Der Bürger

By Leonhard Frank

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Title: Der Bürger

Author: Leonhard Frank

Release Date: January 14, 2022 [eBook #67161]

Language: German

Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER ***


                      LEONHARD FRANK / DER BÜRGER


                             LEONHARD FRANK




                               DER BÜRGER


                                 ROMAN

                             1.-44. TAUSEND


                       DER MALIK-VERLAG / BERLIN


                    DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET




                                   I


Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto
kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die
Broschüre ... Ehrenwort?‘

„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der
philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der
Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger
stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr
hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.

Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater
sagen, wenn ich sie kaufe? ... Und was würde er sagen, wenn er wüßte,
daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder würde er
verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden
ginge?‘

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las
den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und
fühlte, während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, daß
sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand
neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte:
Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler
eben gelächelt? Über mich?

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte,
sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen
Regenbogen schlugen.

‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.

‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch
in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘

Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines
Universitätsprofessors. Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte
Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an.
Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von
selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz
erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so
feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten
Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im
Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden
Hampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld
feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den
abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich
aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut
im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen
von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte.
Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen
von einem bisher nie empfundenen Gefühle, zu Karl Lenz sagte: „Man muß
Empörer werden.“

„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“

Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an, beschämt empor
zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder
versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen
eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf.

Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer
vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott
gäbe.

Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der
Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: ‚Nein, so einen
unselbständigen Jungen, wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein
Unglück für deinen Vater!‘

Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter
quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich habe doch gestern zum Professor
gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein
guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach
dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‘

Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du gewagt?‘

Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ‚Wie
kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante
in Schutz nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen
Ansichten.‘

Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar keine Schande für
die Familie.‘

Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich ein ‚Schmähliches Etwas‘
genannt habe ... Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig
behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden.

Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu
geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß,
zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: „Ich werde ihn
in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder
so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig
und lebensuntüchtig ist er.“

Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern
gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.

„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen
liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele“, sagte Herr
Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht
funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal
gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes
Vögelchen‘, dachte er und sagte es nicht.

Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. „Wie gehts ihm? Wie ist
mein Bruder?“

„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte fortstelzen.

Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende Mann so einen
Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu ihm:
Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste für dich ... Und das ist auch
meine Meinung.“

Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens,
betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere
sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten,
schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr
Bruder sterben sollte? ... Kann ich mit Jürgen sprechen?“

„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ‚Die
Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn
jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.“

Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. „Hören Sie!
Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht
einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines
Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er
plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie
bei andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und lockte: ‚Bi bi bi
bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ... Sollte man das für möglich
halten? Diese Unselbständigkeit! ... Er ist ganz seiner Mutter
nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor Mäusen
– ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen –; aber als einmal eine
Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus
ertränkt wurde.“

Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten
Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte
er sie kräftig und sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“

Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige Minuten strengen
Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er
anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange
Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne.
‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann erst quälte er sich den deutschen
Aufsatz ab.

Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das
Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.

Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb
keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der
Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte:
„Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen ... Mein Bruder war
ein bedeutender Mann.“ Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.

„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben ... Mit viel
Geduld und Strenge gehts vielleicht.“

Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet.
„Jürgens schwankende Seele ... Seine Unsicherheit“, vernahmen die
Zurückbleibenden.

„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß die Augen auf. „Bin
ich Atheist, schreibt der Junge. Und gestern diese Geschichte mit
Abraham!“

Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben wird dem Burschen
diese Gedanken schon abschleifen ... Gut und schnell auffassen tut er
ja.“

„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand
erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen
die Konferenz.

Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und
unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl
vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nachhause, wo Weihrauchwolken
standen.

Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der
Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das
Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu
deuten: „An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in
deinem ganzen Leben nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser! Und
dann komm und iß.“

Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still
brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in
Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht.

Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne
Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich
zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.

Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei Vaterunser zu beten.
Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze
des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück.

Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.

Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und
schleuderte die Worte ab: ‚Na, du schmähliches Etwas!‘

„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen verächtlich und wandte,
irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht
er, sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches Etwas!

Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er
ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer.

„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante, ergriff seine Hand
und führte ihn hinaus.

Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über seine Gefühle zu
gewinnen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende
Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben.

Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante,
schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die
Professoren, in denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem
bedeutenden Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht bat.

In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden,
drehte Jürgen Kopf und Schultern weg, als im Zimmer plötzlich Herr
Philippi stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer
noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so
wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter,
kranker Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. So einer ist
leicht blind und ungerecht.“

Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken.

Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte Herr Philippi. Und
log: „Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem
Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im
Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden
Vogelschwarm ... Es waren Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich
sagte Ihr Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens
furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‘ ...
Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in
Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘, wie sagte er doch, ‚ein
ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei
Gelegenheit einmal sagen‘.“

Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die
Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: „Und dieses alte Mädchen,
Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So
eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die
volle Wahrheit ... Besuchen Sie mich einmal.“

‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen unsere Kinder nicht
hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit Körperpflege,
reichlichem Essen, höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine
breite, glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer, die sie
in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten
über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand
mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie in ihrem ganzen Leben, seine
Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘,
dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor der Tante stand.

Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, steil aufgerichtet. „Ich
habe alles gehört. Du hast keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine
Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.“

Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja
vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens die volle Wahrheit.“

Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in
übergroßem Schrecken geöffnet. „Was hast du gesagt? Wiederhole, was du
eben gesagt hast!“

„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall der Überzeugung riß der
Tante die Empörung ins Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren
gehört habe?“

Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam
irrblickende Augen.

„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du
übergibst ihm den Brief. Und jetzt ... Pfui!“

Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen
auf seinem Gesichte kalt werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.

Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in seinem Körper. Er trat
ans Fenster, starrte in den Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln
steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten
klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand
spielte Ziehharmonika.

Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die
rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten
Tanz.

Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne
Brief geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte,
galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan
und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd
hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im
Schulzimmer an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten Bleistift
auf das Katheder klopfte.

Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in
dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor
zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen hatte das
Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß wie ein schwarzer Mond und
schlage nicht mehr.

„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium
herausnehmen muß. Umstände halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad
verläßt euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel, Armut ist keine
Schande.“

Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins Tintenfaß.

„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ... In Amerika, zum
Beispiel, soll das öfter vorkommen“, sagte der Professor und lächelte.
„Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit
einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen
zur Tür: „Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“

Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet
das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das
Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den abgezehrten
Proletarierjungen an.

„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun? Heraus damit!“

Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten
Lippen stammelten: „Ich wollte nichts sagen.“

„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer Fingerhakeln
geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand
ein kleines Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen Sie sichs
von Leo Seidel erklären.“

Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der
Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte
die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.

Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben,
brüllte in Gedanken: ‚Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein.
Gemein! ... Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor an,
bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?“

„Flaschenzüge?“

„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel, sagen Sie es ihm.“

„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem
Flaschenzuge ...“

„Mit Hilfe!“

„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die
zehnmal so schwer sind wie der Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“

‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber
‚Überrumplung‘ gesagt.

Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf dem Heimwege, wo alle
sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch
die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.

Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken
trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der
andern nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren.

Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht.
Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am
nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.

Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu
besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben
des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als
schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah
hinaus in den stinkenden Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und
Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, der sich im
selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte.

Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, konnte
scherzen: „In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe
alles, was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe ich dir das Buch.
Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.“

Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter
Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann
zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen,
bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen.

„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude
... mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.“

Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der
Klassenfünfte geworden wäre.

Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du
Hausdiener werden, anstatt vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles
was recht ist!“

„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin spuckte in den Napf.
„Was ihr redet!“

Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das ist maßlos ungerecht.
Gemein ist das. Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem,
ders hören will.“ Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.

Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: „Mein Gott, das
sind ja lauter Dummheiten.“

„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei schon von vornherein eine
Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen
Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“

„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor werden kann! Wer
kanns wissen?“

„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf wird Professor; manch
kluger Kopf muß sich eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das
heutzutage. Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. Man muß sich
schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die
Armut schwer im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste
Perspektiven.“

„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre. Sie sind reich.“

Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.“ Und
schwankend zwischen Abweisung und Güte: „Du gehst jetzt nachhause,
verstehst du, nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“

Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück.
Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der
Mitschüler.

Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt
worden.

„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ Karl Lenz machte das
Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte.

„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer, Sohn eines reichen
Knopffabrikanten, tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log:
„Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen kehrte
er zusammen.“

Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein,
ohne zu wissen, weshalb die andern lachten.

„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine Weltgeschichte?“ Alle
sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück.

Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: „Zum
Roßballensammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.“

Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: „Zuhause bei ihm
...“ Er hielt sich die Nase zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle
hielten sich die Nase zu.

Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle, nicht mehr allein
zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu
sein, wie die andern. Das würde das Leben leicht machen.

Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platze, in einem
neuen Anzug, das Gesicht verschlossen.

‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens Körper bewegte sich
selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer.

„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst du an deine
Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer ‚An
Gottes Segen ist alles gelegen‘. Mit dem Schnabel hielt diese von
Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in
der Mitte saß.

Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen
Vermögenssteuer gestellt worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich
allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen.
Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das
veranlaßt. Hilfe! Ich!‘

‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der
hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‘

‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante irr an. „Wie schrecklich!“

„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! Zuerst die
Todesanzeigen!“

„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar
nicht mehr zu tun vermag.“

„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden
durch das Auge. „Alle Todesanzeigen!“

„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“ ‚Weshalb hat Herr Philippi
mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht
nicht so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘

Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen worden
war.

Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten:
„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die
im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing,
umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte es
langsam in seine Brust.

Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte schon nach einigen
Wochen Leo Seidel weichen, der sich bald zum Primus in die Höhe
arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der
ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr
Seidel nie. Auch dann nicht, als er sich eines Tages mit der ganzen
Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er
bei sich zuhause absolut nicht finden könne.

Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden Drucke der Einsamkeit
wiederholt zu seinen Mitschülern und, vor Ekel, sich angebiedert zu
haben, immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den Mitschülern.
Schloß sich endlich enger dem Sohne des Knopffabrikanten an, zu dem ihn
anfangs der gemeinsame Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen hatte
und später seine immer stärker werdende Bewunderung von Adolf
Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb der Schule wie ein Erwachsener ohne
Schwierigkeit mit dem Leben fertig zu werden.

„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; wenn du aber eine
Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: Heute nacht, meine Liebe, bin ich
verhindert, tut mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst bist
du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise jedoch wird man in den
Klub junger Kaufleute erst nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich
werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener natürlich!“

„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“

„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal, aber ehrlich, wie oft
warst du schon krank?“

„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“

„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante Männerkrankheit, wie
oft du die gehabt hast!“

„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich weiß nur nicht, was
du meinst.“

Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke und Refraingesang
klangen durch das beleuchtete, offene Fenster herunter. Adolf sang
gleich mit:

   „Es haben zwei ne ganze Nacht
   Zusammen in einem Bett verbracht.
   Was ham se wohl gemacht?“

Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das plötzlich zum Sturm
anwuchs, galt dem Vortragenden, der auf dem Podium stand und wortlos
demonstrierte, was die beiden gemacht haben.

„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“, sagte zu seiner
verschwitzten, verstaubten Frau ein ziegenbärtiger, mit Waldlaub
geschmückter Sonntagsausflügler und schob den Kinderwagen weiter.

Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger Stimme. Das Klaviergepauke
trug den Refrain herunter: „Was ham se wohl gemacht?“

„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“

   „Bei Nacht und auch bei Licht ...“

Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte Jürgen zögernd: „Drückt
dich auch alles so? Ich meine, deinetwegen und auch wegen der andern.
Das ganze Leben, so wie es ist?“

   „Gebetet, gebetet ham se nicht!“

„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! Der Kragen, der Schuh
drückt.“ Er streckte den Fuß vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene
Schuh drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze einmal hinauf.
Warte du hier.“

Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und ging davon, bis zu der
Ansammlung waldlaubbehangener Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien,
Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, verschwitzt und grün,
stillgeworden unter der zischenden Bogenlampe standen und den Anblick
eines Mannes auf sich wirken ließen.

Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum auf den Lippen,
langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, auf dessen Schaufenster
erhabene Goldbuchstaben verkündeten: Kapital und Goldreserven 500
Millionen.

Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: „Epileptischer
Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. Dann vergeht der Anfall.“

Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen Blick die über ihn
gebeugten Gesichter und richtete sich, von zehn Armen unterstützt,
sitzlings auf, ließ den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend. Ich
wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das Nötige nicht ... Alles
nur das Elend!“

Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert, dachte er und stieß brutal
durch den Kreis.

Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. Auch damals lag auf dem
Pflaster ein Mann: jung, mit eleganter, blutiger Wäsche,
strenggebügelten, großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern und
Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist aufgerissen, die Brust
freigelegt.

‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen Augen starrten gläsern. Das
war echt und entsetzlich; der vorhin hat simuliert ... Aber wie
furchtbar muß es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos
Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor den vielen Menschen
... Es wird ja vollkommen gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur
simuliert war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, daß er
nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen sein.‘

Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er zurück. Der Platz war
leer, die Bogenlampe zischte nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß.
Jürgen lief umher, suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause und
sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich sah er den Bettler liegen.

   „Beim Sang der Nachtigallen
   Ist Urselchen gefallen.
   Wohl über große Steine?“

schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter.

„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“

„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, und singt so ein Lied.
Wie furchtbar! ... Nun, und jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist
wieder etwas dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt
wach sein, bis man zu etwas Schlechtem gar nicht mehr fähig ist.“ Das
war ein Gelübde.

Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, daß er, obwohl es
Sonntag und zehn Uhr abends war, die Hausglocke des Lackierermeisters
zog.

„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich auch bis morgen
Zeit gehabt; aber ich ging gerade hier vorbei ...“

„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“

‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen. ‚Betteln erwünscht‘,
geht auch nicht. „Schreiben Sie – auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird
Armen gegeben‘.“

„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst dich wundern, mein
Junge.“

„Nein, die andern werden sich wundern.“

„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ... Weiß auf schwarz? Oder
schwarz auf weiß? Man kann auch etwas Farbiges machen. Oder
Goldschrift?“

„Vielleicht Gold auf schwarz?“

„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘, nicht wahr? Mein
Gott, so einen Unsinn hab’ ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir
glauben.“

Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die Tafel am Gartenzaun
fest, an der Rückseite des Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab
dem Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat reichen?“

Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘ glänzten schön. Darunter
hatte Jürgen einen Zettel geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf
Uhr vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante täglich in der
Kirche saß.

In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein junger Hund, langgeworden
und immer in so unruhvoller Eile, daß der vornüberhängende Körper einen
schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, stolperte Jürgen in die
Jünglingstage, in seinen siebzehnten Frühling hinein, fragenden Blickes
beständig und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt suchend nach
der erlösenden Antwort.

Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen Mädchen, die im
öffentlichen Parke ihren Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn.
Seidenblauer Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete,
billardglatte Rasenflächen und knospende Baumkronen gespannt. Alte
Gouvernanten sahen rosig aus.

Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos weiter eilen oder
verweilen solle, blickte Jürgen sich um, sog den Blumenduft ein. Wind
schüttelte die langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er sie aus
der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, in den Schultern noch
eckige Katharina – Tochter des Universitätsprofessors Lenz – betrachten
zu können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, fremden Blickes die
jubelnden Kinder beobachtete, bis sie Jürgens unverwandten Blick fühlte.
Da sah sie erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange Goldfische
aus den Schlinggewächsen langsam zur Wasseroberfläche zogen, langsam
wieder in die Tiefe, und las dann weiter in dem Buche.

Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Die
Himmelsbläue über ihr sprang mit.

Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, Teich, Fontäne und
umkreiste dabei in immer kleiner werdendem Abstande die Lesende, deren
ganzer Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, je näher
Jürgen kam.

Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: „Das sind Karpfen,
richtige Karpfen. Man kann sie essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das
sagte, dachte er und setzte sich.

Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt zur Buchseite.

Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit ihrem, in dem
frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu zu kämpfen hatte.

Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie das zukünftige Ich in
ihrem Blicke stand, losgespalten von der lieblichen Kindlichkeit, mit
der sie den Rock über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl
erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand er das
erstemal in seinem Leben ganz plötzlich rückhaltloses Vertrauen. Dies
kam mehr in Blick und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten.

Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und Antwort im Innersten der
Umwelt. Frage und Antwort. Und eine Frage Katharinas, auf die er
antworten konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte in sich. Das reißt
uns hin und her. Und täglich und stündlich kommt Neues hinzu, und alles
ist furchtbar. Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“

Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge mit ihm
spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. Er überragte sie um
Kopfeslänge. Sie verschwanden in dem streng beschnittenen Laubgang von
Korneliuskirschen.

Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig gebogenen Nacken
und, da sie aufsah, auf ihren kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie
stehen und wandten erbebend sich ab.

„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat mir viel von Ihnen
erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! Er ist dumm. Er begreift gar
nichts.“

Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel ‚Hier wird Armen
gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen habe. „Aber das sprach sich so
schnell herum, daß noch in der selben Woche an einem einzigen Vormittag
mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt weiß ich natürlich schon, daß
all das gar nichts nützt. Und wenn meine Tante die Tafel nicht
heruntergenommen hätte, würde ich selbst es getan haben ... Was aber
soll man denn tun?“

Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es von ihren Schuhspitzen
ab: „Es gibt nur eines: man muß sich opfern, muß sich selbst ganz und
gar aufopfern.“

„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da sagen ... Aber
wie? Wie soll man sich aufopfern?“

Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen und auch heute ihren
täglichen, vom Arzte verschriebenen Spaziergang im Öffentlichen Parke
gemacht hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein und
auf die Bank zurück, auf der sie saß, und raffte ihren Häkelbeutel
zusammen, schoß nach in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen
bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos weg von Katharina.

In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam Jürgen zu dem Schlusse,
erst nachdem er für immer aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina
wieder vor die Augen treten.

Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der
Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen
war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er
eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken weich darbieten
konnte.

Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur
Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters
‚Letztwillige Verfügungen über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann das
viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.

Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein.

„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den letzten
Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren
Geschichte bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt
werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und
ihn Beamter werden zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem nach
meines seligen Bruders Meinung nicht hat ... So ists, Jürgen, siehst du.
Nun werde mir bald wieder gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du
sein könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich an,
streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: „Du hast ja wieder
Fieber.“

Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte.

Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und
heftig.

Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer
Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzuschlagen, unterbunden
war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie ihn
fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Niemals
‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde.

Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel
jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst
hinaus, wurde lang und sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende
Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, stundenlang
flußaufwärts.

Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend nach, da hier das
Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich war, der vielen großen,
quadratischen Wasserlöcher wegen.

In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große
Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste
Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei,
bis die Nacht ihn überraschte.

Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der Fluß dagegen zog
einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen
wäre, als auf dem Eise.

Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand
gegeben und ihn vor das Tunnelloch getrieben hatte, veranlaßte ihn auch
jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen.

Die Fischer waren schon lange heimgegangen. Jürgen stand dunkel in der
unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm
entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Tierische Laute
stieß Jürgen aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts
sauste.

War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder
Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit.

Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm,
manchmal unerwartet dicht vor ihm.

Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum.




                                   II


Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor zu, der die lange
Entlassungsrede hielt. Endlich stieg sein Brustkorb hoch, der
Zeigefinger deutete zum Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die
Schlußworte kamen.

Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben, tüchtige, brave Männer
werden. Der Zeigefinger deutete noch zum Fenster hinaus. Es war
vollkommen still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken Finger und
Brustkorb. Und die Entlassenen brachen los von den Bänken.

Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer dünner, drang noch einmal,
wieder stärker geworden, von der Straße aus mit der Sonne durch das
Fenster zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell.

In die Stille des leeren Schulsaales klang eine Stimme, die aus dem
Gitter der Dampfheizung zu kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken
für alles, was die Herren Professoren in den Jahren meiner Schulzeit
Gutes an mir getan haben.“ Ah, ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo
Seidel in Gedanken hinzu und trat weg von der Dampfheizung, schob seine
Schulter unter die ausgestreckte Hand des Rektors: „Wenn der Herr Rektor
jetzt auch noch die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg
zu ebnen ...“

„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. Das ist doch
einleuchtend.“

‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener genommen
werden.‘

„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen Sie. Ich habe
schon gesprochen ... Machen Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter
Mann.“

Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt, verbeugten sich in
höflicher Erregung immer weiter von der offenen Tür weg.

Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen oval heraussprang, denn
er trug seit Jahren ein schwarzes Seidenband straff über die
wegstehenden Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen
sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, daß er das Band
abnehmen mußte. Sofort wurden beide Ohren lebendig, schnellten nach
vorne. „Jetzt, mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das
bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. Morgen kaufe ich mir
einen steifen Hut und trete dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist
ganz unter sich im Klub. Keine Weiber!“

Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der Tante durch, daß er
nicht Staatsbeamter werden muß, sondern Philosophie studieren darf,
schreibt eine Abhandlung, die ungeheueres Aufsehen macht, und wird
daraufhin zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“

„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück ist.“ Während Adolf
Sinsheimer von den Anzügen sprach, die er sich machen lassen werde,
wurde Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend Arbeiter
beschäftigt sind, und bestimmt mit einem Federzuge, daß alle
zwanzigtausend Arbeiter, alle Beamten und er selbst von jetzt an ganz
gleichmäßig am Gewinn beteiligt werden.

Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte Sie, Herr Direktor
...‘

‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und Jürgen schickt den
alten Buchhalter freundlich, aber entschlossen fort.

„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: Du, unter uns
gesagt, ohne Lackschuhe und Frack bringst du mich nicht auf den
Abiturientenball ... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, ich sage
dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit unseren Tanzstundengänschen
abgeben werde. Kann mir nicht passieren!“

‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das heißt, in unserer Fabrik
– etwas zustößt, dann bekommt er eine Rente sein Lebenlang.‘

„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos tanzen können.
Oder hast du etwas gegen einen Busen einzuwenden? Ich nicht.“

Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde Gelegenheit nehmen, dir
heute nachmittag meinen Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber
nach, weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in seinem Leben
ernstlich über das Dasein und die Not der andern nachgedacht hatte.
‚Weshalb nicht schon Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als ich
nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause die zornige
Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte Töne einer Ziehharmonika
hörte?‘

Bisher habe er doch immer nur, und auch dann nur veranlaßt durch ein
qualvolles persönliches Erlebnis, über sich selbst und seine eigene Not
nachgedacht; und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß und
unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum Phinchen, dieses
gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, ihr Lebenlang in der Küche
stehen, Stiegen, Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen
müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel nie lese, gute
Bücher gar nicht verstehe, während die Tante und er die sorgfältig
zubereiteten Speisen verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete
Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen könnten, wenn sie
wollten; warum die siebzehnhundert Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre
an bis zum Tode täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des
Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte tausende junger Männer
und Mädchen, die wenig oder nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und
gepflegt täglich spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so schwere,
täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten hatten – und die
Wohlhabenden zum Teil recht angenehme oder gar keine; warum es überhaupt
Reiche und Arme gab, und warum der arm und der reich war; warum die
Armen tun mußten, was die Reichen wollten; ob all das ein Naturgesetz
oder menschliche Willkür war.

Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem Gedankennetz und suchte
vergebens den Mittelpunkt, von dem aus die Grundursache der Gemeinheit
des ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden könnte.

Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: „Alles liegt hübsch klar
und geordnet vor dir ... Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem
hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg. Ich bin so
glücklich.“

Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘ Wut wollte
herausbrechen. Und wurde zu einem schiefen, gefährlichen Lächeln,
während die Tante sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen.

„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile fällen über
andere.“

Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube stehengeblieben, die Hände
gefaltet.

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ... Bringen
Sie diesmal auch eine Flasche Wein, Phinchen.“

Das besonders feine Damasttischtuch, das selten benutzte schwere
Familienbesteck, die Feierlichkeit der Tante und Jürgens Bemerkung
machten, daß das Mahl steif und schweigsam verlief.

„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann bei der Süßspeise die
Tante in gütigem Tonfall, als ob sie Jürgens Weigerung gar nicht
vernommen hätte, „wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade die
strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner Mitmenschen einbringt.
Du wirst ein geachteter Mann sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann,
der sein sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal nicht mehr da
sein werde. Die Pflicht vor allem!“

Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein sterbe gewiß noch lange
nicht. Die Tante deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine
Brust harmoniert nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist Pflicht?“

„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß seine Pflicht tun ...
Bringen Sie noch etwas Kompott ... Du willst nicht Amtsrichter werden?
Ich sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile fällen? Du mußt
Urteile fällen. Denn dein Vater hat dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich
sage nochmals: Die Pflicht vor allem!“

„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht dadurch, daß er seine
täglich in der Equipage spazierenfahrende Gattin zu Pferde begleitet?
Wer bestimmt, daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter ist, in
die Hommessche Fabrik zu gehen? Und wer sagt mir, ob es meine Pflicht
ist, Amtsrichter zu werden und Urteile zu fällen über andere ...“

„Dein seliger Vater und ich!“

„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich auszureiten und andere
für mich arbeiten zu lassen?“

„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre Serviette genau zusammen.
„Räumen Sie ab!“ Und stieg voran in Jürgens Zimmerchen.

Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, in ovalen Rahmen,
symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien
der Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis des
Vaters. Die Tante rückte das schon genau in der Tischmitte stehende
Resedasträußchen, das sie zur Feier des Tages im Garten geschnitten
hatte, in die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch,
zurecht. „Du wirst also in eine vornehme Verbindung eintreten. Du trägst
eine Mütze, eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und
Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen Mut zu stählen und
weil das dazugehört ... Jetzt nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu
bekommst du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird bald sein,
und nachher kriegst du alles.“

Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus ihrem
Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes Leben sich gestalten werde: –
daß er in soundso viel Jahren diesen und diesen, später einen noch
höheren und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen werde,
mit soundso viel Gehalt, gelangte zu dem Lebensalter, in dem er einen
Orden bekommen würde, und ging über zur Pensionierung. „So will es dein
Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst du als ein Mann begraben,
von dem deine Kollegen sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild
sein und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht verlangen, Jürgen.
Mein Großvater sagte einmal zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch
im Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges messen.“

Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter Amtsrichter zu
werden, weit hinaus, stieg in wenigen Sekunden zu einer weltberühmten
Leuchte der Wissenschaft empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, die
er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei Bürgermeister, ließ
sich in den Reichstag wählen und übernahm das Ministerpräsidium. Alle
Bürger grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude seinen
kolossalen Leichenzug an.

„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein geachteter Mann sein
...“

Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb in Jürgen die
Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude krachte lautlos zusammen.

„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür vom Leben das andere
... Und unsern Garten und mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante
und ging. Adolf Sinsheimer war eingetreten.

Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. „Mein Alter hat
sich mir erklärt. Wir haben uns geeinigt über die Zukunft, die ich
ergreife.“

‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten mißtraue, weil sie
mich am allermeisten gequält haben, von mir fordern, ein geachteter Mann
zu werden, sollte mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden.
Vielleicht ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter Mann
geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“

„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme Aufstieg unserer
Industrie hat Deutschlands Weltgeltung begründet ... Mein Vater ist
übrigens genau derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang
die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens, rauchst du? Dieses
Etui habe ich mir heute zugelegt. Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll
... Herein!“ rief Adolf schnarrend.

Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen stehen. Die Kaffeekanne
dampfte. Ächzend schlug er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie
doch näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“

„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“, sagte er, als Phinchen
gegangen war. Und auf der Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht,
ist verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der selben Meinung.“
Sie gingen die Straße hinunter.

„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah steif geradeaus.

„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“ Er schnallte das
Ohrenband ab. „Dies hier ... weg damit!“ Und schleuderte es auf den
Asphalt. Die Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht, bei
einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“, sagte er noch und griff an
seinen rosaseidenen Schlips. Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales
Schülerkravättchen zurecht.

„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf das mächtige Eckhaus.

„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin sichtbar zwischen allen
vier Stockwerken. Und auf dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes
Knopfexporthaus Europas, Alle Sorten Knöpfe.

„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt, erst von hier aus
ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb, mußt du wissen! Handelsbeziehungen
überall hin! ... Amerika! Jetzt komm!“

Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor den elektrischen Aufzug,
der an der Außenseite des Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg
und Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe befördert werden
... Stelle dir das vor!“

„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch.

„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu den Parterrefenstern,
die bis zur Hälfte mit grasgrünen Schutzgitterchen beschlagen waren.

In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten junge Schreiber. An
Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal durchquerten, etikettierten flinke
Mädchenhände Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten alle Wände.
Die Schiebetür in der Rückwand war offen. Dahinter befand sich ein
ebensolcher Saal, und durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen
dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive verkleinert,
die Menschen sich wie Insekten bewegten.

Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in den ersten Saal,
pfeilschnell durch und hinaus. Unterm Hoftor stand der Lagerist, einen
Pack Frachtbriefe in den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern.
Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute karrten die
aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden Lastwagen.

„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe Geld.“

„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen können. Ich stehe
dir zur Verfügung. Genügt dir das?“

„Ich habe ja.“

Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich, unter Freunden! Ich bin
gerade bei Kasse.“

Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst! Habe ja genug.“

„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese Summe ... Ich könnte
sonst unter keinen Umständen den Verkehr länger mit dir aufrecht
erhalten.“ Adolfs Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch heute
nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“ Er öffnete die Tür.
„Bitte, nach dir!“

Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle Glatzen hatten; eine
spanische Wand sonderte ein Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen
Kapotthüten geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den stillen
Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig und schwungvoll,
stand manchmal reglos auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem
Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch, mit der Aussicht
auf das Knopfexporthaus, war frei.

Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen, reglos in genau der
selben Haltung wie der Ober, und wand sich auf dessen Augenwink hin
schwungvoll und geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den
Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo.

„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und der Pikkolo rasselte
heraus: „Bier, Wein, Kaffee, Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein,
Limonade.“ Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen, die auf den
Stirnen der Freunde hervortraten. Und fühlte seine Überlegenheit im
selben Maße wachsen, wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte
singend sein Gedicht.

Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas Grenadine und sagte,
nachdem der Pikkolo an das Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und
Grenadine für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“

Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer Meereswelle
mitgeführt, aus der Tiefe weich in die Höhe steigen, wieder abwärts
schwimmen und knirschend auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen
Tropfen zu verschütten.

„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der Biblischen Geschichte,
weißt du, wenn man daran geleckt hat“, sagte Jürgen und verzog das
Gesicht.

Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein die Zungen verbrannt und im
Bad des heißen Sonnenscheins die Zigarillos angezündet hatten, erlangte
Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah zum Knopfgebäude
hinüber. „Du hattest Gelegenheit, die Parterresäle in Augenschein zu
nehmen. Der selbe Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab. Und
unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls gigantische
Knopflager ... Das muß man sich nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude
vollgestopft mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“

Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos war Jürgen übel
geworden: Das Knopflager wurde lebendig, verwandelte sich in ein
ungeheures Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden auf- und
übereinander krabbelten. In nebelhafter Ferne hörte er die begeisterte
Stimme Adolfs.

„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir eine Knopfsammlung
anlegen. Sie wird die größte der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege –
welcher Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ... Und meine
zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen das gewissermaßen der Fall
wäre, denken vermutlich wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung
anzulegen.“

Der Ober schwebte einen halben Meter über dem Fußboden durch das Lokal.
Jürgen wagte Adolfs wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen
im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße beschlagen, sah er mit
dem verzerrten Ausdruck lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an.

Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen Knopffabrikanten,
welcher sich mit der Idee trug, seiner Fabrik ein eigenes
Knopfexporthaus anzugliedern, nachdem Adolf bei der Konkurrenz den
Betrieb gründlich kennengelernt habe. „Da hast du meine Zukunft. Mein
Weg läuft pfeilgrad empor ... in logischer Folgerichtigkeit,
gewissermaßen ... Industrie und Handel, mein Lieber! Alles andere ist
Romantik.“

Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem Exporthaus zogen an;
die hochgetürmten sauberen Knopfkisten rollten fort, dem nahen
Güterbahnhof zu.

Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler, Messinglüster,
Sammetbänke kreisten wie eine Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er
wollte beiläufig seine schon in wenigen Jahren zu erwartende Wahl zum
Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft gleichgültig: „Es wäre jetzt
vielleicht gar nicht unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische
Luft zu gehen.“

Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte Dame auf einen Krüppel
zuging, dem der rechte Arm und das linke Bein fehlten. Die Frau des
Krüppels nahm die Banknote sofort an sich und stellte der sekündlich
aufblitzenden Wut ihres Mannes einen notgestählten Blick entgegen. Der
skrofulöse Säugling auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf durch
Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam, böse, farblos.

Nachdem der offene Wagen der Trambahn die verkehrsreichen Straßen
durchfahren, die letzten Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich
gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch sanfthügeliges
Wiesenland der Endstation entgegensauste, von kühler Luft durchzogen,
röteten sich Jürgens Wangen wieder.

Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel zusammengeklebt,
wackelte steif hin und her.

„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte Leute nicht mit den
Augen zur Fahrtrichtung ... Die Jungen immer!“

„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt, Bein
übergeschlagen.

„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen. Die blicken immer in die
Vergangenheit.“

„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“

„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“

Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach rückwärts. Der Wagen
hielt bei der Endstation im Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein
ein Vogel zwitscherte.

Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den Straßengraben. Der
Wagen stand beziehungslos in der Landschaft. Der Tag war heiß und lang
gewesen.

Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte durch den Wald
heimwärts gehen, während Adolf, zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige
Blicke den Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der Straßenbahn
zurückzufahren.

Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus den Fenstern der Stadt
schlagen. Das sanftgewellte Land lag weit hingebreitet. Die fernen
Wälder schienen nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der
Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus. Schon stand ein
grüner Stern am Himmel. Liebespaare, umschlungen, gingen vorüber, der
heraufkommenden Sommernacht entgegen.

„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich bemerkst das
nicht.“ Adolf setzte sich mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung und
forderte: „Sitze du auch so!“

Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen Willen zurückfuhr.
„Ich sitze so.“

„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“

„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht zu“, sagte er noch beim
Betreten der Küche vor sich hin und blickte die feuchten, vollen
Schultern Phinchens an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am
Bügelbrett stand.

Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr ihm nur in die Beine.
Phinchen konnte vor Aufregung die entblößte, aufsteigende Brust nicht
bedecken.

Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der Küche hinaus.

„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen bekleidet sein. Der junge
Herr ist kein Kind mehr.“ Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche.
„Dies da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf man nicht
sehen. So dick und nur einen Unterrock! Das ist nicht schicklich.“ Der
Unterrock könne gewiß einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem
jungen Herrn.

Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze, zog mit dem Messer
sorgfältig einen Riß herum – drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg
in Jürgens Zimmerchen hinauf.

Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter und zündete an.
Dann deutete sie auf den Riß. „Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt
du aufhören zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt das
Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf ein schickliches Maß
zurückgeführt werden.“

Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte, endlich senkrecht stand
und wieder flackerte, als die Tante weitersprach. „Und morgen zeichne
ich nur zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen wieder etwas
weniger. Und allmählich liest du überhaupt nicht mehr im Bett, siehst du
... Auch deine Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr
abgewöhnt. Wer nicht selbst streng ist gegen sich, gegen den muß es ein
anderer sein ... Deine Mutter hat dich machen lassen, was du wolltest.
Verzogen, verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“

„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja nie Mutter.“ Staunend
beobachtete er, wie ihr ganzes Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel
rötete. Der Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit
verließ sie das Zimmer.

Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand, betrachtete lange den
angsterfüllten Mädchenblick, den schmerzlichen Mund, der zu lächeln
versuchte, und lehnte die Photographie gegen den Leuchter.

Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen und Abenteuerromane in
bilderreichen Umschlägen. Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das
Erdinnere‘ stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem kühnen
Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete Felsenspalte, geriet plötzlich
in ein Loch und sauste auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in
die Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause.

Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug, das mit den immer
gewaltiger brausenden Gewässern in rasendster Geschwindigkeit in die
Tiefe stößt – volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen
fürchterlichen Gefahr, zu zerschellen.

Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen flößt aus einer
Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten sanft, hinein in einen
wunderbar stillen See im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche
Geschöpfe mit Kuhköpfen stehen.

Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und den milden Wäldern,
obwohl kein Himmel vorhanden ist.

Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal nach gefährlichen Wilden,
macht ungewöhnlich wichtige Entdeckungen und überlegt endlich, wie er
mit seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer aus dem
Erdinnern wieder zur Erdoberfläche hinauffahren könne.

Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf. Und bemerkte mit
Schrecken, daß die Kerze still bis über die Hälfte herabgebrannt war.

Während er dann im Traume papageiengroße, fliegende Edelsteine fing und
mit kuhköpfigen Menschenwesen, die sich plötzlich in lauter geachtete
Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte Adolf
Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger Kaufleute‘ und wurde vom
Vorsitzenden auch den neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen
Schulkameraden, mit feierlicher Korrektheit vorgestellt.

Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen eine Geschichte der
Philosophie, in der schon viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten.

Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen, die weiterhin
nicht mehr miteinander in Berührung kamen: Ein Teil studierte und hatte
andere Interessen als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer
Väter eintraten.

Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im städtischen
Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe Fenster gegen die Nordseite des
immer sonnelosen Lichthofes standen.

Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu Monat größer geworden.
Jeden Morgen hatten sie, beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon
heißgeschrieben am Pulte vorgefunden.

Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr langsam arbeitete und
seiner Dienstzeit nach am nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit
Monaten beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße und
unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch ungewöhnlich schnell
arbeitende Leo Seidel den Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der
zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen eine Beförderung
außerhalb der Reihe, ein Überspringen Hohmeiers bedeutet haben würde.

Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben Y, wurde
infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten nie gestört und benutzte,
zusammen mit dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt worden
war, ein Doppelpult, über dem nur eine Gasflamme brannte.

Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein Pult für sich – mit je
einer Gasflamme. Über Herrn Anks Pult befand sich, entsprechend seinem
höheren Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen Lichtblenden.
Und vor des Herrn Bureauleiters Pult stand zudem noch ein drehbarer
Schreibsessel, auf dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein
Löschblattbügel bedeutend breiter.

Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die niederen Dienstgrade zu
überspringen, war Seidels Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum
breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen.

Das war seinen Kollegen nicht entgangen.

Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete, begann damit, daß Herr
Hohmeier begann, sich zu schneuzen, indem er Kanzleibogen und den
schmalen Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch erst
sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete.

Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler von einem Fuße auf
den andern, rastlos wie ein Mensch, der ein natürliches Bedürfnis
besetztseinshalber meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier das
Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel, dann mit dem
Löschblattbügel beschwerte. Und als er endlich nach der Adresse seines
Freundes fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon lange
nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein fahnde.

„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler seit vielen Wochen jede
Nacht in einem andern Bett schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein
Handtäschchen wieder mitnimmt und sich, wenn die Schlafenszeit
herannaht, ein neues Unterkommen sucht für die Nacht ... Der meldet sich
nicht einmal an bei uns.“

Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer in den alten eisernen
Füllofen, auf dem Eva, schon rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel
reichte. Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau.

„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste Sache. Wenns alle
so machten, welch eine Unordnung hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier
redete noch vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch
schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen, wie ein
Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das Goldstück verschwinden
lassen?‘

Während der Vesperviertelstunde sammelten sich viele Leute in dem
dunklen Wartezimmer an. Die Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom
Leben, das nur bis zum Schalterfenster herankam.

Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen, klopften endlich an
das Schiebefenster. Der ganze Schalterraum stand voll Menschen.

Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier zum Schalter trat,
stellte es sich heraus, daß einige wieder gegangen waren, und die
gebliebenen neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G fielen und
somit Herrn Hohmeier unterstanden.

Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei. Darüber entstand
Streit. Viele waren zuerst dagewesen. Da drückte ein schwarzer
Kohlenhändler alle anderen in die Ecken und verlangte die Adresse einer
Familie, die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung bezahlt zu
haben.

Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die Fächer des Regals nach dem
Personalakt abtippte, den Akt nicht fand, setzte der Streit im
Schalterraum von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle
Streitenden gegen die Beamten.

Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl noch ein Mensch auf
der Welt durch so eine teuflische Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige
Namen mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein
würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen.

Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler, fragte ihn, ob er den
Namen denn auch richtig aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten
die Zettel durch das Schalterloch.

„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“ Seidel sammelte die
Zettel ein.

„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr, Herr Seidel, ich erlaube
das nicht ... Es sind meine Buchstaben.“

Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher, der von dem
Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen herausgelockt worden war, verfügte,
daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen sollten.
„Ausnahmsweise!“

Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen Herrn Hohmeier
wickelte sich das Geschäft jetzt glatt ab.

Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein ungeheurer innerlicher
Aufruhr machte ihn blind. Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung,
daß er sich am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille kaufen und
nach der übernächsten Beförderung sich mit dem neben ihm gealterten
Mädchen einstweilen wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt
hartnäckig in den Vordergrund. Immer wieder sah er sich, goldbebrillt,
vor dem Traualtare stehen. So daß über eine Stunde vergangen war, bevor
er gefunden hatte, was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt
werden müsse.

„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf dringend der
Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen sagen, daß in diesem Bureau ein
Sichvordrängen – ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken – nichts
nützt ...“

„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit zu stören.“

„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau gewissenhaft ihre
Pflicht tun – und das kann als sicher angenommen werden –, so daß keiner
entlassen wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an meinem Pulte
sitzen und in zwölf Jahren am Pulte des Herrn Ank ... Unterdessen werde
ich an Herrn Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn
Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird, seinen Dienstjahren
entsprechend, eine höhere Stelle in einem anderen Bureau einnehmen ...
Es gibt in diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen
haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen dieser Ordnung gibt
es nicht. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er an
sein Pult zurück.

Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen Darstellung sich
gesagt hatte, daß in einem Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem
Tüchtigen‘ ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß somit ein
schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen sei, schrieb noch am Abend
des selben Tages peinlich sauber sein Entlassungsgesuch.

                   *       *       *       *       *

Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen geschultert,
kratzfußte der Korpsstudent Karl Lenz abgehackt und streng vor seinem
früheren Schulkameraden Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er
angehöre.

„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem Jahre!“ sagte Jürgen
stolz. „Einer Verbindung gehöre ich nicht an ... Ich wollte Herrn
Professor Lenz meinen Besuch machen.“

Der noch immer in steifer Verbeugung stehende Korpsstudent zuckte mit
dem Kopf nach vorn, und seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete,
ein knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor allem: Ihnen zur
Kenntnis, daß mein Vater vor einer Woche zum Geheimrat ernannt worden
ist.“ Er machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken zugekehrt,
paffend zum Fenster hinaus.

Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche Denken und Fühlen
verschwand. Erst nach minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“

Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke, die an der
Fensterscheibe hinaufstieg, rührte sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich
in einer glänzenden Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne
Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg über der Brust.
Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet, spielt eine Rolle. Kommt
Karl Lenz und starrt ihn herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und
springt auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel. Jürgen schlägt
sich tadellos. Phinchen ist totenbleich vor Bewunderung. Und die Tante
läßt sich den ganzen Vorgang erzählen.

‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja, Tante, und weißt, daß
in diesem Falle die Forderung meinerseits unvermeidlich war. Meine
Kommilitonen und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als ob gar
nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze Bande per Auto mit hinaus
ins Wäldchen; sie warten im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an,
frisch und munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘

‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine Angst?‘

‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren Platz, steht im Schatten
eines Baumes, ich mit dem Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim
ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun, und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt
natürlich ehrenvolle Versöhnung. Denn wenn einmal Blut geflossen ist ...
Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja. Nun aber genug
davon!‘

Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster stehende Student war
von blauem Dampfe eingehüllt. Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren.
Er schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht.

Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die ineinander verkrampften
Hände schüttelten sich. Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig
und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die Handkuppelung
hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie der zwei Ober- und Unterarme in
Stirnhöhe feierlich verharrte.

Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte, verbeugte der
Student sich der Tür zu und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf
dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden.

Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein Zimmer getragen. Jetzt
erst fiel sie von seinem Gesicht herunter. Und der Ausdruck dumpfer,
wilder Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas in der einen,
die Taschenuhr in der linken Hand, wartete, bis der Sekundenzeiger die
Zahl Eins erreichte. Schon vorher war sein Mund ein großes Loch
geworden. Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten: das Bier
stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und das leere Glas knallte auf den
Tisch.

Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres im Bogen wieder
heraus, während die Augen auf den Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht
des Studenten, der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder beim
Bierjungen-Trinken besiegt worden war, verzog sich kläglich: er hatte
mehr als eine Sekunde zu lange gebraucht.

„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch. Das ist mein ganzer
Fehler.“ Energisch trainierte er weiter: Der Sekundenzeiger erreichte
die Eins. Großes Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton:
„Bierjunge!“

Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende Jürgen erschrocken von der
Kanapeelehne nach vorn und horchte gespannt. Wenige Sekunden später
langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat Lenz auf Jürgens
Schulter. „Nun, mein Freund, welchem Korps gehören Sie an?“

„Bierjunge!“

„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“ Der Geheimrat Lenz trank
gern Moselwein.

Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich keiner Verbindung
angehöre, dachte Jürgen. Und sein Mund sagte: „Ich halte das für
überflüssig.“

Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter herab und legte sich
in die Hüfte des Geheimrats. Der Unterleib schien in die Brust
hinaufzusteigen. Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir?

Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann, nur wer einem Korps angehört,
lernt die oberste aller Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den
Ersten, zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere, aber
schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams, das freie Beugen vor der
Autorität, ohne welche nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen
kann. Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die Bürgschaft
dafür, daß der ganze Mann, der für seine und für des Korps Ehre ohne zu
zucken dem Gegner mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch
später, wenns einmal so weit ist und Gott es will, bis zum letzten
Blutstropfen dem Vaterlande die Treue halten wird, wenn es gilt, die
Ehre des Reiches zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie
vorwärtskommen? Wie anders wollen Sie es zu einer geachteten,
einflußreichen Stellung bringen? ... Denken Sie an Ihren Vater. Er war
mein Freund. Wir gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“

Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen und kaputtgegangen, weil
er nicht erreichte, Vortragender Rat im Ministerium zu werden, dachte
Jürgen.

Und glitt, während er durch die Straßen ging, noch eine halbe Stunde
lang weiter auf dem glatten Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt
hatte. Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen Schaufenster ein
langbärtiger Zwerg aus Gips eine Zigarre rauchte, blieb er stehen.

Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten Zimmer das imaginäre
Duell ausgefochten hatte, packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er
sich auf das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster ruhte.
„Welch ein erbärmliches, widerliches, feiges Schwein bist du!“ rief er
dem Zwerg im Schaufenster zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener
Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der, brennend vor Scham,
auf dem Mäuerchen saß.

Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt, Adolf Sinsheimer um
die Ecke, nahm schon in der Ferne feierlich den Zylinder ab.
Unwillkürlich hatte auch Jürgen feierlich gegrüßt.

„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte Adolf, nachdem er erfahren
hatte, wo Jürgen gewesen war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen die
es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist Katharina von zuhause
durchgebrannt. Schlankweg zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt
Bomben. Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest doch, daß
ich mich bedecke?“

„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand halten!“ Jürgen war
wütend.

„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich schneller, als man
geglaubt hat. Ich sitze längst im Direktionsbureau. Rechte Hand des
Chefs! Und was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere ich keine
mehr, die nicht tadellos gewachsen ist. Vor allem die Beine! Kann mir
nicht mehr passieren.“

Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte Jürgen und blickte Adolf
nach, der frisch und glatt davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘

Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel war bei mir. Total
zusammengeklappt! Mein Alter hätte ihn ja als Schreiber in unserer
Buchhaltung angestellt. Er aber erkundigte sich nach den
Aufstiegsmöglichkeiten. Was sagst du dazu? ... Mein Alter fragte ihn, ob
er ihm vielleicht Prokura erteilen solle. Schwuppdich – war er draußen
... Später erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft, deren
alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten mit – husch, die Lerche! –
Aufstiegsmöglichkeiten verschaffen könnten.“

Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte ihm vorgeschlagen, er
solle mit ihm zusammen einen Bund der Empörer gründen. Seidel hatte
geantwortet, dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor hatte Seidel
geantwortet, einem derart unbescheidenen Menschen, der aus
Unzufriedenheit leichtfertig sein Glück verscherzt habe, noch einmal
eine Stelle zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen.

Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner in der Buchhaltung
beschäftigt gewesen. Aber auch in diesem großen Bankhause waren die Wege
zu den zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre lang und
führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen unübersteigbar hohen Mauern
durch.

Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten nicht nur
unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos auch flink wie die
Kreisel waren; daß es Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß
niemand Bankangestellter werden und bleiben durfte, der Bankier werden
wollte.

Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau waren gestorben, die vier
jüngeren Geschwister in das Waisenhaus gebracht worden.

Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das Hofzimmer, in dem Seidel
sein ganzes Leben vom Tage der Geburt an in immer gleicher Armut
verbracht hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen Möbel so
lange in der Holzlage einzustellen, bis er einen Altwarenhändler fand,
der auch den armseligsten Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt.

Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete und der Schulden beim
Kolonialwarenhändler und Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung
übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der Tasche, das Herz kalt
vor Energie und zielbewußter Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und
schwächlichen Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo Seidel um acht Uhr
früh für immer seiner Jugend stinkenden Hof, in dem nie etwas schön
gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich und zäh,
jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht hatte.

Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten geführt; es war,
jenseits von Gefühlsüberschwang, ein gehorsam arbeitender Muskel und
wurde vom Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren Willens
machte.

Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich das Obdachlosenheim,
stand er blank auf der Straße, völlig auf sich selbst gestellt.

Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer der zwei nächsten Häuser
links und rechts von Seidel freiließ, hatte die Straße, die wenigen
Passanten und alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in grau.
Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund zum Jammern nicht
vorhanden sei: Er habe Zeit, sei jung und gesund und bereit,
rücksichtslos seinem Ziele entgegenzugehen.

Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei abzustecken, sondierte er
vorstellungskräftig die Idee eines Friseurgehilfen, der darauf
spekuliert, in das Geschäft einer Friseurswitwe einzutreten mit dem
Ziele, die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu werden; einen
jungen Handlungsgehilfen ließ er mit der reizlosen Tochter des Chefs zum
Standesamt gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten Laden ein
warmes Drogistenglück bis zum Tode genießen. Unbelasteten Gemütes
folgerte Seidel, daß auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im
Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen Grenzen
erarbeiten könnte.

Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen, vom Drogisten, und
wandte sich seiner Laufbahn zu, die zwar noch kleiner und unsicherer als
die eines Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten und Maschen
habe, durch die er durchschlüpfen zu können hoffe, worauf die Laufbahn
in Form einer Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten aller
Art ansteigen und in der Berliner Börse enden werde. Dann breitete sich
das Leben aus: Jedes Wort des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine
von ihm verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und Katastrophen
in den Bankhäusern.

Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte: „Aus eigener Kraft!
Keiner meiner Mitschüler wird sich mit mir vergleichen können; sie alle
werden hinter mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“

Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die Schaubudengerüste
aufgestellt wurden für den am folgenden Tage beginnenden großen
Jahrmarkt. Er dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen
Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz besonders scharf
abstechen und, über sie hinweg, bei einem Schaubuden- oder
Karussellbesitzer schnell zu einer Vertrauensstellung gelangen können.
Außerdem sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen zwei
Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten, auszubrechen, sich
ergeben würden.

Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen mit dem sehr
spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges Dreieck. Das Dreieck war mit
alten Sommersprossen dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine
Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen „Sprosse“ bekommen. „Von
Sprosse zu Sprosse.“

Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette hinter dem Ohr, rissen
Pflastersteine heraus, hockten, in Morgennebel gehüllt, auf den
Gerüsten, nagelten, schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte
sich wie immer ineinander.

Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit sicher mehr
zu erreichen als in einem Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor
dem grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog den Hut.
„Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie noch eine Hilfskraft bei Ihrem
Unternehmen brauchen.“

Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen Herrn an, die saubere
Wäsche. „Ich verstehe nicht recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte
zur Bedienung von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“

„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was ist das: Adjunkte?“

„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ... Zwei sind vorgestern
eingesteckt worden. Acht Wochen Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber
schon bevor sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu.

„Demnach können Sie mich also brauchen?“

Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: „Freundchen ... haben
Sie Papiere? Waren Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie
mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der Polizei gesucht werden ...
Und vor allem möchte ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht
werden.“

Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis und das
Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat, das den Vermerk über Seidels
Tüchtigkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt.

Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während seiner vierzigjährigen
Jahrmarktstätigkeit schon alle möglichen Existenzen untergekommen.

„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln könnten Sie sich
verlassen.“

„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit beim
Geldeinsammeln ich mich verlassen würde. Aber brauchen kann ich Sie.“ Er
stieg, von Seidel, gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest,
die zwölf funkelnden Schiffe standen.

Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater und einem großen,
pflaumenblauen, herzförmigen Mal auf der Backe tat, als habe er beim
Putzen der Messingteile keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte ihn
hinaus. „Hier, das Handgeld.“

„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel scheint übrigens
ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden sind mit mir, werden Sie mir
meinen Lohn schon geben.“

Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe verlegen sagte er: „Ja,
ich habe die modernste Schiffschaukel der Messe. Kostete mich ein
Vermögen! Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig höher
als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen früh antreten?“

Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler und holte den
Gegenstand ab, den er nicht mitverkauft hatte.

„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück! Der ganze übrige
Plunder ist vollkommen wertlos“, wiederholte der Mann, der am Tage
vorher heftig und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft
hatte. „Elender Plunder!“

„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine große Familie
fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich ganz wertlos sein!“ Seidel
nahm den in braunes Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm.
Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen, erklärte, auf
dessen Fragen hin, mit drei Sätzen, welche Arbeit und weshalb er sie
angenommen und welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen, reich
werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“

„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter Mensch!“

„So verkommen würdest du niemals, wie? Was würden die Leute sagen? ...
Mir jedoch ist das einerlei. Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle
und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben. Ich brauche
Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten ausnützen zu können. Im
Magistratsbureau und auch in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es
keine Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ... Ich will mein
Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen. Und dann werde ich erst
recht rücksichtslos sein.“

„Dein Haß ist ja recht schön ...“

„Wieso ist er schön?“

„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum ist doch kein
erstrebenswertes Ziel. Was bist du, was hast du, wenn du reich bist und
die Armen wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt, wie es
ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die gehaßt werden. Wem
nützest du damit?“

„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper Raum hat, sammelte sich in
Seidels Blick, gerichtet auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet
gewesen war, nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen der
Armut nie erfahren hatte. „Du machst Worte. Du weißt doch sehr gut, was
Reichsein bedeutet!“

„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du. In unserer Zeit sind
die Menschen arm. Alle! Auch die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“

Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und was für ein Ziel hast
du?“

„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist unerträglich. Ich sage:
das Ganze muß ganz und gar anders werden.“

„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei schälte er das
Packpapier herunter von dem poliertem, zartgebauten Nähtischchen seiner
Mutter und bat, Jürgen möge es für ihn aufbewahren.

„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen Leben abbrichst,
was hängst du dich da an das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir
– einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur hinderlich sein. Oder
sollten Rücksichtslosigkeit und Sentimentalität einander vielleicht doch
nicht ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können, weshalb er Seidel
diesen Hieb versetzte.

„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen
verbunden. Wenn die Mutter flickte, saß ich am Boden, durfte mit dem
Einsatz spielen.“ Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na,
heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die Messe kommen, um
mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen
bebten. Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß war das
Gesicht geworden.

‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann werden; im
Magistratsbureau würde er ein mittelloser geachteter Mann geworden sein
... Rein äußerliche Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr
reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack und Kultur,
Großfinanzier – die innere Linie ist bei allen die selbe. So ist heute
das Leben ... Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will ich
werden? Was und wie will ich sein? Wie werde ich in zwanzig Jahren
sein?‘ Jürgen fand keine Antwort.

Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten Bundes der Empörer, ein
vor dem Abiturientenexamen stehender Gymnasiast, hatte bei der
Gründungssitzung erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder müsse
er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften. Und war von seiner
Ansicht nicht abzubringen gewesen durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja
immer noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben bleiben würden.

Als einige Tage später auch noch die zwei andern Mitglieder,
fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte Burschen, die behaupteten, als
Matrosen und Goldgräber schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der
Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif voll Sperrhaken und
entschlossen, die Wocheneinnahme eines Metzgermeisters, der jeden
Freitag verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit Hilfe der
Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende Jürgen aus dem Bunde der
Empörer ausgetreten.

Die Aussprache mit einem schon älteren Manne, der sechzehn im Zimmer
frei umherfliegende Kanarienvögel und eine Bulldogge besaß, aus
Liebhaberei auch vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und
behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen Bewegung der
ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko dürfte, entzündet durch zwei
seiner Chiffretelegramme, die Geschichte demnächst platzen, war von
Jürgen nach drei Minuten abgebrochen worden.

In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik und
Säuglingsschutz, in der die Damen beschlossen hatten, uneheliche
Wöchnerinnen und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen,
war Jürgens Frage an das Leben ebenso unbeantwortet geblieben, wie durch
die Rede des Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes der
Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage nach dem mißglückten
Examen erhängt hatte.

Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack- und weihevoll
eingerichteten Räumen der ‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo
brillantengeschmückten alten Damen, langhaarigen Jünglingen und
kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten Menschen empfohlen wurde, das
Beste von Laotse mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese höhere
Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens zu machen, war Jürgen, der
geäußert hatte, die Weisheit dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar
darin, die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not der andern
nicht zu kümmern, sei also handfester Egoismus und von irgendwelcher
Hingabe noch weiter entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit
den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich und leise ersucht
worden, den ‚Stillen Stunden innerer Einkehr‘ von nun an fern zu
bleiben, worauf er mit steigender Sympathie wieder an die zwei hungrigen
Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht hatte.

Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem dunklen, sehr schönen
jungen Mädchen asiatischen Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das
ungeniert sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu tanzen
begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden gespreizt und das verzückte
Gesicht emporgerichtet. Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer
Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und dann durch ihren Tanz
die Menschheit erlösen. Sie werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war
ein schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt.

In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile zu fressen,
vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil einer von jeglicher
Barbarei befreiten Lebensordnung, zur Zeit aber nur Sache des
Geschmackes einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein könne,
den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen erfolgversprechend zu
beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung der Tante, schon nach einer Woche
vom Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische.

Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß einem anständigen
Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe,
Selbstmord zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier zu werden,
hatte er schon vor einem halben Jahre auf der bewaldeten Höhe verbrannt
und war liegengeblieben neben der Asche, lesend in einem Buche, dessen
weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden ganz freiwillig nur
all ihres Besitzes und ihrer Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle
zusammen nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben Stunde
die Menschheit erlöst.

‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus und auf welche Weise
sie der Menschheit, dieser milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen
soll, welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘, hatte
Jürgen damals gedacht.

War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und rat- und hoffnungslos und
nur, um nichts unversucht zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland
stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen mit drei Mädchen nahe
der Stadt vor kurzem eine Siedlung gegründet hatten.

Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich freien Ton zwischen
diesen hellblickenden Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über
die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem Zeichen
unbekümmerter Jugendkraft und befreiend humorvoller Ablehnung des Ganzen
stand, hatten Jürgen erfüllt.

Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren, noch unfertigen,
nicht ganz hautreinen Gesicht hatte den beglückt durch die
Nacht heimwärts Marschierenden eingeholt und ihm einen Stoß
Aufklärungsschriften mitgegeben, darunter eine von den Siedlern
gemeinsam geschriebene und im Selbstverlage erschienene Broschüre
‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘ und ein vierseitiges
Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘, dessen erster Satz lautete:
„Wir haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt,
die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling mit zusammengepumptem Gelde
einen verlotterten Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken
gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz lautete: „Unsere
Siedlung ist eine kleine Insel im großen Stunk.“

Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung und Drohungen
der Tante, Ablieferung der Kollegiengelder an die Siedler, die dringend
Saatgut gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit und an den
Abenden stundenlange, heftig geführte Diskussionen, aufregend und
beglückend für Jürgen und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der
Siedlung, waren gefolgt.

Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je ein Feldbett, ein
Handköfferchen und sonst nichts. Die Wände, hell gestrichen, leuchteten
blau, grün, rosa.

„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg herunter.“

Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht. ‚... kommt Lili mit ihrem
Kinde aus dem Gebirg herunter.‘

Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen als Sprecher
aufgetreten und hatten die anwesenden Bürger verblüfft und gereizt durch
ihre respektlosen Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum,
Zins- und Hypothekenräuberei.

Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und Feuertod‘, der seit
Jahren erfolglos um die Genehmigung kämpfte, sein schon erbautes
Krematorium in Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der
öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler mit der Rundbrille
erklärt worden war, er persönlich habe ja gar nichts dagegen
einzuwenden, wenn die Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen,
nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk merklich vermindert
werden würde, die Polizei auf Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht.

Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn, kürzer werdende
Tage, in dem selben Maße verlängerte, immer heftiger werdende
Diskussionen. Und eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit dem
Kinde und die Siedler verschwunden gewesen, unter Zurücklassung der
sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt und aufeinandergeschichtet, in
dem offenen Schuppen lagen.

Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten Eichenschränke und
Riesenfederbetten wieder eingestellt, die grünen, rosa und blauen Wände
dunkel schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt.

Einige Wochen später war von dem Siedler mit der Rundbrille eine
Postkarte aus Berlin gekommen: Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe,
eine schwere Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich noch
nicht entschließen können; aber er sei Mitglied der sozialistischen
Partei geworden. Und damit Punkt.

Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im vornehmen Villenviertel
schon ganz still war, am Fenster saß und, zurückdenkend an sein
ergebnisloses Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm er
die fernher dringenden Töne der Drehorgeln.

Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten bei manchem
Besucher schon Schwindelgefühl, wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht
angelangt war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen siegreich durch.

Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen klammerten sich an
ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn die Berg- und Talbahn in die Tiefe
sauste, im rosa beleuchteten Tunnel verschwand. Und an der
farbensprühenden Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge. Alle
Ausrufer waren schon heiser, luden hinreißend liebenswürdig ein. Die
Konkurrenz war groß.

Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem grünen Wagen zu einem
Schläfchen niedergelegt und Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln
anvertraut. Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde, als noch kein
Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen war, der die Einnahme hätte
kontrollieren können, hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der
Knabenklasse, die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung ausstellen
lassen und Geld und Schein gewissenhaft Herrn Rudolf Schmied
abgeliefert.

Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift auf das Mißtrauen des
Herrn Schmied gewirkt. Die Adjunkten vermuteten in Seidel einen
Verwandten des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten willig
die Einnahme ab.

Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders hohen Schaukel
flogen unausgesetzt. Die sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben
hingen fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein; der
Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten vorbei zur hohen
Schaukel.

Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als er Herrn Hohmeier
entdeckte, gleichgültigen Gesichtes dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen
Herzen auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘ genannt wurde,
das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten, da die Tour zu Ende sei.

Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend großes,
pferdekopfähnliches Gesicht hatte, das Anhaltbrett gegen den Kiel des
allmählich sich totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann. Seidel
sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn nicht aus den Augen, die vor
Hohn und Genuß funkelten. Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier
machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres, blasses Gesichtchen.

„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt! Wie sie schläft!
Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend! Kolossal! Jedem Besucher
erlaubt, nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer links neben
der Schiffschaukel.

Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“ Der ritt ohne Pferd dem
Publikum einen eleganten Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo
reiten kann ein jeder‘.

Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer, auf dessen Schulter ein
abgerichteter Rabe saß, der Kopf und Beine und flügellahme Schwingen
ruhelos bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird jedes
Menschen Sehnsucht erfüllt.“

Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten Alten anblickte, mit
Katharina Lenz in dem Laubgang beschnittener Korneliuskirschen. Die
Tante führt ihn am Arme weg von Katharina.

Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich jetzt Katharina
aufsuchen; aber ich weiß heute nicht mehr, als ich damals wußte.

Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult; sie wurde plötzlich von
Fahrgästen gestürmt: Der Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem
stand: ‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch blickte er zu
Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos hingen.

Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt den Schlaf aus den
Augen, wollte ebenfalls für den halben Preis schaukeln lassen.

„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu Ihnen, weil unsere Schaukel
höher ist, aber die Einnahme würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre
Schaukel wäre entwertet.“

„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort ein Plakat. Das
Herz soll helfen.“ Er tanzte vor Aufregung.

„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“

„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit vergeht.“

„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig mehr einzunehmen, wenn
Sie dafür an den folgenden Tagen wieder die volle Einnahme haben
würden?“

Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie? Was? Wie ist das?“

„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“

Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange nach dem
Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte, dann müsse auch
der andere umsonst schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es
länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann; der Konkurrent steht
vor dem Bankerott. Sie warten ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und
bittet, daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt werden
soll.“

Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete.

Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die andern Adjunkte in den
Wagen. Viele hundert kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst
geschnitten, gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand: ‚Wer ein
Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf Schmieds modernster und
höchster Schaukel der Welt‘.

Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins Publikum. Das nahm die
Schaukel im Sturm. Seidel beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich
entleerten und nicht mehr füllten.

Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber- und Zurückbrüllen der
beiden Besitzer hatte das ganze Messepublikum angezogen. Viele
Budenbesitzer kamen geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog.
In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier.

Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder den ganzen Preis.
Seidel hatte im Wagen des Herrn Schmied die Verhandlungen geleitet.

Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten Unternehmens der Messe,
fing Seidel ab, legte ihm die Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine
Hilfe. Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das haben Sie
großartig gemacht.“

„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“

„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“

„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne Bude auf ... Aber
eine Idee will ich Ihnen verkaufen für Ihr Unternehmen!“

„Das wäre?“

„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert bezahlen, wenn
Sie meine Idee ausführen.“

„Hundert!“

„Zweihundert!“

Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren hauptsächlich
Liebespärchen, weil sie in den scharfen Kurven gegeneinander geworfen
werden.“

„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“

„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem Tunnel verschwinden die
Pärchen besonders gern. Das habe ich beobachtet.“

„Aber sicher!“

„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt ...“

„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer Gebärde.

„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine Vorrichtung anbringen,
die den Kontakt unterbricht, so daß es eine Sekunde dunkel wird im
Tunnel, dann wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden sich
danach richten.“

Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden.

Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz zu sich. Der war der
Sohn eines bankerottgewordenen Schaubudenbesitzers, dessen Tiere
krepiert waren. Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu
erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine Bude aufmachen
konnte. „Was für Tiere waren es denn?“

Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte und ein
Flußpferd. Sie tanzten zusammen Menuett.“

Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht beim Publikum
Erfolg haben würde. Das Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein
beizusteuern; das Pferdegesicht stellte sich selbst zur Verfügung; Leo
Seidel die Idee und das Geld. Fehlte noch die Bude.

Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion der Messe: ‚Herrn August
Schichtels Spezialitäten- und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war.
Wer das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel zu bekommen,
konnte kein Geschäft machen. Deshalb hatte der Besitzer der Bude gar
nicht eröffnet.

Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete Bude rechts neben dem
Zaubertheater stand, zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch
einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche: „Hier wird jedes
Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten Sie ein.“

Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier, zu erfahren,
welcher Art die Genüsse seiner früheren Mitschüler seien, Adolf
Sinsheimer versprochen hatte, am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu
gehen, auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf, drei junge
Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier schon wartend unter der
roten Laterne standen.

Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein empor. Blasse und
gerötete Gesichter. Auf allen die gleiche fiebrige Erregung und
Spannung. Die vier waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten Herrn
Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt.

Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe mit
Damenbedienung besuchen.

„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr mir versprochen“, sagte
der Magistratsbeamte, schloß den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte
als letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut voranschritt,
hinein in das schmale Kneipchen, das noch vor einer Woche ein
Bäckerladen gewesen war.

Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen verhängt, die
Brotlaibregale mit schön verkapselten Weinflaschen spärlich gefüllt, und
der Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes, glanzsprühendes,
mit künstlichen Blumen und Weintrauben reich geschmücktes Büfett
verwandelt, hinter dem der Wirt saß und zum zehnten Male die
Abendzeitung las.

Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen, den Held einer
Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast gelesen hatte. Des
Sklavenhändlers tintenschwarzer Bart, die Riesenglatze, die Hakennase
waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm die Abendzeitung
ein. Unsichtbar von ihm geleitet, gerieten seine drei von Seide und
Schminke bunten Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung.

Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon total betrunkener
Fabrikschreiner ohne Halskragen, schaukelte den Kopf knapp über der
Tischplatte hin und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche
Richtung: „Da komm her!“

Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich herumgreifen, so
lange, bis er einen Geldschein auf den Tisch knallte. Strich ihm über
das Haar, in dem noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen
Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue Flasche.

Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte. „Eine zusammen!
Ich denke, wir nehmen die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden
Teil der Rechnung gleich auf den Tisch.

Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg. „Das ist mein Teil“, sagte
der Magistratsbeamte deutlich.

Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte die Älteste an.
„Jetzt komm aber auch her!“

Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu, gab den Augenwink ihrer
jungen Schwester, die, noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging
und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff ihr an die Brust,
die noch nicht vorhanden war, und brüllte: „Die andere!“

„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste mit einem Blick, der
allen fünfen in die Augen traf. Und Adolf gewann die Fassung wieder.
„Aber selbstverständlich!“

Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch fünf Gläser voll
bis zum Rand, so daß plötzlich drei leere Flaschen auf dem Tische
standen.

Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts über drei Oberkörper
weg, holte sich ein Glas mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es
bedeutungsvoll vor sich hin.

„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den Wein kennerisch mit der
Zunge prüfte. Er schüttete Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen
gaben ihr Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse.

Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur Decke. Begann zu
rasseln, knackte: ein farbiger Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock
im Händchen, schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen
auseinanderging, in den Vordergrund und dirigierte das von Trommelwirbel
umdonnerte Flötensolo.

Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett. Sein Bart ging mit der
Dunkelheit zusammen. Die Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett.

Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende Glas, bis die
Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals ins Glas und schimpfte, in
der Einsicht, mit seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren nicht
aufkommen zu können, hoffnungslos in eine leere Ecke hinein. „Noch eine
Flasche!“ schrie er verzweifelt.

Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm, überredete ihn, erst
das Geld zu geben, schob es wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh
heim. Hast genug getrunken.“

Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt stand groß vor ihm,
hinter dem Wirt die Älteste mit der Mütze des Arbeiters.

Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt und betrogen von seiner
Sehnsucht nach Glanz und nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper
hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug.

Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus. „Jetzt sagt mir,
was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube zu suchen.“

Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem Busen pornographische
Photographien, auf denen sie selbst in verschiedenen Stellungen nackt
abgebildet war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen schon neun
leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser der Mädchen waren immer beinahe
gleichzeitig voll und leer.

„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf und ließ die Bilder
durch seine heißen Hände laufen. „Aber natürlich bringen Sie noch!“
echoten die andern.

Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel; vom Boden des Kübels
lief ein Schlauch weg in die jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem
die Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert hatten, besorgte
der Wirt mit diesem Weine das Füllen der Flaschen. Und die Mädchen
stellten den Wein wieder auf den Tisch.

Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier Köpfe, eng
aneinandergepreßt, blieben über die Photographien geneigt, bis die
Älteste die Bilder wegnahm. Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen
Geldschein in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube. Die
andern bemerkten es kaum.

Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim Halse gepackt. Die
ineinander verschlungenen Weiber- und Männerkörper schaukelten hin und
her nach der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die Flaschen
schwebten selbständig vom Büfett herüber auf den Tisch. Floß eine Stunde
lang im Kreislauf: aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel,
durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die Gläser, bis der
kühl und reglos neben dem Kübel stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab.

Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge Schwester blieb auf
des Magistratsbeamten Schoß liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte
ihr einen Blick, der sie ernüchterte.

Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den Tisch, an dem der
Arbeiter gesessen hatte.

Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte auf und zu, und
plötzlich warf er die dürren Arme hoch und behauptete: so lebe er, so
lebe er, so lebe er alle Tage.

Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte kopfschüttelnd über
die Kaufleute und nahm die Bestellung entgegen. Die Studenten blickten
belustigt hinüber.

„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler, Karl Lenz, nicht
erkannte. Der Wirt kam groß aus dem Büfett heraus.

„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte immer noch. Und
die Älteste präsentierte die Rechnung.

Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe Tisch stand voll Wein-
und Sektflaschen. Adolf warf noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen
Stirnseite der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das langt nicht.“

Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten nach ihren Mänteln
greifen. „Sie müssen mir Ihren Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt
stellte den Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten
beobachteten gespannt die Szene.

Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber muß ich eine Quittung
bekommen!“ Und blickte, trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon
ausgefüllte Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte.

Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden nach, schloß die Tür
leise und mit Kraft und zog sich hinter das Büfett zurück, stellte eine
leere Flasche unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche.

Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen: „Diese Kaufleutchen!
Wollen elegante Herren spielen und können dann nicht bezahlen.“ Sie
breitete die Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen in
einer Weinstube zu suchen?“

Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die andern. Sie goß den
Rotwein ein. „Auch für uns ein Gläschen?“

„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten Gesichtes erst
hinaus in das Klosett und nahm das Couleurband ab; die andern hatten,
dem Koment gemäß, ihre Couleurbänder nicht an.

Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs Studenten. Die junge
Schwester richtete den Tisch der Kaufleute für neue Gäste her. Und der
Wirt rückte den Kübel zurecht.

Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert, ihretwegen auch nur
den Bruchteil selbst eines blödsinnigen Ideals aufzugeben, kann gewiß
niemand behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren
Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege durch die schlafende Stadt.

Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße stand wieder der
Krüppel und neben ihm, reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den
skrofulösen Säugling.

‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben mit schönen, gepflegten
Frauen, oder um der Macht und des Erfolges willen Verrat übt an allem,
was ihm in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘

Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er, geladen bei einer der
vornehmsten Familien des Landes, solchen Frauen begegnet und Zeuge
geworden war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die über Weltpolitik,
Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen Zeitpunkt eines neuen Krieges
in leichtem Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten
Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates und sogar
über den Satzbau des Zitates länger als eine Stunde äußerst
beziehungsreich und sehr klug und geistvoll diskutiert hatten. Das ist
Macht, das ist Kultur, hatte er damals gedacht.

‚Aber kann denn durch diese Macht und durch diesen Geist das Meer von
Tränen, kann denn dadurch das würgende, würgende Menschenleid beseitigt
werden? Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘ Bedrückten Herzens
schloß er die rückwärtige Gartentür auf, an die er das Schild angebracht
hatte: ‚Hier wird Armen gegeben‘.

Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten; nur die allzu glatten
der Schulkameraden und der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren
Mitschüler jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte, wie
einmal in der Schule, den Wunsch gehabt, auch so zu werden, wie die
andern waren, das Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der
Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte Jürgen
Schicksalspausen.

Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von dem Wein, sah die
Animierkneipe. Schweinerei! dachte er, betrachtete mit inbrünstigem
Hasse der Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten Deckchen,
die alle Möbelstücke drückten. Der Perpendikel tickte ruhevoll das Wort
‚rich–tig, rich–tig‘.

‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist unmöglich. Da hört die Uhr
auf zu ticken, die Deckchen gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die
Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘

Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen. Die Tante häkelte.
Die Älteste zeigt die Photographien.

„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution, sah die
böse herausgedrückten Augen der Tante. Die Szene von früher wiederholte
sich:

„Was hast du gesagt?“

„Ich habs doch nur gedacht.“

„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“

„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören würde zu ticken!“

Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung und stellte die
Häkelnadel senkrecht gegen ihn: „Wenn du erst in Amt und Würden sein
wirst ...“

Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand. „Niemals! Ich studiere
Philosophie.“

Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der Stickerei und stach
langsam die Nadel von unten in den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch.
„Du weißt, dein Vater will ...“

„Er ist ja tot. Tot!“

„... daß du Amtsrichter wirst.“

Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und in die Pause hinein
gestand er: „Ich studiere seit einem Jahre, studierte von Anfang an
Philosophie. Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“

Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die Hände im Schoß: „In
diesem Falle würdest du nicht einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von
was also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst du denn werden?“

Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an. „Werden?“ Die Uhr tickte:
‚rich–tig, rich–tig‘.

„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen längst, was sie werden
wollen.“

Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er brach in die Knie,
preßte beide Fäuste an den Hinterkopf und brüllte wild: „Nichts weiß
ich! Landstreicher werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner
werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“

Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau, elend, schemenhaft
vor der Dunkelheit stand. Auch den skrofulösen Säugling auf der Mutter
Arm sah Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe zu und zur
Tür hinaus.

Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum Ausbruch. Zuletzt riß er
die Waschschüssel mit beiden Händen in die Höhe und schmetterte sie auf
den Fußboden. Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet.

Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still. Er saß, Arme
verschränkt, Kopf darauf, am Tisch. Tränen und Speichel vermischten sich
auf der Tischplatte. So blieb er hocken.

Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das Heiligenbild im
Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich: „Das Lämmchen muß dem
Heiligenbild weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße gesetzt
werden.“

‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält, bis er irrsinnig
wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen, ahmte eine Kinderstimme nach,
schmollte trotzig und weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur
Krüppelfamilie tun.“

‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘, klagte
Katharina.

Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu der Krüppelfamilie ...
Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit drückte des Erschöpften Wange auf die
Tischplatte. Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte
Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und schlief ein.

Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener, der Vater hinter
dem Stuhle, tippte Jürgen auf die Schulter und sagte leise und
lächelnden, weitgeöffneten Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na, du
schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des Jahrmarktes riesige,
vieltausendstimmige Drehorgel, deren Töne fernher drangen durch den
warmen Herbstabend.

Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn funktionierte schon. Die
Bude links neben dem Zaubertheater war mit Hilfe von Ölfarbe in einen
alten Stall umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der Kopf des
mit kosmetischen Mitteln hergerichteten ‚Pferdegesichtes‘ sah sehr
abnorm aus.

Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte machen lassen:
„Hier ist zu sehen der Mensch mit dem Pferdekopf! Die größte Abnormität
der Welt! Er frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ... Man höre
ihn wiehern.“

Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins Publikum: Aus der Bude
erklang das brünstige Wiehern des Pferdegesichtes.

Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten Höhe stundenlang
am selben Flecke reglos gelegen war und sich nach dreißig Schritten,
gepeinigt von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte fallen
lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf nach, in das weite
Land, dem Meere zu, ganz und gar erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu
entlaufen, hinaus in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem
Heimwege angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie in der
Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen ließen, daß hier die
Freiheit sei.

Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn des Geheimrates
sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher werden‘, dachte er und
betrachtete den Stall. Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der
Mitte saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse.

Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude gesetzt, dachte
Jürgen, wollte schon durch die Menge durch, die drei Stufen hinauf,
Seidel zu begrüßen, erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte
und seines letzten Gespräches mit Seidel und verließ den Jahrmarkt.

Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr beschäftigt. Wenn die
Leute sahen, wie das aus der Luke heraushängende Heu sich bewegte,
siegte bei vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem Pferdegesicht
beim Heufressen zu beobachten, so daß die Bude immer guten Zulauf hatte.

In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich, innere Ausstattung,
Riesenhorn und Stallmeisterlivree, die Das Herz trug, und im Kopfe die
Idee, daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere für sich
arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel Herz und
Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die Wahl, entweder Mitinhaber zu
bleiben und während der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu
verzichten – denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft bezahlt
werden –, oder alle Mitinhaberrechte abzutreten und sofort
Angestelltengehalt zu beziehen.

Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein einziges Erbe.“ Das
Pferdegesicht erklärte, nicht jeder könne seine Visage als Pferdekopf
für Geld ausstellen, und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei
auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse, in der die
Wocheneinnahme lag, klappte zu.

Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel war Alleininhaber.

Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt darüber nach,
wo er eine breitere Basis für seinen spekulativen Geist finden könnte.

Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem mächtigen Backsteinbau
zurück: dem Zirkus, der den ganzen Winter über in der Stadt blieb und
während der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen hatte.

Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen einigen
Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer bestanden, und schlug diesem
vor, Familienbilletts zu ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die
Jahresmesse in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der herkömmlichen
und deshalb nicht mehr wirksamen Zirkusplakate ein von einem guten
Künstler zu entwerfendes modernes Plakat kleben lassen.

Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts wissen. Die Billettidee
hatte er selbst gehabt und war schon dabei, sie auszuführen. Aber es
gelang Seidel, einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit
Zirkuskünstlern zu machen.

Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe Leo Seidel, im Pelz,
den Zylinder auf dem Kopfe, im Vorraume des Berliner Wintergartens
gesehen, in Gesellschaft von eleganten Damen und Varietékünstlern.

Und so konnten einige Jahre später seine früheren Kollegen vom
Stadtmagistrat und die Schulkameraden, von denen die meisten zu dieser
Zeit schon jung verheiratete Männer waren, nicht allzu sehr darüber
verwundert sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht lange Impresario
geblieben war, als kaufmännischer Direktor des riesigen Wanderzirkus in
die Heimatstadt zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im eigenen
Wagen fuhr.

Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum breiteren Löschblattbügel
vorgerückt und wollte sich verheiraten.

Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und hatte nur eine
Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt.

Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen- und dann im
Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem Erfolge tätig gewesen und
deshalb noch einmal in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war, an der
Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert. Er war seit Jahren
Abonnent volkswirtschaftlicher, bank- und börsentechnischer
Zeitschriften.

Er studierte die Preisschwankungen des Marktes nicht wie der
Großindustrielle oder Börsianer, die, das Risiko zu vermindern, sich mit
ihren Abschlüssen von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten
orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden Kurven
der Export- und Importziffern aller Länder, verfolgte genau die hieraus
sich ergebenden inner- und außerpolitischen Spannungen, täuschte sich
selten über den Zeitpunkt hereinbrechender Wirtschaftskrisen – eine
Fähigkeit, die ihn nicht nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine
bisher größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete, in jeder
Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die Situation, die es ihm
gestatten würde, unter möglichster Ausschaltung des Risikos die Hand auf
das ganz große Geschäft zu legen.

Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu haben, die
Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen.




                                  III


„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte sich wieder auf das
Bänkchen.

„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“

„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt eins. Kommt von einem
Geschäftsgang zurück, liest die eingelaufene Post, da trifft ihn der
Schlag ... Auch ein Unglück für die Familie!“

Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten, in dem ein Toter lag,
stieg die Treppe hinauf, vorbei an dem farbigen Treppenhausfenster, auf
dem Wilhelm Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen
von den blonden Locken.

Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch. „Herr Adolf kommt
gleich“, sagte das Dienstmädchen und drehte eine schwach und rot
brennende Birne an im Salon.

Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar schwer, füllten
ihn. Zahllose Nippesgegenstände posierten, miauten, sangen, tanzten
Menuett auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen wand sich
bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe Lehne, gebildet durch zwei
vielfach geschwungene, schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer
Wasserrose abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf dem Kopfe.

Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, begann schließlich zu
zählen: vier meterhohe Petroleumlampen – Geschenke, die niemals gebrannt
hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-, Kaffee- und
Likörservice, entdeckte nachträglich noch zwei hohe, glänzende Gestelle,
die er erst auch für Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte:
Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken Birnen, Äpfel,
Trauben, aus farbigem Tuche, lagen. An der Wand hing, zwischen dem
Dackel, der, das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet, und
dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, ein kleiner Elefant, der
den Rüssel hin und her schleuderte. Das Ziffernblatt auf seiner Stirn
stellte Afrika dar.

Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht im Zimmer nebenan
der Tote liege. Um sich abzulenken, nahm Jürgen den Bronzelöwen in die
Hand, der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem Rande, die Zunge
dürstend in die Aschenschale streckte. Stand auf, sah umher, drehte am
Schalter. Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel, wie
betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der Finsternis. Er fand den
Schalter nicht wieder.

Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im Salon liegen,
schneeweiß aufgebahrt und mit genau der selben Kopfhaltung wie die
seines Vaters. Schnell drehte er sich einige Male um sich selbst,
bemüht, die Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und streckte die
Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker aus.

Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen Jürgens Kopf: Adolf hatte
eintreten wollen. „Na, sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina!
Donnerwetter, Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte aufklären.

„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn nicht der ganze Lüster
angeknipst, wenn Besuch da ist! ... Bringen Sie Tokaier.“

Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig schritt er auch noch in
die andern drei Ecken: Immer mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und
am gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen tot im weißen
Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“

Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen Schwanenstuhl und sprach
das Tokaierglas prostend erhoben, verlegen sein Beileid aus über den
entsetzlichen Unglücksfall, der Adolf betroffen habe.

„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht ihm schon wieder besser.
Er hat schon etwas Gulasch gegessen. Jetzt schläft er.“

Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das Mädchen von Schalter
zu Schalter und stürzte den Salon wieder in das schwarze Nichts.

Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte Glacéhandschuhe an
und machte beim Sprechen abgehackte Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie
ein Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein Vater habe diesen
Morgen Ärger gehabt, wegen einer Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe
sich zwar nur um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle,
gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu machen sind? ... Geht er
heute früh dieser Sache halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da
findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, des Inhalts, daß wir
...“ Er blieb stehen, hob den Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“

„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“

„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir den Auftrag erhalten
haben, den neuen Armeeknopf zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet?
... Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche Schreiben, liest,
daß er zum Kommerzienrat ernannt worden ist: schwuppdich – Schlaganfall
... Bitte, nach dir.“

Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte, seinen Ober jetzt
mit vollkommenster Sicherheit kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit
den Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das Knopfexporthaus
stand wuchtig und still gegenüber in der Abendruhe.

Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein blonder Herr trat ein.
Adolf verbeugte sich steif und tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein
Klubmitglied! Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die haben ihrem
Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert, in der ausschließlich
Eisenbahnweichen fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen! Auch
die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben. Enorm reiche Leute!“

Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken, daß seit jenem ersten
Kaffeehausbesuch schon soviel Zeit vergangen war und er noch immer
unklar und ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende Gesicht,
von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein, das glatt und grün aus der
Brusttasche wuchs.

„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht ungern mit dem jungen
Heller – erzählte er mir im Klub, er habe den Ingenieur, der das
Einrichten der Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die
Lerche! rausgeschmissen.“

„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem Ganzen! ... Vielleicht
wenn ich Dolmetscher werden könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von
Zorn und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“

„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine Ahnung! Es gibt, rein
menschlich genommen, nichts, das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ...
Ich sammle etwas ganz anderes.“

Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte sich wieder zurück.
„Von jeder, die ich gehabt habe! ... Kannst dir die Sammlung einmal
ansehen.“

„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“

„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen der Betreffenden und dem
Datum.“

„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“

„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum Streik aufgehetzt. Ein
Blutroter nämlich, verrückter Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer
und so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um, rennt und
schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens ein brauchbarer Techniker
und Organisator sein –, dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts
noch, heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer Industrie.“

„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, daß trotz des
Aufschwunges unserer Industrie die große Mehrheit aller Menschen zu
schwer arbeiten muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat, vor allem
aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen Anlagen auszubilden,
jeglicher Entwicklungsmöglichkeit vollständig beraubt ist? Im Gegensatz
zu anderen, die essen, leben und sich bilden können – wie zum Beispiel
wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts arbeiten!“

„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten. Und wie wir geschwitzt
haben, mein Alter und ich, betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur
ein einziges Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung machen
müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein sämtlicher und noch einiger
Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten anderer Leute schnuppe sein.“

Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der eine denkt und der andere
niemals zu selbständigem Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und
deshalb auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende? Ist da die
verschiedene Konstitution entscheidend? Oder das Leben, wie es ist, die
Ordnung, die Lebensordnung? Oder alles zusammen? ... Das ist ein tiefes
Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten ... Und wer jetzt dazu
noch überlegt, daß ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig
denken, die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem Leben das Gesicht
geben, der muß zugeben: Alles, das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze!

„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine laufen. Dazu die
Berechnung des Rohmaterials, der Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne.
Wenn du zu hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht; und wenn du
dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest, bist du pleite.“

Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne Tüchlein aus der
Brusttasche und wischte sich die trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin?
Dolmetscher in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines Wissens
und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute in Deutschland, die chinesisch
können.“

„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen Dolmetscherposten in
China bekommen könnte“, sagte Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals
daran gedacht hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen.

„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er auf der Straße von
neuem. „Ich lerne nämlich seit Jahren in einer alten Grammatik, die ich
unter den Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel als
Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft in China! ... Nur weg von
Europa!“

„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön, werde du Dolmetscher!
Nichts als Romantik, mein Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel
kennst du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus unserer
Knopffabrik angegliedert. Runde Sache! Konzentration, mein Junge! Aber
davon verstehst du ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich
und, um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung weiblicher
Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“ Er war mit der
Bankierstochter Elisabeth Wagner, einer früheren Mitschülerin
Katharinas, verlobt.

Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn stieg aus und die
läuferbelegte Treppe hinauf. Auch Jürgen und Adolf waren vor dem
Klubhause angelangt.

„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man Staatsaufträge
natürlich nicht. Da sind, abgesehen von der Kalkulation, noch ganz
andere Kräfte im Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe
werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme und nannte die
Summe, „und hundertachtzig Millionen sind bestellt ... Rechne aus! Mein
verflossener Chef wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel.
Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir ihm noch den kolossalen
Staatsauftrag weg. Kurzum: es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in
die Höhe. Merkst du das?“

„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar nicht zugehört.

Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang durch das offene
Fenster. Und Adolf, beide Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen,
Glacés in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder Lebensfreude:

   „Es haben zwei ne ganze Nacht
   Zusammen in einem Bett verbracht.
   Was ham se wohl gemacht?“

Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte auch er sich. Katharinas
Vater, Herr Geheimrat Lenz, löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein
brotloser Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung war.

Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit – geht Katharina
vorüber an Jürgen, ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen
und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen von Mitleid.
‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er war mein Jugendfreund. Schenke ihm
doch etwas.‘

Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche dem demütig
Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht die Tränen herunterrollen.

Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die seine, die den Besen
hält, und sieht ihren Mann an: ‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja
nicht. Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen ist! Hätte
ich ihn sonst geliebt? Keineswegs immer so! Zum Beispiel ernannte ihn
die Regierung, obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher
war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten wegen zum deutschen
Gesandten in China.‘

Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser, sondern Jürgen ist mit ihr
verheiratet, empfängt die phantastisch wunderbar gekleideten
chinesischen Würdenträger, von denen vor lauter tiefen Verbeugungen
beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat keine Decke. Das
Sternenfirmament blitzt über dem glänzenden Feste des deutschen
Gesandten. Der Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische
Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt. ‚Empfehlen Sie mich auch
Ihrer Frau Gemahlin.‘

‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘

‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘

Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und heftige Läuten des
Trambahnführers stießen ihn zurück in die Wirklichkeit. Er befand sich
in einem ihm gänzlich fremden Stadtteil.

„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht endlich aufhören,
knalle ich mich nieder. Das ist ja Onanie“, schrie er plötzlich
wutentstellten Gesichtes, in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose
Verwunderung sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause stand,
in welchem der Ingenieur wohnte.

Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf nach der Adresse
gefragt und auf dem Wege durch die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht
hatte, in diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein Stück
Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich des Grundes bewußt geworden
zu sein.

Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen, wird sich also von
dem Herrn Geheimrat nichts mehr dreinreden lassen, dachte er, schon
wieder traumversunken, beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen
den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs. ‚Was soll ich ihn denn
fragen? Was soll ich sagen?‘

Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin, deren Unterlippe
mürrisch auf das Kinn herabhing, führte ihn in das große, helle Zimmer.
Der Ingenieur saß am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“

Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben, leeren Wände.

„In den Sessel!“

Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen Ledersessel, vor
das vollgestopfte Bücherregal, neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger
Zeitungen auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was soll ich sagen?
Verflucht, das ist ja wie in der Schule ... Was will ich überhaupt?‘

Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten Rücken an. ‚Wenn ich
das wüßte, würde ich nicht hier sein.‘

„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen Punkte schlecht. Du
solltest den betreffenden Abschnitt noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die
Klassenkämpfe in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der Familie‘
gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“

Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu kaufen. ‚Aber so geht
das ja nicht weiter. Schließlich verrät er mir noch Geheimnisse.‘

„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“, sagte der
Ingenieur und wandte sich um. „Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“
Er hatte unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen Gesicht,
das als Abschluß einen kleinen Spitzbart braucht, der auch vorhanden
war.

Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon. Während der Ingenieur
horchte und sprach und horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene
Gesprächsanfänge. Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur das
Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was wollen Sie?“

„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ... Ich bin doch nun
einmal da“, antwortete er in einem Tone, als ob er gestanden hätte: Ich
habe das Verbrechen begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie wollen.

Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit, blickte er
den Ingenieur wütend an.

„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder Kleinigkeit anrufen,
Genosse“, sagte der Ingenieur, der schon wieder verlangt worden war, in
den Apparat hinein.

‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben Astronomie
studieren soll, und geh meiner Wege. Denn zu erklären, um was es sich
eigentlich handelt – diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘

„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete der Hilfsredakteur, der
im fünften Stocke des Druckereigebäudes in dem winzigen
Redaktionszimmerchen saß, ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr
in der Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem
Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“

„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete ungläubig der
Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz offensichtlich politischen Motiven den
Polizeipräsidenten erschossen.“

Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun, um die Welt zu
erlösen? dachte Jürgen.

„Und politische Verbrecher werden bekanntlich nicht ausgeliefert.“

Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein Papier. „Es ist eine
amtliche Depesche, in der das Attentat als gemeines Verbrechen
dargestellt wird. Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur
Grenze.“

‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem zähen Sumpf, wenn nicht
etwas geschieht.‘

„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über den Fall in die
Redaktion schicken für die morgige Nummer.“

Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte, plötzlich entflammt,
Jürgen und sah leuchtenden Blickes den Ingenieur an. „Vielleicht können
Sie mir doch raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das, was
er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen Weg zeigen! Ich tue
alles. Ich bin nicht feige!“

Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene
sozialistische Agitator, vor dem schon öfters idealistisch gesinnte
junge Menschen gesessen hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem
Idealismus anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im Ton, als er
hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen besucht?“ und lehnte seine
Taschenuhr gegen das Tintenfaß.

„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte eine Siedlung gegründet.
Jetzt ist er Mitglied der sozialistischen Partei, und da wird er wohl
...“ sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der Agitator ein
Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.

„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ... Auch diese Siedler
konnten es einfach nicht ertragen, das Leben, so wie es ist ... Alles
zusammen, das Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche
Niederträchtigkeit.“

„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt bleiben! Dann ist es
ganz gleich, welchen Beruf Sie wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein.
Möchten Sie das nie vergessen.“

„Das Bewußtsein?“

„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich das, was er in der
Jugend, als noch Protestierender, schon erkannt und sogar tief empfunden
und erlitten hatte, mit den Jahren vergessen.“

Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich. „Er kann, ich
verstehe Sie schon, in eine gefährliche Schicksalspause
hineinschlingern, ja? und in dieser Schicksalspause den Kampf aufgeben:
alles verraten, was er erstrebt hatte.“

Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit! Sie kommt nicht mehr.
Wahrscheinlich ist sie von der Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘
gefahren ... Ungefähr das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das
Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und die Zeitung dann auch
noch verkaufen.“

„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und wenn dann einer eine Zeitlang
tüchtig, das heißt: brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil
bedacht war, ist er – husch, die Lerche! wie mein Schulfreund sagt – auf
Kosten unterdrückter Elendsmenschen ein geachteter Mann.“

„Aus solchen geachteten Männern besteht die herrschende Klasse.“

„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt wurde. Sie sind
Sozialist?“ Und ob er ihn noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen
auf der Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles von Grund
auf besser werden würde?“

Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn. „Ich glaube, daß
jede Zeitepoche in sich ihre durch den Stand der Produktionskräfte
bedingte Aufgabe trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des
Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und daß die Aufgabe
unseres Jahrhunderts in der Abschaffung des Privateigentums an den
Produktionsmitteln besteht, in der Überführung der Produktionsmittel in
gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung des Sozialismus auf
dem Wege des Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte
bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt, glaube ich, daß sie den
wahren, weil zeitbedingten, Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem
Kampfe um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite mit der
Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch für Sie persönlich. Alle
anderen Befreiungs- und Erlösungsideen sind Nebel und Wolken in
verschiedener Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front glatt
verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als Fangangeln ausgelegt.“

Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse des Agitators fühlte,
erkannte Jürgen, daß es anfangs nicht ganz echt gewesen war. Das
erstemal in meinem Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch
mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit diesem Rate nichts
anzufangen. Verstehe ihn gar nicht. Überführung der Produktionsmittel in
gesellschaftliches Eigentum? Er hätte ebensogut sagen können: Der Inhalt
des Idealismus eines jungen Menschen unserer Zeit kann nur darin
bestehen, daß er lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder das
Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war ernüchtert.

„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die idealistisch gesinnte
bürgerliche Jugend steht und kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die
Verwirklichung des Sozialismus, und damit gegen den nächsten großen
Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen des Menschen nächsten
Schritt zu sich selbst. Diese Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und
gerät deshalb in die tollsten Verirrungen.“

So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen, dem Prunkviertel
entrückt und in die Elendszeilen der verluderten, nackten Mietskasernen
vorgerückt war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für
schlechtgekleidete den Wagen geräumt, der nun, überfüllt mit Arbeitern
und Fabrikmädchen, seine schmutzige Ladung weiterschleppte durch das
Viertel, wo die Not stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine
Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft gepflegter Damen war
niedergeschlagen und aufgefressen worden von dem dicken Schweißgestank
der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher weiße und frische Gesichter
mondgleich geschienen hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst,
hautüberzogene Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen Augen, die
blickten.

Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen; die andere
Menschheit war eingestiegen.

Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer vergeßlichen Dame im
Wagen zurückgelassen, bekam irrblickende Augen und bellte die fremde,
die andere Menschheit an.

Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er das dazugehörige Gesicht
suchte, sah er, daß diese rissigen, hornhäutigen, übergroßen
Männerfäuste einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben ihr wackelte
der Oberkörper eines bärtigen alten Briefträgers, in dessen zerklüftetes
Wachsgesicht das Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken
eingezeichnet war, steif und haltlos hin und her.

„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale Problem hineingefahren.
Mit der Elektrischen! ... Nur dies allein (auch das gilt für Sie
persönlich), nur den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten
Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht. Denn er weiß, daß
wir erst dann gefährlich werden können ... Geist, christliche
Menschenliebe, Helfenwollen, Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da
lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich selbst in
Anspruch. Denn er ist sozusagen für den Fortschritt. Aber nur ja nicht
das! Nur ja nicht tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert er
sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter Umständen, erschießen
und erschlagen.“

Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft mit Arbeitern, die
bis auf die Trittbretter herausquollen, überholten lose zusammenhängende
Arbeitertrupps, die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten. Immer
wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“ Der Schaffner kassierte.

Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt hatte, machte eine
Bewegung, als schüttle er etwas von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“
Und da Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche mit.

„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“

„Er wird hingerichtet.“

„So ... Wird hingerichtet.“

Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden Gruppe
Schutzleute. Krachend vorbei an einem Kanalloch, um das herum
Proletarierkinder Ringelreigen tanzten.

Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten im Ruck: Alle
Fahrgäste und die grau herbeiströmenden Arbeitermassen drängten hinein
in das ‚Paradies‘, das schon überfüllt war.

Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber, übereinandergetürmt,
gleich Gewächsen aufstiegen, stürzten nicht hernieder. An den Tischen:
Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen, die, dicke
Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt in den Zwischengängen standen.
Gebärden der Erregung durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch, hinter
dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische Wesen, die alles im
Überflusse hatten.

Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die Augen geschlossen
hatte, gewaltige, kilometerbreite, gischtige Wassermassen aus blauer
Höhe herabklatschen: sah zehntausend klatschende Menschenhände und in
weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann.

Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl rückhaltloser
Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie für den Mann, der das Vertrauen
dieser fünftausend Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend
Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte er die Hand dem jungen
Zeitungsverkäufer hin, der rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“

Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern, die er über den Kopf
hochhalten mußte. Ein Zögernder fragte: „Was kostet die Befreiung?“

„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf, der Klassenkampf, die
Gemeinsamkeit all derer, die durch ihr Klassenschicksal die gegebenen
und unbedingten Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame, Euer
Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche Quell Eurer Kraft: Kraftquell
für jeden und für das Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“,
erklang fernher die Stimme des Redners.

Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde dahinter kommen, ob und
weshalb das so ist.‘ Ihm entgegen drängte noch einmal der junge
Zeitungsverkäufer, auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem Ohre
reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da Jürgen, verwirrt, ihm in das
Antlitz sah: „Zwanzig! ... Umsonst gibts nichts.“

„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den schweißtriefenden Kellner an
und überlegte, ob er ‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle,
als wäre beides zusammen unmöglich.

Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des Redners den Agitator, der
von Monopolisierung, Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen
sich nichts vorstellen konnte.

„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt von Aktienbesitzern,
die in gar keiner Weise arbeiten in dem Betriebe, von dem sie die
Dividenden beziehen. Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der
Aktienbesitzer, der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert, wie die
Spinne im Netz in der Börse lauert, erstklassig durch das Leben
glitscht, aber den Rasen nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt,
sondern für Recht und Ordnung ist.“

Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten, als hielten sie mit
ihren Händen den Erdball.

„In den Betrieben schuften Männer und Frauen jahraus, jahrein, von früh
bis abends an den Maschinen, machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten
Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen Zahnbürsten,
Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer, Schreibmaschinen, Schuhe,
Leintücher entstehen; in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen
oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren und Damen, deren
Lebensarbeit darin besteht, das Dasein zu genießen, ins Theater zu
fahren, über Kunst und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger
zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre Kinder falsch zu
erziehen und reich zu verheiraten, Leute, die einen Betrieb nie betreten
haben, es seien denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder
sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen, die keinen Dunst
davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert werden, oder wie ein Webstuhl
aussieht, und beziehen Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer
Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher nicht einmal wissen,
daß die Benutzung einer Zahnbürste zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und
die Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten keine Leintücher
kaufen können.“

Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit Aktien, sie, die in
ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gemacht hat, als diese qualvollen
Häkeldeckchen, dachte Jürgen.

„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag, während der
Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um vier Uhr nachmittags – durch die
Geschäftsstraßen einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft,
Tausende und Tausende und Tausende hübsch und elegant gekleideter,
gepflegter Mädchen, Frauen und junger Männer begegnen. Das sind die
Töchter – höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie arbeiten
nicht; aber sie essen dennoch, und nicht Kutteln mit Sauce. Kaufen ein,
geben viel Geld aus, damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können,
versteht ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören Konzerte, können
ausgezeichnet tanzen und zur Not Gesetzesparagraphen auswendig lernen,
die gegen Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten und Richtern
dann nicht schwer fällt. Sie sind die Angehörigen ihrer Aktien
besitzenden Gatten und Väter, leben von dem Mehrwert, der den
Werktätigen abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein
mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende Arbeiter, von deren
Schweiß und Not und Tod sie leben.“

Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins, daß sie von dem
Schweiße dieser Arbeiter leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt.
Sind weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein.

„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion: Du sollst nicht. Du
sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer: Das Eigentum ist heilig.“

„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben Jürgen stehender
Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich keine Rittergüter, Bergwerke,
Webereien und Möbelfabriken.“

Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen sich mit jedem
einzelnen und mit allen zugleich wie durch ein unbegreifliches Wunder
verbunden. Der Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung, ihr
Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah es, daß seine
lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit der Umwelt gegenüber
urplötzlich verschwanden und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden
so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten mußte, nicht
loszubrüllen vor innerem Jubel.

‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte nicht, was
Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht! Fühlte es nicht, wegen meiner
unfruchtbaren Einsamkeit, angesichts dieses verruchten Geschehens, dem
gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden kann oder, findet
er sich zurecht, verloren ist. So oder so! Denn das Zurechtfinden
innerhalb dieses Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich den
Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf bis zum Tode!‘

„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf! Die Befreiung!
Neueste Nummer: Der Klassenkampf!“

Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen fühlte er den letzten
Schlag, anstürmend, als wolle das Blut herausspringen. So starrte er das
verschwitzte, kompakte Antlitz an, den gebogenen Nacken, den kleinen,
festen Mund, der rief: „Die Befreiung! Der Klassenkampf!“

Da war Katharina schon wieder verschwunden im überfüllten Zwischengang.
Er sah nur noch den über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und
noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer Zug
arbeitsunfähig gewordener alter Männer und Frauen grau und düster durch
Jürgens Sehnsucht, gleichberechtigt neben Katharina zu stehen.

Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim gegründet. Alles
funktionierte tadellos. Alle Zeitungen schrieben darüber. Jürgen
empfängt eine Deputation des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die
Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste, feinste hat einen
Scheitel, von der Stirn bis zum Nacken, und führt das Wort.

Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim zu
organisieren. Warum nicht! Natürlich müsse er erst die besonderen
Verhältnisse an Ort und Stelle studieren. ‚Die Konstellation
gewissermaßen, Sie verstehen! Außerdem haben andere Stadtverwaltungen
sich schon früher bei mir gemeldet, müssen Sie wissen. Und wer zuerst
kommt – nicht wahr ...‘

Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude darüber, daß Jürgen
den Herren die Ehre zuteil werden läßt, einen Witz zu machen, schief
ausfallen. Sogar die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine
Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt zuerst!‘

‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich sofort zurück. Auch
die Tante, die respektvoll dabeigestanden war, verläßt leise das Zimmer,
den mit Arbeit Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am
Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an.

Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich der Ausgangstür zu.
Jürgen erreichte, halb getragen, die Straße, schwitzend und begeistert.
Stand vor der Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘
gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder tanzten noch
immer Ringelreigen, herum um das dampfende Kanalloch.

Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe herab auf das reale
Pflaster, empfangen von Ekel und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und
sich wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit einem innerlichen,
einem wilden Sprunge langte er wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir
das abgewöhnen. Werde dir das abgewöhnen!‘

Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den ‚Klassenkampf‘.

Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten sich um nach ihm. Einige
legten, wenn er aufsah, den Finger an die Mütze.

Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf; aber das Ziel, das
Ziel – es ist unerhört ... Ob ich herausfinden werde, was schlecht ist
an ihrem Artikel? dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal
von Anfang an.

Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm, deutlich das Summen einer
großen Fliege, blickte erstaunt auf und bemerkte, daß er vor dem
‚Platzwirt‘ stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe, vor der er,
sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes Grauen empfunden, und die zu
betreten er nie gewagt hatte.

Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung, in einen
riesigen Fabriksaal geraten zu sein, so ungeheuer war der Lärm. Auch die
Töne des alten Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen.

An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden hing gar nichts. Vom
Schanktisch bei der Tür liefen fünf lange Reihen zwischenraumlos
nebeneinander stehender Tische nach rückwärts und verschwanden im Qualm.
Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen: dicht besetzt von Straßenmädchen,
Zuhältern, verunglückten oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern,
obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen Klasse verschiedenster
Berufe, durch den Konkurrenzkampf heraus- und, ohne Station zu machen
bei der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins
Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen, die infolge langer
Arbeitslosigkeit rettungslos in Verbrechen versunken und ertrunken
waren.

Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen mit selbstverständlicher
Bereitwilligkeit Platz gemacht, noch enger zusammengerückt. Nur ein
kurzer Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei.

Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des Kellners verlangte das
Geld.

Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten Gast; es kam
öfters vor, daß elegante Bummler, Frackherren, oft sogar mit ihren
Damen, nach Ball- oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe
besuchten.

Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern, aus den
Gesprächsfetzen und wilden Gesten, aus dem ganzen Gebaren stach vor
allem anderen deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf man
sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich Existenzen, die das
Grundgesetz der bürgerlichen Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘,
verletzt hatten, für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens
standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt vor Augen, gierig und
eisern bestrebt waren, das Letztmögliche noch aus dem Leben
herauszufetzen, bevor sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes
gepackt werden würden. Jeder war über jeden orientiert. Mancher konnte
manchen ins Zuchthaus bringen. Keiner tat es.

Neben manchem stand das Schafott. Es handelte sich nur darum, das
Schafott nicht besteigen zu müssen. Polizeispitzel, auch in der
echtesten Verkleidung von den Gästen erkannt, konnten es nicht wagen,
sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer Anzahl bei einer
Razzia. Entsicherte Revolver. Hände hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die
Lokalbesucher ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des
Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten seiner
Gäste mischte er sich nicht hinein. Die Grenze des Erlaubten war in
seinem Lokal sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter
überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen Aufruhr.
Jürgen war betäubt.

Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt neben dem
Schanktisch emporragender athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte
auf einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn von hinten und
wortlos beim Rockkragen und zwischen den Beinen und trug ihn schweigend
vor sich her, bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder
reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem Hinausgeworfenen war das
Lokal verboten. Er hatte einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die
Grenze des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war von vielen
gesehen, von keinem beachtet worden. Das Tosen hatte nicht ausgesetzt.

Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges Straßenmädchen, den
grünen Hühnerflügelhut schief auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch
nicht gerührt. Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte
Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren. An dem
gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen, daß die beiden
zusammengehörten.

Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich breit eine Frau, deren
ganzes Gesicht – auch die Stirn – schwarzblau war wie eine
Gewitterwolke, und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu wenden,
unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb sie arbeitslos
geworden sei. Ein arbeitsloser, schwindsüchtig aussehender junger Mensch
verzog die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine Lust und
keine Kraft mehr, noch verächtlich zu lächeln, richtete langsam den
Oberkörper auf, sah Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen
Gesichtes und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in der
Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt gewesen war, wieder entsann.

Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem Aufenthalte in Amerika
zurückgekehrter, heruntergekommener Aristokrat sagte über die
blauschwarze Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe ich
gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie, ich gehe einfach
spazieren. Auf einmal sehe ich eine elegante Equipage stehen. Davor zwei
Pferde. Pferde! Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere ich
mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie, sitzt drin? ... Meine
Mutter. Mächtig elegant! Ich habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich
trete zu ihr an den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich?

‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus
vor der Stadt gekommen sein könnte.

‚Aus Amerika! Am Montag!‘

‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘

‚Ich hab doch kein Geld.‘

‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen. Fort ist sie ... Das ist
doch gemein. Ist das nicht gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich
sofort zu einer anderen Gruppe.

Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos und weit aus und
knallte dem Straßenmädchen neben sich die Faust auf den. Mund. Dann
stützte er beide Ellbogen wieder auf den Tisch.

Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der Bank gestürzt wäre,
stützte wieder die Ellbogen auf den Tisch. Beide saßen genau wie vorher.
Schwiegen genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der Streit lag
weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich zu einer schiefen
Geschwulst geworden, daß die Zähne hervorsahen.

„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ... Elegante Equipage
stehen ...“

„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten am Nebentisch erzählen.
Krachendes Antwortgelächter übertönte für einen Moment den Tumult.

Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus
zurückgekehrt wäre ... Aber ist das nicht gemein?“

„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“

Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden an. Die Frau mit dem
blauschwarzen Gesicht rief: „Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und
jetzt bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du wohl, weshalb?“ Der
Schwindsüchtige verzog die Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren
arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie auf, jetzt kommt unser
Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie Jürgen zu.

Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas auf die
Handfläche stauchten. Der eine Spieler, ein stark schielender, kleiner,
ungewöhnlich breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte mit der
linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das Getöse im Lokal verminderte sich
nicht. Der Schielende hetzte sich und die drei andern Spieler in das
immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper, die
eingezogenen Köpfe spielten hingerissen mit. Die Gesichter flammten.

Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper zogen langsam vorüber an
Jürgen und am Quartett. Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung
rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper mitzuschaukeln;
nur die Gesichter zuckten noch knapp im Rhythmus. Der Schielende
stampfte hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete wie
abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal.

Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die Faust des Schweigenden
den hochaufgeschwollenen Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide
wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt.

Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte, über den Tisch weg,
scharf an Jürgens Wange vorbei. Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach
und platschte glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim.

Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre, seiner Freundin die
abgezogene Wurst hin. Das Mädchen rührte sich nicht. Die geplatzte
Oberlippe glich einem daumendicken, blauen Wurm.

Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden Schleim
zurückgezuckt und starrte, plötzlich grau am ganzen Körper, den an
Jahren noch jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem Sande
verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder abzog und in den Mund
steckte. Mit der ganzen Handfläche schob er nach, kaute zahnlos und
ging, auf dem Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die Menschen
sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch, wie ein wandelnder Toter.
Und als ihm vom Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen wurde,
versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er ließ sie gegen seine Brust
prallen und erst zu Boden fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er
nicht an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine Augen waren
verschleimt und tot. Die Unterlippe, nach außen gedreht, hing
unbeweglich, schief und drei Finger breit herab.

Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses kranke Stück Fleisch
will nur noch Essen zugeführt bekommen, während der Wilde und sogar
jeder Hund, auch der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen
und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur.

Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste kamen, Hände in den
Hosentaschen, Schultern fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der
Hinausschmeißer musterte prüfend jedes fahle Gesicht, schob im Laufe der
Nacht zwei Burschen und ein junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos
hängen ließ, wieder hinaus.

Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm, forderte sie so auf,
jetzt wieder gut zu sein.

Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen Nacht? dachte Jürgen.
Was ihr geschehen ist, als sie noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch
bevorsteht in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er wird
hingerichtet.

Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch immer aufgestützt
Sitzende die Hand ab, lächelte aber dabei schief und entgegenkommend.

„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab er halb nach. „Her mit
dem Geld!“

Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett begleitet, erfüllte
unvermittelt und donnernd das Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen
gedrehte Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab. Er suchte,
bückte sich.

„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“ fragte der
Aristokrat den Hinausschmeißer, der, das Lokal im Blick, am Bierfaß
lehnte und keine Antwort gab.

Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich fähig bin, die
Schönheit eines Goetheschen Wortes zu empfinden, dachte Jürgen, als er
gegen Osten schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg.

Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis ausbesserten und
eben die Azetylenlampen verlöschten, da das graue Tageslicht schon
erstarkte. Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die mit
wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt trieben.

Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus einer
Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben stehen. „Wie brav sie
wieder arbeiten!“ Und gingen weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik
mit einer Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden.

Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind es ja nur die Hetzer,
während die Arbeiter selbst“, hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“

Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf der Quaimauer saß ein
junger Mensch. Diesmal erkannte Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht
des Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der Arbeiterversammlung
und später beim ‚Platzwirt‘ gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß
sich schon in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in
Gleichgültigkeit abgewandelt hatte.

Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über dem fließenden
Wasser baumeln. „Guten Morgen“, sagte Jürgen und setzte sich neben ihn,
die Beine ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen Seite näherte
sich ein einarmiger Invalide, saß auch nieder und begann Geld zu zählen.

Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf schief gestellt, die
glühende Morgendämmerung an, zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen
aus, pfiff weiter, gleichgültig.

Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser. Sind Sie immer hier?“

„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ er sich doch herbei:
„Arbeitslos! Seit ... Ah, die Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte
wieder gewöhnlich drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel. Die Säure
zog ihm das Gesicht zusammen.

Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum Essen holen? Wurst?“

Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen beschäftigt. Er
kicherte, nachdem der Schwindsüchtige mit Jürgens Geldschein
fortgegangen war. „Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii! die
Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da kommt, den schauen Sie
sich an, das ist Herr Knipp. Der hat ausgerechnet, daß er von seinem
Steinbruch, wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs tägliche
Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten Jahr leben kann, ohne selbst
was tun zu müssen. Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im
Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und Tag. Der will nur
angeln. Nichts als angeln! Und pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat
nämlich ein Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und pfeift dazu.
Schon in aller Früh! Sie können sich nicht vorstellen, wie der pfeifen
kann. Das klingt wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh in
die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ... Und dann angelt er. Den
ganzen Tag. Sogar manchmal nachts.“

Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte freundlich und ganz
für sich allein mit dem Wurme, der sich am Angelhaken bäumte: „Warte
doch, warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann beobachtete er,
zufrieden mit der Welt, den schaukelnden Schwimmer. Herr Knipp war erst
einundvierzig Jahre alt.

„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“

Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer anderen als der
erwarteten Richtung kommend, in der Ferne.

„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“

„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er packte das armlange Stück
aus, zählte das übriggebliebene Geld auf Jürgens Handfläche.
„Pferdewurst! Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“

Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief wasserwärts, in der
Erwartung, daß seine Verdächtigung dem Arbeitslosen mitgeteilt werden
würde, und bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum Mitessen
aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen einen Blick wie ein
Findelkind, dem unvermittelt gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und
stehe vor der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte
veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte das Taschenmesser zwischen
die Knie, zog die Klinke hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab.

Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam, den Blick über den Fluß
weg ins weite, dämmerige Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele
tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos.

Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem Gefängnis stand eine
Droschke. Stand schwarz in der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude.
Kutscher und Pferd regten sich nicht.

‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute schon ... Vielleicht
um etwaige Befreiungsversuche unmöglich zu machen?‘

Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei dunkelgekleidete
Kriminalbeamte, zwischen sich einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem
Anzuge, durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die Droschke herum.
Sie stiegen durch beide Türen gleichzeitig ein, als der Gefangene schon
saß.

Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in der schlafenden Stadt,
waren das Klappern der Räder und das Klopfen seines Herzens. ‚Die
Regierung beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder schlafen
jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei beamtete Henker und dieser
Mensch zum Bahnhof.‘

Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung Rangierbahnhof, bis zu
einem einzelnen Personenwagen, der auf dem dritten Gleis stand. Hinter
dem Rangierbahnhof ertönten Pufferknall und die langgezogenen Rufe der
Eisenbahnarbeiter, die den Zug erst zusammenstellten.

Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der eine Beamte wieder
ausstieg, zwischen dem Gleis auf das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein
in das Restaurant.

Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In den Wagen. Stück durch
den Laufgang. Schiebetür zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung
auf die Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken des Beamten,
der, stehend, durch das geschlossene Fenster geblickt hatte.

„Los! Renn! Renn! ... Los!“

Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in der Ecke sitzen, als
ginge ihn diese Sache gar nichts an, schüttelte verneinend den Kopf.

Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung. Er bekam einen Arm
frei. Griff in die Tasche nach dem Revolver.

Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens schleuderte Jürgen den
Beamten von sich, daß dessen Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende
Fensterscheibe schossen, stürzte aus dem Wagen, über die Gleise, durch
die Bahnhofsanlage, Häuser entlang. Vernahm einen Trillerpfiff, schon
fernher.

Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz, in dem mehrere
Möbelwagen und viele andere Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen
Handwagen. Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu.

‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant; der
andere konnte mir nicht nach, weil er den Gefangenen nicht verlassen
durfte. Außerdem war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon weg.‘
Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen, das er in seiner Tasche
gefunden hatte, und streute die Krümel unter die übereinandersteigenden
und -fliegenden Hühner.

‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘

Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere Querstraßen hinter
sich hatte, rannte der Beamte, der in der Restauration gewesen war, über
den Bahnhofsplatz, in der Hand den Browning.

Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel an Jürgen
vorbei. Gebadete Damen in hübschen Morgenkleidern nahmen das Frühstück
und sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die Gärten dufteten.

Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein, dachte Jürgen und klinkte
die Tür auf. Die Tante, erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht
hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘ dachte er und schlief
sofort ein.

„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“

Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel von der Stirn bis
zum Nacken, ein Herrchen, nur so groß wie ein Tintenfaß, ein winziges
Frackherrchen, verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt: „Ich
bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre Ihnen: Ich sitze in
Ihrem Hinterkopfe.“

„Sie stehen ja vor mir.“

„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin Ich und bin die Achtung.
Bin das Ganze und bin Sie, weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“

Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die Tante stand vor seinem
Bett. Ohne Einleitung und als lese sie wieder den letzten Willen des
Vaters aus ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem du geboren
wurdest, und auch auf die drei Miethäuser habe ich deinem Vater schon
vor zwanzig Jahren die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon zu
Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat dir nichts
hinterlassen. Du solltest dich also nicht länger, als unbedingt nötig
ist, von mir ernähren lassen. Das ist eine Schande. Steh auf und geh in
dein Kolleg.“

Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch zwei Sekunden: „Ich
verzichte auf dein Geld. Ich lebe und bin da. Das Weitere wird sich
finden. Und jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“

Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und Inhalt der Worte, es war
das an Jürgen bisher nie bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das
hinter den Worten stand und die Macht der Tante über ihren Neffen
verdunsten ließ.

Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt hinaus, auf der
Landstraße hin. Rückblickend auf sein Leben, ziellos weiter durch den
heißen, weißen Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies die
Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste Entscheidung in sich
berge: die Möglichkeit, daß heute sein Leben in zwei Teile gespalten
werde.

Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit Jahren in sich trug,
die Sehnsucht nach den Hafenstädten und fernen Erdteilen, der Wunsch,
allen Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter ihm her,
schob ihn immer weiter auf der Landstraße hin.

Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der Sonne braun gebrannt. Die
Luft zitterte vor Hitze. Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die
Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf die menschenleere
Landschaft.

„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit sich selbst
entlang“, flüsterte Jürgen. Und glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten
Sinn des Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen. Tat einen
langen Blick noch auf die weiße Landstraße, weit hinaus.

Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück und in die
Arbeiterversammlung, deren Ankündigung er im ‚Klassenkampf‘ gelesen
hatte.




                                   IV


Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der drei Mietskasernen,
zu deren Verwalter die Tante ihn unversehens gemacht hatte, füllte neue
Mietsverträge aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging
zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen.

Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch geweißt werde. Nach der
Tante Meinung war die Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln. Er
sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht zu Angesicht die Not.
Wurde gegen seinen Willen Zeuge von Haßausbrüchen zwischen
Proletarierehepaaren, sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose
Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen; wie
Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte Mietzins verlangen von
Arbeiterfrauen, in deren Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und
Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat –, in dem Mann und
Frau, zwei erwachsene Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei
stinkenden Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten.

Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand an. Die knallroten
Rosen der neuen Tapete wurden lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad.
‚Tragisch – so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und wenn dann die
Leute darin leben ... stinkts!‘

Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten sich drei fahle
Proletarierkinder im Ringelreigen. In der Mitte kniete eine Vierjährige
und machte das zum Spiel gehörige Märchengesicht.

‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt zu sein, wie das
reich ausgestattete Spielzimmer der Mittelpunkt für die andern Kinder
ist. Daß die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat mich schon
als Gymnasiast empört ... Und die Kinder, neben denen die Gouvernante
geht? ‚Mademoiselle Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen
schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich nicht umsehen. Beim
Atmen müssen Sie die Lippen geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘

Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil sie eigentlich
schon zuhause hätte sein müssen, in der heißesten Spiellust
zusammengetan ist. Geschrei durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte
Knabenkörper, in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend.

‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen dürfen die sich auch. Und
den Mund können sie aufreißen, so weit sie wollen.‘

Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten heimwärts. Der
warme Sommerhimmel dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf.
Der Tag war schön gewesen.

‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens nicht.‘

Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen strömten schon die
bleichen Ladnerinnen, sahen in den Himmel und streiften dabei die
Handschuhe über. Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie
eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg liegen hatte, hob die
Mütze zu Jürgen empor. „Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein
hemdärmeliger Tenor im vierten Stock tragischen Tones vergnügt zum
Fenster hinaus.

An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten stiegen aus. Ein
zahnloser Menschenmund rief: „...tung mit den neuesten Kursberichten!“
Der aus den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer, die aus den
Werkstätten, aus den Fabriken kamen, marschierte vorüber. Alle schritten
im gleichen Tempo, nahmen Jürgen mit.

Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein Schiffer auf dem Deck im
Kochtopf rührte. Vorüber an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete,
einander belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß
ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug schlechter Fettgeruch
heraus.

Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute
Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune (eine Ratte verschwand), Ziegen
auf dem Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster hing nah
der Erde rotleuchtend in der Finsternis. Die Haustür war nur angelehnt.

„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten die ganze
Macht: eine Macht, so unbeschränkt, daß auch die Schule, Kanzel, Presse,
öffentliche Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr Staat
ist und die Regierungen in allen Vaterländern nur die Schatten der
Monopolinhaber sind, Schatten, die, wie der Schatten eines beweglichen
Gegenstandes, jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen. Schon
stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer wieder vor dem Knopf, und
die Schatten blicken unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und
gezwungen, den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen, Eisenbahnkonzessionen,
Absatzmärkte, um den Weltprofit – zu erklären in dem Moment, da jene auf
den Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem dösenden Gaslicht
auf einem Küchenhocker saß, seinen Vortrag.

Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator erhob sich, vorsichtig,
um mit dem Kopfe nicht anzustoßen an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne
Menschen, Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da die
ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der kapitalistischen
Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die proletarische Bedarfswirtschaft
längst gegeben sind, immer wieder das, was du Schicksalspause nennst –
weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat sich
entscheiden kann für die soziale Revolution oder für einen
imperialistischen Krieg, in dem Millionen fallen. Das Weltproletariat
steht immer wieder in dieser Schicksalspause. Wie wird es sich das
nächste Mal entscheiden?“

Und während er seine Notizen einsteckte: „Der Genosse Jürgen! ... Unsere
Bezirksführer! Und hier: Unser Vertrauensmann.“

Die neun standen an der Wand lang, hockten auf dem Fußboden und dem
Fenstersims. Zwei rauchten aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen
dunkelblauer Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien
eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift beißt.

Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators, der lächelnd sagte: „Ihr
beide kennt einander ja schon sehr lange, hast du mir erzählt.“

Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises hinter der
Schreibmaschine im Schatten hing, sah übermüdet aus. Neben ihr stand ein
grauer Emailteller mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen
Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und ihr schmales Eisenbett.

Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer und sichtbar in den
Blicken der neun Bezirksführer.

Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet und kleiner
geworden, schon einer gedörrten Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm
nicht fallen, an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und
faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein, sonst verstehts
niemand.“

Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger
Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei Finger fehlten, streckte
diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte mußt du festhalten“, sagte er, zählte
an den Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen beginnen: „Und
viertens, daß die Arbeiterschaft gegen einen derartig gewaltigen
Machtblock eben nur bei schärfster Disziplin und überhaupt nur durch
eine ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“

Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand, saß auf dem
Fußboden ein schon bejahrter Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte
ununterbrochen und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn Zentimeter
seitwärts: Die arbeitende Hand machte den Griff, den sie ein Leben lang
von früh bis abends in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn
Hommes gemacht hatte.

„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk werden dich schon
verstehen. Was dir deiner Lebtag auf die Haut brennt, das begreifst du
leicht“, sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die sich
Sekunden später wieder befreite und weiter ihre Arbeit tat.

„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben in dieser Woche in vier
Versammlungen das Referat hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen,
Schreibereien und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen,
Genossin Lenz.“

„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“

„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und setzte sich wieder
auf seine tätige Hand.

Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es schien, als habe sie den
Blick, mit den sie ihn vor acht Jahren im öffentlichen Parke angesehen
hatte, in ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter diesem
Lächeln stand die Antwort auf seine damalige Frage: ‚Aber wie? Wie soll
man sich aufopfern?‘

„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“

Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den zwei Pfeifenrauchern
sagte: „Weil der Kriminaler, der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist,
dabei ein Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen
konnte.“ Und trat zu den Dreien in die Fensterecke. Auch der Agitator
war hinzugetreten.

„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts nicht ab“, sagte der
Metallarbeiter noch.

Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner gewordenen Gesicht
sprach schriftdeutsch: „In der Zeitung stand: Ein gutgekleideter,
ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mensch, Kaufmann oder Student,
augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“

Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte im
Parteibureau ... In diese romantischen Polizeischädel geht es nicht
hinein, daß die Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin
besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter gewaltsam zu
befreien.“

Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen und fragte: „Was sagten
Sie eben?“

„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen jungen Menschen zu dem
Befreiungsversuch veranlaßte, ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern
lebendig ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird, ihre
Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der Agitator fort, Blick vor
sich hin gerichtet und in einem Tone, als dachte er, wie sehr viel
leichter das Leben sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in
derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen,
lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe.

„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs in der
Jugendorganisation!“ rief bei der Rückwand ein Bezirksführer. Zwei
andere sprachen über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter
sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das in sich erstickende Geschrei
eines Säuglings.

Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer schwerer werdenden Druck,
als stecke er bis zum Kinn in dickflüssiger Moorerde.

„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und Katharina hob den Deckel
von der Schreibmaschine.

Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich die fensterlosen
Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender Mietskasernen: tote
Silhouetten. Ein langer Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus,
ins flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und das gedämpfte
Rasseln eines Schleppers, der eine Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog.
Der lange Pfiff der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht.

Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel Wutgebrüll. Über
allem die Frauenstimme, die wie die Verzweiflung selber schrie. Und als
die zehn den Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße
fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es drinnen völlig
still. Drückende Stille. Und dann Wimmern, Weinen, gestoßen
ausbrechendes Geheul, fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not
ihres Lebens und das Leben selbst aus sich heraus.

Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die Frau und weshalb er sie
wohl geschlagen habe, und warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt
man“, sagte der Holzarbeiter.

„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“

„Wie schön die Nacht ist.“

„Ja, wenn man so marschiert.“

Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels, gleichförmig,
unverputzt, wie über Nacht hingestellt – lineare Straßen, bei den
Feldern endend wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab. Kein
Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen schon. Vor einer alten
Villa, die eingeholt und überholt worden war von der wachsenden Stadt,
stand ein Schutzmann mit einem Polizeihund.

Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im Gleichmaß.

„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt sechsundzwanzig Jahre
her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter. „Seitdem hat sich viel
geändert.“

Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig Jahre.

Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander, traten aus der
Dunkelheit heraus. Die zehn schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch
der Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit.

„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch langsam geht ...
Mitbestimmungsrecht ... Die straffe Organisation ... Ja, viel Arbeit
gewesen“, vernahm Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem
Metallarbeiter einige Schritte voraus war.

Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch den kühlen Teergeruch. Auf
der äußersten Spitze des zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein
winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort und hier das
Lichtermeer die Baumkronen.

Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine Lungen luftgefüllt und
hermetisch verschlossen. Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang
außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und nur ein winziges
Teilchen der großen Bewegung zu sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in
seiner Brust wich nicht.

Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater verließ und dem Korso
zustrebte. Es war erst zehn Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im
Freien. Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren und elegante
Damen in Korbsesseln und genossen die herrliche Sommernacht. Auf der
funkelnden Weinterrasse, blumenüberhangen, von der Straße leicht
abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner lautlos die
Servierwagen an und ab, tranchierten Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu
Verbeugungen erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret.

Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster spritzten weißes
Licht in die Menge – Studenten, junge Kaufleute, Fremde und Offiziere
mit ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab bummelte, in so
gemächlichem Tempo, daß die zehn wie ein marschierender Fremdkörper
wirkten. Vor dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen mit dem
Blick zur Weinterrasse.

Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz. Sagte zweimal den Satz:
„Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.“ Sah an sich hinunter,
überzeugte sich, daß er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder
um zum Schaufenster.

„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück und lächelte
bekannt und dennoch fremd.

Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten, funkelnden Saltomortale
aus der Begleitung heraus, jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke
irrte noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen, schrie
lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘. „Das ist es ja nicht.
Das ist ja unwichtig“, murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über.

Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen auf der Weinterrasse
saß, gegenüber zwei schweigsamen, schönen Engländerinnen, bemerkte er
Adolf Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant
zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen und, die ganzen
Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen grüßten. Er setzte sich zu ihnen.

Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die Vögel pfiffen schon. Die
Menschen schliefen noch. „Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“

Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in dem orientalischen
Salon, in dem er mit den Schulkameraden gewesen war. Sah die Amsel an,
die auf dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich. Er mußte sich auf
die Steintreppe setzen. „Das Ganze hat nicht mehr und nicht weniger zu
bedeuten, als mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“

Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf: „Das stimmt. Und stimmt
doch nicht.“

„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“

„Eben das meine ich!“

Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen, und fuhr aus dem
Schlummer. „Wenn das so weiter geht, werde ich einmal nichts mehr selbst
entscheiden können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“

Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken – blickte Jürgen
nachdenklich die im Sessel schlummernde Tante an, lehnte sich auch in
den Sessel zurück, Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen.

Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die segnenden Hände erhoben
über die beiden. Auch der Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über
die Augen herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen
Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne. Eine Wolke zog
still am Himmel hin. Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig.

Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem Backenstuhl weg, in
viel tausend Meter Höhe vorbei an den in Not und Kampf Stehenden dieser
Welt. Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da, wo das Seil
endete – in ungeheuer weiter Ferne –, leuchtete Katharinas Stube. Auf
Jürgen zu, in blauer, gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun
Proletarier und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen
konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil ebenfalls zu besteigen.

Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze bedroht, ein Mensch auf
dem Seile. Jürgen erkannte in dem gefährlich Schwankenden sich selbst,
rief sich an in kaltem Schrecken.

Da marschiert er mit den neun Proletariern den Korso hinauf, sieht die
promenierende Menge, die vier lichtspritzenden Bogenlampen über des
Juweliers Schaufenster. Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie.

Die Schicksalspause tritt ein.

‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter.

Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im Traume sogar die gelbe
Rose in Adolfs Knopfloch, deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern
nicht einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war, denkt Jürgen, der
träumte, erwacht zu sein. Steckt sich die Rose ins Knopfloch.

Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden auf der
Weinterrasse. Plötzlich verdichten sich die vier Körper in einen Körper,
auf dessen Hals die vier Köpfe stecken.

Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug um den Mund, denkt
Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen.
Den selben, das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier dieser
Erde hat.‘

Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares Wort: Ein
Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe. Dann nimmt der Vierköpfige
ein kleines Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche und
stemmt Jürgens Schädeldecke auf.

Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand heraus. Das
Hängengebliebene kratzt er mit dem Küchenmesser sorgfältig ab.

Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte die erste Geige im
Weinrestaurant jubelnd in die Höhe steigen.

Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes, neues Gehirn aus, um
das herum – wie um eine Sektflasche die Steuerbanderole – das
Fabrikzeichen klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und paßt
die Schädeldecke wieder auf.

Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich.

Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da. Als fünfter sitzt
Jürgen bei ihnen, spricht wie sie, denkt, lacht wie sie, hat den selben
zotigen Zug um den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt sich
wohl dabei.

Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie gefangener Gesang
klagend weiter tönt, stört ihn. Deshalb leert er die bis zum Rande mit
Sekt gefüllte große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich in
dem orientalisch ausgestatteten Salon, in dem fünf halbbekleidete
Mädchen auf Ottomanen liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit
kurzhaarigem Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich.

Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die still am Himmel
hinziehende Wolke hatte noch nicht einmal die Krone des Nußbaumes im
Garten passiert. Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne
und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel hing.

Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren Leben eine andere
Richtung geben mußte, sekündlich in Jürgens Empfinden übergegangen wäre,
hatte sich mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl
verwandelt. Gang und Glieder waren schwer geworden. Alles Gewesene und
die Umwelt hatten an Gewicht verloren.

Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ, ein schweres
Ganzes, die Villa, um nicht mehr zurückzukehren.

Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses Gefühlsbewußtsein
lastete von dem ersten Schritte an, den er außerhalb des Gartens tat, so
schwer in ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt. Das
Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück mehr.

Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch die verschlossene Tür,
trat schnell vom Arbeitstisch weg in die Mitte des dunklen
Balkenkreuzes, das den Fußboden vierteilte.

Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte sie prüfend rundum in
ihrem großen Parterrezimmer, ohne sich vom Platze zu bewegen. Die
geblümte Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden
Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen und mit Markenpapier
zusammengeklebt. Nur eine Gasflamme brannte an dem Doppelarm.

Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger über die
braune, gebogene Braue, berührte dabei die Lippe mit der Zungenspitze,
wie vor Jahren an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer, den
Entschluß, für immer das Elternhaus zu verlassen, gefaßt und sofort
ausgeführt hatte.

Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe sie einen Entschluß
gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf, schloß das Fenster, von dem
aus die fernblinkenden roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes und
der Eisenbahnwerkstätte zu sehen waren, und zog den Vorhang zu. Mehr
Verschönerungsmöglichkeiten gab es nicht.

Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt, war es ganz still. Nur
das Herz klopfte. Schon mittenweges zur Tür, kehrte sie noch einmal um,
setzte sich, Hand auf dem Herzen, und staunte.

Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in schwerer Ruhe.

Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide Hände sofort wieder
in die Sweatertaschen, erkannte an Jürgens Blick sofort, daß der Grund
seines Besuches ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus.

Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer am Tisch und
erzählte, ohne Einleitung, sachlich und ohne Scham, als schildere er das
Erlebnis eines andern, was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei
machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende Bewegungen.
Auch als er, bemüht, sich und ihr das gestern Geschehene verständlich zu
machen, in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte er
die Leiden, die Demütigungen und die nicht durchgekämpften Kämpfe des
Kindes und Jünglings so, als spräche er von einem beliebigen anderen.

So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete auf dem Gaskocher,
der auf einem niedrigen Kistchen stand, so daß sie öfters in tiefer
Kniebeuge sitzen mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt.

Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin gewesen sei, habe sie
sich vorgestellt, was geschehen würde, wenn einmal eine ganze Generation
nicht als machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche
Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige geboren
werden und so auf dem Kampfplatz erscheinen würde. Mit der Kraft ihres
unverbogenen Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit das Ganze
über den Haufen werfen.

„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser Säugling auf die Welt“,
schloß sie und lächelte froh, als sei diese Wehrlosigkeit das
Erfreulichste, das dem Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht
mehr.

Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte, ob er die Hafersuppe
lieber dick oder dünn, süß oder weniger süß esse.

„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals Hafersuppe gegessen.“ Er
beobachtete, wie sie herumhantierte, sich tief zu Boden beugte, wieder
senkrecht stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen, junges
Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein.

Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher gebeugt. Von jetzt an
wirst du vermutlich sehr oft Hafersuppe essen, dachte sie, während sie
die zwei dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch das Zimmer
trug zum Tisch, der am Fenster stand.

Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens, Erleidens,
Erkennens zu ziehen, bereitet und gewillt, von nun an klaren Bewußtseins
zu handeln, bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein Leben
schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann, noch des Verweilens
bei den Ursachen, bestrebt, ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen.

Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten des Lebens mit
absoluter Notwendigkeit und Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn
des Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und sagte:

„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und unterdrückte Klassen; es
gibt auch eine jeweils herrschende Generation, die durch alle Klassen
durchgeht: Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend, mit Hilfe der
bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung, in der sie selbst tödlich
verstrickt und untergegangen sind, die heranwachsenden Generationen
abwürgen, entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle Erwachsenen
zusammen eine granitene Einheit, einen Wall, gegen den die
Heranwachsenden vergebens anrennen, so lange anrennen, bis sie selbst
entselbstete, lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden gegen die
neu heranwachsenden Generationen.“

Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den Löffel, rieb weiter,
hauchte ihn an. Der verzinnte Blechlöffel bekam keinen Glanz.

„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder Mensch als ‚Reines Ich‘
geboren wird, ist es eine ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine
Ich ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken und verschüttet
und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts ... Aber wie
steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit des Ich im Proletarierkinde?
Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern zu dem Ich im
proletarischen Kinde und umgekehrt?“

Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina stand noch einmal
auf, kramte lange in einer Schublade und legte dann eine Papierserviette
vor Jürgen hin.

„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier müßte die Rechnung
stimmen.“

Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von dem Standpunkte aus, daß
es eine herrschende und eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig
beantwortet werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese Frage
so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind von der Umwelt dafür, daß es
seinen Protest, sein Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum
und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben, aufgibt, sich
unterordnet, sich der Umwelt anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt
wird gegen noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische Kind
gegen die Aufgabe seines schöpferischen Ich ein? Was widerfährt dem
Bürgerkinde, wenn es versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was
geschieht in diesem Falle dem proletarischen Kinde? Erhalten beide und
geschieht beiden das gleiche?“

Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen die Mauer lehnte.
Eine Sekunde später trat der junge Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und
seelenruhig lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen
Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin Lenz.“ Er wischte sich
mit dem Taschentuch rund um den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir
sagen, du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion sein.“ Und
da sie nickte, war er draußen.

Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter mitstreikten?

„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken! Er will ja auch
auswärtige Streikbrecher heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen
schon. Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist auch schon
aufmarschiert!“

„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte Jürgen, „gegen Herrn
Hommes.“

„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“ Sie setzten sich
wieder. Und da Jürgen mit den Augen fragte, fuhr sie fort:

„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der Menschen in Klassen,
das heißt: die Verhunzung des Menschen durch die kapitalistische
Gesellschaftsordnung, immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen
körperlich und geistig vollwertiger Kinder bürgerlicher und
proletarischer Eltern, so unzweifelhaft ergibt sich aus dem, was ist,
daß die Trennung in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder
total verschieden wirkt.“

Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen gewichen. Entlastet atmete
er aus. „Was dem Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht,
weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im Blicke tiefe Freude
über die schwer errungene persönliche Befreiung. „Ein zeitlebens
seelisch gefährdeter Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder,
bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel! ... Und für
die anderen, für die übergroße Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder
nämlich, die den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist das
Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das Sichanpassen
gleichbedeutend mit Bequemlichkeit, kampflosem Siegen, mit der
uneingeschränkten Möglichkeit, sich zu bilden, mit glattem Emporkommen
in eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat, mit Reichtum,
Macht, Geachtetwerden, kurz: mit dem vollen Genusse des Lebens ... Die
geben ihr Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben bietet.“
Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf die Seite.

Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin ein, stellte einen Krug
voll Wasser neben das schmale Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die
letzte 54 ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“

„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina. „Nein, nein, er schläft
nicht hier.“

Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen des Bürgerkindes wäre
demnach gleichbedeutend mit dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen
der herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar in keiner Weise
mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche, aber eine geachtete, mächtige,
herrschende, die das Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben
genießt. Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser Seite ist also
gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“

„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich Kindern gegenüber sieht,
denen sie, im Gegensatze zu den bürgerlichen Kindern, für das
Sichanpassen nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher
Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten und des
Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte, Schmutz, Arbeitenmüssen für
andere und Demütigungen auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das
geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der Umwelt selbst,
wird durch die herrschende Klasse und deren Staat immer wieder in den
Protest gegen die Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche
Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen Kinde die Möglichkeit,
etwas mehr von seinem Ich zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem
Proteste nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz verlieren und
sind auch mit aus diesem Grunde als Klasse schöpferisch und dazu
bestimmt, im Gange der Geschichte über die unschöpferisch gewordene
bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in der klassenlosen
Gesellschaft tritt dein Reines Ich auf den Plan, wird es jedem Einzelnen
verstattet sein, er selbst zu werden und zu sein.“

Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den Kopf, empor aus dem
Lauschen und seinen Vorstellungen, blickte, den Gedanken erst
formulierend, Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der
kapitalistischen Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste Ungleichheit
in materieller Hinsicht und eine vielleicht noch ungeheuerlichere
blödsinnige Gleichheit aller im Geistigen ...“

„Ja, und das wird Individualismus genannt.“

„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft: materielle
Gleichheit für alle und infolgedessen, nicht wahr, infolgedessen im
Geistigen absolute individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von
jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer Mensch!“

„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten genannt ...
Zwischen diesen zwei Extremen liegt allerdings zunächst die Revolution.“

„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele, die ihr Ich durch den
Körper gewinnt und im Gleichgewicht in sich selber ruht.“

Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in sich erstickende
Geschrei des Säuglings. Fernher tönten Pufferknall und die monotonen
Rufe der Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten.

Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung, dachte er
stolz, lächelte gerührt, wie über eine teure Jugenderinnerung. Und trat
in seinem Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich auf
dem langen, generationenlangen Marsche befanden.

„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine Fenster – ist wie ein
niederstirniges Gesicht“, sagte er, empfand plötzlich wieder Druck über
dem Herzen.

„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns selbst und der Idee
beschirmt ... Bist du nun sicher, daß die Rechnung stimmt?“

„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich, da hinter mir nicht
der materielle Druck stand, der die Massen klassenbewußt macht, zum Teil
auch auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus kommen mußte. Das
Gefühl war vorher, war ja immer da.“

„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ... Wie schön, wie wunderbar
ist das!“

Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens Hand um ihren Nacken.
So stand er, Blick in ihrem Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen
Mund. Ihr Körper gab nach, antwortete frei.

Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute nacht schlafen werde, bei
wem, das weiß ich freilich nicht.“




                                   V


„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben solltest, ich sei
verunglückt, ertrunken, ermordet worden (ich habe mich, im Gegenteil,
vor dem Ertrinken, vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir
meinen Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß mit,
nicht mehr zurückzukehren.

Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der klügste auf der Welt
gewesen, mir hätte begreiflich machen können, daß ich nur durch diesen
Schritt mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit den Tatsachen
des Lebens, so könnte ich die Beweggründe dieses Schrittes auch Dir
nicht begreiflich machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes,
Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren, Studenten, Söhnen und
Töchtern, das heißt: allen diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner
Kreise, für welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind, die
alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten, sich täglich
betrinken wollen, und diejenigen, die sich zu den Sozialisten gesellen,
schwachsinnige Schwärmer, Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an
dem Ideale.

Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß der Sozialismus, über
alles Materielle hinaus, auch eine gewaltige Kulturbewegung ist und
verwirklicht werden muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen,
müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann würdest Du nichts
begreifen. Denn sogar Menschen meiner Wesensart vermögen die Größe und
geschichtliche Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz zu erkennen,
nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden Schritt, den Sprung gemacht
haben – hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen mit ihr
kämpfen.

Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht darüber. Glaube mir, liebe
Tante, daß dies allein für mich die Rettung sein konnte vor dem
furchtbarsten, dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein kann
für jeden.

Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal wieder zurückkehren zu
jenen, die mit Blindheit geschlagen sind und offenbar nur noch durch
eine Art Staroperation sehend werden können, ein Verräter an mir selbst,
Verräter an der Idee geworden wäre: ein verlorener Mensch, gleich allen
Angehörigen der bürgerlichen Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung
in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das schickliche Maß, das
ein gutes Fortkommen gewährleistet, und deren solchergestalt noch übrig
gebliebener Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe an
die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt, mit falschen,
überkommenen, erstarrten Inhalten gefüllt und dem Staate dienstbar
gemacht wird, dessen Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen
diejenigen richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz dieses
Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes und auch die Ausbildung
der entselbsteten bürgerlichen Jugend, sowie deren ausschließliche
Beschäftigung in den Bezirken des, wenn auch verfälschten,
sterilgewordenen Geistes erst ermöglicht wird.“

Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und schickte den Brief an die
Tante.

Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch eine Tür mit Katharinas
Zimmer verbunden war. Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof
hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit Jahren faulten und
stanken und tagsüber zwanzig Proletarierkinder an ihrer Welt bauten.

Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt. Ein Anzug nach dem
andern, die Uhr, die Hemden waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu
Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden.

Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den Namen Jürgen Kolbenreiher
in Verbindung mit einer öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet
gegen den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen hatte,
eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn, Verleumdungen und verbrämt mit
Bedauern für die hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im 15.
Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe, waren die
Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen möge vernünftig werden, sich wieder
darauf besinnen, was er sich selbst, seinem Stande und seiner Erziehung
schuldig sei, ausgeblieben.

Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine kleine Lohnerhöhung und
für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen die Erlaubnis, ohne
Lohnabzug dreimal täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu
dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in eine Schlägerei mit
Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen geraten waren, saßen,
verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung
der öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei schwerverletzte
Streikposten lagen noch im Krankenhause. Herr Papierfabrikant
Hommes hatte eine Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige
Kulturbestrebungen‘ gestiftet.

Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen
gesprochen. Leitete seit einem Jahre den Bildungskurs des Bezirkes, in
dem er wohnte. In den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die
bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte sein Herz, wenn er der
Ereignisse gedachte, die ihn zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend
veranlaßt hatten.

Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier, demonstrierend für die
Forderung, daß es jedem freistehen solle, seine Kinder am
Religionsunterricht in der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor
den demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und hinter den
Polizisten, aufgerufen von den Professoren, die ganze studentische
Jugend, demonstrierend für die Beibehaltung des Religionszwanges.

‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der Arbeiterschaft eintreten
für die Freiheit des Gedankens, wenn er nicht sich selbst aufgeben
wollte in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen der
Schande, daß er es nicht tat?‘

Suchend nach den Ursachen saß er an dem als Schreibtisch dienenden
Küchentisch. Das Licht von links. Freute sich des Tages über das Licht
von links und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er durch eine
Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner Genossen über den Schreibtisch
montiert hatte.

Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, spielten im Hofe die
Ratten, läutete fein das Glöckchen, das ein Proletarierjunge einer Ratte
um den Hals gehängt hatte.

‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die ich liebe. Viel mehr Glück
kann man vom Leben nicht erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich
mit den Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die Hand nehmen
würde.

In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen in die Stille klang und
die Sätze ihm gelangen, fühlte Jürgen sich und sein Ich organisch
eingereiht in das Geschehen.

Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen und Katharina,
denen es damals gelungen war, durch die Polizeikette durchzuschlüpfen
und, unter Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter zu
verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung der öffentlichen
Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung zum Klassenhaß. Die drei hatten je
sechs Monate Gefängnis bekommen und saßen schon. Katharina, deren
Vernehmung und Schlußrede als Sensation von den Zeitungen abgedruckt
worden waren, verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für Herrn
Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in das Gefängnis.

Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als er das Klappern des
Waschgeschirres vernahm, klopfte er. Katharina war noch nicht
angekleidet. Und wie beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob
sich in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger Schnauz,
schritt langsam herbei und blieb, als gehöre er zu allem, was geschah,
dazu, vor ihnen stehen, den Blick zu Boden gerichtet.

Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl auf das
Fenstersims, brach sich, huschte schräg an der Wand entlang und verfing
sich in der Ecke.

Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß, im Hemd, auf ihren
Händen auf dem Bettrand. Der Schnauz war im Hofe bei den Ratten.

Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle sorgen, daß für die
drei Genossen gesammelt werde. Des einen Mutter habe nichts zu essen,
solange der Sohn im Gefängnis sei.

„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung an als
Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. Dann werden auch wir eine
bessere Wohnung haben und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein
noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden heiraten, um
unnötige Scherereien zu vermeiden ... Überhaupt – ein Glück haben wir,
ein Glück! ... Es wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig
Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen sein. Was wir alles
erleben werden! Ungeheuer viel! Wir sind Lebensgefährten. Katharina,
welch ein Glück! ... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung an.“

Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt Blumen malen zu lernen
und für Buddha zu schwärmen, begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die
Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er, der als
linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen Name schon oft in den
Zeitungen gestanden habe, ernstlich glauben könne, in irgendeinem
Großbetriebe angestellt zu werden.

„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an, bis das selbe Lächeln
in beider Gesichter entstand und sie wieder gleich auf gleich waren.

„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“

Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, dachte Katharina.

Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie eine Stunde
vollkommensten Verbundenseins, wie nur zwei Menschen es verstattet sein
kann, deren Liebe vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe
Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle.

„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“ In ausbrechender Freude
schlug sie die Arme um ihn. Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von
dem schwarzen Tore geschluckt.

„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren, es gibt keine Einsamkeit.
Nicht einmal eine Trennung!“ frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit.

Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus einem warmen
Teppichzimmer in eines mit feuchten Wänden und verfaulendem Fußboden
übersiedeln muß, ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge
bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und Schande gerät – der
Hund hängt seinem Herrn immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund,
dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt zu werden
von dem, dem seine Sympathie gehört.‘

Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres Tier gewesen, hatte
am zweiten Tage das unruhvolle Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar
nicht mehr an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser und kroch
wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte ihn gewaltsam füttern.

Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen. Bei dem letzten
Besuche, den Jürgen im Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der
einzugehen drohte, mitzunehmen.

Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der Schwanzflosse
aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit dickem Bauch und kleinem, rotem
Kopfe, ein vollblütiger, fünfzigjähriger Mann, höflich und
zurückhaltend, gab nach minutenlangem, von bedauerndem Achselzucken und
erschrecktem Augenaufschlagen begleiteten Erklärungen und Fragen,
zwischen die er eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte –
Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern eines Menschen
mit Herz und Gewissen, der aber leider an Pflicht und Gefängnisordnung
gebunden ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des Hundes.
Beugte sich plötzlich herab und tätschelte wehmütigen Mundes das Tier.
Und dann kam, als sei er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu
lange im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die knappe
Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig in die Wangen zurückgezogener
Mundwinkel. Und sofort wieder das erschreckte Augenaufschlagen.

Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene Steintreppe
hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß der Gefängnisdirektor früher
oder später ins Irrenhaus kommen werde.

Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin – lippenloser,
strichdünner Mund im festen Gesicht – schloß eine Tür auf. Sie schritten
durch einen großen Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange
und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen nebeneinander standen.
Dazwischen die Gänge, wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine
Gefangene. Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der Eingangstür, in
zwei nebeneinanderstehenden Käfigen je eine Siebzigjährige. Alle in
grauen Leinensäcken. Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen und der
Saaldecke war leer.

Einige Gefangene schritten auf das Leben zu: drückten die Gesichter
gegen das Drahtgeflecht. Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit
verwüstetem Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen und sagte zweimal:
„Schnauzel!“ Der Schnauz wedelte mit dem Schwanzstumpf.

„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige der Wärterin
nach. „Immer hat das jung Luder die Finger unterm Rock.“

Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus, in einen langen
Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht brannte. Links und rechts:
Zellentür neben Zellentür, jede mit einem Beobachtungsfenster.

Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte der Schnauz die
Vorderpfoten gegen die Zellentür. Sein Maul öffnete sich, die Zunge
erschien, Spitze nach oben gebogen.

Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch, voran. Und es wäre
Katharina unmöglich gewesen, ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine
Liebe war stürmischer. So stürmisch, daß er unter Katharinas
Liebkosungen nicht lange stillhalten konnte, sondern hin- und herrasen
mußte, von der Fensterwand zur Zellentür, beim Wenden jedesmal
ausglitschend auf dem glatten Betonboden.

Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne sehen.

Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen konnte Jürgen sich
nicht. Die Pritsche blieb tagsüber an die Wand geschnallt.

„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von meinem Vater, der
Irrenarzt.“

Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen, blickte blicklos.

„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine geisteskranke Tochter
lieber wäre als die Schande, eine Sozialistin zur Tochter zu haben ...
Ich ging auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich wieder
fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem Gesundsein überzeugte.“

Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag, offenen Maules atmend,
die Vorderpfoten vorgestreckt, blickend auf den Betonboden, überzeugt,
daß seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder Katharina
mitgehen werde. Auch sie steckte in einem grauen Leinensack, etwas
kleidsamer gemacht dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen
hatte.

Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob sich der Schnauz und
bellte. Die Versicherungen Katharinas, daß sie in einer Woche kommen
werde, nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen Vieren und
mußte so von Jürgen hinausgeschleift werden.

„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf den schwachen
Schatten, durch dessen Vorhandensein das Vorhandensein von Brüsten
vermutet werden konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese
Dummheit!“

Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der Sack wieder rund um den
Hals anschloß.

„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor melden“, hörte
Katharina noch. Die Tür fiel ins Schloß.

Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend, um noch vor Ablauf der
Besuchszeit die Männerabteilung zu erreichen. Blieb aber plötzlich
stehen: Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren Pferden, ein
auch oben zugebretterter Kastenwagen, aus dem rückwärts ein starkes
Gestänge ragte, gleich einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch
ein eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann pfiff. Der Wagen
rollte durch das sich eben auftuende zweite Tor in den Hof der
Männerabteilung und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof, in
dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden sollte.

Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper verlassen. Er wollte
die Genossen mit seinem Zustand nicht zu belasten, umkehren, konnte aber
nichts wollen. Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu.

So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit zwei Wärtern, die
eine Art Tragbahre, beladen mit mehr als hundert Weißblechschüsseln,
schleppten, den Gang vor.

Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter Mann, der, im Rücken
gebogen, mit jedem knieweichen Schritt, den er tat, müden Blickes auf
sein Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür auf und
gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger die verrostete Blechschale
Jürgens jungem Genossen, der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in
den Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den Klapptisch.

„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet beim Erblicken
Jürgens sofort in Erregung. „Die Brüh soll das Abendessen vorstellen.
Mittags gibts einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens die
selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot. Das ist alles.“

„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu einem Besuch.“

„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da sind viele ...“

„Wenn Sie davon weitersprechen ...“

„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre sitzen müssen.“

„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“

„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt verrecken. Du machst
dir keinen Begriff, Genosse, wie die Leute aussehen.“

„Sie haben zu schweigen jetzt!“

„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben, Genosse!“ rief er Jürgen
nach, der die Nummern der Zellen nannte, in denen seine zwei anderen
Genossen waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu. „Die
Besuchszeit ist vorbei.“

Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom Polizei- und vom
Untersuchungsgefängnis in das ständige Gefängnis überführt werden, war
eben angekommen. Zehn Verurteilte, Frauen und Männer, standen in dem
Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen wurden. Die Gefangenen mußten
ihre letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch ihre
Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den Gefangenen die graue
Anstaltskleidung in die Arme. Gesprochen wurde nichts.

Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt der Ausgangstür zu.
Da schoß ein schon älterer, stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem
Gesicht und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus, zuckte suchend
hin und her, spähenden Blickes, der blitzhell offenbarte, daß er die
Hölle, in die er kommen sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach,
bestrebt, auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht
vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn war er erst in der
Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten mehr.

Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück.

Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das Lächeln des Sträflings
auf, der damit den Wärtern gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche
die Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende Lächeln schien
Jürgen das Grauenvollste von allem zu sein. Die schwere Tür drückte ihn
hinaus.

Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam weiter. Neben ihm
tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf kläglich eingezogen, der Schnauz.
Jürgen hob ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen haben.“ Der
zitternde Hund bohrte, stürmisch drängend, seinen Kopf unter Jürgens
Rock.

‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse in jeder Stadt? Wieviel
Zellen in jedem Gefängnis? ... Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder
Zelle das, was von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende
Menschenreste! Und in der einen Zelle dort hinten einer, der weiß, daß
ihm morgen früh – um fünf? um sechs? um viertelsieben? er weiß die
Minute nicht, weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘

Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern und setzte sich als
dunkler Druck unter das Brustbein. ‚Diese Bestien! ... Aber wer ist
schuld? Der Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt? Oder gar
die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der Steinbrucharbeiter, der die
Steine bricht, und wie der Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht
mehr als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das Eisengitter
einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen das Leben vergeht. Es
gibt keinen Verantwortlichen ... Der Staat? Der Staat ist ein
Machtinstrument gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist keine Person. Du
findest im bürgerlichen Staate keinen Verantwortlichen. Du greifst in
die Luft ... Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘

Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante. Er schob ihn
ungelesen weg. Auch als Katharina schon zurückgekommen war – Jürgen
hatte den Fußboden geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar
Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen geheizt, denn es
war an den Abenden schon kühl –, lag der Brief noch ungeöffnet zwischen
den Papieren.

Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den Winter über schrieb Jürgen
Artikel für das Arbeiterblatt, hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im
Bildungskurs, sprach in Versammlungen. Die Kollegs besuchte Jürgen
unregelmäßig.

So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling hinein, ohne
irgendwelche Beziehungen zu seinem früheren Leben, auch innerlich durch
nichts mehr gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in dieser
Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht mehr, wie früher fast
jede Nacht, da der Vater, die Professoren, die Tante machtstrotzend ihn
angeblickt hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in der
Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert; andere Träume, von
Jürgen bisher nie erlebt, schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er
siegreich und erfrischt hervorging.

Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt in Angst zu erbeben,
auch dem Vater ins Gesicht gelacht und des Vaters Hand mit dem drohend
deutenden Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, war dessen
Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach diesem Erwachen hatte Jürgen
ganz sicher gewußt, daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung
völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume der Vater erschienen.

‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille in mir meine
Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig Jahre alt werden ...
Jetzt keuche ich einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich
selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe mich dafür
entschieden, frei entschieden, diesen Weg zu gehen; nicht das Fremde in
mir zwingt mich.‘

‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todesstunde
Gedanken und Gefühle, die nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen
die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde Handlungen, die
nicht sie selbst tun; die Summe der Ermordungen, an ihrem Wesen verübt
von den Autoritäten, dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt,
handelt.‘

Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens, da er zum ersten
Male die ruhige Sicherheit empfunden hatte, durch nichts Fremdes mehr
vergewaltigt, sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens
zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins war begleitet gewesen von der
unbegreiflich lastlosen Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr
hinter ihm, sondern vor ihm.

Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am Schreibtisch gesessen,
mit dem Blicke zur Verbindungstür, und hatte gedacht: Von nun an gibt es
für mich keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den Hinweis auf
die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden. Es können neue Wunden mir
geschlagen werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein künftiges
Tun und Unterlassen verantwortlich zu machen, geht nicht mehr an. Ich
stehe am Anfang meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung! Wie
ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen, der sein gewonnenes
Ich verkaufen würde um des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur
der einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen nur ein einziges
winziges Feld des millionenfeldigen Schachbrettes der Leiden füllen!

Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den letzten Rest des
schmutzigen Altschnees schmolz. Aus der lecken Dachrinne fielen in
Pendelregelmäßigkeit die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens
Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer nebenan klapperte die
Maschine. Katharina arbeitete. Sie arbeitete immer.

Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer Lebensordnung, in der
fast jeder Genuß des einen nur auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei,
der Sozialist alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner
Hingabe an die Idee gewinnen könne.

‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die Tante gefragt ... Wir
stecken, zusammen mit den Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der
tiefsten Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der Trichter
erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur zusammen mit den Entrechteten
dürfen wir vorwärtsschreiten, nach oben, wo das Leben ist. Das
Bewußtsein, dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht
verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und Kämpfen nur in
qualvoll langgezogener Spirale aufwärts zu gehen vermögen, im
millionenfältigen Schritt der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht
ist.‘

Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er, Kopf in die Linke
gestützt, diese Gedanken gedacht hatte, schien es ihm, als sei erst eine
Woche vergangen.

Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die selben Fragen und
Einwände. Der Verlauf der Versammlungen immer der selbe. Ein
halbgewonnener Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung
erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener Streik. Dazwischen eine
Demonstration. (Der Agitator und einige Genossen waren verhaftet
worden.) Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und kleinster Art.
Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs. Versammlungen.

Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit flog, entschwand seinem
Gefühle so schnell, als ob sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein
Ereignis, von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte
mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen wäre, der in
rasender Schnelligkeit sich selbst immer wieder einhole und so
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fresse.

So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer gleichen Tages.

Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit Katharina in dieser
Eintönigkeit die großen Stunden aufgetan, Minuten, Blicksekunden von
solcher Tiefe des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht des
Menschen – die Überwindung der schicksalhaften Einsamkeit, die jedes
Lebewesen dieser Erde trennt vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber
die Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins einmal geschaut
hatte, und auch das Wissen, daß dieses Entrücktsein nur solchen
verstattet sein konnte, deren Verbundenheit vertieft ist durch ihre
gemeinsame Hingabe an die Idee, war verblaßt.

Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte einen Bleistift hin, nahm
ihn wieder, legte ihn hin, nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe
zu tun, selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert die Flamme
... Jahrelange Hingabe, ausschließlich durch sich selbst genährt! Ist
sie menschenmöglich?‘

Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in die Redaktion zu
kommen. „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage ... Wo war
das? Tatsächlich, ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein
Leben!“

Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder tobten im
Hofe, wo der graue Haselnußstrauch schon braunviolette Knospen trug.
Wieder war ein Jahr vorbei.

‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘ Er horchte auf das
Klappern der Maschine. ‚Dieses Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind
mit dem großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben der
Idee, ganz und gar!‘

Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann durch. „Das Leben, sein
Leben hinzugeben, auf einmal, ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die
Größe. Die Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche, das
Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im Dienste der Idee getan, ist
die Größe. Der Held ist tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten
an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich im
Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ... Verteile, wie sie, ein Leben
lang deine Hingabe auf jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst
dann hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen wird: Wer
noch vermehrte die Zahl der vielen, auf deren dargebrachtem Leben ich,
die Menschheit, in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß
dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden Mundes.

Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die Grauheit der vergangenen
Jahre, suchenden, tastenden, flehenden Blickes auf die Grauheit
künftiger Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den verluderten
Backsteinwürfel verlassen, durch die Hintertür.

Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem Walde zu. Hinaus über
fette Schollenäcker. Atmete und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben.

Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den Wald, dessen
billionenknospiges Geäste violett im Frühlingsdampfe stand.

Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer und Schlehdorn, Brennessel,
Felsmoos, zugeflogenen jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei
Grün – ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in der Sonne
funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß.

Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch, blickte hinein, forschend,
wie zurück in seine Vergangenheit. „Bis hierher rannte ich, damals, als
die Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren lassen? Da
war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte er, ergriffen von Sympathie für den
Knaben. „Spuckt ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ... Nun,
diese Ungeheuer in mir sind tot.“

Dies war nun schon seine vierte Wanderung in diesem Frühling. Immer war
er vollgesogen, erfrischt, verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und
Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“

Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen gewandert. Wachstum und
Grün, noch gebunden, erst als Verheißung über den unabsehbaren
Buchenwäldern. Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe, die wie Rauch
und Erde rochen, hatten Kälte verbreitet, in der schon die Glut des
Kommenden prickelnd enthalten gewesen war.

Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts aus einem von
noch kahlem Gesträuche überhangenen Hohlweg emporgestiegen und auf die
Landstraße gekommen, die, eben und linealgerade, weit, weit hinaus und
zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen Horizont stieß.

Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt hinaus, geht auf der
Landstraße hin, läßt alles hinter sich, alle Qualen, alle Pflichten,
geht immer weiter, weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der
Jüngling, jahrelang in sich getragen.

Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen neben ihr auf dem
Baumstumpf. Durchwärmte Körper und kalte Wangen, die vor Hitze
prickelten.

Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen jener alten Sehnsucht nach.
„Wenn wir beide jetzt einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der
Stelle, und ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich, fort,
immer weiter fort!“

„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“, hatte Katharina
lächelnd geantwortet. „Ohne Wohin! Nur zusammen!“

„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick! Nicht mehr dies und das,
nicht jenes, nicht die Redaktion, der Bildungskurs, nicht Doktorexamen
und Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz. Wir, der Mensch,
gehen und lassen, endlich! endlich! den Menschen atmen, fühlen, tun,
erleben. Nur ihn! ... Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus und
bitten um ein Nachtlager.

‚Wer seid ihr?‘

‚Der Mensch!‘

Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein in das verfilzte Mein und
Dein, und sagen: ‚Der Mensch ist da.‘

Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir brauchen. Denn in tiefster
Heimlichkeit haben alle den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie
schon gar nicht mehr geglaubt hatten.“

„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den gibt es noch nicht, kann
es noch nicht geben. Mensch zu sein, kann dem Einzelnen erst dann
verstattet sein, wenn es allen verstattet sein wird ... Welch
furchtbaren Verrat an der Idee wir begehen würden!“

„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos
abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern wollte, hinaus in
das Leben ... Würdest du darunter leiden?“

Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie mich da angeblickt
hat, erinnerte Jürgen sich und glaubte Katharinas Worte wieder zu
vernehmen, die gesagt hatte:

„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich um jeden Preis zu
gewinnen, jeder Pflicht entläuft, indem er, um des Lebensgenusses
willen, rücksichtslos sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein
Ich ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem Menschen, der
ausschließlich seinen Wünschen und Begierden folgt, der Mensch ganz und
gar untergehen? Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter
verstattete Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem, der sie
erfüllt: die Pflicht?“

Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch einen Blick in die
wunderbare Ferne. Wandte sich wie gezogen um, starrte in das schwarze
Tunnelloch: „Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon
entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch wieder ... ich müßte
mich doch wieder für die Pflicht entscheiden.“

„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte er im Schrittakt diese
Worte. Während der letzten Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle
so sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte.

Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker, Frühsaatflächen,
weit hingebreitet, braun und grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem
eine baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen Hügel saßen die
Fabrikantensöhne und -töchter beim Picknick. Am Fuße des Hügels standen
sechs Kraftwagen, darunter der postgelbe des Bankiers Wagner.

Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen herab, die in Jürgen
den Bräutigam der einen, der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten.

Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei in einem. Gestützt
auf ihre Freundin und auf Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß
übertreten hatte, zurück.

‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir das auch nichts
ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene letzte Hose seines letzten Anzuges
war zu einer kurzen Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war
ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung.

Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten Hand eine
gebratene Hühnerkeule für den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich.

„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend.

Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule senkrecht fallen. „Das
ist Jürgen Kolbenreiher; und hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“,
stellte er, während er den Knochen wieder aufhob, das andere Mädchen
vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner Weise beachtet hatte und nun,
zu plötzlich überrascht, in unverhohlener Spannung ihn ansah.

Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen uninteressant
gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre Mitschülerin Katharina ihn
liebe. Seitdem hielt sie Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein
unzugängliches, wählerisches Mädchen gehalten worden war, für einen ganz
besonders interessanten, bedeutenden Menschen, dessen Bekanntschaft
machen zu dürfen sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und alle
Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam gegenüber angewandt
hatte.

Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die zwar zwei Jahre älter,
aber im selben Institut mit ihr gewesen sei. Und auch als sie bewundernd
ausrief, wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis zu sitzen,
fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm galt.

Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um Elisabeths
Interesse noch zu steigern, versucht hatte, sich gleich wieder zu
verabschieden.

Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen fremd war, bat sie, er möge
doch mit zur Gesellschaft kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt
Jürgens Hand fest.

„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht willst ...“ Jetzt erst
bemerkte Adolf, daß er den staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte,
und schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei wütend seine Braut
an.

Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen. Die drei setzten sich,
etwas abgesondert von den andern, auf die Wolldecke.

„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen – darüber hinaus gibt
es nichts.“ Die andere Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann
wurde es auch auf dieser Wolldecke stiller.

Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen gehörten den reichsten
Familien der Stadt, die Männer fast alle Jürgens Generation an:
Fabrikantensöhne, die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie
schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik und das
angegliederte Knopfexporthaus.

„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen Namen in der Wissenschaft
gemacht hat, weißt du ja. Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen
lassen. Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der war ja immer
einer der besten Schüler.“

Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte ein jüngst
erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert, aß schweigend und viel.

Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter Bücher, die er für
weit besser halte, daß Elisabeth lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem
Blick des Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“

Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts. Nachdem Elisabeth
erzählt hatte, daß sie erst vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante
besucht habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr orientiert von
der Wirtschaftslage des Landes. „Die ganze Dichterei ist mir, offen
gestanden, natürlich recht gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter
verhetzen, Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn ...
Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem Weltmarkte gilt, und werde
vernünftig! Das ist der Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist,
sondern die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert
Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen hat. Meine Freunde
hier, sieh dir sie an – lauter tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach,
andere in der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik,
Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen ... Und Leo Seidel
– erinnerst du dich noch an den Sohn des Briefträgers? Die
Weltgeschichte, weißt du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang
Impresario und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier in Berlin.
Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend großer Aktiengesellschaften.
Eine tolle Karriere! In ein paar Jahren kann er durch das Geben oder
Verweigern seiner Unterschrift die Börse beeinflussen. Würde mich nicht
wundern ... Wirklich, solltest meinen Rat befolgen und die Augen auch
aufmachen.“

Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist,
diesen Rat nicht nötig hat, und gab keine Antwort, reichte beiden die
Hand, schlug Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab und
schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft hin, waldwärts.

‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf die Stellung unserer
Industrie in der Welt?: Nur wer auf irgendeinem Gebiete etwas leistet,
hat Macht. Und nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘

‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was für Eigenschaften
müssen sie besitzen, um mächtig werden zu können? ... Es gibt eine
bestimmte große Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und sich
eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine Anzahl Leo Seidels,
die nicht nur über Verstand, Begabung und eiserne Gesundheit, sondern
auch über eine ganz besonders große Portion Brutalität,
Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit verfügen müssen, um durch die
erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken der Millionen lastet, durch-
und hinaufkommen zu können. Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die
oben sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der Leiter des Verrats
an der Idee wieder hinaufzusteigen vermöchten ... So liegt die ganze
Drahtleitung.‘

Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen nach, die,
schon in weiter Ferne, eben um den Fuß eines bewaldeten Hügels
herumsausten, auf der Höhe wieder erschienen und, ein sich
schlängelnder, dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden.

‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des Trichters, in dem das
Proletariat kämpft und krepiert, sehr schnell heraus und nach oben
kommen, wo das Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen
Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für sich! Oder: Vervollkommnung
der Persönlichkeit! Und schon würde ich oben sein.‘

Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das Leben und gegen sein
Leben, gegen die Ausflügler und gegen den Bildungskurs, den er heute
abend noch abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die Jugend
scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend! Man wird älter und alt!‘ Er
nahm dem Postboten einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm
nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen, die Tante sei noch
immer sehr krank. Und weshalb er auf den letzten Brief nicht geantwortet
habe.

„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“

„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich wenig Appetit ...
Hier, lies den Brief!“

„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du nicht hungrig bist.“

„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst du, soll ich da tun?“

„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“

Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages, den Jürgen im
Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt von dem Bewußtsein, seine
Begegnung mit den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben. Erst
gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe verbrachten Nacht,
schlief Jürgen ein.

Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier Jahre nicht mehr
gesehen hatte. Die Tante saß, in Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens
Gesicht, glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken
Jürgens.

Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante. Sie trug, wie immer,
ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch, sah ganz unverändert aus. Bei dem
linken Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum rechten Ohr,
lagen, platt angedrückt wie immer, die mit der Brennschere sorgfältig
gedrehten schwarzen zwölf Fragezeichen.

Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein war wie der Vorhang und
so funkelte wie die Fensterscheiben und die polierten Möbel, fühlte
Jürgen, sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen
er in seinem letzten Anzuge aussehen müsse.

Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte alles. War entsetzt
über Jürgens Aussehen. ‚Seine Manschetten sind ausgefranst, die
Hemdbrust und der Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind
schiefgetreten bis zur Kappe.‘

Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen aß, an nichts anderes
gedacht hätte: „Ich würde ... wir würden noch einen zweiten Stock
aufsetzen lassen. Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa sind
stark.“

„Wer soll oben wohnen.“

„Wenn du heiraten würdest.“

Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘ Antwortete nicht, aß
weiter. Er saß mit dem Rücken zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster
in der Sonne.

„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer, Eßzimmer und Salon
haben, im Stock Empfangsräume, und oben schlafen ... Phinchen würde ja
auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne Garten!“

Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken, heulte los und rannte
mit der vollen Schüssel wieder hinaus. Es war still. Die Tante blickte
Jürgens Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden Magnolienbaum,
wieder Jürgens Rücken an. „Aber wissen müßte ich, wem ich mein sauer
erworbenes Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch fallen würde
...“

Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von der Platte hatte
nehmen wollen, wieder zurück, wandte sich langsam um. „Du müßtest mich
enterben, was?“

„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“

„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn wirklich, daß ich mich
mit so etwas bestechen lasse?“

Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand an das Kinn, sah
weg. Und Jürgen drehte sich wieder um zum Tisch. So stehts denn doch
noch nicht mit mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen:
‚Was war das? Was war das? Was?‘

„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“ Die Tante redete weiter.
Er hörte nichts mehr. ‚Was war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘

So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt, dachte er auf der
Straße. Er wußte nicht, wann und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie
ging ich denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit mir? ...
Streicht sich mit der Hand erst über die Augen und dann bleiben ihre
Fingerspitzen am Kinn haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses
winzige, gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht Pläne: über
das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr Vermögen, ihr sauer erworbenes,
vergrößern kann, wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder
verkauft, oder über den Tag der nächsten großen Wäsche, oder über mein
zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen hätte, würde sie ganz so
aussehen wie eine alte Chinesin.‘

Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist aber ganz unwichtig;
wichtig ist, zu wissen, was eigentlich mit mir los ist ... Was will ich
denn?‘ Die weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil in den
geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn. Das Fortlaufen ist Unsinn ...
Aber das Gefühl, das hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn.
Dieses Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er ist ... Wie
er offenbar nun einmal ist!‘

Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig auf die Bank in der
Anlage zuschritt, sich setzte. Und nun: Hände weg von allem! Alle
Muskeln entspannt! Alles Denken und jede Selbstbeobachtung aufgegeben!
Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem Bewußtsein! Der Mensch, er allein!
soll sagen, was er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz entspannten Wesens die
Lider.

Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige Pünktchen im Grau. Er
saß in der Mitte seines Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so
leblos, daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd hüpfte,
wieder abflog.

Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen, eine Flußlandschaft:
Lebensbilder, die vor langer Zeit Jürgens Gefühl getroffen hatten und
deren Sinn ihm unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt,
und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“, flüsterte er einige Male.

Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen durchstoßen: Das Leben
der Gegenwart, die Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der
Bank war es still.

Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb rückwärts, grüßt,
etwas hochmütig, nach der Seite hin. Viele Herren und dekolletierte
Damen bewegen sich unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im
großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten. Blicke, achtungsvolle,
neidische, prüfende, folgen ihm.

‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft schon einen Namen
gemacht hat ... Mag er!‘

Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher, blicken dem
Schwarzgekleideten nach, sprechen über ihn und warten. ‚Nein, Musik ist
keine da.‘

Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in
Schultern und Brust, beherrschtes, natürliches, berechtigtes
Selbstbewußtsein in Blick und Worten, tritt ein, spricht leicht und
freundlich mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig
an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes Gesicht. Der auf der
Anlagenbank sitzende Jürgen sieht und fühlt nur sich, nur den seines
Geistes und seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen, der
höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet.

Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen, drückt sich unbeachtet
an der Seite umher. Der Mittelpunkt ist Jürgen. Denjenigen, die sich an
ihn nicht heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie
liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig. ‚Wer eine Leistung
vollbracht hat, wer etwas leistet, ist nicht hochmütig, hat es ja auch
nicht nötig, hochmütig zu sein.‘

Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn gerichtet. Jürgen ist
so sehr Mittelpunkt, daß er sich bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein,
das Interesse etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken, wofür
er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet. Sein Wille, sein Geist
wirken in allen, bestimmen Gedanken, Gefühle und Mienen aller
Anwesenden.

Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen, in der Bankecke;
gleichzeitig mit dem Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er
sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den Eingetretenen
hineingeschlüpft. Seine Schultern und seine Hände, sein Gesicht hatten
alle Bewegungen und das Mienenspiel des andern mitgemacht.

Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte auf den grünen
Bretterzaun, in den er das Bild seines Wunsches hineingesehen hatte. Und
als er plötzlich nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine Hand
über die Augen und blieb, wie die der Tante, am Kinn haften.

‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch in mir.‘

Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber welcher Art ist denn seine
Leistung? Was hat er ... was habe ich ... also, ich meine, was möchte
ich denn eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer leistet,
wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete, ganz gleich welchem,
etwas leistet und Macht und Einfluß gewinnt.‘

Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch. Der Artikel,
den er zu schreiben hatte, langweilte ihn. ‚Immer wieder der selbe
Artikel!‘ Seine Hand legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den
Kopf. Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das Bild verschwand
sofort wieder.

Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der Maschine. Der Haß gegen das
Klappern sickerte in jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es
vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich im Walde umher. Von
den alten, faulenden Küchenabfällen stiegen Dämpfe auf. Das Fenster
stand offen.

Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine Klingeln. Horchte.
Blickte. Vernahm es wieder. Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster
Vorsicht griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer
diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar zum Fenster, stand, die
Hand wurfbereit erhoben.

Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina trat ein. „Wollen wir
... Was machst du denn da?“

„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte sich wieder um
und schleuderte voller Wut den Schotterstein in die Richtung, wo er die
Ratte vermutete. „Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“

„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm in den Nächten, wenn du
schriebst, und jetzt, auf einmal ...“

„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“

„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der Tag so schön ist –
einen Spaziergang in den Park, hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist
... So warst du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“ Sie
schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend, ihr nach.

Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke, in dem sie vor elf
Jahren das erstemal miteinander gesprochen hatten, von Duft und Farben,
Blumen, spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten umgeben, wie
heute.

„Seither ist jene Generation groß geworden und schon in die Privilegien
der damaligen Väter nachgerückt“, sagte Katharina. „Und die Last liegt
heute wie damals auf den andern.“

„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts! Der Sozialismus
schwebt nach wie vor in blauer Ferne.“

„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete ruhigen Tones Katharina.

Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke von dem Parke
getrennt, galoppierte eine Gruppe Damen und Herren vorüber. Die beiden
saßen reglos und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten
Equipagen, überholt von einzelnen Reitern.

„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser Loch zurück“, sagte
Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt war wie eine Schleudergabel.

Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Das lange,
postgelbe Automobil des Bankiers Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen,
in die Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt durch den Duft.
Eine dunkle Riesenfaust preßte Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth
erkannte, die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden ansah. Sie
war eben bei der Tante zu Besuch gewesen.

„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth war im Institut
eines der klügsten Mädchen gewesen ... Gestern wurde erzählt, das
Bankhaus Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe es von den
Genossen in der Hommesschen Papierfabrik erfahren. Der Betrieb würde im
Falle eines Zusammenbruches geschlossen werden müssen. Elisabeths
Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter Herr!“

Schwuppdich, dachte Jürgen.

„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie ist wunderschön. Eine
Jugendfreundin von mir. Der Garten ihrer Eltern stößt an den Garten
meiner Eltern. Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen.
Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“

„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas schöne Jugendfreundin und
legte scheuen Blickes ihre Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur
hatte die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr langsam auf die
beiden zu.

„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“

„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die traurige Geschichte von
der andern?“

Da wandte auch diese sich um und blickte, wie zurück in ihre Kindheit,
gefühlsschwer Katharina an, die erzählte:

„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer zusammen, jeden Tag
viele Stunden. Wir haben einander das Versprechen gegeben, uns ganz
aufzuopfern, auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die Welt
erlösen. Um jeden Preis!“

„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“

„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur über die Art, wie
sie helfen oder die Welt ändern wollten, lächeln würden, hätten sie ja
ganz recht; aber sie lächeln, weil sie es überhaupt tun wollten. Sie
lächeln nicht nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über den
Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“

Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt, den Satz vor sich hin:
„Viele Menschen tragen als Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt
zu haben sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht allein die
Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens erstrebt hatten,
schwerer als alle Ziele, die sie später tatsächlich erreichten.“

„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das sagst!“

„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff, welch leidensfähiges,
mildes Herz sie hatte. Und jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem
Oberstaatsanwalt verlobt.“

„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“

„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“ Und dann erzählte sie
doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin, eine sehr gebildete, reiche Frau,
habe ihre Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen. Immer habe das
Kind den Armen die Gaben reichen müssen.

„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte –, daß das Kind
von seiner Mutter in den Garten geschickt wurde, einer alten
Bittgängerin ein abgetragenes Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das
Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor Trauer und Scham, daß
es geben und die Weißhaarige von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus,
läßt das Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und kann nicht
beruhigt werden, schluchzt sich in eine Krankheit hinein ... Von dieser
Zeit an hat es sich nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen
brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre alt. Ihr Herz wußte
schon alles ... Und jetzt? Wie furchtbar, wie tragisch ist das Leben,
daß selbst solch ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten
konnte.“

Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken versuchte, hielt
Jürgen gepackt. Nur um etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander
begegnet, grüßt ihr euch nicht?“

„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen Planeten.“

Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen innerlich. In weniger
als einer Sekunde war der Saal mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und
wieder verschwunden gewesen.

Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke hebe sich ab vor
Grauen. Denn er wußte nicht, ob er selbst oder ob ein anderer in ihm
gedacht, gefühlt und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er
unüberbrückbar auch von Katharina getrennt! ... Wer hat das gedacht?‘
fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘

„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer Jugend idealistisch
gewesenen Menschen“, hörte er Katharina sagen. „Du folgst deinen
Wünschen und Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens, betrügst
dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach Besitz, Macht, Erfolg, Genuß
und Achtung strebst, dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder
auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in bürgerlichen hohen
Ehren ertrinkst, oder vielleicht in der Familienbequemlichkeit und einer
– mittleren Stellung untergehst ...“

‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘

„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine Villa, verschönt durch
edle Kunstwerke und Bücher, die du nicht nur hast sondern auch
verstehst, daß du Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank
voll Aktien und Gewalt über Tausende von Menschen eroberst ...“

‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘

„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist die Tragik des Menschen
unseres Zeitalters – das Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein
könnte und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit
und Güte deines Kindheitherzens und damit dein Ich, deinen Idealismus
verlieren, der in unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe um
den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“

Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen. Und hatte plötzlich gesagt:
„Dagegen kann ich nicht einmal etwas einwenden.“

Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem Oberkörper seitwärts,
sah Jürgen betroffen an: „Weshalb solltest denn du dagegen etwas
einwenden?“

Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen Zorn gegen Katharina und
schwieg.

Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne kam schon in
Sicht: „Die Tante hat gesagt, es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir
im Schrank.“

„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ... Ich habe damals,
als ich wegging von zuhause, fast nichts mitgenommen. Aber wenn ich die
Sachen jetzt holen wollte, die würden mir nichts geben.“

„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja; aber sonst ...“

Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen hatte in Gegenwart
Katharinas das Gefühl, auf Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er
konnte.

Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller Spannung nicht länger
mehr ertragen konnte, sagte er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre
noch nichts geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts mehr
erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina neben ihm, mit dem
Rücken gegen das Fenster. Sie antwortete nicht.

„So wird man schließlich vierzig. Und was kann dann noch viel
Erfreuliches kommen! Dann ist das Leben in der Hauptsache vorüber ...
Natürlich, wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ... Wer
einfach glaubt!“

„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“

„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr. Man wird doch immer
älter – und älter ... Eh man sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht
wahr?“

Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam auf die Verbindungstür
zu, ging durch, schloß die Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die
Hand aufs Herz. Sie wußte alles.

Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch, Katharina stehen, so wie
sie stand. Preßte die Hand auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die
Tür zu. Wollte nachstürzen.

Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür wie ein von
Verfolgern eingekreister Flüchtling im Zickzack hin und her. Und stürzte
mit einem innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause.

Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über Schollenäcker zum
Bahndamm, zwischen den Schienen weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch.

Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht um. „Fort! Fort!
Fort!“ befahl der Herzschlag, jagte ihn den Schienen nach, hinein in die
Finsternis.

Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er empfand darüber
Befriedigung. Raste weiter, stieß mit dem Kopf gegen die Mauer. Und
blieb keuchend stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte er
plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina blickt verächtlich
ihn an, deutet mit dem Finger auf ihn.

„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich, weit in der Ferne, sah
Jürgen ein rotes Tunnellämpchen. Nach zwei Sprüngen war er schon daran
vorbei, stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem Lämpchen,
das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis schwebte.

Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen, starren Gesichter seiner
Genossen. Duckte den Kopf zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah
die schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht sich kalt und
gleichgültig weg.

‚Wie sie mich verachtet!‘

Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln.

Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht verachtete. Sitzt sofort
bei der Gesellschaft auf dem besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth.
Die Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor, blicken ihn
achtungsvoll an.

Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel, große Liebe im Gesicht.

‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein? Wer hat recht: Katharina
oder ich? Sage mir nur ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘

‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein unendlich guter Mensch.
Ich weiß, wie sehr Sie schon als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten
haben.‘ Phinchen kniet nieder.

‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor mir braucht kein Mensch
zu knien.‘ Und er steht im großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und
Miene, begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und Hochmut.

Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber, auf die schneeweiße
Gruppe der Genossen zu. Des Hockenden Kopf sank wieder zwischen die
Schultern, tief auf die Brust.

Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden. Die Luft im Tunnel
zitterte leise. Jürgen schluchzte. Warme Tränen rollten.

Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz plötzlich bebte der Tunnel
so stark, daß Wassertropfen von der Decke fielen. Einer patschte kalt
auf Jürgens Hand.

Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid stärker werdende
Geräusch, sprang auf.

Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze Berg wankte. Die
glänzenden Schienen wurden zu roten Fühlern eines Riesentieres, die
Fühler wurden immer länger, strahlten sausend auf Jürgen zu.

Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen. Ein ungeheurer Tumult
erfüllte zerstörerisch den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn,
stehenzubleiben. „... Bin ich verloren?“

Die Lokomotive krachte auf ihn los.

Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab sich auf und starb.

Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen Bahn weiter.
Das Geräusch wurde mit einem Schlage hell.

Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen fielen in die betäubte
Stille.

Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für ihn hatte sich zwischen
Leben und Tod ein Drittes eingeschoben, das nicht Leben war und nicht
Tod.

Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei nicht, ob er noch
existiere. Seine Augen starrten und erblickten nichts. Der Angstgedanke:
‚Wenn ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin ich tot‘,
verhinderte ihn, zu schreien.

In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts hinein erklang, da
Jürgen als einziges erdhaftes Ding plötzlich das rote Tunnellämpchen
erblickte, sein tierisch wilder Schrei nach dem Leben.

Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte er sich, den Ausgang zu
gewinnen, einigemal im Kreise und begann schreiend zu rennen, in
gieriger Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim Tunneleingang
stand.

Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit hinter sich und hinein in
eine fremde Gegend: Er war auf der anderen Seite des Tunnels
herausgekommen. In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine, Erker
vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick stürzen.

Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück, klopfte dabei
automatisch den Kohlenstaub von seinem Anzug, strich sich über die
Haare. ‚Sie werden weiß geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen,
wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur sehen, wie sehr!‘

Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“ sagte er.
„Entronnen!“ Und wandte sich um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne,
Blau, Grün und Fluß.

Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von dort aus führe der Weg
direkt in die Stadt, sagte die verhutzelte Häuslerin und schob den
ächzenden Schubkarren weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag.

Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um eine Menschenstimme zu
hören. ‚Nur wer dem Tode entronnen ist, der, nur der weiß, was leben
heißt ... O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des Atmens!‘

So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘ Als der hohe
Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er: Was sie sagen wird, daß ich mit
dem Leben davongekommen bin?

„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug, das Loch im Knie!“ Und
er erzählte.

Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins erlitten und
durchlitten und hatte aufgegeben und hinweggehen lassen, was nicht zu
halten war.

„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte er. „Es ist total
finster. Zermalmt er mich?“ Gierig suchte er Liebe und Schreck in ihrem
Gesicht.

Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt geworden, daß sie
geglaubt hatte, für den Geliebten nicht einmal mehr Verachtung empfinden
zu können. Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes, doch
verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng gegen die Mauer preßt, was
kann da passieren!“ Auch dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich
es. Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr wimmerndes Herz.

„Verstehst du denn nicht ...“

„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen, auf sich zu
nehmen, was unabänderlich war, sah sie ihn an, und ihr Blick fragte:
‚Was soll also jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘

„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das Loch in der Hose. Und
da sie schwieg und weiter fragte:

„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug hole ... Wir könnten
uns später in der Stadt treffen, dann in die Redaktion gehen und
zusammen nachhause.“

Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach, ob es keine
Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch
vielleicht, daß ich mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘

Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos in das Zimmer,
in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar die Vereinsamung stand.
‚Aber er ist sich ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein
unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen und
Zielen, dessen Idealismus zersplittert, sobald er mit der harten
Wirklichkeit zusammenstößt. Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er
hatte den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den Sozialismus
gefunden.‘

„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den Stuhl gelegt. Die
Schuhe stehen darunter“, sagte, glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen.
„Unterdessen bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“

‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und etwas erreichen will er.
Etwas werden. Einfluß gewinnen und Macht. Er will geachtet sein ... von
denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der sie genießt ...
Genießt. Er will genießen, leben ... Dies sind auch bei allen anderen
die Motive des Abfalls, des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun
klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren. ‚Jeder für sich‘
wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘

Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und in dem gutsitzenden,
schwarzen Anzug, die Treppe herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß
Katharina noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß Jürgen selbst.
Deshalb muß und kann nur er selbst entscheiden ... Er hat entschieden.‘

„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und ihre Freundin. Wenn ich
gewußt hätte, daß du kommst, würde ich abgesagt haben.“

Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann ja gehen ... Die
Freundin wird wohl das schöne Mädchen sein, das in seiner Jugend ...
dachte er und fragte.

„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt verlobt ...
Auch dein Schulfreund, Karl Lenz ... Ist er älter als du?“

„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im Gymnasium zweimal
sitzenbleiben mußte. Aber was ist mit ihm?“

„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen. Denk an, so jung!“

‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter! Dem bin ich
entronnen.‘

„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders fähiger Schüler
gewesen sein.“

„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten Verbindung.“ Jetzt
verschwinde ich, dachte er, als die Wohnungsglocke läutete. Und fragte:
„Geht es dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der einen knapp,
sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn zeigte. „Die Wäsche, die von mir
noch da ist, könntest du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft
lächelnd.

‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn ihm unser Leben zu
ärmlich, zu leer war, wir hätten etwas besser wohnen, manchmal ausgehen,
mehr Bücher kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der Ingenieur
tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse! Eine Grenze nach unten, eine
Grenze nach oben – in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm zu
sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen Menschen. Auch eine
kleine Reise hin und wieder. Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All
das würden keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ... Aber
das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat den Kampf aufgegeben.
Er paßt sich dem Leben an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das
angetan. Warum hast du mir das angetan.‘

Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten Arme. Der ganze Körper
verzuckte im Weinen. Sie wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich
versinken, ganz und gar preisgegeben dem Schmerze.

Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte sie mit der Pfote.
Und da sie reglos blieb, legte er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den
vorgestreckten Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf zu heben,
die Augen zu ihr hin.

„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast. Zermalmt er mich? Wohin
springe ich? Es war total finster.“

„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth: „Ich wäre vor Schreck
gestorben.“ Dabei lächelte sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen
schienen zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper zermalmte.
Unter der zarten Haut ihres Halses tickte der Herzschlag.

Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte leichthin, auch er habe
geglaubt, seine Haare seien weiß geworden.

„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht daran beteiligt
gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit anerkennendem Wechselblick zwischen
Jürgen und der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden
Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An allem ist nur
dieses Mädchen schuld.“

„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst.“

„Und wenn du überfahren worden wärest!?“

„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die Mauer zu pressen, was
konnte da viel passieren ... Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd
Elisabeth an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das
Nächstliegende.“

„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses Mädchen.“

Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth sich sofort auf
Katharinas Seite stellte durch ein Lächeln des Einverständnisses mit
ihm. „Das sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin ein
ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen
darf.“

„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen in dem selben Tonfall,
wie damals auf dem Hügel Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur
verstehe Adolf nichts.

Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte ihn und wohltuender
Stolz auf sie, die zusammengesunken und versunken in Schmerz und
Vereinsamung am Tische saß und weinte und nur und immer wieder das eine
dachte: Warum, warum hat er mir das angetan.

Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen, wohin dich diese
Beziehung noch bringen würde ... hätte bringen können. Einfach in den
Tod! ... Ein zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden Sie
nicht auch?“

„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina, die doch wirklich
nicht so beurteilt werden kann wie irgendein dummes bürgerliches
Mädchen.“

Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es sich erlauben kann,
Dummheiten anzuhören, ohne zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth
scheint keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er.

„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ... würde dabei ... wäre
dabei herausgekommen.“

„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die Tante aus dem
Zimmer war, sich umzuziehen für den Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht
so leicht auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser Sache,
in der sie nie siegen kann. Niemals!“

Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen auf. So daß Jürgen nach
langem Blick- und Wortgeplänkel schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“

„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte sie, strahlend vor
ehrlicher Überzeugung. Und ob Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse
Einkäufe machen.

Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier eingewickelte belegte
Brot, das sie abends in der Redaktion essen wollte, durch die
Geschäftsstraße. Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch. So
stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen Menschenmenge, die,
ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges Tier, langsam an den
Auslagen entlang kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der Schulter
faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster führte.

An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte Katharina, daß sie schon
eine Gegnerin bekommen hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich
ihre Lippen und ging weiter.

Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster stehen, sah Elisabeths
zartgegliederte, weiße Hand auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und
dachte sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm wohl gezeigt
haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘

Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina sich dafür, auf was
wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam gemacht habe, stellte sich die
Gegenstände eines Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem
innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah, stellte sie sich der
Hauptsache. Der schneidende Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen,
stehenzubleiben. ‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ... soll ich
kämpfen um ihn?‘

Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr, sondern sich selbst und
seiner Hingabe entlaufen sei, und daß sie, was sie durch den Kampf um
ihn gewönne, nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß
Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit.

Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der Straßenecke, gepeinigt
von dem Bewußtsein, daß sie, in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und
gar verarmt, noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt sagte
ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth interessant und begehrenswert
sei, weil er mit der als merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina
befreundet war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das mir zu verdanken.
Wie entsetzlich!‘ Katharina fror bei diesem Gedanken.

Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und durch das
Beisammensein mit Elisabeth erfrischt, schritt er, beherrschte Kraft in
den Gliedern, lebensfroh dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen,
sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den seine momentanen
Gefühle zwischen ihm und Katharina aufrissen, blieb stehen, stand an dem
Rande des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen Gefühlen
verschwinden konnte, die schon nicht mehr verschwinden konnten, tappte
über den Rand des Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes,
besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang und falsche
Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham in sein Gesicht.

Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und bewußt, und nahm auf
sich ihr Schicksal. So blickte sie ihn an.

„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen schon, was sie wollen
... Aber was alles sie zusammenredet, die Tante, du machst dir keinen
Begriff ... Für die ist alles höchst einfach.“

„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will, daß du Elisabeth
Wagner heiratest.“ Sie horchte auf sein falsch-herzhaftes Lachen und
fühlte: Wie weit, wie weit ist er schon weg.

„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So ein Unsinn! ... Hab
mich aber ganz gut mit ihr unterhalten. Sie ist nicht dumm, weißt du,
und eigentlich gar nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“

„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes Mädchen.“

„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei ein liebenswertes
Mädchen?“

„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen, weshalb nicht
liebenswert“, sagte Katharina in schwerem Leid und dachte: Wie wiegen
die Worte so schwer ... fallen wie Blei.

„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“

‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘ Die Häuser neigten sich;
die Straße drehte sich um Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an
Jürgen, nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor ihren Augen.

„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas mehr schonen.“

Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal mehr Verachtung
war, alle Masken und jede Selbstbelügung weg und traf ihn so, daß er
plötzlich vor der Tatsache stand.

Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich leben oder knalle mich
nieder; aber entscheide du!‘ schrie, völlig preisgegeben, sein Wesen.
Die Augen glotzten.

Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte sich an ihr und in
ihr. Ihr Blick blieb blicklos.

Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein entscheiden konnte,
gestand zum erstenmal sich ein, daß er sich schon entschieden hatte.
„Geh, Katharina, geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine Stimme
ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“

„Schlafe du auch gut.“

Das war der Abschied.

Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage. Sie sah die
lange Kette des Leides und der Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und
beschieden sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust.

„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen immerzu und mußte dem
Zwange folgen, immer in die Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen
der Gehweg belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten, mußte er drei
ganz kleine Schritte machen. „Schlafe du auch gut.“ Und einen Sprung, da
eine große Platte kam. „Du auch gut.“

Überquerte halb die Straße, lief zwischen den Schienen weiter. Die
Straßenbahn kam auf ihn zugesaust. „Entscheide dich! Entscheide dich!“
schrie er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen zu
dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte. „... zwei ... fünf ... acht,
neun, zehn ...“

„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf, dreizehn, vierzehn
...“

Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer der Tante, Kopf und Beine
in dicken Verbänden. Elisabeth saß bei ihm.




                                   VI


Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer. Phinchen trug ihr Glück auf
den Zehenspitzen, auch wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die
Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘, stand auf
unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde nur noch geflüstert. Wenn die
Tante einen Auftrag zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf
Phinchens rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war unumschränkter Herr
und zugleich das Kind im Hause, wohlbehütet Tag und Nacht.

Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf dem Sonnenbalkon im
Liegestuhl ruhte, an warmen Tagen stundenlang wachträumend vor sich
hindöste, sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich leise
zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der Sonne entgegen.

Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt noch einmal von Grund
auf an. Eine zweite Kindheit! Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so
mild.

Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder von neuem und immer
weiter über Brücken. ‚In dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als
Brücken!‘

Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein Wunsch berührte ihn. Alle
Kämpfe, alle Leiden lagen weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in
blauer Ferne.

Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die Wohlgefühle der
Gesundung und seine unbestrittene Macht über die Tante, die den
Zurückgekehrten wie einen tausend Gefahren entronnenen,
schwerverwundeten Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt von dem
Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘ Alles fügte sich
widerstandslos ineinander.

„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte Jürgen ohne
Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als er, frei von den Verbänden,
heiler Haut und Elisabeth am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter
dem Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer: Gute Nacht,
Katharina, schlafen Sie gut. Wie man eben so sagt, nicht wahr. Schlafen
Sie auch gut, antwortet sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter,
beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem jener
entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken – die uns
das ganze Leben plötzlich von einer völlig neuen Seite sehen und
verstehen lassen.“

Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche Mädchen mit ihren
verrückten Ideen schuld, hatte die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht
worden war, zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu vor dem
Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung daran, daß sie dies gesagt
hatte, in ihr aufkommen.

Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte sie vorsichtig:
„So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht nichts für einen
Rekonvaleszenten.“

„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt sie“, spottete Jürgen, der
in Gegenwart Elisabeths nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet
sein wollte.

„Du hast viel gelitten, Jürgen.“

Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ die Tante sofort
verstummen. Sie häkelte schweigend weiter an dem Sesselschoner und
häkelte weiter an ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt
über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht sei nur ein
Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen.

Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater des Bankiers noch
Häusermakler gewesen, dachte die Tante. ‚Die Geschichte der Familie
Kolbenreiher dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten
Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit werden auch junge
Familien alt.‘ Dabei horchte sie auf die Stimme Jürgens, der selbst das
Gefühl hatte, selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben.

Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller Ruhe, blickte sie
Jürgen und Elisabeth nach, der kein Mensch ansehen konnte, daß noch ihr
Großvater ein kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war.

„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“

„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach. Dort vermutet uns
niemand.“

Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück.

„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“, sagte Jürgen
und betrachtete die ovalen Photographien der Familie Kolbenreiher, die,
zu einem großen Oval geordnet, über dem schmalen Kanapee hingen.

Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den Kaffeetisch, wo die Tante,
ein winziger, schwarzer Punkt, häkelnd saß.

Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür, schloß ab.

Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem Rücken gegen das
Fenster, die Hände auf das Sims gestützt. Der Herzschlag tickte unter
der zarten, weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller an den
Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben, und in den Tiefen
gelblichgrün, gleich unreifem Getreide.

Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen Gesicht und den blendend
klaren Blick fest auf Jürgen gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die
Schulter leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil auch sie
es wolle.

Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, genau wie
vorher, und fragte: „Liebst du Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das
nicht vorher gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina lebt
sozusagen auf einem anderen Planeten ... Jetzt müssen wir aber
hinuntergehen, sonst merkt die Tante, was los ist.“

„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung dieser
Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, das, ohne viel eigenes Bemühen
lebensklug geworden, ein glatt funktionierendes Gehirn fertig
mitbekommen zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- und
Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und, jenseits aller Selbstbelügung,
sich und anderen offen eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse
habe als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse.

„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns beiden in den Weg stellt,
wir werden siegen.“ Sie gingen in gleicher Höhe auf der selben Fläche
einander entgegen und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund gepreßt,

während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes Tier, in den Kleidern
auf dem Bette lag. Der Fensterladen war geschlossen, das Zimmer
nachtfinster. Nur ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem
Fußboden und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich,
auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten Berührung, bei
jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie irgendeinen Gegenstand sah, der ihm
gehörte, den Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare Schuhe,
die wie immer in der Ecke standen.

Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann nicht Schaden nehmen
würde an ihrer Seele, wenn sie dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich
preisgebe, ließ sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich und
ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit. Lag Tag und Nacht auf
dem Bett, hineingewühlt in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr
Leben.

Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen, dem sie
rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen sie der Einsamkeit den Raum
verstellt hatte.

Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, an dem Tage, da sie
sich schwanger fühlte, zum ersten Male wieder über den Kopf des
bettelnden Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten Behandlung
sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, da Katharina ihn schon wieder
nicht mehr beachtete, sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten,
in vergrollendem Vorwurfe.

Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war wieder offen, sie hatte
wieder begonnen, zu arbeiten – hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem
er erkannt habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen werden
konnten, entwürdigend und wertlos seien, zurückkehren zu der Pflicht,
die sein Bewußtsein ihm zum Schicksal mache.

Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen treuen Leidens und immer
gleicher treuer Arbeit entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es
geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener Freude in den Augen
trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung kam und die Sympathie ihrer
grüßenden Genossen fühlte.

Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte Jürgen, einig mit der
Tante, daß dies das zunächst Allerwichtigste sei, sich auf das
Doktorexamen vorbereitet.

Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen hatte der flehenden Tante
endlich mit den Worten: „In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und
Elisabeth hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung von
ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge.

Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen bis zum Altar, vor
dem die Brautleute knieten, in großem Halbkreise umgeben von den
Verwandten und Bekannten beider Familien.

„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende, und Elisabeth drückte
zum Einverständnis Jürgens Arm und senkte das Haupt, das Lächeln zu
verbergen. Das sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des
Geistlichen.

Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit Orgelbegleitung:
„Himmel erhöre, erhöre das Flehen: Liebe laß walten im Heime der
Gatten.“

Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem Hügel Rotwein und
Brathuhn genossen hatten, auch zwei Universitätsprofessoren, der junge
Wissenschaftler, ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen
Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel, die, in Hufeisenform,
die ganze Breite des Wagnerschen Gesellschaftssaales einnahm und mit
zwölf, aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln
geschmückt war. Diese Idee stammte von Jürgens Schwiegermutter.

Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das Halbrund hinein, genau in
der Mitte des Hufeisens, so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten,
mit dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen vermag.

Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft und Kunst ein Witz
gemacht in bezug auf die Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd
weitergegeben, sehr schnell beim rechten Seitenhaken an, wo er in das
Gespräch über das mögliche Fallen oder Steigen eines Börsenpapieres ein
Loch riß, das sich nach zwei Sekunden wieder schloß.

„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung: Jeder Arbeiter
ist seines Lohnes wert“, wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne
erhobenen Zeigefinger nicht sprechen konnte.

Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens Schwiegermutter zum
zweitenmal die Träumerei von Schumann. Die servierenden Diener hatten
weiße Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der reichste Mann, ein
Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß beinahe nichts; er war leberkrank,
dottergelb, trank Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine
knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, sehr begehrte schöne
Tochter legte ihm die sorgfältig ausgewählten winzigen Bissen vor.

Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke Papierfabrikant Hommes. Der
sah beständig aus, als müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei
aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher bewies, daß und warum
infolge der schon nicht mehr schönen Preissteigerung des Rohmaterials
ein glattes Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man müsse sich
winden, nichts als winden.

Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf des Gummifabrikanten, als
wolle er sich anklammern, um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und
sagte: „Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß borniert
sein.“

An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘ und konnte, wie die
auf dem Springbrünnchen tanzende, silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis
der reiche Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den
Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine schnittige Veränderung
eintreten.“

„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging etwas vor, das das Leben
zu sein schien. „Das Ganze ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das
nicht länger mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum Schluß
mit.“

Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an der Börsianerecke auf
Hintergründe und Fallen untersucht. „Wer andern eine Grube gräbt“,
vernahm Jürgen. „Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist klar.“

„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine Hand wäscht die
andere. So stehts eben auch mit diesem Papier.“

Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei das einzige, aber auch
das einzige, mit dem noch verdient werden könne, versicherte ein
Landwirt, der wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte,
respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so weit ganz gut.
Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule durchgemacht. Er
bringe System in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch etwas.
Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt. Die Seele,
wissen Sie, die Seele, möchte ich sagen, kommt zu kurz.“

Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken über die
Flitzautomobilaktien auszuholen. Auch an der Börsianerecke wurde noch
gedeutet und geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser.

„No, was sag ich!“

„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot. Fressen und Saufen
will das Volk, glauben Sie mir“, sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens
wutbleiches Gesicht.

Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen Leben in Fressen,
Saufen und Huren besteht, könnte, auch wenn er seine Meinung revidieren
müßte, ja doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘

Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest, warf, geöffneten Mundes,
den Kopf in den Nacken, stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern
sagte: „Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“

Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths, den Wutausbruch zu
unterdrücken, während ihr ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte.
Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden wir jetzt
unauffällig.“

Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede mit einer Verbeugung zu
dem Platze hin, wo die Tante, die plötzlich wieder krank geworden und
schon lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte.

Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin liege, daß seine
Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie
Kolbenreiher angetraut worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die
Familie Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten Jahrhundert der
Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe. Seine Familie hingegen sei
noch jung, aber zukunftsreich. Wie ein junges, gutes Papier!

„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei käme das Richtige
heraus, was unser Vaterland nötig habe. „Solidität, in Verbindung mit
jungfrischem Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg werde
nicht ausbleiben.

„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der Spekulation an der
Börse. Licht und Schatten! Sonne und Wolken! Die Aktien steigen und
fallen. Das ist nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit
starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel getrunken hatte, „in
treuer Liebe auszuharren, auch wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel
bewölkt ... Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar
besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und Lehren zu ziehen.

Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch das Schlußhoch auf
die Neuvermählten zur Hälfte der Börsenspekulation galt. Alle standen.

Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes Rückgrat, als ein
gebogenes, dachte er, entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede
seines Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte, Elisabeth mit
hartem Griffe neben sich zog, setzten sich auch die andern. Die Diener
reichten schwarzen Kaffee, Likör und lange Zigarren.

Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen Menschen die Hand.
„Leben Sie wohl.“ Sein Körper bewegte sich automatisch von einem zum
andern, endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand: „Leben
Sie wohl.“

Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war verblüfft über ihren
Mann, der in der Eile und Verwirrung es fertig brachte, seiner Frau vor
der Hochzeitsreise Lebewohl zu sagen.

Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem Türrahmen stehen. Da
näherte sich Jürgens Ohr ein rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart,
goldbebrillten, zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der flüsterte:
„Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend, schlich der Rundkopf auf
den Fußspitzen zum Hufeisen zurück.

Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter Frühling ist.

Einige Tage später wurde Katharina von einem Knaben entbunden.

Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen kamen die Neuvermählten in
die südliche Hafenstadt, die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und
Säulenkolonnaden, durchschwirrt von Matrosen, Chinesen, Negern,
vornehmen Fremden, müden Auswanderern und dem Geschrei in zwanzig
verschiedenen Sprachen, mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und
dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag, wie ein dem
unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener Traum eines Knaben, der
Eltern, Lehrern, allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen
entfliehen möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit.

Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem rot- und weißgestreiften
Riesensonnenschirm, hotelwärts, vorüber an einer langen, immer neu
genährten Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik
kamen. Blusen und Umschlagtücher waren farbig, die Gesichter schlaff und
fahl.

Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern, daß er, als sie
schon im Zimmer waren, plötzlich dachte: Da besitzt irgendein Herr
Hommes eine Fabrik.

„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika sein.“ Jürgen bekam
keine Antwort. Elisabeth war auf der Ottomane eingeschlafen.

‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in immer gleich unendlich
breitem Strome durch, von ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor-
und Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘

Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und jung und gesund. Die
Sonne, gebrochen durch die herabgelassene Jalousie, zeichnete ein
leuchtendes, gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden. Es
war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen dufteten.

‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika! Nach New York! Nach
Indien! Telegramme um Geld! Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren!
Komme, was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne Besinnen. Ein
herrliches, wunderbares, einfach organisiertes Tier, das lebt, einfach
lebt. Bedenkenlos, glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘
„... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“, summte
Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ...
Sie ist ein vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘

„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in einem Bett verbracht – was ham
se wohl gemacht?“

Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines großen Pariser Hotels
stehen. Der Herr stürzt auf Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig
schwebend in einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants,
Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths Schlafzimmer.

Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden Jürgen gegen den
Jürgen, der durch Paris und Rom schwirrt, sich um nichts kümmert, als
nur um sich und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer
Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt ankommt.

„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der hin, was wird aus dem,
wenn er so weiter macht ... Das bin nicht ich. Das ist ein ganz
anderer“, flüsterte der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“

Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah durchs Fenster auf das
glitzernde Meer hinaus, um den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein
vorgeschobener Posten! Das ist die Natur, das Tier, die Lebenskraft, die
den treibt, die ... mich treibt, sie, die um der Fortpflanzung, der
Arterhaltung willen, die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu
erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos jeder Schufterei zu
veranlassen.‘

Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe durch das Morgenkleid
durch zu der sich entblößenden Brust.

‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt als letzten Preis
dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es Tieren und Menschen, Frauen und
Männern, Katzen und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern, die
vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts. Der Mensch ist noch nicht
da. Sie kann nicht warten, bis der Mensch da ist. Das ist die ganze
Erklärung. Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘

Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den Zehenspitzen schlich er
über den Teppich, berührte sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne
jeden Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar. ‚Sie hat gar
keine Untiefen in sich. Sie ist so, wie sie ist. Im Schlafen, wie im
Erwachen und im Wachen.‘

Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam! Das ist unheimlich,
dachte der an der Tafel sitzende Jürgen, weil er jetzt auch den an der
Tafel sitzenden, sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete,
scharf und genau beobachtete.

‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ... Aber das bin ja
gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu. Bin ich, der zusieht, ich? Oder
ist er ich?‘

„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht, am Abend auf die Höhe zu
steigen und zuzusehen, wie die Sonne ins Meer sinkt.

‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus. Wir müssen uns
vereinigen, eins werden. Wenn wir uns nicht einigen können, dann muß
einer weichen: der andere oder ich.‘

‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘

Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen und goß dabei Wein ins
Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe eben nicht ich gedacht. Hat das der andere
gedacht? Oder ein Dritter?‘

Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos hintereinander zwei
Glas Wein.

‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium. In einem
Entwicklungsstadium. Ich entwickle mich. Das soll in meinem Alter noch
vorkommen. Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis zu mir zu
kommen. Denn ich muß ja leben mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich
gerötet.

Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse des Hafenrestaurants.
Zwei Männer schleppten einen wassertriefenden Bastkorb voll Austern
zwischen den Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten den Gästen
Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien an. Der Himmel, die Luft, das
Meer, das Leben des Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme
Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt. Musik spielte. An der
Hausmauer gegenüber wechselten die kinematographischen Bilder, genossen
von der dicken Menschenmenge.

Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als Brot. Tranken eine
Flasche Champagner dazu. Ein kleines, dickes Mädchen, achtjährig,
Kastagnetten in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot, grün
– im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten, dicken Schenkelchen
freiließ, trat an den Tisch und begann zu tanzen, sang ein Bordellied
dazu, hob das Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im
Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner Gebärde.

Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der Lebenskraft, dachte
Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er
fühlte in den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war. Elisabeth
strich zärtlich über den Kopf der Kleinen.

Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt, schon
entkleidet vor ihren Kämmen und Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb.
Durch den Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen Kuß,
der ihm galt.

‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich. ‚In das Leben soll man
Grübeleien über Entwicklung und Dasein nicht hineintragen. Das Leben
entwickelt sich ganz von selbst.‘

Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll und groß. Die
Mimosen dufteten stärker in die warme Nacht. Wie in allen Nächten sang
auch in dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen.

Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos deutlich. Gestalten,
einzeln, in Gruppen, in endlosen Reihen, schritten im Morgengrauen in
unabänderlich vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue
Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten heran, grau,
gespenstisch-lautlos, und verschwanden im Fabriktor der Welt.

‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘

Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer atmete. Seine
Gesichtshaut zuckte und war gespannt, als habe sie, wie eine
Ballonhülle, einen ungeheuren Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch
schlief.

Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom Tode Erweckter richtete
er sich auf. Eine ewige Sekunde lang war letzte Bereitschaft in seinem
Antlitz.

„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht. Sah aus wie ein
Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was
träumtest du?“

„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht. „Wie du duftest!“ Er riß,
aus der Tiefe seines Wesens zurückgekehrt, wild das Leben an sich.

Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen Tagen tat sich schon die
leere, tote Einsamkeit auf, die weder durch Genüsse, noch durch Arbeit
zu überwinden war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft an
Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog ihn in eine Nische. „Warst du
wieder einmal da? ... Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da
sind jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben. Die eine
sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend ähnlich. Also verblüffend! ...
Sie hat ein Kind bekommen.“

„Wer hat ein Kind bekommen?“

„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob sie das gar nichts
anginge. Frau Geheimrat Lenz soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen
wir in den Salon?“

Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden, in seinem Kopfe
kreise mit vertausendfachter Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter
Blitz. Das ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus aus den
Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt, gestoßen von etwas, das in
gleichem Schritt und Tritt hinter ihm her ging, durch die Stadt.

Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute
Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das kleine Fenster hing nah der
Erde rot leuchtend in der Finsternis.

Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er hörte Stimmen, mehrere
Männerstimmen, eine Antwort Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen
weißen Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag.

Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die Hand vorgestreckt,
etwas zu dem Metallarbeiter sagte. Vernahm Katharinas Lachen. Das klang
so geheimnisvoll mild in die Sommernacht.

Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der Agitator diktierte.

‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere innere Veränderung in
mir wäre nötig, einzutreten ... Die Haustür ist nur angelehnt.‘

Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden.

Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen mit dem Gedanken, daß
es Katharina vielleicht besser gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese
Scherereien wie ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen. Sie
hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser Zeit faßte er den
Plan, ein großes Werk zu schreiben, betitelt: ‚Volkswirtschaft und
Einzelseele‘.

Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut durchwärmten
Direktionsbureau gearbeitet. Als er hinaustrat in den schneidend kalten,
schneidend hellen Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen
Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf eines Spaziergängers
doppelt und dreifach sah.

In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den Gedanken, daß nicht nur
er selbst sondern jeder Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich
vorhandenen Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden Augen gesehene
verdreifachte Spaziergänger, hintereinander und ineinander geschalt, in
den Menschen steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und gegeneinander
kämpften.

Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah er auf die zwanzig
Monate seines neuen Lebens und seiner neuen Tätigkeit zurück. War von
Jürgen, dem Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher, in
Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen des Hauses und der
Kunden zu schützen, die Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu
kaufen oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen klaren
Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle Ewigkeit unverrückbare
Tatsache, daß dieser Gewinn ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem
Proletariat, zugunsten des Rentiers Hummel und des Bankhauses Wagner und
Kolbenreiher.

‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von dem Mehrwert, bereichere
mich an dem Mehrwert, den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen
voll bewußt.‘

‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘

‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘

‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘

Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte Jürgen ganz
über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten war, ihn hinter sich gedrückt, die
Schreibfeder auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt
hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater. Ich mache das nicht
mit, Herr Hummel.“

‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und Walzwerkbesitzer das
Geschäft.‘ Auf diesen Worten schiebt der Teilhaber sich wieder in den
Vordergrund, stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine
Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer die Waffen fallen läßt,
über den geht es hinweg. So ist das Leben. Und dem Proletariat, das
sowieso der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer den Gewinn
hat.

‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘

‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil als der
Leberkranke, der nicht einmal weiß, was er tut, keine Ahnung davon hat,
daß er sich bereichert an dem Schweiße und an dem Blute der
Arbeitenden.‘

‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für dich. Außerdem wäre
es auf jeden Fall für dich, für dein Selbst, für dein Menschentum immer
noch besser, der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist, zöge
den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos erst zum bewußten
Schuft und schließlich auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten
Schuft werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes mehr als ein
Teilhaber sein würdest.‘

Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings passieren,
dachte Jürgen. Und ich müßte auch dies auf mich nehmen. Das Leben ist
hart.

Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die Massen, eingespannt in
das graue Joch, müssen noch die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau
... Und dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß es dich
nicht kümmert.“

„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf Jürgen gesagt, wenn er, in
knappsitzendem Frack, beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern,
beherrschten Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft war, aller
Augen auf sich ziehend, genau so, wie er sich damals in den grünen
Bretterzaun hineingesehen hatte.

Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur durch freiwillige Gaben
die Zeitung noch gehalten werden könne, spendete er eine große Summe und
bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung.

Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu seinem Bewußtsein, das
keine Antwort gab. Es war in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen.

‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere Weise als früher nützen.
Zweifellos kann ich, mit meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der
Bewegung weitaus mehr nützen, als es der Student konnte, der nichts
hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘ Und er legte den Dankbrief in
die Schublade.

Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen Zeigefingers. „Sowohl der
Rentier Hummel als auch wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei
lag dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir hatten unsere
Informationen früher als die andern.“

„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“

„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von Unsauberkeit keine
Spur!“

Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und ließ ganz bewußt das
Bewußtsein vortreten. Das war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der
ölige Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und spricht von
Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das Geschäft war mir zu unmoralisch.
Viele kleine Leute würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben.
Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“

Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende Herr Wagner den
Zeigefinger heben: „Der gute Ruf unseres Hauses wurzelt in der
Gerechtigkeit. Aber sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht
nicht an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst meine
Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche Summe und obendrein Herrn
Hummel, der seit zwanzig Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren,
weil du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft hast. Die
‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und sonders aufgekauft. Der
lacht.“

„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß die kleinen Leute nun
trotzdem um ihr Geld gekommen sind.“

„No, was sag ich!“

Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr Wagner erhobenen
Zeigefingers zu seiner Frau hatte sagen können: „Der Schwiegersohn hat
eine Nase, eine Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein
Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im Reichstag herauszulesen
vermocht, daß an ein Gesetz über neue Schutzzölle auch nur gedacht
werde. Hast du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll? Nicht die
leiseste Andeutung. Aber er, der Junge, dieser Junge, mit seiner
Vergangenheit und seinem Interesse für Politik, seinen Beziehungen zur
Arbeiterbewegung, die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat
zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten Füchse sich noch in
Baisse festlegten ... No, was sag ich.“

Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen im Auto in den
Demonstrationszug hineingeraten und steckengeblieben, beschossen von
Blicken noch gefesselten Hohnes und Hasses.

‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit meinen Gedanken
beschäftigen. Brauche nicht im Wagen zu fahren.‘

Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein fand die Sekunde
Zeit, zu sagen: Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.

Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, dachte er, stieg aus, ging
die zweihundert Schritte bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er
die eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in den zwei Jahren,
seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes Vermögen sich schon fast
verdoppelt habe.

‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm nur die schwer zu
verheimlichenden Papiere anvertraut und den größeren Teil ihrer Aktien
bei ihrem alten Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“, sagte
die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel Versunkene.

Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante das Wort ‚erben‘
aussprach, in Gedanken diese merkwürdige Viertelstunde in dem roten
Plüschsalon der Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander
sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen, der nur aus Veilchen
bestanden hatte.

„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben endlich doch
dem Geistlichen, daß sie als zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen
Fehltritt ...“

„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der einzige war.“

„... begangen und heimlich einen Sohn geboren hat. Fragt auch ihren
Rechtsanwalt, ob das Kind Erbanspruch habe.“

„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen ist ...“

„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört haben.“

„... weiß man nicht genau. Die Menschen können ja kein Geheimnis für
sich behalten.“

„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt nie erfahren
haben, wenn die Pflegerin ...“

„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute noch nicht“, hatte die
Junge gesagt.

„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie hat ein Mensch auch
nur den leisesten Verdacht gehabt, müssen Sie wissen. Das Kind wird ins
Ausland in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“

„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“

„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde, Sie verstehen.“

„Die Pflegemutter stirbt.“

„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen ... nie etwas ... Kein
Lebenszeichen mehr! ... von dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie
Jungfrau wäre! ... Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind jetzt
sein.“

Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt, heruntergekommen
auf einer amerikanischen Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die
Welt. Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt.
Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet nach dem Taylorsystem
in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter im Newyorker Hafen.
Magistratsschreiber in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen
drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch, hatte
Jürgen heiter gedacht.

„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für die bisher so
hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene Familie
Kolbenreiher.“

Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß, beinahe vom Stuhl
gefallen.

Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach der Beichte völlig
unerwarteterweise wieder gesund geworden war, etwas so tief und
schmerzlich bereut wie diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis
selbst. Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen gestanden, der
so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert, so fassungslos gelacht hätte
wie Elisabeth. Und nie in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich
gehalten, dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die Tante
empfinden zu können.

Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges Mal vom Leben
gestreift, dachte er auch jetzt, wie er die Tante ansah, die einer
uralten, zähen, endlich zerfallenden Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie
mich gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der Mensch, der
sich damals von dem Geliebten umfangen ließ, versunken und ertrunken.
Welch Dasein!‘

Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre zugefügt hatte, war
die Kraft der Tante gebrochen gewesen. Ihre zwölf Fragezeichen waren
weiß geworden. „Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes,
richtete den gelben Totenschädel auf.

Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines Tages doch noch erscheint
und sagt: Da bin ich. Der Erbe bin ich.

Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den zweiten Stock hinauf,
der aufgesetzt worden war, und dachte dabei an sein Kind.

Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert wurde – und dies geschah
häufig, denn Elisabeth brach auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt
aus –, dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken er nicht
wagte.

‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar nicht mehr lebt, und,
lebte er noch, nicht die leiseste Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine
Verbindung herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der eine
Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ... Oder kann er schon
laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich auf einem anderen Planeten.‘
„Merkwürdiges Mädchen“, murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths helle
Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete farbig schmetterte.

Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen Schwertlilien und
Wasserrosen – blau, rot, violett – und giftgrünem Schilf auf Goldgrund,
der den See darstellte, versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die
selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen. Dreiunddreißig
Nymphen hatte Jürgen gezählt.

Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant Sinsheimer, wo
ihn die Furcht vor der Leiche des Vaters angesprungen hatte. Denn außer
den reichgeschnitzten schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln
– zum Platzen dicke schwarzgebeizte Putten schleppten, himmlisch
lachend, ohne jede Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts,
oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte obenauf sitzenden
Putten spielten dazu die Flöte – standen und lagen auch hier viele
singende, musizierende, miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und
Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren, darunter ein
Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter Papagei saß, der alles hatte, was
er zum Leben brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken aus
Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen, Trauben, Äpfeln und
Pfirsichen aus farbigem Tuch – die zwei silbernen Tafelaufsätze in
Eiffelturmform, von Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt,
genau so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen Hochzeitstag
eingestellt hatten. Zwei große künstliche Palmen, auf Ständern mit
gelben Storchenbeinen, verdunkelten das Fenster.

„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“,
erklärte gekränkt Frau Wagner, die, während die Neuvermählten auf der
Hochzeitsreise gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen
Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden, im Bett gelegen war,
ganz allein das Einrichten der Wohnung besorgt hatte.

„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine große Anzahl
Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte launisch Elisabeth und sah
umher: Vom nie benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem die
heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, bis zu dem zwei
Meter hohen seidenen Wandschirm, auf dem ein gestickter, lebensgroßer
Storch das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog,
schwang der Elefant den Rüssel feierlich-langsam hin und her. Das
Ziffernblatt in seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau
Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch gewesen war,
telegraphisch in der Fabrik bestellt.

Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und das Bewußtsein, das hinter
Jürgen herschritt, in gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in
der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher zum Waschkorb
ging, in dem der Sohn lag.

Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus deutlich sichtbar;
nicht so verblaßt wie damals, als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen
hatte. „Das wechselt.“

„Was wechselt?“ fragte Elisabeth.

„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, dann wieder heiter. Ein
andermal, ich möchte sagen: in gespaltener Stimmung.“

„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre dies anders.“

Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes Schweinsleder gebundene
und mit einem winzigen goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die
repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt. Herren ließen den
Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid bewundern. Die Photographieaugen
blickten. Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht im Leben, die
Faust auf der Kante des zerbrechlich zarten Tischchens. Damen, die
Frisuren schulterwärts geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie
ohne Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im Kampf mit der
Natürlichkeit.

Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte Gesicht eines
degenüberquerten Studenten in Wichs kam auf das Gesicht einer alten Frau
im Totenbett zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt sind
sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau Wagner sah umher, den
Kopf aufgestützt.

Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging, sah er Frau Wagner noch
immer sitzen im Salon, den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig.
Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben.

‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. Wir werden uns eben an
die tausend Zentner schwere Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen
müssen; haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch unwichtig. Das
Leben stellt andere Aufgaben.‘

Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie nicht. Fand nichts, das
wert gewesen wäre, sich dafür einzusetzen. Auch heute hatte die tote
Einsamkeit, die um und in ihm stand und das ganze Haus durchdrang, ihn
eine Stunde früher als nötig fortgetrieben.

Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend blickte sie in die
Richtung der Mutter Gottes; die gelben, dünnknochigen Finger hielten die
geöffnete Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere
aufhob.

Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben der Haltestelle
einzutreten und, plaudernd mit dem alten Meister, den Gesellen bei der
Arbeit zuzusehen, bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte,
die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch waren für Jürgen der riechbare
und sichtbare Ausdruck eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie er es,
seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht hätte.

„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und von Ihnen selbst, mein
Gott, keine Spur, damals, als mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern
gemacht hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante war so ein
huschiges Springerchen von zehn Jahren.“

„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte Jürgen, plötzlich wieder von
Sympathie ergriffen.

„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd. Auf dem selbigen
Sägbock ist sie geritten jeden Tag. Und so manches Mal war sie einfach
verschwunden. Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus den
Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben, ganz und gar
zugedeckt und ist dann plötzlich wie ein kleiner Teufel rausgefahren.
Wollt nie nachhaus. Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie. Ein
Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“

„Was Sie sagen!“

„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da kommt Ihr Wagen.“

Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner, der lächelnd abwinkte:
„Gilt schon! Wir kennen ja einander.“

‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt nicht für möglich
gehalten.‘

„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte nicht mehr zu zeigen.
Jetzt fahren Sie seit zwei Jahren täglich viermal.“

‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind so werden kann, wie die
Tante geworden ist, vom Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von
Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr reden. Die
Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei Katharinas schöner
Jugendfreundin mit dem leidensfähigen, milden Herzen, daß sie so lala
eine Gesellschaftsdame und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ...
Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte entscheiden, ob ein
Mensch die Kraft gehabt hätte, weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob
stärker als seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden
Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr viel Kraft dazu, sich
selbst im Leben vorwärts zu bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der
Allgemeinheit auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ... Man setze
erst sich selbst durch und stelle dann sich und seinen Einfluß und seine
Macht in den Dienst der Allgemeinheit.‘

‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt, so lala mit dir,
mit dem Bankier Kolbenreiher, geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr
vernehmbarer Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und stieß
plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, von Jürgen nur dunkel
vernommen und empfunden, nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des
neuen Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger Sieger geblieben
war.

Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten Tiefe seines Wesens,
stieg empor als Hinweis auf eine unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen
wurde sekundenlang innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in der
vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im Albtraum ihn gelähmt und
unwiderstehlich gezwungen hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch
lebend, er selber gelegen war.

„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“

Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein, schon elf Jahre!“ sagte,
wiederholte in verzweifeltem Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum
dritten Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte im Rückenmark,
wie damals in der Hafenstadt.

„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“

„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit seiner starken Hand
anerkennend das Bastgeflecht der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf
die hintere Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und das junge
Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte wieder in das Handtäschchen,
sah ernsten Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach rückwärts.

Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug auf die Drohung ...
Zwei Jahre! Muß endlich auf ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen.
Eine Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen wunderbaren
Herbsttage! Das wird schön sein.

Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr und der Lärm
stärker, die Luft schlechter geworden waren, setzte das Bureaumädchen
sich in den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß ihres Chefs
und begann in einem Buche zu lesen. Sie war die Tochter eines in der
Papierfabrik des Herrn Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit
ihrem sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses Wagner und
Kolbenreiher angestellt.

Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung über das Vermögen
der Tante in der Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum erstenmal
gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich verschlossen da und liest,
wie die fünfzehnjährige Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte.
Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina ihn heute noch hat.
Nur jünger ist sie. Selbstverständlich viel jünger! Äußerlich überhaupt
ganz anders. Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ... Neue
Jugend wächst heran und nimmt den Kampf auf‘, hatte er plötzlich
gedacht.

‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage ... Allerdings ein
ernstes Geschöpf ... Gerade deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem
Chef würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete sie.

Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit gewaltigem Busen stieg
ein, setzte sich Jürgen gegenüber.

‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die ihrem Chef
gegenüber wehrlos ist.‘

‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich ... Das
Leben brennt, ist wild und schön und da, gelebt zu werden.‘ Und er
überlegte, wo und wie er seine hübsche junge Angestellte verführen
könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich die dicke Frau.

„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die Alte und streckte
lächelnd beide Hände vor. „Herr Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie
in den Händen gehabt hat. So groß waren Sie.“

Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme. Das Mädchen wandte ein
Blatt um, sah auf und Jürgen an, lächelte auch.

„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch nicht. Das könnte einen
öffentlichen Skandal geben. Und auch die Autorität ginge flöten.‘

„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht anders, als ob Sie
am Kreuz hingen. Sie wollten nicht. O, Sie wollten absolut nicht.“

Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin, heut abend ist
Bezirksversammlung. Erinnere auch deinen Vater“, sagte er zu dem
Bureaumädchen.

„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein schöner, großer Herr
geworden. Ein prachtvoller Herr!“

Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen. Ich bin der Chef.
Die Autorität muß gewahrt bleiben, dachte er, während er hinter dem
Mädchen auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die Tür auf.

„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden erfüllen. Außerdem ist
die Sache die“, sagte, blätternd im Telephonbuch, Jürgen und bat um die
Nummer Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher haben kann
und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls dieses Mädchen in dem
orientalischen Salon tatsächlich Katharina ähnlich sieht.“

Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause kommen, teilte er
telephonisch Elisabeth mit, die daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten,
einem Maler, sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder
auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde.

Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier Schulkameraden schon
wartend vor dem Portal, das auf den Nacken zweier marmorierter
Gipsherkulesse ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze. „Ich
habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe Wirtin, eine alte Hure! Du
erinnerst dich, Jürgen, wir sind damals vom Korsorestaurant aus
hingegangen. Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln!
Dabei doch dezente Aufmachung! Schon wie in Berlin!“

Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten
ausgeschlagene Stiegenhaus wieder. Eine flackernde Kerze, eine hohe
Frisur, zwei schwarze Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen
lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin legte sofort den
Zeigefinger an den Mund, stieg voran.

„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum knipsen wir denn die
Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief in dem Poltertone seines alten
Batteriechefs, der ihm Vorbild war, der Artillerieoffizier.

Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der Referendar versteckte
seine Brieftasche in der Geheimtasche des Westenfutters und lächelte.

„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“, sagte Jürgen vor sich
hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit des Jürgen, der damals, um
über seine knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen wie ein
erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute trat er so gelassen in den
orientalischen Salon, wie er als Chef in das Direktionsbureau der Bank
trat.

Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige Tischchen. Die
Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen und auf Polstern am Boden.

„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier in dem Tone
seines Batteriechefs und schnallte gewichtig den Säbel ab, mit den
Gebärden eines Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun haben
will.

„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende Schönheit.“
Adolf hatte sich, seitdem er Alleininhaber des Knopfexporthauses war,
angewöhnt, schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz so zu
benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner Großexporteure, mit denen er
in Geschäftsverbindung stand.

Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte ihm die Patschhand hin.
Auch sie – schwarzhaarig und bernsteingelb – sah orientalisch aus,
kokettierte lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem
orangefeurigen, geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte.

„Sind ne süße Krabbe!“

Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer, sondern der
Berliner Exporteur spricht.‘

Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf gespreizten Beinen,
nahm die Mütze ab und wischte sich ächzend die Stirn, die ganz
schweißfrei war und zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben
knabenweiß.

Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen, als der livrierte
Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht – den Champagner brachte. Der
Diener hatte zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und
finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes.

Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme dir“, sagte, Schultern
zurückgezogen, Kopf vorgestreckt, das Sektglas unter der Achselhöhle,
der Referendar zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt,
zusammengerollt in der Ecke lag und mit den mächtigen, weichen Schenkeln
lockte.

„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber als dieses Weibergesüff.“
Der Batteriechef trank ex, hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob
mit rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige Blondine auf
seinen Schoß und drückte das Köpfchen an seine breite Brust.

Der Referendar wählte die Älteste und Schönste, ein
vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein Bankkonto besaß und erst
vor zehn Minuten zu einem Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben
wäre, gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen zurückgelehnt,
Arm in Arm.

Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl Lenz. „... Und nächste Woche
hat er einen Mordprozeß. Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu
erzielen, ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“ Er zuckte
nach vorne, Sektglas unter der Achselhöhle: „Ich komme dir.“

‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der, hat auch mir geblüht.‘
Jürgen mußte lächeln über das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der
Referendar A., sondern der Referendar überhaupt, nicht der
Knopfexporteur S., sondern der Exporteur und der Artillerieoffizier
überhaupt sitzen hier und haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden
nicht einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier
überhaupt die Mädchen umarmen, sondern sie allein, die Lebenskraft, sie
ganz allein wird die Umarmende sein.‘

Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich soigniert und dabei
freimütig benommen hatte wie einer, der das Leben kennt und ihm seinen
Lauf läßt, wich zurück.

Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand und setzte sich neben
Jürgen.

Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken, den kleinen, festen Mund.
Fürchtete sofort, daß er, wenn sie zu sprechen begänne, diese
vollkommene Illusion verlieren würde.

„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer, dessen Hand auf
der gewölbten Hüfte der Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“

Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte sich seine Furcht
in die atembeklemmende Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme
Katharina sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen, dachte er
erbebend, stellte sich in seinem Gefühle schützend vor Katharina. Und
gleichzeitig brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der letzten
Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt, daß sein ganzer Körper
sekundenlang von Lähmung befallen war.

Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen Salon; sahen Katharinas
Mädchengestalt.

Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich. Wendet ihm voll das Gesicht
zu. Ihre Lippen bewegen sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich.
Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare des Daseins
geschaut.

Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte lachend und so laut, daß
alle es hörten, was Adolf Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine
Sammlung.

Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft, Stellung und
Macht, alles, was er seither erreicht hatte, aufgeben müsse, führte
Jürgens Hand; die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas. Er
leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte.

Auch die andern tranken viel und schnell. Hände griffen. Mädchen
schrien. Wehrten sich und gaben sich.

Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr. Füllte. Leerte. Glotzte
die Doppelgängerin an, deren Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie
verzogen blieb. Sie trug die Haare kurz.

Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor. Die beiden Wesen
verdichteten sich in eines. Schwankend stand er auf.

Die Paare verschwanden in die nur durch dünne Kunststeinwände
voneinander getrennten Zimmer der Mädchen.

„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß, der Betrunkene und
griff nach der Doppelgängerin, in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem
Widerwillen gewichen war.

Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen.

„Deine Augen, ach, deine Augen!“

Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl brach durch und
brüllte: „Katharina!“

Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte auch jetzt: „Na, du
kleiner Racker!“ Als ob nicht er und nicht sein Batteriechef, der ihm
Vorbild war, sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste
Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine liege.

Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen Salon, horchte
unbewegten Antlitzes auf die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das
Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel hängenden
großen, leuchtenden Glasquadrate der Malerateliers, die alle im selben
Stadtviertel waren.

Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag, blond und schon
entkleidet, Elisabeth auf dem breiten Renaissancebett ihres Geliebten,
eines kleinen, geschmeidigen Südländers, blauschwarz behaart.

Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon trug, stand der
Referendar im Zimmer schon vor dem Spiegel und zog sich ihn wieder,
genau in der Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen
betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt den
Referendar. Und er, durch den Spiegel, interesselos und eiskalt sie.

Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht, Zeigefinger am Munde,
leise die Haustür auf und ließ die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an
seine Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine Flasche Rotspon
intus zu haben, lege er sich nicht in die Falle, sagte der
Artillerieoffizier. Und Jürgen, wieder nüchtern, in soignierter Haltung,
verbarg ein Lächeln über das Gehaben des Artilleristen.

Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf der Ottomane,
reichte ihm frei und liebenswürdig die Hand, offenen Blickes. Wo er denn
herkomme. Sie war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von
Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite auf dem Tische
lag. Das spitzige Messer lag daneben.

Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte Jürgen.

„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei den Eltern“, sagte
Elisabeth frei und ungezwungen, so ganz erfüllt von sich und ihrem
Selbstrecht auf Genuß, daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr
von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern ihre Brustspitzen, die
noch rosig waren. Und fragte wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“
Sie wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt habe ich gebadet.“

„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“, ‚Das übrigens soll mir
nicht wieder passieren, daß ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen
Hampelmännern so wohin gehe ... Alle Menschen werden an Fäden gezogen.
Wer oder was ist es, das im Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden
zieht?‘ „Nun?“

„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und von der Börse, von Geld,
von der Börse ... Weißt du, es ist keine Luft mehr dort in der großen
Wohnung. Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen zurück. Er
langweilt sich fürchterlich, seitdem er sich vom Geschäft zurückgezogen
hat. Sein Leben hat keinen Inhalt mehr.“

„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte er doch, er möchte
ein kleines Gut kaufen und es selbst bewirtschaften. ‚Natur, Natur,
Gras, Rüben‘, sagte er. Weshalb tut er das nicht?“

„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor Langeweile schwermütig
werden. Und auch so wird er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was
unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert er sich
nicht; davon trennt ihn sein ganzes Leben, das er auf der Börse
zugebracht hat. Für Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten.
Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile. Ich sage
dir, bald wird er wieder ins Geschäft kommen. Er hälts nicht aus.“

„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich in dieser Lage
befinden, verstehen es, sich einen Lebensinhalt zu verschaffen: Sie
werden moralisch. Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch
weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“ sagte ironisch
lächelnd Jürgen.

Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich aufrecht. „Vor ein paar
Jahren war ich mit den Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer
Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers und Geheimräte, in
Badekostüm, scheußlich fett oder abschreckend mager und behaart, solche
Hängebäuche! mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren schaufeln. Sie
karrten ihn über den Hof in die andere Ecke, leerten ihn aus,
schaufelten den selben Sand wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein,
hin, her! Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser Arbeit
würde ich verrückt werden.“

„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft, daß sie derartige
sinnlose Arbeiten verrichten mußten ... Viele, scheinbar ganz normal
gewesene Bürger werden ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen
nichts mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und
Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst, ins Geschäft zurück
und treten weiter die Geldmühle, bis sie an Arterienverkalkung sterben.
Diese alten Verdiener! ... Das soll uns nicht passieren, wie?“

Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder. „Glaubst du“, fragte
er, Blick in ihrem Blicke, langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch
baden kann?“

Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine rote Ampel, auf der ein
gläserner Amor kniete. Den Bogen hielt er noch in den Händchen. Den
Glaspfeil – Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter Ampel
blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen schon vor Jahren, gleich nach
der Rückkehr von der Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es
gäbe Grenzen.

Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf, als Jürgen aus dem Bade
kam. Lächelnd so im Spiel des Lebens drehte sie die helleuchtende
Nachttischlampe ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte rot auf.

Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht und das Leben ohne
Härten ist ... Ein Tag nur! Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach
einem Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit Theaterbesuchen,
Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel, Bureau, im Fluge vergangen war.
Die Zeit stand, so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens
Ansehen stieg.

„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über Nacht bist du um
soundso viel reicher geworden“, sagte Jürgen scherzend zur Tante, die
antwortete: „Du erbst alles.“

Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich im Bureau. Grund zum
Klagen gab ihm sein Teilhaber schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger
ist ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des Hauses und der
Kunden gehen ihm über alles“, konnte er oft zu seiner Frau sagen, die
immer wieder erwähnte: „Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung nicht
zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich nicht. Nun, wenn er nur
wenigstens im Geschäft tüchtig ist.“

Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich und unversehens
war das Leben zum Gleis geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte.

Er war bekannt als großzügiger Philantrop und Mäcen, hatte mit
unfehlbarem Stilverstande schon eine ganze Anzahl Antiquitäten und
Bilder gesammelt und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der Villa
verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das auf dem stillen, größten
Platze der Stadt stand, erwerben und nach seinem Geschmacke einrichten.

„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen, Pfennige, die älter
sind, als er selbst, oder kostbare Werke alter oder hervorragende neuer
Kunst, oder macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein
faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen, Kühen und
fensterlnden Burschen werden“, sagte er zu einem befreundeten
Fabrikanten, der eine Riesenvilla voll alter, gotischer Holzplastiken
besaß.

„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch haben. Außerdem: ich kaufe
billig“, rief der Fabrikant. „Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld
sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose Sammlung, ganz
gleich welcher Art, auch fix und fertig ins Haus geliefert.“

„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt vorüber, es ist nichts‘, zu
seiner Weltanschauung, und bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad,
Warmwasser, Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt, vielleicht
gar um das Stimmchen zu beruhigen, Summen für Wohltätigkeitszwecke oder
unterstützt begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle
obendrein“, schloß er in Selbstironie.

Und wenige Monate später sagte er zu dem selben Fabrikanten: „Die
Lebensauffassung des Bürgers ist folgende: Jeder tue seine Pflicht.
Dadurch arbeitet jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen
Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser, in denen die Menschen
leben, Küchen, Geschirr, Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen,
Schulen, Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und
Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser sind da für
diejenigen, die ihre Pflicht nicht tun ... Schön. Mag sein, daß er recht
hat. Unsereiner aber unterscheidet sich von denen, die geradezu platzen
vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und Geist und Besitz verpflichten
zu mehr.“

Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe, in der die Notizen zu
seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘ lagen. Nach dem
Essen las er die Abendzeitung.

Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und getragen von Gewohnheit
und Achtung, ohne schmerzliche Ereignisse durch ihn durch und hinter
ihn, wie eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt.

Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte Ich auf, schrie
seine grauenvolle Drohung, die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein
vordringen konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und zwischen dem
drohenden Ich und dem inneren Ohre Jürgens stand das Erleben vieler
Jahre, das, zusammen mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten
Strebens nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein gebildet
hatte. Ein fugenloser Schutzwall.

Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die graue Straße, auf der die
Millionen dem Fabriktore der Welt zuschritten, grau und
gespenstisch-lautlos. Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht, kaum
bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an: „Laß deine Haare wieder
wachsen. Was ist dir denn geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“

Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte Gesicht an, hinter
dem das vergewaltigte Ich erfolglos um sein Dasein rang und Tränen durch
die geschlossenen Lider schickte, weckte den Stöhnenden, der nicht mehr
wußte, was er geträumt hatte.

Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das neben ihm lag. Im
Garten schrien die Vögel. Auch die tausend Tapetenvögelchen des sonnigen
Schlafzimmers zwitscherten.

„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen in den Augen.“

Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu sich zog: „So ist das
Leben: zum Lachen und zum Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen.

Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in den Garten, sog genießend die
warme, aromatische Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars
frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter der Sonne lagen, blieb
vor jedem Rosenstämmchen stehen, freute sich über die kopfgroßen,
farbigen Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht
daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an der Wasserleitung
weiterzuarbeiten, die anzulegen er vor einiger Zeit begonnen hatte, um
seinen Garten mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte Jürgen
körperliche Arbeit anempfohlen.

Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf auf Stangen steckenden
Glaskugeln bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen
sollte. Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze, erworben
von einem jungen, unterstützungsbedürftigen Bildhauer, kniete schon,
Kopf geneigt, Hände im Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem
Schneeballenbusch.

Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne. Elisabeth, in
leichtem Sommerkleide, sah vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken
Manne zu. Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter dem
Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen hatte. Sie lag im Bett und
konnte nicht sterben.

Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt, die Zigarre im Munde,
betrachtete Jürgen zufrieden seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch
wir ein Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete, etwas
Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund. Man muß vorbeugen, weißt
du.“

Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel schnappte einen Wurm aus
der frisch aufgeworfenen Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen
Garten und verschwand unter dem Schneeballenbusch.

Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte sich über der
Stadt, strahlte auseinander, hinaus zu den Gärten. Jürgen legte – wie im
Bureau den Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand. Nach dem
Mittagessen schlief er. Die Zeitung war seiner Hand entfallen.

Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe. Rechts
stand eine Miniatur-Schillerbüste, geschmückt mit einem winzigen
Lorbeerkranz, links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen mit
Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein sich hochaufbäumender
Bronzehirsch, auf dessen Geweih sieben Federhalter lagen. „Nun aber an
die Arbeit!“ rief er und rieb die Hände.

In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig nahm er den
eheringgroßen Lorbeerkranz vom Haupte Schillers herunter, betrachtete
ihn genau, schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der Körper
knackte und der Mund ein eigroßes Loch wurde, ergriff wieder den
Federhalter und sah hinaus, wo der Sonntagnachmittag stand, der,
zerteilt in Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle Ritzen
und Wände hereindrang.

„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen, und alle Geräusche
haben einen anderen Klang. Einen ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist
wehrlos ... Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens, habe
keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts anzufangen mit dieser
Höhe ... Sogar die Spatzen zwitschern Sonntags anders als in der Woche“,
sagte, dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein Buch, legte es
wieder weg, ergriff den Federhalter. Plötzlich glaubte er, deutlich
gesehen zu haben, daß das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“
rief er zornig sich selbst zu.

Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten Bureauarbeit und dem
gewohnten Aufenthalt in der Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte
nicht sagen können, weshalb und wann er an das Fenster getreten war. Die
Fichtengruppe im Garten stand reglos. Ein hängender Ast störte die
Symmetrie. ‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen und
übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren. Dieser stupide Sonntag
bringt einen um jeden Gedanken. Ah! und diese mörderische
Zimmereinrichtung!‘

Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als ob er nie mehr
nachtdunkel werden würde. In fernen Geräuschen schwammen die Töne der
Kindertrompete. Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke
Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das rechte. Die
Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz. Die Glaskugeln standen
reglos.

Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im Salon zog weiße Fäden und
blieb schief hängen. Jürgen sah deutlich den schiefhängenden
Perpendikel. Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben, wie ein
Gefangener, der unter entsichertem Revolver abgeführt wird, ging er in
den Salon, sah blöd auf den funktionierenden Perpendikel.

Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das offene Fenster in das
Wohnzimmer, wo Elisabeth sich langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten?
Oder im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch diese unverständliche
Abneigung gegen das Autofahren hast!“

„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, Herzchen“, sagte er
gähnend. „Übrigens, wenn du willst, können wir auch fahren. Laß euer
Auto kommen ... Auch langweilig!“

„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon seit Donnerstag. Außerdem
noch zwanzig seiner besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen
Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen wir in die
Ausstellung!“

„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“

„Oder sonst jemand besuchen?“

Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge.

„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle zuhause und wissen
nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage
Sonntag ist ... Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal
eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du, aus sechsundzwanzig Meter
Höhe herunterspringt in ein Bassin, das nur vier Meter lang und
hundertfünfzig Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in der
Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich! Das sollte gar nicht
erlaubt werden. Das Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt.
Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt, schlägt es sich
Schulter und Arm vom Körper weg. Aber aufregend wird die Sache sein.
Jedenfalls besser, als hier zu sitzen.“

Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen sah zurück in den
gepflegten Garten, betrachtete das glänzende Messingschild, auf dem nur
‚Kolbenreiher‘ stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr
blickend, wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte.

Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und von dem fünfzehn Meter
hohen Standplatze aus gesprungen und wieder am Seil emporgezogen worden
war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz dicht unter der
Zirkuskuppel, von der aus gesehen die Manege einem am Boden liegenden
Kinderreifen und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich glichen,
erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die Gefahr sogar noch weniger
darin, das schmale Bassin zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das
Mädchen sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf auf dem
Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn sie nicht, im Wasser
angelangt, im entscheidenden Bruchteil der Sekunde blitzschnell die
Drehung zurück zur Wasseroberfläche ausführe.

Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte. Die Akrobatin blickte
hinunter auf den Bleistiftstrich, in den hinein sie sich stürzen mußte,
breitete die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth sah weg.

„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein Sonntagnachmittag kann
ausgefüllt werden“, sagte Jürgen,

während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit die Bibel
aufschlug und Sätze las, die, vor grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr
gelesen, gehört, ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts
sagten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter der
Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten würden und sie vielleicht
ein ganz anderes Gesicht haben werde als sie habe.

Und während der Mädchenkörper in der Luft eine weiche Drehung machte
und, Kopf voran, Hände wie betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen
Fische an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden Musikkapelle
vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte, dem schwarzen Strich und dem
rapid größer werdenden Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit
entgegen, blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr liegende
Land hinaus, das in der Ferne schon von der rötlichen Dämmerung genommen
wurde, und schaukelte plötzlich in sich zusammen.

„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher würden auch sie sich hier
unterhalten und zerstreuen“, sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein,
während die Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem Boden lag.

Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die Tante erholte sich. Um
zehn Uhr lagen alle drei im Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein
frisches Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten herausgestiegen
und in das frische noch nicht hineingeschlüpft war, ließ Jürgen, an die
Gewohnheit gespannt wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel
aufleuchten.

Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben, bekam die Tante noch
Besuch. Auf dem Tablett lagen schon siebenundzwanzig Orangen.
Atembenommen, schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die Tante
hocherfreut für die Früchte gedankt.

Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten bestellt, die
letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende überwand ihre tödliche Schwäche
und richtete sich noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt
das letztemal mit dir, Jürgen.“

„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“

„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine Pflicht getan. An dir,
Jürgen, und überhaupt. Vor allem an dir! Du bist ein geachteter Mann
geworden. Das hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du noch, wie
das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“

Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte seine Blässe und
Verwirrung nicht, schilderte, mühsam stammelnd, wo er hingekommen wäre,
wenn er das, was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe, weiter
verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“

Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf neben sich auf das Kissen,
nahm ihm das Wort ab, daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen
werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in die Hand verspricht, muß
man halten.“

Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit und
Gegenwart stürzten ineinander. Er hörte auch nicht, daß die Tante von
ihren bisher verheimlichten Aktien sprach.

„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen, wenn mein Bankier dazu
rät. Vor allem: Lasse die Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und
lasse nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker kosten Geld.“

„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte Jürgens Mund vom Kissen
weg.

Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer ist viel
höher als die Zinsen, die man für Hypotheken bezahlen muß. Deshalb
belastet man ein Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte sie,
unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in Wertpapieren an und bezahlt
mit den Zinsen die Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine
Grundbesitzsteuer zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“

„Unsere Häuser gehören mir nicht?“

„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar nicht.“ Sie konnte
vor Schwäche nicht mehr sprechen.

Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang ins Zimmer. Jürgen
wollte die Tante beruhigen, war aber so verwirrt, daß er sagte: „Also
mit den Zinsen von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“

„Nein, die Hypothekenzinsen!“

„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen. Weshalb soll ich denn
...“

„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“

„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen, wenn ich Geld und
Wertpapiere besitze, die viel besser ...“

„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante.

Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das Weihrauchfaß
überquerte dreimal das Bett. „Vor der Pforte der Hölle bewahre ihre
Seele. Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo.“

Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als Jürgen, im Gehrock und
schwarz behandschuht, von der Beerdigung zurückkam. Das weiße
Taschentuch in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so am Rande
gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen können, stand er im
Sterbezimmer.

Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt schon eröffnet
worden war, daß die Tante das dreifache an erwartetem Barvermögen
hinterlassen hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in den
Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters Todestag, an die Seelennot,
Unsicherheit, an die Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem
festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart, lächelnd
zurückblickte.

Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher, getroffen von einem
Worte, in Verzweiflung und Leid versetzt durch einen Blick. In
ununterbrochene Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch eine
jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen und nach der Wahrheit,
die es nicht gibt, streift den Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier
sitzt der Mann im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht eine
Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher, vergällt und gestohlen von
der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.

‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen Sackgasse, in der ich
vier Jahre steckte, habe ich wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der
Vater mich sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du schmähliches
Etwas!‘

An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten Hommes, der
ersten Festlichkeit, die Jürgen nach dem ereignislos vergangenen
Trauerjahr besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als
naturalisierter Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in den englischen
Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma gegründet hatte, sich
dem Bankier Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem Feste
für viele der Mittelpunkt war.

„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe nämlich zusammen mit Ihrem
Herrn Bruder das hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß ja
nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“, setzte der Engländer sofort
hinzu, als er Jürgens betroffen fragenden Blick bemerkte, und
entschuldigte sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche
Erinnerung wachgerufen habe.

Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten. „Ich habe keinen Bruder.“

Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm doch nicht spielen;
er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler Kolbenreiher in dem selben
Klassenzimmer gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir. Ein
schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein liebenswerter, ein sehr
gefährdeter Mensch, dachte ich noch oft in späteren Jahren ... Er war
also nicht Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“

Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett,
Champagnertischchen schwankten. Jürgens Gesicht fiel ein, war grau
geworden. „Habe ich mich denn so verändert, so furchtbar verändert, daß
Sie in mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“

„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer. „Das hätte
ich, das allerdings hätte ich nie vermutet. Ich gratuliere, gratuliere
wirklich von Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich
gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht einsam und denkt viel
an die Jugendzeit zurück – habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder
ein ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine große Tat
vollbringen, wenn die Situation das zuläßt – im Krieg und so – oder er
wird zugrunde gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens nur ein
Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen, alle Menschen, sich mit den
Jahren verändern, sich innerlich sozusagen festigen!“

An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er in das Fremdenzimmer des
Herrn Hommes gebracht werden und Elisabeth allein nachhause fahren
mußte. Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa umher, saß er
wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum unterhielten sich zwei
Bankbeamte.

Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft vorbeigekommen.
Das Kind sei gestorben. Aber kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter
geworden.

Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich auf das Kind, stellte
sich vor, wie es aussehen, ob es ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig?
Oder braun? dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten, der seinem
Kollegen genau vorrechnete, wie wenig ihm von seinem Gehalte bleiben
werde, nach Abzug der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“

Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes Mäntelchen. „Heute feiere
ich Abschied von der Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe
nichts. Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein unseres
Glückes.“

Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch. „Extra für heute
gekauft. Leichtsinnig, was? ... Vor diesem Glück habe ich jetzt schon
Angst. Du schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau. Immer mit
der selben! Du siehst sie halb angezogen, unfrisiert, im Schlafrock –
wenn sie einen hat –, ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von
Veilchen und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald dahin. In jeder
Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt man eben außerhalb herum, wie? ...
Aber kann denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt Blumen
kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt sie sich auch noch etwas zu
essen. Das kostet dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich, dem
jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und dem Scheckbuch, dem kann
die Gewohnheit nichts anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner
aber muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von der Jugend.“

Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben, dachte Jürgen
noch in der Straßenbahn, suchte zuhause Elisabeth in allen Räumen und
fand sie endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand saß.
Ihr Leib stand stark vor.

Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die lange Nacht durch, in
den trüben Morgen hinein, bis der Arzt sie von einer toten Frühgeburt
entbunden hatte.

Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch auf dem Tisch. Der
schweißtriefende. Arzt wollte ein letztes Mittel anwenden, die
Entbundene zu retten, da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib.
Ein neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete ein Tuch über die
verwüstete Tote und ließ die Arme sinken, ging hinaus in den
herbstlichen Garten zu Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten
war naß, die Luft kalt.

Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben, Jürgen umwickelte
Rosenstämmchen mit Stroh – sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist
mir doch sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen
abscheulichen Gedanken?“

Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den Blick schneidet,
gleichzeitig mit anderen Gedanken aufgetaucht und wieder verschwunden.
‚Da das Kind tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘

‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch einwandfreie Tatsache
... Kein Mensch hat die Macht, das Entstehen eines Gedankens zu
erzwingen oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten Dachrinne,
von der dicke Tropfen schnell hintereinander herunterfielen, immer auf
die selbe Stelle, wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über einen
Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler holen. „Die Dachrinne
ist leck. Siehst du, dort oben.“

Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Auch
der Schwiegervater redete ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer
Familien. Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch einrichten.
Repräsentieren.

„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen, „faktisch nicht die
Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis und Finanzaktionen des
Bankhauses Wagner und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich in
immer schneller werdendem Tempo.

Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld gesprochen wurde. Und in
Familien, die so reich geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm
galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität und Wohltätigkeit,
Kunst, Mystik, Kultur und Goethe. Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem
Geschmacke. Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge Künstler,
die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche. Und Beklemmung für die
Gäste, die noch nicht so reich waren.

Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel nicht; seine Worte
wurden an dem Herrenabend, den Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in
die Heimatstadt zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von den
Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf Fallen untersucht, wie die
des reichen, leberkranken Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens
Hochzeit gewendet und gewogen worden waren.

Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig gekleidet,
sah viel älter aus, und als könne er von nun an nicht mehr älter werden.
Es schien, als sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem
erreichten Ziele von nun an stationär.

Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an den Meinungen
dieser von ihm weit überholten Fabrikanten und Bankleute, die einzuholen
vor zwanzig Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht, daß
diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten, und sprach
dennoch nicht einen Satz mehr, als die Höflichkeit gebot.

Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf dem Wege zum Ziel,
erfüllt von altem Hasse gegen diese vornehmen Bürgerfamilien, noch
Befriedigung gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte
Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter seiner Heimatstadt zur Frau
wählen werde.

Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen und
Interesselosigkeit entstanden. Außerdem hatte er, wie Jürgen, längst die
Erfahrung gemacht, daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen
war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt.

In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren verwitwet war,
nicht mehr. „Diese Mädchen sind entweder arme Tierchen, nur auf Geld
aus, also erotisch an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig;
oder sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren Damen der
Gesellschaft, die voller Nervenraffinements und zu allem imstande sind“,
hatte er auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal mit in
den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet.

Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in der Hand die Mokkatassen,
abseits, zwischen sich die hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für
die noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich machte,
und Seidel nannte kurz den Grund seines Hierseins. Er sei gezwungen, den
schon eingeleiteten Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute zu
paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern zu organisieren.

Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge schon seit geraumer
Zeit diesen Plan, habe auch schon vorgearbeitet. Ein nicht
unbeträchtlicher Teil der betreffenden Werte ist schon in meinen
Händen.“ Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird reicher und
reicher ... Wozu?“

„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die Hand bekommen. Die
Kohle! Wer sie hat, kontrolliert schließlich die ganze Produktion.“

„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen Tones, zuckend
mit der Schulter, als habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich
sei, was Seidel über ihn wegen des folgenden denken werde, „weshalb
eigentlich ist es nun dein Ziel, die Urprodukte, die Kontrolle über die
ganze Wirtschaft in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten, der
mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche Idee – hinaus über den
Wunsch, persönliche Begierden jeglicher Art stillen zu können, was zu
tun du ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“

Seidel blickte nachdenklich vor sich hin.

„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis, daß geschluckt
wird, wer nicht selbst schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du
welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven Idee nichts zu tun.“

„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über Kohle, Brennstoffe, Erze
wäre der geplante Zusammenschluß eine wesentliche Voraussetzung.“

„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der Konkurrenzjagd von Zeit zu
Zeit ein Krieg und der Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben
naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die moderne Zivilisation
als Plus gegenüberstehe, ist doch ebenfalls keine tragfähige Grundlage
für eine Idee, für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der Mensch
sich abfinden könnte, sondern, scheint mir, nicht mehr als eine
peinliche Mischung von Fatalismus und Zynismus.“

Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte ein flüchtiges
Höflichkeitslächeln und schrieb etwas in sein Notizbuch.

„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du keine Antwort auf meine
Frage?“

Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich still geworden. „Ein
Straßenmädchen ging mit einem Juden ...“

„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in meinem Bodenraum.
Erinnerst du dich? Das sind jetzt zwanzig Jahre her.“

„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe dir die Unterlagen in
die Bank.“

Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das dunkle Brüllen einer
Autohupe in die Stille. „Kenn ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“

„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer Artikel würden wir
kontrollieren, falls die Fusion zustande käme.“ Seidel nannte die
Fabrik, Gesamtzahl und Kursstand der Aktien, von denen die in Frage
stehenden Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden.

Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen Hinterköpfe, denen
gegenüber acht weinrote Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir
könnten für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für die
wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ... Gewiß keine
Kleinigkeit!“

Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes, deutete mit dem Daumen
über die Schulter zurück auf Seidel: „Er hat verdient.“

„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude kommt in ein Bordell ...“

„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los.

Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter dieser chemischen
Fabrik befallen wurden. Es sei sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch
hohe Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen. Diese
Geschichte habe sogar schon auf den Kurs gedrückt.

„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist aber keine Gelbsucht.
Auch alle Schleimhäute entzünden sich. Schwere Augenkrankheiten! Die
Arbeiterinnen bekommen keine Kinder mehr, werden vollkommen steril.“

„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der Fabrikant, der die Villa
voll gotischer Holzplastiken besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“

„No, was sag ich!“

„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte Seidel und schrieb und
las dabei weiter in seinem Notizbuch. „Die Fabrikleitung hat diese
Erfindungen auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung dieser
Schutzapparatur würde riesige Summen verschlingen. Auch wertvolle
Nebenprodukte und Abgase würden durch die Einschaltung dieser
Schutzapparate verlorengehen.“

„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr Wagner beruhigend auf
Jürgens Frage. Und zu Herrn Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm
selber verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“

„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen, weil Schutzapparate
nicht in Betrieb gesetzt werden, ist ein bißchen drückend für
denjenigen, der die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“

Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du zusammen mit mir
wieder einen Bund der Empörer gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er
und zog Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich außerdem
hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht einen Rat geben. Ich möchte –
es leben ja auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt haben;
aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung machen. Säuglingsheim,
Krankenhaus oder ein Kunstmuseum. Meiner Heimatstadt, weißt du!“

Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts nach dem Rauchtischchen;
dennoch fiel er, beinschwach geworden vor eruptivem Lachen, in den
Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und Daumen zusammengepreßt,
als ob er ein Ungeziefer gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für
die Heimatstadt!“

Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper zurückgeworfen,
starrte er, durchschüttert von Lachen, atembenommen Leo Seidel an,
dessen Gesicht so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen
stärker hervortraten, wie damals, da er Jürgen das Nähtischchen seiner
Mutter zum Aufbewahren übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos wird die
ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt
zu sehen.“

„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das ganze Systemchen ist steril
geworden. Wie die Arbeiterinnen, die nicht mehr gebären können ... Für
die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter stieß an die Standuhr,
die metallisch tönte.

An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker. Sechzehn rote
Gesichter drehten sich den beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und
Herr Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“

„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder, die von den
Arbeiterinnen nicht geboren werden können, ich ein Krankenhaus für
diejenigen, die gestorben sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht
bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein Kunstmuseum, von wegen
der Kultur.“

Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein, zog ihn zur Tafel.
Dort legte er die Hand auf Seidels Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo
Seidel, der bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner
Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften
eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger Größe stiften wird ... Aus
... aus Anhänglichkeit.“

Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder zu lachen. Trank.
‚Dieser harte, mächtige Mann – ein kleines Schuftchen, ein winziges
Ungeziefer, das in seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet
werden will ... als Wohltäter!‘

Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der Hand, warf den Kopf in den
Nacken und dann tief zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht;
er sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient haben.“

„No, was sag ich!“

‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke, Knochen, Lungen,
entzündete Maschinengewehre und Schwergeschütze, entzündete Seelen,
eiternde Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit Kapital,
das entstanden ist durch das Systemchen, welches diese planetare
Entzündung verursachte. Das ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und
die Fusion wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die wichtigsten
Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger werden. Und das ist nicht zu
ändern. Es gibt keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich bin
schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘

Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte vergnügt. Stellte
das geleerte Glas auf den Fußboden. ‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder,
diesmal von rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der
Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah plötzlich eine
Riesenebene, auf der Millionen Menschen reglos blickten. Die Gesichter
derer, die am allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren
größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter waren gelb.

„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ... Wollte ja Dolmetscher
in China werden.“

Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel ein Hammer
aus Gummi.




                                  VII


Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste den Rockkragen erreichen
zu können. Wie jeden Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose
an, einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug hineinzudrücken, nahm
den Spazierstock aus Phinchens Hand und verließ pünktlich die Villa. Der
Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke ergraut, half
dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast in den Wagen.

Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem dürftig gekleideten
Manne, dem die Nase fehlte. Außer diesem Arbeiter saß im Wagen ein
kleines Mädchen, das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe
im Katechismus repetierte und immer wieder begann: „Aber Jesus sprach:
Lasset die Kindlein zu mir kommen ...“

Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein Geld.

„Aber Jesus sprach ...“

„Dann müssen Sie aussteigen.“

Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet in Erregung. Er
sei monatelang arbeitslos gewesen. Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme
er zu spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen seines
Lebens sammelten und verwandelten sich in Widerstand und Zorn gegen den
Schaffner.

Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal. „Wie kann einer
einsteigen, wenn er das Fahrgeld nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der
Wagen hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse, verliere ja ich
meine Stelle.“

„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der Mann und schimpfte
los auf die reichen Nichtstuer, die nicht nötig hätten, zu arbeiten.

„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich Wehrenden am Arme packen
und aus dem Wagen hinausdrücken.

„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so großer Angst, die
Hausaufgabe in der Schule nicht hersagen zu können, daß es von der
ganzen Szene nichts bemerkte.

Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei, tief beunruhigt, an
den Traum der letzten Nacht gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des
Schaffners Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten. Automatisch
zog er die Abonnementskarte, in die seine Jugendphotographie eingeklebt
war. ‚Welch ein fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘

Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch einmal ein neues Bild
einkleben. Das sind ja gar nicht mehr Sie.“ Er hielt die Photographie
prüfend von sich weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“

Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes, die aus ungeheurer
Ferne groß und ernst zurückblickten. Das Gesicht des Nasenlosen tauchte
neben dem Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder.

‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt der Hausarzt ... Ist
aber auch dieser entsetzliche Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens
und ohne tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der Fahrt durch
den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz:

Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise umgeben von den
zwölf schwarzgekleideten Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten
Gesellschaftssaales vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück, hebt das
Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken. Der Kopf geht nicht
herunter. Und jetzt erst sieht er, daß er selbst, als Student, am Blocke
kniet und von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen des Lebens,
wie es ist. Gezwungen von den Blicken der zwölf stummen Zeugen, muß
Jürgen noch einige Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen,
bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt. Die Streichmusik
endet.

Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen lebendes Fruchteis. Um
nicht essen zu müssen von diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt
Jürgen sich durch die empört nachblickenden Damen und Herren durch,
flüchtet die Treppe hinunter und stürzt in fliegender Eile durch die
menschenleeren Mondstraßen heimwärts, durch den schimmernden Garten.

Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf in der Mitte des
Bassins, Hände im Rücken gefesselt, symmetrisch umstanden von den zwölf
auf Stangen steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt die
zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe steigt das Blut
als Springbrünnchen empor. Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens
Jünglingskopf, der anstelle der gelben Glaskugel auf der Stange steckt
und die grauenvolle Drohung ausspricht.

„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten Fenstern
schlafen. Auch abends keine schweren Speisen essen. Die verursachen
gleichfalls Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt.

Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße den Katechismus wieder
auf und lernte weiter. Jürgen saß allein im Wagen. Er überlegte, welche
Weisungen er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse.
Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, die
zusammengebissenen Zähne, drehte den Kopf seitwärts und bewegte die
Lippen, als verhandle er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle
erteile, die Jürgen nicht befolgen könne.

Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform trat und mit dem
Schaffner eine Unterhaltung begann, entspannte sich sein Gesicht wieder.

Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre. Er geht spazieren und
muß plötzlich stehenbleiben, hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an
einem Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle, der
sich durch nichts von anderen Laternenpfählen unterscheidet,
vorüberzugehen. Kopf seitwärts gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er
gegen das Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt.

Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich, studiert die
Gesichter der Kunden, unterhält sich mit der Verkäuferin und bittet sie,
ihm sechs besonders hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken.
In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die Antiquitäten und Gemälde
für das Palais aufbewahrt waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres
auf diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel angesammelt.

Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht ertragen, daß auf der
Straße jemand hinter ihm geht. Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben,
interessiert eine Fassade betrachten oder schnell in einen Laden
eintreten.

Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen, wagte Jürgen
schon lange nicht mehr. Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um
und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht in seinem Rücken der
Andere. Und da Jürgen nicht in einen Laden flüchten kann, wirft er sich
zu Boden.

Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten können vor dem
Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht, in menschenleerer Landschaft
unter den unausführbaren Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den
Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll Rechnungen, an einem
Baume lehnt und gedankenversunken die ferne Hügelkette betrachtet, als
dichte oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des Knopffabrikanten
dem Konkurse nahe gewesen.

Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund zu und bittet
flehend den Erschreckenden: „Verkaufe mir deinen Bleistift.“

„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und er will ihm den goldenen
Patentbleistift in die Hand drücken.

„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen zwingt den Schulfreund, die
Banknote zu nehmen, und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein.

Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte die Kurbel heraus.
„Endstation“, sagte der Schaffner zweimal zu Jürgen, der verzerrten
Gesichtes über die Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte.

Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den Chef. Er ahmte die
Stimme des Hausarztes nach: „Abends nur ein paar weichgekochte Eier
essen. Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich dreimal etwas
Brom nehmen.“

Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft Jürgen die Feder in
die Tinte stach, sah er das Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem
Nacken des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener
auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef saß, schon Vater dreier Kinder
war, Sorgenfalten im grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im
Knopfloch trug.

Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung ein Stockwerk
aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues mußte Jürgen mit drei
Angestellten zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und nah,
auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert, geschrien,
gekratzt, gesägt, gehobelt.

In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe.

Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben will, steht auf dem
Pulte anstelle des Tintenfasses ein winziges, lebendiges Herrchen, das
sich höflich verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet, mit
einem feingegliederten Zeigefingerchen.

Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne, taucht die Feder noch
einmal ein. Sticht sie auf den Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß
zusammenschrumpft. Und wie Jürgen schreiben will, steht es wieder
lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen deutet, das
Mündchen lächelt und sagt:

„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum Schweigen gebracht
werden. Ich versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als
neunundneunzig Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele reden,
durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört werden, weil sie sie
schon längst eingetauscht haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben
...“

Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr.

„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die Seele spielend
leicht durch den allerstärksten Schutzwall durchschlüpfen und ihr
vorbestimmtes Recht verlangen kann.“

Das Herrchen legte das Händchen an den Mund, als habe es ein tiefes
Geheimnis zu offenbaren: „Die Seele will fließen. Und fließt unter
Umständen bei gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin,
überzufließen und alles in Verwirrung zu bringen. Denken Sie nur an die
vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt auf dieser Erde. Voll!
Überfüllt! Wer bezahlen kann, kommt in die erste Klasse und kann seine
Seele preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist ja Nebensache,
der Preis nämlich, wenn er auch in unserem Zeitalter bei allem die
Hauptsache ist. Aber verzeihen Sie die Abschweifung.“

Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum Fenster hinaus. „Was
heißt Abschweifung! Das ist eine Halluzination. Nein, es ist nur eine
Sinnestäuschung. Und das nicht einmal, ich habe nur, wie der Arzt sagte,
zu viel gegessen. Oder ich bin übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser
Umbau macht einen ja ganz verrückt.“

Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos, schwarz, breit und
niedrig an seinem Platze. Dennoch ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele
überfließt und spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“

„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem Nervenarzt untersuchen
lassen!“

„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend, das Herrchen.
Es saß auf dem Löschblattbügel, ein Beinchen übergeschlagen, und sah
nicht aus, als ob es bald weggehen würde.

Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel, damit sie sich im
Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen sollten. Er war aus Erfahrung klug
geworden. Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen schwarzen
und einen grünen Schutzärmel tragen zu müssen, wie einmal in seiner
Jugend, da er es unterlassen hatte, den schneller sich abnutzenden
rechten Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln.

Die beiden noch farbig schillernden, eleganten jungen Beamten, die vor
Jürgen an einem Doppelpulte saßen, machten einander mit den Beinen
aufmerksam auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen.

Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse dem Prokuristen, einem
runden Manne, dessen Lippen immer aussahen, als habe er eben eine fette
Speise gegessen.

„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.
Oder sagte ich selbst das?“ Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst
sprach.

„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand anderer als ich sagte:
Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.“

„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe diesen Gedanken in genau
der selben Formulierung vor Jahren einmal ausgesprochen.“

„Wie meinen?“ fragte der Prokurist.

Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr blickende Augen, die einmal
des Verheirateten Nacken, das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß
doppelt sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich; nicht in der
Stirn.“

„Ich bins, der vor sich geht.“

„Und was wird mit mir geschehen?“

„Sie sind nicht mehr vorhanden.“

Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die Bureauwände neigten
sich lautlos auf ihn zu. Er sah die ineinander verschwimmenden
Gegenstände vervielfacht und hatte das mit Übelkeit verbundene
Empfinden, alles Blut vergehe in seinem Körper.

Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in der dicken Hand, richtete
den Haltlosen auf.

„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“

„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie ohne Sorge ... Hier, ein
Schluck Wasser.“

„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ... Vielleicht Orangen. Was
Sie wollen!“

Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren weiß. In seinem
Hinterkopfe klopfte dunkel der Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“,
schrie er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach.

„Das hilft Ihnen nicht mehr.“

„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir aus weiter, weiter Ferne
und doch aus nächster Nähe. Sie klingt wie ein telephonisches
Ferngespräch. Mir ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in
Qualen liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor der
Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten aufblickten, „legen
Sie jede Verkleidung ab.“

Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine Augen; er sah einen Blick,
nicht von Augen entsandt. Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem
ernsten Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte wurde und,
vergehend, weit zurückwich.

Heiß durchzogen und atembenommen starrte er dem vergehenden, ergreifend
ernsten Blicke nach, beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts
gedreht, wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte, das sich so
schnell erhob, daß der Löschblattbügel schaukelte.

„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es blickte auf die Bureauuhr.
„Fünf Minuten vor zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel
ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde auf der Erde
...“ Das Herrchen nannte eine Zahl, die riesengroß und winzig klein in
einem war und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in der
Nachtstille.

„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden. Ich besuche sie alle.
Jeden zu seiner Zeit. Es sind Universitätsprofessoren darunter, die als
Studenten noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen trugen.
Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht haben. Hohe Geistliche,
die in das falsche Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges und
des Ruhmes willen von dem Protest und der Gesinnung weg in den Erfolg
und Ruhm und immer tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die
sich der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr später ein Geschäft
machten, ein Namensschild mit Titel, angeschlagen an der Haustür. Und
Existenzen Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger wurden.
Verruchte Existenzen! Denn sie konnten, kraft naturverliehener Kraft,
sich durch das heucheleidurchwirkte, blutnasse, dicke, dichte Dickicht
dieses Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß die im Zeichen
befreiter Arbeit stehende menschliche Gemeinschaft, in der die Seele ihr
Ich durch den Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber ruhen
kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden und kommenden
Generationen bewahrt bleiben vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn,
vor dem großen Tode!“

‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es nicht behalten‘. „...
Unmöglich! Unmöglich!“ rief er, ohne den Blick vom Stenogrammblock zu
erheben, die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen zu, der einen
Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt sich die Lippen leckte und,
auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend, wieder verschwand.

„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag, ein welkes Blatt,
das vom Baume fällt und bei einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die
Frage auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend mir teuer war?
Die Frage, die zugleich die Antwort und der Beweis ist. Manchmal
schreite ich in ein Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem
Lesenden blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal bin ich ein
Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch kann ich der Umbau eines
Bankgebäudes sein).“

Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem Herrn Bruder? dachte
Jürgen und stenographierte auch diese Erinnerung.

„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im Kampfe gegen die Umwelt
steht und durch ihre Verachtung in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt,
in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal werde ich durch
einen Ton in grauer, leerer Stunde zur Gewissensfrage. Durch den Ton
einer Kindertrompete! Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere einen
Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage des Versinkens in den Ekel
vor sich selbst. Oft bin ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild
an der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in menschenleerer
Landschaft, wo es keine Läden gibt. Ich steige als Weinrausch in das
Herz eines Satten, und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann
einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem Muster, das ich bin,
die Gewissensfrage herauslesen, grauenvoll deutlich. Manchem wird der
Rückblick zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“

Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“

Jürgen schauerte im Rückenmark.

„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten zu können.
Viele ertrinken völlig in ihr und erleiden die Strafe erst in spätem
Alter, wenn sie eines Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres
Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes, mit Achtung,
Gemeinheit, Lüge, Erfolg, Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein,
an einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich selbst sterben.
Auch die feinste Selbstbelügung schützt den Verräter nicht. Keiner kann
in Selbstgerechtigkeit sein Leben beschließen. Dies vermögen nur
diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz entselbstet, enticht,
entseelt werden konnten, sich der Umwelt anpaßten und dafür das Leben,
wie es ist, eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft
hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden zu erkämpfen: das
Bewußtsein.“

„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die Verhältnisse und
größer als meine Begierden die Kraft in mir war, weiter zu kämpfen! Was
ist der Beweis meines Verrates?“

„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es; Ihrem Schwiegervater
fällt dies gar nicht ein. Die Frage enthält schon die Antwort und den
Beweis des Verrates.“

Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft, daß er minutenlang die
Fähigkeit, zu denken, vollkommen verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe
hatte geendet.

Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper richteten sich
auf. Drei Federhalter wurden weggelegt.

Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete sich auf. Vor seinen
Augen schwebten rundum und durcheinander blitzweiße, goldumränderte
Sternchen, als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen wäre.
Eine Fliege glitt auf weißem Papier schnell vom Tintenfaß zum
Löschblattbügel.

„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier oder sechs? ... Da wurde
ich zweiundvierzig Jahre alt und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege
hat. Was bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble seit Stunden
über diesen Unsinn nach. Kann mir doch vollkommen gleichgültig sein“,
sagte er und horchte befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den
die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die Glocken der Trambahnen
läuteten stärker.

„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit sollten Sie
sich einmal neu photographieren lassen. Sie sind zu verändert“, sagte
freundlich der Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück. „Das hier
ist ein junger Mensch, während Sie doch schon in die besten Mannesjahre
kommen.“

Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß, schob den
zusammengerollten Fahrschein unter den Ehering.

Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann mich ja
photographieren lassen, bei Gelegenheit, dachte er, stieg aus. Und ging,
im selben Tempo wie jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa.
Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln zu.

Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den Glaskugeln. Es war ein
grauer Tag. Die Glaskugeln standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten
regte sich nichts.

Der Mantel hing sich von selbst an den Haken. Die bereitstehenden
Hausschuhe schlüpften über Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das
Tischtuch zurecht. Die Schüsseln entleerten sich.

Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem Körper nach. Die Augen
lasen die Mittagszeitung.

Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche Eier zum
Abendessen. Von neun bis zehn Uhr die Abendzeitung. Auf den Rat des
Arztes hin punkt zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag die
gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten Fabrikanten, der die
Sammlung gotischer Plastiken besaß. Montag ins Bureau.

So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages die Abendzeitung
ausblieb.

Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees, zusammen mit Jürgens
wohligem A-Seufzer. Seine Hand griff automatisch nach der Abendzeitung,
die seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische bereit gelegen
war, und griff in die Leere.

Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen nach Phinchen vorerst
noch einmal schloß. „Wo ist das Abendblatt?“

„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“

„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen. Das Blatt wurde nicht
eingeworfen, wie? Du hast nichts gehört?“

„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau ist wahrscheinlich
am Hause vorübergegangen.“

„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“

„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen. Ging am Hause
vorüber.“ Als er das Wort ‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das
Gähnen zu verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß das Wort in
mehrere Laute getrennt wurde. Dieses Geräusch erinnerte ihn an das
Geräusch, das der leerlaufende Motor verursacht, wenn die Trambahn hält.
(Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte zurück.)

‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei Gelegenheit ... Den
Fahrschein zusammengerollt unter den Ehering zu schieben, ist übrigens
ganz praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur kommt.‘ Seine
Hand griff nach dem Abendblatt. „... Ah so!“

Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen hatte, auszufüllen, indem
er das linke Bein über das rechte schlug und heiter zu summen begann.
Sobald er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz, endlos.

Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die Fabrikantensöhne und
-töchter Huhn und Rotwein genossen hatten, schob sich in das Loch,
verschwand wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und zehn Uhr, in
der Welt alles vor sich geht ... Gewiß sehr viel.

Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf die harte Sofalehne,
dann auf das weiche Kissen. Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht
seinen Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf sich herum.
Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen.

Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu liegen und eine Stunde zu
pfeifen, von solchem Grauen gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem
Munde, versteinert die Decke anstarrte.

„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen, dann könnte ich mich
zerstreuen. Zerstreuen ... Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder
ins Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper. Andere gehen in
ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe, zum Kegeln, spielen Karten
... Das ist eine Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff
wieder.

„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder – Sie wissen schon: die
leben, wenn sie kegeln.“

Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen glaubte zu fühlen und zu
sehen, wie hinter seiner Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage
entstanden: „Wer hat das gesagt?“

Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins totenstille Zimmer
hinein: „Wer hat das gesagt? Wer?“

Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen Pfiff den
Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die Amsel? Wer hat das gesagt?“

Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine auf die Tischplatte.
Und Jürgen, Oberkörper lauernd vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt,
flüsterte: „Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen das
Faustinnere.

Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das Interesse, zu erfahren,
wieviel Beine sie hat, der Frage, was ihn noch retten könne.

„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden wahnsinnig werden.“

Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken. „Wahnsinnig?
Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt,
ich würde wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt. Wer hat das
gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich
will die Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die Abendzeitung!
Die Abendzeitung!“ Wut entstellte sein Gesicht.

„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“

Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend, Phinchen ein und zog die
Wanduhr auf: Die zwei Bleigewichte berührten den Rand des
Ziffernblattes.

„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen, als Phinchen wieder
draußen war. „Ich brauche gar nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und
morgen abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die Gewichte hängen
unten. Dann ist ein Tag vorbei. Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen
um halb zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist wieder ein Tag
vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen ...“

„Und dann ist das Leben vorbei.“

„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre ich morgen ins Bureau
und übermorgen. Und dann kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der
Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde reicher und reicher.
Die Jahre vergehen ...“

Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach dem Ziele, die Frage nach
der Idee, nach dem Zwecke, für den zu arbeiten und zu kämpfen sein
Lebensinhalt sei.

Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und leer. Er wartete.
Lange.

„Aber ich bin ein geachteter Mann.“

„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche Katastrophe.“

„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen. Jetzt will ich erst
einmal Bilanz machen. Dann werde ich überlegen, was zu tun ist. Ich will
methodisch vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter und
wissender, kultivierter als die meisten und imstande, mir jeden Genuß,
den das Leben bietet, zu verschaffen.“

„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern von Jugend an als
Ziel vorschwebt und zum Sarg wird für diejenigen, die das Ziel erreicht
haben. Was also ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“

„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im Gegenteil; ein Zehntel
der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke gegeben habe, würde genügen,
daß ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern ein vollkommen
sorgenloses Leben in eigenem Hause führen und selbst in kleinerem
Ausmaße wohltätig sein könnten.“

„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher die große Achtung, die
Sie genießen und vor sich selbst haben.“

„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt Nebensache, die Achtung.“

„Nee, die ist mit die Hauptsache.“

Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit der Hand. „Nun, wenn
Sie wollen, ich pfeife auf die Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der
selben Linie weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher und
in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“

„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung in den drei
Worten besteht: Jeder für sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr
Bewußtsein sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung
des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen vermöchten, auch wenn
Sie, weiterschreitend auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann
des Landes werden würden.“

„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem ziellosen Wege.“

„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht. Ich! Ich lasse nicht
zu, daß Sie in dem bisherigen Trott weitermachen. Sie selbst können gar
nicht mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine
Willensmaske.“

Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit einiger Zeit führe ich
fortwährend Selbstgespräche. Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen
Selbstgespräche.“

„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“

Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß ich ohne Ziel, ohne
Idee, ohne Zweck nicht weiterleben kann. Das halte ich nicht aus. Ich
halte diesen Zustand einfach nicht mehr aus.“

„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet. Der hält diesen
Zustand sehr gut aus. Denn sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer
noch mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei. Fragt sich
nur, ob diese seine Gesundheit nicht die Krankheit ist, an der die
Menschheit zugrunde geht.“

„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde geht, scheint mir gar
keine Frage mehr zu sein. Ich habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos
einen richtigen Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit, daß
trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar keinen Menschen gibt, der
ohne Ideal zu leben vermöchte. Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei
er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein Ideal, und wenn
es auch nur Selbstbelügung ist. Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“

Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch seitwärts, wie
einer, der sich vergewissern will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam
richtete er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur Faust. Auf
der Stirn entstand die Energiefalte. So saß er, reglos, alle Muskeln
gespannt, plötzlich ganz erfüllt von dem Entschlusse, mit der
Niederschrift seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft
und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist meine Rettung.“ Freude rötete
sein Gesicht.

Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden Wand ein
winziges, höhnisches Lächeln.

Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu meinem kleinen
Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis der Menschheit dienen können,
dachte er, schielte zur Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln
hing.

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr tönendes, tiefes Gefasel
über Moral, Gerechtigkeit, Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die
Volkswirtschaft nicht zulassen, sondern während der Niederschrift mit
einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer wieder darauf hinweisen werde,
daß es sich um die Moral und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse,
der Nutznießer des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes
handelt, welches den entscheidenden mörderischen Einfluß hat auf das
Wesen und das Sein, das Kranksein und das Nichtsein auch der
Einzelseele.“

Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend umher. Schlaff
geworden, sank er in die Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich
sehne mich so sehr danach.“

„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus
bringen wird.“

„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich fühle ...“

„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor- noch rückwärts.“

„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich werde wahnsinnig.“

„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“

„Eingekreist?“

„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn Jahre waren,
können Sie nicht länger mehr sein; so, wie Sie als Kämpfender waren,
nicht mehr werden. Sie sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr
Sie.“

„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“

„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“

„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen ist?“

„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung und habe auch aus dem
Trambahnschaffner herausgesprochen. Der sogenannte normale Bürgersmann
hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar nicht mehr Sie‘ nur
heraus, daß sein Bart länger oder grauer geworden ist.“

„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen haben,
dann habe ja ich selbst aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen und
zugleich als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine? Ihre? Oder meine?
Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“

„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die der Trambahnschaffner, aus
dem ich sprach, gesprochen hat.“

Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer denkt das alles? Ich Will
wissen, wer da denkt.“

„Ihr Bewußtsein.“

„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre Stimmen.“

„Wahnsinnige hören Stimmen.“

„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig! Ich bin der Bankier
Jürgen Kolbenreiher. Und ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu
gehen, brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor vierzehn Jahren
abgebrochen habe, dann werde ich wieder ein Ziel haben, werde
hingebungsvoll kämpfen, und alles wird gut sein.“

„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus
bringen wird.“

„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der Schrift.“ Jürgen
lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht. Im Nachbargarten ertönte eine
Lachsalve.

„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu anfangen. Auf der Stelle!
Vor allem: ich gehe nicht mehr in die Bank. Schluß!“

Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was der Strom der Gefühle ihm
zuerst bringen werde:

Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug stieg lautlos empor.
Angestellte eilten durch die Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist
verbeugte sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme.

Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des Bankgebäudes, schob er das
ganze Geschäft von sich weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau
des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine, die zu Jürgen
in die Villa gekommen und von ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt,
wie damals, den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie sich
entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den Kopf.

Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte nur noch einen
schwierigen Stoß zu machen. Der gelang ihm. Er hatte die Partie
gewonnen. Der Freund mußte bezahlen.

Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante Partie“, flüsterte
er erfreut und machte seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße
vor.

Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß, wurden zu den farbigen
Glaskugeln. Erst als er im roten Ball seinen abgeschlagenen
Studentenkopf erkannte, der lächelte, so daß nicht ein Billardball,
sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das grüne Tuch hopste,
ließ er das Queue sinken.

In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der Vergangenheit. Er
empfand nichts, ließ sich, gebrochen und ergeben, in den Sessel sinken.
‚Ich gehe eben morgen wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig
Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“

Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere zu füllen, stieß er
starke Worte aus: „Blutig ans Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder
...! Sturm! Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos:
„Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“

„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch Apfelknecht! Jetzt erst
recht: Apfelknecht! Apfelknecht! Apfelknecht!“

Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch in den Salon.
Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten Kohlenkasten, auf den die
heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem
gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen mit den drei
Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, schwang der Perpendikel hin und her.

Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt er zur Uhr und riß mit
einem Ruck den Perpendikel heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das
Springbrunnenbassin. Die Amsel zuckte aus dem Garten hinaus. „Das wäre
das“, frohlockte er, hob die meterhohe Vase über den Kopf empor und
schmetterte sie zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die Fenster
klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung. Rückte den schweren
Eichenholzschrank von der Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“,
sagte er ratlos und schob den Schrank wieder zurück.

Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich berührt und ließ sich
führen, hinauf in das Zimmerchen, das er als Kind und Jüngling bewohnt
hatte. In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem
Abiturientenexamen die Tante ihm mit den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn
ich tot bin, bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer, in der seit
vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen war.

Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch, oval gerahmt und
symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien
der Familie Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt die
Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen. Die Luft war stockig
wie in einer Totenkammer.

Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief erschüttert von dem
Besuche bei seiner Jugend, atembenommen die verblaßten Wände an und
seinen riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch, sich wie ein
Jüngling zu benehmen, räumte, durchbebt von innerlichem Weinen, die
Bücher heraus, ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger am
gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen Reise ins Erdinnere‘ zum
Kanapee. Ein irr-schlaues Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal,
zog mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze herum, zwei
Zentimeter unter dem Docht, und begann zu lesen.

„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“

Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und mitleidig geklungen.
„Das hilft mir nicht“, flüsterte er weinend. „Das hilft mir nicht.“

Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück Land, entzweigespalten
durch einen gewaltigen Abgrund. Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In
deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen. Alle
Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten Jürgens schritten auf das
gelbe Schächtelchen zu, in dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen
stand das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei und
verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen, stießen einander weg,
verbeugten sich.

Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde Wiese. Darauf weidet
ruhig ein altes Pferd. Weiter rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo
sie mit dem Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung, Ziele,
feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die unter Hingabe ihres Lebens
sich bemühen, das Pferd, das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund
weg zu den Bürgern zu schaffen.

„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem unheimlichen Grunde ist es
den Jünglingen ganz unmöglich, das Pferd über den Abgrund
herüberzuschaffen“, sagte Jürgen.

Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen zu entleeren
und eine Banknote hineinzulegen. Er stellte das Schächtelchen auf den
Fußboden, verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben, sprang er in
gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen herum. Die Villa zitterte.
Jürgen keuchte und schwitzte, verbeugte sich, rannte weiter im Kreise.

Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit beendete sofort den Tanz.
„Schlafen“, sagte er, verzerrten Gesichtes gähnend und keuchend in
einem. Griff nach dem Leuchter.

Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre. Sein Kopf war frei.
„Ich muß die Kammer einmal gründlich durchlüften lassen“, sagte er und
ging in das Schlafzimmer.

Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das Bureau.

Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben hatte, hörte
er mitten im Worte auf. „Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ...
Aber ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte ich das nicht
aus?“

„Weder – noch!“

Da wurden die drei Beamten von einem Knall in die Höhe gerissen: Jürgen
hatte das Tintenfaß durch das zerbrechende Fenster hinunter in den
Lichthof geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an der Stirn
herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge vorbei, über die dicke Backe.

„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen ja die Zwangsjacke an.
Nun sind Sie selbst aber schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie
würden also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen bekommen.
Bedenken Sie, welch entsetzliche Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte
vorwurfsvoll und dabei sehr milde geklungen.

„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“, sagte Jürgen und
griff nach seinem Hute. Die zwei jungen Beamten machten unabgewandten
Blickes mit den Beinen einander aufmerksam.

Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden Macht wurde Jürgen
durch die Straßen geschoben zum Nervenarzt.

Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die Sessellehnen gestützt,
daß die gefalteten Hände und das Kinn vor der Brust zusammentrafen,
hörte der schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und Jürgen empfand
Dankbarkeit diesem Manne gegenüber, der offenbar alles schon zu wissen
schien und sich dennoch alles erzählen ließ.

„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein abschließendes,
vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht, vor, griff nach Jürgens Puls.
Der Sprungdeckel des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden
Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen blickten zur Decke.

Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus schwarzem Marmor und
schüttelte verneinend und mitleidig das Köpfchen.

„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge heraus.

„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich sage es Ihnen auf
den Kopf zu, täglich Suppe gegessen, Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“

„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt mir geraten.“

Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren körperlichen Zustand.
Und was Ihren seelischen Zustand betrifft, über den, wie Sie sich
ausdrückten, Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist dazu zu
sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, einen seelischen
Zustand in Ihrem Sinne gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil
es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen Sie, eine Seele,
in dem Sinne, wie Sie sie auffassen, nicht gibt.“

Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen: Sehen Sie, so
einfach ist diese Sache, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet.

„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper, angefangen bei dem mit
Vernunft und Bewußtsein bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem
Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den Esel, den Hund, den
Wurm, die Schnake, die Laus (wenn Sie gestatten), die Pflanze und den
leblosen Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und wir, aus
Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft aufgebaut und bis in
die letzten Winkel durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos,
in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie sie auffassen,
keinen Raum mehr hat.“

Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß, das schwarz und
glänzend auf seinem Platze stand.

„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter Patient; anderen
gegenüber würde ich mich zu solchen Erklärungen nicht herbeilassen.
Repetieren wir: Es gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und
zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von denen die
höchstentwickelte Verdichtung der Mensch ist. Wir haben es demnach nicht
mit der Zweiteilung ‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen
behauptet ...“

„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte das Herrchen.

„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von Vernunft bewegt wird, und
zwar von der Zentralstation aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher,
sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken Sie sich das, und eine
Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft, Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht,
wie Sie mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der Straße
spazierengehen, einen Separatspaziergang machen oder Sie besuchen und,
sagen wir: ein Bankkonto besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer
Vernunft ein Bankkonto.“

„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein verloren.“

Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder deichseln. Sie sind
Bankier. Sie machen sich nützlich. Dienen durch Ihre Leistung der
Allgemeinheit. Das sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings
vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine Eierspeisen. Vor
dem Schlafengehen kalte Waschungen und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas
Brom ... Ordnung. Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine hübsche
Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben. Freuen Sie sich, daß es diese
dunkle Kalamität ‚Seele‘ in Ihrem Sinne nicht gibt.“

Auch das Frackherrchen erhob sich.

„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend deutete Jürgen auf das
Tintenfaß.

Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“

„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich. Eine Kleinigkeit! Nur zwei
Buchstaben: I–ch. Nicht der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das
Herrchen.

Und der Arzt: „Nun, was ist das?“

„Das ist ein Tintenfaß.“

„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“

Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen.

„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“

Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater, erzählte ihm
alles, auch alles, was der Professor gesagt hatte. „Aber diese ganze
Auffassung ...“

„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen Seelenforschung, ist die
Auffassung des Herrn Kollegen etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher,
die Behandlung dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen. Wir
müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen. Erst, nachdem die schweren,
von Ihnen total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“

Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf, Herr Doktor.“

„Wie meinen?“

„Ich habe nichts gesagt.“

„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit sind, Ihnen
vollkommen bewußt geworden sein werden und Sie sie mit der
Kritikfähigkeit des Verstandes eines Zweiundvierzigjährigen ...“

„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine zu nennen, im Traume dem
Vater ins Gesicht gelacht hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte
in seiner Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und an den
Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht mehr die in Kindheit und
Jugend empfangenen Wunden verantwortlich machen.“

„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen Sie das nicht.“

„Was?“ fragte Jürgen.

„Was Sie eben sagten.“

„Ich habe nichts gesagt.“

Das Frackherrchen lächelte.

Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug auf die
Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer Meinung.“

„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“

„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“

„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres sagen.“

„Was?“

„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“

„Steckenpferd!“

Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte das Wort ‚Steckenpferd‘.
„...erlebnisse, vor allem natürlich die sexuellen ...“

„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen aus Jürgens
Munde. „Guten Tag, Herr Doktor.“

Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre gesessen hatte, platzten
mit Geschrei die Jünglinge. Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter.
Biegsame, junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben schräg
entgegengestreckt.

„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen gehen.“ Weshalb das
Erblicken der Gymnasiasten ihn veranlaßte, zum Photographen zu gehen,
hätte Jürgen nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung
und folgte der einladenden Photographenhand.

Während er vor der Linse saß, betrachtete er die lebensgroßen
Brustbilder, deren tote Augen auf ihn zurückblickten. „Ob man diese
Jugendphotographie wohl auch vergrößern kann?“

Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis, das Jürgen
darstellte, wie er im Garten am Nußbaum lehnte, unter dem die Tante
gehäkelt hatte. „Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“

„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch mit den Beinen?“

„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht. Aber es ist zu
machen ... O, das kommt vielfach vor, daß die Herrschaften sich
vergrößern lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will man
vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam Herr Geheimrat Lenz – sehr
berühmter Mann, wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung nach
seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht mehr zu erkennen! Kein Mensch
würde glauben, daß Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und
dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz. Er ist, gemessen am
griechischen Schönheitsideal, zu dick geworden ... Zu sehen, wie man
früher war, macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt,
sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen von Jugendbildern aus. Aber
sie haben gewissermaßen etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist das
richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“

Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich kalt ab, schlief
fest, träumte schwer, wußte am Morgen nicht mehr, was er geträumt hatte,
erschien pünktlich im Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt.

Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen stehen, berührte mit
seinem Spazierstockgriff die Brust des Partners, der nicht da war, und
erklärte: „Die Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging
weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände gestikulierten. Er
blieb stehen. Lachte. „Das war ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“,
sagte der Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus. „Sehen
Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“

„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst und zog den Kopf
ein, schwieg.

Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues Gespräch. Der Partner
konnte ein fremder Mensch sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank
gesprochen, ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst
verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs nur sekundenlang der
Partner des zweiundvierzigjährigen Jürgen. Denn Jürgen versah den
Studenten sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf, zog ihm
einen Pelzmantel an, so daß er an einen fremden Herrn seine Worte
richten konnte. Aber späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich
gegen die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen, wurde
gedankenschnell zum Studenten und erklärte mit ruhiger Stimme dem
Zweiundvierzigjährigen: „Sie sind ein ganz niederträchtiges,
verräterisches Nichts.“

„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“

Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf die das Hinterteil
aufgenäht war in Breechesschwung, wies genau nach, weshalb Jürgen ein
Nichts sei, hielt eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen
hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart
weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und Zielen.

„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht das Recht, so zu
sprechen. Sie haben dieses Recht verwirkt.“

Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen Vollbart wachsen. Aber
als er ins Wohnzimmer trat, erblickte er den Studenten, der lebensgroß
an der Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen. Und ungeheuer
gegenwärtig.

„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte den Spazierstock in
die Ecke und sich selbst vor das Bild. „Du gefällst mir ... Je, je,
weshalb denn gar so ernst! Schlechte Geschäfte?“

Die Photographie antwortete nicht.

„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht mehr vorkommen.“ Er
schritt zur Tür, wollte Phinchen rufen und ihr das Bild zeigen.

„Sind nicht vorhanden.“

„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt; ganz deutlich
hatte er die drei Worte gehört, die laut und tonlos gesprochen worden
waren. Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand. Auf den
Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück, wiederholte gedankenverloren:
„Wer? Wer ist nicht vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen.

„Sie sind nicht vorhanden.“

Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in den Hüften, wieder
knapp vor das Bild hin. „Nein, Sie, mein Lieber, Sie sind nicht
vorhanden. Sie sind ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“

„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete mit dem Zeigefinger auf
Jürgens Brust: „Sie dagegen nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber
ich habe mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar nicht mehr
vorhanden.“

Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie und stellte sie mit
der Bildseite gegen die Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als
Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück.

Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt, zu, wie das Bild auf
der Papprückwand erschien, und hörte die bekannten Worte: „Ich
versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig
Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele schmusen, in gar
keiner Weise mehr von ihrer Seele gestört werden, so wahr ist es, daß
bei gewissen Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend leicht
durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht
verlangen kann.“ Die Photographielippen hatten sichtbar die Worte
geformt.

„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen, stürzte hinaus, zerrte
Phinchen vor das Bild. „Dreh es um! ... Wer ist das?“

„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen bekam vor Rührung
nasse Augen.

„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“

„Wie Sie jung waren.“

„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“

„Ja, wie Sie früher waren.“

„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“

„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine Photographie.“

„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein Nichts.“

Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag mir, Phinchen, hast du
ihn sprechen hören, den da drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts
wissen.“

Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild hin. „Hör mal, du
bist nichts als eine Photographie und kostest mich soundso viel. Mit
Rahmen ... Hier ist die Rechnung.“

„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten haben, und koste Ihnen
den Verstand.“

„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad, duschte sich
minutenlang kalt ab, schluckte Brom und legte sich ins Bett.

Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer. Lebensgroß. Jürgen saß
aufrecht im Bett und glotzte durch sechs Wände durch auf die
Photographie.

„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen Blick photographieren? Ob
wohl mein Blick von damals auch mitphotographiert, ganz genau, wie er
war, mitphotographiert worden ist? ... Und das, was hinter dem Blicke
ist? Was hinter einem Jünglingsblicke ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur
Hingabe, die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch meine Seele
mitphotographiert?“

Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als große Frage an das Leben
in den Augen stand.

Ohne die photographierte Frage an das Leben aus den Augen zu lassen,
legte er den Kopf langsam und sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im
Schlafe war nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei
photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare trafen sich
stundenlang, bis dieses lautlose Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem
Schlafe hob.

Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins Wohnzimmer, vor das Bild
hin. „Und wenn ich nun“, sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen,
„mich in den Rahmen stelle?“

Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. Eine Weile blieb er
vollkommen reglos im Rahmen stehen und starrte wild auf den
gegenüberstehenden Jüngling.

Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang Jürgen, wieder aus dem
Rahmen herauszutreten. Überwältigt von der Unerbittlichkeit des
Jünglingsblickes, brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir lebt das
ewig unverrückbare Ziel.“

Die Kerze in der einen, die Photographie in der andern Hand, stieg er
hinauf in das Zimmerchen, das er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das
Bild an die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte und fortgehen
wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten Gefühlen ein Strom von
Hilfsbereitschaft auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein
Lebenlang stehen.“

Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte ab, nach vorne, daß es
einen rechten Winkel bildete, dann bei den Knien nach rückwärts und
setzte die Photographie auf das Kanapee.

Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im Schlafzimmer an. Und
hatte, wie er stöhnend und wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das
von Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich getrennt zu
sein von sich, von seiner Jugend, die im modrigen Studentenzimmer auf
dem Kanapee saß.

Andern Tages wollte er auf der Straße schon den Hut ziehen vor Herrn
Fabrikbesitzer Hommes, der grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen,
Hand auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man mich nicht? Bin ich
unsichtbar? ... Ich bin doch aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn,
Hände.“ Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, preßte das
Gelenk.

Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen: die umfassende Hand
war zur Faust geworden: kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte
er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur Faust.

„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen. „Überhaupt nicht
mehr?“ Er pfiff bedeutsam. „Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht
mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht einmal? Ein glattes
Nichts?“

Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die Spitze hinein in seinen
Schenkel, wollte vor Freude über den Schmerz schon einen Triumphschrei
ausstoßen. Und fühlte nichts.

Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der Wunde herum, fühlte
nichts.

Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter Körper nachhause und
legte sich auf das Kanapee.

„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in die Küche und Phinchen
sieht mich nicht?“

Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der Bankdiener im Zimmer.
Der Herr Prokurist lasse fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht
ins Bureau komme.

„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn fragen? Wissen Sie denn,
wo Herr Kolbenreiher sich momentan aufhält?“

Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin nicht vorhanden, nicht
anwesend, ich bin nicht da, kann also auch nicht in die Bank kommen.“

„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher seien verreist.“

„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht bin ich nur
verreist. Einfach verreist! Nach Italien! Paris! So wirds sein.“

Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen vor. Er stürzte in die
Küche. „Hilf mir, Phinchen, rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die
Welt ist groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell den
Diener zurück.“

Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder in das Zimmer führte:
„Besorgen Sie mir einen Reisepaß. Aber auf den Namen Jürgen
Kolbenreiher!“ Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen,
merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst es bin.“

„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und ging. Phinchen weinte.

„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, sein Vermögen zu
verlieren, aber sich selbst zu verlieren erträgt kein Mensch.“

„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel, das Vermögen zu
verlieren, ertragen sie nicht. Und aus diesem einfachen und unheimlichen
Grunde ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die sind
nicht vorhanden und haben davon nicht die leiseste Ahnung.“

Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an die Schläfen, noch einmal
zu kontrollieren, ob sein Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen.
Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen Schrei aus. Und lag
leichenstill bis in die Nacht hinein. Der Reisepaß war schon gebracht
worden.

Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich nichts. Der volle Mond
hing am Himmel. Jürgen schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später
durch den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den Türpfosten, an den
er die Tafel ‚Hier wird Armen gegeben‘ angebracht hatte, und las:

„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben vermag, erhält
jede gewünschte Summe. Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit,
Bewußtsein und Hingabe gekauft.“

Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte seinen Reisekoffer,
wusch sich, kleidete sich um.

Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, vor den mannshohen
Ankleidespiegel. Die Hand am Schalter, wartete er erst einige Sekunden,
bevor er das Licht andrehte.

Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie vor Freude, hob dabei
den linken Arm.

Das Spiegelbild hob den Arm nicht.

Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen stand, der, in knapp
sitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern, Brust und
Blick, die Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der Jürgen,
den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu erstrebendes Ziel in den
grünen Bretterzaun hineingesehen hatte.

Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt Grimassen, ballte die
Fäuste. Das Frackherrspiegelbild rührte sich nicht. Das Entsetzen war
ungeheuer.

Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige Sekunden, drehte an,
stierte in den Spiegel.

Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den Knopf.

Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet hatte, trat sofort
ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. Ob sie ihn sehe?

Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im Spiegel stehe. Sein
wütendes Fragen und ihr jammervolles Deuten dauerten so lange, bis
Jürgen, durchblitzt von einem letzten Rettungsgedanken, langsam sagte:
„Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins Bett lege, dann muß ich doch
fühlen, daß ich bin. Denn dies, es ist das starke Gefühl.“

Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit.

„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja keine Arme zum Umarmen ...
Weißt du, Phinchen, die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen
Gefühl bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann finde ich ihn auch.
Geh, Phinchen, geh!“

Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen Schlafzimmer.

Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der Antiquitätenhändler, der in
der Hauptstraße des Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens
Zettel zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege in die Schule,
Milch- und Semmelausträger sammelten sich an. Der Antiquitätenhändler
machte einen Witz über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis zu
Jürgen hinauf.

Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine Gefühle nicht
verkaufen, sondern sie nur gegen andere Gefühle eintauschen wollte.

„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte den Fremden bei der
Schulter, „ich gebe Ihnen mein gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl,
gegen ein Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten Hinweis auf
ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein! Ich bitte Sie.“

„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe gegen Hingabe!“

Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei Mietskasernen, meinen
ganzen Aktienbesitz, meine Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles
will ich Ihnen geben und will dafür nur mich.“

Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter. Das klang wie fernes
Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler witzelte: „Ankauf gut erhaltener
Ideale. Stil Louis XVI.“

Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel. „Da ist etwas nicht
in Ordnung“, sagte er und klinkte die Gartentür auf.

Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm seinen Koffer, stürzte
die Vordertreppe hinunter und davon.

Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als gelte es, ein Rennen zu
gewinnen – zum Bahnhof. „Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“

Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das Billettregal.

„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“

„Wohin also?“

„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –, wissen Sie vielleicht
zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher momentan in Berlin oder in Wien ist?“

„Wie meinen?“

„In London oder Madrid?“

„Was? Wer? Was wollen Sie?“

„Um Himmels willen – in New York?“

Der Schalterbeamte starrte wütend.

Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie das nicht! Auch Sie können
nicht wissen, wo und was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in
der südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube
Norddeutschlands, die Sie nie betreten haben. Oder sitzen Sie in
hunderttausend Schalterkästen gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie.
Kommen Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten werden Sie sich nie
finden. Oder glauben Sie gar, Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit
mir durch dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten. Denn hier
kannst du dich bis an das Ende deines Lebens niemals finden. Suche dich
... Suchet, so werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir Armen
ist nicht einmal das Suchen verstattet.“

Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg. Die Abfahrt eines
Zuges wurde ausgerufen. Jürgen sprang in ein Abteil dritter Klasse.

Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm gegenübersaß, sagte er
noch, er suche, was jeder Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und
schlief ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er heftig mit
jemand.

Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst eine Weile mitleidig
und unschlüssig das zerklüftete Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre
Wolldecke vorsichtig über seine Knie zu breiten.




                                  VIII


Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen, von neugierigen Nachbarn
befragt über das scheue Verhalten Jürgens in der letzten Zeit,
verweigerte jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame
Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen könnten, nicht aufkommen zu
lassen, sprach von einer wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und
wortkarg, als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort
Riesenverluste für die Bank bedeuten.

Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom gesehen – nannte Tag
und Stunde – und zwei Tage später noch einmal in der Halle des selben
Hotels, leider nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders
dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende Auto
zugeschritten sei.

Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und schwieg auch dann noch,
leise zwinkernd, als ein Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd
behauptete, das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden
Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau sich mit Jürgen
unterhalten und persönlich ihm eine große Summe gegen einen Scheck des
Hauses Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war am ...“

„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides stimmt. Es gibt Fälle, meine
Herren, wo die Geschäftskonstellation unsereinen zwingt, schneller als
eine Schwalbe zu sein.“

Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch einer kommt und
behauptet, er habe ihn um die selbe Zeit in London gesehen? dachte Herr
Wagner,

während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt, überdacht von
einem rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der
südlichen Hafenstadt in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren
als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte.

Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette Fliegen von den
blumengeschmückten, weißgedeckten Tischchen. Gegenüber schliefen zwei
braungebrannte Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des
Palastes.

„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen Kolbenreiher im Hause?“

Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich selbst und schlug dabei
mit der Serviette heftig in die Luft nach einer großen Bremse. „Ich
werde sofort nachsehen.“

Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher noch im Munde,
im kühlen Hausflur stehen, zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande
stand, fragend und verneinend beide Handflächen und deutete plötzlich
und schwungvoll mit beiden Händen einladend flurwärts.

„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7, mit Aussicht auf den
Hafen, frei? ... Dieses Zimmer nämlich hätte er genommen“, sagte er beim
Hinaufgehen. Und erkannte sofort den geblumten Überzug der Ottomane
wieder.

Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals, Jürgen mit
Elisabeth in der Halle eines Pariser Hotels stehen. ‚Das bin ja gar
nicht ich. Das ist ein ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn
ich wenigstens nur den finden würde, der hier in diesem Zimmer gesessen
hatte. Denn auch der wußte, daß der in Paris herumlebende Schuft nicht
Jürgen war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘

„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt er nicht?“

„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“

„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie mir – aber denken Sie
scharf nach –: ist Herr Jürgen Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in
der letzten Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der vor
vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer gewohnt hat mit seiner
Frau! Mit einem Fisch! Sie erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen.
Kühl! Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht ...
Er bezahlte damals – ich erinnere mich genau –, da er anderes Geld nicht
hatte, Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“

„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der Herr ist damals gleich
abgereist und seither nicht mehr hier gewesen.“

„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und reiste ab. Mit dem
ersten Zuge, der ausgerufen wurde. Endstation Berlin.

Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und zielbewußt
Auseinanderstrebenden mitgerissen durch die Berliner Bahnhofshalle und
hinausgestellt auf den Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer,
schnelle Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und verharrte
reglos: eine Achse, um die herum das Leben der flachen Stadt sauste.

Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster Straßen, stand
der Schutzmann, das Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend
erhoben.

„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung! Welche Richtung führt zu
mir?“ fragte er den Schutzmann.

Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“

„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen, auf diese Weise nähern
die Menschen sich, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen,
nicht um einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich, ah, glauben
Sie mir ...“

Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens Worten, die Hand
erhoben, senkte sie: Zeitbesessene Menschengruppen, Straßenbahnen,
überfüllte, dunkelbrüllende Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen
das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf, schwemmten Jürgen
mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher Zuversicht im Antlitz, mitten auf
dem Fahrdamm schritt.

Autos, von rückwärts und von vorne kommend, sausten auf ihn zu und,
sekündlich ausweichend, in unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht
handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure glotzten wütend,
schimpften, waren weg. Passanten staunten.

Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar? Luft? Nicht
vorhanden? Autos fahren durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten
zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen stieß ihn
weiter.

Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde gleich, rannten, von
der Straße weg, eine Treppe hinunter, rissen Jürgen mit, hinab in das
mit Reklamebildern austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten
bebende Maschine.

Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend, in Gedanken schon
bei ihrer Zielstation angelangt waren, sauste Jürgen unter der Stadt
durch, flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr: „Alles rennt
und hetzt, hin und her, kreuz und quer, Tag und Jahr. Komisch und
bedeutsam! Denn – denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke werden
aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu Wechselstuben. Dies, ich sage
Ihnen, dies ist das Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die
Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen auf eine heranrollende
ungeheure Katastrophe.

Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke. Jürgen wurde
auf den Asphalt gestellt, blickte umher. Trambahnen, Hoch- und
Stadtbahnzüge kreuzten einander, spien Menschenmassen aus, nahmen andere
auf.

Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher Gleichgültigkeit, er
sei und heiße Jürgen Kolbenreiher. „Hier, mein Paß! Überzeugen Sie
sich!“ „Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus.

Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den Portier getäuscht zu
haben. „Was die andern können, kann auch ich. Auch ich kann ein
Vorhandensein vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch
selbstbewußt benehmen, darf niemand merken lassen, daß ich nicht bin.
Denn jemandem, der nicht ist, gibt niemand Auskunft. Und ich werde viele
nach mir fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich mich finde.“

Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang wie das Bellen von
Millionen vor Hunger irrsinnig gewordener Hunde.

Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch eine Straße ging,
vorbei an einem Hutgeschäft, und im Gewühle verschwand. Konnte nicht
ermitteln, ob er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris, Berlin
oder Rom gesehen hatte.

„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele Hutgeschäfte auf
der Welt.“ Mutlos ließ er sich in den Sessel sinken.

„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser Sekunde?“ Jürgen zog
die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden habe, frage ich ihn, was er in diesem
Augenblick, um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie wunderbar wäre
es, zu wissen, was ich gegenwärtig denke ... Der Mensch denkt. Welch
unbegreifliches Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich
wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein. Ich muß mir ein
System ausdenken. Ein Schema. Ich muß systematisch vorgehen.“

Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit und Sicherheit auf,
schritt zur Klingel. Und kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im
Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie mir einen
Stadtplan ... Sie können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie
wollen.“

„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht. Denn ein Mensch, der
ein Schinkenbrot verzehren kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie
können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.‘
Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war sehr gut.“

Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein Brot mit Wurst, da
Schinken nicht im Hause sei, tat Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber
Schinken gegessen. Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner wollte
gehen.

„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab, steckte es vor des Kellners
Augen in den Mund. „Wieviel Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich
jemand“, sagte er und kaute eifrig für des Kellners Augen. „Deshalb habe
ich mir den Stadtplan bringen lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut.
Sehr gut! ... Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme Milch und
eine Semmel. Nur etwas warme Milch! Ich habe nämlich einen schwachen
Magen.“

„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas warme Milch. Ich habe
nämlich einen schwachen Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“

Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche von
Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg weg nach Rixdorf,
bohrte auf das e von Steglitz ein i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte
wie ein Stieglitz. Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und
trillerte sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein.

Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen schwachen Magen! O, hätte
ich nur einen schwachen Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und
lebensgefährlich. Wäre doch immerhin ein Magen.“

Trank hastig die warme Milch und stellte, die staunenden Augen
vergrößert, die leere Tasse auf den Tisch. „Aber ich trank ja eben
Milch. Ich! Ich trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser Mensch
doch einen Magen haben und muß ein Mensch, muß vorhanden sein.“

Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln, als habe er einen
besonders fein angelegten Betrug durchschaut. „Ist es mir also
tatsächlich gelungen, sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen
Magen. Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht vorhanden bin.“

Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten, trug er die leere
Tasse zum Kübel, leerte die nicht vorhandene Milch aus, hörte das
Plätschern. Und riß sich zusammen. „Jetzt aber los!“

Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch unverbraucht in den
Straßen. Jürgen hatte große Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon
angefahren waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen abgesetzt, von
der Straßenbahn quer durch die ganze Stadt nach Berlin N getragen, auf
dem Dache eines Autobusses nach Wilmersdorf zurück.

Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn er planvoll vorgehen
wollte, fürchtete er, Jürgen werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O
suche, in Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie wüßten,
wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte.

„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant mit der Bar?“

„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“

„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“

„Ja.“

„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter.

Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken Dienstmannes, der auf
seinem Bänkchen saß, sagte Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“

„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“

„Können vielleicht Sie mir sagen ...“

„Keine Zeit!“

„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den Händen nach, die den
Weg hinter sich schaufelten.

Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen, angeschrien,
stehengelassen, von Bummlern ausgelacht. Durchstreifte Restaurants,
Kaffeehäuser, Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in das
Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus einem Automatenrestaurant
herausgeworfen, weil er, anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem
verblüfften Kellner in den Mund geschoben hatte.

Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam, war es schon
geschlossen. Als erster stand er um zwei Uhr wieder vor dem
Schalterfenster, bekam einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und
Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung, dachte er. Und
reichte, bebend vor Erwartung, den Zettel dem Beamten.

Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte über die schlechte
Beleuchtung, stand plötzlich reglos und sah aus, als denke er.

‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres ganzen Lebens irgend etwas.
Nur ich ...‘ „Was denken Sie momentan?“

„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann erst staunte er und
begann zu suchen.

„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher mit H!“

Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich weiter mit seinem
Kollegen über die Tatsache, daß ein Teppichgeschäft in Berlin N den
Mitgliedern der Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre, fragte,
ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn er nur zwei ganz einfache
Bettvorleger kaufe. „Wenn nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen.
Kosten kaum die Hälfte.“

„Und halten auch vierzehn Tage!“

„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen streckte den Oberkörper
durch das Schalterquadrat.

„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten ... Nun, wenn man früh
aufsteht ...“

„Ist er hier gemeldet?“

„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ... Nein, ein Jürgen
Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“ Das Schalterfenster klatschte
knapp vor Jürgens Stirn herunter.

‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich weiß am
allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘

Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden, stand er in der
verkehrreichen Straße, gleich einem zu Eis erstarrten Gegenstand, der in
der lebendigen, sengenden Sonne steht und nicht schmilzt.

In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf Körpern straßauf,
straßab getragen wurden, stand, ob sie sprachen oder schwiegen, lachten
oder dachten, die selbe eisesstarre Einsamkeit.

So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit dem dicken Kopf voran,
im Zickzack durch die Luft zuckt, dachte Jürgen und beugte sich,
durchschüttert plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei
kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten und, in den Augen
noch das volle Leben, hingegeben mit Steinchen spielten.

‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige, schmerzliche Sehnsucht
kommen, in weiteren zehn Jahren auch für sie die unlebendige graue
Einsamkeit, da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht mehr haben
werden.‘

Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm durch das Erblicken der
zwei noch im Fluß des Lebens spielverbundenen Kinder, weiter straßauf,
straßab.

„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“

Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht wieder. Begann in
rasendem Tempo zu hämmern. Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über
den Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei der Vorstellung,
ihm, den er verraten und verkauft hatte, in die Augen zu blicken.

Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er auf der Stelle tot
zusammenbrechen werde, angesichts des Andern; dennoch trug letzte
Bereitschaft, die Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das
gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild.

Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und Füße aus Blei, auf dem
Asphalt und las wieder und wieder den nur ähnlich klingenden Namen.

Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers schien in den Beinen zu
sein, so schwer waren sie geworden, als er sich weiterschleppte, toten
Blickes.

Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor Bureauschluß. Mit dem
ersten Blick schätzte der Inhaber den gut gekleideten Kunden auf die
Vermögensverhältnisse hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden, daß
der vor ihm stand, den er suchen sollte, ließ sich eine Anzahlung geben.
Am Morgen hatte Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck,
unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher, anstandslos eine große
Summe ausbezahlt bekommen. „Haben Sie Hoffnung?“

„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man heutzutage ... Wie wärs mit
einer Extraprämie, Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“

Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe keinen.“

„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das kommt bei uns öfters
vor ... Mit einer besonderen Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute
auszubezahlen hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes nachweist.“

„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“

„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber sehr achtbare Leute,
die irgendeinen Schuft suchen lassen.“

„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“

„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher denn nun eigentlich aus,
im großen ganzen? ... Sie wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“

„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben. Den Namen desjenigen,
den ich suche. Sie verstehen?“

„Verstehe schon!“

„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt, ich wollte
sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito ... Wie Jürgen
Kolbenreiher jetzt aussieht, das weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es
ist ganz unmöglich, zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so
geworden wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“

„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere Fälle mit gutem
Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde
den Fall bearbeiten. Und was die Extraprämie anlangt, so ist sie fällig,
nachdem Sie selbst zugegeben haben werden, daß dieser von Ihnen gesuchte
Jürgen Kolbenreiher gefunden ist. Welche Summe also ...?“

„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein Riesenvermögen in
Wertpapieren. Nehmen Sie alles, was ich habe, und geben Sie mir dafür
Ihn!“

Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht weniger Hoffnung im
Herzen als der Detektiv, der, tief in Grübelei versunken, einen
Bratensaucetropfen von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die
Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte und keine Lust
mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall zu bearbeiten.

Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der ein roter Zettel
klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht alles, was du willst, nur
kehre zurück.‘ Im Auto fuhr er in das Plakatinstitut.

„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen, steigt die
Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn Kolbenreiher finden.“ Der
Unternehmer ließ die Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“

„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“

„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue Beschreibung.“

„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie aus der Tasche. „Hier
ist das Bild dieses Menschen. Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen
Kolbenreiher unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“ Er deutete auf
sein Gesicht.

„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen Kolbenreiher?“

„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden habe.“

„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich kein Geld ab. Nee, ich
bin doch keen Schnapphahn. Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an
den Kopf und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“

„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf hätte!“

„Na, denn rin in die Gummizelle!“

Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon am folgenden Tage war an
allen Plakatsäulen zu lesen, welche Summe demjenigen ausbezahlt werde,
der den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne. Auf den
knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie, die eigens zu diesem
Zwecke aufgenommen worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die
Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt.

Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die Stadt. Niemand erkannte
ihn. Der Detektiv machte den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen
Irrenarzt brachte er gleich mit ins Hotel.

Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie. „Nehmen Sie an,
dieser Mensch wäre auf dem Wege, den zu gehen er als seine Pflicht
erkannt hatte, weitergeschritten, vierzehn Jahre älter geworden: wie
würde er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ... Schaffen Sie
mir den richtigen Mann bei, dann bezahle ich.“

„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht. Der wird Ihnen fix
klarmachen, daß Sie selbst der Gesuchte sind“, sagte resolut der
Detektiv. „Nicht wahr, Herr Doktor?“

Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“

Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich untersuchen lassen.“ Und
der Doktor zog die Uhr. „Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“

„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei Sinnen! Puls? Wenn ich einen
Puls hätte!“

„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen, der zurückwich, die
Bronzefigur vom Schreibtisch nahm.

Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit zwei Wärtern und einem
Schutzmann zurückkam, war Jürgen schon in ein anderes Hotel
übergesiedelt.

Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl Schutzleute
ausgeschickt auf einen Streifzug durch die Hotels, Pensionen,
Absteigquartiere, den Irren zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die
Stadt durchquerte, sich selbst zu suchen.

„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher? Möglicherweise trägt er –
ich, selbstverständlich, weiß das nicht – einen Schnurrbart.“

Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind Sie Schutzmann? In
meinem Hotel waren nämlich heute Schutzleute, die einen entsprungenen
Irren namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute durchsuchen ganz
Berlin nach diesem Verrückten.“

„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“

Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und pfeifend auf das kleine
Hotel zu, in dem er die letzte Nacht geschlafen hatte. Die
Vorüberhetzenden, die Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden
Menschenaugen, alle Menschen auf der Erde suchten ihn.

Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last erdrückte Frau, der
er schon am Morgen und noch einmal gegen Abend des selben Tages beinahe
an der selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und nach sich zu
fragen er nicht gewagt hatte, wegen der erstarrten Hoffnungslosigkeit in
ihrem Antlitz.

Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen gestorben war, trug, in
Blick und Gang schon wie körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last
der hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer um den selben
Häuserblock herum.

Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen Herzen so ertötet, daß
sie nicht mehr geben und nicht mehr empfangen könne, verhinderte ihn
auch jetzt wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen,
nachdem alle von Hoffnungen und Zielen noch Erfüllten ihm nicht hatten
helfen können.

Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens bangen Blick auf sich
gerichtet. Ein stöhnendes Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug
sie, wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die Straße ihre
hoffnungslose Vereinsamung.

Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann. Zurückweichend
blieb Jürgen stehen, bewegte den Zeigefinger vor der Brust verneinend
hin und her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und kehrte um.

„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen, den Scheckfälscher,
den, der im Hotel den Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb.
Sie suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“

Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden und sich dann nicht
mehr suchen zu können, jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen
wagte er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen. Ganz
plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich zu finden.

„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“

Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei der Hoffnungslosen,
trieb ihn ihr nach, die Straße hinunter, die in den Tiergarten mündete.
Sein Gesicht war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten.

Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal stand. Die
Vereinsamte neben ihm hatte sich nicht gerührt. Sie ängstigte sich
nicht. Sie blickte blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg
über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende Lineale, schoben sich
aneinander vorbei, durch die Nacht.

Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen sie in Kampf und Leid des
Lebens ein Leben gelebt hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt,
bis zum Kinn.

Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach, fühlte Jürgen, daß
neben ihm das Schicksal saß.

Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben: streifte das Wasser die
Mauer.

Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden, tränenrauhen,
warnenden Tones, als warne sie jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes
Wort kann mehr zurückgenommen werden.“

Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von der erhabenen Größe
dieses schicksalhaften Leids der Hoffnungslosigkeit, berührte er die
Schulter der Vereinsamten.

Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So früh gestorben, weil er
für diese Zeit zu gütig war. Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel,
zu viel ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie.

Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt den verklingenden
Schritten lauschte, ankerte neben der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein
Frachtschiff, auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht
ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte. Und wie damals, da er,
kommend aus Katharinas Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern
stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler Teergeruch, und durch
die Baumkronen schimmerten die Lichter der Stadt.

Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft, die ihm
verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen, und verstärkt noch
durch das erinnerungsträchtige Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich
Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser brennenden Sehnsucht
das Gefühl, körperlich vorhanden zu sein, mit solch blitzhafter
Schnelligkeit entstanden, als ob es ihm nie entschwunden gewesen wäre.

So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft blieb, den Freudeschrei
auszustoßen. Weichheit tat sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch
die Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein.

„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit Daumen und Zeigefinger.

Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf, lief, zutraulich
wimmernd, auf dem Bordrand hin und her, stand, blickte, bellte
verlangend einen Ton. Stille ringsum.

„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist zu viel und zu wenig für den
Menschen. Zu wenig und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im
Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein Gelübde.

Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum Bahnhofe. Und fuhr mit
dem nächsten Zuge zurück in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut,
Gesicht und Körper ganz vom Fleische gefallen.

Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner und drei Ärzte waren bei
Jürgen gewesen – stand in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der
bekannten Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon in den nächsten
Tagen in neuer, verschönerter und bedeutend vergrößerter Gestalt dem
Parteienverkehre übergeben werden würde), habe sich durch seine
unermüdliche und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung zugezogen,
die zwar sehr schmerzhaft, aber bei der kräftigen Konstitution des
Patienten nach Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den
Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so daß Herr
Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald wieder in den Dienst der
Firma werde stellen können.

Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur das Wort
‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie glaube, daß er ein
konstitutioneller Schuft oder ein Schuft aus freier Entscheidung, also
ein für seinen Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt
hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem Türrahmen der Küche und
blickte gespannt in das fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst
du, Phinchen?“

Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen fallen, trocknete,
wie immer, wenn Jürgen die Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten
Hände an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten Herrn gab ihr
die Worte, Jürgen sei immer der beste Mensch von der Welt gewesen;
sicher habe er niemals absichtlich Böses getan.

Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles hoffnungslos. Denn wie
könnte ich aus diesem Wuste menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn
ich ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten wäre ... Aber du
kannst das ja nicht wissen. Sechzehn – und jetzt bist du vierzig. Hast
dein Leben in dieser Küche verbracht.“

Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er kleidete sich gar nicht
mehr an, aß und schlief außer jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit
einer Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab.

Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den selben Punkt. Auf der Welt
war nichts als er und der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und
stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe in ihm selbst,
zudem er Einlaß suchte und nicht fand.

Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich jeden Tag und jede Nacht
von neuem an die Aufgabe. Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte
der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der Revolver.

Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im Wachtraum und auch im
tiefsten Schlaftraum zu beobachten. In der Finsternis unterirdischer
Gewölbe, durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern, den er
suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte Wechselreden. Im Blick des
Andern stand sehnsuchtslose Bereitschaft. „Geh und miß!“

„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das Mittel.“ Da saß er aufrecht
im Bett: blickte die Schranktür an. „Messen?“

So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es ihm trotz
Unterbrechung des Traumes auch diesmal gelang, die Fortsetzung des
Traumes zu träumen, in das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag,
zurückzugelangen, vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos und
unerbittlich ihn anblickten.

Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er messen solle. Und als er
flüsternd dennoch fragte, verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde
zuckten auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten in
Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte.

Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne auf, in deren Mitte
unirdisch weiß das Wesentliche lebte, das, im Tiefsten ihn
durchschauernd, plötzlich sein eigen wurde.

Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom Wesentlichen aus dem
Halbschlafe heraus in das Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer
Vorsicht wiederholt die Lider, nur einen Millimeter: Immer war das
Wesentliche weg und nur die Schranktür da.

Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß, wußte er nicht mehr, wann
und wie und durch wen ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie
in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit zu machen,
unverstellten Blickes.

„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich schon war. O,
Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller Freudeschrei riß ihn aus dem Bett.

Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden, verließ er das Haus,
in der Tasche den entsicherten Revolver.

Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken läuteten. Ein roter
Sonnenschirm überquerte die Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine
Knabenklasse, in Viererreihen streng geordnet und geführt vom Lehrer,
der kommandierte: „Links! Rechts! Links! Rechts!“

„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln fliegen ...“ „Links! Rechts!“

An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde, das im Rücken
hing, verkümmert, eingeschrumpft, vertrocknet. „Das ist, mitgeboren,
aber ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung mehr zu
seinem Träger steht“, flüsterte er und ließ sich auf den Lehrer zugehen.
„Auch Sie machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen, und
ich kann Ihnen sagen, weshalb.“

Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte Gesicht sagte: „An
einem entsetzlichen Verbrechen! Denn Sie lassen sich als Seelenmörder
gebrauchen“, stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach und
richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen wieder aus mit dem
Kommando: „Links! Rechts!“

Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen sämtliche
Knabenklassen Europas, die, kommandiert von den Lehrern, auf einer
Riesenebene in linearer Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und
unter Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter wurden.
Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen aus den strenggeschlossenen
Schülerquadraten in die Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange.

„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“ Er stand, noch
durchzogen von der Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm
in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte etwas, verteidigte
sein ablehnendes Verhalten. „Da kam es darauf an, ein Charakter zu
sein.“

„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was würde geschehen, wenn Sie Ihr
Vermögen, Ihre Stellung, Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten
Männer verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine Herren, sind
Charaktermasken.“ Und er deutete auf die eingetrockneten Gebilde, die
sich mit den dreien fortbewegten.

Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen hin geführt, stand
plötzlich, die düsteren Fensterlöcher quadratiert mit dicken
Eisenstäben, vor ihm das Gefängnis, ein steingewordener Schrei.

Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die zufriedenen
Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen vorüber, unberührten Gemütes.“ In
seiner Brust stand das ganze wuchtende Gebäude.

Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch die Gänge, Gänge,
die in seinem Herzen waren, durch den Saal, in dem die engmaschigen
Drahtgitterkäfige standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von den
menschlichen Wesen.

‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die verwüstete
Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt kläglich mit dem
Schwanzstumpf.

Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens Herz zusammen.

Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina im grauen
Gefängniskleid, das verschönt ist durch den ordnungswidrigen Einschlag
beim Halse. Der kleine, feste Mund lächelt froh.

Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los. Da blickt Katharina
gleichgültig und kalt ihn an. (‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im
Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches Abweisen ...‘)

Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und taumelte gegen die
Gefängnismauer, blickte flehend Katharinas Blick an, der lautlos sprach:
‚Nimm erst von neuem auf dich alle Qualen!‘

Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten, breiteten sich aus,
fielen schenkelwärts. Schultern zuckten. Jürgen betrachtete die
eingeschrumpften Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und folgte,
berührt von dem Interesse des Leidensgenossen für die Leidensgenossen,
den zwei Männern.

„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte der zweite
Vorstand und ließ den ersten Vorstand vorangehen, hinein in das
Gesangvereinslokal, in dem die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt
waren.

Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen. Aus dem Gastzimmer
klangen, durch die geschlossene Tür durch, die Klüpfelschläge des
Wirtes, der den Hahn in das Bierfaß schlug.

Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen, weil das
hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr Simon Ott, im Sterben liege. „Er
liegt in den letzten Zügen.“

In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe besucht. Lautlos. Sie stand
vor ihm, glich einer nordischen Frau – groß, hellblond – und hatte ein
gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht.

Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr: „Nur wußte ich bis
jetzt nicht, daß Möwen schöne, kühle Frauen sind.“

Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite, kalte Meer hinaus.
Auch Jürgen blickte auf das Meer hinaus.

„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren, das am
Grabe gesungen werden soll, damit wir uns nicht wieder blamieren.“

„Er ist ja noch gar nicht tot!“

Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister schoß vom Stuhle
empor und forderte etwas mehr Pietät. Er war der Schriftführer.

„Wenn er doch noch lebt!“

„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte also den Herrn
Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“ Der Vorstand breitete die Arme
aus: „Oder sollen wir uns wieder blamieren?“

Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas: „Ich bin ganz der
Meinung unseres ersten Herrn Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein
Veteran des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß das Lied, das
wir an seinem Grabe singen, vorher ordentlich geprobt wird. Und die Ehre
unseres Vereins steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns wieder
blamieren dürften, wie das letztemal.“

Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen Blick, als schaue sie das
unabänderliche Schicksal.

Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher. Die zehn Bässe
gruppierten sich um das Klavier herum. „Dort unten ist Friede“,
intonierte der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen Haus.“

„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten Sie, bis Sie daran
kommen.“ Der Brillenschuster hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor.

„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“

Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und steif vorne aus der
Körpermitte der Möwenfrau heraus, verschwanden wieder. Sie bewegte sich
wie ein Vogel, der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen Augen
Jürgen an, der dachte: Will sie fort?

„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“

„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern: sum, sum, sum, sum ...
Sie, meine Herren, sind doch keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel
zarter.“

Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete Augenpaare, vierzig
eirund geöffnete Münder und an den Rücken der Sänger, die jetzt im
Halbkreise alle um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten
Gebilde.

Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der Leibesmitte der Möwenfrau
heraus; Jürgen setzte sich darauf und schwebte, den Kopf an die
nebelumflorte, schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite
Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem unbekannten Orte gelangen
werde, wo sein Bewußtsein auf ihn warte.

Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen fortträgt, natürlich
keine Seele haben, dachte Jürgen während des lautlosen Fluges. Und sagte
zu ihr: „Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch diese Sänger
ganz und gar entselbstet sind, und daß ihre Seelen, von dir und deinen
Schwestern hingebracht, irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in
ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben, sondern behaupten,
mein Zustand habe sich verschlimmert ... Die Psychiater sind doch zu
dumm. Glauben Sie das nicht auch?“

Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht vorgebeugt. Ihre
Augen hatten sich während der ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr
Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.

Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte Jürgen und drehte das
Gesicht nach oben, blickte ihr in die Augen.

Ringsum war nur noch Wasser und Nebel.

Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber nach, wie er
hierhergelangt war. Er saß auf der Bank in der Anlage, gegenüber dem
grünen Bretterzaune, in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes
Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte.

Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz, als er,
jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte, in dem Bestreben,
wie damals wieder nur die Begierden, nur den Menschen in sich sprechen
zu lassen, um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne.

Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses nicht! Dieses
wenigstens begehrt er nicht mehr“, flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt
es, mein Herz?“

Er schloß die Augen und lauschte und wartete und fühlte nichts. Die
Lider der inneren Augen blieben geschlossen. Da saß er, reglos, leid-
und freudlos, leblos.

Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges Zwitschern eines Vogels
im Sonnenbrand. In der Ferne brauste die Stadt.

„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in plötzlicher Erregung.
Denn er sah sich schreiten. Und die Straßen wurden enger, dunkler, die
Häuser kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das
kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis.

„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten, heimzufinden,
zurück zu mir!“

Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen die Köpfe nach links und
grüßten, Hand an der Mütze, die starr glotzenden Augen herausgedrückt,
den Offizier.

„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in den Stadtpark, wo die
Militärkapelle spielte und die geputzte Menschenmenge promenierte in dem
sonndurchwirkten Laubgang alter Bäume.

Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und dankte nie. Lange
beobachtete er einen Jüngling, der, im Blick noch die große Frage an das
Leben, die eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten
betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von der Sehnsucht, ebenso
elegant, fertig und sicher, Blume im Knopfloch, hier spazieren zu
können.

„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd und deutete auf die
Promenierenden. „Vielleicht werden Sie dann nicht in der Leere ersterben
sondern in Qualen leben.“

Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche, Armmuskeln gespannt,
Ellbogen weggestreckt, ihre roten Mützen knapp an der Brust langsam
herunter bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder kopfwärts
führten, während die Gegrüßten das selbe mit ihren grünen Mützen taten,
die zerhauenen Biergesichter starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt.

„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die solche Söhne hervorbringt!
Wehe, sie sind die Söhne ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten
und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz sind Kultur und Fortschritt
der Menschheit anheimgegeben? Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens
werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel vor sich selbst.

Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die woher kommen und einem
Ziele zustreben, Katharina, der Agitator, der Metallarbeiter mit der
verstümmelten Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes Gesicht
nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie ein Fremdkörper durch die
gespreizt promenierende Menge.

Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing den ganzen Himmel. Und
als es wieder dämmerhell wurde und Laubgang, Blumenrondells,
Musikkapelle und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten, wußte
Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte.

Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten, die erst kurz vorher
einander gegrüßt hatten, und führten, da vielleicht ein noch nicht
gegrüßter Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen sein
konnte, wieder die Mützen hart an der Brust herunter, die Gesichter ins
Profil gestellt.

Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen, faßte mit großer
Handbewegung die ganze Menge zusammen in Eine Person und begann zu
brüllen, in maßloser Wut.

Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen, wie er dorthin
gelangt war, vor der Kirche, brausende Orgeltöne drückten die
Kirchgänger aus dem Portal heraus und um ihn herum – erinnerte er sich
der Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte durch seine
Ansprache.

Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim Erblicken der Kirchgänger.
„Ein- und das selbe Gesicht, dort wie hier, weltenweit entfernt von dem
Bewußtsein, das zum Schwanz verkümmert ist.“

Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas standen und sangen
in seinem Gehirn; die Verwandlung aller Knabenklassen in
geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter vollzog sich schmerzhaft
hinter seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen die Mützen
in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger zuckten, begleitet von
Militärmusik und Orgelspiel, ablehnend die Schultern, breiteten
bedauernd die Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten.

Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein Durchhaus und stand,
zuckend in allen Nerven, in einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor
Feuchtigkeit grünen Gasse.

„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen gepreßt. „Nieder!
Nieder mit dem Ganzen!“

In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund. „Aber wie?
Durch welche Macht? Durch welches Mittel?“

Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen irisierenden Schaumes,
der aus der feuchten Mauer quoll, das einzige Mittel werde ihm in der
nächsten Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände gegen die
Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter, lauschend und wartend. Der
menschengefüllte Stadtpark tat sich auf. Sofort war das ganze Bild
wieder mit dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual versank
in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar wie damals, als er bei der
Straßenkreuzung Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang
emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte Gasse zu gehen.
Hin, her, hin.

„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne schien, ballte die
Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse vorher verlassen zu können. Da riß es
ihn herum. Geduckt marschierte er weiter.

In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau. Wildes Geschrei. Das
fahle Gesicht des weinenden Söhnchens erschien am eisenvergitterten
Fensterquadrat knapp über dem Pflaster.

„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine Frau, und deren
Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen und durchwanderte zum zehnten Male die
schimmelgrüne Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“

„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben Sie nicht auch, daß
alles seine Ursache hat?“ fragte er auf dem sonnigen Kirchplatz einen
schnurrbärtigen Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte,
dicke Meerschaumspitze steckte.

„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man auch das Mittel. Glauben
Sie nicht auch?“ Und als der Rentier den Kopf schüttelte:

„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein Raucher! Sie kann man
mit der Bezeichnung ‚Raucher‘ benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem
etwas.“

Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg empor, zerflatterte.
Noch ein Dampfwölkchen stieg empor.

„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht doch
Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene, ihres Raubes sichere
Raubtierchen?“

Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag am speckigen
Bändchen einen Kriegsorden trug, überquerte trippelnd die Straße. Das
vertrocknete Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit.

„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht eine Sekunde Sie zu
sein, nicht einen Atemzug lang Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in
der Kindheit, in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“

Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf: „Oj, oj, ein schlimmes
Leben!“ und trippelte weiter.

Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht hinein, beobachtete
und erlitt Jürgen das Leben, suchte er – begleitet von Wahnsinn und
Revolver und immer bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und Weg.
Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem Sinn ein Kampf um Sein oder
Nichtsein war, noch wochenlang beständig hin und her geschleudert
zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt.

„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben gezählt.“

Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten Brustkorb die
Einschußstelle abgetastet, entschlossen, nicht eine Sekunde länger zu
leben, wenn keine Hoffnung mehr sei.

Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei immer in sich selbst hinein,
folgte, ein zum Tode und zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den
die Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen, mit Soldaten und mit
Pferden. Das Erblicken eines Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt,
auf Jürgen zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler zu
gehen.

„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur nicht die Trennung von
dem, dem seine Sympathie gehört?“

Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer Dackel, der, mit
allen Vieren gleichzeitig, plötzlich hochflog, in der Luft herum, und
wieder reglos stand, die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet.

„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können Sie billig haben, mitsamt
der Leine.“

„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“ Der reglose Dackel starrte
auf eine Fliege, hüpfte auf sie zu, starrte in den Himmel.

„Der geht mit jedem.“

Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze am Boden, Jürgen hinter
sich her, aus dem Hofe hinaus.

Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich weite Fußtouren. Er
beachtete nicht Sonnenbrand, nicht Regen und hatte keine örtlichen
Ziele. Für ihn gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder
schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und nichts war ihm
Wegweiser. Er existierte zwischen dem Ziele, das, ein farbloses,
winziges Pünktchen in immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große
Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung von dem Wahnsinn:
seine letzte Freiheit war.

Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der Lebensarbeit, rückte die
Mütze und deutete: „Ihr Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den
Lauf bekommt, schießt er ihn.“

Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei einem flüchtenden
Känguruh, abwechselnd Kopf und Hinterteil des Dackels empor, der die
Kleespitzen übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten tief
einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte Bellen.

Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde Zeit unschätzbar teuer
war, der um keinen Preis, den dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde
lang das Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses große Suchen
auf Leben und Tod unterbrach, um erst den gefährdeten Hund zu suchen.

„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn bewegt? Wer vermöchte zu
sagen, weshalb im Opfer der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“
flüsterte Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann zu weinen,
laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer Befreiung.

Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her, hügelan, zum Waldrand.
Vor Jürgen lag die Tiefebene, unübersehbar weit und breit.

Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden Blickes,
Gymnasiasten, Studenten aller Nationen, standen dichtgedrängt, wartend
auf das Wort. Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern heraus,
tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten auf. Millionen
füllten die Tiefebene. Auf der Schulter eines jeden Einzelnen kauerte
ein unheimlich und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf Jürgen
gerichtet.

„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“

Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne, sträubten die
Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in die Schultern der stöhnenden
Jugend, stießen grauenvolle Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit
verursachten im Blick und im Gesichte der Jugend.

„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt sie heraus aus eurem
Gefühle! ... Macht euren guten Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und
dann erfüllet sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde, so oder
so“, begann Jürgen die große Rede an die Jugend, die zu einer
Darstellung seines Lebens wurde und immer wieder von neuem in der
Warnung gipfelte, nicht so zu tun, wie er getan habe.

Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz des kleinen Cafés
und vor sich schon das Glas voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend
hinüber auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und wann und
weshalb er hierher gekommen war.

Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das immer wieder geschehen,
daß Jürgen bei den Wanderungen in und außerhalb der Stadt unversehens
sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse in der
Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden waren.

Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen Tunnelloch, ganz
erfüllt von dem Gefühle, vor diesem Tunnelloch schon einmal gestanden zu
haben in einem früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein,
sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der stille Waldsaum und
die schnurgerade Landstraße, die wie ein weißer Pfeil sich in den fernen
Horizont verliert, sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen.

Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte, rückt lautlos
weg, und auf ihn brechen die Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so
lebendiger Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt von
Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle, von des Bewußtseins
blitzesschneller Wiederkehr.

Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht sich der von Glück und
Sein Durchblitzte und Durchstürmte, das wiederkehrende Bewußtsein bewußt
nur stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt, entlang dem
Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme. Zählt und zählt, bebt und
schluchzt und zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm zu Stamm
nachdrängenden Bewußtsein, das eine Sturmflut schmerzhaft lebendiger
Erinnerungen mitführt, die ihm zum großen Rückblick werden, tief zurück
in das Gewesene.

Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte Nächte waren vergangen, ehe
Jürgen sich bereitet und stark genug gefühlt hatte, bewußt
Erinnerungsorte aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht in der
Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten Gesichtern das schon
Gewußte und das Bewußtsein des Verrates, den er begangen hat, sich von
neuem in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer in diesem
Leben nicht tief im Leide und im Kampfe steht, steht tief in Schuld.‘

Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen hatte von Katharina, glüht
und brennt. Lange steht er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie
doch, in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark.

In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt, bricht auch das Leben
in seiner Milliardenfältigkeit, die zu empfangen und zu begreifen der
Mensch ein Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein, stoßweise
und mit solcher Wucht, daß er, bebend wie der Auferstandene, vor Sonne,
Blau und Lärm steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren
Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts ziehen, vor dem
Sperling, der auf dem Pflaster hüpft und in die Ritzen pickt.

Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der Stadt hinaus, auf der
Quaimauer flußentlang, vorüber an einer Reihe Proletarierfrauen, die,
kniend am Ufer, farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern vorbei,
die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck.

Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt blau und grün entlang
der sanften Hügelkette. Am Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen
schritt wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht. „Sind Sie Herr
Knipp?“

„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag auf dem Damm ein besonders
langer Reserveangelstock modernster Konstruktion. Auch einen neuen
Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz hatte er sich angeschafft
und einen Feldstuhl. Der Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und
sah, wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt, ganz
unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen wäre.

Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine flußwärts gestreckt.
Millionen kleiner Mücken standen in der drückenden Schwüle knapp über
der Wasserfläche. In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand still und
glitt zurück.

„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen, mit dem ich
hier gesessen hatte?“

Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus und senkte sie in schönem
Schwunge wieder in das glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil
ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon lange nicht mehr. Der
war ein Unzufriedener. Den hat die Unruhe aufgezehrt, die
Unzufriedenheit mit dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut,
kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“

Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein dutzendmal vor, endlich
aus dem Bett zu steigen, und bleibt immer wieder liegen. Unversehens
sind seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem Trägen vielerlei
zusammen das plötzliche Aufstehen bewirkt hat, ohne daß das treibende
Vielerlei ihm ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen die
Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung im ‚Paradies‘, die
fünftausend Arbeitergesichter, das fahle Gesicht des Schwindsüchtigen,
Katharinas Rufe: ‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken an
jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert auf; dennoch verursachte
all dies zusammen, in Verbindung mit des Anglers Worten, in Jürgen, der
sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl, er habe sich nun lange
genug ausschließlich mit sich beschäftigt.

Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der, die ihn veranlaßt
hatte, den erinnerungsträchtigen Angelplatz aufzusuchen, löste sich
sofort der Gedanke, Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um ihrer
selbst willen erstrebt und gepflegt werden.

„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen und schweren
Herzens zugleich, als er zielbewußt weiter schritt.

Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank aus. Die Landschaft glich
einem schlechten, leblosen Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb
stehen, legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden.
Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe Getreidefeld. Die völlige
Reglosigkeit der Halme und Ähren machte auf ihn den Eindruck der
Unnatürlichkeit und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon weit voraus war,
erhob sich der Hund.

Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und Luftlosigkeit. Als
wäre der Himmel zu spannungslos und matt, den Sturm zu entfesseln,
endete der Regen wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal.
Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene Blitz das ganze Tal.

Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten sich alle Ähren
gleichzeitig. Das Tal begann zu singen. Blitze aus weiter Ferne zogen
schwachen Donner nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen machte
einen Sprung quer über die Straße, blieb einen Windstoß lang
ausgebreitet in halber Höhe gegen das Getreidefeld gepreßt und fegte,
knapp über den Ähren, davon.

Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da krachte der erste
Donnerschlag, begleitet von schräg herabplatzenden Wassermassen. Der
Dackel saß zu Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch.

Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im Wetter verschwunden
gewesen, wie aus dem Nichts wieder entstanden, ging Jürgen auf eine
weiße, unübersteigbar hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz das
Lächeln der Befreiung.

Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke fuhr heraus. Jürgen
lief ein paar Schritte, sprang durch das Tor, hinein in die
Irrenanstalt. Das Tor schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“

Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt.

„Sie warten wohl schon lange auf mich?“

„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen, Herr
Kolbenreiher ... Beruhigen Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief
er beschwörend Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte.

Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich herschleifend,
angerast, bellte vorwurfsvoll an dem geschlossenen Tor hinauf und
drückte sich, auf der Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt,
gegen die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit schwarzblauen
Wolken verhängten Himmel. Rasch hintereinander krachten zwei
Donnerschläge.

„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause, mit voller
Verpflegung?“

„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung des Zimmers. Sozusagen
nach der Klasse. Dreierlei Preise!“

„Wie bei der Eisenbahn!“

„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich auch die
Behandlung so kulant wie möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder
gesund werden.“ Der Arzt nannte die Summen.

„Und lebenslänglich?“

„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“

„Dann am besten lebenslänglich, was?“

„Sehr vernünftig!“

„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“

„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“

„Und alle nicht bei sich?“

„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen, im großen ganzen
... So kommen Sie doch schon her!“ rief er dem Oberwärter zu.

„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer, diese hohe Mauer, mir
nur einmal von innen ansehen. Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“,
sagte Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus.

„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver und ließ ihn senkrecht
hinunterfallen in das Wasser. „Entronnen!“ In den Schultern fühlte er
das Leben und die Kraft zu neuem Anfang.

Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation, erreichte Minuten
später die Haustür. Sie war nur angelehnt.

„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte Katharinas Wirtin.
„Jetzt ist das nicht mehr so wie früher. Jeden Tag Versammlungen! Und
dann noch in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich. Und
wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich die halbe Nacht an der
Schreibmaschine. Jetzt gibts viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So
dick! Das soll gedruckt werden.“

Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand ein. Auch ein Teppich
verschönte das Zimmer. Auf dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die
Aufforderung zum Besuche der heutigen Massenversammlung im ‚Paradies‘.

Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute, unter dem Eingangstor
drei Arbeiter, die sich lebhaft unterhielten, und neben einem Stoße
Broschüren ein vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf Jürgen
zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“

Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute Abend?“

„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“

‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel Glück.‘ Bebend
blickte er auf Katharinas Sohn, der äußerlich ganz und gar so aussah,
wie der Gymnasiast Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht den
Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre zu kaufen.

Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal, schloß leise die Tür.
Fernher klang in die Stille die Stimme Katharinas.




                         Werke von Leonhard Frank


                              DIE RÄUBERBANDE

                             Roman 20. Tausend

                         Im Insel-Verlag, Leipzig


                                DIE URSACHE

                             Roman 20. Tausend

                         Im Insel-Verlag, Leipzig


                            DER MENSCH IST GUT

                           Gebunden. 25. Tausend

                          Rascher-Verlag, Zürich

                         Volksausgabe: 80. Tausend

                        Kiepenheuer Verlag, Potsdam


               Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924
            Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und
          der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen
                        Buchdruckerei in Leipzig




                     Anmerkungen zur Transkription


Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor
dem Wort _während_, absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf Seite 204,
Seite 250 oder Seite 310. Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage.

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER ***

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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation's website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without
widespread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
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