The Project Gutenberg EBook of Ein kleines Kind, by Karl Wartenburg This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Ein kleines Kind Weihnachts-Novelle Author: Karl Wartenburg Release Date: November 11, 2019 [EBook #60672] Language: German *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EIN KLEINES KIND *** Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Ein kleines Kind. Weihnachts-Novelle von Carl Wartenburg. Der Dienst der Freiheit ist ein schwerer Dienst, Er bringt nicht Gold, er bringt nicht Fürstengunst; Er bringt Verbannung, Kerker, Schmach und Tod -- Und doch ist dieser Dienst der höchste Dienst, Dem sich die Edelsten des Volkes weihen! _L. Uhland._ Wien, 1864. Verlag von Carl Schönewerk. Meinem einzigen, geliebten Kinde Helene geb. 17. August 1855, gest. 17. August 1861. 1. Auf der Flucht. Noch wenige Schritte und das deutsche Land lag hinter ihnen ... Die Flüchtlinge holten still stehend Athem, ihre Blicke noch einmal zurückwendend zur alten Heimath. Es waren drei Personen, ein Mann, ein junges Weib und ein kleines Kind, das im Arme des Vaters lag, mit sanft gerötheten Wangen den süßen Schlaf der Kindheit schlummernd, nicht ahnend, daß es in diesem Augenblicke das Vaterland verlor. Eine Thräne flimmerte in den Augen des jungen Mannes. »Lebe wohl, mein Heimathland ... mein liebes, theures deutsches Land ... Ich verlasse dich, gejagt wie ein Thier des Waldes von der Meute, die nach meinem Blute dürstet. Lebe wohl und vergieb mir, daß ich dich zu sehr geliebt ... Gott segne dich, mein deutsches Land ...« Schmerz und Wehmuth erstickten seine Stimme, er verbarg sein Gesicht in dem Lockenköpfchen des Kindes und weinte bitterlich. Die junge Frau an seiner Seite blickte düster und stumm hinüber nach der deutschen Grenze ... Auch in ihren großen dunklen Augen funkelte eine Thräne, aber es war keine Zähre des Schmerzes und der Wehmuth, wie bei ihrem Gatten ... Zorn, Stolz, Verachtung sprühten ihre Blicke, und die Lippen des fein geformten Mundes waren fest aneinander geklemmt, als fürchte sie, daß ihr wider ihren Willen ein Laut der Klage entschlüpfen könne ... So standen sie eine lange Weile, stumm und fast regungslos, ein Jedes die Beute stürmisch fluthender Gefühle ... Endlich richtete der Mann sein Haupt empor, strich das blonde Haar, das ihm wirr um die Stirne fiel, mit einer lebhaften Geberde zurück und streckte seiner Gattin die mit einem Verbande umhüllte Rechte entgegen: »Laß uns weiter wandern, Fanny,« sprach er mit gefaßter Stimme, »hinein in die unbekannte Fremde, in die weite Welt, in die ich aus dem alten Vaterlande Nichts weiter mit hinüber nehme, als die Freiheit und das Bewußtsein, für unsere Ueberzeugung gestritten und gelitten zu haben.« Sie antwortete ihm mit einem seltsamen Blicke und wendete sich zum Weitergehen, ohne die dargereichte Rechte ihres Gatten zu ergreifen ... Da raschelte es in den Büschen, welche an dem Ufer des Baches standen, der hier die Grenze zwischen dem deutschen und dem französischem Lande bildet. Gewehrläufe und Helme blinkten in den Strahlen der untergehenden Augustsonne und eine Gendarmeriepatrouille streckte den Flüchtlingen mit dem Zuruf: »Halt! ... Wer da?« ihre Bajonnete entgegen. Die Flüchtlinge standen still, doch schon im nächsten Augenblicke hatte sich der junge Mann gefaßt und entschlossen antwortete er: »Laßt mich ruhig meines Weges ziehen ... Was kümmert's Euch, wer ich bin, wer giebt Euch das Recht, hier auf diesem Grund und Boden mich anzuhalten?« »Wer uns das Recht giebt, Mann,« antwortete der Patrouillenführer, indem er auf den Flüchtling zutrat und mit der Säbelscheide auf den Boden stieß, »hier Das gibt uns das Recht, und das Signalement, welches ich hier in meiner Brieftasche trage, worin ein gewisser Walther Dennhardt, seines Zeichens ein Bildhauer, der an dem Aufruhr in der Pfalz und Baden thätigen Antheil genommen, verfolgt wird.« »Und wenn ich Der wäre, den Ihr sucht,« rief der Flüchtling mit drohender Geberde, indem er das schlafende Kind in die Arme der jungen Frau legte, welche mit einer gewissen düsteren Ruhe dem Vorgange folgte, »so habt Ihr kein Recht, mich hier auf französischem Gebiete ... anzuhalten. Darum gebt mir freie Bahn oder ich schaffe sie mir ...« Und er zog mit der Linken unter der Blouse eine doppelläufige Pistole hervor, die er dem Patrouillenanführer entgegen streckte. »Wie! Ihr wagt es Euch zur Wehre zu stellen,« schrie der Gendarmerie-Officier, indem er den Säbel zog, »vorwärts, Leute, faßt ihn.« Ohne Zweifel wäre jetzt eine Scene der Brutalität, der Kampf einer vielfach überlegenen Gewalt mit einem Einzelnen erfolgt, wenn nicht in demselben Augenblicke die Gendarmen durch den lauten und energischen Zuruf: »=Halte!=« der von dem Saume des Birkenwäldchens her erscholl, welches sich links an dem Bache hinzog, stutzig gemacht worden wären. Sowohl Verfolger als Verfolgte wendeten gleichzeitig ihre Blicke nach der Richtung, von woher der Ruf gekommen, und sahen drei junge Männer in eleganter Kleidung, die Jagdflinte über den Rücken geworfen, herankommen. »Was giebt es da, was geht hier vor?« frug der Vorderste von ihnen, der einen schönen großen englischen Wasserhund an einer langen seidenen Schnur hielt, in französischer Sprache -- und dabei glitt sein großes dunkles Auge über die Gruppe, bis er auf der jungen Frau haften blieb. »Wir sind eben im Begriff einen Verbrecher zu verhaften, einen Aufrührer und Rebellenführer, und Sie werden uns einen Gefallen thun, wenn Sie uns bei diesem Geschäft nicht weiter stören,« antwortete in schlechtem, aber doch verständlichem Französisch der Gendarmerie-Officier, indem er die Hand nach dem Flüchtlinge ausstreckte, der beim Herzutreten der drei jungen Männer seine Waffe gesenkt hatte. »Gemach, mein Herr,« unterbrach ihn der junge Mann, indem er zwischen den Patrouillenführer und den Verfolgten trat, »und wer giebt Ihnen das Recht dazu?« Erbitterte es den Officier, aus dem Munde des Fremden denselben Einwurf zu hören, den ihm der Flüchtling entgegen gehalten, oder dürstete er zu sehr nach Auszeichnung und Beförderung, die ihm gewiß war, wenn er den Flüchtling einfing, genug, er vergaß alle Rücksichten der Klugheit, und ungeduldig über die Hindernisse, welche sich der Gefangennahme des proscribirten Freischaarenführers entgegensetzten, rief er brüsk: »Ich weiß nicht, wer Sie zu dieser Frage berechtigt ... gehen Sie Ihre Wege und mischen Sie sich nicht in die Angelegenheiten Anderer ... Und nun vorwärts, Ihr Leute, nehmt den Mann und das Weib mit dem Kinde in die Mitte.« Eine dunkle Röthe hatte schon bei den ersten Worten des Officiers die Stirne des jungen Mannes gefärbt, doch bezwang er sich so weit, daß er den Andern vollenden ließ. Wie aber die Polizeisoldaten Miene machten den Befehl ihres Vorgesetzten auszuführen, hob er drohend seine Flinte und rief mit gebieterischer Stimme, während er zugleich mit Anstrengung den Hund, welcher sich vom Instinct getrieben auf den Gendarmerie-Officier stürzen wollte, zurückhielt: »Wie? Unverschämter, antwortet man so auf eine höfliche Frage ... Und habt Ihr,« und er trat einen Schritt gegen den Officier vor und blickte ihn durchdringend an, »habt Ihr vergessen, daß Ihr Euch einer Grenzverletzung schuldig gemacht habt und auf dem Boden der französischen Republik steht? Habt Ihr nicht jenen Grenzpfahl gesehen?« Und er deutete auf einen blau-weiß-rothen Grenzbaum, an welchem eine Tafel befestigt war, auf welcher die Worte standen: »=République française=.« »Ich könnte Euch,« fuhr er ruhiger fort, als er bemerkte, wie die Gendarmen nebst ihrem Führer verlegen wurden, »ich könnte Euch festnehmen lassen und nach Straßburg abliefern, wo man Euch den Proceß machen würde wegen Verletzung der Republik mit gewaffneter Hand, aber ich will Nachsicht üben ... Doch jetzt macht schnell, daß Ihr fortkommt, oder ich schicke Euch den Gendarmerie-Capitain Molet über den Hals, der in dem Schlosse dort,« und er deutete auf ein hinter dem Birkenwäldchen liegendes kleines Gebäude »einquartirt ist.« Murrend und knurrend, wie eine Meute, die der Befehl des Herrn von einem Stück Wild zurückruft, welches sie eben zerreißen will, trat die Streifpatrouille den Rückzug auf das deutsche Gebiet an und war bald in dem Gebüsche jenseits des Baches verschwunden. Der Flüchtling streckte dem jungen Manne tief bewegt die Hand entgegen. »Nehmen Sie den Dank eines Mannes hin, der nie vergessen wird, daß Sie dem heimathlosen Flüchtling die Freiheit retteten, für die er im Vaterlande mit den Waffen gekämpft.« Der Andere entgegnete, die dargebotene Hand conventionell ergreifend und mit einer Gemessenheit des Tones, die fast überraschend abstach gegen die eben in der Vertheidigung des Verfolgten gezeigte Wärme: »Es ist gut, mein Herr, Sie sind mir keinen Dank schuldig ... Wenn ich zwischen Sie und Ihre Verfolger trat, so geschah es nicht aus Sympathie für die Grundsätze, welche Sie hegen, denn ich hasse die Revolution und jene demokratischen Freiheitsideen, welche jetzt die Köpfe der Menge verwirren, sondern es geschah, weil ich sah, daß Sie Gatte und Vater sind.« Und wieder traf ein leuchtender Blick seines Auges die junge Frau, welche unwillkürlich erröthend zur Erde niedersah. Ein leichter Schatten verdüsterte auf einen Moment des Flüchtlings Stirne, als sein Befreier in so ablehnender Weise auf den warmen Ausbruch seines dankerfüllten Herzens antwortete, allein er unterdrückte dieses Gefühl rasch und sprach: »Gleichviel ... wenn Sie auch kein Anhänger der Grundsätze sind, für welche ich gefochten und geblutet habe ... Walther Dennhardt wird doch nie aufhören sich Ihrer dankbar zu erinnern, und wenn Sie einst einen Mann suchen, der Ihnen einen großen Dienst leisten soll, so mögen Sie meiner eingedenk sein ... Und nun leben Sie wohl, mein Herr ... die Sonne sinkt und es ist noch eine tüchtige Strecke Wegs zur nächsten Eisenbahnstation. Gieb mir das Kind, Fanny.« Die junge Frau reichte ihrem Gatten das Kind, welches noch immer schlummerte, und grüßte mit stummer Verbeugung den jungen Mann und seine beiden Freunde, die stille Zuschauer der Scene geblieben waren. Auch der Flüchtling grüßte noch einmal seinen Helfer in der Noth mit einem Blick des Danks, dann wendete er sich zur Linken, der Heerstraße zu, welche nach der Hauptstadt des Elsasses führte, gefolgt von Fanny, die gedankenvoll hinaus ins Weite sah. Sie waren schon zehn Schritte gegangen, als sie sich noch einmal von dem Andern angerufen hörten. »Ein Wort noch, mein Herr,« rief der junge Mann, auf die Stillstehenden zugehend, »Sie wollen heute noch nach Straßburg ... ich glaube kaum, daß es Ihnen möglich sein wird die Stadt heute vor später Nacht zu erreichen ... Es ist jetzt fünf Uhr ... in wenigen Stunden bricht schon die Nacht an und Sie haben noch zwei Meilen bis dorthin ... Für eine zarte Frau und für ein Kind von so jungem Alter dürfte eine Nachtreise doch bedenklich sein.« Dennhardt warf einen fragenden Blick auf seine Gattin. »O, was mich betrifft,« entgegnete die junge Frau mit Stolz und Energie, »so brauchst Du keine Rücksicht darauf zu nehmen ... ich hasse jenes Land,« und sie deutete nach der deutschen Grenze; »ich habe es nie geliebt ... und jeder Schritt, der mich weiter davon entfernt, dünkt mir Gewinn zu sein.« Es waren die ersten Worte der jungen Frau, und das reine Französisch, in welchem sie gesprochen wurden, überraschte den Andern ebenso wie der energische Ausdruck des Hasses gegen Deutschland, der sich in ihnen aussprach. »Sie sind eine Landsmännin von mir?« frug der junge Franzose mit lebhaftem Tone. »Meine Frau ist Brüsselerin,« fiel der Flüchtling ein, indem sich eine Wolke auf seiner Stirn zeigte, »für die aber Deutschland die zweite Heimath wurde, die sie nie aufhören sollte zu lieben ... die sie nie schmähen sollte, selbst nicht in Momenten, wo die Seele erfüllt ist von Bitterkeit und dem Bewußtsein erlittenen Unrechts.« Die Frau schwieg auf diese mehr schmerzliche, als in vorwurfsvollem Tone gesprochene Bemerkung ihres Gatten, und der junge Mann fuhr rasch fort: »Ich wollte Ihnen nur einen Vorschlag machen, der Ihnen unter diesen Umständen vielleicht annehmbar erscheinen dürfte. Ich bin der Besitzer dieser Fluren und jenes Schlosses, welches Sie dort hinter dem Birkenwäldchen sehen ... Wenn Sie sich hier von den Anstrengungen Ihrer Flucht erholen wollen, so steht es zu Ihrer Verfügung ... Doch,« fügte er rasch hinzu, als er eine gewisse Unentschiedenheit in den Zügen des Flüchtlings zu erblicken glaubte, »doch zuvor ist es nöthig, daß wir näher mit einander bekannt werden ... Kennen wir doch nicht einmal unsere Namen. Ich bin der Vicomte Edmund von Grandlieu.« »Mein Name ist Walther Dennhardt, Bildhauer meinem Berufe nach.« »Wie? Sie sind Bildhauer ... o, Das trifft sich ja herrlich,« fiel der junge Baron von Grandlieu ein, »ich habe eine wundervolle Antike in meinem Parke, eine Statue der Juno, an der leider ein Theil des rechten Armes fehlt ... Sie könnten, Herr Dennhardt, in voller Muße diesen Mangel ergänzen und mich dadurch zum lebhaftesten Dank verbinden.« Mit einem schmerzlichen Lächeln zeigte der Bildhauer auf seine verwundete und mit Bandagen umhüllte Rechte. »Es thut mir in der That wehe, Herr Vicomte, daß ich Ihnen meine Dankbarkeit so schlecht beweisen kann. Ich werde wohl nicht so bald wieder den Meißel und den Hammer führen können. Der Bajonnetstich, der mir die Hand durchstach, hat vielleicht meiner Künstlerlaufbahn für immer ein Ende gemacht. Und nun nochmals herzlichen Dank für Ihr gastfreundliches Anerbieten, wenn wir dasselbe auch nicht annehmen können.« »Wie, Sie wollen?« erwiderte der Baron von Grandlieu, indem er ein Gefühl der Verstimmung, welches ihn bei der abschläglichen Antwort des Bildhauers überkommen, unterdrückte. »Und wenn Sie vielleicht das Schicksal nach Paris führen sollte, so vergessen Sie dann nicht das Hôtel Grandlieu in der Rue de la Paix.« Er grüßte, ließ noch einen lebhaften Blick auf die junge Frau fallen und ging dann zurück zu seinen Freunden, während die Flüchtlinge ihren Weg nach Straßburg fortsetzten, stumm und ernst, ein Jedes mit seinen Gedanken an die Vergangenheit und die ungewisse Zukunft beschäftigt, ein Jedes fühlend, daß zwischen ihnen Etwas lag, worüber es zur Erklärung kommen mußte. 2. Mann und Weib. Die Vorhersagung des Barons von Grandlieu war in Erfüllung gegangen. Das Geschick hatte Walther Dennhardt nebst Frau und Kind nach Paris geführt ... An einem heitern Septembermorgen war er in der französischen Hauptstadt, die ihm schon von einem frühern Aufenthalte her nicht ganz unbekannt war, angelangt und hatte sich mit seiner kleinen Familie in einer der Vorstädte, in der Nähe von Belleville, eingemiethet. Es war an einem Nachmittag, vielleicht eine Woche nach der Ankunft in Paris, als Dennhardt mit seinem Kinde am Fenster saß und gedankenvoll hinüberschaute in den Park des Nachbarhauses, in welchem der Herbstwind schon gelbe Blätter über die noch grünen Rasenplätze trieb. Seine Frau war mit einer Dienerin ausgegangen, um einige Einkäufe für die häusliche Einrichtung zu besorgen. Dennhardt hatte eine Weile mit dem Kinde gescherzt und gespielt, bis es müde geworden das Köpfchen an seine Brust gelehnt hatte und eingeschlummert war. Leise und vorsichtig, um die schlafende Kleine nicht zu erwecken, erhob er sich und legte sie behutsam in das kleine braunlackirte Schaukelbett, welches unweit des Fensters stand. Dann rückte er sich seinen Sessel an die Wiege und versank von Neuem in tief-ernstes Sinnen und gedankenschweres Brüten ... Die letzten drei Jahre, zugleich die bedeutungsvollsten seines Lebens, zogen an ihm vorüber. Gerade vor drei Jahren hatte er Paris, wo er in dem Atelier eines der berühmtesten Meister gearbeitet, verlassen, um einen Auftrag auszuführen, welchen er von der belgischen Regierung erhalten hatte. Er ging nach Brüssel, und hier war es wo er Fanny kennen lernte. Sie gehörte einer reichen adeligen Familie an, die sich lange gegen die Verbindung mit dem deutschen Künstler, der zwar einen ehrenvollen Namen in seiner Kunst, aber doch nur einen bürgerlichen trug, sträubte. Aber Fanny war eine energische Natur; gerade der Widerstand, den sie fand, reizte sie, und eines Tages war sie mit Dennhardt aus Brüssel entflohen, um sich in einer Grenzstadt an der belgisch-holländischen Grenze mit dem Geliebten trauen zu lassen. Der Familie blieb darauf weiter Nichts übrig, als zu der vollendeten Thatsache ihre Zustimmung zu geben. Im Grunde der Herzen blieb aber der Zwiespalt unausgeglichen, und Dennhardt, Dies fühlend, verließ Brüssel, sobald er die übernommene Arbeit vollendet hatte. Er kam nach Deutschland zurück in einer Zeit, deren mächtiger Zug auch kältere und weniger für alles Große und Schöne im Menschen- und Völkerleben begeisterte Naturen in unwiderstehlicher Gewalt mit sich fortriß, im Anfange des Jahres 1847. Welches Ringen, welches Streben, welches Kämpfen in der Welt der Geister, auf allen Gebieten des Lebens, der Politik, der Kunst, der Literatur, der Gesellschaft. Die alte Weltordnung war im Begriff vollends unterzugehen, auch jene letzten Trümmer noch, welche die Revolution von 1789 übrig gelassen und die von der Restauration von 1815 mit aller Macht und Anstrengung aufrecht erhalten worden waren. In Frankreich klopfte die Revolution schon an die Thore eines Königspalastes, dessen Bewohner vielleicht hauptsächlich deßhalb seine Krone verlor, weil er über den schön aufgeputzten Reden und Declamationen einer corrumpirten, mit Orden, Titeln und Aemtern erkauften Kammermehrheit den Nothschrei und den Weheruf des Volkes in den Straßen überhörte. In der Schweiz stand sich das Jesuitenthum von Luzern und das freie Bürgerthum der Eidgenossenschaft mit gewaffneter Hand gegenüber, schon witterte man in der Luft der Schweizerberge Etwas von einem Pulverdampfe, der wenige Monate später über die Ebene am Gislikon wogte und in dessen Wolken das jesuitische Sonderbündlerthum ersticken sollte ... Dazu die Bewegung der Geister in Deutschland selbst! Seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm's IV. von Preußen war ein Ringen und Kämpfen entstanden auf den Gebieten des öffentlichen Lebens, wie man es vorher in Deutschland in dieser Weise nicht gekannt hatte. Große und leidenschaftliche Hoffnungen hatten sich an den Regierungsantritt dieses Königs geknüpft. Kaum ein Jahr war verflossen, und man sah mit zweifelloser Klarheit, daß man sich getäuscht hatte. In der Presse, in den Kammern, in der Wissenschaft, auf dem Gebiete der Religion, überall liefen die Vorkämpfer der neuen Ideen Sturm gegen die alten Traditionen. Die Reden Itzstein's, Welcker's, Hecker's, Bassermann's, in der badischen zweiten Kammer fanden einen Wiederhall in ganz Deutschland und weckten gleiche Stimmen im Ständesaal zu Dresden, während die Presse mit ihrer ganzen Macht die Kammerredner unterstützte. Alles rief nach Freiheit; und so unklar für Tausende auch dieser Begriff war, so wunderlich die Vorstellungen, welche sich Viele von der Freiheit machten; das Wort hatte einen Zauberklang, der die Herzen mit gewaltiger Kraft ergriff und mit sich fortzog ... Die »Vaterlandsblätter« Robert Blum's, Gustav Struve's »Deutscher Zuschauer,« Keil's »Leuchtthurm« wurden heißhungrig verschlungen und jedes Blatt warf neue Funken in die schon entzündeten Gemüther. Dazu der Kampf auf dem Gebiete der katholischen Kirche, welchen Johannes Ronge durch seinen berühmten Fehdebrief aus Laurahütte an den Bischof Arnoldi von Trier zum Ausbruch gebracht hatte, die Aufregung der Geister wegen Lösung der socialen Frage, die immer drohender heranrückte und ihre Tirailleurs in ganzen Schwärmen socialistischer Schriftsteller vorausschickte, der ängstliche zögernde, halbe Widerstand der Staatsgewalten, welche den Boden unter ihren Füßen wanken fühlten, -- alle diese Momente mußten eine so empfängliche Natur, wie Walther Dennhardt, mit unwiderstehlicher Gewalt ergreifen. Und Fanny? Sie war oder schien wenigstens ebenso leidenschaftlich für die Ideen der Freiheit und Gleichheit begeistert zu sein wie ihr Gatte, und als die gewaltige Katastrophe der Februarrevolution ausbrach, Deutschland von ihrer Macht ergriffen wurde, in Wien und Berlin die Barrikaden sich erhoben, da bedurfte es der ganzen Ueberredungsgabe Dennhardt's, um die junge Frau abzuhalten gleich ihm auf den Barrikaden gegen die Soldaten zu fechten ... Es liegt nicht in unserer Absicht, in dieser Erzählung alle die verschiedenen Phasen der so denkwürdigen Bewegung von 1848 und 1849 zu schildern, wir wollen nur so viel erwähnen, daß Walther Dennhardt und seine junge Frau sich den entschiedensten Vorkämpfern der demokratischen Partei anschlossen, und im Frühjahr 1849 finden wir sie in Baden, wo die letzten Kämpfe der Bewegung ausgefochten wurden. Hier entdeckte Dennhardt, dem seine Gattin im Sommer 1848 eine Tochter geboren hatte, zum ersten Mal einen Zwiespalt zwischen seinen und Fanny's Ansichten. Die provisorische Regierung bot ihm die Stellung eines politischen Commissärs an. Er sollte mit ausgedehnten Vollmachten nach dem Schwarzwald geschickt werden, um dort die Bewegung zu organisiren. Es war dies eine Stellung ganz selbständiger Natur und von bedeutendem Einfluß. Dennhardt schlug sie jedoch aus und zog es vor, als Freischaarenführer in die Reihen der Kämpfer zu treten. Fanny machte ihm hierüber Vorwürfe: »Warum hast Du dieses Amt nicht angenommen?« sprach sie »und verurtheilst Dich selbst zu einer so niedrigen Stellung? Als ob es nicht Tausende genug gäbe, die gut zum Dreinschlagen sind. O, Ihr idealen deutschen Schwärmer, Ihr werdet niemals eine wirkliche Revolution zu Stande bringen; denn es fehlen Euch die energischen revolutionären Naturen. Ueberall diese ängstliche Bescheidenheit und Blödigkeit, die jungen Mädchen gut steht, aber wahrlich Männern nicht geziemt, welche eine Staatsumwälzung vollführen wollen.« »Ich kämpfe nicht aus selbstsüchtigen, persönlichen Motiven, sondern für meine Ueberzeugung, für Deutschlands Einheit und Freiheit; ich schlug diesen Antrag aus, weil ich fühlte, daß ich dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Als Kämpfer aber kann ich meine Pflicht erfüllen.« Fanny lächelte spöttisch: »War es nicht ein deutscher Dichter, Euer Göthe, welcher das Wort vom Dienen und Herrschen sprach? Wohl, wenn die Freiheit und Einheit Deutschlands erkämpft ist, wird es noch immer Solche geben, die befehlen, und Solche, welche gehorchen müssen. Hast Du so große Lust zu den Letztern zu schwören?« »Weder zu den Einen, noch zu den Andern ... ich will Nichts weiter als ein freier Bürger im freien Vaterlande sein. Doch lassen wir Das,« sprach er abbrechend, »diese Erörterung ist überflüssig ... und schmerzlich dabei ist mir nur das Eine, daß Du, Fanny, so wenig meine Grundsätze und Ueberzeugung kennst.« Fanny schwieg. Doch als der Gang der Begebenheiten immer verhängnißvoller wurde, der Sieg der Sache, für welche Dennhardt die Waffen in feuriger Begeisterung ergriffen, immer zweifelhafter, da mußte er manche bittere Bemerkung seines Weibes hinnehmen, und obwohl widerstrebend mußte er sich doch gestehen, daß Fanny nicht aus Enthusiasmus, aus innerer Ueberzeugung seine politischen Bestrebungen gebilligt und an ihnen Theil genommen hatte, sondern aus ganz andern Beweggründen. Zur vollen Gewißheit darüber gelangte er nach jenem Auftritt an den Ufern des Rheins, wo er nur durch das Dazwischentreten des französischen Barons vom Kerker errettet wurde. Dennhardt hatte Fanny Vorwürfe über ihr gehässiges Wort gegen Deutschland, das sie dem Baron von Grandlieu gegenüber ausgesprochen, gemacht. Da war ihrem Herzen in leidenschaftlicher Rede all die Bitterkeit entquollen, die sich lange in ihr angehäuft hatte. »Du willst mir Vorwürfe machen,« hatte sie ihm erwiedert, »daß ich mit Worten des Hasses und des Abscheues von Deinem Deutschland gesprochen habe. Kann ich aber andere Empfindungen gegen Dein Vaterland haben? Ist es nicht das Grab aller meiner Hoffnungen und Träume geworden, hat es mir etwas Anderes als Täuschungen geboten?« Und als Dennhardt sie mit einem großen fragenden Blicke angesehen, hatte sie unter dem Eindrucke einer sich immer höher steigernden Erregung weiter gesprochen: »Du weißt es, Walther, als ich Dein Weib wurde, da liebt' ich Dich stark und innig. Aber ebenso liebte ich auch Deinen Künstlerruhm, den Namen, den Du Dir durch Deine Werke errungen hattest. Oder glaubst Du, daß ich, die Tochter eines edlen Geschlechts, Dir mein Herz und meine Hand gegeben hätte, wenn Du ein unbekannter und unbedeutender Mensch, ein Mann ohne Namen und ohne Zukunft gewesen wärest?« »Wie!« unterbrach sie bei diesen Worten ihr Mann mit schmerzlichem Ausdruck in Rede und Geberde, »so war es nicht der Mann, den Du in mir liebtest, sondern der Künstler, nicht Walther, sondern der Bildhauer Dennhardt?!« »Ich kann den Einen nicht von dem Andern trennen. Ich sah in Dir den gefeierten Künstler und den Mann von Geist und Kraft, der ringend und strebend seine Hand nach dem Höchsten auszustrecken wagt, das uns vom Leben dargeboten wird. Und nun ...« »Bin ich ein heimathloser Flüchtling,« fiel Dennhardt mit schmerzlicher Bitterkeit ihr ins Wort, »der das bittere Brod der Verbannung essen muß und Du mit ihm ... O Fanny, dieses Wehe den Besiegten! aus Deinem Munde zu hören, Das brennt mich mehr als es jemals diese Wunde hier gethan.« Aus Fanny's Augen brach ein Blick verletzten Stolzes hervor. »Du kennst mich wahrlich schlecht,« antwortete sie leidenschaftlich, »wenn Du glaubst, daß es die Furcht vor der ungewissen Zukunft unseres Schicksals ist, was mich beunruhigt und aufreizt ... Oder, daß ich deßhalb in Vorwürfe und Klagen ausbreche, weil die Sache, für welche Du gefochten, unterlegen ist ... Nein, nicht Das ist es, sondern weil ich sehe, daß Du nicht zu jenen kühnen und energischen Naturen gehörst, welche zu den Höhen des Lebens emporstreben.« »Sprich nicht weiter ...« unterbrach sie Walther mit einer Geberde und einem Ausdruck in Blick und Ton, vor welchem sie die Augen zur Erde senken mußte, »ich weiß genug, Du brauchst Nichts mehr hinzuzusetzen ... Also nicht die gleiche Ueberzeugung, wie ich sie habe, die Ueberzeugung, für eine große, gerechte und edle Sache zu kämpfen, war es, welche Dich beseelte, nicht die Uebereinstimmung mit den Grundsätzen Deines Gatten, die Liebe zur Freiheit sprach aus Dir, sondern die Leidenschaft zu herrschen und zu glänzen, jener ungezügelte Ehrgeiz, für den die Ideen nur die Mittel zur Erreichung selbstsüchtiger Zwecke sind. Mein Ruf und Ruhm als Künstler, den ich mir in strenger Arbeit meines Berufs erworben, er genügte Dir nicht mehr, Dein nach äußerer Ehre und glänzender Lebensstellung dürstendes Herz begehrte mehr ... Suche weder mich noch Dich selbst zu täuschen, Fanny, Du bist nicht die Einzige Deines Geschlechtes, die so empfindet ... Ich habe in dieser sturmbewegten Zeit, wo alle Kräfte und Elemente der Menschen- und Volksnatur entfesselt wurden, gar manche Frau gefunden, welche von gleichen Gefühlen bewegt wurde; aber nie hätte ich geglaubt, daß Du auch zu ihnen gehörtest. Es muß wohl wahr sein,« setzte er mit einem bittern Lächeln hinzu, während der Ton seiner Stimme zu einem dumpfen Murmeln herabsank, »es muß wohl wahr sein das alte Wort, daß die Liebe Diejenigen blendet, welche ihr unterthan sind.« So endete jenes Gespräch auf der Flucht. Konnte bei so einander widerstrebenden Ansichten ein inniges Verhältniß zwischen den beiden Gatten fortbestehen? Ein Jedes von ihnen fühlte nur zu deutlich, daß Dies nicht möglich sei. Wenn Walther und Fanny gewöhnlichere Naturen gewesen wären, so hätte vielleicht mit der Zeit eine Ausgleichung stattgefunden. Allein er wie sie waren zu bestimmt ausgeprägte Charaktere; der ideale Zug Walther's, der ihn zum Märtyrer für die Freiheit gemacht, die uneigennützige Hingabe an eine große und heilige Sache stand in schroffem und unvermitteltem Gegensatz zu Fanny's Wesen. Ihr Gatte hatte nicht Unrecht gehabt, als er sie vor Selbsttäuschung warnte, die junge Frau war sich in der That über den Ursprung ihrer Empfindungen und Meinungen nicht klar. Fanny war Nichts weniger als ein Mannweib oder eine Emancipirte, wie es deren während der Bewegungsjahre eine ziemliche Anzahl unter den Frauen gab. Nicht die Begeisterung für die großen Ideen der Demokratie hatte sie beseelt, sondern ganz andere Motive hatten sie zur Anhängerin der Bewegung gemacht. Dennhardt lebte, wie wir schon erzählt, vor dem Ausbruche der Märzrevolution in einer deutschen Residenzstadt. Sein Beruf brachte ihn in häufige Berührung mit der sogenannten vornehmen Gesellschaft. Frauen und Männer aus diesen Kreisen besuchten sein Atelier, fast täglich hielten die Wagen der Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hofs vor seinem Hause. Allein man kennt ja die chinesische Abgeschlossenheit der vornehmen Kasten in unserm Deutschland; trotzdem, daß Dennhardt's Werkstatt nicht leer wurde von vornehmen Besuchen, blieben ihm und seiner Frau doch die geselligen Kreise dieser Besucher verschlossen. Ja, wenn er wenigstens Baron, Ritter eines hohen Ordens oder Hofrath vierter Classe gewesen wäre! Allein ihm fehlte jedes dieser Verdienste, er war und wollte nicht mehr sein als der Bildhauer Walther Dennhardt. Es half ihm Nichts, daß sein Name in der Kunst ein hoch geachteter, sogar berühmter war, all sein Künstlerruhm öffnete ihm nicht die Thüren zu jenen aristokratischen Salons, in welchen Abends die Herren und Damen über die Statuen und Gruppen plauderten, die sie des Morgens in seinem Hause bewundert hatten. Ihm persönlich war Dies nun freilich sehr gleichgültig. Dennhardt würde selbst diese geselligen Cirkel gemieden haben, wenn man ihn mit Einladungen überhäuft hätte. Er war ein principieller Gegner der Anschauungen, die unter diesen Leuten gang und gäbe waren, er war mit Leib und Seele viel zu sehr Demokrat, als daß er sich in dem Umgange mit diesen Aristokraten hätte wohl fühlen können. Hätte er ihnen doch sogar gern seine Werkstatt geschlossen, wenn Dies möglich gewesen wäre. Außer in einem kleinen Kreise gleichgesinnter Freunde, welche theils Künstler, theils Gelehrte, Schriftsteller, Aerzte, Advokaten waren, bewegte sich Dennhardt häufig in jenen Volkskreisen, wo der Mangel an positiver Bildung und Formengewandtheit durch die Naivetät der Empfindung und durch die selbstlose Hingebung an oft selbst mißverstandene Ideen aufgewogen wird. Anders war es bei Fanny. Sie, die Tochter eines adeligen vornehmen belgischen Geschlechts, welche dem jungen deutschen Künstler vielleicht eben so sehr aus Liebe als aus Trotz gegen ihre widerstrebende Familie ihre Hand gegeben, sie mit ihrem stolzen Sinn, der gewöhnt war an Glanz und Huldigungen, sie, die schöne junge Frau, nicht ganz frei von jener Koketterie, welche unbekümmert um die Wunden, die sie schlägt, so gern stolze Triumphe feiert, sie fühlte sich durch jene schroffe Abgeschlossenheit der vornehmen Kaste verletzt, gekränkt. War der Adel ihrer Familie nicht ebenso alt als der dieser hochmüthigen deutschen Baroninnen und Gräfinnen, war sie nicht ebenso schön, vielleicht noch schöner und jedenfalls viel geistreicher als eine Menge dieser vornehmen Damen, welche das Vorrecht genossen, bei den Festen des königlichen Hofes erscheinen zu dürfen, die den gesellschaftlichen Ton angaben und deren Namen stets genannt wurden, wenn von den Bevorzugten der Gesellschaft gesprochen wurde? Es wäre ein Wunder gewesen, wenn sich Fanny's stolze Natur nicht aufs tiefste dadurch hätte verletzt fühlen sollen. Ihr Haß gegen jene vornehme Kaste steigerte sich täglich, mit fieberhafter Hast las sie die Werke der französischen und deutschen Socialisten und verfocht in den Kreisen der Freunde ihres Mannes die Grundsätze der socialen Gleichheit mit einer Leidenschaftlichkeit, wie man sie nur bei heißblütigen Frauennaturen findet. So geschah es, daß Fanny ihrem Gatten als begeisterte Anhängerin der Grundsätze, für welche er selbst das Leben einzusetzen bereit war, erscheinen mußte. Erst als die Katastrophe eintrat, welche ihn zum heimathlosen Flüchtling werden ließ, kannte er die tiefe Kluft, welche zwischen seinen und seiner Gattin Ideen lag. * * * * * Dies Alles bei sich im Geiste erwägend, saß Dennhardt an dem Herbstnachmittag an der Wiege seines Kindes in jenem Hause der Vorstadt von Belleville. 3. Ein kleines Kind. Der Winter lag auf der Stadt Paris, ein echter nordischer Winter mit Schneegestöber und schneidender Kälte. Weihnachten, das heilige Fest, an welchem die Engel des Himmels wie die Engel der Erde die kleinen Kinderherzen, aufjauchzen in seliger Freude, stand vor der Thür. Noch wenige Stunden und herab senkte sich auf die dunklen Fluren die geweihte Nacht, die einst mit den erhabenen Worten der Verheißung: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!« den armen Hirten verkündigt wurde. Friede auf Erden! Hohe, schöne Botschaft der himmlischen Heerschaaren! Aber wo ihn suchen, um ihn zu finden diesen Frieden, von dem die Engel auf jenem Felde Palästina's sangen? In der Natur, wo oft urplötzlich entfesselte Kräfte mit wilder dämonischer Gewalt losbrechen, Zerstörung und jähe Vernichtung in ihrem Gefolge? Bei den Thieren des Feldes oder des Waldes, die vom Hunger gestachelt in blutigem Kampfe sich zerfleischen? Oder bei den Menschen? Vielleicht in ihren Tempeln, wo sie Gott dienen und derselbe Priester, der über Euch den Segen spricht, seinen Fluch auf Die schleudert, welche andern Glaubens sind? Oder in den Schulen und Hörsälen, wo die Quellen der Weisheit fließen und die Jünger der Wissenschaft, die nach derselben einzigen und ewigen Wahrheit suchen, so oft ihre beste Kraft vergeuden in fruchtlosem Gezänke über leere Formen? Oder in den Palästen der Könige, wo feile Schmeichler das Ohr der Mächtigen vergiften und Zwietracht und Furcht säen zwischen Volk und Fürst? Und wenn Ihr wie jener Unselige, der den Heiland mit der Kreuzeslast fluchend von seiner Schwelle stieß, Jahrhunderte lang über den Erdball wandertet, Ihr würdet ihn nimmer an diesen Stätten finden jenen stillen sanften Frieden, nach welchem unser Herz sich so tief sehnt, wenn es gebrochen, aus tausend Wunden blutend, die ihm der Kampf des Lebens geschlagen, im wilden Schmerze zusammenzuckt. So sucht den Frieden an der Brust eines Freundes, in den Armen eines liebenden Weibes! Aber wenn Ihr nicht verblendet seid und Schaumgold mit edlem Metall verwechselt, dann müßt Ihr gestehen, daß die echten Freunde wie die liebenden Frauen so selten sind wie jene blaue Blume, deren Duft die Zauberkraft hat, kranke Herzen zu heilen, die von tiefster Sehnsucht nach einem Glück gequält werden, welches auf Erden nie zu finden ist. So suchen wir vergebens den Frieden auf Erden? »Suchet und Ihr werdet finden!« Suchet ihn da, wo ihn jener Mann gefunden hat, den wir als Verfolgten das deutsche Land verlassen und nach der großen Stadt Paris fliehen sehen, wo er seit vier Monaten mit Weib und Kind weilt. Es ist Abend geworden, heiliger Abend. Walther Dennhardt sitzt in demselben Zimmer, in welchem wir ihn an jenem Septembernachmittage brütend fanden, vor einem Tisch, um den Christbaum für sein Kind zu schmücken, für sein liebes kleines Kind. Hinter dem Ofenschirm schlummert sie in ihrem Wiegenbett, die kleine Mimi, die vor zwei Monaten ihren ersten Geburtstag gefeiert hat. Horch! jetzt regt und streckt es sich in dem Bettchen, ein leichter Aufschrei, und mit einem Sprunge ist der Vater an des Kindes Wiege. »Ausgeschlafen, meine kleine Mimi?« lächelte er dem Kinde entgegen, während ein goldiger Freudenschimmer des ernsten Mannes Züge verklärt. Und das Kind streckt ihm mit dem süßen Rufe »Papa« lächelnd die kleinen runden Arme entgegen. Er hebt es zu sich empor und bedeckt das kleine rosige Gesicht mit Küssen, während Mimi mit ihren Händchen ihm jauchzend den Bart zaust. Da erblickt die Kleine den grünen Tannenbaum mit den goldenen Nüssen und silbernen Aepfeln und dem bunten Zuckerwerk, und in die Hände klatschend stößt sie einen hellen Schrei aus. Mit einem Blick unaussprechlicher Zärtlichkeit betrachtete Dennhardt die kleine Mimi, welche nach dem ersten Ausbruch ihres Jubels still die Herrlichkeiten des Christbaums anstaunte. Sie war sein Alles, die kleine Mimi, seine Freundin, seine Geliebte, seine Welt, sein Ideal. Es war ein herziges, liebes Kind, ein kleiner holder Engel, wie ihn Raphael's Phantasie in ihrer glücklichsten Stunde nicht reizender träumen konnte. Die blonden weichen Locken, welche den kleinen Kopf umwallten, die lieben braunen Augen, welche so frisch in die Welt hineinblickten, das rosige Plappermäulchen, hinter dessen rothen Lippen schon der weiße Schmelz der ersten Zähne hervorglänzte, das weiche runde Kinn mit dem kleinen Grübchen, die helle Stirn mit ihrem Schimmer reinster Unschuld, auch ein kälteres Herz, als es das Herz eines Vaters ist, hätte die Kleine lieben müssen. Da klingelte es draußen an der Thüre des Vorzimmers, leichte Schritte wurden hörbar. Die Kleine hob das Köpfchen von der Schulter des Vaters und fröhlich in die Händchen klatschend rief sie: »Mama ... Mama ...« Fanny trat ein. »Mimi!« und Hut und Mantel abwerfend eilte sie auf die Kleine zu, welche ihr jauchzend entgegenzappelte. Sie nahm das Kind aus Walther's Armen und zog es an ihre Brust, das kleine Köpfchen mit unzähligen Küssen bedeckend. Wer in diesem Augenblicke Beobachter dieser Scene gewesen, Zeuge von den Ausbrüchen der leidenschaftlichen Zärtlichkeit gegen das kleine reizende Wesen, der würde sicher geglaubt haben, daß in dieser kleinen einfachen Wohnung des deutschen Flüchtlings sich ein Tempel des häuslichen Glückes aufgerichtet, wie man ihn in Millionen von Palästen und Hütten vergebens sucht. Und doch hätte er nur den einen Blick, welchen die beiden Gatten bei ihrem Wiedersehen mit einander wechselten, auffangen müssen, um zu erkennen, daß dieses Kind das einzige, letzte Band noch war, welches die Beiden an einander fesselte. Wem aber jener Blick noch nicht Alles gesagt, der hätte an dem Tone von Walther's Stimme erkannt, daß hier zwei Herzen neben einander schlugen, die sich so fremd geworden waren, daß keines mehr den Schlag des andern verstand. »Es beginnt zu dunkeln, geh' mit der Kleinen so lange in das Schlafzimmer, bis ich den Baum angezündet habe. Wo sind die Puppen und die anderen Sachen?« »Der Commissionär wird sie auf dem Vorsaal abgelegt haben,« entgegnete die junge Frau, in das Nebenzimmer gehend, in einem Tone, der so kalt, so eisig war, wie der Nordwind, der vom Montmartre herab durch die Straßen der Stadt fegte. Dennhardt sah ihr mit einem langen ernsten Blicke nach. »Wir beide haben mit einander abgeschlossen,« sprach er für sich, »aber das Herz des Kindes sollst Du mir nicht rauben, Du verblendetes stolzes Weib, das nicht leben kann ohne jenes nichtige Rauschgold und jenen Flittertand, dem die Narren nachjagen, um darüber das wahre echte Glück des Lebens, den Frieden des Herzens zu verlieren.« Weder in seinen Mienen, noch in dem Klange seiner Stimme drückte sich bei diesen Worten etwas Schmerzliches oder Klagendes aus, er sprach diese Worte so ruhig, so leidenschaftlos, so reflectirend, etwa wie ein Professor auf dem Katheder über einen Satz der Moralphilosophie. Aber diese Ruhe hatte er mit Kämpfen sich erkauft, die er nicht zum zweiten Male hätte bestehen können. Dann trat er an den Tisch, um den Christbaum anzuzünden und den Weihnachtstisch für seine kleine Mimi herzurichten. Es war finster draußen, der Wind trieb dichte Wolken von Schneeflocken durch die Straßen und gegen die Fenster der Häuser, die Bäume des Parks stöhnten und seufzten unter der Gewalt des Wintersturmes -- in der Brust des Verbannten aber, der hier auf fremder Erde seinem Kinde den ersten Christbaum anzündete, da leuchtet es in diesem Augenblicke auf von hellem, warmem Sonnenschein. Seine Mimi war es ja, für die er die Lichter des Tannenbaums anbrannte, ihr gehörten alle die bunten flimmernden Herrlichkeiten dieses Tisches, dem kleinen holden Engel, welchen ihm die gütige Gottheit gesendet hatte zum Trost und zur Freude inmitten der Wirrsale seines wild bewegten Lebens. Endlich war Alles geordnet, er klatschte in die Hände, die Thür des Nebenzimmers öffnete sich und mit einem Male strömte der helle Lichtglanz in das dunkle Cabinet, auf dessen Schwelle die kleine Mimi stand, sprachlos die Händchen in einander gefaltet, ein Bild lieblichsten Erstaunens. Ein Wonneschauer seligsten Entzückens ging durch des Mannes Seele. Wohl giebt es der Freuden, welche ein Menschenherz erbeben lassen, viele und schöne, aber eine reinere, unschuldigere, süßere Freude, als ein liebend Elternherz empfindet, wenn des ersten Christbaums Lichter in die Seele des Kindes jenen hellen Glanz werfen, der noch nach langen, langen Jahren durch das Dunkel des Lebens uns seinen magischen Schimmer nachsendet, eine sanftere, beglückendere Freude giebt es nicht auf dem Erdenrund. Aber auch Fanny vergaß in dieser Minute alle die Dissonanzen ihres jetzigen Lebens und versenkte sich ganz in die bewegte liebliche Kinderseele. Still war es im Zimmer, still als wenn ein Engel durchs Gemach schwebte und seinen Gruß dem blonden Engelsköpfchen mit den lieben braunen Augen zuwinkte. Allmälig erholte sich die Kleine von ihrem Erstaunen. Anfangs mit zögerndem, dann mit lebhafterem Schritte näherte sie sich dem Weihnachtstische, und als sie endlich dicht vor den schimmernden Herrlichkeiten stand, stieß sie einen lauten jauchzenden Ruf aus und faßte mit beiden Händen nach der nächsten Puppe, die sie zärtlich an ihr kleines, vor Aufregung und Freude laut klopfendes Herz drückte. O welch ein unendlich reicher Schatz von Liebe liegt in eines Kindes Brust, wie sollte er gehütet werden von Denen, welchen Gott die Kinder zur Obhut anvertraut, und wie gewissenlos wird es nur zu oft verwaltet dieses Geschenk des Himmels, wie wird Stück für Stück dieser Juwelen der Liebe den kleinen Kinderherzen geraubt, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und wenn sie endlich groß sind, dann sind sie so bettelarm geworden, daß sie die wahren Juwelen der Liebe von den falschen, unechten nicht einmal mehr unterscheiden können. Es war Mimi's erste Puppe ... die erste Puppe! Welche Liebkosungen, welche Zärtlichkeiten empfängt sie, wie offenbart sich an dem Kinde und seiner ersten Puppe ein so schöner rührender Zug edelster Menschlichkeit. Es fühlte das kleine Kinderherz die Hülflosigkeit seiner Puppe, wie das arme Ding mit den kleinen Händen und Beinen und dem runden rothen freundlichen Gesicht so ganz und gar auf seine Pflege und Sorge angewiesen ist. Und nun füttert die Kleine das arme Püppchen und giebt ihm zu trinken, Kuchen und Milch, gerade wie es Mama mit ihr zu thun pflegte, und wickelt sie in ihre Schürze, daß sie nicht friert die arme Kleine, und macht ihr ein Bettchen in der kleinen Wiege und drückt sie zärtlich an die Brust und schläft endlich mit ihr ein, mit ihrer Puppe im Arm. Und so ist auch die kleine Mimi eingeschlafen mit ihrer Puppe und des Kindes Wange ruht an der ihres kleinen Schützlings und um die Lippen des Kindes schwebt noch das letzte Lächeln, mit dem sie ihre Puppe angelächelt, schon halb im Schlummer, umgaukelt von den rosigen Engeln der Kinderträume. Da erhebt sich die junge Frau und verläßt das Zimmer, Hut und Shawl ergreifend, und steigt die Treppe hinab und öffnet das Haus und steigt in einen Wagen, der zwanzig Schritte von der Thür hält und dann mit ihr fortrollt. Und wieder sitzt Dennhardt allein an der Wiege seines Kindes. Die Lichter des Tannenbaums sind erloschen bis auf eine einzige Kerze, welche mit ihrem matten Schimmer das Gemach erleuchtet, auf dessen Wänden und auf dessen Diele die Aeste und Zweige des Christbaums ihre Schatten werfen. Der Geruch des Wachses durchzieht vermischt mit dem harzigen Tannenduft die Luft und aus dem Halbdunkel glitzern und blinken die goldenen Nüsse und silbernen Aepfel magisch hervor. Erinnerungen an alte längst verklungene Zeiten gehen durch des Flüchtlings Seele. Die freundlichen Geister seiner Kindheit schlüpfen aus den Zweigen des Tannenbaums hervor und tragen ihn fort, weit fort von dem großen Paris in eine kleine Stadt, inmitten der grünen Berge Thüringens. Sie führen ihn durch die Flur eines traulichen Hauses, die Treppe hinauf, über den dunklen Vorsaal in ein kleines Kämmerchen, dicht an dem Wohnzimmer. Und wie er so in der dunklen Kammer steht und den hellen Lichtstreifen betrachtet, der sich verstohlen durchs Schlüsselloch schleicht und leise über die Diele hingleitet, da ist es ihm auf einmal, als wäre sein ganzes späteres Leben nur ein Traum gewesen, den er in der letzten unruhigen Nacht geträumt. Er ist wieder der zehnjährige Knabe mit den langen blonden Locken, das fröhliche Kind, welches durch das Schlüsselloch blinzelt, um Etwas von den Geheimnissen der Bescheerung, die darin von Vater und Mutter aufgebaut wird, zu erlauschen. Da öffnet sich plötzlich die Thür, ein blendend heller Lichtstrom dringt in die dunkle Kammer, mit glücklichem Lächeln betrachten die Eltern den überraschten Knaben, der zögernd einige Schritte gegen den Tisch wagt, wo unter den Zweigen des Christbaums in rosig schimmerndem Kleide mit goldenen Flügeln ein Weihnachtsengel sitzt und ihm mit dem Finger winkt. Da verwirren sich ihm plötzlich die Gedanken. Er kennt den Weihnachtsengel und die lieben guten Augen seines lieblichen Gesichts, er hat oft mit ihm gespielt und getändelt, den kleinen Engel in seinen Armen herumgetragen, ihn geküßt und geherzt, er hat ihn beim Namen gerufen, und doch weiß er in dem Augenblicke nicht, ob er ihn Lenchen nennen soll, wie sein einziges kleines Schwesterchen hieß, das so bald von den Engeln des Himmels hinaufgetragen wurde zu den blauen Wolken, oder ob er Mimi heißt, wie sein liebes süßes Kind. Wie wenn zwei Wasserströme sich vereinigen und ihre Wellen sich vermischen, so fließen jetzt in Dennhardt's Traumgebilde Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Da schlägt ein Laut an sein Ohr, ein süßer, lieblicher Laut, der ihn von den Todten auferwecken könnte. »Papa ... lieber Papa ...« Und gebrochen ist plötzlich der Bann, mit dem der Traumgott ihn bestrickt. »Meine Mimi,« ruft er und beugt sich über die Kleine, die mit heißen Wangen in ihrer Wiege liegt, im Halbschlummer plaudernd, noch aufgeregt von den Eindrücken des Abends, die sie noch im Traume verfolgten. »Schlummere, mein kleiner Engel,« murmelte Dennhardt und legte seine Hand leise auf des Kindes heiße Stirn, während er sein Haupt leicht auf den Rand der Wiege stützte. Da erlosch auch die letzte Kerze, im tiefen Dunkel lag das Zimmer und herab senkte sich auf Vater und Kind jener sanfte ruhige Schlummer, der den Gerechten geschenkt wird, die reinen Herzens sind. 4. Ein Gespräch und seine Folgen. Fanny hatte doch das Herz geklopft, als sie ihren Fuß auf den Tritt des Wagens setzte, der sie von der Vorstadt bei Belleville weit hinein in das Herz von Paris führen sollte. Dieser Schritt, Das fühlte sie klar, war ein Bruch mit der Vergangenheit, ein entschiedener Bruch, der nicht mehr zu heilen war. Manch innerer schwerer Kampf war vorausgegangen, ehe sie ihn wagte. Bevor wir aber die junge Frau auf ihrer nächtlichen Fahrt nach Paris hinein begleiten, müssen wir von einer Begegnung erzählen, die vielleicht einen Monat vor Weihnachten stattgefunden hatte. Fanny war in die innere Stadt gefahren, um hier einige Einkäufe zu besorgen. Etwas ermüdet war sie dann in ein Café des Boulevard Italien getreten, um eine Erfrischung zu nehmen, als mit einem halb unterdrückten Ausruf der Freude ein junger eleganter Mann auf sie zutritt. »Welch glücklicher Stern, der mich Ihnen, Madame, zwei Tage nach meiner Ankunft in Paris begegnen läßt!« Die junge Frau überfliegt mit einem überraschten Blicke die Züge und Gestalt des Mannes und die Erinnerung an jene Scene an den Ufern des Rheins steigt in ihrer Seele auf. »Der Herr Vicomte von Grandlieu,« entgegnete sie, »ist das nicht Ihr Name, mein Herr?« Und ohne die bejahende Geberde des Andern abzuwarten, fuhr sie fort: »O, mein Mann wird sich sehr freuen, wenn ich ihm mittheile, daß Sie in Paris sind.« Der Vicomte unterbrach sie: »Sprechen wir jetzt nicht von Ihrem Gatten, Madame, sondern von Ihnen und von Ihrem Leben in unserm großen prächtigen Paris.« Und er lud sie durch eine verbindliche Handbewegung ein, neben ihm an einem der kleinen Marmortische des Salons Platz zu nehmen. »Dieses Leben ist so einfach, daß man kaum darüber sprechen kann. Vielleicht würde ich mich darüber beklagen, wenn ich nicht ein Kind hätte, das ich anbete und dessen Besitz mich Vieles, Vieles vergessen läßt.« Der Vicomte schwieg einen Augenblick auf diese Bemerkung der jungen Frau, und ein leiser Schatten glitt über seine Züge. »So sind Sie sehr glücklich, Madame, denn ich habe oft gehört, das die Liebe der Mütter zu ihren Kindern in einem gewissen Verhältnisse zu der Liebe gegen ihren Gatten steht. Wenn Sie Ihr Kind anbeten, so müssen Sie gewiß den Vater dieses Kindes sehr lieben. Und was bedarf es mehr, um glücklich zu sein?« »Solche allgemeine Sentenzen,« entgegnete die junge Frau, indem sie das Auge vor dem funkelnden Blicke des Barons von Grandlieu niedersenkte, »mögen zuweilen Recht haben, zuweilen lügen sie aber auch.« Der Vicomte war ein leidenschaftlicher, unternehmender junger Mann, der sich im Umgange mit den Frauen von Paris eine Kühnheit der Sprache angewöhnt, die oft verletzt hätte, wenn sie nicht gemildert worden wäre durch einen Ausdruck von Ehrerbietung in Miene und Geberde und im Ton der Stimme: Eigenschaften, um derenwillen ihm die Frauen manche indiscrete und kühne Frage verziehen. »Sollte bei Ihnen, Madame,« frug er mit schüchternem Ausdruck und niedergeschlagenen Augen, wie ein Schüler von sechszehn Jahren, welcher der Auserwählten seines Herzens seine erste schüchterne Liebeserklärung stammelt, »sollte bei Ihnen jener Gemeinspruch eine Ausnahme machen?« Eine dunkle Röthe flammte über das Gesicht der jungen Frau. »Und wenn Dies der Fall wäre, welches Interesse könnten Sie, Herr Vicomte, haben, Dies zu wissen?« frug sie mit leiser Stimme und ohne die Augen von dem Parquet des Salons zu erheben. »Oh, Madame!« rief der junge Mann mit leisem und bebendem Tone. Eine ganze Rede würde nicht beredter, nicht ausdrucksvoller gewesen sein, als dieser kurze Ausruf, der so einfach, so natürlich war und doch so Viel errathen ließ. Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, eine jener Pausen, in denen statt des Mundes nur das Herz spricht, in denen man die Worte und Empfindungen des Andern in dessen Augen lesen muß. Der Vicomte war es, welcher das Stillschweigen brach. Er war ein sehr gewandter Mann, welcher wußte, daß so stolze Naturen wie Fanny sehr behutsam behandelt werden müssen. »Und wissen Sie, Madame,« begann er das Gespräch in einem Tone, der den Ausdruck achtungsvoller Vertraulichkeit trug, ohne jene durchschimmernde Leidenschaftlichkeit, welche dem vorhergehenden Gespräch einen so eigenthümlichen Charakter aufgeprägt hatte, »wissen Sie, welche Angelegenheit mich schon so früh nach Paris geführt und mich den Freuden der Jagd in meinen schönen Wäldern so bald Adieu sagen ließ?« Die junge Frau lächelte mit einer verneinenden Geberde. »Die Politik,« fuhr der Vicomte fort, »ich bin Deputirter der Nationalversammlung, und ich und meine Freunde halten es für hohe Zeit, diesem republikanischen Komödienspiel ein Ende zu machen und Frankreich seinem rechtmäßigen Herrscher wiederzugeben.« »Wen nennen Sie den rechtmäßigen Herrscher Frankreichs?« frug Fanny, überrascht, in dem Vicomte, welchen sie bis jetzt blos für einen jungen Elegant gehalten, auch einen Politiker zu entdecken. »Wie, Madame?« rief der junge Edelmann lebhaft aus, »können Sie einen Augenblick daran zweifeln, daß ich ein anderes Banner auf dem Schlosse der Tuilerien sehen will, als das mit den königlichen Lilien von Frankreich? Wir Söhne des alten Frankreich kennen nur Einen rechtmäßigen Herrscher und das ist Heinrich V.« »Und haben Sie wirklich gegründete Hoffnung, Ihren König wieder auf dem Throne Frankreichs zu sehen?« »Sie können noch zweifeln, Madame? Ehe ein Jahr vergeht wird der Enkel König Karl's X. in dem Schlosse seiner Ahnen wohnen.« In seiner lebhaften Weise theilte nun der Vicomte der jungen Frau die Pläne der Legitimisten in der Nationalversammlung mit, wie sie im Bunde mit den andern Parteien der Ordnung zuvörderst die Nationalversammlung und die Republik in den Augen des Volks zu entwürdigen suchen müßten, um dann mit einem kühnen Schlage die weiße Fahne in Paris aufzupflanzen. Er erzählte Das in einem Tone der Vertraulichkeit, mit einem Ausdrucke der Hingebung an die Sache, wie man es vielleicht einem Freunde gegenüber thut, aber nicht einer jungen Frau; er schien ganz zu vergessen, daß nicht ein Mann, ein Politiker vom Fach ihm zuhörte, sondern eine schöne junge Dame, die am Ende doch zu wenig in die französischen Parteiverhältnisse eingeweiht war, um für diese Dinge ein großes Interesse zu hegen. Für Fanny lag in dieser Vertraulichkeit des Vicomte ein Reiz, dem sie sich nicht entziehen konnte. Es schmeichelte ihrem stolzen, ehrgeizigen Sinne, daß der Vicomte ihr gegenüber nicht blos den liebenswürdigen Mann, sondern auch den Politiker zeigte; sie mußte voraussetzen, daß der Vicomte sie für bedeutender hielt als tausend ihres Geschlechts, für welche er vielleicht galante, zärtliche Worte, aber nie ein ernsthaftes Gespräch, welches sich um so wichtige Interessen drehte, gehabt hätte. Und als sie sich endlich trennten, da erhielt der Vicomte nach kurzem Zögern das Versprechen der jungen Frau, einer der nächsten Sitzungen der Nationalversammlung beizuwohnen, in welcher die legitimistische Partei einen Antrag auf Zurückberufung der Prinzen des Hauses Bourbon stellen würde. Gegen ihren Gatten schwieg sie über das Zusammentreffen mit dem Vicomte. Es war das erste Geheimniß, welches sie vor ihrem Manne verbarg, es sollte nicht das letzte sein. Wenige Tage nach dieser ersten Begegnung hörte sie auf der Damentribüne der Nationalversammlung den Vicomte von Grandlieu für die Aufhebung der Verbannungsgesetze gegen die Prinzen des Hauses Bourbon sprechen. Der junge legitimistische Edelmann sprach mit Feuer und einer gewissen Eleganz des Ausdrucks, welche die vornehme Damenwelt des Faubourg St. Germain, die in ihren glänzendsten Toiletten auf der Zuhörertribüne erschienen war, zu den lebhaftesten Beifallsbezeigungen hinriß. Der Vicomte warf einen Blick nach dem Damenflor, der ihm eine so schmeichelhafte und rauschende Huldigung darbrachte. Aber sein Auge glitt theilnahmlos an allen den reizenden Herzoginnen, Marquisinnen, Gräfinnen und Baroninnen vorüber und blieb an der Gestalt einer jungen Frau haften, die in einem einfachen Kleide von dunkler Seide, den Shawl fest um die Schultern gezogen, den Oberkörper leicht an eine Säule der Tribüne gestützt, mit strahlenden Blicken den Triumph betrachtete, welchen der Vicomte feierte. Purpurröthe färbte ihr Gesicht, als ihr Auge dem des Vicomte begegnete, ein leiser Schauer ließ ihre schlanke, zarte Gestalt erbeben, und wie von einer plötzlichen Schwäche ergriffen sank sie auf ihren Sitz zurück. Aber trotzdem entging ihr nicht, wie einige nahestehende Damen, welche dem Blick des Vicomte gefolgt waren, ihre Augen auf sie richteten. Sie hörte leise Flüsterworte, wie eine Dame der andern Bemerkungen ins Ohr raunte. »Ein interessantes Gesicht,« sprach eine alte Herzogin zu ihrer Nachbarin, einer jungen blonden Gräfin, »nur etwas zu selbstbewußt.« »Sie ist wirklich reizend,« gab die junge Frau zurück, während sich ein leichter Seufzer ihrem Busen entrang; »aber wer mag sie wohl sein?« Nach Beendigung der Sitzung erwartete der Vicomte die junge Frau am Portal und hob sie in seinen bereitstehenden Wagen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und befahl seinem Kutscher nach dem Boulogner Wäldchen zu fahren. Es verging eine Viertelstunde, ehe zwischen den Beiden ein Wort gewechselt wurde, aber eine desto lebhaftere und innigere Sprache redeten die Augen. »Sie haben heute eine Schlacht gewonnen,« begann Fanny endlich. »Sie wollen sagen: wir sind besiegt, aber nicht geschlagen worden; denn wenn unser Antrag auch nicht angenommen wurde, so geschah Das nicht deßhalb, weil man unsere Gründe durch Gegengründe widerlegte, sondern weil man uns durch das Gewicht der Mehrheit erdrückte.« Eine Kutsche, in welcher jene alte Marquise und die junge blonde Gräfin von der Zuhörertribüne der Nationalversammlung saßen, rollte vorüber. Der Vicomte von Grandlieu grüßte mit einer Verbeugung, während ein leiser spöttischer Zug um seine Lippen schwebte. »Die arme Gräfin,« sprach er zu Fanny gewendet, »sie war blos deßhalb auf die Tribüne gekommen, um ihren Gatten, den Grafen von Bonville, als Demosthenes zu bewundern. Der Arme bekam aber das bekannte Fieber, welches den Soldaten, der zum ersten Male in die Schlacht geht, ebenso befällt, wie den Komödianten, wenn er zum ersten Male vor die Lampen tritt, oder den Priester, wenn er seine erste Predigt hält.« »Desto mehr waren Sie der Gegenstand ihrer Bewunderung,« entgegnete Fanny in einem gewissen piquirten Tone, »sie applaudirte Ihnen wie ein Claqueur in der großen Oper.« Trotz der Ironie, die durch diese Bemerkung schimmerte, brach ein freudestrahlender Blick aus dem Auge des Vicomte, und indem er sich rasch nach vorwärts beugte und einen Kuß auf Fanny's Hand drückte, flüsterte er: »Und doch kann ich Ihnen versichern, daß mich alle diese Zeichen des Beifalls kalt ließen, und daß ich mich durch den stummen Blick einer jungen Frau, welche dicht an einer der Säulen der Zuhörertribüne stand, mehr beglückt fühlte, als durch alle diese rauschenden Acclamationen.« Eine tiefe Röthe färbte Fanny's Stirn bei diesen Worten des Vicomte und mit banger Beklommenheit senkte sie den Blick nieder. Auch der junge Mann versank in ernstes Sinnen, und so hatten sie den Saum des Hölzchens erreicht, ohne daß weiter ein Wort zwischen ihnen gewechselt worden wäre. Der Wagen lenkte in eine der Seitenalleen ein, welche das Wäldchen nach allen Richtungen hin durchkreuzen. Es war in der düstersten und trübsten Jahreszeit, Ende November. Ein leichter Schneefall hatte die Bäume des Waldes weiß gefärbt, graue Wolken bedeckten den Himmel, ein kalter Wind strich über die Erde. Dichte Schaaren von Krähen und Dohlen saßen stumm auf den entlaubten Zweigen und flogen mit mißtönendem Geschrei und schwerem Flügelschlag davon, wenn die Peitsche des Kutschers durch ihren Knall die Waldeinsamkeit und tiefe Stille unterbrach. Fanny gehörte nicht zu den sentimentalen Naturen, deren Seele von dem trüben Eindruck eines melancholischen Landschaftsbildes in Schwermuth versenkt wird, aber dennoch fühlte sie allmälig eine gewisse Traurigkeit ihre dunklen Fittige über ihr Herz ausbreiten. »Lassen Sie uns zur Stadt zurückkehren,« sprach sie zu dem Vicomte, »diese öde Stille, dieses Schweigen in der Natur macht mich traurig und verstimmt.« Auf den Lippen des jungen Mannes erschien ein leichtes Lächeln. »Das ist wohl noch eine Erinnerung an Deutschland, die Sie aus diesem nebligen Lande mit herüber gebracht haben in unser sonniges Frankreich, wo solche Tage wie der heutige zu den Ausnahmen gehören. In Deutschland sollen sich wenigstens die Dichter an grauen trüben Nebeltagen an Mondschein, Regenschauer und Nordwind begeistern.« Fanny schüttelte verneinend das Haupt. »Ich habe Nichts mit diesem Lande gemein, seine Sitten, Gewohnheiten und Ideen sind mir heute ebenso fremd wie an dem Tage, als ich es zum ersten Male betrat.« »Und vergessen Sie, Madame,« flüsterte der Vicomte in leisem Tone, die Augen auf seinen Hut, den er zwischen den Händen drehte, gerichtet, »daß Sie das festeste Band mit Deutschland verknüpft, daß Ihr Gatte ein Deutscher ist?« »Sie haben sich versprochen, Herr Vicomte,« entgegnete die junge Frau mit einem Ernst im Ausdruck von Miene und Sprache, welcher den jungen Mann fast einschüchterte, »Sie wollten von einem andern Bande sprechen, welches mich vielleicht an jenes Land ein wenig fesselt, von meinem Kinde, das ich anbete, und dessen Vaterland jenseits des Rheins liegt.« Damit brach die Unterhaltung über diesen Gegenstand ab, gewiß in so bedeutsamer Weise, daß sie dem Vicomte eine klare Einsicht in die Empfindungen der jungen Frau gestattete. Von diesem Tage an sahen sich die Beiden täglich. Entweder war Fanny auf der Tribüne der Nationalversammlung oder sie traf den Vicomte in dem Café Tortoni auf dem Boulevard der Italiener. Ihr Gatte frug nie nach ihren Ausgängen, sie mochte längere oder kürzere Zeit weg bleiben, es war eine solche Entfremdung zwischen ihnen eingetreten, daß sich ihr gegenseitiges Gespräch nur auf das Nothwendigste, Unerläßlichste beschränkte. Die Beziehungen zwischen dem Vicomte und Fanny wurden mit jedem Tage inniger. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn es anders gekommen wäre. Der junge Edelmann war allerdings in gewissem Sinne Das, was man einen Lebemann, einen Bonvivant nennt, allein er war nicht der schlimmsten einer. Er konnte, wie aus seiner Beschäftigung mit den politischen Angelegenheiten hervorging, sich auch noch für etwas Höheres begeistern, als für die Damen von der großen Oper, Ballettänzerinnen, Pferde, Spiel, Toiletten- und Boudoirgeheimnisse. Er fühlte, wie seine Empfindungen gegen Fanny immer mehr den Charakter einer leidenschaftlichen Liebe annahmen, wie das Bild der jungen Frau sein Wesen von Tag zu Tag mehr erfüllte und die Trennung von ihr ihm immer unerträglicher wurde. Hier handelte es sich nicht um eine jener flüchtigen Leidenschaften, die, geboren im Rausche der Sinne, ebenso schnell erlöschen, wenn den Sinnen ihr Recht geworden, es war eine ernste Herzensneigung, die ihn zu Fanny hinzog. Und daß er ihr nicht gleichgültig war, daß ein höheres Interesse sie zu ihm hinzog, als das der Geselligkeit und das Bedürfniß des Umgangs mit einem Mann aus jenen Kreisen der Gesellschaft, denen sie vor ihrer Vermählung selbst angehört: Das hatte der Vicomte aus einer Menge kleiner Zeichen errathen. Wir sagen absichtlich: kleiner Zeichen; denn es ist die charakteristische Eigenthümlichkeit mancher Frauen, besonders solcher, bei denen die Liebe mit Stolz und Selbstbewußtsein kämpft, ihre Neigung, den Zug ihres Herzens dem geliebten Manne durch anscheinend gleichgültige Kleinigkeiten zu verrathen, deren wahre Bedeutung nur das Auge der Liebe erkennt. Indessen gehört unstreitig eine große Selbstbeherrschung hiezu, wenn zwei so lebhafte und bestimmt ausgesprochene Naturen, wie Fanny und der Vicomte es waren, längere Zeit einen so peinlichen Zustand ertragen sollen. Eines Tages kurz vor dem Christabend faßte der Vicomte einen festen Entschluß. Er schrieb folgenden Brief an die junge Frau: »Es liegt weder in meinem Charakter noch in meiner Kraft, den gegenwärtigen Zustand, unter welchem ich und, wenn mich nicht Alles täuscht, unter welchem auch Sie, Fanny, leiden, noch länger zu ertragen. Wie auch Ihre Entscheidung ausfalle, jedenfalls werden Sie mir nicht darüber zürnen, daß ich als Mann den Schritt gewagt und diese Entscheidung herbeigeführt habe. »Mit einem Worte sei die glühendste Sehnsucht meines Herzens, das Glück meines Lebens ausgesprochen: werden Sie die Meine. Trennen Sie Ihr Geschick von dem eines Mannes, welchen Sie, ungeachtet ich weder seinen Charakter noch seinen Geist anzugreifen wage, nicht mehr lieben, scheiden Sie von einem Manne, für welchen auch Sie nicht mehr jenes Ideal sind, das er in Ihnen zu finden glaubte. Es ist ein schwerer Schritt, ein großes Opfer, welches ich von Ihnen verlange, theure Fanny. Gewohnheit, Scheu vor der Welt, vor Ihren Angehörigen, vielleicht auch noch ein gewisses Mitgefühl für den Mann, welcher Ihr Gatte war und der Vater Ihres Kindes ist, das Sie anbeten, selbst die Erinnerungen an gemeinschaftlich überstandene Leiden und Freuden, alles Dies wird Ihnen einen harten Kampf bereiten. »Aber Sie haben eine kühne muthige Seele, theure Fanny, ein stolzes und doch so liebeglühendes Herz, und Sie werden siegreich aus dem Kampfe hervorgehen. »Besser ein kurzer, scharfer Schmerz, als dieses langsame Verbluten, dieses Hinwelken der Lebenskraft in unglücklichen Verhältnissen, die für alle Theile, für Sie, Ihren Gatten, für mich, ja sogar für Ihr Kind eine Qual sind. Vor einer Trennung von Ihrem Kinde schützen Sie die Gesetze Frankreichs. Bis zum fünften Jahre gehört das Kind der Mutter. Für die spätere Zukunft überlassen Sie mir die Sorge. »Ich dränge Sie nicht um eine Antwort. Ich verlange auch keine schriftliche, sondern möchte die Entscheidung aus Ihrem eigenen Munde hören. Fällt sie gegen mich, so ist mein Entschluß gefaßt. »Von morgen an wird ein Wagen mit einem treuen zuverlässigen Diener täglich in den Abendstunden zwischen sechs und acht Uhr wenige Schritte von Ihrer Wohnung entfernt warten. Sobald Sie mit Ihrem Entschlusse einig geworden, bitte ich Sie, zu mir zu kommen. Meinem Diener können Sie sich ohne Furcht anvertrauen, er ist mir ganz ergeben. »Doch zögern Sie nicht zu lange, Fanny, und bedenken Sie, daß jeder Tag der Ungewißheit für mich zu einer qualvollen Ewigkeit wird. Immer Paris, 16. December 1849. Ihr Edmund von Grandlieu.« Einen Tag nach dem Empfang dieses Briefes, es war beim Anbruch der Dämmerungsstunde, Walther hatte eben die kleine Mimi auf dem Schooße und sang ihr das alte deutsche Wiegenlied von dem »Eia popeia, was raschelt im Stroh? Es sind kleine Gänschen, die haben keine Schuh.« sprach Fanny zu ihrem Gatten: »Wir müssen uns trennen, Walther, ich fühle es, daß es nothwendig ist zu unserem Glücke. Für das Deinige, für das meinige, und vor Allem für das Glück unseres Kindes.« Dennhardt hielt mit seinem Liede inne, hob den Kopf von der Wange der Kleinen empor und richtete einen bis in das Innerste der Seele dringenden Blick auf seine Frau, die am Fenster saß und deren Züge von dem letzten, bleichen, kalten Strahl der untergehenden Decembersonne erleuchtet wurden. »Was sprachst Du da?« frug er, und seine Stimme bebte ein wenig trotz seiner Selbstbeherrschung. »Ich sprach,« wiederholte Fanny, und an dem Zittern ihres Tones und der Langsamkeit, mit welcher sich die Worte mühsam hervordrängten, erkannte man die Schwere des Kampfes, der diesem Entschlusse vorhergegangen, »ich sprach, daß es für uns Alle besser sein würde, wenn ein Jedes seinen eigenen Weg geht. Du wirst gewiß auch schon daran gedacht haben. Unsere Ansichten, unsere Charaktere sind zu verschiedener Natur. Ich will Dir keinen Vorwurf machen, Walther, ich trage vielleicht eben so große Schuld an der Scheidewand, welche sich zwischen uns aufgethürmt hat, allein ich fühle die Kraft schwinden dieses Leben länger in dieser Weise fortzuführen. Wir verstehen uns nicht mehr, wir sind einander fremder geworden als Leute, welche sich zum ersten Male im Leben begegnen. Darum laß uns ruhig von einander scheiden, ohne Haß, ohne Zorn.« Sie athmete tief auf und drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe, die Entgegnung ihres Mannes erwartend. Es verging eine Viertelstunde und noch immer verharrte Walther in tiefem Schweigen. Die Dunkelheit war indessen völlig eingebrochen, das Kind im Arme des Vaters eingeschlafen und eine bängliche, unheimliche Stille herrschte in dem Zimmer. Endlich erhob der Mann sein Haupt und sprach mit einer zwar etwas dumpf klingenden, aber festen Stimme, welcher man Nichts von dem Kampfe anmerkte, der in diesem Augenblicke in der Brust des Verbannten getobt: »Und wie soll es mit dem Kinde werden?« Fanny zuckte zusammen. Diese Frage hatte sie erwartet -- und gefürchtet. Das Kind, diese kleine Mimi! Sie wußte, daß sie der Augapfel ihres Mannes, sein höchstes Kleinod, sein Alles war, an dem er hing mit allen Fasern seines Herzens. Und sie! Sie liebte das Kind gleichfalls mit einer verzehrenden Leidenschaftlichkeit, mit jener ungestümen, ausschließlichen Zärtlichkeit, die man oft bei jenen Frauen findet, welche in der Liebe zu ihren Kindern Ersatz für eine unglückliche Ehe, für die Gleichgültigkeit oder Abneigung, für die Kälte und Untreue des Gatten suchen. »Antworte mir,« wiederholte Dennhardt noch einmal seine Frage, »wie soll es mit dem Kinde werden?« Angstvoll suchte sie nach einem Ausweg. »Ich kenne die Gesetze dieses Landes nicht,« antwortete sie endlich mit zögernder ungewisser Stimme, »aber ich stelle ihnen die Entscheidung anheim; was sie auch bestimmen mögen, ich werde mich ihnen unterwerfen.« Walther erhob sich mit einer raschen Bewegung. Das Kind fest an seine Brust gedrückt, trat er dicht an Fanny heran, so dicht, daß ihre Wange von dem glühenden Hauche seines Athems gestreift wurde. »Ah! Madame,« sprach er mit leiser, aber vor tiefster Aufregung bebender Stimme, »die Gesetze Frankreichs wollen Sie über Ihr, über mein Kind entscheiden lassen? Nun wohlan, so merken Sie es sich, daß ich, wenn es sich um mein Kind handelt, nur den Gesetzen in meiner Brust folgen werde. Und diese Gesetze gebieten mir, Ihnen unter keiner Bedingung die Seele eines Kindes anzuvertrauen, welches Sie verderben würden.« Fanny war bleich geworden zum Erschrecken, während ihr Mann ihr diese schneidenden Worte in's Ohr raunte. Noch nie hatte sie von ihm diesen Ton, dieses so beleidigend klingende »Sie,« noch nie eine so grausame Beleidigung gehört, als die war, welche er ihr in diesen wenigen Worten in's Gesicht schleuderte. »Mein Herr,« entgegnete sie endlich, »wenn ich vielleicht auch das Recht verloren habe, von Ihnen als Ihre Gattin betrachtet zu werden, so glaube ich doch nicht, daß Sie das Recht und die Berechtigung haben, mich mit so empörenden Beleidigungen zu überhäufen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten ging sie ins Nebenzimmer, dessen Thür sie hinter sich verschloß. Seit diesem Auftritte, welcher acht Tage vor dem Christabende stattgefunden, war zwischen den beiden Gatten kein Wort mehr über diese Angelegenheit gewechselt worden. Es war überhaupt zwischen ihnen nur das Nothdürftigste gesprochen worden, das Unerläßliche, was durch die Verhältnisse des Zusammenseins eben noch geboten wurde. In diesen acht Tagen, qualvoll für Beide, hatte Fanny ihren Entschluß gefaßt. Der Christabend war der Tag der Entscheidung. Mit klopfendem, aber entschlossenem Herzen trat sie an jenem Abend aus der Thür ihres Hauses, um in den Wagen des Vicomte zu steigen, der sie nach kurzem viertelstündigen Fahren vor das große prächtige Hôtel Grandlieu in der Rue de la Paix brachte. Beim Aussteigen zog sie den Schleier dicht zusammen und senkte, wie von einer unwillkürlichen Bewegung ergriffen, der sie nicht zu widerstehen vermochte, das Haupt mit einer leisen Geberde der Scham zur Erde. Und als sie ihren Fuß auf die erste Marmorstufe der Freitreppe setzte, da fühlte sie ein Beben durch ihren Körper rieseln, wie ein Mensch, der auf die Treppe des Schaffots tritt. Wenn sie Walther nur einer einzigen Treulosigkeit schuldig geglaubt, so würde sie diesen Schritt ohne alle Scrupel gethan haben. »In der Ehe,« hatte sie oft gesprächsweise gegen Walther geäußert, und er hatte ihr von seinem Standpunkte aus vollkommen beigestimmt, »in der Ehe ist Alles auf Gegenseitigkeit gegründet. Ich protestire gegen die beschränkte Anschauungsweise, welche die Treue bloß von den Frauen fordert, während sie den Männern die Erlaubniß ertheilt sich darüber hinwegzusetzen. Das heißt die Frau herabwürdigen und erinnert mich an jene Hundetreue, welche die Hand leckt, die sie eben gezüchtigt hat. Der allein ist schuldig, welcher zuerst die Treue bricht, er löst den Vertrag und entbindet dadurch auch den andern Theil seiner Pflicht. Es mag duldende, schwache Frauen geben, welche sich auch dem ausschweifendsten Wüstling gegenüber für gebunden erachten, ich aber gehöre nicht zu diesen Duldernaturen.« Aber er hatte ihr _nie_ die geringste Veranlassung gegeben an seiner Treue zu zweifeln -- und nun mußte sie den ersten Schritt thun. Unter dem Portal empfing sie der Vicomte mit einem Leuchter in der Hand. Er war allein, weder ein Kammerdiener, noch sonst ein Lakai ließ sich sehen. »Gesegnet sei die Stunde, in der Dein Fuß dieses Haus betritt, Fanny,« flüsterte er und ergriff ihre Hand, die er leidenschaftlich bewegt an seine Lippen drückte. »Möge ich nie bereuen, was ich heute thue,« entgegnete sie. »Nur Schwächlinge bereuen, Fanny, und Sie gehören zu jenen starken Naturen, die entweder brechen oder siegen.« Während dieser leise gewechselten Reden hatte der Vicomte die junge Frau über einen Corridor, auf dessen weichen Teppichen die Tritte lautlos verhallten, in ein Zimmer geführt, welches den gemischten Charakter eines Boudoirs und eines eleganten Studiercabinets trug. Herabgelassene Gardinen von dunkelrother Seide, eine Tapete von ernster brauner Farbe mit Goldleisten, Sessel =à la= Voltaire mit violettem Sammet, fein gearbeitete Pfeiler- und Spiegeltischchen, auf welchen eine Menge kleiner interessanter Spielereien standen, zwei mäßige Bücherschränke mit wissenschaftlichen und dichterischen Werken, ein elegant gearbeiteter Schreibtisch, über welchem einige Waffen, alte Stücke aus dem Mittelalter, und das Porträt des Herzogs von Bordeaux hingen, bildeten die Ausstattung des Cabinets, dessen Atmosphäre durch die knisternde Flamme in dem Kamin von bläulichem Marmor angenehm erwärmt war. Der junge Vicomte führte Fanny zu einem Sessel, in welchem die junge Frau wie erschöpft von einem weiten Wege niedersank, und nahm dann ihr gegenüber Platz. Sie drückte die Hände vor die Augen, stumm und regungslos, während der Vicomte gleichfalls in tiefem Stillschweigen auf den Boden niederblickte. Endlich nach einer langen, langen Weile ließ sie die Hände sinken, ihr Blick begegnete dem des Vicomte. Sie sah blaß aus, sehr blaß; aus ihren Augen strahlte ein übernatürlicher Glanz und ihre Stimme klang matt und bebend: als sie flüsterte: »Edmund ... werden wir auch glücklich sein?« »Fanny,« und er sank vor ihr auf seine Knie, »kannst Du zweifeln? Die Sterne einer geweihten Nacht leuchten uns zu dem feierlichen Augenblicke, in dem wir den Bund für's Leben schließen, aber goldener und strahlender als alle die Gestirne des Himmels, welche dort oben glänzen, leuchtet der Stern der Liebe in meiner Brust -- möge Gott mich einst vor seinem Richterstuhle verwerfen, wenn dieser Stern jemals untergehen sollte.« »Schwöre nicht,« sprach sie, die Hand abwehrend erhebend, »Schwüre werden oft zu lästigen Fesseln, die deßhalb immer unerträglicher werden, weil man glaubt, daß man sich nicht von ihnen befreien kann, ohne die Rache der Gottheit wach zu rufen. Der freie Wille ist oft ein festeres Band als tausend Schwüre und Eide. Doch nun laß uns von den nächsten Aufgaben reden, denn Du begreifst, daß ich von heute an meinen Aufenthalt in der Wohnung Dennhardt's nur noch nach Tagen zählen kann.« Es lag so etwas Tiefernstes, Feierliches in der Art und Weise, mit welcher sie alles Dies sprach, daß der junge Vicomte, so leidenschaftlich er auch in Liebe und Verlangen aufglühte, doch in eine ernste Haltung zurückgescheucht wurde. »Ich habe,« sprach er, »mit einem der besten Advocaten von Paris Rücksprache genommen. Es werden wenig Schwierigkeiten zu überwinden sein, da Ihr Beide protestantisch seid.« »Aber das Kind, meine süße liebe Mimi,« unterbrach die junge Frau den Vicomte, »was war sein Urtheil darüber?« Der Vicomte zögerte mit der Antwort. »Bis zum fünften Jahre,« sprach er endlich, »würde es unbestritten der mütterlichen Obhut anvertraut werden müssen, von da an aber ...« Er hielt stockend inne. »Weiter, weiter, Edmund,« drängte Fanny, die ihm jedes Wort von den Lippen zu nehmen schien, »was sprach er über die fernere Zukunft?« »Ueber die fernere Zukunft, meinte er, könne sich leicht eine Controverse entspinnen ... da Dennhardt kein französischer Staatsbürger, sondern ein Deutscher und als solcher ...« »Genug, genug,« rief Fanny, ihn von Neuem unterbrechend, aus, »ich verstehe ... Vom fünften Jahre an wird er das Recht haben mir mein Kind zu rauben. Du siehst wohl, Edmund,« setzte sie traurig hinzu, »daß wir auf unser Glück verzichten müssen.« »Fanny, Fanny, so leicht giebst Du mich auf?« rief der junge Mann mit schmerzlichem Ausdrucke, »ohne zu kämpfen, ohne zu wagen! Können wir nicht mit Deinem Kinde in den fernsten Winkel der Erde fliehen, wo uns der Arm jenes Mannes nicht erreichen kann, können wir nicht durch tausend Listen seine Nachforschungen und Verfolgungen vereiteln? Ich bin reich, Fanny, und Du weißt, daß das Geld heut zu Tage alle Hindernisse und alle Schwierigkeiten besiegen kann.« Die junge Frau versank in ein tiefes Nachdenken. Dann erhob sie ihr Haupt, fest und entschlossen. »Wohlan! ich will es wagen ... Als Du mir vorhin schwören wolltest, da sprach ich: schwöre nicht. Jetzt verlange ich einen Schwur von Dir, einen Schwur bei Allem was Dir theuer und heilig, den Schwur, selbst Dein Leben daran zu setzen, um mir mein Kind zu sichern.« Der Vicomte von Grandlieu erhob mit feierlicher Geberde die Hand. »Ich schwöre,« sprach er. »Und ich,« flüsterte Fanny, indem sie ihre Arme um seinen Nacken schlang und ihm tief und glühend in die Augen blickte, »und ich bin von diesem Augenblicke an Dein ...« 5. Verschwunden. Hatte Dennhardt von der Entfernung seiner Frau, welche gegen Mitternacht in dem Wagen des Vicomte in ihre Wohnung zurückgekehrt war, Nichts bemerkt oder wollte er Nichts bemerken, genug, er erwähnte den immerhin auffälligen Weggang Fanny's und ihre späte Heimkehr mit keinem Worte. Auch sonst zeigte sich in seinem Benehmen keine Veränderung, nur daß er vielleicht, wenn Das überhaupt möglich war, sich noch wortkarger und verschlossener zeigte. Nach der Verabredung, welche Fanny und der Vicomte getroffen, sollte Fanny am Sylvesterabend unter irgend einem Vorwand mit dem Kinde ausgehen, vielleicht unter dem Vorgeben eine Spazierfahrt zu machen, dann die von dem Vicomte für sie eingerichtete Wohnung beziehen und hieran die Scheidung einleiten. Fanny's Charakter widerstrebte freilich dieses heimliche Entweichen; ihrem stolzen Sinne wäre es viel lieber gewesen, wenn sie in offnem Bruch sich von ihrem Manne hätte entfernen können. Allein der Vicomte hatte ihr mit klugen Worten nachgewiesen, wie unbesonnen ein solches Verfahren sein würde, wie es leicht zu einer Katastrophe führen könnte, die für sie und das Kind verhängnißvoll werden könnte. Und doch hatte Fanny trotz alledem immer noch geschwankt. Der Vicomte, Dies bemerkend und eine Unbesonnenheit der jungen Frau befürchtend, hatte ihr wenige Tage nach dem Besuche in seinem Hôtel einen Brief geschrieben, worin er sie mit den eindringlichsten Worten beschwor, seinem Rath zu folgen. »Ich beschwöre Dich,« schrieb er ihr, »bei unserer Liebe, bei dem Haupte Deines Kindes, nur scheide nicht in offnem Bruch von Dennhardt. Er würde vielleicht Dich, aber nimmermehr das Kind lassen, und wie mir mein Sachwalter versichert, könnte Dein Mann bis zur Entscheidung des Processes das Kind bei sich behalten. Du wirst es ihm nicht verwehren können nach England und Italien zu gehen, sich in eine Einsamkeit mit dem Kinde zu flüchten und Dir es für immer zu entziehen. Folgst Du aber meinem Rath, scheidest Du mit dem Kinde von Dennhardt, ohne daß er es ahnt, so brauchen wir Nichts zu fürchten. Meine Vorsichtsmaßregeln habe ich so getroffen, daß er, selbst für den Fall, daß er Deine Wohnung erkundschaftet, nicht zu Dir und dem Kinde gelangen wird.« Dieser Brief entschied. Fanny beschloß, am nächsten Tag mit dem Kinde ihren Gatten zu verlassen, und nur das Eine wollte sie noch thun, ihm noch einmal in einem zurückgelassenen Schreiben die Motive dieses Schrittes darlegen. Sie hatte die Zeilen, in welchen der Vicomte sie zugleich um eine Zusammenkunft für den Nachmittag in dem Café Tortoni gebeten, in den Vormittagsstunden empfangen, hatte dann in ihrem Schlafzimmer den für ihren Mann bestimmten Brief geschrieben und war, nachdem sie die kleine Mimi, welche ihren Nachmittagsschlummer hielt, zärtlich geküßt, ausgegangen. Wäre sie weniger mit dem Gedanken an ihre Flucht beschäftigt gewesen und hätte sie das Wesen ihres Mannes an diesem Tage nur etwas schärfer beobachtet, so würde sie vielleicht nicht so ruhig und zuversichtlich auf das Gelingen ihres Planes das Haus verlassen haben. Walther stand am Fenster, als sie über die Straße ging, um in eine der an der Ecke haltenden Droschken zu steigen. Er blickte ihr nach, so lange sein Auge sie erreichen konnte. Dann, als auch der Saum ihres Gewandes nicht mehr sichtbar war, wendete er sich mit einer raschen Bewegung ab und strich sich mit der Hand leicht über die Augen. Blendete ihn der Sonnenstrahl des heiteren Decembertages oder perlte eine Thräne an seinen Wimpern? »Leb' wohl,« murmelte er, sich noch einmal nach dem Fenster wendend und die Hand nach der Gegend ausstreckend, wo Fanny verschwunden; »lebe wohl für immer!« Es war vier Stunden später ... Die Sonne sank hinab, und ihre letzten schwachen Strahlen vergoldeten mit mattem Glanze die Höhen von Belleville. Eine Droschke rollte an das Haus, in welchem der Flüchtling wohnte. Fanny sprang aus dem Wagen und eilte die Treppe zu ihrer Wohnung hinan. Sie kam von der Unterredung mit dem Vicomte, und diese Nacht sollte unwiderruflich die letzte sein, welche sie und Mimi in der Wohnung Dennhardt's verleben sollten. Sie ist schon auf der letzten Stiege, dicht vor der Thür des Vorsaals, als sie sich von der Portière des Hauses angerufen hört. »Der Schlüssel, Madame,« ruft sie und eilt die Treppe hinan. »Ist mein Mann ausgegangen?« stammelt sie, von einer dunklen Ahnung, an deren Verwirklichung sie aber nicht zu glauben wagte, durchzuckt, »und wo ist mein Kind ... hat er es mitgenommen?« Und während sie Dies bebend spricht, hat sie schon, ohne die Antwort abzuwarten, die Thür geöffnet und stürzt über den Vorsaal nach dem Wohnzimmer. Mit zitternder Hast reißt sie die Thür auf, wirft einen Blick in das leere Zimmer und stößt einen lauten gellenden Schrei der Verzweiflung aus. »Fort ... fort mein Kind ... meine Mimi.« Sie wankt, und die bestürzte Portière, welche ihr gefolgt war, fängt sie in ihren Armen auf und läßt sie langsam auf den Divan niedergleiten. Aber diese Schwäche dauert nur einen Augenblick. Sie rafft sich empor und stürzt in das anstoßende Schlafzimmer. Ihr Blick fällt auf ein Blatt Papier, das auf ihrem Toilettetisch liegt. Es war ein Brief von der Hand ihres Mannes. Darunter liegt ein Couvert, das Couvert des Briefes, welchen ihr der Vicomte diesen Morgen gesendet hatte. »Um mit Erfolg ein Verbrechen zu begehen,« liest sie, »muß man auch sehr schlau und vorsichtig sein. Du, Fanny, bist weder das Eine, noch das Andere, Du würdest sonst vorsichtiger in der Aufbewahrung des Briefes gewesen sein, dessen Couvert ich zurücklasse zum Beweise, daß mir Alles bekannt ist. Der Schlag, mit dem Du und jener Mann, mit dem ich nun quitt bin, mich vernichten wolltet, vernichten, indem Ihr mir mein Kind raubtet, er fällt auf Dich selbst zurück. »Die Gerechtigkeit Gottes konnte eine so ruchlose That nicht geschehen lassen. Wenn ich auch längst den Verrath ahnte, den Du mir gegenüber begingst, so hatte ich Dir doch verziehen; denn da, wo keine Gemeinschaft der Herzen, keine Sympathie der Seelen vorhanden, da fällt auch die Gemeinschaft des Lebens. Aber daß Du mir mein Kind rauben wolltest, Das konnte ich Dir nicht verzeihen, Du verblendetes Weib. »Lebe wohl und sei glücklich, wenn Du es vermagst. Alles Forschen wird vergeblich sein -- betrachte mich und das Kind für Dich gestorben. Es ist so am besten. In unserer Ehe hätte für das Kind ohnedieß kein Glück erblühen können. Kinderaugen sehen klar und scharf und erkennen nur zu bald, wenn Die, welche ihnen am nächsten stehen, auf getrennten Wegen wandeln. »Was wir an Hab und Gut besitzen, Das überlasse ich Dir. »Du wirst Papiere und Geldeswerth in meinem Schreibpulte finden. Ich behalte nur so viel als nöthig ist, um mir eine Existenz zu schaffen, welche mir meinen und meines Kindes Unterhalt gewährt. Lebe wohl für immer! Walther Dennhardt.« Als Fanny diese Zeilen gelesen, sank sie bewußtlos zusammen, und die einzigen Worte, die sie stammeln konnte, waren: »Mein Kind, mein Kind ... verloren ... verloren.« Dann aber raffte sie sich mit wilder Energie auf. Sie befahl der Portière die Wohnung zu schließen und die Schlüssel an sich zu halten und alle Briefe, die an sie einlaufen würden, in das Hôtel Grandlieu in der Rue de la Paix zu senden. Am Morgen des andern Tages verließ der Vicomte mit Fanny, die gestern Abend verstört und bleich zu ihm ins Hôtel Grandlieu mit den Worten gekommen war: »Schwöre mir, morgen Paris zu verlassen und mir mein Kind suchen zu helfen, und ich folge Dir bis an's Weltende,« auf der Nordbahn die Seinestadt. 6. Stilles Leben. Kennt Ihr die grünen Hügel von Morbihan? Jene Berge der alten Bretagne, auf deren Abhängen, in kleinen Dörfern und Weilern zerstreut, einfache Hirten und Bauern wohnen, an denen die Cultur von Jahrhunderten vorübergegangen ist, ohne einen Blick in ihre Hütten zu werfen? Dort, wo diese bretagnischen Berge von den Wellen des Meeres bespült werden, wenige Meilen von Vannes, inmitten eines kleinen Dorfes, dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Hirten, zur Hälfte aus Fischern und Schiffern besteht, lebte seit einem Jahre der deutsche Flüchtling mit seinem Kinde. Es war in den Nachmittagsstunden eines milden Herbsttages, Anfangs October des Jahres 1850. Auf der Düne, deren Sand von den Strahlen der Sonne erwärmt worden war, saß Walther Dennhardt mit seinem Kinde und blickte hinaus auf die unendliche See. Er hatte das Haupt in die Hand gestützt und lauschte dem geheimnißvollen Rauschen der Meereswogen, während Mimi zu seinen Füßen im Sande spielte. Sie hatte sich einen kleinen Garten gebaut, mit Beeten und Sträußern aus Seegras und Herbstblumen, die sie mit Papa auf dem Wege zur Düne gepflückt hatte. Das Kind liebte die Blumen leidenschaftlich. Zu jedem Maßliebchen und Veilchen bückte sie sich nieder, jeder Rose und jeder Lilie nickte sie einen Gruß zu, mit den blauen Kornblumen plauderte sie wie mit lebenden Gespielinnen, und von keinem Spaziergange kehrte sie zurück, ohne einen großen Strauß ihrer stillen Blumenfreundinnen mitzubringen. Die Kleine klatschte jetzt freudig in die Händchen. »Sieh, Papa,« rief sie, »mein Garten ist fertig.« Walther betrachtete mit heiterem Lächeln das frohe blühende Kind und sein Spielwerk. »Ach der schöne Garten, den meine Mimi sich gebaut hat,« sprach er und beugte sich zu der Kleinen nieder, die mit jenem Ausdruck glücklicher Zufriedenheit, den wir in seiner unverfälschten Reinheit nur bei Kindern finden, ihre strahlenden Blicke bald auf den kleinen Garten, bald auf ihren Vater richtete. Mit einem Male stand die Kleine auf und frug indem sie hinauf nach dem blauen wolkenlosen Himmel deutete: »Papa, haben die Engel im Himmel auch schöne Blumen wie wir?« »Noch viel schönere, mein Kind,« entgegnete Walther, den die Frage etwas überraschte, »die hellen Sterne, welche wir Abends sehen, sind lauter große goldene Blumen, die dort oben im Himmelsgarten wachsen.« »Ach! weißt Du was, Papa,« rief die Kleine indem sie ihren Papa recht ernsthaft anblickte, »dann will ich auch ein Engel werden.« Ein wehmüthiges Lächeln, das aber augenblicklich wieder verschwand, glitt über Walther's Züge. »Alle guten Menschen werden einmal Engel werden, meine Mimi, aber jetzt bleibst Du noch bei mir, nicht wahr?« Die Kleine nickte, und so verständig und ernsthaft, als habe sie den ganzen bedeutungsvollen Inhalt dieser Frage begriffen. Walther erhob sich und nahm die Kleine auf seinen Arm. »Ich will Dich zu Hause tragen, meine Mimi, Du bist müde von dem weiten Wege. Morgen gehen wir wieder hieher und besuchen Deinen schönen Garten.« Und er schritt mit der Kleinen, welche das Köpfchen auf seine Schulter legte und ihre Arme um seinen Nacken schlang, dem Dorfe zu, in welchem er ein kleines einstockiges Haus bewohnte. Eine ältliche Frau, Mama Poisson, wie die Leute sie nannten, die Witwe eines Schiffers, der auf einer Fahrt nach Westindien verunglückt war, besorgte seine häuslichen Geschäfte, während er selbst vollauf zu thun hatte, um für sich und sein Kind die Bedürfnisse des Lebens zu erwerben. Walther war zu stolz gewesen, um von dem ohnedieß nicht bedeutenden Vermögen seiner Frau, das in einer Rente von vielleicht zweitausend Francs bestand, Etwas zu fordern oder an sich zu nehmen. Er hatte bei der Trennung von seiner Frau Nichts weiter mitgenommen als sechshundert Thaler, die Reste seines eigenen erworbenen Vermögens, welches während der revolutionären Bewegung und in der Zeit seines Aufenthaltes in Paris bis auf diesen geringen Betrag aufgezehrt worden war. Die Reise von Paris bis in die Bretagne, der Ankauf des kleinen Hauses mit dem daran befindlichen Gärtchen, die häusliche, wenn auch sehr bescheidene Einrichtung, alle diese Ausgaben hatten Dennhardt's Capital bis auf kaum hundert Francs aufgezehrt, und es galt jetzt die Aufbietung aller seiner Kräfte, wenn er nicht sein Kind und sich dem Mangel, ja dem bittersten Elend preis geben wollte. Seine verwundete Hand war zwar geheilt, aber für seinen Beruf war sie untauglich geworden. Als Bildhauer konnte er ferner nicht arbeiten. Einen Augenblick dachte er daran, sich durch schriftstellerische Thätigkeit eine neue Existenz zu gründen. Aber es war nur der Gedanke eines Augenblicks. Er erinnerte sich sofort aus der Zeit seines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt, wo er häufigen Umgang mit Schriftstellern gepflogen, wie gerade dieser Beruf nur von Denen gewählt werden darf, die dazu berufen sind, wie dornenvoll, die Lebenskraft aufreibend derselbe ist, wie vielleicht der Einzelne, dem noch nicht die Pflicht der Sorge für ein anderes Wesen obliegt, es wagen kann, sein Geschick an das seiner Feder zu knüpfen, während es ein großes Wagniß ist, auch die Geschicke Anderer daran zu fesseln. »Glauben Sie mir,« hatte ihm damals ein junger und talentvoller Schriftsteller gesagt, »unsere modernen Literaturzustände gleichen dem Labyrinthe mit dem Minotaurus. Hunderte von jugendlichen Wagehälsen reizt der geheimnißvolle Zauber, und Hunderte verirren sich und werden ein Opfer des lauernden Ungeheuers, welches man heut zu Tage nur mit andern Namen bezeichnet. Jeder glaubt den Lorbeerkranz sich auf die Stirn setzen zu können und weiß nicht, daß in dem Kranze Dornen verborgen sind, welche so tief stechen, daß die Meisten, während sie danach greifen und bevor der Lorbeer ihre Scheitel berührt, sich daran verbluten.« In welcher Richtung hin sollte er auch literarisch thätig sein? Als Publicist hatte er in Frankreich und vollends in diesem einsamen Dorfe der Bretagne durchaus keine Gelegenheit, und um als Novellist, Dramatiker oder Romanschriftsteller sich eine Stellung zu erringen, dazu, Das fühlte er, fehlte ihm die dichterische Begabung. Er vermied die Klippe, an welcher so Viele zu Grunde gehen, eine Klippe, die zwar nur in der eigenen Einbildung besteht, aber darum desto gefährlicher ist. Aber einen andern Gedanken ergriff er mit Lebhaftigkeit und setzte ihn mit der seinem Wesen eigenen Energie ins Werk. Als er eines Tages mit Mimi nach Vannes gefahren war, um dort einige nothwendige Einkäufe für seine kleine Wirthschaft zu besorgen, da hatte die Kleine plötzlich in der Nähe der Kathedrale fröhlich in die Händchen geklatscht und ausgerufen: »Papa, Papa ... schöne Puppen.« Es war ein Tabuletkrämer, der auf seinem Tisch ein paar schlecht geformte Wachsfiguren stehen hatte, die Jungfrau Maria im Stalle zu Bethlehem mit dem Christuskind und den anbetenden drei Königen aus dem Morgenlande. Er frug nach dem Preise. Der Mann nannte ihm einen ungewöhnlich hohen. »Ist das Wachs hier zu Lande so theuer?« warf Dennhardt mit einem spöttischen Blick auf die schlecht gearbeiteten Figuren hin. »Das Wachs nicht, Herr, aber die Leute, welche solche Sachen machen!« »Und würde man, wenn diese Figuren wohlfeiler wären, viel davon verkaufen?« »Gewiß, Herr, besonders zur Weihnachts- und Osterzeit.« Dennhardt dankte dem Manne für die Auskunft und meinte, vielleicht würde er bald von ihm hören. Sein Plan war rasch gefaßt. Konnte er auch nicht mehr als Bildhauer arbeiten, so war ihm doch noch die Möglichkeit geblieben, sein plastisches Talent im Formen weicher Stoffe zu verwerthen. Er kaufte in Vannes Wachs und ging den nächsten Tag schon an die Arbeit. Als er die erste Gruppe, die Geburt unseres Heilandes darstellend, fertig hatte, rief er seine alte Dienerin, welche mit Mimi im Garten war. »Wie gefällt Euch das, Mama Poisson?« Das Kind wollte die Figuren küssen und herzen, und die alte Frau schlug vor Erstaunen die Hände zusammen. »Glaubt Ihr,« frug Dennhardt lächelnd weiter, »daß man mir diese Figuren in Vannes abkaufen wird?« »Und wenn Ihr so viel hättet, als es Schafe und Lämmer auf den Hügeln von Morbihan giebt, Ihr würdet keine einzige übrig behalten.« Die alte Frau hatte nicht ganz Unrecht. Die Wachsfiguren, welche Dennhardt, theils in Gruppen, theils als Einzelgestalten bildete, fanden in Vannes Abnahme über Abnahme. Dennhardt stellte nach und nach die ganze biblische Geschichte in ihren Hauptmomenten bildlich dar. Die Gegend um Vannes ist streng katholisch, und diese religiöse Richtung der Bevölkerung begünstigte sehr den Absatz der kleinen, zierlich aus buntem Wachs gearbeiteten Figuren Dennhardt's. Für die kleine Mimi war diese Beschäftigung ihres Vaters eine unerschöpfliche Quelle der Freude und des Vergnügens. Da sie mit den andern Kindern nur wenig Umgang hatte, schon deßhalb nicht, weil Dennhardt, der mit der Kleinen nur die Muttersprache, sein geliebtes Deutsch, sprach, nicht wollte, daß das Kind eher des Französischen mächtig würde, bevor es sich im Deutschen verständlich ausdrücken konnte, so waren die Wachspuppen ihre vorzüglichsten Spielgenossen. Sie plauderte mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten, gab einer Jeden täglich ihre Portion Essen, die dann natürlich, wie es die heidnischen Priester mit den Opfermahlzeiten ihrer Götter thaten, von der Darspenderin selbst verzehrt wurde, sie brachte sie zu Bett, sang ihnen Liedchen vor und deckte sie jeden Abend sorglich zu, damit die armen kleinen Pipi's, wie sie zu ihrem Vater sagte, in der Nacht nicht frören und sich erkälteten. So verging Monat auf Monat und die Kleine wurde mit jedem Tage verständiger, wenn man eine gewisse Sinnigkeit ihres Wesens so nennen darf. An ihrem Vater oder »Papa,« wie sie ihn nur nannte, hing sie mit einer unbeschreiblichen Zärtlichkeit. War Dennhardt, was selten, aber doch zuweilen vorkam, ohne Mimi ausgegangen, vielleicht in die Nachbarschaft, um irgend Etwas, was er zu seinen Arbeiten bedurfte, zu holen, und Mimi saß unter der Aufsicht der alten Mama Poisson vor der Thür und erblickte ihn von weitem, dann flog sie ihm, so schnell als es ihre kleinen Füße vermochten, mit flatternden Locken, glänzenden Augen und ausgebreiteten Armen mit dem Rufe: »Mein Papa kommt ... mein Papa kommt ...« entgegen. Fand sie auf den Spaziergängen eine schöne seltene Blume, so pflückte sie dieselbe nicht eher, als bis der Papa sie bewundert hatte, und sie schlief an keinem Abende ein, ohne ihren Papa geküßt und geherzt zu haben. Für Walther aber war das Kind der Inbegriff aller irdischen Glückseligkeit. Alle seine Empfindungen, Gedanken, all sein Thun, Handeln drehte sich um seine kleine Mimi. Das Stück französischer Erde, auf welcher er mit ihr lebte, war für ihn die Welt; was hinter diesen bretagnischen Bergen lag, hatte er Alles vergessen. Die Kämpfe der Parteien wie die Leidenschaften des Herzens, sie hatte er jenseits der grünen Hügel von Morbihan gelassen und Nichts aus der früheren Zeit mit herüber genommen, als die Liebe zu seinem Kinde. Gewiß lieben alle Eltern ihre Kinder, wenn sie keine Rabenherzen im Busen tragen, aber diese Liebe Walther's zu seiner kleinen Mimi war doch noch ganz anderer Art. Schon ehe das Kind geboren war, liebte er es, und während die Wünsche der Väter in der Regel auf einen Knaben gerichtet sind, wünschte er, daß es eine Tochter sein möchte. Als nun sein Wunsch erfüllt wurde, da war er so glücklich, so wie es vielleicht ein Jüngling ist, dem endlich aus dem Munde der unendlich Geliebten das Wort der Erhörung wird. Jetzt nun vollends, wo die Kleine das einzige Wesen war, welches er sein nennen konnte, jetzt hing er mit allen Lebensfasern an ihr und sie war der Mittelpunkt, um welchen sich alle seine Gefühle, Empfindungen, Gedanken, Entwürfe drehten. Einst, als er mit ihr am Meeresstrande stand, auf jener Düne, wo er an jenem Herbstnachmittag mit dem Kinde saß und spielte -- es war sein liebster Ort, den er bei seinen Spaziergängen stets besuchte -- frug Mimi, hinüber zu der unendlichen Meeresfläche deutend: »Papa, wohnen da drüben über dem großen Wasser auch Leute?« »Gewiß, mein Kind, viele, viele tausend Menschen wohnen dort. Das Land, in welchem sie leben, nennt man England. Wenn Du groß geworden bist, meine Mimi, fahren wir einmal zusammen auf einem Schiffe hinüber und sehen uns die Leute und ihre Städte an.« Das Kind hatte still und mit einer gewissen andächtigen Miene den Worten des Vaters gelauscht. Dann hob es sein Köpfchen mit den blonden weichen Locken und den lieben braunen Augen zu dem Vater empor und sprach mit einem Ausdruck kindlichen Ernstes, der gerade, weil er aus einem so jugendlichen, lebensfrischen Munde kam, einen rührenden Eindruck erzeugte: »Weißt Du was, Papa, ich will gar nicht groß werden ... ich will Deine kleine Mimi bleiben.« Ein Gefühl urplötzlich aufsteigender Wehmuth bemächtigte sich seiner bei diesen Worten des Kindes und er vermochte nicht eine Thräne, die sich hervordrängte, zu unterdrücken. »Nicht weinen, Papa,« bat Mimi, indem sie ihre Händchen bittend emporstreckte und als Dennhardt sie zu sich empor hob, legte sie ihr Lockenköpfchen an des Vaters Wange und sprach: »Du bist mein bester, guter Herzenspapa.« Und dann fing sie an zu lachen und zappelte lustig vom Arme des Vaters herab, lief jauchzend hinter einem Schmetterling her und jubelte laut auf, als sie während dieser Verfolgung in dem weichen Sand stolperte und sanft von der Düne herabrollte, gerade in die ausgebreiteten Arme ihres Papa. So schwand Monat nach Monat dahin. Dennhardt fühlte sich so glücklich, wie es noch nie in seinem Leben der Fall gewesen. Es liegt eine so stille, friedliche Seligkeit in der Liebe zu einem Kinde, zu einem so unschuldigen und hülflosen Wesen, es verbreitet sich aus diesem Gefühl ein so sanfter, ruhiger Friede über den ganzen Menschen, über all sein Denken, Thun und Handeln, daß alle andern Empfindungen des Herzens dagegen als aufreibende Leidenschaften erscheinen. Im schnellen Wechsel fliegen die Jahreszeiten dahin. Wenn der Sommer mit seinem bunten Farbenschimmer von Blumen und Blüthen, mit seinem grünen Schmelz der Wiesen, mit seinem blauen Himmel und goldnen Sonnenlicht dahingegangen war und der Herbst mit seinen kalten Regengüssen, seinen Stürmen auf dem Meere ihm folgte, und Dennhardt mit seinem Kinde daheim bei der knisternden Flamme des Kamins bleiben mußte, dann brach für die kleine Mimi eine Zeit neuen märchenvollen Glückes an. »Papa, erzähle mir eine Geschichte!« Mit diesen Worten erwachte sie früh in ihrem Bettchen, das dicht neben dem ihres Vaters stand, und mit diesen Worten ging sie schlafen. Dann setzte sich Dennhardt, nachdem er sie sorglich zugedeckt, an ihr Lager, nahm ihre kleine, weiche, warme Hand in die seinige und erzählte ihr lauter kleine, das Kind mächtig fesselnde Geschichtchen aus seiner Jugend, wie er noch ein kleiner Junge war, von seinem lieben Schwesterchen Helene, die so bald gestorben und der die Eltern ihre Lieblingspuppe, die sie »Anna« nannte, mit in den Sarg gegeben, und von den grünen Wäldern in Thüringen, in welchen allerlei wilde Thiere hausten, Hirsche, Rehe, wilde Schweine, Luchse und Dachse, Geschöpfe, welche die Kleine nur aus ihren Bilderbüchern kannte. Am meisten aber interessirte sie die Erzählung von dem getreuen Eckard, der auch in den thüringischen Wäldern lebt und die Kinder beschützt gegen Nixen, Kobolde und Menschenfresser. Sie war unermüdlich im Anhören dieser Erzählungen, und oft flüsterte sie, endlich doch vom Schlafe übermannt, während sich ihre Augen schon schlossen und sie sich in die Kissen vergrub, noch mit leiser Stimme: »Papa, noch eine Geschichte ...« und war in der nächsten Minute fest eingeschlummert. So vergingen einige Jahre in ruhigem, stillem Leben. Mimi war fünf Jahre alt geworden und plapperte frisch und gewandt aus ihrem kleinen Munde Alles heraus, was ihr Herz bewegte. Mit ihrem Papa sprach sie Deutsch, während sie mit der alten Mutter Poisson Französisch plauderte. Es gab Dennhardt, trotzdem daß er glaubte Alles überwunden zu haben, doch einen scharfen Stich ins Herz, als er eines Tages die kleine Mimi zu der alten Frau, mit der sie in dem Garten vor dem Hause auf und ab ging, sagen hörte: »=Ma chère mère, reposons-nous un moment sur ce banc de gazon.=« (Meine gute Mutter, laß uns einen Augenblick auf dieser Rasenbank ausruhen.) »=Ma chère mère!=« Armes Kind, das nie wieder die Stimme der Mutter hören sollte! Eine Erinnerung an ihre Mama, an Fanny, schien die Kleine nicht zu haben, wenigstens erwähnte und frug sie niemals danach. Freilich war sie auch, als Walther mit ihr Paris verließ, noch nicht zwei Jahre alt gewesen, und die Veränderung des Wohnorts, die Reise, die neuen tausendfachen Eindrücke der Außenwelt auf die junge erwachende Kindesseele verscheuchten schon in der ersten Zeit die schwachen Erinnerungen, welche sich in ihrem Gedächtniß befunden hatten. Als sie endlich das Französische sprechen gelernt, hatte sie in den zwei Kindern eines Lootsen, der früher lange als Obersteuermann auf einem Kriegsschiff gedient und in dem Hause nebenan wohnte, ein paar Gespielinnen erhalten. Pauline und Lisette waren fast in gleichem Alter wie Mimi, doch viel schüchterner, blöder als die Kleine. Der Lootse, sonst ein ganz braver Mann, hatte noch immer etwas Rauhes, Strenges in seinem Wesen und ließ die Kinder nicht selten seine schwere Hand fühlen, während Mimi bei aller ihrer Kindlichkeit sich so ruhig, sicher, so selbstständig bewegte, daß der Unterschied sofort in die Augen sprang. Die Liebe ihres Vaters gab der Kleinen diese liebenswürdige Sicherheit und Unbefangenheit, die sie selbst größern Personen gegenüber zeigte. Eines Tages, Dennhardt arbeitete eben emsig an einer Gruppe, welche für eine Capelle in der Nachbarschaft bestellt war, spielte sie mit Pauline und Lisette und noch einigen Kindern ihres Alters vor dem Garten ihres Hauses. Die Kinder jauchzten, tanzten und sangen und verursachten ein wenig Lärm, welcher den Feldhüter oder Flurschützen des Orts, der eben aus der Schenke kam, einen griesgrämigen Patron, störte. Der Flurschütz ist für die Kinder in den französischen Dörfern dieselbe Popanzfigur, wie es der Polizeidiener unserer kleinen deutschen Städte für die liebe Gassenjugend ist. Der rothe Streifen an der Mütze und am Kragen hat diesseits wie jenseits des Rheins dieselbe Wirkung: die Kinder flüchteten, als sie den Mann mit der Flinte über dem Rücken und den Stock drohend erhebend daher kommen sahen, nach links und rechts in die benachbarten Häuser. Nur Mimi blieb mit ihrer Puppe im Arm ruhig in der Mitte der Straße stehen. »Heda, Du kleiner Balg,« rief der Flurschütz mit einer drohenden Bewegung die Hand erhebend, »willst Du machen, daß Du fort kommst?« Die Kleine rührte sich nicht, sondern blickte dem Mann mit ihren großen strahlenden Augen fest ins Gesicht. »Nun, wird es werden?« schrie er erbost, »oder soll ich Dich fortprügeln?« »Mein Papa hat gesagt, ich soll hier spielen, und was mein Papa gesagt hat, Das thue ich, und wenn Du mich prügelst, dann schießt Dich mein Papa mit seiner Flinte todt.« Der Mann erschrack fast, als das kleine fünfjährige Mädchen ihm mit solcher Ruhe und Bestimmtheit vom Todtschießen sprach. »Dein Papa?« brummte er, »und wer ist Dein Papa?« »Die Leute nennen meinen Papa Herrn Dennhardt und ich bin Mimi Dennhardt.« »Ah! die Tochter von dem deutschen Réfugié,« murmelte der Feldwächter, indem er einen scheuen Blick nach dem Hause Dennhardt's warf, »er soll ein verwegener Bursche sein und in Deutschland bei einem Massacre vierundzwanzig Aristos umgebracht haben.« Ein derartiges Märchen gehörte zu den Gerüchten, welche sich über Dennhardt's Betheiligung an der Revolution bei einigen leichtgläubigen und neugierigen Schwätzern verbreitet hatten und sehr wohl in einem Lande geglaubt werden konnten, wo sich mit dem Begriff der Revolution auch zugleich der der Guillotine und der Niedermetzelung der Aristokraten verband. Im vorliegenden Fall hatte dieses schauerliche Gerücht für Mimi indessen das Gute, daß der Feldwächter, ein Poltron, für welchen von jeher der ernste Blick Dennhardt's und sein langer wallender Bart etwas Zurückscheuchendes, Ehrfurchtgebietendes gehabt, die Kleine ungehindert weiter spielen ließ und nur beim Weitergehen mit den halblaut gemurmelten Worten: »Nun, heute magst Du noch spielen, wenn ich Dich aber morgen wieder hier treffe, so wirst Du mich kennen lernen,« seine gefährdete Autorität rettete. Wenn Mimi von ihrem Vater ein Geschenk erhielt, das er ihr stets mitbrachte, wenn er in Vannes gewesen, so rief sie mit ihrer lieblichen Silberstimme ihre kleinen Gespielinnen, Pauline und Lisette, eilig herbei. War es eine Leckerei, so theilte sie dieselbe gewissenhaft in drei Theile, war es ein Spielwerk, dann mußten die Kinder ebenso damit spielen, als wäre es das ihrige. Mitunter kam es vor, daß die Kleinen, schüchtern und blöde, wie sie in Folge der strengen Zucht ihres Vaters, des Lootsen, waren, die Annahme dieser kleinen Geschenke und Liebesbeweise verweigerten; dann aber gerieth Mimi in fast zornige, leidenschaftliche Aufregung und versuchte oft mit Gewalt die Kinder zur Annahme zu zwingen, was schließlich Geschrei und Thränen zur Folge hatte. Dann kam gewöhnlich Dennhardt herbei und überwand durch Zureden die Blödigkeit der Kinder. Nahmen sie dann, was ihnen Mimi darbot, dann war die Kleine wieder so außer sich vor Freude, daß sie die Kinder stürmisch umarmte, küßte und mit allerlei Schmeichelnamen nannte. Bei den Bewohnern des Dorfes, zumal bei den Frauen, stand Mimi in großer Gunst. Sie war der erklärte Liebling der jungen Mütter, welche bereitwillig die liebliche Schönheit und geistige Ueberlegenheit des fremden Kindes anerkannten. Viel trug auch Dennhardt's Wohlthätigkeit dazu bei, der bei seinem überreichen Verdienst manche Gabe in die Hütten der Armuth sendete und als Geberin gewöhnlich Mimi mit der Mutter Poisson schickte, so daß das Kind, wenn es über die Schwelle einer armseligen Hütte trat, von den Bewohnern wie ein kleiner rettender Engel begrüßt wurde. 7. Das Räthsel des Lebens. Es war im Sommer, wenige Wochen vor Mimi's sechstem Geburtstage. Eine dumpfe Schwüle lag auf dem kleinen Orte, überall sah man traurige und verweinte Gesichter. Der Todesengel war eingezogen in dem Dorfe und hielt eine reiche Ernte unter den lieblichsten Blumen der Menschheit, unter den Kindern. Es war eine bösartige Epidemie, eine jener verheerenden Krankheiten, welche an die düstere blutige Sage von dem Würgengel erinnern. Auch Mimi war von der Krankheit ergriffen worden und lag schon einige Tage hart darnieder. Dennhardt wich nicht einen Augenblick von ihrem Bette. Gleich als sich die ersten Symptome des Fiebers zeigten, hatte er einen reitenden Boten nach Vannes geschickt und den tüchtigsten Arzt der Stadt holen lassen, der auch wenige Stunden später erschien. Wie ein Sterbender, mit dem Ausdruck tiefster Seelenangst in den verstörten Zügen trat ihm Dennhardt unter der Hausthüre entgegen. »Retten Sie mir mein Kind, Doctor,« sprach er mit bebender Stimme, indem er ihm seine zitternde Hand entgegenstreckte, »meine Mimi ...« Er konnte nicht mehr sprechen, die Stimme versagte ihm. Der Arzt, welcher Dennhardt von seinen Besuchen in Vannes her kannte und sich, schon weil er politischer Gesinnungsgenosse des deutschen Flüchtlings war, zu Dennhardt hingezogen fühlte und ihn bei näherer Bekanntschaft auch wegen der Bravheit seines Charakters hoch schätzen gelernt, war im ersten Augenblick ganz überrascht von dieser tiefen Bewegung Dennhardt's. Wußte er auch, daß der Bildhauer sein Kind auf das zärtlichste liebte, so hätte er doch nimmer in dem ernsten ruhigen Manne eine solche Weiche des Gefühls vermuthet. »Fassen Sie sich, mein Lieber, man darf, so lange der Odem des Menschen aus- und eingeht, nie verzagen, am Wenigsten aber bei den Krankheiten der Kinder, wo die Heilkraft der Natur, viel häufiger als es von dem klügsten Arzt erwartet wird, Genesung fast urplötzlich bringt.« Er trat an das Bett der Kleinen, die in einer Art Halbschlummer lag. Dennhardt's Auge hing an des Arztes Mienen, und es entging ihm nicht, wie diese, trotz der Selbstbeherrschung des Mannes, einen sehr ernsten, bedenklichen Charakter annahmen. »Das Kind ist krank ... sehr krank,« sprach er vom Bett zurücktretend in leisem Tone zu Dennhardt, welcher mit vor Aufregung laut hämmerndem Herzen dem Arzte gewissermaßen jedes Wort von den Lippen nahm, »indessen man darf noch nicht die Hoffnung aufgeben. Vor allen Dingen sorgen Sie dafür, daß die Arznei, welche ich verschreibe, rasch geholt wird.« »Nicht alle Hoffnung aufgeben,« wiederholte Dennhardt mit erloschener Stimme und einem Blicke verzweifelter Seelenangst, »o, ich weiß, was diese Worte in dem Munde eines Arztes bedeuten.« »Muth, Muth, Mann,« tröstete der Doctor, »und vor Allem die Arznei. Ich komme morgen mit dem Frühesten wieder, für außerordentliche Fälle wenden Sie sich an den Doctor Godin, der ganz in der Nähe, eine Viertelstunde von hier, auf seinem Landgute lebt. Er prakticirt zwar nicht mehr, aber hier wird er eine Ausnahme machen, ich will im Vorbeifahren selbst mit ihm sprechen. Gott stehe Ihnen bei, mein Freund!« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Arzt. In tödtlicher Spannung und Ungewißheit vergingen einige Tage. Täglich kam der Doctor und täglich wußte er für das von Todesqualen erfüllte Herz des Vaters keine andere Antwort, als die furchtbaren Worte: »Das Kind ist sehr krank ... indessen man darf die Hoffnung noch nicht aufgeben.« Zehn entsetzlich peinvolle Tage und Nächte waren so dahingegangen. Dennhardt's Augen hatten sich während dieser Zeit auch nicht auf eine Minute zum Schlafe geschlossen. Eine alle Nerven und Fibern aufregende, gewöhnliche menschliche Kraft weit übersteigende Willensmacht erhielt ihn munter. Er wich nicht einen Augenblick von Mimi's Bett, und sein Auge überwachte die geringste Bewegung des Kindes. Es war in der elften Nacht ihrer Krankheit ... die Gewalt des Fiebers, welches gegen Abend nachgelassen, hatte sich eine Stunde vor Mitternacht wieder heftig gesteigert, der Puls flog in stürmischer Eile ... der Athem war kurz und beklommen ... »Papa,« sagte plötzlich das Kind, welches während der Krankheit meist stumm und theilnahmlos gegen seine Umgebung sich verhalten hatte, »Papa ... ich kann gar nicht Luft bekommen.« Es war des Kindes erste Klage, aber sie traf Dennhardt wie der Stoß eines glühenden Schwertes mitten in das Herz hinein! »Meine gute, liebe Mimi,« sprach er mit halberstickter Stimme, die Kleine sanft emporrichtend und das Bett aufschüttelnd, »ich will Dir ein Kissen unterlegen, Du liegst so niedrig, dann wirst Du auch leichter athmen können.« Aber er konnte es nicht verwehren, daß ihm zwei Thränen über die Wangen liefen, trotz seiner Anstrengung dem Kinde seinen Schmerz zu verbergen. Die Kleine sah die Thränen. »Nicht weinen, Papa,« sagte sie mit ihrer leisen, weichen Stimme und indem sie mit ihren glänzenden Augen aufmerksam ihres Papa's Züge betrachtete. Dann wendete sie sich auf die andere Seite und verfiel wieder in jenen dumpfen Halbschlummer, in welchem weder die Phantasie, noch der Körper ruht, und der nicht sowohl stärkend, als vielmehr erschöpfend wirkt. Nach Mitternacht steigerten sich die fieberhaften Erscheinungen und die Beklemmungen beim Athmen so, daß Dennhardt einen Boten nach dem Doctor Godin schickte. Dieser kam und hatte kaum einen Blick auf das Kind geworfen, als er eilig nach Blutegeln verlangte. Man holte sie beim Dorfbader und setzte der Kleinen, die Alles geduldig ertrug, drei der schwarzen häßlichen Thiere in die Nähe des Herzens. Da wurde die Thüre geöffnet und die junge Lootsenfrau erschien weinend auf der Schwelle und bat den Doctor, von dessen Ankunft sie gehört, zu ihrem todtkranken Kinde, ihrer Lisette, zu kommen. »Auf der Stelle komme ich,« entgegnete der menschenfreundliche alte Arzt, der längst der Praxis entsagt hatte und nur aus Humanität seine Dienste der leidenden Menschheit widmete, »ich werde gleich zurück sein, lieber Freund.« Er ging und Dennhardt blieb allein mit der Mutter Poisson bei seinem Kinde zurück. Es war eine dumpfe und schwüle Nacht. Ueber den Bergen wie über dem Meere hingen dunkle Wetterwolken, und am fernsten Horizonte, da wo Wasser und Himmel sich zu vermählen scheinen, leuchteten schon feurige Blitze. In der Stube brannte nur die schwache Flamme einer mit einem grünen Schirm umgebenen Lampe, da das Kind sich vom Anfang der Krankheit an gegen den hellen Lichtschimmer empfindlich gezeigt hatte. Kein Geräusch in dem Zimmer, als des Kindes rasche Athemzüge und das hörbare Hämmern und Klopfen des kleinen Herzens. Dennhardt kämpfte vergebens gegen den Ausbruch eines Schmerzes, den er lange unterdrückt hatte, der aber endlich mit Gewalt hervorbrach und in heißen Thränenströmen über seine Wangen fluthete. Es war jenes stille Weinen einer kräftigen Männernatur, die unverzagt im Sturm und Wetter steht, die selbst mit zerbrochenem Schwerte und aus zehn Wunden blutend noch die Schlacht des Lebens gegen den äußern Feind schlägt, die aber weich wird wie eine Kinderseele, wenn des Schicksals Hand an das Herz greift und von diesem Herzen das einzige Wesen reißt, an welchem es mit allen Fasern hing. Hab und Gut, Vaterland und Beruf, Weib und Lust des Lebens hatte Dennhardt in seinem Kampfe für die großen Ideen der Freiheit verloren, es hatte ihn nicht erschüttern können, selbst die Trennung von Fanny hatte ihn kaum eine Thräne gekostet, denn sie hatte ja nicht ohne ihre eigene Schuld aufgehört das Weib seiner Liebe zu sein; aber dieser drohende Verlust seines Kindes, seiner kleinen lieben Mimi, ergriff ihn mitten an seine Lebensnerven, er ließ ihn zusammenbrechen. Schmerzliches, aber zugleich rührendes Beispiel der Hinfälligkeit menschlicher Kraft, der Ohnmacht menschlicher Größe, gegenüber dem Walten eines ewigen, allmächtigen Wesens, dessen Natur für uns unbegreiflich ist, das wir nur in seinen Schöpfungen ahnen können, dessen Macht aber jede Creatur anerkennen muß und stände sie auf der obersten Stufenleiter, auf der letzten Sprosse der Schöpfung, und wäre sie auch geschaffen nach dem Bilde des ewigen unbegreiflichen Wesens, mit der Gottähnlichkeit. Ein leiser Ruf des Kindes weckte den unglücklichen Vater aus der dumpfen Betäubung, welcher dem Ausbruch seiner Thränen gefolgt war. Es war dieselbe frühere sanfte Klage der kleinen Mimi, die einzige, welche sie laut werden ließ: »Papa, ich kann gar nicht Luft bekommen.« »O Gott, Gott!« seufzte der unglückliche Vater aus der Tiefe seines Herzens und sandte einen verzweifelten Blick zum Himmel empor, »von aller der Luft, welche uns umweht, hat mein armes Kind nicht so viel, um athmen zu können.« In diesem Augenblicke kam der Doctor Godin aus dem Nachbarhause zurück. »Saugen die Blutegel noch?« frug er schon unter der Thür. Eins der Thiere war abgefallen und die nachblutende Wunde hatte, ohne daß Dennhardt in seinem Schmerze es bemerkt, die weißen Linnen des Bettes blutig gefärbt. »Barmherziger Gott!« rief er mit halb erstickter Stimme, »was ist Das? ... das Kind verblutet sich.« »Still,« sprach der Arzt mit einer ernsten Geberde, »wenn auch Das nicht zu befürchten ist, so muß die Blutung doch schnell gestillt werden.« Und er zog aus einem kleinen Etui eine Federspule hervor, mit welcher er rasch die blutende Wunde berührte. Aber bei der ersten Berührung stieß das Kind einen so heftigen, durchdringenden Schrei aus, daß Dennhardt zusammenzuckend des Arztes Hand faßte und sie krampfhaft drückte. »Papa ... Papa ... der alte Mann sticht mich,« schrie das Kind mit verwirrter, ängstlicher Geberde und abwehrenden Händen, »jag' ihn fort, Papa ... jag' ihn fort ...« »Seien Sie ein Mann,« flüsterte der Arzt dem Erbleichenden zu, auf dessen Stirn Angsttropfen perlten, »es ist Nichts ... ein kurzer, vorübergehender Schmerz ... die Gefahr, welche durch den Blutverlust entsteht, ist nicht gering.« Und wieder versuchte er mit dem kleinen Stift der Spule die Wunde zu berühren. »Mein süßer ... süßer Papa,« schrie die Kleine auf, sich angstvoll in dem Bettchen emporschnellend und die Arme nach ihrem Vater, der zu Häupten des Bettes stand, ausbreitend, »der böse Mann ... der böse Mann ... jag' ihn fort ... jag' ihn fort, Papa.« Und sie schlang ihre Händchen mit entsetzten Blicken um ihres Papa's Nacken. Das Blut aber rann immer noch in kleinen Strömen aus der Wunde. »Barmherziger Gott, Doctor, giebt es kein anderes Mittel die Blutung zu stillen?« »Versuchen Sie es selbst,« sprach der Doctor tief bewegt, »hier ... nehmen Sie den Stift ... touchiren Sie.« Mit zitternder Hand nahm Dennhardt die Spule mit dem Höllensteinstift und flüsterte mit bebender Stimme dem zitternden Kinde zu: »Es ist Nichts, meine kleine süße Mimi. Du wirst auch bald wieder gesund und dann gehen wir zusammen.« Und er berührte die Wunde. »Papa ... Papa ... Du stichst mich. Ach ... Papa.« Der Stift entfiel seiner Hand. »Ich kann nicht mehr ... Doctor ... O Gott, Gott!« Der Unglückliche wankte und wäre zu Boden gestürzt, wenn ihn der Arzt nicht aufrecht erhalten. »Beruhigen Sie sich ... fassen Sie Muth,« raunte er dem Verzweifelten zu, »Ihre Hand traf sicherer als die meinige, die das Alter zitternd machte. Das Blut steht ... etwas Charpie aufgelegt, und wir haben Nichts weiter zu befürchten.« Das Kind war indessen auch ruhiger geworden und schloß die Augen zu einem kurzen Schlummer, während Dennhardt todtmüde an Geist und Körper, blutend aus der tiefsten Herzenswunde, welche ihm der Schmerz dieser qualvollen Nacht geschlagen, auf seinen Sitz neben dem Bett zurücksank und lautlos vor sich hinstarrte. »In zwei Tagen,« sagte der alte Doctor, von dem schmerzerfüllten Vater Abschied nehmend, »wird die Entscheidung eingetreten sein ... bis dahin, mein alter Freund, Geduld und Ruhe.« * * * * * Der Tag brach an, ein drückend heißer Augusttag ... die Gewitter der verflossenen Nacht hatten die Gluth nur wenig abzukühlen vermocht, die Sonne warf von dem wolkenlosen blauen Himmel sengende Strahlen auf die Erde herab, die Luft stand still, nicht der leiseste Windhauch bewegte sie. Trotz der herabgelassenen Gardinen, der geöffneten Thür, welche auf den kühlen Vorsaal des Hauses führte, und trotz der Sprengung mit Wasser und Essig herrschte in dem Zimmer, wo die kleine Kranke lag, doch eine schwüle Atmosphäre. Mimi war eben wieder eingeschlummert, die alte Mutter Poisson saß mit rothgeweinten Augen am Bett des Kindes und scheuchte mit einem Baumzweig die zudringlichen Fliegen ab, welche das Haupt des Kindes umschwirrten. Dennhardt war hinaus in den Garten gegangen, um einen Strauß Blumen zu brechen. Es war heute Mimi's Geburtstag, heute vor sechs Jahren hatten ihre Augen zum ersten Mal das freundliche Licht der Sonne erblickt. Sonst war Mimi's Geburtstag immer als ein hoher Festtag in dem kleinen Hause gefeiert worden; Dennhardt hatte stets an diesem Tage die Nachbarkinder zu sich geladen und Mimi dabei mit liebenswürdiger Gravität die Honneurs als Wirthin gemacht und die Kinder mit Kuchen, Chocolade, Obst, Apfelwein und anderen Leckereien bewirthet. Und heute nun! Welcher Unterschied zwischen heute und dem Geburtstage voriges Jahr! Damals blühend wie eine Rose, dahin flatternd in dem buntfarbigen Gewand, dem gelben Strohhute mit Blumen und Rosabändern wie ein Schmetterling, und heute lag sie drinnen auf dem Krankenbette still und bleich wie eine geknickte Sommerblume, wie eine zarte Lilie, über welche der Sturm dahin gefahren ist. Seit elf Tagen hatte die Kleine keine Blume gesehen, ihre liebsten Gespielinnen, die stillen, bunten Blumen, mit denen sie so lieblich und verständig plauderte, als wären es beseelte Wesen, hatte sie entbehren müssen, weil der Arzt den Blumenduft für aufregend erklärt hatte. Und seltsam! Die Kleine schien während dieser Tage der Krankheit ganz vergessen zu haben, daß es Blumen gab, sie hatte nicht ein einziges Mal danach verlangt, eben so wenig wie nach ihren Puppen, ihren Bilderbüchern oder anderm Spielwerk. Ihren Geburtstag aber ohne Blumen vorübergehen zu lassen, Das vermochte Dennhardt nicht übers Herz zu bringen. Vielleicht wollte er sich auch, begreifliche Schwäche des menschlichen Herzens, selbst täuschen, wenn auch nur auf ein paar Augenblicke, und sich glauben machen, er breche die Blumen zum Geburtstage der gesunden, frohen Mimi, welche damit ihren kleinen Tisch schmücken wolle, um die kleinen Genossinnen der Kaffeegesellschaft festlich zu empfangen. Es war ein großer prächtiger Strauß von Georginen, Rosen, Nelken, Astern und Reseda, den er gepflückt, und bei jeder Blume, die er brach, erinnerte er sich der kleinen Zwiegespräche, die Mimi in dem Garten mit ihren stillen Blumenfreundinnen gehalten. »Sieh, Papa,« hatte sie dann gesagt, wenn ein leichter Wind über die Beete hinsäuselte und die Blumen ihre Häupter bewegten, »sieh, Papa, meine Blumen antworten mir. Siehst Du nicht wie sie nicken und flüstern?!« Er kehrte in das Haus zurück und in demselben Moment erwachte auch Mimi aus ihrem Halbschlummer. Mit den Blumen in der Hand eilte der Vater dem Kinde entgegen. »Ei!« rief sie, die Hand nach den Blumen ausstreckend, mit ihrer silberhellen Stimme, deren lieblicher Klang sich während ihrer ganzen Krankheit nicht verändert hatte, »ei!« und wie ein heller goldener Freudenstrahl flog es über ihr blasses, leidendes Gesichtchen. Ihre matte, zitternde Hand vermochte die Blumen kaum zu halten; aber ihr Auge glänzte von einem Feuer, das zu schön, zu himmlisch war, um nicht zu verkünden, daß die reine Kinderseele, welche in dieser lieblichen Hülle gewohnt, sich schon ihrer Heimath wieder nahe fühlte, ihrer himmlischen Heimath, aus der sie herabgestiegen auf die dunkle Erde, um eine kurze Spanne Zeit darüber hinzuflattern und dann wieder zurückzukehren in die Wohnungen des ewigen Lichts. »Meine Mimi!« murmelte mit vor Thränen halb erstickter Stimme der zur Seite des Bettes knieende Vater. »Mein Papa,« flüsterte das Kind, mit der Linken die Blumen gegen ihr kleines matt schlagendes Herz drückend, während sie den rechten Arm mit müder Geberde um den Nacken ihres Vaters schlang, gerade so wie in früheren gesunden Tagen, wenn er die müde Kleine auf der Heimkehr von dem Spaziergange in seine Arme nahm. Niemand war in dem Gemach, als der Flüchtling und sein Kind, sein sterbendes Kind. »Papa,« flüsterte die Kleine, nachdem sie eine Weile mit ihren in wunderbarem, verklärtem Glanze strahlenden Augen nach dem Fenster, welches nach der Gartenseite hin lag, geblickt, »Papa ... siehst Du den schönen Engel dort am Fenster, ach ... Papa ... wie schön er sieht ... viel, viel schöner als mein Weihnachtsengel ... siehst Du ... Papa ... jetzt winkt er mir ... ach! die vielen Engel ... sie fliegen durchs Fenster ... siehst Du? draußen im Garten.« Dennhardt's Herz wollte brechen, aber mit einer fast wunderbar zu nennenden Kraft, welche in den schmerzlichsten Augenblicken des Lebens aus einer unsichtbaren Quelle uns zuzuströmen scheint, hielt er sich aufrecht. »Meine gute ... liebe Mimi ...« murmelte er und bedeckte die bleiche Stirn des Kindes mit seinen Küssen. »Ich will zu Hause gehen, Papa ...« und das Kind blickte mit ihren glänzenden Augen wie in eine weite, weite Ferne hinaus, an deren Ende sie ihre Wohnung erblickte, gerade so, wie sie es zuweilen wohl gethan, wenn sie mit ihrem Papa auf einem der Hügel von Morbihan stand und weit, weit unten im Thale das väterliche Haus mit dem kleinen Blumengarten erblickte, »ich will zu Hause gehen ... Papa ...« Das Köpfchen sank leise und matt auf das Kissen zurück, die Blumen entfielen der kleinen erkaltenden Hand, die schönen lieben Himmelsaugen öffneten sich noch einmal, aber schon wie umflort von einem dunklen Schleier, mit leiser ängstlicher Stimme rief sie: »Papa ... Papa ...« und schloß dann die Augen, deren letzter brechender Blick die Gestalt ihres Vaters gesucht, zum ewigen Schlummer. Sanft und schmerzlos trat der Todesengel zu ihr; wie eine Flamme, die den letzten Tropfen Oel verzehrt, erlischt, langsam und still, so erlosch die Flamme dieses kurzen Blüthenlebens. Die erkaltete Hand seines Kindes in der seinigen, das Haupt an der Schulter der kleinen Entschlafenen, stumm und regungslos kniete Dennhardt neben dem Sterbebette der kleinen Mimi. Für den Schmerz eines Vater- und Mutterherzens in diesem Augenblick giebt es keine Worte der Schilderung; man müßte die Feder in Thränen und Herzblut tauchen. * * * * * Auf der Höhe der Düne, am Fuße eines kleinen Grabhügels, auf welchem sich ein einfaches Kreuz mit der Inschrift: »_Hier ruhet mein Glück_,« erhob, saß am Abend eines düsteren Septembertages, wenige Wochen nach jenem Augustmorgen, an welchem die kleine Mimi ihren himmlischen Geburtstag feierte, ein Mann mit grauem Locken- und Barthaar und gramdurchfurchten Zügen. Es war der deutsche Flüchtling Walther Dennhardt, der hier am Grabe seines Kindes saß und hinüberstarrte auf das Meer, das sich vor seinen Blicken ausbreitete, unendlich und grenzenlos wie die Ewigkeit. »Die Ewigkeit! Giebt es eine Ewigkeit?« frug er sich, »eine Ewigkeit für das geschaffene Individuum, für die Creatur, die mit Bewußtsein über die Erde wanderte, bis das ewige, uralte Geheimniß des Todes an sie herantrat und den Leib in Staub zerfallen ließ, den Leib, die Wohnung eines ewigen, unzerstörbaren Geistes, der nur die Hülle wechselt, oder welcher der Mensch selbst ist, mit dessen Zerfall auch das ganze Dasein endigt? O dieses Räthsel des Lebens! Wer es lösen könnte, wer das Siegel von der Pforte nehmen könnte, welche die Geheimnisse des Todes verbirgt!« Aber wie er auch sann und sann, und grübelte und grübelte, es war Alles eitel, Alles vergeblich -- kein Strahl des Lichtes in dieser Finsterniß, welche die Schatten des Todes erzeugt hatten. In früheren schönen Tagen, wo noch für ihn die Quelle des Lebens in freudigem Sprudel hervorsprang, hatte Dennhardt oft im kleinen Kreise vertrauter Freunde über diese Räthsel des Lebens gesprochen und eine Lösung dieser Fragen, über welche Tausende im Taumel der Alltäglichkeit hinweg schlüpfen, ohne je darüber nachgedacht zu haben, gesucht, aber bei allem Ernste seines Strebens nach Wahrheit hatten ihm diese Räthsel der Schöpfung nie so sehr in der Seele gebrannt, nie hatte er so sehr das Bedürfniß nach einer Lösung empfunden, als seit dem Tage, an welchem der Finger des Todes an seine Thür pochte und das Leben seiner Mimi von ihm forderte. Tod! Tod! Gab es einen wirklichen Tod, hatte seine Mimi aufgehört zu sein, gab es für ihn keine Hoffnung sein Kind einst in verklärter Gestalt wiederzufinden, dann war ihm die ganze Schöpfung eine große Lüge, die Welt ein Todtenhaus, durch welches ewig der bleiche Würgengel schreitet; dann war ihm die Erschaffung der Menschheit die bitterste Ironie, der grimmigste Hohn, die grausamste Ausgeburt eines fluchwürdigen Zufalls der Natur. In dem ganzen Dorfe war Niemand, mit welchem Dennhardt über den Zustand seiner Seele, über diese entsetzlichen Zweifel, welche ihn marterten, hätte sprechen können. Der katholische Pfarrer des Orts stand ihm mit seinen streng auf den Dogmen der katholischen Kirche beruhenden Ansichten viel zu fern, als daß zwischen ihnen Anknüpfungs- oder nur Berührungspunkte hätten vorhanden sein können. Dennhardt hatte bis jetzt von dem Christenthume nur die Moral in sich aufgenommen, die Glaubenslehre war ihm immer ein Gebiet gewesen, das ihm unbekannt und fremd erschien, eine =terra incognita=, deren Bedeutung er erst begriff, als das furchtbarste Verhängniß seines Lebens sich erfüllte, als ihm seine Mimi von der kalten Hand des Todes geraubt wurde. Mit einer fast wahnwitzigen Begier verschlang er alle Werke, welche sich auf jenes große Räthsel des Lebens, auf dieses uralte Geheimniß des Todes bezogen, jenes Geheimniß, an dessen Lösung die Menschheit schon seit Jahrtausenden arbeitet, und das sie niemals enthüllen wird, dessen Schleier von keiner sterblichen Hand gelüftet werden wird. Und als er sie alle gelesen, die Werke der Philosophen, von Aristoteles an bis herab zu Hegel, Strauß und Feuerbach, da erkannte er, daß es eine unübersteigliche Grenze für die menschliche Erkenntniß gebe, daß das letzte Blatt im Buche des Lebens, das Blatt, auf welchem die Geheimnisse des Todes verzeichnet stehen, mit einem Siegel geschlossen sei, welches von den Weltweisen aller Jahrhunderte vergebens zu lösen gesucht wurde. Und dann lief er hinaus zum Grabe seines Kindes auf der Düne, zu dem kleinen Grabe, für welches der fanatische Priester keinen Platz innerhalb des Kirchhofs hatte, weil es das Kind eines Protestanten, eines Ketzers war, und setzte sich an dem kleinen Rasenhügel nieder und weinte heiße, blutige Thränen, und sprach mit seinem Kinde, mit seiner kleinen Mimi, der er allerlei Schmeichelnamen gab, gleich als verstehe sie ihn. Wenn dann der Wind vom Meer herüber wehte und durch die Zweige des kleinen Tannenbaumes, welchen er auf das Grab gepflanzt, strich, wenn die Aeste und Zweige und die Blumenstengel der Astern sich flüsternd bewegten, dann glaubte er, es sei die kleine Mimi, welche ihm antwortete. Der Gang nach dem kleinen Grabe, den er täglich gegen Sonnenuntergang antrat, mochte das Wetter auch noch so stürmisch sein, war sein einziger Ausgang. Weder in Vannes, noch in dem Dorfe ließ er sich sonst sehen. Der Doktor Godin, welcher ihn zuweilen besuchte, forderte ihn vergebens auf, einmal mit nach Vannes zu gehen, sich etwas zu zerstreuen und den Trübsinn abzuschütteln, der ihn tagtäglich immer mehr gefangen nahm. »Lassen Sie mich, Doctor,« gab er kopfschüttelnd zur Antwort, »ich will Nichts mehr von der Welt da draußen wissen ... Sehen Sie, Doktor, wenn ich jetzt unter die Leute komme, wie es mir neulich einmal geschah, und es begegnen mir Eltern mit ihren Kindern, und wenn es der ärmste Hirt ist, dessen Hütte die letzte im Dorfe, und seine Kinder springen vor ihm her, barfuß und halbnackt, so fühle ich mich so bettelarm gegen den Mann, daß ich mich vor ihm hinter dem nächsten Busch verstecken möchte. Es ist mir Alles genommen mit dem Kinde, nur mein Körper wandelt noch auf Erden, meine Seele aber ist bei meiner Mimi.« Und wie er grau und alt geworden war in den wenigen Wochen! Wie alle Frische des Lebens aus den Zügen des noch so jungen Mannes weggewischt war, wie das blonde Haar sich entfärbt hatte und so wirr um sein Haupt flatterte! Seine Beschäftigung hatte er ganz und gar aufgegeben. Er lebte von seinen Ersparnissen, die einst seiner Mimi gehören sollten, einen Theil davon hatte er zu einer Stiftung für arme Kinder des Dorfes verwendet. So verging der Herbst, und der Winter kam heran und überzog die grünen Berge von Morbihan mit seinem weißen Schneegewand, und auch das kleine Grab des kleinen deutschen Mädchens auf der Düne von Morbihan überzog er mit dem Leichentuche der hinsterbenden Natur. Und wieder war der Weihnachtsabend da, jener heilige Abend, an welchem die Freude in tausend und aber tausend fröhliche Kinderseelen und glückliche Elternherzen einzieht. Den ganzen Tag über hatte Dennhardt, zu Mutter Poisson's großer Verwunderung, in seinem Arbeitszimmer sich eingeschlossen und eine auffällige Geschäftigkeit gezeigt. Als aber der Abend hereinbrach, ein windstiller, reiner, klarer Winterabend, so ein echter Christabend mit Tausenden von funkelnden Sternen am weiten Himmelsdome, da schlug Dennhardt seinen Mantel um die Schultern und wanderte hinaus nach der Düne zu dem Grabe seiner kleinen Mimi. Was sich da ereignete, haben die Bewohner des Dorfes nie so recht erfahren können; nur Vermuthungen und die Aussagen eines Hirten, der in später Stunde seine Heerde unweit der Düne vorüber trieb, dem aber der Schreck über den seltsamen Anblick die ruhige Beobachtung raubte, so wie einige andere sichtbare Zeichen ließen auf den muthmaßlichen Zusammenhang schließen. »Als ich,« so erzählte der Hirt, »spät am Abend mit meinen Ziegen und Schafen unweit der Düne vorbeizog, sah ich plötzlich an der Stelle, wo das Grab des kleinen deutschen Mädchens ist, helles strahlendes Licht ... Es war mir, als ob eine Unzahl Flammen aus der Erde aufstiegen und immer höher und höher wuchsen ... Und dann sah ich eine dunkle Gestalt mit flatterndem Haar und ausgebreiteten Armen, ein Buch in der Hand, neben dem Grabe stehen, und hörte seltsame, unverständliche Töne, die mir aber einen solchen Schreck in die Glieder jagten, daß ich entsetzt über den Spuk mit meiner Heerde in eiliger Flucht den Abhang hinab nach dem Dorfe zu sprang.« Als Dennhardt am Morgen des Weihnachtstages noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war, lief Mutter Poisson zu dem Doctor Godin und theilte diesem ihre Besorgnisse mit. Dieser ging zum Maire und fuhr dann mit diesem nach dem Dünenhügel. Beim Erblicken des kleinen Grabes stieg eine Thräne in des Arztes Auge. Der Anblick war ein traurigrührender. Der kleine Tannenbaum auf dem Grabe war in einen schönen buntschimmernden Weihnachtsbaum verwandelt, an dem Nichts fehlte, weder der Erzengel von Rauschgold, noch das Zuckerwerk, noch die goldenen und silbernen Nüsse und Aepfel. Nur die gelben Wachslichter waren bis auf den Stumpf niedergebrannt. Es waren die Flammen gewesen, in welchen die abergläubische Phantasie bretagnischer Hirten böse Geister erblickt hatte. Am Fuße des Grabes, das Haupt auf den kleinen Rasenhügel gestützt, lag der deutsche Flüchtling, bleich und entseelt, aber mit dem Ausdrucke eines tiefen Seelenfriedens, ja einer gewissen Verklärung und freudigen Zuversicht in den bleichen Zügen. Seine erstarrte Hand hielt ein aufgeschlagenes Buch; es war die Bibel. Tief bewegt beugte sich der Arzt zu dem Entschlafenen nieder, um das Buch aus der kalten Hand des Todten zu nehmen. Da traf sein Blick auf die aufgeschlagene Stelle, auf welcher wohl zuletzt das Auge des Entschlafenen geruht. Es waren die Worte des Apostels: »Siehe, ich sage euch ein Geheimniß: wir werden nicht Alle entschlafen, wir werden aber Alle verwandelt werden. Der Tod ist verschlungen in den Sieg.« »Er hat das Räthsel des Lebens gelöst,« murmelte der Arzt, »er hat sein Kind wiedergefunden.« Noch am selbigen Tage begrub man den Flüchtling an der Seite seines Kindes, seinen letzten sehnlichsten Wunsch, den er häufig im Gespräch mit dem Doctor geäußert, erfüllend. Jahre sind seit jenem Weihnachtsabend vorüber gegangen, aber noch heute sieht man die beiden Gräber auf der Höhe von Morbihan. Und wenn die Meereswogen heranbrausen zur Düne, und die Möven über die Grabhügel hinstreichen, und es in dem Tannenbaum rauscht und flüstert, und zufällig ein Hirt mit seiner Heerde vorüberzieht, dann ergreift er nicht mehr die Flucht, sondern er pflückt eine Blume und legt sie auf das Grab des kleinen deutschen Mädchens und ihres Vaters, die hier im fernen fremden Lande jene letzte Ruhestätte fanden, welche das Ziel aller irdischen Wanderung ist. Die Mütter des Dorfes aber führen ihre Kinder des Sonntags häufig zum Grabe der kleinen Mimi und erzählen ihnen die Geschichte von dem schönen kleinen Mädchen und von dem letzten Weihnachtsbaum, den ihr Vater auf ihr Grab pflanzte. * * * * * Und Fanny? Vergebens hat sie als Gattin des Vicomte von Grandlieu mehrere Jahre Europa nach allen Richtungen durchstreift, um Mimi zu finden. Sie hat die Hoffnung endlich aufgegeben und sich mit ihrem Manne nach Paris zurückgezogen, wo sie, trotzdem daß der Schmerz seine leserliche Schrift in ihr schönes Antlitz gegraben, noch immer den Mittelpunkt eines glänzenden Kreises bildet, der sich um sie gesammelt. Ob sie glücklich ist? Wir wagen es nicht zu glauben, denn eine Mutter bleibt immer Mutter, und mitten in dem Geräusch der Feste durchzuckt oft ein stechender Schmerz ihr Herz und eine düstere Trauer umflort ihre Stirn; sie bedeckt sich die Augen und zieht sich in ihr Zimmer zurück, wo sie ihr Gemahl dann von Thränen überfluthet auffindet. Ahnt sie vielleicht das Geschick ihres Kindes und des Mannes, der einst ihr Gatte war? Wie dem auch sei, die Ruhe ist von ihr geflohen und sie würde vielleicht den Rest ihres Lebens dahingeben, wenn sie ihr Geschick wieder mit dem jener zwei Seelen vereinigen könnte, deren irdische Hüllen in jenen Gräbern auf der Düne von Morbihan ruhen. Sie ruhen sanft! Und das Murmeln des Meeres ist ihr ewiges Schlummerlied! Wien. Druck von Jacob & Holzhausen. [ Hinweise zur Transkription Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Symbole für abweichende Schriftarten: _gesperrt_ : =Antiqua= . Bei direkter Rede wurde, der überwiegenden Verwendung im Originalbuch folgend, das Kommazeichen einheitlich jeweils vor dem schließenden Anführungszeichen angeordnet. Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, einschließlich uneinheitlicher Schreibweisen wie beispielsweise "erwidern" -- "erwiedern", mit folgenden Ausnahmen, Seite 5: "Aufrüher" geändert in "Aufrührer" (Verbrecher zu verhaften, einen Aufrührer und Rebellenführer) Seite 16: "berühmtensten" geändert in "berühmtesten" (in dem Atelier eines der berühmtesten Meister gearbeitet) Seite 21: "endeckte" geändert in "entdeckte" (Hier entdeckte Dennhardt, dem seine Gattin) Seite 22: "Uebezeugung" geändert in "Ueberzeugung" (meine Ueberzeugung, für Deutschlands Einheit und Freiheit) Seite 25: "«" eingefügt (ein Mann ohne Namen und ohne Zukunft gewesen wärest?«) Seite 26: "»" eingefügt (antwortete sie leidenschaftlich, »wenn Du glaubst) Seite 30: "gäng" geändert in "gang" (die unter diesen Leuten gang und gäbe waren) Seite 44: "Tühr" geändert in "Thür" (der zwanzig Schritte von der Thür hält) Seite 48: "Bellville" geändert in "Belleville" (von der Vorstadt bei Belleville weit hinein) Seite 54: "ergeizigen" geändert in "ehrgeizigen" (Es schmeichelte ihrem stolzen, ehrgeizigen Sinne) Seite 72: "Tühr" geändert in "Thür" (an jenem Abend aus der Thür ihres Hauses) Seite 84: "«" eingefügt (wo ist mein Kind ... hat er es mitgenommen?«) Seite 100: "Jügling" geändert in "Jüngling" (so wie es vielleicht ein Jüngling ist) Seite 103: "," eingefügt (wilde Schweine, Luchse und Dachse) Seite 108: "vierunzwanzig" geändert in "vierundzwanzig" (bei einem Massacre vierundzwanzig Aristos umgebracht) Seite 123: "lautlaus" geändert in "lautlos" (und lautlos vor sich hinstarrte)] End of the Project Gutenberg EBook of Ein kleines Kind, by Karl Wartenburg *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EIN KLEINES KIND *** ***** This file should be named 60672-8.txt or 60672-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/0/6/7/60672/ Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. 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