Der Findling. Erster Band.

By Jules Verne

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Title: Der Findling. Erster Band.

Author: Jules Verne

Release Date: July 3, 2014 [EBook #46180]

Language: German


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  Julius Verne's Reiseromane. Band 64.


  Der Findling.

  Von
  Julius Verne.


  Rechtmässige Ausgabe.

  Erster Band.


  Leipzig
  Bibliographische Anstalt
  Adolph Schumann.




Inhalt.


                                                Seite

  I.    Im Innern von Connaught                     1

  II.   Bewegliche Königspuppen                    12

  III.  =Ragged-School= (die Lumpenschule)         26

  IV.   Das Begräbniß einer Möwe                   41

  V.    Noch einmal die =Ragged-School=            52

  VI.   Limerick                                   68

  VII.  Eine gefährdete »Situation«                82

  VIII. Die Farm von Kerwan                       102

  IX.   Die Farm von Kerwan (Fortsetzung)         115

  X.    Was sich in Donegal zugetragen hatte      131

  XI.   Ein vortheilhaftes Geschäft               142

  XII.  Die Heimkehr                              155

  XIII. Zweifache Taufe                           172

  XIV.  Im Alter von kaum neun Jahren             191

  XV.   Ein schlechtes Jahr                       208

  XVI.  Die Austreibung                           225




Erster Theil.




I.

Im Innern von Connaught.


Irland, das eine Landfläche von zwanzig Millionen Acres -- gegen
acht Millionen Hektar -- einnimmt, wird im Namen der Beherrscher
Großbritanniens von einem Vicekönig oder Lord-Lieutenant unter
Mitwirkung eines »Privat-Rathes« regiert. Es zerfällt in vier Provinzen:
Leicester im Osten, Munster im Süden, Connaught im Westen und Ulster im
Norden.

Das Vereinigte Königreich soll in der Vorzeit eine einzige Insel
gebildet haben. Jetzt sind deren zwei vorhanden, beide noch mehr
getrennt durch geistige Verschiedenheit, als durch physikalische
Grenzen. Die Irländer sind wie von jeher Freunde der Franzosen, und
deshalb den Engländern feindlich gesinnt.

Ein herrliches Land für Touristen, ist Irland ein trauriges Land für
seine Bevölkerung. Diese vermag es nicht zu befruchten, jenes sie nicht
zu ernähren. Und doch ist es nicht ein unfruchtbares Stück Erde, denn
seine Kinder zählen nach Millionen, und obwohl diese Mutter keine Milch
für ihre Kinder hat, wird sie von ihnen doch leidenschaftlich geliebt.
Die süßesten -- =most sweet= -- Namen (ein Wort, das man dort unendlich
häufig hört) werden an sie verschwendet. Das »Grüne Erin«, und grün
ist das Land in der That; weiter heißt Irland der »Schöne Smaragd«, ein
Smaragd, der freilich statt des Goldes in Granit gefaßt ist; die »Insel
der Wälder«, was besser Insel der Felsen heißen sollte; das »Land des
Liedes«, nur erklingt dieses Lied von kränklichen Lippen; endlich nennt
man es die »Erste Blume des Landes« oder die »Erste Blume des Meeres«,
freilich welken diese Blumen schnell im Brausen toller Stürme. Armes
Irland! »Insel des Elends« solltest du heißen; jetzt und schon seit
Jahrhunderten, du mit deinen drei Millionen Armen unter acht Millionen
Bewohnern!

Bei einer Erhebung von etwa hundertfünfundzwanzig Metern trennen in
Irland zwei Höhenzüge die Ebenen, Seen und Torfmoore zwischen der Bai
von Dublin und der von Galway. Die Insel bildet eine vertiefte Schale,
in der es an Wasser nicht fehlt, denn die Seen des Grünen Erin bedecken
allein gegen zweitausenddreihundert Quadratkilometer.

Westport, eine kleine Stadt der Provinz Connaught, liegt im Hintergrunde
der Bai von Clew, die von dreihundertfünfundsechzig Inseln und Eilanden
erfüllt wird, ähnlich wie der Morbihan an den Küsten der Bretagne.
Diese Bai mit ihren Vorbergen, ihren Caps und den gleich Haifischzähnen
angeordneten Spitzen, welche den Wogenschwall von der hohen See brechen,
ist eine der schönsten des ganzen Küstenstriches.

In Westport begegnen wir dem »Findling« im Beginn seiner Geschichte; der
Leser wird selbst sehen, wo, wann und wie sie endigte.

Die Einwohner des etwa fünftausend Seelen zählenden Städtchens sind zum
größten Theile Katholiken. An einem Sonntage, dem 17. Juni 1875, hatten
sich die meisten Bewohner zum Morgengottesdienste in die Kirche
begeben. Connaught, die Wiege der Familie Mac Mahon's, bringt ausgeprägt
keltische Typen hervor, die sich in den alteingesessenen Geschlechtern
fortgepflanzt haben. Und doch, wie traurig ist das Land, so traurig,
daß es den gebräuchlichen Ausdruck: »Nach Connaught gehen, heißt in die
Hölle gehen!« vollständig rechtfertigt.

In den kleinen Orten Irlands herrscht bittere Armuth, doch besitzen die
Leute neben ihren für die Werktage benützten Lumpen auch noch solche
für die Sonn- und Festtage. Dann trägt man dort die noch am wenigsten
zerrissene Kleidung: die Männer erscheinen in geflicktem, unten
ausgefranstem Mantel; die Frauen in mehrfach übereinander liegenden
Röcken -- lauter Ladenhütern des Trödlers -- und bedecken den Kopf mit
Hüten, die mit künstlichen Blumen verziert sind, von welchen freilich
meist nicht mehr als die nackten Drahtstiele mit einzelnen Blättchen zu
sehen ist.

Alle sind barfüßig bis zur Kirche gegangen zur Schonung des theuern
Schuhwerkes -- der Halbstiefeln mit geborstenen Sohlen und der Stiefeln
mit zerrissenem Oberleder, ohne die nach Landessitte niemand die
Schwelle der Kirche überschreiten würde.

Zur Zeit war kein Mensch auf den Straßen von Westport sichtbar, außer
einem Individuum, das einen Karren schob, der mit einem großen mageren,
langzottigen Hunde bespannt war.

»Königspuppen! rief der Mann aus vollem Halse, prächtige, bewegliche
Königspuppen!«

Der Schausteller war von Castlebar, dem Hauptorte der Grafschaft Mayo,
hierhergekommen. Auf seinem Wege nach Westen hatte er den Kamm jener
Höhenzüge überschritten, die sich, wie die meisten Berge Irlands,
nach der Küste zu senken, so im Norden die Kette des Nephin mit
ihrem achthundertdreißig Meter hohen Gipfelpunkte, und im Süden der
Croagh-Patrick, auf dem der größte irländische Heilige, der Verbreiter
des Christenthums im vierten Jahrhundert, die vierzig Tage der
Fastenzeit verweilte. Hierauf war der Mann die gefährlichen Schluchten
des Hochlandes von Connemara hinabgestiegen in der Richtung nach den
Seen Mask und Corril, die einen Ausfluß nach der Clew-Bai haben. Ihn
kümmerte keinen Pfifferling weder die Midland-Great-Westernbahn, das
große Verbindungsglied zwischen Westport und Dublin, noch die Post,
die ihre »Cars« durch das Land rollen läßt. Er reiste als fahrender
Künstler, der überall seine Puppenausstellung ausrief und anpries
und den großen Hund von Zeit zu Zeit mit einem derben Peitschenhiebe
aufmunterte. Der von kräftiger Hand erlittenen Züchtigung antwortete
dann stets ein lautes Schmerzgeheul und aus dem Innern des Karrens
zuweilen ein leises Schluchzen.

Dann wetterte der Mann gewöhnlich los.

»Wirst Du laufen lernen, Hundevieh!« rief er, und dann, als wendete
er sich an einen andern, der im Karren verborgen sein mußte, klang es
weiter: »Wirst Du still sein, Hundejunge!«

Darauf verstummte das Schluchzen und der Karren kam wieder langsam in
Bewegung.

Dieser Mann nennt sich Thornpipe. Woher er stammt, ist gleichgiltig; es
genügt zu wissen, daß er zu den Angelsachsen gehört, die in den unteren
Volksschichten der britannischen Inseln so ungemein häufig vorkommen.
Dieser Thornpipe besitzt nicht mehr Gefühl als ein wildes Thier, nicht
mehr Herz als ein Felsblock.

Nachdem der Mann die ersten Wohnstätten von Westport erreicht hatte,
folgte er der Hauptstraße des Städtchens mit ihren ziemlich wohnlichen
Häusern und den mit pomphaften Schildern versehenen Läden, worin
freilich nicht viel zu finden ist. In diese Straße münden verschiedene
schmutzige Nebengassen ein, wie trübe Bäche, die sich in einen klaren
Fluß ergießen. Auf deren spitzen Pflastersteinen poltert und rasselt
Thornpipe's Karren dahin, gewiß zum Nachtheil der Puppen, die er zur
ergötzlichen Unterhaltung der Bewohner von Connaught hierher brachte.

Wegen Mangels an »geeignetem Publicum« trottete Thornpipe weiter, bis er
zur Mail (Alleestraße) gelangte, die die Hauptstraße zwischen doppelter
Ulmenreihe kreuzt. Jenseits der Mail dehnt sich ein geräumiger Park
aus, dessen sorgsam unterhaltene Sandwege nach dem an der Bai von Clew
liegenden Hafen führen.

Selbstverständlich gehören Stadt, Hafen, Park, Straßen, Fluß, Brücken,
Kirchen, Häuser und Hütten einem jener reichen Landlords, die fast den
ganzen Boden Irlands besitzen. Hier waren sie das Eigenthum des Marquis
von Sligo, eines Mannes von reinem, altem Adel, und übrigens beiweitem
nicht des schlechtesten Herrn für seine zahlreichen Pächter.

Alle zwanzig Schritte etwa hielt Thornpipe mit seinem Wagen an,
blickte um sich und rief mit einer Stimme, die einem mangelhaft geölten
Mechanismus zu entschallen schien:

»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«

Doch niemand trat aus den Läden, kein Gesicht erschien an den Fenstern.
Nur da und dort tauchten aus den Nebengassen einige bewegliche Lumpen
auf und aus diesen glotzten hagere, verhungerte Gesichter hervor mit
gerötheten Augen, die so tief lagen, daß man durch sie ins Leere sehen
zu können wähnte. Weiter erschienen einzelne halbnackte Kinder, und fünf
bis sechs dieser Gassenbuben schlichen endlich an den Wagen heran, als
dieser in der großen Mail Halt machte.

»Copper!... Copper!« bettelten alle wie aus einem Munde.

Unter »Copper« ist eine winzige Kupfermünze zu verstehen, ein Theil des
Pennys, d. h. des kleinsten im Lande vorkommenden Geldstücks. Und diese
Kinder sprachen darum einen Mann an, der mehr Verlangen hatte, Almosen
anzunehmen als solche zu vertheilen. Natürlich empfing er mit drohender
Hand- und Fußbewegung und mit zornsprühenden Augen die Buben, die sich
außerhalb des Bereiches seiner Peitsche halten mußten... und noch
sorgsamer fern genug den Spitzzähnen des Hundes, der wegen gewohnter
übler Behandlung nie bei guter Laune war.

Thornpipe war schon an sich wüthend. Er schreit ja in die reine Wüste
hinaus. Niemand kümmert sich um seine königlichen Marionetten. Paddy --
d. i. der Irländer, wie John Bull der Engländer -- Paddy zeigt keine
Spur von Neugier. Er hegt nicht etwa Feindschaft gegen die erhabene
königliche Familie. O nein! Was er nicht liebt, was er haßt mit allem
durch Jahrhunderte lange Unterdrückung aufgehäuftem Hasse, das ist
nur der Landlord, der ihn als ein noch unter den Leibeigenen Rußlands
stehendes Geschöpf betrachtet. Wenn der Ire O'Connell zujubelte, so
geschah das, weil der große Patriot auf der Erhaltung der Rechte der
Grünen Insel durch die Unionsacte der drei Königreiche vom Jahre 1806
bestand, weil die Thatkraft, die Zähigkeit, die kühne Politik dieses
Staatsmannes später die Emancipations-Bill von 1829 durchsetzte und
damit, Dank seiner unerschütterlichen Haltung, Irland, das Polen
Englands, vor Allem das katholische Irland in eine Periode halber
Freiheit eintrat. Thornpipe wäre also sicherlich besser dran gewesen,
wenn er seinen Mitbürgern O'Connell vor Augen geführt hätte, doch
das war ja noch kein Grund, Ihre graziöse Majestät =in effigie= so
unbeachtet zu lassen. Freilich hätte Paddy dem Bildniß seiner
Souveränin auf hübschen Geldstücken, auf Pfunden, Kronen, Halbkronen und
Schillings, ganz entschieden den Vorzug gegeben, denn gerade dieses aus
der britannischen Münze hervorgegangene Porträt fehlt der Tasche des
Irländers am meisten.

Da kein ernstlicher Zuschauer den wiederholten Einladungen des
Kunsthausierers Folge gab, setzte sich der von dem großen, knochendürren
Hunde geschleppte Karren wieder in Bewegung.

Unter dem herrlichen Ulmenschatten der Allee der Mail zog Thornpipe
weiter. Er war allein. Die Kinder hatten ihn endlich verlassen. So
erreichte er den von Sandwegen durchschnittenen Park, den der Marquis
von Sligo dem öffentlichen Verkehr offen hielt, um einen Zugang zu dem
eine gute (englische) Meile von der Stadt entfernten Hafen zu gewähren.

»Königspuppen!... Königspuppen!«

Niemand antwortete. Mit schwachem Schrei flatterten die Vögel von einem
Baume zum andern. Der Park war ebenso verödet wie die Mail. Wie konnte
auch Jemand einfallen, Katholiken während des Gottesdienstes zu einer
solchen Schaustellung einzuladen! Thornpipe konnte unmöglich aus dem
Lande selbst sein. Nach dem Mittagessen, zwischen Messe und Vesper, da
ließ sich vielleicht eher etwas erzielen. Jedenfalls hinderte den Mann
nichts, jetzt bis zum Hafen hinunter zu wandern, und das that er denn
auch, indem er, statt im Namen des heiligen Patrick, in dem aller Teufel
Irlands weidlich fluchte.

Der Hafen, den der Seenabfluß im Grunde der Bai von Clew bildet, ist
nur wenig besucht, obwohl er an Geräumigkeit und Sicherheit alle andern
Häfen an der Westküste der Insel übertrifft. Nur vereinzelt kommen
Schiffe dahin, weil Großbritannien, d. h. England und Schottland, dem
mageren Gelände von Connaught zusenden muß, was dieses dem Erdboden
nicht selbst zu entlocken vermag. Irland ist ein Kind, das sich an
zwei Brüsten nährt; die Ammen lassen sich ihre Milch aber recht theuer
bezahlen.

Einige Matrosen lustwandelten rauchend auf dem Quai umher, denn wegen
des Sonntags war die Entlöschung der Fahrzeuge natürlich unterbrochen.

Bekanntlich nimmt es die angelsächsische Rasse mit der Sonntagsheiligung
sehr streng. Die Protestanten halten darauf mit aller Unbeugsamkeit
ihres Puritanismus, und in Irland wenigstens wetteifern die Katholiken
mit jenen in der Ausübung des Cultus. Ihrer sind übrigens zweieinhalb
Millionen neben fünfmal-hunderttausend Anhängern verschiedener Secten
der anglikanischen Kirche.

In Westport befand sich zur Zeit kein andern Ländern zugehöriges Schiff.
Nur Brigg-Goëletten, Schooner und Kutter nebst einigen Fischerbarken,
die außerhalb der Bai auf den Fang ausgehen, lagen bei der eben
herrschenden Ebbe auf dem Trocknen. Jene von der Westküste Schottlands
gekommenen Fahrzeuge segelten, nach Löschung ihrer Ladung von Getreide
-- das Connaught vor allem braucht -- sofort wieder nach der Heimat ab.
Um eigentliche Hochseeschiffe zu sehen, mußte man nach Dublin,
Londonderry, Belfast oder Cork gehen, wo die transatlantischen
Packetboote der Londoner und der Liverpooler Dampferlinien anlaufen.

Aus der Hosentasche jener müßigen Seeleute konnte Thornpipe offenbar
auch keinen Schilling locken, denn seine Ausrufungen blieben von den
Quais des Hafens her ohne Antwort.

Er ließ jedoch den Karren ruhig stehen. Der vor Hunger und Anstrengung
erschöpfte Hund streckte sich auf dem Sande aus. Thornpipe holte aus
einem Sacke ein Stück Brot, einige Kartoffeln und einen Salzhäring und
begann zu essen wie ein Mann, der nach langer Wegstrecke den ersten
Bissen zu sich nimmt.

Der Zughund sah ihn an und knackte mit den Kinnladen, aus denen seine
brennendrothe Zunge hervorhing. Jetzt schien seine Fütterungsstunde aber
noch nicht geschlagen zu haben, denn er legte den Kopf wieder zwischen
die Pfoten und schloß die Augen, um besser auszuruhen.

Eine leichte Bewegung im Innern des Karrens erweckte Thornpipe aus
seiner Apathie. Er erhob sich und prüfte, ob ihn niemand beobachte. Dann
lüftete er ein wenig die Decke, die den Kasten mit Puppen verhüllte, und
steckte ein Stück Brot darunter hinein.

»Daß Du nicht plärrst!« rief er drohenden Tones dazu.

Ein Geräusch von hastigem Kauen antwortete ihm, als berge der Kasten ein
vor Hunger sterbendes Thier, und er setzte sein Frühstück wieder fort.
Bald war dieses aufgezehrt, und nun führte er eine bauchige Flasche an
die Lippen, die saure Molken enthielt, ein Getränk, das hier zu Lande
viel genossen wird.

Inzwischen schlug die Kirchenglocke in Westport an und verkündete den
Schluß des Gottesdienstes.

Es war jetzt elfeinhalb Uhr.

Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche wieder auf, und rückwärts ging
es mit dem Karren nach der Mail, in der Hoffnung, unter denen, die aus
der Messe kamen, doch einige Zuschauer zu finden. Während der guten
halben Stunde bis zum Essen ließ sich vielleicht noch eine Einnahme
machen. Nach der Vesper gedachte Thornpipe seine Schaustellung noch
einmal zu öffnen, er wollte aber erst am folgenden Tage weiter ziehen,
um andre Ortschaften mit seiner Puppensammlung zu beglücken.

Der Gedanke schien ja nicht so übel zu sein. Statt der Schillinge
würde er sich auch mit Coppers begnügen und seine beweglichen Puppen
arbeiteten dann wenigstens nicht ganz und gar für nichts und wieder
nichts.

Von neuem erschallte seine Stimme:

»Königspuppen!... Bewegliche Königspuppen!«

Binnen weniger Minuten hatten sich wohl an zwanzig Personen um Thornpipe
gesammelt. Die Elite der westportischen Bevölkerung war es freilich
nicht. Die Mehrzahl bestand aus Kindern, dazu kamen einige Frauen und
wenige Männer, die meist das Schuhwerk wieder in der Hand trugen, nicht
allein, um es zu schonen, sondern weil es ihnen auch bequemer war,
barfuß zu gehen.

Immerhin befanden sich auch gewisse Honoratioren des Städtchens unter
den Neugierigen, z.  B. der Fleischer, der mit Frau und zwei Kindern
stehen geblieben war. Freilich datirte sein »Tweed« schon von mehreren
Jahren her, die bei dem regenreichen Klima doppelt oder gar dreifach
zählen; der würdige Meister konnte sich im Ganzen aber noch sehen
lassen. Das ist er schon seinem Laden schuldig, über dessen Thür in
leuchtender Schrift die Firma »Central-Schlächterei« prangte. Er hatte
sein Geschäft auch so in Schwung, daß es nirgends sonst in Westport
Fleischwaaren gab. Neben dem stattlichen Manne zeigte sich auch der
Droguist des Ortes, der gern den Titel »Pharmazeut« hörte, obwohl seiner
Officin selbst die einfachsten Droguen oft fehlten. Dennoch blendete
sein Schaufenster mit dem glänzenden Namen »=Medical Hall=«, so daß, wer
die Inschrift nur betrachtete, sich schon geheilt fühlen mußte.

Wir dürfen auch einen Geistlichen nicht vergessen, der vor dem Karren
Thornpipe's stehen geblieben war. Dieser Diener der Kirche trug ein
recht sauberes Gewand: einen Halskragen von Seide, eine lange Weste
mit so dicht wie an einer Soutane stehenden Knöpfen, und einen weiten
Ueberrock aus schwarzem Stoffe. Er bildet das Oberhaupt der Parochie, in
der ihm vielfache Functionen zufallen. So begnügt er sich nicht damit,
zu taufen, zu predigen, zu verehelichen und seine Getreuen beim
letzten Gange zu begleiten, er berathet sie auch in geschäftlichen
Angelegenheiten, behandelt die Kranken, und das alles in voller
Unabhängigkeit, denn er bezieht vom Staate gar keine Einkünfte. Die
Gaben von Naturerzeugnissen und die Gebühren für Amtshandlungen, die
sogenannten »Accidenzien« der geistlichen Stellen, sichern ihm ein
anständiges und bequemes Leben. Er ist der natürliche Verwalter der
Schulen und Wohlthätigkeitsanstalten, was ihn aber nicht hindert, auch
bei sportlichen -- Ruder- oder Pferde- -- Wettkämpfen den Vorsitz zu
führen, wenn Regattas oder Steeple-chases in seinem Bezirke
abgehalten werden. Innig vertraut mit den Familienverhältnissen seiner
Beichtkinder, wird er nach Verdienst allgemein geachtet, selbst wenn er
es nicht unter seiner Würde hält, in einem Laden einen ihm angebotenen
Schoppen Bier anzunehmen. Die Reinheit seiner Sitten ist jedenfalls nie
angefochten worden. Ueber seinen allgewaltigen Einfluß braucht man sich
in jenen streng katholischen Gegenden auch gar nicht zu wundern, hier,
wo nach dem bekannten Reisewerke Anna von Bovet's, das unter dem Titel
»Drei Monate in Irland« erschienen ist, »schon die Bedrohung mit dem
Ausschluß vom Abendmahle den Bauer durch ein Nadelöhr jagt«.

Den Karren umgab jetzt also ein Publicum, ein etwas productiveres, wenn
man so sagen darf, als Thornpipe erhofft hatte. Wahrscheinlich winkte
seiner Ausstellung nun einiger Erfolg, denn Westport war noch niemals
mit einem Schauspiele dieser Art beehrt worden.

So ließ denn der fahrende Künstler noch einmal seinen Ausruf als »=great
attraction=« ertönen:

»Königspuppen!... Prächtige, bewegliche Königspuppen!«




II.

Bewegliche Königspuppen.


Der Karren Thornpipe's ist in einfachster Weise eingerichtet:
eine Deichsel, an der der wilde zottige Köter angespannt ist; ein
viereckiger, auf nur zwei Rädern ruhender Kasten, der deshalb auf den
hügeligen Wegen der Grafschaft leichter fortzuziehen ist; zwei Griffe an
der Rückseite, um das Ganze, gleich den Wagen hausierender Händler, auch
schieben zu können; über dem Kasten ein leichtes Leinenzeltdach auf vier
Eisenstäben, das, wenn es auch nicht ganz gegen die hier kaum jemals
brennende Sonne, so doch gegen den endlosen Regen des höheren Irlands
schützt. Das Ganze ähnelt also den leichten Wägelchen, die die
Drehorgeln durch Stadt und Land tragen, jene Instrumente mit
kreischenden Pfeifentönen, denen sich noch eine Art Trompetengeschmetter
zugesellt. Eine Drehorgel ist es freilich nicht, womit Thornpipe von
Stadt zu Stadt zieht, oder in der complicierteren Maschinerie ist die
Orgel wenigstens zum einfachen Pfeifchen zusammengeschmolzen, wie sich
das sogleich zeigen wird.

Der Kasten ist nach unten nämlich durch einen bis zu einem
Viertel seiner Höhe aufragenden Deckel geschlossen. Wird dieser
zurückgeschlagen, so bietet sich den Zuschauern ein für diese meist
verblüffender Anblick.

Zur Vermeidung von Wiederholungen empfehlen wir, Thornpipe's gewohnte
Erläuterungen achtsam anzuhören. Jedenfalls hat sich der wandernde
Schausteller mit der unermüdlichen Beredsamkeit den berühmten Brioché,
den Schöpfer der Marionettentheater auf den Messen und Märkten
Frankreichs, zum Muster genommen.

»Ladies und Gentlemen....«, so beginnt er unabänderlich, um sich das
Wohlwollen der Zuschauer zu sichern, selbst wenn er das jämmerlichst
zerlumpte Dorfpublicum anredet.

»Ladies und Gentlemen! Hier erblicken Sie den großen Festsaal des
königlichen Schlosses zu Osborne auf der Insel Wight.«

Das Kasteninnere stellt in der That einen Salon im Kleinen vor; vier
Planken bilden seine Wände, worauf Thüren und drapierte Fenster gemalt
sind; da und dort stehen hochmoderne Möbel aus Pappe, die mit Stiften
auf einem farbigen Teppich festgehalten sind, Tische, Armstühle und
Sessel, so angeordnet, daß sie die Bewegungen der Personen, der Prinzen,
Prinzessinnen, Herzöge, Marquis, Grafen und Baronets nicht hindern
können, die mit ihren vornehmen Gemahlinnen inmitten dieser officiellen
Empfangscour einherstolzieren.

»Im Hintergrunde, so fährt Thornpipe fort, bemerken Sie den Thron der
Königin Victoria, überragt von dem carmoisinrothen Sammtbaldachin mit
goldenen Fransen und haargenau dem Throne nachgebildet, auf dem Ihre
graziöse Majestät bei den Hoffestlichkeiten Platz nimmt.«

Der betreffende Thron mißt hier acht bis zehn Centimeter in der Höhe,
und obgleich der Sammt nur durch wollebestäubtes Papier vertreten ist
und die Goldfransen aus einfacher gelber Schnur bestehen, so verschlägt
das nicht das mindeste bei den Wackeren, die noch niemals ein solches
ausgesprochen monarchisches Möbelstück zu Gesicht bekommen haben.

»Auf dem Throne, belehrt Thornpipe weiter, erblicken Sie die Königin --
die Aehnlichkeit derselben wird garantiert! -- in ihrer Galatracht; den
an den Schultern gehaltenen Königsmantel, die Krone auf dem Haupte und
das Scepter in der Hand.«

Wir, die wir niemals die Ehre genossen, die Beherrscherin
des Vereinigten Königreiches und Kaiserin von Indien in ihren
Staatsgemächern zu erblicken, können für die zweifellose Aehnlichkeit
der hohen Dame mit der sie darstellenden Puppe natürlich nicht gutsagen.
Doch zugegeben, daß sie sich bei großen Hoffestlichkeiten mit der Krone
schmückt, so wird sie in der Hand doch schwerlich ein Scepter führen,
das, wie sein Ersatzstück hier, mehr dem Dreizack Neptuns gleicht. Das
einfachste bleibt es freilich, Thornpipe aufs Wort zu glauben, und das
thaten kluger Weise auch die Zuschauer.

»Zur Rechten der Königin, erläutert Thornpipe ferner, mache ich das
geehrte Publicum aufmerksam auf Ihre königlichen Hoheiten den Prinzen
und die Prinzessin von Wales, wie Sie die Herrschaften gelegentlich
ihrer letzten Reise durch Irland gewiß selbst gesehen haben.«

Kein Zweifel, da steht der Prinz von Wales als britischer Feldmarschall,
und die Tochter des Königs von Dänemark, angethan mit kostbarem
Spitzenkleide, das hier freilich kunstvoll aus Silberpapier geschnitten
ist, wie solches zum Schmucke von Bonbonschachteln verwendet wird.

Auf der andern Seite stehen der Herzog von Edinburgh, der Herzog von
Connaught, der von Fife, der Prinz Battenberg mit den Prinzessinnen,
ihren erlauchten Gemahlinnen, kurz die ganze königliche Familie, so
angeordnet, daß sie vor dem Throne einen Halbkreis bilden. Unzweifelhaft
erwecken diese bezüglich ihrer Porträttreue immer »garantierten« Puppen
mit den gemalten Gesichtern und ihrer dem Leben abgelauschten Haltung
eine deutliche Vorstellung von dem Hofe Englands.

Dann folgen die Großofficiere der Krone, darunter der Großadmiral Sir
Georges Hamilton. Thornpipe befleißigt sich, mit dem Ende seines Stabes
alle der Bewunderung des Publikums zu empfehlen, unter der Hinzufügung,
daß jeder von ihnen seinem Range entsprechend den ihm nach der
Hofetiquette zukommenden Platz einnimmt.

Da hält sich vor dem Throne in ehrfurchtsvoller Unbeweglichkeit ein
hochgewachsener Mann von ausgesprochen angelsächsischem Typus, der nur
ein Minister der Königin sein kann.

Es ist auch einer, nämlich der Chef des Cabinets von St. James, den man
an dem unter der Last der Geschäfte etwas gekrümmten Rücken leicht genug
erkennt.

Thornpipe geht weiter in seinen Erklärungen.

»Und neben dem Premierminister, zur Rechten, der ehrwürdige Herr
Gladstone.«

Wahrlich, es wäre schwierig gewesen, den berühmten »Oldman« nicht zu
erkennen, den schönen Greis, der sich noch immer aufrecht hält,
der immer bereit ist, seine liberalen Anschauungen gegen die der
conservativen Regierung zu vertheidigen. Vielleicht könnte es auffallen,
daß er den Premierminister mit freundlichem Blicke betrachtet; doch was
bei Wesen aus Fleisch und Bein unmöglich wäre, das hat bei Puppen aus
Pappe und Holz ja nicht viel auf sich.

Ein außergewöhnlicher Anachronismus verschuldet auch noch eine
andre Nebeneinanderstellung, denn Thornpipe bläst die Backen auf und
verkündet:

»Hier, Ladies und Gentlemen, stelle ich Ihnen Ihren berühmten Landsmann
O'Connell vor, dessen Name in jedem irländischen Herzen allezeit ein
Echo finden wird.«

Ja, da befand sich O'Connell am Hofe Englands und im Jahre 1875, obwohl
er schon seit einem Vierteljahrhundert todt war. Auf einen dagegen
erhobenen Einwand hätte Thornpipe jedenfalls geantwortet, daß der große
Agitator für einen Sohn Irlands immer fortlebt. Mit ähnlicher Begründung
hätte er da auch Parnell aufstellen können, obwohl dieser Politiker
jener Zeit kaum bekannt war.

Da und dort stehen noch andre Höflinge verstreut, deren Namen uns
entgehen, alle mit Ordenssternen und Bändern übersäet, politische und
kriegerische Berühmtheiten, darunter Se. Gnaden der Herzog von Cambridge
neben dem seligen Lord Wellington, der verstorbene Lord Palmerston
neben dem verstorbenen Pitt; endlich Mitglieder der Pairskammer in
vertraulichem Gespräche mit solchen aus dem Hause der Gemeinen; hinter
diesen eine Reihe =Horse-guards= in Parade, im Salon zwar, aber doch
zu Pferde, eine Andeutung, daß es sich hier um ein Fest handelt, wie es
selbst im Schlosse zu Osborne selten vorkommt.

Das Ganze umfaßt etwa fünfzig kleine Männchen, die alle schreiend bemalt
sind und mit steifer Würde alles darstellen, was an Hocharistokratie, an
Auszeichnung und Rangstellung in der militärischen und politischen Welt
des Vereinigten Königreiches vorhanden ist.

Man bemerkt sogar, daß die britische Flotte nicht vergessen wurde, und
wenn die königliche Yacht »Victoria and Albert« hier nicht unter Dampf
ist, so sieht man wenigstens Schiffe an die Fensterscheiben gemalt,
durch die man die Rhede von Spithead zu erkennen glaubt. Mit guten Augen
würde man gewiß die Yacht »Enchantereß« unterscheiden können, mit Ihren
Ehren den Lords der Admiralität an Bord, die in einer Hand ein Fernrohr,
in der andern ein Sprachrohr halten.

Mit der Behauptung, daß seine Schaustellung einzig in ihrer Art sei,
hat Thornpipe das Publicum nicht betrogen. Auf jeden Fall macht sie eine
Reise nach der Insel Wight unnöthig. Außerdem bereitet sie nicht nur
den Gassenbuben, die sie mit Bewunderung betrachten, sondern auch den
Erwachsenen, die niemals über die Grenzen Connaugths hinauskommen, ein
wirkliches Vergnügen. Der Parochialgeistliche lächelt vielleicht im
Stillen darüber; der Droguist kann sich nicht enthalten zu bestätigen,
daß die Aehnlichkeit der dargestellten Personen überraschend sei, obwohl
er diese in seinem Leben nicht gesehen hat. Der Fleischer gestand ein,
was er hier sehe, übertreffe seine Vorstellungen davon, denn er könne
nicht glauben, daß bei einem Empfange am Hofe so viel Luxus und Glanz
entfaltet werde.

»Nun, Ladies und Gentlemen, nimmt Thornpipe wieder das Wort, das ist bis
jetzt noch gar nichts. Sie glauben jedenfalls, daß diese königlichen und
die andern Personen sich gar nicht bewegen könnten. Fehlgeschossen! Sie
leben wirklich, ich versichere es, leben, wie Sie und ich selbst,
was Sie sofort sehen sollen. Vorerst bin ich so frei, eine kleine
Einsammlung zu veranstalten, wozu ich mich Ihrem geneigten Wohlwollen
empfehle.«

Das ist der kritische Augenblick für solche Schausteller, wenn die
Sammelbüchse unter den Zuschauern zu kreisen beginnt. Ganz gewöhnlich
zerfallen letztere in zwei Classen: in die, die sich aus dem Staube
machen, um nicht in die Tasche greifen zu müssen, und in die, welche
dableiben mit der Absicht, sich umsonst zu amüsieren -- die zweite
Classe bildet übrigens die Mehrzahl. Wohl giebt es noch eine dritte
Classe, die der Zahlenden, deren sind aber so wenige, daß es sich gar
nicht verlohnt, von ihnen zu sprechen. Das zeigte sich deutlich genug,
als Thornpipe seinen kleinen Umgang antrat und dazu ein liebenswürdiges
Lächeln heuchelte.

Sicherlich hätte man bei der ganzen Lumpengesellschaft, die nicht von
der Stelle wich, keine zwei Coppers finden können, und alle, die das
weitere Schauspiel unentgeltlich genießen wollten, wendeten beim
Nahen der Sammelbüchse einfach den Kopf ab, so daß nur fünf bis sechs
Zuschauer in die Tasche griffen, was den Ertrag von einem Schilling drei
Pence ergab, den Thornpipe mit süßsaurer Miene einsteckte. Was
half's? Er mußte sich, in Erwartung einer reicheren Ernte bei der
Nachmittagsvorstellung, schon begnügen und lieber das angekündigte
Programm durchführen, als etwa das Geld zurückzugeben.

Jetzt verwandelte sich aber die bisher stumme Bewunderung in eine laute
lärmende Kundgebung des Beifalls. Es begann ein Händeklatschen, ein
Trampeln mit den Füßen und ein »Aoh«rufen, daß man's wohl bis zum Hafen
hinunter hätte hören können.

Thornpipe hatte mit seinem Stabe an den Kasten geschlagen, worauf ein
von niemand beachtetes leises Seufzen Antwort gab. Plötzlich erschien
die ganze Scene wie durch ein Wunder in naturgetreuer Bewegung.

Die durch einen inneren Mechanismus bewegten Puppen schienen wirklich
Leben bekommen zu haben. Ihre Majestät die Königin Victoria hatte zwar
den Thron nicht verlassen, was ein Verstoß gegen die Etiquette gewesen
wäre, sie hatte sich nicht einmal erhoben, sie bewegte aber das
gekrönte Haupt und hob und senkte das Scepter, wie die Kapellmeister
den Tactierstock beim Dirigieren. Die Mitglieder der königlichen Familie
drehen und wenden sich, grüßend und Grüße erwidernd, hier- und
dorthin, während die Herzöge, Marquis und Baronets in größter Ehrfurcht
vorüberdefilieren. Der Premierminister verneigt sich vor Herrn
Gladstone, der es ihm gleichthut. Nach ihnen schreitet O'Connell auf
unsichtbarer Fuge mit Ernst und Würde vor, und ihm folgt der Herzog
von Cambridge, der einen Charaktertanz aufzuführen scheint. Die
andern Persönlichkeiten schließen sich dem Zuge an, und die Pferde der
Horse-guards bäumen sich schweifwedelnd, als wären sie nicht in einem
Saale inmitten des Schlosses von Osborne, sondern auf dessen geräumigem
Hofe aufgestellt.

Das Ganze vollzieht sich unter einer leisen, aber scharfen
Musikbegleitung, bei der allerdings manche Töne nicht zum Ausdruck
kommen. Doch wie hätte Paddy -- der für Musik so empfänglich ist,
daß Heinrich VIII. das Wappen des Grünen Erin noch mit einer Harfe
bereicherte -- davon nicht entzückt sein sollen, obgleich er statt
=God save the Queen= oder =Rule Britannia=, den melancholischen
Nationalgesängen des traurigen Vereinigten Königreiches, lieber eine
irische Weise gehört hätte.

Für Jeden, der die Maschinerie eines größeren Theaters noch nicht
kannte, mußte der Vorgang hier entschieden etwas Wunderbares an sich
haben; so entfesselte denn auch der Anblick dieser sich bewegenden
Puppen bei den Zuschauern einen Enthusiasmus ohne Gleichen.

Da, wie durch einen Ruck im Mechanismus, senkt die Königin ihr Scepter
so tief, daß sie damit den runden Rücken des Premierministers berührt.
Ein doppeltes Hurrah der Zuschauer braust durch die Lüfte.

»Sie leben wahrhaftig! ruft einer der Umstehenden.

-- Es fehlt ihnen nur die Sprache! bemerkte ein andrer.

-- Das laßt Euch nicht leid thun!« setzt der Pharmazeut hinzu, der in
unbewachten Augenblicken den Demokraten heraussteckt.

Er hatte auch Recht. Man denke sich nur Puppen, die höfische Redensarten
drechseln.

»Ich möchte wohl wissen, was sie in Bewegung setzt, läßt sich der
Schlächter vernehmen.

-- Das ist der reine Gottseibeiuns, äußert ein Matrose.

-- Ja, der Teufel, rufen einige schon halb überzeugte Matronen, die
sich dem Geistlichen zugewendet bekreuzen, während der fromme Herr eine
nachdenkliche Miene macht.

-- Wie könnt Ihr annehmen, daß der Teufel in diesem Kasten steckt,
erwidert ein wegen seiner Naivetät bekannter Ladenjüngling, der Teufel
ist dazu viel zu groß...

-- Na, wenn er nicht drin steckt, so steht er draußen! schwatzt eine
alte Stadtklatsche. Der da, der dieses Schauspiel vorführt...

-- Ach nein, unterbricht sie der Droguist, Ihr wißt doch, daß der Teufel
nicht irländisch spricht!«

Das ist die Wahrheit, die Paddy ohne Widerspruch zugiebt, und man
einigte sich also darüber, daß Thornpipe wegen seines rein irischen
Dialects der Teufel nicht sein könne.

Wenn die Sache also nicht mit Hexerei zuging, mußte nothwendiger
Weise ein innerer Mechanismus vorhanden sein, der diese kleine Welt
in Bewegung setzte. Niemand hatte Thornpipe jedoch etwa eine Feder
aufziehen sehen. Ja, als die Bewegungen sich zu verlangsamen begannen,
da hatte -- eine Besonderheit, die dem Pfarrer nicht entging -- ein
Peitschenhieb Thornpipe's unter den von der Decke verhüllten Kasten
genügt, die Puppengesellschaft aufs neue zu beleben.

Den Pfarrer drängte es, zu erfahren, wem diese fühlbare Aufmunterung
wohl gegolten haben möge, deshalb fragte er Thornpipe:

»Sie haben wohl einen Hund dort in Ihrem Kasten?«

Der Mann sah ihn, die Stirn runzelnd, an, als finde er diese Frage etwas
indiscret.

»Da drin ist, was eben drin ist! antwortete er. Das bleibt mein
Geheimniß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, es zu verrathen...

-- Dazu sind Sie nicht verpflichtet, meinte der Geistliche, wir aber
haben doch das Recht, zu vermuthen, daß es ein Hund ist, der Ihren
Mechanismus treibt...

-- Nun ja... ein Hund! gab Thornpipe ärgerlich zu, ein Hund in einem
Trommelkäfig. Es hat mir Zeit genug gekostet, ihn so weit zu dressieren.
Und welchen Lohn hab' ich nun für meine Mühen erhalten? Nicht die Hälfte
von dem, was man jedem Geistlichen für das Lesen einer einzigen Messe
bezahlt!«

Eben als Thornpipe seinen Satz beendete, stand der Mechanismus still,
zum großen Mißvergnügen der Zuschauer, deren Interesse noch lange nicht
befriedigt war. Der Puppenvorzeiger ging daran, den Karrendeckel zu
schließen und erklärte, daß die Vorstellung zu Ende sei.

»Würden Sie bereit sein, noch eine zweite zu geben? fragte da der
Pharmazeut.

-- Nein! erklärte Thornpipe, der viele verdächtige Blicke auf sich
gerichtet sah, mit barscher Entschiedenheit.

-- Auch nicht, wenn wir Ihnen für eine Einnahme von zwei Schillingen
einständen?

-- Weder für zwei noch für drei Schillinge!« rief Thornpipe.

Er dachte nur, sich aus dem Staube zu machen, das Publicum schien aber
nicht in der Laune, ihn so schnell fortzulassen. Auf einen Wink seines
Herrn zog der Köter in der Gabeldeichsel schon an, als sich ein langer,
mit Schluchzen untermischter Klagelaut aus dem Kasten hören ließ.

Wüthend rief Thornpipe, wie schon früher einmal:

»Wirst Du schweigen, Hundejunge!

-- Das ist kein Hund, der da drin steckt, sagte der Geistliche, den
Karren zurückhaltend.

-- Und doch! versetzte Thornpipe.

-- Nein... das ist ein Kind!...

-- Ein Kind!... Ein Kind!« wiederholten die Zuschauer.

Jetzt ging in der Empfindung der Leute eine mächtige Veränderung vor
sich.

Nicht Neugier, sondern Theilnahme war es, die sich in ihrer drohenden
Haltung kundgab. Ein Kind war in diesem an der Seite offenen Kasten
verborgen, und wurde mit der Peitsche angetrieben, wenn es anhielt, weil
ihm die Kräfte erlahmten, sich in seinem Käfig zu bewegen.

»Das Kind!... Das Kind heraus!« klang es von allen Seiten.

Thornpipe sah sich einer Uebermacht gegenüber. Er wollte jedoch
Widerstand leisten und seinen Karren vorwärts schieben.... Vergeblich.
Der Schlächter packte ihn an der einen, der Droguist an der andern Seite
und so wurde das Gefährt tüchtig geschüttelt. Der königliche Hof dürfte
wohl niemals einen solchen Verlauf seiner Feierlichkeiten erlebt haben,
bei dem die Prinzen die Prinzessinnen stießen, die Herzöge die Marquis
umrannten, der Premierminister hinfiel und einen Sturz des ganzen
Cabinets damit herbeiführte... kurz, ein Durcheinander, wie es im
Schlosse Osborne gewiß nur vorkäme, wenn ein Erdbeben die ganze Insel
Wight erschütterte.

Thornpipe wurde bald überwältigt, wenn er sich auch wie ein Rasender
wehrte. Alle betheiligten sich dabei. Der Karren wurde untersucht,
der Droguist kroch zwischen die Räder und zog aus dem Kasten ein Kind
hervor....

Ja, ein Jüngelchen von etwa drei Jahren mit bleichem, leidendem Gesicht,
mühsamem Athem und mit Beinchen, die mit Striemen überdeckt waren.

Kein Mensch in Westport kannte den Kleinen.

So gestaltete sich das erste Erscheinen des »Findlings«, des Helden
dieser Erzählung. Wie er diesem Wütherich in die Hände gefallen und
wer sein Vater wäre, das war schwerlich zu ergründen. In Wahrheit
hatte Thornpipe das Kind vor neun Monaten in der Dorfstraße von Donegal
aufgelesen und zu dem nun erkannten Dienste verwendet.

Eine wackre Frau nahm das Bürschchen in die Arme und suchte es
aufzumuntern. Alle drängten sich um den Kleinen. Das arme Eichkätzchen,
das verurtheilt gewesen war, seinen Käfig unter dem Karrenkasten in
Drehung zu versetzen, hatte ein interessantes, ja intelligentes Gesicht;
aber auf diese Weise sich den Unterhalt verdienen zu müssen -- und in so
zartem Alter!

Endlich öffnete der kleine Knabe die Augen und warf sich rückwärts, als
er Thornpipe gewahrte, der herantrat und mit der Aufforderung: »Gebt mir
den Jungen zurück!« ihn wiederzuerlangen suchte.

»Seid Ihr sein Vater? fragte der Geistliche.

-- Ja..., antwortete Thornpipe hastig.

-- Nein... das ist mein Papa nicht! rief weinend das Kind, das sich der
Frau anschmiegte.

-- Er gehört Euch gar nicht an! wetterte der Droguist.

-- Ein gestohlener Bursche ist's! setzte der Schlächter hinzu.

-- Und wir geben ihn nicht zurück!« erklärte der Pfarrer.

Thornpipe wollte sich nicht ergeben. Mit geröthetem Gesicht und
zornsprühenden Augen verlor er ganz die Fassung und war schon daran,
»auf irländisch zu spaßen«, d. h. ein Messer zu ziehen, als sich zwei
kräftige Männer auf ihn stürzten und ihn entwaffneten.

»Jagt ihn davon!... Jagt ihn fort! heulten die Frauen.

-- Mach' Dich auf den Weg, Spitzbube! sagte der Droguist.

-- Und laßt Euch in der Grafschaft nicht wieder erblicken!« schloß der
Geistliche mit einer drohenden Bewegung.

Thornpipe trieb den Hund mit der Peitsche an und der Karren rollte die
Hauptstraße von Westport wieder hinauf.

»Der Schurke! -- so machte sich der Pharmazeut noch Luft -- ich gebe ihm
keine drei Monate, bis er das Menuet von Kilmainham getanzt hat!«

Dieses Menuet tanzen, bedeutet nach landläufiger Sprechweise, seine
letzte Gigue vor einem Galgen abtanzen.

Der Pfarrer fragte das Kind nach seinem Namen.

-- »Findling« heiß' ich,« lautete die sichere Antwort.

Und in der That: es hatte keinen andern Namen.




III.

=Ragged-School= (die Lumpenschule).


»Nummer 13, was hat der?...

-- Das Fieber.

-- Und Nummer 9?...

-- Den Keuchhusten.

-- Nummer 17?...

-- Auch den Keuchhusten.

-- Und Nummer 23?...

-- Ich glaube, der wird den Scharlach bekommen.«

Alle diese Antworten schrieb O'Bodkins in ein musterhaft geführtes
Register auf die offenen Conten der erwähnten Nummern ein. Hier war
je eine Columne für den Namen der Krankheit, für die Stunde des
Arztbesuches, für die verordneten Arzneien und für die Art der
Verabreichung derselben angelegt, wenn die Erkrankten ins Hospital
übergeführt waren. Da standen die Namen in gothischer Schrift, die
Nummern in arabischen Ziffern, die Medicamente in Rundschrift und die
Vorschriften in englischem Ductus -- alles eingefaßt mit zierlichen
Klammern in blauer Tinte und an gewissen Stellen schwarz doppelt
unterstrichen, ein Muster von Kalligraphie und Uebersichtlichkeit.

»Einige von diesen Kindern sind ernstlich erkrankt, bemerkte noch
der Arzt. Achten Sie darauf, daß sie sich bei der Ueberführung nicht
erkälten.

-- Gewiß, ich werde schon dafür Sorge tragen, antwortete O'Bodkins
gleichgiltig. Sind sie nicht mehr hier, so bin ich ihrer ledig. Wenn
dann nur meine Buchführung in Ordnung ist....

-- Na, und wenn sie ihrer Krankheit erliegen, unterbrach ihn der Doctor,
schon nach Hut und Stock fassend, ist der Verlust, mein' ich, auch nicht
so arg....

-- Gewiß nicht, stimmte O'Bodkins zu. Ich schreibe sie dann in die
Rubrik der Verstorbenen ein und ihr Conto wird abgeschlossen. Ist das
aber geschehen, so hat niemand mehr Ursache sich zu beklagen.«

Mit einem Händedrucke verabschiedete sich der Arzt des Hauses.

O'Bodkins war der Director der »=Ragged-School=« von Galway, einer
Kleinstadt an der Bai und in der Grafschaft gleichen Namens, im
Südwesten der Provinz Connaught. Nur hier dürfen die Katholiken
Grundeigenthum besitzen und hierher (und nach Munster) befleißigt sich
England, das nicht protestantische Irland zurückzudrängen.

Man kennt die Art Leute wie O'Bodkins ja zur Genüge; auch er verdient
kaum unter die liebevollen Vertreter der Menschheit gerechnet zu werden.
Er ist ein untersetzter Mann, einer jener Cölibatäre, die weder eine
Jugend gehabt haben, noch ein Alter haben werden, die sich immer gleich
bleiben und Haare haben, die weder ausfallen noch ergrauen, die mit
goldener Brille, welche man ihnen im Grabe am Besten läßt, schon auf die
Welt gekommen sind, die keine Nahrungs-, keine Familiensorgen kennen,
ausreichend haben, was sie bedürfen, und deren Herz von zarteren
Empfindungen niemals bewegt worden ist. Er gehört zu den, weder guten
noch schlechten Geschöpfen, die ihre irdische Laufbahn vollenden, ohne
je etwas Gutes oder Böses gethan zu haben, und die niemals unglücklich
sind... nicht einmal über das Unglück andrer.

O'Bodkins war also wie von Natur zum Director einer Lumpenschule
geschaffen.

Wir haben bereits gesehen, mit welch' erstaunlicher Sorgfalt, welch'
peinlicher Abwägung des Soll und Haben die Bücher des Mannes geführt
waren. Im Hause standen ihm übrigens die bejahrte Mutter Kriß, an deren
Munde stets die Tabakspfeife hing, und ein älterer Pensionär, namens
Grip, helfend zur Seite. Letzterer, ein armer Teufel mit gutmüthigen
Augen, einem gewissen Ausdruck von Fröhlichkeit in den Zügen und einer
für den Irländer charakteristischen, etwas aufgebogenen Nase, war
unendlich mehr werth als Dreiviertel der elenden Kreaturen, die in
dieser Art Schulhospiz Aufnahme gefunden hatten.

Diese Bewohner des Hauses waren Waisen oder verlassene Kinder, die ihre
Eltern meist gar nicht gekannt hatten. Am Bachesrand oder am Feldrain
geboren, auf Straßen oder Landwegen aufgelesen, kehrten sie nach
Erreichung des arbeitsfähigen Alters auch dahin zurück... ein
Ausschuß der menschlichen Gesellschaft. Doch was konnte aus zwischen
Pflastersteinen verstreutem Samenkorn für andre Frucht wohl erwachsen?

In der Schule von Galway befanden sich deren etwa dreißig im Alter von
drei bis zu zwölf Jahren, alle in Lumpen gehüllt und immer hungrig,
da sie sich nur von der öffentlichen Mildthätigkeit ernährten. Mehrere
davon waren immer krank, und diese Kinder schnellten die Sterblichkeit
des Ortes nicht unwesentlich in die Höhe -- freilich »kein arger
Verlust«, nach Aussage des Arztes.

Er hat ja damit nicht ganz Unrecht, wenn keine Erziehung im Stande ist,
jene zu verhindern, einst Uebelthäter zu werden. Und doch wohnt eine
Seele auch unter diesen zerfetzten Hüllen, und bei besserer Methode
gelänge es vielleicht, so manchen zum Guten zu lenken. Jedenfalls wäre
zur Erziehung und Heranbildung solcher Unglücklichen ein andrer Lehrer
nöthig, als jener Hampelmann O'Bodkins, ein Lehrer, wie man solche
selbst in den dürftigsten Gemeinden Irlands nicht gar so selten
antrifft.

Der »Findling« war einer der jüngsten in dieser =Ragged-School=. Er
zählte jetzt kaum vierundeinhalb Jahre. Armes Kind! Es hätte an seiner
Stirn die trostlose Aufschrift »Keine Hoffnung! Keine Aussichten!«
tragen sollen. Von Thornpipe zur lebendigen Kurbel erniedrigt, dann
durch das Mitleid einiger guten Seelen in Westport seinem Peiniger
entrissen und nun Zögling der Lumpenschule in Galway! Und wenn er diese
einst verließ, drohte es ihm dann nicht noch schlechter zu ergehen?

Gewiß war es lobenswerth von dem Pfarrer des Kirchspiels gewesen,
dieses unglückliche Wesen aus den Händen des Marionettenschaustellers
zu befreien. Nach vielen vergeblichen Mühen mußte man damals endlich
verzichten, seine Herkunft nachzuweisen. Der »Findling« entsann sich nur
darauf, bei einer garstigen Frau gelebt zu haben, gleichzeitig mit einem
kleinen Mädchen, das ihm recht zugethan, und noch einer andern, die
aber gestorben war. Einen Ort wußte er freilich nicht anzugeben. Ebenso
konnte niemand sagen, ob er ein nur verlassnes oder ein gestohlnes Kind
war.

Seit seiner Befreiung in Westport hatte bald dieses bald jenes Haus für
ihn nach Kräften gesorgt. Die Frauen beklagten sein Schicksal. Der
Name »Findling« war ihm geblieben. Einzelne Familien pflegten ihn acht,
andere vierzehn Tage lang. So vergingen drei Monate. Das Kirchspiel war
aber selbst recht arm und schon lebten viele Bedürftige auf öffentliche
Kosten. Wäre ein Waisenhaus vorhanden gewesen, so würde der Knabe darin
einen Platz bekommen haben. Ein solches gab es aber nicht, und so hatte
man ihn nach der Lumpenschule in Galway bringen müssen, und hier befand
er sich nun seit neun Monaten, mitten unter einer Rotte verwahrloster
Rangen. Was sollte aus ihm werden, wenn er diese Anstalt einmal verließ?
Er gehörte zu jenen Enterbten, für die von frühester Jugend an die
Beschaffung der täglichen Bedürfnisse eine Lebensfrage bildet, eine
Frage, die gar zu oft ohne Antwort bleibt.

Seit neun Monaten also befand sich der kleine Junge unter der Pflege und
Zucht der halb verwilderten alten Kriß, des in sein Schicksal ergebenen
Grip und des Directors O'Bodkins, dieser Maschine zur Ausgleichung von
Einnahmen und Ausgaben. Seine gute Constitution half ihm aber, viele
hier unvermeidliche Schädigungen zu überwinden. Er stand nicht mit in
des Directors großem Buche in der Rubrik der Masern, des Scharlachs und
andrer Kinderkrankheiten, sonst wäre sein Conto wohl schon beglichen
gewesen... in dem gemeinsamen Grabe, das Galway seinen öffentlichen
Armen gewährte.

Neben der körperlichen Gesundheit war in der Lumpenschule aber auch die
geistige und moralische Entwicklung arg gefährdet, und es gehörte eine
vortreffliche sittliche Veranlagung dazu, der Ansteckung durch tägliches
böses Beispiel nicht zu erliegen. Hier befand sich sogar ein Knabe,
dessen »Mutter ihre Zeit in Norfolk absaß«, auf ferner Insel inmitten
des australischen Meeres, und dessen wegen Raubmords verurteilter
Vater hinter den Mauern von Newgate unter den Händen des berühmten
(Scharfrichters) Berry geendet hatte.

Dieser Knabe hieß Carker. Schon in seinem zwölften Jahre schien er in
den verbrecherischen Spuren der Eltern weiter zu wandeln. Daß dieser
inmitten des verwahrlosen Gesindels der Lumpenschule eine gewisse Rolle
spielte, ist ja nicht zu verwundern. Er, ein Verdorbener, der andre
verdarb, genoß eines besondern Ansehens, er hatte seine Schmeichler und
Helfershelfer, war der geborne Anführer der Schlimmsten und bereits zu
jedem schlechten Streiche bereit, eine Vorübung zu den Verbrechen, die
er nach seinem Austritt aus der Schule gewiß beging.

Der »Findling« freilich empfand nur heftigen Widerwillen gegen Carker,
wenn er ihn -- den Sohn des Gehenkten! -- zuweilen auch mit großen Augen
voller Erstaunen betrachtete.

Im allgemeinen gleichen diese Armenschulen kaum den modernen
Unterrichtsanstalten, für die der Cubikmeter Luft nach hygienischen
Grundsätzen berechnet und der Raumbedarf nach der Kopfzahl bemessen ist.
Zum Lager gab es Stroh, da ist das Bett bald gemacht und bedarf kaum des
Aufschüttelns. Von einem Speisesaale war keine Rede, und der erschien
auch überflüssig, wo man nur Brodrinden nebst einigen Kartoffeln, und
auch das oft nur in unzureichender Menge, zu kauen hatte. Die Last
des Unterrichtens der Lumpenschüler lag auf den Schultern des Herrn
O'Bodkins. Er sollte ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen lehren, doch
ohne Gewähr des Gelingens, und wenn die Kinder zwei bis drei Jahre unter
seiner Zuchtruthe gestanden hatten, gab es unter ihnen kaum ein Dutzend,
die einen Maueranschlag zu entziffern vermocht hätten. Obgleich einer
der Jüngsten unterschied sich der kleine Junge jedoch sehr von seinen
Kameraden durch einen regen Lerntrieb, der ihm so manche Spöttelei
einbrachte. Es ist doch tief bedauerlich und social unverantwortlich,
wenn ein Menschenkind, das nach geistiger Ausbildung trachtet, diese
entbehren muß. Niemand vermag ja den zukünftigen Verlust durch die
Brachlegung eines jungen Gehirns abzuschätzen, das die Natur vielleicht
mit den besten -- jetzt nicht aufgehenden -- Keimen ausgestattet hatte.

Wenn die Zöglinge nun hier kaum mit dem Kopfe arbeiteten, lag das
nicht etwa daran, daß sie mit Handarbeit überbürdet gewesen wären. Die
tägliche Beschäftigung der Kinder bestand vielmehr nur darin, daß sie
etwas Brennmaterial für den Winter aufsammelten, sich bei mitleidigen
Seelen abgelegte Kleidungsstücke erbettelten und den Unrath von Pferden
und andern Thieren zusammenscharrten, um diesen an die Landleute für
wenige Coppers zu verkaufen -- eine Einnahmequelle, für die O'Bodkins
eine besondre Rechnung führte -- endlich durchwühlten sie, womöglich
vor den Hunden oder im Nothfalle nach Verjagung der Vierfüßler, die
Kehrichthaufen an den Straßenecken nach irgendwelchem verwendbaren oder
verwerthbaren Abfall. Spiele, Unterhaltungen gab es hier nicht, wenn man
es nicht als Vergnügen rechnen will, sich gegenseitig zu zerkratzen, zu
kneipen und zu beißen, abgesehen von den übeln Streichen, die Grip gar
häufig gespielt wurden. Der brave Bursche machte davon wenig Aufhebens;
doch das reizte Carker und die andern Schlingel nur noch mehr an, ihm
auf gemeinste und grausamste Weise mitzuspielen.

Das einzige einigermaßen saubere Zimmer der Lumpenschule war das des
Directors, das natürlich keiner betreten durfte, denn dann wären seine
Bücher unfehlbar zerrissen, seine Schreibereien überallhin verstreut
worden. Im Gegentheil gefiel es dem Manne, wenn seine Zöglinge sich
draußen umhertrieben und dumme Streiche trieben; ihm kamen sie, die der
Hunger und die Müdigkeit in die Lumpenschule heimtrieb, doch immer zu
zeitig zurück.

Bei seiner ernsteren Natur und seinen besseren Neigungen war der
Findling unablässig nicht nur dem rohen Spotte, sondern auch
den Gewaltthätigkeiten Carker's und eines halben Dutzend andrer
preisgegeben. Er vermied es aber, sich zu beklagen. Wenn er nur stark
genug gewesen wäre! Er hätte sich schon Respect verschafft, hätte
Schlag für Schlag, Fußtritt für Fußtritt zurückgegeben -- jetzt freilich
schwoll ihm das Herz nur vor Ingrimm, zur Selbstvertheidigung zu schwach
zu sein.

Gleichzeitig verließ er das Schulhaus am wenigsten, da er sich ja der
Ruhe erfreute, wenn die übrigen draußen herumlungerten. Er stand sich
dabei freilich schlecht, denn unterwegs hätte er ja etwas zum abnagen
finden oder ein altbackenes Brödchen für zwei bis drei als Almosen
erhaltene Coppers kaufen können. Ihm widerstrebte es aber, die Hand
auszustrecken und hinter den Wagen herzulaufen, um ein verlorenes
Geldstückchen aufzulesen, vorzüglich aber, Ladenauslagen und dergleichen
zu berauben, was die anderen oft genug leichten Herzens thaten. Nein, er
zog es vor, bei Grip zu bleiben.

»Nun, Du willst nicht fortgehen? fragte ihn dieser.

-- Nein, Grip.

-- Carker wird Dich schlagen, wenn Du heut' Abend nichts heimgebracht
hast.

-- Da will ich mich lieber schlagen lassen!«

Grip empfand für den kleinen Jungen eine warme, von diesem getheilte
Zuneigung. Selbst geistig ziemlich beanlagt und geübt im Lesen und
Schreiben, bemühte er sich, dem Kinde zu lehren, was er gelernt hatte.
Seit seinem Verweilen in Galway zeigte der Findling auch immer weitere
Fortschritte, wenigstens im Lesen, und versprach also, seinem Lehrer
Ehre zu machen.

Hier sei auch nicht vergessen, daß Grip einen großen Vorrath
unterhaltender Geschichten im Kopfe hatte, die er gern erzählte.

Mit seinem herzlichen Lachen in dieser düsteren Umgebung kam es dem
Findling vor, als verbreite der gute Grip einen Lichtstrahl in der
traurigen Finsterniß.

Was unsern Helden am meisten wurmte, war, daß die andern sich immer an
Grip rieben und ihm ihr Uebelwollen auf jede Weise fühlen ließen, was
dieser, wie erwähnt, mit philosophischer Ruhe duldete.

»Aber, Grip!... begann der Findling zuweilen.

-- Was willst Du?

-- Der Carker ist doch recht schlecht!

-- Gewiß, sehr ungezogen. -- Warum klopfst Du ihm nicht den Rücken?

-- Ich? Klopfen?...

-- Ja, und auch den andern?«

Grip zuckte mit den Schultern.

»Bist Du denn nicht stark, Grip?

-- Das weiß ich nicht.

-- Du hast aber doch lange Arme und Beine...«

Ja, groß war Grip wohl, doch auch hager, wie ein Blitzableiter.

»Nun also, Grip, warum prügelst Du sie nicht, die abscheulichen Kerle?

-- Weil sich's nicht der Mühe lohnt.

-- O, wenn ich Deine Arme und Beine hätte...

-- Dann wär's besser, Kleiner, sich ihrer zum Arbeiten zu bedienen.

-- Meinst Du?

-- Ganz gewiß.

-- Nun gut, laß uns zusammen arbeiten. Sprich!... Wir versuchen's.
Willst Du?«

Grip wollte das herzlich gern.

Zuweilen gingen beide aus. Grip nahm das Kind mit, wenn er etwas zu
besorgen hatte. Der Findling trug freilich die erbärmlichste Kleidung,
die ihm nicht einmal auf den Leib paßte; zerrissene Hosen,
eine zerfetzte Jacke, eine Mütze ohne Deckel und an den Füßen
Rindslederschuhe, deren Sohlen nur durch Bindfaden noch daran
festgehalten wurden. Mit Grip, der auch nur das abgetragenste Zeug
besaß, sah es allerdings kaum besser aus. Es waren gleiche Brüder mit
gleichen Kappen. Jetzt, in der schönen Jahreszeit, ging das ja noch an.
Gute Witterung ist in den nördlichen Grafschaften Irlands aber ebenso
selten, wie ein gutes Essen in der Hütte Paddys. Beim Regen aber, beim
Schnee erregten die beiden, halb entblößt und erfroren, die Füße vom
Schnee fast angeätzt, das Mitleid der ihnen begegnenden Leute, wenn
der Große den Kleinen an der Hand führte und beide Trab liefen, um sich
etwas zu erwärmen.

So trollten sie durch die Straßen von Galway, das fast einer spanischen
Stadt ähnelt, oft unbeachtet von einer gleichgiltigen Menge. Der
Findling hätte gar zu gern gewußt, was in den Häusern da drin
wäre. Durch die engen, meist mit Gittern verwahrten Fenster mit den
herabgelassenen Jalousien war freilich nichts zu entdecken. Für ihn
waren diese Häuser mit Silbermünzen angefüllte Geldschränke. Und die
Gasthäuser, wohin die Reisenden im Wagen angefahren kamen, wie gern
hätte er in deren schöne Zimmer einmal gesehen, vorzüglich in die des
Royal-Hôtel! Die Dienerschaft hätte aber sicherlich beide wie Hunde
fortgejagt oder, was noch schlimmer ist, wie Bettler, denn ein Hund
findet noch eher einmal eine liebkosende Hand.

Und wenn sie vor den, übrigens nur mangelhaft ausgestatteten Läden der
Flecken des oberen Irland stehen blieben, schienen diese den beiden
unschätzbare Reichthümer zu bergen. Da warfen sie brennende Blicke auf
die Auslage eines Kleiderladens, sie, die sich nur in Lappen wickeln
konnten, oder durch das Fenster eines Schuhwaarengeschäfts, sie, die
nur fast barfuß gingen. Der Genuß, einmal einen neuen Rock auf dem Leibe
oder eigens angemessene Stiefeln an den Füßen zu tragen, blieb ihnen
voraussichtlich ja für immer versagt, ebenso wie den vielen Elenden, die
da verurtheilt sind, sich mit dem, was andre wegwerfen und mit Abfällen
aus der Küche zu begnügen.

Auch Schlächterläden gab es da, mit ganzen Rindervierteln am Haken,
von denen eines ausgereicht hätte, die Lumpenschule einen vollen Monat
hindurch zu sättigen. Als Grip und der Findling das saftige Fleisch
betrachteten, da öffneten sie weit den Mund, fühlten aber, wie ihr Magen
sich dabei zusammenschnürte.

»Ei was, sagte Grip, bewege nur die Kinnladen, Kleiner, das ist fast
ebenso gut, als wenn Du geschmaust hättest!«

Und vor den großen Brodlaiben, die noch einen angenehmen, warmen Duft
ausströmten, vor den »Cakes« und andern feineren, den Gaumen reizenden
Backwaaren standen sie wohl auch zuweilen mit trockner Zunge und
zusammengepreßten Lippen, Hunger, den quälenden Hunger in den Zügen, und
dann murmelte der Findling wohl:

»Ach, das muß aber gut schmecken, Grip!

-- Gewiß, Kleiner, bestätigte dieser.

-- Hast Du schon so etwas gegessen?

-- Ja, einmal doch.

-- Ach!« seufzte der kleine Junge.

Er hatte ja nie dergleichen gekostet, weder bei Thornpipe, noch seit die
Lumpenschule ihm Obdach gewährte.

Eines Tages fragte ihn eine Frau, die für sein blasses Gesicht Mitleid
empfand, ob ihn wohl so ein Kuchen erfreuen würde.

»Da wünscht' ich mir lieber Brod, erwiderte er.

-- Warum denn das, mein Kind?

-- Weil man davon mehr bekommt.«

Eines Tages aber, als Grip für einige Besorgungen ein paar Pence
erhalten hatte, kaufte dieser einen kleinen, mindest acht Tage alten
Kuchen.

»Schmeckt er gut? fragte er den Knaben.

-- O, herrlich... so süß, als ob er gezuckert wäre!

-- Da ist auch Zucker drin, versicherte Grip, echter, richtiger Zucker!«

Bisweilen lustwandelten die beiden Freunde bis zur Vorstadt Salthill.
Von hier aus kann man die ganze Bai überblicken, die zu den schönsten
Irlands gehört. Da sieht man die drei Inseln Aran, die sich am Eingange
erheben wie die drei Felskegel von Vigo -- eine weitere Aehnlichkeit mit
Spanien -- und rückwärts die wilden Bergmassen des Burren und des Clare,
sowie die steilen Uferklippen von Moher. Dann gingen sie nach dem Hafen
zurück, nach den Quais und längs der Docks hin, deren Anlage begonnen
hatte, als einmal die Absicht aufgetaucht war, Galway zum Ausgangspunkte
einer transatlantischen Dampferlinie zwischen Europa und Nordamerika zu
machen, da von hier aus der Seeweg am kürzesten wäre.

Als beide da verschiedene Schiffe, theils in der Bai vor Anker liegend,
theils an der Hafenmauer vertäut, erblickten, fühlten sie sich mächtig
davon angezogen, als wenn das Meer gegen arme Leute minder grausam sein
könnte als die Erde, da es eine sichrere Existenz verspricht und das
Leben in der freien Luft der Oceane jedenfalls dem in den dunstigen,
verpesteten Gassen der Städte vorzuziehen ist. Vor allen andern Berufen
schien ihnen der des Seemannes ebenso dem Kinde die Gesundheit, wie dem
Manne den Lebensunterhalt zu gewährleisten.

»Das muß schön sein, Grip, auf diesen Schiffen mit ihren großen Segeln
zu fahren! rief der Findling aufjubelnd aus.

-- Wenn Du wüßtest, wie es mich danach verlangt! antwortete Grip, der
den Kopf zurückwarf.

-- Warum bist Du dann nicht Seemann geworden?...

-- Du hast Recht... ich hätte Matrose werden sollen.

-- Du wärst so weit... so weit gefahren....

-- Nun, vielleicht macht sich das noch.« -- Jetzt war es freilich nichts
damit.

Der Hafen von Galway wird durch die Mündung eines Flusses gebildet, der
aus dem Lough Corrib abströmt und sich in die Bai ergießt. Am andern
Ufer, jenseits einer Brücke, erhebt sich das bemerkenswerthe Dorf
Claddagh, das viertausend Einwohner zählt, lauter Fischer, die sich seit
langer Zeit einer selbstständigen Gemeindeverwaltung erfreuen, und deren
Ortsvorsteher in alten Urkunden als »König« aufgeführt ist. Grip und
das Kind kamen dann und wann bis nach Claddagh. Der Findling hätte Alles
darum gegeben, einer der rüstigen, muthwilligen, wettergebräunten Knaben
hier, der Sohn einer kräftigen Mutter zu sein, in deren Adern noch ein
Tropfen galicisches Blut rollte, wenn die Frauen gleich ihren
Männern auch ein etwas wildes Aussehen haben. Ja, er beneidete diesen
lebenslustigen Schwarm, der sich gewiß glücklicher fühlte, als die
Kinder in so manchen Städten Irlands. Wie gern hätte er sich zu den
Knaben gesellt, die da lachten, kreischten, im Wasser herumplätscherten,
wie gern hätte er zu ihnen gehört! Bei seiner zerfetzten Kleidung wagte
er's aber nicht, sich ihnen zu nähern, sie hätten ja glauben können, er
wolle betteln. So hielt er sich, eine schwere Thräne im Auge, beiseite
und schlürfte nur nach dem Marktplatze hin, um sich die schönfarbigen
Makrelen und die silbergrauen Häringe, die einzigen Meeresbewohner, auf
deren Fang die Fischer von Claddagh ausgehen, etwas anzusehen. Von
den Hummern und Taschenkrebsen, die es zwischen den Klippen der Bai
ebenfalls in großer Menge gab, konnte er nicht glauben, daß sie gut
schmeckten, obgleich ihm Grip, nach dem, was ihm zu Ohren gekommen
war, versicherte, »es wäre wie Schaumkuchen, was die Thiere unter ihrer
Schale hätten«. Vielleicht sollten sie das einmal selbst erproben.

Nach ihrem Spaziergange begaben sich beide durch die engen und
schmutzigen Straßen in der Richtung nach der Lumpenschule zurück. Dabei
gingen sie an Ruinen vorüber, die Galway das Aussehen verleihen, als sei
es zur Hälfte durch ein Erdbeben zerstört worden. Und doch haben Ruinen,
wenn die Zeit sie geschaffen hat, auch ihren Reiz. Hier freilich, wo
sie nur aus Häusern bestanden, die wegen Mangels an Baucapitalien
unvollendet blieben, deren kaum dem Erdboden entstiegene Mauern überall
Risse zeigten, kurz, hier, wo nur eine Folge der Vernachlässigung und
nicht ein Werk der Jahrhunderte vorlag, machte das Ganze eher einen
beklemmenden, traurigen Eindruck.

Noch schlimmer als die ärmeren Stadttheile, noch abstoßender als die
verwitterten Hütten der Vorstädte Galways, so freilich sah die elende,
dumpfige Wohnung, das unzureichende Obdach aus, wo das Elend die
Genossen des Findlings zusammenpferchte, und Grip und er beeilten sich
auch gar nicht, als die Stunde der Heimkehr geschlagen hatte.




IV.

Das Begräbniß einer Möwe.


Leicht dürfte man sich fragen, ob der Findling im Kreise dieser
moralisch tief stehenden Genossen nicht auch mit Rückschritte gemacht
habe. Man begreift wohl, daß ein Kind, dem alle Sorgfalt zu Theil wird,
das überall Liebe umgiebt, sich ganz dem Glücke des Lebens hingiebt,
daß es, ohne nach dem zu fragen, was gewesen ist oder sein wird, seine
Jugend genießt. Doch wenn die Vergangenheit nur eine Kette von Trübsal
und Leiden gewesen ist, da erscheint die Zukunft wohl in düstrer
Färbung, die sich vom Bilde der Vergangenheit auf sie überträgt.

Was konnte aber der Findling, wenn er ein oder zwei Jahre zurückblickte,
sehen? Jenen Thornpipe, den rohen, verthierten Menschen, den
mitleidslosen Quälgeist, den er noch immer einmal in den Straßen der
Stadt oder draußen auf dem Landwege wieder zu treffen fürchtete und der
sich dann seiner gewiß zu bemächtigen suchen würde; daneben kam ihm noch
die Erinnerung an jene grausame Frau, die ihn mißhandelte, freilich
auch das Bild des kleinen Mädchens, die ihn zuweilen auf den Knien
schaukelte.

»Ich glaube mich zu erinnern, daß sie Sissy[1] hieß, sagte er eines
Tages zu seinem Freunde.

-- Welch' hübscher Name!« antwortete Grip.

Grip war im Grunde der Meinung, daß jene Sissy nur in der Einbildung des
Kindes existierte, denn man hatte nie etwas näheres von ihm in Erfahrung
bringen können. Wenn er in dieser Hinsicht indessen einen Zweifel
durchblicken ließ, war der Findling nahe daran bös zu werden. Da er
sie in der Erinnerung noch deutlich vor sich sah, mußte er ihr ja einst
wieder begegnen. Doch was mochte aus ihr geworden sein? Trennten sie
viele Meilen von einander?... Sie liebte ihn ja und er auch sie....
Das war die erste Neigung, die er vor seinem Bekanntwerden mit Grip
empfunden hatte, und er sprach von ihr wie von einem großen Mädchen. Sie
war so sanft und gut und liebkoste ihn und trocknete seine Thränen, ja
sie küßte ihn und theilte mit ihm ihre Erdäpfel....

»Ich hätte sie so gern schützen mögen, wenn die alte häßliche Frau sie
schlug, sagte der kleine Knabe.

-- Ich auch, und ich glaube, ich würde da derb zugepackt haben!«
antwortete Grip, um dem Kinde ein Vergnügen zu machen.

Wenn der wackre Bursche sich übrigens nicht selbst vertheidigte, wenn
man ihm zu nahe kam, so wußte er doch recht gut, andre zu vertheidigen
und hatte davon schon manchen Beweis geliefert, sobald es darauf ankam,
seinen Schützling vor den böswilligen Angriffen der Rotte zu decken.

Einmal schon, in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in
der Lumpenschule, war der Findling, verlockt durch den Ton der
Kirchenglocke, eines Sonntags in die Kathedrale von Galway eingetreten.
Nur ein glücklicher Zufall hatte ihn dahin führen können, denn selbst
die Touristen haben Mühe, das Bauwerk zu entdecken, das in einem
Labyrinth von unsauberen, engen Straßen verloren ist.

Da stand nun das Kind verschämt und furchtsam. Der unerbittliche Küster
hätte den Knaben, wenn er diesen erblickte, wie er halb entblößt sich
in die Ecke drückte, gewiß nicht in der Kirche gelitten. Der Kleine war
ganz erstaunt und entzückt von dem, was er hörte, von den geistlichen
Liedern in Begleitung der Orgel, und von dem, was er sah, dem Priester
am Altar im goldgestickten Ornate, und den großen Kerzen, die am hellen
Tage brannten.

Der Findling hatte nicht vergessen, daß der Pfarrer von Westport
manchmal von Gott zu ihm gesprochen hatte, von Gott, der unser aller
Vater ist. Er erinnerte sich auch, daß sogar der Puppenschausteller
den Namen Gottes in den Mund nahm, freilich nur, wenn er schreckliche
Verwünschungen ausstieß, und das verwirrte jetzt seine Gedanken inmitten
der religiösen Handlung. Dennoch empfand er, unter der hohen Wölbung
hinter einem Pfeiler versteckt, eine Art Neugier, indem er den
Geistlichen betrachtete, wie er Soldaten angestaunt hätte. Und während
sich die ganze Versammlung beim Aufheben der Monstranz und den Tönen des
Glöckchens tief verneigte, da verschwand er wieder ohne bemerkt worden
zu sein und glitt über die Steinplatten so leise hinweg, wie eine Maus,
die in ihr Loch huscht.

Aus der Kirche nach Hause gekommen, erwähnte er davon gegen niemand
etwas, nicht einmal gegen Grip, der übrigens nur eine unklare
Vorstellung von der Bedeutung der Messe und der Vesper hatte. Nach
einem zweiten Besuche aber, als er sich gerade mit der alten Kriß allein
befand, wagte er die Frage, was denn Gott eigentlich sei.

»Gott?... antwortete die alte Frau, deren schreckliche Augen durch die
dicken, ihrer Pfeife entströmenden Wolken blitzten.

-- Ja, Gott?...

-- Das ist der Bruder des Teufels, dem er die unartigen, vormäuligen
Kinder zuschickt, um sie in dessen höllischem Feuer verbrennen zu
lassen.«

Auf diese Antwort erblaßte der Findling, und obwohl er gern gewußt
hätte, wo sich diese glühende Hölle befinde, wagte er es doch nicht, die
alte Frau Kriß danach zu fragen.

Fortwährend aber dachte er an diesen Gott, der nur die Aufgabe zu haben
schien, kleine Kinder zu bestrafen, und wie schrecklich zu bestrafen,
wenn er die Worte der Kriß für Wahrheit halten konnte.

Die Sache drückte ihn dermaßen, daß er darüber eines Tages mit seinem
Freunde Grip reden wollte.

»Sage mir einmal, Grip, hast Du schon zuweilen von der Hölle reden
hören?

-- Ja, dann und wann, Kleiner.

-- Und wo ist denn die Hölle?

-- Das weiß ich freilich nicht.

-- Sage mir... wenn man dort die bösen Kinder verbrennt, wird da auch
Carker verbrannt werden?

-- Gewiß, im lichterlohen Feuer!

-- Ich, Grip, ich bin wohl nicht so schlecht, nicht wahr?

-- Du?... Schlecht?... Nein, das glaub' ich nicht.

-- Dann werd' ich also nicht verbrannt?...

-- Kein Härchen wird Dir versengt!

-- Und Dir auch nicht, Grip?

-- Nein, nein, mir auch nicht!«

Grip hielt es aber für angezeigt, hinzuzufügen, bei ihm lohne es gar
nicht der Mühe, da er so mager sei.

Das war also alles, was der kleine Junge bis jetzt von Gott wußte und
was er vom Katechismus gelernt hatte. Dennoch verrieth ihm trotz seiner
Jugend eine innere Stimme, was Recht und was Unrecht war. Wenn er auch
nicht nach den Vorschriften der alten Hausverwalterin der Lumpenschule
bestraft zu werden fürchtete, so drohte ihm das um so mehr von seiten
O'Bodkins'!

Dieser war nämlich gar nicht zufrieden mit ihm. Der Findling figurierte
noch nicht auf dem Conto der Einnahmen, wohl aber auf dem der Ausgaben.
Das Bürschchen verursachte nur Unkosten (wenn diese auch gering waren)
und erwarb nichts. Die andern, welche bettelten und gelegentlich wohl
Kleinigkeiten stahlen, trugen doch in etwas zu den Kosten der Wohnung
und der Nahrung bei, während dieses Kind gar nichts heimbrachte.

Eines Tages machte ihm O'Bodkins darüber die bittersten Vorwürfe, wobei
er ihn durch die Brille mit strengem Blicke maß.

Der kleine Knabe hatte Selbstbeherrschung genug, nicht zu weinen, als er
von O'Bodkins als verantwortlichem Leiter und Director der Schule diese
Predigt erhielt.

»Du willst wohl gar nichts thun? herrschte er ihn an.

-- Doch, Herr Director, erwiderte das Kind. Sagen Sie mir nur, was ich
thun soll.

-- Nun irgend etwas, was so viel einbringt, wie Du hier kostest.

-- Das möcht' ich gerne, ich weiß es aber nicht anzufangen.

-- Ei, da läuft man den Leuten auf der Straße nach, spricht sie an, ob
sie etwas zu besorgen haben....

-- Ich bin zu klein, niemand will mich dazu haben.

-- So durchwühlst Du die Abraumhaufen an den Ecksteinen, darin ist immer
noch etwas zu finden.

-- Ja, mich beißen aber die Hunde, und ich bin nicht stark genug, ich
kann sie nicht fortjagen.

-- Wirklich? Hast Du denn Hände?

-- Ja.

-- Und hast Du auch Beine?

-- Ja.

-- Nun also, so laufe den Wagen nach und bettle einige Coppers, da Du
nichts andres machen kannst.

-- Ich soll Coppers betteln!«

Der Findling fühlte einen Stich im Herzen, so empörte sich sein
natürlicher Stolz, und er erröthete bei dem Gedanken, die Hand
ausstrecken zu sollen.

»Das bin ich nicht im Stande, Herr O'Bodkins! sagte er.

-- Ach, das könntest Du nicht? --

-- Nein!

-- Doch könntest Du denn leben ohne zu essen?... Nein, nicht wahr?
Ich sage Dir aber, daß ich nächstens mit Dir doch eine solche Probe
anstellen werde, wenn Du nicht etwas ersinnst, Deinen Unterhalt zu
verdienen! Jetzt trolle Dich weg!«

Seinen Unterhalt verdienen, und das im Alter von vier Jahren und
wenigen Monaten! Freilich verdiente er ja schon etwas bei dem
Puppenschausteller, doch auf welche Weise! Der Kleine trollte sehr
bestürzt davon. Wer ihn dann in seinem Winkel gesehen hätte, wie er mit
gekreuzten Armen und hängendem Kopfe dasaß, der hätte Mitleid mit ihm
haben müssen. Das Leben war für das arme kleine Geschöpf eine recht
schwere Last!

Sind solche verlassene kleine Wesen nicht schon von allerfrühester
Zeit durch das Elend abgestumpft, so mag sich selten jemand vorstellen
können, was sie leiden, und jeder würde ihnen gewiß seine Theilnahme
nicht versagen.

Nach den Vorwürfen des Directors kamen dann noch die Schmähungen der
Schlingel aus der Schule.

Diese ärgerte es, daß der Junge ehrbarer war als sie. Alle strebten
danach, ihn zum Schlechten zu verleiten, und an schlimmen Rathschlägen
und... Hieben ließen sie es dazu nicht fehlen.

Carker vorzüglich zeichnete sich in dieser Hinsicht vor allen übrigen
aus.

»Du willst nicht betteln? fragte er eines Tages.

-- Nein, antwortete der Findling mit fester Stimme.

-- Nun, Du Dummkopf, man bettelt und bettelt auch nicht, man nimmt
einfach!

-- Nehmen?

-- Natürlich! Sieht man einen gutgekleideten Herrn mit einem aus der
Tasche hervorhängenden Taschentuche, so schleicht man an ihn heran,
zieht vorsichtig an dem Taschentuche, und da kommt das ganz allein
heraus.

-- Lass' mich in Ruhe, Carker!

-- Manchmal folgt auch noch ein Portemonnaie dem Taschentuche nach....

-- Das nennt man stehlen!

-- Und in den Portemonnaies der reichen Leute findet man keine Coppers,
sondern Schillinge, Kronen und auch Goldstücke; die steckt man hübsch
ein und theilt sie mit den Kameraden.

-- Ja, fiel ein andrer ein, und während man davon läuft, macht man den
Polizisten eine lange Nase.

-- Na, übrigens, fuhr Carker fort, wenn man nun auch eingeschlossen
würde, was hätte das zu bedeuten? Da, im Gefängniß ist es ebenso gut wie
hier, wenn nicht noch besser. Dort erhält man Brod, Suppe, Kartoffeln
und ißt sich ordentlich satt.

-- Ich mag aber nicht, ich mag nicht!« wiederholte der Kleine, der sich
der Taugenichtse zu erwehren suchte, die ihn wie einen Ball hin- und
herstießen.

Da erschien Grip im Saale und beeilte sich, ihn seinen Peinigern zu
entreißen.

»Daß Ihr mir den Kleinen ungeschoren laßt!« rief er, die Hände ballend.

Dieses Mal war Grip wirklich wüthend.

»Du weißt, sagte er zu Carker, ich schlage nicht oft zu, nicht wahr,
doch wenn's einmal geschieht, dann auch ordentlich!...«

Die Buben ließen ihr Opfer frei, warfen ihm aber wüthende Blicke,
offenbar mit dem Versprechen zu, daß sie wieder über den Kleinen
herfallen würden, wenn Grip nicht mehr da wäre, und nur die Gelegenheit
abwarteten, womöglich beiden etwas auszuwischen.

»Na, Du wirst ganz gewiß verbrannt, Carker! sagte der Findling mit etwas
Theilnahme in den Mienen.

-- Verbrannt?...

-- Ja, in der Hölle, wenn Du Dich nicht besserst!«

Diese Versicherung rief bei dem Taugenichtse freilich nur ein tolles
Gelächter hervor, während bei dem Kleinen die Ueberzeugung, daß Carker
geröstet werden würde, unerschütterlich feststand.

Das Dazwischentreten Grip's reizte die Rangen selbstverständlich noch
mehr, und trieb sie an, sich an Beschützer und Beschützten ordentlich zu
rächen.

In den Winkeln des Hauses beriethen die schlimmsten Insassen der
=Ragged-School= ihre hinterlistigen Pläne. Grip ließ sie jedoch nicht
aus den Augen und blieb, so viel er konnte, in der Nähe des bedrohten
Knaben. Für die Nacht nahm er ihn mit nach der Bodenkammer, die er unter
den Dachsparren bewohnte. War's hier auch kalt und recht dürftig, so
blieb der Findling doch gegen die gemeinen Knaben und die schlechte
Behandlung der übrigen Rotte geschützt.

Eines Tages lustwandelten Grip und er auf dem Strande von Salthill, wo
sie sich badeten und der ältere, der des Schwimmens kundig war, seinen
kleinen Begleiter darin unterrichtete. O, wie glücklich fühlte sich
dieser, in die klare Fluth tauchen zu können, auf der die schönen
Schiffe dahintrieben... weit, weit weg, bis die weißen Segel am
Horizonte verschwanden.

Beide belustigten sich in den langen Wellen, die gegen das Ufer
brandeten, wobei Grip das Kind an den Schultern hielt und ihm die zum
Schwimmen nöthigen Bewegungen lehrte.

Da ließ sich plötzlich von den Uferklippen her ein wahrhaft teuflisches
Geheul vernehmen und in der Nähe wurde der ganze Auswurf der
Lumpenschule sichtbar.

Es waren nur ein Dutzend, aber die schlimmsten und rohesten Burschen und
natürlich Carker an der Spitze.

Sie schrien so unbändig, weil sie eine flügellahme Möwe entdeckt hatten,
die zu entfliehen suchte, was ihr vielleicht noch gelungen wäre, wenn
sie Carker nicht mit einem Stein getroffen hätte.

Der Findling stieß einen Aufschrei hervor, als wäre er von dem Wurfe
getroffen worden.

»Die arme Möwe!... Das arme Thier!« rief er klagend.

In Grip's Herzen kochte der Zorn auf und er hätte Carker wahrscheinlich
eine Tracht Prügel verabreicht, die dieser nicht so leicht vergessen
hätte, als er sah, daß das Kind den Strand hinauf mitten unter die Bande
eilte und für den Vogel um Erbarmen bat.

»Carker, ich bitte Dich... wiederholte der Kleine... schlage lieber
mich, nicht aber die Möwe... nur die Möwe nicht!«

Ein Hagel von Spottreden war die Antwort darauf, als die andern ihn ganz
nackt mit den dünnen Beinchen und den vorspringenden Hüftknochen ans
Land laufen sahen, während er noch immer rief:

»Gnade... Gnade... für die arme Möwe!«

Keiner hörte auf sein Flehen, sondern alle lachten ihn aus und
verfolgten den Vogel weiter, der sich vergeblich von der Erde zu erheben
und dann, mühsam auf den Füßen forthüpfend, zwischen den Felsen Schutz
suchte.

Vergeblich.

»Ihr Feiglinge!... Ihr Thierquäler!« rief der Findling ihnen zu. Carker
hatte die Möwe an dem einen Flügel gepackt, schwenkte sie herum und
warf sie dann in die Luft. Sie fiel wieder zu Boden, wo sie ein andrer
ergriff und auf die Strandkiesel schleuderte.

»Grip... Grip!... rief der Findling wiederholt, nimm sie in Schutz,
Grip!«

Dieser stürzte sich zwar auf die Rangen, um ihnen den Vogel zu
entreißen, er kam jedoch zu spät. Carker hatte der Möwe schon mit dem
Absatz den Kopf zertreten.

Ein gellendes Lachen und ein jubelndes Hurrah belohnte diese Heldenthat.

Der kleine Knabe war außer sich. Der Zorn aber übermannte ihn, und in
blinder Wuth hob er einen Stein auf und traf damit Carker mitten auf die
Brust.

»Ha, das sollst Du mir theuer bezahlen!« brüllte Carker.

Und ehe Grip es verhindern konnte, stürzte er auf den Schwachen zu,
zerrte ihn nach dem Strande und schlug nach Kräften auf ihn los.

Während dann die übrigen Grip an Armen und Beinen zurückhielten, drückte
jener den Kopf des kleinen Knaben unter das Wasser, daß dieser beinahe
erstickt wäre.

Als es Grip endlich gelungen war, sich durch hageldicht ausgetheilte
Schläge von den Taugenichtsen, die meist heulend auf den Sand
hinkollerten, zu befreien, eilte er Carker nach, der natürlich mit der
ganzen Bande davonlief.

Zurückkehrend sah er, wie die Wellen den Findling schon fast mit
hinausgezogen hatten, wenn er den halb bewußtlosen Knaben nicht noch im
letzten Augenblick erfaßte und emporzog.

Nachdem er ihn tüchtig gerieben, kam der Kleine wieder zu sich. Schnell
hüllten sich beide in ihre erbärmliche Kleidung und Grip führte den
Kleinen an der Hand mit fort.

Am Ufer lag der muthwillig getödtete Vogel. Da höhlte der Kleine, dem
die Thränen in die Augen traten, ein Loch am Uferrande aus und vergrub
das arme Thier... er, der selbst ja weiter nichts war, als ein
verlassener Vogel... eine arme menschliche Möwe.




V.

Noch einmal die =Ragged-School=.


Nach Hause gekommen, glaubte Grip den Herrn O'Bodkins auf das Betragen
Carkers und der übrigen aufmerksam machen zu sollen. Nicht, daß er sich
über ihm selbst gespielte Streiche -- worüber er ja gutmüthig hinwegsah
-- Klage führen wolle, nein, nur die üble Behandlung, die dem kleinen
Knaben zu Theil geworden war, lag ihm am Herzen. Und diesmal war das
sogar so weit gegangen, daß das Kind ohne die Hilfe Grip's jetzt todt
gewesen wäre.

Als einzige Antwort zuckte O'Bodkins nur mit den Achseln. Grip mußte
das verstehen: es handelte sich um Dinge, für die der Director nicht
verantwortlich war und die ihm also nichts angingen. Das Hauptbuch
konnte doch unmöglich noch eine Rubrik für Ohrfeigen und eine andre
für Fußtritte erhalten. So etwas ließ sich ja ebensowenig nach
arithmetischen Regeln zusammenstellen wie drei Kieselsteine und fünf
Disteln. Ohne Zweifel war O'Bodkins als Leiter der Anstalt verpflichtet,
das Betragen der Zöglinge zu überwachen, die Verantwortung dafür liebte
er aber auf den Aufseher der Schule -- als solcher galt eben Grip --
abzuwälzen.

Von diesem Tage ab ließ nun Grip seinen Schützling niemals aus dem Auge,
vorzüglich nicht allein in dem großen Saale, und wenn er ausging, schloß
er den Kleinen sorgsam in seine Dachkammer ein, wo dieser sich dann
wenigstens in Sicherheit befand.

So verflossen die letzten Sommertage; der September kam heran. Für die
nördlichen Bezirke des Landes bedeutet das schon den Beginn des Winters,
und der Winter besteht für das obere Irland in fast ununterbrochenem
Schneegestöber, scharfen Winden und Nebeln, die von den übereisten
Ebenen des nördlichen Amerika stammen und von den Meereswinden nach
Europa getrieben werden.

Es herrscht unfreundliches, rauhes Wetter an den Ufern der Bai von
Galway, die zwischen den umgebenden Bergen wie zwischen den Wänden eines
Gletschers liegt. Da giebt es kurze Tage und lange Nächte, peinlich
genug für alle, in deren Kamin kein wärmendes Feuer flackert. In der
Lumpenschule herrschte natürlich auch eine recht niedrige Temperatur,
außer vielleicht im Zimmer des Directors O'Bodkins. Doch wenn der
verantwortliche Leiter der Anstalt nicht warm gesessen hätte, wäre ihm
ja die Tinte im Schreibzeug eingefroren, und das ging doch nicht wohl
an.

Jetzt galt es vor allem, auf Straßen und Landwegen zusammenzuraffen, was
irgend brennbar war und einige Wärme liefern könnte. Freilich ergab das
nicht viel, wenn man wie hier auf herabgefallene dürre Zweige, auf durch
den Rost gefallene Kohlenstückchen, die in den Haufen vor den Häusern
lagen, angewiesen war, und etwa auf die längs der Quais verstreut
liegend verlornen Kohlenstücke, um die sich die armen Leute fast
schlugen.

Die Zöglinge der Lumpenschule mußten sich also dieser Arbeit unterziehen
und auch der Findling nahm daran ohne Widerspruch theil, das war doch
wenigstens kein Betteln. Dann brannte denn auch ein Feuer im Ofen, so
gut es eben zu unterhalten war.

Die ganze, in der zerrissenen Kleidung frierende Schule drängte sich
um den Ofen, wobei die Größten natürlich die besten Plätze eroberten,
während das Abendbrod im Kessel bereitet wurde. Und welches Abendbrod!
Weggeworfene Kartoffeln, Brodrestchen, Knochen, an denen zuweilen noch
ein Bissen zähes Fleisch hing.... Das ganze eine jämmerliche Suppe,
worauf einige Fettklümpchen die Augen guter Bouillon vertraten.

Nahe dem Feuer gab es für den kleinen Jungen selbstverständlich
niemals einen Platz und selten einen Löffel von der Suppe, die die alte
Hausverwalterin für die Größeren aufhob. Diese stürzten gleich hungrigen
Hunden darüber her und wiesen den andern die Zähne, um ihre magere
Mahlzeit zu vertheidigen.

Den Kleinen pflegte Grip in sein Loch mitzunehmen, wo er ihm das Beste
von dem zuschob, was er von den täglichen Rationen empfing. Da gab es
freilich kein wärmendes Feuer. Doch wenn sich beide unter das Stroh
versteckten und sich aneinander drängten, dann gelang es ihnen
wohl, sich einigermaßen vor der Kälte zu schützen und einzuschlafen.
Vielleicht wärmte sie wenigstens der wohlthätige Schlaf!

Eines Tages begünstigte Grip das Glück in ganz besondrer Weise. Er war
unterwegs und ging eben auf der Hauptstraße von Galway hin, als ein in
das Royal-Hôtel zurückkehrender Reisender ihn beauftragte, noch einen
Brief nach der Post zu besorgen. Grip beeilte sich, diesem Wunsche
nachzukommen und erhielt einen ganzen Schilling zur Belohnung. Das
war nun freilich immer noch kein großes Capital, um dessen Anlegung in
Staatspapieren er sich etwa den Kopf zu zerbrechen brauchte, dagegen war
er sofort entschlossen, für das Geld etwas Eßbares einzukaufen, was zum
größeren Theil dem Findling, zum kleineren ihm selbst zu Gute kommen
sollte. So erhandelte er denn einige Fleisch- und Wurstwaaren, die
für drei Tage ausreichten und die von Carker und den andern unbemerkt
verzehrt wurden, denn Grip hatte begreiflicher Weise keine Ursache, mit
den andern Zöglingen zu theilen, die auch niemals mit ihm theilten.

Besonders wichtig wurde das Zusammentreffen Grip's mit dem Fremden noch
dadurch, daß dieser angesichts der erbärmlichen Kleidung des Burschen
ihm noch eine recht gut erhaltene wollene Weste schenkte.

Grip dachte natürlich gar nicht daran, diese selbst in Gebrauch zu
nehmen; nur sein kleiner Schützling lag ihm am Herzen, und dieser sollte
sich in der warmen Hülle unter seinen Lumpen gewiß recht wohl fühlen.

»Da steckt er darin wie ein Lamm in der Wolle!« sagte der brave junge
Mann für sich.

Das Lamm wollte aber nicht zugeben, daß sich Grip seines Vließes
beraubte. Es wurde hin und her verhandelt, und endlich kam man zu einer
befriedigenden Entscheidung.

Der Herr, von dem die Weste herrührte, war ziemlich stark und Grip hätte
in jene zweimal hinein gesteckt werden können. Er war auch groß, so daß
die Weste den kleinen Knaben vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt hätte.
So erschien es also nicht unmöglich, das Kleidungsstück für beide
Freunde zurecht zu machen. Die alte trunksüchtige Frau Kriß zum
Zertrennen und wieder Zusammennähen desselben aufzufordern, wäre
freilich ebenso viel gewesen, wie sie zum Verzicht auf ihre Pfeife zu
bestimmen. So machte sich denn Grip in seiner Bodenkammer selbst an die
Arbeit. Er nahm dem Kinde Maß und erwies sich so geschickt, daß er eine
ganz brauchbare wollene Jacke zu Stande brachte. Er selbst erhielt dann
noch eine Weste, freilich ohne Aermel, aber doch eine Weste, und das war
auch etwas.

Natürlich bestimmte er den Findling, die Jacke unter seinen Lumpen
zu tragen, damit die andern sie nicht sehen sollten. Statt sie ihm
zu lassen, hätten diese sie ganz gewiß einfach zerrissen. Der Kleine
befolgte den klugen Rath und befand sich denn auch bei strenger
Winterkälte ganz erträglich in der weichen warmen Hülle.

Nach ungemein regenreichem October brachte der November recht kalten
Wind, der alle Feuchtigkeit der Atmosphäre zu Schnee verwandelte. In den
Straßen von Galway lag die weiße Decke zwei Fuß hoch. Das wirkte recht
hemmend beim Einsammeln von Brennmaterial ein. In der =Ragged-School=
froren alle gehörig, und wie es dem Ofen an Heizmaterial fehlte, so
fehlte es dem Magen, der ja auch ein Ofen ist, daran oft nicht minder.

Dennoch mußten die Zöglinge, trotz der Schneestürme, dem eisigen Winde,
auf Straßen und Wegen sich bemühen, den Bedarf der Schule zu decken.
Auf dem Erdboden war nichts mehr zu finden, so blieb denn nichts anders
übrig, als von Thür zu Thür zu gehen. Das Kirchspiel that ja für seine
Armen, was es konnte; doch ohne von der Lumpenschule zu reden, machten
noch recht viele Wohlthätigkeitsanstalten in harten Zeiten Anspruch auf
die Mildthätigkeit der Einwohner.

Die Kinder sahen sich also gezwungen, von einem Hause zum andern betteln
zu gehen, und wo nicht alles Mitgefühl erstorben war, da wurden sie auch
nicht unfreundlich empfangen. Meist freilich wies man sie barsch genug
ab und bedrohte sie wohl auch noch für den Fall, wenn sie wiederkämen,
so daß sie nicht selten mit leeren Händen zurückkehrten.

Wohl oder übel mußte der Findling dem Beispiele der andern folgen, und
doch, wenn er vor einer Thür stehen blieb und den Klopfer in die Höhe
gehoben hatte, schien es ihm, als fiele dieser mit schwerem Schlage auf
seine eigene Brust nieder. Statt dann die Hand auszustrecken, fragte er
an, ob er nicht irgend etwas besorgen könnte. Das ersparte ihm doch die
Beschämung zu betteln. Wer wollte aber einem fünfjährigen Knaben einen
Auftrag anvertrauen?... So warf man ihm zuweilen lieber ein Stück Brod
zu, das er weinend in Empfang nahm. Ja, Hunger thut weh!

Im December wurde die Kälte noch schlimmer. Immer und immer fiel der
Schnee in großen Flocken. Kaum konnte man in den Straßen den Weg noch
erkennen. Um drei Uhr nachmittags wurde das Gas schon angezündet, doch
das gelbliche Licht der Brenner vermochte den dicken Nebel kaum zu
durchdringen, so als wenn es alle Leuchtkraft verloren hätte. Wagen und
Karren waren jetzt gar nicht mehr unterwegs, nur vereinzelt huschten die
Menschen nach ihren Wohnungen. Und mit frostgerötheten Augen, Hände
und Gesicht blau von dem schneidenden Winde, irrte der Findling umher,
während er sich dicht in seine beschneiten Lumpen hüllte.

Endlich ging der traurige Winter zu Ende. Die ersten Monate des Jahres
1877 waren minder hart. Auch der Sommer trat zeitig ein und im Juni
herrschte schon eine recht starke Wärme.

Am 17. August hatte der jetzt fünfeinhalb Jahre zählende Findling das
Glück, etwas zu finden, was für ihn unerwartete Folgen haben sollte.

Gegen sieben Uhr ging er durch eine auf die Brücke von Claddagh mündende
Straße auf dem Rückwege nach der Anstalt, wo ihm, da er mit leeren
Händen kam, gewiß nicht der beste Empfang zutheil wurde. Hatte Grip
nicht noch ein Stück alte Brodrinde übrig, so war für beide heut Abend
nichts zu essen da. Das war übrigens nicht zum ersten Male der Fall,
denn jeden Tag und zwar zur bestimmten Stunde essen zu wollen, das wäre
eine Anmaßung gewesen. Solche Gewohnheiten mochten reiche Leute haben,
denen ihre Mittel das erlaubten, ein armer Teufel ißt aber, wenn er
etwas dazu hat, und wenn's daran mangelt, dann ißt er einfach nicht, so
sagte wenigstens Grip, der schon gewöhnt war, sich mit philosophischen
Grundsätzen satt zu machen.

Da, kaum zweihundert Schritte von der Schule entfernt, stolperte der
kleine Junge und fiel der Länge nach hin. Da er nicht groß war, ging das
ohne Schaden für ihn ab. Gleichzeitig rollte aber etwas, woran er mit
den Füßen gestoßen hatte, vor ihm her. Es war eine große Weinflasche,
die zum Glück nicht entzwei gegangen war, denn der Knabe hätte sich
sonst schwer verletzen können.

Der Findling erhob sich und umhersuchend, fand er die Flasche, die zwei
bis drei Gallonen fassen mochte. Ein Pfropfen verschloß deren Hals und
diesen brauchte er nur herauszuziehen, um zu sehen, was sie enthielt.

Der Knabe erkannte, daß sie voller Gin war.

Damit hätten sich alle Insassen der Lumpenschule befriedigen können, und
der Findling durfte gewiß sein, mit dieser Bürde bestens empfangen zu
werden.

In der menschenleeren Straße hatte ihn niemand gesehen und die Anstalt
lag ganz nahe.

Da kam ihm aber ein Gedanke, der Carker und dessen Genossen gewiß nie
eingefallen wäre. Diese Flasche gehörte ihm doch nicht. Sie war kein
Geschenk, war nicht auf den Kehricht geworfen, sondern offenbar ein
verlorner Werthgegenstand. Den Eigenthümer zu finden, mochte freilich
etwas schwierig sein. Immerhin sagte ihm sein Gewissen, daß er über
den Fundgegenstand nicht nach Gutdünken verfügen dürfe. Es war der
natürliche Instinct, der ihm das sagte, denn weder Thornpipe noch
O'Bodkins hatte ihm je gelehrt, ehrlich zu sein. Zum Glück giebt es auch
Kinderherzen, in die dieses Gebot schon allein eingeschrieben ist.

Sehr in Verlegenheit wegen seines Fundes, beschloß der Findling Grip
darum zu fragen; dieser würde die Wiedereinhändigung desselben an den
rechtmäßigen Eigenthümer schon veranlassen. Jetzt kam es vorzüglich
darauf an, die Flasche vor den Taugenichtsen unbemerkt nach der
Dachkammer zu schaffen, denn jene hätten sich gewiß nicht darum
gekümmert, wem sie gehörte. Zwei bis drei Gallonen Gin! Welcher
Ueberfluß!... Mit Anbruch der Nacht wäre aber doch kein Tropfen davon
mehr dagewesen. Bei Grip dagegen stand der Branntwein sicher; dieser
rührte die Flasche gewiß nicht an, sondern hätte sie unter das Stroh
versteckt, bis er am folgenden Morgen in der Nachbarschaft Umfrage
hielt. Wenn nöthig, wollten beide dazu von Haus zu Haus gehen... sie
bettelten ja nicht.

Der Findling schritt also mit seiner Last der Schule zu, und bemühte
sich, die Flasche unter seiner Kleidung zu verbergen.

Eben als er vor die Thür kam, stürmte aber zum Unglück Carker daraus
hervor, so daß er einen Zusammenstoß mit diesem nicht vermeiden konnte.
Da Carker ihn erkannte und allein vor sich sah, hielt er es für die
beste Gelegenheit, dem Knaben zurückzuzahlen, was er ihm von dem
Zusammentreffen an dem Strande von Salthill her schon zugedacht hatte.

Er warf sich also über den Findling und entriß diesem die Flasche, die
er bald unter dessen Lumpen gefühlt hatte.

»Eh, was ist denn das? rief er.

-- Das?... Das gehört nicht Dir!

-- Also wohl Dir?

-- Nein, mir auch nicht!«

Der Knirps wollte Carker zurückdrängen, dieser versetzte ihm aber einen
Stoß, daß er selbst drei Schritte weit zurücktaumelte.

Sofort ergriff Carker die Flasche und eilte damit nach dem Saal zurück,
während der kleine Knabe ihm weinend folgte.

Er versuchte noch Einspruch zu erheben, da aber Grip nicht da war der
ihn unterstützt hätte, so erhielt er nur tüchtige Prügel, bis die alte
Kriß sich einmengte sobald sie die Flasche bemerkt hatte.

»Gin, rief sie, guter Gin! O, das ist ja für alle genug!«

Der Findling hätte gewiß besser gethan, die Flasche in der Straße liegen
zu lassen, wo sie deren Eigenthümer jetzt wahrscheinlich suchte, denn
zwei bis drei Gallonen Gin kosten schon verschiedene Schillinge, ja
sogar mehr als eine halbe Krone. Er hätte sich sagen müssen, daß es
unmöglich sein würde, ungesehen bis zur Dachkammer Grip's zu gelangen.
Jetzt war es freilich zu spät.

Sich an O'Bodkins zu wenden, diesem den Vorfall zu erzählen, würde
auch nichts genutzt haben, und dem wäre ein schlechter Empfang zu Theil
geworden, der die Thür zu des Directors Zimmer öffnete und den Insassen
vielleicht bei seinen verwickeltsten Rechnungen störte. Im besten Falle
hätte O'Bodkins die Flasche nach seinem Zimmer bringen lassen, und was
da hinein kam, kam gewiß nicht wieder heraus.

Der kleine Knabe konnte also nichts thun und beeilte sich nur, Grip
aufzusuchen, um diesem seine Noth zu klagen.

»Grip, eine Flasche, die man findet, gehört einem doch nicht?

-- Nein, ich glaube nicht, antwortete Grip. Hast Du denn eine Flasche
gefunden?

-- Ja, und ich wollte sie Dir geben, und morgen hätten wir in der
Nachbarschaft zu erfahren gesucht...

-- Wem sie gehörte?... fiel Grip ein.

-- Ja, und wenn wir uns erkundigten...

-- Sie haben Dir wohl die Flasche weggenommen? unterbrach ihn Grip.

-- Ja; Carker! Ich versuchte, sie ihm zu entwinden... und da waren die
andern da... Ach, wenn Du hinunter gingst, Grip!

-- Ich werde hinuntergehen, und da werden wir schon sehen, wer die
Flasche behält!«

Als Grip aber die Kammer verlassen wollte, konnte er das nicht; die Thür
war von außen verschlossen.

Trotz seiner Bemühungen gab die Thür nicht nach, zur großen Freude der
rohen Gesellen draußen, die von unten her riefen:

»He, Grip!...

-- He, Findling!...

-- Auf Eure Gesundheit!«

Da Grip die Thür nicht zu sprengen vermochte, fügte er sich wie
gewöhnlich der Notwendigkeit und bemühte sich nur, seinen erzürnten
kleinen Freund zu beruhigen.

»Lassen wir sie tollen, die ungezogenen Burschen! sagte er.

-- Oh, daß man nicht stark ist!

-- Wozu das?... Hier, Kleiner, hier sind noch Kartoffeln, die ich für
Dich aufgehoben habe. Komm her, iß lieber...

-- Ich habe keinen Hunger, Grip!

-- Iß trotzdem, nachher wickeln wir uns ins Stroh, um zu schlafen.«

Wenn Carker die Thür der Dachkammer versperrt hatte, so geschah das, um
heute Abend jedenfalls nicht gestört zu werden. War Grip eingeriegelt,
so konnte man beliebig sich dem Genusse des starken Getränkes hingeben,
denn die alte Kriß, die ja auch ihren Theil davon erhielt, hatte gewiß
nichts dagegen einzuwenden.

Nun kreiste der Branntwein in allerlei Gefäßen. Alle heulten und
schrien, denn es dauerte nicht lange, bis alle berauscht waren, mit
Ausnahme Carker's, der an starke Getränke schon gewöhnt war.

Noch war die Flasche kaum halb leer, obwohl die Kriß tüchtig dazu
mitgeholfen hatte, als die ganze Bande kaum noch ihrer Sinne mächtig
war. Das Geschrei, das Lärmen und Toben vermochte aber doch nicht,
O'Bodkins aus seiner gewohnten Gleichgiltigkeit aufzurütteln. Was ging's
auch ihn an, was da unten vorging, wenn er oben vor seinen Büchern saß!
Davon hätte die Trompete des Jüngsten Gerichtes ihn nicht fortlocken
können.

Und doch sollte er heute sehr schnell aus seinem Zimmer getrieben werden
-- nicht ohne großen Nachtheil für seine Verantwortlichkeit.

Nachdem etwa einundeinhalb Gallonen verzehrt waren, lagen die meisten
Theilnehmer an der Orgie schon auf dem Stroh, und hier wären sie ohne
Zweifel bald eingeschlafen, wenn Carker nicht auf den Gedanken gekommen
wäre, noch einen »Brander« zu brauen.

Ein »Brander« ist nämlich ein Punsch. Statt des Rums gießt man Gin zu
ein wenig Wasser in einem Gefäß, zündet das Gemisch an und trinkt es
noch ganz heiß.

Das hatte denn auch Carker vor, zur großen Genugthuung der alten Kriß
und zwei oder drei andrer, die sich noch auf den Füßen hielten. Wohl
fehlten hier so manche Zusätze zu einem wirklichen Punsch. Die Insassen
der Lumpenschule machten aber nicht so große Ansprüche.

Sobald die Flamme in dem Suppenkessel -- dem einzigen Gefäße, was die
alte Kriß zur Verfügung hatte -- aufloderte, begannen die, die noch
nicht ganz zusammengebrochen waren, einen wilden Tanz um den Kessel.
Wer jetzt auf der Straße vorübergekommen wäre, der hätte glauben
müssen, eine Legion von Teufeln sei in die Schule eingedrungen. Dieses
Stadtviertel war jedoch mit Eintritt der Dunkelheit meist schon sehr
verlassen.

Plötzlich leuchtete in dem Hause ein auffallend heller Schein auf. Das
Gefäß, aus dem der brennende Gin emporflackerte, war durch Ungeschick
umgestoßen worden, und schnell verbreitete sich die lodernde Flüssigkeit
auf dem Stroh bis in alle Ecken des gemeinsamen Saales. Alle, die noch
einigermaßen bei Sinnen waren, und alle, die durch das Knistern der
Flammen aus dem Stroh aufgescheucht wurden, hatten nichts weiter zu
thun, als die Thür aufzustoßen, die alte Kriß mit hinauszuschleppen und
sich nach der Straße zu retten.

In demselben Augenblick suchten auch Grip und der Findling, die
ebenfalls erwacht waren, vergebens aus der von erstickendem Qualm
erfüllten Dachkammer zu entfliehen.

Der Brand war übrigens schon bemerkt worden. Mit Eimern und Leitern
stürmten verschiedene Leute heran. Zum Glück lag die Lumpenschule
isoliert, und der nach der Rückseite wehende Wind bedrohte auch die
Häuser gegenüber nicht weiter.

War auch kaum Hoffnung vorhanden, die alte Baracke zu erhalten, so mußte
man doch an die denken, die darin waren und denen die Flammen vielleicht
den Ausgang versperrten.

Da öffnete sich ein Fenster im obern Stockwerk nach der Straße hinaus.

Es war ein Fenster von dem Zimmer O'Bodkins' dem sich das Feuer mehr
und mehr näherte. Der Director schien ganz von Sinnen zu sein und raufte
sich die Haare.

An seine Zöglinge und ob diese in Sicherheit wären, daran dachte er
freilich nicht, ja nicht einmal an die ihn selbst bedrohende Gefahr...

»Meine Bücher... meine Bücher!« rief er verzweifelnd mit den Händen
fechtend.

Nach vergeblichem Versuche, die Treppe hinabzugelangen, an der schon
überall die Flammen leckten, entschloß er sich, seine Hefte, Bücher,
Bureaugeräthschaften und alles mögliche zum Fenster hinauszuwerfen.
Natürlich fielen die Schlingel gleich darüber her, traten darauf herum
oder zerstreuten die losen Blätter, während O'Bodkins sich endlich
entschloß, mittelst einer an die Mauer gelehnten Leiter sich selbst zu
retten.

Was dem Director aber noch möglich gewesen war, das hatten Grip und das
Kind nicht auch thun können. In die Dachkammer fiel das Tageslicht nur
durch eine kleine Luke, und die hinaufführende Treppe brach schon Stufe
für Stufe unter der Glut zusammen. Jetzt begann auch das Holzwerk der
Mauer zu brennen und ein Feuerregen fiel bald auf das Strohdach des
Bauwerks nieder, der die Lumpenschule schnell in einen großen Brandherd
verwandelte.

Grips Hilferufe übertönten doch endlich einmal das Geräusch von der
Feuersbrunst.

»Sind denn noch Menschen in dieser Spelunke?« fragte da eine Dame in
Reisetracht, die ebenfalls nach der Unglücksstätte gekommen war.

Der Brand hatte schon so weit um sich gegriffen, daß man seiner nicht
mehr Herr zu werden vermochte. Nachdem der Director sich gerettet hatte,
dachte deshalb kaum jemand noch an Unterdrückung des Feuers selbst, da
sich voraussichtlich niemand im Hause befand.

»Hilfe... Hilfe für die, die noch da oben sind! rief von neuem die
Reisende mit ausdrucksvollen Bewegungen. Leitern herbei, Ihr Leute,
Leitern und ein paar beherzte Männer, die sich hinaufwagen!«

Wie konnte man aber Leitern an diese Mauern legen, die jeden Augenblick
einzustürzen drohten? Wie hätte jemand die von dickem Rauch eingehüllte
Dachkammer erreichen können, über der und um die herum die gierigen
Flammen emporstiegen?

»Wer befindet sich denn in jenem Bodenraum? fragten mehrere O'Bodkins,
der nur damit beschäftigt war, seine Schriftsachen zusammenzuraffen.

-- Wer?... Das weiß ich doch nicht...« antwortete der ganz verstörte
Director, den nur sein eigenes Unglück in Anspruch nahm.

Dann kam ihm aber doch die Erinnerung wieder.

»Ah,... ja,... zwei... Grip und der kleine Junge....

-- Die Unglücklichen! rief die Dame. Mein Gold, meinen Schmuck, alles
was ich besitze, dem, der sie rettet!«

In das Innere des Hauses zu gelangen, war jetzt ganz unmöglich; schon
zischte eine rothe Lohe durch die geborstenen Mauern, der ganze untere
Theil brannte, krachte und brach zusammen. Noch wenige Minuten bei dem
Wind, unter dem die Flammen wie eine Flagge hinflatterten, und die
ganze Lumpenschule war nichts mehr, als eine Feuerhöhle, ein Wirbel von
glühenden Dämpfen.

Plötzlich entstand eine Oeffnung im Dache dicht über der Luke. Grip war
es gelungen, die Bedeckung zu zerreißen und die Sparren zu durchbrechen,
als die Holzwände seiner Kammer schon zu knistern anfingen. Er schwang
sich dann durch das Sparrenwerk und zerrte den kleinen halb erstickten
Knaben nach sich. Als er dann bis zu dem Theile der Mauer gekrochen war,
der die rechte Giebelwand bildete, ließ er sich auf der schrägen Kante
hinabgleiten, wobei er den Findling immer in den Armen hielt.

In diesem Augenblick brach eine furchtbare Flammengarbe durch das Dach
und schleuderte tausende glühender Funken hoch empor.

»Rettet ihn... rief Grip, rettet den Knaben!«

Damit ließ er das Kind nach der Seite der Straße zu fallen, wo es
glücklicher Weise ein Mann auffing, ehe es auf den Erdboden stürzte.

Grip sprang nun ebenfalls herunter und stürzte halb bewußtlos an einem
Trümmerhaufen neben der Mauer zusammen.

Da trat die Reisende auf den Mann zu, der den kleinen Knaben noch immer
trug, und fragte ihn mit vor Erregung zitternder Stimme:

»Wem gehört dieses unschuldige Wesen?

-- Niemand!... Es ist ein Findelkind, erklärte der Mann.

-- Nun gut, so gehört es mir... mir...! rief sie, während sie schon
den Knaben nahm und an ihr Herz drückte.

-- Gnädige Frau... ließ sich da ihre Kammerfrau vernehmen.

-- Schweig, Elisa, schweig! -- Das ist ein Engel, der mir vom Himmel
zugefallen ist.«

Da der »Engel« nun weder Eltern noch sonstige Angehörige hatte, war
es ja das Beste, ihn den Händen der schönen, edelmüthigen Dame zu
überlassen, und ein freudiges Hurrah dankte dieser in dem Augenblick, wo
die letzten Reste der =Ragged-School= zusammenstürzten.




VI.

Limerick.


Wer die mitleidige Dame war, die hier so entschlossen für die Rettung
der beiden Bedrohten eintrat, wußte zunächst niemand und niemand wäre
auch erstaunt gewesen, wenn sie selbst durch die Flammen gedrungen wäre,
um diesen das schwächliche Opfer zu entreißen. Und wäre das Kind ihr
eignes gewesen, sie hätte es kaum liebevoller in die Arme nehmen können,
als sie es nach ihrem an der nächsten Straßenecke wartenden Wagen trug,
während sich die Kammerfrau der Fremden vergeblich bemühte, die Dame von
ihrem Entschluß abzubringen.

»Nein, Elisa! wiederholte sie, lass' ihn, er gehört mir. Der Himmel hat
es mir vergönnt, ihn dem brennenden Hause zu entreißen. O, ich danke
Dir, ich danke Dir, mein Gott!... Ach, wie ich ihn schon lieb habe.«

Der »geliebte« war schon halb erstickt, sein Athem unterbrochen, der
Mund stand wie gelähmt etwas offen und seine Augen waren geschlossen.
Er hätte der frischen Luft bedurft und jetzt, wo er von dem Rauch der
Feuersbrunst fast erstickt war, lief er Gefahr, von den Liebkosungen
erstickt zu werden, die seine Retterin an ihn verschwendete.

»Nach dem Bahnhofe, rief diese dem Kutscher zu, als sie den Wagen
erreichte, nach dem Bahnhofe!... Eine Guinee, wenn wir den Zug um neun
Uhr fünfundvierzig nicht versäumen!«

Gegen ein solches Versprechen konnte der Kutscher nicht unempfindlich
sein, vor allem, da die Trinkgeldunsitte in England noch nicht so
heimisch ist. So trieb er das Pferd vor seinem »Growler« an, wie diese
alterthümlichen und unbequemen Fuhrwerke heißen.

Doch wer war nun diese von der Vorsehung geschickte Dame? War der
Findling durch besondres Glück in Hände gefallen, die sich für immer
über ihn breiten sollten?

Miß Anna Walston war es, die erste Heldin des Drury-Lane-Theaters, eine
Art Sarah Bernhardt, auf der Tournée, welche augenblicklich am Theater
zu Limerick, in der gleichnamigen Grafschaft der Provinz Munster,
Vorstellungen gab. Eben hatte sie eine mehrtägige Erholungsreise durch
die Grafschaft Galway gemacht, wobei ihre Kammerfrau sie begleitete.
Die wortkarge Elisa Corbett war übrigens eine ebenso mürrische, wie
treuergebene Freundin ihrer Herrin.

Die Schauspielerin war eine vortreffliche, beim Publicum ungemein
beliebte Dame, die sich für alles lebhaft interessierte und Herz und
Hand stets offen hatte, während sie sich ihrer Kunst mit heiligem Ernste
widmete und eifrigst bemüht war, ihren Ruhm nicht durch einen Schnitzer
aufs Spiel gesetzt zu sehen.

Miß Anna Walston, die jedermann in allen Grafschaften des Vereinigten
Königreichs kannte, wartete nur auf die passende Gelegenheit, sich
in Amerika, in Indien und Australien, d. h. überall, wo die englische
Sprache vorherrschte, neue Lorbeern zu pflücken, denn sie war es müde,
da zu glänzen, wo ihr jede Anerkennung mühelos zu Theil wurde.

Vor drei Tagen war sie, müde der fortwährenden Anstrengungen bei den
Trauerspielen, in denen sie im letzten Acte regelmäßig sterben mußte,
hierher gekommen, um die reine und stärkende Luft von Galway zu
genießen. An jenem Abende wollte sie sich eben nach dem Bahnhofe
begeben, um nach Limerick zurückzufahren, wo sie am nächsten Tage
aufzutreten hatte, als ihre Aufmerksamkeit durch laute Hilferufe und den
Widerschein von Feuer erweckt wurde. Die =Ragged-School= stand in hellen
Flammen.

Eine Feuersbrunst! Wie hätte sie dem Verlangen widerstehen können,
einer solchen, die sich von den zahmen Bränden auf der Bühne so gewaltig
unterschied, mit beizuwohnen! Auf ihr Geheiß und trotz des Widerspruchs
Elisas hatte der Wagen an der nächsten Ecke gehalten, und Miß Anna
Walston beobachtete die verschiedenen Stadien dieses Schauspiels, das
denen, die die Feuerwehrleute hinter den Coulissen mit wachsamem Auge
beobachteten, so wesentlich überlegen war. Hier sanken die Versetzstücke
thatsächlich zusammen und unter ihnen stand alles in leibhaftigem Feuer.
Der Verlauf des Unglücks entbehrte auch sonst nicht des spannenden
Interesses. Zwei menschliche Wesen waren in einer Dachkammer
eingeschlossen, deren Treppenzugang schon in Flammen stand und die
keinen andern Ausweg bot. Zwei Knaben, ein großer und ein kleiner...
vielleicht wäre ein gefährdetes kleines Mädchen noch interessanter
gewesen. Wie herzzerreißend schrie Miß Anna Walston da auf. Sie wäre
den beiden wohl selbst zu Hilfe geeilt, wenn ihr weiter Staubmantel sich
nicht gar so leicht selbst entzündet hätte. Da öffnete sich übrigens
schon das Dach neben der Bodenkammer. Die beiden Unglücklichen
erschienen inmitten der Rauchwolken, wobei der Große den Kleinen trug.

Ah! Der Große! Welcher Held und in welcher künstlerischen Pose zeigte er
sich! Das war der Ausdruck unnachahmlicher Wahrheit!... Der arme Große!
Er hatte wohl keine Ahnung davon, welchen Effect er hervorbrachte. Und
der andre... der =nice Boy!= Der hübsche Junge! rief Miß Anna Walston
wiederholt, das ist ein Engel, der aus den Flammen der Hölle kam!...
Wahrlich, Findling, das war wohl das erste Mal, daß Du mit einem
Cherub oder einem andern Muster der himmlischen Heerschaaren verglichen
wurdest!

Ja, diese Inscenierung hatte Miß Anna Walston bis in jede Einzelheit
verfolgt. Wie auf der Bühne rief sie: »Mein Geld, mein Schmuck,
alles was ich besitze dem, der sie rettet!« Doch niemand hatte an den
glühenden Wänden und auf das prasselnde Dach hinaufklimmen können.
Endlich war der Cherub von ein paar offenen Armen aufgefangen worden und
von da in die Arme der Miß Anna Walston übergegangen.... Jetzt besaß
der kleine Knabe plötzlich eine Mutter, von der die Leute meinten,
es müsse eine große Dame sein, die ihr eignes Kind im Brande der
=Ragged-School= entdeckt hätte.

Nachdem sie die Umstehenden mit einer Verneigung begrüßt und von diesen
bejubelt worden, war Miß Anna Walston mit ihrem Schatze verschwunden,
was auch die Kammerfrau dagegen einwenden mochte. Von einer
fünfundzwanzigjährigen Schauspielerin mit warmen Gefühlen und etwas
freien Anschauungen durfte man da nicht verlangen, daß sie ihrer
Eingebung Zügel anlegte und sich immer auf goldener Mittelstraße hielt,
wie die siebenunddreißigjährige, blonde, kalte und nörgelige Elisa
Corbett, die schon mehrere Jahre im Dienste ihrer etwas phantastischen
Herrin stand. Die Schauspielerin dagegen glaubte sich immer auf den
Brettern zu befinden und wurde sozusagen stets von ihrem Repertoire
beherrscht. Ihr gestalteten sich die gewöhnlichsten Vorkommnisse des
Lebens zu »Situationen«, und wenn eine solche einmal gegeben war....

Natürlich traf der Wagen rechtzeitig am Bahnhofe ein und der Kutscher
erhielt seine versprochne Guinee. Und jetzt konnte sich Miß Anna
Walston, die mit Elisa ein Coupé allein einnahm, allen den Pflichten
widmen, die das Herz einer wirklichen Mutter nur zu dictieren vermocht
hätte.

»Es ist mein Kind!... Mein Blut... mein Leben! erklärte sie, niemand
soll mir ihn wieder rauben!«

Es hätte ja auch kein Mensch daran gedacht, ihr diesen kleinen
Verlassnen wieder abzunehmen.

Elisa freilich bemerkte dazu:

»Wir werden ja sehen, wie lange es dauert!«

Der Zug rollte mit mäßiger Geschwindigkeit nach dem Kreuzungspunkte von
Artheury, durch die Grafschaft Galway dahin, die er mit der Hauptstadt
Irlands verbindet. Während dieses ersten kurzen Theiles der Fahrt war
der kleine Knabe nicht wieder zur Besinnung gekommen, obwohl sich die
Schauspielerin darum in jeder Weise bemühte.

Miß Anna Walston beschäftigte sich zuerst damit, ihn umzukleiden, und
nahm ihm die von Rauch geschwärzten Lumpen ab, bis auf die noch ziemlich
gut erhaltene wollene Jacke, während sie ihm sonst von ihren eignen
Kleidungsstücken anpaßte, was sich nur dazu verwenden ließ, und ihn
mit ihrem kostbaren Shawle zudeckte. Das Kind schien aber gar nicht zu
bemerken, daß es jetzt warme Hüllen trug und ein noch wärmeres Herz, das
für ihn sorgte, gewonnen hatte.

An der Kreuzungsstelle wurde ein Theil des Zuges abgekoppelt und nach
Kilkree, an der Grenze der Grafschaft Galway, übergeleitet, wo ein
halbstündiger Aufenthalt stattfand. Doch während dieser Zeit war der
kleine Knabe noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.

»Elisa... Elisa!... rief Miß Anna Walston, wir werden uns erkundigen
müssen, ob sich nicht vielleicht ein Arzt im Zuge befindet.«

Elisa that das, obgleich sie ihrer Herrin versicherte, daß es sich kaum
der Mühe lohne.

Ein Arzt fand sich nicht.

»O, diese Unmenschen... jammerte Miß Anna Walston, man trifft sie nie
da, wo sie sein sollten!

-- Aber ich bitte Sie, Madame, dem Jungen fehlt ja gar nichts; der wird
schon wieder zu sich kommen, wenn Sie ihn nicht ersticken....

-- Glaubst Du, Elisa?... Das herzige Kind!...

Ich weiß nicht, wie mir ist, ich habe ja noch nie ein Kind gehabt!...
Ach, wenn ich ihn selbst hätte nähren dürfen!«

Das war freilich unmöglich, und übrigens stand der kleine Junge in den
Jahren, wo man nach einer festeren Nahrung verlangt.

Der Zug durchflog die Grafschaft Clare -- jene Halbinsel zwischen der
Bai von Galway im Norden und der langen breiten Ausmündung des Shannon
im Süden, einen Landstrich, den man hätte zur Insel umgestalten können,
wenn ein kaum fünfzig Kilometer langer Canal am Fuße der Sliève-Sughty
ausgehoben worden wäre. Die Nacht war dunkel und es wehte ein ziemlich
scharfer Westwind -- ein Himmel, wie er zur Situation paßte.

»Ach, der Engel erholt sich nicht wieder! rief Miß Anna Walston immer
wieder.

-- Soll ich Ihnen etwas sagen, Madame?

-- Sprich, Elisa, sprich, um Gottes Willen!

-- Nun... ich glaube, er schläft einfach!«

So war es in der That.

Der Zug gelangte nach Dromor, nach Emis, der Hauptstadt der Grafschaft,
wo er gegen Mitternacht eintraf. Weiter nach New-Market, nach Six-Miles
an der Grenze und endlich fuhr er gegen fünf Uhr morgens in Limerick
ein.

Und nicht nur der kleine Knabe allein hatte während der Reise
geschlafen, auch Miß Anna Walston waren die Augen zugefallen, und als
sie wieder erwachte, bemerkte sie, daß ihr Schützling sie mit großen
Augen ansah.

Da drückte sie ihn wieder in die Arme.

»Er lebt!... Er lebt!... Gott, der ihn mir gegeben hat, kann nicht so
grausam sein, ihn mir wieder zu entreißen!«

Elisa meinte zwar, daß Gott auch dann gar nicht grausam gewesen
wäre; jedenfalls sah sich der Knabe eigentlich ohne Uebergang aus der
Lumpenschule in die prächtigen Zimmer versetzt, die Miß Anna
Walston während ihrer Gastvorstellung am Theater zu Limerick im
Royal-George-Hôtel bewohnte.

Die Grafschaft Limerick hat sich in der Geschichte Irlands einen Namen
gemacht, denn hier regte sich zuerst der Widerstand der Katholiken gegen
das protestantische England. Treu der Jacobitischen Dynastie, ist seine
Hauptstadt dem schrecklichen Cromwel entgegengetreten und hat eine
merkwürdige Belagerung ausgehalten, bis sie, von Hunger bezwungen und
in Blut gebadet, schließlich unterlag. Hier wurde der Vertrag, der den
gleichen Namen führt, unterzeichnet, der Vertrag, der den irländischen
Katholiken gleiche bürgerliche Rechte und freie Ausübung ihres Cultus
gewährleistete. Freilich wurden die damaligen Abmachungen von Wilhelm
von Oranien rücksichtslos verletzt. Wieder mußte das Volk nach langen
erniedrigenden Quälereien zu den Waffen greifen; trotz allen Muthes
aber und obwohl ihnen die französische Revolution ihren Hoche zu Hilfe
geschickt hatte, unterlagen die Irländer, die, wie sie sagten, »mit dem
Stricke am Halse« kämpften, doch endlich bei Ballinamach den weitaus
überlegenen Gegnern.

Endlich, im Jahre 1829, fanden die Rechte der Katholiken, Dank den
Bemühungen des großen O'Connell, die langentbehrte Anerkennung.
Dieser schwang das Banner der Unabhängigkeit und rang der Regierung
Großbritanniens die ersehnte Emancipationsbill ab.

Da diese Erzählung in Irland spielt, sei es uns gestattet, folgende
flammende Rede anzuführen, die O'Connell jener Zeit den Staatsmännern
Englands ins Gesicht schleuderte. Man darf ihre Bedeutung nicht
unterschätzen. Sie hat sich tief in das Herz der Irländer eingegraben,
und an verschiedenen Stellen dieser Erzählung wird der Leser noch ihren
Einfluß herausfühlen.

»Niemals hat es ein unwürdigeres Ministerium gegeben! rief O'Connell
eines Tages. Stanley ist ein Renegat; Sir James Graham vielleicht etwas
noch schlimmeres; Sir Robert Peel eine scheckige Fahne mit fünfhundert
Farben und nicht einmal echt in der Farbe, denn sie erscheint heute
orangeroth, morgen grün, übermorgen wieder anders; es ist aber darauf zu
achten, daß sie einmal mit Blut gefärbt wird. Was Wellington, den armen
Mann betrifft, erscheint es geradezu sinnlos, ihn in England zu feiern.
Hat der Historiker Alison nicht nachgewiesen, daß er sich bei Waterloo
überraschen ließ? Zum Glück für ihn standen ihm raschentschlossene
Truppen, irische Soldaten zur Seite. Die Irländer sind dem Hause
Braunschweig, als es ihr Feind war, treu ergeben gewesen, treu
Georg III., der sie verrieth, treu Georg IV., der vor Wuth aufschrie,
als er die Emancipation zugestand, treu dem alten Wilhelm, dem
das Ministerium abscheuliche und blutige Maßregeln gegen Irland
unterbreitete. Auch der Königin haben sie ihre Treue bewahrt. Darum
England den Engländern, Schottland den Schotten, aber auch Irland
den Irländern!« -- Das sind herrliche Worte!... Der Leser wird bald
erkennen, wie der Wunsch O'Connell's in Erfüllung gegangen ist und ob
der Boden Irlands seinen Kindern gehört.

Limerick ist noch immer eine der Hauptstädte der Smaragdnen Insel,
obwohl es, seitdem Tralee ihm einen Theil seines Handels raubte, vom
dritten auf den vierten Rang gesunken ist. Es zählt gegen dreißigtausend
Einwohner. Seine Straßen sind regelmäßig, breit und gerade; seine Läden,
Magazine, Hôtels und öffentlichen Gebäude erheben sich an geräumigen
Plätzen. Ueberschreitet man aber, nach Begrüßung des Steines, auf dem
der Emancipationsvertrag unterzeichnet wurde, die Brücke des Thomond, so
findet man, daß dieser Theil der Stadt hartnäckig irländisch geblieben
ist. Hier sieht man noch das Elend und die Ruinen von der Belagerung
her, die zerstörten Bollwerke, den Standort jener »Schwarzen Batterie«,
die unerschrockne Frauen, gleich ebensovielen Johanna Hachette's,
gegen die Orangisten bis zum Tode vertheidigten. Ein trauriger,
beklagenswerther Contrast!

Limerick hat eine Lage, die es zu einem Mittelpunkte der Industrie und
des Handels machen könnte. Der Shannon, der »Azurne Fluß«, bietet ihm
einen jener Wege, die selbst gehen, wie der Clyde, die Themse oder der
Mersey. Wenn London, Glasgow und Liverpool aber ihre Flüsse ausnützen,
so macht das Limerick mit dem seinen leider nicht ebenso. Kaum beleben
einige Barken seine trägen Fluthen, die nur die schönen Theile der Stadt
benetzen und die fetten Weiden ihres Thales ernähren. Die auswandernden
Irländer sollten ihren Shannon nur mit nach der Neuen Welt versetzen:
die Amerikaner würden schon etwas daraus zu machen wissen.

Beschränkt sich auch die ganze Thätigkeit Limericks auf die Erzeugung
von Schinken, so bleibt es doch eine angenehme Stadt mit wirklich
hübschen weiblichen Bewohnern, was jedermann leicht auffallen mußte.

Hervorragende Schauspielerinnen sind nicht die Persönlichkeiten, die für
ihr Privatleben nach undurchsichtigen Mauern verlangen; sie würden im
Gegentheil lieber in Glashäusern wohnen, wenn es solche gäbe. Miß Anna
Walston hatte keine Ursache zu verheimlichen, was in Galway vorgegangen
war. Schon am Tage nach ihrer Rückkehr sprach man in ganz Limerick von
der dortigen Lumpenschule, und es ging das Gerücht, die Heldin so
vieler Dramen habe sich in die Flammen gestürzt, um ein kleines Wesen zu
retten. Sie widersprach dem nicht ausdrücklich, ja zuletzt glaubte sie
es vielleicht selbst. Ohne Zweifel hatte sie in das Royal-George-Hôtel
ein Kind mitgebracht, das sie adoptieren, einen Waisenknaben, dem sie
ihren Namen geben wollte, da er keinen hatte... nicht einmal einen
Taufnamen.

»Findling,« lautete seine Antwort, als sie ihn fragte, wie er hieße.

So mochte es auch dabei bleiben; sie hätte doch keinen besseren
gefunden; jener war ja ebenso gut wie Eduard, Arthur oder Mortimer.
Uebrigens nannte sie ihn am liebsten »Baby«, »Bebery«, »Babilsky«, oder
wie die mütterlichen Kosenamen in England sonst lauten.

Natürlich verstand unser Held hiervon nicht das geringste. Er ließ alles
über sich ergehen, Liebkosungen und Küsse, die er nicht gewöhnt war,
ließ sich schöne Kleider gefallen -- und er wurde nach neuester Mode
aufgeputzt -- und glänzende Stiefelchen. Er murrte nicht darüber, daß
man ihm Locken machte, natürlich auch nicht über das vortreffliche Essen
oder über die Süßigkeiten, die er in Ueberfluß erhielt.

Wie zu erwarten, stellten sich die Freunde und Freundinnen der
Schauspielerin baldigst im Royal-George-Hôtel ein, um Miß Anna ihre
Complimente zu machen, die diese dankend annahm. Dann wurde von
der Geschichte der =Ragged-School= gesprochen. Schon nach kurzer
Unterhaltung hatte da das Feuer meist die ganze Stadt Galway vernichtet.
Man verglich den traurigen Vorfall nur noch mit dem großen Brande
Londons, an dem die »Feuersäule«, die einige Schritte von der
London-Bridge aufragt, noch erinnert.

Natürlich wurde bei diesen Besuchen auch des Kindes nicht vergessen, was
der Miß Anna Walston herzliche Freude bereitete. Und doch kam ihr der
Gedanke, daß der Kleine, wenn auch nicht so gehegt und gepflegt, doch
schon geliebt worden sein möge. Eines Tages fragte dieser nämlich:

»Wo ist denn Grip?

-- Wer ist denn Grip, mein Babish?« antwortete Miß Anna Walston.

Jetzt erfuhr sie erst etwas über Grip. Ohne ihn wäre der kleine Knabe in
den Flammen umgekommen. Das war schön, war lobenswerth von diesem Grip.
Sein Heroismus aber -- man liebte dieses Wort für seine That -- konnte
doch das Verdienst nicht schmälern, das der gefeierten Künstlerin bei
diesem Rettungswerke zukam. Wenn sich die vortreffliche Frau nun nicht
an der Brandstelle befunden hätte, was wäre da aus dem kleinen Burschen
geworden? In welche Höhle hätte man ihn mit den andern Taugenichtsen der
Lumpenschule eingepfercht?

In der That hatte sich bisher niemand um Grip bekümmert und keiner
verlangte danach, etwas von ihm zu hören. Auch der kleine Knabe würde
ihn schließlich vergessen und nicht mehr von ihm sprechen. Das war
jedoch ein Irrthum; nie verblich in seinem Herzen das Bild dessen, der
ihn ernährt und beschützt hatte.

Dem Adoptivkinde der Schauspielerin fehlte es jetzt auch nicht an
Unterhaltung und Zerstreuung jeder Art. Er begleitete Miß Anna Walston
bei ihren Spazierfahrten und saß neben ihr im Wagen, wenn jene durch die
schönsten Theile von Limerick zu der Stunde fuhr, wo die feinere Welt
sie sehen konnte. Dazu putzte sie den Knaben in jeder Weise heraus, so
daß er einmal in schottischer Nationaltracht, einmal als Page und dann
wieder als phantastischer Schiffsjunge erschien. Er vertrat fast die
Stelle eines Schoßhündchens der Schauspielerin, die ihn, wenn er
klein genug gewesen wäre, in ihren Muff gesteckt hätte, um nur dessen
krauslockigen Kopf herausgucken zu lassen. Gelegentlich durchstreiften
beide auch die Stadt oder lustwandelten bis zu den Badeplätzen von
Kilkree mit ihren großartigen Uferfelsen an der Küste von Clare und nach
Miltow-Malbay mit seinen gefährlichen Klippen, woran einst ein Theil
der unbesiegbaren Armada zerschellte. Dabei stellte die glückliche
Pflegemutter den kleinen Knaben immer nur als den »aus den Flammen
geretteten Engel« vor.

Einige Male führte man ihn auch ins Theater, wo er -- mit Handschuhen
angethan! -- in einer Loge des ersten Ranges unter dem strengen Auge
Elisas thronte, sich kaum zu rühren wagte und bis zum Schluß der
Vorstellung... nur gegen das Einschlafen ankämpfte. Natürlich ohne
Verständniß für die Schauspiele selbst, hielt er doch alles, was er sah,
für die reine Wahrheit. Wenn Miß Anna Walston einmal im Prunke einer
Königin erschien, dann wieder als Frau aus dem Volke oder gar als in
Lumpen gekleidete Bettlerin, so konnte er gar nicht glauben, daß sie
es war, die er im Royal-George-Hôtel wiedertraf. Das verwirrte seine
kindliche Phantasie; er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er
träumte davon in der Nacht, als spänne sich das seltsame Schauspiel
weiter fort, und dann keuchte er unter schwerem Alpdrücken, wobei der
Puppenschausteller, der bösartige Carker und die andern Schlingel aus
der Lumpenschule eine Rolle spielten. Und wenn er dann schweißdurchnäßt
erwachte, wagte er nicht zu rufen....

Die Irländer sind leidenschaftliche Liebhaber allen Sports, vorzüglich
der Pferderennen. Auch jener Zeit strömte nach Limerick einmal aus
gleicher Ursache die ganze »Gentry« der Umgebung zusammen, ihr schlossen
sich die Landleute an, die ihre Höfe verließen, und sogar die Aermsten
jeder Art, denen es nur gelungen war, sich einen Schilling oder halben
Schilling abzusparen, um diesen auf ein Pferd zu verwetten.

Der Findling wurde ebenfalls zu diesem Feste mitgenommen, aber
geschmückt, daß er schon mehr einem Blumenstrauß glich, den Miß Anna
Walston von ihren Freunden bewundern, ja fast aufsaugen ließ.

Die Künstlerin war etwas extravaganter Natur, doch gut und wohlthätig,
wo sie das wenigstens in mehr Aufsehen erregender Weise bethätigen
konnte. Waren die Zärtlichkeiten, womit sie das Kind überhäufte,
sichtlich theatralischer Art und glichen die ihm gegebenen Küsse nur
Bühnenküssen, so konnte der Findling den Unterschied nicht wahrnehmen.
Immerhin fühlte er sich nicht so geliebt, wie er es gewünscht hätte, und
vielleicht sagte er sich unbewußt, was Elisa nicht selten wiederholte:

»Wer weiß, wie lange es dauern wird, wenn es überhaupt andauert!«




VII.

Eine gefährdete »Situation«.


Sechs Wochen verflossen unter diesen Verhältnissen, und niemand wird es
wundern, daß sich der Findling an dieses angenehme Leben gewöhnte.
Wer das Elend erdulden gelernt hat, wird noch leichter das Wohlleben
ertragen. Dagegen blieb es fraglich, ob Miß Anna Walston's warme
Empfindung für den Knaben sich mit der Zeit nicht abkühlen würde.
Gefühle unterliegen ja ebenso dem Gesetze der Trägheit wie greifbare
Körper: erhält man die Triebkraft nicht länger, so kommen sie zum
Stillstand. Sie war jener Zeit nur einer »Rührung« verfallen, wie sie
durch manche Scene auf der Bühne die Zuschauer gefangen nehmen. Und
dennoch durfte man nicht glauben, daß das Kind für sie nur den Werth
eines Zeitvertreibs, eines Spielzeugs oder einer Reclame hatte, denn sie
war von Natur wirklich gutherzig angelegt. Wenn sie auch weiter für
den Kleinen sorgte, so wurden ihre Liebkosungen doch kürzer, ihre
Aufmerksamkeiten seltner. Dazu kommt die starke Inanspruchnahme einer
Schauspielerin, die ihre Rollen zu lernen, viele Proben zu besuchen hat,
und der die Vorstellungen kaum einen Abend frei lassen. Das strengt ja
schließlich an. In den ersten Tagen hatte sie sich den Cherub früh an
ihr Bett bringen lassen, wo sie mit ihm wie ein »Mütterchen« spielte.

Das störte aber ihren gewöhnlich lang ausgedehnten Morgenschlummer und
so verlangte sie sehr bald das Kind erst beim Frühstück. Wie freute
der Kleine sich, auf einem eigens für ihn beschafften hohen Stuhle zu
sitzen, und wie schmauste er mit vortrefflichem Appetit!

»Na, mein Junge, so ist's hübsch, nicht wahr? fragte sie.

-- Ach ja, Miß Anna, erwiderte er eines Tages, so gut wie das, was wir
im Hospiz bekamen, wenn wir krank waren.«

Der Findling hatte eine feinere Lebensart eben noch nicht gelernt --
weder Thornpipe noch O'Bodkins hätte ihm diese ja lehren können -- er
war sonst zurückhaltender Natur, sanften und liebevollen Charakters
und, wie wir wissen, so ganz anders als die verwahrlosen Zöglinge der
=Ragged-School=. Wie seinem Alter, war er aber auch nach geistiger Seite
weit voraus, und Miß Anna Walston konnte das nicht entgehen. Von seiner
Vergangenheit wußte sie freilich nur das, was er ihr darüber seit seiner
Befreiung aus den Händen des Marionettenschaustellers erzählen konnte.
Jedenfalls war er also ein Findelkind. Seine »angeborne Vornehmheit«,
wie sie es nannte, bestärkte in der Künstlerin jedoch den Glauben,
daß er der Sohn einer großen Dame sein müsse, wie das in Dramen ja so
gewöhnlich ist, ein Sohn, von dem jene sich ihrer gesellschaftlichen
Stellung wegen habe lossagen müssen. Daraufhin dichtete sie sich über
ihren Schützling einen ganzen Roman zusammen, der übrigens nicht einmal
mehr den Reiz der Neuheit hatte. So ersann sie gewisse »Situationen«,
die in dramatischer Bearbeitung einen starken Thräneneffect erzielen
würden. Sie wollte in diesem Stücke spielen, sie versprach sich davon
einen ungewöhnlichen Erfolg... sie würde sich darin hinreißend...
himmlisch zeigen u. s. w. Und als sie in Gedanken so weit gelangt war,
da ergriff sie ihren Engel, umarmte ihn stürmisch, ganz wie auf der
Bühne, und glaubte schon den jubelnden Beifall der Zuschauer zu hören.

Eines Tages sagte da der Findling, dem die Sache unheimlich zu werden
anfing:

»Miß Anna?...

-- Was willst Du, mein Herzchen?

-- Ich möchte Sie etwas fragen.

-- So frage nur, mein Schatz.

-- Sie werden mir darum nicht böse?

-- Ich... Dir böse werden?

-- Jeder hat doch wohl eine Mutter?

-- Natürlich, mein Engel, hat jedes Kind eine Mutter.

-- Warum kenne ich denn dann meine Mutter nicht?

-- Warum?... Ja, weil... antwortete Miß Anna Walston verlegen,
weil... das... seine Gründe hat. Später einmal... ja, das glaub' ich
bestimmt... wirst Du sie schon zu sehen bekommen....

-- Ich habe Sie doch sagen hören, daß es eine schöne Dame sei, nicht
wahr?

-- Ja, ganz gewiß!... Eine schöne Dame!

-- Und warum denn gerade eine schöne Dame?

-- Nun weil... nun ja, Deine Gestalt... Dein Gesichtchen... Ist er
doch drollig, der liebe Kleine, mit seinen Fragen!... Uebrigens... die
Situation... ja, die Situation in dem Drama erfordert, daß sie schön
sei... vornehm... doch, das verstehst Du nicht....

-- Nein, das versteh' ich auch nicht! versicherte der kleine Knabe
traurig. Mir kommt es manchmal vor, als wäre meine Mama schon todt....

-- Todt?... O nein!... Mach' Dir nicht solche Gedanken!... Wenn sie
todt wäre, dann gäb's ja kein Stück mehr....

-- Was für ein Stück?...«

Miß Anna Walston umarmte den Kleinen, und das war am Ende die beste
Antwort, die sie ihm augenblicklich geben konnte.

»Wenn sie aber nicht todt ist, fuhr der kleine Bursche mit der seinem
Alter eignen Zähigkeit fort, wenn sie eine schöne Dame ist, warum hat
sie mich denn verlassen?...

-- Sie wird dazu gezwungen gewesen sein, mein Babery... gewiß ganz
wider Willen... doch... bei der Lösung des Knotens...

-- Miß Anna?...

-- Was willst Du noch?

-- Meine Mama...

-- Nun, weiter!

-- Das sind Sie doch nicht?...

-- Wie... ich... Deine Mama?

-- Weil Sie mich »mein Kind« nennen.

-- Das sagt man so, mein Cherub, so nennt man Kinder Deines Alters
immer.... Das arme Würmchen, so etwas glauben zu können!... Nein, ich
bin Deine Mama nicht!... Wärst Du mein eignes Söhnchen, ich hätte Dich
nicht verlassen, Dich nicht dem Elend preisgegeben!... O, gewiß nicht!«

Mit einer neuen Umarmung beendete Miß Anna Walston das Gespräch, nach
dem der Findling recht betrübt davonschlich.

Armes Kind! Ob reicher oder armer Herkunft, höchst wahrscheinlich sollte
es seine Angehörigen niemals kennen lernen, wie so viele aufgelesene
Findlinge.

Als Miß Anna Walston ihn mit sich nahm, hatte sie freilich nicht daran
gedacht, welche Pflichten ihr das für die Zukunft auferlegen würde. Ja
sie hatte sich nicht einmal vorgestellt, daß dieses Baby wachsen könnte,
daß sie für seinen Unterricht, für seine Erziehung zu sorgen haben
werde. Es ist ja recht gut und schön, ein kleines Wesen zu liebkosen,
besser aber doch noch, auch seinem Geiste die nöthige Nahrung zu
gewähren. Ein Kind zu adoptieren, schließt auch die Verpflichtung ein,
es zum Menschen zu machen. Diese Pflicht hatte die Schauspielerin gar
nicht bedacht. Freilich zählte der Findling jetzt kaum fünfeinhalb
Jahre, in diesem Alter beginnt aber das Erwachen der geistigen
Fähigkeiten. Was sollte nun aus ihm werden? Er konnte ihr doch nicht bei
ihren Gastspielreisen von Theater zu Theater, von Stadt zu Stadt
folgen, vorzüglich wenn sie ins Ausland ging... So würde sie sich also
genöthigt sehen, ihn einer Pension anzuvertrauen... natürlich nur einer
ganz guten. Auf jeden Fall würde sie ihn niemals verlassen.

Eines Tages bemerkte sie gegen Elisa:

»Er entwickelt sich alle Tage besser. Hast Du das nicht beobachtet?
Welch' empfindsame Natur! O seine Liebe wird mir lohnen, was ich für
ihn that!... Und dann... wie frühreif! Alles will er wissen. Ich finde
sogar, er ist überlegter, als er es bei seiner Jugend sein sollte...
und er hat sich für meinen Sohn halten können! Der arme Kleine! Ich
dürfte doch seiner Mutter schwerlich ähnlich sein!... Das war gewiß
eine sinnende, ernste Frau. Sprich doch, Elisa, wir werden ja einmal
daran denken müssen....

-- Woran denn?

-- Was aus ihm werden soll.

-- Aus ihm werden?... Jetzt schon?...

-- Nein, jetzt noch nicht, meine Liebe; jetzt mag er noch wie eine Blume
freudig aufwachsen... Nein, später... später, wenn er sieben bis acht
Jahre zählt. Ist das nicht das Alter, mit dem die Kinder gewöhnlich in
eine Pension kommen?«

Elisa wollte ihr schon entgegenhalten, daß der Junge doch an die
Lebensweise in einer Pension schon gewöhnt sein müsse -- sie hatte ja
Recht, freilich nur in Bezug auf die Lebensweise in der Lumpenschule --
und ihrer Meinung nach wäre es am besten, wenn er baldigst wieder einer,
natürlich besseren Anstalt übergeben würde. Miß Anna Walston ließ sie
darüber gar nicht zu Worte kommen.

»Sag' einmal Elisa...?

-- Was denn, Miß Anna?

-- Glaubst Du, daß unser Cherub Lust zum Theater haben könnte?

-- Er?...

-- Ja. Betrachte ihn nur genau. Er hat ein hübsches Gesicht, prächtige
Augen und tadellose Haltung. Das erkennt man schon, und ich bin
überzeugt, daß er einen entzückenden Liebhaber abgeben würde....

-- Halt... halt... halt, Miß Anna! Sie lassen Ihren Gedanken die Zügel
schießen!

-- Ei, ich werde ihm Komödie spielen lehren. Der Schüler der Miß Anna
Walston!... Ahnst Du den Effect?

-- In fünfzehn Jahren....

-- Zugegeben, Elisa, in fünfzehn Jahren, doch ich sage Dir, in fünfzehn
Jahren wird er der reizendste junge Mann sein. Alle Frauen werden...

-- Vor Eifersucht umkommen, fiel Elisa ein. Das kenne ich schon. Doch,
Miß Anna, wollen Sie meine aufrichtige Meinung hören?

-- Nun, und die wäre?...

-- Aus diesem Kinde wird im Leben kein Schauspieler werden.

-- Ja, warum denn nicht?

-- Weil der Junge zu ernsthaft ist.

-- Das ist wohl wahr, gab Miß Anna Walston zu, doch... wir werden ja
sehen....

-- Und Zeit genug haben wir dazu, Miß Anna!«

Gewiß war's dazu Zeit genug, und wenn der Findling dann, trotz der
Vermuthung Elisas, Neigung für das Theater zeigte, war ja alles gut.

Inzwischen kam der Miß Anna Walston ein herrlicher Gedanke, wie solche
ihr ganz ausschließlich eigen zu sein schienen: sie wollte das Kind
baldigst auf der Bühne von Limerick einmal auftreten lassen.

Wenn der und jener das auch als eine wahnsinnige Idee verurtheilen
mochte, so zeigte sich doch, daß dieses »einzige Auftreten«, wie die
Placate ankündigten, von ganz bedeutender Wirkung zu sein versprach.

Miß Anna Walston studierte jetzt aufs neue ein »Rührstück mit
Knalleffecten« ein, wie solche im englischen Repertoire gar nicht selten
sind. Dieses Drama, richtiger Melodrama, mit dem Titel »Die Reue einer
Mutter«, hatte bereits einer ganzen Generation Thränen genug entlockt,
um die Flüsse des Vereinigten Königreichs damit speisen zu können.

In diesem Stücke des Dramaturgen Furpill kam, wie allemal, eine
Kinderrolle vor -- ein Kind, das die Mutter nicht hatte behalten können,
das sie ein Jahr nach seiner Geburt verlassen mußte, während sie es
später elend wiederfand und man es ihr aufs neue rauben wollte u. s. w.

Selbstverständlich war das eine stumme Rolle. Der kleine Figurant, der
sie spielte, hatte nur alles mit sich geschehen, sich umarmen, küssen,
an einen Mutterbusen drücken und sich hierhin und dorthin zerren zu
lassen, ohne je ein Wort zu sprechen.

Unser Held schien zu einer solchen Rolle ja wie geschaffen. Er hatte das
richtige Alter und die passende Größe, dazu ein bleiches Gesichtchen mit
Augen, die gar oft geweint hatten. Welcher Effect, wenn man ihn auf
der Bühne sähe und hier gerade mit seiner Adoptivmutter! Mit welcher
Begeisterung, welchem Feuer würde diese die fünfte Scene des dritten
Actes spielen, die große Scene, in der sie das Kind vertheidigt, das man
ihr wieder entreißen will! Hier kamen ja die thatsächlichen
Verhältnisse den erdichteten zu Hilfe. Dabei entrang sich der Künstlerin
unzweifelhaft ein aufrichtiger Schmerzensschrei und vergoß sie gewiß
wirkliche Thränen... kurz, es winkte ihr ein Triumph ohne Gleichen.

Die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang und der kleine Knabe mußte den
letzten Proben beiwohnen.

Das erste Mal erstaunte er ungemein über alles, was er da sah und hörte.
Miß Anna Walston nannte ihn wohl, gemäß dem Texte der Rolle, »mein
Kind«, es schien ihm aber, als ob sie ihn nicht so innig wie sonst
umschlänge und keine Thränen vergösse, wenn sie ihn an ihr Herz zog.
Wozu auch weinen bei Theaterproben? Wozu die Augen abnutzen? Dazu war's
bei der Aufführung Zeit genug.

Auf den kleinen Knaben machte übrigens alles einen tiefen Eindruck...
die sperrigen Gestelle der Coulissen; die etwas feuchtmodrige Luft, der
große, leere Zuschauerraum, in den nur kleine Fenster über der höchsten
Gallerie wenig Licht eindringen ließen, das Ganze sah so traurig aus,
wie ein Haus mit einem Todten darin. Immerhin that Sib -- so hieß der
Kleine in dem Stücke -- was man von ihm verlangte, und Miß Anna Walston
prophezeite ihm schon den schönsten Erfolg... und sich natürlich mit.

Vielleicht wurde diese Zuversicht nicht allgemein getheilt. Der
Künstlerin fehlte es ja, vor allem unter den Colleginnen, nicht
an Neidern. Sie hatte diese verletzt durch ihre eigenwillige
Persönlichkeit, ihre Launen, gewiß ohne Absicht und ohne daß sie es
merkte, und wer hätte ihr das auch mittheilen sollen? Jetzt erklärte
sie nun, eine Folge der Erregbarkeit ihres Temperaments, gar noch, der
Kleine, der jetzt kaum so hoch wie ein Ritterstiefel war, werde noch
einen Kean, einen Macready und andre Größen der heimischen Bühne
ausstechen. Das ging doch über alles Maß hinaus.

Endlich kam der Tag der ersten Aufführung.

Es war am 19. October, an einem Donnerstage. Miß Anna Walston befand
sich natürlich in hochgradiger Aufregung. Einmal ergriff sie Sib,
umarmte ihn und schüttelte ihn mit nervöser Gewalt, dann wieder reizte
sie seine Gegenwart und sie schob ihn weg, während dieser nichts von
allem begriff.

Am Abende der ersten Aufführung strömten die Leute in hellen Haufen
nach dem Theater in Limerick. Der Theaterzettel hatte eine ganz
außergewöhnliche Zugkraft geübt.

            Gastvorstellung
        _der Miß Anna Walston_,
       #Die Reue einer Mutter.#

          Schauspiel von dem
          _berühmten Furpil_.

               Personen:

  Die Herzogin von Kendalle... Miß Anna Walston.
  Sib, dargestellt von deren Pflegesohne, der »Findling«
  genannt, z. Z. 5 Jahre 9 Monate alt... u. s. w.

Wie stolz wäre der kleine Bursche gewesen, wenn er vor diesem Anschlage
gestanden hätte. Er konnte ja lesen, und hier stand sein Name schwarz
auf weiß in großen Buchstaben.

Dieser Stolz wäre freilich bald gedemüthigt worden. In der Garderobe der
Miß Anna Walston erwartete ihn ein wirklicher Kummer.

Bis zum heutigen Abend hatte er keine »Costümprobe« gehabt, weil man
das für unnöthig erachtete. Er war also stets mit seinen besten Kleidern
nach dem Theater gegangen. Jetzt brachte aber Elisa, während sich Miß
Anna als Herzogin von Kendalle schmückte, für ihn eine ganz zerfetzte
Tracht herbei, die sie ihm anzulegen begann, scheinbar schmutzige,
zerrissene Lumpen, die freilich auf der Innenseite völlig sauber waren.
In dem rührseligen Stücke ist Sib in der That ein verlassenes Kind, das
seine Mutter in den dürftigsten Verhältnissen wiederfindet, seine Mutter
eine Herzogin, eine Schönheit in Sammet, Seide und duftigen Spitzen.

Als er den Anzug sah, glaubte der kleine Knabe zuerst, er solle nach der
Lumpenschule zurückgeschickt werden.

»Miß Anna... Miß Anna! rief er schluchzend.

-- Was willst Du? fragte die Künstlerin.

-- Schicken Sie mich nicht wieder zurück, bitte, bitte!

-- Dich zurückschicken?... Warum denn?

-- Hier die alten, schlechten Kleider...

-- Nein... was er sich gleich einbildet!

-- Ach was, halte still, kleiner Querkopf! fiel Elisa ein, die ihn mit
fester Hand anfaßte.

-- Ach, die Engelsliebe!« sagte Miß Anna tiefgerührt.

Und mit feiner Pinselspitze malte sie sich leicht geschwungne
Augenbrauen.

»Das süße Herz... wenn das jemand von den Zuschauern wüßte!«

Sie legte etwas Roth auf die Wangen.

»Die Leute sollen's aber erfahren, Elisa. Morgen schon steht es in den
Blättern, daß er hat glauben können...«

Sie warf sich eine kostbare weiße Hülle um die Schultern.

»O über den seltsamen Babish!... Jene schlechten Kleider... ach, es
ist zum Lachen...

-- Zum Lachen, Miß Anna?...

-- Ja, weinen darf man ja nicht.«

Sie hätte wohl Thränen vergossen, fürchtete aber ihre künstlische
Färbung zu beschädigen.

Elisa bemerkte jedoch kopfschüttelnd:

»Sie sehen, Miß Anna, daß wir aus dem nie einen Komödianten machen
werden!«

Der Findling ließ sich indeß, eingeschüchtert und recht schweren
Herzens, die Lumpen für die Rolle Sibs anlegen.

Da kam Miß Anna Walston auf den Gedanken, ihm eine glänzende Guinee
zu schenken, das sollte ihn beim ersten Auftreten ermuntern. Schnell
getröstet, nahm der Kleine das Goldstück hastig an und steckte es, nach
gehöriger Besichtigung, tief in seine Tasche.

Nachher streichelte ihm die Künstlerin noch einmal die Wangen und begab
sich nach der Bühne hinunter, indem sie Elisa beauftragte, ihn in der
Garderobe zu behalten, da er erst im dritten Acte aufzutreten hatte.

Heute Abend füllten die feine Welt und die bessern Kreise überhaupt das
Theater vom Orchester bis zum Schnürboden, obgleich dieses Stück keine
Novität war. Schon seit zwölf bis dreizehn Jahren hatten es alle Bühnen
des Vereinigten Königreichs aufgeführt, was effectreichen Stücken selbst
untergeordneten Wertes ja nicht selten widerfuhr.

Der erste Act verlief nach Vorschrift. Miß Anna Walston erntete
rauschenden Beifall, den sie durch die Leidenschaft ihres Spiels und den
Glanz ihres Talents von den hingerissenen Zuschauern gewiß verdiente.

Nach dem ersten Acte begab sich die Herzogin von Kendalle nach ihrer
Garderobe zurück und legte hier, zum größten Erstaunen Sibs, ihre
Seiden- und Sammetkleidung ab, um diese mit der Tracht einer einfachen
Magd zu vertauschen -- wie es die, übrigens recht altersgraue
Entwickelung des Dramas verlangte.

Der Findling starrte die Dame in Sammet an, die zu einer Frau in grober
Wolle wurde. Ihn beunruhigte das mehr und mehr, denn es schien ihm,
als wenn eine Fee jene phantastische Veränderung vor seinen Augen
durchführte.

Dann tönte die Stimme des Inspicienten bis zur Garderobe herauf, eine
Stentorstimme, die ihn erzittern machte, und die »Magd« gab ihm ein
Zeichen mit der Hand und sagte:

»Nun, aufgepaßt, Findling, jetzt kommst Du bald dran.«

Damit stieg auch sie nach der Bühne herunter.

Zweiter Act: Die Magd erntet den gleichen Beifall, wie die Herzogin im
ersten, und der Vorhang muß unter dreifachem Applaus ebenso viele Male
wieder aufgezogen werden.

Den »guten Freundinnen« und deren getreuen Schildknappen fehlte es
demnach an Gelegenheit, sich an Miß Walston zu reiben.

In ihrer Garderobe warf sich diese etwas ermüdet auf ein Sopha,
obgleich sie ihren höchsten dramatischen Triumph erst im folgenden Acte
ausspielen wollte.

Noch einmal wechselte sie das Costüm; jetzt verwandelt sie sich aus der
Magd zur Dame, zu einer etwas weniger jugendlich erscheinenden Dame in
Trauer, denn zwischen dem zweiten und dritten Aufzuge liegen fünf Jahre.

Regungslos in seiner Ecke macht der kleine Knabe große Augen, ohne ein
Wort zu äußern. Die etwas angegriffene Miß Anna Walston beachtet ihn
zunächst nicht weiter.

Nach Beendigung ihrer Toilette beginnt sie:

»Nun, Kleiner, nun kommst Du auf die Bühne.

-- Ich, Miß Anna?...

-- Weißt Du denn noch, daß Dein Name da »Sib« ist?

-- Sib?... Ja wohl.

-- Elisa, schärfe ihm ja noch einmal ein, daß er Sib heißt, bis zum
Augenblicke, wo Du ihn dem Regisseur neben der Thür zuführst.

-- Gewiß, Miß Anna.

-- Und daß er nur das Stichwort nicht verfehlt! Du weißt übrigens,
wendete die Künstlerin sich, mit den Finger drohend, an den Knaben, Du
weißt, daß Dir sonst Deine Guinee wieder genommen wird. Also Achtung vor
der Geldbuße....

-- Und vor dem Gefängniß!« setzte Elisa dazu, ihn mit strengem Blicke
musternd.

Genannter Sib sah nach, ob die Guinee, die er sich schon nicht wieder
abnehmen lassen würde, noch in seiner Tasche war.

Jetzt kam der große Moment. Elisa faßte ihn an der Hand und ging mit ihm
nach der Bühne hinunter.

Sib war anfänglich ganz verwirrt durch die vielen Flaschenzüge und
Seile, wie über die von allen Seiten strahlenden Gasflammen und das
Durcheinander von Figuranten und Schauspielern, die ihn lächelnd
betrachteten.

Der arme Kleine schämte sich wirklich in seiner zerfetzten Hülle.

Endlich ertönte das Zeichen zum Anfang.

Sib zitterte, als hätten die Glockenschläge seinen Rücken getroffen.

Der Vorhang rauschte empor.

Die Herzogin von Kendalle war allein auf der Bühne und sprach in der
eine ärmliche Hütte darstellenden Decoration einen Monolog. Bei einem
gewissen Stichworte sollte sich die Thür im Hintergrunde öffnen, ein
Kind eintreten, auf sie zugehen und bittend die Hand ausstrecken; in
diesem Kinde sollte sie das ihrige erkennen.

Hier sei erwähnt, daß der Findling schon bei den Proben immer sehr
betrübt darüber war, daß er um ein Almosen betteln sollte, wogegen sich
sein natürlicher Stolz ja bereits in der Lumpenschule auflehnte. Miß
Anna Walston hatte ihm zwar wiederholt erklärt, daß es sich hier nicht
um ein wirkliches Betteln handelte, das beruhigte ihn jedoch noch nicht.
In seiner Naivität nahm er die Sachen für Ernst und glaubte schließlich
wirklich, daß er der unglückliche kleine Sib sei.

In Erwartung seines Auftretens und während ihn der Regisseur an der Hand
hielt, lugte er durch die nur angelehnte Thür. Mit größter Verblüffung
durchflogen seine Augen den gefüllten Zuschauerraum, der wie in einem
Lichtmeer gebadet erschien, theils von den Girandolen der einzelnen
Ränge und theils von dem großen, einem feurigen Ballon ähnlichen
Kronleuchter. Das war ein so ganz andres Bild, als er es bei seinen
wenigen Theaterbesuchen von der Loge aus gesehen hatte.

Da raunte der Regisseur ihm zu:

»Achtung, Sib!

-- Ja, ja, Herr....

-- Du weißt... Du gehst grade auf Deine Mama zu. Hüte Dich, nicht etwa
zu fallen.

-- Ich werde mich vorsehen.

-- Und strecke hübsch die Hand aus...

-- Ja; nicht wahr, so hier?«

Er zeigte dabei eine fest geschlossene Hand.

»Nein, Dummkopf!... Du machst ja eine Faust und mußt doch die Hand offen
hinhalten, wenn Du um eine Gabe bittest....

-- Ach ja, Herr....

-- Und vor allem, sprich kein Wort... keine Silbe!

-- Nein, Herr....«

Die Thür der Hütte öffnete sich und der Regisseur schob den Findling
genau beim Stichworte hinein.

Der kleine Knabe hatte sein Debüt in der theatralischen Laufbahn. O, wie
klopfte ihm das Herz!

Vom Zuschauerraume her tönte ein Gemurmel, ein Ausdruck teilnehmenden
Mitleids, während Sib, mit gesenkten Augen und ungewissen Schritten
herankommend, gegen die trauernde Dame die Hand ausstreckte. Die
Zuschauer glaubten herauszufinden, daß er solche Lumpen gewöhnt gewesen
war.

Man bereitete ihm einen »Empfang«, was den Kleinen noch mehr verwirrte.

Plötzlich erhebt sich die Herzogin, sie starrt ihn an, sinkt zurück und
öffnet die Arme.

Ein markdurchdringender Schrei nach allen Regeln der Kunst.

»Er ist's!... Er ist's!... Ich erkenne ihn wieder!... Das ist Sib,
mein... mein Kind!«

Darauf zieht sie ihn an sich, drückt ihn ans Herz, bedeckt ihn mit
Küssen... er läßt sie gewähren. Sie weint -- diesmal leibhaftige
Thränen -- und schluchzt:

»Mein Kind... mein Kind ist es, dieser kleine Unglückliche, der mich um
ein Almosen anfleht!«

Das ergreift den armen Sib.

»Ihr Kind, Miß Anna? fragte er trotz der Mahnung, kein Wort zu sprechen.

-- Schweig doch!« zischelt ihm die Künstlerin heimlich zu.

Dann fährt sie fort:

»Um mich zu strafen, hatte der Himmel mir ihn genommen, heute giebt er
ihn mir wieder!«

Unter diesen von Seufzern unterbrochenen Worten verzehrt sie Sib fast
mit ihren Küssen, überschüttet sie ihn fast mit ihren Thränen. Niemals,
nein, niemals war der kleine Knabe so stürmisch geherzt und gepreßt
worden, nie hatte er sich so mütterlich geliebt gefühlt.

Die Herzogin erhebt sich, als höre sie Geräusch von draußen.

»Sib, ruft sie, Du wirst nicht von mir gehen!

-- Gewiß nicht, Miß Anna!

-- So schweig doch nur!« ruft sie auf die Gefahr hin, von den Zuschauern
gehört zu werden.

Die Thür der Hütte wird hastig aufgestoßen. Zwei Männer erscheinen auf
der Schwelle.

Der erste ist der Gemahl der Trauernden, der andre ein Gerichtsdiener,
der jenen zur Unterstützung begleitet.

»Ergreifen Sie dieses Kind... es gehört mir!

-- Nein, das ist Dein Sohn nicht! antwortet die Herzogin, die Sib ein
Stück hinwegzieht.

-- Sie sind nicht mein Papa!« erklärt der kleine Junge laut.

Die Fingerspitzen der Miß Anna Walston haben sich so tief in seinen
Arm eingebohrt, daß ihm ein Schrei entfährt. Dieser Schrei paßt ja zur
Situation und compromittiert sie nicht. Jetzt ist es eine Mutter, die
ihn an sich preßt... keiner soll ihr das Kind entreißen können. Eine
Löwin vertheidigt ihr Junges....

Der kleine sich sträubende Löwe, der den Vorgang für Ernst nimmt,
wird zu widerstehen wissen. Der Herzog hat sich seiner bemächtigt; er
entschlüpft ihm und eilt auf die Herzogin zu.

»Ach, Miß Anna, ruft er weinend, warum haben Sie mir gesagt, daß sie
nicht meine Mama sind?

-- Wirst Du schweigen, Unglücksvogel!... Wirst Du endlich schweigen!
murmelt sie, während Herzog und Gerichtsdiener bei diesen unerwarteten
Zwischenreden ganz aus der Rolle fallen.

-- Ja, ja... antwortet Sib, Sie sind doch meine Mama... ich hatte es
Ihnen ja gesagt, Miß Anna... meine richtige Mama.«

Die Zuschauer begreifen allmählich, daß das nicht zum Stücke gehört; sie
kichern und lächeln, einige klatschen scherzweise Beifall. Eigentlich
hätten sie weinen sollen, denn es war rührend zu sehen, wie das Kind in
der Herzogin von Kendalle seine leibliche Mutter zu erkennen wähnte.

Die »Situation« blieb aber -- so oder so -- compromittiert. Man fing an
zu lachen, wo hätte man weinen sollen, und um den großen Auftritt war es
geschehen.

Miß Anna Walston erfaßte die ganze Lächerlichkeit der Lage. Ihre
vortrefflichen Collegen raunten ihr ironische Bemerkungen zu.

Außer sich vor Erregung ergriff sie eine blinde Wuth. Den kleinen
Dummkopf, der die Ursache all dieses Unheils war, hätte sie vernichten
mögen!... Da schwanden ihr die Kräfte, sie fiel auf die Bühne nieder
und der Vorhang senkte sich unter homerischem Gelächter der Zuschauer.

Noch in derselben Nacht verließ Miß Anna Walston, die man nach dem
Royal-George-Hôtel geschafft hatte, die Stadt in Begleitung der Elisa
Corbett. Sie verzichtete auf die für die folgende Woche angekündigten
Vorstellungen und entrichtete deshalb die übliche Conventionalstrafe.
Auf dem Theater in Limerick wollte sie nie wieder auftreten.

Um den kleinen Knaben hatte sie sich gar nicht weiter gekümmert. Sie
entledigte sich seiner wie eines Dinges, das ihr nicht mehr gefiel und
dessen Anblick ihr verhaßt war. Bei dem Frostschauer der Eigenliebe
erstarrt jede andre Neigung.

       *       *       *       *       *

Der Findling, der sich allein sah, nichts begriff, aber doch ahnte,
daß er ein großes Unglück angerichtet haben müsse, hatte sich unbemerkt
geflüchtet. Aufs Gradewohl durchirrte er die ganze Nacht die Straßen von
Limerick und verkroch sich endlich in eine Art großen Garten mit da und
dort verstreuten Häuschen und steinernen, von Kreuzen überragten
Tafeln. In der Mitte erhob sich ein gewaltiges Bauwerk, das an der vom
Mondschein nicht getroffenen Seite sehr düster aussah.

Dieser Garten war der Friedhof von Limerick -- eine jener englischen
Todtenstätten mit Buschwerk, blühenden Pflanzen, besandeten Wegen,
mit Rasenflächen und kleinen Springbrunnen, wodurch das Ganze zum
vielbesuchten Spaziergang wird. Die Tafelsteine waren Gräber, die
kleinen Häuser Grüfte, das große Bauwerk die Kathedrale der heiligen
Maria.

Hier hatte das Kind Zuflucht gefunden und verbrachte es die Nacht auf
einer Steinplatte im Schatten der Kirche, beim geringsten Geräusche
zitternd vor Furcht... daß der böse Mann, der Herzog von Kendalle, es
suchen könnte. Und nun war auch Miß Anna nicht zu seiner Vertheidigung
da! Man werde ihn, so meinte er, weit wegführen in ein unbekanntes Land,
wo er seine Mama nicht wiedersähe... und große Thränen perlten ihm aus
den Augen.

Mit Tagesanbruch hörte der Findling eine Stimme, die ihn anrief.

Unfern von ihm standen ein Mann und eine Frau, ein Farmer und dessen
Gattin. Beim Vorübergehen hatten sie den Kleinen bemerkt. Beide begaben
sich nach dem Bureau des öffentlichen Fuhrwesens, von wo aus ein Wagen
nach dem Süden der Grafschaft abgehen sollte.

»Was machst Du da, Kleiner?« fragte der Mann.

Der Knabe schluchzte, daß er kein Wort hervorbringen konnte.

»Nun, was hast Du denn da vor?« erklang jetzt die sanftere Stimme der
Frau.

Der Findling schwieg noch immer.

»Wer ist Dein Vater? fuhr sie fort.

-- Ich habe keinen Vater, antwortete er endlich.

-- Aber Deine Mutter?...

-- Ich habe keine mehr!«

Dabei streckte er die Arme gegen die Farmersfrau aus.

»Es ist ein verlassnes Kind,« sagte der Mann.

Hätte der Findling noch seine schöne Kleidung getragen, so würde der
Farmer ihn für ein verirrtes Kind und sich für verpflichtet gehalten
haben, es den Seinigen wieder zuzuführen. In den Lumpen Sibs aber konnte
es nur einer jener kleiner Unglücklichen sein, die niemand angehörten.

»So komme mit!« schloß der Farmer.

Dabei hob er ihn schon auf, legte ihn seiner Frau in die Arme und sagte
mit freundlicher Stimme:

»So ein Bübchen mehr im Hause, das merken wir auch nicht. Nicht wahr,
Martine?

-- Nein Martin!«

Und mit einem herzhaften Kusse löschte die gute Frau die Thränen des
kleinen Knaben.




VIII.

Die Farm von Kerwan.


Daß dem kleinen Burschen in der Provinz Ulster kein Glücksstern
geschienen hatte, war leicht genug zu erkennen, obgleich niemand
wußte, wie er seine erste Kindheit in irgend einem Dorfe der Grafschaft
zugebracht haben mochte.

Die Provinz Connaught war ihm auch nicht gnädig gewesen, weder als
er über die Landstraßen der Grafschaft Mayo unter der Fuchtel des
Puppenschaustellers hinwanderte, noch die Grafschaft Galway während der
zwei Jahre in der =Ragged-School=.

Nun hätte man wenigstens hoffen können, daß sein Elend in der Provinz
Munster, Dank der Laune einer Schauspielerin, ein Ende genommen hätte.
Nein... er war wieder verlassen worden, und jetzt sollte ihn der Zufall
tief nach Kerry hinein, an das Südwestende Irlands verschlagen. Diesmal
nahmen sich sehr wackre Leute seiner an... möchte er bei ihnen bleiben
können!

Im Nordosten der Grafschaft Kerry und nahe dem Flusse Cashen liegt die
Farm von Kerwan. In der Entfernung von einem Dutzend (englische)
Meilen liegt Tralee, der Hauptort, von wo, alter Ueberlieferung nach,
im sechsten Jahrhundert Saint-Brandon abgesegelt sein soll, um
Amerika lange vor Columbus zu entdecken. Hier laufen die verschiedenen
Schienenwege des mittleren Irland zusammen.

Das sehr unebene Gebiet enthält die höchsten Berge der Insel, wie die
Clanaraderry- und die Stacksberge. Zahlreiche Wasserläufe verbinden sich
mit dem Cashen und bedingen, im Verein mit vielen Sumpfstrecken, auch
eine große Unebenheit der Landstraßen. Dreißig Meilen gegen Westen
trifft man auf die tiefeingeschnittene Küste, wo sich die Flußmündung
des Shannon und die lange Bai von Kerry ausbreiten, deren vielgestaltige
Felswände von der Kohlensäure des Meerwassers benagt werden.

Jeder erinnert sich der Worte O'Connell's: »Irland den Irländern!« Im
folgenden wird sich zeigen, wie weit das wahr geworden ist.

Man zählt hier dreihunderttausend Farmen, die fremden Besitzern gehören.
Unter dieser Zahl umfassen fünfzigtausend mehr als vierundzwanzig Acres
(etwa zehn Hektar) und achttausend haben nur acht bis zwölf Acres.
Die übrigen sind alle kleiner. Daraus darf man aber nicht auf eine
weitgehende Zerstückelung des Eigenthums schließen. Im Gegentheil. Drei
dortige Großbesitze übersteigen hunderttausend Acres, z.  B. der von
Richard Borridge, der hundertsechzigtausend Acres mißt.

Doch was sind diese Complexe gegen die der Landlords von Schottland,
eines Grafen von Breadalbane, der vierhundertfünfunddreißigtausend Acres
sein eigen nennt, eines J. Matheson, der vierhundertsechstausend, eines
Herzogs von Sutherland, der gar zwölfhunderttausend Acres -- das Areal
eines ganzen Herzogthums -- besitzt!

Seit der Eroberung durch die Anglo-Normannen im Jahre 1100 ist die
»Schwesterinsel« streng feudal regiert worden und ist ihr Boden
Feudaleigenthum geblieben.

Der Herzog von Rockingham war jener Zeit einer der großen Landlords
der Grafschaft Kerry. Sein Besitzthum von hundertfünfzigtausend Acres
enthielt Getreideland, Wiesen, Wald und Teiche mit fünfzehnhundert
darüber verstreuten Farmen. Er war ein Fremder, einer derer, die die
Irländer mit Recht des Absentismus wegen anklagen. Die Folge dieses
Fernbleibens aber ist, daß das durch irischen Fleiß erworbene Geld zum
Nachtheil Irlands nach auswärts geht.

Das »Grüne Erin« bildet bekanntlich keinen Bestandtheil Großbritanniens,
das nur aus England und Schottland besteht. Der Herzog von Rockingham
war ein englischer Lord. Wie so viele andre, die neun Zehntel der Insel
besitzen, hatte er es noch nicht für der Mühe werth gehalten, sein
Landeigenthum zu besuchen, und so kannten ihn auch seine Pächter nicht.
Für eine gewisse jährliche Summe überließ er die Ausbeutung seines
Grundbesitzes einigen Generalpächtern oder »Middlemen«, die diesen in
kleinen Parcellen an die eigentlichen Landbauern weiter verpachteten. So
gehörte die Farm von Kerwan mit vielen andern eigentlich einem gewissen
John Eldon, einem Agenten des Herzogs von Rockingham.

Diese Farm von mittlerem Umfang enthält nur hundert Acres und dazu
besteht sie aus minderwerthigem, vom Oberlauf des Cashen benetztem
Culturlande, dem der Bauer nur mit emsiger Arbeit so viel entlocken
kann, wie er zur Zahlung des Pachtzinses braucht, vorzüglich, wenn
dieser sehr hoch, mit einem Pfund Sterling jährlich für den Acre,
angesetzt ist.

Das war der Fall bei der Farm von Kerwan, die der Landmann Mac Carthy
bearbeitete.

Es giebt wohl auch gute Grundherren in Irland; die Pächter haben es aber
nur mit den Middlemen, meist harten, unerbittlichen Leuten, zu thun. Die
Aristokratie, die sich in England und Schottland so liberal zeigt, tritt
in Irland dagegen sehr herrisch auf. Statt die Hand zu reichen, zerrt
sie an den Zügeln. Eine Katastrophe liegt immer in der Luft. Wer den Haß
säet, wird die Empörung ernten.

Martin Mac Carthy, einer der besten Farmer der ganzen Domäne, stand in
dem kräftigen Mannesalter von zweiundfünfzig Jahren. Fleißig, gewandt,
im Landbau wohlerfahren und unterstützt durch seine streng erzogenen
Kinder hatte er trotz aller Steuern und Abgaben, die das Budget eines
irischen Bauern belasten, doch noch eine kleine Summe zurücklegen
können.

Seine Frau hieß Martine, wie er Martin. Dieses überaus thätige Weib
besaß alle Eigenschaften einer guten Haushälterin. Sie arbeitete mit
ihren fünfzig Jahren noch, als ob sie deren erst zwanzig zählte. Im
Winter aber, wenn die Feldarbeit ruhte, sah man sie beim schnurrenden
Spinnrade vor dem Kamin sitzen, wenn keine häusliche Arbeit sie in
Anspruch nahm.

Die in guter Luft lebende, durch Thätigkeit im Freien abgehärtete
Familie Mac Carthy erfreute sich vortrefflicher Gesundheit und ruinierte
sich weder durch Arzneien noch durch Aerzte. Sie gehörte zu der
kräftigen Rasse irischer Landleute, die sich ebenso leicht in den
Prairien des amerikanischen Far-West acclimatisiert, wie in den Gebieten
Australiens oder Neuseelands.

Als Haupt der Familie galt, von allen geliebt und geehrt, die Mutter
Martins, eine Greisin von fünfundsiebzig Jahren, deren Mann früher die
Farm innehatte. »Großmutter« -- anders nannte man sie nicht -- hatte
keine andere Beschäftigung, als mit ihrer Schwiegertochter zu spinnen,
da sie, so weit dies an ihr lag, ihren Kindern möglichst wenig zur Last
fallen wollte.

Der älteste der Söhne, der siebenundzwanzigjährige, aber besser als sein
Vater unterrichtete Murdock, nahm lebhaftesten Antheil an den Fragen,
die ganz Irland unablässig bewegten, und alle fürchteten sehr, daß er
sich einmal in eine schlimme Geschichte einlassen könne. Er gehörte
zu den eifrigsten Anhängern des =home rule=, d. h. der Erkämpfung der
Autonomie des Landes, ohne freilich zu bedenken, daß das =home rule=
weit mehr auf politische, als auf sociale Reformen abzielt. Gerade der
letzteren bedarf aber Irland, da es noch unter der schweren Last der
Feudalherrschaft seufzt.

Murdock, ein kräftiger junger Mann von schweigsamem Charakter, hatte
unlängst die Tochter eines benachbarten Farmers geheiratet. Die von
der Familie Mac Carthy geliebte, vortreffliche junge Frau besaß jene
regelmäßige, stolze und ruhige Schönheit und die vornehme Haltung, die
man bei Irländerinnen der unteren Classen so häufig findet. Ihr Gesicht
wurde von großen blauen Augen belebt und lockig quoll das reiche blonde
Haar unter den Kopfbändern hervor. Kitty liebte ihren Gatten herzlich,
und Murdock, der sonst niemals lächelte, vergaß sich hierin zuweilen
doch, wenn er sie ansah, denn auch er bewahrte ihr die innigste
Zuneigung. Sie benützte ihren Einfluß auch, ihn zu mäßigen und
zurückzuhalten, wenn ein Sendbote der Nationalisten Propaganda im Lande
zu machen und die Leute zu überzeugen suchte, daß von einer Versöhnung
zwischen Landlords und Pächtern nie die Rede sein könne.

Selbstverständlich waren die Mac Carthy's gute Katholiken, es kann
also nicht auffallen, daß sie die Protestanten als ihre Feinde
betrachteten.[2]

Murdock besuchte eifrig alle solche Versammlungen und Kittys Herz
klopfte immer recht ängstlich, wenn sie ihn so nach Tralee oder einem
andern Orte in der Nachbarschaft gehen sah. Bei diesen Gelegenheiten
sprach er auch öffentlich mit der den Irländern angebornen Beredtsamkeit
und Kitty mußte ihn bei der Heimkehr immer erst zu beruhigen suchen,
wenn sie die Erregung noch in seinen Zügen las und er unter einem
gemurmelten Aufrufe zur agrarischen Erhebung wohl gar noch mit dem Fuße
stampfte.

»Mein guter Murdock, sagte sie dann bittend, wir müssen Geduld haben...
uns vorläufig ins Unabänderliche fügen...

-- Geduld! unterbrach er sie grollend, wenn Jahre dahingehen und nichts
sich bessert! Ergebung, wenn man thätige Leute wie unsre Großmutter
nach langem Leben voller Arbeit noch immer im Elend schmachten sieht!
Geduldig sein und sich fügen, arme Kitty, bedeutet, alles ruhig
hinnehmen, das Gefühl eignen Rechtes verlieren, sich unters Joch ducken
und das... das thu' ich niemals... niemals!«

Martin Mac Carthy hatte noch zwei andre Söhne, Pat oder Patrick, und Sim
oder Simeon, im Alter von fünfundzwanzig und von neunzehn Jahren.

Pat segelte meist als Matrose auf einem Handelsschiffe des angesehenen
Hauses Marcuart in Liverpool. Sim hatte, wie Murdock, die Farm niemals
verlassen, und ihr Vater fand an beiden wichtige Helfer für die
Feldarbeit und die Pflege der Thiere. Sim gehorchte ohne Widerspruch
seinem älteren Bruder, dessen Ueberlegenheit er neidlos anerkannte. Er
bezeugte ihm so viel Achtung, als ob jener das Haupt der Familie wäre.
Als letzter Sohn, als »Nesthäkchen« mit besondrer Liebe aufgezogen,
neigte er zu der harmlosen Lustigkeit, die allgemein im Charakter des
Irländers liegt. Er liebte es, zu scherzen, zu lachen und verbreitete
Sonnenschein in dem sonst etwas düstern Hause. Sehr muthwilliger Natur,
unterschied er sich auffallend von dem gesetzten, ernsthaften Wesen
seines Bruders Murdock.

Das war also die fleißige Familie, in deren Mitte der Findling durch
Zufall gekommen war. Seinem lebhaften Geiste konnte der Unterschied
zwischen dem erbärmlichen Leben in der Lumpenschule und dem gesunden
Aufenthalt in einer irländischen Farm nicht unbemerkt bleiben. Wohl
hatte unser Held mehrere Wochen behaglichen Wohlbefindens bei der
launenhaften Miß Anna Walston verlebt, dort aber nicht die wahre
herzliche Zuneigung gefunden, die das Leben am Theater überhaupt mehr
oder weniger am Aufkeimen zu hindern pflegt.

Die gesammten Baulichkeiten des Mac Carthyschen Pachtgutes beschränkten
sich nur auf das unbedingt notwendige. Viele Güter in den reichen
Grafschaften des Vereinigten Königreichs sind in ganz andrer und
luxuriöserer Weise ausgestattet. Uebrigens verleiht ja der Farmer erst
der Farm den Werth, und deren Umfang ist nicht von so entscheidender
Bedeutung, wenn sie nur einsichtig bewirthschaftet wird. Martin Mac
Carthy gehörte also nicht zu der begünstigteren Classe der »Yeomen«, die
kleine Bodeneigenthümer sind, sondern nur zu den zahlreichen Pächtern
des Herzogs von Rockingham, so zu sagen: zu den Hunderten von
landwirthschaftlichen Maschinen, die auf dem ausgedehnten Grundbesitz
der reichen Landlords in Thätigkeit sind.

Das Hauptgebäude, das aus Mauerwerk mit Strohdach bestand, enthielt nur
ein Erdgeschoß, worin die Großmutter, Martin und Martine Mac Carthy
und Murdock mit seiner Frau je ein Zimmerchen bewohnten. Dazu kam ein
größerer Raum mit weitem Kamin, der die Insassen des Hauses bei den
Mahlzeiten vereinigte. Darüber lag, zwischen Kornböden, eine von zwei
Fensterchen erhellte Mansarde, wo Sim und auch Pat, wenn dieser einmal
da war, Unterkunft fanden.

An der einen Seite der Rückwand des Wohnhauses folgten die Tenne,
die Scheuern und Schuppen zur Unterbringung der Acker- und
Wirthschaftsgeräthe; an der andern der Kuh- und der Schafstall, die
Milchkammer, der Schweinestall und der Geflügelhof.

Infolge nicht rechtzeitig vorgenommener Verbesserungen zeigte freilich
alles ein recht klägliches Aussehen. Da und dort verdeckten einzelne
Bretter verschiedener Herkunft, Thürflügel, überflüssige Fensterläden,
Planken von alten Schiffen, von deren Abbruch herrührende kleine Balken
oder Zinkblechstücke die Lücken und Löcher der Mauern, und auf dem
Strohdache lagen schwere Feldsteine, um dieses gegen den Anprall der
Stürme zu sichern.

Zwischen den drei Gebäudecomplexen dehnte sich der Hof mit zweiflügligem
Thorweg aus. Eine lebende, reich mit leuchtenden Fuchsien geschmückte
Hecke bildete dessen Abschluß. Im Innern des Hofes grünte ein Rasenplatz
mit üppigen Gräsern, auf dem sich die Hühner tummelten, und in dessen
Mitte glänzte eine kleine Wasserfläche, deren Rand Azaleen, goldgelbe
Margueriten und halb verwilderte Asphodelen zierten.

Auf den Strohdächern grünte und blühte es übrigens rings um die
Feldsteine nicht weniger als auf dem Rasen und der Hecke, vorzüglich
gediehen hier unzählige Fuchsien mit ihren vom Winde immer bewegten
Glöckchen. Selbst die zersprungenen Mauern des Wohnhauses entbehrten
des Pflanzenschmuckes nicht, denn diese verhüllte ein so starkstämmiges
Epheugerank, daß letzteres das Dach desselben allein getragen hätte.

Zwischen dem eigentlichen Ackerland und dem Pachthofe lag noch ein
Küchengarten, worin Martin den Hausbedarf an Gemüsen anbaute, vorzüglich
Kohl, Rüben und Kartoffeln, und das Gartenland umsäumte wieder ein Kranz
von Bäumen und Buschwerk aller Art.

Hier wucherten kräftige Stechpalmen mit ihren stachligen, leuchtend
grünen Blättern, die seltsam geformten Muscheln ähneln; dort erhoben
sich wild wachsende Taxusbäume, denen keine unnütze Scheere die Gestalt
von Weinflaschen oder Lampenträgern gegeben hatte. In Flintenschußweite
zur Linken stand ein Wald von Eschen, und die Esche bildet einen der
schönsten Bäume dieser Gegenden. Weiterhin mischen sich tiefgrüne Buchen
ein, stellenweise unterbrochen von der Purpurfarbe hoher Büsche, der
Ebereschen, die von ferne Weinstöcken gleichen, an deren Reben korallene
Trauben hingen. Kaum drei Meilen von hier erhebt sich schon der Erdboden
unter den letzten Ausläufern der Clanaraderrykette, mit harzreichem
Fichtenbestand, deren Zapfen an den Gaisblattranken zu hängen scheinen,
die sich überall durch das Geäst der Bäume schlingen.

Der Betrieb der Farm von Kerwan erfordert ziemlich verschiedene
Culturen, giebt im ganzen aber nur einen mittelmäßigen Ertrag. Die
Weizenfrucht, die in der Hauptsache zu Grütze vermahlen wird, zeichnet
sich weder durch Länge der Halme, noch durch Ergiebigkeit der Aehren
aus. Der Hafer ist mager und schwächlich, was hier um so schlimmer
erscheint, als das Hafermehl fortwährend verwendet wird. Besser gedeihen
noch Gerste und Roggen, welch letzterer den größten Theil des Brodes
liefert. Bei der Rauhigkeit des Klimas können aber auch diese
Feldfrüchte vor October oder November selten geerntet werden.

Unter den im Großen angebauten Gemüsen, wie den Rüben und dem
starkhäuptigen Kohl, nehmen die Kartoffeln den ersten Rang ein, die,
vorzüglich in den minder begünstigten Theilen Irlands, die eigentliche
Volksnahrung ausmachen. Man fragt sich wirklich, wovon die Landleute
wohl gelebt haben mögen, ehe Parmentier die werthvolle Knollenfrucht auf
der Insel einführte. Vielleicht hat die Kartoffel freilich die Bauern
etwas sorgloser gemacht, da diese auf die Ausbeute an solchen rechnen,
wodurch sie vor Hungersnoth geschützt bleiben, so lange nicht gar zu
ungünstige Verhältnisse eintreten.

Wenn die Erde die Thiere ernährt, so tragen diese auch wieder zur
Ernährung der Erde bei. Ohne sie ist kein Anbau möglich. Die einen
dienen zur Arbeit mit Pflug und Egge, die andern liefern Eier, Fleisch
und Milch, alle aber die nöthige Düngung für den Acker. Zur Farm von
Kerwan gehörten auch sechs Pferde, und doch reichten sie, als Zwei- oder
Dreigespann verwendet, kaum aus, die Pflugschaar durch den steinigen
Boden zu ziehen. Standen sie auch nicht verzeichnet im »Stud-book«, der
Adelsrolle der Pferdefamilien, so leisteten sie doch die besten Dienste
und begnügten sich mit trocknem Heidekraut, wenn's einmal an besserem
Futter mangelte. Ein Esel leistete ihnen Gesellschaft, und diesem konnte
es nimmer an Disteln fehlen, deren es hier in solchen Mengen giebt,
daß alle dahin zielenden Verordnungen die Vertilgung dieser wuchernden
Pflanze nicht erzwingen werden.

Unter dem Stallvieh gab es ein halbes Dutzend schöne, rothhaarige
Milchkühe und gegen hundert schwarzköpfige Schafe mit sehr weißer Wolle,
deren Unterhaltung im Winter, wo fußtiefer Schnee die Fluren bedeckt,
mit vielen Schwierigkeiten verknüpft ist. Weniger gilt das von den
zwanzig Ziegen, die der Farmer besaß und denen man es mehr selbst
überlassen konnte, sich Nahrung zu suchen. Gab es kein Gras, so fanden
sie noch immer Blätter, die auch der strengsten Kälte widerstanden.

Ein Dutzend Schweine barg ein besondrer Stall an der rechten Hofseite;
diese wurden für den eignen Bedarf gemästet. Der Farmer betrieb nämlich
die Aufzucht solcher nicht, obgleich von Limerick sehr viele Schinken
versendet werden, die denen von York an Güte gleichkommen und auch unter
dieser Marke im Handel sind.

Hühner, Gänse und Enten gab es so viel, daß noch Eier nach dem Markte
von Tralee geliefert werden konnten, Truthühner und Haustauben aber
nicht, und diese findet man in den Bauernhöfen Irlands überhaupt nur
selten.

Auch eines Hundes müssen wir gedenken, eines schottischen Terriers, der
zur Bewachung der Schafheerde diente. Einen Jagdhund gab es hier nicht,
trotz des Wildreichthums der Gegend. Die Jagd ist ja nur ein Vergnügen
der Landlords. Der sehr hohe Preis für den Jagdschein, der der
britischen Staatscasse zufällt, und die Taxe für Berechtigung zum Halten
eines Jagdhundes, verbieten sie dem kleinen Manne schon allein.

Das war das Pachtgut von Kerwan, das ziemlich isoliert innerhalb einer
Schleife des Cashenflusses und fünf Meilen von der Parochie Silton
entfernt lag. In der Grafschaft gab es gewiß noch schlechteren Boden,
leichtes, kieselreiches Land, das keine Düngung festhält und wo der
Pachtschilling nicht einmal eine Krone (noch nicht fünf Mark) für den
Acre beträgt; der Grund und Boden Martin Mac Carthy's war aber auch
höchstens von mittlerer Güte.

Jenseits des angebauten Gebietes dehnten sich unfruchtbare, sumpfige
Ebenen aus, da und dort bedeckt mit Stechginster oder mit wilden Rosen,
zwischen denen wucherndes Haidekraut blühte. Ueber den Fluren flatterten
in dichten Schwärmen Krähen umher, die nach den eingesäeten Körnern
suchten, oder Völker von großschnäbligen Sperlingen, die die
neugebildeten Getreidekörner, zum argen Schaden für die Pächter
auspicken.

Noch weiter hinaus stiegen stille Wälder von Birken und Lärchenbäumen
auf, die in den steilen Abhängen der Berge wurzelten und die von den
Winterstürmen, welche durch das schmale Thal des Cashen jagen, oft mit
unheimlicher Gewalt geschüttelt und zerzaust werden.

Im Ganzen bildet diese Grafschaft Kerry ein merkwürdiges Land, das die
Aufmerksamkeit der Touristen mit seinen Amphitheatern bewaldeter
Höhen, seinen überraschenden Fernsichten, die durch die hyperboräischen
Nebeldünste eher verfeinert erscheinen, entschieden mehr verdiente, als
bisher.

Ein hartes, schlimmes Land ist es nur für die, die es bewohnen, eine
knauserische Stiefmutter für die, die es bebauen.

Doch wenn nur die Ernte an Kartoffeln, der wirklichen Brodfrucht der
Insel, in Kerry und den andern Grafschaften nicht versagt. Wenn das
aber auf der Million dem Knollenbau eingeräumten Acres eintrifft, dann
bedeutet es den Hunger mit allen seinen Schrecken.[3]

Wenn der fromme irische Bauer sein =God save the Queen= gesungen hat,
dann sollte er es wirklich vervollständigen durch ein:

      »=God save the potatoes!=«




IX.

Die Farm von Kerwan. (Fortsetzung.)


Am 20. October, nachmittags gegen drei Uhr, erschollen auf der nach der
Farm von Kerwan führenden Straße laute Jubelrufe.

»Da kommt der Vater!

-- Da ist die Mutter!

-- Nun sind sie ja beide zurück!«

Kitty und Sim waren es, die Martin und Martine Mac Carthy schon von
weither begrüßten.

»Guten Tag, Kinder! sagte Martin.

-- Guten Tag, meine Söhne!« rief Martine, die in das Wörtchen »meine«
ihren ganzen mütterlichen Stolz legte.

Der Farmer und seine Gattin hatten Limerick heute Morgen frühzeitig
verlassen. So einige dreißig (englische) Meilen bei schon recht kühlem
Herbstwind zurückzulegen, hat schon etwas auf sich, zumal wenn das
mittelst eines »Jaunting-car« geschieht.

Das Gefährte wird »Car« genannt, weil es ein Wagen ist, und die
nähere Bezeichnung durch das Beiwort »Jaunting« erhält es, weil seine
Passagiere, Rücken gegen Rücken, auf zwei in der Längenachse des
Fuhrwerks angebrachten Bänken sitzen. Man braucht sich nur die Ruhebänke
in städtischen Parkanlagen verdoppelt und auf ein paar Rädern befestigt
vorzustellen, wozu man noch je ein Brett als Fußstütze für die zu
befördernden Personen zu denken hat, die sich an die Gepäckstücke hinter
ihnen anlehnen, so hat man den in Irland am meisten gebräuchlichen
Wagen. Wenn er auch nicht sehr vortheilhaft erscheint, weil man davon
nur nach je einer Seite Aussicht hat, und nicht sehr comfortabel, weil
er ganz ohne Dach ist, so rollt er wenigstens ziemlich flott dahin
und sein Kutscher entwickelt meist ebensoviel Geschicklichkeit wie
Schnelligkeit.

So konnte es nicht wundernehmen, daß Martin und Martine Mac Carthy, die
gegen sieben Uhr früh von Limerick abgefahren waren, gegen drei Uhr in
Sicht des Pachthofs eintrafen. Sie befanden sich auf dem Jaunting-car
auch nicht allein, denn dieser brachte wohl noch zehn andre Personen
mit. Nachdem die Farmersleute abgestiegen waren, rollte das Gefährt in
schnellem Trabe nach dem Hauptorte der Grafschaft Kerry weiter.

Eben trat Murdock aus seinem an der Hofecke gelegenen Zimmer, wo die
Nebengebäude der rechten Seite an das Wohnhaus stießen.

»Ihr habt eine glückliche Fahrt gehabt, Väterchen? fragte die junge
Frau, nachdem sie Martine umarmt hatte.

-- Eine sehr gute Fahrt, Kitty.

-- Fandet Ihr auf dem Markte in Limerick die gewünschten Kohlpflanzen?
erkundigte sich Murdock.

-- Ja, mein Sohn; morgen sollen sie uns zugeschickt werden.

-- Und auch den Rübensamen?...

-- Gewiß; sogar von bester Sorte.

-- Das ist gut, Vater.

-- O, wir fanden auch noch eine andre Art Samen....

-- Welche denn?

-- Ein... Babysamenkorn, das uns von bester Sorte erschien.«

Murdock und sein Bruder machten große Augen, als sie das Kind bemerkten,
das ihre Mutter in den Armen hielt.

»Da habt Ihr ein Knäblein, sagte sie, in Erwartung, daß Kitty uns einen
kleinen Kameraden dazu schenkt.

-- Er ist ja ganz erfroren, der Kleine! antwortete die junge Frau.

-- Ich hab' ihn aber während der Fahrt in meinen Tartan (eine Hülle von
großwürfeligem Wollenstoff) eingewickelt, so gut ich konnte, versicherte
die Farmersfrau.

-- Schnell, schnell, drängte Martin, wir wollen ihn vor dem Kamine
wieder warm machen und auch die Großmutter begrüßen, die darauf warten
wird.«

Kitty nahm den kleinen Knaben aus den Händen Martines, und bald war die
ganze Familie in dem großen Mittelzimmer versammelt, wo die Großmutter
auf einem alten gepolsterten Armstuhle saß.

Man zeigte ihr das Kind. Sie nahm es in die Arme und setzte sich's auf
die Knie.

Der Kleine ließ es sich gefallen. Seine Blicke wanderten von einem zum
andern. Er verstand nicht, was mit ihm vorging. Jedenfalls glich
das Heute nicht dem Gestern. War alles nur ein Traum? Er sah hübsche
Gesichter, junge und alte um sich. Seit seinem Erwachen hatte er nur
liebevolle Worte gehört. Die Fahrt auf dem schnell durch das Land
hineilenden Wagen war ihm eine Zerstreuung gewesen. Gute Luft und der
Morgenduft der Blumen und Büsche füllten seine Brust. Eine kräftige
Suppe vor der Abfahrt hatte ihn gestärkt und unterwegs hatte er, immer
an kleinen Kuchen aus der Tasche Martines nagend, erzählt, was er von
seinem Leben wußte, von dem Aufenthalt in der abgebrannten Lumpenschule,
von der Freundlichkeit Grips, dessen Name sehr oft über seine Lippen
kam, ferner von Miß Anna, die ihn ihren Sohn genannt hatte und doch gar
nicht seine Mutter war, weiter von einem sehr erzürnten Herrn, den sie
den Herzog nannten, dessen Namen er aber vergessen hatte und der ihn
mit wegnehmen wollte, endlich von seinem Verlassensein und wie er sich
allein auf dem Friedhofe von Limerick befunden habe. Martin Mac Carthy
und seine Frau verstanden von der ganzen Geschichte nicht viel, außer
daß er weder Eltern noch Angehörige hatte, und daß er ein verlassenes
kleines Geschöpf sei, das die Vorsehung ihrer treuen Sorge anvertraut
hatte.

Gerührt umarmte ihn die Großmutter und dann auch die andern, deren
Theilnahme für ihn erwachte.

»Ja, wie heißt er denn? fragte die Großmutter.

-- Er konnte uns keinen andern Namen als »Findling« angeben, antwortete
Martine.

-- Na, er braucht keinen andern, meinte Martin; wir rufen ihn ebenso,
wie er bis jetzt gerufen wurde.

-- Wenn er aber einmal groß wird?... warf Sim ein.

-- So bleibt er nach wie vor der Findling!« erklärte die Großmutter, die
ihn mit einem herzhaften Kusse taufte.

Das war also der Empfang, den unser Held beim Eintreffen auf dem
Pachthofe fand. Man nahm ihm die Lumpen ab, die er für die Rolle des Sib
angelegt bekommen hatte. Dafür erhielt er die letzten Kleidungsstücke
Sims, die dieser, als er im gleichen Alter war, getragen hatte und die
zwar nicht neu, aber doch reinlich und warm waren. Seine Wollenjacke
ließ man ihm, da er auf diese, obgleich sie allmählich zu eng wurde,
viel zu halten schien.

Dann aß er, auf hohem Stuhle sitzend, mit der Familie und fragte
sich, ob das alles nicht auch bald verschwinden würde. Doch nein, die
Hafersuppe, die in reichlich vollem Teller vor ihm stand, verschwand
nicht, auch nicht das Stück Speck mit Kohl, wovon er ein gutes Theil
erhielt, ebensowenig der Eierkuchen, der unter allen redlich vertheilt
wurde und den man hier mit einem Schluck ausgezeichneten »Potheens«
begoß, welchen der Farmer aus der eignen Gerste durch Gährung
herstellte.

Das war ein Schmaus, zumal da das Knäblein nur fröhliche Gesichter sah,
außer vielleicht an dem ältesten Bruder, der immer ernst, ja fast etwas
traurig erschien. Da wurden ihm die Augen feucht und Thränen glitten
seinen Wangen hinab.

»Was fehlt Dir, Findling? fragte Kitty.

-- Ei, warum denn weinen! setzte die Großmutter hinzu. Hier werden Dir
alle gut sein!

-- Und ich besorge Dir auch Spielzeug, versprach Sim.

-- Ich weine ja nicht, antwortete er. Das sind keine Thränen!«

Wirklich war es nur das Herz, das dem armen Kleinen überlief.

»Nun, heute mag's gut sein, erklärte Martin, doch gar nicht zürnenden
Tones, ich sage Dir aber, mein Junge, daß es hier verboten ist, zu
weinen.

-- Ich werd' es auch nicht mehr thun!« versicherte er, in die
ausgestreckten Arme der Großmutter hinübergleitend.

Martin und Martine bedurften der Ruhe. Auf der Farm legte man sich im
allgemeinen zeitig nieder und stand sehr früh des Morgens auf.

»Wo werden wir das Kind denn unterbringen? fragte der Farmer.

-- In meiner Stube, meldete sich Sim; ich trete ihm, wie einem kleinen
Bruder, die Hälfte meines Bettes ab.

-- Nein, Kinder, erklärte die Großmutter. Laßt ihn bei mir schlafen, er
wird mich nicht belästigen. Da kann ich ihn schlummern sehen, und das
wird mir eine Freude sein.«

Ein Wunsch der Großmutter fand nie auch nur einen Schatten von
Widerspruch. Neben deren Bett wurde also, wie sie es verlangt hatte,
eine Lagerstatt hergerichtet und der kleine Knabe sogleich hineingelegt.

Weißes Bettzeug und eine gute Decke hatte er schon kennen gelernt in
den wenigen Wochen, wo er im Royal-George-Hôtel im Zimmer der Miß Anna
Walston wohnte. Die Zärtlichkeiten der Schauspielerin wogen aber die
dieser achtbaren Familie nicht auf. Gewiß bemerkte er darin schon
einigen Unterschied, vorzüglich als ihm die Großmutter beim Niederlegen
einen herzlichen Kuß gab.

»Ach, ich danke... ich danke!« murmelte er.

Das war heute sein einziges Nachtgebet und jedenfalls kannte er auch
kein andres.

Man stand jetzt im Anfang der kalten Jahreszeit. Die Ernte war eben
hereingebracht. Außerhalb des Pachthofes gab es wenig oder nichts zu
thun. In diesen rauhen Gegenden findet die Einsaat des Korns, der Gerste
und des Hafers nicht mit beginnendem Winter statt, weil dessen Länge
und Strenge sie wieder vernichten könnte. Das ist Sache der Erfahrung.
Martin Mac Carthy pflegte hier den März und sogar den April abzuwarten,
ehe er mit der sorgfältig gewählten Saat begann. Dabei hatte er sich
bisher gut gestanden. Furchen in einem Boden zu ziehen, der bis auf
mehrere Fuß Tiefe friert, das wäre eine ebenso harte wie unnütze Arbeit
gewesen; da hätte er die Samenkörner auch auf einen sandigen Strand oder
auf die Felsen der Küste verstreuen können.

Immerhin fehlte es im Pachthofe nicht an Arbeit. Galt es doch die
Vorräthe an Gerste und Hafer auszudreschen und an Geräthen auszubessern,
was schadhaft geworden war. Der Findling konnte sich schon am folgenden
Tage von der hier herrschenden Geschäftigkeit überzeugen und versuchte
auch vom frühen Morgen an selbst sich nützlich zu machen. So begab er
sich nach den Viehställen. Jetzt nahe am Ende des sechsten Lebensjahres,
mußte er doch wenigstens im Stande sein, Gänse oder Kühe, ja auch Schafe
zu hüten, wenn er einen guten Hund zur Seite hatte.

Beim Frühstück und vor einer Tasse warmer Milch sitzend, bot er sich zu
einer solchen Dienstleistung an.

»Schön, mein Junge, antwortete Martin, Du willst arbeiten. Recht so. Man
muß sich sein Brod verdienen....

-- Und ich werd' es mir verdienen, Herr Martin, versicherte er.

-- Er ist ja noch gar so jung, bemerkte die Großmutter.

-- Das thut nichts, Madame....

-- Ei was, nenne mich Großmutter!

-- Nun gut... das thut nichts, Großmutter. Ich will so gern
arbeiten....

-- Und wirst auch hübsch thätig sein, fiel Murdock ein, den ein so
entschlossener Charakter bei einem bisher vom Unglück verfolgten Kinde
in Erstaunen setzte.

-- Ich danke, Herr Murdock!

-- Ich werde Dir lehren, die Pferde zu besorgen, fuhr Murdock fort, und
auch darauf zu reiten, wenn Du keine Angst hast....

-- O, so gern! jubelte der Knabe.

-- Und ich, ich lehre Dir die Kühe zu pflegen, ließ Martine sich
vernehmen, und sie zu melken, wenn Du Dich nicht vor ihren Hörnern
fürchtest.

-- Nein, gar nicht, Frau Martine!

-- Ich zeige Dir dann, fiel Sim ein, wie man auf dem Felde die Schafe
hütet....

-- Ich freue mich schon darauf!

-- Kannst Du lesen? fragte der Farmer.

-- Ein wenig, und auch ein bischen große Buchstaben schreiben.

-- Und rechnen?

-- Ja... ich kann bis hundert zählen, Herr Martin.

-- Na, sagte Kitty lächelnd, ich werde Dir bis tausend zählen und auch
kleine Buchstaben schreiben lehren.

-- Ich danke, liebe Frau Kitty!«

Das Kind war thatsächlich zu allem bereit, was man ihm vorschlug. Der
Kleine wollte sich offenbar dankbar beweisen für die Wohlthaten, die
er bei den wackern Leuten schon genoß und noch zu genießen hoffte. Der
kleine Diener der Farm zu werden, dahin strebte zunächst sein Ehrgeiz.
Ein Zeugniß für den von Natur ernsten Sinn des Knaben lieferte aber die
Antwort, die er dem Farmer gab, als dieser ihn lachend fragte:

»Ei, Findling, Du wirst uns ja ein schätzbarer Helfer sein!... Die
Pferde, die Kühe, die Schafe... ja, wenn Du alles besorgst, bleibt ja
für uns gar nichts zu thun übrig. Wie viel verlangst Du denn Lohn?

-- Lohn?...

-- Nun ja; Du wirst doch nicht ganz für nichts und wieder nichts
arbeiten wollen?

-- Nein, das nicht, Herr Martin.

-- Wie? rief Martine verwundert, außer der Wohnung, Nahrung und
Bekleidung verlangt er auch noch Bezahlung....

-- Ja, Frau Martine!«

Alle sahen den Knaben an; es schien ihnen, als ob er etwas ganz
ungeheuerliches ausgesprochen hätte.

Murdock, der ihn beobachtet hatte, bemerkte aber:

»Laßt ihn doch sich erst erklären!

-- Freilich, meinte die Großmutter. Sag' uns frei heraus, was Du
verdienen willst. Baares Geld?...«

Der kleine Junge schüttelte den Kopf.

»Nun... vielleicht eine Krone für den Tag? sagte Kitty.

-- Ach nein, Frau Kitty.

-- Oder monatlich so viel?... fuhr die Pächtersfrau fort.

-- Frau Martine!...

-- Also wohl jährlich? meinte Sim, laut auflachend. Eine ganze Krone
Jahreslohn....

-- Nun, was willst Du denn, lieber Junge? begann Murdock wieder. Ich
begreife, daß Du Dir Deinen Lebensunterhalt verdienen willst, ganz
wie wir. So wenig man auch empfängt, es sammelt sich endlich doch. Was
willst Du also?... Einen Penny... einen Copper täglich?...

-- Nein, Herr Murdock!

-- So erkläre Dich doch!

-- Nun, Herr Martin, Sie geben mir jeden Abend einen Kieselstein...

-- Was? Einen Kiesel? rief Sim überrascht. Willst Du Schätze in Kieseln
sammeln?...

-- Nein... doch es wird mir Vergnügen machen, und nach Jahren einmal,
wenn ich groß bin und Sie mit mir zufrieden waren...

-- Richtig, Findling, fiel Martin ein, da vertauschen wir Deine
Kieselsteine mit Pence oder Schillingen!«

Alle lobten den Kleinen wegen seiner guten Idee, und noch an demselben
Abend gab ihm Martin einen Kiesel aus dem Bette des Cashen, der an
solchen unerschöpflich war. Der Kleine aber legte ihn in einen alten
Steinguttopf, den die Großmutter ihm als Sparbüchse zugewiesen hatte.

»Ein sonderbares Kind!« sagte Murdock zu seinem Vater.

Gewiß, doch dessen gute Natur hatte keinen Schaden erlitten, weder durch
die herzlose Behandlung Thornpipe's, noch durch die schlechten Beispiele
in der Lumpenschule. Als die Pächterfamilie ihn im Laufe einiger Wochen
näher kennen lernte, traten seine natürlichen Eigenschaften nur noch
mehr zutage. Ihm fehlte nicht einmal die Heiterkeit, der Grundzug
des Nationalcharakters, den man in Irland auch bei den ärmsten Leuten
ausgeprägt findet. Dann gehörte er auch nicht zu dem Schlage von Jungen,
die den ganzen Tag lang nur herumlungern, deren Augen hierhin und dahin
gehen, da sie durch jede Fliege, jeden Schmetterling abgelenkt werden.
Immer sah man ihn überlegt, stets suchte er den Sachen auf den Grund zu
gehen und sich durch Befragung andrer zu unterrichten. Seinen Blicken
entging auch nicht das geringste. Er hob jede Stecknadel ebenso auf,
wie er einen Schilling aufgehoben hätte. Seine Kleidung hielt er stets
reinlich und alles in musterhafter Ordnung. Der Sinn für diese war ihm
angeboren. Er antwortete höflich, wenn man ihn fragte, und ließ sich
jede erhaltene Antwort erklären, wenn er sie nicht ganz verstanden
hatte. Gleichzeitig machte er im Schreiben sichtliche Fortschritte. Das
Rechnen schien ihm sehr leicht zu fallen und dabei gehörte er nicht zu
den frühreifen Wunderkindern, die später so oft nicht halten, was sie
versprachen; er brachte aber Berechnungen im Kopfe fertig, bei denen
viele andre zur Feder gegriffen hätten. Zu seinem wahrhaften Erstaunen
erkannte Murdock auch, daß der Kleine sich bei allen Handlungen nur von
seiner hochentwickelten Vernunft leiten ließ.

Dank den Lehren der Großmutter eignete er sich auch schnell die Gebote
der Religion an, wie sie die katholische Lehre vorschreibt und die alle
tief im Herzen jedes Irländers wurzeln. Jeden Tag verrichtete er sein
Morgen- und sein Abendgebet mit aufrichtiger Innigkeit.

Der Winter verstrich -- ein sehr kalter Winter mit vielen Stürmen, die
oft erschreckend durch das Thal des Cashen brausten. Oft fürchtete man,
daß die Strohdächer abgerissen oder daß die Lehmwände nicht Stand halten
würden. Von dem Middleman John Eldon Reparaturen zu verlangen, wäre ganz
nutzlos gewesen. Martin Mac Carthy und seine Kinder mußten sich eben
selbst zu helfen suchen. Neben dem Ausdreschen des Getreides nahm
sie das am meisten in Anspruch: hier war ein Stück Strohdach wieder
herzustellen, dort eine Mauer zu dichten und an vielen Stellen die
Einfriedigung zu stützen.

Inzwischen arbeiteten die Frauen in verschiedener Weise; die Großmutter
spann fleißig in der Nähe des Kamins, Martine und Kitty besorgten die
Ställe und den Geflügelhof, wobei sie der Findling nach Möglichkeit
unterstützte. Er achtete genau auf alles, was den Betrieb der
Wirthschaft anging. Zu jung, um schon mit Pferden umzugehen, hat er
mit einem grauen Langohr, einem gutmüthigen Thiere, fast Freundschaft
geschlossen, die dieser ihm erwiderte. Er wollte, daß sein Esel ebenso
sauber aussähe, wie er selbst, was ihm Martines besondre Anerkennung
einbrachte. Bei den Schweinen wäre das freilich ein vergebliches Bemühen
gewesen, so daß er darauf von vornherein verzichtete. Die Zahl der
Schafe hatte er, nach sorgfältiger Feststellung derselben -- mit 103 --
in ein altes von Kitty erhaltenes Notizbuch eingetragen. Seine Neigung
für eine solche Buchführung trat immer mehr hervor, und man hätte
glauben können, daß ihm O'Bodkins in der =Ragged-School= diese übererbt
habe.

Seine Peinlichkeit darin trat besonders hervor, als Martine eines Tags
einige von den für den Winter aufbewahrten Eiern holen wollte.

Die Pächterin nahm etwa zwölf ohne Wahl heraus, als der Findling ihr
zurief:

»Nicht diese, Frau Martine?

-- Diese nicht?... Warum denn nicht?

-- Weil dadurch die gehörige Ordnung gestört würde.

-- Welche Ordnung?... Sind denn diese Hühnereier einander nicht ganz
gleich?

-- Gewiß nicht. Sie haben das achtundvierzigste genommen, wo Sie beim
siebenunddreißigsten hätten anfangen sollen. Sehen Sie nur hin.«

Wirklich entdeckte Martine da, daß jedes Ei eine Nummer auf der Schale
trug, eine Nummer, die der kleine Knabe mit Tinte darauf geschrieben
hatte. Da die Farmersfrau zwölf Eier haben wollte, mußte sie sie
der Reihe nach entnehmen, d. h. vom siebenunddreißigsten bis mit dem
achtundvierzigsten, nicht aber die Nummern achtundvierzig bis mit
neunundfünfzig. Das that sie denn auch, nachdem sie das Knäblein für
seinen Ordnungssinn belobt hatte.

Als sie die Sache beim Frühstück erwähnte, schlossen sich alle diesem
Lobspruche an und Murdock fragte:

»Findling, hast Du denn auch die Hennen und die Küchlein im Hühnerstalle
gezählt?

-- O, gewiß!«

Damit zog er sein Notizbuch heraus.

»Es sind dreiundvierzig Hühner und neunundsechzig Küchlein darin.«

Darauf konnte sich Sim nicht enthalten zu bemerken:

»Du solltest auch zählen, wie viele Haferkörner in jedem Scheffel
stecken....

-- Scherzt darüber nicht! fiel Martin Mac Carthy ein. Das beweist, daß
er Ordnung hält, und Ordnung im Kleinen bedeutet erst recht auch Ordnung
im Großen und im ganzen Leben.«

Dann wendete er sich an das Kind:

»Und Deine Kiesel, fragte er, die Steine, die ich Dir jeden Abend
gebe?...

-- Die liegen in der Kruke, Herr Martin; ich habe schon
siebenundfünfzig.

-- O, sagte die Großmutter lächelnd, das wären ja für ebenso viele Tage
bereits siebenundfünfzig Pence, den Stein einen Penny gerechnet.

-- He, Kleiner, scherzte Sim, für das Geld könntest Du Dir aber eine
Menge Kuchen kaufen.

-- Kuchen, Sim?... Ach nein, da würd' ich schöne Schreibhefte
vorziehen!«

Das Ende des Jahres nahte heran. Auf den stürmischen November folgte
eine sehr harte Kälte. Eine dichte Lage gefrorenen Schnees bedeckte
die Erde, und für den Knaben war es ein entzückendes Bild, die Bäume im
Schmuck des Reifs und da und dort mit glitzernden Eiszapfen zu
sehen. Auf den Scheiben der Fenster schlug sich die Feuchtigkeit in
formenreichen Krystallen nieder, die hübsche Zeichnungen bildeten. Dazu
war der Fluß ganz zugefroren und auf ihm lagerten übereinander gethürmt
massige Schollen. Diese Winterbilder waren für ihn zwar nichts neues,
denn er hatte sie auf den Landstraßen von Galway bis Claddagh wiederholt
gesehen. Zu jener traurigen Zeit trug er aber kaum etwas auf dem Leibe
und watete mit nackten Füßen durch den Schnee. Da thränten ihm die Augen
und seine Hände wurden ihm rissig. Und wenn er dann in die Lumpenschule
zurückkam, gab's für ihn kein Plätzchen am Ofen.

Wie glücklich fühlte er sich dagegen jetzt. Wie zufrieden verbrachte
er seine Tage bei diesen einfachen Leuten, die ihn aber liebten! Fast
schien es, als ob deren Zuneigung ihn noch mehr erwärmte, als seine
Kleider, die ihn vor der eisigen Zugluft schützten, als die gesunde
Nahrung, die auf den Tisch kam, mehr als die lodernden Flammen im Kamin.
Jetzt, wo er sich schon etwas nützlich machte, fühlte er sich wie zum
Hause gehörig. Hier hatte er eine Großmutter, eine Mutter, Brüder,
Eltern.... Bei ihnen, so dachte er, wollte er sein ganzes Leben
verbringen. Hier wollte er sich seinen Unterhalt verdienen, das war und
blieb sein einziger Gedanke.

Wie freute er sich, zum ersten Male an dem Feste theilzunehmen, das im
irischen Kirchenjahre fast als das heiligste gefeiert wird.

Es war der 25. December, Weihnachten, die Christmas. Der Findling wußte
schon, welchem historischen Ereignisse die Feier galt, die alle
Christen an diesem Tage veranstalten. Unbekannt war ihm aber, daß man im
Vereinigten Königreich damit auch ein schönes Familienfest verband. Für
ihn mußte das also eine Ueberraschung werden. Er bemerkte wohl am Morgen
ungewöhnliche Vorbereitungen. Da die Großmutter, Martine und Kitty
dieselben jedoch mit vollständiger Heimlichkeit betrieben, hütete er
sich wohl, sie darüber zu fragen.

Jedenfalls wurde er veranlaßt, die besten Kleider anzulegen, was Martin
Mac Carthy und seine Söhne, die Großmutter, deren Tochter und Kitty
schon sehr frühzeitig gethan hatten, um nach der Kirche in Silton zu
fahren. Sie behielten den Staat auch den ganzen Tag über an. Dazu kam,
daß das Mittagsessen heute für zwei Stunden später angesetzt und es fast
schon Nacht war, als der Tisch im großen Zimmer mit einem Reichthum an
Licht, der geradezu blendend wirkte, hergerichtet wurde. Ferner gab es
ganz besonders ausgewählte Speisen und deren gar noch drei oder vier
Gerichte mehr als gewöhnlich. Hierzu wurde schäumendes Bier aufgetragen
und ein Ungeheuer von Kuchen, den Martine und Kitty nach einem schon
sehr lange Zeit in der Familie aufbewahrten Recepte hergestellt hatten.

Daß tüchtig gegessen und getrunken wurde, versteht sich ja von selbst.
Alle waren höchst aufgeräumt. Selbst Murdock ließ sich weit mehr gehen,
als er das sonst zu thun pflegte. Wenn die andern laut auflachten,
lächelte er freilich nur, und ein Lächeln von ihm glich einem
Sonnenstrahl im Nebel.

Am meisten freute sich der Findling über den auf dem Tische stehenden
Christbaum, eine Tanne mit Bänderschmuck und mit Lichtsternen, die
zwischen den Zweigen funkelten.

Da sagte die Großmutter zu ihm:

»Sieh nur auch unter die Zweige, Kleiner; ich glaube, da findet sich
noch etwas für Dich!«

Der Findling ließ sich darum nicht bitten; doch wie beglückt fühlte er
sich, wie rötheten sich seine Wangen vor Vergnügen, als er unter
dem Baume ein schönes irländisches Messer mit an einem Ledergürtel
befestigter Tragkette entdeckte.

Das war das erste Weihnachtsgeschenk, das er je erhalten hatte, und wie
stolz fühlte er sich, als Sim ihm half, den Ledergurt um die Hüften zu
schnallen.

»Ach, herzinnigen Dank, Großmutter, herzlichen Dank allen... allen!«
rief er jubelnd, während er von einem zum andern ging.




X.

Was sich in Donegal zugetragen hatte.


Wir dürfen jetzt nicht unerwähnt lassen, daß dem Farmer Mac Carthy der
Gedanke gekommen war, wegen des Civilverhältnisses seines Adoptivkindes
Nachforschungen anzustellen. Bekannt war dessen Lebensgeschichte ja nur
seit dem Tage, wo gute Menschen den Knaben der schlechten Behandlung des
Puppenschaustellers entzogen. Bezüglich seiner früheren Existenz hatte
der Kleine, wie wir wissen, eine unklare Erinnerung davon bewahrt,
daß er bei einer recht bösen Frau, zugleich mit einem oder auch zwei
Mädchen, in einem Dörfchen des inneren Donegal gewohnt hatte. Nach
dieser Seite hin mußte Martin seine Nachforschungen also richten.

Dadurch erhielt er aber nur folgende Aufschlüsse: Im Armenhause von
Donegal fand sich die Spur eines achtzehnmonatlichen Kindes, das unter
der Bezeichnung »Der Findling« aufgenommen und später in ein Dorf der
Grafschaft an eine Frau abgegeben worden war, die sich mit dem Aufziehen
kleiner Kinder gegen Entgelt befaßte.

Wir wollen diese Nachricht durch weitere uns zugegangene Aufklärungen
vervollständigen. Diese ergeben freilich nur die ganz gewöhnliche
Geschichte kleiner, unglücklicher Wesen, die der öffentlichen Fürsorge
anheimgefallen sind.

Donegal, mit einer Bevölkerung von zweimalhunderttausend Seelen, ist
vielleicht die allerärmste Grafschaft in der Provinz Ulster, ja in ganz
Irland. Vor einigen Jahren gab es dort kaum zwei Matratzen und acht
Strohsäcke auf je viertausend Einwohner. In jenen unfruchtbaren
nördlichen Gebieten der Insel fehlt es nicht an willigen Armen für den
Landbau, wohl aber an anbaufähigem Boden. Der ausdauernste Arbeiter
erschöpft sich dort vergebens. Im Innern sieht man nichts als dürre
Thalmulden, öde Schluchten, hügeliges Land, Steinwüsten, sandige Dünen,
gähnende Torfmoore, wie sumpfige Strecken, überragt von steilen Höhen,
wie den Glendowan- und den Derryveaghbergen, kurz ein »zerbrochenes
Land«, wie die Engländer sagen. An der Küste finden sich Baien und
Fjorde, Buchten und Einschnitte, die ebenso viele Aushöhlungen bilden,
worin die Winde vom hohen Meere sich fangen.... riesige Granitorgeln,
die der Ocean mit vollen Lungen anbläst. Gerade Donegal ist den von
Amerika herüberbrausenden Stürmen, die unterwegs noch locale Wirbel
mit sich fortreißen, in erster Linie ausgesetzt. Es ist wirklich eine
Eisenküste nothwendig, um dem Anprall der wüthenden Nordwestwinde zu
widerstehen.

Vorzüglich die Bai von Donegal, an der der Fischerhafen gleichen Namens
liegt und die gleich einem Haifischrachen aus dem Lande geschnitten ist,
leidet unter diesen von Seenebeln geschwängerten Luftströmungen. Durch
das im Hintergrunde der Bai gelegene Städtchen fegt immer eine scharfe
Brise. Die umliegende Hügelwand vermag die Schneestürme nicht zu
brechen, und diese haben noch nichts von ihrer Wuth verloren, wenn sie
das Dorf Rindok, sieben Meilen von Donegal, erreichen.

Ein Dorf?... Nein. Kaum zehn längs einer engen Thalschlucht verstreute
Hütten, zwischen diesen ein Wasserlauf, der im Sommer ein dürftiger
Wasserfaden, im Winter oft ein brausender Strom ist. Von Donegal nach
Rindok giebt es keinen gebahnten Weg, nur einige Pfade, die kaum für die
landesüblichen Karren benutzbar sind, welche man mit den klugen, sicher
auftretenden irländischen Pferden bespannt. Auch ein Jaunting-car rollt
wohl zuweilen mühsam darüber. Trotz den in Irland schon vorhandenen
Eisenbahnen scheint der Tag noch sehr fern zu sein, wo das Dampfroß
regelmäßig das Gebiet von Ulster durcheilt. Flecken und Dörfer sind
ja auch zu selten, das Ziel der meisten Reisenden sind nur einfache
Pachthöfe.

Da und dort lugen jedoch einige Schlösser aus üppigem Grün hervor
und ergötzen das Auge durch den phantastischen Schmuck ihrer
angelsächsischen Bauart. So mehr im Nordwesten und nach Milford zu
der Herrschaftssitz Carrikhart inmitten einer ausgedehnten Domäne von
neunzigtausend Acres (36.000 Hektar), das Besitzthum des Grafen von
Leitrim.

Die Häuschen oder Hütten des Dorfes Rindok -- gewöhnlich nennt man sie
nur »Cabinen« -- haben alle Strohdächer, die zwar gegen die Winterregen
nicht besonders schützen, im Sommer aber mit blühenden Levkojen und mit
wucherndem Hauslaub bedeckt sind. Ein solches Strohdach liegt auf Wänden
aus getrocknetem Lehm, der nothdürftig mit Kieselschichten verstärkt
ist, und die meist so viele Risse zeigen, daß sie kaum mit der Ajoupa
der Wilden oder der Isba der Kamtschadalen einen Vergleich aushalten.
Man würde nicht glauben, daß solche Eulennester menschlichen Wesen
zur Wohnung dienen, ohne den bläulichen Rauch, der aus der Blumendecke
hervorwirbelt. Holz oder Steinkohle erzeugen diesen Rauch freilich
nicht, nur Torf aus den benachbarten Sümpfen, der »Bog« von rostbrauner
Farbe, den sich die Bewohner von Rindok nach Bedarf aus der nassen Erde
schneiden.[4]

Durch Kälte umzukommen, brauchte in diesem rauhen Lande niemand zu
fürchten, leider aber weit eher durch Hunger. Der Boden liefert hier
kaum einige Gemüse und wenige Früchte; nichts will recht gedeihen, mit
einziger Ausnahme der Kartoffeln.

Als Zulage zu der dürftigen Nahrung hat der Bauer von Donegal höchstens
gelegentlich eine Gans oder eine Ente, und auch davon nur die wild
vorkommenden, da sie weniger gezüchtet werden. Das Wild, Hasen, wilde
Kaninchen u. dergl., gehört allemal dem Landlord. Weiter giebt es, in
den Schluchten zerstreut, einige Ziegen, die etwas Milch liefern, und
schwarzborstige Schweine, die sich mühsam ihr Futter suchen müssen. Das
Schwein ist hier der wirkliche Hausfreund, ganz wie der Hund in mehr
begünstigten Ländern. Es ist »der Herr, der die Rente bezahlt«, wie der
bezeichnende Ausspruch lautet.

Eine der erbärmlichsten Hütten von Rindok enthielt folgendes:
einen einzigen Wohnraum, den eine wurmzerfressene, windschiefe Thür
abschließt; zwei Löcher zur Rechten und zur Linken, die durch eine Lage
dürres Stroh etwas Licht und Luft eindringen lassen; auf dem Fußboden
eine Decke von Schmutz; an den Dachsparren Fetzen von Spinngewebe;
im Hintergrunde einen Herd, dessen Rauchfang bis zum Strohdach
hinausreicht; ein elendes Lager in einem Winkel, eine Streu im andern.
An Mobiliar fand sich eine bucklige Bank, ein wackliger Tisch, ein
alter Kübel mit grünlichen Schimmelstreifen, ein Spinnrad mit knarrender
Kurbel. Als Geräthe ferner ein Kochtopf, eine kleine Pfanne, einige wohl
kaum jemals gereinigte Näpfe und zwei oder drei Flaschen, die mit
Wasser aus dem Bache gefüllt wurden, nachdem sie von dem vorher darin
enthaltenen Whisky oder Gin geleert waren. Da und dort hingen oder lagen
Fetzen und Lumpen umher, die kaum noch die Form von Kleidungsstücken
verriethen, und etwas schmutzige Wäsche, die entweder im Kübel
eingeweicht war oder draußen auf einer Stange zum Trocknen hing. Auf dem
Tische aber lag fortwährend eine vom vielen Gebrauch abgenutzte Ruthe.
Das war das Elend im schlimmsten Grade... das Elend, wie es in den
ärmsten Stadttheilen Dublins oder Londons, in Glerkenwell, Marylebone
und in Whitechapel herrscht, das irische Elend, das schlimmste von
allen, das Gespenst, das in den Ghettos des Ostends spukt. Die Luft
freilich ist in den Spelunken von Donegal nicht in gleicher Weise
verpestet; hier athmet man die belebende Luft der Berge und die Lunge
füllt sich nicht mit gefährlichen Miasmen, den gesundheitsschädlichen
Ausdünstungen der großen Städte.

Natürlich war in dieser Hütte das Lager der Hard vorbehalten, die Streu
aber für die Kinder bestimmt und... die Ruthe ebenfalls.

Die »Hard«, so bezeichnete man die Bewohnerin, d. h. »die Harte«, und
diesen Namen verdiente sie in der That. Es war die abstoßendste Megäre,
die man sich nur vorstellen kann, zwischen vierzig und fünfzig Jahre
alt, lang und stark, mit dünnem, wirr herabhängendem Haar, von rothen
Brauen überschatteten Augen, mit Hakenzähnen, schnabelförmiger Nase,
knochigen Händen -- mehr Tatzen als Händen -- mit Krallen als Fingern,
nach Alkohol riechendem Athem und bedeckt mit einem zerschlitzten Hemd
und zerrissenem Rocke, während sie stets barfuß ging und auch eine so
derbe Haut an den Fußsohlen hatte, daß diese nicht einmal durch das
Gehen über lose Kieselsteine belästigt wurden.

Dieser weibliche Drache beschäftigte sich mit dem Spinnen von Leinen,
das in Irland, vorzüglich aber von den Bäuerinnen in Ulster, gewöhnlich
betrieben wird. Die Leinencultur liefert auch wirklich noch einige
Ausbeute, obwohl sie an die der Ackerfruchternten eines besseren Bodens
nicht heranreicht.

Mit dieser Arbeit, die ihr täglich einige Pence einbrachte, verband die
Hard noch eine andre -- für sie ganz unpassende -- Erwerbsquelle: sie
zog kleine Kinder auf, die ihr von öffentlichen Anstalten überwiesen
wurden.

Bei Ueberfüllung der Armenhäuser der Städte oder bei drohenden Seuchen
schickt man diese zu bejahrteren Frauen, die ihre mütterliche Sorge
ebenso verkaufen, wie sie jede andre Waare verkaufen würden, und zwar zu
einem Jahrespreise von zwei oder drei Pfund Sterling (40 oder 60 Mark).
Erreicht das Kind ein Alter von fünf bis sechs Jahren, so wird es an
das Armenhaus zurückgegeben. Die Pflegemutter kann bei jener geringen
Entlohnung für sich kaum etwas erübrigen. Und wenn solch ein Baby
unglücklicher Weise in die Hände eines Geschöpfes ohne Herz und Gemüth
fällt -- was gar so häufig zutrifft -- so ist es nicht selten, daß es an
der schlechten Behandlung und dem Mangel an Nahrung zu Grunde geht. Wie
viele solcher schwachen Menschenkinder gelangen in das Armenhaus
nicht wieder zurück! -- Das war wenigstens der Fall vor dem
Kinderschutz-Gesetz von 1889, das in Folge strenger Ueberwachung der
»Engelmacherinnen« die Sterblichkeit der aus der Stadt weggegebenen
Kinder wesenlich vermindert hat.

Zur Zeit, von der wir berichten, bestand nur eine leichte oder gar
keine Beaufsichtigung. In Rindok hatte die Hard weder den Besuch
eines Inspectors, noch auch eine Anklage seitens der im eignen Unglück
verhärteten Nachbarn zu fürchten.

Vom Armenhause in Donegal waren ihr drei Kinder anvertraut worden, zwei
kleine Mädchen von vier und von sechseinhalb Jahren, und ein Knäblein
von zwei Jahren und neun Monaten.

Natürlich waren es verlassene Kinder oder gar auf der Straße gefundene
Waisen. Jedenfalls kannte man ihre Eltern nicht und würde man diese auch
nie kennen lernen. Mit der Rückkehr nach Donegal stand ihnen blos das
Work-House (Arbeitsanstalt) offen, das Work-House, das sich in allen
Städten und selbst in vielen Dörfern Großbritanniens wiederfindet.

Im Armenhause erhielten die eingelieferten Pfleglinge den ersten besten
Namen. Der des jüngsten der kleinen Mädchen interessiert uns nicht, denn
sie steht nahe vor ihrem Ende. Die größere hieß Sissy, eine Abkürzung
von Cecily. Ein hübsches, blondhaariges Kind, das sich bei besserer
Pflege gewiß vorzüglich entwickelt hätte, war es, mit großen blauen,
intelligenten, guten Augen, deren Klarheit durch Thränen freilich schon
gelitten hatte. Jetzt erschienen, bei der schlechten Behandlung,
ihre Züge dagegen matt und traurig, der Teint erblaßt, die Glieder
abgemagert, die Brust eingesunken, und weit sprangen unter ihren Lumpen
die eckigen Hüften hervor. Bei ihrem geduldigen fügsamen Charakter nahm
sie jedoch das Leben hin, wie es eben war, ohne nur daran zu denken, daß
es auch anders sein könnte. Mutterliebe und häusliche Pflege hatte sie
ja nie gekannt, und im Armenhause wurden die Kinder auch nicht viel
anders behandelt, denn als kleine Thiere.

Der Knabe bei der Hard hatte gar keinen Namen. Er war im Alter von sechs
Monaten an einer Straßenecke in Donegal gefunden worden, wo er, blau im
Gesicht und fast athemlos, in ein Stück grobes Leinen gewickelt gelegen
hatte. Im Armenhause war er zu den übrigen Kindern gesteckt worden, ohne
daß es jemand einfiel, ihm einen Namen zu geben. Aus Gewohnheit nannte
man ihn einfach »Little-Boy«, Kleiner Junge oder »Findling«, und die
Bezeichnung war ihm bekanntlich geblieben. Offenbar war er einer
reichen Familie nicht etwa gestohlen worden; so etwas ist nur in Romanen
beliebt.

Von den »drei Stücken« jener Sendung war der Findling der jüngste, nur
zwei Jahre neun Monate alt. Brünett, mit leuchtenden Augen, die auf
erwachende Energie schließen ließen, wenn sie der Tod nicht vorzeitig
schloß, zeigte er eine kräftige Constitution, wenn die Pestluft dieser
Hütte, die unzureichende Nahrung diese nicht erschütterten und ihm dafür
eine Rhachitis zuführten. Jedenfalls sollte dieser Kleine, der
eine ungewöhnliche Lebenskraft besaß, allen Schädlichkeiten einen
merkwürdigen Widerstand entgegensetzen. Immer hungrig, wog er freilich
nur halb so viel, wie sonst Kinder dieses Alters. Während der langen
Winter Irlands immer vor Kälte zitternd, trug er über seinem zerrissenen
Hemd nur ein Stück alten gerippten Sammet, in das für die Arme einfach
zwei Löcher geschnitten waren. Trotz der bloßen Füße trabte er ruhig
seines Weges. Schon die geringste Sorgfalt hätte dieser Natur gewiß
schnell Kräfte gegeben, die sie später in Intelligenz umgesetzt hätte.
Doch wo sollte er diese Sorgfalt finden?

Das jüngste der kleinen Mädchen lag an einem schleichenden Fieber
danieder. Das Leben entwich aus ihr, wie das Wasser aus einem
gesprungenen Gefäße sickert. Sie hätte Arzneien gebraucht, doch diese
sind theuer; hätte einen Arzt haben müssen, doch wo wäre ein
solcher bereit gewesen, von Donegal aus so ein armes gottverlassenes
Geschöpfchen zu besuchen? Die Hard machte sich hierüber also keine
Sorge. Starb die Kleine, so »lieferte« ihr das Armenhaus einen Ersatz
und sie büßte nichts von den wenigen Schillingen ein, die für sie
vielleicht noch abfielen.

Da im Rindoker Bache aber kein Gin, kein Whisky oder Porter floß, nahm
die Befriedigung der Leidenschaft dieser Trunksüchtigen freilich den
größten Theil des erhaltenen Pensionsgeldes in Anspruch. Augenblicklich
besaß sie von der Januarzahlung im Betrag von fünfzig Schillingen für
jedes Kind und für das ganze Jahr nur noch zehn bis zwölf. Womit sollte
sie nun die Bedürfnisse ihrer Pfleglinge decken? Lief sie auch nicht
Gefahr, vor Durst zu sterben, da sich in einem Winkel der Hütte noch
einige Flaschen versteckt fanden, so drohte doch dafür der Hungertod den
Kleinen.

Zuweilen dachte die Hard wohl auch hieran, soweit es ihr von Alkohol
vergiftetes Gehirn zuließ. Ein Gesuch um Zuschuß zu dem Pensionsbetrage
wäre bestimmt nutzlos gewesen. Es waren zu viel Kinder vorhanden, für
die die öffentliche Mildthätigkeit eintreten mußte. War sie gezwungen,
ihre Pfleglinge zurückzuschicken, so verlor sie ihren Broderwerb und
mußte sie dem guten Gin Valet sagen. Das schnitt ihr ins Herz, nicht
aber der Gedanke, daß das arme, kranke Würmchen seit gestern keinen
Bissen genossen hatte.

Das Ergebniß solcher Betrachtungen lief immer darauf hinaus, daß sie von
neuem zu trinken anfing. Jammerten die Mädchen und der kleine Knabe, so
gab es Schläge. Verlangten sie nach Brod, so erhielten sie einen
Stoß, daß sie zurücktaumelten. Natürlich konnte das nicht für immer
so fortgehen. Für die wenigen Schillinge, die noch in ihrer Tasche
klimperten, hätte sie wohl oder übel einige Nahrungsmittel erkaufen
müssen, denn Credit hätte ihr niemand mehr gewährt.

»Nein... nein... nein! polterte sie. Die Bettelkinder mögen lieber ins
Gras beißen!«

Es war jetzt Mitte October. In der kaum verschlossenen Hütte wurde
es schon recht kalt und durch das da und dort mangelhafte Strohdach
sickerte der Regen. Der Wind pfiff durch das morsche Gebälk. Das
dürftige Torffeuer vermochte keine erträgliche Temperatur zu erhalten.
Sissy und Findling drängten sich dicht aneinander, um sich nur etwas zu
erwärmen.

Während das Fieber die kleine Kranke auf dem Strohlager schüttelte,
schwankte die Megäre trunken hin und her, und vorsichtig wich ihr das
Knäblein aus, den sie sonst gewiß umgestoßen hätte. Sissy kniete neben
der Leidenden und netzte deren trockene Lippen mit kaltem Wasser. Von
Zeit zu Zeit warf sie einen Blick in den Kamin, worin die schwache
Torfgluth zu erlöschen drohte. Auch der Topf stand nicht auf dem
Dreifuß. Wozu auch? Es war ja nichts hineinzuthun im Hause.

Die Hard aber knurrte für sich:

»Fünfzig Schillinge!... Dafür soll unsereins ein Kind erhalten! Und
wenn ich von den Steinklötzen im Armenhause einen Zuschuß verlangte, da
würden sie mich schön heimschicken!«

Das war freilich richtig. Doch selbst bei höherer Entschädigung hätten
die beklagenswerten Pflegekinder der Hard auch kein Stückchen Brod mehr
bekommen.

Am letzten Tage war der letzte »Stirabout«, ein dickes, mit Wasser
gekochtes Hafermehlmus, aufgegessen worden, und seitdem hatte in
der Hütte niemand, auch die Hard nicht, einen Bissen über die Lippen
gebracht. Die Frau selbst hielt sich mit Gin aufrecht, hütete sich
aber wohl, für Nahrungsmittel auch nur einen Penny ihres letzten Geldes
auszugeben. So blieb ihr nichts andres übrig, als von einem Felde einige
Kartoffeln für das Abendbrod zu holen....

Da machte sich von draußen ein tiefes Grunzen hörbar. Die Thür wurde
aufgestoßen. Ein Schwein, das durch die kothige Dorfstraße trabte, drang
in die Hütte ein.

Das hungrige Thier durchsuchte laut schnüffelnd alle Ecken und Winkel.
Die Hard schloß die Thür wieder, bemühte sich aber gar nicht, den
Eindringling wieder zu entfernen, sondern sah das Thier nur mit den
unstäten Blicken eines Trunkenboldes an.

Sissy und Findling sprangen auf, um dem Borstenvieh aus dem Wege
zu gehen. Während dieses mit dem Rüssel den Schmutz des Fußbodens
durchwühlte, leitete es sein Instinct hinter den erloschenen Kamin, wo
es eine dahin verlorene Kartoffel fand. Sofort packte es diese mit den
Zähnen.

Findling bemerkte es. Diese Knollenfrucht konnte er selbst gebrauchen.
So stürzte er sich auf das Thier auf die Gefahr hin, getreten und
gebissen zu werden. Dann rief er Sissy, und beide verzehrten die
Kartoffel mit gierigen Lippen.

Das Thier blieb einen Augenblick stehen, dann stürzte es auf das Kind
zu.

Der Findling suchte, noch mit einem Stück Kartoffel in der Hand, zu
entfliehen; ohne das Dazwischentreten der Hard wäre er aber, weil er
hingefallen war, gewiß arg gebissen worden, obgleich ihm Sissy schon zu
Hilfe gekommen war.

Die betrunkne Frau begriff endlich, was hier vorging. Mit einem Stocke
schlug sie jetzt auf das Schwein los, das nicht sobald nachgeben zu
wollen schien. Ihre schlecht gezielten Streiche hätten Findling beinahe
den Kopf zerschmettert, und der Ausgang dieses Zwischenfalles wäre sehr
unsicher geworden, als sich an der Thür ein leichtes Geräusch vernehmen
ließ.




XI.

Ein vorteilhaftes Geschäft.


Die Hard erschrak fast. In ihre Höhle kam ja sonst kein Mensch. Und
warum gar an die Thür klopfen? Man brauchte diese ja nur aufzuklinken.

Die Kinder waren in einen Winkel geflüchtet, wo sie schmunzelnd und mit
aufgetriebenen Wangen ihre Kartoffel vollends aufaßen.

Da klopfte es von neuem und etwas stärker. Vielleicht stand ein
Straßenbettler draußen, der hier, in der Hütte der Armuth, noch um ein
Almosen ansprechen wollte.

Die Hard richtete sich auf, suchte einen festen Stand zu gewinnen
und machte den Kindern ein drohendes Zeichen. Es konnte ja auch ein
Inspector aus Donegal sein, und vor dem durften doch Findling und seine
Genossin nicht vor Hunger jammern.

Die Thür ging auf und mit wildem Grunzen drängte sich das Borstenvieh
hinaus.

Ein auf der Schwelle stehender Mann wäre beinahe umgerannt worden. Er
richtete sich wieder zurecht, doch statt ungehalten zu sein, schien er
sich vielmehr wegen der durch ihn verursachten Störung entschuldigen zu
wollen. Sein Gruß galt fast ebenso viel dem unreinlichen Vierfüßler, wie
der nicht minder unreinlichen Insassin der Hütte. Es konnte ihn ja nicht
verwundern, aus dem Schmutz des Innern ein Schwein hervorbrechen zu
sehen.

»Was wollen Sie?... Wer sind Sie? fragte die Hard barsch, während sie
dem Fremdling den Weg versperrte.

-- Ich bin ein Agent, liebe Frau,« antwortete der Mann.

Ein Agent?... dieses Wort machte sie zurücktaumeln; der Mann konnte ja
zu der Waisenkinderpflege gehören, obgleich sich ein Inspector im Dorfe
Rindok noch so gut wie nie hatte sehen lassen. Vielleicht kam dieser
Mann wirklich, um über die aufs Land geschickten Kinder Bericht zu
erstatten, und um nach dieser Seite ganz sicher zu gehen, bemühte sich
die Hard sofort, ihn durch ihre Redseligkeit zu verblüffen.

»O, verzeihen Sie, mein Herr!... Sie kommen grade, wo ich im Begriff
stehe, rein zu machen... diese lieben Kleinen; sehen Sie, wie die sichs
wohl sein lassen? Sie haben eben eine tüchtige Schüssel Hafergrützsuppe
verzehrt.... Das Mädchen da und der Knabe, versteht sich, denn die
andre liegt leider krank... ja... an einem Fieber, dem keiner
Einhalt zu thun vermag. Ich wollte schon nach Donegal, einen Doctor zu
holen.... Die armen süßen Herzchen, ich hänge so sehr an den Kleinen!«

Mit ihren rohen Gesichtszügen und dem wilden Blicke ähnelte die Hard
jetzt einer Tigerin, die das zahme Kätzchen spielen möchte.

»Herr Inspector, fuhr sie fort, wenn das Armenhaus mir einen Beitrag zu
den Kosten der Arzneien bewilligen wollte. Man hat ja kaum so viel, daß
es zum Essen und Trinken ausreicht.

-- Ich bin kein Inspector, gute Frau, unterbrach sie der Mann mit
süßlicher Stimme.

-- Was sind Sie denn?... fragte die Hard schon aufbrausend.

-- Der Vertreter einer Versicherungsgesellschaft.«

Der Fremde gehörte zu den Agenten, von denen es in Irland ebensoviele
giebt, wie Disteln auf Unland. Sie durchstreifen alle Dörfer, um das
Leben der Kinder zu versichern, was unter den obwaltenden Umständen so
viel bedeutet, wie ihnen den Tod zu sichern. Gegen monatliche Zahlung
weniger Pence haben -- so entsetzlich das klingt -- Eltern oder
Pflegeeltern, lauter solch verabscheuungswürdige Geschöpfe wie die Hard,
die »frohe Hoffnung«, beim Ableben der Kleinen eine »Tröstung« von drei
bis vier Pfund Sterling (sechzig bis achtzig Mark) einzureichen. Das ist
geradezu eine Verleitung zum Verbrechen und eine so mächtige Triebfeder,
daß die ungeheure Kindersterblichkeit zu einer wirklichen nationalen
Gefahr geworden ist. Mit Recht hat deshalb Day, der Vorsitzende des
Schwurgerichts in Wiltshire die Anstalten, die daran schuld sind, als
Landplagen, als Schulen für Mord und Brandstiftung gekennzeichnet.

Seit jener Zeit hat das schon erwähnte Gesetz von 1889 allerdings eine
wesentliche Besserung dieser Zustände erzwungen, und so ist es
auch nicht zu verwundern, daß die »Gesellschaft zur Ausrottung der
Grausamkeit gegen Kinder« heute schon recht gute Erfolge erzielt.

Wer erröthet aber nicht vor zorniger Ueberraschung, daß gegen Ende des
19. Jahrhunderts ein solches Gesetz bei einer civilisierten Nation
nothwendig war, ein Gesetz, das die Eltern verpflichtet, »die Wesen, die
ihrer Obhut unterstehen, auch zu ernähren und, selbst wenn sie diese
nur in Pflege genommen hatten, sie zwingt, für die Bedürfnisse der
Unmündigen unter ihrem Dache zu sorgen« -- und das unter Androhung
schwerer Strafe, die bis zu zwei Jahren Zwangsarbeit gehen kann.

O, der Schande, das es eines Gesetzes bedurfte, wo das natürliche Gefühl
hätte ausreichen müssen!

Zur Zeit des Anfangs dieser Erzählung gab es freilich noch keinen Schutz
für die, den Armenanstalten anheimgefallenen Kinder.

Der Agent, der sich der Hard hier vorstellte, war ein Mann in den
hohen Vierzigern, mit lauernder Miene und einschmeichelnder Rede und
Haltung -- der richtige Typus jener Unterhändler, denen es nur um
ihre Provision zu thun ist und die kein Mittel scheuen, sich diese zu
verdienen. Er hoffte auch hier »sein Geschäft zu machen«, indem er der
Megäre schmeichelte, sich stellte, als ob er von dem traurigen Zustande
ihrer Opfer nichts sehe, und indem er sie im Gegentheil beglückwünschte
wegen der herzlichen Zuneigung, die sie für die Kleinen hegte.

»Liebe Frau, fuhr er fort, dürfte ich Sie wohl ersuchen, mit mir einen
Augenblick hinauszutreten?

-- Sie haben etwas mit mir zu sprechen? fragte die Hard, noch immer
beunruhigt.

-- Ja, beste Frau, über die kleinen Kinder hier... und ich würde mir
Vorwürfe machen, die Angelegenheit in deren Beisein zu behandeln, da es
ihnen vielleicht schmerzlich sein könnte...«

Beide traten hinaus, schlossen die Thür, und gingen einige Schritte
fort.

»Nun, gute Frau, begann der Versicherungsagent, Sie haben also drei
Kinder?

-- Ja wohl.

-- Ihre eignen?...

-- Nein.

-- Sind Sie mit denselben verwandt?

-- Nein.

-- Ah so, sie haben jene also wohl aus dem Donegaler Armenhause
übernommen?

-- Ganz recht.

-- Dann, beste Frau, konnten sie ja gar nicht in bessere Hände kommen.
Und doch kommt es trotz sorgsamster Pflege vor, daß solche kleine Wesen
erkranken. Das Leben eines Kindes hängt oft nur an einem Faden, und ich
glaube gesehen zu haben, daß die eine Ihrer zarten Pfleglinge...

-- Ich thue, was ich kann, mein Herr, unterbrach ihn die Hard, die ihren
Wolfsaugen mit Mühe eine Thräne entpreßte. Ich wache Tag und Nacht über
diese Kinder... oft darbe ich selbst, damit es ihnen nicht am Nöthigen
fehlt. Das Armenhaus zahlt für die Erziehung der Kleinen gar zu wenig,
kaum drei Pfund, bester Herr, drei Pfund Sterling für das Jahr...

-- Das reicht allerdings nicht aus, liebe Frau, und es bedarf einer
großen Opferwilligkeit Ihrerseits, um die Bedürfnisse der hübschen
Kinder zu decken... Sie haben zur Zeit also zwei kleine Mädchen und
einen Knaben?...

-- Ja.

-- Ohne Zweifel Waisen?

-- Jedenfalls.

-- Meine vielfachen Berührungen mit Kindern erlauben mir, das Alter der
Mädchen auf vier und sechs Jahre, das des kleinen Knaben auf zwei Jahre
abzuschätzen...

-- Wozu alle diese Fragen?

-- Wozu? Das werden Sie gleich hören, gute Frau!«

Die Hard warf ihm einen forschenden Blick zu.

»Gewiß ist die Luft, fuhr er fort, in der Grafschaft Donegal sehr
rein... die hygienischen Verhältnisse sind vortrefflich... Und doch,
solche Babys sind so zarter Natur, daß es trotz Ihrer liebevollsten
Pflege vorkommen kann -- verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das Herz
zerreiße! -- daß es vorkommen kann, eines oder das andre der Kleinen zu
verlieren.... Sie sollten sie versichern....

-- Sie versichern?...

-- Jawohl, beste Frau; versichern... zu Ihrem Vortheil....

-- Zu meinem Vortheil! rief die Hard, deren Blick sich durch die
erwachende Habsucht belebte.

-- Das werden Sie sofort verstehen. Durch monatliche Zahlung von wenigen
Pencen an meine Gesellschaft sichern Sie sich eine Summe von zwei bis
drei Pfund Sterling, wenn eines der Kinder sterben sollte....

-- Zwei bis drei Pfund!« wiederholte die Hard.

Der Agent konnte schon auf die Annahme seines Vorschlags rechnen.

»Das geschieht ganz allgemein, liebe Frau, fuhr er mit honigsüßer Stimme
fort. Wir haben in den Pachthöfen von Donegal schon mehrere hundert
Kinder versichert, und wenn auch nichts über den Tod eines zarten
Wesens, das man herzinnig geliebt hat, eigentlich zu trösten vermag, so
ist es doch mindestens... eine... eine Art Ersatz, ich gesteh' es zu,
ein sehr minderwertiger, einige Guineen in gutem englischen Golde zu
erheben, die meine Gesellschaft dann darzubieten so glücklich ist....«

Die Hard faßte die Hand des Agenten.

»Und die erhält man... ohne Schwierigkeiten? fragte sie mit heiserer
Stimme und sich scheu rings umsehend.

-- Ganz ohne Schwierigkeiten, gute Frau. Sobald ein Arzt das Ableben
eines Kindes beglaubigt hat, braucht man nur zu dem Vertreter der
Gesellschaft in Donegal zu gehen.«

Dabei zog er ein Papier aus der Tasche.

»Hier habe ich bereits ausgefüllte Policen, sagte er, und wenn Sie sich
entschließen, diese zu unterschreiben, so werden Sie der Zukunft weniger
besorgt entgegensehen. Ich bemerke Ihnen noch, daß Sie, wenn eines
der Kinder sterben sollte, was ja ach! gar zu häufig vorkommt, die
Versicherungssumme ja zum besten der andern verwenden können. Das
Armenhaus zahlt wirklich allzuwenig....

-- Und das würde mir kosten?... erkundigte sich die Hard.

-- Den Monat drei Pence für jedes Kind, also neun Pence....

-- Sie würden auch das kleinere Mädchen versichern?...

-- Natürlich, beste Frau, obgleich sie mir sehr krank erschien. Wenn
Ihr Bemühen sie nicht rettet, so sind das zwei Pfund -- verstehen Sie
recht! -- zwei Pfund Sterling für Sie. Bedenken Sie auch, daß das was
unsre Gesellschaft thut, nur zum besten der lieben Babys geschieht...
wir haben ein Interesse daran, daß sie leben bleiben, denn ihre Existenz
geht uns ja an. Wir sind trostlos, wenn eines oder das andre mit Tode
abgeht!«

Trostlos waren die braven Versicherer freilich nicht, so lange die
Sterblichkeit eine berechnete Mittelgrenze nicht überschritt. Und wenn
der Agent sich auch zur Aufnahme der kleinen Sterbenden bereit erklärte,
wußte er, daß das ein vortheilhaftes Geschäft sei, wie aus der Erklärung
eines erfahrenen Directors der Gesellschaft hervorging, der da sagte:

»Am Tage nach der Beerdigung eines versicherten Kindes schließen wir
stets mehr Versicherungen ab als sonst!«

Das war in der That der Fall, ganz ebenso freilich, daß einzelne --
sagen wir vereinzelte -- Elende auch vor einem Verbrechen nicht
zurückschreckten, um die Versicherungssumme zu erlangen.

Es beweist das, wie nothwendig diese Gesellschaften und ihre Kundschaft
streng im Auge zu behalten sind. In einem Dorfe wie hier gab es freilich
keine Controle. So brauchte auch der Agent gar nicht zu fürchten, mit
der widerwärtigen Hard in Verbindung zu treten, obgleich er sich sagen
mußte, wessen sie fähig wäre.

»Nun, gute Frau, nahm er eindringlicher werdend das Wort, verstehen Sie
denn Ihr eignes Interesse nicht?«

Noch immer zögerte sie, die neun Pence auszugeben, selbst mit der
Aussicht, die Versicherungssumme für die kleine Kranke sehr bald zu
erheben.

»Wie viel kostet also die Geschichte? fragte sie, als hoffte sie auf
eine Preisermäßigung.

-- Drei Pence monatlich für jedes Kind, also neun zusammen.

-- Neun Pence!«

Sie versuchte zu handeln.

»Das ist nutzlos, gute Frau, erwiderte der Agent. Bedenken Sie, daß jene
Kleine trotz Ihrer Sorgfalt morgen... schon heute sterben kann, und
daß die Gesellschaft Ihnen dann zwei Pfund Sterling auszuzahlen hat. Nun
also, unterzeichnen Sie, glauben Sie mir; hier setzen Sie Ihren Namen
darunter!«

Feder und Tinte führte er bei sich. Eine Unterzeichnung der Police, und
alles war abgemacht.

Die Hard unterschrieb, und von den zehn Schillingen in ihrer Tasche
händigte sie dem Agenten die verlangten neun Pence aus.

Dann verabschiedete sich dieser mit den heuchlerischen Worten:

»Jetzt, gute Frau, empfehle ich, wenn es auch unnöthig erscheint, diese
Kinder im Namen der Gesellschaft, der Vorsehung der Kleinen, Ihrer
besondern Obhut. Wir sind die Stellvertreter Gottes auf Erden, Gottes,
der das den Unglücklichen gespendete Almosen hundertfältig wieder
zurückgiebt. Leben Sie wohl, gute Frau, leben Sie wohl! Nächsten Monat
komme ich, die kleine Prämie einzuziehen, und hoffe da, alle drei
Pfleglinge frisch und munter zu finden, auch das kleine Mädchen, die bei
Ihrer mütterlichen Sorgfalt schon wieder gesunden wird. Vergessen Sie
nicht, daß das menschliche Leben in unserm alten England einen hohen
Werth hat, und daß jeder Todesfall ein Verlust an socialem Capital ist.
Adieu, gute Frau, adieu!«

Im Vereinigten Königreich berechnet man thatsächlich genau, wie viel
Geldwerth ein englisches Leben darstellt, nämlich hundertundfünfzig
Pfund oder dreitausendeinhundert Reichsmark; so hoch wird der
Menschenschlag geschätzt, in dessen Adern sächsisches, normannisches,
kymbrisches und pictisches Blut gemischt ist.

Still stehen bleibend, ließ die Hard den Agenten sich erst von der
Hütte entfernen, die zu verlassen die Kinder nicht gewagt hatten. Bisher
berechnete sie nur die wenigen Guineen, die deren Leben ihr jährlich
einbrachte, und jetzt sollte deren Tod für sie ebenso viel werth sein!
Es hing ja doch von ihr ab, die neun Pence nicht noch ein zweites Mal
bezahlen zu müssen.

Beim Wiedereintritt heftete sie auf die Unglücklichen einen Blick des
Sperbers, der den unter dem Laube verborgnen Vogel belauert. Findling
und Sissy schienen das Weib zu verstehen. Instinctmäßig wichen sie vor
ihr zurück, als ob die Hände des Ungeheuers sich schon anschickten, sie
zu erwürgen.

Einige Klugheit mußte sie aber doch beobachten. Der plötzliche Tod
dreier Kinder hätte wohl Verdacht erregen müssen. Von den acht oder neun
übrig behaltenen Schillingen wollte sie einen kleinen Theil verwenden,
um jene noch einige Zeit zu ernähren... noch vier Wochen... o, nicht
länger. Stellte sich der Agent wieder ein, so bekam er noch einmal seine
neun Pence, da die Versicherungssumme diese Auslage ja zehnfach
deckte. Jetzt fiel es ihr gar nicht mehr ein, die Kinder ins Armenhaus
zurückzuschicken.

Fünf Tage nach dem Besuche des Agenten verschied das kleine Mädchen,
ohne daß vorher ein Arzt hinzugezogen worden wäre.

Es war am Morgen des 6. Octobers. Die Hard, die auswärts etwas trinken
wollte, hatte die Kinder in der verschlossenen Hütte zurückgelassen.

Die Kranke röchelte. Außer etwas Wasser zur Befeuchtung der Lippen,
konnte sie keine Erquickung erhalten. Arzneimittel hätten in Donegal
geholt und bezahlt werden müssen.... Da wußte die Hard ihre Zeit und
ihr Geld besser anzuwenden. Das kleine Opfer hatte nicht mehr die Kraft,
sich zu bewegen. Mitten in der Fieberhitze zitterte sie vor Kälte. Noch
einmal öffneten sich weit ihre Augen, wie um das Licht zum letzten Male
zu sehen, und als ob sie sagen wollte:

»Ach, warum, warum wurd' ich geboren?«

Ueber sie gebeugt, netzte ihr Sissy sanft die Schläfe.

Findling starrte auf die beiden hin, etwa wie auf einen Käfig, der sich
öffnen und einen Vogel herausflattern lassen sollte....

Als das Kind kläglicher seufzte und sich sein Mund dabei verzerrte,
fragte er:

»Wird sie etwa gar sterben? -- ein Verständniß dafür hatte er freilich
nicht.

-- Ja... antwortete Sissy, sie wird in den Himmel kommen.

-- Ohne zu sterben kann man wohl gar nicht in den Himmel kommen?

-- Nein, das kann man nicht.«

Wenige Augenblicke später erschütterte ein krampfhaftes Zucken das
schwache Wesen, dessen Leben nur noch an einem Windhauch hing. Da
verdrehten sich die Augen und die kindliche Seele floh unter einem
letzten Seufzer aus der zarten Hülle.

Erschrocken sank Sissy in die Knie. Findling ahmte ihr nach und kniete
ebenfalls neben der entseelten Gefährtin nieder.

Als die Hard nach einer Stunde heimkehrte, fing sie laut an zu schreien.
Dann lief sie wieder hinaus und heulte:

»Todt!... Todt!... Gestorben!«... sie wollte das ganze Dorf zum
Zeugen ihres Schmerzes haben.

Doch kaum einige Nachbarsleute ließen sich blicken. Was ging's ihnen,
den Armen und Elenden denn an, daß eine Unglückliche weniger war? Gab
es auf Erden nicht übrig genug andre?... Es wurden deren ja täglich
mehr -- dieses Samenkorn ging allemal auf.

Als sie diese Rolle spielte, dachte die Hard nur an ihr Interesse und
bezweckte, sich den Bezug der erwarteten Summe zu sichern.

Jetzt wurde auch nothwendig, von Donegal den Vertrauensarzt der
Gesellschaft zu holen. War er zur Behandlung des Kindes nicht gerufen
worden, so sollte er wenigstens dessen Ableben bestätigen; das war eine
nicht zu umgehende Formalität der Versicherung.

Die Hard machte sich also noch am nämlichen Tage auf und überließ die
Todte der Obhut der beiden Kinder. Sie ging aus Rindok um zwei Uhr
nachmittag fort, und da der Hin- und Rückweg zwölf (englische) Meilen
betrug, konnte sie vor acht oder neun Uhr abends nicht zurück sein.

Sissy und Findling blieben in der verschlossenen Hütte. Der Knabe
hielt sich regungslos neben dem Kamine auf, er wagte gar nicht, sich zu
rühren. Sissy wendete dem kleinen Mädchen mehr Sorgfalt zu, als dieser
vielleicht je im Leben zu Theil geworden war. Sie wusch ihr das Gesicht,
ordnete das Haar und zog ihr das zerrissene Hemd ab, daß sie durch ein
weißes Tüchlein ersetzte, welches zum Trocknen dahing. Die kleine Todte
sollte kein andres Leichenhemd erhalten, und als Grab nur das Loch, in
das man sie eilig versenkte....

Als sie fertig war, streichelte Sissy der kleinen Leiche die Wangen.
Findling wollte dasselbe thun... er konnte es nicht vor Entsetzen.

»Komm... komm! rief er Sissy.

-- Wohin denn?

-- Hinaus!... Komm!... Bitte, komm!«

Sissy weigerte sich. Sie wollte den todten Körper in der Hütte nicht
allein lassen. Uebrigens war ja die Thür verschlossen.

»Komm... komm! wiederholte das Kind.

-- Nein, nein, wir müssen jetzt hier bleiben!

-- Sie ist ja ganz kalt... und ich auch... ich friere, ach, ich
friere!... Komm, Sissy, komm mit! Sie könnte uns am Ende mitnehmen, da
hinunter, wo sie ist!«

Das Kind war vom Schrecken gepackt. Der Knabe hatte das Gefühl, daß er
auch sterben würde, wenn er nicht entwiche. Allmählich wurde es dunkler.

Sissy zündete einen Kerzenstumpf an, den sie in den Spalt eines Stückes
Holz klemmte und stellte dieses neben das Todtenlager.

Findling fühlte sich noch mehr entsetzt, als der Lichtglanz die
Gegenstände um ihn leicht erzittern zu machen schien. Er liebte ja
Sissy, liebte sie, wie eine ältere Schwester. Was er an Liebkosungen
erfahren, war von ihr gekommen. Er konnte aber nicht hier bleiben... er
konnt' es nicht!

Sich die Hände aufscheuernd und die Nägel verletzend, gelang es ihm, die
Erde vor der Thür aufzuwühlen, die Steinschicht wegzuschaffen, die deren
Pfosten trugen, und ein Loch auszuweiten, durch das er sich zwängen
konnte.

»Komm... komm! rief er zum letzten Male.

-- Nein, ich will nicht! erklärte Sissy. Sie würde verlassen sein; ich
will nicht!«

Findling warf sich ihr an den Hals und herzte und küßte sie. Dann kroch
er durch die Oeffnung, verschwand und ließ Sissy allein bei der Todten
zurück.

Einige Tage nachher fiel das umherirrende Kind dem Puppenschausteller in
die Hände, und der Leser weiß, was da aus ihm wurde.




XII.

Die Heimkehr.


Zur Zeit fühlte sich Findling glücklich und hielt es für unmöglich, das
je noch mehr sein zu können. Er ging völlig in der Gegenwart auf, ohne
an die Zukunft zu denken. Die Zukunft ist ja schließlich auch weiter
nichts als eine Gegenwart, die sich von einem Tage zum andern erneut.

Manchmal tauchten wohl die Bilder der Vergangenheit in ihm auf. Da
gedachte er des kleinen Mädchens, die mit ihm bei der garstigen Frau
gewohnt hatte. Sissy mußte jetzt etwa elf Jahre zählen. Doch was aus ihr
geworden oder ob sie gar gestorben war, das wußte er nicht. Jedenfalls
hoffte er, sie einst noch wiederzusehen. Er war ihr ja so viel Dank für
ihre Liebe schuldig, und bei seinem Bedürfnisse, sich an die, die
ihn geliebt hatten, anzuschließen, sah er im Geiste in ihr nur eine
Schwester.

Doch auch den guten Grip umfaßte er mit derselben Dankbarkeit. Seit
dem Brande der =Ragged-School= von Galway waren jetzt sechs Monate
verflossen, während der Findling so vielfach der Spielball des Zufalls
gewesen war. Grip würde doch nicht etwa gestorben sein? O nein, so brave
Herzen hören nicht auf zu schlagen. Leute wie Thornpipe und die Hard,
diese könnten ohne Bedauern zu erregen von der Erde scheiden, leider
aber verdirbt Unkraut so leicht nicht.

Natürlich hatte der Findling auf der Farm zuweilen von seinen ehemaligen
Freunden gesprochen und hier in allen ein gewisses Interesse für jene
geweckt.

Martin Mac Carthy veranlaßte Nachforschungen über jene, die leider
keinen weiteren Aufschluß über Sissy lieferten, als daß auch diese aus
dem Dorfe Rindok verschwunden war.

Bezüglich Grips hatte man von Galway eine Antwort erhalten. Der arme
Bursche hatte, nachdem seine Wunden kaum geheilt waren, aus Mangel an
Beschäftigung die Stadt verlassen und irrte jetzt wahrscheinlich Arbeit
suchend im Lande umher. Findling empfand es recht schmerzlich, so
glücklich zu sein, während es Grip jedenfalls nicht war. Martin selbst
nahm regen Antheil an Grip und hätte diesen so gern im Pachthofe als
nützlichen Helfer mit aufgenommen, wenn er nur wußte, wo jener zu finden
wäre. Sein Schicksal blieb zunächst aber unenthüllt, und vorläufig
mußten sich die beiden früheren Insassen der Lumpenschule mit der
Hoffnung auf ein zufälliges, späteres Wiedersehen trösten.

In Kerwan führte die Familie Mac Carthy's ein regelmäßiges arbeitsvolles
Leben. Die nächsten Pachtgüter lagen zwei bis drei Meilen von hier
entfernt. Unter den Pächtern inmitten dieser bevölkerten Gebiete des
unteren Irlands kann von einer Nachbarschaft kaum die Rede sein. Tralee,
der Hauptort der Grafschaft, lag auch ein Dutzend Meilen weit entfernt,
und Martin und Murdock begaben sich nur dahin, wenn ihre Geschäfte an
Jahrmarktstagen sie dazu nöthigten.

Die Farm gehört zur Kirche von dem fünf Meilen entfernten Silton, einem
Dorfe mit etwa vierzig Häusern und kaum hundert rund um die Kirche
angesiedelten Bewohnern. Des Sonntags begaben sich die Frauen zu Wagen,
die Männer von der Farm zu Fuß nach der Frühmesse. Ihres Alters wegen
vom dortigen Geistlichen vom Kirchenbesuch dispensiert, blieb die
Großmutter, außer an den hohen Festen, zu Weihnachten, zu Ostern und zu
Mariä Himmelfahrt, meist im Hause zurück.

In der Kirche von Silton erschien der Findling jetzt in höchst
anständiger Tracht. Das war nicht mehr das Kind in Lumpen, das durch
die Thür der Hauptkirche von Galway schlüpfend sich hinter den Pfeilern
versteckte. Jetzt fürchtete der Knabe nicht mehr hinausgejagt zu werden,
er zitterte nicht mehr vor dem strengen langen Schwarzrock, den weißen
Lätzchen und dem langen Stabe -- deren Vereinigung den Kirchendiener der
Parochie bildete. Jetzt hatte er seinen Platz auf der Bank neben Martine
und Kitty, er lauschte dem frommen Gesange und wohnte voll Andacht dem
ganzen Gottesdienste bei. Das war ein Knabe, den man mit einigem Stolz
sehen lassen konnte, wenn er so in seinem saubern, sorgsam gehaltenen
Tweed aus gutem Stoffe einherging.

Nach Schluß der Messe fuhren die Kirchenbesucher sogleich nach Kerwan
zurück. In diesem Winter herrschte vielfach starkes Schneetreiben
bei schneidendem Winde. Alle hatten davon geröthete Augenlider und
aufgesprungene Gesichter. Am Barte Martins und seiner Söhne hingen lange
Eiskrystalle, was ihnen fast das Aussehen von Gipsfiguren verlieh.

Im großen Kamin prasselte inzwischen ein von der Großmutter
unterhaltenes tüchtiges Wurzelholz- und Torffeuer. Hier wärmte sich die
kleine Gesellschaft wieder auf und setzte sich dann an den Tisch, worauf
ein duftendes Stück Pökelfleisch mit Kohl dampfte, daneben eine Schüssel
mit Kartoffeln in der Schale, und endlich eine Omelette -- zu der die
Eier natürlich nach der richtigen Nummernfolge gewählt waren.

Verbot die Witterung einen Spaziergang, so vertrieb man sich den Tag mit
Lesen und Plaudern, und Findling bereicherte seine Kenntnisse aus allem,
was er hörte.

Die Monate verstrichen. Der Februar war sehr kalt und der März sehr
regnerisch. Schon nahte die Zeit zur Wiederaufnahme der Feldarbeiten.
Der im ganzen nicht allzustrenge Winter schien nicht lange mehr
anhalten zu sollen, so daß die Einsaat voraussichtlich unter günstigen
Verhältnissen erfolgen konnte. Dann waren die Pächter wohl auch in der
Lage, für Weihnachten den dann abzuführenden Pachtschilling bereit zu
halten und nicht von den in vielen Gegenden so häufigen Austreibungen
bedroht zu sein, wenn die Ernte fehlschlägt, Austreibungen, durch die
zuweilen ganze Kirchspiele entvölkert werden.[5]

Immerhin hing eine schwarze Wolke, wie man zu sagen pflegt, am Horizonte
der Farm.

Vor zwei Jahren war der zweite Sohn, Pat, mit einem dem Hause Marcuart
in Liverpool gehörigen Handelsschiffe, dem »Guardian«, ausgesegelt. Zwei
Briefe waren von ihm, nach Durchkreuzung der Südsee, eingetroffen,
der letzte vor neun oder zehn Monaten, seitdem fehlte es aber ganz an
Nachricht von ihm. Selbstverständlich hatte Martin darum nach Liverpool
geschrieben. Die erhaltene Antwort lautete aber nicht besonders
beruhigend. Man hatte weder durch Zeitungen, noch durch die auswärtigen
Correspondenten etwas über das Schicksal des Schiffes gehört, und die
Herren Marcuart machten über ihre Befürchtungen wegen des »Guardian«
kein Hehl.

Von Pat war in Folge dessen auf der Farm vielfach die Rede, und Findling
sah deutlich genug, welchen Kummer dieses Ausbleiben jeder Nachricht der
ganzen Familie bereitete.

Da war wohl die Spannung kein Wunder, mit der man jeden Tag das
Eintreffen der Briefpost erwartete. Der kleine Knabe lauerte sie auf
der Straße ab, die diesen Theil der Grafschaft mit deren Hauptorte
in Verbindung setzt. Sobald er den an seiner blutrothen Farbe leicht
erkennbaren Wagen von weitem erblickte, lief er, was er laufen konnte,
nicht wie die Straßenbuben, die ein paar Kupfermünzen nachstürzen,
sondern nur um zu hören, ob nicht ein Brief an Martin Mac Carthy
angekommen wäre.

Der Postdienst ist auch in den entlegensten Grafschaften Irlands ganz
vorzüglich eingerichtet. Der Wagen hält auf dem Lande an allen Thüren
an, um Briefe zu vertheilen oder anzunehmen. An Mauern und Grenzsteinen
befinden sich Kästen mit einer Rothgußplatte, selbst einfache Säcke,
die an Baumzweigen hängen und die der Postconducteur im Vorüberkommen
ausleert.

Leider traf kein Brief von der Hand Pats, auch keiner von der Firma
Marcuart in der Farm ein. Seitdem der »Guardian« zuletzt in den
Australischen Meeren gesehen wurde, war und blieb er vorläufig
verschollen.

Die Großmutter war tiefbetrübt, denn gerade Pat hatte sie besonders ins
Herz geschlossen. Auch jetzt sprach sie unausgesetzt von ihm, den sie
bei ihrem hohen Alter nun kaum wiederzusehen fürchtete. Findling suchte
sie immer zu beruhigen.

»Er wird schon wiederkommen, sagte er. Noch kenne ich ihn nicht, muß ihn
aber doch kennen lernen, da er ja zur Familie gehört.

-- Und er würde Dich ebenso lieb gewinnen, wie wir, antwortete sie.

-- Es muß doch herrlich sein, Großmutter, Seemann zu sein! Wie schade
nur, daß man da einander, und immer so lange, verlassen muß. Könnte denn
nicht gleich eine ganze Familie zur See gehen?

-- Nein, mein Kind, als Pat fortging, hat das mich tief geschmerzt!
Wie glücklich sind die, die sich niemals zu trennen brauchen!... Unser
Junge hätte auch auf der Farm bleiben können. An Arbeit würde es ihm
nicht gefehlt haben, und wir verzehrten uns jetzt nicht vor Unruhe. Er
hat es nicht gewollt... möge Gott ihn uns zurückführen!... Vergiß ja
nicht, für ihn mitzubeten!

-- Nein, Großmutter, das vergess' ich nicht, für ihn und für Sie alle!«

In den ersten Apriltagen begann die Arbeit außer dem Hause. Es war eine
schwere Aufgabe, die noch frostharte Erde aufzupflügen, sie mit der
Walze einzuebnen und oberflächlich mit der Egge wieder zu lockern.
Hierzu mußten einige fremde Arbeiter gemiethet werden, da Martin und
seine Söhne allein damit nicht hätten fertig werden können. Die Minuten
sind kostbar, wenn es sich darum handelt, mit dem einsetzenden Frühling
zum Säen bereit zu sein. Außerdem galt es noch Gemüse zu pflanzen
und Kartoffeln zu stecken, wobei die Knollen mit den besten »Augen«
ausgewählt wurden.

Nun mußten ferner die Thiere aus den Ställen. Die Schweine ließ man
einfach im Hofe oder auf der Straße herumlaufen. Die Kühe, die mit
Ketten an Pflöcken auf der Weide festgelegt wurden, bedurften keiner
großen Ueberwachung, außer daß sie des Morgens aus- und des Abends
eingetrieben wurden. Das Melken derselben war Sache der Frauen. Dagegen
mußten die Schafe gehütet und, da sie sich den Winter über nur von
Häcksel, Kraut und Rüben ernährt hatten, auf die Weide einmal hier-,
einmal dorthin geführt werden. Der Findling erschien wie zum Schäfer
dieser Heerde geschaffen.

Mac Carthy besaß, wie wir wissen, gegen hundert Schafe, und zwar von der
schönen schottischen Rasse, mit langer, mehr grauer als weißer Wolle und
schwarzen Mäulern und Füßen. Als Findling sie zum ersten Male nach
der fast eine halbe Meile entfernten Weidestelle trieb, fühlte er sich
ordentlich stolz über das neue Amt. Er empfand seine Verantwortlichkeit
für die blökende Heerde, die unter seiner Leitung dahintrabte, während
Birk, der Hund, etwaige Nachzügler oder Ausbrechende zusammentrieb, für
die Widder, die die Spitze bildeten, und für die Lämmer, die sich um
ihre Mütter drängten. Wenn sich nun ein Thier verirrt hätte!... Wenn
gar Wölfe in der Nähe hausten! Doch nein, mit Birk und seinem Messer an
der Seite fürchtete der junge Schäfer auch Wölfe nicht.

Früh am Morgen brach er auf, ein tüchtiges Stück Brod, ein hartes Ei und
eine Schnitte Speck in seinem Sacke, um davon zu Mittag zu essen. Die
Schafe zählte er beim Verlassen des Stalles ebenso wie bei der Rückkehr
dahin. Dasselbe that er mit den Ziegen, auf die er ein Auge hatte und
die die Hunde frei umherspringen lassen.

An den ersten Tagen war die Sonne kaum aufgegangen, als Findling schon
hinter seiner Heerde herzog. Im Westen flimmerten noch einzelne
Sterne. Er sah sie nach und nach verlöschen, als ob der Morgenwind sie
ausgeblasen hätte. Dann schossen die Sonnenstrahlen durch die Landschaft
und glitzerten in jedem Thautröpfchen auf den Steinen. Meist lenkten
Martin und Murdock auf einem benachbarten Felde den Pflug, der eine
gerade und schwärzliche Furche hinter sich zurückließ. Auf einem andern
verstreute Sim mit gemessener Armbewegung den Samen, den die Egge dann
mit dünner Erdschicht zudeckte.

Trotz seiner Jugend pflegte Findling immer mehr die praktische als die
etwa wunderbare Seite aller Dinge zu beobachten. Er fragte sich nicht,
wie ein einfaches Körnchen zu einem Halm mit Aehre auswachsen könnte,
wohl aber, wie viel Körner die Korn-, Gersten- oder Haferähre bei der
Ernte liefern würde. Das wollte er zählen, wie er die Eier im Hühnerhof
zählte, und das Ergebniß niederschreiben. Das lag in seiner Natur. Er
hätte auch die Sterne eher gezählt als bewundert.

So freute er sich beim Aufgang der Sonne weniger über deren Licht
als über die Wärme, die sie der Welt spenden würde. Man sagt, daß die
Elephanten Indiens das Tagesgestirn begrüßen, wenn es am Horizonte
aufsteigt, und Findling ahmte ihnen nach, höchstens erstaunt, daß nicht
auch die Schafe aus Dankbarkeit zu blöken begännen. Schmilzt denn jenes
nicht den Schnee, der die Erde bedeckt? Nein, die Schafe zeigten sich
entschieden undankbar!

Meistens befand sich Findling während des größten Theiles des Tages
auf seiner Weide allein. Zuweilen machten Murdock und Sim jedoch ein
Weilchen Halt, nicht um ihn als Schäfer zu beobachten, denn auf den
Knaben konnte man sich verlassen, sondern um einige freundliche Worte
mit ihm zu wechseln.

»Nun, riefen sie da, wie macht sich's denn mit der Heerde? Ist das Gras
hübsch dicht?

-- Sehr dicht und fett, Herr Murdock.

-- Und sind auch die Schafe artig? fragt einer wohl lächelnd.

-- Sehr artig, Sim. Fragen Sie nur Birk, der hat mit ihnen nicht viel zu
thun.«

Der nicht grade schön zu nennende, aber sehr intelligente und
muthige Birk war schon ein treuer Gefährte Findlings geworden. Beide
unterhielten sich wirklich miteinander. Wenn der Knabe, den Blick auf
ihn geheftet, mit dem Thiere sprach, so schien Birk, dessen braune
Nasenspitze dabei zitterte, die Worte förmlich aufzusaugen und wedelte
verständnißinnig mit dem Schwanze, den man fast hätte einen »tragbaren
Zeigertelegraphen« nennen können. Es waren eben zwei ziemlich
gleichaltrige gute Freunde, die einander vollkommen verstanden.

Mit dem Mai fing es nun stärker an zu grünen. Die Futterkräuter, wie
Esparsette, Rothklee und Luzerne bildeten bereits einen dichten Teppich.
Die Getreidefelder zeigten dagegen nur noch recht kurze Halme, so daß
sich Findling fast verführt fand, daran zu ziehen, um sie größer zu
machen. Als Martin ihn eines Tags aufgesucht hatte, theilte er diesem
seine berühmte Idee mit.

»Glaubst Du denn, mein Junge, antwortete der Farmer lächelnd, Deine
Haare wüchsen schneller, wenn man daran zupfte?... Nein; das würde Dir
nur weh thun, weiter nichts.

-- So darf man das also nicht?

-- Nein; niemals soll man jemand, und wäre das auch nur eine Pflanze,
wehe thun. Laß nur den Sommer kommen, die Natur ihr Werk verrichten,
dann werden die grünen Sprossen zu schönen Halmen geworden sein, die wir
abmähen, um das Stroh und die Körner zu gewinnen.

-- Glauben Sie, Herr Martin, daß die Ernte dieses Jahr gut sein wird?

-- Allen Anzeichen nach, ja. Der Winter ist nicht gar so streng gewesen,
und seit dem Frühjahre haben wir mehr sonnige als regnerische Tage
gehabt. Gott gebe, daß das noch drei Monate so fortgeht, dann liefert
die Ernte reichlich die Abgaben und den Pachtzins.«

Immerhin gab es Feinde, die nicht zu vernachlässigen waren: die
gefräßigen Vögel, die auf den Feldern Irlands umherschwärmen. Von den
Schwalben, die während ihrer kurzen Anwesenheit hier blos Insecten
verzehren, war ja nicht zu reden. Dagegen verursachten die frechen,
nimmersatten Sperlinge und auch die Krähen dem Landmann hier sehr
fühlbaren Schaden.

Die abscheulichen Vögel versetzten Findling förmlich in Wuth, und dabei
schien es noch, als ob sie sich über ihn lustig machten. Wenn er seine
Schafe nach der Weide trieb, flatterten sie in schwarzen Schaaren empor
und flogen mit scharfem Geschrei, die Füße herabhängend, davon. Es
waren Vögel von enormer Spannweite, deren große Flügel sie sehr schnell
hinwegtrugen. Findling verfolgte sie hitzig und hetzte auch Birk auf
sie, der dann bellte, bis ihm der Athem verging. Was war aber gegen
die Räuber, denen man sich nicht nähern konnte, zu beginnen? Sie narren
einen noch auf zehn Schritte Entfernung; dann tönt's »Krroa... krroa!«
und die Wolke zerstäubt.

Am meisten ärgerte es Findling, daß die inmitten des Getreides
aufgestellten Vogelscheuchen offenbar gar nichts nützten. Sim hatte ganz
entsetzlich aussehende Männer mit ausgestreckten Armen fabriciert, deren
zerrissene Bekleidung sich bei jedem Windhauch bewegte. Kinder
hätten sich vielleicht davor gefürchtet... die Krähen?... Nicht im
geringsten! Vielleicht konnte man eine noch mehr erschreckende und nicht
so stumme Vorrichtung ersinnen; dieser Gedanke kam unserm kleinen Helden
nach langer Ueberlegung. Wohl bewegt die Vogelscheuche bei genügendem
Winde scheinbar die Arme, doch sie spricht, sie schreit nicht; hierin
mußte sie vervollkommnet werden.

Ein vortrefflicher Gedanke, wie jeder zugeben wird, und um ihn
auszuführen, hatte Sim am Kopfe der Gestalt nur eine Schnarre
anzubringen, die vom Winde mit Geräusch gedreht wurde.

Wenn die Krähen darüber an den beiden ersten Tagen zwar nicht zu
erschrecken, doch aber erstaunt zu sein schienen, so achteten sie am
dritten Tage schon gar nicht mehr darauf, und Findling sah sie sich
ruhig auf den Zappelmann setzen, dessen Schnarre mit ihrem Gekrächz
nicht wetteifern konnte.

»Entschieden ist nicht alles vollkommen hienieden!« dachte der Knabe.

Im übrigen ging auf der Farm alles den gewohnten Gang. Findling war so
glücklich wie möglich. An den langen Winterabenden hatte er im Schreiben
und Rechnen gute Fortschritte gemacht. Wenn er jetzt gegen Abend
heimkehrte, brachte er zuerst seine Buchführung in Ordnung. Diese
umfaßte neben den Eiern der Hühner auch die Küchlein im Stalle, die am
Tage, wo sie ausgekrochen waren, aufgeschrieben und numeriert wurden.
Dasselbe galt von den geworfenen Ferkeln und Kaninchen, die in Irland
wie anderswo gliederreiche Familien bilden. Dem jungen Buchhalter machte
das manche Arbeit. Man wußte ihm aber auch Dank dafür. Er bewies so viel
Ordnungssinn, daß man ihn darin eher noch bestärkte, und jeden Abend
übergab ihm Martin seinen Kieselstein, der in der Kruke aufbewahrt
wurde. Diese Kiesel hatten für den Knaben ebenso viel Werth wie
Schillinge. Geld ist ja überhaupt nur eine Sache des Uebereinkommens.
Der Steintopf enthielt außerdem auch die goldne Guinee, die er für sein
erstes Auftreten in Limerick erhalten und deren er, ohne selbst einen
Grund zu wissen, auf der Farm noch gar nicht Erwähnung gethan hatte.
Da er dafür hier, wo es ihm an nichts fehlte, keine Verwendung sah,
schätzte er sie fast geringer als die kleinen Steine, die seinen Eifer
und seine gute Aufführung bezeugten.

Da die Witterung immer günstig geblieben war, begann man schon in der
letzten Juliwoche mit der Heuernte, die sehr reichlich ausfiel. Alle
Insassen des Pachthofes hatten dabei zu thun. Murdock, Sim und den
beiden Lohnarbeitern fiel es zu, gegen fünfzig Acres Gras abzumähen. Die
Frauen halfen dann das Gras auszubreiten, um es zu trocknen, ehe es
in »Moffles« (etwa »Feimen«) aufgestapelt wurde, von denen aus man es
endlich nach den Scheuern schafft. In einem so regenreichen Lande ist
natürlich jeder Tag kostbar und man beeilt sich, von jedem guten
Wetter Nutzen zu ziehen. Um Martine und Kitty unterstützen zu können,
vernachlässigte Findling eine Woche lang sogar seine Heerde ein wenig.

So verfloß das Jahr, eines der glücklichsten, das Martin auf der Farm
erlebt hatte. Höchstens beklemmte es ihn, von Pat keine Nachricht
erhalten zu haben. Es sah fast aus, als bringe die Anwesenheit
Findlings dem Hause Glück und Segen. Als der Abgabeneinsammler und der
Pachtzinserheber sich einstellten, wurden sie bei Heller und Pfennig
bezahlt. Auf den nächsten milden und feuchten Winter folgte ein zeitiger
Frühling, der bei den Landleuten die gehegten Erwartungen erfüllte.

Nun ging die Thätigkeit auf dem Felde wieder an. Findling verbrachte
draußen mit Birk und seinen Schafen die gewohnten langen Tage. Er sah
die Feldfrucht grünen, er lauschte dem ganz feinen Geräusch, das bei der
Entwicklung der Halme vom Roggen und vom Hafer ausgeht; ihn belustigte
der Wind, der die langbärtige Gerste zerzauste. Und weiter sprach man
zu Hause auch von einer andern, ungeduldig erwarteten Ernte, worüber die
Großmutter heimlich lächelte. Wirklich vergingen keine drei Monate, als
die Familie Mac Carthy's durch ein ihr von Kitty geschenktes Mitglied
vermehrt wurde.

Während der Heuernte im August und mitten in der dringlichsten Arbeit
bekam einer der Arbeiter das Fieber und konnte seine Arbeit nicht
fortsetzen. An seiner Stelle galt es nun einen andern, noch feiernden
Mäher zu schaffen, wenn sich ein solcher fand. Das mißlichste dabei
war, daß Martin einen halben Tag opfern mußte, um nach Silton zu gehen.
Deshalb nahm er es gern an, als Findling sich hierzu anbot.

Man konnte sich schon auf ihn verlassen, daß er einen erhaltenen Auftrag
gewissenhaft ausführte. Fünf Meilen auf einer ihm von den sonntäglichen
Kirchgängen her bekannten Straße zurückzulegen, war ihm ja ein kleines.
Von der Farm frühzeitig aufbrechend, versprach er, noch vor Mittag
zurück zu sein.

Findling schlug einen schnellen Schritt ein und trug in seiner Tasche
einen Brief des Farmers an den Gasthalter in Silton, in einem kleinen
Rucksack aber einige Mundvorräthe für den Weg.

Das Wetter war schön; von Osten her wehte ein erfrischender Wind, und so
waren die ersten drei Meilen bald überwunden.

Auf dem Wege und im Innern der vereinzelten Häusern befand sich kein
Mensch. Alle waren auf den Feldern beschäftigt. Auf Sehweite hinaus
zeigte sich das Land mit Tausenden von Moffles bedeckt, die bald
eingefahren werden sollten.

An einer Stelle trifft die Landstraße hier an ein dichtes Gehölz, um
das sie etwa eine Meile weit herumführt. Um Zeit zu ersparen, hielt
es Findling für angezeigt, den Wald gleich zu durchkreuzen. Er schritt
hinein, nicht ganz frei von der angebornen Furcht der Kinder vor dem
Walde, in dem sich oft Diebe aufhalten, dem Walde, in dem Wölfe hausen
und in dem alle Schauergeschichten spielen, die man in der Dämmerung
aufzutischen pflegt. Was den Wolf angeht, so betet Paddy gern zu allen
Heiligen, diesen bei guter Gesundheit zu erhalten, und er nennt das
Raubthier gar »seinen Gevatter«.

Findling hatte kaum hundert Schritte auf einem schmalen Pfade
zurückgelegt, als er angesichts eines Mannes stehen blieb, der am Fuße
eines Baumes lag.

War das ein Reisender, den hier die Kräfte verlassen hatten, oder nur
ein Fußgänger, der vor der Fortsetzung seines Weges etwas ausruhte?

Findling betrachtete ihn, und da jener sich nicht bewegte, ging er
vorwärts.

Die Arme gekreuzt und den Hut über die Augen gezogen, lag der Mann in
tiefem Schlafe. Er schien jung zu sein, höchstens fünfundzwanzig Jahre
alt. An seinen beschmutzten Stiefeln und der staubigen Kleidung sah man,
daß er, jedenfalls von Tralee her, eine weite Strecke gewandert sein
mochte.

Am meisten erregte es aber die Aufmerksamkeit Findlings, daß der
Fremde ein Seemann sein mußte, das verrieth seine Tracht und ein großer
getheerter Kleidersack. Auf diesem stand eine Adresse, die der Knabe
beim Näherkommen lesen konnte.

»Pat, rief er überrascht, das ist Pat!«

Wirklich war es Pat, den man schon an der Aehnlichkeit mit seinen
Brüdern erkennen konnte, Pat, von dem so lange jede Nachricht fehlte und
dessen Heimkehr so sehnsüchtig erwartet wurde.

Schon wollte Findling ihn durch einen Anruf erwecken... er hielt inne.
Er sagte sich, wenn Pat an der Farm erschien, ohne daß jemand darauf
vorbereitet war, so würden seine Mutter und seine Großmutter wenigstens
dadurch so erregt werden, daß es ihnen schaden könnte. Nein, besser war
es, Martin zu benachrichtigen; dieser würde die Frauen dann vorsichtig
auf das Eintreffen ihres Sohnes und Enkels vorbereiten. Der Auftrag an
den Gasthalter von Silton konnte auch morgen ausgerichtet werden.
Und übrigens war Pat, als Kind der Familie, ja auch eine gegebene
Hilfskraft, die gewiß jede andre aufwog. Der Wandrer war wirklich
ermüdet, denn er hatte Tralee, bis wohin die Eisenbahn führte, schon
mitten in der Nacht verlassen. Wenn er sich aber hier erhob, würde er
die Farm ganz gewiß schnell erreichen. Vorzüglich kam es Findling also
darauf an, vor jenem dort einzutreffen.

Das Bündel wollte er ihn aber doch nicht tragen lassen, das konnte
Findling wohl den eignen Schultern aufbürden, und mit um so mehr
Vergnügen, als es ja der Reisesack eines Matrosen war, ein Sack, der vom
weiten Meere herkam.

So faßte er diesen am Knoten des Strickes, der ihn oben verschloß, warf
ihn sich auf den Rücken und trabte in der Richtung nach der Farm ab.

Erst aus dem Walde, hatte er nur der Landstraße zu folgen, die sich von
da eine halbe Meile in schnurgrader Linie hinzog.

Findling hatte aber kaum fünfhundert Schritte in dieser Richtung
zurückgelegt, als er hinter sich lautes Rufen vernahm. Er wollte jedoch
weder stehen bleiben, noch seinen Schritt verlangsamen, im Gegentheil
suchte er einen Vorsprung zu gewinnen.

Der freilich, der hinter ihm rief, der lief auch.

Das war Pat.

Beim Erwachen hatte er seinen Sack nicht mehr gefunden. Erzürnt eilte er
aus dem Walde und sah das Kind gerade noch bei einer Biegung des Weges.

»He! Dieb! Wirst Du still stehen?«...

Begreiflicher Weise hörte Findling hierauf nicht, sondern lief aus allen
Kräften davon. Mit dem Sack auf dem Rücken konnte es freilich nicht
fehlen, daß er von dem schnellfüßigen Seemanne eingeholt würde.

»Heda, Dieb Du!... Du entwischt mir nicht... Dir ist Deine Strafe
gewiß!«

Da Findling bemerkte, daß Pat kaum noch zweihundert Schritt weit hinter
ihm war, ließ er den Sack fallen und stürmte nun erst recht weiter.

Pat nahm seinen Sack auf und setzte die Verfolgung fort.

Kurz, gerade vor der Farm gelang es Pat noch, das Kind am Kragen zu
packen.

Martin und seine Söhne waren auf dem Hofe mit dem Abladen von Futter
beschäftigt. Da entfuhr ihnen ein Freudenschrei, den sie gar nicht zu
unterdrücken suchten.

»Pat... mein Junge!

-- Bruder... Bruder!«

Schon eilten auch Martine mit Kitty und kam selbst die Großmutter herzu,
um Pat in die Arme zu schließen.

Mit freudestrahlenden Augen stand Findling dabei und wartete, ob ihm
auch eine Begrüßung zutheil würde....

»Ah! Der Kleine, der mich bestohlen hatte!« rief dafür Pat.

Mit einigen Worten war alles erklärt, und auf Pat zustürmend, kletterte
Findling diesem an den Hals, als ob er den Mastkorb eines Schiffes hätte
erklimmen sollen.




XIII.

Zweifache Taufe.


Das war ein Jubel bei den Mac Carthy's! Pat heimgekehrt, der junge Mann
in der Farm von Kerwan, die ganze Familie vereinigt, die drei Brüder
an einem Tische, die Großmutter mit ihrem Enkel, Martin und Martine mit
allen ihren Kindern!

Das Jahr ließ sich gut an. Futter gab es in Menge und die Ernte
versprach auch sehr gut zu werden. Dazu die Kartoffeln, über deren
Knollen fast die Furchen anschwollen. Das war fertiges Brod, das nur
gekocht zu werden brauchte, und dazu reichte ein wenig Gluth auf dem
ärmlichsten Herde.

Zuerst richtete Martine an Pat die Frage:

»Bist Du nun für ein ganzes Jahr zu uns heimgekehrt, mein Kind?

-- Nein, Mutter, nur für sechs Wochen. Ich kann meinen schönen Beruf
nicht aufgeben. Nach sechs Wochen muß ich in Liverpool eintreffen, wo
ich wieder an Bord des »Guardian« gehe....

-- Schon in sechs Wochen! murmelte die Großmutter.

-- Ja; diesmal aber als Hochbootsmann, und der Hochbootsmann auf einem
großen Schiffe hat schon etwas zu bedeuten....

-- Schön, Pat, sehr schön! fiel Murdock ein, der warm die Hand des
Bruders drückte.

-- Bis zum Tage der Abreise, fuhr der junge Seemann fort, sollen
Euch indeß, wenn Ihr ein Paar gesunde Arme braucht, die meinigen zur
Verfügung stehen.

-- Das läßt sich hören,« antwortete Martin.

Heute lernte Pat nun auch seine Schwägerin Kitty kennen, deren Hochzeit
erst nach seiner letzten Einschiffung stattgefunden hatte. Er freute
sich aufrichtig, in ihr eine so vortreffliche, zu seinem Bruder passende
Frau zu finden, doch auch darauf, in der nächsten Zeit... Onkel zu
werden, und er umarmte Kitty wie eine in seiner Abwesenheit ins Haus
gekommene Schwester.

Findling war diesen Herzensergießungen gegenüber auch nicht
unempfindlich geblieben, wenn er sich bisher auch etwas abseits hielt.
Jetzt kam indeß an ihn die Reihe, denn er gehörte ja ebenfalls zur
Familie. Pat hörte dabei des Knaben Lebens- und Leidensgeschichte, die
ihn tief rührte. Von Stund' an wurden die beiden nun die besten Freunde.

»Und ich, wiederholte der junge Seemann lachend, ich konnte ihn für
einen Dieb halten, als ich ihn mit meinem Kleidersack davongehen
sah! Wahrlich, er lief Gefahr, aus Versehen ein paar Ohrfeigen
wegzubekommen....

-- Die hätten mir auch nicht weh gethan, versicherte Findling, denn ich
hatte Ihnen ja nichts gestohlen.«

Dabei betrachtete er den kräftigen, breitschultrigen jungen Mann mit so
entschlossenem Wesen, ungezwungenem Auftreten und mit von Sonne und
Wind gebräuntem Gesicht. Ein Seemann erschien ihm als ein ganz besondres
Wesen.... Deshalb begriff er recht gut, daß Pat der Günstling der
Großmutter war, die ihn an der Hand hielt, wie um ihn nicht zu zeitig
wieder fortgehen zu lassen.

Zunächst erzählte Pat nun seine Geschichte und erklärte, warum er so
lange in der weiten Welt gewesen sei, ohne von sich Nachricht zu geben.
Ja beinahe wäre er überhaupt nicht zurückgekehrt. Der »Guardian« war an
einer der Inseln des Indischen Meeres gestrandet. Die Schiffbrüchigen
fanden im Laufe von dreizehn Monaten keine andre Zuflucht, als dieses
kleine, außerhalb der Seeverkehrswege gelegene Stückchen Land, wo sie
von der übrigen Welt völlig abgeschlossen waren. Mit großer Mühe gelang
es ihnen da endlich, den »Guardian« wieder flott zu machen, und neben
dem Schiffe auch dessen Ladung zu retten. Pat hatte sich dabei durch
seinen Eifer und seine Gewandtheit so vortheilhaft ausgezeichnet,
daß die Firma Marcuart ihn auf Vorschlag seines Kapitäns für eine
demnächstige Reise nach dem Stillen Ocean als Hochbootsmann anstellte.
Alles hatte sich also zum besten gewendet.

Am folgenden Tag gingen alle Insassen von Kerwan an die Arbeit, und da
zeigte es sich, durch welch vorzügliche Kraft der erkrankte Lohnarbeiter
ersetzt war.

Mit dem September kam schon die Erntezeit heran. Blieb der Ertrag an
Weizen auch wie gewöhnlich recht mittelmäßig, so gab es doch desto mehr
Roggen, Gerste und Hafer. Das Jahr 1878 gehörte entschieden zu den sehr
fruchtbaren Jahren. Der Pachteinsammler hätte sich noch vor Weihnachten
einstellen können, er wäre in blankem Golde bezahlt worden. Auch
Mundvorräthe und Futter für den Winter gab es in Hülle und Fülle.
Besondere Ersparnisse konnte Martin Mac Carthy freilich immer noch
nicht zurücklegen. Er lebte von seiner Hände Arbeit, die ihm wohl die
Gegenwart, nicht aber die Zukunft sicherte. Die Zukunft der irischen
Pächter hängt ja immer von klimatischen Launen ab. Das lag Murdock immer
im Sinne. Derartige sociale Verhältnisse, die nur mit der Abschaffung
der Landlordwirthschaft und der Zurückgabe des Bodens an die Bebauer
desselben gegen mäßige Abzahlung endigen konnten, steigerten seinen Haß
nur weiter.

»Du mußt Vertrauen haben!« redete ihm Kitty zu.

Murdock sah sie an, ohne eine Antwort zu geben.

Am 9. dieses Monats trat das ungeduldig erwartete Ereigniß in der Farm
von Kerwan ein: Kitty, die dabei kaum zum Liegen kam, schenkte einem
Mädchen das Leben. Das war aber eine Freude! Das Baby wurde begrüßt,
wie ein Engel, der ins Haus geflogen wäre. Großmutter und Martine rissen
sich darum. Murdock lächelte, wenn er sein Kind in den Arm nahm. Seine
beiden Brüder standen voll Bewunderung vor ihrem Nichtchen. Es war
ja die erste Frucht am weiblichen Zweige des Familienstammbaumes, des
Kitty-Murdock'schen Zweiges, in Erwartung, daß die beiden andern
darin in gleicher Weise nachfolgen würden. Alle beglückwünschten und
liebkosten die junge Mutter, für die sie sich in zärtlichster Sorge
überboten. Wie reichlich flossen dabei die Thränen der Rührung! Es
schien fast, als wäre das Haus vor der Geburt des kleinen Wesens noch
ganz leer gewesen.

Der Findling hatte sich noch nie so ergriffen gefühlt wie bei dem ersten
Kusse, den man ihm der Neugebornen zu geben gestattete.

Daß dieses frohe Ereigniß Veranlassung zu einem besondern Feste geben
müsse, sobald erst Kitty daran theilnehmen konnte, daran zweifelte
keiner. Das Programm dazu war übrigens sehr einfach. Nach Vollziehung
der Taufe in der Kirche von Silton sollten sich der dortige Priester
und einige Freunde Martins -- ein halbes Dutzend Pächter aus der
Nachbarschaft, die einen Weg von zwei bis drei Meilen nicht scheuten --
in der Farm einfinden. Hier würde sie ein reichliches, nahrhaftes
Frühstück erwarten. Gewiß vereinigten sich die genannten alle gern
einmal mit der achtungswerthen Pächterfamilie, deren größte Freude es
war, daß auch Pat dem kleinen Feste noch beiwohnen konnte, da dessen
Abreise erst in den letzten Tagen des Septembers bevorstand.

Nun tauchte zunächst die Frage auf, wie das Kind genannt werden sollte.

Die Großmutter schlug den Namen »Jenny« vor, und hiermit war diese
Schwierigkeit ebenso gehoben, wie die wegen einer Taufzeugin; denn ohne
Zweifel war es der alten Frau eine herzliche Freude, selbst als solche
einzutreten. Wohl trennten Täufling und Pathin drei Generationen und ein
kleines Mädchen hätte wohl eine jüngere Pathin gebrauchen können. Hier
lag jedoch eine Gefühlssache vor, die alle andern Rücksichten beiseite
setzen ließ; es war als wenn die bejahrte Frau sich selbst neuer
Mutterschaft erfreute, und ihren Augen entquollen Thränen der Rührung,
als ihr jener Antrag mit einiger Feierlichkeit gemacht wurde.

Aber der Pathe?... Das war schwieriger. Von einem Fremden konnte nicht
die Rede sein, da ja noch zwei Brüder oder Onkels, Sim und Pat, im Hause
waren, die dieses Ehrenamt beanspruchen konnten. Die Wahl des einen
mußte dem andern aber als Zurücksetzung erscheinen, wenn auch Pat, der
ältere, hierin etwas im Vorsprunge war. Dieser befand sich als Seemann
aber die meiste Zeit auf dem Meere, so daß er seinen Verpflichtungen als
Pathe kaum nachkommen konnte. Das mußte er zu seinem Leidwesen zugeben,
und so blieb denn nur Sim übrig.

Da sprach die Großmutter einen Gedanken aus, der zuerst allerdings
überraschte. Jedenfalls stand es ihr aber zu, den Gevattersmann zu
bestimmen, und ihre Wahl fiel auf Findling.

Obgleich eine Waise und von unbekannter Familie, wußten ja alle, daß er
intelligent, arbeitsam und ihnen treu ergeben war, und alle liebten und
achteten ihn auf der Farm. Und doch?... Findling?... Er zählte ja kaum
siebeneinhalb Jahre, etwas wenig für einen Taufzeugen.

»Thut nichts, erklärte die Großmutter, was er an Jahren zu wenig hat,
habe ich wieder zu viel; das hebt sich auf.«

In der That war der Knabe noch nicht acht, die Großmutter aber
sechsundsiebzig Jahre alt. Das ergab für beide zusammen vierundachtzig
Jahre, zweiundvierzig für jeden, rechnete die Großmutter aus.

»Und kraft meines Alters,«... setzte sie hinzu.

Da sich alle bestrebten, gegen sie zuvorkommend zu sein, fand ihr
Vorschlag ohne Widerspruch Annahme. Die junge Mutter, die für Findling
eine Art mütterliche Zuneigung hegte, stimmte ebenfalls zu. Nur
Martin und Martine waren nicht ohne weiteres schlüssig, da über die
Familienverhältnisse des auf dem Friedhofe in Limerick gefundenen Knaben
gar keine Auskunft zu erhalten gewesen war.

Da machte Murdock den letzten Zweifeln ein rasches Ende. Er wies
darauf hin, daß der Knabe bei seinen vortrefflichen Anlagen und seinem
lobenswerthen Verhalten genug Sicherheit biete, daß er auch später seine
Pflichten erfüllen werde, und diese Darstellung führte die endliche
Entscheidung herbei.

»Willst Du denn? fragte er den Knaben.

-- Ja, Herr Murdock,« erklärte Findling.

Er antwortete mit so bestimmtem Tone, daß es jedem auffiel.
Unzweifelhaft war er sich klar über die Verantwortlichkeit, die er für
die Zukunft seines Pathenkindes auf sich nahm.

Am Morgen des 26. Septembers waren alle zu der heiligen Handlung bereit.
Mit den Sonntagskleidern angethan, begaben sich die Frauen im Wagen, die
Männer zu Fuß, und alle in gehobenster Stimmung nach der Pfarrkirche in
Silton.

Kaum hatten sie diese aber betreten, als eine Schwierigkeit auftauchte,
an die vorher niemand gedacht hatte, bis der Parochialgeistliche darauf
hinwies.

Auf seine Frage, wer der Taufzeuge der Neugebornen sei, antwortete
Murdock:

»Hier, Findling.

-- Wie alt ist dieser?

-- Siebenundeinhalb Jahr.

-- Siebenundeinhalb?... Das ist zwar etwas jung, doch kein gesetzliches
Hinderniß. Er hat doch wohl einen andern Namen als blos Findling?

-- Wir kennen keinen andern, Herr Pfarrer, ließ die Großmutter sich
vernehmen.

-- Keinen andern?« versetzte der Geistliche.

Dann wendete er sich an den Knaben.

»Du mußt doch einen Taufnamen haben? fragte er.

-- Ich habe aber keinen, Herr Pfarrer.

-- O doch, mein Kind! Oder solltest zufällig überhaupt nicht getauft
sein?«

Ob nun zufällig oder nicht, jedenfalls konnte Findling darüber keinerlei
Aufschluß geben, da er sich an eine ihn betreffende Tauffeierlichkeit
natürlich nicht erinnern konnte. Es erschien wirklich seltsam, daß die
so religiöse und gewissenhafte Familie Mac Carthy nicht schon früher auf
diese Frage gekommen war. In der That hatte aber niemand daran gedacht.

In der Meinung, nun unmöglich der Taufzeuge der kleinen Jenny werden zu
können, stand Findling völlig verblüfft daneben.

»Nun, wenn es noch nicht geschehen ist, Herr Pfarrer, rief da Murdock,
so kann er ja getauft werden.

-- Doch, wenn er das schon wäre! bemerkte die Großmutter.

-- O, so wird er einfach ein doppelter Christ, sagte Sim. Taufen Sie ihn
nur vor der Kleinen.

-- Nun ja, warum nicht? antwortete der Geistliche.

-- Dann könnte er als Taufzeuge dienen?

-- Gewiß.

-- Und es hindert nichts die Vornahme dieser zwei Taufen gleich nach
einander? erkundigte sich Kitty.

-- Das ich nicht wüßte, erklärte der Geistliche, vorausgesetzt, daß sich
für Findling ein Taufzeuge und eine Zeugin findet.

-- Dazu erbiete ich mich, sagte Martin.

-- Und ich mich ebenfalls,« setzte Martine hinzu.

Wie glücklich fühlte sich der Knabe, auf diese Weise mit seinen
Pflegeeltern noch enger verbunden zu werden.

»O, ich danke... ich danke allen...!« rief er wiederholt, während er
der Großmutter, Kitty und Martine lebhaft die Hände drückte.

Da er nun einen Taufnamen erhalten mußte, entschied man sich für »Edit«,
den Kalenderheiligen des betreffenden Tages.

Edit!... Recht so! Höchst wahrscheinlich blieb ihm aber doch der Name
Findling auch ferner; hatten sich doch alle daran schon so sehr gewöhnt.

Der junge Kirchenzeuge wurde also zuerst getauft; nach dieser Ceremonie
hielten die Großmutter und er das Kind über das Taufbecken und die
Kleine wurde, entsprechend dem Wunsche ihrer Pathin, »Jenny« getauft.

Sofort verkündeten die Glocken dem Kirchspiele die Vollziehung der
feierlichen Handlung, krachten vor der Kirche Kanonenschläge und regnete
es Coppers auf die Straßenjugend der Ortschaft. Was hatte sich aber
alles vor der Thüre des Gotteshauses versammelt! Es schien, als ob alle
Armen der Grafschaft sich hier ein Stelldichein gegeben hätten.

Die Heimkehr nach der Farm erfolgte in fröhlichster Stimmung. Mit
dem Geistlichen an der Spitze zogen die Festgäste, ein gutes Dutzend
Nachbarn und Nachbarinnen, dahin. Alle nahmen an der im großen
Zimmer aufgestellten Tafel Platz, für die die Gerichte von einer
ausgezeichneten, eigens aus Tralee geholten Köchin bereitet waren.

Selbstverständlich waren die Speisen bei diesem denkwürdigen Festmahle
alle den Vorräthen der Farm entnommen. Von außerhalb rührte gar nichts
her, weder die Hammelkeulen mit schmackhaft gewürzter Sauce, noch
die Hühnerbraten mit saftiger Beilage, weder die Schinken, noch die
Kaninchenröstbraten, nicht einmal die Salme und Hechte, denn diese waren
eigenhändig im Cashen gefangen worden.

Findling hatte selbstverständlich alle die schönen Sachen unter die
Rubrik »Abgänge« eingetragen und so seine Buchführung auf dem Laufenden
erhalten. Nun konnte er mit Gewissensruhe essen und trinken. Hier saßen
auch Tischgäste, die mit gutem Beispiele vorangingen, Leute mit Magen,
die weniger nach der Herkunft der Speisen, als nach deren Menge fragten.
So blieb von dem Frühstück rein nichts übrig, weder von den drei warmen
Gerichten, noch von der Nachspeise, obwohl der Plum-pudding aus Reis von
gewaltiger Größe war und es für jede Person noch eine Johannisbrodtorte
und eine Menge Sellerie gab.

Und dazu der Ingwerwein, der Stout, der Porter, das Sodawasser und der
Usquebaugh (eine Art Whisky), der Brandy und der Gin, nebst dem Grok,
hergestellt nach dem berühmten Recepte: »=hot, strong and plenty=« --
»heiß, stark und reichlich« -- genug, um die geübtesten Trinker
der Provinz unter den Tisch zu bringen. Gegen Ende der drei Stunden
währenden Mahlzeit glänzten denn auch die Augen wie Feuerbrände und
glühten die Wangen wie Kohlen im Kamin. In der Familie Mac Carthy
huldigte man der Nüchternheit. Kein Glied derselben besuchte die für
die Katholiken begehenden »Aether-Schänken«, noch viel weniger die
»Alkohol-Schänken«, wo die Protestanten verkehrten. Doch bei einem
Taufschmause konnte man sich wohl ein wenig gehen lassen, und dann war
ja auch der Geistliche bei der Hand, um die Absolution zu ertheilen.

Martin beobachtete seine Gäste auch sorgsamst und fand dabei unerwartete
Unterstützung durch seinen zweiten Sohn Pat, der sich sehr mäßig
gehalten hatte, während Sim vielleicht »einen kleinen Spitz« davontrug.

Und als ein dicker Farmer aus der Nachbarschaft sich wunderte, daß ein
Seemann ein so zaghafter Trinker sei, erwiderte der junge Mann:

»Das kommt daher, daß ich die Geschichte John Playne's kenne!

-- Die Geschichte John Playne's?

-- Die Geschichte oder die Ballade, wie Sie wollen.

-- Wohlan denn, singen Sie uns die Ballade vor, Pat, sagte der
Geistliche, der diese Ablenkung sehr gern sah.

-- Ja, sie ist etwas trauriger Art und etwas sehr lang.

-- Thut nichts, mein Sohn, wir haben Muße genug, sie bis zum Ende zu
hören.«

Darauf hin begann Pat das Klagelied mit so machtvoller, ergreifender
Stimme, daß Findling das ganze Meer aus seinem Munde tönend glaubte.


    Das Klagelied von John Playne.


                 I.

    John Playne, glaubt mir's ruhig,
    War grau am ganzen Haupt,
    Doch trinken mußt' er immer
    Bis ihn der Tod geraubt.

    Zwei Stunden in der Schänke...
    Braucht' es denn wohl noch mehr?
    Da war sein Kopf gefüllt zwar,
    Der Beutel aber leer.

    Ha! Wenn es draußen fluthet,
    Winkt' ihm ja neuer Lohn,
    Und den dann zu vertrinken,
    Darauf freut' er sich schon.

    Das ist nun einmal Sitte
    Der Fischer von Kromer,
    Sie haben schwere Arbeit...
    Nun flott, John Playne, auf's Meer!


»Nun, da ist er ja gleich aus der Schänke heraus, rief Sim.

-- Das ist hart für einen erprobten Trinker! bemerkte der dicke Farmer.

-- Er hat wohl schon genug getrunken, äußerte Martin.

-- Schon zu viel!« meinte der Pfarrer.

Pat fuhr nun fort:


                 II.

    John Playne's kleines Fahrzeug,
    Sehr spitz gebaut am Bug,
    Mit Klüverbaum und Fockmast,
    Den Namen »Cavan« trug.

    Doch John muß sich beeilen,
    Daß er gelangt an Bord,
    Schon sind die andern Fischer
    Weit aus dem Hafen fort.

    Das Meer ist grausam pünktlich,
    Hält die Gezeiten ein:
    Zwei Stunden noch, die Ebbe
    Wird dann vorüber sein.

    Drum wenn sich John nicht sputet,
    Sofort hinaus zu gehn,
    Und gar das Wetter umschlägt,
    Ist's um sein Boot geschehn.


»Er wird schon durch eigne Schuld noch Unglück haben, ließ sich die
Großmutter vernehmen.

-- Desto schlimmer für ihn!« versetzte der Pfarrer.

Pat fuhr weiter fort:


                 III.

    Tief dunkel... droh'nder Himmel!
    Schon schlägt der Wind zurück,
    Laut braust es in den Lüften,
    Und John mit Katzenblick

    Schaut auf und lauscht verwundert...
    Was drang da an sein Ohr?
    Was stößt ans Felsenufer?
    Er rafft sich schwer empor:

    Da sieht sein Boot er schwanken,
    Bedrängt vom Wogenring,
    Ein Glück, daß es nicht splitternd
    Dabei zugrunde ging.

    John Playne flucht und wettert:
    »Das halt' der Teufel aus!
    Bei solchem Sturmeswüthen
    Soll man aufs Meer hinaus!«

    Doch klettert er ins Fahrzeug,
    Ins rollende hinein,
    Und zündet seine Pfeife
    Mit Schwamm und Feuerstein.

    Er stülpt sich den Südwester
    Zum Schutze über, dann
    Theerrock und Wasserstiefeln
    Legt er arg schwankend an.

    Mit Mühe richtet Playne
    Den Mast im Boote auf
    Und zieht das schwere Segel
    Mit kräft'gem Ruck hinauf.

    Dann zerrt er an der Drisse,
    Das Klüversegel steigt,
    Ob auch das kleine Fahrzeug,
    Sich tief zur Seite neigt.

    Er läßt das Sorrtau schießen;
    Das Steuerruder faßt
    Die nerv'ge Hand und spannt nun
    Das Segel aus am Mast.

    Doch als am Kruzifixe
    Des Strands vorbei er fliegt,
    Macht er des Kreuzes Zeichen,
    So toll sich's Boot auch wiegt.


»Ein Irländer darf es unter keinen Umständen vergessen, sich zu
bekreuzigen, bemerkte Murdock ernst.

-- Selbst wenn er etwas getrunken hat, setzte Martin hinzu.

-- Der Herr sei ihm gnädig!« schloß der Geistliche die Zwischenrede.

Pat nahm das Klagelied wieder auf.


                 IV.

    Die Bai mißt gut zwei Meilen
    Bis hin zum Fischergrund;
    Hier führt der Weg im Zickzack,
    Dort fast im Bogen rund.

    Und selbst am hellen Tage,
    Hat, wer im Herzen zagt,
    Noch keiner ohne Bangen
    Die Fahrt hindurch gewagt.

    John kennt des Wassers Tiefen,
    Weiß, wo der Grund sich senkt,
    Und sichern Aug's und Armes
    Er ohne Zögern lenkt

    Das Fahrzeug nach dem Vorberg
    Mit altem Hafenlicht,
    Wo nicht so toll sich's Wasser
    Wie näh'r am Lande bricht.

    John spannt das Segel weiter,
    Daß voll der Wind es schwellt
    Und klatschend vorn am Buge
    Der Wogen Berg zerspellt.

    Doch schon ist er am Ende
    Der Durchfahrt nach Nordost
    Wo Fluthwell' oder Ebbe
    Nicht mehr so grimmig tost.

    Er kennt die schwanken Zeichen
    Des Wasserwegs, den Sand
    Zur linken, wo manch Fahrzeug
    Sich elend festgerannt.

    Er knüpft die Schote fester
    Am Eisenringe schwer...
    John ist ein sich'rer Lootse...
    Er schwimmt auf hohem Meer!


»Auf dem offnen Meere, dachte Findling. O, wie schön muß das sein!«


                 V.

    Vor ihm die Wasserwüste,
    Die Wüste schwarz und wild,
    Wenn nicht ein fahles Leuchten
    Erhellt das düstre Bild.

    Am Himmel flieh'n die Wolken
    Mit Sturmeseile hin,
    Bald wird das schwere Wetter
    Die Küste überzieh'n.

    Da bricht's schon los, da pfeift es,
    Da heult es in der Luft
    Und reißt sie auf die Wogen,
    Wie eine droh'nde Gruft.


Pat unterbrach seinen Gesang. Diesmal wurde keine Bemerkung laut. Jeder
lauschte gespannten Ohres, als ob das Unwetter des Liedes sich über der
Farm von Kerwan entladen müßte und diese zum Fahrzeuge John Playne's
geworden wäre.


                 VI.

    Doch John kann nichts erschrecken.
    Ihn macht kein Blitzstrahl blind,
    Er will, wie oft schon früher,
    Aufkreuzen in den Wind.

    Weit bauschen sich die Segel;
    Er stellt sie anders ein
    Und steuert ohne Zagen
    Scharf in den Sturm hinein.

    Was kümmert's ihn, ob schäumend
    Entgegenbraust das Meer?
    Er will doch Trotz ihm bieten,
    Ist auch die Arbeit schwer.

    So wirft er aus die Kette
    Mit langem Sacknetz dran
    Und läßt es nach sich schleppen...
    Bald ist das Werk gethan.

    Mit Last am Heck erhält sich
    Ein Boot schon in der Fahrt
    Und weicht nicht aus dem Curse,
    Arbeitet's noch so hart.

    Drum greift -- mit schwerem Kopfe,
    Nach hier und dort den Blick
    Gewandt -- John nach der Flasche,
    Dem Trost im Mißgeschick.

    Er führt sie an die Lippen
    Und schlürft den scharfen Trank,
    Bis auf der Bank am Ruder
    Er stumpf zusammensank.

    Da scheint das weite Meer ihm
    Ein Teich zu sein voll Gin,
    Er träumt, er schwämme wohlig
    Allein darüber hin.


»Der Unbesonnene! rief Martin.

-- Man sagt ja, es gäbe einen Gott für die Trunknen! bemerkte Sim.

-- Da muß dieser aber viel zu thun haben, warf Martin ein.

-- Wir werden's ja sehen! erwiderte der Geistliche. Fahrt nur fort,
Pat.«


                 VII.

    Am nächsten Morgen leuchtet
    Die Sonn' in voller Pracht.
    Am Himmel leichte Wölkchen --
    Nachzügler von der Nacht.

    Wenn die Gefahr vorüber,
    Wer denkt dann noch daran?
    Schon tummeln sich die Fischer
    Am Hafen Mann für Mann.

    Und jedes Boot beeilt sich;
    Jetzt zieh'n sie Bord an Bord,
    gleich fröhlicher Regatta,
    Zum neuen Fange fort.


»Und John Playne? fragte Findling, sehr besorgt um den Trunknen, der,
das Sacknetz nachschleppend, eingeschlafen war.

-- Nur Geduld! mahnte ihn Martin.

-- Ich habe auch Angst um ihn!« setzte die Großmutter hinzu.


                VIII.

    Da... was ist dort geschehen?
    Das erste Fahrzeug weicht
    Aus dem gewohnten Curse,
    Wo's bald das Ziel erreicht.

    Und seiner Fährte schließen
    Die andern all' sich an;
    Grundlos wich nicht der Führer
    Aus der gewohnten Bahn.

    Ging wohl ein Boot verloren,
    Im tollen Sturm der Nacht?
    Hat einem Fischersmanne
    Er's nasse Bett gemacht?

    Da seht!... Es treibt ein Fahrzeug
    Gekentert auf dem Meer,
    Den Kiel nach oben schwankt es
    Und steuerlos umher.


»Gekentert! rief Findling entsetzt.

-- Gekentert!« wiederholte die Großmutter.


                 IX.

    Geschwind nun an die Arbeit!
    Erst zieht das Sacknetz ein
    Und legt es Masch' um Masche
    Ins nächste Boot hinein.

    Schon sieht man nerv'ge Hände
    Am Tau des Netzes ziehn
    Und in dem Boot es bergen...
    Ein Leichnam hing darin.

    Und diese düstre Seetrift,
    Entrissen jetzt dem Meer,
    Sie war bisher John Playne
    Der Fischer aus Kromer.


                 X.

    Nicht mehr von ihm gesteuert,
    Kam quer sein Boot zum Wind
    Das große Segel drückt' es
    dann nieder wie ein Kind.

    Gott sei der Seele gnädig
    Des armen, trunknen Narrn!...
    Hier fing sich ja der Fischer
    In seinem eig'nen Garn.

    O, welch ein graus'ger Anblick.
    Als man herein ihn zog,
    Trotz viel verschluckten Wassers,
    Schien er betrunken noch!


»Der Unglückliche! rief die mitleidige Martine.

-- Wir werden für ihn beten!« erklärte die Großmutter.


                 XI.

    Nun frisch aus Werk, ihr Leute,
    Wir schaffen ihn ans Land,
    Dort mag ein Grab er finden,
    Doch nicht zu nah am Strand.

    Legt ihn dahin, wo nicht mehr
    So viel er trinken kann,
    Und stellt nur Glas und Flasche
    Ans Grab als Warnung an....

    So endete John Playne,
    John Playne aus Kromer.
    Doch schon setzt ein die Ebbe,
    Ihr Fischer, rasch aufs Meer!


Die Stimme Pats klang wie eine Trompete, als er den letzten Vers
des traurigen Liedes sang. Auf die Tischgäste hatte dieses einen so
mächtigen Eindruck gemacht, daß sie sich -- als Zugabe auf zehn tüchtige
Gläser -- begnügten, nur noch einen Schluck auf die Gesundheit eines
jeden zu trinken. Dann trennte sich die Gesellschaft mit dem Vorsatze,
es John Playne nie gleich zu thun... nicht einmal auf dem festen Lande.




XIV.

Im Alter von kaum neun Jahren.


Als der große Festtag vorüber war, ging man auf der Farm wieder an die
gewohnte Feldarbeit. Pat merkte gewiß nichts davon, daß er einen Urlaub
zur Erholung angetreten hatte. Die Seeleute sind ja immer tüchtige
Arbeiter, auch wenn sie nicht draußen schwimmen. Pat war gerade zur
Erntezeit eingetroffen, und nach dem Getreide war jetzt noch das Gemüse
einzufahren. Findling wich fast niemals von der Seite Pats, der jenem
eine aufrichtige Freundschaft entgegenbrachte... die Freundschaft des
Matrosen für den Schiffsjungen. Nach beendetem Tagewerke und wenn sich
alle zum Abendbrode versammelt hatten, war es für Findling die größte
Freude, den jungen Seemann erzählen zu hören, wenn dieser über seine
Reisen, über allerlei Ereignisse, über die Stürme, die der »Guardian«
bestanden, und über so manche schnelle und herrliche Fahrt berichtete.
Am meisten interessierte er sich aber für die reiche, der Firma Marcuart
zugeführte Fracht, für die Schätze, die der Dreimaster nach Europa
heimgebracht hatte. Die Handelsangelegenheiten ließen in seinem
praktischen Geiste eine darauf abgestimmte Saite erklingen. Seiner
Ansicht nach stand der Rheder weit höher als der Capitän.

»Also das nennt man wohl Handelsgeschäfte treiben, Pat? fragte er.

-- Ja; man holt die Erzeugnisse aus den Ländern, wo Natur oder
Menschenhand sie hervorbringt, und verkauft sie da, wo das nicht der
Fall ist.

-- Und theurer, als man sie eingekauft hatte?...

-- Natürlich... man muß doch etwas erübrigen. Dann führt man wieder die
Erzeugnisse der andern Länder aus, um sie in der weiten Welt abzusetzen.

-- Auch wieder theurer, Pat?

-- Allemal etwas theurer, wenn das zu ermöglichen ist.«

Derartige Fragen des Knaben mußte Pat nun immer beantworten. Leider
und zur großen Betrübniß aller nahte jetzt die Zeit heran, wo er in
Liverpool wieder eintreffen mußte.

Am 30. September nahm er Abschied und als er sich von allen, die er
liebte, trennte, wußte ja keiner, wie lange man ihn nicht wiedersehen
würde. Er versprach jedoch, oft zu schreiben. Alle drückten ihn
herzlich in die Arme. Der Großmutter standen die Augen voll Thränen, sie
fürchtete ja bei ihrem hohen Alter, daß sie ihn vielleicht nicht mehr
vor dem Spinnrade am Kamin und in der Mitte ihrer Kinder wiederfinden
werde, wenn sie auch jetzt, ebenso wie die ganze Familie, gesund und
wohlauf war. Für den Winter, dessen Vorboten sich bereits einstellten,
war nach diesem sehr fruchtbaren Jahre auch nichts zu fürchten. Zu
seinem älteren Bruder wendete sich Pat mit den Worten:

»Sei doch nicht immer so sorgenvoll und nachsinnend, Murdock! Mit Muth
und gutem Willen ist alles zu überwinden....

-- Gewiß, Pat, wenn man nur etwas Glück hat. Dem Glücke aber kann keiner
befehlen. Sieh, Bruder, immerfort einen Boden zu bearbeiten, der nicht
Dir eigen ist und es nie sein wird, und überdies sich gar so sehr vom
Ausfall der Ernte abhängig zu wissen... daran werden Muth und guter
Wille zuschanden!«

Pat hätte nicht gewußt, was er dagegen anführen sollte, doch als er dem
älteren Bruder zum letzten Male die Hand reichte, flüsterte er ihm noch
zu:

»Verliere nur das Vertrauen nicht!«

Der junge Seemann wurde bis nach Tralee zu Wagen befördert, wobei sein
Vater, seine Brüder und Findling ihm das Geleit gaben und letzterer sich
recht traurig von jenem verabschiedete. Dann entführte ihn der Bahnzug
nach Dublin, von wo aus er sich mit einem Dampfer nach Liverpool begeben
wollte.

In den folgenden Wochen gab es auf der Farm noch tüchtig zu thun.
Zunächst mußte die eingeheimste Ernte ausgedroschen werden und dann
hatte Martin die Märkte der Nachbarschaft zu besuchen, um seine
Vorräthe, unter Zurückbehaltung des Samengetreides, zu verkaufen.

Diese Verkäufe interessierten den Knaben ungemein und deshalb nahm
ihn der Farmer auch dazu mit. Gierig nach Gewinn war Findling aber
keineswegs, nur sein Instinct wies ihn immer und immer wieder auf den
Handel hin. Im übrigen begnügte er sich mit dem Kieselstein, den ihm
Martin nach Verabredung jeden Abend einhändigte, und er freute sich,
seine Schätze wachsen zu sehen. Der irischen Rasse ist übrigens die
Sucht nach Gewinn im allgemeinen angeboren. Die Bewohner des Grünen Erin
verdienen einmal gerne Geld, wenn das in ehrlicher Weise möglich ist.
Und wenn der Farmer etwa auf dem Markte in Tralee ein gutes Geschäft
gemacht hatte, freute sich Findling ebenso herzlich darüber, als wenn
das ihm selbst angegangen wäre.

October, November und December verliefen recht gut. Die Arbeiten waren
längst beendigt, als sich der Einholer des Pachtzinses am Abende vor
Weihnachten in der Farm von Kerwan einstellte. Das Geld für ihn
lag bereit; doch als dieses erst gegen eine regelrechte Quittung
ausgetauscht war, blieb auf der Farm fast keines mehr übrig. Um es nicht
mit anzusehen, wie dieses mit saurem Schweiße gewonnene Geld aus dem
Hause ging, hatte sich Murdock sofort zurückgezogen, als der Einholer
nur sichtbar wurde. Immer hatte er die Unsicherheit der Zukunft vor den
Augen. Zum Glück war für den Winter gesorgt und die Vorräthe
gestatteten auch, die Arbeiten im Frühlinge ohne weitere Auslagen wieder
aufzunehmen.

Mit dem neuen Jahr trat sehr strenge Kälte ein, die jeden ans Haus
fesselte, wo es an Arbeit übrigens nicht fehlte. Mindestens war doch
für die Pflege und die Ernährung der Thiere zu sorgen. Findling war vor
allem der Hühnerhof anvertraut und auf ihn konnte man sich ja verlassen.
Hühner und Küchlein wurden ebenso sorgsam gepflegt, wie über sie Buch
geführt. Inzwischen vergaß der Knabe auch nicht, daß er ein Pathenkind
hatte, und wie freute er sich allemal, Jenny in die Arme zu nehmen, sie
lächeln zu machen, indem er die Kleine anlachte, und sie in der Wiege
einzuschläfern, wenn ihre Mutter beschäftigt war. Ein Pathe ist fast so
viel wie ein Vater, und er betrachtete das zarte Kind als seine Tochter.
Für sie entwarf er hochfliegende Pläne. Sie sollte keinen andern Lehrer
haben als ihn. Er wollte ihr erst reden, dann schreiben und endlich
haushalten lehren.

Findling hatte von dem gelegentlichen Unterrichte Martins und seiner
Söhne, vor allem Murdocks, viel profitiert. Jetzt war er weiter
vorgeschritten als bis zu dem Punkte, wohin Grip ihn gebracht hatte...
der arme Grip, der seine Gedanken unausgesetzt beschäftigte....

Der Frühling setzte nach recht hartem Winter nicht allzuspät ein. In
Begleitung seines Freundes Birk gab sich der junge Schäfer wieder der
gewohnten Beschäftigung hin. Unter seiner Leitung zogen Schafe und
Ziegen wieder auf die Weideplätze in einmeiligem Umkreis von der Farm.
Immer schmerzte es ihn, sich an den andern Feldarbeiten, die freilich
mehr Kräfte erforderten als er besaß, noch nicht betheiligen zu können.
Zuweilen klagte er darüber gegen die Großmutter, und diese antwortete
dann tröstend:

»Geduld... das wird auch noch kommen....

-- Doch könnt' ich inzwischen nicht wenigstens ein Feld besäen?

-- Würdest Du das so gern versuchen?

-- O gewiß, Großmutter! Wenn ich Murdock oder Sim den Arm wiegend und
regelmäßig fortschreitend die Samenkörner auf die Erde streuen sah, da
trieb mich's immer, es ihnen nachzuthun. Es ist eine so schöne Arbeit
und so interessant zu denken, daß aus diesen Körnern Halme, lange, lange
Halme hervorgehen. Wie kann das nur zustandekommen?...

-- Ich weiß es nicht, mein Kind; doch Gott weiß es ja, das muß uns
genügen.«

Infolge dieses Gespräches sah man Findling wenige Tage darauf ein
wohlvorgerichtetes Feld recht geschickt mit Hafer besäen, was ihm
manchen Lobspruch Martin Mac Carthy's einbrachte.

Als dann die zarten Keime hervorsproßten, war er vom frühesten Morgen
an zur Stelle, seine zukünftige Ernte gegen die diebischen Krähen zu
vertheidigen, indem er diese mit Steinwürfen verjagte. Es sei auch nicht
unerwähnt gelassen, daß er am Tage der Geburt Jennys mitten im Gutshofe
eine kleine Tanne gepflanzt hatte, in der Hoffnung, beide, Bäumchen und
Säugling, fröhlich aufwachsen zu sehen. Auch diese noch zarte Pflanze
mußte er sorgsam gegen die Vögel schützen. Jedenfalls sollten Findling
und die schädlichen Thiere nie gute Freunde werden.

Im Sommer 1880 gab es auf den Fluren Westirlands überall recht harte
Arbeit. Die Witterungsverhältnisse erwiesen sich für den Ertrag des
Bodens höchst ungünstig. In den meisten Grafschaften blieb die
Ernte hinter der des Vorjahrs weit zurück. Eine Hungersnoth war
aber vollkommen ausgeschlossen, denn wenigstens versprachen die
Kartoffelfelder einen reichen, wenn auch etwas verspäteten Ertrag, und
damit mußten sich die Leute wohl zufrieden geben, denn Korn, Weizen,
Gerste und Hafer erntete man kaum zur Deckung des Bedarfs im eignen
Lande. Das schnellte zwar die Getreidepreise in die Höhe, die Pächter
zogen davon aber keinen Vortheil, da sie nichts zu verkaufen hatten und
kaum den Samen für das nächste Jahr übrig behielten. Selbst die, die
früher einen Sparpfennig zurücklegen konnten, sahen diesen für die
Staatsabgaben allein hinschwinden, und dann blieb wieder nichts übrig,
um den schwerlastenden Pachtzins zu decken.

Die nationale Bewegung erhielt hierdurch fast überall einen neuen
Anstoß, wie das stets der Fall war und ist, wenn sich eine Wolke des
Unglücks über das irische Land senkte. An vielen Orten erhob man schwere
Klage und lebten die Hetzereien der agrarischen Liga wieder auf. Gegen
die Besitzer des Bodens wurden maßlose Drohungen laut, ob diese
nun Fremde waren oder nicht, denn bekanntlich werden in Irland die
englischen und schottischen Landlords als Fremdlinge betrachtet.

Im Juni dieses Jahres riefen die schon Hungernden in Westpoint: »Laßt
Euch nicht von Euern Farmen vertreiben!« und die durch das Land gehende
Parole lautete: »Den Grund und Boden für die Bauern!«

In den Gebieten von Donegal, Sligo und Galway kam es zu wirklichen
Unruhen. Auch Kerry blieb davon nicht frei. Voller Angst sahen die
Großmutter, Martine und Kitty Murdock mit Einbruch der Nacht gar zu oft
die Farm verlassen, wo er dann erst, abgespannt von den Strapazen des
Wegs, am frühen Morgen wieder erschien. Düstrer und verbitterter als
vorher kam er von den in den Hauptorten veranstalteten Meetings zurück,
wo man den hellen Aufruhr predigte, eine Erhebung gegen die Landlords
und den allgemeinen Boycott empfahl, der die Besitzer zwingen würde, ihr
Land brach liegen zu lassen.

Am meisten steigerte die Furcht der Familie wegen Murdocks der Umstand,
daß der zu den strengsten Maßregeln entschlossene Lordlieutenant
der Insel die Nationalisten durch seine Polizeiorgane aufs schärfste
überwachen ließ.

Stimmten Martin und Sim auch mit den Anschauungen Murdocks überein,
so äußerten sie doch kein Wort, wenn dieser nach längerem Ausbleiben
heimkehrte. Die Frauen dagegen flehten ihn an, vorsichtig zu sein und
sich in Thaten und Worten in Acht zu nehmen. Sie versuchten ihm das
Versprechen abzunöthigen, daß er sich einem Aufstand für =Home rule=,
der doch nur Unheil bringen könne, nie anschließen werde.

Das reizte Murdock, der seinem Ingrimm nun laut Luft machte. Er sprach
und gesticulierte, als ob er sich in einer Volksversammlung befände.

»Nichts als Elend, nach einem Leben voller Arbeit nichts als Elend!«
wiederholte er.

Und während Martine und Kitty davor zitterten, daß er gehört werden
könnte, wenn draußen gerade ein Polizist umherschlich, senkten die
danebensitzenden Martin und Sim nur schweigend den Kopf auf die Brust.

Findling war tief ergriffen Zeuge dieser peinlichen Auftritte. Erschien
es ihm dabei zuweilen doch, als sei er nach so vielen früheren Prüfungen
auch in der Farm von Kerwan noch nicht ans Ende seiner Leiden gekommen
und als sollte ihm die Zukunft noch schlimmere bringen.

Er zählte jetzt achteinhalb Jahre. Für sein Alter recht kräftig und den
gewöhnlichen Kinderkrankheiten glücklich entgangen, hatten weder Trübsal
und Leiden, noch schlechte Behandlung und mangelnde Pflege seinen
Organismus zu erschüttern vermocht. Findling war »bis zum Maximum
der Widerstandsfähigkeit geprüft worden« und zeigte eine erstaunliche
physische und moralische Festigkeit. Das erkannte man an den gut
entwickelten Schultern, der schon recht breiten Brust und seinen zwar
schlanken, doch nervigen und muskulösen Gliedern. Sein Haar färbte sich
dunkler und er trug es schlicht, statt der Locken, die ihm Miß Anna
Walston hatte brennen lassen. Seine tiefblauen, glänzenden Augen
verriethen eine außerordentliche Lebhaftigkeit, der leichtgeschlossene
Mund und das etwas kräftige Kinn die Energie und Entschiedenheit
seines Charakters. Alles das hatte die Aufmerksamkeit der Farmerfamilie
wachgerufen. Diese ernsten und nachdenklichen Landleute Irlands sind
meist recht gute Beobachter. Auch den Bewohnern der Farm von Kerwan
hatte es nicht entgehen können, wie dieser Knabe sich durch seinen Sinn
für Ordnung und durch regen Fleiß auszeichnete und daß er sich bestimmt
emporarbeiten würde, wenn er nur Gelegenheit fand, seine natürlichen
Anlagen zu bethätigen.

Die Zeit der Heu- und Getreideernte war durch die Witterung weit weniger
begünstigt, als im vorigen Jahre. Der Minderertrag an Körnerfrüchten
erwies sich so bedeutend, wie man gefürchtet hatte, so daß heuer keine
fremden Arbeitskräfte hinzugezogen zu werden brauchten. Dagegen war
die Kartoffelernte gut und damit die Ernährung während der schlechten
Jahreszeit gesichert. Woher freilich das Geld kommen sollte, um Pacht
und Abgaben zu bezahlen, das wußte niemand.

Der Winter trat frühzeitig ein, schon im September gab es den ersten
Frost, dem bald ergiebiger Schneefall folgte. Die Thiere mußten eher als
sonst in den Ställen untergebracht werden, denn die weiße Decke war so
tief und fest, daß weder Schafe noch Ziegen ein Hälmchen darunter hätten
erlangen können. Das ließ einen Futtermangel für den Winter befürchten.
Die Klugen, oder mindestens die, denen es an Mitteln nicht ganz
fehlte -- und zu diesen gehörte Martin Mac Carthy -- ergänzten ihre
Vorräthe durch Zukauf. Bei der Seltenheit der Waare mußten sie freilich
höhere Preise anlegen und es wäre vielleicht besser gewesen, den Bestand
an Vieh zu vermindern, das bei einer langen Ueberwinterung nur schwierig
zu erhalten war.

Der Frost, der den Boden bis auf einige Fuß Tiefe zum gefrieren
bringt, ist ja überall sehr beschwerlich, vorzüglich aber bei leichter,
kieselreicher Decke, wie in Irland, die auch die wenige Düngung, die man
darauf bringt, sehr mangelhaft zurückhält. Dauert ein strenger Winter
dann aber gar noch lange an, so dringt der Frost ungemein tief in die
Erde und die Pflugschar ist nicht im Stande, den steinharten Humus zu
lockern. Kann dann die Saat nicht zeitig genug bestellt werden, so
droht das schlimmste Ungemach! Leider vermag der Mensch die klimatischen
Verhältnisse nicht zu beeinflussen. Er kann nur mit gekreuzten Armen
zusehen, wie seine Vorräthe sich immer weiter erschöpfen.

Gegen Ende des Novembers verschlimmerte sich die Sache noch. Auf
Schneestürme folgte sehr strenge Kälte. Häufig sank die Temperatur auf
neunzehn Centigrade unter Null herab.

Die von erhärtetem Schneepanzer bedeckte Farm glich mehr den im
Polargebiete verstreuten grönländischen Hütten. Die dicke Schneelage
hielt wenigstens die Kaminwärme im Innern etwas zurück; wenn man
sich aber hinausbegab in die zum Glück jetzt stille Atmosphäre,
deren Molecüle zu Eiskörnchen geworden zu sein schienen, da mußte man
einigermaßen vorsichtig sein. Zu dieser Zeit mußten Martin Mac Carthy
und Murdock, um den in wenigen Wochen fälligen Pachtzins zu beschaffen,
nun doch einen Theil ihres Viehbestandes, darunter eine Anzahl Schafe,
veräußern. Sie durften auch gar nicht zögern, um das Geld noch von den
Händlern in Tralee zu erhalten.

Es war jetzt der 15. December. Da der Wagen nur sehr beschwerlich hätte
fortkommen können, beschlossen der Pächter und sein Sohn den Weg nach
der Stadt zu Fuß zurückzulegen. Vierundzwanzig englische Meilen (à 1609
Meter) bei zwanzig Grad Kälte zu überwinden, das war natürlich keine
so leichte Aufgabe. Voraussichtlich würden sie zwei oder drei Tage
abwesend sein.

Nicht ohne Unruhe sah man sie mit dem Frührothe die Farm verlassen.
Obwohl die Luft noch trocken war, drohten doch schwere, im Westen
lagernde Dünste mit einem baldigen Witterungsumschlag.

Martin und Murdock waren am 15. aufgebrochen, vor dem 17. konnte man sie
nicht zurückerwarten.

Bis zum Abend änderte sich das Wetter nicht merkbar, höchstens sank das
Thermometer noch um weitere zwei Grad. Des Nachmittags erhob sich etwas
Wind, und das gab einen neuen Grund zu Befürchtungen, denn im Thale des
Cashen wüthen die Stürme gar heftig, wenn sie sich vom Meere aus darin
fangen.

In der Nacht vom 16. zum 17. brach wirklich ein schwerer Sturm mit
heftigem Schneegestöber aus. Zehn Schritte von der Farm hätte man diese
in ihrem weißen Mantel gar nicht mehr erkannt. Furchtbar krachten die
Eisschollen, die sich auf dem Flusse stießen. Jedenfalls waren Martin
und Murdock zu dieser Stunde aus Tralee schon wieder aufgebrochen,
sicherlich aber waren sie auch am 18. von da noch nicht heimgekehrt.

In der Nacht heulte und tobte es draußen ohne Unterlaß, zur großen
Beunruhigung aller Zurückgebliebenen. Sie konnten ja fürchten, daß die
Wanderer sich im tollen Schneetreiben verirrt hätten. Vielleicht waren
sie gar nur wenige Meilen von der Farm erschöpft zusammengebrochen und
liefen Gefahr, vor Hunger und Kälte umzukommen....

Am nächsten Tage klärte sich der Himmel ein wenig auf und der Sturm
flaute ab. Infolge einer Drehung des Windes nach Norden verhärtete sich
der Schnee fast augenblicklich. Sim erklärte sich bereit, dem Vater und
dem Bruder in Begleitung Birks entgegenzugehen, und die übrigen
stimmten ihm zu unter der Bedingung, daß auch Martine und Kitty sich ihm
anschließen dürften.

Zu seinem Leidwesen mußte also Findling bei der Großmutter und dem Baby
zu Hause bleiben.

Die andern sollten den Erwarteten auch nur bis auf zwei, höchstens drei
Meilen entgegengehen, dann aber nach Hause zurückkehren, selbst wenn es
Sim für angezeigt hielt, noch eine Strecke weiter vorzudringen.

Eine Viertelstunde später waren die Großmutter und Findling schon
allein. Jenny schlief in einem Zimmer neben der großen Stube, dem
Murdocks und Kittys. Ein Korb, der nach irischer Art an zwei an der
Decke befestigten Stricken hing, diente dem Kind als Wiege.

Der Lehnstuhl der Großmutter stand vor dem Kamine, in dem Findling mit
Torf und Holz ein tüchtiges Feuer unterhielt. Von Zeit zu Zeit sah er
nach, ob sein »Töchterchen« nicht erwacht wäre, da ihn jede Bewegung der
Kleinen beunruhigte, immer bereit, ihr etwas Milch zu reichen oder sie
auch wieder in Schlaf zu wiegen.

Voller Unruhe lauschte die Großmutter auf jedes Geräusch von draußen,
auf das Knistern des Schnees, der sich verhärtend auf dem Strohdach
zusammenzog, und auf die seufzerähnlichen Laute aus den Brettern, die da
und dort durch die Kälte sprangen.

»Du hörst nichts, Findling? fragte sie.

-- Nein, Großmutter!«

Und nachdem er die Scheiben stellenweise von den glitzernden Eisblumen
befreit hatte, suchte der Knabe einen Blick nach dem weiß überdeckten
Hofe zu werfen.

Gegen halb ein Uhr stieß das kleine Mädchen einen leichten Schrei aus.
Findling eilte zu ihr hin. Da sie aber die Augen nicht geöffnet hatte,
begnügte er sich damit, sie aufs neue einzuwiegen.

Schon wollte er die bejahrte Frau, die er nicht gern allein ließ, wieder
aufsuchen, als draußen ein merkwürdiges Geräusch entstand. Es klang wie
ein Scharren und Kratzen, das von dem an das Zimmer Murdocks grenzenden
Stalle herzukommen schien. Da die Zwischenwand aber aus Mauerwerk
bestand, schenkte er diesem Geräusch keine weitere Aufmerksamkeit.
Jedenfalls rührte es von einigen Ratten her, die draußen unter den
Strohschütten umherliefen. Da auch das Fenster des Raumes geschlossen
war, schien ja nichts zu fürchten sein.

Findling ließ die Thür zwischen beiden Räumen offen stehen und ging zur
Großmutter zurück.

»Nun, wie steht's mit Jenny? fragte diese.

-- Sie ist wieder eingeschlummert.

-- So bleib' also bei mir, mein Kind.

-- Ja, Großmutter!«

Vor dem wärmenden Kamin sitzend, sprachen nun beide von Martin und
Murdock und von den andern, die diesen entgegengegangen waren.

Wenn diese nur nicht Unglück gehabt hatten, was ja bei so heftigem
Schneegestöber nicht gar so selten vorkommt. Doch... die kräftigen,
entschlossenen Männer würden sich schon zu helfen wissen, und wenn sie
heimkamen, erwartete sie ein prasselndes Feuer und ein dampfender Grok,
die Glieder wieder zu erwärmen.

Schon seit zwei Stunden waren Martine und die andern fortgegangen, doch
bis jetzt deutete nichts auf ihre baldige Zurückkunft.

»Meinen Sie nicht, Großmutter, begann da Findling, daß ich einmal hinaus
und bis zur Landstraße hin gehen sollte, um zu sehen, ob sie kommen?

-- Nein, nein, das Haus darf nicht allein bleiben, und das ist es, wenn
nur ich noch darin bin.«

Beide setzten also ihr Gespräch fort, bald aber nickte -- was zuweilen
vorkam -- die bejahrte Frau vor zunehmender Abspannung ein.

Nach seiner Gewohnheit schob ihr Findling sanft ein Kissen unter den
Kopf und schlich lautlos zum Fenster, um durch eine etwas vom Eis
befreite Scheibe hinauszublicken.

Alles draußen war blendend weiß, alles still wie auf einem Friedhofe.

Da die Großmutter schlummerte und Jenny im Nebenzimmer gut gebettet lag,
glaubte der Knabe jetzt einmal bis zur Landstraße laufen zu können, um
nach den Ausbleibenden zu sehen.

So schlüpfte er denn geräuschlos hinaus und schloß die Thür hinter sich
vorsichtig wieder. Bald bis über die Knie in den Schnee versinkend,
erreichte er das Thor der Farm.

Auf der gleichmäßig weißen Landstraße war niemand mehr zu erblicken und
kein Laut von Westen her zu vernehmen. Wären Martine, Kitty und Sim
in der Nähe gewesen, so hätte sich gelegentlich gewiß ein Gebell Birks
hören lassen.

Findling ging bis zur Mitte der Landstraße hin.

Da erweckte ein erneutes Scharren seine Aufmerksamkeit, das aber
nicht von der Straße, sondern vom Pachthofe her tönte und von einem
halberstickten Geheul begleitet schien.

Findling lauschte, ohne sich zu rühren, doch mit stark klopfendem
Herzen. Entschlossen wendete er sich dann nach den Ställen zu und
schlich aus Vorsicht möglichst geräuschlos um deren Ecke.

Noch immer hörte er das Scharren von innen, hinter dem Winkel, in dem
Murdocks und Kittys Zimmer mit dem einen Stalle zusammenstieß.

In der Vorahnung eines Unglücks drückte sich Findling längs der Mauer
hin.

Kaum gelangte er um die Ecke, als ihm ein Aufschrei entfuhr.

Hier bemerkte er in der Wand, deren Mörtel durch die Länge der Zeit
mürbe geworden sein mochte, ein ziemlich großes Loch, das nach dem
Zimmer führte, worin Jenny schlief.

Wer konnte hier durchgebrochen haben?... Ein Mensch?... Ein Thier?...

Ohne Zögern stürmte Findling auf die Mauerlücke zu und versuchte hier
einzudringen.

In demselben Augenblicke aber entwich ein großes Thier daraus und warf
entfliehend den Knaben zur Erde.

Es war das ein Wolf... einer der starken Wölfe mit spitziger Schnauze,
die in langen Wintern haufenweise in Irland umherschweifen.

Nachdem dieser die Wand durchbrochen hatte und in das Zimmer gelangt
war, hatte er Jennys Wiege gepackt, deren Aufhängestricke dabei rissen,
und entfloh jetzt, indem er diese auf dem Schnee mit fortschleppte.

Das kleine Mädchen weinte jämmerlich.

Sein Messer fassend, stürmte Findling, während er laut um Hilfe rief,
dem gefährlichen Räuber nach. Daran, daß der Wolf sich auf ihn stürzen,
daß er dabei das Leben aufs Spiel setzen konnte, dachte er mit keiner
Silbe. Er sah nur das Kind, wie es von dem mächtigen Thiere entführt
wurde.

Der Wolf entfloh mit großen Sprüngen, da ihn die leichte Wiege mit dem
Kinde das Fortkommen nicht besonders erschwerte. Findling mußte wohl
hundert Schritte weit laufen, ehe er ihn einholte.

Der Wolf hielt an, ließ die Wiege los und wendete sich gegen seinen
Verfolger.

Dieser erwartete ihn festen Fußes und ausgestreckten Armes, und als das
Thier ihm an den Hals springen wollte, bohrte er ihm das Messer tief in
die Seite. Trotzdem biß ihn der Wolf noch so heftig in den Arm, daß er
halb bewußtlos vor Schmerz im Schnee zusammenbrach.

Zum Glück ließ sich, ehe ihm die Sinne völlig schwanden, ein lautes
Bellen vernehmen.

Das kam von Birk, der sich jetzt auf den Wolf stürzte und diesen zur
Flucht nöthigte.

Gleich darauf erschienen Martin Mac Carthy und Murdock, die in
der Entfernung von über zwei Meilen mit Sim, Martine und Kitty
zusammengetroffen waren.

Die kleine Jenny war gerettet und ihre Mutter trug sie in den Armen
zurück nach dem Hause.

Findling, dessen Wunde Murdock vorläufig etwas geschlossen hatte, wurde
nach der Farm zurückgeführt und im Zimmer der Großmutter in sein Bett
gebracht.

Sobald er wieder ganz bei Sinnen war, fragte er ängstlich:

»Was ist mit Jenny geworden?

-- Sie ist hier, antwortete Kitty, hier... und lebend... das danken
wir Dir, Du braves Kind!

-- Ach, ich möchte sie so gern umarmen....«

Und als er die Kleine unter seinem Kusse hatte lächeln sehen, da fielen
ihm vor Mattigkeit die Augen zu.




XV.

Ein schlechtes Jahr.


Die Verletzung Findlings erwies sich nicht als gefährlich, ohwohl er
dadurch viel Blut verloren hatte. Wären die drei andern aber nur eine
Minute später gekommen, so hätten sie nur eine Leiche gefunden und würde
Kitty ihr Kind nie wiedergesehen haben.

Natürlich wurde Findling in den wenigen Tagen bis zu seiner
Wiederherstellung aufs sorgfältigste gepflegt. Mehr als je empfand es da
der arme Knabe, daß er, eine Waise von unbekannter Herkunft, jetzt eine
Familie hatte. Wie dankbar nahm er alle Liebe und Güte hin, zumal wenn
er an die vielen glücklichen Tage dachte, die er in der Farm schon
verlebt hatte. Um deren Zahl zu wissen, brauchte er ja nur die
Kieselsteine zu zählen, wovon ihm Martin jeden Abend einen gegeben
hatte, doch mit ganz besondrer Freude sah er den Stein in seiner
Kruke verschwinden, den er am Abend nach dem Vorkommnisse mit dem Wolf
empfing.

Mit dem Neujahr setzte der Winter nochmals in alter Strenge ein und es
machten sich jetzt gewisse Vorsichtsmaßregeln nöthig. Aus der Umgebung
der Farm wurde das Erscheinen starker Banden von Wölfen gemeldet, deren
Zähnen die morschen Wände des Hauses kaum widerstanden hätten. Martin
und seine Söhne mußten wiederholt auf die hungernden Bestien Feuer
geben. So war es in der ganzen Grafschaft, wo das Land in den langen
Nächten von erschreckendem Geheul widerhallte.

Dieses Jahr brachte einen jener schlimmen Winter, die über das nördliche
Europa die eisigschneidenden Winde des Polarbeckens zu entfesseln
scheinen. Immer blieb eine nördliche Luftströmung vorherrschend und
diese führt ja bekanntlich die schlimmste Kälte mit sich. Leider drohten
diese Verhältnisse sich lange auszudehnen, wie die algide Periode bei
von Fieber verzehrten Kranken. Und wenn die Kranke die Erde ist, die
sich verzieht, wie die Lippen eines Sterbenden, die unter dem Einfluß
der Kälte zu Stein verhärtet, dann möchte man glauben, daß ihre
Fruchtbarkeit für immer erlöschen müsse, wie es für jene todten
Weltkörper gilt, die schon so zahlreich durch den Himmelsraum irren.

Die Befürchtungen des Farmers und seiner Familie waren bei der
ungewöhnlichen Härte des Winters also gewiß gerechtfertigt. Durch den
Verkauf eines Theils seiner Schafe hatte Martin indeß das Geld für
Abgaben und Pachtzins herbeischaffen können, und als sich der Middleman
zu Weihnachten einstellte, erhielt er unverkürzt, was ihm zukam. Das
verwunderte den Mann ein wenig, denn in den meisten Farmen blieb er
unbefriedigt und hatte den gerichtlichen Weg zur Austreibung der Pächter
einschlagen müssen. Martin Mac Carthy wußte freilich auch nicht, wie er
im nächsten Jahre seinen Verpflichtungen werde nachkommen können, wenn
es ihm an dem nöthigen Saatgetreide fehlte.

Hierzu kam auch noch weiteres Unglück. Infolge der bis auf dreißig Grad
unter Null herabsinkenden Kälte gingen in den Ställen vier Pferde und
fünf Kühe ein, da es unmöglich gewesen war, die in verfallenem Zustande
befindlichen Gebäude, welche dem Anpralle des Sturmes nicht mehr
gewachsen waren, genügend dicht geschlossen zu halten. Auch der
Hühnerhof erlitt trotz aller Bemühungen, die man auf ihn verwandte,
empfindliche Verluste. Jeden Tag wuchs die Deficitseite in Findlings
Notizbuche. Am bedrohlichsten aber erschien es, daß auch das Wohnhaus
der Zerstörung durch die Witterung anheimfallen könnte. Martin, Murdock
und Sim blieben deshalb auch unausgesetzt thätig, dasselbe auszubessern
und widerstandsfähiger zu machen.

Manchmal kamen ganze Tage, an denen kein Mensch einen Fuß ins Freie
setzen konnte. Die Wege, auf denen mannshoher Schnee lag, waren völlig
ungangbar. Die am Geburtstage Jennys mitten im Hofe gepflanzte Tanne
streckte nur noch den vom Rauchfrost weißen Kopf hervor. Um zu den
Ställen zu gelangen, mußte ein Gang ausgeschaufelt und dieser täglich
zweimal gereinigt werden. Ebenso gelang die Beförderung des Futters von
einem Hofgebäude zum andern nur mit größter Mühe.

Ganz unfaßbar schien es, daß die Kälte trotz des fort und fort
herabfallenden Schnees nicht nachließ. Freilich rieselte der Schnee
nicht in leichten sternförmigen Flocken nieder, sondern stürmte wie
ein Platzregen aus kleinen Eiskrystallen einher, die sich in den tollen
Luftwirbeln jagten. Hierdurch werden alle Bäume und Sträucher mit
perennierenden Blättern der letzteren vollständig beraubt.

Zwischen den Ufern des Cashen bildete sich allmählich ein Eisschutz von
enormem Umfang. Fast glich dieser einem wirklichen Eisberge und legte
die Befürchtung weiterer Unfälle bei eintretendem schnellen Thauwetter
nahe. Wälzte dann der Fluß seine Wassermassen bis an die Farm heran,
so hätten Martin und seine Söhne gewiß nicht mehr gewußt, wie sie die
Baulichkeiten derselben schützen sollten.

Für jetzt lagen ihnen jedoch andre Sorgen, die für die Pflege und
Ernährung des Viehbestandes, näher. Von der Geißel des Orkans wurden
die Strohdächer der Stallungen zerrissen, und diese mußten zunächst
ausgebessert werden. Was von den Schafen, den Kühen und Pferden noch
übrig war, blieb mehrere Tage der außerordentlichen Kälte ausgesetzt,
und mehrere von den Thieren kamen noch vor Frost um. So mußten denn
die Dächer trotz des schneidenden Sturmwindes wohl oder übel
wiederhergestellt werden, und es machte sich dazu nöthig, den vordern
Theil der nach der Straße zu gelegenen Stallungen ganz abzudecken, um
mit dem gewonnenen Langstroh andre Lücken zu verschließen.

Das Wohnhaus der Familie Mac Carthy blieb auch nicht verschont. Eines
Nachts stürzte die Mansarde ein, und Sim, der sie bewohnte, mußte nach
dem großen Zimmer im Erdgeschoß übersiedeln. Da nun aber auch von diesem
die Decke bedroht war, weil sich der Schnee immer mehr darüber anhäufte,
mußte diese mit rohen Pfählen gestützt werden.

Auch weiterhin verlor der Winter nichts an seiner Strenge. Der Februar
blieb noch ebenso kalt, wie der Januar und die Mitteltemperatur hielt
sich auf zwanzig Grad unter Null. Die Insassen der Farm glichen mehr
Schiffbrüchigen im Polarmeere, die das Ende des Winters nicht abzusehen
vermögen. Leider drohte hier das endliche Thauwetter mit neuen
Katastrophen, wenn der Cashen weit aus seinen Ufern trat.

Zum Glück war auf der Farm kein Nahrungsmangel zu fürchten; an Fleisch
und Zuspeisen fehlte es nicht; dazu lieferten die nur durch den
Frost umgekommenen und jetzt leicht zu conservierenden Thiere einen
reichlichen weiteren Vorrath. Wurde der Hühnerstall decimiert, so
ertrugen die Schweine die niedrige Temperatur ganz gut, und schon durch
sie allein wäre die Ernährung der Pächterfamilie auf sehr lange Zeit
gesichert gewesen. Was das Heizmaterial anging, brauchten sie nur die
vom Sturme abgebrochenen Zweige aus dem Schnee aufzulesen, um an Torf zu
sparen, der allmählich zur Neige ging.

Kräftig und gesund, von langer Zeit her abgehärtet, erwiesen sich jedoch
der Vater und dessen Söhne dem rauhen Klima völlig gewachsen und auch
der Findling zeigte eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. Bisher
hatten sich auch die Frauen, Martine und Kitty, ohne sich der
allgemeinen Arbeit zu entziehen, recht wohl befunden. Die kleine Jenny,
immer im dicht verschlossenen Zimmer gehalten, wuchs wie eine Pflanze im
Warmhause auf. Dagegen schien die Großmutter, trotz aller ihr gewidmeten
Pflege, ernstlicher angegriffen zu sein. Ihre körperlichen Leiden wurden
von der heimlichen Angst, die Zukunft der Ihrigen bedroht zu sehen,
natürlich noch verschlimmert. Das war mehr als sie aushalten konnte und
bereitete der ganzen Familie recht schmerzliche Unruhe.

Im April wurde die Temperatur wieder normaler und stieg endlich über den
Gefrierpunkt. Der Erdboden brauchte aber noch die ganze Wärme des Mai,
um seiner Eiskruste ledig zu werden, und zur Einsaat war es also schon
spät, sehr spät. Die Futterkräuter konnten vielleicht noch gedeihen, die
Getreidearten aber schwerlich reif werden. So dachte man schon daran,
das Saatkorn nicht unnütz zu verwenden und sich lieber des Anbaues von
Gemüse und Knollenfrüchten zu befleißigen, deren Ernte im October
zu erwarten war, -- vorzüglich der Kartoffeln, durch die das Land
wenigstens vor den Schrecken einer Hungersnoth bewahrt blieb.

Nach der Schneeschmelze zeigte sich der Erdboden leider fünf bis sechs
Fuß tief fest gefroren. Das war keine zerreibliche Erde mehr, sondern
ein Humus von Granit, in dem keine Pflugschar eine Furche aufreißen
konnte.

Der Anfang der Feldarbeiten mußte bis zu den letzten Tagen des Mai
hinausgeschoben werden. Die Erde schien alle Wärme verloren zu haben, so
langsam thaute die Schneedecke hinweg, und in den mehr bergigen Theilen
der Grafschaft dauerte das gar bis in den Juni hinein.

Der Beschluß, sich auf den Anbau von Kartoffeln zu beschränken und auf
Getreide ganz zu verzichten, wurde ganz allgemein gefaßt. Was auf der
Farm von Kerwan geschah, wiederholte sich in allen andern Farmen des
Gebietes von Rockingham. Dieselbe Maßnahme beschränkte sich nicht
allein auf die Grafschaft Kerry, sondern erstreckte sich auch über die
Westirlands in Munster, wie in Connaught und Ulster. Nur die Provinz
Leinster war eher frei von Schnee und hier konnte die Feldbestellung
noch mit einiger Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden.

Die Folge war also, daß die schwergeprüften Pächter sich tüchtig
anstrengen mußten, um die Felder für den Anbau von andern Früchten
und Gemüsen in Stand zu setzen. In der Farm von Kerwan unterzogen sich
Martin und seine Söhne dieser Arbeit, die für sie um so beschwerlicher
war, weil es ihnen an Zugthieren fehlte. Nur ein einziges Gespann, von
einem Pferde und dem Esel gebildet, stand ihnen zur Verfügung.

Mit unausgesetztem Fleiße gelang es ihnen jedoch bei je zwölfstündiger
Arbeit nach und nach einige dreißig Acres zu bepflanzen, freilich mit
der Befürchtung, daß ein vorzeitiger Winter sie auch um die Frucht
dieser Mühen bringen könnte.

Da ereignete sich noch ein allen Gegenden Irlands gemeinsames Unglück.
Gegen Ende des Juni brannte die Sonne so heiß, daß der noch auf den
Bergen lagernde Schnee sehr schnell niederschmolz. Am schlimmsten hatte,
ihrer vielverzweigten Wasserläufe wegen, hiervon die Provinz Munster zu
leiden. In der Grafschaft Kerry steigerte sich das bis zur wirklichen
Katastrophe. Die vielen Flüsse schwollen mächtig an und verursachten
ausgedehnte Ueberschwemmungen. Viele Häuser fielen der Fluth zum Opfer.
Ueberrascht von der plötzlich eintretenden Wassersnoth warteten die
Bewohner derselben vergeblich auf Hilfe. Fast alles Vieh kam um,
und gleichzeitig wurde die so mühsam vorbereitete Ernte vollständig
vernichtet.

In der Grafschaft Kerry verschwand ein Theil der Domäne Rockingham unter
den Fluthen des Cashen.

Vierzehn Tage lang blieb die Umgebung der Farm auf einen Umkreis von
zwei bis drei Meilen in einen See verwandelt -- in einen See mit wilden
Strömungen, die entwurzelte Bäume, Trümmer von Hütten, abgehobene Dächer
und auch die Cadaver der Thiere, deren die Bauern sehr viele verloren,
in brodelndem Strudel mit sich fortrissen.

Die Ueberschwemmung erstreckte sich bis zu den Scheuern und Stallungen
der Farm, die davon fast gänzlich zerstört wurden. Trotz unmenschlicher
Anstrengung gelang es, außer bezüglich einiger Schweine, nicht, die
noch vorhandenen Thiere zu retten. Wurde das Wohnhaus auch von der
Fluth nicht weggetragen, so reichte diese doch bis zum Niveau des
Erdgeschosses heran, und auch dieses war in der schlimmsten Nacht recht
schwer bedroht.

Den Todesstoß aber erhielt das Land weithin durch die Vernichtung
der erhofften Kartoffelernte, denn die Fluthen hatten auch die
Setzkartoffeln herausgespült.

Noch niemals hatte die Familie Mac Carthy auf ihrem Pachtgute eine
solche Kette von Mißgeschick erlitten, niemals hatte sich dem irischen
Farmer der Ausblick in die Zukunft so schwer verdüstert. Jetzt war seine
Lage thatsächlich unhaltbar und die Existenz der unglücklichen Leute
ernstlichst bedroht. Martin wußte wahrlich nicht, was er antworten
sollte, wenn ihm die Staatsabgaben und die Pachtzinsen abgefordert
würden.

Die Lasten eines solchen Pächters sind in der That gar so schwer. Wenn
der Steuereinnehmer und der Pachtcassierer sich einstellen, wandert
stets der allergrößte Theil seines Baarvermögens in deren Tasche.
Haben die Latifundienbesitzer auch dreihunderttausend Pfund Sterling an
Grundrente und sechshunderttausend Pfund Armenabgabe zu leisten, so sind
die Bauern doch noch mehr bedrückt durch persönliche Lasten, d. h. durch
die Abgaben für Straßen und Brücken, für Polizei und Justiz, für die
Gefängnisse und öffentlichen Arbeiten... was zusammen die ungeheure
Summe von einer Million Pfund Sterling (20 Millionen Mark) ausmacht, und
zwar allein für das arme Irland.

Ist die Ernte gut ausgefallen, hat das Jahr einige Ersparnisse
ermöglicht, kurz, sind die Verhältnisse günstig gewesen, so wird es
dem Pächter schon schwer genug, den Anforderungen des Staates und der
Gemeinde zu entsprechen, während er ja überdies noch den Pachtschilling
aufzubringen hat. Was beginnt er aber, wenn sein Land nur dürftigen
Ertrag lieferte, wenn Winterfrost und Ueberschwemmungen die Felder
verwüsteten und dann die Gespenster des Hungers und der drohenden
Vertreibung aus seinem Gütchen am Horizonte aufsteigen? Alles das
hindert ja den Einnehmer nicht, zur gewöhnlichen Zeit vorzusprechen, und
nach seinem Besuche... sind die letzten Sparpfennige verschwunden. So
stand es jetzt Martin Mac Carthy bevor.

Frohe festliche Stunden, wie sie Findling in der ersten Zeit seines
Aufenthaltes hier kennen gelernt hatte, gab es jetzt nicht mehr. Aus
Mangel an Arbeit rasteten alle, und so saß die ganze Familie in den
langen Sommertagen verzweifelt bei der Großmutter, die zusehends
schwächer und schwächer wurde.

Die traurigen Unglücksfälle hatten die meisten Bezirke der Grafschaft
gleichmäßig betroffen. Von Eintritt des Winters 1881 an hörte man schon
überall von einem allgemeinen Boycott sprechen, einer Einstellung
aller nothwendigen Feldarbeiten, um eine Weiterverpachtung und jeden
sofortigen Anbau des Ackerlandes zu hintertreiben -- eine Maßregel,
die den Pächter ebenso wie den Grundeigenthümer ruiniert. Durch
solche unüberlegte Mittel wird sich Irland niemals den Fesseln der
Feudalherrschaft entziehen, nie eine allmähliche Ueberlassung des Bodens
in das wirkliche Eigenthum der Kleinpächter erwirken und wird es nie die
verderblichen Gepflogenheiten des Landlordismus beseitigen können.

Die Erregung verdoppelte sich indeß in den von so vielem Unglück
betroffenen Kirchspielen. Vor allen zeichnete sich Kerry aus durch den
Widerhall aus seinen Meetings und durch die Kühnheit der Verfechter der
Autonomie, die es unter Entfaltung der Fahne der Landliga durchzogen. Im
Vorjahre schon war Parnell in drei Wahlbezirken gewählt worden.

Zum Schrecken seiner Gattin und seiner Mutter stürzte sich Murdock
ohne alle Rücksicht in den Strudel dieser Bewegung. Frost und
Hunger trotzend, eilte er von Ort zu Ort, um Einigkeit in der
Pachtzinsverweigerung zu erzielen und eine Weiterverpachtung der Felder
nach etwaiger Vertreibung der jetzigen Pächter unmöglich zu machen.
Martin und Sim hätten vergeblich versucht, ihn zurückzuhalten. Im Grunde
stimmten sie ihm ja völlig bei, da sie sahen, daß alle ihre Mühe und
Arbeit nun doch zu... nichts anderem geführt hatte, als daß man sie in
der nächsten Zeit aus der so lange von ihrer Familie bewirthschafteten
Farm von Kerwan verjagen würde.

Die Regierung aber hatte, in Voraussicht von Unruhen nach einem so
verderblichen Jahre, bereits ihre Maßregeln getroffen. Schon schwärmten
Abtheilungen der »=mounted constabulary=« (berittene Polizei) durch das
Land, mit der Anweisung, die Gerichtsdiener und Häscher mit
bewaffneter Hand zu unterstützen. Ebenso hatten sie, wenn nöthig,
die Volksversammlungen mit Gewalt zu sprengen und die übrigens schon
bekannten fanatischen Agitatoren zu verhaften. Wenn Murdock zu diesen
augenblicklich vielleicht noch nicht gehörte, so mußte das gewiß sehr
bald der Fall sein. Uebrigens vermögen die Irländer ja gegen ein System,
das sich auf dreißigtausend alle Zeit fertige Gewehre stützt, doch
nichts auszurichten.

Nun vergegenwärtige man sich die quälende Angst der Familie Mac Carthy!
Sobald von der Straße Schritte ertönten, wurden Martine und Kitty
todtenbleich. Die Großmutter richtete langsam den Kopf auf und ließ ihn
kraftlos wieder niedersinken. Immer fürchteten die Frauen, es könnten
Polizisten eindringen, um Murdock und vielleicht auch dessen Vater und
Bruder in Haft zu nehmen.

Wiederholt hatte Martine ihren ältesten Sohn angefleht, sich den, den
hervortretenden Mitgliedern der Landliga drohenden, Maßregeln nicht
auszusetzen. Erst waren in den Städten Verhaftungen vorgenommen worden,
und auf dem Lande mußten solche bald folgen. Murdock hätte sich dann
kaum verbergen können. An die Aufsuchung einer Zufluchtsstätte in den
Felsenhöhlen der Küste oder im Dickicht des Waldes war im Winter gar
nicht zu denken. Murdock wollte sich von Frau und Kind auch nicht
trennen, und wenn er auch in den weniger überwachten Grafschaften des
Nordens hätte etwas mehr Sicherheit finden können, so fehlte es ihm doch
an Mitteln, Kitty dahin mitzunehmen und für deren Unterhalt zu sorgen.
Die Casse der Nationalisten war, trotz ihres Bestandes von zwei
Millionen Pfund, nicht in der Lage, die Erhebung gegen den Landlordismus
siegreich durchzuführen.

Murdock blieb also in der Farm, doch stets bereit zur Flucht, wenn die
Constabler hier etwa zu einer Haussuchung einträfen. Findling und Birk
blieben in der Umgebung auf der Wacht. Niemand hätte sich bis auf eine
halbe Meile nähern können, ohne bemerkt und gemeldet zu werden.

Weit mehr beunruhigte Murdock übrigens das nächste Erscheinen des
Pachtcassierers, der die zu Weihnachten fällige Bodenrente einzuholen
käme.

Bisher war Martin Mac Carthy immer im Stande gewesen, seinen
Verpflichtungen aus dem laufenden Ertrage der Farm und im Nothfall aus
früheren Ueberschüssen nachzukommen. Nur ein- oder zweimal hatte er,
wenn auch mit Mühe, eine kurze Gestundung erbeten und erlangt, um die
volle Summe herbeizuschaffen. Heute wußte er leider nicht, woher das
Geld kommen oder was er verkaufen sollte, da ja nichts mehr vorhanden
war, weder von den Hausthieren, die er zum Theil verloren hatte, noch
von seinen Ersparnissen, die schon von den Staatsabgaben aufgezehrt
waren.

Der Eigenthümer der Domäne von Rockingham war -- wie schon erwähnt --
ein englischer Lord und noch niemals nach Irland gekommen. Beseelten ihn
auch die besten Absichten bezüglich seiner Pächter, so kannte er diese
doch nicht und konnte ebenso wenig für sie im Einzelfalle eintreten,
wie diese sich an ihn selbst wenden. Der Middleman, der die Ausbeute der
großen Besitzung auf eigne Rechnung übernommen hatte, wohnte in Dublin.
Auch er kam mit den Pächtern nur selten in Berührung und überließ es
einem Unterbeamten, die Grundrenten zur gewohnten Zeit einzuziehen.

Dieser Mann, der sich jährlich beim Pächter Mac Carthy einfand, hieß
Harbert. Rauh und hart, zu sehr gewöhnt an den Anblick des Elends, um
davon noch ergriffen zu werden, war er mehr eine Art Gerichtsbote, ein
Häscher, den kein Bitten und Flehen zu erweichen vermochte. Bei seinen
Besuchen in den Farmen der Grafschaft hatte er schon genügend bewiesen,
wessen er fähig war -- hatte ohne Gnade so manche unglückliche Familie
in die Winterkälte hinausgetrieben, selbst ohne Gewährung einer Frist
zur Beschaffung eines andern Unterkommens. Mit bestimmten Vorschriften
hinausgeschickt, schien es, als ob der Mann sich ein Vergnügen daraus
machte, diese in aller Härte auszuführen. Die Grüne Insel ist ja das
Land, aus dem der traurige Ausspruch herstammt: »Man verletzt das Gesetz
nicht, wenn man einen Irländer tödtet!«

In Kerwan herrschte jetzt die schlimmste Unruhe. Der Besuch Harbert's
konnte nicht mehr lange ausbleiben. Die letzte Decemberwoche benützte er
gewöhnlich, die Domäne von Rockingham zu bereisen.

Am Morgen des 29. December kam Findling, der jenen zuerst bemerkt hatte,
athemlos nach dem Hause gelaufen, um die Familie in der großen Stube von
dem Eintreffen des gefürchteten Mannes zu benachrichtigen.

Alle -- der Vater, die Mutter, die Söhne, die Urgroßmutter und ihre
Urenkelin, die Kitty auf den Knien hielt -- waren hier beisammen.

Der Beamte stieß das Gitterthor auf, schritt sicher und fest -- mit
dem Tritte des Herrn -- durch den Hof, öffnete die Thür des Zimmers und
setzte sich, sogar ohne den Hut abzunehmen, ohne einen Guten Tag, wie
einer, der sich hier weit mehr zu Hause fühlte als die Insassen der
Wohnung, auf einen Stuhl vor dem Tische, zog einige Papiere aus einem
Lederportefeuille und sagte ohne Vorrede.

»Für das verflossne Jahr hab ich hundert Pfund zu bekommen, Mac Carthy.
Das stimmt doch wohl?...

-- Gewiß, Herr Harbert, antwortete der Farmer mit leise zitternder
Stimme. Es macht hundert Pfund. Ich werde Sie aber um einen kleinen
Aufschub bitten müssen... den Sie mir ja schon früher einige Mal
bewilligt hatten....

-- Einen Aufschub... immer Aufschub? unterbrach ihn Harbert. Was soll
das heißen? Diesen Refrain hör' ich nun schon in allen Farmen. Kann denn
Herr Eldon seine Verpflichtungen gegen den Lord Rockingham mit lauter
Aufschüben ausgleichen?

-- Das Jahr ist für alle sehr schlecht gewesen, Herr Harbert, und Sie
dürfen glauben, daß auch unsre Farm davon betroffen wurde....

-- Das geht mich nichts an, Mac Carthy. Ich kann Ihnen keinen Aufschub
bewilligen!«

In eine finstre Ecke gedrückt, mit gekreuzten Armen und weit geöffneten
Augen war Findling Zeuge dieses Auftritts.

»Ich bitte Sie, Herr Harbert, haben Sie Mitleid mit den Armen!... Es
handelt sich ja nur darum, uns etwas Zeit zu gönnen. Der halbe Winter
ist schon vorbei, und er ist auch nicht zu streng gewesen. Im nächsten
Erntejahre werden wir uns erholen...

-- Wollen Sie jetzt bezahlen oder nicht, Mac Carthy?

-- Wir möchten's ja gern, Herr Harbert... so hören Sie doch... ich
versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, daß es uns unmöglich ist...

-- Unmöglich! rief der herzlose Beamte. So verschaffen Sie sich Geld
durch den Verkauf....

-- Das haben wir gethan, doch was uns davon verblieb, wurde durch die
Ueberschwemmung im Frühjahr vernichtet. Für das Mobiliar im Hause
bekämen wir ja keine hundert Schillinge!

-- So? Und jetzt, wo sie nicht einmal imstande sind, die Feldarbeiten
wieder aufzunehmen, rief der Beamte, jetzt denken Sie durch die nächste
Ernte alles wieder einzubringen? Halten Sie mich denn für einen Narren,
Mac Carthy?

-- Nein gewiß nicht, Herr Harbert, da sei Gott vor! Doch aus Mitleid,
rauben Sie uns nicht die allerletzte Hoffnung!«

Bewegungslos und stumm unterdrückten Murdock und sein Bruder nur mühsam
die innere Empörung, als sie ihren Vater sich vor diesem Menschen so
bücken und beugen sahen.

Eben hatte sich die Großmutter in ihrem Lehnstuhle halb aufgerichtet und
begann mit ernster Stimme:

»Herr Harbert, ich bin siebenundsiebzig Jahre alt und lebe seit
siebenundsiebzig Jahren auf diesem Pachthofe, den mein Vater vor meinem
eignen Manne und vor meinem Sohne bewirthschaftete. Bis zum heutigen
Tage haben wir unsern Pachtzins noch stets auf Heller und Pfennig
gezahlt, und jetzt, wo wir Sie zum ersten Male um einen Aufschub bis
zur nächsten Ernte ersuchen, kann ich nimmermehr glauben, daß der Lord
Rockingham uns von hier zu vertreiben beabsichtige....

-- Um den Lord Rockingham handelt es sich hier auch gar nicht!
fiel Harbert barsch ein. Der Lord Rockingham kennt Sie ja nicht im
geringsten. Der Herr John Eldon aber kennt Sie... er hat mir bestimmte
Befehle ertheilt, und wenn sie mich nicht bezahlen, verlassen Sie
einfach die Farm von Kerwan....

-- Kerwan verlassen! schrie Martine, bleich wie eine Todte, auf.

-- Binnen acht Tagen!

-- Und wo werden wir ein Obdach finden?

-- Wo es Ihnen paßt!«

Findling hatte schon manche traurige Dinge mit angesehen, hatte selbst
schon viel des Schweren erduldet, und doch schien es ihm, als überträfe
das, was hier vorging, alle seine schlimmsten Erfahrungen. Ohne von
Thränen und Klagen begleitet zu sein, war der Auftritt doch um so
ergreifender.

Inzwischen hatte sich Harbert erhoben und fragte, ehe er die Papiere
wieder einsteckte:

»Zum letzten Male also: wollen Sie bezahlen?

-- Und womit denn?«

Murdock war es, der diese Gegenfrage mit lauter Stimme aufwarf.

»Jawohl... womit denn?« wiederholte er, langsam an den Beamten
herantretend.

Harbert kannte Murdock schon lange: er wußte auch, daß dieser einer der
eifrigsten Vorkämpfer der Liga gegen den Landlordismus war, und
ohne Zweifel kam ihm hierbei der Gedanke, daß sich jetzt eine gute
Gelegenheit biete, das Land von ihm zu befreien. In der Meinung, es
nicht nöthig zu haben, gegen ihn Schonung walten zu lassen, antwortete
er ironisch und mit verächtlichem Achselzucken:

»Womit bezahlen, fragen Sie?... Nun freilich, nicht damit, daß man nach
allen Meetings läuft, sich den Empörern anschließt, nicht damit, daß man
die Bodeneigenthümer boycottirt... Nur durch Arbeit...

-- Durch Arbeit! fiel Murdock ihm ins Wort, indem er dem Manne seine
schwieligen Hände entgegenstreckte. Hier, diese Hände haben wohl nicht
gearbeitet? Glauben Sie etwa, mein Vater, meine Mutter, meine
Brüder hätten seit so vielen Jahren hier auf dem Hofe nur die Arme
zusammengeschlagen?... Herr Harbert, sprechen Sie nicht solche Worte,
denn ich bin nicht imstande, dergleichen anzuhören....«

Murdock begleitete seine Rede mit einer Bewegung, vor der der Beamte
zurückwich. Jener aber machte jetzt dem ganzen Ingrimm Luft, den sociale
Ungerechtigkeit in seinem Herzen aufgespeichert hatte, und er that dies
mit der Eindringlichkeit des Ausdruckes, die der irischen Sprache
so eigen ist, der Sprache, von der es heißt: »Wenn Du Dein Leben
vertheidigst, so thu' es in irischer Zunge!« -- Und sein Leben galt
es ja, wie das Leben der Seinigen, als er sich zu so schrecklichen
Drohungen hinreißen ließ.

Als er sich das Herz erleichtert hatte, setzte er sich an der Seite
nieder.

Sim fühlte die Wuth in sich aufflammen, wie das Feuer unter dem Roste.

Martin Mac Carthy stand mit gesenktem Kopfe da und wagte nicht, das
peinliche Schweigen zu brechen, das auf Murdocks zornige Worte gefolgt
war.

Harbert dagegen sah alle wie vorher mit verächtlichem Hochmuth an.

Da erhob sich Martine und wandte sich an den Beamten.

»Herr Harbert, begann sie, lassen Sie auch mich die Bitte wagen, uns
einen Aufschub zu verwilligen... das wird es ermöglichen, Sie zu
bezahlen... nur wenige Monate... und bei fleißigster Arbeit...
sollten wir auch selbst dabei zu Grunde gehen!... Ich flehe Sie an...
ich bitte Sie auf den Knien... haben Sie Erbarmen!«

Die unglückliche Frau sank in die Knie vor dem herzlosen Manne, der sie
schon durch seine freche Haltung verletzte.

»Genug, Mutter!... Zuviel... zuviel schon der Erniedrigung! rief
Murdock, der Martine zum Aufstehen zwang. Mit Bitten und Flehen
antwortet man solchem Elenden nicht!

-- Nein, versetzte Harbert, ich sehe auch nicht ein, wozu die vielen
Worte nützen sollen. Geld... das Geld augenblicklich her, oder Ihr seid
vor Ablauf von acht Tagen alle von Haus und Hof verjagt....

-- Vor Ablauf von acht Tagen, mag sein! rief Murdock. Jetzt kommen Sie
aber erst an die Reihe, jetzt werf' ich Sie zur Thür des Hauses hinaus,
in dem wir noch Herr sind....«

Damit drang er auf den Beamten ein, faßte ihn, hob ihn auf und
schleuderte ihn auf den Hof hinaus.

»Was hast Du gethan, mein Sohn, was hast Du angerichtet? sagte Martine,
während alle übrigen die Köpfe hängen ließen.

-- Nur das, was jeder Irländer thun sollte, antwortete Murdock, die
Lords von Irland verjagen, wie ich diesen Agenten aus unsrer Farm
verjagt habe!«




XVI.

Die Austreibung.


So gestaltete sich die Lage der Familie Mac Carthy zu Anfang des Jahres
1882. Findling hatte sein zehntes Lebensjahr vollendet. Ein kurzes
Leben, wenn man nur die verflossene Zeit veranschlagt, ein langes, wenn
man auch die Schicksale des Knaben berücksichtigt. Er zählte bis jetzt
nur drei glückliche Jahre -- die Jahre, die er seit seinem Eintreffen in
der Farm von Kerwan verbracht hatte.

Jetzt stürmte das Unglück, wie er es einst getragen, auch über die
herein, die er in der Welt am innigsten liebte, über diese Familie, die
so ganz zur seinigen geworden war. Das Unheil sollte alle Bande, die
Brüder, Mutter, Kinder verknüpften, mit roher Hand zerreißen. Alle
würden gezwungen sein, von einander zu scheiden, sich zu zerstreuen,
vielleicht Irland zu verlassen, da die Heimatinsel ihnen auch den
bescheidensten Unterhalt nicht zu bieten vermochte. Im Laufe der letzten
Jahre waren bereits dreiundeinehalbe Million Pächter von ihrem Hofe
vertrieben worden, und was so viele getroffen hatte, sollte das dem
Pachter von Kerwan erspart bleiben?

Gott erbarme sich des armen Landes! Der Hunger wüthet hier wie eine
Volksseuche, wie ein grausamer Krieg. Dieselben Geißeln, dieselben
Folgen.

Noch ist der Winter von 1740-1741 in frischer Erinnerung, wo so viele
der Entbehrung zum Opfer fielen, und ebenso das noch schrecklichere
Jahr 1847, »das schwarze Jahr«, das die Zahl der Landesbewohner um fast
fünfmalhunderttausend verminderte.

Wenn die Ernten fehlschlagen, werden hier ganze Dörfer entvölkert. Man
kann durch die offen gebliebene Thür der Farmen eintreten: keine Seele
ist mehr darin. Die Pächter sind ohne Gnade vertrieben worden, der
Landbau ist im Herzen getroffen. Wenn nur Weizen, Roggen, Hafer und
Gerste mißriethen, so konnten die Leute zur Noth ein besseres Jahr
abwarten. Hat aber ein allzu strenger und andauernder Winter die
Kartoffel getödtet, dann bleibt dem Bewohner des flachen Landes nichts
andres übrig, als in die Stadt zu flüchten und hier das »=work house=«
aufzusuchen, wenn er's nicht vorzieht, früheren Auswandrern zu folgen.
In diesem Jahre mußten sich eine Menge Ackerbauer dazu entschließen.
Viele waren mit sich schon einig. In Folge ähnlicher Calamitäten
hat sich die Bevölkerung einzelner Grafschaften sehr beträchtlich
vermindert. In früherer Zeit hat Irland wahrscheinlich gegen zwölf
Millionen Seelen beherbergt, jetzt leben allein in den Vereinigten
Staaten von Amerika sechs bis sieben Millionen Ansiedler irischer
Abkunft.

Zur Auswandrung schien ja auch die Familie Mac Carthy verurtheilt
zu sein. Weder die Wühlereien der Landliga, noch die Meetings, denen
Murdock beiwohnte, konnten an diesem Sachverhalt etwas ändern. Die
Hilfsquellen des »=poor-board=« (Armenamtes) erwiesen sich gegenüber
so vielen Bedürftigen als unzureichend. Die von der Vereinigung der
»=home-rulers=« genährte Casse mußte bald geleert sein. Einer Erhebung
gegen die Großgrundbesitzer, den Plünderungen, die eine solche
jedenfalls im Gefolge haben würde, war der Lordlieutenant entschlossen,
mit Gewalt entgegenzutreten. Das erkannte man schon an dem Auftauchen
zahlreicher Polizeiagenten in den verdächtigen -- oder ebenso richtig:
in den am schlimmsten betroffenen -- Grafschaften des Landes.

Gewiß wäre für Murdock die größte Vorsicht angezeigt gewesen, er aber
spottete der Gefahr. Glühend vor Wuth, bethört von Verzweiflung verlor
er gänzlich die Herrschaft über sich, stieß die furchtbarsten Drohungen
aus und hetzte die Bauern zum Aufstande. Durch sein Beispiel angesteckt,
compromittierten sich sein Vater und sein Bruder kaum weniger. Nichts
vermochte sie mehr zu zügeln. Findling, der immer das Erscheinen eines
Polizeiaufgebotes fürchtete, hielt treulich Wache in der Umgebung der
Farm.

Inzwischen lebte man hier von den letzten Hilfsmitteln. Um etwas Geld zu
beschaffen, waren einige Möbelstücke verkauft worden. Und jetzt sollte
der Winter noch mehrere Monate andauern! Doch woher die Nahrung genommen
werden sollte für die Periode bis zum Wiedereintritt der bessern
Jahreszeit, das wußte niemand.

Zu dieser Unruhe wegen der Gegenwart und der Zukunft kam nun noch der
Kummer, den der Zustand der Großmutter verursachte. Die arme
bejahrte Frau wurde von Tag zu Tag hinfälliger. Von den schweren
Schicksalsschlägen getroffen, konnte ihr Leben nicht mehr lange währen.
Findling blieb meist in ihrer Nähe. Er verließ das Zimmer gar nicht mehr
und wich nicht von ihrem Lager. Sie liebte es, daß er bei ihr war und
daß er die jetzt zweieinhalbjährige Jenny in den Armen hielt, die sie
mit ihrem kindlichen Lächeln erfreute. Zuweilen nahm sie das Kind auch
selbst und herzte die Kleine. Doch dabei kam ihr auch der schmerzliche
Gedanke, was später aus diesem zarten Mägdlein werden solle, und dann
fragte sie Findling wohl:

»Du hast sie doch recht lieb, nicht wahr?

-- Ja, gewiß, Großmutter.

-- Und wirst sie niemals verlassen?

-- Niemals... niemals!

-- Gott gebe, daß sie einst glücklicher werde, als wir es gewesen sind!
Sie ist Dein Töchterchen, vergiß das nicht!... Du wirst schon ein
großer junger Mann sein, wo sie noch immer nur ein kleines Mädchen
ist. Ein Pathe ist dasselbe wie ein Vater. Wenn sie ihre Eltern einmal
verlieren sollte...

-- Ach nein, Großmutter, bitte, lassen Sie solche Gedanken! Das
Unglück kann ja nicht ewig fortdauern... wenn nur erst einige Monate
überstanden sind... dann werden Sie auch wieder gesund, wir sehen
Sie, wie früher, im bequemen Lehnstuhle, und Jenny spielt zu ihren
Füßen....«

Doch während Findling so sprach, fühlte er einen Stich im Herzen und
warme Thränen in den Augen, denn er wußte, daß die Großmutter krank,
sehr krank war. Dennoch fand er die Kraft, sich -- wenigstens in ihrer
Nähe -- zu bemeistern. Wenn er weinte, so that er das draußen, wo ihn
keiner sehen konnte. Und dann fürchtete er immer, den bösen Harbert
mit den Gerichtsdienern ankommen zu sehen, die die Familie von ihrem
einzigen Obdach verjagen sollten.

In der ersten Januarwoche verschlimmerte sich der Zustand der alten Frau
beträchtlich. Wiederholt bekam sie Ohnmachtsanfälle, von denen einer so
lange anhielt, daß man glauben konnte, ihr Ende sei gekommen.

Am 6. war ein Arzt aus Tralee erschienen, einer der barmherzigen
Samariter, die ihre Unterstützung auch den Armen nicht versagen, obwohl
sie davon keinen klingenden Nutzen haben. Der Betreffende machte gerade,
wie früher üblich, einen Ritt durch die verödeten Landstriche, und
Findling, der ihn von einer Begegnung im Hauptorte der Grafschaft her
kannte, hatte ihn um einen Besuch in der Farm gebeten. Hier constatierte
der menschenfreundliche Arzt, daß die Entbehrungen, im Verein mit dem
Alter und dem Herzeleid, das an der Kranken nagte, mit einer nicht mehr
fernen Katastrophe drohten.

Diese Sachlage konnte er vor der Familie unmöglich verschleiern. Nicht
Monate mehr, nicht einmal noch Wochen hatte die Großmutter zu leben;
ihr Hingang stand voraussichtlich schon in einigen Tagen bevor. Noch
bewahrte sie alle geistigen Fähigkeiten und würde sie auch bis ans
Ende behalten. In dieser einfachen Bäuerin wohnte eine so energische
Lebenskraft, eine solche Widerstandsfähigkeit gegen die endliche
Auflösung, daß ihr leider ein recht harter Todeskampf drohte. Endlich
würde die Schwäche sie übermannen, die Athmung aussetzen und das Herz
aufhören zu schlagen....

Vor dem Verlassen der Farm verordnete der Arzt noch eine Tinctur, die
der Großmutter wenigstens die letzten Augenblicke erleichtern sollte.
Dann ging er fort und ließ die Verzweiflung zurück in dem Hause, wohin
das Mitleid ihn geführt hatte.

Nach Tralee zu gehen, den Trank bereiten zu lassen und nach der Farm
zu bringen, das hätte wohl binnen vierundzwanzig Stunden erledigt sein
können; wie aber sollte man die Arznei bezahlen?... Nachdem alles Geld
mit Abführung der staatlichen Abgaben erschöpft war, lebte die Familie
nur von Feldfrüchten der Farm, ohne etwas dazu zu kaufen. Im Kasten
befand sich kein Schilling mehr. Von Möbeln oder Kleidungsstücken ließ
sich auch nichts mehr zu Geld machen. Es war das Elend im schlimmsten
Maße.

Da kam Findling eine Erinnerung. Noch besaß er die Guinee, die ihm Miß
Anna Walston im Limericker Theater gegeben hatte. Ein reiner Scherz der
Künstlerin, hatte er doch seine Rolle als Sib sehr ernst genommen, und
ihm däuchte dies Geld in Ehren verdient. So hatte er die betreffende
Guinee sorglich in seiner Casse, das heißt, in der Kruke, die seine
Kieselsteine enthielt, aufgehoben. Leider konnte er zur Zeit nicht
mehr darauf rechnen, daß diese sich jemals in Pence oder Schillinge
verwandeln würden.

Niemand in der Farm wußte, daß Findling dieses Geldstück besaß, und da
kam ihm der Gedanke, es zur Beschaffung des der Großmutter verordneten
Trankes zu verwenden. Das versprach ihm Linderung ihrer Leiden,
vielleicht eine Verlängerung des Lebens und -- wer weiß? -- ihr Zustand
konnte sich wohl gar dauernd bessern. Findling wollte noch immer hoffen,
wenn er im Herzen auch verzweifelte.

Entschieden, sein Vorhaben auszuführen, beschloß er, nichts davon
verlauten zu lassen. Das Geld gehörte ja ihm, er konnte darüber nach
Belieben verfügen. Jedenfalls war keine Zeit zu verlieren. Um ungesehen
zu bleiben, wollte er in der Nacht aufbrechen. Ein Dutzend Meilen bis
Tralee hin und ebenso viele zurück, das ist für ein Kind zwar ein weiter
Tagesmarsch, doch er dachte daran nicht im mindesten.

Es war ungewiß, ob seine Abwesenheit während eines Tages so besonders
auffiel, da er sich die ganze Zeit, wo er nicht bei der Großmutter saß,
draußen aufhielt, die Umgebungen und die Landstraße auf zwei bis drei
Meilen hin überwachte und immer gespannt wartete, ob nicht der Beamte
des Middleman mit den Gerichtsdienern auftauchte, um die Familie auf die
Straße zu werfen, oder ein Constabler mit Gehilfen käme, um Murdock zu
verhaften.

Am nächsten Tage, den 7. Januar, verließ Findling sein Zimmer um zwei
Uhr früh, nachdem er noch die Großmutter, die sein Kuß nicht erweckte,
umarmt hatte. Dann schlüpfte er aus dem großen Zimmer, drückte die Thür
hinter sich geräuschlos zu und streichelte Birk, der ihn ansprang, als
wollte er sagen: »Was? Mich nimmst Du nicht mit?« Nein, er wollte den
Hund auf der Farm lassen. Während seiner Abwesenheit konnte das treue
Thier jede verdächtige Annäherung vereiteln. Nach Ueberschreitung des
Hofes und Oeffnung des Thores sah er sich allein auf dem Wege nach
Tralee.

Noch war es pechfinster. In den ersten Tagen des Januar, noch nicht
drei Wochen nach der Wintersonnenwende, geht die Sonne in diesen Breiten
zwischen dem 52. und 53. Grade erst sehr spät am südöstlichen Horizonte
auf. Um sieben Uhr des Morgens färben sich die Bergspitzen kaum mit den
schwachen Tinten des jungen Tages. Findling hatte also die Hälfte des
Weges im Dunkeln zurückzulegen, doch das erschreckte ihn nicht.

Die Witterung war sehr klar, die Kälte lebhaft, obwohl ein Thermometer
nur etwa zwölf Grad unter Null gezeigt hätte. Am Firmament glänzten
Tausende von Sternen. Die ganz weiße Landstraße zog sich über Sehweite
hinaus wie vom Schneereflex erleuchtet hin und die Tritte gaben einen
trocknen Widerhall.

Um zwei Uhr des Morgens aufgebrochen, hoffte Findling vor Einbruch der
Nacht zurück zu sein. Seiner Berechnung nach mußte er früh um acht Uhr
in Tralee eintreffen. Zwölf Meilen in sechs Stunden zu überwinden,
das war keine besondre Aufgabe für einen Knaben, der, jede Anstrengung
gewöhnt, ein Paar gesunde kräftige Beine besaß. In Tralee gedachte er
zwei Stunden auszuruhen, inzwischen in einem Wirthshause etwas Brod
mit Käse und eine Pinte Bier zu verzehren, was ihm zwei bis drei Pence
kosten konnte. Dann wollte er sich, wenn er die Arznei erhalten hatte,
auf den Rückweg machen, um im Laufe des Nachmittags die Farm wieder zu
erreichen.

Dieses wohldurchdachte Programm sollte streng eingehalten werden, wenn
nichts Unerwartetes dazwischen trat. Der Weg war gut und das Wetter
einer schnellen Gangart günstig. Er war froh, daß die Kälte wenigstens
eine Beruhigung der Atmosphäre herbeigeführt hatte.

Bei dem vorher so heftigen Westwinde und gegen das ihm dann
entgegenpeitschende Schneegestöber hätte Findling kaum vorwärts kommen
können. Heute aber begünstigten ihn die Verhältnisse, wofür er der
Vorsehung aufrichtig dankte.

Immerhin war der Weg, vorzüglich wegen einer Begegnung mit Wölfen, nicht
ganz ohne Gefahr. Trotz des nicht besonders strengen Winters hörte
man das heulende Gebell dieser Thiere in allen Wäldern der Grafschaft.
Findling hatte gar wohl daran gedacht, und heftiger schlug ihm das
Herz, als er sich so allein sah im weiten Lande und auf diesem
scheinbar endlosen Wege, neben dem die überreiften Skelette der Bäume
emporstarrten.

Schnellen Schrittes und ohne jemals auszuruhen hatte der Knabe die
ersten sechs Meilen seines Weges binnen zwei Stunden zurückgelegt.

Es war jetzt um vier Uhr morgens. Im Westen noch tiefdunkel, schimmerte
im Osten doch schon ein schwacher, fahler Lichtschein herauf, vor dem
die Sterne etwas verblichen. Freilich dauerte es immer noch über vier
Stunden, ehe die Sonne selbst am Horizonte aufstieg.

Findling mußte jetzt einmal zehn Minuten Halt machen. Er setzte sich
auf eine knorrige Baumwurzel und verzehrte eine mitgenommene geröstete
Kartoffel mit dem frischen Appetit der Jugend. Mit dieser zweifelhaften
Stärkung wollte er bis Tralee aushalten. Um viereinviertel Uhr brach er
wieder auf.

Den Weg von Kerwan nach dem Hauptorte der Grafschaft konnte er ja nicht
verfehlen, da er diesen oft genug im Wagen zurückgelegt hatte, wenn ihn
Martin Mac Carthy an Markttagen mitnahm. Das war damals freilich die
gute Zeit, die Zeit beglückender Zufriedenheit, die jetzt schon so fern
zu liegen schien.

Die Landstraße war und blieb völlig öde. Kein Wanderer -- um den sich
Findling auch nicht besonders gekümmert hätte -- zeigte sich, und kein
Wagen rollte auf Tralee zu. Auf einem solchen hätte man ihm einen Platz
gewiß nicht verweigert, und damit wäre ihm ja viele Anstrengung erspart
geblieben. So konnte er nur auf seine kleinen, doch wenigstens kräftigen
Beine rechnen.

Endlich hatte er noch vier Meilen, wenn auch nicht so schnell, wie die
sechs ersten hinter sich gebracht, und nun trennten ihn nur noch zwei
von seinem Ziele.

Es war jetzt halb acht Uhr geworden. Die letzten Sterne erloschen
am westlichen Horizonte. Das trübe Morgengrauen jener hohen Breiten
erhellte schwach den weiten Himmelsraum, so lange die Sonne den Gürtel
von Dünsten in den niedrigeren Schichten nicht durchbrach. Immerhin bot
sich jetzt schon eine weitumfassende Aussicht.

Da erschien an einer höheren Stelle der Straße eine Gruppe von Männern,
die von Tralee herkamen.

Der erste Gedanke Findlings war es da, sich zu verstecken, obwohl ihm,
einem Kinde, doch wohl niemand etwas zu Leide gethan hätte. Doch ohne
sich das zu überlegen, sprang er schnell hinter einen überschneiten
Busch, von wo aus er sehen konnte, wer die entgegenkommenden Männer
wären.

Bald erkannte auch der Knabe in jenen etwa ein Dutzend Polizeiagenten in
Begleitung eines Constablers. Seitdem das Land hier strenger überwacht
wurde, war es gar nicht selten, solchen Abtheilungen zu begegnen,
die, auf Befehl des Lordlieutenants organisiert, bald hier, bald dort
auftauchten.

Der Anblick dieser Hüter der Ordnung konnte Findling also nicht
besonders auffallen, fast wäre ihm aber ein Aufschrei entfahren, als
er darunter den Pachtcassierer Harbert erkannte, der von zwei bis drei
Executivbeamten begleitet war, die überall die Vertreibung der Pächter
ausführten.

Wie krampfte sich ihm da das Herz zusammen bei der Vorstellung, daß
sich Harbert mit diesen Leuten nach der Farm begeben könnte, und daß die
Polizisten ihn begleiteten, um vielleicht Murdock zu verhaften!

Findling konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Gleich nach dem
Verschwinden der Gruppe sprang er wieder auf die Landstraße hinaus und
lief, was er nur laufen konnte, so daß er gegen achteinhalb Uhr die
ersten Häuser von Tralee erreichte.

Hier begab er sich zuerst nach einer Apotheke und wartete gleich auf die
Anfertigung der verordneten Arznei. Zur Bezahlung derselben gab er das
Goldstück -- sein ganzes Vermögen -- hin. Der Apotheker wechselte die
Guinee, und da der verschriebene Trank sehr theuer war, erhielt der
Knabe nur etwa fünfzehn Schillinge zurück.

Abhandeln ließ sich von dem Preise doch wohl nichts und Findling
dachte auch gar nicht daran, da es sich hier um das Wohl und Wehe der
Großmutter handelte, dagegen wollte er an der Ausgabe für sein Frühstück
zu sparen suchen. Statt des Käses und des Biers begnügte er sich mit
einem tüchtigen Stück Brod, das er gierig aufzehrte, und mit einem Stück
Eis, das er im Munde zergehen ließ. Kurz nach zehn Uhr verließ er Tralee
wieder und machte sich auf den Heimweg nach Kerwan.

Unter andern Verhältnissen hätte sich zu dieser Tageszeit ringsum weit
mehr Leben gezeigt. Auf den Straßen polterten dann gewöhnlich Karren
oder Jaunting-cars dahin, die Personen oder Waaren aller Art nach den
verschiedenen Ortschaften des Bezirks beförderten, und überall hätte
sich rege Thätigkeit entfaltet. Die Unglücksfälle des vergangnen Jahres
hatten jedoch, mit ihrem Gefolge von Hunger und Elend, die Provinz fast
entvölkert. Gar viele Bauern hatten sich schweren Herzens entschlossen,
das Land zu verlassen, das sie nicht zu ernähren vermochte. Schon zu
gewöhnlichen Zeiten schätzt man die Zahl der Irländer, die alljährlich
nach der Neuen Welt, nach Australien oder Südafrika auswandern, auf etwa
hunderttausend, um sich ein Fleckchen Erde zu suchen, das sie wenigstens
vor dem Hungertode bewahrt. Diese starke Auswanderung wird noch durch
Gesellschaften begünstigt, welche die Emigranten für zwei Pfund Sterling
(vierzig Mark) bis zu den Gestaden Südamerikas befördern.

Im laufenden Jahre hatten nun aber noch weit mehr Landleute die Bezirke
des westlichen Irlands verlassen und es schien, als ob die sonst so
verkehrsreichen Landstraßen jetzt nur in eine Wüste oder, was noch
schlimmer ist, in ein verlassenes Land ausliefen.

Findling wanderte immer raschen Schrittes dahin. Er wollte keine
Ermüdung fühlen und entwickelte eine ganz außergewöhnliche Energie.
Natürlich war es ihm unmöglich gewesen, die Polizistenabtheilung
einzuholen, da diese gegen ihn einen Vorsprung von zwei bis drei Stunden
hatte. Die im Schnee sichtbaren Fußspuren der Männer wiesen jedoch
darauf hin, daß der Constabler mit seinen Leuten und Harbert mit seinen
Gehilfen den nach der Farm führenden Weg einhielten, ein Grund mehr für
den Knaben, sich zu beeilen, obwohl ihn die Füße von dem anstrengenden
Marsche schmerzten. Er versagte sich selbst eine Rast von wenigen
Minuten, wie er sich diese auf dem Hinweg gegönnt hatte. Um zwei Uhr
nachmittags befand er sich nur noch zwei Meilen von Kerwan. Eine halbe
Stunde später zeigte sich der Pachthof inmitten der weiten Ebene, wo
alles in ununterbrochenem Weiß zusammenfloß.

Findling erstaunte einigermaßen, keine Rauchsäule aufsteigen zu sehen,
da es dem Kamin im großen Zimmer an Brennmaterial doch nicht fehlen
konnte.

Ueberdies schien sich von der Farm der Eindruck von merkwürdiger Oede
und Verlassenheit zu verbreiten.

Findling beschleunigte seine Schritte. Er nahm alle seine Kräfte
zusammen und fing an zu laufen. Wiederholt hinfallend und schnell
aufspringend kam er vor dem den Pachthof abschließenden Thore an....

Welch ein Anblick! Das Thor war zertrümmert. Im Hofe zeigten sich sehr
viele Fußspuren in allen Richtungen. Von den Baulichkeiten, den Ställen
und Scheunen ragten nur noch die vier Wände, aber ohne Dach, empor. Die
Strohbedeckung war heruntergerissen. Eine Thür, einen Fensterrahmen
gab es nicht mehr. Offenbar hatte man alles unbewohnbar gemacht, um die
Familie zu hindern, sich hier noch ein Obdach zu suchen. Das war eine
traurige Ruine von Menschenhand!

Findling blieb wie vom Donner gerührt stehen. Scheu und Schrecken
durchbebten ihn. Er wagte nicht, durch das Thor zu schreiten, sich dem
Hause zu nähern....

Und doch entschloß er sich endlich dazu. Wenn der Farmer oder eines der
Seinigen noch hier war, so mußte er's doch wissen....

Findling wankte bis an den Hauseingang. Er rief laut....

Keine Stimme antwortete ihm.

Da sank er auf der Schwelle nieder und fing an zu weinen. --

In seiner Abwesenheit hatte sich folgendes zugetragen.

Die traurigen Austreibungen, infolge deren nicht nur einzelne Farmen,
sondern oft auch ganze Dörfer von ihren Bewohnern verlassen werden, sind
in den Grafschaften Irlands gar nichts seltenes. Die armen Leute, von
der Stätte verjagt, wo sie geboren wurden und auch noch zu sterben
erwarteten, könnten aber zurückkehren, die Thüren der Häuser sprengen
und in diesen wieder ein Obdach suchen, das sie anderswo nicht fanden.

Nun, das Mittel, sie daran zu hindern, ist höchst einfach. Die
Häuser werden eben ganz unbewohnbar gemacht. Man richtet dazu einen
»=battering-ram=« (eine Art Mauerbrecher) auf, dieser besteht aus einem
Balken, der an einer Kette pendelt, welche an drei langen aufrechten und
oben verbundenen Pfählen hängt. Dieser »Widder« zertrümmert alles. Das
betreffende Haus wird seines Daches beraubt, der Schornstein umgestoßen
und der Herd zerstört. Man zerschmettert damit die Thüren und drückt die
Fensterrahmen ein. Nichts als die nackten Wände bleiben übrig.... Steht
dann die Ruine dem Sturmwind offen, ergießt sich der Regen hinein
und sackt sich der Schnee darin, dann können der Landlord und seine
Untergebenen sicher sein, daß sich niemand mehr hier aufhalten kann.

Ist es bei den so häufigen Executionen dieser Art, die an den rohesten
Vandalismus streifen, wohl ein Wunder, daß sich ein so glühender Haß im
Herzen der irländischen Bauern angesammelt hat?

Hier in Kerwan war die Austreibung gar von noch traurigeren
Nebenumständen begleitet gewesen.

An dem unmenschlichen Werke hatten auch Haß und Rache ein gutes Theil
gehabt. Harbert, der Murdock seine Beleidigungen heimzahlen wollte,
hatte sich nicht begnügt, mit den Helfershelfern im Namen des Middleman
vorzugehen, sondern ihn auch, da er den jungen Farmer schon schwarz
angeschrieben wußte, noch denunciert, und die Polizisten hatten Befehl
erhalten, sich der Person desselben zu versichern.

Zuerst wurden Martin, seine Frau und seine Kinder aus dem Hause
getrieben, während die Schergen das Innere der Wohnung demolierten.
Nicht einmal die alte Großmutter wurde verschont. Aus ihrem Bett
gerissen und auf den Hof geschleppt, hatte sie sich noch einmal
zu erheben vermocht, um in ihren Mördern die Mörder Irlands zu
verfluchen... dann war sie todt zusammengebrochen.

In diesem Augenblicke hatte sich Murdock, der noch hätte entfliehen
können, auf die Elenden gestürzt. Sinnlos vor Zorn schwang er eine
Axt. Sein Vater und sein Bruder hatten wie er ihre Familie vertheidigen
wollen.... Vergeblich! Die Beamten und Constabler waren in der
Uebermacht und der Sieg blieb dem Gesetze, wenn man dieses Wort noch für
ein Attentat auf alles, was gerecht und menschlich ist, gebrauchen darf.

Eine gewaltthätige Auflehnung gegen die Organe der Polizei lag hiermit
so auf der Hand, daß außer Murdock auch Martin und Sim in Haft
genommen wurden. Und obgleich seit 1870 keine Austreibung ohne einen
Schadenersatz an die bisherigen Pächter stattfinden darf, hatten sie
durch ihren Widerstand diese Wohlthat obendrein verwirkt.

Auf der Farm konnte der bejahrten Großmutter doch kein christliches
Begräbniß zu Theil werden. Man mußte sie nach einem Kirchhof überführen.
So betteten ihre beiden Enkel sie also auf eine Tragbahre und trugen
sie fort, während Martin, Martine und Kitty mit ihrem Kinde auf dem Arme
ihnen inmitten der Constabler folgten.

Der Leichenzug schlug den Weg nach Limerick ein, und ein ergreifenderes
Bild, als dieser Trauerzug einer ganzen verhafteten Familie, die die
Leiche einer armen, hochbejahrten Frau begleitete, konnte es wohl nicht
geben.

Findling, der sein Entsetzen endlich überwunden hatte, lief durch die
verwüsteten Räume des Hauses, wo die Trümmer der Möbel umherlagen; immer
rief er laut... keiner, keiner antwortete ihm!...

Jetzt dachte er auch an seinen Schatz, an die Kieselsteine, die ihm
die Zahl der seit seinem Verweilen in Kerwan verflossenen Tage angeben
mußten. Er suchte die Kruke, worin er sie verwahrt hatte, und fand diese
unzerbrochen in einem Winkel.

Ach, diese Kiesel! Auf der Schwelle sitzend, begann Findling sie zu
zählen: es waren deren fünfzehnhundertvierzig.

Das entsprach vier Jahren und achtzig Tagen -- vom 20. October 1877 bis
zum 7. Januar 1882 -- die er auf der Farm verlebt hatte.

Jetzt mußte er die Stätte verlassen und wollte versuchen, die Familie,
die ja zur seinigen geworden war, wieder aufzufinden.

Vor dem Aufbruche machte Findling noch ein Packet aus seiner Wäsche, die
er in einer halbzerbrochenen Schublade gefunden hatte. In der Mitte des
Hofes aber brach er ein Loch neben der am Tage der Geburt des kleinen
Mädchens gepflanzten Tanne aus dem harten Boden und verscharrte darin
das Gefäß, das seine Kieselsteine barg.

Dann warf er noch einen letzten wehmüthigen Blick auf das zerstörte
Haus und wanderte nach der Landstraße zurück, die schon das Dunkel der
Dämmerung beschattete.


  _Ende des ersten Theiles._




Fußnoten


[1] Abkürzung des Namens Cecilie.

[2] Das ist die allgemeine Anschauung bei den Irländern, die indeß
mit Parnell eine Ausnahme machten, als dieser »nicht gekrönte König
Irlands« -- wie man ihn nannte -- einige Jahre später (1879) die
zum Zwecke der agrarischen Reform gegründete »=National Land
League=« leitete.

[3] Eine solche Hungersnoth herrschte 1740 bis 1741 und tödtete 400.000
Irländer; weiter 1847, wo eine halbe Million Bewohner aus Entbehrung
umkam und eine gleiche Zahl aus Verzweiflung den schmerzlichen Entschluß
faßte, nach der Neuen Welt überzusiedeln.

[4] Die Torfgruben Irlands mit rothem oder schwarzem »Bog« umfassen über
zwölftausend Quadratkilometer oder den siebenten Theil der Insel und
enthalten bei einer durchschnittlichen Mächtigkeit von acht Metern gegen
sechsundneunzigtausend Millionen Cubikmeter Brennmaterial.

[5] Seit 1870 können die Pächter übrigens nicht mehr von Haus und Hof
verjagt werden, ohne eine entsprechende Entschädigung für vorgenommene
Bodenmeliorationen zu erhalten.




[Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Das Inhaltsverzeichnis ist im Original am Buchende und wurde an den
Buchanfang verschoben.

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  blieben von den Quais des Hafens her ohne Anwort
  blieben von den Quais des Hafens her ohne Antwort

  Seite 28
  peinlicher Abwägung das Soll und Haben
  peinlicher Abwägung des Soll und Haben

  Seite 41
  in den Sraßen der Stadt
  in den Straßen der Stadt

  Seite 55
  die Weste dem kleinen Knaben vom Kopf bis zu den Füßen
  die Weste den kleinen Knaben vom Kopf bis zu den Füßen

  Seite 57
  Wer wollte aber einen fünfjährigen Knaben
  Wer wollte aber einem fünfjährigen Knaben

  Seite 63
  Was ging's auch ihm an, was da unten
  Was ging's auch ihn an, was da unten

  Seite 73
  während sie ihn sonst von ihren eignen
  während sie ihm sonst von ihren eignen

  Seite 107
  gegründete »National Land Leage« leitete
  gegründete »National Land League« leitete

  Seite 120
  wie einen kleinen Bruder, die Hälfte meines Bettes
  wie einem kleinen Bruder, die Hälfte meines Bettes

  Seite 152
  bekam er noch einmal seineneun Pence
  bekam er noch einmal seine neun Pence

  Seite 163
  Körner die Korn-, Gersten- oder Hafenähre bei der Ernte
  Körner die Korn-, Gersten- oder Haferähre bei der Ernte

  Seite 191
  Die Stimmme Pats klang wie eine Trompete
  Die Stimme Pats klang wie eine Trompete

  Seite 209
  gilt. die schon so zahlreich durch den Himmelsraum irren,
  gilt, die schon so zahlreich durch den Himmelsraum irren.

  Seite 219
  war er mehr ein Art Gerichtsbote
  war er mehr eine Art Gerichtsbote

  Seite 239
  die Schergen das Innere des Wohnung demolierten
  die Schergen das Innere der Wohnung demolierten]






End of Project Gutenberg's Der Findling. Erster Band., by Jules Verne

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER FINDLING. ERSTER BAND. ***

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and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
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Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
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The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
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