinen brachte; und
einmal, erinnerte sie sich, hatte sie versucht sich eine Ohrfeige zu
geben, weil sie im Croquet betrogen hatte, als sie gegen sich selbst
spielte; denn dieses eigenthümliche Kind stellte sehr gern zwei Personen
vor. »Aber jetzt hilft es zu nichts,« dachte die arme Alice, »zu thun
als ob ich zwei verschiedene Personen wäre. Ach! es ist ja kaum genug
von mir übrig zu _einer_ anständigen Person!«

Bald fiel ihr Auge auf eine kleine Glasbüchse, die unter dem Tische lag;
sie öffnete sie und fand einen sehr kleinen Kuchen darin, auf welchem
die Worte »_Iß mich!_« schön in kleinen Rosinen geschrieben standen. »Gut,
ich will ihn essen,« sagte Alice, »und wenn ich davon größer werde, so
kann ich den Schlüssel erreichen; wenn ich aber kleiner davon werde, so
kann ich unter der Thür durchkriechen. So, auf jeden Fall, gelange ich
in den Garten, -- es ist mir einerlei wie.«

Sie aß ein Bißchen, und sagte neugierig zu sich selbst: »Aufwärts oder
abwärts?« Dabei hielt sie die Hand prüfend auf ihren Kopf und war ganz
erstaunt zu bemerken, daß sie dieselbe Größe behielt. Freilich geschieht
dies gewöhnlich, wenn man Kuchen ißt; aber Alice war schon so an
wunderbare Dinge gewöhnt, daß es ihr ganz langweilig schien, wenn das
Leben so natürlich fortging.

Sie machte sich also daran, und verzehrte den Kuchen völlig.




Zweites Kapitel.

Der Thränenpfuhl.


[Illustration]

»Verquerer und verquerer!« rief Alice. (Sie war so überrascht, daß sie
im Augenblick ihre eigene _Sprache ganz vergaß_.) »Jetzt werde ich
auseinander geschoben wie das längste Teleskop das es je gab! Lebt wohl,
Füße!« (Denn als sie auf ihre Füße hinabsah, konnte sie sie kaum mehr zu
Gesicht bekommen, so weit fort waren sie schon.) »O meine armen Füßchen!
wer euch wohl nun Schuhe und Strümpfe anziehen wird, meine Besten? denn
ich kann es unmöglich thun! Ich bin viel zu weit ab, um mich mit euch
abzugeben! ihr müßt sehen, wie ihr fertig werdet. Aber gut muß ich zu
ihnen sein,« dachte Alice, »sonst gehen sie vielleicht nicht, wohin ich
gehen möchte. Laß mal sehen: ich will ihnen jeden Weihnachten ein Paar
neue Stiefel schenken.«

Und sie dachte sich aus, wie sie das anfangen würde. »Sie müssen per
Fracht gehen,« dachte sie; »wie drollig es sein wird, seinen eignen
Füßen ein Geschenk zu schicken! und wie komisch die Adresse aussehen
wird! --

    _An_
      _Alice's rechten Fuß, Wohlgeboren,_
        _Fußteppich,_
          _nicht weit vom Kamin,_
            _mit Alice's Grüßen_.

»Oh, was für Unsinn ich schwatze!«

Gerade in dem Augenblick stieß sie mit dem Kopf an die Decke: sie war in
der That über neun Fuß groß. Und sie nahm sogleich den kleinen goldenen
Schlüssel auf und rannte nach der Gartenthür.

Arme Alice! das Höchste was sie thun konnte war, auf der Seite liegend,
mit einem Auge nach dem Garten hinunterzusehen; aber an Durchgehen war
weniger als je zu denken. Sie setzte sich hin und fing wieder an zu
weinen.

»Du solltest dich schämen,« sagte Alice, »solch großes Mädchen« (da
hatte sie wohl recht) »noch so zu weinen! Höre gleich auf, sage ich
dir!« Aber sie weinte trotzdem fort, und vergoß Thränen eimerweise, bis
sich zuletzt ein großer Pfuhl um sie bildete, ungefähr vier Zoll tief
und den halben Corridor lang.

Nach einem Weilchen hörte sie Schritte in der Entfernung und trocknete
schnell ihre Thränen, um zu sehen wer es sei. Es war das weiße
Kaninchen, das prachtvoll geputzt zurückkam, mit einem Paar weißen
Handschuhen in einer Hand und einen Fächer in der andern. Es trippelte
in großer Eile entlang vor sich hin redend: »Oh! die Herzogin, die
Herzogin! die wird mal außer sich sein, wenn ich sie warten lasse!«
Alice war so rathlos, daß sie Jeden um Hülfe angerufen hätte. Als das
Kaninchen daher in ihre Nähe kam, fing sie mit leiser, schüchterner
Stimme an: »Bitte, lieber Herr. --« Das Kaninchen fuhr zusammen, ließ
die weißen Handschuhe und den Fächer fallen und lief davon in die Nacht
hinein, so schnell es konnte.

[Illustration]

Alice nahm den Fächer und die Handschuhe auf, und da der Gang sehr heiß
war, fächelte sie sich, während sie so zu sich selbst sprach:
»Wunderbar! -- wie seltsam heute Alles ist! Und gestern war es ganz wie
gewöhnlich. Ob ich wohl in der Nacht umgewechselt worden bin? Laß mal
sehen: war ich dieselbe, als ich heute früh aufstand? Es kommt mir fast
vor, als hätte ich wie eine Veränderung in mir gefühlt. Aber wenn ich
nicht dieselbe bin, dann ist die Frage: wer in aller Welt bin ich? Ja,
das ist das Räthsel!« So ging sie in Gedanken alle Kinder ihres Alters
durch, die sie kannte, um zu sehen, ob sie in eins davon verwandelt
wäre.

»Ich bin sicherlich nicht Ida,« sagte sie, »denn die trägt lange Locken,
und mein Haar ist gar nicht lockig; und bestimmt kann ich nicht Clara
sein, denn ich weiß eine ganze Menge, und sie, oh! sie weiß so sehr
wenig! Außerdem, sie ist sie selbst, und ich bin ich, und, o wie confus
es Alles ist! Ich will versuchen, ob ich noch Alles weiß, was ich sonst
wußte. Laß sehen: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist
dreizehn, und vier mal sieben ist -- o weh! auf die Art komme ich nie
bis zwanzig! Aber, das Einmaleins hat nicht so viel zu sagen; ich will
Geographie nehmen. London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist
die Hauptstadt von Rom, und Rom -- nein, ich wette, das ist Alles
falsch! Ich muß in Clara verwandelt sein! Ich will doch einmal sehen, ob
ich sagen kann: »Bei einem Wirthe --« und sie faltete sie Hände, als ob
sie ihrer Lehrerin hersagte, und fing an; aber ihre Stimme klang rauh
und ungewohnt, und die Worte kamen nicht wie sonst: --

    »Bei einem Wirthe, wunderwild,
    Da war ich jüngst zu Gaste,
    Ein Bienennest das war sein Schild
    In einer braunen Tatze.

    Es war der grimme Zottelbär,
    Bei dem ich eingekehret;
    Mit süßem Honigseim hat er
    Sich selber wohl genähret!«

»Das kommt mir gar nicht richtig vor,« sagte die arme Alice, und Thränen
kamen ihr in die Augen, als sie weiter sprach: »Ich muß doch Clara sein,
und ich werde in dem alten kleinen Hause wohnen müssen, und beinah keine
Spielsachen zum Spielen haben, und ach! so viel zu lernen! Nein, das
habe ich mir vorgenommen: wenn ich Clara bin, will ich hier unten
bleiben! Es soll ihnen nichts helfen, wenn sie die Köpfe
zusammenstecken und herunter rufen: »Komm wieder herauf, Herzchen!« Ich
will nur hinauf sehen und sprechen: wer bin ich denn? Sagt mir das erst,
und dann, wenn ich die Person gern bin, will ich kommen; wo nicht, so
will ich hier unten bleiben, bis ich jemand Anderes bin. -- Aber o weh!«
schluchzte Alice plötzlich auf, »ich wünschte, sie sähen herunter! Es
ist mir so langweilig, hier ganz allein zu sein!«

Als sie so sprach, sah sie auf ihre Hände hinab und bemerkte mit
Erstaunen, daß sie beim Reden einen von den weißen Glacee-Handschuhen
des Kaninchens angezogen hatte. »Wie habe ich das nur angefangen?«
dachte sie. »Ich muß wieder klein geworden sein.« Sie stand auf, ging
nach dem Tische, um sich daran zu messen, und fand, daß sie noch
ungefähr zwei Fuß hoch sei, dabei schrumpfte sie noch zusehends ein: sie
merkte bald, daß die Ursache davon der Fächer war, den sie hielt; sie
warf ihn schnell hin, noch zur rechten Zeit, sich vor gänzlichem
Verschwinden zu retten.

»Das war glücklich davon gekommen!« sagte Alice, sehr erschrocken über
die plötzliche Veränderung, aber froh, daß sie noch existirte; »und nun
in den Garten!« und sie lief eilig nach der kleinen Thür: aber ach! die
kleine Thür war wieder verschlossen und das goldene Schlüsselchen lag
auf dem Glastische wie vorher. »Und es ist schlimmer als je,« dachte das
arme Kind, »denn so klein bin ich noch nie gewesen, nein, nie! Und ich
sage, es ist zu schlecht, ist es!«

[Illustration]

Wie sie diese Worte sprach, glitt sie aus, und den nächsten Augenblick,
platsch! fiel sie bis an's Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war,
sie sei in die See gefallen, »und in dem Fall kann ich mit der Eisenbahn
zurückreisen,« sprach sie bei sich. (Alice war einmal in ihrem Leben an
der See gewesen und war zu dem allgemeinen Schluß gelangt, daß wo man
auch an's Seeufer kommt, man eine Anzahl Bademaschinen im Wasser
findet, Kinder, die den Sand mit hölzernen Spaten aufgraben, dann eine
Reihe Wohnhäuser und dahinter eine Eisenbahn-Station); doch merkte sie
bald, daß sie sich in dem Thränenpfuhl befand, den sie geweint hatte,
als sie neun Fuß hoch war.

»Ich wünschte, ich hätte nicht so sehr geweint!« sagte Alice, als sie
umherschwamm und sich herauszuhelfen suchte; »jetzt werde ich wohl dafür
bestraft werden und in meinen eigenen Thränen ertrinken! Das _wird_
sonderbar sein, das! Aber Alles ist heut so sonderbar.«

In dem Augenblicke hörte sie nicht weit davon etwas in dem Pfuhle
plätschern, und sie schwamm danach, zu sehen was es sei: erst glaubte
sie, es müsse ein Wallroß oder ein Nilpferd sein; dann aber besann sie
sich, wie klein sie jetzt war, und merkte bald, daß es nur eine Maus
sei, die wie sie hineingefallen war.

»Würde es wohl etwas nützen,« dachte Alice, »diese Maus anzureden? Alles
ist so wunderlich hier unten, daß ich glauben möchte, sie kann sprechen;
auf jeden Fall habe ich das Fragen umsonst.« Demnach fing sie an: »O
Maus, weißt du, wie man aus diesem Pfuhle gelangt, ich bin von dem
Herumschwimmen ganz müde, o Maus!« (Alice dachte, so würde eine Maus
richtig angeredet; sie hatte es zwar noch nie gethan, aber sie erinnerte
sich ganz gut, in ihres Bruders lateinischer Grammatik gelesen zu haben
»Eine Maus -- einer Maus -- einer Maus -- eine Maus -- o Maus!«) Die
Maus sah sie etwas neugierig an und schien ihr mit dem einen Auge zu
blinzeln, aber sie sagte nichts.

»Vielleicht versteht sie nicht Englisch,« dachte Alice, »es ist
vielleicht eine französische Maus, die mit Wilhelm dem Eroberer herüber
gekommen ist« (denn, trotz ihrer Geschichtskenntiß hatte Alice keinen
ganz klaren Begriff, wie lange irgend ein Ereigniß her sei). Sie fing
also wieder an: »=Où est ma chatte?=« was der erste Satz in ihrem
französischen Conversationsbuche war. Die Maus sprang hoch auf aus dem
Wasser, und schien vor Angst am ganzen Leibe zu beben. »O, ich bitte um
Verzeihung!« rief Alice schnell, erschrocken, daß sie das arme Thier
verletzt habe. »Ich hatte ganz vergessen, daß Sie Katzen nicht mögen.«

»Katzen nicht mögen!« schrie die Maus mit kreischender, wüthender
Stimme. »Würdest du Katzen mögen, wenn du an meiner Stelle wärest?«

[Illustration]

»Nein, wohl kaum,« sagte Alice in zuredendem Tone: »sei nicht mehr böse
darüber. Und doch möchte ich dir unsere Katze Dinah zeigen können. Ich
glaube, du würdest Geschmack für Katzen bekommen, wenn du sie nur sehen
könntest. Sie ist ein so liebes ruhiges Thier,« sprach Alice fort, halb
zu sich selbst, wie sie gemüthlich im Pfuhle daherschwamm; »sie sitzt
und spinnt so nett beim Feuer, leckt sich die Pfoten und wäscht sich das
Schnäuzchen -- und sie ist so hübsch weich auf dem Schoß zu haben -- und
sie ist solch famoser Mäusefänger -- oh, ich bitte um Verzeihung!« sagte
Alice wieder, denn diesmal sträubte sich das ganze Fell der armen Maus,
und Alice dachte, sie müßte sicherlich sehr beleidigt sein. »Wir wollen
nicht mehr davon reden, wenn du es nicht gern hast.«

»Wir, wirklich!« entgegnete die Maus, die bis zur Schwanzspitze
zitterte. »Als ob ich je über solchen Gegenstand spräche! Unsere Familie
hat von jeher Katzen verabscheut: häßliche, niedrige, gemeine Dinger!
Laß mich ihren Namen nicht wieder hören!«

»Nein, gewiß nicht!« sagte Alice, eifrig bemüht, einen andern Gegenstand
der Unterhaltung zu suchen. »Magst du -- magst du gern Hunde?« Die Maus
antwortete nicht, daher fuhr Alice eifrig fort: »Es wohnt ein so
reizender kleiner Hund nicht weit von unserm Hause. Den möchte ich dir
zeigen können! Ein kleiner klaräugiger Wachtelhund, weißt du, ach, mit
solch krausem braunen Fell! Und er apportirt Alles, was man ihm
hinwirft, und er kann aufrecht stehen und um sein Essen betteln, und so
viel Kunststücke -- ich kann mich kaum auf die Hälfte besinnen -- und er
gehört einem Amtmann, weißt du, und er sagt, er ist so nützlich, er ist
ihm hundert Pfund werth! Er sagt, er vertilgt alle Ratten und -- oh wie
dumm!« sagte Alice in reumüthigem Tone. »Ich fürchte, ich habe ihr
wieder weh gethan!« Denn die Maus schwamm so schnell sie konnte von ihr
fort und brachte den Pfuhl dadurch in förmliche Bewegung.

Sie rief ihr daher zärtlich nach: »Liebes Mäuschen! Komm wieder zurück,
und wir wollen weder von Katzen noch von Hunden reden, wenn du sie nicht
gern hast!« Als die Maus das hörte, wandte sie sich um und schwamm
langsam zu ihr zurück; ihr Gesicht war ganz blaß (vor Aerger, dachte
Alice), und sie sagte mit leiser, zitternder Stimme: »Komm mit mir an's
Ufer, da will ich dir meine Geschichte erzählen; dann wirst du
begreifen, warum ich Katzen und Hunde nicht leiden kann.«

Es war hohe Zeit sich fortzumachen; denn der Pfuhl begann von allerlei
Vögeln und Gethier zu wimmeln, die hinein gefallen waren: da war eine
Ente und ein Dodo, ein rother Papagei und ein junger Adler, und mehre
andere merkwürdige Geschöpfe. Alice führte sie an, und die ganze
Gesellschaft schwamm an's Ufer.




[Illustration]




Drittes Kapitel.

Caucus-Rennen und was daraus wird.


Es war in der That eine wunderliche Gesellschaft, die sich am Strande
versammelte -- die Vögel mit triefenden Federn, die übrigen Thiere mit
fest anliegendem Fell, Alle durch und durch naß, verstimmt und
unbehaglich. --

Die erste Frage war, wie sie sich trocknen könnten: es wurde eine
Berathung darüber gehalten, und nach wenigen Minuten kam es Alice
ganz natürlich vor, vertraulich mit ihnen zu schwatzen, als ob sie
sie ihr ganzes Leben gekannt hätte. Sie hatte sogar eine lange
Auseinandersetzung mit dem Papagei, der zuletzt brummig wurde und nur
noch sagte: »ich bin älter als du und muß es besser wissen;« dies wollte
Alice nicht zugeben und fragte nach seinem Alter, und da der Papagei es
durchaus nicht sagen wollte, so blieb die Sache unentschieden.

Endlich rief die Maus, welche eine Person von Gewicht unter ihnen zu
sein schien: »Setzt euch, ihr Alle, und hört mir zu! ich will euch bald
genug trocken machen!« Alle setzten sich sogleich in einen großen Kreis
nieder, die Maus in der Mitte. Alice hatte die Augen erwartungsvoll auf
sie gerichtet, denn sie war überzeugt, sie werde sich entsetzlich
erkälten, wenn sie nicht sehr bald trocken würde.

»Hm!« sagte die Maus mit wichtiger Miene, »seid ihr Alle so weit? Es ist
das Trockenste, worauf ich mich besinnen kann. Alle still, wenn ich
bitten darf! -- Wilhelm der Eroberer, dessen Ansprüche vom Papste
begünstigt wurden, fand bald Anhang unter den Engländern, die einen
Anführer brauchten, und die in jener Zeit sehr an Usurpation und
Eroberungen gewöhnt waren. Edwin und Morcar, Grafen von Mercia und
Northumbria --«

»_Oooh_!« gähnte der Papagei und schüttelte sich.

»Bitte um Verzeihung!« sprach die Maus mit gerunzelter Stirne, aber sehr
höflich; »bemerkten Sie etwas?«

»Ich nicht!« erwiederte schnell der Papagei.

»Es kam mir so vor,« sagte die Maus. -- »Ich fahre fort: Edwin und
Morcar, Grafen von Mercia und Northumbria, erklärten sich für ihn; und
selbst Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury fand es
rathsam --«

»Fand _was_?« unterbrach die Ente.

»Fand _es_,« antwortete die Maus ziemlich aufgebracht: »du wirst doch wohl
wissen, was _es_ bedeutet.«

»Ich weiß sehr wohl, was _es_ bedeutet, wenn _ich_ etwas finde«, sagte die
Ente: »_es_ ist gewöhnlich ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist, was
fand der Erzbischof?«

Die Maus beachtete die Frage nicht, sondern fuhr hastig fort: -- »fand
es rathsam, von Edgar Atheling begleitet, Wilhelm entgegen zu gehen und
ihm die Krone anzubieten. Wilhelms Benehmen war zuerst gemäßigt, aber
die Unverschämtheit der Normannen -- wie steht's jetzt, Liebe?« fuhr sie
fort, sich an Alice wendend.

»Noch ganz eben so naß,« sagte Alice schwermüthig; »es scheint mich gar
nicht trocken zu machen.«

»In dem Fall,« sagte der Dodo feierlich, indem er sich erhob, »stelle
ich den Antrag, daß die Versammlung sich vertage und zur unmittelbaren
Anwendung von wirksameren Mitteln schreite.«

»Sprich deutlich!« sagte der Adler. »Ich verstehe den Sinn von deinen
langen Wörtern nicht, und ich wette, du auch nicht!« Und der Adler
bückte sich, um ein Lächeln zu verbergen; einige der andern Vögel
kicherten hörbar.

»Was sich sagen wollte,« sprach der Dodo in gereiztem Tone, »war, daß
das beste Mittel uns zu trocknen ein Caucus-Rennen wäre.«

»Was ist ein Caucus-Rennen?« sagte Alice, nicht daß ihr viel daran lag
es zu wissen; aber der Dodo hatte angehalten, als ob er eine Frage
erwarte, und Niemand anders schien aufgelegt zu reden.

»Nun,« meinte der Dodo, »die beste Art, es zu erklären, ist, es zu
spielen.« (Und da ihr vielleicht das Spiel selbst einen
Winter-Nachmittag versuchen möchtet, so will ich erzählen, wie der Dodo
es anfing.)

Erst bezeichnete er die Bahn, eine Art Kreis (»es kommt nicht genau auf
die Form an,« sagte er), und dann wurde die ganze Gesellschaft hier und
da auf der Bahn aufgestellt. Es wurde kein »eins, zwei drei, fort!«
gezählt, sondern sie fingen an zu laufen wenn es ihnen einfiel, hörten
auf wie es ihnen einfiel, so daß es nicht leicht zu entscheiden war,
wann das Rennen zu Ende war. Als sie jedoch ungefähr eine halbe Stunde
gerannt und vollständig getrocknet waren, rief der Dodo plötzlich: »Das
Rennen ist aus!« und sie drängten sich um ihn, außer Athem, mit der
Frage: »Aber wer hat gewonnen?«

Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne tiefes Nachdenken beantworten,
und er saß lange mit einem Finger an die Stirn gelegt (die Stellung, in
der ihr meistens Shakespeare in seinen Bildern seht), während die
Uebrigen schweigend auf ihn warteten. Endlich sprach der Dodo: »Jeder
hat gewonnen, und Alle sollen Preise haben.«

»Aber wer soll die Preise geben?« fragte ein ganzer Chor von Stimmen.

»Versteht sich, sie!« sagte der Dodo, mit dem Finger auf Alice zeigend,
und sogleich umgab sie die ganze Gesellschaft, Alle durch einander
rufend: »Preise Preise!«

Alice wußte nicht im Geringsten, was da zu thun sei; in ihrer
Verzweiflung fuhr sie mit der Hand in die Tasche und zog eine Schachtel
Zuckerplätzchen hervor (glücklicherweise war das Salzwasser nicht hinein
gedrungen); die vertheilte sie als Preise. Sie reichten gerade herum,
eins für Jeden.

»Aber sie selbst muß auch einen Preis bekommen, wißt ihr,« sagte die
Maus.

»Versteht sich,« entgegnete der Dodo ernst. »Was hast du noch in der
Tasche?« fuhr er zu Alice gewandt fort.

»Nur einen Fingerhut,« sagte Alice traurig.

»Reiche ihn mir herüber,« versetzte der Dodo. Darauf versammelten sich
wieder Alle um sie, während der Dodo ihr den Fingerhut feierlich
überreichte, mit den Worten: »Wir bitten, Sie wollen uns gütigst mit der
Annahme dieses eleganten Fingerhutes beehren;« und als er diese kurze
Rede beendigt hatte, folgte allgemeines Beifallklatschen.

[Illustration]

Alice fand dies Alles höchst albern; aber die ganze Gesellschaft sah so
ernst aus, daß sie sich nicht zu lachen getraute, und da ihr keine
passende Antwort einfiel, verbeugte sie sich einfach und nahm den
Fingerhut ganz ehrbar in Empfang.

Nun mußten zunächst die Zuckerplätzchen verzehrt werden, was nicht wenig
Lärm und Verwirrung hervorrief; die großen Vögel nämlich beklagten sich,
daß sie nichts schmecken konnten, die kleinen aber verschluckten sich
und mußten auf den Rücken geklopft werden. Endlich war auch dies
vollbracht, und Alle setzten sich im Kreis herum und drangen in das
Mäuslein, noch etwas zu erzählen.

»Du hast mir deine Geschichte versprochen,« sagte Alice -- »und woher es
kommt, daß du K. und H. nicht leiden kannst,« fügte sie leise hinzu, um
nur das niedliche Thierchen nicht wieder böse zu machen.

»Ach,« seufzte das Mäuslein, »ihr macht euch ja aus meinem Erzählen doch
nichts; ich bin euch mit meiner Geschichte zu langschwänzig und zu
tragisch.« Dabei sah sie Alice fragend an.

»Langschwänzig! das muß wahr sein!« rief Alice und sah nun erst mit
rechter Verwunderung auf den geringelten Schwanz der Maus hinab; »aber
wie so tragisch? was trägst du denn?« Während sie noch darüber nachsann,
fing die langschwänzige Erzählung schon an, folgendergestalt:

                        Filax sprach zu
                            der Maus, die
                                    er traf
                                      in dem
                                        Haus:
                                     »Geh' mit
                                    mir vor
                                   Gericht,
                                 daß ich
                               dich
                              verklage.
                              Komm und
                               wehr' dich
                                 nicht mehr;
                                  ich muß
                                   haben ein
                                      Verhör,
                                     denn ich
                                       habe
                                    nichts
                                   zu thun
                                  schon
                                 zwei
                                Tage.«
                              Sprach die
                             Maus zum
                            Köter:
                           »Solch
                             Verhör,
                              lieber Herr,
                                 ohne
                                Richter,
                              ohne
                            Zeugen
                             thut nicht
                                  Noth.«
                                 »Ich bin
                                Zeuge,
                              ich bin
                             Richter,«
                            sprach
                             er schlau
                               und schnitt
                                Gesichter,
                                »das Verhör
                                 leite ich
                                      und
                                 verdamme
                                dich
                              zum
                                Tod!«

»Du paßt nicht auf!« sagte die Maus strenge zu Alice. »Woran denkst du?«

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Alice sehr bescheiden: »du warst bis
zur fünften Biegung gekommen, glaube ich?«

»Mit nichten!« sagte die Maus entschieden und sehr ärgerlich.

»Nichten!« rief Alice, die gern neue Bekanntschaften machte, und sah
sich neugierig überall um. »O, wo sind sie, deine Nichten? Laß mich
gehen und sie her holen!«

»Das werde ich schön bleiben lassen,« sagte die Maus, indem sie aufstand
und fortging. »Deinen Unsinn kann ich nicht mehr mit anhören!«

»Ich meinte es nicht böse!« entschuldigte sich die arme Alice. »Aber du
bist so sehr empfindlich, du!«

Das Mäuslein brummte nur als Antwort.

»Bitte, komm wieder, und erzähle deine Geschichte aus!« rief Alice ihr
nach; und die Andern wiederholten im Chor: »ja bitte!« aber das Mäuschen
schüttelte unwillig mit dem Kopfe und ging schnell fort.

»Wie schade, daß es nicht bleiben wollte!« seufzte der Papagei, sobald
es nicht mehr zu sehen war; und eine alte Unke nahm die Gelegenheit
wahr, zu ihrer Tochter zu sagen, »Ja, mein Kind! laß dir dies eine Lehre
sein, niemals _übler_ Laune zu sein!« »Halt den Mund, Mama!« sagte die
junge Unke, etwas naseweis.

»Wahrhaftig, du würdest die Geduld einer Auster erschöpfen!«

»Ich wünschte, ich hätte unsere Dinah hier, das wünschte ich!« sagte
Alice laut, ohne Jemand insbesondere anzureden. »Sie würde sie bald
zurückholen!«

»Und wer ist Dinah, wenn ich fragen darf?« sagte der Papagei.

Alice antwortete eifrig, denn sie sprach gar zu gern von ihrem Liebling:
»Dinah ist unsere Katze, und sie ist euch so geschickt im Mäusefangen,
ihr könnt's euch gar nicht denken! Und ach, hättet ihr sie nur Vögel
jagen sehen. Ich sage euch, sie frißt einen kleinen Vogel, so wie sie
ihn zu Gesicht bekommt.«

Diese Mittheilung verursachte große Aufregung in der Gesellschaft.
Einige der Vögel machten sich augenblicklich davon; eine alte Elster
fing an, sich sorgfältig einzuwickeln, indem sie bemerkte: »Ich muß
wirklich nach Hause gehen; die Nachtluft ist nicht gut für meinen Hals!«
und ein Canarienvogel piepte zitternd zu seinen Kleinen, »Kommt fort,
Kinder! es ist die höchste Zeit für euch, zu Bett zu gehen!« Unter
verschiedenen Entschuldigungen entfernten sie sich Alle, und Alice war
bald ganz allein.

»Hätte ich nur Dinah nicht erwähnt!« sprach sie bei sich mit betrübtem
Tone. »Niemand scheint sie gern zu haben, hier unten, und dabei ist sie
doch die beste Katze von der Welt! Oh, meine liebe Dinah! ob ich dich
wohl je wieder sehen werde!« dabei fing die arme Alice von Neuem zu
weinen an, denn sie fühlte sich gar zu einsam und muthlos. Nach einem
Weilchen jedoch hörte sie wieder ein Trappeln von Schritten in der
Entfernung und blickte aufmerksam hin, halb in der Hoffnung, daß die
Maus sich besonnen habe und zurückkomme, ihre Geschichte auszuerzählen.




Viertes Kapitel.

Die Wohnung des Kaninchens.


Es war das weiße Kaninchen, das langsam zurückgewandert kam, indem es
sorgfältig beim Gehen umhersah, als ob es etwas verloren hätte, und sie
hörte wie es für sich murmelte: »die Herzogin! die Herzogin! Oh, meine
weichen Pfoten! o mein Fell und Knebelbart! Sie wird mich hängen lassen,
so gewiß Frettchen Frettchen sind! Wo ich sie kann haben fallen lassen,
begreife ich nicht!« Alice errieth augenblicklich, daß es den Fächer und
die weißen Glaceehandschuhe meinte, und gutmüthig genug fing sie an,
danach umher zu suchen, aber sie waren nirgends zu sehen -- Alles schien
seit ihrem Bade in dem Pfuhl verwandelt zu sein, und der große Corridor
mit dem Glastische und der kleinen Thür war gänzlich verschwunden.

Das Kaninchen erblickte Alice bald, und wie sie überall suchte, rief es
ihr ärgerlich zu: »Was, Marianne, was hast du hier zu schaffen? Renne
augenblicklich nach Hause, und hole mir ein Paar Handschuhe und einen
Fächer! Schnell, vorwärts!« Alice war so erschrocken, daß sie schnell in
der angedeuteten Richtung fortlief, ohne ihm zu erklären, daß es sich
versehen habe.

»Es hält mich für sein Hausmädchen,« sprach sie bei sich selbst und lief
weiter. »Wie es sich wundern wird, wenn es erfährt, wer ich bin! Aber
ich will ihm lieber seinen Fächer und seine Handschuhe bringen
-- nämlich, wenn ich sie finden kann.« Wie sie so sprach, kam sie an ein
nettes kleines Haus, an dessen Thür ein glänzendes Messingschild war mit
dem Namen »W. _Kaninchen_« darauf. Sie ging hinein ohne anzuklopfen, lief
die Treppe hinauf, in großer Angst, der wirklichen Marianne zu begegnen
und zum Hause hinausgewiesen zu werden, ehe sie den Fächer und die
Handschuhe gefunden hätte.

»Wie komisch es ist,« sagte Alice bei sich, »Besorgungen für ein
Kaninchen zu machen! Vermuthlich wird mir Dinah nächstens Aufträge
geben!« Und sie dachte sich schon aus, wie es Alles kommen würde:

»Fräulein Alice! Kommen Sie gleich, es ist Zeit zum Ausgehen für Sie!«
»Gleich Kinderfrau! aber ich muß dieses Mäuseloch hier bewachen bis
Dinah wiederkommt, und aufpassen, daß die Maus nicht herauskommt.« »Nur
würde Dinah,« dachte Alice weiter, »gewiß nicht im Hause bleiben dürfen,
wenn sie anfinge, die Leute so zu commandiren.«

Mittlerweile war sie in ein sauberes kleines Zimmer gelangt, mit einem
Tisch vor dem Fenster und darauf (wie sie gehofft hatte) ein Fächer und
zwei oder drei Paar winziger weißer Glaceehandschuhe; sie nahm den
Fächer und ein Paar Handschuhe und wollte eben das Zimmer verlassen, als
ihr Blick auf ein Fläschchen fiel, das bei dem Spiegel stand. Diesmal
war kein Zettel mit den Worten: »_Trink mich_« darauf, aber trotzdem zog
sie den Pfropfen heraus und setzte es an die Lippen. »Ich weiß, _etwas_
Merkwürdiges muß geschehen, sobald ich esse oder trinke; drum will ich
versuchen, was dies Fläschchen thut. Ich hoffe, es wird mich wieder
größer machen; denn es ist mir sehr langweilig, solch winzig kleines
Ding zu sein!«

Richtig, und zwar schneller, als sie erwartete: ehe sie das Fläschchen
halb ausgetrunken hatte fühlte sie, wie ihr Kopf an die Decke stieß,
und mußte sich rasch bücken, um sich nicht den Hals zu brechen. Sie
stellte die Flasche hin, indem sie zu sich sagte: »Das ist ganz genug --
ich hoffe, ich werde nicht weiter wachsen -- ich kann so schon nicht zur
Thüre hinaus -- hätte ich nur nicht so viel getrunken!«

[Illustration]

O weh! es war zu spät, dies zu wünschen. Sie wuchs und wuchs, und mußte
sehr bald auf den Fußboden niederknien; den nächsten Augenblick war
selbst dazu nicht Platz genug, sie legte sich nun hin, mit einem
Ellbogen gegen die Thür gestemmt und den andern Arm unter dem Kopfe.
Immer noch wuchs sie, und als letzte Hülfsquelle streckte sie einen Arm
zum Fenster hinaus und einen Fuß in den Kamin hinauf, und sprach zu sich
selbst: »Nun kann ich nicht mehr thun, was auch geschehen mag. Was _wird_
nur aus mir werden?«

Zum Glück für Alice hatte das Zauberfläschchen nun seine volle Wirkung
gehabt, und sie wuchs nicht weiter. Aber es war sehr unbequem, und da
durchaus keine Aussicht war, daß sie je wieder aus dem Zimmer hinaus
komme, so war sie natürlich sehr unglücklich.

»Es war viel besser zu Hause,« dachte die arme Alice, »wo man nicht
fortwährend größer und kleiner wurde, und sich nicht von Mäusen und
Kaninchen commandiren zu lassen brauchte. Ich wünschte fast, ich wäre
nicht in den Kaninchenbau hineingelaufen -- aber -- aber, es ist doch
komisch, diese Art Leben! Ich möchte wohl wissen, _was_ eigentlich mit mir
vorgegangen ist! Wenn ich Märchen gelesen habe, habe ich immer gedacht,
so etwas käme nie vor, nun bin ich mitten drin in einem! Es sollte ein
Buch von mir geschrieben werden, und wenn ich groß bin, will ich eins
schreiben -- aber ich bin ja jetzt groß,« sprach sie betrübt weiter,
»wenigstens _hier_ habe ich keinen Platz übrig, noch größer zu werden.«

»Aber,« dachte Alice, »werde ich denn nie älter werden, als ich jetzt
bin? das ist ein Trost -- nie eine alte Frau zu sein -- aber dann --
immer Aufgaben zu lernen zu haben! Oh, _das_ möchte ich nicht gern!«

»O, du einfältige Alice,« schalt sie sich selbst. »Wie kannst du hier
Aufgaben lernen? Sieh doch, es ist kaum Platz genug für dich, viel
weniger für irgend ein Schulbuch!«

Und so redete sie fort; erst als eine Person, dann die andere, und hatte
so eine lange Unterhaltung mit sich selbst; aber nach einigen Minuten
hörte sie draußen eine Stimme und schwieg still, um zu horchen.

»Marianne! Marianne!« sagte die Stimme, »hole mir gleich meine
Handschuhe!« dann kam ein Trappeln von kleinen Füßen die Treppe herauf.
Alice wußte, daß es das Kaninchen war, das sie suchte, und sie zitterte
so sehr, daß sie das ganze Haus erschütterte; sie hatte ganz vergessen,
daß sie jetzt wohl tausend Mal so groß wie das Kaninchen war und keine
Ursache hatte, sich vor ihm zu fürchten.

Jetzt kam das Kaninchen an die Thür und wollte sie aufmachen; da aber
die Thür nach innen aufging und Alice's Ellbogen fest dagegen gestemmt
war, so war es ein vergeblicher Versuch. Alice hörte, wie es zu sich
selbst sprach: »dann werde ich herum gehen und zum Fenster
hineinsteigen.«

[Illustration]

»Das wirst du nicht thun,« dachte Alice, und nachdem sie gewartet hatte,
bis sie das Kaninchen dicht unter dem Fenster zu hören glaubte, streckte
sie mit einem Male ihre Hand aus und griff in die Luft. Sie faßte zwar
nichts, hörte aber einen schwachen Schrei und einen Fall, dann das
Geklirr von zerbrochenem Glase, woraus sie schloß, daß es wahrscheinlich
in ein Gurkenbeet gefallen sei, oder etwas dergleichen.

Demnächst kam eine ärgerliche Stimme -- die des Kaninchens -- »Pat! Pat!
wo bist du?« und dann eine Stimme, die sie noch nicht gehört hatte: »Wo
soll ich sind? ich bin hier! grabe Aepfel aus, Euer Jnaden!«

»Aepfel ausgraben? so!« sagte das Kaninchen ärgerlich. »Hier! komm und
hilf mir heraus!« (Noch mehr Geklirr von Glasscherben.)

»Nun sage mir, Pat, was ist das da oben im Fenster?«

»Wat soll's sind? 's is en Arm, Euer Jnaden!« (Er sprach es »Arrum«
aus.)

»Ein Arm, du Esel! Wer hat je einen so großen Arm gesehen? er nimmt ja
das ganze Fenster ein!«

»Zu dienen, des thut er, Euer Jnaden; aber en Arm is es, und en Arm
bleebt es.«

»Jedenfalls hat er da nichts zu suchen: geh' und schaffe ihn fort!«

Darauf folgte eine lange Pause, während welcher Alice sie nur einzelne
Worte flüstern hörte, wie: »Zu dienen, des scheint mer nich, Euer
Jnaden, jar nich, jar nich!« »Thu', was ich dir sage, feige Memme!«
zuletzt streckte sie die Hand wieder aus und that einen Griff in die
Luft. Diesmal hörte sie ein leises Wimmern und noch mehr Geklirr von
Glasscherben. »Wie viel Gurkenbeete da sein müssen!« dachte Alice. »Mich
soll doch wundern, was sie nun thun werden! Mich zum Fenster hinaus
ziehen? ja, wenn sie das nur könnten! Ich bliebe wahrlich nicht gern
länger hier!«

Sie wartete eine Zeit lang, ohne etwas zu hören; endlich kam ein Rollen
von kleinen Leiterwagen, und ein Lärm von einer Menge Stimmen, alle
durcheinander; sie verstand die Worte: »Wo ist die andere Leiter? -- Ich
sollte ja nur eine bringen; Wabbel hat die andere -- Wabbel, bringe sie
her, Junge! -- Lehnt sie hier gegen diese Ecke -- Nein, sie müssen erst
zusammengebunden werden -- sie reichen nicht halb hinauf -- Ach, was
werden sie nicht reichen: seid nicht so umständlich -- Hier, Wabbel!
fange den Strick -- Wird das Dach auch tragen? -- Nimm dich mit dem losen
Schiefer in Acht -- oh, da fällt er! Köpfe weg!« (ein lautes Krachen) --
»Wessen Schuld war das? -- Wabbel's, glaube ich -- Wer soll in den
Schornstein steigen? -- Ich nicht, so viel weiß ich! Ihr aber doch,
nicht wahr? -- Nicht ich, meiner Treu! -- Wabbel kann hineinsteigen --
Hier, Wabbel! der Herr sagt, du sollst in den Schornstein steigen!«

»So, also Wabbel soll durch den Schornstein hereinkommen, wirklich?«
sagte Alice zu sich selbst. »Sie scheinen mir Alles auf Wabbel zu
schieben: ich möchte um Alles nicht an Wabbel's Stelle sein; der Kamin
ist freilich eng, aber etwas werde ich doch wohl mit dem Fuße
ausschlagen können!«

[Illustration]

Sie zog ihren Fuß so weit herunter, wie sie konnte, und wartete, bis sie
ein kleines Thier (sie konnte nicht rathen, was für eine Art es sei) in
dem Schornstein kratzen und klettern hörte; als es dicht über ihr war,
sprach sie bei sich: »Dies ist Wabbel,« gab einen kräftigen Stoß in die
Höhe, und wartete dann der Dinge, die da kommen würden.

Zuerst hörte sie einen allgemeinen Chor: »Da fliegt Wabbel!« dann die
Stimme des Kaninchens allein: -- »Fangt ihn auf, ihr da bei der Hecke!«
darauf Stillschweigen, dann wieder verworrene Stimmen: -- »Haltet ihm
den Kopf -- etwas Branntwein -- Ersticke ihn doch nicht -- Wie geht's,
alter Kerl? Was ist dir denn geschehen? erzähle uns Alles!«

Zuletzt kam eine kleine schwache, quiekende Stimme (»das ist Wabbel,«
dachte Alice): »Ich weiß es ja selbst nicht -- Keinen mehr, danke! Ich
bin schon viel besser -- aber ich bin viel zu aufgeregt, um euch zu
erzählen -- Ich weiß nur, da kommt ein Ding in die Höhe, wie'n
Dosen-Stehauf, und auf fliege ich wie 'ne Rackete!«

»Ja, das hast du gethan, alter Kerl!« sagten die Andern.

»Wir müssen das Haus niederbrennen!« rief das Kaninchen; da schrie Alice
so laut sie konnte: »Wenn ihr das thut, werde ich Dinah über euch
schicken!«

Sogleich entstand tiefes Schweigen, und Alice dachte bei sich: »_Was_ sie
wohl jetzt thun werden? Wenn sie Menschenverstand hätten, würden sie das
Dach abreißen.« Nach einer oder zwei Minuten fingen sie wieder an sich
zu rühren, und Alice hörte das Kaninchen sagen: »Eine Karre voll ist vor
der Hand genug.«

»Eine Karre voll was?« dachte Alice; doch blieb sie nicht lange im
Zweifel, denn den nächsten Augenblick kam ein Schauer von kleinen
Kieseln zum Fenster herein geflogen, von denen ein Paar sie gerade in's
Gesicht trafen. »Dem will ich ein Ende machen,« sagte sie bei sich und
schrie hinaus: »Das laßt mir gefälligst bleiben!« worauf wieder tiefe
Stille erfolgte.

Alice bemerkte mit einigem Erstaunen, daß die Kiesel sich alle in kleine
Kuchen verwandelten, als sie auf dem Boden lagen, und dies brachte sie
auf einen glänzenden Gedanken. »Wenn ich einen von diesen Kuchen esse,«
dachte sie, »wird es gewiß meine Größe verändern; und da ich unmöglich
noch mehr wachsen kann, so wird es mich wohl kleiner machen, vermuthe
ich.«

Sie schluckte demnach einen kleinen Kuchen herunter, und merkte zu ihrem
Entzücken, daß sie sogleich abnahm. Sobald sie klein genug war, um durch
die Thür zu gehen, rannte sie zum Hause hinaus, und fand einen
förmlichen Auflauf von kleinen Thieren und Vögeln davor. Die arme kleine
Eidechse, Wabbel, war in der Mitte, von zwei Meerschweinchen
unterstützt, die ihm etwas aus einer Flasche gaben. Es war ein
allgemeiner Sturm auf Alice, sobald sie sich zeigte; sie lief aber so
schnell sie konnte davon, und kam sicher in ein dichtes Gebüsch.

»Das Nöthigste, was ich nun zu thun habe,« sprach Alice bei sich, wie
sie in dem Wäldchen umher wanderte, »ist, meine richtige Größe zu
erlangen; und das Zweite, den Weg zu dem wunderhübschen Garten zu
finden. Ja, das wird der beste Plan sein.«

Es klang freilich wie ein vortrefflicher Plan, und recht nett und
einfach ausgedacht; die einzige Schwierigkeit war, daß sie nicht den
geringsten Begriff hatte, wie sie ihn ausführen sollte; und während sie
so ängstlich zwischen den Bäumen umherguckte, hörte sie plötzlich ein
scharfes feines Bellen gerade über ihrem Kopfe und sah eilig auf.

Ein ungeheuer großer junger Hund sah mit seinen hervorstehenden runden
Augen auf sie herab und machte einen schwachen Versuch, eine Pfote
auszustrecken und sie zu berühren. »Armes kleines Ding!« sagte Alice in
liebkosendem Tone, und sie gab sich alle Mühe, ihm zu pfeifen; dabei
hatte sie aber große Angst, ob er auch nicht hungrig wäre, denn dann
würde er sie wahrscheinlich auffressen trotz allen Liebkosungen.

[Illustration]

Ohne recht zu wissen was sie that, nahm sie ein Stäbchen auf und hielt
es ihm hin; worauf das ungeschickte Thierchen mit allen vier Füßen
zugleich in die Höhe sprang, vor Entzücken laut aufbellte, auf das
Stäbchen losrannte und that, als wolle es es zerreißen; da wich Alice
ihm aus hinter eine große Distel, um nicht zertreten zu werden; und so
wie sie auf der andern Seite hervorkam, lief der junge Hund wieder auf
das Stäbchen los und fiel kopfüber in seiner Eile, es zu fangen. Alice,
der es vorkam, als wenn Jemand mit einem Fuhrmannspferde Zeck spielt,
und die jeden Augenblick fürchtete, unter seine Füße zu gerathen, lief
wieder hinter die Distel; da machte der junge Hund eine Reihe von kurzen
Anläufen auf das Stäbchen, wobei er jedes Mal ein klein wenig vorwärts
und ein gutes Stück zurück rannte und sich heiser bellte, bis er sich
zuletzt mit zum Munde heraushängender Zunge und halb geschlossenen
Augen, ganz außer Athem hinsetzte.

Dies schien Alice eine gute Gelegenheit zu sein, fortzukommen; sie
machte sich also gleich davon, und rannte bis sie ganz müde war und
keine Luft mehr hatte, und bis das Bellen nur noch ganz schwach in der
Ferne zu hören war.

»Und doch war es ein lieber kleiner Hund!« sagte Alice, indem sie sich
an eine Butterblume lehnte um auszuruhen, und sich mit einem der Blätter
fächelte. »Ich hätte ihn gern Kunststücke gelehrt, wenn -- wenn ich nur
groß genug dazu gewesen wäre! O ja! das hätte ich beinah vergessen, ich
muß ja machen, daß ich wieder wachse! Laß sehen -- wie fängt man es doch
an? Ich dächte, ich sollte irgend etwas essen oder trinken; aber die
Frage ist, was?«

Das war in der That die Frage. Alice blickte um sich nach allen Blumen
und Grashalmen; aber gar nichts sah aus, als ob es das Rechte sei, das
sie unter den Umständen essen oder trinken müsse. In der Nähe wuchs ein
großer Pilz, ungefähr so hoch wie sie; nachdem sie ihn sich von unten,
von beiden Seiten, rückwärts und vorwärts betrachtet hatte, kam es ihr
in den Sinn zu sehen, was oben darauf sei. Sie stellte sich also auf die
Fußspitzen und guckte über den Rand des Pilzes, und sogleich begegnete
ihr Blick dem einer großen blauen Raupe, die mit kreuzweise gelegten
Armen da saß und ruhig aus einer großen Huhka rauchte, ohne die
geringste Notiz von ihr noch sonst irgend Etwas zu nehmen.




[Illustration]




Fünftes Kapitel.

Guter Rath von einer Raupe.


Die Raupe und Alice sahen sich eine Zeit lang schweigend an; endlich
nahm die Raupe die Huhka aus dem Munde und redete sie mit schmachtender,
langsamer Stimme an. »Wer bist du?« fragte die Raupe.

Das war kein sehr ermuthigender Anfang einer Unterhaltung. Alice
antwortete, etwas befangen: »Ich -- ich weiß nicht recht, diesen
Augenblick -- vielmehr ich weiß, wer ich heut früh war, als ich
aufstand; aber ich glaube, ich muß seitdem ein paar Mal verwechselt
worden sein.«

»Was meinst du damit?« sagte die Raupe strenge. »Erkläre dich
deutlicher!«

»Ich kann mich nicht deutlicher erklären, fürchte ich, Raupe,« sagte
Alice, »weil ich nicht ich bin, sehen Sie wohl?«

»Ich sehe nicht wohl,« sagte die Raupe.

»Ich kann es wirklich nicht besser ausdrücken,« erwiederte Alice sehr
höflich, »denn ich kann es selbst nicht begreifen; und wenn man an einem
Tage so oft klein und groß wird, wird man ganz verwirrt.«

»Nein, das wird man nicht,« sagte die Raupe.

»Vielleicht haben Sie es noch nicht versucht,« sagte Alice, »aber wenn
Sie sich in eine Puppe verwandeln werden, das müssen Sie über kurz oder
lang wie Sie wissen -- und dann in einen Schmetterling, das wird sich
doch komisch anfühlen, nicht wahr?«

»Durchaus nicht,« sagte die Raupe.

»Sie fühlen wahrscheinlich anders darin,« sagte Alice; »so viel weiß
ich, daß es mir sehr komisch sein würde.«

»Dir!« sagte die Raupe verächtlich. »Wer bist _du_ denn?«

Was sie wieder auf den Anfang der Unterhaltung zurückbrachte. Alice war
etwas ärgerlich, daß die Raupe so sehr kurz angebunden war; sie warf den
Kopf in die Höhe und sprach sehr ernst: »Ich dächte, Sie sollten mir
erst sagen, wer _Sie_ sind?«

»Weshalb?« fragte die Raupe.

Das war wieder eine schwierige Frage; und da sich Alice auf keinen guten
Grund besinnen konnte und die Raupe _sehr_ schlechter Laune zu sein
schien, so ging sie ihrer Wege.

»Komm zurück!« rief ihr die Raupe nach, »ich habe dir etwas Wichtiges zu
sagen!«

Das klang sehr einladend; Alice kehrte wieder um und kam zu ihr zurück.

»Sei nicht empfindlich,« sagte die Raupe.

»Ist das Alles?« fragte Alice, ihren Aerger so gut sie konnte
verbergend.

»Nein,« sagte die Raupe.

Alice dachte, sie wollte doch warten, da sie sonst nichts zu thun habe,
und vielleicht würde sie ihr etwas sagen, das der Mühe werth sei. Einige
Minuten lang rauchte die Raupe fort ohne zu reden; aber zuletzt nahm sie
die Huhka wieder aus dem Munde und sprach: »Du glaubst also, du bist
verwandelt?«

»Ich fürchte es fast, Raupe,« sagte Alice, »ich kann Sachen nicht
behalten wie sonst, und ich werde alle zehn Minuten größer oder
kleiner!«

»Kannst _welche_ Sachen nicht behalten?« fragte die Raupe.

»Ach, ich habe versucht zu sagen: Bei einem Wirthe &c.; aber es kam ganz
anders!« antwortete Alice in niedergeschlagenem Tone.

»Sage her: Ihr seid alt, Vater Martin,« sagte die Raupe.

Alice faltete die Hände und fing an: --

[Illustration]

    »Ihr seid alt, Vater Martin,« so sprach Junker Tropf,
    »Euer Haar ist schon lange ganz weiß;
    Doch steht ihr so gerne noch auf dem Kopf.
    Macht Euch denn das nicht zu heiß?«

    »Als ich jung war,« der Vater zur Antwort gab,
    »Da glaubt' ich, für's Hirn sei's nicht gut;
    Doch seit ich entdeckt, daß ich gar keines hab'
    So thu' ich's mit fröhlichem Muth.«

[Illustration]

    »Ihr seid alt,« sprach der Sohn, »wie vorhin schon gesagt,
    Und geworden ein gar dicker Mann;
    Drum sprecht, wie ihr rücklings den Purzelbaum schlagt.
    Potz tausend! wie fangt ihr's nur an?«

    »Als ich jung war,« der Alte mit Kopfschütteln sagt',
    »Da rieb ich die Glieder mir ein
    Mit der Salbe hier, die sie geschmeidig macht.
    Für zwei Groschen Courant ist sie dein.«

[Illustration]

    »Ihr seid alt,« sprach der Bub', »und könnt nicht recht kau'n,
    Und solltet euch nehmen in Acht;
    Doch aßt ihr die Ganz mit Schnabel und Klau'n;
    Wie habt ihr das nur gemacht?«

    »Ich war früher Jurist und hab' viel disputirt,
    Besonders mit meiner Frau;
    Das hat so mir die Kinnbacken einexercirt,
    Daß ich jetzt noch mit Leichtigkeit kau!«

[Illustration]

    »Ihr seid alt,« sagte der Sohn, »und habt nicht viel Witz,
    Und doch seid ihr so geschickt;
    Balancirt einen Aal auf der Nasenspitz'!
    Wie ist euch das nur geglückt?«

    »Drei Antworten hast du, und damit genug,
    Nun laß mich kein Wort mehr hören;
    Du Guck in die Welt thust so überklug,
    Ich werde dich Mores lehren!«

»Das ist nicht richtig,« sagte die Raupe.

»Nicht ganz richtig, glaube ich,« sagte Alice schüchtern; »manche Wörter
sind anders gekommen.«

»Es ist von Anfang bis zu Ende falsch,« sagte die Raupe mit
Entschiedenheit, worauf eine Pause von einigen Minuten eintrat.

Die Raupe sprach zuerst wieder.

»Wie groß möchtest du gern sein?« fragte sie.

»Oh, es kommt nicht so genau darauf an,« erwiederte Alice schnell; »nur
das viele Wechseln ist nicht angenehm, nicht wahr?«

»Nein, es ist nicht wahr!« sagte die Raupe.

Alice antwortete nichts; es war ihr im Leben nicht so viel widersprochen
worden, und sie fühlte, daß sie wieder anfing, empfindlich zu werden.

»Bist du jetzt zufrieden?« sagte die Raupe.

»Etwas größer, Frau Raupe, wäre ich gern, wenn ich bitten darf,« sagte
Alice; »drei und einen halben Zoll ist gar zu winzig.«

»Es ist eine sehr angenehme Größe, finde ich,« sagte die Raupe zornig
und richtete sich dabei in die Höhe (sie war gerade drei Zoll hoch).

»Aber ich bin nicht daran gewöhnt!« vertheidigte sich die arme Alice in
weinerlichem Tone. Bei sich dachte sie: »Ich wünschte, alle diese
Geschöpfe nähmen nicht Alles gleich übel.«

»Dur wirst es mit der Zeit gewohnt werden,« sagte die Raupe, steckte
ihre Huhka in den Mund und fing wieder an zu rauchen.

Diesmal wartete Alice geduldig, bis es ihr gefällig wäre zu reden. Nach
zwei oder drei Minuten nahm die Raupe die Huhka aus dem Munde, gähnte
ein bis zwei Mal und schüttelte sich. Dann kam sie von dem Pilze
herunter, kroch in's Gras hinein und bemerkte blos bei'm Weggehen: »Die
eine Seite macht dich größer, die andere Seite macht dich kleiner.«

»Eine Seite wovon? die andere Seite wovon?« dachte Alice bei sich.

»Von dem Pilz,« sagte die Raupe, gerade als wenn sie laut gefragt hätte;
und den nächsten Augenblick war sie nicht mehr zu sehen.

Alice blieb ein Weilchen gedankenvoll vor dem Pilze stehen, um ausfindig
zu machen, welches seine beiden Seiten seien; und da er vollkommen rund
war, so fand sie die Frage schwierig zu beantworten. Zuletzt aber
reichte sie mit beiden Armen, so weit sie herum konnte, und brach mit
jeder Hand etwas vom Rande ab.

»Nun aber, welches ist das rechte?« sprach sie zu sich, und biß ein
wenig von dem Stück in ihrer rechten Hand ab, um die Wirkung
auszuprobiren; den nächsten Augenblick fühlte sie einen heftigen Schmerz
am Kinn, es hatte an ihren Fuß angestoßen!

Ueber diese plötzliche Verwandlung war sie sehr erschrocken, aber da war
keine Zeit zu verlieren, da sie sehr schnell kleiner wurde; sie machte
sich also gleich daran, etwas von dem andern Stück zu essen. Ihr Kinn
war so dicht an ihren Fuß gedrückt, daß ihr kaum Platz genug blieb, den
Mund aufzumachen; endlich aber gelang es ihr, ein wenig von dem Stück in
ihrer linken Hand herunter zu schlucken.

       *       *       *       *       *

»Ah! endlich ist mein Kopf frei!« rief Alice mit Entzücken, das sich
jedoch den nächsten Augenblick in Angst verwandelte, da sie merkte, daß
ihre Schultern nirgends zu finden waren: als sie hinunter sah, konnte
sie weiter nichts erblicken, als einen ungeheuer langen Hals, der sich
wie eine Stange aus einem Meer von grünen Blättern erhob, das unter ihr
lag.

»Was mag all das grüne Zeug sein?« sagte Alice. »Und wo sind meine
Schultern nur hingekommen? Und ach, meine armen Hände, wie geht es zu,
daß ich euch nicht sehen kann?« Sie griff bei diesen Worten um sich,
aber es erfolgte weiter nichts, als eine kleine Bewegung in den
entfernten grünen Blättern.

Da es ihr nicht gelang, die Hände zu ihrem Kopfe zu erheben, so
versuchte sie, den Kopf zu ihnen hinunter zu bücken, und fand zu ihrem
Entzücken, daß sie ihren Hals in allen Richtungen biegen und wenden
konnte, wie eine Schlange. Sie hatte ihn gerade in ein malerisches
Zickzack gewunden und wollte eben in das Blättermeer hinunter tauchen,
das, wie sie sah, durch die Gipfel der Bäume gebildet wurde, unter denen
sie noch eben herumgewandert war, als ein lautes Rauschen sie plötzlich
zurückschreckte: eine große Taube kam ihr in's Gesicht geflogen und
schlug sie heftig mit den Flügeln.

»Schlange!« kreischte die Taube.

»Ich bin _keine_ Schlange!« sagte Alice mit Entrüstung. »Laß mich in
Ruhe!«

»Schlange sage ich!« wiederholte die Taube, aber mit gedämpfter Stimme,
und fuhr schluchzend fort: »Alles habe ich versucht, und nichts ist
ihnen genehm!«

»Ich weiß gar nicht, wovon du redest,« sagte Alice.

»Baumwurzeln habe ich versucht, Flußufer habe ich versucht, Hecken habe
ich versucht,« sprach die Taube weiter, ohne auf sie zu achten; »aber
diese Schlangen! Nichts ist ihnen recht!«

Alice verstand immer weniger; aber sie dachte, es sei unnütz etwas zu
sagen, bis die Taube fertig wäre.

»Als ob es nicht Mühe genug wäre, die Eier auszubrüten,« sagte die
Taube, »da muß ich noch Tag und Nacht den Schlangen aufpassen! Kein Auge
habe ich die letzten drei Wochen zugethan!«

»Es thut mir sehr leid, daß du so viel Verdruß gehabt hast,« sagte
Alice, die zu verstehen anfing, was sie meinte.

»Und gerade da ich mir den höchsten Baum im Walde ausgesucht habe,« fuhr
die Taube mit erhobener Stimme fort, »und gerade da ich dachte, ich wäre
sie endlich los, müssen sie sich sogar noch vom Himmel herunterwinden!
Pfui! Schlange!«

»Aber ich bin _keine_ Schlange, sage ich dir!« rief Alice, »ich bin ein --
ich bin ein --«

»Nun, was bist du denn?« fragte die Taube. »Ich merke wohl, daß du dir
etwas ausdenken willst!«

»Ich -- ich bin ein kleines Mädchen,« sagte Alice etwas unsicher, da sie
an die vielfachen Verwandlungen dachte, die sie den Tag über schon
durchgemacht hatte.

»Eine schöne Ausrede, wahrhaftig!« sagte die Taube im Tone tiefster
Verachtung. »Ich habe mein Lebtag genug kleine Mädchen gesehen, aber nie
eine mit solch einem Hals! Nein, nein! du bist eine Schlange! das kannst
du nicht abläugnen. Du wirst am Ende noch behaupten, daß du nie ein Ei
gegessen hast.«

»Ich _habe_ Eier gegessen, freilich,« sagte Alice, die ein sehr
wahrheitsliebendes Kind war; »aber kleine Mädchen essen Eier eben so gut
wie Schlangen.«

»Das glaube ich nicht,« sagte die Taube; »wenn sie es aber thun, nun
dann sind sie eine Art Schlangen, so viel weiß ich.«

Das war etwas so Neues für Alice, daß sie ein Paar Minuten ganz still
schwieg; die Taube benutzte die Gelegenheit und fuhr fort: »Du suchst
Eier, das weiß ich nur zu gut, und was kümmert es mich, ob du ein
kleines Mädchen oder eine Schlange bist?«

»Aber _mich_ kümmert es sehr,« sagte Alice schnell; »übrigens suche ich
zufällig nicht Eier, und wenn ich es thäte, so würde ich deine nicht
brauchen können; ich esse sie nicht gern roh.«

»Dann mach', daß du fortkommst!« sagte die Taube verdrießlich, indem sie
sich in ihrem Nest wieder zurecht setzte. Alice duckte sich unter die
Bäume so gut sie konnte; denn ihr Hals verwickelte sich fortwährend in
die Zweige, und mehre Male mußte sie anhalten und ihn losmachen. Nach
einer Weile fiel es ihr wieder ein, daß sie noch die Stückchen Pilz in
den Händen hatte, und sie machte sich sorgfältig daran, knabberte bald
an dem einen, bald an dem andern, und wurde abwechselnd größer und
kleiner, bis es ihr zuletzt gelang, ihre gewöhnliche Größe zu bekommen.

Es war so lange her, daß sie auch nur ungefähr ihre richtige Höhe gehabt
hatte, daß es ihr erst ganz komisch vorkam; aber nach einigen Minuten
hatte sie sich daran gewöhnt und sprach mit sich selbst wie gewöhnlich.
»Schön, nun ist mein Plan halb ausgeführt! Wie verwirrt man von dem
vielen Wechseln wird! Ich weiß nie, wie ich den nächsten Augenblick
sein werde! Doch jetzt habe ich meine richtige Größe: nun kommt es
darauf an, in den schönen Garten zu gelangen -- wie _kann_ ich das
anstellen? das möchte ich wissen!« Wie sie dies sagte, kam sie in eine
Lichtung mit einem Häuschen in der Mitte, ungefähr vier Fuß hoch. »Wer
auch darin wohnen mag, es geht nicht an, daß ich so groß wie ich jetzt
bin hineingehe: sie würden vor Angst nicht wissen wohin!« Also knabberte
sie wieder an dem Stückchen in der rechten Hand, und wagte sich nicht an
das Häuschen heran, bis sie sich auf neun Zoll herunter gebracht hatte.




Sechstes Kapitel.

Ferkel und Pfeffer.


Noch ein bis zwei Augenblicke stand sie und sah das Häuschen an, ohne
recht zu wissen was sie nun thun solle, als plötzlich ein Lackei in
Livree vom Walde her gelaufen kam -- (sie hielt ihn für einen Lackeien,
weil er Livree trug, sonst, nach seinem Gesichte zu urtheilen, würde sie
ihn für einen Fisch angesehen haben) -- und mit den Knöcheln laut an die
Thür klopfte. Sie wurde von einem andern Lackeien in Livree geöffnet,
der ein rundes Gesicht und große Augen wie ein Frosch hatte, und beide
Lackeien hatten, wie Alice bemerkte, gepuderte Lockenperücken über den
ganzen Kopf. Sie war sehr neugierig, was nun geschehen würde, und
schlich sich etwas näher, um zuzuhören.

[Illustration]

Der Fisch-Lackei fing damit an, einen ungeheuren Brief, beinah so groß
wie er selbst, unter dem Arme hervorzuziehen; diesen überreichte er dem
anderen, in feierlichem Tone sprechend: »Für die Herzogin. Eine
Einladung von der Königin, Croquet zu spielen.« Der Frosch-Lackei
erwiederte in demselben feierlichen Tone, indem er nur die
Aufeinanderfolge der Wörter etwas veränderte: »Von der Königin. Eine
Einladung für die Herzogin, Croquet zu spielen.«

Dann verbeugten sich Beide tief, und ihre Locken verwickelten sich in
einander.

Darüber lachte Alice so laut, daß sie in das Gebüsch zurücklaufen mußte,
aus Furcht, sie möchten sie hören, und als sie wieder herausguckte, war
der Fisch-Lackei fort, und der andere saß auf dem Boden bei der Thür und
sah dumm in den Himmel hinauf.

Alice ging furchtsam auf die Thür zu und klopfte.

»Es ist durchaus unnütz, zu klopfen,« sagte der Lackei, »und das wegen
zweier Gründe. Erstens weil ich an derselben Seite von der Thür bin wie
du, zweitens, weil sie drinnen einen solchen Lärm machen, daß man dich
unmöglich hören kann.« Und wirklich war ein ganz merkwürdiger Lärm
drinnen, ein fortwährendes Heulen und Niesen, und von Zeit zu Zeit ein
lautes Krachen, als ob eine Schüssel oder ein Kessel zerbrochen wäre.

»Bitte,« sagte Alice, »wie soll ich denn hineinkommen?«

»Es wäre etwas Sinn und Verstand darin, anzuklopfen,« fuhr der Lackei
fort, ohne auf sie zu hören, »wenn wir die Thür zwischen uns hätten. Zum
Beispiel, wenn du drinnen wärest, könntest du klopfen, und ich könnte
dich herauslassen, nicht wahr?« Er sah die ganze Zeit über, während er
sprach, in den Himmel hinauf, was Alice entschieden sehr unhöflich fand.
»Aber vielleicht kann er nicht dafür,« sagte sie bei sich; »seine Augen
sind so hoch oben auf seiner Stirn. Aber jedenfalls könnte er mir
antworten. -- Wie soll ich denn hineinkommen?« wiederholte sie laut.

»Ich werde hier sitzen,« sagte der Lackei, »bis morgen --«

In diesem Augenblicke ging die Thür auf, und ein großer Teller kam
heraus geflogen, gerade auf den Kopf des Lackeien los; er strich aber
über seine Nase hin und brach an einem der dahinterstehenden Bäume in
Stücke.

»-- oder übermorgen, vielleicht,« sprach der Lackei in demselben Tone
fort, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Wie soll ich denn hineinkommen?« fragte Alice wieder, lauter als
vorher.

»Sollst du überhaupt hineinkommen?« sagte der Lackei. »Das ist die erste
Frage, nicht wahr?«

Das war es allerdings; nur ließ sich Alice das nicht gern sagen. »Es ist
wirklich schrecklich,« murmelte sie vor sich hin, »wie naseweis alle
diese Geschöpfe sind. Es könnte Einen ganz verdreht machen!«

Der Lackei schien dies für eine gute Gelegenheit anzusehen, seine
Bemerkung zu wiederholen, und zwar mit Variationen. »Ich werde hier
sitzen,« sagte er, »ab und an, Tage und Tage lang.«

»Was soll _ich_ aber thun?« fragte Alice.

»Was dir gefällig ist,« sagte der Lackei, und fing an zu pfeifen.

»Es hilft zu nichts, mit ihm zu reden,« sagte Alice außer sich, »er ist
vollkommen blödsinnig!« Sie klinkte die Thür auf und ging hinein.

Die Thür führte geradewegs in eine große Küche, welche von einem Ende
bis zum andern voller Rauch war; in der Mitte saß auf einem dreibeinigen
Schemel die Herzogin, mit einem Wickelkinde auf dem Schoße; die Köchin
stand über das Feuer gebückt und rührte in einer großen Kasserole, die
voll Suppe zu sein schien.

»In der Suppe ist gewiß zu viel Pfeffer!« sprach Alice für sich, so gut
sie vor Niesen konnte.

Es war wenigstens zu viel in der Luft. Sogar die Herzogin nieste hin und
wieder; was das Wickelkind anbelangt, so nieste und schrie es
abwechselnd ohne die geringste Unterbrechung. Die beiden einzigen Wesen
in der Küche, die nicht niesten, waren die Köchin und eine große Katze,
die vor dem Herde saß und grinste, sodaß die Mundwinkel bis an die Ohren
reichten.

[Illustration]

»Wollen Sie mir gütigst sagen,« fragte Alice etwas furchtsam, denn sie
wußte nicht recht, ob es sich für sie schicke zuerst zu sprechen, »warum
Ihre Katze so grinst?«

»Es ist eine Grinse-Katze,« sagte die Herzogin, »darum! Ferkel!«

Das letzte Wort sagte sie mit solcher Heftigkeit, daß Alice auffuhr;
aber den nächsten Augenblick sah sie, daß es dem Wickelkinde galt, nicht
ihr; sie faßte also Muth und redete weiter: --

»Ich wußte nicht, daß Katzen manchmal grinsen; ja ich wußte nicht, daß
Katzen überhaupt grinsen _können_.«

»Sie können es alle,« sagte die Herzogin, »und die meisten thun es.«

»Ich kenne keine, die es thut,« sagte Alice sehr höflich, da sie ganz
froh war, eine Unterhaltung angeknüpft haben.

»Du kennst noch nicht viel,« sagte die Herzogin, »und das ist die
Wahrheit.«

Alice gefiel diese Bemerkung gar nicht, und sie dachte daran, welchen
andern Gegenstand der Unterhaltung sie einführen könnte. Während sie
sich auf etwas Passendes besann, nahm die Köchin die Kasserole mit Suppe
vom Feuer und fing sogleich an, Alles was sie erreichen konnte nach der
Herzogin und dem Kinde zu werfen -- die Feuerzange kam zuerst, dann
folgte ein Hagel von Pfannen, Tellern und Schüsseln. Die Herzogin
beachtete sie gar nicht, auch wenn sie sie trafen; und das Kind heulte
schon so laut, daß es unmöglich war zu wissen, ob die Stöße ihm weh
thaten oder nicht.

»Oh, bitte, nehmen Sie sich in Acht, was Sie thun!« rief Alice, die in
wahrer Herzensangst hin und her sprang. »Oh, seine liebe kleine Nase!«
als eine besonders große Pfanne dicht daran vorbeifuhr und sie beinah
abstieß.

»Wenn Jeder nur vor seiner Thür fegen wollte,« brummte die Herzogin mit
heiserer Stimme, »würde die Welt sich bedeutend schneller drehen, als
jetzt.«

»Was kein Vortheil wäre,« sprach Alice, die sich über die Gelegenheit
freute, ihre Kenntnisse zu zeigen. »Denken Sie nur, wie es Tag und Nacht
in Unordnung bringen würde! Die Erde braucht doch jetzt vier und zwanzig
Stunden, sich um ihre Achse zu drehen --«

»Was, du redest von Axt?« sagte die Herzogin, »Hau' ihr den Kopf ab!«

Alice sah sich sehr erschrocken nach der Köchin um, ob sie den Wink
verstehen würde; aber die Köchin rührte die Suppe unverwandt und schien
nicht zuzuhören, daher fuhr sie fort: »Vier und zwanzig Stunden, glaube
ich; oder sind es zwölf? Ich --«

»Ach, laß mich in Frieden,« sagte die Herzogin, »ich habe Zahlen nie
ausstehen können!« Und damit fing sie an, ihr Kind zu warten und eine
Art Wiegenlied dazu zu singen, wovon jede Reihe mit einem derben Puffe
für das Kind endigte: --

    »Schilt deinen kleinen Jungen aus,
    Und schlag' ihn, wenn er niest;
    Er macht es gar so bunt und kraus,
    Nur weil es uns verdrießt.«

_Chor_

(in welchen die Köchin und das Wickelkind einfielen).

    »Wau! wau! wau!«

Während die Herzogin den zweiten Vers des Liedes sang, schaukelte sie
das Kind so heftig auf und nieder, und das arme kleine Ding schrie so,
daß Alice kaum die Worte verstehen konnte: --

    »Ich schelte meinen kleinen Wicht,
    Und schlag' ihn, wenn er niest;
    Ich weiß, wie gern er Pfeffer riecht,
    Wenn's ihm gefällig ist.«

_Chor._

    »Wau! wau! wau!«

»Hier! du kannst ihn ein Weilchen warten, wenn du willst!« sagte die
Herzogin zu Alice, indem sie ihr das Kind zuwarf. »Ich muß mich zurecht
machen, um mit der Königin Croquet zu spielen,« damit rannte sie aus dem
Zimmer. Die Köchin warf ihr eine Bratpfanne nach; aber sie verfehlte sie
noch eben.

Alice hatte das Kind mit Mühe und Noth aufgefangen, da es ein kleines
unförmliches Wesen war, das seine Arme und Beinchen nach allen Seiten
ausstreckte, »gerade wie ein Seestern,« dachte Alice. Das arme kleine
Ding stöhnte wie eine Locomotive, als sie es fing, und zog sich zusammen
und streckte sich wieder aus, so daß sie es die ersten Paar Minuten nur
eben halten konnte.

Sobald sie aber die rechte Art entdeckt hatte, wie man es tragen mußte
(die darin bestand, es zu einer Art Knoten zu drehen, und es dann fest
beim rechten Ohr und linken Fuß zu fassen, damit es sich nicht wieder
aufwickeln konnte), brachte sie es in's Freie. »Wenn ich dies Kind nicht
mit mir nehme,« dachte Alice, »so werden sie es in wenigen Tagen
umgebracht haben; wäre es nicht Mord, es da zu lassen?« Sie sprach die
letzten Worte laut, und das kleine Geschöpf grunzte zur Antwort (es
hatte mittlerweile aufgehört zu niesen). »Grunze nicht,« sagte Alice;
»es paßt sich gar nicht für dich, dich so auszudrücken.«

Der Junge grunzte wieder, so daß Alice ihm ganz ängstlich in's Gesicht
sah, was ihm eigentlich fehle. Er hatte ohne Zweifel eine _sehr_
hervorstehende Nase, eher eine Schnauze als eine wirkliche Nase; auch
seine Augen wurden entsetzlich klein für einen kleinen Jungen: Alles
zusammen genommen, gefiel Alice das Aussehen des Kindes gar nicht. »Aber
vielleicht hat es nur geweint,« dachte sie und sah ihm wieder in die
Augen, ob Thränen da seien.

Nein, es waren keine Thränen da. »Wenn du ein kleines Ferkel wirst, höre
mal,« sagte Alice sehr ernst, »so will ich nichts mehr mit dir zu
schaffen haben, das merke dir!« Das arme kleine Ding schluchzte (oder
grunzte, es war unmöglich, es zu unterscheiden), und dann gingen sie
eine Weile stillschweigend weiter.

Alice fing eben an, sich zu überlegen: »Nun, was soll ich mit diesem
Geschöpf anfangen, wenn ich es mit nach Hause bringe?« als es wieder
grunzte, so laut, daß Alice erschrocken nach ihm hinsah. Diesmal konnte
sie sich nicht mehr irren: es war nichts mehr oder weniger als ein
Ferkel, und sie sah, daß es höchst lächerlich für sie wäre, es noch
weiter zu tragen.

Sie setzte also das kleine Ding hin und war ganz froh, als sie es ruhig
in den Wald traben sah. »Das wäre in einigen Jahren ein furchtbar
häßliches Kind geworden; aber als Ferkel macht es sich recht nett, finde
ich.« Und so dachte sie alle Kinder durch, die sie kannte, die gute
kleine Ferkel abgeben würden, und sagte gerade für sich: »wenn man nur
die rechten Mittel wüßte, sie zu verwandeln --« als sie einen Schreck
bekam; die Grinse-Katze saß nämlich wenige Fuß von ihr auf einem
Baumzweige.

[Illustration]

Die Katze grinste nur, als sie Alice sah. »Sie sieht gutmüthig aus,«
dachte diese; aber doch hatte sie _sehr_ lange Krallen und eine Menge
Zähne. Alice fühlte wohl, daß sie sie rücksichtsvoll behandeln müsse.

»Grinse-Mies,« fing sie etwas ängstlich an, da sie nicht wußte, ob ihr
der Name gefallen würde: jedoch grinste sie noch etwas breiter. »Schön,
so weit gefällt es ihr,« dachte Alice und sprach weiter: »willst du mir
wohl sagen, wenn ich bitten darf, welchen Weg ich hier nehmen muß?«

»Das hängt zum guten Theil davon ab, wohin du gehen willst,« sagte die
Katze.

»Es kommt mir nicht darauf an, wohin --« sagte Alice.

»Dann kommt es auch nicht darauf an, welchen Weg du nimmst,« sagte die
Katze.

»-- wenn ich nur _irgendwo_ hinkomme,« fügte Alice als Erklärung hinzu.

»O, das wirst du ganz gewiß,« sagte die Katze, »wenn du nur lange genug
gehest.«

Alice sah, daß sie nichts dagegen einwenden konnte; sie versuchte daher
eine andere Frage. »Was für Art Leute wohnen hier in der Nähe?«

»In _der_ Richtung,« sagte die Katze, die rechte Pfote schwenkend, »wohnt
ein Hutmacher, und in jener Richtung,« die andere Pfote schwenkend,
»wohnt ein Faselhase. Besuche welchen du willst: sie sind beide toll.«

»Aber ich mag nicht zu tollen Leuten gehen,« bemerkte Alice.

[Illustration]

»Oh, das kannst du nicht ändern,« sagte die Katze: »wir sind alle toll
hier. Ich bin toll. Du bist toll.«

»Woher weißt du, daß ich toll bin?« fragte Alice.

»Du mußt es sein,« sagte die Katze, »sonst wärest du nicht hergekommen.«

Alice fand durchaus nicht, daß das ein Beweis sei; sie fragte jedoch
weiter: »Und woher weißt du, daß du toll bist?«

»Zu allererst,« sagte die Katze, »ein Hund ist nicht toll. Das giebst du
zu?«

»Zugestanden!« sagte Alice.

»Nun, gut,« fuhr die Katze fort, »nicht wahr ein Hund knurrt, wenn er
böse ist, und wedelt mit dem Schwanze, wenn er sich freut. Ich hingegen
knurre, wenn ich mich freue, und wedle mit dem Schwanze, wenn ich
ärgerlich bin. Daher bin ich toll.«

»Ich nenne es spinnen, nicht knurren,« sagte Alice.

»Nenne es, wie du willst,« sagte die Katze. »Spielst du heut Croquet mit
der Königin?«

»Ich möchte es sehr gern,« sagte Alice, »aber ich bin noch nicht
eingeladen worden.«

»Du wirst mich dort sehen,« sagte die Katze und verschwand.

Alice wunderte sich nicht sehr darüber; sie war so daran gewöhnt, daß
sonderbare Dinge geschahen. Während sie noch nach der Stelle hinsah, wo
die Katze gesessen hatte, erschien sie plötzlich wieder.

»Uebrigens, was ist aus dem Jungen geworden?« sagte die Katze. »Ich
hätte beinah vergessen zu fragen.«

[Illustration]

»Er ist ein Ferkel geworden,« antwortete Alice sehr ruhig, gerade wie
wenn die Katze auf gewöhnliche Weise zurückgekommen wäre.

»Das dachte ich wohl,« sagte die Katze und verschwand wieder.

Alice wartete noch etwas, halb und halb erwartend, sie wieder erscheinen
zu sehen; aber sie kam nicht, und ein Paar Minuten nachher ging sie in
der Richtung fort, wo der Faselhase wohnen sollte. »Hutmacher habe ich
schon gesehen,« sprach sie zu sich, »der Faselhase wird viel
interessanter sein.« Wie sie so sprach, blickte sie auf, und da saß die
Katze wieder auf einem Baumzweige. »Sagtest du Ferkel oder Fächer?«
fragte sie. »Ich sagte Ferkel,« antwortete Alice, »und es wäre mir sehr
lieb, wenn du nicht immer so schnell erscheinen und verschwinden
wolltest: du machst Einen ganz schwindlig.«

»Schon gut,« sagte die Katze, und diesmal verschwand sie ganz langsam,
wobei sie mit der Schwanzspitze anfing und mit dem Grinsen aufhörte, das
noch einige Zeit sichtbar blieb, nachdem das Uebrige verschwunden war.

»Oho, ich habe oft eine Katze ohne Grinsen gesehen,« dachte Alice, »aber
ein Grinsen ohne Katze! so etwas Merkwürdiges habe ich in meinem Leben
noch nicht gesehen!«

Sie brauchte nicht weit zu gehen, so erblickte sie das Haus des
Faselhasen; sie dachte, es müsse das rechte Haus sein, weil die
Schornsteine wie Ohren geformt waren, und das Dach war mit Pelz gedeckt.
Es war ein so großes Haus, daß, ehe sie sich näher heran wagte, sie ein
wenig von dem Stück Pilz in ihrer linken Hand abknabberte, und sich bis
auf zwei Fuß hoch brachte: trotzdem näherte sie sich etwas furchtsam,
für sich sprechend: »Wenn er nur nicht ganz rasend ist! Wäre ich doch
lieber zu dem Hutmacher gegangen!«




Siebentes Kapitel.

Die tolle Theegesellschaft.


Vor dem Hause stand ein gedeckter Theetisch, an welchem der Faselhase
und der Hutmacher saßen; ein Murmelthier saß zwischen ihnen, fest
eingeschlafen, und die beiden Andern benutzten es als Kissen, um ihre
Ellbogen darauf zu stützen, und redeten über seinem Kopfe mit einander.
»Sehr unbequem für das Murmelthier,« dachte Alice; »nun, da es schläft,
wird es sich wohl nichts daraus machen.«

Der Tisch war groß, aber die Drei saßen dicht zusammengedrängt an einer
Ecke: »Kein Platz! Kein Platz!« riefen sie aus, sobald sie Alice kommen
sahen. »Ueber und über genug Platz!« sagte Alice unwillig und setzte
sich in einen großen Armstuhl am Ende des Tisches.

»Ist dir etwas Wein gefällig?« nöthigte sie der Faselhase.

Alice sah sich auf dem ganzen Tische um, aber es war nichts als Thee
darauf. »Ich sehe keinen Wein,« bemerkte sie.

»Es ist keiner hier,« sagte der Faselhase.

»Dann war es gar nicht höflich von dir, mir welchen anzubieten,« sagte
Alice ärgerlich.

»Es war gar nicht höflich von dir, dich ungebeten herzusetzen,« sagte
der Faselhase.

»Ich wußte nicht, das es _dein_ Tisch ist; er ist für viel mehr als drei
gedeckt.«

»Dein Haar muß verschnitten werden,« sagte der Hutmacher. Er hatte Alice
eine Zeit lang mit großer Neugierde angesehen, und dies waren seine
ersten Worte.

»Du solltest keine persönlichen Bemerkungen machen,« sagte Alice mit
einer gewissen Strenge, »es ist sehr grob.«

Der Hutmacher riß die Augen weit auf, als er dies hörte; aber er sagte
weiter nichts als: »Warum ist ein Rabe wie ein Reitersmann?«

»Ei, jetzt wird es Spaß geben,« dachte Alice. »Ich bin so froh, daß sie
anfangen Räthsel aufzugeben -- Ich glaube, das kann ich rathen,« fuhr sie
laut fort.

[Illustration]

»Meinst du, daß du die Antwort dazu finden kannst?« fragte der
Faselhase.

»Ja, natürlich,« sagte Alice.

»Dann solltest du sagen, was du meinst,« sprach der Hase weiter.

»Das thue ich ja,« warf Alice schnell ein, »wenigstens -- wenigstens
meine ich, was ich sage -- und das ist dasselbe.«

»Nicht im Geringsten dasselbe!« sagte der Hutmacher. »Wie, du könntest
eben so gut behaupten, daß »ich sehe, was ich esse« dasselbe ist wie
»ich esse, was ich sehe.«

»Du könntest auch behaupten,« fügte der Faselhase hinzu, »ich mag, was
ich kriege« sei dasselbe wie »ich kriege, was ich mag!«

»Du könntest eben so gut behaupten,« fiel das Murmelthier ein, das im
Schlafe zu sprechen schien, »ich athme, wenn ich schlafe« sei dasselbe
wie »ich schlafe, wenn ich athme!«

»Es _ist_ dasselbe bei dir,« sagte der Hutmacher, und damit endigte die
Unterhaltung, und die Gesellschaft saß einige Minuten schweigend,
während Alice Alles durchdachte, was sie je von Raben und Reitersmännern
gehört hatte, und das war nicht viel.

Der Hutmacher brach das Schweigen zuerst. »Den wievielsten haben wir
heute?« sagte er, sich an Alice wendend; er hatte seine Uhr aus der
Tasche genommen, sah sie unruhig an, schüttelte sie hin und her und
hielt sie an's Ohr.

Alice besann sich ein wenig und sagte: »Den vierten.«

»Zwei Tage falsch!« seufzte der Hutmacher. »Ich sagte dir ja, daß Butter
das Werk verderben würde,« setzte er hinzu, indem er den Hasen ärgerlich
ansah.

»Es war die beste Butter,« sagte der Faselhase demüthig.

»Ja, aber es muß etwas Krume mit hinein gerathen sein,« brummte der
Hutmacher; »du hättest sie nicht mit dem Brodmesser hinein thun sollen.«

Der Faselhase nahm die Uhr und betrachtete sie trübselig; dann tunkte er
sie in seine Tasse Thee und betrachtete sie wieder, aber es fiel ihm
nichts Besseres ein, als seine erste Bemerkung: »Es war wirklich die
beste Butter.«

Alice hatte ihm neugierig über die Schulter gesehen. »Was für eine
komische Uhr!« sagte sie. »Sie zeigt das Datum, und nicht wie viel Uhr
es ist!«

»Warum sollte sie?« brummte der Hase; »zeigt deine Uhr, welches Jahr es
ist?«

»Natürlich nicht,« antwortete Alice schnell, »weil es so lange
hintereinander dasselbe Jahr bleibt.«

»Und so ist es gerade mit meiner,« sagte der Hutmacher.

Alice war ganz verwirrt. Die Erklärung des Hutmachers schien ihr gar
keinen Sinn zu haben, und doch waren es deutlich gesprochne Worte. »Ich
verstehe dich nicht ganz,« sagte sie, so höflich sie konnte.

»Das Murmelthier schläft schon wieder,« sagte der Hutmacher, und goß ihm
etwas heißen Thee auf die Nase.

Das Murmelthier schüttelte ungeduldig den Kopf und sagte, ohne die Augen
aufzuthun: »Freilich, freilich, das wollte ich eben auch bemerken.«

»Hast du das Räthsel schon gerathen?« wandte sich der Hutmacher an
Alice.

»Nein, ich gebe es auf,« antwortete Alice; »was ist die Antwort?«

»Davon habe ich nicht die leiseste Ahnung,« sagte der Hutmacher.

»Ich auch nicht,« sagte der Faselhase.

Alice seufzte verstimmt. »Ich dächte, ihr könntet die Zeit besser
anwenden,« sagte sie, »als mit Räthseln, die keine Auflösung haben.«

»Wenn du die Zeit so gut kenntest wie ich,« sagte der Hutmacher,
»würdest du nicht davon reden, wie wir sie anwenden, sondern wie sie uns
anwendet.«

»Ich weiß nicht, was du meinst,« sagte Alice.

»Natürlich kannst du das nicht wissen!« sagte der Hutmacher, indem er
den Kopf verächtlich in die Höhe warf. »Du hast wahrscheinlich nie mit
der Zeit gesprochen.«

»Ich glaube kaum,« erwiederte Alice vorsichtig; »aber Mama sagte
gestern, ich sollte zu meiner kleinen Schwester gehen und ihr die Zeit
vertreiben.«

»So? das wird sie dir schön übel genommen haben; sie läßt sich nicht
gern vertreiben. Aber wenn man gut mit ihr steht, so thut sie Einem
beinah Alles zu Gefallen mit der Uhr. Zum Beispiel, nimm den Fall, es
wäre 9 Uhr Morgens, gerade Zeit, deine Stunden anzufangen, du brauchtest
der Zeit nur den kleinsten Wink zu geben, schnurr! geht die Uhr herum,
ehe du dich's versiehst! halb Zwei, Essenszeit!«

(»Ich wünschte, das wäre es!« sagte der Faselhase leise für sich.)

»Das wäre wirklich famos,« sagte Alice gedankenvoll, »aber dann würde
ich nicht hungrig genug sein, nicht wahr?«

»Zuerst vielleicht nicht,« antwortete der Hutmacher, »aber es würde so
lange halb Zwei bleiben, wie du wolltest.«

»So macht ihr es wohl hier?« fragte Alice.

Der Hutmacher schüttelte traurig den Kopf. »Ich nicht!« sprach er. »Wir
haben uns vorige Ostern entzweit -- kurz ehe er toll wurde, du weißt
doch (mit seinem Theelöffel auf den Faselhasen zeigend) -- es war in dem
großen Concert, das die Coeur-Königin gab; ich mußte singen:

[Illustration]

    »O Papagei, o Papagei!
    Wie grün sind deine Federn!«

Vielleicht kennst du das Lied?«

»Ich habe etwas dergleichen gehört,« sage Alice.

»Es geht weiter,« fuhr der Hutmacher fort:

    »Du grünst nicht nur zur Friedenszeit,
    Auch wenn es Teller und Töpfe schneit.
    O Papagei, o Papagei --«

Hier schüttelte sich das Murmelthier und fing an im Schlaf zu singen: »O
Papagei, o Mamagei, o Papagei, o Mamagei --« in einem fort, so daß sie
es zuletzt kneifen mußten, damit es nur aufhöre.

»Denke dir, ich hatte kaum den ersten Vers fertig,« sagte der Hutmacher,
»als die Königin ausrief: Abscheulich! der Mensch schlägt geradezu die
Zeit todt mit seinem Geplärre. Aufgehängt soll er werden!«

»Wie furchtbar grausam!« rief Alice.

»Und seitdem,« sprach der Hutmacher traurig weiter, »hat sie mir nie
etwas zu Gefallen thun wollen, die Zeit! Es ist nun immer sechs Uhr!«

Dies brachte Alice auf einen klugen Gedanken. »Darum sind wohl so viele
Tassen hier herumgestellt?« fragte sie.

»Ja, darum,« sagte der Hutmacher mit einem Seufzer, »es ist immer
Theestunde, und wir haben keine Zeit, die Tassen dazwischen
aufzuwaschen.«

»Dann rückt ihr wohl herum?« sagte Alice.

»So ist es,« sagte der Hutmacher, »wenn die Tassen genug gebraucht
sind.«

»Aber wenn ihr wieder an den Anfang kommt?« unterstand sich Alice zu
fragen.

»Wir wollen jetzt von etwas Anderem reden,« unterbrach sie der Faselhase
gähnend, »dieser Gegenstand ist mir nachgerade langweilig. Ich schlage
vor, die junge Dame erzählt eine Geschichte.«

»O, ich weiß leider keine,« rief Alice, ganz bestürzt über diese
Zumuthung.

»Dann soll das Murmelthier erzählen!« riefen beide; »wache auf,
Murmelthier!« dabei kniffen sie es von beiden Seiten zugleich.

Das Murmelthier machte langsam die Augen auf. »Ich habe nicht
geschlafen,« sagte es mit heiserer, schwacher Stimme, »ich habe jedes
Wort gehört, das ihr Jungen gesagt habt.«

»Erzähle uns eine Geschichte!« sagte der Faselhase.

»Ach ja, sei so gut!« bat Alice.

»Und mach schnell,« fügte der Hutmacher hinzu, »sonst schläfst du ein,
ehe sie zu Ende ist.«

»Es waren einmal drei kleine Schwestern,« fing das Murmelthier eilig an,
»die hießen Else, Lacie und Tillie, und sie lebten tief unten in einem
Brunnen --«

»Wovon lebten sie?« fragte Alice, die sich immer für Essen und Trinken
sehr interessirte.

»Sie lebten von Syrup,« versetzte das Murmelthier, nachdem es sich eine
Minute besonnen hatte.

»Das konnten sie ja aber nicht,« bemerkte Alice schüchtern, »da wären
sie ja krank geworden.«

»Das wurden sie auch,« sagte das Murmelthier, »sehr krank.«

Alice versuchte es sich vorzustellen, wie eine so außergewöhnliche Art
zu leben wohl sein möchte; aber es kam ihr zu kurios vor, sie mußte
wieder fragen: »Aber warum lebten sie unten in dem Brunnen?«

»Willst du nicht ein wenig mehr Thee?« sagte der Faselhase sehr
ernsthaft zu Alice.

»Ein wenig mehr? ich habe noch keinen gehabt,« antwortete Alice etwas
empfindlich, »also kann ich nicht noch _mehr_ trinken.«

»Du meinst, du kannst nicht _weniger_ trinken,« sagte der Hutmacher: »es
ist sehr leicht, _mehr_ als keinen zu trinken.«

»Niemand hat dich um deine Meinung gefragt,« sagte Alice.

»Wer macht denn nun persönliche Bemerkungen?« rief der Hutmacher
triumphirend.

Alice wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte; sie nahm sich
daher etwas Thee und Butterbrot, und dann wandte sie sich an das
Murmelthier und wiederholte ihre Frage: »Warum lebten sie in einem
Brunnen?«

Das Murmelthier besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Es war ein
Syrup-Brunnen.«

»Den giebt es nicht!« fing Alice sehr ärgerlich an; aber der Hutmacher
und Faselhase machten beide: »Sch, sch!« und das Murmelthier bemerkte
brummend: »Wenn du nicht höflich sein kannst, kannst du die Geschichte
selber auserzählen.«

»Nein, bitte, erzähle weiter!« sagte Alice ganz bescheiden; »ich will
dich nicht wieder unterbrechen. Es wird wohl _einen_ geben.«

»_Einen_, wirklich!« sagte das Murmelthier entrüstet. Doch ließ es sich
zum Weitererzählen bewegen. »Also die drei kleinen Schwestern -- sie
lernten zeichnen, müßt ihr wissen --«

»Was zeichneten sie?« sagte Alice, ihr Versprechen ganz vergessend.

»Syrup,« sagte das Murmelthier, diesmal ganz ohne zu überlegen.

»Ich brauche eine reine Tasse,« unterbrach der Hutmacher, »wir wollen
Alle einen Platz rücken.«

Er rückte, wie er das sagte, und das Murmelthier folgte ihm; der
Faselhase rückte an den Platz des Murmelthiers, und Alice nahm, obgleich
etwas ungern, den Platz des Faselhasen ein. Der Hutmacher war der
Einzige, der Vortheil von diesem Wechsel hatte, und Alice hatte es viel
schlimmer als zuvor, da der Faselhase eben den Milchtopf über seinen
Teller umgestoßen hatte.

Alice wollte das Murmelthier nicht wieder beleidigen und fing daher sehr
vorsichtig an: »Aber ich verstehe nicht. Wie konnten sie den Syrup
zeichnen?«

»Als ob nicht aller Syrup gezeichnet wäre, den man vom Kaufmann holt,«
sagte der Hutmacher; »hast du nicht immer darauf gesehen: feinste
Qualität, allerfeinste Qualität, superfeine Qualität -- oh, du kleiner
Dummkopf?«

»Wie gesagt,« fuhr das Murmelthier fort, »lernten sie zeichnen;« hier
gähnte es und rieb sich die Augen, denn es fing an, sehr schläfrig zu
werden; »und sie zeichneten Allerlei -- Alles was mit M. anfängt --«

»Warum mit M?« fragte Alice.

»Warum nicht?« sagte der Faselhase.

Alice war still.

Das Murmelthier hatte mittlerweile die Augen zugemacht, und war halb
eingeschlafen; da aber der Hutmacher es zwickte, wachte es mit einem
leisen Schrei auf und sprach weiter: -- »was mit M anfängt, wie
Mausefallen, den Mond, Mangel und manches Mal -- ihr wißt, man sagt: ich
habe das _manches liebe_ Mal gethan -- hast du je manches liebe _Mal_
gezeichnet gesehen?«

»Wirklich, da du mich selbst fragst,« sagte Alice ganz verwirrt, »ich
denke kaum --«

»Dann solltest du auch nicht reden,« sagte der Hutmacher.

Dies war nachgerade zu grob für Alice: sie stand ganz beleidigt auf und
ging fort; das Murmelthier schlief augenblicklich wieder ein, und die
beiden Andern beachteten ihr Fortgehen nicht, obgleich sie sich ein paar
Mal umsah, halb in der Hoffnung, daß sie sie zurückrufen würden. Als sie
sie zuletzt sah, versuchten sie das Murmelthier in die Theekanne zu
stecken.

»Auf keinen Fall will ich _da_ je wieder hingehen!« sagte Alice, während
sie sich einen Weg durch den Wald suchte. »Es ist die dümmste
Theegesellschaft, in der ich in meinem ganzen Leben war!«

[Illustration]

Gerade wie sie so sprach, bemerkte sie, daß einer der Bäume eine kleine
Thür hatte. »Das ist höchst komisch!« dachte sie. »Aber Alles ist heute
komisch! Ich will lieber gleich hinein gehen.«

Wie gesagt, so gethan: und sie befand sich wieder in dem langen
Corridor, und dicht bei dem kleinen Glastische. »Diesmal will ich es
gescheidter anfangen,« sagte sie zu sich selbst, nahm das goldne
Schlüsselchen und schloß die Thür auf, die in den Garten führte. Sie
machte sich daran, an dem Pilz zu knabbern (sie hatte ein Stückchen in
ihrer Tasche behalten), bis sie ungefähr einen Fuß hoch war, dann ging
sie den kleinen Gang hinunter; und dann -- war sie endlich in dem
schönen Garten, unter den prunkenden Blumenbeeten und kühlen
Springbrunnen.




Achtes Kapitel.

Das Croquetfeld der Königin.


Ein großer hochstämmiger Rosenstrauch stand nahe bei'm Eingang; die
Rosen, die darauf wuchsen, waren weiß, aber drei Gärtner waren damit
beschäftigt, sie roth zu malen. Alice kam dies wunderbar vor, und da sie
näher hinzutrat, um ihnen zuzusehen, hörte sie einen von ihnen sagen:
»Nimm dich in Acht, Fünf! Bespritze mich nicht so mit Farbe!«

»Ich konnte nicht dafür,« sagte Fünf in verdrießlichem Tone; »Sieben hat
mich an den Ellbogen gestoßen.«

Worauf Sieben aufsah und sagte: »Recht so, Fünf! Schiebe immer die
Schuld auf andre Leute!«

»Du sei nur ganz still!« sagte Fünf. »Gestern erst hörte ich die Königin
sagen, du verdientest geköpft zu werden!«

»Wofür?« fragte der, welcher zuerst gesprochen hatte.

»Das geht _dich_ nichts an, Zwei!« sagte Sieben.

»Ja, es _geht_ ihn an!« sagte Fünf, »und ich werde es ihm sagen -- dafür,
daß er dem Koch Tulpenzwiebeln statt Küchenzwiebeln gebracht hat.«

[Illustration]

Sieben warf seinen Pinsel hin und hatte eben angefangen: »Ist je eine
ungerechtere Anschuldigung --« als sein Auge zufällig auf Alice fiel,
die ihnen zuhörte; er hielt plötzlich inne, die andern sahen sich auch
um, und sie verbeugten sich Alle tief.

»Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen,« sprach Alice etwas furchtsam,
»warum Sie diese Rosen malen?«

Fünf und Sieben antworteten nichts, sahen aber Zwei an. Zwei fing mit
leiser Stimme an: »Die Wahrheit zu gestehen, Fräulein, dies hätte hier
ein _rother_ Rosenstrauch sein sollen, und wir haben aus Versehen einen
weißen gepflanzt, und wenn die Königin es gewahr würde, würden wir Alle
geköpft werden, müssen Sie wissen. So, sehen Sie Fräulein, versuchen
wir, so gut es geht, ehe sie kommt --« In dem Augenblick rief Fünf, der
ängstlich tiefer in den Garten hinein gesehen hatte: »Die Königin! die
Königin!« und die drei Gärtner warfen sich sogleich flach auf's Gesicht.
Es entstand ein Geräusch von vielen Schritten, und Alice blickte
neugierig hin, die Königin zu sehen.

Zuerst kamen zehn Soldaten, mit Keulen bewaffnet, sie hatten alle
dieselbe Gestalt wie die Gärtner, rechteckig und flach, und an den vier
Ecken die Hände und Füße; danach kamen zehn Herren vom Hofe, sie waren
über und über mit Diamanten bedeckt und gingen paarweise, wie die
Soldaten. Nach diesen kamen die königlichen Kinder, es waren ihrer zehn,
und die lieben Kleinen kamen lustig gesprungen Hand in Hand, paarweise,
sie waren ganz mit Herzen geschmückt. Darauf kamen die Gäste, meist
Könige und Königinnen, und unter ihnen erkannte Alice das weiße
Kaninchen; es unterhielt sich in etwas eiliger und aufgeregter Weise,
lächelte bei Allem, was gesagt wurde und ging vorbei, ohne sie zu
bemerken. Darauf folgte der Coeur-Bube, der die königliche Krone auf
einem rothen Sammetkissen trug, und zuletzt in diesem großartigen Zuge
kamen _der Herzenskönig und die Herzenskönigin_.

Alice wußte nicht recht, ob sie sich nicht flach auf's Gesicht legen
müsse, wie die drei Gärtner; aber sie konnte sich nicht erinnern, je von
einer solchen Sitte bei Festzügen gehört zu haben. »Und außerdem, wozu
gäbe es überhaupt Aufzüge,« dachte sie, »wenn alle Leute flach auf dem
Gesichte liegen müßten, so daß sie sie nicht sehen könnten?« Sie blieb
also stehen, wo sie war, und wartete.

Als der Zug bei ihr angekommen war, blieben Alle stehen und sahen sie
an, und die Königin sagte strenge: »Wer ist das?« Sie hatte den
Coeur-Buben gefragt, der statt aller Antwort nur lächelte und Kratzfüße
machte.

»Schafskopf!« sagte die Königin, den Kopf ungeduldig zurückwerfend; und
zu Alice gewandt fuhr sie fort: »Wie heißt du, Kind?«

[Illustration]

»Mein Name ist Alice, Euer Majestät zu dienen!« sagte Alice sehr
höflich; aber sie dachte bei sich: »Ach was, es ist ja nur ein Pack
Karten. Ich brauche mich nicht vor ihnen zu fürchten!«

»Und wer sind diese drei?« fuhr die Königin fort, indem sie auf die drei
Gärtner zeigte, die um den Rosenstrauch lagen; denn natürlich, da sie
auf dem Gesichte lagen und das Muster auf ihrer Rückseite dasselbe war
wie für das ganze Pack, so konnte sie nicht wissen, ob es Gärtner oder
Soldaten oder Herren vom Hofe oder drei von ihren eigenen Kindern waren.

»Woher soll ich das wissen?« sagte Alice, indem sie sich selbst über
ihren Muth wunderte. »Es ist nicht meines Amtes.«

Die Königin wurde purpurroth vor Wuth, und nachdem sie sie einen
Augenblick wie ein wildes Thier angestarrt hatte, fing sie an zu
brüllen: »Ihren Kopf ab! ihren Kopf --«

»Unsinn!« sagte Alice sehr laut und bestimmt, und die Königin war still.

Der König legte seine Hand auf ihren Arm und sagte milde: »Bedenke,
meine Liebe, es ist nur ein Kind!«

Die Königin wandte sich ärgerlich von ihm ab und sagte zu dem Buben:
»Dreh' sie um!«

Der Bube that es, sehr sorgfältig, mit einem Fuße.

»Steht auf!« schrie die Königin mit durchdringender Stimme, und die drei
Gärtner sprangen sogleich auf und fingen an sich zu verneigen vor dem
König, der Königin, den königlichen Kindern, und Jedermann.

»Laßt das sein!« eiferte die Königin. »Ihr macht mich schwindlig.« Und
dann, sich nach dem Rosenstrauch umdrehend, fuhr sie fort: »Was habt ihr
hier gethan?«

»Euer Majestät zu dienen,« sagte Zwei in sehr demüthigem Tone und sich
auf ein Knie niederlassend, »wir haben versucht --«

»Ich sehe!« sagte die Königin, die unterdessen die Rosen untersucht
hatte. »Ihre Köpfe ab!« und der Zug bewegte sich fort, während drei von
den Soldaten zurückblieben um die unglücklichen Gärtner zu enthaupten,
welche zu Alice liefen und sie um Schutz baten.

»Ihr sollt nicht getödtet werden!« sagte Alice, und damit steckte sie
sie in einen großen Blumentopf, der in der Nähe stand. Die drei Soldaten
gingen ein Weilchen hier- und dorthin, um sie zu suchen, und dann
schlossen sie sich ruhig wieder den Andern an.

»Sind ihre Köpfe gefallen?« schrie die Königin sie an.

»Ihre Köpfe sind fort, zu Euer Majestät Befehl!« schrien die Soldaten
als Antwort.

»Das ist gut!« schrie die Königin. »Kannst du Croquet spielen?«

Die Soldaten waren still und sahen Alice an, da die Frage
augenscheinlich an sie gerichtet war.

»Ja!« schrie Alice.

»Dann komm mit!« brüllte die Königin, und Alice schloß sich dem Zuge an,
sehr neugierig, was nun geschehen werde.

»Es ist -- es ist ein sehr schöner Tag!« sagte eine schüchterne Stimme
neben ihr. Sie ging neben dem weißen Kaninchen, das ihr ängstlich in's
Gesicht sah.

»Sehr,« sagte Alice; -- »wo ist die Herzogin?«

»Still! still!« sagte das Kaninchen in einem leisen, schnellen Tone. Es
sah dabei ängstlich über seine Schulter, stellte sich dann auf die
Zehen, hielt den Mund dicht an Alice's Ohr und wisperte: »Sie ist zum
Tode verurtheilt.«

»Wofür?« fragte diese.

»Sagtest du: wie Schade?« fragte das Kaninchen.

»Nein, das sagte ich nicht,« sagte Alice, »ich finde gar nicht, daß es
Schade ist. Ich sagte: wofür?«

»Sie hat der Königin eine Ohrfeige gegeben --« fing das Kaninchen an.
Alice lachte hörbar. »Oh still!« flüsterte das Kaninchen in sehr
erschreckten Tone. »Die Königin wird dich hören! Sie kam nämlich etwas
spät, und die Königin sagte --«

»Macht, daß ihr an eure Plätze kommt!« donnerte die Königin, und Alle
fingen an in allen Richtungen durcheinander zu laufen, wobei sie Einer
über den Andern stolperten; jedoch nach ein bis zwei Minuten waren sie
in Ordnung, und das Spiel fing an.

[Illustration]

Alice dachte bei sich, ein so merkwürdiges Croquet-Feld habe sie in
ihrem Leben nicht gesehen; es war voller Erhöhungen und Furchen, die
Kugeln waren lebendige Igel, und die Schlägel lebendige Flamingos, und
die Soldaten mußten sich umbiegen und auf Händen und Füßen stehen, um
die Bogen zu bilden.

Die Hauptschwierigkeit, die Alice zuerst fand, war, den Flamingo zu
handhaben; sie konnte zwar ziemlich bequem seinen Körper unter ihrem
Arme festhalten, so daß die Füße herunterhingen, aber wenn sie eben
seinen Hals schön ausgestreckt hatte, und dem Igel nun einen Schlag mit
seinem Kopf geben wollte, so richtete er sich auf und sah ihr mit einem
so verdutzten Ausdruck in's Gesicht, daß sie sich nicht enthalten konnte
laut zu lachen. Wenn sie nun seinen Kopf herunter gebogen hatte und eben
wieder anfangen wollte zu spielen, so fand sie zu ihrem großen Verdruß,
daß der Igel sich aufgerollt hatte und eben fortkroch; außerdem war
gewöhnlich eine Erhöhung oder eine Furche gerade da im Wege, wo sie den
Igel hinrollen wollte, und da die umgebogenen Soldaten fortwährend
aufstanden und an eine andere Stelle des Grasplatzes gingen, so kam
Alice bald zu der Ueberzeugung, daß es wirklich ein sehr schweres Spiel
sei.

Die Spieler spielten Alle zugleich, ohne zu warten, bis sie an der Reihe
waren; dabei stritten sie sich immerfort und zankten um die Igel, und in
sehr kurzer Zeit war die Königin in der heftigsten Wuth, stampfte mit
den Füßen und schrie: »Schlagt ihr den Kopf ab!« ungefähr ein Mal jede
Minute.

Alice fing an, sich sehr unbehaglich zu fühlen, sie hatte zwar noch
keinen Streit mit der Königin gehabt, aber sie wußte, daß sie keinen
Augenblick sicher davor war, »und was,« dachte sie, »würde dann aus mir
werden? die Leute hier scheinen schrecklich gern zu köpfen; es ist das
größte Wunder, daß überhaupt noch welche am Leben geblieben sind!« Sie
sah sich nach einem Ausgange um und überlegte, ob sie sich wohl ohne
gesehen zu werden, fortschleichen könne, als sie eine merkwürdige
Erscheinung in der Luft wahrnahm: sie schien ihr zuerst ganz
räthselhaft, aber nachdem sie sie ein Paar Minuten beobachtet hatte,
erkannte sie, daß es ein Grinsen war, und sagte bei sich: »Es ist die
Grinse-Katze; jetzt werde ich Jemand haben, mit dem ich sprechen kann.«

»Wie geht es dir?« sagte die Katze, sobald Mund genug da war, um damit
zu sprechen.

Alice wartete, bis die Augen erschienen, und nickte ihr zu. »Es nützt
nichts mit ihr zu reden,« dachte sie, »bis ihre Ohren gekommen sind,
oder wenigstens eins.« Den nächsten Augenblick erschien der ganze Kopf;
da setzte Alice ihren Flamingo nieder und fing ihren Bericht von dem
Spiele an, sehr froh, daß sie Jemand zum Zuhören hatte. Die Katze
schien zu glauben, daß jetzt genug von ihr sichtbar sei, und es erschien
weiter nichts.

»Ich glaube, sie spielen gar nicht gerecht,« fing Alice in etwas
klagendem Tone an, »und sie zanken sich Alle so entsetzlich, daß man
sein eigenes Wort nicht hören kann -- und dann haben sie gar keine
Spielregeln, wenigstens wenn sie welche haben, so beobachtet sie Niemand
-- und du hast keine Idee, wie es Einen verwirrt, daß alle
Croquet-Sachen lebendig sind; zum Beispiel da ist der Bogen, durch den
ich das nächste Mal spielen muß, und geht am andern Ende des Grasplatzes
spazieren -- und ich hätte den Igel der Königin noch eben _treffen_
können, nur daß er fortrannte, als er meinen kommen sah!«

»Wie gefällt dir die Königin?« fragte die Katze leise.

»Ganz und gar nicht,« sagte Alice, »sie hat so sehr viel --« da bemerkte
sie eben, daß die Königin dicht hinter ihr war und zuhörte, also setzte
sie hinzu: »Aussicht zu gewinnen, daß es kaum der Mühe werth ist, das
Spiel auszuspielen.«

Die Königin lächelte und ging weiter.

»Mit wem redest du da?« sagte der König, indem er an Alice herantrat
und mit großer Neugierde den Katzenkopf ansah.

»Es ist einer meiner Freunde -- ein Grinse-Kater,« sagte Alice;
»erlauben Eure Majestät, daß ich ihn Ihnen vorstelle.«

»Sein Aussehen gefällt mir gar nicht,« sagte der König; »er mag mir
jedoch die Hand küssen, wenn er will.«

»O, lieber nicht!« versetzte der Kater.

»Sei nicht so impertinent,« sagte der König, »und sieh mich nicht so
an!« Er stellte sich hinter Alice, als er dies sagte.

»Der Kater sieht den König an, der König sieht den Kater an,« sagte
Alice, »das habe ich irgendwo gelesen, ich weiß nur nicht mehr wo.«

»Fort muß er,« sagte der König sehr entschieden, und rief der Königin
zu, die gerade vorbeiging: »Meine Liebe! ich wollte, du ließest diesen
Kater fortschaffen!«

Die Königin kannte nur _eine_ Art, alle Schwierigkeiten, große und kleine,
zu beseitigen. »Schlagt ihm den Kopf ab!« sagte sie, ohne sich einmal
umzusehen.

»Ich werde den Henker selbst holen,« sagte der König eifrig und eilte
fort.

Alice dachte, sie wollte lieber zurück gehen und sehen, wie es mit dem
Spiele stehe, da sie in der Entfernung die Stimme der Königin hörte, die
vor Wuth außer sich war. Sie hatte sie schon drei Spieler zum Tode
verurtheilen hören, weil sie ihre Reihe verfehlt hatten, und der Stand
der Dinge behagte ihr gar nicht, da das Spiel in solcher Verwirrung war,
daß sie nie wußte, ob sie an der Reihe sei oder nicht. Sie ging also,
sich nach ihrem Igel umzusehen.

Der Igel war im Kampfe mit einem andern Igel, was Alice eine
vortreffliche Gelegenheit schien, einen mit dem andern zu _treffen_; die
einzige Schwierigkeit war, daß ihr Flamingo nach dem andern Ende des
Gartens gegangen war, wo Alice eben sehen konnte, wie er höchst
ungeschickt versuchte, auf einen Baum zu fliegen.

Als sie den Flamingo gefangen und zurückgebracht hatte, war der Kampf
vorüber und die beiden Igel nirgends zu sehen. »Aber es kommt nicht
drauf an,« dachte Alice, »da alle Bogen auf dieser Seite des Grasplatzes
fortgegangen sind.« Sie steckte also ihren Flamingo unter den Arm, damit
er nicht wieder fortliefe, und ging zurück, um mit ihrem Freunde weiter
zu schwatzen.

Als sie zum Cheshire-Kater zurück kam, war sie sehr erstaunt, einen
großen Auflauf um ihn versammelt zu sehen: es fand ein großer
Wortwechsel statt zwischen dem Henker, dem Könige und der Königin,
welche alle drei zugleich sprachen, während die Uebrigen ganz still
waren und sehr ängstlich aussahen.

Sobald Alice erschien, wurde sie von allen dreien aufgefordert, den
streitigen Punkt zu entscheiden, und sie wiederholten ihr ihre
Beweisgründe, obgleich, da alle zugleich sprachen, man kaum verstehen
konnte, was jeder Einzelne sagte.

[Illustration]

Der Henker behauptete, daß man keinen Kopf abschneiden könne, wo kein
Körper sei, von dem man ihn abschneiden könne; daß er so etwas noch nie
gethan habe, und jetzt über die Jahre hinaus sei, wo man etwas Neues
lerne.

Der König behauptete, daß Alles, was einen Kopf habe, geköpft werden
könne, und daß man nicht so viel Unsinn schwatzen solle.

Die Königin behauptete, daß wenn nicht in weniger als keiner Frist etwas
geschehe, sie die ganze Gesellschaft würde köpfen lassen. (Diese
letztere Bemerkung hatte der Versammlung ein so ernstes und ängstliches
Aussehen gegeben.)

Alice wußte nichts Besseres zu sagen als: "Er gehört der Herzogin, es
wäre am besten sie zu fragen."

"Sie ist im Gefängnis," sagte die Königin zum Henker, "hole sie her."
Und der Henker lief davon wie ein Pfeil.

Da wurde der Kopf des Katers undeutlicher und undeutlicher; und gerade
in dem Augenblicke, als der Henker mit der Herzogin zurück kam,
verschwand er gänzlich; der König und der Henker liefen ganz wild umher,
ihn zu suchen, während die übrige Gesellschaft zum Spiele zurückging.




Neuntes Kapitel.

Die Geschichte der falschen Schildkröte.


»Du kannst dir gar nicht denken, wie froh ich bin, dich wieder zu sehen,
du liebes altes Herz!« sagte die Herzogin, indem sie Alice liebevoll
unterfaßte, und beide zusammen fortspazierten.

Alice war sehr froh, sie bei so guter Laune zu finden, und dachte bei
sich, es wäre vielleicht nur der Pfeffer, der sie so böse gemacht habe,
als sie sich zuerst in der Küche trafen. »Wenn ich Herzogin bin,« sagte
sie für sich (doch nicht in sehr hoffnungsvollem Tone), »will ich gar
keinen Pfeffer in meiner Küche dulden. Suppe schmeckt sehr gut ohne --
Am Ende ist es immer Pfeffer, der die Leute heftig macht,« sprach sie
weiter, sehr glücklich, eine neue Art Regel erfunden zu haben, »und
Essig, der sie sauertöpfisch macht -- und Kamillenthee, der sie bitter
macht -- und Gerstenzucker und dergleichen, was Kinder zuckersüß macht.
Ich wünschte nur, die großen Leute wüßten das, dann würden sie nicht so
sparsam damit sein --«

Sie hatte unterdessen die Herzogin ganz vergessen und schrak förmlich
zusammen, als sie deren Stimme dicht an ihrem Ohre hörte. »Du denkst an
etwas, meine Liebe, und vergißt darüber zu sprechen. Ich kann dir diesen
Augenblick nicht sagen, was die Moral davon ist, aber es wird mir gleich
einfallen.«

»Vielleicht hat es keine,« hatte Alice den Muth zu sagen.

»Still, still, Kind!« sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, wenn
man sie nur finden kann.« Dabei drängte sie sich dichter an Alice heran.

Alice mochte es durchaus nicht gern, daß sie ihr so nahe kam: erstens,
weil die Herzogin sehr häßlich war, und zweitens, weil sie gerade groß
genug war, um ihr Kinn auf Alice's Schulter zu stützen, und es war ein
unangenehm spitzes Kinn. Da sie aber nicht gern unhöflich sein wollte,
so ertrug sie es, so gut sie konnte.

»Das Spiel ist jetzt besser im Gange,« sagte sie, um die Unterhaltung
fortzuführen.

[Illustration]

»So ist es,« sagte die Herzogin, »und die Moral davon ist -- Mit Liebe
und Gesange hält man die Welt im Gange!«

»Wer sagte denn,« flüsterte Alice, »es geschehe dadurch, daß Jeder vor
seiner Thüre fege.«

»Ah, sehr gut, das bedeutet ungefähr dasselbe,« sagte die Herzogin, und
indem sie ihr spitzes kleines Kinn in Alice's Schulter einbohrte, fügte
sie hinzu »und die Moral _davon_ ist -- So viel Köpfe, so viel Sinne.«

»Wie gern sie die Moral von Allem findet!« dachte Alice bei sich.

»Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich meinen Arm nicht um deinen
Hals lege,« sagte die Herzogin nach einer Pause; »die Wahrheit zu
gestehen, ich traue der Laune deines Flamingos nicht ganz. Soll ich es
versuchen?«

»Er könnte beißen,« erwiderte Alice weislich, da sie sich keineswegs
danach sehnte, das Experiment zu versuchen.

»Sehr wahr,« sagte die Herzogin, »Flamingos und Senf beißen beide. Und
die Moral davon ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

»Aber der Flamingo ist ja ein Vogel und Senf ist kein Vogel,« wandte
Alice ein.

»Ganz recht, wie immer,« sagte die Herzogin, »wie deutlich du Alles
ausdrücken kannst.«

»Es ist, glaube ich, ein Mineral,« sagte Alice.

»Versteht sich,« sagte die Herzogin, die Allem, was Alice sagte,
beizustimmen schien, »in dem großen Senf-Bergwerk hier in der Gegend
sind ganz vorzüglich gute Minen. Und die Moral davon ist, daß wir gute
Miene zum bösen Spiel machen müssen.«

»O, ich weiß!« rief Alice aus, die die letzte Bemerkung ganz überhört
hatte, »es ist eine Pflanze. Es sieht nicht so aus, aber es ist eine.«

»Ich stimme dir vollkommen bei,« sagte die Herzogin, »und die Moral
davon ist: Sei was du zu scheinen wünschest! -- oder einfacher
ausgedrückt: Bilde dir nie ein verschieden von dem zu sein was Anderen
erscheint daß was du warest oder gewesen sein möchtest nicht verschieden
von dem war daß was du gewesen warest ihnen erschienen wäre als wäre es
verschieden.«

»Ich glaube, ich würde das besser verstehen,« sagte Alice sehr höflich,
»wenn ich es aufgeschrieben hätte; ich kann nicht ganz folgen, wenn Sie
es sagen.«

»Das ist noch gar nichts dagegen, was ich sagen könnte, wenn ich
wollte,« antwortete die Herzogin in selbstzufriedenem Tone.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht, es noch länger zu sagen!« sagte Alice.

»O, sprich nicht von Mühe!« sagte die Herzogin, »ich will dir Alles, was
ich bis jetzt gesagt habe, schenken.«

»Eine wohlfeile Art Geschenke!« dachte Alice, »ich bin froh, daß man
nicht solche Geburtstagsgeschenke macht!« Aber sie getraute sich nicht,
es laut zu sagen.

»Wieder in Gedanken?« fragte die Herzogin und grub ihr spitzes kleines
Kinn tiefer ein.

»Ich habe das Recht, in Gedanken zu sein, wenn ich will,« sagte Alice
gereizt, denn die Unterhaltung fing an, ihr langweilig zu werden.

»Gerade so viel Recht,« sagte die Herzogin, »wie Ferkel zum Fliegen, und
die M --«

Aber, zu Alice's großem Erstaunen stockte hier die Stimme der Herzogin,
und zwar mitten in ihrem Lieblingsworte »Moral«, und der Arm, der in dem
ihrigen ruhte, fing an zu zittern. Alice sah auf, und da stand die
Königin vor ihnen, mit über der Brust gekreuzten Armen, schwarzblickend
wie ein Gewitter.

»Ein schöner Tag, Majestät!« fing die Herzogin mit leiser schwacher
Stimme an.

»Ich will Sie schön gewarnt haben,« schrie die Königin und stampfte
dabei mit dem Fuße: »Fort augenblicklich, entweder mit Ihnen oder mit
Ihrem Kopfe! Wählen Sie!«

Die Herzogin wählte und verschwand eilig.

»Wir wollen weiter spielen,« sagte die Königin zu Alice, und diese, viel
zu erschrocken, ein Wort zu erwiedern, folgte ihr langsam nach dem
Croquet-Felde.

Die übrigen Gäste hatten die Abwesenheit der Königin benutzt, um im
Schatten auszuruhen; sobald sie sie jedoch kommen sahen, eilten sie
augenblicklich zum Spiele zurück, indem die Königin einfach bemerkte,
daß eine Minute Verzug ihnen das Leben kosten würde.

Die ganze Zeit, wo sie spielten, hörte die Königin nicht auf, mit den
andern Spielern zu zanken und zu schreien: »Schlagt ihm den Kopf ab!«
oder: »Schlagt ihr den Kopf ab!« Diejenigen, welche sie verurtheilt
hatte, wurden von den Soldaten in Verwahrsam geführt, die natürlich dann
aufhören mußten, die Bogen zu bilden, so daß nach ungefähr einer halben
Stunde keine Bogen mehr übrig waren, und alle Spieler, außer dem Könige,
der Königin und Alice, in Verwahrsam und zum Tode verurtheilt waren.

Da hörte die Königin, ganz außer Athem, auf, und sagte zu Alice: »Hast
du die _Falsche Schildkröte_ schon gesehen?«

»Nein,« sagte Alice. »Ich weiß nicht einmal, was eine _Falsche
Schildkröte_ ist.«

»Es ist das, woraus falsche Schildkrötensuppe gemacht wird,« sagte die
Königin.

»Ich habe weder eine gesehen, noch von einer gehört,« sagte Alice.

»Komm schnell,« sagte die Königin, »sie soll dir ihre Geschichte
erzählen.«

Als sie mit einander fortgingen, hörte Alice den König leise zu der
ganzen Versammlung sagen: »Ihr seid Alle begnadigt!« »Ach, das ist ein
Glück!« sagte sie für sich, denn sie war über die vielen Enthauptungen,
welche die Königin angeordnet hatte, ganz außer sich gewesen.

Sie kamen bald zu einem Greifen, der in der Sonne lag und schlief. (Wenn
ihr nicht wißt, was ein Greif ist, seht euch das Bild an.) »Auf, du
Faulpelz,« sagte die Königin, »und bringe dies kleine Fräulein zu der
falschen Schildkröte, sie möchte gern ihre Geschichte hören. Ich muß
zurück und nach einigen Hinrichtungen sehen, die ich angeordnet habe;«
damit ging sie fort und ließ Alice mit dem Greifen allein. Der Anblick
des Thieres gefiel Alice nicht recht; aber im Ganzen genommen, dachte
sie, würde es eben so sicher sein, bei ihm zu bleiben, als dieser
grausamen Königin zu folgen, sie wartete also.

[Illustration]

Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der
Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein
köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.

»_Was_ ist ein Spaß?« fragte Alice.

»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird
niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«

»Jeder sagte hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam
nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt
worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«

Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte
in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem
Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als
ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für
einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete,
fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das;
sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell.«

Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit
thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.

»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern
deine Geschichte wissen, sagt sie.«

»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer,
hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich
fertig bin.«

Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice
dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann,
wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.

»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer,
»war ich eine wirkliche Schildkröte.«

[Illustration]

Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder
unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das
heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah
aufgestanden und hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante
Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas
kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.

»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter,
und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen
wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte -- wir
nannten sie Mamsell Schalthier --«

»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.

»Sie _schalt hier_ oder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche
Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«

»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der
Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice
an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der
falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen
Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worten fort:

»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht --«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.

»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.

»Halt' den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die
falsche Schildkröte fuhr fort.

»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig
Stunden regelmäßig jeden Tag.«

»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir
nicht so viel einzubilden.«

»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte
etwas kleinlaut.

»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«

»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.

»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.

»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche
Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der
Rechnung, »Französisch, Klavierspielen, Wäsche -- extra.«

»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr
auf dem Grunde des Meeres wohntet.«

»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte die falsche
Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen
Unterricht.«

»Und was war das?« fragte Alice.

»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche
Schildkröte; »und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen,
Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«

»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«

Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen
gehört!« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«

»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt -- nichts -- essen -- und davon --
sterben.«

»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen
ist, dann bist du ein Pinsel.«

Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und
wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet
ihr sonst noch zu lernen?«

»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie
die Gegenstände an den Pfoten aufzählte, »Gewichte, alte und neue, mit
Seeographie; dann Springen -- der Springelehrer war ein alter
Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns
Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und
Imponiren.«

»Wie war denn das?« fragte Alice.

»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte,
»ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«

»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem
Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alter _Barsch_, ja, das war er.«

»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem
Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«

»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der
Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht
mit den Pfoten bedeckten.

»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die
schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.

»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den
nächsten, und so fort.«

»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.

»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag
zu Tag leeren.«

Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich
überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen
dann Alle frei gehabt haben?«

»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.

»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.

»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt:
»erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«




Zehntes Kapitel.

Das Hummerballet.


Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und wischte sich mit dem Rücken
ihrer Pfote die Augen. Sie sah Alice an und versuchte zu sprechen, aber
ein bis zwei Minuten lang erstickte lautes Schluchzen ihre Stimme.
»Sieht aus, als ob sie einen Knochen in der Kehle hätt',« sagte der
Greif und machte sich daran, sie zu schütteln und auf den Rücken zu
klopfen. Endlich erhielt die falsche Schildkröte den Gebrauch ihrer
Stimme wieder, und während Thränen ihre Wangen herabflossen, erzählte
sie weiter.

»Vielleicht hast du nicht viel unter dem Wasser gelebt --« (»Nein,«
sagte Alice) -- »und vielleicht hast du nie die Bekanntschaft eines
Hummers gemacht --« (Alice wollte eben sagen: »ich kostete einmal,« aber
sie hielt schnell ein und sagte: »Nein, niemals«) -- »du kannst dir also
nicht vorstellen, wie reizend ein Hummerballet ist.«

»Nein, in der That nicht,« sagte Alice, »was für eine Art Tanz ist es?«

»Nun,« sagte der Greif, »erst stellt man sich in einer Reihe am Strand
auf --«

»In zwei Reihen!« rief die falsche Schildkröte. »Seehunde, Schildkröten,
Lachse, und so weiter; dann, wenn alle Seesterne aus dem Wege geräumt
sind --«

»Was gewöhnlich einige Zeit dauert,« unterbrach der Greif.

»-- geht man zwei Mal vorwärts --«

»Jeder einen Hummer zum Tanze führend!« rief der Greif.

»Natürlich,« sagte die falsche Schildkröte: »zwei Mal vorwärts, wieder
paarweis gestellt --«

»-- wechselt die Hummer, und geht in derselben Ordnung zurück,« fuhr der
Greif fort.

»Dann, mußt du wissen,« fiel die falsche Schildkröte ein, »wirft man die
--«

»Die Hummer!« schrie der Greif mit einem Luftsprunge.

»-- so weit in's Meer, als man kann --«

»Schwimmt ihnen nach!« kreischte der Greif.

»Schlägt einen Purzelbaum im Wasser!« rief die falsche Schildkröte,
indem sie unbändig umhersprang.

[Illustration]

»Wechselt die Hummer wieder!« heulte der Greif mit erhobener Stimme.

»Zurück an's Land, und -- das ist die ganze erste Figur,« sagte die
falsche Schildkröte, indem ihre Stimme plötzlich sank; und beide Thiere,
die bis dahin wie toll umhergesprungen waren, setzten sich sehr betrübt
und still nieder und sahen Alice an.

»Es muß ein sehr hübscher Tanz sein,« sagte Alice ängstlich.

»Möchtest du eine kleine Probe sehen?« fragte die falsche Schildkröte.

»Sehr gern,« sagte Alice.

»Komm, laß uns die erste Figur versuchen!« sagte die falsche Schildkröte
zum Greifen. »Wir können es ohne Hummer, glaube ich. Wer soll singen?«

»Oh, singe du!« sagte der Greif. »Ich habe die Worte vergessen.«

So fingen sie denn an, feierlich im Kreise um Alice zu tanzen; zuweilen
traten sie ihr auf die Füße, wenn sie ihr zu nahe kamen; die falsche
Schildkröte sang dazu, sehr langsam und traurig, Folgendes: --

    Zu der Schnecke sprach ein Weißfisch: »Kannst du denn nicht
        schneller gehn?
    Siehst du denn nicht die Schildkröten und die Hummer
        alle stehn?
    Hinter uns da kommt ein Meerschwein, und es tritt mir auf
        den Schwanz;
    Und sie warten an dem Strande, daß wir kommen zu
        dem Tanz.
    Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen
        zu dem Tanz?
    Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen
        zu dem Tanz?«

    »Nein, du kannst es nicht ermessen, wie so herrlich es wird sein,
    Nehmen sie uns mit den Hummern, werfen uns in's Meer hinein!«
    Doch die Schnecke thät nicht trauen. »Das gefällt mir doch nicht ganz!
    Viel zu weit, zu weit! ich danke -- gehe nicht mit euch zum Tanz!
    Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, kann nicht kommen zu dem Tanz!
    Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, mag nicht kommen zu dem Tanz!«

    Und der Weißfisch sprach dagegen: »'s kommt ja nicht drauf an, wie
        weit!
    Ist doch wohl ein andres Ufer, drüben auf der andern Seit'!
    Und noch viele schöne Küsten giebt es außer Engelland's;
    Nur nicht blöde, liebe Schnecke, komm' geschwind mit mir zum Tanz!
    Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem
        Tanz?
    Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst nicht kommen zu dem
        Tanz?«

»Danke sehr, es ist sehr, sehr interessant, diesem Tanze zuzusehen,«
sagte Alice, obgleich sie sich freute, daß er endlich vorüber war; »und
das komische Lied von dem Weißfisch gefällt mir so!«

»Oh, was die Weißfische anbelangt,« sagte die falsche Schildkröte, »die
-- du hast sie doch gesehen?«

»Ja,« sagte Alice, »ich habe sie oft gesehen, bei'm Mitt --« sie hielt
schnell inne.

»Ich weiß nicht, wer Mitt sein mag,« sagte die falsche Schildkröte,
»aber da du sie so oft gesehen hast, so weißt du natürlich, wie sie
aussehen?«

»Ja, ich glaube,« sagte Alice nachdenklich, »sie haben den Schwanz im
Maule, -- und sind ganz mit geriebener Semmel bestreut.«

»Die geriebene Semmel ist ein Irrthum,« sagte die falsche Schildkröte;
»sie würde in der See bald abgespült werden. Aber den Schwanz haben sie
im Maule, und der Grund ist« -- hier gähnte die falsche Schildkröte und
machte die Augen zu. -- »Sage ihr Alles das von dem Grunde,« sprach sie
zum Greifen.

»Der Grund ist,« sagte der Greif, »daß sie durchaus im Hummerballet
mittanzen wollten. So wurden sie denn in die See hinein geworfen. So
mußten sie denn sehr weit fallen. So kamen ihnen denn die Schwänze in
die Mäuler. So konnten sie sie denn nicht wieder heraus bekommen. So ist
es.«

»Danke dir,« sagte Alice, »es ist sehr interessant. Ich habe nie so viel
vom Weißfisch zu hören bekommen.«

»Ich kann dir noch mehr über ihn sagen, wenn du willst,« sagte der
Greif, »weißt du, warum er Weißfisch heißt?«

»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht,« sagte Alice. »Warum?«

»Darum eben,« sagte der Greif mit tiefer, feierlicher Stimme, »weil man
so wenig von ihm _weiß_. Nun aber mußt du uns auch etwas von deinen
Abenteuern erzählen.«

»Ich könnte euch meine Erlebnisse von heute früh an erzählen,« sagte
Alice verschämt, »aber bis gestern zurück zu gehen, wäre ganz unnütz,
weil ich da jemand Anderes war.«

»Erkläre das deutlich,« sagte die falsche Schildkröte.

»Nein, die Erlebnisse erst,« sagte der Greif in ungeduldigem Tone,
»Erklärungen nehmen so schrecklich viel Zeit fort.«

Alice fing also an, ihnen ihre Abenteuer von da an zu erzählen, wo sie
das weiße Kaninchen zuerst gesehen hatte. Im Anfange war sie etwas
ängstlich, die beiden Thiere kamen ihr so nah, eins auf jeder Seite,
und sperrten Augen und Mund so _weit_ auf; aber nach und nach wurde sie
dreister. Ihre Zuhörer waren ganz ruhig, bis sie an die Stelle kam, wo
sie der Raupe 'Ihr seid alt, Vater Martin' hergesagt hatte, und wo
lauter andere Worte gekommen waren, da holte die falsche Schildkröte
tief Athem und sagte: »das ist sehr merkwürdig.«

»Es ist Alles so merkwürdig, wie nur möglich,« sagte der Greif.

»Es kam ganz verschieden!« wiederholte die falsche Schildkröte
gedankenvoll. »Ich möchte sie wohl etwas hersagen hören. Sage ihr, daß
sie anfangen soll.« Sie sah den Greifen an, als ob sie dächte, daß er
einigen Einfluß auf Alice habe.

»Steh' auf und sage her: 'Preisend mit viel schönen Reden',« sagte der
Greif.

»Wie die Geschöpfe alle Einen kommandiren und Gedichte aufsagen lassen!«
dachte Alice, »dafür könnte ich auch lieber gleich in der Schule sein.«
Sie stand jedoch auf und fing an, das Gedicht herzusagen; aber ihr Kopf
war so voll von dem Hummerballet, daß sie kaum wußte, was sie sagte, und
die Worte kamen sehr sonderbar: --

[Illustration]

    »Preisend mit viel schönen Kniffen seiner Scheeren Werth und Zahl,
    Stand der Hummer vor dem Spiegel in der schönen rothen Schal'!
    »Herrlich,« sprach der Fürst der Krebse, »steht mir dieser lange Bart!«
    Rückt die Füße mit der Nase auswärts, als er dieses sagt.«

»Das ist anders, als ich's als Kind gesagt habe,« sagte der Greif.

»Ich habe es zwar noch niemals gehört,« sagte die falsche Schildkröte;
»aber es klingt wie blühender Unsinn.«

Alice erwiederte nichts; sie setzte sich, bedeckte das Gesicht mit
beiden Händen und überlegte, ob wohl _je_ wieder irgend etwas natürlich
sein würde.

»Ich möchte es gern erklärt haben,« sagte die falsche Schildkröte.

»Sie kann's nicht erklären,« warf der Greif schnell ein. »Sage den
nächsten Vers.«

»Aber das von den Füßen?« fragte die falsche Schildkröte wieder. »Wie
kann er sie mit der Nase auswärts rücken?«

»Es ist die erste Position bei'm Tanzen,« sagte Alice; aber sie war über
Alles dies entsetzlich verwirrt und hätte am liebsten aufgehört.

»Sage den nächsten Vers!« wiederholte der Greif ungeduldig, »er fängt
an: 'Seht mein Land!'«

Alice wagte nicht, es abzuschlagen, obgleich sie überzeugt war, es würde
Alles falsch kommen, sie fuhr also mit zitternder Stimme fort: --

    »Seht mein Land und grüne Fluten,« sprach ein fetter Lachs vom Rhein;
    Goldne Schuppen meine Rüstung, und mit Austern trink' ich Wein.«

»Wozu sollen wir das dumme Zeug mit anhören,« unterbrach sie die falsche
Schildkröte, »wenn sie es nicht auch erklären kann? Es ist das
verworrenste Zeug, das ich je gehört habe!«

»Ja, ich glaube auch, es ist besser du hörst auf,« sagte der Greif, und
Alice gehorchte nur zu gern.

»Sollen wir noch eine Figur von dem Hummerballet versuchen?« fuhr der
Greif fort. »Oder möchtest du lieber, daß die falsche Schildkröte dir
ein Lied vorsingt?«

»Oh, ein Lied! bitte, wenn die falsche Schildkröte so gut sein will,«
antwortete Alice mit solchem Eifer, daß der Greif etwas beleidigt sagte:
»Hm! der Geschmack ist verschieden! Singe ihr vor 'Schildkrötensuppe',
hörst du, alte Tante?«

Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und fing an, mit halb von
Schluchzen erstickter Stimme, so zu singen: --

    »Schöne Suppe, so schwer und so grün,
    Dampfend in der heißen Terrin'!
    Wem nach einem so schönen Gericht
    Wässerte denn der Mund wohl nicht?
    Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!
    Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!
      Wu -- underschöne Su -- uppe!
      Wu -- underschöne Su -- uppe!
      Kö -- önigin der Su -- uppen,
      Wunder-wunderschöne Supp'!

    Schöne Suppe, wer fragt noch nach Fisch,
    Wildpret oder was sonst auf dem Tisch?
    Alles lassen wir stehen zu p
    Reisen allein die wunderschöne Supp',
    Preisen allein die wunderschöne Supp'!
      Wu -- underschöne Su -- uppe!
      Wu -- underschöne Su -- uppe!
      Kö -- önigin der Su -- uppen,
      Wunder-wunderschöne Supp'!

»Den Chor noch einmal!« rief der Greif, und die falsche Schildkröte
hatte ihn eben wieder angefangen, als ein Ruf: »Das Verhör fängt an!« in
der Ferne erscholl.

»Komm schnell!« rief der Greif, und Alice bei der Hand nehmend lief er
fort, ohne auf das Ende des Gesanges zu warten.

»Was für ein Verhör?« keuchte Alice bei'm Rennen; aber der Greif
antwortete nichts als: »Komm schnell!« und rannte weiter, während
schwächer und schwächer, vom Winde getragen, die Worte ihnen folgten: --

    »Kö -- önigin der Su -- uppen,
    Wunder-wunderschöne Supp'!«




Elftes Kapitel.

Wer hat die Kuchen gestohlen?


Der König und die Königin der Herzen saßen auf ihrem Throne, als sie
ankamen, und eine große Menge war um sie versammelt -- allerlei kleine
Vögel und Thiere, außerdem das ganze Pack Karten: der Bube stand vor
ihnen, in Ketten, einen Soldaten an jeder Seite, um ihn zu bewachen;
dicht bei dem Könige befand sich das weiße Kaninchen, eine Trompete in
einer Hand, in der andern eine Pergamentrolle. Im Mittelpunkte des
Gerichtshofes stand ein Tisch mit einer Schüssel voll Torten: sie sahen
so appetitlich aus, daß der bloße Anblick Alice ganz hungrig darauf
machte. -- »Ich wünschte, sie machten schnell mit dem Verhör und
reichten die Erfrischungen herum.« Aber dazu schien wenig Aussicht zu
sein, so daß sie anfing, Alles genau in Augenschein zu nehmen, um sich
die Zeit zu vertreiben.

Alice war noch nie in einem Gerichtshofe gewesen, aber sie hatte in
ihren Büchern davon gelesen und bildete sich etwas Rechtes darauf ein,
daß sie Alles, was sie dort sah, bei Namen zu nennen wußte. »Das ist der
Richter,« sagte sie für sich, »wegen seiner großen Perrücke.«

Der Richter war übrigens der König, und er trug die Krone über der
Perücke (seht euch das Titelbild an, wenn ihr wissen wollt, wie), es sah
nicht aus, als sei es ihm bequem, und sicherlich stand es ihm nicht gut.

»Und jene zwölf kleinen Thiere da sind vermuthlich die Geschwornen,«
dachte Alice. Sie wiederholte sich selbst dies Wort zwei bis drei Mal,
weil sie so stolz darauf war; denn sie glaubte, und das mit Recht, daß
wenig kleine Mädchen ihres Alters überhaupt etwas von diesen Sachen
wissen würden.

Die zwölf Geschwornen schrieben alle sehr eifrig auf Schiefertafeln.
»Was thun sie?« fragte Alice den Greifen in's Ohr. »Sie können ja noch
nichts aufzuschreiben haben, ehe das Verhör beginnt.«

»Sie schreiben ihre Namen auf,« sagte ihr der Greif in's Ohr, »weil sie
bange sind, sie zu vergessen, ehe das Verhör zu Ende ist.«

»Dumme Dinger!« fing Alice entrüstet ganz laut an; aber sie hielt
augenblicklich inne, denn das weiße Kaninchen rief aus: »Ruhe im Saal!«
und der König setzte seine Brille auf und blickte spähend umher, um zu
sehen, wer da gesprochen habe.

Alice konnte ganz deutlich sehen, daß alle Geschworne »dumme Dinger!«
auf ihre Tafeln schrieben, und sie merkte auch, daß Einer von ihnen
nicht wußte, wie es geschrieben wird, und seinen Nachbar fragen mußte.
»_Die_ Tafeln werden in einem schönen Zustande sein, wenn das Verhör
vorüber ist!« dachte Alice.

Einer der Geschwornen hatte einen Tafelstein, der quiekste. Das konnte
Alice natürlich nicht aushalten, sie ging auf die andere Seite des
Saales, gelangte dicht hinter ihn und fand sehr bald eine Gelegenheit,
den Tafelstein fortzunehmen. Sie hatte es so schnell gethan, daß der
arme kleine Geschworne (es war Wabbel), durchaus nicht begreifen konnte,
wo sein Griffel hingekommen war; nachdem er ihn also überall gesucht
hatte, mußte er sich endlich entschließen, mit einem Finger zu
schreiben, und das war von sehr geringem Nutzen, da es keine Spuren auf
der Tafel zurückließ.

[Illustration]

»Herold, verlies die Anklage!« sagte der König.

Da blies das weiße Kaninchen drei Mal in die Trompete, entfaltete darauf
die Pergamentrolle und las wie folgt: --

    »Coeur-Königin, sie buk Kuchen,
    Juchheisasah, juchhe!
    Coeur-Bube kam, die Kuchen nahm.
    Wo sind sie nun? O weh!«

»Gebt euer Urtheil ab!« sprach der König zu den Geschwornen.

»Noch nicht, noch nicht!« unterbrach ihn das Kaninchen schnell. »Da
kommt noch Vielerlei erst.«

»Laßt den ersten Zeugen eintreten!« sagte der König, worauf das
Kaninchen drei Mal in die Trompete blies und ausrief: »Erster Zeuge!«

Der erste Zeuge war der Hutmacher. Er kam herein, eine Tasse in einer
Hand und in der andern ein Stück Butterbrot haltend. »Ich bitte um
Verzeihung, Eure Majestät, daß ich das mitbringe; aber ich war nicht
ganz fertig mit meinem Thee, als nach mir geschickt wurde.«

»Du hättest aber damit fertig sein sollen,« sagte der König. »Wann hast
du damit angefangen?«

Der Hutmacher sah den Faselhasen an, der ihm in den Gerichtssaal gefolgt
war, Arm in Arm mit dem Murmelthier. »Vierzehnten März, glaube ich war
es,« sagte er.

»Funfzehnten,« sagte der Faselhase.

»Sechzehnten,« fügte das Murmelthier hinzu.

»Nehmt das zu Protokoll,« sagte der König zu den Geschwornen, und die
Geschwornen schrieben eifrig die drei Daten auf ihre Tafeln, addirten
sie dann und machten die Summe zu Groschen und Pfennigen.

»Nimm deinen Hut ab,« sagte der König zum Hutmacher.

»Es ist nicht meiner,« sagte der Hutmacher.

»Gestohlen!« rief der König zu den Geschwornen gewendet aus, welche
sogleich die Thatsache notirten.

»Ich halte sie zum Verkauf,« fügte der Hutmacher als Erklärung hinzu,
»ich habe keinen eigenen. Ich bin ein Hutmacher.«

Da setzte sich die Königin die Brille auf und fing an, den Hutmacher
scharf zu beobachten, was ihn sehr blaß und unruhig machte.

»Gieb du deine Aussage,« sprach der König, »und sei nicht ängstlich,
oder ich lasse dich auf der Stelle hängen.«

Dies beruhigte den Zeugen augenscheinlich nicht; er stand abwechselnd
auf dem linken und rechten Fuße, sah die Königin mit großem Unbehagen
an, und in seiner Befangenheit biß er ein großes Stück aus seiner
Theetasse statt aus seinem Butterbrot.

Gerade in diesem Augenblick spürte Alice eine seltsame Empfindung, die
sie sich durchaus nicht erklären konnte, bis sie endlich merkte, was es
war: sie fing wieder an zu wachsen, und sie wollte sogleich aufstehen
und den Gerichtshof verlassen; aber nach weiterer Ueberlegung beschloß
sie zu bleiben, wo sie war, so lange sie Platz genug hatte.

»Du brauchtest mich wirklich nicht so zu drängen,« sagte das
Murmelthier, welches neben ihr saß. »Ich kann kaum athmen.«

»Ich kann nicht dafür,« sagte Alice bescheiden, »ich wachse.«

»Du hast kein Recht dazu, hier zu wachsen,« sagte das Murmelthier.

»Rede nicht solchen Unsinn,« sagte Alice dreister; »du weißt recht gut,
daß du auch wächst.«

»Ja, aber ich wachse in vernünftigem Maßstabe,« sagte das Murmelthier,
»nicht auf so lächerliche Art.« Dabei stand es verdrießlich auf und ging
an die andere Seite des Saales.

Die ganze Zeit über hatte die Königin unablässig den Hutmacher
angestarrt, und gerade als das Murmelthier durch den Saal ging, sprach
sie zu einem der Gerichtsbeamten: »Bringe mir die Liste der Sänger im
letzten Concerte!« worauf der unglückliche Hutmacher so zitterte, daß
ihm beide Schuhe abflogen.

[Illustration]

»Gieb deine Aussage,« wiederholte der König ärgerlich, »oder ich werde
dich hinrichten lassen, ob du dich ängstigst oder nicht.«

»Ich bin ein armer Mann, Eure Majestät,« begann der Hutmacher mit
zitternder Stimme, »und ich hatte eben erst meinen Thee angefangen --
nicht länger als eine Woche ungefähr -- und da die Butterbrote so dünn
wurden -- und es Teller und Töpfe in den Thee schneite.«

»Teller und Töpfe -- was?« fragte der König.

»Es fing mit dem Thee an,« erwiederte der Hutmacher.

»Natürlich fangen Teller und Töpfe mit einem T an. Hältst du mich für
einen Esel? Rede weiter!«

»Ich bin ein armer Mann,« fuhr der Hutmacher fort, »und seitdem schneite
Alles -- der Faselhase sagte nur --«

»Nein, ich hab's nicht gesagt!« unterbrach ihn der Faselhase schnell.

»Du hast's wohl gesagt!« rief der Hutmacher.

»Ich läugne es!« sagte der Faselhase.

»Er läugnet es!« sagte der König: »laßt den Theil der Aussage fort.«

»Gut, auf jeden Fall hat's das Murmelthier gesagt --« fuhr der Hutmacher
fort, indem er sich ängstlich umsah, ob es auch läugnen würde; aber das
Murmelthier läugnete nichts, denn es war fest eingeschlafen. »Dann,«
sprach der Hutmacher weiter, »schnitt ich noch etwas Butterbrot --«

»Aber _was_ hat das Murmelthier gesagt?« fragte einer der Geschwornen.

»Das ist mir ganz entfallen,« sagte der Hutmacher.

»Aber es _muß_ dir wieder einfallen,« sagte der König, »sonst lasse ich
dich köpfen.«

Der unglückliche Hutmacher ließ Tasse und Butterbrot fallen und ließ
sich auf ein Knie nieder. »Ich bin ein armseliger Mann, Eure Majestät,«
fing er an.

»Du bist ein _sehr_ armseliger Redner,« sagte der König.

Hier klatschte eins der Meerschweinchen Beifall, was sofort von den
Gerichtsdienern unterdrückt wurde. (Da dies ein etwas schweres Wort ist,
so will ich beschreiben, wie es gemacht wurde. Es war ein großer
Leinwandsack bei der Hand, mit Schnüren zum Zusammenziehen: da hinein
wurde das Meerschweinchen gesteckt, den Kopf nach unten, und dann saßen
sie darauf.)

»Es ist mir lieb, daß ich das gesehen habe,« dachte Alice, »ich habe so
oft in der Zeitung am Ende eines Verhörs gelesen: 'Das Publikum fing an,
Beifall zu klatschen, was aber sofort von den Gerichtsdienern
unterdrückt wurde,' und ich konnte bis jetzt nie verstehen, was es
bedeutete.«

»Wenn dies Alles ist, was du zu sagen weißt, so kannst du abtreten,«
fuhr der König fort.

»Ich kann nichts mehr abtreten,« sagte der Hutmacher: »ich stehe so
schon auf den Strümpfen.«

»Dann kannst du _abwarten_, bis du wieder gefragt wirst,« erwiederte der
König.

Hier klatschte das zweite Meerschweinchen und wurde unterdrückt.

»Ha, nun sind die Meerschweinchen besorgt,« dachte Alice, »nun wird es
besser vorwärts gehen.«

[Illustration]

»Ich möchte lieber zu meinem Thee zurückgehen,« sagte der Hutmacher mit
einem ängstlichen Blicke auf die Königin, welche die Liste der Sänger
durchlas.

»Du kannst gehen,« sagte der König, worauf der Hutmacher eilig den
Gerichtssaal verließ, ohne sich einmal Zeit zu nehmen, seine Schuhe
anzuziehen.

»-- und draußen schneidet ihm doch den Kopf ab,« fügte die Königin zu
einem der Beamten gewandt hinzu; aber der Hutmacher war nicht mehr zu
sehen, als der Beamte die Thür erreichte.

»Ruft den nächsten Zeugen!« sagte der König.

Der nächste Zeuge war die Köchin der Herzogin. Sie trug die
Pfefferbüchse in der Hand, und Alice errieth, schon ehe sie in den Saal
trat, wer es sei, weil alle Leute in der Nähe der Thür mit einem Male
anfingen zu niesen.

»Gieb deine Aussage,« sagte der König.

»Ne!« antwortete die Köchin.

Der König sah ängstlich das weiße Kaninchen an, welches leise sprach:
»Eure Majestät müssen diesen Zeugen einem Kreuzverhör unterwerfen.«

»Wohl, wenn ich muß, muß ich,« sagte der König trübsinnig, und nachdem
er die Arme gekreuzt und die Augenbraunen so fest zusammengezogen hatte,
daß seine Augen kaum mehr zu sehen waren, sagte er mit tiefer Stimme:
»Wovon macht man kleine Kuchen?«

»Pfeffer, hauptsächlich,« sagte die Köchin.

»Syrup,« sagte eine schläfrige Stimme hinter ihr.

»Nehmt dieses Murmelthier fest!« heulte die Königin. »Köpft dieses
Murmelthier! Schafft dieses Murmelthier aus dem Saale! Unterdrückt es!
Kneift es! Brennt ihm den Bart ab!«

Einige Minuten lang war das ganze Gericht in Bewegung, um das
Murmelthier fortzuschaffen; und als endlich Alles wieder zur Ruhe
gekommen war, war die Köchin verschwunden.

»Schadet nichts!« sagte der König und sah aus, als falle ihm ein Stein
vom Herzen. »Ruft den nächsten Zeugen.« Und zu der Königin gewandt,
fügte er leise hinzu: »Wirklich, meine Liebe, du mußt das nächste
Kreuzverhör übernehmen, meine Arme sind schon ganz lahm.«

Alice beobachtete das weiße Kaninchen, das die Liste durchsuchte, da sie
sehr neugierig war, wer wohl der nächste Zeuge sein möchte, -- »denn sie
haben noch nicht viel Beweise,« sagte sie für sich. Denkt euch ihre
Ueberraschung, als das weiße Kaninchen mit seiner höchsten Kopfstimme
vorlas: »Alice!«




Zwölftes Kapitel.

Alice ist die Klügste.


»Hier!« rief Alice, in der augenblicklichen Erregung ganz vergessend,
wie sehr sie die letzten Minuten gewachsen war; sie sprang in solcher
Eile auf, daß sie mit ihrem Rock das Pult vor sich umstieß, so daß alle
Geschworne auf die Köpfe der darunter sitzenden Versammlung fielen. Da
lagen sie unbehülflich umher und erinnerten sie sehr an ein Glas mit
Goldfischen, das sie die Woche vorher aus Versehen umgestoßen hatte.

»Oh, ich _bitte_ um Verzeihung,« rief sie mit sehr bestürztem Tone, und
fing an, sie so schnell wie möglich aufzunehmen; denn der Unfall mit den
Goldfischen lag ihr noch im Sinne, und sie hatte eine unbestimmte Art
Vorstellung, als ob sie gleich gesammelt und wieder in ihr Pult gethan
werden müßten, sonst würden sie sterben.

[Illustration]

»Das Verhör kann nicht fortgesetzt werden,« sagte der König sehr ernst,
»bis alle Geschworne wieder an ihrem rechten Platze sind -- _alle_,«
wiederholte er mit großem Nachdrucke, und sah dabei Alice fest an.

Alice sah sich nach dem Pulte um und bemerkte, daß sie in der Eile die
Eidechse kopfunten hineingestellt hatte, und das arme kleine Ding
bewegte den Schwanz trübselig hin und her, da es sich übrigens nicht
rühren konnte. Sie zog es schnell wieder heraus und stellte es richtig
hinein. »Es hat zwar nichts zu bedeuten,« sagte sie für sich, »ich
glaube, es würde für das Verhör ganz eben so nützlich sein kopfoben wie
kopfunten.«

Sobald sich die Geschwornen etwas von dem Schreck erholt hatten,
umgeworfen worden zu sein, und nachdem ihre Tafeln und Tafelsteine
gefunden und ihnen zurückgegeben worden waren, machten sie sich eifrig
daran, die Geschichte ihres Unfalles aufzuschreiben, alle außer der
Eidechse, welche zu angegriffen war, um etwas zu thun; sie saß nur mit
offnem Maule da und starrte die Saaldecke an.

»Was weißt du von dieser Angelegenheit?« fragte der König Alice.

»Nichts!« sagte Alice.

»Durchaus nichts?« drang der König in sie.

»Durchaus nichts!« sagte Alice.

»Daß ist sehr wichtig,« sagte der König, indem er sich an die
Geschwornen wandte. Sie wollten dies eben auf ihre Tafeln schreiben,
als das weiße Kaninchen ihn unterbrach. »Unwichtig, meinten Eure
Majestät natürlich!« sagte es in sehr ehrfurchtsvollem Tone, wobei es
ihn aber mit Stirnrunzeln und verdrießlichem Gesichte ansah.

»_Un_wichtig, natürlich, meinte ich,« bestätigte der König eilig, und fuhr
mit halblauter Stimme für sich fort: »wichtig -- unwichtig -- unwichtig
-- wichtig --« als ob er versuchte, welches Wort am besten klänge.

Einige der Geschwornen schrieben auf »wichtig«, und einige »unwichtig.«
Alice konnte dies sehen, da sie nahe genug war, um ihre Tafeln zu
überblicken; »aber es kommt nicht das Geringste darauf an,« dachte sie
bei sich.

In diesem Augenblick rief der König, der eifrig in seinem Notizbuch
geschrieben hatte, plötzlich aus: »Still!« und las dann aus seinem Buche
vor: »Zweiundvierzigstes Gesetz. _Alle Personen, die mehr als eine Meile
hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen_.

Alle sahen Alice an.

»Ich _bin_ keine Meile groß,« sagte Alice.

»Das bist du wohl,« sagte der König.

»Beinahe zwei Meilen groß,« fügte die Königin hinzu.

»Auf jeden Fall werde ich nicht fortgehen,« sagte Alice, »übrigens ist
das kein regelmäßiges Gesetz; Sie haben es sich eben erst ausgedacht.«

»Es ist das älteste Gesetz in dem Buche,« sagte der König.

»Dann müßte es Nummer Eins sein,« sagte Alice.

Der König erbleichte und machte sein Notizbuch schnell zu. »Gebt euer
Urtheil ab!« sagte er leise und mit zitternder Stimme zu den
Geschwornen.

»Majestät halten zu Gnaden, es sind noch mehr Beweise aufzunehmen,«
sagte das weiße Kaninchen, indem es eilig aufsprang; »dieses Papier ist
soeben gefunden worden.«

»Was enthält es?« fragte die Königin.

»Ich habe es noch nicht geöffnet,« sagte das weiße Kaninchen, »aber es
scheint ein Brief von dem Gefangenen an -- an Jemand zu sein.«

»Ja, das wird es wohl sein,« sagte der König, »wenn es nicht an Niemand
ist, was, wie bekannt nicht oft vorkommt.«

»An wen ist es adressirt?« fragte einer der Geschwornen.

»Es ist gar nicht adressirt,« sagte das weiße Kaninchen; »überhaupt
steht auf der _Außenseite_ gar nichts.« Es faltete bei diesen Worten das
Papier auseinander und sprach weiter: »Es ist übrigens gar kein Brief,
es sind Verse.«

»Sind sie in der Handschrift des Gefangenen?« fragte ein anderer
Geschworner.

»Nein, das sind sie nicht,« sagte das weiße Kaninchen, »und das ist das
Merkwürdigste dabei.« (Die Geschwornen sahen alle ganz verdutzt aus.)

»Er muß eines Andern Handschrift nachgeahmt haben,« sagte der König.
(Die Gesichter der Geschwornen klärten sich auf.)

»Eure Majestät halten zu Gnaden,« sagte der Bube, »ich habe es nicht
geschrieben, und Niemand kann beweisen, daß ich es geschrieben haben, es
ist keine Unterschrift darunter.«

»Wenn du es nicht unterschrieben hast,« sagte der König, »so macht das
die Sache nur schlimmer. Du mußt schlechte Absichten dabei gehabt haben,
sonst hättest du wie ein ehrlicher Mann deinen Namen darunter gesetzt.«

Hierauf folgte allgemeines Beifallklatschen; es war der erste wirklich
kluge Ausspruch, den der König an dem Tage gethan hatte.

»Das _beweist_ seine Schuld,« sagte die Königin.

»Es beweist durchaus gar nichts!« sagte Alice, »Ihr wißt ja noch nicht
einmal, worüber die Verse sind!«

»Lies sie!« sagte der König.

Das weiße Kaninchen setzte seine Brille auf. »Wo befehlen Eure Majestät,
daß ich anfangen soll?« fragte es.

»Fange beim Anfang an,« sagte der König ernsthaft, »und lies bis du an's
Ende kommst, dann halte an.«

Dies waren die Verse, welche das weiße Kaninchen vorlas: --

    »Ich höre ja du warst bei ihr,
    Und daß er mir es gönnt;
    Sie sprach, sie hielte viel von mir,
    Wenn ich nur schwimmen könnt'!

    Er schrieb an sie, ich ginge nicht
    (Nur wußten wir es gleich):
    Wenn ihr viel an der Sache liegt,
    Was würde dann aus euch?

    Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei,
    Ihr gabt uns drei Mal vier;
    Jetzt sind sie hier, er steht dabei;
    Doch alle gehörten erst mir.

    Würd' ich und sie vielleicht darein
    Verwickelt und verfahren,
    Vertraut er dir, sie zu befrei'n,
    Gerade wie wir waren.

    Ich dachte schon in meinem Sinn,
    Eh' sie den Anfall hätt',
    Ihr wär't derjenige, der ihn,
    Es und uns hindertet.

    Sag' ihm um keinen Preis, daß ihr
    Die Andern lieber war'n;
    Denn keine Seele außer dir
    Und mir darf dies erfahr'n.«

»Das ist das wichtigste Beweisstück, das wir bis jetzt gehört haben,«
sagte der König, indem er sich die Hände rieb; »laßt also die
Geschwornen --«

»Wenn es Einer von ihnen erklären kann,« sagte Alice (sie war die
letzten Paar Minuten so sehr gewachsen, daß sie sich gar nicht
fürchtete, ihn zu unterbrechen), »so will ich ihm sechs Dreier schenken.
Ich finde, daß auch keine Spur von Sinn darin ist.«

Die Geschwornen schrieben Alle auf ihre Tafeln: »Sie findet, daß auch
keine Spur von Sinn darin ist;« aber keiner von ihnen versuchte, das
Schriftstück zu erklären.

»Wenn kein Sinn darin ist,« sagte der König, »das spart uns ja ungeheuer
viel Arbeit; dann haben wir nicht nöthig, ihn zu suchen. Und dennoch
weiß ich nicht,« fuhr er fort, indem er das Papier auf dem Knie
ausbreitete und es prüfend beäugelte, »es kommt mir vor, als könnte ich
etwas Sinn darin finden. '-- wenn ich nur schwimmen könnt'!' du kannst
nicht schwimmen, nicht wahr?« wandte er sich an den Buben.

Der Bube schüttelte traurig das Haupt. »Seh' ich etwa danach aus?« (was
freilich nicht der Fall war, da er gänzlich aus Papier bestand.)

»Das trifft zu, so weit,« sagte der König und fuhr fort, die Verse leise
durchzulesen. »'Nur wußten wir es gleich' -- das sind die Geschwornen,
natürlich -- 'Ich gab ihr eins, sie gab ihm zwei --' ja wohl, so hat
er's mit den Kuchen gemacht, versteht sich --«

»Aber es geht weiter: 'Jetzt sind sie hier,'« sagte Alice.

»Freilich, da sind sie ja! er steht dabei!« sagte der König triumphirend
und wies dabei nach den Kuchen auf dem Tische und nach dem Buben;
»nichts kann klarer sein. Dann wieder -- 'Eh sie den Anfall hätt'' -- du
hast nie einen Anfall gehabt, Liebe, glaube ich,« sagte er zu der
Königin.

[Illustration]

»Niemals,« rief die Königin wüthend und warf dabei der Eidechse ein
Tintenfaß an den Kopf. (Der unglückliche kleine Wabbel hatte aufgehört,
mit dem Finger auf seiner Tafel zu schreiben, da er merkte, daß es keine
Spuren hinterließ; doch nun fing er eilig wieder an, indem er die Tinte
benutzte, die von seinem Gesichte herabträufelte, so lange dies
vorhielt.)

»Dann ist dies nicht dein _Fall_,« sagte der König und blickte lächelnd in
dem ganzen Saale herum. Alles blieb todtenstill.

»-- 's ist ja 'n Witz!« fügte der König in ärgerlichem Tone hinzu --
sogleich lachte Jedermann. »Die Geschwornen sollen ihren Ausspruch
thun,« sagte der König wohl zum zwanzigsten Male.

»Nein, nein!« sagte die Königin. »Erst das Urtheil, der Ausspruch der
Geschwornen nachher.«

»Dummer Unsinn!« sagte Alice laut. »Was für ein Einfall, erst das
Urtheil haben zu wollen!«

»Halt den Mund!« sagte die Königin, indem sie purpurroth wurde.

»Ich will nicht!« sagte Alice.

»Schlagt ihr den Kopf ab!« brüllte die Königin so laut sie konnte.
Niemand rührte sich.

»Wer fragt nach euch?« sagte Alice (unterdessen hatte sie ihre volle
Größe erreicht). »Ihr seid nichts weiter als ein Spiel Karten!«

[Illustration]

Bei diesen Worten erhob sich das ganze Spiel in die Luft und flog auf
sie herab; sie schrie auf, halb vor Furcht, halb vor Aerger, versuchte
sie sich abzuwehren und merkte, daß sie am Ufer lag, den Kopf auf dem
Schoße ihrer Schwester, welche leise einige welke Blätter fortnahm, die
ihr von den Bäumen herunter auf's Gesicht gefallen waren.

»Wach auf, liebe Alice!« sagte ihre Schwester; »du hast mal lange
geschlafen!«

»O, und ich habe einen so merkwürdigen Traum gehabt!« sagte Alice, und
sie erzählte ihrer Schwester, so gut sie sich errinnern konnte, alle die
seltsamen Abenteuer, welche ihr eben gelesen habt. Als sie fertig war,
gab ihre Schwester ihr einen Kuß und sagte: »Es _war_ ein sonderbarer
Traum, das ist gewiß; aber nun lauf hinein zum Thee, es wird spät.« Da
stand Alice auf und rannte fort, und dachte dabei, und zwar mit Recht,
daß es doch ein wunderschöner Traum gewesen sei.

       *       *       *       *       *

Aber ihre Schwester blieb sitzen, wie sie sie verlassen hatte, den Kopf
auf die Hand gestützt, blickte in die untergehende Sonne und dachte an
die kleine Alice und ihre wunderbaren Abenteuer, bis auch sie auf ihre
Weise zu träumen anfing, und dies war ihr Traum:

Zuerst träumte sie von der kleinen Alice selbst: wieder sah sie die
kleinen Händchen zusammengefaltet auf ihrem Knie, und die klaren
sprechenden Augen, die zu ihr aufblickten -- sie konnte selbst den Ton
ihrer Stimme hören und das komische Zurückwerfen des kleinen Köpfchens
sehen, womit sie die einzelnen Haare abschüttelte, die ihr immer wieder
in die Augen kamen -- und jemehr sie zuhörte oder zuzuhören meinte, desto
mehr belebte sich der ganze Platz um sie herum mit den seltsamen
Geschöpfen aus ihrer kleinen Schwester Traum.

Das lange Gras zu ihren Füßen rauschte, da das weiße Kaninchen
vorbeihuschte -- die erschrockene Maus plätscherte durch den nahen Teich
-- sie konnte das Klappern der Theetassen hören, wo der Faselhase und
seine Freunde ihre immerwährende Mahlzeit hielten, und die gellende
Stimme der Königin, die ihre unglücklichen Gäste zur Hinrichtung
abschickte -- wieder nieste das Ferkel-Kind auf dem Schoße der Herzogin,
während Pfannen und Schüsseln rund herum in Scherben brachen -- wieder
erfüllten der Schrei des Greifen, das Quieken von dem Tafelstein der
Eidechse und das Stöhnen des unterdrückten Meerschweinchens die Luft und
vermischten sich mit dem Schluchzen der unglücklichen falschen
Schildkröte in der Entfernung.

So saß sie da, mit geschlossenen Augen, und glaubte fast, sie sei im
Wunderlande, obgleich sie ja wußte, daß sobald sie die Augen öffnete,
Alles wieder zur alltäglichen Wirklichkeit werden würde; das Gras würde
dann nur im Winde rauschen, der Teich mit seinem Rieseln das Wogen des
Rohres begleiten; das Klappern der Theetassen würde sich in klingende
Heerdenglocken verwandeln und die gellende Stimme der Königin in die
Rufe des Hirtenknaben -- und das Niesen des Kindes, das Geschrei des
Greifen und all die andern außerordentlichen Töne würden sich (das wußte
sie) in das verworrene Getöse des geschäftigen Gutshofes verwandeln --
während sie statt des schwermüthigen Schluchzens der falschen
Schildkröte in der Ferne das wohlbekannte Brüllen des Rindviehes hören
würde.

Endlich malte sie sich aus, wie ihre kleine Schwester Alice in späterer
Zeit selbst erwachsen sein werde; und wie sie durch alle reiferen Jahre
hindurch das einfache liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahren, und wie
sie andere kleine Kinder um sich versammeln und _deren_ Blicke neugierig
und gespannt machen werde mit manch einer wunderbaren Erzählung,
vielleicht sogar mit dem Traume vom Wunderlande aus alten Zeiten; und
wie sie alle ihre kleinen Sorgen nachfühlen, sich über alle ihre kleinen
Freuden mitfreuen werde in der Erinnerung an ihr eigenes Kindesleben und
die glücklichen Sommertage.





End of Project Gutenberg's Alice's Abenteuer im Wunderland, by Lewis Carroll

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Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
[email protected].  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
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Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


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