Das rasende Leben: Zwei Novellen

By Kasimir Edschmid

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Title: Das rasende Leben
       Zwei Novellen

Author: Kasimir Edschmid

Release Date: December 8, 2009 [EBook #30628]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS RASENDE LEBEN ***




Produced by Jens Sadowski




Transcriber's Note:
Text that was s p a c e d - o u t has been changed to _italics_. Double
quotation marks have been encoded as » and « and single quotation marks
as > and <, respectively.






DAS RASENDE
LEBEN

ZWEI NOVELLEN

von

KASIMIR EDSCHMID





LEIPZIG

KURT WOLFF VERLAG

Bücherei »DER JÜNGSTE TAG« Band 20

Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig.







COPYRIGHT/KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG/1915





Diese Novellen reden im hauptsächlichen Sinn nicht
(wie das vorausgegangene Buch) vom Tod als einer
letzten Station, nicht von Trauer und vom Verzichte.
Sie sagen auch nicht: leben. Sie sagen: rasend
leben. -- -- Mit vierundzwanzig Jahren starb, ein
ungeheueres zersprungenes Gefäß der Kraft, zu
früh mein Landsmann und sehr großer toter Bruder
Georg Büchner. Er stammte aus Darmstadt, liebte
den Elsaß und ist mir auch sonst seltsam nahe.
Schrieb Lenz, Danton, Wozzek und die unendliche
Süßigkeit Leonce und Lenas.
Ich widme dies Buch des größten
Lebenswillens seinem großen
Andenken.






DAS BESCHÄMENDE ZIMMER

DEN ABEND war ich bei einem Freunde. Wir waren allein. Wir hatten uns in
politischen Dingen ausgerast. Wir hatten Tee getrunken, der -- ich glaube
-- sehr leicht nach dem Haar von Kamelen roch. Er sprach von einer Jagd in
Turkestan. Darauf sagte ich einiges und beiläufig von Wintertagen bei
Utrecht. Dann redeten wir lange wieder von Paris. Ich hatte gerade die
Schattenspiele der Connards erwähnt und wollte anfangen, von dem
merkwürdigen Effekt zu erzählen, als ich Wolfsberg ohne Bart am Square de
Vaugirard traf . . . da war mein Freund, der ganz ruhig gesessen hatte, wie
unter einem lang zurückgehaltenen Entschluß rapid aufgestanden und hatte
mich durch sein Bad in ein Zimmer geführt, von dessen Existenz ich keine
Ahnung hatte.

Er hob den Arm. Zwei Lichter am Fuß der Wände füllten sich langsam mit
prächtigem Licht und strichen in warmen Flutungen und Bündeln die
honiggelben Seiten hinauf. Dann öffnete er das große Fenster nach der
Straße und schob eine Jalousie vor das Loch. Sein Profil stand rasch, von
Abenteuern zerfetzt, aber gütig, vor dem hellen Tuch . . . dann waren nur
seine Hände da, die grotesk waren in ihrer Röte und noch mehr wie sonst
denen eines Matrosen ähnlich schienen, wo sie allein von Licht überspielt
dastanden. Kraft, die in Weichheit gebändigt war, ging von allen seinen
Bewegungen aus.

Dann öffnete er gegenüber zwischen zwei Schränken das Schiebefenster zum
Garten. Sommerliche Nacht strich herein. Das Tuch lehnte sich tief aus der
Füllung. Schatten überschaukelten den Teppich und an den Wänden zog ein
Klappern hin. Es war ein melancholisches unangenehmes Geräusch. Als ich
aufsah, lächelte der Freund, wies mit halbgedrehter Hand auf die Bilder,
die die hohe und breite Mauer in einem Gurt durchschnürten, daß über und
unter ihnen eine gleiche Fläche glänzender Tapete freiblieb. Sie hingen an
Stricken, Bändern, Seidenkordeln und Tauen. Einige bedeckten sich fast
völlig, manche überschnitten sich mit den Rahmen und bildeten in allen
Stufen und Farben zusammenhängend ein eigentümliches Mosaik.

Wies auf die Bilder und sagte: »Es ist keines darunter, in dem nicht ein
Erlebnis wühlte. Es ist eine Laune oder ein Experiment. Ich muß es
abwarten. Ich habe sie hier aufgehängt ohne Auswahl, ohne Ordnung, je wie
ich hierher zurückkehrte und wie es mir gefiel. Es liegen Jahre in manchem
eingeschlossen und strömen sich aus.

Oft ist mein ganzes Zimmer hier voll von dem Frühling in Paris. Dieses Bild
ist die Schaukelnde des Fragonard. Sie hat das eine Bein zurückgezogen, das
andere zieht in dem trotzigen Aufschwung noch die Volute der
losgeschnippten Pantoufle nach, und um diese graziöse Entblößung fällt das
Schwebende der weiten Robe und der Duft der Farbe, der gleich einer Wolke
darübersteht.

Ich kaufte es eines Abends an einem Tag, da wir morgens nach St. Germain
gefahren waren. Es war der erste jener bezwingenden Tage, die aufquellen
aus einer gleichgültigen Nacht und voll sind von der Zärtlichkeit des Blaus
und der warmen Stille einer Verheißung. Wir standen auf den Dächern der
Waggons, die starrten von Ruß. In den Gärten brachen die Mandelbäume auf.
Wir liefen wie ganz junge Hunde die Quere durch den Park. Es gibt in dieser
Zeit nur eine Seligkeit: fühlen, wie das Spiel der Muskeln um eine Freude
herum erwacht. Wir lachten und liefen, sprangen über Hürden, öffneten eine
Holztür mit Lilien . . . und dann wußten wir erst, daß wir Eindringlinge
seien: als wir gerade hineintraten in das Rondell.

Aus einem Bogengang ließ sich eine Schaukel nieder. Eine Dame saß darin.
Sie trug ein dünnes hellrosa Kleid. Wir sahen sie vom Rücken. Ihre Arme
umfingen die beiden Schnüre und zogen sie in einer lässigen Knickung
zusammen, wobei sie sich etwas nach rechts lehnte. Ihre nach vorn
vereinigten Hände mußten etwas halten, über das sie den Kopf senkte. Es war
so still, daß man die Schaukel quietschen hörte, wenn die Dame am vorderen
Auslauf sich mit dem einen Bein an einem in rotpunktierten Blüten stehenden
Aprikosenbaum abstieß, während sie das andere hastig zurückzog. Dabei
senkten sich jedesmal eine Handbreit Spitzen unter dem Brett
augenblickslang über ein sehr zierliches Bein.

Dann hörte sie uns. Sie glitt von dem Holz. Ihr schmaler weißer Kopf senkte
sich schräg. Sie raffte mit einer schützenden Bewegung die dünne und kurze
Matinee. Damit gab sie sich noch mehr preis. Wieder erschien ihre Wade in
dem glänzenden Strumpf und der noch hellere Schuh. Allein das merkwürdige
war . . . sie ward nicht rot, nicht verlegen, sagte nur mit einer Stimme,
die kindlich war, anklagend, alles war und umschloß in Inhalt, Tiefe und
Modulation dieses >Good morning< -- nur dieses --, schritt langsam, ohne
wieder herzusehen, in einen Seitenweg.

Wir zogen uns zurück.

Ein Erlebnis wie ein Pastell . . . sagte einer.

Kindlich, dachte ich, niedlich, ästhetisch! Verstehen Sie! Es war kein Herr
dazugekommen, niemand hatte gerufen, etwas gesagt, nur ein Geräusch: good
morning.

Aber am Abend im aufheulenden Lärm des Boulevards kaufte ich dies Bild.
Manchmal hörte ich den Klang der Stimme nachts im ganz Stillen, oft am
Meer, im Orkan der Versammlungen, im Räderstampfen und in der Explosion der
Dampfer. Jetzt im Augenblick rieche ich, physisch -- Sie lächeln -- ich
rieche jeden Geruch jenes Morgens, das Feuchte vom Boden, das Arom der Luft
zwischen den Knospen, den Aprikosenbaum und das Warme darüber. Sie sehen,
mit welch wahnsinniger Intensität sich ein Erlebnis einfressen kann, das
wir zuerst flach empfinden und leicht ablösbar wie die Spur des Atmens an
einem Spiegel . . . und das bleibt, stärker und nachwirkender wie das
Ungeheuere im ersten Erblicken eines anderen Erdteils, wie verstörter
Ehrgeiz und Tod der Schwester. -- -- --

Ich habe stets das gedacht, was mich retten konnte. Darum liebe ich jenes
Bild. Es ist wenig daran. Eine alte Radierung, zwei alte Menschen, ganz
dunkel, um die Köpfe nur ein wenig Licht. Ich dachte mir einiges Angenehme
dazu. Es half mir. Ich lag damals immer zu Bett, krank und mutlos. Ein
kleines Mädchen schenkte es mir, das abends in den Vorstädten geigte. Ich
besinne mich vergeblich auf ihre Haltung. Ich weiß keinen Zug mehr von
ihrem Gesicht. Aber ich weiß, wie sie das Bild auf meine Decke legte und
ihren grauen baumwollenen Handschuh daneben, der irgendwo dunkler geflickt
war. -- -- --

Der Goya da kam eines Morgens als Paket in graues Sackpapier eingeschlagen.
Mag sein, daß ich mißmutig war. Riß es auf, und der Riß fuhr in ihn hinein,
klaffend bis mitten in die Kampfszene. Genau zwischen Stier, der den Nacken
zum Stoß einzieht, und Pferdebauch und gerade über den schnelleren Heft der
Lanze.

Er kam von einem Brasilianer, mit dem ich eine Nacht fuhr von Kowno nach
der Grenze. Es war Schneesturm. Er sagte mir mit Leidenschaft vieles von
seiner Heimat: dem fürstlichen Meer des Amazonenstroms, den glühenden
Nächten, die sie erträglicher machten durch das Genießen unzähliger Kannen
sehr heißen Kaffees, und dem Gekreisch der Papageienherden.

Der Sturm brach sich an der Böschung, drückte mit blödsinnigen Stößen auf
den langen Leib des Zuges. Wir wurden warm und zogen zusammen das Fenster
herunter. Sofort zerbrach es. Die Scheibe spritzte uns ins Gesicht. Wir
bluteten mit vielen kleinen Wunden. Der Wind knallte das andere Fenster
hinaus, die Rahmen krachten. Schnee stopfte uns den Mund voll, wenn wir
sprechen, rufen wollten, wir würgten, konnten nicht atmen. Pse! lachte der
Brasilianer. Mehr hörte ich nicht.

Hagel klatschte uns gegen das Gesicht, das anschwoll, schmolz daran, und
fror im gleichen Augenblick in einer Maske von Eis wieder vor. Wir sahen
aus, als hätten wir Gesichter aus Glas oder von roter Gelatine. Denn wir
bluteten sehr und lachten.

Es ist auf dem Bild des Stierkampfs nur die unterste Reihe der Zuschauer zu
erkennen. Doch es scheint: eine Welle von Wut und Ekstase sei das
Amphitheater in einer Kaskade hinuntergestürzt und habe sich in diesem
Parkett bäumend gestaut.

Es ist eine schwere Lache Blut auf dem Bild.

Der Stich liegt auf einem alten gelben Papier, das vor Leidenschaft
knistert, wenn die Sonne durch das kleine Fenster in einer Säule darauf
steht.

Ich denke gern an diese Nacht.

Aber ich liebe noch mehr jenen Sommer, in dem alle Tage waren wie jene
Nacht.« (Er hob mit steifem Arm eine breite, weißgerahmte Radierung heraus,
daß die Schnur sich straff ins Zimmer spannte, und blieb, sie auf der
hohlen Hand wiegend -- die andere in der Tasche -- stehen.) -- »Man kann
nicht anders empfinden: Alles ist hier bezwungen von dem bleichen Weg. Sei
es, daß er zwischen dunklen Hügeln in einer geheimnisvollen Biegung läuft,
. . . ob dämmrige, schwere Fischerhäuser nebenan der Düne liegen mit
verglasten Luken und dann der Spuk der Telegraphenstangen ihn begleitet bis
zu dem Kreuz auf dem Hügel . . . mag sein, daß das alles die geballte
Atmosphäre gibt von Trauer, Unheil und ganz schwachem süßem Licht am
Horizont . . . ganz groß und so, daß er all dies missen könnte, ist nur der
lange weiße Gang des Wegs, der sich langsam mit unheimlichem Wollen,
steigend, verblassend, in den grauen Himmel über den Dünen wie in
ungeheure, frevelhafte Übersinnlichkeiten hinausschraubt.

Es ist ein Sujet aus Bornholm von dem jungen Radierer Georgi. Ich traf ihn
auf einem Petroleumsegler von Kopenhagen nach den Faeroers. Wir waren die
einzigen Passagiere. Und die einzigen Fremden (wenn wir einen kleinen
Botaniker, der nach drei Tagen von einem unmöglichen Hügel abstürzte, nicht
rechnen) auf den Faeroers von Anfang Juli bis in den Oktober hinein, der
schon Eis brachte von Island her.

Wir lebten jeder in einem anderen Fischerdorf. Er zeichnete. Ich schrieb,
nein ich fischte, schoß mit einem siebenendigen Kugellazo nach Vögeln und
liebte die breiten Mädchen. Meistens war Sturm. Er kam und man fühlte ihn
rund oder blau und so stets wie als könne man ihn packen irgendwo. Oft
schien es, er flösse aus einer immer breiteren metallenen Hülse, dann stieg
er auf der See hoch gleich einem Segel und überschwemmte in einer
plastischen Strömung den Strand.

Häufig lagen wir einen ganzen Tag auf einer Klippe, die in rechtem Winkel
hinabsauste zum Meer. Wir hatten die Köpfe in den Arm gewühlt. So raste der
Wind. Ganz hell, fast weiß war der Himmel. Wir konnten nicht aufstehn. Er
hätte uns hinuntergeweht. Ganz sacht vielleicht, spielend wie ein Stück
Tuch, locker es aufhebend, kreisend, rasch senkend und dann aufs Wasser
legend. Wer weiß! Zeitweis hielt ich mit aller Kraft (er machte eine Parade
als zerknackte er etwas im Armgelenk) einen Block vor den andern, auf den
er Striche setzte. Wie hinter einer Barrikade verschanzt und in atemloser
Eile. So raste der Wind.

Ich lag ein anderesmal allein einen Tag in brennender Sonne und dann noch
eine Nacht auf einem Felsen und wagte _einen_ Tritt nicht zurück, bis
morgens unten die Mädchen der Fischer vorüberfuhren. Eine trug einen roten
Rock. Sie winkte. Sie rief: Du bist früh hinaufgestiegen . . . Sie war aus
Store Dimon. Da tat ich es.

Wir trugen keine Schuhe in dieser Zeit. Bündel Bast lagen um unsere Füße.
Unsere Insel hatte einen kleinen Strand. Schwarze Felsen lagen um sie herum
in Aufstiegen von hundert Metern. Unten formten sie kleine in sich selbst
strudelnde Fjords von hinreißender Elastizität der Linie. Ganz schwarz
waren sie und am Abend wie Basalt dunkelblau. Manchmal lösten sich hellere
aus den anderen und wurden Mövenschwärme, die den Himmel zuzogen und das
Meer überschrien.

Aller acht Tage kam der Dampfer von Edinburgh, der Konserven brachte und
Tabak. Er legte nur bei gutem Wetter an. Während der großen Sturmzeit kam
er vier Wochen nicht. Mit dem Glas sahen wir ein paar Amerikaner an der
Reling stehen, die nach Island fuhren. In dieser Zeit versäumte ich die
wichtigste Post in meinem Leben. Was lag mir an Post?

Teufel lag mir daran. Merde lag mir daran . . .

Freund! in diesen Tagen fingen wir eine Art Delphin. Größer als ein Mann.
Aufgesperrt den Rachen mit Lamellen aus samtnem Weiß. Die Augen ganz
dunkles Violett mit einem rötlichen dünnen Schein drüber von der Sonne, die
ihm gerade hineinschien. Einer der Fischer mit einer farbigen Mütze, die
lang, spitz über den Rücken fiel, stieß ihm eine Harpune in den Rachen,
stieß immer noch nach, als die Augen schon hinstarben, keine Sonne mehr
brachen und der Leib aufbrandete in drei zuckenden Sprüngen. Der
scharfgefloßte Schwanz wühlte ein Loch in den Sand, schlug, rasend wie der
Kolben eines Preßlufthammers, wütenden Takt und machte Wind an dem stillen
Tag. Seltsames Ding, dieser Schwanz: Porös, wie gewebt aus Gallerte,
weichem Stahl und etwas, das war, als ob es köstlich sein müsse auf der
Zunge oder schön in einem merkwürdigen Gefäß und vor allem von einer so
maßlosen feuchten Fremdheit. Ich glaube, daß ich nie etwas Neueres erlebte,
etwas Seltsameres sah als die Flosse des Fisches, die mit einer nie
empfundenen Ekstase auf meine Seele stieß.

Was war mir der wichtigste Brief meines Lebens?

Zut . . . ein Dreck war er mir.

Zwischen Georgis und meinem Dorf lag eine schwierige Klippe. Morgens
schossen wir, ließen die Echos hinüber- und herüberrollen, grüßten uns so.
Abends trafen wir uns darauf. Dann sahen wir ins Innere der Insel, das wie
eine Arena war, in deren Mitte das große, weiße Viereck lag, das Gebäude
für die einzige Krankheit, die diese Menschen hinfrißt, Männer Frauen,
Frauen Männer, durcheinander, wie es kam, aus ihren Hütten heraus in dies
Gebäude, das in das Dunkel noch lange hinausblitzt wie der Bauch eines
Hais. -- -- --

Um zu diesem tief vorwachsenden holländischen Rahmen zu kommen, von dem ich
wollte, daß er aus dem siebzehnten Jahrhundert sei . . . vielleicht ein
wenig früher, aber keine Minute mehr, mußte ich achtundzwanzig
Seineantiquariate durchsuchen vier Tage lang, dann fand ich ihn . . . und
sollte dazwischen das Überfahrenwerden eines blonden Kindes erleben, das
mir jeden Morgen um zehn Uhr auf der ersten Straße des Jardin des Plantes
ein Lächeln ins Gesicht warf. Es hatte ein Kleid aus schwarzer Seide und
eine gelbe, schöne Krause an.

Von dem Bild in diesem Rahmen, das Segelboote zeigt, will ich nicht
erzählen. -- -- --

An dem kältesten Tag, den ich in Deutschland erlebte, stand ich vor dem
Bildzyklus in der Ecke dort, Hallo . . . ich stand nicht. Ging!

So kalt war es. Ging auf den Holzfliesen. Aber die Kälte brannte mir in die
Füße. Ich ging rascher und dann sehr rasch. Drei Schritte auf das Bild zu,
drei kleinere es entlang nach rechts, sechs die ganze Fläche hinunter nach
links, zurück zur Mitte und drei wieder, langsamer, rückwärts . . . und so
fortfahrend eilender im Schauen, unheimlich und lautlos gleich der Parade
des schwarzen Panthers vor seinem Gitter im ersten Käfig in Frankfurt.

Es ist der Isenheimer Altar des Grünewald. Sehen Sie die übersinnliche
Kraft des Lichtstrahls aus der oberen Ecke und den Leib dieses Leprösen,
der schon grün ist und überfault und so vegetativ, daß er sich nach Erde
sehnt und halb schon Erde ist, aber hier aufgefangen steht als qualvoller
Schrei des Fleisches zwischen Sehnsucht und Hiersein und Bestimmung zum
Ende. Ganz Kolmar klirrte an diesem Tag vor Kälte.

Ich liebe das Bild, weil es mich plötzlich mit einer überflutenden
Intuition mehr als durch tausend Bücher wie durch eine klaffende Wunde
hineinschauen ließ in das aufzischende Herz des Mittelalters. -- -- --«

(Nun hob er den Arm, als wollte er eine Lanze werfen und beschoß mit den
zitternden Kreisen der elektrischen Taschenlampe ein ganz kleines Bild)
»Erinnerungen eines Monats in einem schottischen Landhaus. Abends Silber,
Kerzen, Toaste. Sonst Gehen auf geraden Wegen im Park, Rasen, zwei
Schwestern, Lilith und Jane, Rudern mit den Brüdern, die auf Ferien aus
Oxford waren, und zwischen all diesem Frischen endlose Ruhe. Holte mir
Arbeitslust für ein paar Jahre. Stahl, als ich wegging, von der Diele
diesen winzigen Stich. Es ist eine Szene mit Affen. Einer trägt das Kostüm
Voltaires. Steht darunter: the travelling monkey. -- -- --

Weheste und zarteste Erlebnisse, die wahllos ineinanderstürzen, aber binden
sich an diese Silhouette. Germaine schnitt sie mir, ultramarin auf orange,
in unserem kleinen Haus an den Tuilerien, als der Sommer dunkel und mit
Gerüchen durch unsere Gardinen wehte. Niemals in der grenzenlosen Flucht
der Zeit habe ich den Leib einer Frau mit dieser Hingebung geliebt wie den
Germaines. Ich ließ sie alle Tänze lernen, die ihren Gliedern neue Linien,
tiefere Inbrunst und glänzendere Seligkeit geben konnten. Am schönsten war
sie, wenn sie auf einem Fell abends neben meinen Füßen lag.

Sie trug ein langes weißes Hemd, träumte und färbte die Nägel ihrer Zehen.
Draußen der dunkle Garten bewegte sich manchmal. In Pausen ging jemand
vorüber, roter Himmel wuchs über die Rideaux, und wir wußten, wie nah und
brennend Paris über der Seine sei.

Germaine saß oft tagelang auf ihrem sechsbeinigen Schemel und schnitt
Silhouetten. Dann nahm ich sie mit ans Meer in ein kleines Nest der
Bretagne. Tagelang wieder lagen wir da im Sand, ihr Leib an meinem Leib,
und wenn sie anfing zu zittern, dann ward es Abend, und die Nacht schliefen
wir in einem Bett, das Boot war, und Germaines Glieder lagen auf den
schweren roten Decken wie Achat.

Paul Fort sagte von ihr, sie sei rührender als ein Papillon und
schmerzender als ein Gedicht von Francis Jammes.

Germaine liebte mich, ehe sie mich verließ, aber sie hatte keine Seele.
Allein sie besaß -- unsagbarstes Wunder -- besaß Knie von ungeheurer Süße,
kleiner, zärtlicher als die Brust eines schlanken norddeutschen Mädchens
von dreizehn Jahren. -- -- --

Den Carrière in dem ovalen Rahmen nahm ich aus dem Zimmer des Malers
Binetti, als er nach dreitägigem Kranksein an Cholera starb. Stunde auf
Stunde, den ganzen letzten Tag rief er einen seltsamen Namen. Er diktierte
mir einen Brief, dessen Adresse ich nicht verstand. Binetti schrie. Ich
habe ihm Wasser gereicht. Habe ihn in Eis gepackt. Ich habe ihn gebadet mit
einer alten Frau. Binetti schrie den Namen. Ich habe ihn nicht verstanden.
Am Abend gestikulierte er und formte immer eine merkwürdige Gebärde in die
Luft. Sein Blick wollte mich zwingen, zu begreifen. Immer wieder machte er
die Bewegung, und eine maßlose wütende Angst löste sich von seinen Augen
ab. Er stieß mit der Zunge noch lange wie mit einem Dolch in die Luft,
rascher, qualvoller, spitzer. Aber ich verstand es nicht.

Der Brief ist das Furchtbarste an Weh. Ich habe die Adresse nie gefunden.
Es war in Marseille. Der Mond bewarf das Meer von flachen Dächern mit einem
Licht, daß sie, eine aufflammende Kette von Spiegeln, Feuer in den Himmel
brannten.

Vom Hafen her heulte das wahnsinnige Schmerzgeschrei eines Arabers die
Straße herauf.

Ich und Binetti, wir hatten nach Tunis fahren wollen.

Ich trug diesen Brief in der Tasche, und manchmal machte ich die vage Geste
in die Luft und wunderte mich und erschrak und wollte mich zwingen, es zu
lassen. Aber sie hatte Macht über mich bekommen und meinen Nachahmungstrieb
vergewaltigt, und so lief ich, ein Automat der fürchterlichen Gebärde des
Sterbenden, den Quai entlang. Und ich fühlte, wie ich anfing einen Namen zu
rufen, der sich langsam rundete wie aus einem zu A hin erhellten O mit
fremden Palatallauten dahinter. Bis ich mich plötzlich wiederfand und den
Kopf in die Fäuste geklammert aus dem Hafen rannte. Zwei Sergeanten traten
mir in den Weg. Ich kam in eine Allee, wo ein Weinen mich nahm und über
eine Bank warf.

Dies war die einzige Nacht, in der ich sterben wollte. -- --

Den mennigroten Tod aus Wachs über Ihrer linken Schulter . . . nein so
. . . ja . . . schön . . . schenkte mir der finnische Dichter Karelainen,
der eigentlich Grönquist heißt. Grönquist ist schwedisch. Karelainen ist
finnisch, Darin besteht der wesentliche Wert Karelainens, daß er sich
eindeutig so und nicht anders heißt. Denn seine Verse sind schlecht. Für
den Adel und die Intelligenz ist das Schwedische die höhere Sprache, und
sie heißen sich mit solchen Namen. Karelainen stemmte dem aber seine breite
Brust entgegen, seine feinen Hände dazu und vor allem das helle Wunder
seines Mezzosoprans und propagierte mit dieser dreifachen Opposition das
Finnische.

Aber es handelt sich nun keineswegs um Finnland. Wir saßen in einer
schmutzigen Schenke einer kleinen Stadt an dem litauischen See Ssilkine, in
dem wir gefischt hatten.

»Die litauischen Weiber sind Klötze Fleisch. Die Liebe der Männer geht über
sie hin, Unempfindliche, wie eine Welle beim Krebsen oder ein Schlag auf
den Schenkel. Sie atmen kaum.

Die litauischen Männer haben einen seltsamen Gang. Ihr Blut ist dick und
ihre Brunst ist die der Zugtiere.

Aber es gibt keinen Treubruch, niemals . . .« sagte Karelainen.

Er sah mich forschend an. Ich schaute an ihm vorbei Da winkte er ungeduldig
einem Hausierer, der, ein Grubenlicht vor den Bauch geschnallt, in der Ecke
Spiritus trank, kaufte den roten, wächsernen Tod und schenkte ihn mir.

Er wußte, daß ich jede Nacht bei der jungen Frau des Wirtes war, die
neunzehn Jahre und ganz weiße Haare hatte und eine Haut, glatt wie ein Aal.

Es ist nicht wahr, daß die Litauerinnen in ihren Betten liegen wie Klötze
Fleisch . . .

Dann hob Karelainen seine Hand, die flach auf dem Tisch lag, bis auf die
Kante des schmalen kleinen Fingers, und indem er sie viele Male zart aber
scharf auf den Tisch hakte, erzählte er, daß es im Finnischen nur drei
Flüche gebe, deren erster ist »Perkala«, deren zweiter ist »Perrrkala« und
deren dritter ist ein rasches schneidendes Streichen eines jener Messer,
deren Griff aus Horn ist und deren Spitze etwas nach der Seite gebogen
scheint fast wie eine Rosenschere.

Es ist nicht wahr, daß es im Finnischen nur drei Flüche gibt.

Es gibt viele Stufen dazwischen.

Denn hier stehe ich.

Und es ist unwahr, daß es niemals Treubruch gibt in Litauen.

Karelainen war klug. Allein seine Fallen lagen zu plump, weil er zu sehr
voll war von Eifersucht und Gift. Denn erstlich habe ich nie Angst vor
Männern und dann in diesem Falle, seine Stimme war -- Mezzosopran.

Im übrigen war er auch darum wütend auf mich, weil ich eine Forelle
fischte, einen halben Fuß größer als seine längste. Er vergaß mir dies nie.

Auch ist an dem billigen Symbolismus seines Geschenks apriorisch
ersichtlich, daß er ein mieser Dichter war. -- -- --«

(Nun ging der Freund zögernd und unentschlossen um einen Schnitt herum, der
eine japanische Marterszene darstellte, und wechselte den Kopf zwischen
träumerischem Mich-Anschauen und einem Anstarren des Bildes. Dann warf er
rasch die Schultern herum und dachte aber, eh die entschlossene Bewegung
beendet war, -- es schien mir -- wieder eine Flut neuer Dinge. Auch sein
Profil hatte schärfere Linien. Und sagte dann:) »Ja.«

Nur: ja.

Ich sagte auch: »Ja.«

Ich wußte nichts anderes zu sagen. Auch fand ich es heiß und drückend.

Er sah mich sehr fremd und erstaunt an. »Ja« . . . sagte ich.

Da antwortete er ganz kurz: »Gut.« Und dann:

»Auch dies war in Marseille. Viele Städte haben mich geschlagen. Doch mein
bestes hellstes Blut ließ ich in dieser. Wenn ich im Traum Schiff fahre und
strande: es ist die Mole von Marseille. Wenn man im Traum (herrlicher
Rimbaud!) mich amputiert: es ist das gelbe Spital dort im östlichen
Viertel. Und auch dies, man krönt mich mit allen Insignien meines
Ehrgeizes: es ist das Stadthaus von Marseille, aus dem ich in das
Hohngelächter des Erwachens fahre.

So hasse ich diese Stadt . . . Die Pest . . .

Ich fuhr viel damals nach Aix. Es ist nicht weit. An der Universität hatte
ich einen Bekannten, der über Bakteriologie las. Abends spielten wir zur
Besänftigung Ecarté zu viert, ein jüdisch-russischer Flieger und ein
japanischer Schüler meines Freundes, der noch kleiner war, als Japaner
gewöhnlich scheinen. Er hatte eine sympathische Weichheit der Bewegungen
und hinter den Augen: Energie. Er besuchte mich oft in Marseille und
verstand es, was Ecarté allein ermöglicht, beim Kartenspiel entzückend zu
plaudern. Einmal traf ich ihn mit einer Dame. Doch grüßte er mich nicht.

Auf Karneval waren wir alle zusammen in eines der großen mehrstöckigen
Cafés gezogen, mußten uns aber bald zerstreuen. Nach einer Weile bekam ich
Streit mit einem kleinen Kolonialoffizier, dem ich seine Jungfrau abnehmen
wollte, die ich als Modell des roten Malers Hessemer von Lausanne erkannte
-- es ist ja nur ein Sprung --, die Kleine hatte ein Kostüm als Nymphe,
loses Haar mit einem Reif, kurzes Kleid und nackte Beine. Ich faßte sie um
die Taille, doch sie wollte, halbbetrunken, zu ihrem Leutnant. Sie wollte
sich losreißen. Da legte der Flieger Blumenthal seine Pranke um ihr Gelenk.
Jetzt gab es kein Loskommen mehr. Sie riß, warf sich mir schäumend um die
Brust und biß mich durch den Frack tief in die Schulter,

Blumenthal sah es, ließ sie los, sie riß sich frei. Lief davon, ich folgte.
Der Leutnant nahm den Flieger auf sich. Ich glaube, er wollte ihn in die
Tasche stecken. Doch ich verlor die Nymphe.

Auf der Treppe zum dritten Stock sah ich aber eine junge Frau, die ein
gelbes Kleid trug, das schönste an diesem Abend. Ich griff nach ihr. Sie
lachte und stieß mir, rückwärts steigend, stets über mir, immer mit dem
Knie an die Brust. Ich lachte. Plötzlich entlief sie mir.

Ich folgte ihr über ein paar Treppen, und da ich sie küssen wollte, führte
ich sie in eine Nische gerade unter einen Streif Sternhimmel, der zwischen
zwei Firsten lag. Sie legte mit Grazie und Wissen zwei halbvolle, leicht
nach Wein duftende Lippen, die sehr warm waren, auf meinen Mund und
flüsterte jedesmal -- denn ich tat es öfters -- dazwischen: maman . . .
Dann lief sie wieder. Ich hinter ihr.

Sie rannte in einen Schminkraum. Ich wartete und sah auf dem Milchglas der
Tür ihre Silhouette. Sie legte Rot auf. Ich lugte hinter einer Säule. Als
sie herauskam, trat ich vor, und sie lief wie sehr erschreckt im Spiel
davon. Wir rannten durch einen Saal, durch Lauben und Séparés, und kamen
auf einen Korridor, ich wollte sie greifen -- da sah ich an einem hohen
Fenster gleich einem überraschend aufgestellten Marionettenspiel die Szene:
Der kleine Japaner gestikulierend . . . ihm gegenüber ein Mann mit stark
südlichem, fast spanischem Aussehen, in tückischer Haltung. Daneben an die
Draperie des Fensterbogens gelehnt, bleich, halb leblos, sehr gerade, eine
Dame.

Ich sah, wie der Japaner den Arm leise hob, wie das Gesicht seines Partners
zu bluten anfing, und wie der Japaner dessen Arm über den Rücken hochriß
. . .«

Da geschah etwas Seltsames.

Der Freund stockte, er keuchte. Sein Atem pfiff über die Stimmbänder mit
einem Ton, als geige jemand über gebrochenes Glas. Ich fuhr auf. Er hob
befehlend die Hand, ein wenig gebückt. Ich setzte mich wieder.

Er schellte rasch: »Wasser . . .!«

»Verzeihen Sie!« rief er. »Ich habe Sie geblufft . . . es hat mich
überwältigt . . . ich wollte zuerst nicht erzählen . . . dann mußte ich
doch. Aber ich travestierte, tauschte alles um . . . Alle Personen sind
unwahr. Keine ist echt . . . keine Kontur. Glauben Sie es! . . .«

Ich sah ihn kalt an.

»Diese Geschichte ist ganz anders,« sagte er nun. »Ich habe geglaubt, sie
von mir abtun zu können, wenn ich sie erzählte, aber ich konnte sie nicht
erzählen. Da phantasierte ich sie. Aber das war noch schlimmer, zu sehen,
wie etwas hätte werden können . . .«

Er sah starr nach dem Fenster.

Dann brach er in ein häßliches Gelächter aus. Sein Mund zog sich nach dem
Kinn hinunter wie im Zwang von zwei Fäusten.

Dann drehte er stumm den Schnitt gegen die Wand, verbeugte sich und bat,
nachdem er die Lichter gelöscht hatte und indem sein Gesicht wieder langsam
in die alte Form zurückkehrte, ihn hinüber zu begleiten.

Allein ich blieb in der Türe stehen.

Alles stürzte mit verdoppelter Wut, mit erneuter Wucht über mich hin.

Ich fühlte: Abenteuerlichkeit fraß sich in die Wände. Schicksal brannte in
den Rahmen und wollte heraus. Sehnsüchte ohne Maß, gelebte, nur gestreifte,
schwellten den Raum, daß er fast barst, und Jahre rasten auf dem
Sekundenblatt der Pendüle herunter.

Ich sah in diesem Zimmer alles wie in einem glänzenden Kaleidoskop
verwirrt.

Und als ich über die Schwelle zurücktrat und das Gebeugte im Gang meines
Freundes sah, ward mir plötzlich das Straffe meiner Brust bewußt und das
Brutale meiner Haltung, und da wußte ich, daß ich mein Leben gut gelebt
hatte. Denn dies ist nicht die Frage, ob wir aufleuchtende Dinge erleben
und in heiß aufklaffenden Abenteuern stehen (wie wäre das klein und
subaltern), sondern es ist dieses, was dem Geschehenen erst Form gibt und
Würde: was wir mit den Erlebnissen tun . . . Und ich wußte bei diesem
Zusammenbruch, was mir immer klar war, das war recht:

Man soll keine Erinnerungen haben. Niemals. Nein! Und am wenigsten noch
armselig Fetische bilden und seine Erlebnisse in Dinge tun. Man soll keine
Beichtstühle in seine Wohnungen tun. Sie zwingen in die Knie. Dann oder
wann.

Man soll die Dinge von sich werfen. Weit. Und die Erlebnisse abstreifen wie
einen Seifenschaum mit nachlässiger Hand von der Brust am Morgen und am
Abend und jeden Tag, damit sie uns nicht demütigen einmal früher oder
später so und so.

Denn der Genuß des Abenteuers ist das ungewiß Beschwebende: Wissen, vieles
Bunte getan zu haben, aber eine Luft hinter sich zu fühlen ohne Halt und
ohne Farbe. _Tosendes_ . . . _rasendes Leben_ . . . --

_So ist es._

Aber auch ohne dies war das Zimmer eine Sünde gegen die Kraft: Sein Rausch
war ein Anreiz im einen, und ein Opiat im andern, und eine Hemmung im
Ganzen. Denn es lagen in ihm (wie ein Hohn) zusammen das Große und
Schwache, und das Ungeheure wie das Süße . . . die Erhebungen, zwischen
deren Polen sich die Skala unserer Erlebnisse bewegt und beglänzt, und die
in dieser Spaltung, das Eine oder das Andere, maßlos entfernt und fremd
voneinander und niemals zu packen in einem Griff, unser Leben ausmachen und
erfüllen und so sind (im täglichen Leben) wie diese beiden Beispiele:

Die Sensation eines Expreß, der eine kleine abendliche Station durchrast --
und das Erleben eines Ladens mit ausgebreiteten Seiden an einem
allzuschnellen Frühlingstag auf der Meisengasse zu Straßburg.

DER TÖDLICHE MAI

ALS es nun um Ende der Woche kam, daß der Tod ihm (dem Maler und Offizier)
die Eingeweide zerriß und er brüllend lag zwei Stunden lang, geschah es,
daß die Pflegende erstaunte, denn das Geschrei bog sich langsam um in eine
Stille, und aus der plötzlich sanften Ruhe seines Mundes stiegen jauchzende
Rufe wie bunte Kugeln mählich in die Höhe und ketteten sich ineinander zu
Jodlern, wie sie im Sommer der Schweiz tagelang von Berg zu Berg
hinüberschweben.

Sie trat dicht an ihn heran und wusch ihm mit einem getränkten Lappen den
Schweiß, der um den Mund herum austrat, aber er sang durch ihre kreisenden
Handbewegungen weiter, verdrehte die Augen, streckte sich scharf in die
Länge, legte sich auf die Seite und schwieg.

Nach einer halben Stunde rief er die Pflegende.

Seine Augen lagen tief in den Deckeln der Lider begraben, ein rötliches
Weiß schimmerte heraus und der halbe Abschnitt der Pupille. Der Mund und
das Kinn glänzten in leiser Seligkeit, die Stirn war rein und hell trotz
der Bräune. Die Schläfen waren eingefallen, die Nase angespannt und an den
Nüstern unbewegt wie über eine Pauke gezogenes Pergament.

»Die Bäume . . .« sagte er. »Die Bäume . . .« und jubelte mit der Hand.

Die Pflegende schauderte. Sie sah, wie der Tod seinen Leib aufwirbelte und
blähte und empfand zugleich, wie der Raum sich furchtbar unter seiner
Heiterkeit anfüllte.

Er sang das Wort »Diebäume« im wechselnden Umschwung aller Melodien. Er
hielt mitten in den Buchstaben ein, ließ den Ton verrollen und schob
zwischen den bläulichen Lippen rasch und lachend den Rest nach. Er knickte
die Silben wie Weidengerten, warf die schwachen Vokale glitzernd hoch und
duckte die saftigen. Manchmal schien das Wort ein explosiver Ton, andermal
eine verwirrende Skala. Oft bog und verengte er die Laute, ließ sie wie
Brandblasen aufglühn und zerplatzen und schrie sie plötzlich in gleicher
Folge wütend hinaus. Er spielte mit dem Wort wie mit einer Beute,
katzenhaft, tückisch, selig, feig, lind und grenzenlos erbost.

Er klomm die letzte Krise der Krankheit hinauf, das Wort wie einen Säbel
zwischen den Lippen.

Manchmal warf sich ein Lächeln über sein Gesicht. Trunken spannte er die
Nasenflügel und sog. Die letzten Stunden der Nacht waren höllisch.

Das Fieber kurbelte an die äußerste Grenze. Der Bauch sackte ein und wand
sich in Zuckungen. Das Weiß des Auges war über Gelb zu dickem Grün
geworden.

Er brach blutigen Kot, schüttelte die Hand und sang das Wort

Das Herz war im Brechen. Der Puls lief lächerlich dünn. Seine Zähne stießen
kleinen Schaum auf den Lippenrand, der sich unmerklich rundete: es war das
Wort.

Er hing an ihm zäh wie ein Affe, verbissen an einem Trapez. Und es riß ihn
heraus.

Schlank wie ein Tänzer lief er auf ihm durch die Nacht, das Fieber und den
blutigen Auswurf.

Segelte dumpf genesend durch das Aufundabgehen der Gestirne, der tödlichen
schweren Sonne und den leichteren Aufflug des glänzenderen Mondes wie durch
ein Spiel mit wechselnden bunten Ballonen hin mit unsäglicher und
berauschend linder Bewegung.

Schwamm mit beruhigendem Opium in den Adern durch die breite Schwermut der
ersten Abende und sehr frühen Morgen und das harte massive Dunkel der
Wolkendämmerungen mit einem Weiß auf der Stirn, das alle erstaunte, und
einem unmerklichen Flüstern auf den Lippen, die stets bewegt waren gleich
der Brust einer weich Schlafenden.

Eines Morgens stieß die Sonne in einem langen und schönen Streifen durch
sein Fenster und fiel hart unter sein Kinn. Da lief eine schwache Erregung
über ihn, er verdrehte die Augen nach links, warf sie dann nach rechts
hinüber, starr, daß die Pupillen, nach oben gestemmt und aus den Höhlen
getreten, in das Innere des Kopfes hinein zu bohren drohten, ließ sie dann
sanft zurücksinken, schüttelte sich, machte den Mund auf, groß und weit und
schloß ihn wieder.

Schloß ihn hart und fest, lag nach diesem Signal noch zwei Tage und war
darauf völlig durch die Gefahr hindurch. Er war mimosenhaft zart und sehr
scheu in den Stunden des genesenden Körpers und des kommenden Bewußtseins.
Seine Soldaten kamen zu ihm und gratulierten ihm zu dem Sieg gegen den Tod.
Er winkte mit der Hand hinauszugehen, erkannte sie kaum. Die Pflegende
sagte ihm, sie seien traurig, wo sie unter ihm in tausend überschwemmenden
tödlichen Minuten gestanden hätten, nun, wie er krank, nicht von ihm
geliebt zu sein. »So . . .« sagte er. Assistenten, Ärzte kamen. Sie
versicherten ihm alle, daß er ihr Kopfschütteln ignoriert und stramm und
siegreich über ihren Unglauben in die Gesundung hineingesprungen sei,
zweibeinig und massiv. Er sah sie verwirrt an.

Apathische Wochen folgten. Der Vorsteher des Genesungsheims erzählte ihm.
Krieg . . . ja . . . gewiß . . . er freue sich. Er legte den Kopf herum.

»Bücher?«

»Danke . . . nein.«

»Palette . . . Wollen Sie wieder malen? . . . Bedenken der Überanstrengung
zwar. Allein . . . ich wäre stolz --«

Er schüttelte langsam den Kopf.

Das Gewicht des Körpers nahm geringfügig nur zu. Wenig Interesse füllte ihn
für den Umkreis der Dinge, noch weniger für sich selbst. Lag eine Schwebe
zwischen Lebenwollen und Lebenmüssen, der Funktion aller Physis fähig, ein
Fragezeichen der Bejahung, allen Möglichkeiten neuen Lebens ausgesetzt
. . . aber ohne Schwung.

Oft trat er abends auf den Balkon des Hauses, der verwachsen und kühl war.
Die Ebene betäubte ihn anfangs mit ihrer Grenzenlosigkeit, langsam empfand
er sie aber -- um ein an das Endliche stoßendes Bild zu haben -- als eine
riesige Kreisbewegung, die um ihn herum, zuerst stark, dann sich im Silber
der Ferne verzehrend, gegen den Horizont schwinge. An einer Seite hingen
ein paar Wellenschläge ferner Gebirge, runde Hügel, gleich nach unten
gekehrten Wolken, zittrig in der Luft. Diese Gegend aus Fläche, Gras und
Steppe, von brüchiger Luft überstanden, gab ihm das Gefühl, Mittelpunkt
einer gläsernen Glocke zu sein. Sonne schlief reglos auf Bach und Moos und
kleinem Gestrüpp. Die Tage hatten katzenhaften Ablauf, stumpf und
aufreizend in dem währenden Gespanntsein dieser Leblosigkeit.

Da warf ihn eine Wagenfahrt, zu der der Arzt ihn zwang, in die unmittelbare
Nähe einer wenig entfernten Königsstadt in eine Schloßanlage. Der große
Dogcart mit den polierten roten Rädern schaukelte einen Nachmittag lang
über geschwungene Wege und über Brücken. Er erlebte dichtes Dunkel des
Parks, unendliche Stille um pagodenhafte Pavillons, den raschen
Vorbeischwung weißer Nebenschlösser. Dann befanden sie sich mitten im
Gewühl weiter Auffahrten, auf die ganz am Ende der Alleen die Kaskaden
fesselloser Terrassen herabstürzten. Hier empfand er Weite und Herrlichkeit
der Welt an sich vorbeiziehn. Der Wagen schwamm an dem langen
Wasserspielwerk, das von der Fassade bis in den blauen Horizont
hinunterlief, entlang zwischen Hunderten spazierender Menschen, zwischen
farbigen Jacken, weichgelben Handschuhen und der Orgie aufgeblasen roter
Sonnenschirme.

Er kehrte nachdenklich nach Hause zurück.

Am Morgen erwartete er den Aufgang der Sonne von seinem Balkon. Er sah den
Aufstieg über die schmalen Hügel und die langsame Belichtung der Ebene, die
sich sinnlos und schwer mit dem Rot anfüllte. Da ging eine unfaßbare
Sehnsucht nach Glühendem, Rasendem in ihm auf, er bog sich vor Gier nach
der Stadt. Der Arzt war dafür, er brach auf, durchstreifte Straßen, die
voll Anmut, Gärten, die voll Jugend waren. Am Abend landete er in einem
Lokal, das mit jubelnden Tapeten überzogen war. Es war gefüllt mit schönen
weißen Tischen und Stühlen. Viele bunte Laternen glühten darüber. Der Wind
bewegte sie leicht. Alle Gesichter waren von schwankendem Rot überströmt.
Feine Frauen saßen in den Sesseln, zurückgelehnt, lässig und mit Herren
plaudernd. Es gab Musik. Manchmal lief der Wind heftig durch die
ausgehängten Fenster und es gab ein Gewoge von Licht, das alle überstürmte.
Dann hoben sich die Geigen aus der Musik in die Höhe und übergitterten mit
namenlosen Spitzen den Raum.

Da ergriff ihn das Gewühl des Daseins mit einer tobenden Berauschtheit. Er
fühlte sich von heißester Erregung in starre Kälte geschleudert und dann
von neuem beißender Hitze entgegengeworfen. In seiner Brust wütete ein
Orchester, Orgeln brannten auf, und in langen, grausamen Voluten hoben sich
die Bläser zu einem furchtbaren Stoß.

Es war zuviel: Man sah einen Offizier die Arme dehnen, die Brust
herauspressen, einen seltsamen Jodler über das Lokal hinfeuern und die
Hände auf den Tisch zurückhauen.

Er zerschlug die Lampe und einiges Geschirr.

Der Kellner tat sehr ruhig. Fernersitzende dachten an Zufall und
Mißgeschick. Er gab dem Kellner märchenhaftes Trinkgeld, nahm die Mütze und
ging breitspurig, säbelschleifend hinaus.

Draußen begann er sofort zu weinen. Toll tanzten die wunderbaren Frauen,
die er wie zum erstenmal wieder sah (wieviele er gemalt hatte, wußte er
nicht mehr, denn Dasein dünkte ihm noch neues Leben nach halbem Tod) vor
seinen Augen, die Seiden, die Funken der Lichter. Unbegreiflich schluchzend
empfand er die Wärme der Nacht, flüsternd . . . »le . . . ben . . .« --

Dann ballte er die Fäuste, und als er von der kleinen Station nach dem
Landhaus fuhr, stand sein Kopf scharf und sehr entschlossen auf seinem
Körper.

Es kamen rasche Tage. Er rieb sich den Buckel an der blitzenden Scheibe der
Stadt. Freude umgab ihn lind. Trieb und Wonne füllten golden seine Adern.
Säfte rannen über seine Haut. Leben umspielte ihn reich. Es war die Rede,
daß er zur Front zurückkehre. Er nickte.

Er nickte. Es war gut.

Der Mond kam abends aus der Ebene durchsichtig und schön wie aus dem
weichen Munde eines Glasbläsers gebildet, und gleichsam von seinem Atem
gehoben, so schlank und zart überflog er die stumme und dunkle Festlichkeit
des Himmels.

Bald gab es tagelangen Sturm. Böen überschütteten die Steppe. Wolken
schlugen übereinander mit Geheul. Schwere Regen knallten an den Fenstern.
Geduckt sprang brüllender Wind in jede Spalte und zersprang dort in Fetzen
von niederreißendem Radau. Nachts, wenn die Regenschwaden vom Sturm schräg
herabgehauen auf die Ebene knatterten, schien es, Tausende von Eskadronen
überritten die Steppe und die Bäuche aller Pferde schlügen langgestreckt
zwischen den rasenden Sprüngen in einem Takt gegen die Erde.

Da zog er rocklos durch das Haus, probte die Muskeln, steckte Lichter an
und sang mit jubelnd gesteigerter Stimme.

Er sagte (als der Wind eine Pause einschob) »Sehen Sie die Kassiopeia?« zur
Pflegenden, zog sie in die Fensternische, hob die Flügel, deutete nach oben
und lachte, als der Staunenden ein Nebelstreifen glitzernden Regen ins Haar
schmiß.

Später einmal kam, heiß und verstaubt, ein schmaler Zug die Ebene herunter.
Er tauchte grau und wie ein Punkt auf und wurde ein dünnes Gerinnsel durch
das vergilbte Gras. Sie defilierten am Haus auf die Entfernung von zwanzig
Metern.

Zuerst ging ein großer Mann, braun mit Narben von Hieben durch das Gesicht.
Sein Kleid war Polichinell. Enganliegend mit Dreiecken gemustert
zitronengelb und weiches Blau. Der Hals war unbedeckt und gefurcht. Seine
Beine traten wie ein Pferd einen nach vorne ausbiegenden Trab, der stets
Silhouetten vor dem vergrauten Horizont spannte und von trauriger Müdigkeit
war. Hinter ihm kam ein Elefant, ein Dromedar und ein Wagen voll von
farbigen Kindern.

Er trug zwei Stangen über der Schulter, um deren Spitzen ein Netz geknotet
war, in dessen Maschen ein kläffender Hund saß und ein perlweißer Fasan.

Es war so süß langweilig in diesen Tagen, daß die Insassen des Hauses alle
staunend und lachend hinausliefen, die Taschen umwandten, Geld über die
Menschen warfen und in Eile Stühle aufschlugen. O Rausch eines unerwarteten
Zirkus.

Es gab eine glänzende Vorstellung.

Der lange Führer wirbelte in die heiße Luft, mit Fahnen in der Hand,
Sprünge und Verrenkungen, strahlend und bunt.

Alle Soldaten suchten auf dem Dromedar zu reiten; Die farbigen Kinder
warteten gespannt, bis ein zufälliger Blick auf ihnen zu ruhen begann,
sprangen in die Höhe, überschlugen sich grotesk, setzten sich fest auf die
Hintern und streckten bettelnd die Hand vor.

Der Elefant rückte verlegen auf seinen Beinen, verengte den Raum unter sich
und ließ sich endlich mit seiner Rückseite auf einem Fünfzigliterfaß nieder
und zog die Vorderbeine hoch wie ein Pudel.

Der Führer gab ihm eine Mandoline in den Rüssel und band ihm ein rosa Band
an die Spitze des Ohrs. Sein Gesicht blieb unbewegt und verächtlich wie bei
seinen Sprüngen.

Indem fuhr auf der anderen Seite des Hauses ein Wagen an. Der Maler sprang
heraus mit zwei geschossenen Lapins und die Augen voll Träumerei von
Frauen, mit denen ihn die Einsamkeit der Heide überfallen hatte. Er trat in
das Haus und schaute durch das Fenster.

Da schwoll sein Gesicht hochrot, er blies die Backen auf vor Zorn, und
einen dumpfen Laut ausschreiend, sprang er heraus. In seiner Hand lag ein
Säbel. Er machte einige Sätze und schlug dann die flache Klinge mit einem
sirrenden Ton dem Elefanten ausgestreckten Arms klatschend auf das Blatt.

Das Tier sprang auf. Es stand. Es spreizte langsam die Beine, schob die
Ohren zurück und hob den langen Rüssel ganz wagrecht.

Da ließ er, während alle anderen starr gebannt steif zuschauten, den Stahl
fallen und strich andächtig und bewundernd den Rüssel mit der Hand entlang
und hob ihn hoch, daß das weißliche Rosa des Mauls, das gleich einer
fremden von Überreife angefaulten Frucht zwischen der harten Seltsamkeit
der elfenbeinenen Hauer lag, aufklaffte. Dahinein legte er die Hand. Der
Pulcinell brachte unter Bücklingen Zucker und legte sie in den untersten
Rüssel. Der Elefant bog sie mit schlangenhafter Windung in das Maul.

Dann warf er wie einen Springbrunnen den Rüssel hoch und schoß überraschend
und plötzlich einen so ungeheuren dunklen und wilden Schrei gegen die
Menschen, daß sie einen Augenblick alle schwiegen.

»So . . . gefällst du«, sagte der Maler und steckte den Säbel ein.

Das Gesicht des Führers blieb über den Verbeugungen unbewegt und
verächtlich wie bei seinen Sprüngen.

Es lag den Abend ein gewaltiger Druck auf der Landschaft.

Sie waren, als die Sonne sank, heiß und verstaubt, ein schmaler Zug, die
Ebene hinuntergezogen. Sie flossen ein dünnes Gerinnsel durch das vergilbte
Gras und verschwanden grau und wie ein Punkt.

Am späten Mittag saß die Pflegende bei dem Maler, der auf einem
Schaukelstuhl lang lag und rauchte. Sie schwiegen lange Zeit.

»Können Sie sich den Urwald vorstellen«, fragte er. Sie lächelte: »Nein --«

». . . den Rand des Urwalds, Schwester. Ein Elefant reißt Lianen
auseinander, erscheint. Die Sonne schwingt auf, rot. Er schreit ihr
entgegen . . . Und hier: o Müdigkeit . . . o Müdigkeit . . .«

Sie sah nachdenklich auf ihn. Dann stach sie eine Nadel durch ein
Fliederblatt und sagte langsam: »Es ist Ihre Sehnsucht, Wald, ich weiß es.
Ich weiß, daß Sie sich stets daran klammerten, als Ihre Krise war! Sie
wissen nichts?«

Er wußte es nicht.

Er schüttelte den Kopf, lächelte und verneinte.

Da sagte sie leis: »Die Bäu . . . me.«

Wieder kam das Lächeln über sein Gesicht Aber ihr war, als ob es Gewalt
bekomme über den Inhalt des Gesichts und als ob es sich einforme wie eine
fressende Säure. Seine gespannten Muskeln waren einem sekundenhaften
Verfall unterworfen. Sie schwanden unter der Haut.

Ganz weiß hob er den Kopf: »Habe ich . . . ha -- -- -- be ich . . .«

Von schwerem Entsetzen geschüttelt wand er die Arme durch die Luft. Seine
Augen wurden rund, kugelhaft und fast wie Glas und starrten über die Ebene.
Er keuchte und deutete vor sich: »Geben Sie mir diesen Stein.«

Ihm schien die Schwelle eines seltsamen Unterbewußtseins durchstoßen. Er
hatte alle die Wochen nur ein Leben gehabt, das seine Wurzeln hatte in
seiner letzten Krankheit. Wohl wußte er die Dinge und Vorgänge der Zeit und
seines Lebens auch vorher. Aber in diesem Augenblick schien es ihm, daß
eine dünne Haut darüber gewesen sei und daß ihm die Erkenntnis nach deren
Platzen nun erst neu, groß und unendlich furchtbar wieder zuströme.

Er nahm den Stein, den ihm die Pflegende reichte. Er war sehr schwer und
kantig. Er drückte seine Hände hinein, hielt ihn an die Stirn, hob und
prüfte ihn und legte ihn fest auf das Knie. Er empfand, wie die Angst vor
der plötzlichen Leere um ihn herum schwinde und wie das Gewicht des realen
Steins ihn wieder an das natürliche Leben und die geliebte Erde
(prometheisch) zurückriß.

Dann warf er den Stein weg und sagte:

»Schwester, Sie kennen das nicht. Sie kennen das nicht, daß der Himmel
plötzlich ein Abgrund scheint und entflieht und die Erde unter Ihnen sanft
entweicht und am Horizont ein Strudel unermeßlich aufgeht und beginnt Sie
aufzusaugen, der Sie sich schon langsam zu drehen scheinen. Schwester,
bleiben Sie sitzen. Es könnte mich sehr stören, wenn Sie sich bewegten.
Hören Sie: ich war niemals feig . . . nie . . .«

Sie bewegte ihr stilles Gesicht hin und her.

»Sie denken an meine Auszeichnungen,« schrie er sie an. »Nein. Sagen Sie
nichts. Daran sollen Sie nicht denken. Das liegt außerhalb meiner
Betrachtung. Bleiben Sie sitzen. Sie sollen an meine Seele und Ihren Mut
denken. Können Sie das? He -- -- --«

Sie sagte, ihr sei das Leben keine so besondere Sache, daß sie nicht auch
dies vermöge.

Da fing er an zu weinen, wurde sehr still und flüsterte: »Sie haben
unrecht, Schwester . . . es ist alles . . . al . . . es -- --«

Er schluchzte mit einem zerreißend stillen Laut.

Darauf begann er wieder zu sprechen, kalt und hart.

Seine Stimme flog aus seinem Munde, als sei sie durch ihn, beziehungslos zu
den Lippen, die sie formten, aus irgendeiner dunklen Ferne geflossen. Sein
Kopf hob sich bleich und edel über der Kante des Stuhls, und die Haut der
Schläfen zitterte über dem blauen Geäder.

»Mitteldeutschland . . . Schwester, beim zweiten Rücktransport von der
Front nach der Passion von fünf durchlegenen Lazaretten . . .
Mitteldeutschland im Westen . . . und es war Mai . . . das ist fabelhaft.
Der Rhein war nicht fern. Himmel seidig und bebte vor Blau.

Wir waren da fast alles Offiziere im letzten Stadium des Genesens aus böser
Erkrankung wie hier fast . . . nur anders, süßer -- unbeschreiblicher. Es
war ein modernes Schloß mit säuligen Bogen und Wiener Keramik, mein Gott.
Dahinter Wälder und überall herum schweifige Hügel und Täler, leicht
gesenkt. Es gab eine phantastische Hygiene. Marmor, weißes Gemöbel,
Staubsektoren, Sonnenfenster, Duschen von oben, Duschen von unten. Es gab
einen unendlichen von Weite ausgedehnten blauen Tanzsaal mit einem großen
glänzenden Flügel. Pariser Millionäre hatten diesen strenglinigen Tempel
gebaut und ihn einer südamerikanischen Tänzerin gegeben, die da die
schönsten Mädchen Europas in die gleitende Form körperlicher Musik hinein
erzog. Die Mädchen waren in einer nahen Stadt damals.

Die Kirschblüte kam. Die unzähligen Bäume beschwebten sich weiß. Es flaggte
drei Tage. Dann ging das flaumige Strahlen in einem wahnsinnigen Wind zum
Teufel. Ich liebe diese Blüte nicht. Sie ist zu weich. Kennen Sie
worpswedische Maler?

Nein, -- ja, Schwester, was soll Ihnen Kunst, was soll Ihnen Bildnis?

O Nebensache, o Nebensache! Leben ist hundsföttisch mehr, ich weiß.

Nun ebenso schwach, so zag, ekelhaft überfein ist diese Blüte wie Zweige,
gemalt von diesen Menschen, hypertrophierten Empfindungsdestillatoren des
Seins. Leben ist breiter, saftiger, spritzender, Schwester: Weinernte am
Rhein, Heringsfang in Holland, bürgerliches Schmausen im Elsaß . . .

Dann brachen alle Apfelbäume aus. Unten die Blüten ein wenig rot, oben
kräftig weiß. Die Hügelkette war zum Platzen voll von ihnen. Manchmal
standen sie wie Haine zusammen. Ich liebe sie.

Es roch, Schwester --«

Er warf das Gesicht zurück in einer wahnsinnigen Spannung: »Ich fürchte
mich,« flüsterte er.

Sie legte ihre Hand auf seine.

Aber er schüttelte sie ab: »Lassen Sie das --.«

Sie ließ es. Sie setzte sich näher zu ihm. Seine Stimme fing wieder an:

»Abends sanken Herden von Nachtigallen in die Bäume und verwüsteten die
Nacht mit Süßigkeit.

Niemand weiß das, der es nicht sah: Sie werfen ihren Hals hoch, daß er
plötzlich mit Gesang, der nicht Ton wurde, rasend gefüllt steht gleich
einer runden Trommel, eine glühende Blase, größer schier als ihr Leib, an
der sie wie an Montgolfieren in die weiche Unendlichkeit verschweben
könnten -- und dann werfen sie die stählerne Wärme der langen aufblitzenden
Laute ergreifendsten Verzücktseins in die entzündete Dunkelheit.

Wir hatten einen blonden Kameraden aus Bornholm. Er wurde verrückt, als
nach einem Gewitter aus einem nassen Fliederbusch ein Dutzend Nachtigallen
plötzlich mit Gesang aufklirrend sein Gleichgewicht zu schwer
erschütterten.

Ja, daß Schönheit tausendfach mehr tötet als Haß und Wut, Sie sollen es
wissen. Was sage ich Ihnen, Schwester. Wo will ich hin . . . hören -- hören
Sie mich? . . .«

»Sie erzählen die Verzücktheit des Lebens . . .« sagte die Schwester innig
und bewegt.

»Ich erzähle die Verzücktheit des Lebens. Ja. O Rausch, o Sonne, o Ruhm, o
Süßigkeit . . .« Er stemmte die Fäuste im äußersten Schmerz und
schwärmerisch gegen die Brust.

»An einem Abend kamen dreißig Damen, ein Fürst und viele Herren. Es hatte
eine märchenhafte Art. Sie trugen seidige Kleider, Schwester, o von so
feinen Firmen, die Sie nicht kennen. Und es gab wie Glas schimmernde Namen
und schwermütige Profile.

Es gab Lampione.

Es gab Mond.

Unter den Apfelbäumen war eine Lichtung. Der Hügel schob sich leicht und
schräg gegen den Horizont.

Wir saßen alle auf Stühlen, die auf der Wiese standen. Der Fürst hatte
einen Säbel in einer Hand, in der anderen Blüten.

Dann kamen die Mädchen, Jungfrauen im Alter bis gegen Zwanzig, die kein
Mann berührt hatte und die nur wenige sahen, die sich, weibliche Narzisse,
nur in der entrollten Geschmeidigkeit sälelang ins Uferlose gestellter
Spiegel in ihren Körpern empfanden. Sie trugen kleine Tuniken, die wie
nichts waren, und tanzten auf dieser schrägen Ebene uns gegenüber zwischen
den Bäumen, tanzten mit Hüften, fließend wie die glatten Sprünge der
Leoparden, Beinen . . . stumm vor Berauschtheit, und Armen, die sie im
wilden Entsetzen der Schönheit in den Mond hinein schwangen.

Alle gingen dann zurück zum Schloß, ich stieg zum höchsten Hügel . . .«

Er hielt ein. Sein Blick tauchte verschleiert in die Tiefe des späten
Mittags. Seine Worte fielen dann, als er wieder anhub, heftig, immer
schärfer und in monotoner Geschwindigkeit. Sie fielen, als stünde einer im
Licht in voller Rüstung und schlüge im riesigen Kreisschwung beider Arme
zwei Schwerter pfeifend immer rascher durch die Luft.

Er sagte:

»Es war still geworden, fast tonlos. Manchmal allein in langen brausenden
Linien stürzten schwere Hummeln auf die weiße Ebene der Bäume. Es war lau,
weich, Wasserdampf schwebte in der Luft. Das ließ die Ferne vibrieren und
die Sterne hatten davon etwas feuchten Schimmer. Hügel schob glatt über
Hügel, Linie über Linie schwingend, in die Rheinebene. Bäume sprangen
Abhänge hinauf, in der Nacht hin und her, und standen näher, tänzerisch
zueinandergeneigt. Oben hing der Mond.

Diese Nacht war ungeheuerlich in ihrer Üppigkeit. In ihrer nassen Glut. In
ihrem unheimlich gesteigerten stummen Gebrüll nach Dasein und trunkenster
Fülle des Lebens.

Schwester: ich dachte da mit einemmal blitzhaft an die wüstesten und
größten Dinge meines Lebens.

Ich wußte um Grate im bayrischen Gebirg, die ich spielerisch als Knabe
überrannt hatte. Ich sah den schweren Wahnsinn der afrikanischen Hetzen.
Sah den zerschlagenen beuligen Kopf im Dirnenhaus des Genuesischen
Hafenviertels im Augenblick des Erwachens verzerrt in schmutzigen Kissen.
Ich wußte um das aufschreiende Werben fetzender Granaten, die trunkene
Explosion der Abendschlacht. Ich sah ein Segelboot kentern im Starnberger
See, sah den großen Verzicht eines feinen Mädchenauges (o weinen, weinen),
sah den verwesten Leichnam des Freundes aus der Konfirmation im Park
erhängt, sah das Sterben Maria Anderssons, die ich geliebt habe, die Schöne
und Tanzende, wie einen bunten Vogel. Ich wußte um den Augenblick, der
bewegungslos in der Pupille des Persers hing, als er in einer Pariser
Spielspelunke den Dolch mir über die Achsel in den Rücken schlug -- --

Was wissen Sie, Schwester, was einem Mann schwer und Gefahr ist . . .

Aber ich wußte in dieser Minute: daß ich lächelnd dies alles wiederholen
würde, daß ich singend wie ein Engel van Dycks gegen tausend Mündungen
Kanonen gehen könne . . . statt dieser Minute . . . daß dies alles Erlebte
eine kleine Prüfung, ein verächtlicher Vergleich und ein Geringes und
Unwirkliches an Schwere sei gegen diesen _einen_ Augenblick des Erlebens.

Denn es kam, daß ich vor der tobenden Süßigkeit der Nacht, in der das Leben
dunkel rauschte wie ein verschlossener Schwarm von Bienen, daß ich vor der
ungeheuerlichen Berauschtheit des Daseins mich hinwarf und weinte und
grenzenlos den Tod zu fürchten begann.

Den Tod, der mir eine gemeine Sache, Oberfläche und sehr gering zu schätzen
erschien, wo er mir nahe war wie eine Kugel, ein Gift oder ein Dolch
. . . und es mir blieb . . . in dieser Form . . . auch späterhin. In dieser
Form . . . in dieser Form.

Ich weinte.

Und da schwamm aus dem Schloß das hungrige Begehren einer Geige, hob sich,
klirrte wie ein scharfer Käfer, raste um die Hügel, hieb sich verzweifelt
sehnsuchtsvoll in die starke Brunst der weißen Bäume und kreiste den
Horizont ein in zuckende Tiraden.

Und ich spürte die Hand, welche sie führte, fühlte mit gleichem Gefühl das
weiche Fleisch des jungen Mädchens, das sie spielte, die rasche Berührung
ihrer Brust, ihres streifenden Beines, das erzitternde weiche Fleisch mit
dem silbernen Flaum, die mädchenhafte Weise des wiegenden Gangs, die
königliche Süßigkeit . . . und ich brüllte, Schwester! Ich lief in den Hain
und brüllte: -- Nicht sterben! -- brüllte ich. Riß kleine Zweige und
zerkaute sie, bohrte das Gesicht in überschäumte Äste, betete, fluchte,
weinte . . . es gab keinen Gott, der dies löste.

Ich begriff es nicht: Den Tod belächeln, das Leben fürchten . . .

Aber überall war Tod. Die Blüten brannten furchtbar an den unteren Flächen.
Tausendfach schwoll Blut in der Luft. Eine riesige Spinne krampfte
schnürend das Getanz der Apfelbäume zusammen, sie zitterten unter
entsetztem Schrecken. Regenbogen schnellten durch die Nacht. Mord saß
dunkel im Geäst. Ich ängstete auf der Stirn. Der Mond war mild. Aber die
Sterne bogen sich herum und blitzten kalt wie die Spitzen unzähliger
hingehaltener Schwerter.

Und das Schweigen dehnte sich, als ob es zerreißen müsse, und die
Stummheit, die volle maßlose Trunkenheit der Nacht kam in Bewegung, drehte
einmal um und begann zu kreisen und ward ganz fern am Himmel ein dunkler
Strudel, der sog und sog --

Ich schrie. Hell. Entsetzt und außer mir . . . Ich wollte nicht sterben.

Wollte nicht sterben. Nein . . schrie --

Schwester, ich habe nachher noch, eh ich herkam, vor meinem Typhus, den Tod
gekannt in vielen Phasen, nahe an mir vorbei oder sich zurückwerfend vor
mir im letzten Moment des Anlaufs. Ich stand in ihm wie der Mittelpunkt
einer Explosion zahlloser Schrapnells.

Ich lüge nicht. Ich hob die Hand, ihn zu zerdrücken.

Ich hob die Hand, verächtlich, und schlug nach seinem Gesicht --

Aber in jener Nacht, da . . . da erkannte ich tiefer den Tod in der
ungeheuerlichsten Schwellung des Lebens.

Ich lief ins Schloß, kroch in eine Ecke und fürchtete mich.

Ich wurde verachtet, geschmäht, verlacht. Man tat das Äußerste zur
Erklärung des Unbegreiflichen im zivilen Dasein: man zweifelte an meiner
Zurechnungsfähigkeit. Man hätte mich anspeien können.

Ich hätte gebettelt: Leben . . . leben . . .

So ist es.

Schwester -- aber ich weiß, ich weiß nun mehr, unerträglich mehr wie alle
anderen Menschen. Ich weiß: ungeheure Taten mögen geschehen, endloser Ruhm
errafft werden von Dichtern, Feldherrn, Musikanten und Malern . . . im
letzten Ziel ist Tod. Andere wissen das nicht, ahnen es, haben aber nicht
die Schärfe ewigverkündlichen Wissens und Umsichfühlens.

Wie ist die Welt bunt! Leichte Karussells laufen über die Jahrmärkte.
Flieger erschwimmen die betäubende Höhe der Gestirne, gewiegt vom Nichts.
Kapellen spielen in Theatern und Gärten. Mädchen tragen Schürzen im Hause
und Bänder zum Ball. Und die Pferde . . . auch die Hunde sind schön und von
Andacht . . . Städte erleuchten sich abends mit sanftem Gas.

Wie kann ich dieses Beschwingte fürder noch spüren, den feinen Reiz und die
breite Schönheit, wenn ich den Tod darin sehe jederzeit? Und muß sie doch
lieben grenzenloser als immer und brennender wie jeder, weil ich weiß, daß
das Leben so schwer und so gewaltig hoch das Letzte ist. Aber meine
glühende Liebe wird stets auf den Tod stoßen, und so werde ich hin und her
geschleudert sein, ahasverisch und in einem verzehrenden Tosen, zwischen
ungeheuerer Anbetung und tödlicher Erkenntnis.

Ich werde in unmenschlichen Spannungen leben müssen, denn das Spannungslose
saugt mich auf. Ich werde lächeln und, von Gefahr und höchstem Erleben zu
anderen springend, mich bewegen wie aus dem Arm von unzähligen Frauen in
den von neuen Namenlosen. Es ist eine tolle übersinnliche Liebe zum Leben
dies, Schwester.

Ich werde nicht mehr ruhen können.

Denn Gefahr ist ein kleiner Augenblick und Sterben darin eine strahlende
Sekunde. Schönheit der Welt aber dem Wissenden eine unendliche Qual und
Bedrohung und ewige Leere.

Ich möchte nicht, daß Sie an diese Erkenntnis streiften, Schwester, weil
Sie ein schönes und ruhiges Gesicht haben.

Ich bin von Freude geschwellt für den Augenblick, wo ich hier abziehe. Denn
alles da ist trostlos und müd und ohne Heroischkeit.

Sehn Sie, es ist furchtbar, wenn ich müßig in die Ferne schaue . . .
Schwester, liebe Schwester . . . wie der Horizont sich dann zusammenzieht,
wie Hügel hineinschwanken und gleichsam in einem Rachen verschwinden.
Manchmal blinkt es silbern. Nun hebt sich die Ebene. Taumelnd gurgelt die
Welt in den Strudel. Die Leere . . . die Leere --

Glauben Sie nichts. Ich weiß, daß das eine Vision ist, daß wir fest stehen
und unerschütterlich, wie wir es glauben. Aber ich empfinde alles im
Gleichnis, und oft ist Gleichnis uns die nächste und verwirrend deutlichste
Realität. Ich sehe vieles im Bilde, weil ich in einer übersteigerten
Sekunde über das Leben und gewöhnte Maß hinaus _erkannt_ habe.«

Er schwieg und schloß die Augen.

Er sagte noch: »_Wo ich das Grauen vor dem Tod am zerschmetterndsten
empfunden habe, an dieser Stelle, meine ich, muß die ungeheuerlichste Kraft
des Lebens sitzen --_

Darum rief ich, wie ich sterben sollte, nach diesen Bäumen.«

Er sann nach. Und plötzlich schien Furchtbares auf ihn zu stürzen.

Aber bald formte sich sein verzerrter Mund in lächelnde Ruhe, und er
flüsterte halb singend, somnambul: »Die Bäu . . . me --«

Dann schüttelte er kurz den Kopf, lächelte rasch und sagte: ». . . Liebe
Schwester -- müssen Sie nicht bei all diesem auch dem Tode näher sein als
dem Leben?«

»Nein,« sagte die Pflegende unendlich mild und fest, »es ist das
Gegenteil.«

Er sah sie staunend an.

Dann aber war es, als rase das entsetzliche Erleben in einer letzten
grauenhaften Spannung noch einmal in ihm hoch.

Er warf die Hände in die Luft und rannte hinaus.

Die Pflegende ging ans Fenster und lehnte sich ruhig hinaus. Sie sah ihn
eilig hinauslaufen und in den Hof einbiegen.

Dort stolperte er über eine Gießkanne, schwebte kurz in der Luft und
taumelte dann zur Seite. Er fiel, die Hände vorgestreckt, in einen Hügel
und bohrte auch sein Gesicht hinein.

Es war Kuhdünger aus den Ställen vom Morgen her.

Der Hügel dampfte in einer weißen Wolke warm und schön.

Er aber tat den Kopf nicht gleich zurück, sondern ließ ihn wenige
Herzschläge lang da noch liegen, denn er fühlte in einem wunderbaren
Gefühl, daß diese Lage unschön sei und schmutzig vielleicht und auch wohl
manchem großen Ekel machend, aber (was viel größer sei) tief und warm und
so unendlich voll Dasein.

Die Pflegende am Fenster hob ihr Gesicht ein wenig höher und dachte: O
diese Hölle in _einer_ Brust. Er wird das Leben furchtbar packen wie eine
unendliche Geliebte. Wie ich ihn lieben muß.







End of the Project Gutenberg EBook of Das rasende Leben, by Kasimir Edschmid

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS RASENDE LEBEN ***

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Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
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The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
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