Kleinstadtkinder: Buben und Mädelgeschichten

By Josephine Siebe

The Project Gutenberg EBook of Kleinstadtkinder, by Josephine Siebe

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Title: Kleinstadtkinder
       Buben und Mädelgeschichten

Author: Josephine Siebe

Illustrator: Anna Milo Upjohn

Release Date: October 22, 2015 [EBook #50277]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KLEINSTADTKINDER ***




Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski, and the
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                           Josephine Siebe
                           Kleinstadtkinder




                           Kleinstadtkinder


                      Buben und Mädelgeschichten
                                 von
                           Josephine Siebe

                           Verlag E. Nister
                               Nürnberg

                       Alle Rechte vorbehalten.




                         Ankunft in Neustadt.


»Neustadt,« schrie der Schaffner und lief den Zug entlang; »Neustadt,
ausstei...gen!«

Einige Passagiere guckten zu den Kupeefenstern heraus. »So'n Nest,«
sagte der eine, und ein anderer gähnte, während ein dritter rief:
»Fenster zu! S'ist ja so kalt!«

»Neustadt, abfahren,« schrie der Schaffner noch einmal. »Es steigt doch
niemand aus, hier steigt nie jemand aus,« dachte er.

Aber da -- schon pfiff die Lokomotive -- da wurde noch hastig eine
Kupeetüre geöffnet, ein Fuß wurde sichtbar, eine braune Ledertasche und
-- platsch lag mit Koffer und Plaid ein nicht zu großer, nicht zu
kleiner, nicht zu dicker und nicht zu dünner Herr, so lang er war, auf
dem Bahnhof.

»Na, der hat's aber eilig, hat wohl geschlafen,« murmelte der Schaffner
und sprang rasch auf, denn der Zug setzte sich pustend in Bewegung.

Zwei Bahnbeamte eilten herbei und halfen dem Herrn wieder auf die Beine,
gebrochen hatte der sich glücklicherweise nichts. Er brummelte etwas von
gefrorenen Stufen, ausgerutscht sein, und braun und blau geschlagen,
dann nahm er seine Sachen, dankte höflich und verließ den Bahnhof.

»Da wäre ich,« dachte er, »eine nette Ankunft in dem Nest, wie konnte
ich auch nur so fest einschlafen, beinahe hätte ich Neustadt
verschlafen, brrrrrr, wird gewiß ein erzlangweiliges Nest sein.«

Er trat aus dem Bahnhofsgebäude heraus, ging über einen kleinen, von
Bäumen umstandenen Platz, und gelangte an eine Straße, die etwas bergab
führte; hier sah er plötzlich das Städtchen mit all seinen Häusern und
Türmen und seinem Hintergrund von bewaldeten Höhen liegen. Der Fremde
vergaß über diesem Anblick seinen Fall auf dem Bahnhof, und sein vorhin
so mißmutiges Gesicht hellte sich auf. Ja, dies war aber auch schon ein
Anblick, der sich lohnte. In der geräuschvollen Großstadt, aus der der
Fremde kam, sah man selten so eine weiße, schimmernde Winterpracht. Dort
fiel der Schnee schon grau vom Himmel, und nach wenigen Stunden war er
eine breiige, schmutzige Masse. Hier aber war das ganze Städtlein in ein
weißes Feierkleid gehüllt. Die Türme von St. Marien ragten steil und
schlank in die Luft, wie Königstöchter sahen sie aus im Schmuck weißer
Hermelinmäntel, und nicht weit davon erhob sich der dicke, runde
Schloßturm mit weißer Kappe, behäbig wie ein biederer Bäckermeister
schaute er drein. Und das Schloß selbst auf der Höhe mit seinen vielen
kleinen Fenstern und seinen altersgrauen Mauern war überzuckert von oben
bis unten, es glich einer guten Gluckhenne, und all die überschneiten
Häuser und Häuschen waren ihre Küchlein. Im Rauhreif standen Büsche und
Bäume, und die Sonne, die gerade noch einen Abschiedsblick auf das
Städtchen warf, ehe sie in ihr Wolkenbett rutschte, überstrahlte alles
mit einem zarten Rosenschimmer. Die fernen Berge verschwanden schon in
blaugrauem Dunst, als wollten sie sagen: »Schau dir nur erst das
Städtchen an, es lohnt sich schon, zu uns kommst du später.«

»Ja, du lieber Himmel, es lohnt sich wirklich,« dachte Doktor Theobald
Fröhlich; er guckte rechts und links und gerade aus und meinte, er
könnte sich nicht satt sehen an dem hübschen Stadtbild. Und dies kleine
Städtchen sollte nun für immer seine Heimat werden, das erschien ihm auf
einmal gar nicht mehr so schrecklich.

Während so der Doktor Theobald Fröhlich oben am Bahnhofsplatz stand und
Neustadt bewunderte, stand unten in der Stadt vor der Türe eines
stattlichen, altmodischen Hauses eine alte Frau. Sie hatte ihre Hände
fest in ihre Schürze eingewickelt und guckte eifrig geradeaus, denn wer
vom Bahnhof kam, mußte die Straße herunterkommen, an deren Ende das Haus
lag. Die Straßen von Neustadt gingen alle bergauf und bergab; die Bürger
behaupteten, ob es stimmt weiß freilich niemand, ihr Nestlein sei gerade
wie das große, gewaltige Rom auf sieben Hügeln erbaut.

»Nun muß er doch bald kommen,« murmelte die Alte, »wo er nur bleibt!«

Sie wartete auf niemand anders als auf den Doktor Theobald Fröhlich, der
von nun an in dem stattlichen Hause wohnen sollte. Das Haus hatte er von
einer alten Tante geerbt, mit der Bedingung, daß er darinnen wohnen
mußte, sonst sollte das Haus an entfernte Verwandte fallen. »Wer mein
Haus besitzt, der soll es auch lieb haben und gern darin wohnen«, hatte
die Tante immer gesagt. Der Doktor Theobald Fröhlich war arm, er hatte
auch noch eine Schwester, die in England als Erzieherin sich ihr Brot
verdiente, da dachte er, eine richtige Heimat haben mit der Schwester
zusammen, und sei es auch in Neustadt, sei schließlich besser, als in
Berlin einsam zu leben.

Zu der alten Frau, die die Dienerin der ehemaligen Herrin des Hauses
gewesen war, gesellte sich die Bäckermeisterin Gutgesell, die gegenüber
an der Ecke der Marienstraße wohnte.

»Wo er nur bleibt, der neue Herr?« sagte sie und schaute ebenso eifrig
wie die alte Dorothee die Straße hinauf.

»Ja eben, 's dauert so lange,« brummelte Jungfer Dorothee, »vielleicht
kommt er garnicht, nämlich Frau Nachbarin, er ist 'n Dichter, und die
sollen doch was komisch sein.«

»Ih nee, 'n richtiger, leibhaftiger Dichter! So was haben wir doch nie
in Neustadt gehabt!« schrie die Bäckermeisterin und schlug die Hände
zusammen.

Und die alte Dorothee reckte sich stolz und belehrte die Nachbarin, was
ein Dichter sei, und daß ihr neuer Herr vielleicht mal sehr berühmt
würde, hätte die Frau Stadträtin Müller gesagt, noch sei er es freilich
nicht. --

Doktor Theobald Fröhlich hatte sich unterdessen das Städtlein genau
angesehen, dann hatte er einen Mann nach dem Weg gefragt und hatte
erfahren, daß er erst die Straße hinunter gehen müßte, dann links herum,
dann käme die Marienstraße, die ging steil bergab, und am Kirchplatz
stände das Haus, das er suchte. Der Doktor fand denn auch die
Marienstraße und schickte sich an, sie hinab zu gehen. Wie er einige
Schritte gegangen war, hörte er plötzlich ein wildes Geschrei hinter
sich, und eine Schar Buben und Mädels kamen mit ihren Schlitten
angefahren. »Rechts«, schrie ein langer Bengel, »links«, rief ein
anderer, und auf einmal gab es ein Purzeln und Fallen, zwei Schlitten
waren zusammengefahren, ihre Besitzer plumpsten in den Schnee.

»Na, solche Wildfänge,« dachte Doktor Fröhlich gerade, als ein leerer
Schlitten ihm zwischen die Beine fuhr. Er verlor das Gleichgewicht,
rutschte aus und saß auf einmal auf dem Schlitten und heidi ging es
bergab. Sein Plaid fiel rechts herunter, seine Reisetasche links, er sah
nichts und hörte nichts, er hielt sich nur krampfhaft fest, und dann gab
es einen Ruck, ein Zetergeschrei, und der Doktor Theobald Fröhlich lag
im Schnee, und auf der einen Seite saß die alte Dorothee und auf der
anderen die Frau Bäckermeisterin, und beide schalten und lachten
durcheinander, denn der fremde Herr hatte sie beide umgerissen.

»Verzeihung,« murmelte der Doktor, »mein Name ist Dr. Theobald Fröhlich
-- ich«

»Du meine Güte, so was, das ist ja mein neuer Herr!« schrie Jungfer
Dorothee und verbeugte sich so eilig, daß sie mit der Nase beinahe in
den Schnee stippte. Die lustige Frau Bäckermeisterin lachte hell auf,
und nun kamen auch die übrigen Schlittenfahrer und zwei Buben mit
Reisetasche und Plaid herbei. Es gab ein Hin-und-her von Fragen und
Erklärungen. Der Doktor meinte, so schnell ginge es in Berlin beinahe
nicht mit einem Vorortszug wie in Neustadt mit dem Schlitten.

Die alte Dorothee schalt auf die Buben, die verteidigten sich, sie
hätten nichts dafür gekonnt, die Bäckermeisterin lachte, und der Doktor
fand seine Ankunft in Neustadt höchst wunderlich. Er war herzlich froh,
als er endlich in seinem Hause in einem behaglichen Zimmer saß und
Dorothee ihm heißen Kaffee und selbstgebackenen Kuchen brachte.

Heisa das schmeckte, und wie behaglich das Zimmer war mit den
altmodischen, grünen Samtmöbeln und den schönen Bildern an den Wänden!
Später zeigte ihm Dorothee das ganze Haus von oben bis unten. Da gab es
viele uralte Möbel, viel alten, schönen Hausrat; ein Zimmer gab es, das
war ganz mit steifen, weißen Möbeln angefüllt, es führte auf eine breite
Terrasse, vor der sich ein großer Garten ausbreitete. »Der gehört zum
Hause,« sagte die alte Frau stolz, »so schönes Obst hat niemand in
Neustadt wie in dem Garten wächst, 's ist ein Staat!«

Still war es freilich in dem Hause, und still war es auch in dem
Städtchen, das sich der Doktor Fröhlich am nächsten Morgen gründlich
anschaute. Still, ja, aber heimlich und traut. Und als er gerade zur
Mittagsstunde über den Schulplatz ging, und aus einem alten ehemaligen
Klostergebäude rechts Buben und links Mädchen herauskamen, da war es
vorbei mit der Stille, potztausend ja konnte die Gesellschaft schreien
und lachen! Und am Nachmittag sagte die alte Dorothee: »Morgen ist
Nikolaustag.«

»Nikolaustag, was ist denn das?« fragte der Doktor erstaunt.

»Je, du meine Güte, das weiß der Herr nicht?« rief die Alte erstaunt.
»Na, Nikolaustag ist halt Nikolaustag, und die selige gnädige Frau hat
immer am Nikolaustag allen Kindern, die in der Marienstraße und hier auf
dem Kirchplatz wohnen, Pfefferkuchen, Äpfel und Nüsse geschenkt. Der
Herr Doktor kann's mir glauben, die kommen auch in diesem Jahre. Äpfel
und Nüsse sind da, soll ich noch die Pfefferkuchen holen?«

»Freilich, freilich,« sagte der Doktor Fröhlich, beschämt, daß er nichts
vom Nikolaustage wußte. Er ging dann in ein Zimmer, in dem viele Bücher
standen, dort sah er in einem großen Lexikon nach, was es mit dem
Nikolaustag für eine Bewandtnis habe.

Er hatte nie eine rechte Heimat gekannt. Als er fünf Jahre alt war und
seine Schwester nur erst wenige Monate zählte, waren Vater und Mutter
rasch hintereinander gestorben; die beiden Kinder wuchsen bei fremden
Leuten auf. Eins hier, das andere dort. Der Knabe kam bald in eine
Erziehungsanstalt; waren Ferien und seine Kameraden fuhren heim, dann
blieb er allein in der Anstalt. An seine traurige Jugend und an seine
ferne Schwester mußte er denken, als am nächsten Tage Buben und Mädels
angelaufen kamen, um sich ihre Nikolausgaben zu holen. Eine lustige
Gesellschaft war es, die da herantrappelte, wie strahlten die Augen, wie
blitzten die weißen Zähne, wenn jedes seinen Teil bekam. Einmal kamen
fünf zusammen, zwei Mädels und drei Buben.

»Na, das sind die rechten Schelme,« sagte die alte Dorothee
lachend, »Schatzgräber ihr, gelt, ihr habt gerade den rechten
Pfefferkuchenhunger?« »Ja,« riefen die fünf, und ein Bube, der braune,
krause Haare hatte und Augen rund und dunkel wie zwei Herzkirschen, aber
so unnütz wie ein paar Spatzenaugen, rief: »Es könnte jede Woche
Nikolaustag sein, das wär mal fein!«

»So fein wie Schatzgraben, gelt?« rief die Alte, da wurden alle fünf rot
wie reife Erdbeeren und lachend liefen sie davon.

»Wer waren die fünf, und warum werden sie Schatzgräber genannt?« fragte
Doktor Fröhlich.

»Die fünf sind dicke Freunde; es sind Nachbarskinder und ihren Namen
haben sie von einem dummen Streich, den sie unlängst ausgeführt haben.
Ich will dem Herrn gern die Geschichte erzählen, wenn es recht ist.«

Am Abend des Nikolaustages schrieb der Doktor Fröhlich an seine
Schwester: »Komm bald zu mir, hier wird es dir gefallen. Komm noch vor
Weihnachten, damit wir das erstemal das Fest im eigenen Heim, in unserer
neuen Heimat, feiern können!«

Und dann, als das Abendessen abgetragen war, erzählte die alte Dorothee
die Geschichte von den fünf Schatzgräbern. Die gefiel dem Doktor
Fröhlich so gut, daß er sie gleich in ein Buch schrieb. Dahinein schrieb
er im Laufe der Zeit noch manche Geschichte von den Neustädter Kindern,
manche, die ihm erzählt wurde, und manche, die er selbst sah und hörte.
Auch zwei Märlein kamen dazu und eine Geschichte aus vergangenen Tagen.

Und so stehen denn die Geschichten in diesem Buch, eine nach der
anderen, so wie sie der Doktor gehört, sie erlebt und niedergeschrieben
hat.




                        Die fünf Schatzgräber.


In früheren Zeiten, in denen die Städte noch nicht so gewaltig groß wie
heutzutage zu sein brauchten um mächtig zu sein, war auch Neustadt eine
gar angesehene Stadt im deutschen Reiche gewesen. Wohlstand herrschte,
und die Bürger wußten sich gut in mancher Fehde zu verteidigen. Der
dreißigjährige Krieg aber, der so vieles in Deutschland vernichtete, zog
auch verheerend über Neustadt hin, die Stadt wurde zum Teil zerstört,
geplündert, und seitdem gelang es ihr nie wieder, sich zu einstiger
Größe emporzuschwingen. In jener Zeit nun, so berichtete die Sage,
hätten die Bürger einen großen Schatz vergraben, viel Geld, edle Steine
und silberne und goldene Prunkgefäße. Die aber, die den Schatz vergraben
hatten, wurden nachher, als die Feinde die Stadt einnahmen, getötet, und
darum wußte später niemand mehr, wo eigentlich der Schatz vergraben lag.

Von diesem Schatz nun wurde in Neustadt in den Zeiten, die kamen und
gingen, viel gesprochen. Früher hatte wohl mancher in aller Heimlichkeit
sein Gärtlein umgegraben, und wurde ein Grundstein zu einem neuen Hause
gelegt oder ein altes, baufälliges Haus eingerissen, immer gab es
etliche, die hofften, der Schatz sollte sich schon finden. Er fand sich
aber nicht, und zuletzt suchte niemand mehr so recht ernsthaft danach.
Die Geschichte von dem Schatz wurde zu einem Märchen, das den Kindern
erzählt wurde, und mancher Bube dachte wohl, wenn ich groß bin, suche
ich den Schatz; wuchs er heran, dann vergaß er gewöhnlich sein Vorhaben.

Von dem vergrabenen Schatz nun sprachen an einem sonnenhellen Herbsttag
fünf Kinder, die einträchtiglich, wie Schwälbchen auf dem Dachfirst, auf
der alten Stadtmauer saßen. Dieses letzte Stück der einst so trutzigen
Stadtmauer zog sich jetzt als Grenze zwischen einer engen Gasse und
hübschen, schattigen Anlagen hin. Am Ende dieses Mauerrestes stand ein
runder Turm, es war dies der letzte der acht Wachttürme, die Neustadt
einst besessen hatte. In dem Turm, der noch fest und unversehrt dastand,
wohnte nicht mehr wie einst eine Schar eisenbewehrter Wächter, sondern
ein Pantoffelmacher, Klaus Hippel genannt. Und kriegerisch sah der ganze
Turm auch nicht mehr aus, statt der Feuerbüchsen früherer Zeiten hingen
an schönen Tagen zu den kleinen Fenstern des Turmes bunte Pantoffel
heraus, und auf schwankendem Blumenbrettlein blühten Rosen, Geranien und
lichtrote Kapuzinerkresse. Und Klaus Hippel selbst konnte keiner Fliege
etwas zu Leide tun, er hantierte allzeit fröhlich mit seinem
Handwerkszeug herum, fertigte wunderschöne, warme, weiche Pantoffel und
war gut Freund mit allen Kindern, die sich die Anlagen an der Stadtmauer
zum Spielplatz erkoren hatten.

Auf der alten Stadtmauer zu sitzen war eigentlich von Rats wegen
verboten, aber von Pantoffelmachers wegen durften die Kinder darauf
sitzen so viel sie wollten, sie taten es auch, und niemand kümmerte sich
weiter darum. Vom Turmtor aus führte ein eisernes Wendeltreppchen auf
die Stadtmauer hinauf, und Klaus Hippel lachte nur gutmütig, wenn er die
Kinder das Treppchen hinaufklettern sah. Er selbst saß in seinem
Stübchen hinter dem Blumenbrett bei seiner Arbeit, und seine ebenso
fröhliche, wie gutmütige Frau Pauline wirtschaftete eifrig in ihrem
kleinen Reich herum, und wenn die beiden alten Leutchen lachten, dann
pfiff Mausel, der Dompfaff, vergnügt: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie
grün sind deine Blätter!«

Oben im Turm war ein kleines Museum, da hingen allerlei Waffen und
Rüstungen, auch ein paar alte Möbel gab es zu sehen; das Schönste aber
war die Aussicht von oben, über das weite Land hin bis zum fernen
Gebirge. Paulinchen Pantoffelmacher, wie die lustige kleine Frau im
Städtchen genannt wurde, brauchte zwar selten das Turmgemach
aufzuschließen, weil selten genug Fremde sich nach Neustadt verirrten.
Kam wirklich mal jemand, dann rief Klaus Hippel: »Aufgepaßt, ein weißer
Spatz fliegt in den Turm.«

Die fünf Kinder nun, die an diesem hellen Herbsttag auf der Stadtmauer
saßen und von dem Schatz sprachen, waren Pantoffelmachers besondere
Freunde. Im zierlichen, weißen Kleidchen saß in der Mitte Brigittchen
Schön; so ganz unrecht trug die Kleine ihren Namen nicht, sie war
wirklich sehr lieblich, hatte lockiges, dunkelblondes Haar, ein zartes,
feines Gesicht und Augen so blau wie zwei Veilchen. Brigittchen war das
einzige Kind eines wohlhabenden Kaufmannes. Reich war der Herr Schön,
dabei aber doch arm, ihm waren vor wenigen Jahren sein liebes Weib und
sein kleiner Sohn gestorben, und nur Brigittchen war übrig geblieben.
Eine ältere Verwandte, Fräulein Mathilde, hütete das Haus; sie meinte,
es sei genug wenn sie dafür sorgte, daß die Kleine immer weiß wie ein
Maiglöckchen angezogen sei. Daß ein Kind recht viel Liebe braucht,
gerade so wie eine Blume den Sonnenschein, daran dachte sie nicht, und
wenn der Vater verreist war, was oft geschah, dann wäre Brigittchen
recht verlassen gewesen, wenn es nicht so gute Freunde gehabt hätte.
Freunde hatte nun freilich die Kleine, wie man sie sich nicht besser
wünschen kann, Freunde, die, wenn es darauf angekommen wäre, für sie
durch Feuer und Wasser gegangen wären. Auch heute saßen ihre Freunde mit
ihr zusammen auf der Stadtmauer. Da war zuerst ihre allerallerbeste
Freundin Anne-Marte Fabian und deren Bruder Jörgel. Der Vater der Kinder
war ein tüchtiger und beliebter Arzt im Städtchen, und das Doktorhaus
lag am Kirchplatz, dicht neben Brigittchens Vaterhaus. Dann waren auch
noch die beiden Bäckerbuben Wendelin und Severin Gutgesell da, die in
der Marienstraße wohnten, und die dem Brigittchen so treu ergeben waren,
daß sie mit Vergnügen die schönsten Prügel eingeheimst hätten, wenn sie
damit der Kleinen einen Gefallen getan hätten. Das verlangte Brigittchen
nun freilich nicht, ja, wenn ihren Freunden nur ein geringes Leid
geschah, so weinte sie so bitterlich, daß es beinahe eine Überschwemmung
gab. Und dem Weinen nahe war die Kleine auch an diesem Herbsttage;
überhaupt sahen alle fünf Freunde so aus, als sei ihnen die Petersilie
verhagelt, und trotzdem war es doch der erste Tag der Herbstferien und
acht schulfreie wundervolle Tage lagen vor ihnen. Sie waren auch am
Morgen in seliger Lust ausgezogen, um allerlei Vergnügliches zu
unternehmen; der erste Besuch sollte Pantoffelmachers gelten, Frau
Paulinchen hatte versprochen, ihnen wieder mal das kleine Museum recht
gründlich zu zeigen, und Klaus Hippel wollte ihnen eine Geschichte aus
seinem Lieblingsbuch vorlesen; dies war eine alte Chronik der Stadt
Neustadt. Aber ach, die erhofften Freuden wurden bald zu Wasser. Statt
sie wie sonst mit Singen, Pfeifen und schalkhaften Worten zu begrüßen,
murmelte der Pantoffelmacher an diesem hellen Morgen nur verdrießlich:
»Na, seid ihr da?« Und tief seufzend nähte er so emsig an seinem
Pantoffel weiter, als stände jemand barfuß neben ihm und schrie: »Eil
dich doch, ich friere ja an meine Füße!«

An dem Kachelofen aber saß Frau Paulinchen und weinte herzbrechend, und
weil Brigittchen nun mal niemand weinen sehen konnte, ohne mit zu
weinen, flossen auch gleich ihre Tränen, und wenn die Freundin weinte,
mußte Anne-Marte auch weinen, und so schluchzten denn die Mädels
jämmerlich los. Den Buben wurde es ungemütlich, Tränen waren ihnen ein
Greuel, Severin, der blonde Bäckerbube, riß krampfhaft die Augen auf,
und Wendelin, der Schwarzkopf, knipste sie fest zu. Nur nicht etwa
mitheulen! Jörgel zupfte seine Schwester und brummte: »Heul' man nicht
so, es ist ja schrecklich!«

Die Ermahnung half nicht viel, und so trat Jörgel dicht an den alten
Klaus heran und fragte: »Was ist denn los?«

»Was nicht angebunden ist,« brummte der Pantoffelmacher, »potzwetter ja,
hört doch auf mit dem Geflenne!«

Dabei aber rollten dem alten Mann selbst langsam zwei schwere Tränen
über das runzelige Gesicht, er sah so traurig aus, daß die Kinder
fühlten, hier war ein rechtes Leid eingekehrt.

Sie hätten es aber wohl so bald nicht erfahren, was geschehen war, wenn
nicht urplötzlich der Schneidermeister Langbein, der trotz seines Namens
so kurz war wie der kürzeste Tag im Jahre, in die Stube geflitzt wäre:
»Nachbar, Nachbar,« schrie er aufgeregt, »ist's wahr, daß euer
Schwiegersohn so viel Geld verloren hat?«

Ja, es war so. Mutter Paulinchen rang jammernd die Hände, und ihr Mann
erzählte dem Schneidermeister die ganze traurige Geschichte. Der
Schwiegersohn der alten Leute, Friedrich Lange, war ein braver,
rechtlicher Mann, er war als Kassenbote in dem größten Bankgeschäft
angestellt. Am vergangenen Tag hatte er Geld austragen sollen, er war
schon seit einigen Tagen krank gewesen, hatte aber seinen Dienst nicht
versäumen wollen. An diesem Nachmittag nun wurde ihm auf einmal
schwindelig, gerade als er durch den Stadtwald ging, da hatte er sich
zum Ausruhen ein Weilchen auf eine Bank gesetzt, dann war er weiter
gegangen. Plötzlich aber hatte er seine Geldtasche vermißt. Hatte er sie
verloren, war sie ihm gestohlen worden? Er wußte es nicht, er war gleich
umgekehrt und hatte gesucht, vergeblich, nirgends war die Tasche zu
finden gewesen. Stundenlang hatte er noch gesucht, war auf die Polizei
gelaufen, den Verlust zu melden, alles vergeblich. Der Direktor der Bank
war, als ihm die Sache erzählt wurde, so zornig gewesen, daß er den
armen Mann gleich entlassen und ihm gedroht hatte, er würde ihn
anzeigen, wenn er nicht binnen drei Tagen das Geld herbeischaffte. »Und
wenn wir zusammen alle unsere ersparten Groschen hergeben,« klagte der
alte Klaus, »dann reicht es noch nicht einmal, und die gute Stellung hat
mein Schwiegersohn auch verloren, wo wird er nun Arbeit finden.«

Es war wirklich sehr trübselig in dem alten Turm gewesen, bedrückt waren
die Kinder von dannen geschlichen, und niedergeschlagen saßen sie nun
auf der Stadtmauer und überlegten, wie dem Pantoffelmacher zu helfen
sei. Ach, in ihren Sparbüchsen war auch nicht viel Geld. Jörgel sagte
verächtlich, als Brigittchen davon sprach: »Das nutzt gar nichts, viel
mehr Geld müssen wir haben.«

»Wenn wir den Schatz fänden,« sagte Wendelin plötzlich sinnend.

»Ja wenn, wo liegt er denn, wenn wir das nur wüßten?« brummte Severin.

»Im ehemaligen Klostergarten, Heine hat's gesagt,« murmelte Wendelin
halblaut, als fürchtete er, jemand könnte das große Geheimnis hören.

Heine war ein Bäckergeselle, der für die beiden Bäckerbuben ein Orakel
war. Sie fragten Heine nach allen möglichen Dingen, und wenn Heine etwas
sagte, stimmte es sicher.

»Im Klostergarten?« rief Jörgel, »das könnte schon sein, Klaus hat auch
einmal gesagt, das Kloster sei einst reich und mächtig gewesen?«

»Wir wollen den Schatz suchen,« sagte Brigittchen eifrig. »Paßt auf, wir
werden ihn finden, dann helfen wir Klaus und schenken allen Leuten was
zu Weihnachten!«

»Fein,« schrie Anne-Marte und baumelte vor Vergnügen so mit ihren
Beinchen, daß der Mörtel von der alten Stadtmauer herabrieselte.

»Fein wär's schon,« meinte auch Wendelin, und Severin und Jörgel riefen
wie aus einem Munde: »Wir können ja mal suchen!«

»Einen Schatz graben soll aber gefährlich sein,« flüsterte Wendelin;
Brigittchen und Anne-Marte quiekten graulich: »Nein, nein, wir fürchten
uns!«

»Vor was denn, ihr Mauerschwalben?« fragte eine Männerstimme. Unten auf
dem Promenadenweg stand ein Herr, der lachend die fünf auf der Mauer
betrachtete. Jörgel erkannte seinen Onkel, Stadtrat Weber, in dem
Spaziergänger und dachte, nun würde es Schelte geben, weil er auf der
Mauer saß, doch der Onkel nickte ihm nur freundlich zu und ging weiter.
Die fünf aber steckten die Köpfe zusammen und tuschelten und wisperten,
große Pläne waren es, die sie schmiedeten, sie bekamen leuchtende Augen
und heiße Wangen und beinahe wären sie zu spät zum Essen gekommen, so
eifrig hatten sie miteinander beraten.

An diesem Nachmittag suchten Wendelin und Severin den Bäckergesellen
Heine in der Backstube auf. Der war gerade aufgestanden, denn so ein
armer Bäcker muß die Nacht zum Tage machen und umgekehrt. Ein bißchen
knurrig und verschlafen sah Heine daher den Buben entgegen, kaum hatte
er aber gehört, was sie wollten, da wurde er gleich putzmunter. An den
vergrabenen Schatz hatte er nämlich schon lange gedacht, er meinte,
etwas Wahres würde schon an der Geschichte sein, weil er sich aber nicht
auslachen lassen mochte, hatte er noch mit niemand ernstlich darüber
geredet. Auch war er recht furchtsam und meinte, ohne ein Gespenst
könnte es beim Schatzgraben sicher nicht abgehen. »Heisa,« dachte er
nun, »vielleicht finden die Kinder wirklich den Schatz, dann bekommst du
auch deinen Teil, und finden sie ihn nicht, na, dann bist du wenigstens
nicht der Ausgelachte und geschehen kann dir auch nichts.« Er gab also
den beiden bereitwilligst Auskunft. »Der Schatz liegt sicher unter dem
sogenannten Schwedenstein auf dem alten Klosterhof,« sagte er, »dort
grabt ihr einfach morgen, wenn es dunkel ist, ihr müßt halt so lange
graben, bis ihr den Schatz findet!«

Wendelin und Severin nickten. Ja, das war schon recht einfach, wenn nur
die Dunkelheit nicht gewesen wäre. Das Graben selbst beunruhigte sie
nicht weiter, denn das Stück vom Klosterhof, auf dem sich der
Schwedenstein befand -- ein altes Steindenkmal, dessen Inschrift niemand
mehr lesen konnte -- war den Buben recht gut bekannt. Es war der
Grasgarten, der an die Bäckerei stieß, ein stiller, verlorener Winkel,
der auf der einen Seite vom Kreuzgang der Marienkirche begrenzt wurde.
Obstbäume standen jetzt da, wo vor langen Zeiten fromme Mönche gewandelt
waren, und die Frau Bäckermeisterin Gutgesell trocknete ihre Wäsche auf
dem Platz.

Einen richtigen, wohlgepflegten Garten anzulegen, dazu hatte niemand
recht Zeit im Bäckerhause; der Vater meinte, ein Grasgarten sei für die
Buben gerade ein rechter Spielplatz, und an warmen Sommerabenden saß die
Familie gern in der grünen Wildnis, es vermißte niemand gepflegte Wege
und zierliche Blumenbeete.

»Warum nur abends, am Tage können wir doch gerade so gut graben?« murrte
Wendelin.

»Nee, das geht und geht nicht; wer einen Schatz graben will, der muß es
in der Dunkelheit tun, sonst findet er ihn nicht, und der Mond muß
scheinen, und der scheint morgen gerade, also ist's recht,« beharrte
Heine. Der gute Heine war nämlich nicht allein furchtsam, sondern auch
noch schrecklich abergläubisch, »es geht schon über die Hutschnur, wie
sehr,« pflegte der Altgeselle Martin zu sagen.

Wie töricht eigentlich der gute Heine mit all seinem Aberglauben war,
das merkten freilich die Buben nicht, und sie glaubten ihm auf's Wort.
Sie seufzten zwar sehr, und der Gedanke an das nächtliche Schatzgraben
legte sich ihnen wie eine Zentnerlast auf das Herz. »Uff,« ächzte
Wendelin, »das wird graulich,« und Severin stöhnte herzbrechend.

Auch Jörgel, Anne-Marte und Brigittchen fanden die Sache sehr
bedenklich. Zwei Tage lang gingen alle fünf mit sorgenvollen Gesichtern
herum. Als aber am dritten Tage Tante Mathilde erzählte, man habe den
Schwiegersohn vom alten Turmwärter Hippel ins Gefängnis gesteckt, da
schluchzte Brigittchen bitterlich, und weinend sagte sie zu ihren
Freunden: »Wir müssen den Schatz holen!«

Es traf sich, daß am nächsten Tage Doktor Fabian mit seiner Frau über
Land fuhr, Brigittchens Vater war wieder verreist, so konnten die Kinder
noch nach dem Abendessen in das Bäckerhaus eilen, ohne daß es jemand
recht beachtete. »Komm rechtzeitig wieder,« sagte Tante Mathilde zu
Brigittchen, dann vertiefte sie sich in ein Buch und vergaß darüber die
Zeit. Die Köchin Marie bei Doktor Fabian aber saß in der Küche und
strickte, schlief darüber ein und merkte es auch nicht, daß die Kinder
gar nicht heim kamen. Im Bäckerhause war an diesem Abend besonders viel
zu tun; in Neustadt sollte am nächsten Tage ein Turnfest gefeiert
werden, dazu waren viele große Apfel- und Pflaumenkuchen bei Meister
Gutgesell bestellt worden, es hieß also fleißig bei der Arbeit sein.

»Geht zu Bett,« sagte die Meisterin zu ihren Buben, und weil diese, so
viele dumme Streiche sie auch machten, doch folgsam waren, meinte sie,
ihr Befehl sei ausgeführt und die Buben wären ins Bett gegangen.

Die aber saßen mit ihren Freunden zitternd und zagend in ihrer
Schlafkammer, und je später es wurde, je graulicher wurde ihnen zu Mute.
Zur Aufmunterung erzählten sie sich noch allerlei Schauergeschichten,
lauter dummes, unwahres Zeug, und je mehr sie sich erzählten, je
ängstlicher wurden sie.

Auf einmal klopfte es leise an der Türe, Heine erschien mit einer großen
Stallaterne und drei Spaten. »Jetzt laß ich euch zur Hintertüre hinaus,
s'ist gerade Zehn, und der Mond wird gleich zum Vorschein kommen; nun
macht eure Sache gut. Wenn ihr fertig seid, dann klettert ihr die Leiter
hinauf, die am Fenster der zweiten Backstube steht, und pfeift, ich
mache euch dann die Türe wieder auf und laß' euch herein! Laßt euch man
nicht von 'n Gespenst oder so was erwischen, weil's nämlich mit dem
Schatzgraben manchmal bedenklich ist,« ermahnte er noch. Diese Worte
trugen gerade nicht dazu bei, den Mut der Kinder sonderlich zu stärken.

»Es ist schrecklich gruslich!« wimmerte Anne-Marte. Brigittchen
schluckte krampfhaft die Tränen herunter; sie dachte an den alten, guten
Klaus Hippel und daß sie ihm so gern helfen wollte. Ganz mutig tappte
sie also hinter den Buben drein; auch Anne-Marte folgte, als sie die
Freundin so beherzt sah.

Als sich aber die Haustüre hinter den Fünfen schloß und sie so allein in
dem einsamen Grasgarten standen, fing es allen an sehr unheimlich zu
werden. »Pah, s'ist gar nichts, nur los,« rief Jörgel patzig; er guckte
dabei rechts und links, ob sich auch niemand blicken ließ.

»Wir sind doch schon oft so spät draußen gewesen,« prahlten Severin und
Wendelin, und dabei war es, als ob ihnen die Füße am Boden festklebten.
Endlich aber faßten sie sich alle an und marschierten tapfer auf den
alten Stein los, der in einer Ecke des Grasgartens stand.

Es war ein etwas stürmischer, aber warmer Herbsttag. Der Wind spielte
mit dunklen Wetterwolken am Himmel Haschen, und mal flog eine Wolke da,
mal dorthin, und der Mond, der sich gern in seinem vollen Glanz zeigen
wollte, hatte rechtschaffene Mühe, immer wieder hinter den Wolken
hervorzuschauen. Das Häuflein Kinder auf dem alten Klosterhof kam ihm
gewiß recht wunderlich vor.

Unter Seufzen und Ächzen begannen die Buben zu graben. Wendelin hatte
gerade eine kleine Erdscholle ausgehoben, als er flüsterte: »Es hat
geklirrt!«

»Unsinn,« brummte Severin, »ich hab' an die Laterne gestoßen.«

»Ich hab' was,« schrie Jörgel und bückte sich. Er hob etwas Schweres,
Dunkles mühsam auf, und flugs beugten alle fünf ihre Nasen darüber.

»Ein Stein,« murrte Wendelin verächtlich, und Jörgel ließ den Stein mit
einem großen Plumps wieder fallen.

»Ihr müßt besser leuchten,« ermahnte Severin die Mädels, und Anne-Marte
hielt die Laterne so dicht hin, daß es plötzlich einen lauten Krach gab,
Wendelin war mit seinem Spaten in die Laterne gefahren und -- aus war
sie.

Stumm vor Schreck standen die Kinder in der Dunkelheit da. Am liebsten
wären sie alle eins, zwei, drei davon gelaufen, aber sie schämten sich
doch ein bißchen ihrer Zaghaftigkeit.

Just kam der Mond hervor, auch vom Bäckerhause her strahlten Lichter in
die Dunkelheit hinein, und mutig begannen die Buben wieder zu graben.
»Es muß auch ohne Laterne gehen,« trösteten sie sich gegenseitig. »Es
ist ja gar nicht so dunkel, bewahre, ganz hell!«

»Es klirrt,« schrieen auf einmal alle.

»Ich hab' was,« frohlockte Severin bald darauf.

»Ich auch,« rief Jörgel.

Pardauz fuhren die Buben mit ihren Köpfen zusammen, jeder griff nach
etwas.

»Mein Spaten,« schrie Severin.

»Meiner ist's,« knurrte Jörgel.

»Wo habt ihr den Schatz? Ist's eine große Kiste?« fragten die andern.

Aber es war keine Kiste, im Mondlicht konnten die beiden erkennen, daß
einer des anderen Spaten erfaßt hatte. Das war eine rechte Enttäuschung
und sie gruben brummelnd weiter. Ach, war das schwer!

»Dauert das lange, ehe ihr den Schatz findet,« seufzte Anne-Marte.

»Na grab' du doch,« sagte Jörgel unwirsch, aber gleich darauf tröstete
er wieder: »Wir werden ihn schon finden.«

»Es raschelt was,« flüsterte Brigittchen plötzlich, »da bewegt -- sich
-- was!«

Rutsch verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke und furchtsam
schauten alle ins Dunkel.

»Es ist der Wind,« sagte Jörgel mutig, »seid nicht so dumm, wer soll uns
denn was tun, losgegraben!«

Etliche Minuten schafften die drei Buben eifrig und die Mädels standen
still dabei, fürchteten sich und wagten es doch nicht zu sagen.

»Potztausend, jetzt ist da was,« schrie Severin, und zu gleicher Zeit
jammerte Brigittchen: »Mein Bein, mein Bein, ach, mich faßt wer an mein
Bein, huhuhu.«

»Dein Bein ist's?« sagte Severin verblüfft und ließ Brigittchens Bein
los, die ein wenig in das gegrabene Loch getreten war.

»Mein Bein ist doch kein Schatz,« klagte die Kleine, denn der Bube hatte
kräftig zugefaßt.

Den andern kam die Sache jetzt spaßhaft vor, sie kicherten laut und
leise und auf einmal war alle Furcht wie weggeblasen. Sie lachten,
schwatzten und gruben, machten Pläne, wie sie den Schatz verwenden
wollten, als plötzlich langsam und dröhnend die Uhr von St. Marien zu
schlagen begann.

»Halb elf ist's schon,« murmelte Wendelin, »so schrecklich spät.« »Ach,
ich bin so müde,« gähnte Severin, ihm war es eingefallen, wie behaglich
es doch sei im Bett zu liegen und zu schlafen.

»Es raschelt wirklich was,« quiekte Anne-Marte. Die anderen horchten
ängstlich und gespannt. Der Wind fuhr sausend durch die Baumwipfel und
der Mond saß wieder hinter der dicken Wolke, sein Licht versilberte nur
fein deren Ränder.

Aber durch das Brausen und Sausen kam noch ein anderer Ton, wie ein
Ächzen klang es, dann wie ein Schnauben und Stampfen.

Die Mädels zitterten wie Espenlaub, Severin und Wendelin hielten ihre
Spaten krampfhaft umfaßt und nur Jörgel wagte zu sprechen: »Es ist
nichts, wenn's windig ist, gibt es oft so komische Töne,« sagte er, aber
seine Stimme schwankte ein wenig.

»Wenn es nur nicht so dunkel wäre,« klagte Brigittchen, und es klang als
zirpte ein verflogenes Vögelchen.

»Es kommt was!« schrie Wendelin und machte einen Satz, länger als er
selbst war.

»Huh!« brüllte Severin, den ganz unvermutet etwas Ungeheuerliches
angerannt hatte.

Ein wildes Zetergeschrei erhob sich, da war ein Gespenst, ein Ungeheuer,
irgend etwas Furchtbares. Der Mond, der gerade wie ein rechter Schelm
hinter seiner Wolke hervorguckte, ließ das unheimliche, schnaubende Ding
im ungewissen Licht riesengroß und grauenerregend erscheinen. Zur Ehre
sei's gesagt, daß die Buben in dieser Not die Mädels nicht im Stich
ließen, Jörgel ergriff Brigittchens Hand, Wendelin riß Anne-Marte mit
fort, Severin purzelte heulend hinterdrein, und so jagten alle fünf in
wilder Hast dem Hause zu.

»Die Leiter hinauf in die Backstube«, keuchte Jörgel. Von dort grüßte
kein Licht, wie verabredet war, die Schatzgräber; Heine mußte nicht in
der Backstube sein. Aber dies kümmerte die Kinder herzlich wenig. Eins
nach dem andern hastete zitternd vor Angst die Leiter hinauf und hopste
oben in die Backstube.

Klatsch, war Brigittchen drin, Jörgel folgte. »Uff,« ächzte er, »was ist
denn das!«

»Es ist so weich!« schrie Anne-Marte, die ihm folgte. »Ich bin in -- in
-- den Teig gefallen,« jammerte Wendelin. Plumps, fiel Severin in die
Kammer, es gab einen Krach, ein Angstgeschrei, die Kinder prusteten,
husteten, klagten, heulten, keins wußte, was geschehen war, und sie
meinten nicht anders als das Gespenst sei ihnen gefolgt.

»Potztausend noch mal, was ist denn hier für ein Lärm?« rief eine
dröhnende Stimme. Eine Tür öffnete sich und hell flutete ein breiter
Lichtstrom in die dunkle Backstube.

Meister Gutgesell stand auf der Schwelle, hinter ihm erschien der
Altgeselle, die Meisterin, ein Lehrjunge und ganz im Hintergrunde
tauchte flüchtig Heines verstörtes Gesicht auf, es verschwand aber
rasch.

»Na, Schockschwerenot, was ist denn das für eine Bescherung?« rief der
Meister und sah entsetzt auf fünf krabbelnde, zappelnde Wesen, die sich
auf -- ungebackenen Pflaumenkuchen herumwälzten und die verschleiert
wurden von einer dichten, weißen Mehlwolke; eine große Backmulde lag
umgestürzt am Boden. Beim Anblick der Eltern begannen die beiden
Bäckerbuben Zeter und Mordio zu schreien, Brigittchen und Anne-Marte
halfen ihnen dabei, nur Jörgel schwieg; er war gerade mit dem Gesicht in
einen Pflaumenkuchen gefallen und prustete, leckte und spuckte, um nur
Luft zu bekommen.

»Alle guten Geister, was ist das?« rief die Meisterin. Sie drängte sich
vor und ergriff eins der kleinen, schreienden Wesen, es war Brigittchen,
die sie erfaßt hatte.

»Das Gespenst!« jammerte die Kleine, und klammerte sich an die Frau und
»das Gespenst, das Gespenst!« erklang es heulend im Chor.

»Na, nun schlag's dreizehn!« schrie der Meister zornig, »was soll denn
das nur bedeuten, Wendelin, du Schlingel, was machst denn du auf dem
Pflaumenkuchen?«

»Das ist kurios,« sagte der Altgeselle, der nicht leicht aus seiner Ruhe
herauskam. »So was hab' ich meiner Lebtage noch nicht gesehen«.

»Na, ich auch nicht, ei, ihr heillose Gesellschaft, ihr!« wetterte der
Meister und ergriff Severin rechts und Wendelin links, und spaßhaft sah
die Sache in diesem Augenblick für die beiden Buben wirklich nicht aus.

Trotz ihres eigenen Kummers aber sah Brigittchen, daß es ihren Freunden
schlimm ergehen sollte, und schluchzend rief sie: »Ich -- ich -- bin
dran -- schuld, ich -- ich -- wollte den Schatz -- -- -- --.« Weiter kam
sie nicht, der Teig, der ihr im Gesicht klebte, kam ihr in den Mund und
sie schluckte krampfhaft.

»Kommt erst mal alle vor,« sagte die Meisterin nicht unfreundlich; sie
sah ihren Mann bittend an und der faßte Severin und Wendelin und zog sie
mit fort, die Meisterin mit den anderen drei Kindern folgte.

In der Küche wusch ihnen die gutherzige Frau erst die verweinten, mit
Teig und Mehl beschmierten Gesichter ab, dann sollten die kleinen
Missetäter erzählen. Das ging aber nicht so einfach. Erst schrieen alle
durcheinander, dann kamen die beiden Mädels immer wieder ins Heulen, und
Severin und Wendelin sagten nur: »Wir haben's doch nicht böse gemeint.«
Da nahm sich Jörgel zusammen und tapfer erzählte er die ganze
schreckliche Geschichte.

»Solche Dummköpfe, wie ihr fünf aber auch seid,« brummte der Meister.

»Sechs Dummköpfe,« murmelte der Altgeselle und sah strafend nach der
Türe, hinter der Heine zagend lauschte.

»Ja, sechs, Heine ist der größte,« rief Meister Gutgesell, und husch war
der lange Heine hinter der Türe verschwunden.

Die Meisterin meinte milde und nachsichtig, Strafe hätten die Kinder
eigentlich genug gehabt für ihr heimliches Tun. Daß sie in die
Pflaumenkuchen gefallen waren, dafür konnten sie freilich nichts; weil
es viele Kuchen waren, hatte nämlich der Meister sie, was sonst nicht
geschah, in die zweite Backstube auf die Erde stellen lassen. Heine
hatte, als er dies gesehen, die Kinder auf dem Hof abpassen wollen, über
aller Arbeit aber nicht zur rechten Zeit hinunter gehen können.

»Meine schönen Kuchen, ein Jammer ist's,« brummte Meister Gutgesell
grollend, und Wendelin und Severin senkten ihre Nasen fast bis zur Erde.

»Ach -- und -- und dem alten Klaus -- können wir -- wir -- nichts
geben,« schluchzte Brigittchen, die schon ganz dick verweinte Augen
hatte.

»Die Kinder müssen vor allen Dingen nach Hause gebracht werden,« sagte
die Meisterin, die in ihrem gütigen Herzen inniges Mitleid mit den
kleinen, verunglückten Schatzgräbern empfand.

»'s war unser Esel,« sagte auf einmal Martin, der Altgeselle, der ein
Weilchen das Zimmer verlassen hatte und eben wieder eintrat.

»Was soll denn das heißen, was ist denn nun wieder mit unserem Esel?«
rief der Meister, der seinen Ärger noch nicht überwunden hatte und einen
neuen vermutete.

»Das Gespenst war er,« erwiderte Martin trocken.

»Unser Grauchen war -- das Gespenst?« schrie Severin und riß den Mund
weit wie eine Schublade auf.

»Unsern Esel habt ihr für ein Gespenst angesehen, o, ihr Bangbüxen, ihr
kleinen, törichten Hasenfüße, ihr,« rief der Meister, und sein
verärgertes Gesicht hellte sich auf; er lachte so herzlich, daß seine
Frau, der Geselle und der Lehrjunge mit einstimmten. Anne-Marte, die
ohnehin eine rechte Lachtaube war, kicherte ebenfalls, und zuletzt
lachten alle aus vollem Halse. Selbst Brigittchen lächelte ein wenig,
freilich nicht sehr, ihr war das kleine Herzchen doch recht schwer.

»Komm, ich führe dich selbst heim,« sagte die Meisterin liebevoll; sie
hatte das zarte, liebliche Kind besonders in ihr Herz geschlossen. »Ihr
Buben geht jetzt zu Bett, aber wirklich,« wandte sie sich zu Wendelin
und Severin, »und ihr Doktorkinder kommt, ich bringe euch alle
miteinander heim, damit ihr endlich zur Ruhe kommt.« Brigittchen ging
mit zaghaften Schritten auf Meister Gutgesell zu, »bitte verzeihen Sie,«
stammelte sie, und es war, als hätte dies Wort die Zungen der anderen
Kinder gelöst, bittend umdrängten sie den Meister.

»Na, laßt man,« sagte der gutmütig, »um die schönen Kuchen und das gute
Mehl ist's freilich schade, aber es soll euch verziehen sein, nur
versprecht mir, daß ihr nicht mehr auf den Gedanken kommt, bei Nacht und
Nebel auf's Schatzgraben auszugehen, das ist dummer Schnickschnack.«

Das versprachen die Kinder freilich gern, die Angst lag ihnen noch
schwer in den Gliedern und sie waren alle froh, so heil davon gekommen
zu sein. »Mit Freund Heine werde ich aber noch ein ernstes Wörtchen
reden,« murmelte Meister Gutgesell, »wehe, wenn der mir noch mal den
Kindern solche Narrenpossen vorredet, so ein abergläubisches Geschnack
kann ich meiner Seel' nicht leiden!«

Der Altgesell grinste: »Einer denkt s'ist ein Gespenst und dann ist's 'n
Esel, so geht's allemal. Schatzgraben, Unsinn, schade um unsern
Pflaumenkuchen.«

»Ja, schade drum,« meinte auch der Meister, »aber nun rasch an die
Arbeit, sonst kriegen meine Kunden morgen ob der Gespenstergeschichte
keine Semmeln zum Kaffee.«

Die Meisterin brachte die drei Kinder nach Hause; die bekamen an diesem
Abend freilich noch manches Scheltwort zu hören und sie waren alle drei
herzlich froh, als sie erst im Bett lagen. Die Doktorskinder schliefen
bald wie die Murmeltiere, Brigittchen aber lag noch lange mit offenen
Augen da, sie dachte nur immer: »Nun wird dem alten Klaus nicht
geholfen.«

Es wurde ihm aber doch geholfen, und zwar von niemand anderem als von
Brigittchens Vater.

Die Schatzgräbergeschichte blieb nicht verborgen. Der Lehrjunge, der
früh die Semmeln austrug, erzählte sie da und dort, und einer erzählte
sie dem anderen weiter, und alle Leute lachten darüber. Die fünf
Schatzgräber hatten mancherlei Neckereien zu tragen, aber dies focht sie
nicht sonderlich an, weil das Ende der Geschichte so gut wurde. Herr
Schön hörte, als er am nächsten Tage von seiner Reise zurückkam, auch
von der Sache, Brigittchen erzählte ihm selbst alles; er sagte nicht
viel dazu, aber er ging an dem Nachmittag noch selbst zu dem
Bankdirektor und erbot sich, Bürge zu sein für das verlorene Geld. Den
Schwiegersohn der Pantoffelmachersleute, den er nämlich als braven Mann
kannte, stellte er in seinem Geschäft an, das verlorene Geld sollte er
nach und nach ersetzen; Herr Schön zahlte edelmütig dem Mann etwas mehr
Gehalt, so daß es diesem möglich war, mit der Zeit die Summe zusammen zu
sparen.

Das war ein Jubeltag in dem runden Stadtturm, als Brigittchen in
Begleitung ihrer Freunde selbst die frohe Kunde überbrachte. Da gab es
wieder Lachen, Pfeifen und Singen wie sonst und es war, als hätte die
Sonne gemerkt was los war; sie schaute strahlend hell wie ein frohes
Kind in das Stübchen. »Ich erzähl' euch morgen die allerschönste
Geschichte aus meiner alten Chronik,« sagte Vater Klaus, »nur heute
nicht, heute kann ich's vor Freude nicht«.

»Ich auch nicht,« sagte Mutter Paulinchen, sie trieselte dabei ganz in
Gedanken ihr Strickzeug auf, und als sie es sah, lachte sie. Die Kinder
lachten auch und singend und lachend zogen sie dann hinaus, saßen im
warmen Sonnenschein auf der alten Stadtmauer und freuten sich, daß alles
so gut geworden war.




                              Gertrudis.
                  Eine Geschichte aus alten Zeiten.


Doktor Theobald Fröhlich stand in seinem Hause am Fenster und sah
hinaus. Draußen schneite es wieder ein bißchen und der Doktor fand
Neustadt heute noch stiller als sonst. Acht Tage war er nun schon hier,
wie lange sie ihm erschienen! Er seufzte ein wenig; eigentlich gab es
doch sehr wenig Unterhaltung in so einem kleinen Nest. Wenn nur erst
seine Schwester da wäre, damit er jemand hätte, mit dem er so recht nach
Herzenslust plaudern könnte.

»Der Herr Doktor sollte spazieren gehen,« meinte die alte Dorothee, die
sachte durch das Zimmer ging, und wohl sah, daß ihrem Herrn die Stille
nicht sonderlich behagte.

»Ja, spazieren gehen, das ist das Beste,« dachte der Doktor. Er nahm Hut
und Wettermantel und stapfte bald vergnügt durch den Schnee. Sein Ziel
sollte diesmal die alte Stadtmauer bilden. Es dauerte auch nicht lange,
da stand er vor dem alten Wartturm, der eine mächtige weiße Kappe trug
und an diesem Wintertag ein bißchen grauer und trübseliger als in
Sommerszeiten drein schaute. Das Blumenbrettlein fehlte vor dem Fenster,
auch Pantoffeln hingen nicht wie sonst heraus, nur ein kleines,
schwarzes Schild zeigte an, daß man hier Pantoffeln kaufen könnte. Auch
daß ein Museum im Turm war, las der Doktor unten am Eingangstore; das
war ihm gerade recht; kurz entschlossen öffnete er die graue,
verwitterte Pforte, und schrill schlug die kleine Türglocke an.

»Mutter Paulinchen, ich glaube, es fliegt ein weißer Spatz in den Turm,«
sagte oben Klaus Hippel.

»I nee, bei dem Wetter,« meinte die Pantoffelmacherin und lachte, als
hätte ihr Mann die spaßhafteste Sache von der Welt erzählt.

Ihr Lachen fand Widerhall, denn das Turmstübchen war voller Gäste. Mit
roten Wangen, roten Nasen und Ohren, die sie sich draußen in der Kälte
geholt hatten, saßen Brigittchen, Anne-Marte, Jörgel und die Brüder
Gutgesell auf der Ofenbank und auf Mutter Paulinchens großer Truhe.
Meister Hippel erzählte ihnen gerade wieder etwas aus seiner alten
Chronik.

»Es kommt doch wer, Paulinchen,« sagte der Pantoffelmacher, und da trat
auch schon Doktor Fröhlich in die Stube. Der Doktor vergaß vor lauter
Erstaunen ordentlich guten Tag zu sagen, denn so etwas wie dieses kleine
Turmgemach hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Es sah so bunt
und lustig aus wie eine Jahrmarktsbude. Meister Hippel klebte nämlich
jedes Bild das er bekommen konnte, an die Wand, dazwischen hingen rote,
grüne und braune Tuch- und Samtpantoffeln, zwei Vogelbauer, eine alte
Landsknechtlanze und ein krummer Säbel; auf einem Brett standen bunte
Teller und Krüge, vor den Fenstern blühten trotz des Winters allerlei
Blumen; Blumen und rote Herzen waren auch auf den Schrank und auf die
Truhe gemalt. Dazu trug Frau Paulinchen noch ein blitzeblaues Kleid.

»Gelt, kunterbunt sieht's bei uns aus, Herr Doktor Fröhlich?« sagte
Klaus Hippel.

Der Doktor mußte lachen: »Ja, woher wissen Sie denn, wer ich bin?«

»Du meine Güte, in Neustadt werden die Menschen bald bekannt, außerdem
ist die alte Dorothee noch eine Schwestertochter von meines
Schwiegersohns Großmutter,« sagte der Pantoffelmacher und zwinkerte
lustig mit den Augen.

»Was ist sie denn da, Vater Klaus?« rief Jörgel, verdutzt ob der
schwierigen Verwandtschaft.

»Ei, sieh mal an, da sind ja die Schatzgräber,« sagte der Doktor, der
die Kinder erkannte. Die lachten und wurden ein bißchen verlegen, aber
bald überwanden sie ihre Schüchternheit, und es dauerte gar nicht lange,
da saß der Doktor im Pantoffelmacherstübchen und plauderte mit allen wie
ein guter, alter Freund.

Mutter Paulinchen zeigte ihm auch das Museum, und die Kinder stiegen die
Turmtreppe mit hinauf, sie wollten erklären helfen. »Die Waffen stammen
aus dem dreißigjährigen Krieg!« erzählte Frau Paulinchen, »und diese
hier aus der Franzosenzeit.«

»Wann war denn der dreißigjährige Krieg?« fragte der Doktor neckend, und
unglückseligerweise richtete er seine Frage gerade an Wendelin.

Der seufzte schwer, Geschichte, Geographie und noch manche andere Fächer
waren seine schwache Seite.

»Der war, der war -- als Napoleon lebte,« sagte er endlich kühn.

Der Doktor lachte, und die anderen Kinder kicherten. »Wie lange hat der
Krieg denn gedauert?«

»Sieben Jahre!« rief Wendelin stolz ob seiner gewaltigen Kenntnisse.

Die andern lachten hell auf, nur Brigittchen nicht, der tat es gleich
leid, daß der Freund ausgelacht wurde, und schmollend sagte sie: »Es ist
doch nicht schlimm, wenn Wendelin ein paar Jahre weniger sagt.«

»Na eben,« brummte Wendelin, der jetzt merkte, daß er eine Dummheit
gesagt hatte, »meinetwegen kann der dreißigjährige Krieg auch zehn Jahre
gedauert haben.«

»Hier sind auch ein paar alte Handschriften,« sagte Mutter Paulinchen
mitten in das allgemeine Gelächter hinein, »sie sind erst vor ein paar
Jahren gefunden worden, aber gelesen hat sie noch niemand. Es war zwar
mal ein berühmter Professor da, der wollte sie studieren, er hatte
damals aber keine Zeit, und dann ist er gestorben«. Doktor Fröhlich
blätterte in den alten Pergamentschriften herum, er konnte die
altertümliche Handschrift gut lesen, und die Sache interessierte ihn. Am
liebsten hätte er die Blätter mit nach Hause genommen, aber das ging
doch nicht an, Pantoffelmachers durften nichts aus dem Museum verborgen.
»Der Herr Bürgermeister wird es schon erlauben,« meinte Mutter
Paulinchen.

»Ich möchte auch wissen, was darin steht,« flüsterte Brigittchen mit
versonnenen Augen. Die Kleine war ein rechtes Märchenkind und
Geschichten lesen und hören, war für sie das allerallergrößte Vergnügen.

Doktor Fröhlich hatte die Worte gehört, und lächelnd versprach er: »Wenn
eine Geschichte darin ist, die Kindern gefallen kann, dann erzähle ich
sie euch, wollt ihr?«

Ob sie wollten! Keines sagte nein, und sie versprachen dem Doktor
Fröhlich alle, sie wollten ihn recht bald besuchen. Und als er gegangen
war -- er hatte es sehr eilig, vom Herrn Bürgermeister die Erlaubnis zu
erbitten, die alten Schriften lesen zu dürfen -- da sprachen die
Pantoffelmachersleute und die Kinder noch viel von dem neuen Bekannten.
Aber sie hatten nicht, wie es wohl vorkommt, hinter dem Rücken allerlei
zu tratschen und zu klatschen, sie waren alle miteinander einig, Doktor
Theobald Fröhlich sei ein furchtbar netter Herr.

»Ach, und ein Dichter ist er,« sagte Brigittchen, und riß vor
Bewunderung ihre Veilchenaugen so weit auf, als wollte sie zwanzig
Märchen auf einmal lesen.

»Nu,« erwiderte Klaus Hippel, »einen Dichter können wir in Neustadt auch
gerade gebrauchen, wenn der nur die Augen aufmacht und in die Ohren
keine Watte stopft, dann sieht und hört er hier so viele Dinge, daß er
zehn Bücher voll schreiben kann«.

»Mein Onkel Mayer sagt,« rief Severin ein bißchen naseweis, »Neustadt
wäre ein langweiliges Nest!«

»Dummer Junge!« schrie der Pantoffelmacher ärgerlich, »wenn das dein
Onkel sagt, na, dann kennt halt dein Onkel Neustadt nicht, aber du
brauchst so was von deiner Heimatstadt nicht nachzuplappern. Schön ist
Neustadt, das sage ich, und ich kenn' es doch, bin mein Lebtag nicht
herausgekommen. Meinetwegen mag Berlin schöner sein und München und Köln
und alle großen Städte und der Schwarzwald und auch die Schweiz,
Italien, das Meer, was du willst, aber schön ist Neustadt drum. Guckt
euch nur ordentlich darin um. Und wenn der Doktor Fröhlich ein rechter
Dichter ist, dann gefällt es ihm hier und er bleibt nicht nur bei uns,
weil er hier ein Haus hat, sondern weil er die Stadt liebt. Damit
punktum; nun macht, daß ihr nach Hause kommt, ich wette, ihr habt alle
noch keine Schularbeiten gemacht«.

Das stimmte nun. Die Kinder trabten davon und unterwegs sagte Wendelin
zu Anne-Marte: »Vater Klaus ist wirklich schrecklich klug, wie konnte er
nur wissen, daß wir noch unsere Schularbeiten zu machen haben?«

Herr Doktor Fröhlich war inzwischen spornstreichs zu dem Bürgermeister
Henning gelaufen und hatte dem sein Anliegen vorgetragen, man möchte ihm
gestatten, in den alten Schriften zu lesen. Der Bürgermeister hatte
nichts dagegen, ja, er freute sich darüber und sagte: »Vielleicht lesen
Sie manches, was für die Neustädter Interesse hat, es ist doch immer
gut, wenn man etwas von seiner Heimat aus alten Zeiten weiß«.

Gleich am nächsten Tage holte sich Doktor Fröhlich die alten Schriften
von Klaus Hippel ab und dieser bat: »Erzählen Sie mir auch, was drin
steht, ich höre zu gern alte Geschichten«.

Dorothee hatte in dem braunen Kachelofen in der Bücherstube ein
mächtiges Feuer gemacht und es war prachtvoll gemütlich in dem weiten
Raum. Doktor Fröhlich saß darin bis in die Nacht hinein und las in den
alten Schriften. Während draußen die Flocken fielen, las er wie vor
vielen, vielen Jahren die Leute in Neustadt gelebt und gekämpft hatten,
und wie sie durch Freude und Leid gegangen waren.

Als dann nach zwei Tagen kleine, rotgefrorene Hände die Glocke an der
Haustüre zogen, und Jörgel und Wendelin ein wenig verlegen nach dem
Herrn Doktor Fröhlich fragten, da ließ die alte Dorothee die beiden in
das Arbeitszimmer ihres jungen Herrn. »Na,« fragte der, »ihr kommt
allein, wo sind denn die andern, ihr denkt wohl, ich soll euch beiden
allein eine feine Geschichte erzählen?«

»Die trauen sich noch nicht,« sagte Jörgel, »Brigittchen sagt, sie
dürfte eigentlich nicht zu fremden Menschen gehen«.

»Na, so was!« rief Dorothee, »sie ist doch oft zu uns gekommen, wie
meine alte, gnädige Frau noch lebte, ich werde sie holen gehen«. Nach
einem Weilchen kam die Alte zurück, und richtig, sie brachte die
schüchternen drei Schatzgräber mit. Die kamen himmelgern und waren froh,
daß sie geholt worden waren. Dann saßen alle beisammen in dem
gemütlichen Zimmer, und der Doktor erzählte ihnen eine der alten
Neustädter Geschichten, er nannte sie:


                              Gertrudis.

In Neustadt war vor etlichen hundert Jahren, in der Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts, Albrecht Mooshage Bürgermeister. Damals war
die Stadt noch reich und angesehen, sie gehörte nicht wie heute zu den
Kleinen im Lande. Die Neustädter Bürger waren geachtete Handelsleute,
die mit ihren Waren auf die Messen und Märkte der großen Städte zogen.
Sie wußten sich auch in vielen Kämpfen gut ihr Recht zu wahren und
verteidigten ihre Stadt tapfer gegen mancherlei Unbill. Damals sah es in
dem alten Wachtturm am Südtor der Stadt, in dem jetzt Klaus Hippel mit
seiner Frau wohnt, nicht so behaglich aus wie heute. Die Stadtsoldaten
wohnten in den vier Tortürmen, die es gab, und bewachten die Stadt gut.
Es war eine wilde, rauflustige Zeit, und jeder, der durch ein Stadttor
kam und ging, mußte Auskunft über woher und wohin geben. Oft genug waren
auch die Tore geschlossen, und draußen lagerte ein reisiges Heer, um die
Stadt einzunehmen. Das gelang ihnen freilich nicht, erst im
dreißigjährigen Krieg ist ja dann das arme Neustadt halb zerstört
worden. Der Bürgermeister Albrecht Mooshage war recht ein Mann, um die
Stadt gegen alle Unbill zu verteidigen. Er war wie von Eisen, was er
wollte, das setzte er durch, und es war nicht gut Kirschen essen mit ihm
im Bösen. Als ganz junger Bursche schon hatte er mit einer Handvoll
Söldnern ein großes, bischöfliches Heer in die Flucht geschlagen; wie
der Sturmwind war er zwischen die Feinde gefahren, die waren gerannt,
als wäre ein böser Geist hinter ihnen. Damals hatten die Ratsherren auf
der Stadtmauer gestanden und aus vollem Halse darüber gelacht, der
älteste von ihnen aber hatte gesagt: »Der soll mal unser Bürgermeister
werden«. Er war es auch bald geworden, solch' jungen Bürgermeister hatte
Neustadt noch nie gehabt, freilich auch keinen besseren. Denn Albrecht
Mooshage war nicht allein stark, mutig und klug, sondern auch gerecht
und fromm, und er litt kein Unrecht. Er war schon etliche Jahre
Bürgermeister, als ihn ein großes Unglück betraf: sein junges Weib
starb. Die schöne Frau Regina Mooshage war so mild und gut wie eine
Heilige gewesen, und als sie starb, da weinten und klagten nicht bloß
die Leute aus ihrer Sippe, sondern auch alle Armen und Kranken. Dem
Bürgermeister blieb nur ein einziges Kind als Trost. Ein Mägdlein, so
fein und blond wie seine Mutter. Die kleine Gertrudis war ein sinniges
Kind, das mit gar ernsthaften Augen um sich sah. Als sie etwa zehn Jahre
alt war, läutete eines Tages in Neustadt wieder einmal die Sturmglocke,
die Feinde ankündigte. Etwa zwei Stunden von Neustadt entfernt liegt
noch heute die Ruine Reiffenstein, damals war sie ein stattliches
Schloß, das den edlen Herren von Stein gehörte. Der Herr Wunibert von
Stein auf Reiffenstein war ein erbitterter Feind der Neustädter, der den
Pfeffersäcken, so nannte er die Bürger, gern etwas am Zeuge flickte. Die
Fehde zwischen Schloß und Stadt war schon sehr alt, niemand wußte mehr
recht, wer angefangen hatte, aber mit der Zeit waren beide so giftig auf
einander geworden, daß eines dem anderen immer gern einen Schabernack
spielte. Jetzt aber hatte der Herr von Stein auf Reiffenstein in dem
Bischof Albert einen mächtigen Freund gewonnen. Auch der Bischof war aus
irgend einem Grunde den Neustädtern gram, und die beiden beschlossen,
der Stadt einen Fehdebrief zu senden und sie zu belagern.

Der Herzog des Landes war gerade auf einen Reichstag in der Ferne, und
damals handelten die Ritter gern auf eigene Faust, ohne viel zu fragen,
ob sie auch ganz im Recht wären. Von dieser Absicht erhielt der
Bürgermeister Albrecht Mooshage durch einen Handelsmann Kunde, der auf
seinem Wege an Schloß Reiffenstein vorübergekommen war. Zu gleicher Zeit
erfuhr er auch, daß der zweite Sohn des feindlichen Nachbarn von der
Klosterschule, auf der er zwei Jahre gewesen war, heimkehrte. Sein Weg
führte ihn dicht an Neustadt vorbei, und der Ritter wollte erst des
Sohnes Heimkehr abwarten, ehe er die Stadt überfiel. Als Geisel konnte
der kleine Junker der Stadt viel nützen, und der Stadthauptmann Kunz
Peuchtinger ritt schnell dem Junkerlein zum freundlichen Empfang
entgegen. Etliche Stunden später brachten die Reiter zwei gefesselte
Troßknechte und einen blassen, hübschen Knaben von etwa elf Jahren durch
das Südtor in die Stadt. Darauf wurden die Tore geschlossen, die
Sturmglocken geläutet. Neustadt war kriegsbereit.

Der Stadthauptmann wollte das Junkerlein in eins der unterirdischen
Verliese werfen lassen, aber dem widersprach der Bürgermeister. »Es ist
ein Kind, und Schande über uns, wenn wir Kindern etwas zu Leide tun
wollten,« sagte er. »Kommt her, Junker, und schwört, daß ihr die Stadt
nicht heimlich verlaßt, dann sollt ihr in meinem Hause Wohnung finden«.

Der blasse Knabe schüttelte trotzig die dunklen Locken: »Bewacht mich
doch,« rief er kühn, »ich schwöre nichts!«

»Heisa, das Klosterschülerlein will uns Trotz bieten!« riefen die
Ratsherren und lachten. »Rasch mit ihm ins Verlies, dort soll er schon
sanftmütiger werden«.

»Nein, nicht ins Verlies, ich stehe für ihn,« sagte Albrecht Mooshage
ernst, dem der Bursche gefiel und dem es leid war, ihn in dem dunklen,
feuchten Keller zu wissen, in dem schon mancher Gefangene elend zu
Grunde gegangen war.

Die Ratsherren waren mit dem Entschluß des Bürgermeisters zufrieden.
Dessen Haus war wie eine kleine Festung, und Knechte und Mägde waren
ihrem Herrn so treu ergeben, daß niemand heimlich aus- und eingehen
konnte. Albrecht Mooshage nahm den kleinen Junker bei der Hand und
führte ihn in sein Haus. Dann rief er sein Töchterlein herbei und sagte:
»Da sieh her, Gertrudis, hier bringe ich dir einen Gefährten, du mußt
ihn mir aber wohl hüten, ich habe mein Wort verpfändet, daß er nicht
entflieht«.

Gertrudis sah erstaunt auf den blassen Knaben, der beim Anblick des
lieblichen Mägdleins verlegen den Kopf senkte. Er hatte sich bei dem
Überfall tapfer gewehrt, sein Wams war daher zerrissen und beschmutzt
und er schämte sich dessen. Gertrudis hatte gerade von Frau Barbara, der
Haushälterin, einen schönen, roten Frühapfel erhalten, den streckte sie
flink dem Buben hin und sagte lächelnd: »Magst du ihn, ich geb' ihn dir
gern«.

Der kleine Junker Fridolin nahm den Apfel zwar nicht, aber über sein
trauriges Gesicht ging ein heller Schein, es war ihm nun nicht mehr so
bang ums Herz als vorher. Er folgte dann willig der Frau Barbara, die
ihn in ein Kämmerlein neben des Hausherren Schlafgemach führte, das er
fortan bewohnen sollte. Wohl hatte die Kammer ein vergittertes Fenster,
und Fridolin merkte auch schnell genug, daß er immer bewacht wurde,
trotzdem fühlte er seine Gefangenschaft nicht allzusehr. Gertrudis war
so lieb zu ihm wie ein treues Schwesterlein, war er traurig, da wußte
sie ihn gar hold zu trösten. Er mußte ihr von daheim erzählen, von
seiner väterlichen Burg, von dem Vater, der zwar ein etwas rauflustiger
Herr war, aber doch gar gut zu den Seinen. Am liebsten aber hörte es
Gertrudis, wenn der Knabe von seiner schönen, frommen Mutter sprach, von
ihrer Güte und wie oft sie ihm, dem älteren Bruder Hans und den kleinen
Schwestern Geschichten aus der Bibel und Märlein erzählt hatte, wenn sie
schnurrend die Spindel drehte.

Den Kindern gingen die Tage friedsam hin, sie hörten wenig von dem was
draußen geschah. Der Bürgermeister hatte es seinem Hausgesinde verboten,
von der Belagerung der Stadt zu sprechen. Auch Gertrudis durfte in
dieser Zeit nie auf die Straße; das von einer hohen Mauer umfaßte
Gärtchen war der Tummelplatz der Kinder. So erfuhren sie nicht, daß vor
den Mauern das feindliche Heer lagerte und zwischen dem Rat und dem
Herrn von Stein und dem Bischof Boten hin und her gingen, die über den
Frieden unterhandelten. Die Kinder ahnten auch nicht, daß eines Tages
der Rat den kleinen Junker köpfen lassen wollte, weil sein Vater sich
nicht in die Friedensbedingungen fügte. -- Der Bürgermeister Albrecht
Mooshage aber verteidigte eifrig seinen Schützling, der Knabe war ihm
lieb geworden, und er atmete erleichert auf, als Bischof und Ritter sich
zum Frieden bequemten. Etliche Monate war Fridolin im Hause des
Bürgermeisters gewesen, und aus dem Herbst war inzwischen Winter
geworden, als er seine Freiheit wieder erhielt. Es war am St.
Andreastag, da wurde er feierlich von dem Rat vor das Südtor geführt,
dort erwartete ihn sein Vater, der ihn mit heller Freude in die Arme
schloß. Vorher hatte Gertrudis traurig von ihrem Freunde Abschied
genommen. Sie schenkte ihm ein goldenes Amulett an einem feinen
Kettlein, das sie von ihrer Patin bekommen hatte. »Trag' es immer, es
wird dir Glück bringen,« bat sie. Fridolin versprach es; er selbst gab
der kleinen Freundin ein Gebetbuch, in das ein frommer Klosterbruder
zierliche Bilder gemalt hatte. Das Buch war des Knaben einziges
Besitztum.

»Vergiß mich nicht,« bat Gertrudis weinend.

»Ich vergesse dich nie, und wenn ich groß bin, dann komme ich und hole
dich, dann wirst du meine Frau,« beteuerte Fridolin. Er war schon
draußen, da rief ihm Gertrudis noch nach: »Sag' deiner Frau Mutter einen
Gruß!«

Anfangs hoffte Gertrudis immer, sie würde ihren Freund einmal
wiedersehen, aber Monat auf Monat verging, die Monate wurden zu Jahren,
er kam nicht. Aus der kleinen Gertrudis wurde eine schöne Jungfrau, »das
schönste Mädchen in der Stadt« sagten die Leute. »Und das beste und
frömmste,« fügten die Armen und Kranken hinzu.

Albrecht Mooshage war noch immer Bürgermeister zum Segen der Stadt, die
unter seiner Führung an Macht und Ansehen zunahm. Dies aber erregte den
Neid ihrer Nachbarn, und Neider waren es auch, die Neustadt bei dem
Landesherrn, Herzog Bernhardt, verklagten. Besonders der Bischof Albert
war Ankläger, mit ihm noch ein Ritter von Scherblingen. Die beiden
behaupteten, die Stadt, die an der Grenze lag, wollte den Herzog an
seinen Nachbar verraten, Hauptanstifter sei der Bürgermeister. Der
Herzog, der von heftiger Gemütsart war, fragte nicht lange, ob die Sache
auch wahr sei, er forderte den Bürgermeister auf, zu ihm zu kommen und
sich zu rechtfertigen oder die Stadt sollte eine harte Strafe erhalten.

Der Rat und die Bürgerschaft baten ihren Bürgermeister dringend, nicht
an den Hof des Herzogs zu gehen, sie wollten selbst dessen Zorn Trotz
bieten. Aber Albrecht Mooshage sagte: »Ich könnte das nie verantworten,
wenn der Stadt um meinetwillen Übles zugefügt würde, ich gehe und sollte
es mein Leben kosten. Ich wäre wahrlich ein schlechter Bürgermeister,
könnte ich nicht mein Leben für die Stadt lassen!«

So ging er, begleitet von den Segenswünschen seiner Mitbürger und den
heißen, heißen Tränen seines Kindes. Bald darauf kam in die Stadt die
Kunde, Albrecht Mooshage sei vom Herzog wegen Hochverrates zum Tode
verurteilt worden, der Stadt selbst würde, da sich ihr Oberhaupt
freiwillig gestellt hätte, nur eine geringe Geldbuße auferlegt.
Vergeblich beteuerten Rat und Bürgerschaft die Unschuld des
Verurteilten, vergebens boten sie eine hohe Lösesumme für seine
Freiheit, der Herzog gab nicht nach.

Während die ganze Stadt auf Rettung sann, verließ die schöne Gertrudis
eines Tages heimlich die Stadt, sie wollte sich dem Herzog zu Füßen
werfen und um Gnade bitten. Sie hatte sich in eine Pilgerkutte gehüllt,
und, ebenfalls als Pilger verkleidet, folgte ihr der treue Hausverwalter
Kaspar auf dem gefährlichen Wege. Sie ritten beide in der Frühe eines
sonnigen Frühlingsmorgens zur Stadt hinaus, der Stadthauptmann wußte,
wer die Pilger waren, und ungehindert ließ er sie durch. Der Weg führte
durch einen meilenweiten Wald, in dem die Wege manchmal fast
undurchdringlich waren, und die Reisenden kamen nur langsam vorwärts,
viel zu langsam für Gertrudis Angst um den geliebten Vater. Sie hatte
keinen Blick für die Schönheit ringsum, und nicht wie sonst freute sie
sich am Sonnenglanz, an den tausend Blumen und dem Gesang der Vögel. Sie
dachte nur an den Vater, und ob es ihr gelingen würde, ihn zu befreien.

Sie waren beide schon viele, viele Stunden geritten, als auf einmal ein
schmerzliches Stöhnen an ihr Ohr klang. Erschrocken lauschten beide, es
war ein Mensch, der da klagte. Wohl flehte Kaspar angstvoll: »Seid
vorsichtig, Jungfrau Gertrudis, kommt rasch weiter,« aber mutig ritt
Gertrudis dem Stöhnen nach. Wo ein Mensch Hilfe brauchte, da zögerte sie
nie zu helfen, an ihr eigenes Wohlergehen dachte sie nicht. Bald fanden
die Reisenden auch, fest an einen Baum gebunden, einen schönen,
dunkellockigen Jüngling in Jägertracht. Er war verwundet, sein ganzes
Gesicht war blutüberströmt, er mochte wohl von Wegelagerern im Walde
überfallen worden sein.

Gertrudis besann sich nicht weiter, sie sprang rasch vom Pferde, löste
mit Kaspars Hilfe die Bande des Gefesselten, der nun befreit ohnmächtig
zusammensank. Rasch und geschickt verband Gertrudis dann des Jünglings
Wunden, die, wie sie bald sah, nicht gefährlich waren. Dabei verschob
sich die Kapuze ihrer Kutte und der Ohnmächtige, der einige Augenblicke
die Augen aufschlug, sah erstaunt in Gertrudis holdseliges Gesicht. Dann
verlor der Jüngling wieder das Bewußtsein; er merkte es nicht mehr, daß
Kaspar ihn vor sich auf das Pferd nahm und mit ihm weiter ritt. »Wir
müssen uns sputen, Herrin,« sagte der ängstlich, »um noch vor Nacht aus
dem Walde zu kommen, namentlich mit diesem jungen Herrn, dem man wohl
nachstellen mag«.

Sie gelangten aber ohne Unfall aus dem Walde heraus bis zu einer
Herberge, dessen Wirtin Kaspar wohl bekannt war. Dort übernachteten
beide, da die Pferde der Ruhe bedurften.

Gertrudis übergab den Verwundeten der Pflege der Wirtin. Ehe sie aber am
Morgen davonritt, sah sie noch einmal nach dessen Wunden, dabei sah sie
ein goldenes Amulett an des Junkers Hals, und nun erkannte sie in diesem
Fridolin, ihren einstigen Gespielen. Da entfloh sie rasch, denn sie
fürchtete, er möchte erwachen und sie erkennen. Bei dem eiligen Aufbruch
aber verlor sie ihr Gebetbuch, das sie zum Trost auf ihrem schweren Wege
mitgenommen hatte. Sie merkte es bald, aber sie fürchtete sich
umzukehren und rasch ritt sie mit Kaspar weiter.

Als Gertrudis nach einigen Tagen in die Herzogsstadt einritt, da erfuhr
sie zu ihrem Entsetzen, daß schon in drei Tagen ihr lieber Vater
hingerichtet werden sollte. Vergebens suchte sie zum Herzog zu gelangen,
der hatte viele Gäste auf seinem Schloß, und die Wachen wollten den
Pilger nicht zu ihm lassen. Da beschloß Gertrudis, am Tage des
öffentlichen Gerichtes des Herzogs Gnade zu erflehen. Es gelang ihr
aber, ihren Vater zu sehen. Zwar blickte der Schließer den Pilger,
dessen Gesicht ganz von einer Kapuze verhüllt war, mißtrauisch an, aber
als Gertrudis ihm ein Geldstück gab, da ließ er sie doch zu dem
Gefangenen. Der saß in einem dumpfen, halbdunklen Verlies, und Gertrudis
wollte schier das Herz brechen, als sie den geliebten Vater so elend
sah. Weinend umschlang sie ihn, der Bürgermeister aber erschrak heftig,
als er sein Kind erblickte. Es war damals schon eine recht gewagte
Sache, wenn ein Mägdlein eine Reise tat, Räuber und Wegelagerer gab es
genug auf den Straßen, und Frauen pflegten meist nur unter starker
Begleitung zu reisen. Gertrudis erzählte nun dem Vater, wie sie
hergekommen sei; daß sie für ihn des Herzogs Gnade erflehen wollte,
verschwieg sie jedoch, denn sie fürchtete, der Vater möchte in große
Sorge um sie kommen. Es war den beiden nur ein kurzes Wiedersehen
vergönnt, dann mußte Gertrudis scheiden, um nicht den Verdacht des
Schließers zu erregen. Ihr Vater segnete sie zum Abschied, ermahnte sie
zu allem Guten, und unter bitteren Tränen schieden beide von einander.

In ihrem Pilgergewand lag dann Gertrudis die ganze Nacht vor dem
festgesetzten Gerichtstage im Dom vorm Altar und betete für ihren Vater.
Dabei kam eine wundersame Ruhe über sie, es war immer, als hörte sie
eine Glocke tönen: »Sei getrost, sei getrost, es wird alles gut werden«.
Und als sie am Morgen in den strahlenden Frühlingssonnenschein
hinaustrat, da faßte sie des alten Kaspar Hand und sagte zuversichtlich:
»Es muß ja gut werden«.

Auf dem Anger vor der Stadt hielt an diesem Tage Herzog Bernhardt ein
öffentliches Gericht ab, dort wollte er das letzte Urteil über den
Bürgermeister von Neustadt sprechen, öffentlich sollte der hingerichtet
werden. Viele Leute waren auf dem Anger; auf einem erhöhten Platz saß
der Herzog im Kreise seiner Räte und Gäste, und alles Volk konnte es
sehen, wie der Gefangene vor den Fürsten geführt wurde.

In diesem Augenblicke drängte sich ein Pilger vor und mit dem Rufe:
»Gnade, Herr, Gnade für meinen Vater!« warf Gertrudis die Kutte ab und
sank zu des Herzogs Füßen. Der betrachtete nicht ohne Rührung das
holdselige Mädchen, und er fragte ernst, aber nicht hart: »Wer bist du,
und wie kommst du hierher?«

Gertrudis vermochte vor Schluchzen nicht zu sprechen, und Albrecht
Mooshage sagte trüb: »Es ist mein einziges Kind, gnädiger Herr«.

Durch die Menge schritt jetzt eilig ein junger Mann in ritterlicher
Kleidung, er sah ein wenig bleich und erschöpft aus, aber stolz und
aufrecht trat er vor den Herzog. Gertrudis sah beglückt auf den
Jüngling, sie erkannte ihn wohl, und auf einmal erklang wieder hell die
Glocke der Hoffnung in ihrem Herzen.

»Was wollt Ihr?« fragte der Herzog, er sah den schmucken Junker nicht
ungnädig an.

»Donner, ja, das ist mein Sohn!« rief plötzlich der alte Herr von Stein,
der sich auch in dem Gefolge befand und gerade hinter dem Herzog saß.
Mutig schaute Fridolin von Stein den Herzog und seinen Vater an, dann
sagte er: »Ich will meine Bitten mit denen der Jungfrau hier vereinen;
ich schulde ihr heißen Dank, sie hat mir vor etlichen Tagen das Leben
gerettet«. Dann erzählte der Junker wie ihm ergangen war, und daß er
seine Retterin an dem verlorenen Gebetbuch erkannt habe. Da sei er, kaum
genesen, schnell hierher geritten. Er sagte zuletzt so recht aus
tiefstem Herzen heraus: »Mein gnädiger Herr, übt Gnade an diesem Mann,
wahrlich, er verdient es!«

»Ihr bittet für Eures Hauses Feind?« fragte der Herzog und sah den
Junker scharf an.

»Ja, da schlag doch das Wetter drein!« rief Herr Wunibert von Stein,
»aber nichts für ungut, gnädiger Herr, ehrlich währt am längsten. Beim
Himmel, ich bin den Neustädtern auch nicht grün, aber für einen
Hochverräter halte ich ihren Bürgermeister doch nicht!«

Und plötzlich erhoben sich noch mehr Stimmen für den Angeklagten, manch'
einer, der aus Zagheit geschwiegen hatte, sprach nun für ihn. Der
Herzog, der, wenn sein rascher Zorn verraucht war, billig und gerecht
dachte, wandte sich an die Ankläger und ließ die noch einmal ihre
Beweise vorbringen. Die hatten mancherlei zu sagen, aber wenn einer
ruhig und überlegen prüft, kommt er oft zu anderer Ansicht als im ersten
Zorn. So erging es auch dem Herzog; die Beweise erschienen ihm auf
einmal recht lückenhaft und anfechtbar, und so sagte er endlich: »Ich
werde die Sache nochmals von andern Räten untersuchen lassen. Dich,
Albrecht Mooshage, Bürgermeister von Neustadt, gebe ich frei, so du
schwörst, daß du, wenn du schuldig befunden wirst, dich freiwillig
meinem Urteil stellst«.

»Mein gnädiger Herr Herzog,« sagte der Bürgermeister ruhig, »ich kam,
als Ihr rieft, und so werde ich immer kommen, wenn Ihr ruft. Ich bin mir
keiner Schuld bewußt!«

Da gab ihn der Herzog frei, und das Volk, das alles mit angehört hatte,
jauchzte laut, die beiden falschen Ankläger aber verließen gar geschwind
die Stadt, es war ihnen recht bänglich zu Mute. Der Herzog, der bald die
völlige Unschuld des Bürgermeisters erkannte, verbannte später beide von
seinem Hofe; er führte über den Bischof Albert Klage beim Papst, der
diesen seines Amtes entsetzte.

Fridolin von Stein verließ neben Albrecht Mooshage und Gertrudis den
Anger, und der alte Herr von Stein auf Reiffenstein sah den dreien etwas
mißmutig nach. Er grollte auch gewaltig, als Fridolin ihm später
erklärte, er wollte Vater und Tochter heimbegleiten. »Es sind unsere
Feinde,« brummte er. Das mannhafte Auftreten des Bürgermeisters, der
bereit gewesen war, sein Leben für den Frieden seiner Vaterstadt
hinzugeben, hatte ihm aber doch so gefallen, daß sein Zorn sich
besänftigte, und es hatte doch auch Gertrudis seinen Sohn gerettet. Das
Ende vom Liede war, daß er selbst mit heimritt. Er versicherte zwar,
seine Feindschaft gegen Neustadt sei nicht etwa vorbei, nur sicher
heimgeleiten wollte er Vater und Tochter, das sei Christenpflicht, auch
sei er niemand gern etwas schuldig, selbst einem Mägdlein nicht. Ein
wenig mürrisch ritt also der Ritter an des Bürgermeisters Seite
heimwärts, aber war es die sonnenhelle Frühlingspracht, oder war es das
frohe Plaudern seines Sohnes mit Jungfrau Gertrudis, was ihn erheiterte,
kurz und gut, sein Gesicht hellte sich nach und nach auf, er wurde ganz
gesprächig. Der alte Kaspar ritt hinterdrein und dachte in seinem Sinn:
»Ob es nun nicht immer so friedlich in der Welt zugehen könnte«.

Die Neustädter aber meinten schier, sie müßten auf den Rücken fallen,
als an einem Sonntag Mittag ihr Bürgermeister heil und unversehrt in die
Stadt einritt, neben ihm die beiden Herren von Stein auf Reiffenstein.
Die Freude war so groß, daß, wie der Chronist schreibt: das Geschrei
kein Ende nehmen wollte. »Im Mai des folgenden Jahres«, schreibt dann
der Chronist weiter, »hielt Herzog Bernhardt Einzug in seine vielliebe
und getreue Stadt Neustadt. Und ritten ihm Rat und Bürgerschaft bis vor
das Südtor entgegen, und konnte jeglicher merken, mit welcher
Freundlichkeit unser gnädiger Herr Herzog mit unserer lieben Stadt
Bürgermeister, Herrn Albrecht Mooshage, sprach. Und dessen Jungfrau
Tochter grüßte er mit gar freundlichem Lachen und verlobte sie alsbald
mit dem Junker Fridolin von Stein. Hatte auch des Junkers Herr Vater
nichts mehr dawider zu sagen und war doch einstens so feindlich unserer
Stadt gesinnt.«

»Wie geht's denn weiter?« fragte Wendelin, kaum daß der Doktor das
letzte Wort gesprochen hatte.

Der lachte: »Ja, Kinder, die Geschichte ist halt zu Ende. Aber
jedenfalls ist es dem Bürgermeister und seinen Kindern gut gegangen.
Albrecht Mooshage hat noch viele Jahre sein Amt verwaltet, nachher wird
der Herr Fridolin von Stein als Bürgermeister genannt. Von dem sagte der
Chronist auch, daß er ein gerechter und frommer Mann gewesen sei. Er hat
auch auf Bitten seiner Frau das Gertrudenspital erbaut und hat es nach
seiner viellieben Hausfrau so genannt. Die schöne Gertrudis ist eine
glückliche Frau geworden, sie ist aber nicht allein glücklich gewesen,
sie hat auch andere glücklich gemacht, und das ist das Beste, was man
von einem Menschen sagen kann«.

Ein Weilchen noch schwatzten die Kinder dies und das, Doktor Fröhlich
beantwortete ihnen noch allerlei Fragen, dann liefen sie heim, und auf
dem Heimweg sagte Jörgel zu Brigittchen: »Ich möchte auch so werden wie
Albrecht Mooshage«. »Und ich wie Gertrudis,« flüsterte Brigittchen und
wurde ganz rot dabei. Jörgel aber rief: »Es ist doch fein, daß unser
Neustadt schon so alt ist und eine so wichtige Stadt war!«

Das sagte Klaus Hippel auch, als er die Geschichte erfuhr, und daß just
der alte Südtorturm der war, in dem er wohnte, freute ihn am
allermeisten.




                           Weihnachtsaugen.


Die Tage vor Weihnachten sind zwar, so behaupten wenigstens die
erwachsenen Leute, recht kurz, den Kindern erscheinen sie aber mitunter
endlos lang, und als Severin Gutgesell drei Tage vor dem Feste sagte:
»Ich glaube, diesmal wird es überhaupt nicht Weihnachten,« da fand sein
Bruder Wendelin, daß er vollständig Recht hätte.

An eben diesem Tage wurde auch dem Doktor Theobald Fröhlich die Zeit
herzlich lang. Er hatte zwar noch sehr viel in seinen alten Schriften zu
lesen und gehörte auch sonst nicht zu den Leuten, die sich vor lauter
Faulheit langweilen, aber an diesem Tage meinte er doch, die Uhr rücke
recht, recht langsam vorwärts. Und war der Doktor ungeduldig, so war es
die alte Dorothee nicht minder. Wohl zehnmal erinnerte sie: »Ist es noch
nicht Zeit, auf den Bahnhof zu gehen? Der Weg streckt sich«.

Endlich rief ihr Herr: »Dorothee, jetzt gehe ich, Zeit ist noch
reichlich, aber stillsitzen kann ich nicht mehr«. --

»Ist auch recht!« rief die Alte, »das Kaffeewasser wird gleich
hingesetzt; du meine Güte, so ein junges Ding, und kommt
mutterseelenallein aus einem fremden Lande angereist«.

»Aber nun bleibt sie hier, hurra!« rief der Doktor, und krach, fiel die
Haustür hinter ihm zu.

Er hatte auch Grund zu Freude und Ungeduld, denn er ging auf den
Bahnhof, um seine Schwester Helene abzuholen, die nun wirklich, gerade
zur rechten Zeit, um ordentlich mit dem Bruder Weihnachten zu feiern, in
Neustadt anlangte.

Fräulein Helene Fröhlich, die immer aussah, als wäre ihr Name eigens für
sie erfunden worden, hatte Neustadt nicht verschlafen, sie fiel auch
nicht auf dem Bahnsteig hin wie ihr Bruder, sondern direkt in dessen
weitgeöffnete Arme hinein. Weinend und lachend zugleich lagen sich die
Geschwister in den Armen. Drei Jahre hatten sie sich nicht gesehen, eine
halbe Ewigkeit schien ihnen dies zu sein. So strahlend sahen beide aus
in der Wiedersehensfreude, daß alle Leute, die auf dem Bahnhof waren,
anfingen, sich mit zu freuen. Der Herr Inspektor lachte, und der Mann,
der die Billetts knipste, auch, ein altes Frauchen sagte: »Nu ja, man
denkt s'ist heute schon Weihnachten«.

»Ja wirklich, hier ist Weihnachten,« rief Helene jubelnd, »hier ist doch
Schnee, weißer, weicher Schnee. In Hamburg regnete es, als ich
durchfuhr, in London war dicker, gelber Nebel bei meiner Abreise, aber
hier ist Winter, ist Weihnachtswetter, nein, wie froh bin ich«.

Und Arm in Arm schritten die Geschwister durch die verschneiten Straßen
dem Hause zu, das ihnen gehörte, und in dem sie nun vereint Weihnachten
feiern wollten.

»Sieh da, dort ist das Dach, das ist schon unser Haus!« rief der Bruder,
und die Schwester blieb stehen, und beide sahen so eifrig auf das
Stückchen Dach, daß sie fast den schüchternen Gruß überhörten, den ein
kleines, weißgekleidetes Mädchen ihnen bot.

»Das ist ja Brigittchen!« rief Doktor Fröhlich und gab der Kleinen die
Hand.

»Da sieh, Lene, wir beide hier sind schon recht gute Freunde
miteinander, nicht wahr, Brigittchen?«

Die Kleine nickte, sie reichte der fremden Dame etwas zaghaft ihr
Händchen, und Helene Fröhlich beugte sich liebreich zu dem Kinde herab
und schaute in die Veilchenaugen, die heute so bitterernst
dreinschauten.

»Aber Kind, du machst ja keine Weihnachtsaugen,« rief Helene, »freust du
dich nicht auf Weihnachten?«

»Nein,« flüsterte Brigittchen scheu und senkte den Blick, dann huschte
sie eilig davon.

»Warum ist die Kleine so traurig?« fragte Helene, aber ihr Bruder konnte
ihr darauf keine Antwort geben. »Da mußt du Dorothee fragen, die weiß es
vielleicht,« sagte er.

Dazu kam Helene Fröhlich zwar nicht so bald; sie wurde von der alten
Magd mit so viel herzlicher Freude und so heißem Kaffee begrüßt, und
mußte gleich das Haus von oben bis unten ansehen, daß sie zuerst gar
nicht recht zur Besinnung kam.

»Hier ist die Bibliothek,« sagte der Bruder.

»Dort nach dem Garten hinaus liegt Fräuleins Zimmer,« rief Dorothee,
»und hier ist der Kaffeetisch gedeckt«.

»Ja, ja, erst Kaffee trinken, aber sieh' mal hier hinaus, Lene!« schrie
der Bruder aufgeregt.

»Ist es auch warm genug hier, und wieviel Kopfkissen will Fräulein
haben?« fragte Dorothee.

Und so ging es eine Weile fort, und dazwischen lachte Helene, umarmte
den Bruder, umarmte die alte Magd und rief: »Ich freue mich ja so, ich
freue mich ja so sehr!«

Und über dem Zeigen und Bewundern, Freuen, Kaffeetrinken und Treppauf-,
Treppablaufen kam der Abend heran, die Geschwister saßen zusammen und
erzählten sich von der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten; da
sagte auf einmal Helene: »Ich muß Dorothee fragen, warum Brigittchen
keine Weihnachtsaugen hatte«.

Nun, das wußte die alte Magd freilich. Sie erzählte, daß Brigittchens
Mutter vor fünf Jahren etliche Wochen vor Weihnachten gestorben sei,
seitdem würde wohl das Fest im Hause gefeiert, der Hausherr kümmere sich
aber nicht viel darum; Fräulein Mathilde besuche meist ein paar
Freundinnen, und so sei die Kleine gewöhnlich allein. »Was nützen ihr da
die vielen prächtigen Geschenke,« sagte die Alte, »Mitfreude und Liebe
braucht so ein Kind, und daran fehlt es halt.«

»Mitfreude und Liebe brauchen auch große Menschen,« rief Helene
Fröhlich, »wir wollen Weihnachten zusammenfeiern, Theo, aber auch andere
nicht vergessen. Wissen Sie nicht ein paar arme Familien, Dorothee,
denen wir bescheren können?«

Die Alte lachte über das ganze Gesicht, sie sah aus wie das reine
Behagen, so gefiel es ihr, und sie wußte gleich etliche Leute zu nennen,
bei denen die Weihnachtsfreude wohl angebracht war.

»Morgen kaufen wir zusammen ein,« sagte Doktor Fröhlich, »und
Weihnachtsbäume müssen wir schmücken, na, wir können uns tummeln, um
fertig zu werden«.

So viel fröhliche Lust hatte das alte Haus lange nicht gesehen, wie in
diesen Tagen. Mitten in aller Geschäftigkeit dachte Helene Fröhlich aber
doch an Brigittchens traurige Augen, und wie sie dem armen, reichen
Kinde zur rechten Weihnachtsfreude helfen könnte. »Ich möchte sie zu
unseren Armen mitnehmen, ob sie wohl darf?« fragte sie die alte
Dorothee.

»Ei, da gehe ich halt einfach hinüber und frage,« erwiderte diese.

»Fräulein Mathilde von drüben ist doch manchmal bei meiner seligen
gnädigen Frau gewesen, und das Brigittchen kam oft, da wird es wohl auch
heute die Erlaubnis bekommen, zumal der Herr Schön erst gegen Abend von
einer Reise wiederkommt, und die Bescherung spät sein wird«.

Gesagt, getan. Dorothee ging ins Nachbarhaus, und Fräulein Mathilde
erlaubte den Besuch; sie fand es recht bequem, das Kind auf einige
Stunden in guter Obhut zu wissen. Und Brigittchen freute sich. Die
schöne Geschichte, die Doktor Fröhlich erzählt hatte, lag ihr noch im
Sinn. Froh, aber doch wieder zaghaft, ging sie gleich nach dem
Mittagessen hinüber in das Nachbarhaus. Ja, wenn die Freunde mitgewesen
wären, dann hätte sie schon Mut gehabt, allein aber war sie ein rechtes
Furchthäschen. Doch die Freunde hatten nun mal keine Zeit. Anne-Marte
hatte am Morgen nur einmal das Näschen zur Türe hineingesteckt und
gerufen: »Ich habe noch mein Kissen für Muttel fertig zu nähen!«
Wendelin und Severin rührten sich an diesem Tage gar nicht zum Hause
hinaus, aus Angst, sie könnten etwas Wundervolles verpassen; nur Jörgel
war eine halbe Stunde mit seiner kleinen Freundin Schlitten gefahren.

Beinahe wäre Brigittchen an der Türe wieder umgekehrt, so schwer
erschien es ihr, allein zu der fremden Dame zu gehen, doch diese hatte
schon Umschau gehalten, und sie holte sich geschwind ihren Gast herein.
Sie begrüßte das Kind liebevoll und sagte heiter: »Erst mußt du mir
helfen Bäume putzen, nachher gehen wir miteinander und tragen
Weihnachtsgaben fort, willst du?«

Brigittchen nickte nur. Erst war es, als hätte sie ihren Mund vergessen,
und verträumt blickte sie sich um, als sie in ein Zimmer geführt wurde,
in dem drei kleine Tannenbäume standen; allerhand glitzernder Schmuck
lag dabei, rote Äpfel und buntes Zuckerwerk.

Helene Fröhlich begann geschwind ein blitzendes Sternlein nach dem
anderen an die grünen Zweige zu hängen, dabei rief sie munter: »Hilf
mir, Brigittchen, da, hänge den Apfel dorthin, hierher einen
Schokoladenkringel, tummle dich, geschwind, geschwind, wenn die Sonne
untergeht, müssen wir fertig sein!«

Die Kleine griff zaghaft in den schimmernden Tand hinein. Wie
wunderhübsch das doch war, daß sie all' die feinen, zierlichen Dinge an
die Bäumchen hängen durfte; da war ein Sternlein, da ein
Weihnachtsengel, eine silberne Glocke, leuchtende Kugeln und Ketten.

»Wir wollen auch dabei singen,« sagte Fräulein Helene, und mit heller
Stimme begann sie:

   »Alle Jahre wieder kommt das Christuskind!«

Ei, da fiel Brigittchen geschwind ein, und auf einmal tönte in den
hellen Zweigesang hinein eine tiefe Stimme; Doktor Fröhlich war in das
Zimmer getreten, er wollte nun auch mitsingen. Es klang aber ganz
wunderlich, wenn er so tief dazwischen brummte; dichten konnte er wohl,
aber nicht singen.

Seine Schwester lachte, und Brigittchen kicherte vergnügt hinter ihrem
Bäumchen. Nun kam die alte Dorothee auch herbei und wollte auch
mitsingen; sang aber der Herr Dichter so tief, als wollte er in einen
Keller fallen, so sang sie so hoch, als wollte sie auf einen Turm
klettern. Fräulein Helene kam darüber aus dem Takt, und mit einem
fröhlichen Gelächter endete der Gesang.

Inzwischen waren die Bäumchen fertig geworden, und draußen begann sacht
die Dämmerung heraufzuziehen. Dann ging es hinaus. Mit Bäumchen und
Paketen voll beladen gingen die Geschwister, Brigittchen und Dorothee
durch die engen Gäßlein, die hinter St. Marien lagen. In einem schmalen,
altertümlichen Haus kletterten Doktor Fröhlich, Fräulein Helene und
Brigittchen drei steile, enge Treppen hinauf, und oben führte eine
blasse Frau sie in eine armselige Stube.

»Wir sind alle in der Küche, ach! die Kinder können es kaum erwarten,«
sagte sie, und ihr Blick fiel sehnsüchtig auf die Pakete.

»Jetzt spielen wir Weihnachtsmann, Brigittchen,« sagte Helene Fröhlich,
und sie begann geschwind die Pakete auszupacken. Wie in einem Märchen
war es, lauter schöne Dinge kamen zum Vorschein, Spielsachen,
Kleidungsstücke, Pfefferkuchen und Weihnachtsstriezel. Auf den Tisch
wurde ein sauberes Tuch gelegt, das Bäumchen darauf gestellt und eins,
zwei, drei war die ganze Stube in ein trauliches Weihnachtszimmer
verwandelt. Doktor Fröhlich zog eine kleine Glocke hervor und klingelte,
und die blasse Frau und fünf Kinder traten in das Zimmer. Eilig
polterten sie herein, aber dann blieben sie alle an der Türe stehen und
sahen auf das schimmernde Bäumchen und all' die schönen Sachen, und ihre
Augen strahlten und glänzten, als seien auch darin Lichter angezündet.

»Nun komm husch fort,« flüsterte Fräulein Helene Brigittchen zu. Sacht
schlichen sich die Geschwister und die Kleine aus dem Zimmer, so
heimlich, daß Mutter und Kinder in ihrer Freude es gar nicht merkten.

Und weiter ging es, in eine Familie wo der Vater krank lag, er war bei
einem Bau verunglückt, auch hier gab es helle Weihnachtsfreude, und der
Jubel drang den freundlichen Gebern noch auf die Treppe nach.

»Nun nach dem Gertrudenspital,« sagte Dorothee, »zu den drei Frauen, die
meine selige gnädige Frau immer beschenkt hat«.

Das Gertrudenspital lag dicht an der Stadtmauer; der Weg dahin führte an
dem runden Wartturm vorbei, hell leuchteten dessen Fenster in die
Dämmerung hinaus. Brigittchen, deren Scheu vor Fräulein Helene schon
ganz verschwunden war, erzählte dieser von Klaus Hippel und Frau
Paulinchen, und sie hätte gern noch mehr erzählt, aber da war man schon
am Gertrudenspital angelangt. Es war jetzt ein Heim für alte Frauen, die
hier in ruhigem Frieden ihren Lebensabend verbrachten. Drei von diesen
Frauen hatte die verstorbene Tante der Geschwister immer mit allerlei
Eßwaren beschenkt, und diese drei Frauen saßen an diesem Weihnachtsabend
recht betrübt beieinander. Zu allen andern kamen Angehörige und brachten
ihnen etwas zur Weihnachtsfreude, zu ihnen würde wohl niemand kommen,
dachten sie, denn ihre alte Beschützerin war tot.

Auf einmal aber trappelte und klingelte es draußen, und herein spazierte
Fräulein Helene, ein brennendes Bäumchen in der Hand, Brigittchen und
Dorothee schleppten Pakete herbei, und flink hellten sich da die alten
Gesichter auf, es gab auch hier echten Weihnachtsjubel.

»Ach, und das feine Bäumchen,« sagte Trine Tillmann, die älteste der
Frauen, »da müssen wir doch nachher gleich die kleine Jantge holen, die
hat doch kein bißchen Weihnachtsfreude«.

»Wer ist denn Jantge?« fragte Fräulein Helene.

Und Trine Tillmann erzählte, Jantge sei eine kleine Waise, von weit her
sei sie gekommen, von der holländischen Grenze, hier im Spital sei ihre
Urgroßmutter untergebracht, niemand weiter hätte die Kleine auf der
ganzen Welt als die alte Frau. Es sei eine besondere Güte von dem Herrn
Bürgermeister, daß er erlaubt hätte, daß Jantge vorläufig hier bleiben
durfte; was später aus dem Kind würde, das wußte noch niemand. Ein
fröhliches Leben hätte die Kleine nun freilich nicht unter all' den
alten Frauen, zumal die Urgroßmutter recht schwach und hinfällig sei.
Aber ein liebes Mädelchen wäre Jantge, allezeit freundlich und gefällig,
ein rechter kleiner Sonnenstrahl.

»Hätte ich das gewußt,« sagte Fräulein Helene betrübt, »wie gern hätte
ich etwas für das Kind mitgebracht«.

»Sie soll von dem Baum nehmen was sie mag, und Pfefferkuchen und Äpfel
soll sie auch von uns haben,« tröstete Trine Tillmann.

»Ja, das soll sie,« sagte die alte Bärbe Bach, »s'ist wirklich ein
liebes Kind«.

Als die Geschwister Fröhlich und Brigittchen nach herzlichem Abschied
von den drei Frauen heimgingen und den langen Flur des alten Gebäudes
durchschritten, sahen sie durch eine offenstehende Tür in ein
schlichtes, sauberes Zimmer hinein. Dort saß eine alte Frau im
Lehnstuhl, und ein kleines, blondes Mädchen brachte ihr sorgsam einen
heißen Trank in einer Tasse.

»Das ist gewiß Jantge,« flüsterte Brigittchen und schaute die Kleine
aufmerksam an, die wohl in ihrem Alter sein mochte; sie hatte auch so
blonde Haare wie sie selbst, die schauten unter einem weißen Mützchen
hervor, und eine große, hellblaue Schürze hatte sie vorgebunden.

»Ja, das wird wohl die kleine Jantge sein; aber nun komm rasch, Kind,
sonst schilt deine Tante, daß wir zu lang geblieben,« sagte Fräulein
Helene Fröhlich. Heiter stapften die Wanderer bald darauf durch den
Schnee wieder heimwärts. Wieder kamen sie am runden Turm vorbei, hinter
dessen Fenster sah man jetzt die Kerzen eines Christbaumes strahlen.

»Nun ist es bald Zeit,« flüsterte Brigittchen, und Freude lag in ihrem
Stimmchen.

»Jetzt hast du Weihnachtsaugen, Kind,« sagte Helene Fröhlich, als sie
der Kleinen unter der Laterne, die gerade vor dem Schönschen Hause
brannte, lebewohl sagte. »Behalte deine Weihnachtsaugen und vergiß
nicht, mich in den Feiertagen zu besuchen!«

Brigittchen hob sich auf den Zehenspitzen empor, legte ihre Ärmchen um
des Fräuleins Hals und sagte ganz leise: »Ich hab' Sie lieb.«

Ein Weilchen hielt Fräulein Helene das Kind zärtlich in ihren Armen,
lieb und warm wie eine Mutter, dann sagte sie heiter: »Nun geh Kleine;
fröhliche Weihnacht, sing auch ein Lied unterm Tannenbaum!«

Dann ging Brigittchen in ihr Vaterhaus, dort saß sie noch eine halbe
Stunde im dunklen Zimmer, bis hell die Glocke erklang und alle
Hausbewohner das Bescherungszimmer betraten. Wie immer ging auch diesmal
die Bescherung schnell vorbei, die Dienstleute nahmen ihre Sachen,
sagten danke und gingen hinaus; »drinnen kann man sich doch nicht recht
freuen,« meinten sie. Der Hausherr verließ schon nach fünf Minuten das
Zimmer, und Fräulein Mathilde rüstete sich zum Fortgehen, sie trug der
Köchin noch auf, bald den Baum auszulöschen und sagte zu Brigittchen:
»Na Kind, nun spiele nur schön mit all deinen hübschen Sachen,
langweilen wirst du dich wohl nicht.«

Da saß nun Brigittchen mutterseelenallein in dem prächtigen Zimmer und
schaute auf den brennenden Baum und all die vielen, vielen Spielsachen.
Es war alles recht schön, aber ihre Weihnachtsaugen hätte Brigittchen
doch beinahe verloren. Zur rechten Zeit aber fiel ihr ein, wie lustig am
Nachmittag das Singen im Nachbarhaus gewesen war, und daß Fräulein
Helene ermahnt hatte, sie sollte auch bei sich ein Weihnachtslied
singen. Sie nahm eine der drei neuen Puppen auf den Arm, holte flugs
Lilli, Milli und Cilli, die anderen Puppenkinder herbei, setzte sich mit
ihnen auf das Sofa und fing an, ein Weihnachtslied zu singen. »Stille
Nacht, heilige Nacht.« Sie sang erst leise und zaghaft, dann mit immer
hellerem Stimmchen, wie ein kleiner Vogel, der sich im Sonnenschein
seines Lebens freut.

Draußen in der Küche wurden die Dienstmädchen plötzlich still. »Unser
Brigittchen singt,« sagten sie. So selten war des Kindes Stimme im Hause
zu hören, daß es ihnen fast wie ein Wunder vorkam, daß die Kleine sang.
Ihnen fiel auch ein, wie einsam doch das Kind sei, niemand von ihnen
hatte sich heute noch recht um die Kleine gekümmert. Sie schlichen sich
an die Türe und lauschten, und wie sie so die alten trauten Lieder
hörten, da wurde es ihnen erst so recht weihnachtlich, feierlich zu
Mute.

Auch Herr Schön hörte den Gesang, auch er dachte dabei daran, wie einsam
eigentlich sein Kind sei, und auch er stand auf und betrat leise das
Bescherungszimmer. Da saß Brigittchen im Kreise ihrer Puppen, wie ein
richtiges kleines Mütterchen, und ihre Augen strahlten wie die Kerzen am
Lichterbaum. Jauchzend hell sang sie:

   »Alle Jahre wieder
   Kommt das Christuskind,
   Auf die Erde nieder,
   Wo wir Menschen sind.«

Auf einmal sah die kleine Sängerin ihren Vater, da unterbrach sie
verlegen ihren Gesang. »Wie schade!« sagten die Mägde an der Türe. Herr
Schön aber ging rasch auf sein kleines Mädchen zu, nahm es auf den Arm
und bat: »Sing noch ein Lied, mein Kind, es gefällt mir so!«

Ei wie gern sang da Brigittchen, sie sang alle Lieder, die sie kannte,
und zuletzt sangen die Mägde mit und der Gesang rauschte durch das Haus,
daß es ein richtiges, frohes Weihnachtshaus wurde.

Noch immer brannten die Lichter am Baum und Herr Schön sagte, sie
sollten auch brennen bleiben, er wollte mit seinem Kind unterm
Weihnachtsbaum zusammen Abendbrot essen.

Das wurde ein fröhliches Mahl, sämtliche Puppen durften dabei sitzen,
große und kleine, alte und neue. Vater und Kind schmausten munter
zusammen und dabei erzählte Brigittchen von den Geschwistern Fröhlich
gegenüber am Kirchplatz, von der Weihnachtswanderung und von Jantge im
Gertrudenspital. Sie erzählte auch, was Fräulein Helene von den
Weihnachtsaugen gesagt hatte. »Hab' ich auch noch welche, Väterchen?«
fragte die Kleine besorgt, denn sie hatte Angst, sie könnte die
Weihnachtsaugen verloren haben, und darüber wäre Fräulein Helene gewiß
traurig gewesen.

»Freilich hast du sie noch,« sagte Herr Schön. Er sah tief in die
strahlenden Veilchenaugen seines Kindes, und er dachte, das fremde
Fräulein müßte doch sehr lieb und gut sein, das seinem Kinde zu diesen
leuchtenden Weihnachtsaugen verholfen hatte.

Und dann saß Brigittchen auf ihres Vaters Knieen, sie schmiegte ihr
Köpfchen an seine Brust und leise vertraute sie ihm einen großen
Herzenswunsch an. Sie wollte einen Teil ihrer neuen Spielsachen der
kleinen Jantge im Gertrudenspital schenken. »Darf ich, Väterchen?« bat
sie.

»Ja, du darfst, mein Kind, und weißt du was, morgen gehen wir
miteinander zu Fröhlichs hinüber und dann bittest du Fräulein Helene,
daß sie mit dir zu Jantge geht!«

Das war ein schöner Feiertagsplan. Brigittchen jubelte laut und dann
schwatzte sie noch ein Weilchen mit ihrem Vater, fragte, welche Puppe
sie nehmen sollte und welches Buch, bis auf einmal der Sandmann kam, und
die strahlenden Weihnachtsaugen sich schlossen. --

Am nächsten Vormittag ging Herr Schön mit Brigittchen wirklich zu den
Geschwistern hinüber, und Vater und Kind wurden mit herzlicher Freude
empfangen. Fräulein Helene war auch gleich bereit, mit Brigittchen am
Nachmittag zu Jantge zu gehen, ja, sie kam auch mit hinüber, sah sich
Brigittchens Bescherung an und half für Jantge aussuchen. Eine Puppe,
ein Buch, ein zierliches Arbeitskörbchen und noch allerlei hübsche
Sachen aus Marzipan und Schokolade.

Gleich nach dem Mittagessen, diesmal noch am lichten Tag, traten
Fräulein Helene und Brigittchen ihre Wanderung an. Der Schnee knirschte
unter ihren Tritten, denn es war bitterkalt geworden, aber den beiden
war es so froh und warm ums Herz, daß sie nicht viel von der Kälte
spürten.

In Trine Tillmanns Stube saßen alle Insassinnen des Gertrudenspitals,
außer Jantges kranker Urgroßmutter, zusammen und aßen Weihnachtsstriezel
und tranken Kaffee dazu, auch Jantge war da, da die Urgroßmutter
schlief. Die Kleine saß am Fenster vor dem Tannenbäumchen, an dem sie
sich gar nicht sattsehen konnte, und sie hatte so strahlende
Weihnachtsaugen, als hätte sie eine glänzende Bescherung bekommen. Als
nun aber Brigittchen ein wenig verlegen und doch herzensfroh ihre
Herrlichkeiten vor dem kleinen Fremdling auspackte, da jubelte Jantge
laut auf.

»Eine Puppe, eine Puppe,« jauchzte sie und preßte das weißgekleidete
Lockenkind zärtlich an ihr kleines Herz.

Brigittchen war auch Kindern gegenüber oft ein bischen scheu, und Jantge
vergaß auch leicht vor Schüchternheit den Mund aufzutun, aber die Puppe
vereinte die beiden rasch, sie fanden sich im fröhlichen Spiel und nach
zehn Minuten waren sie miteinander einig, daß das Puppenkind unbedingt
Helene heißen müßte.

Brigittchen wurde das Scheiden beinahe schwer. »Du mußt mich besuchen,«
bat sie.

Trine Tillmanns versprach dafür zu sorgen, und Fräulein Helene sagte
auch, sie würde Jantge einmal einladen. So trennten sich denn die
Kinder, auf ein fröhliches Wiedersehen hoffend, und für Brigittchen kam
der Heimweg durch die stille Stadt an Fräulein Helenes Hand. Das war
wundervoll, so durch die stillen, weißen Straßen zu gehen, auf denen
heute kaum ein Mensch zu sehen war, und zu lauschen, wie Fräulein Helene
erzählte, von diesem und jenem, von dem Weihnachtsfest im großen London,
von einsamen und glücklichen Kindern, von heiteren Tagen, die kommen
würden, und daß sie beide miteinander gute Freundschaft halten wollten.

Helene Fröhlich hatte so eine liebe, zärtliche Stimme, »die spaziert
durch alle Herztüren hinein,« sagte später einmal Klaus Hippel. Und das
war wahr, Brigittchen spürte es auch. Außer ihrem Vater gab es gar
keinen Menschen auf der Welt, zu dem sie ein so großes Vertrauen hatte
wie zu Fräulein Helene. Diese mußte es wohl gemerkt haben, denn auf
einmal sagte sie liebevoll: »Willst du mich Tante nennen, mein kleines
Mädel?«

Ach, Brigittchen wollte schon, glückselig sah sie zu der neuen Freundin
auf. »Tante Helene, Tante Helene,« zwitscherte sie wie ein Vögelchen,
das sein erstes Liedchen probiert.

Vor der Haustüre gab es noch einen herzlichen Abschied, dann hüpfte
Brigittchen in das Haus hinein, um drinnen ihrem Vater alles, alles zu
erzählen.

Herr Schön sah immer wieder in die strahlenden Weihnachtsaugen seines
Kindes und leise begann sein trauriges Herz froh zu werden. Als
Brigittchen beim Zubettgehen sagte: »Weihnachten ist zu
wunderwunderschön,« da nickte er und sagte: »Es war ein gesegnetes
Fest!«

Im Fröhlichschen Hause aber saßen Bruder und Schwester zusammen unter
dem Weihnachtsbaum, den sie sich wieder angebrannt hatten; sie erzählten
sich von ihrer harten, freudlosen Jugend und von dem Glück der
Gegenwart. Auch sie sagten beide zu einander aus dankbarem Herzen
heraus: »Es war ein gesegnetes Fest!«




                         Ein Fastnachtsspiel.


Die alte Dorothee pflegte von Klaus Hippel zu sagen: »Ein Kindskopf ist
er und bleibt er, so alt wie er ist, und nichts als Flausen hat er im
Sinn«.

Das stimmte und stimmte auch wieder nicht. Klaus Hippel konnte, wenn es
darauf ankam, so ernsthaft und verständig wie ein Bürgermeister sein,
freilich war er auch wieder ein lustiger Geselle, und wenn ihn die
Sorgen nicht allzusehr drückten, dann war er heiter und guter Dinge.

Seine größte Lust war in alten Büchern zu lesen, und Märchen und Sagen
wußte er mehr, als in zwanzig Kinderbüchern stehen. Und wenn Klaus
Hippel erzählte, dann war es immer, als sei er just dabei gewesen, als
sei er mit Held Roland durch das Tal von Ronceval geritten, oder wäre
selbst allen schönen Frauen und Rittern im Zauberwalde irgendwo
begegnet. Besonderen Spaß machte es ihm auch, wenn sich die Leute zu
Scherz und Kurzweil verkleideten; als daher Jörgel eines Tages sagte:
»Vater Klaus, können wir bei dir nicht einmal Fastnacht feiern?« da war
er gleich mit Freuden dazu bereit.

Bald nach Weihnachten hatte Jörgel das gesagt, und von dem Tage an
sprachen die Kinder immer mit heimlicher Lust von dem Fastnachtsspiel
bei Klaus Hippel. Der Pantoffelmacher hatte sich nämlich vorgenommen,
selbst ein wundervolles Ritterstück zu schreiben; darin kamen zwei
Ritter, eine Prinzessin, ihre Hofdamen und ein böser Zauberer vor.
Severin und Wendelin sollten die Ritter spielen, Jörgel den Zauberer,
Brigittchen war die Prinzessin und Anne-Marte und Jantge ihre Hofdamen.
(Jantge war von den fünf Schatzgräbern rasch als Freundin angenommen
worden, und sie durfte natürlich auch beim Fastnachtsspiel nicht
fehlen.) Die Prinzessin brauchte nichts weiter zu tun als immer »Ach und
Weh« zu seufzen, nur am Schluß mußte sie rufen:

   »Teurer Ritter, du hast mich befreit,
   Ich danke dir in aller Ewigkeit!«

Die Hofdamen brauchten nur »Ach und Weh« zu sagen und zuletzt »Hurra« zu
schreien.

Die Ritter hatten es etwas schwerer; erstens mußten sie mit ihren Säbeln
rasseln, zweitens mußten sie den Zauberer furchtbar ausschelten und ihn
zuletzt mit einem wilden Triumphgeschrei in einen Turm sperren. Der Turm
war Mutter Paulinchens Kleiderschrank. Am schwersten hatte es der
Zauberer; der war bei dem Stück die Hauptsache, er mußte sich nämlich in
ein wildes Tier verwandeln, brüllen und plötzlich ein Rotfeuer anzünden.
Klaus Hippels alte Pelzjacke war das Löwenfell, und eine Schachtel
Rotfeuer hatte sich Jörgel sogar von seinem Taschengeld erstanden; damit
nichts passierte, durfte er aber nur ein einziges Hölzchen anzünden.

Wundervoll sollte das Spiel werden; Zuschauer waren die
Pantoffelmachersleute und Schneider Langbein mit seiner Frau. Am letzten
Tag meldeten sich noch die Geschwister Fröhlich an, worüber Frau
Paulinchen in große Aufregung geriet. Sie hatte nur drei Stühle, und
einer davon wurde noch als Thronsessel für die Prinzessin gebraucht.

»Es wird schon gehen,« sagte der Pantoffelmacher, »nur den Mut nicht
verlieren«.

»Es ist doch eine große Ehre, daß so vornehme Leute zu uns kommen, mit
was soll ich sie denn bewirten?« klagte die Pantoffelmacherin.

Ja, du meine Güte, da war guter Rat teuer.

Ihr Mann sah etwas verlegen drein; Punsch und Pfannkuchen muß es zu
Fastnacht geben, aber woher sollten sie beides nehmen?

Pantoffelmachers waren arme Leute und just diesen Winter ging es
besonders knapp bei ihnen zu, was sie erübrigen konnten, das gaben sie
dem Schwiegersohn, damit der bald seine Schuld abtragen konnte. Und
Fremde kamen auch nicht, das Museum anzusehen; das Trinkgeld gehörte
nämlich den Turmbewohnern, dafür mußten sie aber auch oben immer alles
in Stand halten.

»Hm, ja, hm,« brummte der alte Klaus nachdenklich. Dann nach einem
Weilchen schrie er, einen roten Samtpantoffel in der Luft schwenkend,
»wegen Punsch und Pfannkuchen kommen die Leute nicht zu uns, sondern
wegen meines Stückes, das hat der Doktor selbst gesagt, nämlich weil er
auch ein Dichter ist. Und wenn Nachbar Langbein denkt, er kriegt Punsch
und Pfannkuchen, na, dann bekommt er halt die Nase auf die Tischecke,
wie meine selige Mutter zu sagen pflegte, wenn wir was haben wollten und
es nicht bekamen.«

»Punsch und Pfannkuchen wären aber doch fein, ich wollte ich hätte
beides,« sagte Frau Pauline seufzend.

Es war im alten Wächterturm an diesem Morgen just wie in einem Märchen,
wo sich einer nur etwas zu wünschen braucht und gleich geht es in
Erfüllung. Kaum hatte Frau Paulinchen ihren Wunsch ausgesprochen, so
erschien auch schon die Fee, diesmal freilich war es die alte Dorothee.
Die brachte eine große Schüssel Pfannkuchen, »selbstgebackene« sagte
sie, dazu eine Flasche Punsch und schöne Grüße von Fräulein Helene.

»Na,« rief Klaus Hippel vergnügt, »wenn das heute so mit dem Wünschen
geht, dann wünsche ich mir auch geschwind irgend etwas ganz Besonderes,
etwas so -- --«

Klatsch fuhr er da mit seinem roten Pantoffel, an dem er gerade nähte,
durch die Fensterscheibe und knax war ein großes Loch darin und der
Pantoffel lag draußen auf der Stadtmauer.

Etwas verblüfft schaute der Meister sich um, Dorothee lachte ein bißchen
ärgerlich. »Das kommt davon, Gevatter, wenn man so wild herumfuchtelt;
ist das eine Art, so mit den Armen rechts und links auszuschlagen,
beinahe hätte ich noch eine Kopfnuß dabei gekriegt. Nee, wie kann man
nur so alt sein und noch so hitzig! Nun sorgt nur dafür, daß bis zum
Nachmittag das Loch im Fenster wieder heil ist, so was kann mein
Fräulein nicht vertragen; Löcher in den Fenstern sind wir nicht
gewöhnt.«

Damit ging Dorothee hinaus, langsam und gewichtig, so zart wie eine Fee
pflegte die gute Alte nicht zu gehen.

Meister Hippel aber beschaute ein bißchen kleinlaut den Schaden, dann
ging er zum Glaser und versprach diesem, ihm das nächste Mal seine
Pantoffel umsonst zu flicken, wenn er ihm sein Fenster auch umsonst
flicken wollte. Das tat der Glaser auch, und als die Gäste am Nachmittag
kamen, sah man nichts mehr von dem Loch im Fenster.

Zuerst kamen die Kinder, gleich alle sechs zusammen. Sie kamen, wie
Kinder eben meist kommen, mit viel Lachen und Schwatzen, mit viel
fröhlicher Lust.

Brigittchen hatte einen weißen Schleier und eine Goldpapierkrone
mitgebracht, das war ihr Prinzessinnengewand. Erst hatte Tante Mathilde
den Besuch gar nicht erlauben wollen, und da Brigittchen nicht, wie
viele andere Kinder, mit Bitten und Schmollen eine Erlaubnis erzwingen
konnte, wäre beinahe nichts daraus geworden. Glücklicherweise aber war
Fräulein Helene gekommen und Brigittchen zu Liebe hatte diese gesagt,
sie würde dann auch zu der Fastnachtsfeier gehen. Fräulein Helene hatte
dann auch zwei buntseidene Tücher für die Hofdamen geliehen, und weil
Fräulein Helene ging, erlaubte auch Frau Doktor Fabian die
Fastnachtsfeier.

Jörgel hatte sich eine alte Maske mitgebracht, die er als Zauberer
tragen wollte. Klaus Hippel hatte für die Ritter Severin und Wendelin
aus dem Museum zwei Helme und Schwerter geholt. Der gute Alte dachte
sich nichts dabei, und die Kinder auch nicht und doch wäre beinahe eine
schlimme Geschichte daraus geworden.

Vorläufig waren alle ungemein lustig, selbst das sonst so stille
Brigittchen kam gar nicht aus dem Kichern heraus. Und als noch alle von
dem Pfannkuchen- und Punschwunder des Morgens erfuhren, da wurde die
kleine Turmstube beinahe zu eng für all den fröhlichen Lärm.

Meister Hippels Fensterplatz in der tiefen Nische der dicken Mauer, das
war das Schloß, in dem die Prinzessin mit ihren Dienerinnen gefangen
saß, und vor dem Schloß sollte sich der Kampf mit dem Zauberer
abspielen. Die Zuschauer kamen zur rechten Zeit. Die Spieler steckten
derweil hinter einem großen Brett, das Frau Paulinchen an die Kommode
angestellt hatte, nur die Prinzessin saß mit ihren Hofdamen im Erker,
und als Schneider Langbein mit seiner Frau als erste Zuschauer kamen, da
ging das Seufzen und Stöhnen der Gefangenen los, es war zum
Steinerweichen. Anne-Marte mußte sich zwar immer wieder umdrehen, sie
konnte und konnte das Kichern nicht unterdrücken.

Für die Gäste waren die zwei Stühle an der Türe aufgestellt worden, dem
Fenster gerade gegenüber, und die Geschwister Fröhlich kamen auch sehr
pünktlich, gleich nach dem Schneidermeister und seiner Frau.

Doktor Fröhlich sah die Helme der Ritter Severin und Wendelin über dem
Brett hervorragen. »Die sind aus dem Museum,« dachte er, »ei, ei,
Meister Klaus, sollte das erlaubt sein!« Er wollte aber das Vergnügen
nicht gleich durch einen Tadel stören, darum sagte er nichts.

Brigittchen vergaß ganz ihre Prinzessinnenrolle, und ihre Tante Helene
bekam Grüße, Kopfnicken, ja sogar ein Kußhändchen sandte die gefangene
Prinzessin aus ihrem Schloß heraus ins Weite.

»Los!« rief da der Pantoffelmacher mit solcher Donnerstimme, daß die
Hofdame Jantge das Schlüsselbund, das Mutter Paulinchen ihr zur
Vervollständigung ihres Kostüms gegeben hatte, mit einem lauten Krach
auf den Boden warf. Darüber kam Anne-Marte ins Kichern und nur
Brigittchen konnte nach Vorschrift: »Ach und Weh« klagen. Sie tat es
auch so jämmerlich, als hätte sie mindestens seit drei Tagen
Zahnschmerzen.

Hinter dem Brett, vielmehr aus dem Zauberwald hervor, stürzten jetzt die
Ritter Severin und Wendelin. Severin kam das Schwert zwischen die Beine
und seinem Bruder rutschte der Helm so jäh über die Nase, daß Meister
Hippel zuspringen mußte, um den armen Ritter aus seiner unangenehmen
Lage zu befreien.

Inzwischen hatten sich die gefangenen Jungfräulein so in das Klagen
gefunden, daß sie immer lauter und jämmerlicher schrieen, und niemand
verstand über dem Geschrei den Zauberer Jörgel, der nun auch aus dem
Zauberwald angerannt kam und rief:

   »Ha, ich seh zwei Ritter gehn,
   Die sollen gleich verzaubert stehn!«

»Halt' doch den Mund und schrei nicht so!« flüsterte der grimme Zauberer
gleich darauf seiner Schwester Anne-Marte zu.

»Kikikiki,« pruschte diese los.

Ritter Wendelin deklamierte mit schellender Stimme:

   »Den Mann da will ich fragen,
   Er soll mir gleich mal sagen,
   Wer -- --«

Klapp, rutschte ihm der Helm wieder über die Nase, er vergaß seine Rolle
und schrie jämmerlich »Au, au!«

»Setz' das Ding ab,« flüsterte Meister Hippel so laut, daß man es
beinahe auf der Stadtmauer hören konnte.

Das war aber nicht so einfach; da langte Jantge aus dem Schloß heraus
und befreite den armen Ritter aus seiner unangenehmen Lage.

   »Ich will dir sagen wie ich heiß',
   Ich bin der Zauberer Allesweiß«

brüllte Jörgel, da rief unversehens seine Schwester: »Deine Maske hat ja
ein Loch!«

»Aber Anne-Marte, sei doch still,« tuschelte Brigittchen ängstlich, und
Jantge stöhnte laut: »Ach, ach, ach!«

   »Ei, dann sag' mir, wo ich finde,
   Die Königstochter Hildelinde?«

sagte Severin laut und rasselte mit seinem Schwert, wie Doktor Fabians
Hofhund Sultan mit seiner Kette.

»Es klingelt; ein weißer Spatz fliegt in den Turm,« rief da plötzlich
Mutter Paulinchen, und vergaß im Augenblick das ganze Spiel.

»Unsinn,« brummte der Meister, der nicht gern gestört sein wollte. »Es
wird eins von den Kindern sein, das findet schon die Treppe herauf. Sei
nur still und störe nicht!«

   »Willst sie wohl gar befrei'n?
   Guter Ritter, das laß sein!«

schrie der Zauberer Jörgel mit so hohnvoller, grimmiger Schadenfreude,
daß Meister Hippel später sagte, es wäre ihm durch und durch gegangen.

Die Ritter Wendelin und Severin aber kamen um ihre kühne, von
Säbelrasseln begleitete Antwort, denn an der Türe draußen polterte und
klopfte es.

Mutter Paulinchen schrie vor Schreck auf, sie riß in ihrer Aufregung
ihren Nähkorb herunter, der neben ihr auf einem Tischchen gestanden
hatte.

Schneidermeister Langbein aber öffnete die Türe, und nun sahen die
Anwesenden zwei fremde Herren und eine Dame draußen stehen, die erstaunt
das Stübchen und seine Insassen musterten. »Sind wir hier recht, wir
möchten das Museum sehen?« fragte der ältere der beiden Herren.

»Ja, jawohl,« rief Meister Hippel, »Paulinchen hol' den Schlüssel!«

Aber der Schlüssel war nicht so geschwind gefunden, Frau Paulinchen
suchte, die Schneidermeisterin suchte, die Kinder begannen zu suchen, wo
war er nur?

Inzwischen war Doktor Fröhlich auf die Fremden zugegangen und erklärte
ihnen, was für eine Feier hier stattfinde.

Die Fremden lachten, die Dame sagte etwas spöttisch: »Können wir nicht
zuhören?« »Ei gewiß,« sagte Meister Hippel, der dies für eitel
Freundlichkeit hielt, »Paulinchen, wo ist nur der Schlüssel?«

Ja, wo war er denn nur? Alles suchte, alles kramte, bis plötzlich
Meister Langbein sagte: »Haben Sie ihn vielleicht in der Tasche, Frau
Nachbarin?«

Richtig, da war er! Ganz gemütlich steckte er drin.

»Jörgel hat ihn reingezaubert,« flüsterte Wendelin Anne-Marte zu.

Die Fremden kletterten die Treppen hinauf und oben zeigte ihnen Mutter
Paulinchen die Schätze; Severin und Wendelin waren hinterher getrappt,
sie stellten Helme und Schwerter fein säuberlich an ihren Platz.

»Hier geht es aber gemütlich zu, die richtige Kleinstadt,« flüsterte die
Dame lachend einem ihrer Begleiter zu.

»Siehst du,« sagte der verdrossen, »ich sagte es doch gleich, es lohnt
sich nicht, hier erst auszusteigen, was hat man denn in so einem Nest?«

»Ist der Kram alles, was in dem Museum ist?« fragte der andere Herr.

»Ja,« murmelte Mutter Paulinchen verlegen, sie merkte wohl, wie klein
und lächerlich die Fremden alles fanden, und so wies sie nicht, wie sie
es sonst tat, auf die reizvolle Aussicht hin, die man vom Turm aus
hatte. Und doch war die Landschaft, die draußen von silbergrauem Dunst
matt verschleiert lag, unendlich lieblich.

»Nebenbei benutzen Sie wohl die Sachen zu Ihren Fastnachtsspielen?«
fragte der jüngere der Herren spöttisch.

Frau Paulinchen schwieg, aber das Herz tat ihr weh, daß die Fremden das
Museum, das ihr Stolz war, so geringschätzig behandelten. Und es gab
doch mancherlei zu sehen, was der Mühe lohnte, das wußte sie.

Es hatte mancher Besucher schon anerkannt. »Man findet selten so ein
schönes Stückchen Vergangenheit so wohl erhalten,« hatte einmal ein sehr
berühmter Gelehrter gesagt. Der junge Herr schrieb dabei immerzu in sein
Notizbuch, er sah sich aber garnicht um, nur auf die alten,
schöngeschnitzten Möbel warf er einen flüchtigen Blick. »Ganz passabel,«
murmelte er.

Als die Pantoffelmacherin von der ruhmreichen Vergangenheit der Stadt
erzählen wollte, unterbrach sie der ältere Herr: »Lassen Sie nur, gute
Frau, wer weiß, ob das geschichtlich verbürgte Tatsachen sind, solche
kleinen Nester, wie Ihre Stadt, brüsten sich gern mit ihrer
Vergangenheit. Ich denke,« wandte er sich an seine Begleiter, »wir gehen
jetzt, wir haben genug von Neustadt's Reizen gesehen!«

Damit gingen die drei. Das Trinkgeld war so reichlich wie selten, und
doch hatte Frau Paulinchen wenig Freude dran. Manche bescheidene Gabe
hatte ihr mehr Freude gemacht, wenn nämlich der Geber in hellem
Entzücken die Rundsicht vom Turme genossen hatte.

Die Fremden gingen, und die Frau kehrte in ihre Stube zu dem
unterbrochenen Spiel zurück. Dort hatten die Kinder einstimmig erklärt,
vor den Fremden wollten sie nicht spielen, und zur Abwehr waren sie alle
miteinander in den Zauberwald zwischen Brett und Kommode gekrochen; daß
es darin etwas eng zuging, erhöhte nur das Vergnügen.

Die Geschwister Fröhlich hatten wohl den Spott der Fremden gemerkt,
Fräulein Helene dachte mit nachsichtigem Lächeln an den erstaunten
Blick der Dame, die fand es sicher komisch, daß sie hier im
Pantoffelmacherstübchen saß und dem Spiel der Kinder lauschte. »Wie
kleinstädtisch ist diese Fastnachtsfeier,« hatte die Fremde geflüstert.

»Sie weiß eben nicht, wie traut und heimlich es in einer kleinen Stadt
sein kann,« dachte Helene Fröhlich, und sie sah sich selbst wieder so
einsam und verlassen in dem riesengroßen London sitzen.
Mutterseelenallein war sie gewesen, und niemand hatte sich um sie
gekümmert.

»Warum bist du so traurig, Tante Helene?« fragte auf einmal ein liebes
Stimmchen. Prinzessin Brigittchen war aus dem Zauberwalde
hervorgekrochen, weil sie gesehen hatte, wie sinnend und betrübt ihre
Tante auf einmal dreinsah.

»Ich bin nicht traurig, mein Herzel,« sagte Fräulein Helene, und ihre
Stimme klang auf einmal wieder froh und hell. Sie nahm ihre kleine
Freundin auf den Schoß, und Brigittchen schmiegte sich ganz fest an sie
an und sagte wieder wie so oft: »Ich hab' dich lieb!«

Just in diesem Augenblick trat Frau Paulinchen in das Zimmer, und ihr
Mann rief ganz enttäuscht: »Wo sind denn die fremden Herrschaften
geblieben?«

Seine Frau erzählte von dem Besuch, aber sie mußte zweimal erzählen, ehe
es der gute Klaus Hippel begriff, daß es den Fremden ganz und garnicht
oben im Turm gefallen hatte. »Nicht gefallen bei uns!« rief er einmal
über das andere erstaunt, »ja, wie ist denn so was möglich! Ich bin zwar
noch nie aus Neustadt herausgekommen, aber so was Schönes wie unseren
Turm, die Aussicht und das Museum, habe ich in meinem Leben noch nicht
gesehen, wirklich und ganz gewiß nicht, na, so was aber auch!«

Ein Weilchen verging mit Hin- und Herreden, ehe das Spiel fortgesetzt
werden konnte. Frau Paulinchen wollte die Schwerter und Helme wieder von
oben herunterholen, aber Doktor Fröhlich meinte, es ginge auch so, einer
der Ritter könnte seinen Spazierstock, der andere die Ofengabel nehmen.
Und es ging wirklich so, das Spiel wurde in aller Fröhlichkeit
fortgesetzt, die gefangene Prinzessin und ihre Hofdamen ächzten und
stöhnten zum Erbarmen, die Ritter brüllten machtvoll, der Zauberer
zauberte gar erstaunlich, aber zuletzt half ihm alle Zauberei nichts, er
wurde eingesperrt, die Prinzessin befreit und von Ritter Wendelin als
Braut heimgeführt. --

Es war wirklich ein wunderschönes Stück gewesen, Mutter Paulinchen und
die Schneidermeisterin weinten vor Rührung, und der Pantoffelmacher war
so aufgeregt, daß er zuletzt alle Verse mitsagte. Kurz, es war
wunderschön, Klaus Hippel sagte es immerzu, und der mußte es doch
wissen, er hatte ja das Stück gedichtet.

Daß es nachher Pfannkuchen gab und für die Erwachsenen Punsch, trug
nicht wenig zur Lust bei. Und Fräulein Helene zeigte dabei, daß sie auch
etwas von Zauberei verstand, sie gab nämlich jedem Kind einen besonders
großen Pfannkuchen, recht dick mit Zucker bestreut und sagte: »Eßt mal
die, sie sind besonders gut, brecht sie aber auseinander.«

Mit dem Auseinanderbrechen ging es aber nicht so recht, bis schließlich
alle Kinder wie aus einem Munde riefen: »Die sind ja gar nicht echt.« Es
fanden sich allerlei hübsche Mützen aus Seidenpapier in den angeblichen
Pfannkuchen, mit denen sich die Kinder geschwind schmückten.

Die Fröhlichkeit im Turmstübchen wurde immer größer und es gab betrübte
Gesichter bei Wirtin und Gästen, als Fräulein Helene zum Aufbruch
mahnte. Aber trotzdem wurde auch der Heimweg recht fastnachtslustig.
Niemand hatte etwas dagegen, daß die Kinder in den stillen Straßen,
durch die ihr Weg sie führte, fröhliche Lieder sangen. Höchstens daß mal
jemand, der ihnen begegnete, sich umdrehte und sagte: »Ei, seid ihr aber
lustig!«

»Und morgen ist Aschermittwoch,« sagte Wendelin, als man auf dem
Kirchplatz angelangt war, »ich hab' schon eine feine Rute, da will ich
ordentlich kehren.«

»Mich bekommst du nicht,« neckte Anne-Marte kichernd.

»Mich auch nicht!« rief Brigittchen.

»Na, wartet nur, ich kehre euch allen den Staub ab,« rief Wendelin
protzig, »dann müßt ihr mir was schenken!«

»Ich auch, ich auch!« riefen Jörgel und Severin, »nehmt euch nur in
acht, Mädels!«

Nach dieser Mahnung nahmen alle fröhlich Abschied von einander. Nur
Brigittchen brauchte sich noch nicht von Fräulein Helene zu trennen, die
Geschwister Fröhlich waren von Herrn Schön und Fräulein Mathilde zum
Abend eingeladen worden, und der Kleinen erschien dies beinahe als der
schönste Teil des Tages. Ihre neue Tante brachte sie zu Bett und es gab
zum Schluß noch ein heiteres Einschlafemärlein, bei dessen Worten
Brigittchen sacht in das Traumland hinüber schlummerte. --

Der Aschermittwoch brach an. Die Wolken schienen es für ihre Pflicht
anzusehen, den Sonnenglanz zu dämpfen. Grau und glanzlos war der Himmel,
ein feiner, grauer Dunst hüllte die Stadt ein und die Leute sagten, es
sei richtiges Aschermittwochwetter, die Asche hinge förmlich in der
Luft.

Severin und Wendelin kümmerten sich wenig um das trübe Wetter; als sie
nach dem ersten Frühstück mit Jörgel vereint zur Schule trabten, da
waren alle drei eitel Lust und Fröhlichkeit, man sah es ihnen schon an
den Nasenspitzen an, daß sie etwas Lustiges ausheckten. So lustig
erschien es ihnen, daß Severin noch in der Klasse mit Lachen daran
denken mußte, wofür er freilich von dem Geschichtslehrer Doktor Kittel
einen regelrechten Rüffel bekam.

Kaum war die Schule aus, da rasten die drei wie besessen heim, um ja
nicht die Mädels zu verpassen, die immer etliche Minuten später kamen.

Wendelin und Severin guckten daheim rasch in die Ecke hinter der
Haustüre und riefen enttäuscht: »Ja, wo sind sie denn?« Es waren nicht
etwa die Mädels, die sie suchten, sondern Tannenreiser, die ihnen
gestern die Butterfrau als Aschermittwochsruten mitgebracht hatte.
Überall sahen die Buben hin, nirgends waren die Ruten zu entdecken, bis
sie diese schließlich doch in dem Vorraum der Backstube in einem Winkel
fanden. Es war aber auch die allerhöchste Zeit, die Marienstraße entlang
schwatzte und kicherte das schon, die Mädels kamen aus der Schule.

Der alte Steuerrat Müller, der in der Marienstraße wohnte und stets um
diese Zeit am Fenster seine Zigarre rauchte, sagte dann immer halb
ärgerlich, halb lachend zu seiner Frau: »Höre nur, die Gänslein sind auf
dem Heimmarsch!«

Anne-Marte und Brigittchen gingen, wie sich das für Herzensfreundinnen
schickt, Arm in Arm, mit ihnen ging ihre Klassengenossin Christine
Hardenberg. Anne-Marte erzählte gerade etwas furchtbar Lustiges, denn
Anne-Marte erlebte immer lustige Sachen, über die sie sich selbst halb
tot lachen wollte. Die Geschichte fesselte die drei Mädels so, daß weder
Brigittchen noch Anne-Marte an die Drohung ihrer Kameraden dachten, als
sie in aller Vergnüglichkeit an dem Bäckerhause vorbei gingen.

Da auf einmal, mit dem wilden Geschrei: »Aschermittwoch,
Aschermittwoch!« stürzten Severin, Wendelin und Jörgel hervor und
kehrten die Mädels von oben bis unten ab.

Die quiekten, lachten und schrieen, drehten sich wie Kreisel, wehrten
sich, andere kamen hinzu, es war ein Tumult und Lärm und das Jauchzen
tönte die Marienstraße hinauf und hinab. Plötzlich riefen zwei, drei
Stimmchen: »Aber, wie seht ihr denn aus?«

Anne-Marte und Brigittchen trugen weiße Jacken und weiße Mützen, und
diese hatten unversehens lauter schwarze Streifen bekommen, aber Jörgel,
Wendelin und Severin kehrten immer eifriger, mit immer erneuter Lust und
sie kümmerten sich gar nicht um die Rufe: »Hört auf, hört auf!«

Und wer von ihnen gekehrt wurde, bekam schwarze Streifen, aber das sahen
sie gar nicht, erst als ein Mädel anfing zu heulen, ließen die Buben
nach, und Anne-Marte rief scheltend: »Pfui, wie abscheulich seid ihr,
wie könnt ihr uns so schwarz machen!«

Da sahen nun erst die drei Missetäter betroffen, was sie angerichtet
hatten, unter der Mädchenschar aber erhob sich so ein gewaltiges Jammern
und Klagen, daß die Vorübergehenden stehen blieben und auch Frau
Bäckermeister Gutgesell aus dem Laden heraustrat, um zu sehen, was
geschehen sei. Sie sah ihre beiden Buben wie ein paar begossene Pudel
stehen, vergeblich versuchten die Missetäter nämlich auszureißen, die
entrüsteten Mädchen hatten sie umringt und über alles Schreien und
Klagen hinweg tönte Anne-Martes Stimme, die dem Bruder und den Freunden
eine Strafrede hielt.

»Ich gehe nie wieder mit euch, nie wieder, nie wieder, nein, ich bin
euch bitterböse!« rief die Kleine immer wieder.

Frau Gutgesell brach sich Bahn durch die aufgeregte Schar und wutsch!
ergriff sie Wendelin und Severin, hielt sie fest und fragte streng: »Was
habt ihr getan?«

Ein Durcheinander von anklagenden Stimmen erhob sich, die Buben aber
schrieen immer wieder: »Wir können nichts dafür!«

»Zeigt mal eure Ruten her,« gebot die Mutter, und niedergeschlagen gaben
alle drei ihre Tannenzweige hin. »Aber Bengels, die sind ja ganz schwarz
voll Ruß, ei, ihr unnützes Gesindel, na wartet, das soll euch schlecht
bekommen!« rief Frau Gutgesell ärgerlich. »Wir können nichts dafür,«
jammerten die Buben.

»Sie haben es vielleicht nicht gewußt,« sagte auf einmal ein liebes
Stimmchen in allen Tumult hinein. Brigittchen tat es leid, trotzdem ihr
weißes Jäckchen lauter schwarze Streifen hatte, daß die Freunde gar so
arge Missetäter sein sollten.

Die Gemüsefrau Lehmann, die neben der Bäckerei wohnte und die um des
Lärmes willen, den die Bäckerbuben manchmal vollführten, einen rechten
Groll auf diese hatte, rief: »Ih, die wär'n es schon gewußt haben, das
sind 'n paar Schlimme!«

»Sie sind gar nicht schlimm,« verteidigte Brigittchen mutig die Freunde,
»und sie haben's sicher nicht gewußt, daß die Ruten schwarz waren!«

»Nein, nein,« jammerten die Buben, die von ihrer Mutter kräftig mit fort
gezogen wurden. »Das werden wir mal drin untersuchen,« sagte die
grollend. Sie ärgerte sich sehr, daß die Unart ihrer Buben einen
regelrechten Straßenauflauf verursacht hatte. Denn aus allen Häusern
guckten die Menschen, sie standen auf der Straße und redeten, und wenn
die drei Missetäter die Prügel wirklich gekriegt hätten, die ihnen von
den Leuten zugedacht wurden, dann wäre es ihnen wohl schlimm ergangen.

»Nun, was ist denn hier für ein Geschrei und Gelärm, 's ist doch nicht
mehr Fastnacht?« fragte recht gemütlich in das Tosen hinein Heine, der
in der offenen Ladentüre stand.

»Wir haben die Ruten ganz gewiß nicht schwarz gemacht,« klagten Wendelin
und Severin wieder.

Jörgel schwieg trotzig, er fühlte sich ganz unschuldig! Er war aber ein
zu guter Freund und zu stolz, um alle Schuld auf die beiden anderen zu
schieben. Ja, und ob die nicht doch ein bißchen die Ruten geschwärzt
hatten, wie konnte er dies wissen!

»Da seh'n Sie mal, Herr Geselle,« rief die Grünwarenfrau Lehmann jetzt
giftig, »wie arg die Jungens sind, haben alle Mädels mit rußigen Ruten
abgekehrt, da das Brigittchen Schön ist ganz schwarz geworden!« Heine
machte ein halb verdutztes, halb verlegenes Gesicht, ihm ging nämlich,
wie man sagt, ein Seifensieder auf.

Er hatte in der Nacht mit Tannenreisern, die er im Hausflur
gefunden hatte, fix mal ein Zugloch von Ruß gesäubert und die
Aschermittwochsruten so recht eingeschwärzt. Er fragte, woher die Zweige
stammten und die Geschichte klärte sich bald auf, die Buben waren
wirklich unschuldig. Trotzdem Frau Lehmann wohl zehnmal rief: »Ich
glaub's nicht, die sind unnütz!«

Hei, wie reckten sich die drei im Gefühl ihrer Unschuld, ordentlich
stolz sahen sie aus, die Mädels standen ganz betreten da, sie wußten
nicht, ob sie lachen oder weinen, böse oder gut sein sollten.

»Der Ruß geht ab,« tröstete Heine, »wenn ihr im Backofen gesessen
hättet, dann möchtet ihr erst schwarz sein, potz Wetter, ja!«

»Machen Sie keine dummen Witze, Heine,« sagte die Meisterin ärgerlich,
»für die Mädels ist die Sache schlimm und meine Buben sollen mit zu den
Eltern gehen, wo es nötig ist, und die Geschichte erzählen, damit die
Mädels keine Schelte bekommen. Denn dumm war es doch von den Buben, sie
brauchten auch nicht so wild darauf loszukehren!«

Diese Worte dämpften den Stolz der Buben ein wenig, und ordentlich
gekränkt waren sie erst, als alle Mädels erklärten, sie brauchten keine
Begleiter, sie würden daheim schon die Geschichte erzählen. Und heidi!
liefen alle davon, die gekehrten und die nicht gekehrten.

Am Nachmittag aber war schon alles wieder vergessen, es war eben ein
kleiner Aschermittwochsärger gewesen, weiter nichts, und keine
Freundschaft ging darum auseinander.

Für den armen Klaus Hippel aber kam ein rechter Aschermittwochsärger
noch nachgehinkt und für manchen anderen Neustädter auch.

Vierzehn Tage nach der Fastnachtsfeier saß der Herr Bürgermeister eines
Morgens in seinem Arbeitszimmer und las Zeitungen. Auf einmal schlug er
wütend mit der Faust auf den Tisch, na, das ging ihm doch über den Spaß.
In einer Zeitung, die in einer großen Stadt erschien, las er nämlich
eine Beschreibung von Neustadt, man hatte sie ihm zugeschickt und sie
noch mit einem dicken, roten Strich angezeigt.

Wenn einer nun seine Heimat liebt und weiß, wie schön und traut sie ist,
und dann kommt jemand und schildert diese Heimat als häßlich und eng und
hat nichts für sie als Hohn und Spott, da soll man sich nicht ärgern.
Dem Herrn Bürgermeister ging es so, er liebte Neustadt wie keinen Fleck
auf der weiten Erde; er wußte wohl, daß manches darin fehlte, was große
Städte besitzen, aber lieblich und behaglich war das Städtchen doch. Nun
stand da in der Zeitung, Neustadt sei das langweiligste, unschönste,
schmutzigste Nest der Welt. Da sollte man sich nicht ärgern!

Und wie dem Herrn Bürgermeister, so ging es den Stadträten, den Bürgern,
alle, alle ärgerten sie sich über den boshaften Schreiber.

Am meisten taten dies Klaus Hippel und Frau Paulinchen, denn am
allerschlechtesten war das Museum weggekommen, von dem Fastnachtsspiel
und von den geborgten Ritterhelmen stand auch etwas in dem Artikel.

Es war wirklich ein Glück, daß Doktor Fröhlich die Geschichte schon
vorher dem Bürgermeister erzählt hatte, sonst wäre es dem armen
Pantoffelmacher vielleicht schlimm ergangen. Eine Strafrede bekam er
ohnehin, die war gesalzen, und noch nach Wochen seufzte er tief, wenn er
daran dachte. Sein einziger Trost war nur, daß Doktor Fröhlich
versprach, er wollte auch etwas über Neustadt schreiben, er wollte
erzählen, was für ein liebliches, anmutiges Fleckchen es sei und daß
neben der Marienkirche und dem Schloß der alte Turm das allerschönste im
Städtchen sei. --

»Das hat der junge Herr vom Fastnachtstag geschrieben,« sagte Frau
Paulinchen, »nein, so etwas, nicht einmal richtig umgesehen hatte er
sich!«

»Ein abscheulicher Windbeutel ist's«, schrie der Meister, und seit der
Zeit sagte er immer, wenn ein Fremder sich dem Turm nahte: »Paulinchen,
paß auf, ein Windbeutel kommt. Wirf ihn hinaus, wenn er etwas
aufschreiben will!«

Bis eines Tages ein Maler kam, der voll Entzücken den Turm von unten und
oben, von vorn und hinten, mit Pantoffeln und ohne Pantoffeln, von innen
und außen, am Morgen, am Mittag und im Abenddämmern malte, da söhnte
sich Meister Hippel wieder mit den Fremden aus. Er wurde wieder lustig
wie zuvor, pfiff und sang im Turmerker, nähte Pantoffeln, erzählte
Geschichten und rief, wenn ein Fremder kam:

»Aufgepaßt, ein weißer Spatz fliegt in den Turm!«




                    Durch der Schneekönigin Reich.
                          Ein Wintermärchen.


Die Kinder sprachen schon vom Frühling wie von etwas, das ganz, ganz
nahe war.

Doch der Winter war anderer Meinung, er fand, es sei noch nicht Zeit für
den Frühling zu kommen. Schwipp, schwapp war er eines Tages wieder da,
mit Schneegestöber, Nordwind und Kälte. Im Nu war das Land wieder weiß
und still und die Schneeglöckchen, die schon die allergrößte Lust
gezeigt hatten, sich in der Welt umzusehen, krochen flugs in ihr braunes
Erdbettlein zurück, unten erzählten sie den andern Blumen und Gräsern:
»Brrr, oben ist es schrecklich, wir begreifen gar nicht, wie es nur die
Menschen aushalten können!«

Na, so schlimm war es nun doch nicht, die Kälte reichte nicht einmal
recht zum Naseerfrieren. Aber schelten taten die Menschen doch, sie
hatten sich schon zu sehr auf den Frühling gefreut.

Auch in Neustadt gab es wieder Schneegestöber, und die fünf Schatzgräber
und Jantge, die schon davon gesprochen hatten, daß sie die Kreisel
drehen wollten und an der Stadtmauer Veilchen suchen, standen eines
Tages recht mißmutig vor dem Schön'schen Hause und schalten auf den
Winter. Ein bißchen undankbar war das ja nun, denn als der Winter
einzog, hatten sie ihn beinahe nicht erwarten können und den ersten
Schnee hatten sie mit Jubel begrüßt.

Es war Sonnabend Nachmittag, und die sechs Kameraden hätten gern irgend
etwas Lustiges unternommen. Aber Brigittchen durfte nicht Schlitten
fahren, weil der Wind so sehr wehte, zu Klaus Hippel konnten die Kinder
auch nicht gehen, denn der war an diesem Tage über Land gefahren.

»Wir wollen zu Fräulein Helene und zum Herrn Doktor gehen,« schlug
Wendelin vor.

»Uneingeladen?« fragte Anne-Marte ein wenig zaghaft, »geht das denn?
Mutter hat gesagt, wir dürften nicht uneingeladen überall hingehen, es
schickt sich nicht!«

»Brigittchen geht erst und fragt, ob uns Fräulein Helene nicht einladen
will,« sagte Jörgel.

Brigittchen war damit einverstanden; zu Fräulein Helene gehen, war für
sie etwas Wundervolles. Sie lief auch flugs über den Kirchplatz und
kehrte schon nach wenigen Minuten mit dem Freudenrufe zurück: »Wir sind
eingeladen!« Geschwind liefen die Doktorskinder und die Bäckerbuben zu
ihren Müttern und verkündeten diesen die Neuigkeit: »Wir sind zu
Fröhlichs eingeladen, dürfen wir gehen?«

Frau Bäckermeister Gutgesell sagte ja, ohne alle Fragen, die Doktorin
aber wollte wissen, wie es mit der Einladung gekommen sei. Treuherzig
erzählte es Jörgel und die Mutter lachte: »Na,« meinte sie, »das ist
freilich eine einfache Art, zu einer Einladung zu kommen, doch geht
schon, Fräulein Helene ist aber beinahe zu gut zu euch Wildfängen!«

Wenige Minuten später standen die sechs Kinder in dem Flur des
Fröhlich'schen Hauses, und Fräulein Helene half ihnen die Mäntel
ausziehen. Die alte Dorothee hatte ein wenig gebrummt über die
Sonnabendgäste, aber schließlich, als sie sah, mit welcher Freude die
Kinder ankamen, ging sie doch in die Küche, um ihre berühmte Schokolade
zu kochen. Nirgends, aber auch nirgends schmeckte Schokolade so gut wie
die von Dorothee gekochte, die Kinder sagten es und da mußte es doch
stimmen.

»Heute gibt es aber etwas Besonderes,« sagte Fräulein Helene, »mein
Bruder hat ein Märchen geschrieben, das will er euch erzählen.«

»Ein Märchen!« jubelte Brigittchen fröhlich, »kommt eine Prinzessin
darin vor?«

»Sogar eine Königin und viel, viel Schnee,« erwiderte Helene Fröhlich,
»nun kommt herein, erst spielen wir etwas, dann trinken wir Schokolade
und zuletzt bekommt ihr das Märchen vorgesetzt!«

Und so wurde es auch. Wendelin sagte zu Jantge: »Es ist doch sehr gut,
daß wir heute eingeladen worden sind.« Das fanden die anderen Kinder
auch, es war urgemütlich in dem großen, altmodischen Wohnzimmer, und die
Kinder bekümmerte es nicht, daß es draußen immer toller stürmte und
schneite. Als nach lustigen Spielen und einer fröhlichen Schmauserei
sacht die Dämmerung hereinbrach, da erzählte Doktor Theobald Fröhlich
den Kindern ein Schneemärchen, er sagte, die wirbelnden Schneeflocken
draußen hätten es ihm erzählt, das Märchen aber nannte er:


                    Durch der Schneekönigin Reich.

Es war ein Wintertag wie heute. Weiche, weiße Flocken sanken vom Himmel
auf die Erde herab, die darunter träumend schlief. In einer kleinen
Stadt, die noch ein wenig kleiner und winkeliger als Neustadt war, lag
der Schnee so hoch, daß das ganze kleine Nest wie in einem dicken,
riesengroßen Federbett lag. Im letzten Haus des Städtchens, das schon
auf freiem Felde stand, wohnte eine arme Witwe mit ihrem Sohn.
Schwerkrank lag der in seinem Bette und der Arzt, der vor etlichen
Stunden dagewesen war, hatte gesagt: »Gute Frau, ich kann euch nicht
mehr helfen, alle meine Pillen und Tropfen nützen nichts mehr gegen
diese Krankheit.«

Die arme Witwe konnte nicht mehr weinen, so groß war ihr Jammer,
verzweifelt starrte sie in die weiße Winterpracht hinaus. Gab es denn
kein Mittel mehr, um ihren Sohn, ihr einziges, geliebtes Kind zu retten?

Wie sie so saß in ihrem Herzeleid, hörte sie auf einmal zwei Krähen vor
den Fenstern krächzen. Es war ihr, als riefen die beiden immerzu: »Geh'
zur weisen Frau, geh' zur weisen Frau!«

Da kam es ihr in den Sinn, daß draußen auf der Landstraße eine alte Frau
wohnte, die wegen ihrer Güte und Klugheit berühmt im Lande war und bei
der schon mancher in Sorge und Not Hilfe und Rat gefunden hatte. Die
arme Witwe hüllte ihren Sohn in warme Decken, nahm ihn auf den Arm und
lief so schnell ihre Füße sie trugen, zu der weisen Frau hin.

Die saß in ihrem Stübchen, in dem die Blumen blühten und die Vögel
sangen, als sei Frühling. Finken und Zeisige und ein gar klug drein
schauender Starmatz hüpften zwischen den Blumenstöcken herum, und die
weiße Katze, die zu ihrer Herrin Füßen lag, dachte gar nicht daran, den
Vögeln etwas zuleide zu tun.

So friedlich war es bei der weisen Frau, daß in dem Herzen der armen
Witwe die Hoffnung zu blühen begann, und flehend klagte sie der Frau ihr
Leid: »Mein Sohn ist mein einziges Glück auf der Welt, nun ist er so
krank, er leidet so große Schmerzen und niemand kann ihm helfen, weißt
du keinen Rat?«

»Du armes Weib,« sagte die weise Frau und sah die Bittende traurig an,
»ich kann dir wenig Trost geben; wohl weiß ich einen Arzt, der einen
Wundertrank besitzt, aber der Weg zu ihm ist so mühsam und schwer um
diese Winterzeit, noch nie ging ein Mensch diesen Weg zu Ende!«

»Ach!« rief die Mutter, »sage mir nur geschwind den Weg, für mein Kind
ist mir nichts zu schwer, keine Mühsal ist mir zu groß!«

»Ich will dir gern den Weg zeigen,« erwiderte die weise Frau. »Der Arzt
wohnt am Ende eines großen Waldes, durch den mußt du wandern, wenn du zu
ihm gelangen willst. Aber ich sage dir, der Weg ist unendlich schwer,
denn in dem Walde haust die Schneekönigin, sie hat ein Herz von Eis und
wenn ein Mensch in ihre Macht fällt, dann küßt sie ihn, bis er zu Eis
erstarrt, sie kennt kein Erbarmen und gibt keiner Bitte Gehör. Sie kann
dir freilich nichts tun, solange du ohne dich umzuschauen vorwärts
schreitest. Aber du darfst ja nicht stehen bleiben, nicht rasten, dich
nicht umsehen, denn sonst verfällst du der Macht der Schneekönigin.
Glaube mir, es haben schon viele Menschen versucht, den Wald zu
durchschreiten, aber es ist noch niemand gelungen. Meinst du aber die
Kraft zu haben, dann will ich mein Wäglein rüsten, ich habe ein
schwarzbraunes Pferdchen, das läuft schneller als der Wind, das trägt
dich in kurzer Zeit bis an den Wald.«

»Ach bitte, bitte, liebe Frau,« rief die arme Mutter, »rüste rasch dein
Wäglein, damit ich schnell bis an den Wald komme, ich fürchte mich gar
nicht, ich kann es nicht glauben, daß die Schneekönigin stärker sein
soll, als einer Mutter Liebe!«

»Wie du willst,« sagte die weise Frau. Sie ging und spannte geschwind
ihr Pferdchen an und sie fuhr die Witwe dann selbst bis an den Wald. Das
Pferdchen lief wirklich so schnell, daß der Wind hinterher jagte, nicht
mitkonnte, er wurde ganz ärgerlich darüber und fing in einem Dorf so zu
schelten an, daß die Bauersleute erschrocken zu einander sagten: »Hört
nur, wie der Wind pfeift, nein, so ein schlechtes Wetter!«

Als der Wagen an den Wald der Schneekönigin anlangte, zogen gerade
Wolken über die Sonne dahin, die stand dahinter wie eine große, weiße
Blüte.

Herzlich dankte die Witwe der weisen Frau, dann nahm sie sorgsam ihren
Sohn auf den Arm, der leise vor Schmerzen weinte, und unverzagt betrat
sie den Wald.

Hohe, schneebedeckte Tannen ragten empor, von ihren Zweigen hernieder
hingen lange Eiszapfen und am Wege blühten große, seltsam geformte
Eisblumen, die schimmerten und flimmerten wie von tausend Diamanten
besät. Der Fuß der Wanderin versank tief in der weichen Schneedecke, und
immer dichter fiel der Schnee herab, langsam, lautlos sank Flocke auf
Flocke hernieder und die Luft war von Schnee erfüllt.

Tiefe, schauerliche Stille herrschte ringsum und kein Vogelschrei wurde
hörbar. Das Schweigen legte sich beklemmend auf das Herz der Frau und
eine große Angst erfaßte sie. Es war ihr, als wüchsen die Tannen immer
dichter zusammen, als würde der Schnee tiefer und tiefer. Aber da weinte
leise das kranke Kind in ihren Armen und mutig schritt sie vorwärts, um
die Rettung für ihr Kind zu suchen.

Doch plötzlich wuchsen die Flocken, sie wurden größer und größer. Aus
den wirbelnden Sternchen wurden zarte, weiße, schleierumhüllte
Mädchengestalten. Die wiegten und neigten sich in der Luft und die
hauchten der armen Frau in das Gesicht, daß es sie eisig durchdrang, und
sie fühlte, wie die Füße ihr erstarrten.

Und so schwer schien ihr Kind zu werden und immer dichter kamen die
weißen Gestalten, ihre Schleier streiften die Wangen der Mutter, da war
es dieser, als würde sie mit Messern geschnitten.

Auf einmal ging jäh ein Brausen durch die Luft. Pfeifend wehte der Wind,
und die arme Frau kam immer schwerer vorwärts. Da erblickte sie vor sich
eine hohe weiße Gestalt in wehendem Mantel, der mit Diamanten umsäumt
war. Auf ihrem Haar, das schwärzer als die Nacht war, lag eine funkelnde
Krone. Das Antlitz war weißer als der Schnee und furchtbar waren die
Augen, hart, grausam, und sie schimmerten blaugrün wie der See, wenn er
zu Eis erstarrt ist.

Das war die Schneekönigin! Die arme Mutter fühlte es, und ihre Angst
wuchs. Lachend streckte die Schneekönigin die weißen Arme aus, und dann
begann sie zu sprechen und ihre Stimme klang wie springendes Eis: »Eile
doch nicht so, arme Frau, komm, raste ein wenig in meinem Reich. Ich
sehe es ja, du bist müde, und dein Weg ist noch weit. Komm, ruhe dich
aus im weichen Schnee und gib mir dein Kind, ich will es gesund küssen!«

Eine große Müdigkeit überfiel die arme Mutter, sie fror nicht mehr, sie
war nur müde, ach, so müde, und das Kind in ihrem Arme wurde immer
schwerer, sie brach fast unter der Last zusammen. Aber sie dachte an die
Warnung der weisen Frau und in der Angst ihres Herzens rief sie laut:
»Lieber Gott, hilf mir doch!«

Da wich die Schneekönigin langsam zurück. Aber ihr Mantel umflatterte
die Frau, daß diese den Weg nicht zu erkennen vermochte, und es wurde
dunkler und dunkler. Die Nacht senkte ihre Schatten herab und der armen
Mutter wurde es bitterangst in dieser Dunkelheit, in der sie den Weg
nicht mehr zu erkennen vermochte. In ihrer Not rief sie wieder: »O Mond,
du lieber Mond, habe doch Erbarmen und leuchte mir um meines Kindes
willen!«

Ganz sacht verbreitete sich da ein silberner Schein über den Wald und es
begann wundersam zu leuchten. Silbernes Licht glitt an den Stämmen der
Tannen herab und legte sich hell auf den Weg. An dem dunklen Nachthimmel
schwebten silberumsäumte Wölkchen, und dann stieg klar und voll über den
dunklen Bäumen der Mond empor.

Dankbar sah die arme Witwe zu ihm auf, das liebe Himmelslicht lächelte
gerade so sanft und mild auf sie herab, wie in den einsamen Nächten, da
sie am Bett ihres Kindes gewacht hatte. Neuer Mut zog in ihr verzagtes
Herz, und tapfer schritt sie vorwärts. »Ich werde mein Ziel dennoch
erreichen,« dachte sie.

Doch die Schneekönigin gab es nicht auf, Mutter und Kind in ihre Gewalt
zu bekommen, sie begann mit ihren weißen Fräuleins zu singen, das klang
lockend und sehnsuchtsvoll.

Die arme Frau hörte ganz deutlich die Worte, die die Königin mit ihren
Dienerinnen sang:

   »Walle, walle, Schleier weiß,
   Flocke, Flocke, falle du,
   Hüllt die Erd' in Schnee und Eis,
   Deckt die jungen Saaten zu!

   Walle, walle weißer Schnee,
   Flocke auf Flocke fall' herab,
   Tut es auch den Blüten weh,
   Sterben auch die Blätter ab!

   Ohn Erbarmen schwingt den Stab,
   Winters schöne Tochter leis,
   Weißer Schnee deckt Grab auf Grab,
   Erde ist gebannt in Eis.

   Und mit weißen Armen sacht,
   Will dein Kindlein ich umhüllen.
   Komm, mit meiner weißen Pracht,
   Will ich seine Schmerzen stillen.

   Walle, walle, Schleier weiß,
   Flocke, Flocke, falle du,
   Hüllt die Erd' in Schnee und Eis,
   Alles Leben decket zu!«

Von dem Gesang aber erwachte der kranke Knabe, der auf den Armen seiner
Mutter eingeschlafen war; er schlug die Augen auf und sah die
schimmernde Gestalt der Schneekönigin. »Ei, Mutter,« rief er, »sieh doch
dort die wunderschöne Prinzessin mit der Krone! Mutter, sie winkt mir,
ich will zu ihr, sie hat gewiß ein schönes Schloß!«

Der Kranke versuchte, aus den Armen der Mutter herabzugleiten, doch
verzweifelt hielt die ihn fest und rasch riß sie sich ihr Tuch vom Kopf
und verhüllte damit das Gesicht des Kindes. Aber eine der weißen
Gestalten blies das Tuch fort und nun jubelte der Kleine: »Mutter,
Mutter, die Prinzessin ist wieder da, ich will zu ihr, ach bitte, bitte,
laß mich doch los!«

Da, in dieser höchsten Not, kamen der armen Witwe die Tränen, die seit
Wochen versiegt waren. Ein paar heiße, schwere Tropfen rannen aus ihren
Augen, sie fielen gerade auf die Hände der Schneekönigin, die eben nach
dem Knaben greifen wollte.

Mit einem lauten, gellenden Schrei wich die Schneekönigin zurück.
Menschentränen brannten sie wie Feuer und jäh verstummte auch der Gesang
ihrer weißen Dienerinnen.

Die Mutter ergriff wieder fester ihr Kind, sie nahm alle ihre Kraft
zusammen und versuchte den Ausgang des Waldes zu gewinnen. Fern, fern
sah sie ein Lichtlein schimmern, ach! gewiß wohnte dort der berühmte
Arzt.

Aber nun begann es wieder zu schneien, still, lautlos, immer dichter
fiel der Schnee, und so viele Mühe sich der Mond auch gab, sein Licht
erhellte immer schwächer die Dunkelheit. Die arme Witwe sah das weiße
Verderben wachsen, sie kam kaum noch vorwärts, schon sank sie bis über
die Kniee in den Schnee ein, und nun fing ihr Kind auch noch jämmerlich
an, vor Schmerzen zu weinen.

Verzweifelt schluchzte die Mutter auf, und wieder rannen ihr ein paar
Tränen aus den Augen, es waren die allerletzten, die sie besaß. Die
fielen auf den Schnee nieder und plötzlich schmolz dieser darunter, wie
unter dem Kuß der Frühlingssonne. Leichter konnte die Frau schreiten,
und sie nahm noch einmal ihre Kraft zusammen und erreichte glücklich den
Ausgang des Waldes. Dort aber brach sie ohnmächtig zusammen. --

Als sie wieder erwachte, befand sie sich in einem hellen, behaglichen
Stübchen. In einer Ecke prasselte und glühte ein kleines Öfchen, und ein
Kater lag davor und schnurrte, als müßte er Leinwand zu zwölf Hemden
spinnen. Und wie bei der weisen Frau jenseits des Waldes, blühten auch
hier bunte Blumen trotz der Winterkälte, und allerlei bunte,
fremdländische Vögel hüpften und piepsten im Zimmer herum.

Vor einem schneeweißen Bettchen, das an der einen Seite der Stube stand,
saß ein alter Mann, in dem Bett aber lag ihr Kind, das schlief fest und
es hatte blühende Wangen und sah so frisch und gesund aus wie ein
Äpfelchen.

»Mein Kind lebt,« jubelte die Mutter, »Gott sei gedankt, es wird
gesund!«

»Ja, freilich wird es gesund,« sagte der alte Mann, der der berühmte
Arzt war, »und weißt du, was das Heilmittel war, das ihm geholfen hat?«

»Wie soll ich das wissen,« sagte die arme Witwe, »ich bin doch nicht
weise und gelehrt!«

Der Arzt lächelte: »Und du hast doch das Mittel selbst angewandt:
Mutterliebe und Muttertränen haben dein Kind gesund gemacht!«

In diesem Augenblick schlug der Kleine seine Augen auf. Als er seine
Mutter sah, streckte er jauchzend seine Ärmchen nach ihr aus: »Mutter!«
rief er, »ich habe von einer wunderschönen Königin geträumt, das war
fein! Ach, und so schön hat sie gesungen! Hör' das Lied, ich kann es
noch.« Er sang mit feinem Stimmchen das Lied, und der Arzt sagte: »Dein
Sohn, Frau, wird einst sehr berühmt werden; wenn einer das Lied der
Schneekönigin behält, dann wird er viel Ruhm und Glück im Leben
gewinnen.«

»Möge er gut werden, das ist die Hauptsache,« sagte die Mutter innig.

Bis der Frühling kam, blieb die Witwe im Hause des Arztes, dann kehrte
sie mit ihrem gesunden Kind in die Heimat zurück. Diesmal war es
wundervoll durch den Wald zu gehen, den die Schneekönigin längst,
grollend über des Frühlings Sieg, verlassen hatte.

Und aus dem kleinen Jungen der armen Witwe wurde später ein
hochberühmter Künstler. Wohin er auch mit seiner Geige kam und spielte,
überall jubelten ihm die Menschen entgegen; das schönste Lied aber, das
er spielte, war das Lied, das ihm einst die Schneekönigin mit ihren
weißen Fräuleins vorgesungen hatte.

Seiner Mutter, die er liebte, wie nur ein guter Sohn seine Mutter lieben
kann, baute er ein schönes Haus, das in einem wundervollen Garten lag.
Er selbst heiratete dann eine Gräfin und alle zusammen lebten in dem
schönen Haus glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind,
leben sie heute noch. --

»Aus ist die Geschichte,« sagte Fräulein Helene mit ihrer lieben, warmen
Stimme. Sie nahm Brigittchen auf den Arm und sah der Kleinen in die
Veilchenaugen, die auf einmal so traurig aussahen. »Was fehlt dir, mein
Liebling?«

»Wenn ich doch eine Mutter hätte,« flüsterte die Kleine betrübt. Niemand
hörte das, denn die anderen Kinder beredeten die Geschichte laut und
ausführlich, nur Jantge sah still drein und Fräulein Helene sagte: »Sei
dankbar, Brigittchen, für das, was du hast; sieh, Jantge hat nicht
einmal einen Vater.«

Da wurde Brigittchen still, nachher ging sie zu Jantge hin und war so
liebevoll zu der kleinen Freundin, daß Severin beinahe eifersüchtig
wurde, und er gab sich erst zufrieden, als er beim Heimweg zwischen
Jantge und Brigittchen gehen durfte.

»Es war doch fein, daß uns Fräulein Helene eingeladen hat,« sagten die
Kinder, als sie heimgingen.

»Das Schönste war doch die Geschichte,« rief Brigittchen.

Die andern stimmten ihr zu, nur Severin war sich noch nicht klar, ob die
Schokolade, das Spielen oder die Geschichte am schönsten gewesen sei,
und am liebsten hätte er sich zu morgen gleich wieder einladen lassen,
um darüber zu entscheiden.

Aber das gab es nicht, dafür aber gab es Tauwetter und der Schnee lief
so geschwind vor der Sonne von dannen, daß sämtliche Schneemänner im
Städtchen umpurzelten. Und von den Dächern rannte der Schnee herunter,
eins, zwei, drei, klatsch, da lag er unten auf der Straße, wurde
schmutzig, wurde zu Wasser, und weg war er. Auf den Dächern aber saßen
die Vögel und zwitscherten und piepten und wenn einer ganz genau
hinhörte, dann verstand er, was die Vögel riefen, nichts anderes als:
»Es wird Frühling, es wird Frühling!«




                             Osterwasser.


Er kam nun wirklich immer näher der Frühling! Der Winter raffte seinen
weißen, schon ein bißchen zerfetzten Mantel zusammen und zog brummelnd
davon. Manchmal drehte er sich noch herum und warf den Menschen, deren
Jauchzen ihm nachtönte, ärgerlich eine Handvoll Schnee auf die Köpfe.
Aber das schadete nicht mehr viel, man merkte es doch an allen Ecken und
Enden, daß der Frühling kommen wollte. --

Doktor Fröhlich und seine Schwester merkten es auch, wenn sie in ihrem
Garten spazieren gingen. Da schaute ein grünes Spitzchen heraus und da
eins, die Krokusse waren draußen, ehe man sich's versah, wie kleine
Soldaten standen sie in ihren blauen, gelben und weißen Röcklein auf der
braunen Erde. Und die Schneeglöckchen kamen, die Leberblümchen, auch die
Hyazinthen steckten ihre dicken Köpfe hervor. Der Garten war der Wunder
voll. Jeden Tag entdeckten die Geschwister etwas Neues, Schönes, und
Brigittchen, die täglich den Weg ins Nachbarhaus fand, jauchzte mit über
all die köstlichen Frühlingswunder.

Die beiden Geschwister dachten und sprachen von ihrem einsamen Leben in
den Weltstädten, dort war der Frühling gekommen und vergangen und sie
hatten ihn kaum recht gespürt, aber hier in dem kleinen Städtchen gab es
so viel Frühlingsahnen und so viele Frühlingsfreude, daß jeder Tag wie
im Feierkleid dahinging.

Brigittchen sang kleine, fröhliche Frühlingslieder, der Doktor grub im
Garten die Beete um, und manchmal kam auch Herr Schön mit hinüber ins
Nachbarhaus, und Fräulein Helene zeigte ihm alle Blumen und die Knospen
an den Bäumen und Sträuchern.

Die Kinder aber sagten zu einander: »Nun fangen bald die Osterferien
an!«

Manch ein Bube und manch ein Mädelchen sagte dies freilich recht
bedrückt, das waren die, die ans Sitzenbleiben und an schlechte Zensuren
dachten. Zu denen gehörten aber die fünf Schatzgräber nicht, selbst
Wendelin und Severin, die sich gerade nicht immer durch besonderen Fleiß
auszeichneten, hatten in den letzten Wochen noch mit beinahe
unheimlichem Eifer gearbeitet und hatten so die Klippe des
Sitzenbleibens kühn umschifft. So redeten sie denn auch sehr stolz und
sicher von den Osterferien und von Feiertagslust, als sie mit den drei
Mädels und Jörgel in Meister Hippels Turmstübchen saßen, es war kurz vor
Ostern, ein Tag vor Schulschluß.

Klaus Hippel erzählte den Kindern allerlei, und dabei sagte er auch:
»Ich hab's zwar noch nie gesehen, aber möglich ist's schon, daß die
Sonne am Ostermorgen einen Hopps macht und ein Weilchen tanzt!«

Die Kinder lachten, nur Brigittchen schaute ernsthaft mit großen,
verträumten Märchenaugen drein, ihr schien es gar nicht unmöglich, daß
die Sonne tanzen könnte.

»So ein Unsinn!« rief Jörgel.

»So, Unsinn? Herr Naseweis und Grünschnabel!« schrie der kleine
Pantoffelmacher geärgert. »Dann glaubst du auch wohl nicht, daß
Osterwasser eine besondere Kraft hat?«

»Ich weiß nicht,« murmelte Jörgel etwas verlegen, er wußte nämlich gar
nichts vom Osterwasser.

»Was ist denn Osterwasser, wo gibt es denn das?« fragte seine Schwester
Anne-Marte, der schon wieder das Kichern in den Wangengrübchen saß.

Meister Hippel guckte über seine Brille weg die Kinder forschend an, er
machte ein Gesicht, daß niemand wußte, ob er ernst oder spaßhaft gesinnt
war. »Na, paßt auf,« sagte er, »Osterwasser nennt man Wasser, das
Kinder, Jünglinge oder Jungfrauen am Ostermorgen gerade vor
Sonnenaufgang aus einer Quelle schöpfen. Es ist aber nicht so einfach,
Osterwasser zu holen, man darf kein Wort dabei sprechen, überhaupt nicht
lachen, nicht weinen, schweigend muß man das Wasser holen und auf dem
Heimweg darf man beileibe keinen einzigen Tropfen vergießen, auch darf
die Sonne nicht in den Krug scheinen, und vorher darf es niemand wissen,
der nicht mitgeht.«

»Das ist aber schwer,« flüsterte Jantge mit einem kleinen Seufzer.

»Na, freilich ist's schwer,« brummte der Meister, »für nichts ist
nichts. Das Osterwasser hat aber auch seine besondere Kraft. Es macht
den Menschen schön, verleiht ihm Gesundheit und Reichtum. Ja, guckt mich
nur an, ich bin auch mal Osterwasser holen gegangen, und es hätte sicher
viel Glück gebracht. Ich habe auch kein Wort dabei gesprochen und es
vorher niemand gesagt und meinen vollen Krug sorgsam nach Hause
getragen, und wie ich die Treppe hinaufgehen will, kommt mir Muxel,
unser schwarzer Kater entgegengelaufen, ich stolpere, falle, und weg war
mein Osterwasser. Das nächste Jahr war ich krank, dann habe ich es
verschlafen, dann habe ich geheiratet, und so bin ich nie zu Osterwasser
gekommen!«

»Wie schade!« rief Brigittchen mitleidig.

Jörgel lachte, er glaubte nicht recht an das Osterwasser, aber Wendelin
und Severin warfen sich verständnisvolle Blicke zu, sie glaubten fest
daran, denn Heine, der kluge Heine, hatte auch davon erzählt.

Nachher auf dem Heimweg sagte Wendelin auf einmal: »Wir könnten doch
alle miteinander Osterwasser holen gehen, es wäre doch fein!«

»Ach ja,« riefen die drei Mädels wie aus einem Munde.

Jörgel machte ein bedenkliches Gesicht: »Es geht uns vielleicht wie mit
dem Schatz und nachher werden wir ausgelacht! Lieber nicht!«

»Sei doch nicht so eingebildet!« rief Severin. Es war dies allerdings
ein höchst ungerechter Vorwurf, aber weil Jörgel Ostern schon nach
Quinta kam, und die Bäckerbuben, die freilich ziemlich in gleichem Alter
mit ihm waren, noch in der letzten Vorschulklasse saßen, glaubten sie
mitunter, Jörgels Zweifel an Meister Hippels und Heines Erzählungen sei
nur Einbildung.

»Sei doch kein Spielverderber,« sagte nun auch Anne-Marte, »es ist doch
anders wie beim Schatzgraben, wir brauchen ja nicht im Dunkeln zu
gehen?«

»Wir wollen doch gehen,« flüsterte Jantge. Sie dachte bei sich,
vielleicht hilft das Osterwasser der Urgroßmutter, und darum wollte sie
gehen.

Auch Brigittchen bat: »Wir wollen doch gehen!« Die kleine Träumerin
lockte das Geheimnisvolle, Märchenhafte, sie gedachte irgend etwas
Wundervolles zu sehen und zu hören, vielleicht tanzte die Sonne auch
wirklich.

»Na, meinetwegen,« brummte Jörgel. Im Grunde ging auch er gern, denn wer
konnte es wissen, das Osterwasser hatte doch vielleicht eine besondere
Kraft.

»Hoffentlich ist schönes Wetter!« sagte Anne-Marte.

»Ja, und wir dürfen es niemand vorher sagen, daß wir gehen, Mädels,«
rief Wendelin. Er sah die Freundinnen drohend an, und Brigittchen fiel
das Verbot schwer auf ihr Herzchen, nun durfte sie den Plan auch Tante
Helene nicht verraten, und dies erschien ihr unendlich schwer.

Schnippisch erwiderte Anne-Marte: »Tu dich nur nicht so, Wendelin, du
hast es neulich Jantge geklatscht, daß ich eine Strafarbeit hatte, wer
konnte denn da seinen Mund nicht halten? Seid ihr nur still, wir werden
schon nichts verraten, nicht wahr Brigittchen und Jantge?«

Die beiden gelobten eifrig Schweigen, Wendelin verzog trotzig den Mund,
er wagte aber nichts weiter zu sagen, denn gegen Anne-Marte kam er so
leicht nicht auf, die konnte auf ein Wort vier erwidern.

Die Tage vergingen. Die Ferien kamen, es gab Zensuren und manch ein Bube
ging an diesem Tag mit gesenktem Kopf einher und manches Mädel hatte
verweinte Augen. Dann kam Palmsonntag, an dem die Konfirmanden mit
lieblichem Ernst auf den jungen Gesichtern durch die Straßen gingen, und
es den Kleinen, die die großen Geschwister so sahen, auch feierlich und
fromm zu Mute wurde. Am Gründonnerstag suchten die fünf Schatzgräber,
Jantge und noch einige Freunde und Freundinnen, bei den Geschwistern
Fröhlich im Garten Eier. Zwischen den Blumen, in den Sträuchern, in
kunstvoll aus Zweigen zusammengefügten Nestern, in den Winkeln des
kleinen Gartenhauses, überall lagen die bunten Eier. Aber wären sie noch
so versteckt gewesen, die Kinder hätten sie doch gefunden, die Lust war
groß und Lachen und Rufen zog wie ein Frühlingslied durch den Garten.

Dann kam der Karfreitag, und das Städtchen lag in Stille und Schweigen,
um am Ostersonnabend wieder zu neuem Leben zu erwachen. Da lag heller
Sonnenschein über der Stadt, und alle Hausfrauen gingen auf den Markt,
der auch bunt und frühlingsfrisch aussah. Die Kinder liefen mit auf den
Markt, und sie taten so wichtig, als müßten sie an diesem Tag die ganze
Wirtschaft daheim bestellen. In der Marienstraße und in der Langgasse,
die nach dem Markte führte, war so viel Leben, daß die Bauersleute, die
mit Waren zum Markt gekommen waren, nicht weiter konnten und über den
Wirrwarr schalten. Aus den Häusern heraus strömte der Duft von
frischgebackenen Kuchen, denn in Neustadt hielten die Hausfrauen noch
fest an der alten Sitte, selbst Kuchen zu backen zu den Festzeiten.

Und wer es konnte, der trug einen Strauß Kätzchen oder Blumen in sein
Haus und schmückte damit seine Stübchen. Brigittchen bekam von ihrem
Vater die Erlaubnis, den Garten ein wenig zu plündern, und sie rannte am
Nachmittag mit Anne-Marte in das Gertrudenspital, um Jantge die Blumen
zu bringen. Da bekam jede der alten Frauen ein Zweiglein, Jantge
verteilte liebevoll ihre Schätze, und es standen an jedem Fenster des
Spittels zum Osterfest Blumen. So verging der Sonnabend unter Arbeit und
fröhlicher Unruhe, und manch einer legte sich am Abend zufrieden mit dem
Gedanken zu Bett: »Ach, morgen ist Feiertag!«

Der Ostersonntag dämmerte herauf. Der klare, fast wolkenlose Himmel
verhieß einen schönen Tag. Noch lagen die Neustädter alle in tiefem
Schlummer, als sich sacht die Tür des Doktorhauses öffnete und
Anne-Marte vorsichtig ihr Näschen herausstreckte. Sie winkte still und
geheimnisvoll dem nachfolgenden Bruder zu und deutete auf die andere
Seite des Platzes; von dorther kamen auf den Fußspitzen, weil der laute
Schall ihrer Schritte sie selbst erschreckt hatte, Wendelin und Severin.
Sie grüßten stumm und ernsthaft die Freunde und alle schauten auf das
Schön'sche Haus. Kam Brigittchen noch nicht?

Ein Weilchen später kam auch die Kleine heraus, auch ihr Gruß bestand
nur in einem stummen Nicken. Jedes der Kinder trug einen Krug in der
Hand, Anne-Marte hatte einen alten Milchtopf genommen und Severin eine
Kaffeekanne, die Deckel und Schnauze verloren hatte.

In tiefem Schweigen gingen die Kinder durch die Gäßlein. Anne-Marte
hatte ein großes, dickes Malzbonbon im Munde, das war ihr von Jörgel
fürsorglich als gutes Mittel gegen unzeitiges Kichern empfohlen worden.
Aber die feierliche Stille des Festmorgens dämpfte Anne-Martes Lachlust,
ihr war es so geheimnisvoll, fast märchenhaft zu Mut, daß das Malzbonbon
eigentlich überflüssig war.

Dicht am Gertrudenspital kam Jantge den Gefährten entgegen, sie trug
einen bunten Tonkrug in der Hand und in ihren Blauaugen stand eine große
Erwartung.

Am Wachtturm vorbei ging es zur Stadt hinaus. Klaus Hippel und Frau
Paulinchen schliefen noch und ahnten nicht, daß ihre kleinen Freunde
ihnen so nahe waren.

Etwa eine Viertelstunde von der Stadt entfernt lag am Rande des Waldes
eine steinumfaßte Quelle, sie hieß die Bonifaziusquelle, weil die Sage
ging, der fromme Heidenbekehrer hätte hier einst rastend einen mächtigen
Fürsten zum Christentum bekehrt. Die Quelle war das Ziel der Kinder,
dort wollten sie Osterwasser schöpfen.

Als sie aus der Stadt herauskamen und auf schmalem Wiesenpfade dem Ziel
zuschritten, merkten sie erst, wie schön der Ostermorgen eigentlich war.
Schon begann sich der Himmel zu färben, und ein Rosenschimmer verdrängte
langsam die Farben der Nacht. Beinahe hätte Anne-Marte gesagt: »Die
Sonne wird gleich aufgehen,« aber im letzten Augenblick besann sie sich
noch, und erschrocken stopfte sie noch ein zweites Riesenbonbon in ihren
Mund. O, nur nicht lachen und sprechen, sonst wich der Zauber!

Selbst Jörgel hatte jetzt alle Zweifel verloren, sogar das Wunder der
tanzenden Sonne erschien ihm nicht mehr unmöglich in dieser tiefen
Morgenstille, in diesem seltsamen, fahlen Licht. War es nicht schon ein
Wunder, daß Anne-Marte, die kleine Schwatzsuse, wirklich schwieg, als
hätte sie überhaupt keinen Mund?

Der Himmel wurde röter, ein schimmernder Glanz verbreitete sich ringsum,
und unwillkürlich liefen die Kinder schneller, um ja nicht zu spät zu
kommen. Schon von ferne hörten sie das sachte Rieseln und Rauschen der
Quelle, wie ein feines Singen klang es, wie ein Klingen aus Märchenland.

Da waren sie auch schon an der Quelle, deren Wasser rosenrot schimmerte
im Widerschein des Morgenhimmels. Als lägen viele rote Rosen auf dem
feuchten Grunde, so sah es aus. Um Wasser zu schöpfen, mußte jedes der
Kinder auf ein schwankendes Brett steigen. Mit stummer Gebärde zeigte
Jörgel, wie man das machen müßte; er ging zuerst, neigte sich und
schöpfte seinen Krug voll Wasser. Nun folgten die Mädels, eine nach der
andern; zaghaft schöpften sie, es war ihnen so feierlich zu Mute, und
keiner kam ein Lächeln. Tief neigte sich Brigittchen über die Quelle,
sie schöpfte langsam, andachtsvoll, und sie erstaunte fast, daß das
Wasser im Krug nicht rosenfarben war.

Und immer glühender wurde der Himmel im Osten, wie Purpur leuchtete es
und wie Gold, und der Wald begann zu glühen.

Severin war der letzte gewesen, der Wasser geschöpft hatte, nun stand er
still auf dem schwankenden Brett und starrte in das Morgenrot; er wußte
nicht, daß kein Mensch mit bloßen Augen lange in dieses helle Licht
schauen kann, und auf einmal begann es ihm vor den Augen zu flimmern, er
sah lauter tanzende, rote, glühende Punkte. Darüber vergaß er sein
Gelübde zu schweigen, er schrie: »Die Sonne tanzt, die Sonne tanzt, es
ist doch wahr!«

Er schwenkte seinen Krug, hob ein Bein, als wollte auch er tanzen, und
-- plumps -- lag er im Wasser.

Ein fünfstimmiger Entsetzensschrei erscholl. So blitzschnell war alles
gegangen, Severins Rufen und sein Fall, daß keins der Kinder recht
wußte, wie eigentlich alles geschehen war. Sie riefen und schrieen
durcheinander, die Krüge mit Osterwasser fielen zu Boden, alle griffen
sie nach Severin und zogen den vor Schreck ganz stumm gewordenen Buben
aus dem Wasser heraus.

»Unser Osterwasser!« klagte auf einmal Jantge, und nun fiel es allen
erst ein, daß ihr Weg vergeblich gewesen war. Und naß waren sie, und
dazu froren sie; Brigittchen hatte sich das Wasser über das Kleid
geschüttet; Jörgel und Wendelin waren in ihrem Eifer, Severin zu retten,
auch bis an die Knie ins Wasser geraten, und so war ihnen alle
feierliche Osterstimmung vergangen. Selbst Anne-Marte, trotzdem sie im
ersten Schreck ihr Malzbonbon ausgespuckt hatte, kicherte nicht, sondern
heulte, Brigittchen zur Gesellschaft mit. Wendelin schalt auf seinen
Bruder, und der, der vor Frost nur so klapperte, rief weinerlich: »Sie
haa--at do--o--och ge--getanzt!«

»So dumm, so dumm,« klagte Wendelin, und mit ihm klagten und jammerten
die anderen auch. Daß die Sonne inzwischen in vollem Glanz
emporgestiegen war und ihr strahlendes Licht alles überflutete, merkten
sie gar nicht; sie hörten auch nicht die Vogelstimmen, die laut wurden.
Der Jammer war zu groß.

Auf einmal sagte Jörgel: »Dort kommt ein Mann!« Jantge kreischte
erschrocken auf, und etwas bedenklich sahen die Kinder dem
Näherkommenden entgegen, der einen großen Stock schwenkte und zu rufen
begann. Und jäh empfanden sie alle die Einsamkeit der Morgenstille mit
leisem Schauern, so allein fühlten sie sich. Wer es zuerst gesagt hatte,
sie wollten ausreißen, wußte nachher niemand mehr, aber plötzlich liefen
sie alle miteinander wie Hasen, die den Jäger kommen sehen.

Hinter ihnen her aber kam der Mann; sie hörten ihn rufen. Einmal sagte
Brigittchen: »Er schreit, wir sollen stehen bleiben, er will uns was
sagen,« aber auch sie lief mit den Gefährten weiter und immer weiter.

Sie hörten den Mann schelten. »Potzwetter, steht doch still, ihr Rangen,
hört doch, hööört!«

Und toller und toller nur rannten sie.

Aber da war der alte Turm, nun kam das Gertrudenspital, husch war Jantge
drin, kaum daß Brigittchen und Anne-Marte einen flüchtigen Händedruck
erhielten, und weiter ging die wilde Jagd. Durch die bekannten Gäßlein
liefen die Kinder und meinten, hinter sich schnelle Schritte zu
vernehmen, die sie verfolgten. Manch' Fenster öffnete sich, und etliche
Frühaufsteher schauten den Kindern nach und brummten wohl: »Ja, was soll
denn das bedeuten, was haben die denn wieder angestiftet?«

Auf dem Kirchplatz machten sie endlich alle Halt, keuchend, pustend und
trotzig schauten sie sich um: Nun mochte der Verfolger kommen! Doch --
der war nicht zu sehen. Statt dessen guckte Frau Meister Gutgesell zum
Laden heraus; sie war soeben damit fertig geworden, die Semmeln
einzuzählen für ihre Kunden und war einmal vor die Türe getreten, um
Luft zu schöpfen, da sah sie ihre Buben und erkannte auch die andern
Kinder. Sie ahnte gleich einen dummen Streich und rief die fünf zu sich.
Ein wenig kleinlaut kamen diese an und erzählten, sie hätten Osterwasser
holen wollen.

»Aber Kinder!« die Meisterin schüttelte mit dem Kopf, »auf was für
närrische Einfälle ihr aber auch immer kommt. Gesund seid ihr, satt zu
essen und mehr habt ihr, und jung seid ihr auch, was sollte euch denn
das Osterwasser, wenn es nämlich wirklich etwas nützte?«

»Es soll schön machen,« sagte Anne-Marte keck.

»Ei, du Grasaffe, du!« rief die Meisterin, »sei froh, daß du gerade und
ordentlich gewachsen bist, gut sehen und gut hören kannst, gib dir nur
Mühe, immer brav zu sein, was brauchst du da noch Schönheit. Und nun
marsch ins Bett; gut war es noch, daß ihr ordentlich zurückgerannt seid,
da wird euch das Wasser hoffentlich nichts geschadet haben!«

»Ich habe Hunger,« murmelte Wendelin bedrückt.

»Dann nimm dir eine Semmel und dann flott ins Bett, Festkuchen gibt es
jetzt noch nicht,« erwiderte die Mutter, die schon wußte, warum ihr Bube
Hunger hatte.

»Da kommt er,« flüsterte Brigittchen ängstlich.

Über den Kirchplatz her kam ein Mann, kein Zweifel, es war der
Verfolger.

»Das ist aber frech!« tuschelte Wendelin.

Der Mann sah aber weder frech noch böse aus, ganz behaglich kam er näher
und rief: »Nee, Frau Meisterin, ist das aber eine dumme Gesellschaft,
die Kinder! Da will ich mir den Weg sparen und Ihren Buben sagen, daß
Sie mir zu heute Nachmittag noch etliche Kuchen schicken sollen, weil
ich denke, es werden Gäste kommen, ja, prost Mahlzeit. Die Bengels sind
davongelaufen wie das richtige, schlechte Gewissen. Ihr da, was habt ihr
denn miteinander angestiftet?«

Die Kinder sahen sich verdutzt an; der Mann, das war nämlich Herr Hinze,
der Besitzer einer Gartenwirtschaft, die nicht weit von der
Bonifaziusquelle lag, sie alle waren schon oft dort gewesen.

»Osterwasser wollten sie holen,« sagte die Meisterin, und sie erzählte
Herrn Hinze von dem verunglückten Ausflug. Der lachte so dröhnend, das
hallte über den ganzen Kirchplatz hin, und ein wenig beschämt gingen die
Kinder heim. Sie krochen noch einmal in ihre Federnester, freilich ohne
Schelte ob des heimlichen Fortlaufens ging es nicht ab. Aber dann
schliefen sie, trotzdem das Städtchen schon im vollen Sonnenglanz lag,
noch einmal ein, schliefen, bis die Glocken von St. Marien und St.
Johannis über die Stadt hinhallten. Da erwachten sie mit dem seligen
Gefühl: es ist Feiertag, es sind Ferien.

Und Severin brummte, als seine Mutter ihn endlich weckte: »Sie hat doch
getanzt, ich hab's gesehen!«

Dabei blieb er, und er hatte den Triumph, daß Heine ihm glaubte und
sagte: »Hättet ihr mich mitgenommen, dann wäre die Sache gescheit
geworden!« Na, wer weiß!




                        Der goldene Groschen.


In der Vorstadt draußen, schon dicht am freien Felde, wohnten Liesel und
Peter nachbarlich zusammen. Liesels Vater war Stadtrat und Peters Vater
besaß eine kleine Gärtnerei. Daß Liesels Vaterhaus eine hübsche Villa
war, und Peter in einem kleinen Häusel wohnte, bei dem das Dach schon
auf dem Erdgeschoß saß, beeinträchtigte die Freundschaft nicht. Eine
Lücke war im Gartenzaun, durch die man hinüber und herüber spazieren
konnte, und dies taten die Kinder redlich, und so stand denn auch
Peterle an einem sonnenwarmen Frühlingstag am Gartenzaun und rief: »Du,
Liesel, komm einmal rasch her, ich muß dir was Feines erzählen!«

Neugierig kam diese näher. »Was gibt es denn?«

»Jahrmarkt ist, Liese,« sagte Peter, und seine Augen leuchteten. »Komm
mit, wir gehen zusammen hin!«

»Ich darf nicht allein in die Stadt, und die Eltern sind fort, die kann
ich nicht fragen,« sagte Liesel traurig.

»Ach was,« rief Peter, »ich darf eigentlich auch nicht; aber nur mal
hinlaufen, das schadet doch nichts. Mutter will morgen mit mir hingehen,
weil schulfrei ist; aber morgen ist noch so schrecklich lange. Komm nur,
es merkt's niemand; ich habe auch Geld, einen Groschen, da kaufen wir
uns Schmalzkuchen oder fahren Karussell. Hast du auch Geld?«

»Ja,« sagte Liesel eifrig, die noch ein rechtes Dummerchen war und den
Wert des Geldes wenig kannte, »ich habe viel Geld. Onkel Fritz hat mir
einen Groschen geschenkt, aber einen goldenen. Doch mitgehen darf ich
nicht.«

»Hasenfuß,« sagte Peter spöttisch; »was dabei ist, nur mal hingehen! Es
ist ja nicht weit, und dann gleich wieder zurück; das merkt doch
niemand.«

Hasenfuß mochte Liesel sich nicht gern nennen lassen; unschlüssig stand
sie da und überlegte. Sollte sie gehen? War es nicht sehr unartig? Da
bat Peter wieder: »Nur einmal hingehen, bloß fünf Minuten vor dem
Kasperletheater stehen.« Liesel ließ sich überreden; sie holte rasch den
goldenen Groschen, der in einem kleinen, hübschen Beutel steckte, und
rannte dann mit Peterle dem Jahrmarktsplatz zu.

War das ein Leben! Bude stand an Bude; in der einen lagen und hingen
Spielsachen, Puppen, Trompeten, Peitschen, Pfeifen, alle möglichen
Dinge; in einer anderen gab es bunte Töpfe, Tassen und Teller, da Hüte
und seidene Bänder, dort Pfefferkuchen, Bonbons und Nüsse, und überall
roch es nach Schmalzkuchen. Dideldideldei, dideldideldumdum spielte der
Leierkasten am Karussell, und im Puppentheater sah Kasperle, der eine
riesengroße Nase hatte, hinter einem roten Vorhang hervor und schrie
kläglich:

   »Der Teufel haut mich, o je, o je,
   Wie tun meine hölzernen Beine weh.
   Ach, Buben und Mädels, kommt heran,
   Und schaut mich armes Kasperle an!
   Meine hölzerne Nase wird blau und grün,
   Drei Zähne muß der Doktor mir ziehn!«

Und Kasperle hob ein Bein und steckte es in den Mund, da sagte seine
liebe Frau Rosettchen: »Steck' auch das zweite in den Mund!«

»So groß ist sein Maul nicht,« schrie der Teufel und grinste.

Flink steckte Kasperle das zweite Bein in den Mund und plumps fiel er
hintenüber in ein Loch, weg war er.

Die Kinder jauchzten, die Erwachsenen lachten, und als ein Mann mit
einem Zahlteller kam, rannten die Kinder, als hörten sie die Schulglocke
läuten.

Vor einer Schaubude stand ein Mann und rief: »Nur immer hereinspaziert,
meine Herrschaften, das größte Wunder der Welt ist hier zu sehen!« Und
vor einem Leinenzelt saßen rote und blaue Papageien auf einer kleinen
Schaukel; einer schrie krächzend: »Lora, schöne Lora, will Zucker
haben!«

Peter und Liesel rissen Mund und Augen auf, was gab es nur alles zu
sehen. Doch Liesel konnte sich gar nicht recht freuen. Sie dachte immer:
wäre doch Mütterchen bei mir!

»Erst wollen wir für meinen Groschen Karussell fahren,« sagte Peter,
»dann kaufen wir uns für deinen Groschen etwas Schönes zu essen. Zeig'
mal her, ist es wirklich Gold? Dann können wir nämlich schrecklich viel
kaufen!«

Aber Liesel hielt ihr Beutelchen ängstlich fest und sagte schüchtern:

»Fahr' du allein, ich fürchte mich.«

Peterle ließ sich das nicht zweimal sagen; hopps war er oben, kletterte
auf ein Pferd und dideldideldei, dideldideldumdum ging die Fahrt los.
Liese sah einige Minuten zu; weil aber gar so viele Menschen um sie
herum standen, ging sie ein paar Schritte weiter.

»Hier herein, kleines Fräulein,« rief eine schnarrende Stimme, und eine
große, dicke Frau, die vor einer Bude stand, faßte sie am Arm und
schrie: »Hast du Geld, dann darfst du rein!«

Liesel wich erschrocken zurück. Da lachten ein paar Buben laut auf,
einer faßte sie an ihren blonden Zöpfen und schrie: »Hüh, hott,
Pferdchen, lauf!« »Peter, Peter,« jammerte Liese; aber Peterle fuhr
lustig auf dem Karussell, und je ängstlicher die Kleine rief, je
ausgelassener umtobten die wilden Buben sie. Plötzlich kam ein Mann
daher geritten, ganz bunt angezogen, der kündigte an, daß abends
Vorstellung im Zirkus sei; da liefen die Buben hinterher und ließen
Liesel gehen. Die Kleine wollte zu Peter zurückkehren, als sie neben
sich einen alten Mann erblickte, auf dessen Schulter ein kleiner Affe
saß, der lauter tolle Sprünge machte und Grimassen schnitt. Das sah
lustig aus; Liesel blieb stehen und sah dem Äffchen zu. Dessen Herr
hielt einen schmutzigen, abgetragenen Hut in der Hand und sah jeden, der
an ihm vorüberging, bittend an; aber niemand achtete auf ihn. Da seufzte
der alte Mann tief, und Tränen rannen ihm in den weißen Bart. Liesel sah
das und fragte mitleidig: »Fehlt dir etwas, alter Mann?«

»Ich habe Hunger, Kind,« sagte der traurig, »und ich bin so arm, daß ich
mir nichts zu essen kaufen kann.«

Nur ein Weilchen überlegte Liese; dann holte sie rasch ihren goldenen
Groschen hervor und legte ihn in den Hut des Mannes, und dann lief sie,
so schnell sie konnte, davon, noch ehe der überraschte Alte ihr hatte
danken können. Am Karussell standen wieder die bösen Buben; Liesel
traute sich nicht heran; und so rannte sie denn ohne Peterle nach Hause.

Es hatte auch wirklich niemand ihre Abwesenheit bemerkt, aber die Kleine
konnte nicht so vergnügt wie sonst spielen; immer mußte sie an ihr
heimliches Fortlaufen denken. Nicht wie sonst konnte sie Vater und
Mutter erzählen, was sie am Nachmittag getan hatte, und der Eierkuchen,
den es zum Abendbrot gab, schmeckte lange nicht so gut wie sonst. Als
sie dann in ihrem weichen, weißen Bettchen lag, kam die Mutter zu ihr.
Sanft strich sie der Kleinen über die Wangen und sagte: »Fehlt meinem
Herzenskind etwas?«

Da stürzten heiße Tränen aus Liesels Augen, und schluchzend beichtete
sie der guten Mutter ihre Schuld; auch von dem goldenen Groschen und dem
armen, alten Manne erzählte sie.

Ernst hörte die Mutter zu; dann nahm sie ihr kleines Mädel zärtlich in
ihre Arme und sagte: »Daß du dem armen Manne Geld gabst, freut mich, und
weil es dir leid tut, daß du ungehorsam warst, will ich dir verzeihen.
Nun laß uns zusammen beten, mein Liebling.«

Da faltete Liesel ihre Händchen, sprach ihr Abendgebet und schlief dann
ruhig und friedlich ein, froh, daß sie ihre Schuld der Mutter gestanden
hatte.

Am nächsten Morgen, als Liesel gerade ihre Milch trank, kam die Köchin
aufgeregt in das Zimmer und schrie: »Ein Polizist ist da, hu! ich graule
mich, und er sagt, er will unsere Liesel holen!«

Die Kleine schrie laut auf vor Schreck und wutsch! kroch sie, so schnell
sie konnte, unter den Tisch. Sie riß in der Eile das Tischtuch mit
herab, und klirrend und krachend fielen Milchtasse, Zuckerdose und
Brotkorb und was sonst noch auf dem Tische stand, auf die Erde; hätte
die Erde ein Loch gehabt, gewiß wäre das Liesel mit Vergnügen hinein
gekrochen. Plötzlich bekam Liesel recht seltsame Gesellschaft unter dem
Tisch: ein kleines, braunes Äffchen saß auf einmal neben ihr und griff
sehr vergnügt nach einem Butterhörnchen, das es zu fressen begann.

»Liesel, Kind, komm doch hervor!« rief die Mutter und zog ihr weinendes
Töchterchen aus seinem Versteck heraus, während das Äffchen von einem
alten Manne gepackt wurde, der kein anderer war als der Bettler vom
Jahrmarktsplatz. Und da stand auch wirklich ein Schutzmann mitten im
Zimmer, und Liesel verkroch sich angstvoll hinter der Mutter Kleid.

»Da ist die Kleine, die mir das Goldstück gegeben hat,« sagte der alte
Mann; »ich habe es wirklich nicht gestohlen.«

Nun klärte sich die ganze Sache auf. Am vergangenen Nachmittag war auf
dem Jahrmarktplatz gestohlen worden, und als Hartmann, so hieß der Alte,
sein Goldstück in einem Wirtshaus am Platz wechseln wollte, hatte man
ihn als Dieb festgenommen. Man wußte, daß er ganz arm war, dazu hatte er
lange neben der Bude, in der gestohlen worden war, gestanden; so hielt
man den armen Alten für den Dieb. Es war gut, daß eine Frau Liesel
erkannt und auch gesehen hatte, wie sie ein Geldstück in den Hut warf,
sonst hätte Hartmann vielleicht noch lange unter dem bösen Verdacht
gestanden. Die Eltern und Liesel versicherten dem Schutzmann, daß das
Goldstück wirklich ein Geschenk sei. »Na,« meinte der Schutzmann
zufrieden, »dann leben Sie nur wohl; nun kann ich ja gehen, da alles in
Ordnung ist.« Er ging; der alte Hartmann aber mußte noch bleiben. Die
Mutter holte ein gutes Frühstück herbei, und während er aß, erzählte er
von seinem Leben. Durch schwere Krankheit war er in Not geraten, und da
er nicht mehr ordentlich arbeiten konnte, zog er als Leierkastenmann
umher, um sich sein Brot zu verdienen. Vor einigen Wochen war ihm sein
Leierkasten kaput gegangen, und er besaß kein Geld, um sich einen neuen
zu kaufen; seitdem ging es ihm sehr schlecht. Manchen Abend habe er
hungrig zu Bett gehen müssen, er und sein Äffchen Jolly, sein treuer,
kleiner Freund.

Liesel hatte still zugehört; wie traurig das alles klang! Plötzlich
sprang sie auf, lief auf die Mutter zu und flüsterte bittend: »Muttchen,
ich habe doch noch zwei goldene Groschen in meiner Sparbüchse; darf ich
die dem armen alten Mann geben?«

Ja, das durfte Liesel, und der Alte rief dankbar: »Ach, nun kann ich mir
einen neuen Leierkasten kaufen; dann hat alle Not ein Ende! Gleich heute
kann ich noch auf dem Jahrmarkt spielen.«

»Ich geh aber nie mehr allein hin,« rief Liesel und schmiegte sich an
die Mutter an.

»Nein, tu das lieber nicht,« sagte Hartmann. »Diesmal ist es gut
ausgegangen; aber manchmal kommt aus Heimlichkeiten auch etwas Schlimmes
heraus. Übermorgen will ich zu dir kommen und dir etwas vorspielen; soll
ich?«

»Ach ja, und Jolly kommt auch mit, und dann tanzt er,« rief Liesel
vergnügt; »aber wo ist denn Jolly?«

Der saß gemütlich unter dem Tisch und fraß Zucker, denn die Zuckerbüchse
war auf die Erde gefallen, als Liesel sich so schnell unter den Tisch
geflüchtet hatte. Sein Herr holte ihn wieder hervor; dann nahmen beide
Abschied, und Liesel durfte sie noch bis zur Tür begleiten.

Eilig lief die Kleine nachher in den Garten, um Peterle alles zu
erzählen. Der saß unter einem dicken Fliederbusch am Gartenzaun und sah
verweint und verdrossen aus. Erst brummte er und wollte nicht antworten,
als Liesel nach seinen Erlebnissen fragte; dann aber erzählte er
niedergeschlagen, wie es ihm ergangen war. Er war dreimal hintereinander
Karussell gefahren; so oft durfte er für seinen Groschen. Da war es ihm
auf einmal ganz schwindelig geworden und plumps war er von seinem
braunen Pferd heruntergefallen. Er hatte sich die Hosen zerrissen, ein
Knie und die Nase blutig geschlagen; daheim hatte er noch Schelte
bekommen, und heute durfte er nicht mit Mutter und Geschwistern auf den
Jahrmarkt gehen.

»Du bist dran schuld!« schrie er wütend seine kleine Gefährtin an;
»warum bist du nicht mit auf dem Karussell gefahren und warum bist du
überhaupt mit deinem goldenen Groschen weggelaufen; nicht einmal
Schmalzkuchen habe ich essen können!«

Als Liesel ihm von dem armen, alten Hartmann erzählte, schämte sich
Peter freilich. Das wollte er aber nicht zeigen, darum brummte er
ärgerlich: »Ach was, das war dumm, daß du dein Goldstück verschenkt
hast. Überhaupt der ganze Jahrmarkt ist dumm; ich mag gar nicht mehr
hingehen, alles ist dumm![**«::SILENT] Schwapps lief er weg, und Liesel
sah ihm traurig nach; ach, so böse war das Peterle noch nie gewesen!

Am Nachmittag saß der Peter, der gar nicht auf den Jahrmarkt gehen
wollte, bitterlich weinend im Garten, weil die Mutter ihn wirklich nicht
mitgenommen hatte.

Aber das Peterle war doch nicht so böse, wie es den Anschein hatte.
Abends bat der Bube seine Eltern um Verzeihung, und als am übernächsten
Tag der alte Hartmann kam und seiner Freundin Liesel lustige Stücklein
auf dem neuen Leierkasten vorspielte, kam auch Peterle herbei. Seine
Mutter hatte ihm auf seine Bitte Geld aus seiner Sparbüchse gegeben; das
brachte er und legte es in Jollys rotes Hütchen.

»Peter!« rief Liesel erfreut und lief auf den Freund zu, »bist du nun
wieder gut?«

Lachend faßte Peter ihre Hände, und fröhlich drehten sich beide im
Kreise herum; Jolly machte lustige Sprünge, und der alte Leiermann
spielte dazu: dideldideldei, dideldideldumdum.




                      In der fröhlichen Einkehr.


Ein bißchen launenhaft ist der Frühling aber doch. Einmal läßt er sich
wer weiß wie sehr bitten, ehe er erscheint, das andere Jahr wieder kann
er nicht schnell genug mit allen Blüten herauskommen. So ging es in
diesem ersten Frühling, den die Geschwister Fröhlich in Neustadt
verlebten. Kaum war Ostern vorbei, da ging auch schon das rechte Blühen
an. Nicht lange dauerte es, da standen alle Obstbäume im weißen oder
rosenroten Frühlingskleide da; auf den Beeten blühte es, auf den Wiesen,
die Büsche bekamen dicke, dicke Knospen, und eines Tages zündeten die
Kastanien ihre weißen Kerzen an, und die ersten Fliedertrauben blühten
auf.

Und es war noch nicht einmal Pfingsten. Im Garten des St.
Gertrudenspitals war auch an einer besonders warmen, sonnigen Stelle der
erste Flieder erblüht, und unter diesem Busch saß die kleine Jantge an
einem wunderlieblichen Maitag und weinte herzbrechend. Ihre Zeit im
Gertudenspital war nämlich abgelaufen; die Urgroßmutter konnte die
Kleine nicht länger bei sich behalten, denn das Gertrudenstift war für
alte Frauen, nicht für kleine Mädchen. Der Herr Bürgermeister sagte, es
sei ungesetzlich, daß Jantge noch länger bliebe, denn was der einen
recht sei, sei der andern billig; schon hätten zwei Frauen darum
gebeten, auch ihre Enkelkinder zu sich nehmen zu dürfen. Jantge sollte
wieder in ihre eigentliche Heimat zurückgeschickt werden, dort mußte die
Stadt für die Kleine sorgen. Die Zukunft lag also wie ein graues
Nebelland vor ihr, nur acht Tage noch, dann sollte sie wieder
zurückreisen, sollte Neustadt verlassen.

Mitten hinein in ihre traurigen Gedanken sagte auf einmal ein liebes
Stimmchen: »Jantge, warum weinst du denn?«

Brigittchen war es, die die Freundin holen kam und nun betroffen deren
Tränen sah. »Wir wollen spazieren gehen, alle miteinander, Herr Doktor
Fröhlich und Tante Helene haben uns eingeladen,« sagte sie, »aber wenn
du weinst, Jantge -- dann freue ich mich auch nicht.« Schon tropften dem
weichherzigen Brigittchen auch ein paar Tränlein aus den Veilchenaugen.

Zur rechten Zeit kam Anne-Marte und, wie meist, stand ein Lächeln auf
ihrem Gesichtchen. Als sie Jantges Tränen sah, tröstete sie: »Weine
nicht, Jantge, acht Tage sind ja noch schrecklich lang; inzwischen --
ach vielleicht finden wir bis dahin den Schatz!«

Die Erinnerung an die lustige Geschichte vertrieb wirklich die Tränen,
wie der Frühlingswind die Wolken verjagt, und wenige Minuten später
trabte Jantge ganz lustig mit den Gefährtinnen dem alten Stadtturm zu;
dort warteten die Geschwister Fröhlich und die drei Buben auf sie. Und
unter Lachen und Scherzen ging es ins Freie, dem Walde zu. Am Waldrand,
etwa anderthalb Stunden von Neustadt entfernt, lag in der Nähe eines
stattlichen Bauerndorfes eine Sommerwirtschaft, »Zur fröhlichen Einkehr«
genannt. Das Haus war ursprünglich ein alter Adelshof gewesen, doch die
Familie, die den Hof besessen hatte, starb aus, und so gegen Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts wurde der Hof in ein Wirtshaus verwandelt. Viel
war im Lauf der Zeiten an dem Haus nicht verändert worden, und seine
dicken Mauern schienen auch noch manchem Sturm trotzen zu können. Die
Neustädter gingen gern in die »Fröhliche Einkehr«. An warmen Sommertagen
saßen in dem von uralten Linden überschatteten Garten immer viele Gäste;
man trank dort Kaffee, aß Kuchen oder Schwarzbrot mit Butter und Honig,
und das Scheiden wurde den Gästen meist schwer.

Die Kinder kannten das Wirtshaus alle, nur Jantge noch nicht, und
unterwegs erzählte ihr Brigittchen, wie schön es dort sei. »Jetzt im
Frühling muß es besonders schön sein,« sagte Fräulein Helene, »ich habe
es nur im Winter gesehen, und da war es eigentlich ein trauriges Haus;
die beiden Kinder der Wirtsleute lagen schwerkrank, hoffentlich sind sie
gesund geworden!«

»Wer hat dich, du schöner Wald,« sangen jetzt die Buben mit heller
Stimme, die am Anfang des Zuges marschierten und zuerst den Wald
betraten.

Hurra, da war der Wald! Wie schön sah er im Frühlingsschmuck aus;
lichtgrüner Buchenwald drängte sich zwischen dunklen Tannenwald. An
manchen Stellen liefen die Buchen wie vorwitzige Kinder in den
Tannenwald hinein, und da und dort standen auch Eichen. Die hatten erst
winzige, rotgoldene Blättchen, ja, wunderlich genug sah es aus, mitunter
hielten sie noch zähe die Reste ihres vorjährigen Laubes fest.

»Wir wollen Maiblumen suchen,« baten die Mädels, aber Doktor Fröhlich
sagte: »Spart das lieber für den Heimweg auf, wir bringen sonst alle
Blumen verwelkt nach Hause!«

»Mädels müssen doch immer Blumen suchen,« brummte Wendelin etwas
verächtlich.

»Warum auch nicht!« sagte Fräulein Helene lachend. »Übrigens sind
Maiblumen meine Lieblingsblumen, nur schade, daß sie giftig sind!«

»Giftig?« rief Brigittchen ganz erstaunt.

»Ja,« erwiderte Doktor Fröhlich, »das stimmt. Die Wurzeln sind giftig,
aber eine hübsche Blume ist sie darum doch, man braucht sie ja nicht zu
essen. Der Sage nach war die Maiblume der Göttin Ostara geweiht, und bei
den Maifesten unserer Vorfahren war die Maiblume der beliebteste
Schmuck.«

Den Mädels zuckte es ordentlich in den Händen, sie hätten gar zu gern
mit Pflücken begonnen, denn an manchen Stellen standen die Maiblumen
ganz dicht, und süß stieg ihr Duft zu den Wandernden auf. Überhaupt gab
es viel zu sehen und zu hören im Walde. Ein sanftes Rauschen und Raunen
ging durch die Wipfel der Bäume, und es zwitscherte und sang laut und
leise, das Pochen des Spechtes ertönte, und plötzlich ließ auch der
Kuckuck seine Stimme hören. Mal hier, mal dort, aber vergebens suchten
ihn die Kinder, er war nirgends zu sehen.

»Wie viele Tage bleibe ich noch hier?« fragte Jantge, als der Kuckuck
ein Weilchen geschwiegen hatte. Da begann er zu schreien; er rief und
rief ohne aufzuhören; erst zählten die Kinder, aber dann rief es von da
und dort, von überall her »Kuckuck, Kuckuck«, und Brigittchen flüsterte
geheimnisvoll: »Jantge bleibt immer hier!«

Es schien wirklich so zu sein, denn der Kuckuck rief noch, als die
Wanderer schon die grauen Mauern und das rote Dach der »Fröhlichen
Einkehr« durch die Bäume schimmern sahen.

Auf einmal spürten es alle, daß sie hungrig und durstig waren, und
selten kamen wohl Gäste mit einem solchen Jubelgeschrei in einem
Gasthaus an. Im Garten war Platz in Hülle und Fülle, es saß nämlich
niemand drin, und die Kinder konnten zu ihrer Lust alle Tische
durchprobieren; ein Platz erschien ihnen immer verlockender als der
andere.

Aus dem Hause kam eine blasse Frau; sie trug ein schwarzes Kleid und sah
gar nicht frühlingslustig aus. Still nahm sie die Bestellung entgegen,
und traurig glitten ihre Blicke über die heitere Kinderschar hin. »Es
ist die Wirtin,« sagte Helene Fröhlich halblaut zu ihrem Bruder, »ihr
scheint ein Kind gestorben zu sein damals -- oder beide!«

Die Geschwister schwiegen und dachten an die traurige Frau; die Kinder
hatten gar nicht auf das Gespräch gehört, die tollten lachend durch den
Garten. Nur Jantge saß still am Tisch, und sie dachte auch mitleidig an
die Frau, der wohl ein Kind gestorben war.

Ein Viertelstündchen könnte es dauern, bis der Kaffee fertig sei, hatte
die Wirtin gesagt, und die Kinder meinten, sie wollten unterdes die
Schaukel versuchen und sich den Hof mit den Ställen ansehen. Sie
versprachen brav zu sein, und so durften sie gehen, während die
Geschwister unter der Linde sitzen blieben. Die Kinder liefen hierhin
und dorthin, die einen wollten dies sehen, die andern das. »Komm mit,«
rief Brigittchen Jantge zu, und Wendelin schrie: »Ich zeig' dir den
Ziegenstall!«

Jantge überlegte ein Weilchen, und dann stand sie mit einem Male allein
da. Sie ging zum Garten hinaus, aber statt auf den Hof, kam sie an den
Waldrand, an dem sie einige Schritte entlang ging. Da blieb sie
plötzlich lauschend stehen: »Was mochte das für ein Vogel sein, der so
hübsch pfiff?«

Leise ging sie weiter, da sah sie unter einer großen Buche einen Knaben
sitzen, der auf einer Flöte aus Rohr blies; es klang fein und melodisch
wie Vogelsang. Jantge lauschte andächtig; das war hübsch, der pfeifende
Knabe hier in dem schönen Walde. Wie gut es der hatte. Ihr fiel wieder
ihr Kummer ein, den sie bei dem fröhlichen Wandern fast vergessen hatte.
Sie dachte daran, daß sie bald von Neustadt fort müßte, und geschwind
kamen ihr die Tränlein wieder, die Brigittchens sanftes Zureden und
Anne-Martes Lachen getrocknet hatten.

Erschrocken hielt der Knabe in seinem Blasen inne, wer weinte denn da?
Verwundert sah er auf das kleine, blonde Mädchen mit dem seltsamen,
weißen Häubchen, das wie aus der Erde gewachsen neben ihm stand und
weinte.

»Wer bist du, und warum weinst du denn?« fragte er.

Leise weinend gab Jantge Antwort.

Der Bube hätte das fremde Kind gern getröstet, aber er war ein scheuer,
kleiner Bursch, ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte, und
unwillkürlich nahm er seine Flöte und blies darauf, so schön er es
konnte.

Wirklich versiegten auch Jantges Tränen, sie setzte sich neben den Buben
und lauschte andächtig dem Spiel; lange, lange hätte sie so sitzen
mögen.

Inzwischen hatte aber die Wirtin der »Fröhlichen Einkehr« den Kaffee
gebracht, und Fräulein Helene rief nach den Kindern. Die kamen auch
schnell herbei, nur Jantge fehlte; wo war sie denn? Man rief und suchte;
hell tönten die Kinderstimmen durch die Stille, Frau Vogeler, die
Wirtin, kam auch und half suchen, und sie war es, die Jantge fand.

Die Kleine saß noch immer still neben dem Buben und lauschte dessen
Flötenspiel, sie hatte das Rufen gar nicht gehört. Sie schrak zusammen,
als die ernste Frau im schwarzen Kleid sie bei ihrem Namen rief.

Der Knabe ließ still seine Flöte sinken; traurig fragte er die Kleine:
»Mußt du schon fort?«

Da tönten schon ganz nahe Wendelins und Anne-Martes Stimmen: »Jantge,
Jantge, wo bist du?«

»Hier!« rief Jantge. Sie sprang eilig auf und wollte davonlaufen, aber
dann kehrte sie plötzlich um, eilte auf den fremden Buben zu und
flüsterte errötend: »Ich danke schön!« Und weg war sie.

Frau Vogeler aber ging mit dem Knaben Hand in Hand still dem Hause zu.
Als sie beide durch den Garten schritten, sagte Jantge, die schon im
fröhlichen Kreise unter der Linde saß: »Das ist der Junge, der so schön
gespielt hat!«

»Dann ist wohl das Töchterchen der Frau gestorben,« sagte Fräulein
Helene sinnend. »Arme Mutter!«

»Du mußt den Ziegenbock sehen,« rief Severin, für den das Schönste an
der »Fröhlichen Einkehr« der schwarze Ziegenbock war. Er ärgerte sich
ordentlich, daß die Kleine immer von dem fremden Jungen und seinem
Blasen sprach. Kaum hatte er den letzten Bissen gegessen, da rief er
auch schon wieder: »Komm Jantge, ich zeig' dir den Ziegenbock!«

»Aber bleibt nicht lange,« ermahnte Fräulein Helene.

»Wir wollen auch mit,« riefen die andern, und heidi setzten sich alle in
Bewegung, um das Wunder des Hofes, den Ziegenbock, anzuschauen. Es war
dies freilich leichter vorgenommen als ausgeführt; weder auf dem Hof
noch im Stall war der Ziegenbock zu sehen. Daß solche Tiere mitunter
auch im Garten spazieren gehen, daran dachten die Kinder nicht, und
betrübt kehrten sie wieder um.

Und gerade als Jantge an der Türe des Gemüsegartens vorbeiging, kam Herr
Ziegenbock heraus. Ob er sich über das kleine Mädchen erschrocken hatte,
ob er sich über ihr lustiges Springen ärgerte, wer konnte das wissen,
jedenfalls benahm sich der Ziegenbock so unnütz und abscheulich, daß
Severin ihn seitdem viel weniger bewunderte.

Mit gesenktem Kopf lief er auf Jantge zu, und ehe die Kleine wußte, wie
ihr geschah, flog sie in einem weiten Bogen kopfüber in das Gras.

Wer sich nun erschrak, das war der Ziegenbock. Die Kinder brüllten so
kräftig los, daß der schwarze Unhold entsetzt entfloh; bis in seinen
Stall hinein lief er, dort blieb er mucksstill vor Schreck stehen.

»Jantge ist tot,« jammerte Brigittchen. »Jantge, Jantge, der Ziegenbock,
der Ziegenbock!« gellte es heulend und klagend durcheinander.

Aus dem Garten kamen die Geschwister Fröhlich angerannt, aus dem Hause
die Wirtin, eine Magd und der kleine Junge, und alle riefen sie: »Was
ist geschehen, was ist geschehen? Jantge, was fehlt dir?«

»Gar nichts,« sagte die Kleine auf einmal ganz freundlich und stand auf.
Sie hatte sich nur ein bißchen erschrocken, sonst tat ihr nicht eine
Fingerspitze weh.

»Aber dein Kleid!« rief Anne-Marte.

Das sah nun freilich bös aus; das Röckchen war zerrissen, die weiße
Bluse beschmutzt. »Es ist mein allerbestes,« klagte Jantge, »wenn das
Urgroßmutter sieht!«

»Sei nicht traurig,« tröstete Fräulein Helene, »wir werden schon Rat
schaffen. Schlimm ist nur, daß deine Kleider ganz naß sind; o weh, du
bist ja gerade in eine Pfütze gefallen!«

»Ich kann dem Kind ein Kleid leihen,« sagte da Frau Vogeler leise und
traurig. »Ich hab' genug Sachen von meiner Marie. Komm mit hinein,
Kleine, und weine nicht um deine Sachen.«

Fräulein Helene folgte mit Jantge der Wirtin, die andern blieben draußen
und besprachen voller Eifer und mit viel Geschrei den Fall Ziegenbock
und Jantge.

Drinnen aber, in einem großen, altmodisch eingerichteten Zimmer, das ein
wenig dämmerig war von dem Schatten, den die alten Linden über die
Fenster warfen, öffnete Frau Vogeler eine alte Truhe. Sie nahm ein
blaues Kleid daraus, das mußte Jantge anziehen, und es sah aus, als wäre
es eigens für sie gemacht. So ein wunderfeines Kleid hatte Jantge noch
nie besessen, wie eine Prinzessin kam sie sich darin vor und staunend
beguckte sie sich. Aus den Augen der Wirtin aber rannen Tränen, schwere
Tränen, und Fräulein Helene, die dies sah, flüsterte liebevoll: »Arme
Frau«. Dann sagte sie freundlich: »Geh nun hinaus, Jantge, aber nimm das
Kleid in acht!«

Und wieder sagte Jantge, wie vorher bei dem Spiel des Knaben, ein wenig
verlegen zu der Frau: »Ich danke schön!« Dann ging sie hinaus, und
draußen vor der Türe stand der kleine Flötenspieler und sah sie an und
sagte: »Du siehst wie Marie aus!«

»War Marie deine Schwester?« fragte Jantge.

Der Bube nickte; dann murmelte er: »Ich heiße Karl!«

»Komm mit, Karl,« bat Jantge, und ganz zutraulich ging der Kleine mit
ihr und saß dann unter den andern Kindern, denen Doktor Fröhlich etwas
von der Linde erzählte. Er sagte, daß diese ein uralter heiliger Baum
sei, der einst der Göttin Frigga oder Freia geweiht war. Kaiser Karl der
Große habe einst überall in seinen Landen Linden anpflanzen lassen, und
seitdem sei die Linde eigentlich so recht der Schutz- und Schirmbaum des
deutschen Hauses geworden.

»Erzählen Sie uns eine richtige Lindengeschichte,« baten die Mädels,
doch da kam schon Fräulein Helene mit der Wirtin aus dem Hause, es war
Zeit, den Heimweg anzutreten.

»Komm' bald wieder,« bat Karl, als Jantge von ihm Abschied nahm.

»Ich kann nicht, ich gehe weit fort,« sagte die Kleine. »Aber das
Kleid!« rief sie plötzlich erschrocken.

»Ich hole es mir ab,« sagte Frau Vogeler und strich sanft über Jantges
rosige Wangen. »Ich komme in den nächsten Tagen in die Stadt, dann
bringe ich dir dein Kleid wieder, es soll bis dahin rein und heil sein!«

»Auf Wiederseh'n, auf Wiederseh'n!« riefen die andern Kinder fröhlich,
nur Jantge schwieg, sie wußte, sie kam so bald nicht wieder in die
»Fröhliche Einkehr«.

Und nun ging es heimwärts durch den Wald. Die Sonne malte große, lichte
Tupfen auf den Waldboden, als dächte sie, es wären noch nicht genug
Blumen da. Dabei gab es so viel Maiblumen, daß selbst Wendelin fand, es
sei doch ganz hübsch, einen Blumenstrauß zu pflücken.

Alle suchten mit großem Eifer, nur Jantge ging immer vorsichtig am
Wegrand, damit das geborgte Kleid keinen Schaden nahm.

»Ich krieg' die meisten!« rief Anne-Marte. Sie hatte ihren Hut
abgenommen und sammelte da hinein hurtig wie ein Vögelein, das Körner
pickt.

»Tu dich nur nicht so!« riefen Jörgel und Severin.

»Pfui, seid ihr abscheulich!« rief Anne-Marte entrüstet und drehte sich
um. Es hielt jemand ihren Hut fest, und sie dachte nicht anders, als es
sei dies einer der Buben. Ärgerlich riß sie den Hut fort, und in weitem
Bogen flogen die Maiglöckchen heraus, der Hut aber hing an einem weit
vorstehenden, knorrigen Eichenast.

»Der hat dir die Blumen nicht gegönnt,« neckte Doktor Fröhlich. »Sieh
mal, wie er aussieht, wie ein richtiges, verhutzeltes Waldmännchen!«

»Es ist abscheulich,« murrte Anne-Marte, doch schon kam Brigittchen
herbei und tröstete: »Ich helf' dir jetzt suchen.« »Ich auch!« rief
Jantge.

Und geschwind bekam Anne-Marte wieder einen großen Strauß zusammen. Es
war aber auch Zeit, denn schon lichtete sich der Wald, und im
Abendsonnenschein lagen Wiesen, Felder und dahinter die Stadt vor den
Heimkehrenden. Mit Singen zogen sie alle lustig am alten Wartturm
vorbei. Klaus Hippel schwenkte einen Pantoffel zum Fenster heraus über
das schwebende Blumenbrettlein hinweg und begrüßte die Wanderer.

»Mutter Paulinchen soll Maiblumen haben,« sagten die Mädels, und
geschwind gab jedes etwas von seinem Strauß; Brigittchen trug den Strauß
hinauf, und lachend rief die Pantoffelmacherin den andern ihren Dank aus
dem Fenster zu.

»Wenn Pfingsten schönes Wetter ist, dann gehen wir wieder spazieren, wer
mitkommen will, ist eingeladen,« sagte Doktor Fröhlich beim Abschied.

»Ach, Pfingsten muß ja schönes Wetter sein!« riefen die Mädels und
Buben, und dann liefen sie alle mit Schöndank und Gutenacht nach Hause.
--

Drei Tage später saß Jantge wieder im Sonnenschein unter dem blühenden
Fliederstrauch. Diesmal weinte sie zwar nicht, aber hell und froh wie
Maienwetter war ihr Gesichtchen auch nicht. Sie strickte emsig ein paar
Pulswärmer, dies sollte ihr Abschiedsgeschenk für die Urgroßmutter
werden, denn diese fror trotz aller Maiensonne noch tüchtig. Fräulein
Helene hatte der Kleinen die Wolle geschenkt und die Arbeit angefangen,
und Jantge strickte, als säße die alte Dorothee daneben und strickte mit
ihr Hund und Hase.

In ihrem Eifer merkte Jantge gar nicht, daß jemand auf sie zukam. Erst
als ein dunkler Schatten auf ihre Arbeit fiel, sah sie auf. Vor ihr
standen Frau Vogeler und Karl aus der »Fröhlichen Einkehr«.

Sie hatte gewußt, daß Frau Vogeler kommen würde, aber nun diese vor ihr
stand, war es der Kleinen doch eine große Überraschung, und sie wußte
nichts zu sagen als: »Es ist nichts an das Kleid gekommen!«

Da lächelte Frau Vogeler ein wenig; dabei sah sie so lieb und gütig aus,
daß Jantge jede Scheu vor ihr verlor. »Ich will zu deiner Großmutter,
Kind,« sagte die Frau, »Karl mag unterdessen bei dir bleiben, er hat
sich sehr gefreut, daß er dich besuchen darf.« --

Während die Mutter in das Haus ging, erzählte Karl seiner neuen Freundin
von der Fahrt nach der Stadt, von daheim, und daß er neulich den
schwarzen Ziegenbock ausgescholten hätte.

Sie schwatzten beide miteinander wie die allerbesten, allerältesten
Freunde, und die Zeit lief ihnen dahin, als hätte sie
Siebenmeilenstiefel an.

Inzwischen saß drinnen im Spittelstübchen Frau Vogeler neben der
Urgroßmutter und erzählte der Alten von ihrem Kind, das im Winter
gestorben war. Die kleine, verwaiste Jantge, die draußen unter dem
Fliederbusch mit Karl schwatzte, wußte nicht, daß in dieser Stunde für
sie wie eine Wunderblume ein großes, großes Glück aufblühte. Der alten
Urgroßmutter aber rannen heiße Freudentränen über die Wangen: »Meine
Jantge soll eine Heimat haben, ganz in meiner Nähe, welch' Glück!« sagte
sie.

»Du sollst zu deiner Urgroßmutter kommen, Jantge,« rief Trine Tillmann
in das fröhliche Plaudern der Kinder hinein. »Nä, guck mal, was hast du
denn da for'n Jungen? Der ist ja wohl reinweg vom Himmel runter
gefallen, nä, so was!«

Die Kinder lachten über die Verwunderung der Alten, und lachend kamen
beide in das Zimmer der Urgroßmutter. Da hörte Jantge denn von dem
großen Glück, das ihr widerfahren sollte. In der »Fröhlichen Einkehr«
sollte sie eine Heimat finden. Die Wirtsleute wollten sie zu sich
nehmen, und sie sollte des kleinen Karl Schwester werden. Helene
Fröhlich hatte von Jantges Armut und Verlassenheit gesprochen, als Frau
Vogeler ihr von ihrem toten Töchterchen erzählte. »Das Fräulein Fröhlich
ist eine, die gern alle Menschen froh machen möchte,« sagte die Frau
dankbar, »na, meinst du, Jantge, ob du bei uns auch froh sein wirst?«

Da jubelte Jantge auf, und Karl jubelte mit, es war ihnen beiden, als
ständen sie mitten unterm brennenden Weihnachtsbaum. Die Urgroßmutter
und die Mutter nickten: »So war es gut.«

Ein Viertelstündchen später lief Jantge mit ihrem neuen Bruder zu
Fröhlichs, zu Anne-Marte und Jörgel, zu Brigittchen und den Bäckerbuben,
um Abschied zu nehmen, denn sie sollte gleich mit in die neue Heimat
kommen. »Es ist ja nicht weit,« sagten die Kinder tröstend zu einander,
»wir besuchen dich bald.« »Zu Pfingsten,« rief Severin, dem es gar nicht
gefiel, daß Jantge fort sollte.

»Wenn es nicht regnet,« sagte Martin, der dabei stand.

»Pfingsten regnet's nie,« brummte Wendelin, und recht laut und patzig
schrie er Jantge noch über den ganzen Kirchplatz nach: »Pfingsten auf
Wiedersehen!«

»Wenn's nicht regnet,« sagte Martin und lachte sich eins.

Durch den Wald, durch den sie neulich gewandert war, fuhr Jantge am
Nachmittag der neuen Heimat entgegen. Ihr kleines Herz war voll
Dankbarkeit und Freude, und Frau Vogeler dachte, als sie die strahlenden
Blauaugen sah: »Es ist gut, daß ich das Kind in unser Haus geholt habe!«

Vor der »Fröhlichen Einkehr« stand der Wirt und rief den Ankommenden
einen heiteren Gruß entgegen. Als er Jantge aus dem Wagen hob, schaute
er ihr prüfend in das Gesicht, und dann rief auch er: »Frau, es ist gut,
daß du das Kind geholt hast. Willkommen daheim, mein Mädel, Gott segne
deinen Eingang!«

Der kleinen Jantge war es zu Mute wie einem Vöglein, das sein Nest
verloren hatte, und das eine liebe, weiche Hand sacht wieder in ein
Nestlein legt, eins, in das warm die Sonne hineinscheint. Nach acht
Tagen sagten alle Leute im Hause »unsre Jantge!« Die Kleine selbst
dachte, wie Klaus Hippel von seinem Turm, daß es wohl auf der weiten
Welt keinen schöneren Ort geben könnte als das alte Haus am Waldrand.

Und daß sie es noch heute findet, kann jeder sehen, der Einkehr hält in
der »Fröhlichen Einkehr«.




                  Christoffel will ein König werden.


»Pfingsten regnet es nicht, es regnet nie zu Pfingsten,« sagte Wendelin
jeden Tag, der das liebliche Fest näher brachte.

Aber es regnete doch, und wie!

»Strippen regnet es,« sagten die einen, die anderen sagten
»Betteljungen.« Es floß und goß vom Himmel herab, als säßen oben am
Himmelsrand sämtliche Engelein und schütteten das Wasser mit Mulden aus.
Die Sonne schaute überhaupt nicht heraus, sie schien es vollständig
vergessen zu haben, daß Pfingsten war, gewiß hatte die gute Dame ihren
Taschenkalender verlegt.

Und alle Menschen machten bitterböse und trübselige Gesichter. Da lagen
nun die neuen Sommerhüte, weißen Pfingstkleider und die Staatsanzüge,
und niemand konnte sie anziehen. Und alle schönen Spaziergeh- und
Spazierfahrpläne fielen plumps ins Wasser, weichten darin auf und
konnten nicht mehr benützt werden. Und vor den Toren in den Kaffeegärten
saßen die Wirte und schauten betrübt all die leckeren Festkuchen an,
niemand würde kommen und sie aufessen.

Im Wald ärgerten sich die Bäume und die Blumen fast grün und blau. Der
Regen rann und rauschte, und niemand würde kommen und sie alle in ihrer
Frühlingspracht sehen. Die Vöglein, die sich die allerschönsten
Jubellieder einstudiert hatten, ärgerten sich nicht minder, und alles
schalt und schimpfte: »Der dumme Regen, so ein abscheulicher Regen. Der
konnte doch auch noch drei Tage warten, so eilig war es gar nicht.
Dummer Regen!«

»Es regnet Blasen, also hält der Regen auch noch morgen an,« sagte der
Obergeselle Martin. Er hatte zwar immer zu Wendelin und Severin gesagt:
»Es kann doch zu Pfingsten regnen,« nun es aber regnete, war er genau so
brummig und schlecht gelaunt wie die anderen Leute.

Es war ein Jammer.

In ganz Neustadt wachten am Pfingstmorgen eigentlich nur zwei Menschen
recht vergnügt auf, das waren die Pantoffelmachersleute in ihrem alten
Turm.

»Wie das rauscht, Paulinchen,« sagte Klaus Hippel behaglich, als er
erwachte, »es klingt wie ein Konzert.«

Und als die beiden Alten dann von ihrem Fenster in die graue,
nebelverhüllte Ferne sahen, da sagte der Pantoffelmacher so recht von
Herzen zufrieden: »Paulinchen, sieh nur, wie gut sich so ein Regenwetter
von unserem Turm aus ansieht. Weißt du, das ist ein Wetter zum
Geschichtenerzählen, ich lese dir nachher was von meiner Chronik vor!
Dann haben wir beide einen rechten Festtag!«

Weil Doktor Fröhlich auch ein Dichter war, wie Klaus Hippel, dachte er
auch, Geschichtenerzählen sei gut am verregneten Festtag, und flink fiel
ihm auch eine Geschichte ein.

»Das abscheuliche Regenwetter,« klagten auch die fünf Schatzgräber. Ihre
Gesichter hellten sich aber sehr auf, als pitsch, patsch, durch
Wasserlachen und Pfützen die alte Dorothee über den Kirchplatz ging und
bei Schöns, Doktors und Bäckermeisters klingelte, einen schönen Gruß von
ihrer Herrschaft bestellte, und die ließ die Kinder zu Schokolade, Spiel
und Geschichtenerzählen für den Nachmittag einladen.

Potzhundert, das war noch was!

Hätte der Barometer sich nur einmal Brigittchens strahlende
Veilchenaugen angeschaut, er wäre gewiß gleich auf »Schönes Wetter«
gestiegen. Auf einmal war der Vormittag nicht mehr langweilig, der Regen
störte die Kinder nicht mehr, und bald nach Tisch patschten alle fünf
Schatzgräber seelenvergnügt über den Kirchplatz.

»Wir sind da!« riefen Wendelin und Severin, als Dorothee die Türe
öffnete.

»Na, das merke ich schon,« meinte diese, »geklingelt habt ihr, als wär't
ihr die Feuerwehr! Erst die Füße ordentlich reinemachen, damit es keine
Schmutztapfen gibt!«

Fräulein Helene öffnete die Türe zum Gartenzimmer und hieß ihre Gäste
willkommen. Drinnen im Zimmer standen da und dort große Büschel
blühender Blumen, die ganze lachende Frühlingspracht war in das Zimmer
gekommen, und man merkte es gar nicht, daß draußen schlechtes Wetter
war. Und ein ganzes Dach voll Spatzen hätte nicht so viel Lärm machen
können wie die fünf Gäste, da merkte man nichts von Regenstimmung, von
verdrossener Laune; eitel Sonnenschein war es! Und als die Kinder sich
ein wenig müde und satt gelacht, gespielt, getrunken und gegessen
hatten, da fragten sie wie rechte kleine Nimmersatte: »Kommt nun die
Geschichte?«

Und wirklich, die Geschichte kam; es war eine Geschichte, in der Blumen,
Sonnenschein und ähnliche Dinge vorkamen, wie es sich für eine rechte
Pfingstgeschichte schickt, und Doktor Fröhlich nannte sie:


                 »Christoffel will ein König werden.«

Es war einmal ein Hirtenbube, das ist nun nichts Seltenes, denn
Hirtenbuben gab es, und gibt es genug auf der Welt. Und der Christoffel,
so hieß der Bube, war nicht einmal ein besonderer Hirtenbube, er konnte
weder schön singen noch pfeifen, noch wußte er verborgene Schätze zu
finden, sehr schön war er auch nicht und sehr klug -- na, das war er
halt auch nicht. Trotzdem hielt er sich, wie das mitunter in der Welt
vorkommt, für den allerschönsten, allerklügsten, allerliebenswürdigsten,
allertapfersten Hirtenbuben der Welt.

Manchmal, wenn er auf der grünen Bergwiese saß und weit ins Land
hineinschaute, bis zu dem fernen, klaren Bergsee, dann dachte er: »Ich
heirate sicher noch einmal eine richtige Prinzessin! Eine mit einer
goldenen Krone auf dem Kopfe, potz Wetter, dann werde ich König, na,
dann sollen aber die Leute Augen machen!«

Seine Muhme, Trine-Rosine, der er einmal von seiner künftigen Prinzessin
erzählte, sagte zwar: »Christoffel, bei dir rappelt es, kennst du nicht
das Wort, »Schuster bleib' bei deinen Leisten.« Wenn du groß bist, magst
du Nachbars Marie heiraten, das wäre das Rechte!«

»Pah,« dachte Christoffel, »Mariele ist ein Bauernmädchen, das könnte
mir gerade passen, ich heirate eine Prinzessin, und damit punktum!«

Dem Mariele erzählte er auch von seinen Hoffnungen, und die sanfte
Kleine war ganz traurig darüber, sie hatte den Stoffel lieb und dachte:
»Wenn er eine Prinzessin heiratet, dann geht er in die weite Welt und
will gar nichts mehr von mir wissen!«

An einem Pfingstsonnabend saßen die beiden Kinder wieder zusammen auf
der Bergwiese; gar lieblich lag das Tal im frischen Grün zu ihren Füßen,
und aus der Ferne grüßten die weißen Schneeberge herüber. »Weißt',
Mariele,« sagte Christoffel plötzlich, »ich wandere noch heute in die
weite Welt hinaus!«

Dem Mariele blieb vor Schreck der Mund offen stehen, und ganz entsetzt
starrte die Kleine den Buben an.

»Na, was schaust du mich so an?« brummte der, »ich geh', und damit
punktum. Das paßt mir nicht, Geißen hüten, in die Schule gehen, nä, ich
geh' in die Welt und heirate eine Prinzessin! Mach' nur nicht so ein
Geschrei, ich geh'!«

Das arme Mariele schrie gar nicht, es schaute nur den Buben so traurig
an, daß es diesem ordentlich weh ums Herz wurde. Und wie gut die kleine
Freundin war, das sah er jetzt wieder. Sie gab ihm ihr ganzes Brot mit
zur Wegzehrung und noch einen Batzen dazu, den sie am Morgen erst als
Pfingstgeschenk von ihrer Patin erhalten hatte. Dann nahm sie Abschied
von dem Buben, wünschte ihm alles Glück und bat ihn, sie ja nicht zu
vergessen, wenn er erst seine Prinzessin hätte. So schwer wurde dem
Mariele das Scheiden, daß ihr immer tropf, tropf, tropf, die Tränlein
über die Wangen liefen und in das Bächlein fielen, das vom Berg herunter
kam.

»Na nu, Menschentränen an so einem schönen Tag, was hat denn das zu
bedeuten?« dachte das Bächlein. Flink nahm es die glänzenden Tropfen und
lief mit ihnen bergab, dem Christoffel nach.

Der Bube ging ganz wohlgemut an diesem hellen Morgen in die weite Welt
hinein. Er streckte seine Stupsnase in die Luft, dachte an die
Prinzessin, die er heiraten würde, an das prächtige Schloß, in dem er
dann wohnen würde, darin gab es gewiß auf goldenen Tellern alle Tage --
-- -- pardauz! da purzelte Christoffel über einen Stein, und weil er
gerade ins Rollen kam, rollte und rollte er, bis er im Tal anlangte.
»Das ging schnell,« dachte er, und weil er von der Purzelei Hunger
gekriegt hatte, fing er an zu essen und aß alles auf, was er in seiner
Tasche hatte, sein Brot und Marieles Brot, und er hätte noch mehr
gegessen, wenn er mehr gehabt hätte. Ein Weilchen lag er dann noch,
schaute blinzelnd in die Sonne und dachte: »Wenn ich doch auf einem
Wagen in die weite Welt fahren könnte!«

»Wenn du mir einen Batzen gibst, nehm' ich dich mit,« sagte da auf
einmal dicht neben ihm eine Stimme.

Erschrocken blickte Christoffel auf, er sah ein kleines, verhutzeltes
Männlein auf einem Wagen sitzen, der von einem mageren, schwarzen Pferde
gezogen wurde.

Ohne sich lange zu besinnen, zog der Bube den Batzen heraus, den er von
Mariele erhalten hatte, und gab ihn dem Fuhrmann.

Just in diesem Augenblick lief das Bächlein mit Marieles Tränen an ihm
vorbei und murmelte: »Bist du aber dumm, bist du aber dumm!«

Aber das Bächlein konnte viel murmeln. Christoffel kümmerte sich nicht
darum. Hurtig kletterte er auf den Wagen, und heidi! los ging die Fahrt.
Potz Wetter ja, konnte das magere Pferdchen laufen! Das ging wie der
Sturmwind, und dem Buben verging fast Hören und Sehen. Die Straße
entlang gings, in den Wald hinein, mitten hindurch, da wo gar keine Wege
mehr waren. Dem Buben wurde es himmelangst bei der tollen Fahrt. »Ich
will hinunter, ich will hinunter!« schrie er.

Aber er konnte lange schreien, der Kutscher sah sich gar nicht um, nur
sein schrilles Lachen hörte der Bube.

Immer wilder jagte das Pferd. Hussa! ging es einen steilen Berg hinauf,
die Steine kollerten und rieselten nur so. Der Wagen flog hin und her,
aber das Pferdchen lief wie eine Gemse, und von seinen Hufen sprühten
Funken auf. Rechts und links gähnten tiefe Abgründe, ein Wildbach schoß
brausend ins Tal und schnurr ging der Wagen hindurch, und das Wasser
spritzte hoch auf. Nun ging es einen Abhang hinunter, jenseits wieder
einen Berg hinauf. Es war wirklich eine Fahrt, für die selbst ein Batzen
zu viel war.

»Runter, runter,« jammerte Christoffel, der im Wagen hin und her flog
wie ein Gummiball, mal lag er, mal saß er, mal war er vorn, mal hinten,
mal hielt er die Beine in die Luft, mal die Nase. Das sollte nun ein
Vergnügen sein, und immer ängstlicher wurde sein Schreien: »Runter, ich
will runter!«

Da war es ihm plötzlich, als riefen sanfte Stimmen: »Halt' dich fest,
halt' dich fest!« Tief bogen sich die Äste uralter Tannen über ihn, und
unwillkürlich griff Christoffel in die Zweige, hielt sich fest, und
ritsch! -- fuhr der Wagen unter ihm fort. Mit einem bitterbösen Gesicht
drehte sich das Männlein auf dem Bock herum, hu, hatte der Augen! Der
Bube mußte an das Märchen von dem bösen Berggeist denken, das ihm die
Muhme Trine-Rosine erzählt hatte. Von dem Berggeist, der Kinder entführt
und sie hoch oben auf den Gipfeln, in Abgründen und Schluchten, die nie
eines Menschen Fuß betritt, gefangen hält. Ob das wohl der Berggeist
gewesen war?

Sacht neigten sich die Äste der Tanne, an denen Christoffel sich fest
hielt, zu Boden, und der Bube stand nun mitten im einsamen, wilden
Bergwald. Er kannte keinen Weg, und so ging er denn unverzagt gerade
darauf los. »Irgendwo werde ich schon raus kommen,« dachte er.

Es war sehr schön im Walde an diesem Pfingstsonnabend; Bäume, Büsche und
Blumen, Gras und Kräuter, alles sah taufrisch und frühlingslustig aus,
und die Vögel zwitscherten und sangen laut und leise ihre allerschönsten
Pfingstlieder. Ein Weilchen wanderte der Bube so dahin, immer dichter
wurde der Wald, und mitunter versperrten ihm riesengroße, mit Moos
bewachsene Steine den Weg. Ein Bächlein lief an ihm vorbei, das
murmelte: »Geh links, geh links«, und Christoffel meinte Marieles Stimme
zu hören, er wußte aber nicht, daß es das Bächlein war, das Marieles
Tränen mit sich führte.

Er ging wirklich links, und als er ein Weilchen links gegangen war, kam
er plötzlich auf einer weiten Lichtung an, eine große, blühende Wiese
lag zwischen den blauschwarzen Tannen. Mitten auf der Wiese lag ein
Garten, und in dem Garten stand ein Haus, nein, ein Schloß war es, eins,
das ein goldenes Dach hatte. Viel war sonst von dem Schloß nicht zu
sehen, es war nämlich von unten bis oben mit Pfingstrosen überwachsen,
und weil gerade Pfingsten war, blühten auch die Röslein, rote und weiße.
Selbst über die Fenster hinüber hingen die Rosenranken wie zarte
Schleier.

Zaghaft trat der Bube näher, am Gartenzaun blieb er stehen und schaute
hinein. War das eine blühende, duftende Pracht! Tausende von Blumen
blühten in allen Formen und Farben. Schlichte Wald- und Wiesenblümlein
und stolze, farbenprangende Gartenblumen. Und wie Christoffel so stand
und schaute, tat sich auf einmal die goldene Haustür auf, und heraus
trat ein Mägdlein, ein feines, zierliches Kind, es trug eine Haube aus
braunem Samt, die sah aus wie ein Schmetterlingskopf. Das Mägdlein ging
durch den Blumenwald hindurch, da neigte es sich zu einer großen, bunten
Tulpe herab, dort strich es sanft einem Maiglöckchen über das weiße
Kleid. Vor einigen großen Feuerlilien blieb das Mägdlein stehen, und,
Wunder über Wunder, der Bube hörte ganz deutlich, wie die Feuerlilien
flüsterten, sie schienen dem Kinde etwas zu erzählen.

Christoffel spitzte die Ohren wie eine kleine Maus, er wollte doch auch
hören, was die Blumen zu sagen hatten, und wirklich, er konnte es
verstehen; sie riefen: »Melinde, schau dich um, am Zaun da steht ein
dummer, neugieriger Bube.«

Dumm nannten ihn die Feuerlilien, na, das war doch aber frech!
Christoffel wurde krebsrot vor Zorn, und ärgerlich rief er: »Ich bin
nicht dumm, ich bin sehr gescheit, ich bin ein Hirtenknabe und will eine
Prinzessin heiraten!«

Da fingen plötzlich alle Blumen an zu lachen, die kleinen Wald- und
Wiesenblumen kicherten, bei den Maiglöckchen klang es wie ein feines
Läuten, die Tulpen lachten breit und derb, die Feuerlilien lachten
ordentlich dröhnend, und manche Blüte platzte gleich vor Lachen weit
auf, und die hängenden Herzen bammelten hin und her vor Vergnügen.

»Mögen sie doch lachen,« dachte Christoffel, und ganz keck sagte er zu
dem lieblichen Kinde: »Bist du eine Prinzessin, dann will ich dich
heiraten. Hirtenbuben heiraten doch meist Prinzessinnen, willst du?«

Die Kleine lachte und rief fröhlich: »Gewiß bin ich eine Prinzessin, und
zwar bin ich die Schmetterlingskönigin. Ich wohne bei meiner Muhme, der
Blumenkönigin, komm nur herein und sei unser Gast!«

Just in diesem Augenblick trat aus dem Hause eine wunderschöne Frau; sie
trug ein Kleid, das schimmerte wie die liebe Sonne und war so zart und
fein wie ein Blumenblatt. »Frau Muhme,« rief die kleine
Schmetterlingskönigin, »schaut doch her, hier ist ein Hirtenbube, der
mich heiraten will!«

Da kicherten und lachten wieder alle Blumen, die wunderschöne Frau aber
sagte: »Wenn meine Nichte dich will, dann mag sie dich heiraten, tritt
nur näher und sieh, wie es dir bei uns gefällt, denn, wenn dich Melinde
heiratet, dann mußt du immer hier bleiben und darfst nie das Haus und
den Garten verlassen!«

Christoffel zog ein langes Gesicht, das paßte ihm nun schon nicht recht,
er hatte sich gerade als Allerschönstes bei der Geschichte gedacht, daß
er, wenn er erst ein Prinz oder König sein würde, in seiner goldenen
Kutsche in sein Heimatdorf fahren möchte, damit ihn dort die Leute auch
alle recht bewunderten. Alle sollten sie ihn anstaunen, ihn, den
vornehmen Herrn, die Eltern, die Freunde, Muhme Trine-Rosine und
Mariele, sogar der Herr Schulmeister. »Nun komm doch, tritt näher!« rief
Melinde.

Zögernd betrat Christoffel den Garten, und als er mit seinen dicken
Bergschuhen über den feinen, bunten Kies schritt, der wie lauter
Edelsteine glänzte und schimmerte, da kicherten die Blumen wieder laut
und leise, und eine dicke Feuerlilie rief neckend: »Tritt sacht auf,
Prinzlein, tritt sacht auf!«

Der Bube wurde blutrot und stapfte und stolperte nun erst recht
ungeschickt durch den Garten.

»Du stößt uns ja, au weh, du trittst auf meine Wurzeln!« so riefen die
Blumen ärgerlich. Da nahm Melinde den Buben an der Hand und führte ihn
selbst in das Schloß mit dem goldenen Dach. Wie sie die Türe öffnete, da
wäre der Christoffel beinahe hingeplumpst vor Staunen, denn es glitzerte
und schimmerte so vor seinen Augen, daß er ganz geblendet war. Er sah in
einen wundervollen Saal hinein, dessen Wände und dessen Fußboden ganz
von bläulichem Glas waren, darüber wölbte sich ein Dach, das aussah wie
der dunkelblaue Nachthimmel, an dem unzählige Sternlein erstrahlten. Und
durch die Glaswände hindurch sah man wunderbare Landschaften; da war ein
Wald voll Palmen, an denen sich seltsam geformte Orchideen emporrankten,
man sah das blaue Meer auf- und abwogen, und auf der anderen Seite
wieder sah man unendliche weite Wiesen, dann das Hochgebirge mit seinen
schimmernden Schneebergen.

»Wir können von unserem Schloß aus in alle Länder der Welt schauen,«
sagte Melinde, die des Buben Staunen bemerkte. »Doch komm', jetzt wollen
wir zusammen zu Mittag essen!«

Über all dem Wunderbaren, was es zu sehen gab, hatte Christoffel gar
nicht mehr daran gedacht, daß er nach der tollen Fahrt eigentlich recht
hungrig war. Als die kleine Prinzessin nun aber vom Essen sprach, da
fing sein Mäglein gleich an gewaltig zu knurren. »Heisa,« dachte er,
»das ist recht, daß es etwas zu essen gibt,« und im Geiste sah er schon
allerlei leckere Dinge vor sich, die er zwar noch nie in seinem Leben
gekostet hatte und die er nur aus den Erzählungen von Muhme Trine-Rosine
kannte. Wenn einer essen will, muß er sich aber an einen Tisch setzen,
und wenn dieser Tisch in der Mitte eines riesengroßen Saales steht, muß
man den Saal durchschreiten, um an den Tisch zu gelangen. Das wollte
Christoffel auch ganz gern tun, aber, du lieber Himmel! das war eine
schwierige Sache, auf dem glänzenden Glasboden zu gehen. Er rutschte und
schlitterte und pardauz, lag er nach drei Schritten, so kurz er war, da.
Und mit dem Aufstehen ging es auch nicht so leicht. Kaum dachte er, nun
bin ich hoch, plumps, da lag er wieder, und das lose Prinzeßlein lachte
dazu aus vollem Halse. Überhaupt war es ein Schwirren, Klingen und
Lachen im Saal, daß es Christoffel himmelangst wurde. Als er nach dem
viertenmal Aufstehen sich wieder recht kräftig hingesetzt hatte, da
schaute er sich erst mal ein bißchen um. Nun sah er wunderfeine, kleine
Männlein und Fräulein im Saal herumspazieren, die hatten
veilchenfarbene, dottergelbe, schneeweiße, grasgrüne, himmelblaue und
sonst was für Kleider an, es waren die Blumenelfen, die im Schutz der
Blumenkönigin wohnten. Auch bunte, schillernde Schmetterlinge flogen in
Scharen aus dem Saal hinaus und hinein.

Das war nun wirklich allerliebst, und Christoffel vergaß ein Weilchen
wieder sein knurrendes Mäglein und riß vor Erstaunen Mund und Nase weit
auf.

»Aber, komm doch!« drängte endlich Melinde und reichte dem Buben die
Hand, und an der Hand seiner kleinen Führerin gelangte der endlich
unversehrt an einen goldenen Tisch, der inmitten des Saales stand.
»Setze dich,« zwitscherte die kleine Prinzessin.

Christoffel wollte sich auf ein goldenes Stühlchen setzen, aber das
rutschte davon wie ein Schlitten auf dem Eise, und der Bube saß nun zum
sechstenmale auf dem Boden. Wieder half Melinde, und endlich saß
Christoffel am Tisch und dachte vergnügt: »Nun kann's losgehen, ob es
wohl Hühnerbraten gibt oder -- gar eine Torte?«

Einige Blumenelfen kamen herbei und brachten zierliche, goldene
Schüsseln und ein goldenes Krüglein. »Heute gibt es Rosenmus und
Gänseblümchenwein,« sagte Melinde, »da, lang' nur zu, eine
Veilchenpastete sollst du dann auch noch zu kosten bekommen! Hier, ich
lege dir vor!«

Ganz entsetzt starrte Christoffel auf die winzigen Portionen, die
Melinde ihm vorlegte, und wie das Zeug schmeckte! Lange nicht so gut wie
Muhme Trine-Rosines Pfingstkuchen. Der Gänseblümchenwein schmeckte wie
einfaches Quellwasser, und die Veilchenpastete war nicht größer als ein
Fingerhut.

»Wie du schnell ißt,« sagte Melinde erstaunt, als Christoffel die ganze
Veilchenpastete mit einem Male hinunterschluckte. »Nein, so etwas, du
wirst dir den Magen verderben!«

»Von dem Bißchen,« murmelte Christoffel kleinlaut. Er war nun erst recht
hungrig geworden und verlangend sah er sich um.

»Eia,« rief Melinde da, »wir bekommen noch Erdbeeren, die sollen uns
schmecken!«

Zwei Elfen trugen auf einem großen Blatt zwei Erdbeeren herbei, und das
Prinzeßchen schaute den Buben fragend an: »Kannst du auch eine ganze
Erdbeere vertragen?«

»Bloß eine?« rief Christoffel kläglich, »hundert kann ich essen,« und
schwapp schluckte er beide Erdbeeren hinunter; »ich habe Hunger,« klagte
er. »So ein Vielfraß!« wisperten die Elfen, und auf einmal kamen aus
allen Ecken Elfen und Schmetterlinge herbei, umstanden und umflatterten
den Buben, Melinde aber fing an zu weinen. »Er hat mir meine Erdbeere
weggegessen, nein, wie kann man so viel essen!«

»Er hat einen Mund wie eine Höhle,« wisperte ein Elfchen, das in einem
rosenroten Gewand steckte, und ein Schmetterling setzte sich auf
Christoffels kleine, dicke Stupsnase, um sich genau den großen Mund
anzusehen.

»Haizih, haizih!« nieste der Bube, den dies mächtig kitzelte. Hopsa,
flog da der Schmetterling in einem weiten Bogen von der Nase herunter,
und die Elfen purzelten und kugelten übereinander und schrieen gar
kläglich vor Schreck. Melinde aber verschluckte sich so am
Gänseblümchenwein, daß sie hustete und prustete. Es entstand ein solcher
Wirrwarr, ein solches Geschwirr und Geschrei, daß die Blumenkönigin
eiligst hereinkam, und wehklagend und jammernd stürzten die Elfen auf
sie zu: »Er hat mit seiner Nase geschossen, da, einen Schmetterling hat
er totgeschossen,« klagten alle.

Der arme Christoffel saß ganz verdattert auf seinem goldenen Stühlchen,
er hatte doch nur geniest, war denn das so schlimm? In dem Gesicht der
Blumenkönigin blühte sacht ein holdes Lächeln auf, und mit gar lieben,
sanften Worten beruhigte sie die erregte Schar und schalt auch ein
wenig, daß man nicht freundlich genug gegen den Gast sei. Melindes
Tränen versiegten. Lächelnd nahm sie Christoffels Hand und sagte: »Komm
jetzt zum Abendtanz auf die Wiese, die Sonne wird bald sinken, dann
müssen wir alle schlafen gehen, vorher tanzen wir aber noch alle
miteinander!«

Christoffel ging ein wenig kleinlaut mit Melinde hinaus, und singend,
wispernd, schwirrend folgten ihnen alle Elfen und Schmetterlinge. Im
Garten dufteten die Blumen wundersüß im Glanz der scheidenden Sonne.
»Nun laß uns tanzen,« sagte Melinde auf der Wiese zu Christoffel, sie
faßte ihr Kleidchen zierlich an, ihre weiten Ärmel flogen, und sie sah
aus wie ein großer, schwebender Schmetterling.

Ach! das Tanzen war des Christoffels schwache Seite; er hopste über die
Wiese wie ein junger Ziegenbock, der das Laufen noch nicht gelernt hat.

»Au, au, du trittst mich ja,« jammerte Melinde, »pfui, bist du
ungeschickt mit deinen schweren Stiefeln. Zieh sie doch aus!« Verlegen
gehorchte der Bube, er hatte schöne, blitzeblaue Strümpfe an; daran, daß
sie etliche Löcher hatten, dachte er nicht. In Strümpfen hopste er mit
Melinde über die Wiese, da begannen plötzlich die Elfen zu kichern: »Er
hat in der rechten Hacke ein Loch, hihihi, die große Zehe guckt am
linken Fuß heraus, hihihi!« Christoffel wurde puterrot, Melinde aber
ließ ärgerlich seine Hand los: »Pfui, ich mag nicht mehr mit dir
tanzen,« rief sie schnippisch, »wenn man Löcher in den Strümpfen hat,
tanzt man mit keiner Prinzessin!«

»Kommt alle hinein, die Sonne sinkt,« rief da die Blumenkönigin.

Flugs liefen und flogen sie alle dem Hause zu. Allein, die Stiefeln in
der Hand, folgte Christoffel sehr niedergeschlagen. Als er an dem Haus
mit dem goldenen Dach anlangte, war die Prinzessin schon darin
verschwunden, und am liebsten wäre er wieder umgekehrt, die
Blumenkönigin aber nahm ihn an der Hand und führte ihn in ein kleines
Gemach, in dem ein goldenes Bettchen stand. »Hier magst du heute
schlafen,« sagte sie, »morgen wollen wir dann weiter sehen, wie es dir
bei uns gefällt!«

Sie ging, und Christoffel blieb allein. Ja, wunderfein und zierlich war
das Bettchen schon, aber so klein, wie sollte er da nur hineinkommen? Er
zog sich aber doch aus und kletterte in das Bett. »Es wird schon gehen,«
dachte er; aber das Bett war doch nicht für einen kleinen, dicken
Menschenjungen gemacht; als Christoffel hineinplumpste, da ging es
gleich mit einem großen Krach mitten auseinander, und der Bube lag am
Boden.

»Na, ist auch recht,« dachte er, als er sich vom Schreck etwas erholt
hatte, drehte sich um und schlief ein wie ein Murmeltier zu Winters
Anfang. Er schlief, bis ihm die helle Pfingstsonne auf die Nase schien,
da wachte er auf, und da fühlte er auch gleich, daß ihm etwas
schrecklich weh tat. »Was ist denn das?« dachte er, »mir ist's ja so
schlimm, o je, o je!« Nun begann sein Mäglein furchtbar zu knurren, und
er merkte, daß es der Hunger war, der ihn quälte. Hurtig sprang er aus
dem Bett und zog sich an. Frühstück, das war sein einziger Gedanke. Als
er in den Garten kam, spazierte Melinde schon zwischen den Blumen auf
und ab, sie nickte ihm freundlich zu und rief: »Komm rasch frühstücken!«

»Wo ist das Frühstück?« Wie ein Kreisel drehte sich Christoffel rund um,
hungrig schaute er da und dorthin, aber nirgends erblickte er einen
gedeckten Tisch. Da sah er, wie Melinde den Tau aus den Blumen
schlürfte, und als die kleine Königin das verblüffte Gesicht des Buben
bemerkte, sagte sie: »Komm nur und trinke dich ordentlich satt am Tau,
damit du mir nachher zu Mittag nicht wieder alles vor der Nase weg ißt.«

Tau sollte er trinken, das sollte sein ganzes Frühstück sein! Vor
Entsetzen erhob Christoffel ein so jämmerliches Geschrei, daß alle
Blumen zu zittern begannen und die Blumenkönigin und viele Elfen und
Schmetterlinge herbei kamen: »Was ist dir denn, was fehlt dir?« riefen
sie erschrocken.

»Hunger, Hunger hab' ich,« brüllte der Bube, »huhuhu, ich habe solchen
Hunger, ich sterbe vor Hunger!«

»Holt ihm rasch eine Veilchenpastete,« rief die Blumenkönigin mitleidig,
»oder nein, wir wollen ihn in die Vorratskammer führen, da mag er essen,
was ihm gefällt!«

Melinde, die vor lauter Mitgefühl mit weinte, führte den Buben selbst in
die Vorratskammer, und die Blumenkönigin, alle Elfen und Schmetterlinge
folgten. In der Vorratskammer standen viele goldene Schüsseln und Krüge,
aber alle waren sie so klein, viel zu klein für Christoffels Hunger. Im
Umsehen hatte der zehn Veilchenpasteten hinuntergeschluckt und einen
Topf voll Rosenmus ausgeschleckt, und ehe die anderen recht wußten, wie
und was, hatte er die ganze Vorratskammer leer gegessen. --

Da erhob sich ein großer Tumult unter den Elfen und Schmetterlingen und
zornig riefen sie: »Der soll nicht unser König werden, der ißt uns ja
alles, alles auf!«

Auch Melinde weinte: »Ich will keinen Mann, der so schrecklich viel ißt,
nein, den mag ich nicht!«

»Ich will auch nicht hier bleiben, hier gibts ja nicht mal ordentlichen
Pfingstkuchen, hier wird man ja nie satt,« trotzte der Bube auf.

»Er ist noch nicht satt,« schrieen alle entsetzt und schwirrten,
wisperten, riefen und schalten alle so durcheinander, daß es dem
Christoffel himmelangst wurde, und er rasch ans Ausreißen dachte. Er
lief geschwind zur Türe hinaus, schwapp war er draußen. Er kam aber auf
der anderen Seite des Hauses heraus, und weil er Angst hatte, man könnte
ihn verfolgen, rannte er so schnell er konnte. Darüber sah er nicht ein
tiefes Loch, und pardauz, fiel er in das Loch hinein. Er rutschte und
rutschte immer tiefer, und plötzlich saß er mitten in einer weiten Halle
unter lauter kleinen, seltsamen, braunen, verhutzelten Leutchen. Es
waren Wurzelmännlein und Weiblein, unter die er geraten war; voll
Erstaunen sahen die den Gast an, der so unversehens in ihr Reich
gefallen war.

»Wer bist du denn?« fragte ein kleiner Wurzelmann, der eine Krone aus
Bergkristall auf dem Haupte trug.

»Ich bin der Christoffel, ein Hirtenbube, und möchte eine Königstochter
heiraten und König werden. Muhme Trine-Rosine sagt, so was sei schon
öfters vorgekommen,« stammelte der Kleine.

»Na, das trifft sich mal gut,« rief der Wurzelkönig, »ich suche einen
Mann für meine Tochter Braunella, einen Wurzelmann möchte sie nicht gern
heiraten. Komm einmal her, Braunella, wenn dir der Menschenjunge
gefällt, und er immer bei uns bleiben will, dann kannst du ihn
heiraten!«

Ein kleines Fräulein kam herbei, ganz braun im Gesicht, mit einem grünen
Kleide an; Melinde war freilich viel hübscher gewesen, aber Braunella
sah man es an, daß sie eine Königstochter war, sie hatte eine goldene
Krone auf dem Kopfe. Sie klatschte in die Hände und rief vergnügt: »Ja,
den will ich, der soll mein Mann werden!«

Christoffel sah sich bedenklich um, oben bei der Blumenkönigin war es
viel hübscher gewesen als hier im dämmrigen Wurzelreich, hier roch es so
sumpfig und dumpf. Hier sollte er sein ganzes Leben lang bleiben, das
mochte ihm gar nicht recht gefallen, und was nützte es ihm denn, wenn er
König wurde, und niemand daheim wußte es. Aber die Wurzelleute schienen
es gar nicht anders zu erwarten, als daß er blieb. Der König rief mit
lauter Stimme: »Flugs rüstet ein festliches Mal, es soll unserem Gast zu
Ehren gebratene Regenwürmer geben.«

»Eia, o, wie fein!« riefen die Wurzelleute alle durch einander; ein
kleiner, dicker Wurzelmann schnalzte ordentlich mit der Zunge vor
Vergnügen.

Christoffel aber schrie entsetzt: »Gebratene Regenwürmer, pfui, wie kann
man so etwas essen!« Ganz schlimm wurde es ihm bei dem Gedanken an diese
Speise. Na, hier war er recht aus dem Regen in die Traufe gekommen, da
waren die Veilchenpasteten der Blumenkönigin schon besser gewesen, und
die kleine Wurzelprinzessin gefiel ihm auch gar nicht. Ratlos sah er
sich um, hinein war er gekommen in das Wurzelreich, wie aber sollte er
wieder hinaus kommen? Da hörte er plötzlich neben sich ein sachtes
Murmeln, es klang genau wie Marieles Stimme, es war das Bächlein, das
Marieles Tränen trug, und das ein Stück durchs Wurzelreich floß. »Ich
nehm' dich mit, ich nehm' dich mit,« sang es.

Heisa, da besann sich Christoffel nicht lange, er lief rasch dahin, von
wo das Murmeln erklang, da sah er es schimmern wie flüssiges Silber, und
stärker hörte er das Rauschen. Hopps sprang er in den Bach! »Er reißt
aus, er reißt aus,« schrieen die Wurzelleute wütend. Aber schon hatte
das Bächlein den Buben aufgenommen, der rutschte, glitt, kollerte, es
sauste und brauste ihm um die Ohren, er wurde gepufft und gestoßen, das
Wasser rauschte über ihn hinweg, ganz in der Ferne hörte er das Geschrei
der Wurzelleute, und plötzlich wurde es ganz hell um ihn her. Verdutzt
schaute er sich um, er lag im hellen Sonnenschein am Fuß eines Berges,
und nicht weit davon murmelte ein Bächlein.

»Da liegt der Christoffel,« rief eine helle Stimme, und das Mariele
beugte sich über ihn.

»Christoffel, Christoffel,« rief es von allen Seiten, »wo warst du denn,
wo hast du gesteckt, und wie siehst du aus?«

Männer und Frauen, Buben und Mädels kamen herbeigelaufen und riefen
durcheinander: »Der Christoffel ist wieder da! Wo warst du denn nur
Bube, sag' doch!«

Christoffel richtete sich auf, seine Glieder schmerzten, und ganz naß
war er, nein und wie schmutzig er aussah! Er rieb sich den Kopf, der tat
ihm so weh, daß er kaum aus den Augen sehen konnte. Stotternd begann er
zu erzählen, von dem Berggeist, der Schmetterlingskönigin und dem
Wurzelreich.

Verdutzt hörten die Dorfleute ihm zu, was schwatzte denn der Bube nur?
»Er hat Fieber, er muß ins Bett und Lindenblütentee trinken,« sagte da
jemand; es war Muhme Trine-Rosine. Sie hob den Buben auf und trug ihn
ohne weiteres heim, zog ihn aus und legte ihn ins Bett.

»Ich habe Hunger, ich will Pfingstkuchen,« schrie Christoffel.
»Papperlapapp,« sagte die Muhme, »Lindenblütentee gibt es, und drei Tage
nichts zu essen, das ist das beste Mittel gegen Fieber.«

»Pfingstkuchen!« rief der Bube jämmerlich; da bekam er eine riesengroße
Tasse Tee, und allemal, wenn er den Mund aufmachte und Pfingstkuchen
rief oder etwas erzählen wollte, bekam er wieder Tee. So ging es drei
Tage, dann sagte Muhme Trine-Rosine: »Jetzt kannst du aufstehen!«

Aber der Pfingstkuchen war alle, und was das Schlimmste war, wenn
Christoffel von seinen Erlebnissen erzählen wollte, dann glaubte es ihm
niemand. Und dabei wäre er beinahe zweimal König geworden, es war doch
toll.

Nur Mariele glaubte ihm alles; der erzählte er oft von seinen
Erlebnissen. Er sagte aber, er wolle nun doch daheim bleiben, das
Königwerden hätte er satt. Nur manchmal, wenn er schlechter Laune war,
weil er in der Schule einen Tadel bekommen hatte, dann rief er: »Ich
gehe in die weite Welt und werde ein König.«

»Und trinkst Tau und ißt gebratene Regenwürmer!« sagte Mariele; da war
er dann still.

So blieb er ein Hirtenbube, später wurde er ein Bauer, heiratete das
Mariele und blieb in seinem Dorf bis an sein Lebensende. --

Der Doktor Fröhlich schwieg, und die Kinder saßen ein Weilchen still;
auf einmal sagte Wendelin: »Pfui, gebratene Regenwürmer, die möchte ich
auch nicht.«

»Ich wär' aber doch bei der Blumenkönigin und Melinde geblieben,«
flüsterte Brigittchen versonnen.

»Es hört auf zu regnen, ich glaube, wir bekommen gutes Wetter,« rief
plötzlich die alte Dorothee ins Zimmer hinein.

Da sprangen alle auf und rannten ans Fenster, wirklich es regnete
sachter und der graue Himmel hatte feine, helle Schlitze bekommen.
»Gutwetteraugen« nannte es Fräulein Helene.

»Es wird schön, da können wir morgen Jantge in der >Fröhlichen Einkehr<
besuchen,« riefen die Kinder jubelnd.

Ein Weilchen später patschten sie vergnügt durch die Pfützen heimwärts,
alle fanden sie einmütig, daß es doch ein wundervoller Pfingsttag
gewesen sei, und morgen, morgen würde es sicher schönes Wetter sein.

»Pfui, nä, gebratene Regenwürmer,« sagte Wendelin noch einmal vor dem
Einschlafen.

Brigittchen aber wandelte im Traum durch den Garten der Blumenkönigin,
fein, schön und licht trat ihr die entgegen und fragte: »Was wünscht du
dir, Brigittchen, in meinem Reich hat jeder einen Wunsch frei am
Pfingsttag!«

»Eine Mutter, wie Jantge eine bekommen hat,« flüsterte die Kleine. Da
wachte sie halb auf, jemand hatte sich über sie geneigt und strich ihr
sanft über das Gesichtchen, es war ihr Vater. »Was schwätzt mein kleines
Mädchen im Traum?« fragte er.

»Ich möchte eine Mutter,« murmelte Brigittchen noch einmal, dann schlief
sie weiter und merkte es nicht, daß ihr Vater lange, lange in tiefem
Sinnen an ihrem Bettchen saß. Er dachte an den Pfingstwunsch seines
kleinen Mädchens, und wie er den erfüllen könnte.




                              Mohrchen.
                  Die Geschichte einer Feindschaft.


Im Winter hatte Fritz Brinkmann einen schwarzen Hund gefunden, der
überfahren worden war. Der Knabe war gerade vom Schlittenfahren
heimgekommen, just an dem Tage war es gewesen, an dem Doktor Fröhlich
nach Neustadt kam, und zu den lustigen Schlittenfahrern in der
Marienstraße hatte Fritz auch gehört. Dicht bei dem Hause seines
Großvaters, der in einer stillen Vorstadtstraße wohnte, hatte der Knabe
den Hund gefunden; flehend hatte ihn der mit treuen, klugen Augen
angesehen, und Fritz hatte ihn ohne langes Besinnen auf seinen Schlitten
geladen und heimgefahren.

Die Großeltern -- Fritz war Waise und wurde bei seinem Großvater, dem
alten Geheimrat Brinkmann erzogen -- erlaubten es gern, daß der Knabe
den Hund pflegte, bis sein Besitzer käme. Aber niemand meldete sich, um
Mohrchen -- so wurde der neue Hausgenosse ob seines schwarzen Felles
genannt -- abzuholen. Die Tage gingen und kamen, die Luft wurde milder,
der Schnee verschwand, und immer noch war Mohrchen im Hause. Seine
Wunden waren längst geheilt, und aus dem mageren, ruppigen Tiere war ein
hübscher Hund mit glänzend schwarzem Fell geworden, der lustig seinen
kleinen Herrn überall hin begleitete. Ein Freund war er, so treu, gut
und anhänglich, wie leicht kein besserer zu finden war. Alle
Klassengenossen von Fritz bewunderten Mohrchen rückhaltlos, und vor
seiner Klugheit hatten sie den allergrößten Respekt. Sogar Doktor Halbe,
der Klassenlehrer, sagte einmal, als er Mohrchen zu sehen bekam: »Er
sieht sehr klug aus«. Den Buben war dies soviel, als hätte Mohrchen
einen hohen Orden bekommen, und Fritz kam an diesem Tage mit so
strahlenden Augen heim, daß seine Großmutter dachte, er wäre mindestens
Klassenerster geworden; leider, leider war dies gerade nicht der Fall,
der Fritzel hielt sich mehr in der Klassenmitte auf.

Und mit allen Hausbewohnern war Mohrchen auch bald gut Freund, nur mit
der alten Berta, der Köchin, nicht. -- »Ich kann Hunde kein bißchen
leiden,« sagte diese, wenn Fritz ihr von Mohrchens Tugend und Weisheit
erzählte. »Sind sie weiß, dann mag's noch gehen; aber so ein schwarzes
Tier sieht aus wie ein Schornsteinfeger, und die machen die Küche
schmutzig, und darum kann ich Schornsteinfeger und Hunde nicht leiden,
damit basta!«

Kam das arme Mohrchen wirklich einmal in die Küche, dann schrie Berta,
zornig einen Quirl oder Kochlöffel schwingend: »Raus mit dem
Schornsteinfeger, basta, basta!«

Berta war eigentlich nur so böse auf Mohrchen, weil sie eifersüchtig
war. Fritz war ihr ganz besonderer Liebling, und sie meinte, seit
Mohrchen im Hause wäre, kümmerte er sich nicht mehr soviel wie sonst um
sie. In ihrem Ärger gab sie Schnurrhans, dem Kater, immer die besten
Bissen. Der wurde, weil er gar so gute Pflege hatte, immer dicker und
fauler und ging zuletzt überhaupt nicht mehr auf die Mäusejagd, er saß
wie ein dicker Muff in der Sonne und rührte sich kaum. Je unfreundlicher
aber Berta zu Mohrchen war, je weniger kam Fritz zu ihr; er lief mit
seinem schwarzen Freund im Garten herum; zuletzt mieden sie beide die
Küche und Bertas Nähe.

So war der Frühling ins Land gekommen. An einem schon recht heißen und
schwülen Maitage fuhren die Großeltern über Land, und Fritz blieb mit
Berta und Luise, dem Stubenmädchen, allein im Hause zurück. »Bange dich
nicht, mein Jungchen,« hatte die Großmutter beim Abschied zärtlich
gesagt.

»Ach nein, ich habe ja Mohrchen,« rief Fritz fröhlich.

Berta hörte dies und wütend blickte sie auf den Hund. »Warte nur,«
brummte sie, »heute gibts nur Wassersuppe zu Mittag.«

Mohrchen empfand an diesem heißen Tage rechten Durst, denn nicht wie
sonst stand ein Schüsselchen mit Wasser auf seinem Platze. Da sein
kleiner Herr und Freund noch in der Schule war, rannte der Hund umher
und suchte Luise. Dabei kam er auch in den offenstehenden Keller, in dem
Berta herumhantierte. »Wart', du abscheuliches Tier!« rief diese und
erhob drohend eine Latte. Erschrocken flüchtete Mohrchen und geriet in
seiner Angst in den Kohlenkeller.

»Ei, da magst du bleiben, bis Fritz nach Hause kommt,« rief Berta
höhnisch, und schwapp! schlug sie die Türe zu, die sie fest verschloß;
so war denn Mohrchen nun ein Gefangener.

Als Fritz bald darauf heimkam, galt seine erste Frage dem schwarzen
Freund. Berta brummte einige unverständliche Worte; lügen wollte sie
doch nicht, aber auch nicht eingestehen, daß sie den Hund eingesperrt
hatte. »Iß nur jetzt dein Mittagsbrot; er wird dann schon kommen,« sagte
sie und nahm sich vor, gleich den Hund herauszulassen. Aber da kam eine
Bauersfrau, die Butter brachte, dann die Waschfrau; so verging die Zeit,
und es mochte wohl eine gute Stunde verflossen sein, ehe Berta an Fritz
und an das eingesperrte Mohrchen dachte. Eilig ging sie und öffnete die
Kellertüre; scheu kroch der Hund heraus. Wenn er nicht schon ein
Mohrchen gewesen wäre, so hätte man ihn jetzt eins nennen können. Die
weißen Pfötchen und die hellen Flecken an seinem Schnäuzchen und an
seiner Brust waren durch den Kohlenstaub ganz schwarz geworden. »Pfui,
du Schornsteinfeger, wie siehst du aus!« schalt Berta und dachte gar
nicht daran, wie ungerecht ihre Vorwürfe waren. »Lauf' in den Garten zu
Fritz, basta!« schrie sie barsch, und Mohrchen schlich verschüchtert von
dannen.

Da kam Luise aus dem Garten und sagte: »Ich weiß gar nicht, wo Fritz
hingekommen ist; Jörgel Fabian war da und wollte ihn besuchen; da habe
ich überall gesucht, aber der Junge ist nirgends zu finden. -- Geh',
such' ihn, Mohrchen!« rief sie dem Hunde zu. Der wandte sich um und sah
das Mädchen mit seinen klugen Augen verständig an, dann stieß er ein
kurzes Bellen aus und rannte davon.

»Fritz wird auf seinem Lieblingsplatz im Garten, auf dem großen
Apfelbaum sitzen,« meinte Berta.

»Nein,« entgegnete Luise, »da ist er nicht; ich habe rechte Angst um
ihn, weil ein Gewitter zu kommen scheint.«

Erschrocken sah Berta zum Himmel auf. Der war weißgrau, und hinter dem
steilen Dach der Marienkirche stieg dunkles Gewölk empor.

»Bleib' hier,« rief Berta jetzt ängstlich, »ich werde Fritz suchen,
vielleicht ist er zu Doktor Fabians gegangen.« Aber Fritz war nicht
dort, und wo Berta auch nach ihm fragte, niemand hatte ihn gesehen, nur
die Obstfrau sagte, Fritz sei vor einiger Zeit an ihr vorbeigelaufen,
der Waldstraße zu. Während Berta so herumrannte, den Knaben zu suchen,
war es immer dunkler geworden; eine fahle, bleigraue Dämmerung legte
sich über das Städtchen, und auf einmal erhob sich ein heftiger Wind und
ferner Donner rollte. Angsterfüllt eilte die alte Köchin heim;
vielleicht war Fritz unterdessen zurückgekehrt, aber Luise kam ihr
weinend entgegen und rief: »Er ist immer noch nicht da.«

Es wurde dunkler und dunkler; grell zuckten die Blitze hernieder,
unheimlich rollte der Donner, und breite Regenwasserbäche rannen über
die Straßen.

Berta lief trotz Luisens Bitten, die sich vor dem Unwetter fürchtete,
wieder auf die Straße und suchte Fritz. Der Schneidermeister Langbein,
den sie traf, hatte den Knaben nach dem Walde rennen sehen. »Schicken
Sie ihm Mohrchen nach, Mamsell Berta,« rief er, »der findet ihn schon,
der riecht mehr als hundert Menschennasen zusammen.« Und Berta lief
heim; der Schneider ging zu ihrer Beruhigung mit, aber Mohrchen war
nirgends zu finden.

Die alte Berta war ganz verzweifelt. »Ich bin schuld daran, warum habe
ich den Hund eingesperrt! Ach, guter Gott, hilf mir doch!« jammerte sie.

»Jetzt hört der Regen auf, das Gewitter hat sich bald verzogen; da werde
ich nach dem Walde gehen und den Buben suchen. Weinen Sie nicht mehr,
Mamsell Berta,« tröstete der Meister.

»Mohrchen, dort kommt Mohrchen!« schrie Luise auf einmal freudig.
Triefend und keuchend kam der Hund gelaufen. Die Zunge hing ihm weit
heraus, und sein sonst so glänzendes Fell war mit dickem, grünlichem
Schlamm bedeckt.

»Er ist im Wildmoor gewesen,« riefen der Meister und Luise entsetzt, und
Berta stöhnte: »Im Moor, im Moor!« Da zog und zerrte jemand an ihrem
Kleid, es war Mohrchen. Flehend sah der Hund zu ihr auf, dann rannte er
zu Luise und zerrte auch diese, als wollte er sagen: »Komm mit!«

»Der Hund will uns führen,« rief das Mädchen.

»Er weiß, wo Fritz ist. Ich sag's ja, der hat Verstand wie 'n
Professor,« sagte der Meister und fügte hinzu: »Ich laufe schnell zum
Gärtner Schulz, der soll seinen Wagen anspannen, dann kommen wir
schneller hin.«

Mohrchen zog schon wieder an Bertas Kleid und sah flehend zu ihr empor.

»Ich komme, Mohrchen, ich komme,« schluchzte diese.

Wenige Minuten später hielt auch der Gärtner mit seinem Wägelchen vor
der Tür. Berta und der Meister stiegen ein, Mohrchen raste voran, und
heidi, fort ging die Fahrt, dem nahen Walde zu. Mitten drin im Wald lag
das sogenannte Wildmoor. Es war eine weite, grüne Fläche, auf der im
Sommer allerlei schöne, seltene Blumen blühten, Wasserpflanzen mit
durchsichtigen Stengeln und glänzenden Blättern. Immer herrschte hier
eine tiefe, fast traumhafte Stille, und nur an sehr heißen Sommertagen
schossen schimmernde Libellen und andere Insekten über den grünen Grund.

Die Schönheit des Wildmoors aber war recht trügerisch. Für jemand, der
den Weg nicht genau kannte, war es gefährlich, darüber zu gehen, da er
leicht in eins der tiefen Moorlöcher geriet, die unter der schönen,
grünen Decke verborgen lagen, und aus denen es schwer war, ohne fremde
Hilfe wieder herauszukommen.

Das Gewitter hatte sich völlig verzogen, und die Sonnenstrahlen rannen
schon wieder durch das dichte Blätterdach des Waldes. Da erscholl
Wagenrollen und Hundegebell, und bald darauf eilten Berta und Meister
Langbein an den Rand des Moores. Das lag in stiller Verlassenheit da,
nichts regte sich; so weit auch Berta zu sehen vermochte, sie erblickte
nicht die geringste Spur des vermißten Knaben.

»Fritz, Fritz!« rief sie in namenloser Herzensangst. Doch da zerrte sie
Mohrchen wieder am Kleide, und auf einmal ertönte eine schwache Stimme:
»Berta, hier bin ich!«

Eilig rannte diese dem Hunde nach und unter einer dicken Buche, nahe am
Rande des Moores, fand sie den Knaben. Er kauerte in einer kleinen
Erdhöhle und war über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckt.

Mit einem Jubelschrei stürzte Berta auf den so angstvoll Gesuchten zu.
»Mein Herzensjunge,« rief sie weinend vor Freude und hob den Knaben
empor, »dem lieben Gott sei Dank, daß wir dich gefunden haben.«

Mohrchen sprang und tanzte kreuz und quer und bellte laut vor Freude.
Und plötzlich lag Meister Langbein, er wußte nicht wie, so kurz er war,
auf der Erde; das fröhliche Mohrchen hatte ihn umgerissen. Aber der
Meister schalt nicht, sondern sagte: »Bist ein braver Hund, Mohrchen,
wirklich ein Staatskerl; morgen schenke ich dir 'nen Wurstzipfel; hast
ihn verdient. Magst du lieber Blut- oder Leberwurst?« Merkwürdigerweise
gab Mohrchen auf diese Frage trotz seiner Klugheit keine Antwort.

Berta sagte nichts, aber sie streichelte Mohrchen so sanft, und dieser
leckte ihr zutraulich die Hand, als sei nie Feindschaft zwischen ihnen
gewesen. Fritz wurde rasch in warme Decken gehüllt und in den Wagen
gehoben. Während der Heimfahrt erzählte er seine Erlebnisse. Mohrchen
hatte er suchen wollen und war einem fremden, schwarzen Hund, den er für
Mohrchen hielt, bis zum Walde nachgelaufen. Dort hatte er ihn aus den
Augen verloren und war dann kreuz und quer gerannt, bis er sich zuletzt
müde unter einen Baum gelegt hatte. Er mußte wohl eingeschlafen sein;
ein furchtbarer Donner weckte ihn, und angstvoll war er aufgesprungen
und davon gelaufen. Dabei hatte er den Weg verfehlt und war an das Moor
gekommen. Ohne Ahnung der Gefahr hatte er es betreten, doch schon nach
wenigen Schritten sank er tief ein. In seiner Herzensangst schrie er
laut um Hilfe. Da hörte er plötzlich Hundegebell.

»Mohrchen, Mohrchen!« schrie er, und wirklich -- nach einigen Minuten
kam Mohrchen, der die Spur seines kleinen Herrn gefunden hatte. Schwer
nur war es Fritz gelungen, aus dem Moorloch herauszukommen, aber
Mohrchen hatte unermüdlich gezerrt und gezogen. Freilich, Fritzens Jacke
war dabei ganz und gar zerrissen. Dann hatte das treue Tier den Knaben
fest am Kittel gepackt und ihn sicher vom Moor geleitet. Fritz wußte nur
noch, daß er unter eine Buche gekrochen war; dann hatte er das
Bewußtsein verloren. Das tapfere Mohrchen aber war nach Hause geeilt und
hatte Hilfe geholt.

»Ein Staatskerl, wirklich ein Staatskerl!« rief Meister Langbein und
streichelte den braven Hund.

In Neustadt hatte sich rasch die Kunde von Fritzens Verschwinden
verbreitet, und eine Anzahl Erwachsener und viele, viele Kinder der
Stadt kamen den Heimkehrenden entgegen und begrüßten diese mit lautem
»Hurra!« Am allermeisten aber schrieen Fritzens Klassengenossen, einer
brüllte immer lauter als der andere.

Ein Fremder, der an diesem Tage in Neustadt war, dachte, es wäre Feuer
ausgebrochen oder der Landesherr käme. Er lief auch auf die Straße und
hörte dort immer »Mohrchen« rufen. »Nein,« sagte er lachend, »wie
kleinstädtisch die Leute sind! Wenn ein Neger zu sehen ist, rennen sie
sich beinahe die Füße ab.«

»Da sieht man doch, wie die Leute in der Fremde sehen und hören,« sagte
später Klaus Hippel oft, wenn er die Geschichte erzählte, »mich wunderts
nur, daß die Fremden nicht noch mehr Unsinn von Neustadt zu berichten
wissen!«

Doch an diesem Tage rief auch Klaus Hippel, der gerade auf der Straße
war: »Hurra Mohrchen!« Und so unter Jubelgeschrei wurde Fritz
heimgebracht.

Die Großeltern waren inzwischen zurückgekommen und harrten in Angst und
Sorge ihres Lieblings. Der wurde eiligst von Schlamm und Schmutz befreit
und in sein Bett gebracht. Er bekam heißen Tee zu trinken, trotz der
Sommerwärme. Er schlief auch bald ein, und Mohrchen und Berta wachten in
dieser Nacht zusammen an seinem Lager. Die Alte konnte nicht schlafen
vor Sorge, der Knabe könne krank werden. Sie saß in stillem Gebet an
seinem Bett, neben ihr lag Mohrchen und sah manchmal mit seinen klugen,
treuen Augen zu ihr auf. Dann nickte sie ihm zu und flüsterte leise:
»Mein tapferes Mohrchen, ich will gut machen, was ich an dir verschuldet
habe!«

Fritz schlief wie ein kleines Murmeltier in dieser Nacht, und als er am
nächsten Morgen erwachte, da hatte er strahlende Augen und rosige
Wangen. Sein Frühstück schmeckte ihm wie noch nie, er aß vier Wecken,
und als er beim fünften war, rief er plötzlich: »Aber Mohrchen, wie
siehst du denn aus!«

Das arme Mohrchen! Niemand hatte daran gedacht, ihm den Schlammpelz
abzuwaschen. Der Schmutz war nun festgetrocknet, und eine harte,
schwarze Kruste bedeckte an einzelnen Stellen sein Fell.

»Ich werde ihn gleich in warmem Wasser baden,« sagte Berta eifrig.

»Du, Berta?« rief Fritz verwundert.

»Ja, ich,« murmelte diese, »brauchst nicht so verwundert zu sein, was
notwendig ist, ist notwendig; na und überhaupt, ein Prachtkerl ist das
Mohrchen, damit basta!«

»Hurra!« schrie Fritz und umhalste die alte Berta, daß diese beinahe
selbst in das Waschfaß gefallen wäre. Damit hatte die Feindschaft
zwischen Berta und Mohrchen ein Ende, sie wurde die allerdickste
Freundschaft von der Welt.

Vor dem Waschhaus, im schönen, warmen Sonnenschein, wurde Mohrchen bald
darauf in einer großen Wanne gebadet. Er ließ sich das wohl gefallen,
und sein kleiner Herr stand mit strahlenden Augen daneben und
streichelte mitunter Bertas Arm. »Ich hab' dich wieder genau so lieb,
wie früher, Bertachen,« versicherte Fritz, »nein, noch ein bißchen
lieber, weil du so gut zu Mohrchen bist!« Berta lachte fröhlich;
Mohrchen platschte behaglich im Wasser herum, und so wurde, während der
weiße Seifenschaum allen Schlamm herabschwemmte, die alte Freundschaft
wieder fest geschlossen. Schnurrhans saß blinzelnd auf dem Fensterbrett;
er war nicht ganz zufrieden mit der Sache; er ahnte, daß er fortan nicht
mehr allein alle guten Bissen bekommen würde. Und so geschah es auch;
für Schnurrhans aber war das nur gesund, sonst wäre er zu dick und rund
geworden.




                         O diese Bäckerbuben!


Gerade ehe sich die Pfingstferien noch höflich verabschiedeten, änderte
sich das Wetter, und es gab einen so strahlenden Sonnenschein, daß die
fünf Schatzgräber am Morgen alle als erstes Wort sagten: »Heute gehen
wir!«

So wurde es auch. Am Nachmittag marschierten die Geschwister Fröhlich
mit den fünf Kindern hinaus in die »Fröhliche Einkehr«. Dort wurden sie
von Jantge mit großem Jubel begrüßt, als hätten sie sich alle zusammen
mindestens seit zehn Jahren nicht gesehen. Jantge blühte wie ein
Röslein, sie sah so glücklich aus, daß Fräulein Helene leise zu ihrem
Bruder sagte: »Wie gut für das Kind, daß es eine Heimat gefunden hat!«

Jantge war glücklich in der neuen Heimat, das sah man, da brauchte
niemand zu fragen: »Gefällt es dir hier?« Ihr drittes Wort aber war
Karl. Was Karl tat und sagte, wie Karl wundervoll spielte und wie lieb
er sei, davon erzählte sie unaufhörlich. Und Karl schien nicht minder
entzückt von dem neuen Schwesterlein; Jantge hier und Jantge da, hieß
es. Das ging so hin und her, und die Geschwister Fröhlich hatten ebenso
ihre helle Freude an den einträchtigen Pflegegeschwistern, wie die
Wirtsleute.

Nur einer war damit unzufrieden, einer grollte, Severin. Seiner Meinung
nach hätte sich Jantge viel mehr über seinen Besuch freuen müssen, und
daß sie immer Karl lobte, nur von Karl sprach, ärgerte ihn. »Das ist
dumm,« sagte er zu seinem Bruder, »sie tut, als ob Karl ein Wundertier
wäre!«

»Hm,« brummte Wendelin, der gerade daran dachte, wie lange es wohl noch
dauern würde, bis die Stachelbeeren reif wären.

Karl mußte auch auf seiner Flöte blasen, und alle fanden, es klänge sehr
hübsch. Jantge aber war entzückt, sie strahlte, dreimal fragte sie
Severin: »Spielt er nicht fein?«

Dreimal antwortete Severin nur »hm,« zuletzt lief er wütend fort. Auf
dem Heimweg, während die anderen Kinder lustig schwatzten, war er sehr
brummig, er war wütend, daß seine Freundin Jantge sich so wenig um ihn
gekümmert hatte, und am Abend beim Zubettgehen sagte er zu Wendelin:
»Ich geh nicht mehr mit in die Fröhliche Einkehr!«

Wendelin erwiderte gar nichts, er schlief schon, er lag im Bette und
pustete wie eine kleine Dampfmaschine, und selbst der ärgerliche Puff,
den ihm sein Bruder Severin versetzte, ermunterte ihn nicht mehr. »Ich
lern's auch; was der kann, kann ich auch,« murmelte Severin, und dann
schlief er ebenfalls ein.

Am nächsten Tag hatte Severin ein Geheimnis vor seinem Bruder Wendelin,
vor seiner Mutter, vor Heine, kurz vor allen Leuten im Hause, auch vor
seinen Freunden. Gleich nach dem Mittagessen entschlüpfte er und ging
die Langgasse hinunter bis auf den Markt, dann trat er zagend und
verlegen in das Geschäft des Herrn Friedlein. Dort erhielt man die
wundervollsten Sachen, Porzellantassen und Spazierstöcke, Bilderrahmen
und Hosenträger, Tafelaufsätze und Handschuhe, was man wollte. Wenn
irgend jemand in Neustadt irgend jemand etwas schenken wollte, und er
wußte nicht recht was, dann ging er zu Herrn Friedlein, da fand er
sicher etwas. »Warenhaus« nannte Herr Friedlein sein Geschäft, und er
erzählte es jedem, der es hören wollte, »was Wertheim in Berlin ist, das
bin ich in Neustadt, mehr hat der auch nicht als ich.«

Severins Herz klopfte hörbar, als er den Laden betrat; er sah sich scheu
um, ob ihn auch niemand bemerkte, es war aber kein Mensch auf der Straße
zu sehen. Drinnen im Laden stand eine Frau, die guckte Severin an und
sagte: »Na, wo kommst du denn her?« -- Es war seine Tante.

Severin wurde blutrot, aber Herr Friedlein, der selbst im Laden war,
fragte: »Du willst wohl einen Bleistift?« Es gab nämlich gerade billige
Bleistifte zu verkaufen.

»Na, dann suche dir mal einen aus,« sagte seine Tante, »einen Groschen
schenke ich dir dazu!«

Das war nun sehr nett von der Tante, und Severin kramte auch höchst
vergnügt in dem Bleistiftkasten herum, drei bekam man für einen
Groschen. Es dauerte recht lange, ehe er seine Entscheidung getroffen
hatte, seine Tante bezahlte den Groschen und sagte lachend zu Herrn
Friedlein: »Das wäre wohl etwas langweilig, wenn alle Kunden so viel
Zeit zu ihren Einkäufen brauchten, nicht wahr?«

Herr Friedlein nickte und dann gähnte er, er hätte nämlich gern wie
jeden Tag sein Mittagschläfchen gemacht. In Neustadt pflegte sonst kein
Mensch zwischen ein und drei Uhr etwas einzukaufen, »so was tun nur
Leute in den langweiligen Großstädten,« sagte Herr Friedlein immer.
Ordentlich erschrocken fuhr er zusammen, als Severin auf einmal, als
seine Tante den Laden verlassen hatte, mit lauter Stimme rief: »Ich
möchte eine Flöte!«

»Was?« sagte der Kaufmann verdutzt. »Junge, du bist wohl nicht klug,
eine Flöte hat noch niemand bei mir verlangt. Kann's nicht eine
Mundharmonika sein?«

»Nein,« stotterte Severin, »'s muß eine Flöte sein. Karl hat auch eine!«

Herr Friedlein überlegte. Er ließ nie gern jemand aus seinem Laden
fortgehen, ohne daß er etwas gekauft hatte, und plötzlich fiel ihm ein
was er Severin als Flöte geben könnte. Er holte ein schwarzes Ding
herbei, »das sei etwas Wundervolles, viel, viel besser als eine Flöte,«
erzählte er, »es sei eine Okarina, und wenn ihm Severin zwei Mark geben
würde, dann sollte er das kostbare Instrument bekommen.«

Wenn gerade eine Klappe dagewesen wäre, dann wäre der Bube gewiß in die
Erde gerutscht vor Entsetzen über den unglaublichen Preis. Er blieb ganz
verdattert stehen und starrte den Kaufmann mit offenem Munde an, als
wäre dieser ein Geist. Sehr klug sah Severin gerade nicht aus, und Herr
Friedlein brummte ärgerlich und verständnisvoll. »Schneid' nicht so 'n
Gesicht, dummer Bengel! Wie viel Geld hast du denn?«

Seufzend griff Severin in die Hosentasche und holte ein altes,
abgenutztes Portemonnaie heraus, dreiundachtzig Pfennige, zwei
Stahlfedern, fünf Spielmarken, ein Zinnsoldat, ein Malzbonbon und ein
Stück Kreide, die alles angeschmiert hatte, waren darin. Herr Friedlein
sah seine Okarina an, ein Stückchen war schon davon abgeschlagen und
einen ganz kleinen Sprung hatte sie auch schon. »Na, meinetwegen,« sagte
er gnädig, »da nimm sie für das Geld, du kannst aber froh sein über den
Einkauf, so was passiert nicht alle Tage!«

Schweigend nahm Severin seine Okarina, stumm ging er hinaus, und erst
als er auf der Langgasse war, blieb er stehen. Da hatte er nun all sein
Geld ausgegeben, dreiundachtzig Pfennige, beinahe ein Königreich hätte
er sich dafür kaufen können, so meinte er. Freilich eine -- eine, ja wie
hieß das Ding doch gleich -- hatte Karl nicht. Aber wie das Instrument
hieß, mußte er wissen, für dreiundachtzig Pfennige konnte er dies
verlangen. Er raste zurück, riß die Ladentüre auf, daß die Klingel
förmlich hopste und sprang. Ebenso schnell sprang Herr Friedlein in der
Ladenstube von seinem Sofa auf, er war gerade ein bißchen eingeschlafen
gewesen; er stürzte in den Laden, sicher war jemand da, der sehr viel
kaufen wollte.

»Wie heißt die Pfeife?« schrie ihm Severin entgegen.

»Okarina, du unnützer Bengel,« rief Herr Friedlein zornig, »was fällt
dir ein, so zu klingeln!« Aber Severin war schon wieder draußen, er lief
über den Markt, durch die Langgasse und sagte immer vor sich hin:
»Onetrina, Onetrina!« Na, das war mal ein putziger Name.

»Du vergißt wohl ganz das Grüßen, mein Sohn?« fragte da auf einmal
jemand mahnend, und Severin sah den Herrn Direktor vor sich stehen. Er
riß die Mütze vom Kopfe und stammelte: »Onetrina, Onetrina!« Der Herr
Direktor Weidlich ging kopfschüttelnd weiter und murmelte: »Der Knabe
ist wohl etwas dumm, mir scheint, er hätte Ostern sitzen bleiben sollen!
Ich muß etwas auf ihn achten!« --

An diesem Nachmittag ließ Klaus Hippel plötzlich den Pantoffel, an dem
er gerade nähte, zur Erde fallen; erschrocken lauschte er, dann sagte er
zu seiner Frau Paulinchen: »Nun höre doch nur, da schreit der Kauz gar
wohl am hellen Tage!«

»Das bedeutet gewiß ein Unglück,« jammerte die Pantoffelmacherin. »Ih
wo, das bedeutet gar nichts,« sagte ihr Mann vergnügt, »wenn ich nur
wüßte, wo der Kauz sitzt?«

Das war freilich ein sonderbarer Kauz, der da, etwas versteckt von
allerlei Gebüsch, draußen auf der Wiese vor dem Turm stand und mit
vollen Backen auf seiner Okarina blies. Uhuhuhu -- pfpfpf ging das, es
klang so jämmerlich, daß Klaus Hippel verwundert sagte: »Na, nun weiß
ich nicht, hat der Kauz, der so schreit, Leibschmerzen, oder ist es ein
Hund, der heult, so was habe ich noch nie gehört!«

Wenn Klaus Hippel auch so dachte, Severin dachte eben anders; er ging
sehr befriedigt von seinem Spiel heim. Weil er sehr zum Überfluß, wie er
fand, noch Schularbeiten zu machen hatte, konnte er an diesem Tage nicht
weiter blasen. Am Abend vor dem Schlafengehen vertraute er aber Wendelin
das große Geheimnis an, und der bewunderte denn auch das wunderbare
Instrument gebührend. »Laß mich auch drauf blasen,« bat er, doch davon
wollte Severin nichts wissen, er allein wollte besser spielen als Karl.
Als aber Wendelin gar so beweglich bat und sich erbot, einen Groschen zu
dem Kaufgeld zuzugeben, erlaubte es Severin endlich. Damit nun aber
niemand im Hause die wunderbaren Töne zu hören bekam, kroch Wendelin
unter die Bettdecke. Dumpf und schauerlich kamen die Töne darunter
hervor, Severin lauschte voll Andacht, endlich rief er aus: »Weißt du,
ich krieche mal unter Heines Bett, dann denkt der, es spukt!«

Der Vorsatz war nun nicht gerade lobenswert, aber leider fand er
Wendelins vollen Beifall. Der Bube quiekte vor Vergnügen, hopste im Bett
herum, strampelte und jauchzte und zuletzt schliefen die Brüder sehr
vergnügt ein. --

Am nächsten Tag gab es viel Unruhe im Bäckerhaus. Frau Gutgesell hatte
Kaffeegäste, da gab es genug zu tun und anzuordnen. Die Staatsstube
wurde noch einmal gewischt und gescheuert, obgleich kein Stäubchen darin
lag. Den Buben war das Betreten dieses feierlichen Raumes bei Strafe
verboten, überhaupt waren die zwei an dem Tage immer im Wege. Da sollten
sie nicht sein und das nicht tun, dabei hatten sie gerade noch mehr als
sonst Lust zu allerlei Dummheiten. Ihre Mutter sagte seufzend: »Na, was
werdet ihr heute noch anrichten!« Zuletzt verschwanden aber die Buben,
und als die Gäste kamen, waren sie gar nicht zu sehen. Pünktlich um vier
Uhr erschienen die Damen, und bald darauf saßen alle vergnügt in der
Staatsstube beisammen, lobten Kaffee und Kuchen und erzählten sich dies
und das.

Auf einmal horchte Frau Gutgesell erschrocken auf: was war das, welcher
Lärm entstand draußen?

Da stürzte auch schon Marie, die Magd, mit dem Schreckensruf in das
Zimmer: »Feuer, Feuer!«

Ein wildes Angstgeschrei erhob sich, alle Gäste sprangen auf, eine
Kaffeetasse und der Milchtopf fielen um, Kuchenstücke und Arbeitsbeutel
rollten zu Boden, die Damen rannten hinaus und bald gellte der Angstruf:
»Feuer, Feuer!« bis auf die Straße hinaus.

»Huh!« schrie die Grünwarenhändlerin Lehmann und purzelte mit einem
Korbe unreifer Stachelbeeren auf die Straße. Alles was flinke Beine
hatte, rannte dem Rufe nach, alle Fenster öffneten sich, überall
schauten Leute heraus und einer fragte den andern: »Wo brennt's denn?
Sieht man das Feuer?«

Und plötzlich jagte eine wunderliche Gestalt aus dem Bäckerhause heraus;
Heine war es. Er hatte sich in eine große, rotkarierte Bettdecke
gewickelt, die ihm halb nachschleppte, ein dickes, blaugewürfeltes
Kopfkissen hielt er im Arm, als sei es ein kostbarer Schatz. Und so
rannte der Geselle die Marienstraße entlang und schrie unaufhörlich:
»Feuer, Feuer!«

Bald kamen von überall her die Menschen angerannt, die Feuerwehr kam mit
für Neustadt ganz außergewöhnlicher Eile angerasselt, sie hatte es
nämlich nicht weit.

»Feuer, Feuer!« schrie alles im Bäckerhause; Meister Gutgesell rannte
hierhin und dahin. Ja, Potzwetter, wo brannte es denn?

»In Heines Stube,« rief Martin, und Meister und Altgeselle stürzten
hinauf; Heine hatte seine Stube in der Mansarde.

Doch in der Stube war kein Fünkchen zu sehen, es roch kein Bißchen nach
Rauch, etwas Merkwürdiges aber erblickte der Meister, das waren vier
Beine, die unter dem Bett hervorragten und die gerade, als er das Zimmer
betrat, zappelnd darunter verschwinden wollten. Kurz entschlossen
ergriff der Meister zwei Beine, Martin die anderen, und schwapp kamen
Severin und Wendelin mit feuerroten, verheulten Gesichtern unter dem
Bette vor.

»Dumme Bengels, seid doch nicht so furchtsam, das ganze Haus brennt doch
noch nicht, wißt ihr denn, wo's brennt?«

»Hup, hup, hup,« schluchzte Severin, »e--s brennt ja gar nicht!«

»Heine,« heulte Wendelin, »dachte, weil -- weil -- wir doch bloß Spaß
gemacht haben!«

»Feuer, Feuer,« schrie es draußen, und der dicke Brandmeister Schulze
keuchte die Treppe im Bäckerhause empor: »Ja, wo brennt's denn, ich sehe
ja nichts und ich rieche nichts. Herr Meister, Herr Meister, sagen Sie
mir doch, wo es brennt?«

»Hier,« brummte der Meister und -- klatsch bekam Wendelin einen
Katzenkopf rechts, und Severin einen links. Dann nahm der Meister seine
Buben beim Kragen und zog sie die Treppe mit hinunter. »Es brennt gar
nicht, es brennt gar nicht,« schrie er so laut, daß es dröhnend das Haus
durchhallte.

Der dicke Brandmeister kugelte vor Eilfertigkeit fast die Treppe
hinunter. »Nicht spritzen, nicht spritzen,« rief er seinen Leuten zu,
und das war gut, denn diese standen schon bereit und hätten beinahe
einen Wasserstrahl in das offenstehende Fenster der Staatsstube gesandt.

»Es brennt gar nicht,« rief draußen einer dem andern zu. »Die Buben
haben eine Dummheit gemacht,« rief ein Lehrjunge, und gleich flog das
Wort weiter. Frau Lehmann, die noch immer inmitten ihrer verschütteten
Stachelbeeren saß, stand auf und rief entrüstet: »Was, es brennt nicht
einmal, da habe ich mich umsonst erschrocken, na, ich sag's ja, heillose
Buben sind's, die beiden!«

»Da kommt Heine, nä, seht doch wie der Heine aussieht!« riefen einige
Stimmen lachend. Heine rannte ganz verwirrt in das Bäckerhaus zurück,
und als die Damen, die alle mit dem Meister, Altgesellen und
Brandmeister um die heulenden Buben herumstanden, den Gesellen in seinem
wunderlichen Aufzuge erblickten, lachten und schrieen sie: »Himmel, wie
sieht der Mensch aus!«

»Zieh dich rasch an und dann komm und erzähle, was geschehen ist!« rief
der Meister dem Gesellen zu.

Aber der war so verdattert, daß er nur immer rief: »Ich hab's doch Feuer
blasen hören, ganz gewiß, ganz gewiß!«

»Habt ihr geblasen?« fragte der Meister seine Buben.

»Ja,« jammerten beide, »bloß -- 'n bißchen.«

»Wo?« fragte der Vater weiter und sah die beiden Schlingel strafend an.

»Unter -- unter Heines Bett,« kam ängstlich die Antwort.

»Ach so, und der gute Heine hat geschlafen und ist von eurem Geblase
aufgewacht und hat gedacht es brennt,« sagte der Meister
verständnisvoll.

»Pfui, ihr abscheulichen Jungens,« schrie Heine und stürzte mit seiner
Bettdecke und seinem Kopfkissen davon; er fing plötzlich an, sich
mächtig zu schämen, da er nun erst recht zur Besinnung kam.

»Das ist meiner Seele eine höchst kuriose Geschichte, ich glaube, die
kommt in den Anzeiger!« sagte der dicke Brandmeister. »Übrigens muß Herr
Heine gewiß noch Strafe für unbefugtes Alarmieren der Feuerwehr zahlen!
Empfehle mich den Herrschaften.« Herr Schulze ging davon, bald rasselte
die Feuerwehr durch die Marienstraße, oben in seinem Zimmer kroch Heine
wütend in sein Bett, die Damen kehrten an ihren Kaffeetisch zurück --
und die Buben?

Ach, die Buben! Schläge gab es freilich nicht, aber viel Kummer kam über
beide. Severin spielte nicht mehr auf seiner Okarina, denn die
verschwand für einige Zeit in des Vaters Schrank. Und der Bube dachte
manchmal seufzend: »Hätte ich meine dreiundachtzig Pfennige noch, dann
könnte ich mir dies oder jenes kaufen!« Drei Tage Katzentisch gab es
auch, und am Katzentisch gibt es bekanntlich keine Leckerbissen. Das
allerschlimmste aber war, die Geschichte kam wirklich in den Neustädter
Anzeiger für Stadt und Umgebung.

Wendelin und Severin wären am liebsten vor lauter Schämen im Bett
geblieben, so wenig sie auch sonst für Kranksein schwärmten. Auch in ein
Mauseloch wären sie himmelgern gekrochen, nur gerade in die Schule zu
gehen, dazu hatten sie recht wenig Lust. Aber sie mußten hinein, mußten
alle Fragen und alle Neckereien aushalten, es zeigte sich hierbei
wieder, daß gute Freunde schon etwas wert sind. Jörgel stand tapfer zu
den beiden, auch Fritz Brinkmann hielt zu ihnen, und ebenso Brigittchen
und Anne-Marte. Das sanfte Brigittchen wurde ganz kampfbereit, wenn
jemand etwas gegen die beiden Freunde sagte.

Freilich sprach ganz Neustadt von den Bäckerbuben und von Heine mit dem
Bettuch und dem Kopfkissen. Es ist nun aber eine alte Geschichte, daß
gemeinsames Leid verbündet, und Heine, der erst fuchswild über den
Streich gewesen war, den die beiden ihm gespielt hatten, fand nun, es
sei gar nicht so schlimm gewesen wie die Leute die Geschichte machten.
Aus lauter Ärger darüber söhnte er sich mit den Buben aus; es wurde
wieder eine ganz dicke Freundschaft. Als die Grünwarenhändlerin Lehmann
einmal sagte: »Sie haben mir recht leid getan, Herr Heine, die Bengels
drüben sind auch recht schlimm,« da brummte er: »Sie haben eben immer
was an den Buben zu tadeln, Madame Lehmann, es soll jeder vor seiner
eigenen Türe kehren, die Buben sind besser als Ihre alten Holzäpfel, die
sie mir vor etlichen Wochen verkauft haben!«

Klaus Hippel aber sagte, es sei der beste Spaß seit langer Zeit gewesen,
und weil der Pantoffelmacher lachte, lachten die Buben zuletzt auch. Da
hörten bald die Neckereien auf, das ist mal so, wer mitlacht fährt am
besten. Am heitersten aber lachte Jantge über die Geschichte, denn
Severin ging das nächste Mal doch mit in die Fröhliche Einkehr, dort
söhnte er sich mit Jantge und Karl aus und gab es auf, eifersüchtig zu
sein.

Es kommt ja doch nichts dabei heraus.




                Die Schatzgräber finden einen Schatz.


Sommerreisen sind in Neustadt nicht eine so allgemeine Modesache, wie in
den großen Städten. Die Erwachsenen fahren wohl hierhin und dahin, aber
die Familien, in denen Kinder sind, die bleiben gern daheim. Die meisten
Häuser haben Gärten, und wer selbst keinen Garten hat, der geht in
Nachbars Garten spielen; draußen im Freien, in dem schönen Wald, ist man
auch schnell genug. Ja, Neustadt ist so hübsch, daß regelmäßig zwei alte
Prinzessinnen das sonst unbewohnte Schloß im Sommer beziehen. Sie kommen
jedes Jahr bald nach Pfingsten, manchmal auch vor dem Fest, und sie
bleiben, bis in dem alten Schloßgarten die Bäume ihre goldroten Kleider
angezogen haben.

Wenn die Prinzessinnen Emma und Marie, zwei freundliche, alte Damen,
Einzug halten, dann steht das ganze Städtchen beinahe auf dem Kopf,
namentlich die Kinder laufen sich die Beine ab, um die Prinzessinnen zu
sehen, und drei Tage lang fragen sich die Leute untereinander: »Hast du
sie schon gesehen?« Nachher ist es eine gewohnte Sache, nur die Kinder,
die rennen jedesmal, wenn der fürstliche Wagen zu sehen ist, hinterher,
schreien hurra und guten Tag; dies gehört in Neustadt zum besonderen
Kindervergnügen.

Etliche Tage nach dem blinden Feuerlärm hielten denn auch die
Prinzessinnen wieder ihren Einzug in Neustadt, und Severin und Wendelin
rannten trotz ihres Kummers auch an den Schloßberg, um die Einfahrt mit
anzusehen. Sie schrieen hurra, so laut sie konnten; sie standen mit
Brigittchen, Anne-Marte und Jörgel zusammen und sagten auch, wie Klaus
Hippel immer sagte, wenn die Prinzessinnen da waren: »So, nun ist es
richtiger Sommer!«

Die beiden alten Damen nickten den Kindern freundlich zu, und Prinzessin
Emma sagte zu Prinzessin Marie: »Glaubst du, daß Kinder wo anders so
laut schreien können wie in Neustadt?«

»Nein,« erwiderte Prinzessin Marie lachend, »ich glaube es nicht, aber
hübsch ist doch unser Neustadt, ich bin doch recht froh, daß ich wieder
da bin!«

Ja, hübsch war es in Neustadt, in den sonnenhellen Sommertagen ebenso
wie in den heimlichen, traulichen Wintertagen. Die fünf Schatzgräber
fanden es in diesem Jahre besonders hübsch; es gab so viele lustige
Waldspaziergänge, zu denen die Geschwister Fröhlich die Kinder
mitnahmen, und bei denen es allemal sehr vergnügt zuging. Nur einen
Fehler hatten diese Tage, sie gingen immer mit der allergrößten Eile zu
Ende. Die Sonne purzelte dann nur so in ihr Wolkenbett, wutsch, war sie
drin, zog sich ein dickes Wolkenkissen über die Nase, und die Kinder
hatten das Nachsehen.

Immer weiter schritt der Sommer vor. Der Flieder verblühte, der Jasmin
duftete, und die Rosen entfalteten sich. Die Erdbeeren reiften, dann
auch das Strauchobst, und eines Tages hatte Frau Lehmann die ersten im
Lande gereiften Kirschen. Klaus Hippels Blumenbrettlein brach fast unter
seiner blühenden Fülle, und von ihren Spaziergängen kamen die Neustädter
Kinder jetzt mit Kornblumensträußen beladen heim.

Und auf einmal waren die Sommerferien da. Sie wurden mit noch mehr Jubel
begrüßt als die Prinzessinnen, und durch Neustadts Straßen und Gäßlein
brauste an dem ersten Ferientage der Kinderjubel wie ein Strom.

Die fünf Schatzgräber saßen auch an diesem ersten Ferientage auf der
Stadtmauer und schmiedeten Ferienpläne -- von Schularbeiten stand aber
leider nicht viel darin. Wie die fünf Freunde so saßen und schwatzten,
kamen auf einmal, von einer Hofdame und einem Kammerherrn gefolgt, die
beiden Prinzessinnen durch das Stadtwäldchen daher. Die Kinder
erschraken, sie wären am liebsten schleunigst entflohen, daran war aber
nicht mehr zu denken. Wendelin zog zwar eiligst seine Beine hinauf,
dabei löste sich einer seiner Turnschuhe, die er trug, und plumps fiel
der Schuh gerade vor Prinzessin Emma nieder. Prinzessin Marie sah zu der
Mauer empor, und plumps, da fiel der zweite Schuh gerade vor ihrer Nase
auf den Weg.

»Wie unschicklich,« sagte das Hoffräulein entrüstet und warf einen
strafenden Blick auf Wendelins braunbestrumpfte Füße, am linken guckte
die große Zehe ganz lustig aus dem Strumpf heraus.

Die Prinzessinnen lächelten nachsichtig. Ja, sie blieben sogar stehen
und fragten die fünf Mauerschwalben gar freundlich nach ihren Namen. Das
war ein Ereignis! Die Kinder machten zwar kaum den Mund auf; nachher
taten sie sich aber unendlich wichtig, und selbst Heine sagte: »Das
hätte in der Zeitung stehen sollen, nicht die dumme Feuergeschichte!«

Und was Heine sagte, das war wahr.

Die Prinzessinnen gingen auch, wie jedes Jahr, in den alten Stadtturm,
um sich die Aussicht und das Museum anzusehen, und Klaus Hippel und
seine Frau Paulinchen waren wie jedes Mal sehr stolz über den Besuch.
Sonst hatten die Pantoffelmachersleute aber wenig Freude in diesen
warmen Sommertagen. Frau Paulinchen hatte einen schlimmen Fuß bekommen,
und dann lastete noch schwer ein anderer Kummer auf den alten Leuten.
Bald nach Pfingsten hatte der Schwiegersohn, Friedrich Lange, zufällig
gehört, wie zwei seiner jetzigen Arbeitsgenossen von ihm sprachen; der
eine sagte: »Ich glaube es doch, daß er ein Dieb ist und damals im
Herbst das Geld genommen hat. Sicher ist die ganze Geschichte nur
erlogen!« Darauf sagte der zweite: »Man muß sich vor ihm in Acht
nehmen!« Der brave Friedrich Lange hatte gemeint, daß der Verdacht, der
auf ihm ruhte, längst vergessen wäre, und das Wort Dieb traf ihn so
schwer, daß er seitdem wie verstört herumging. Seine Frau, seine
Schwiegereltern und seine Freunde, alle suchten ihn zu trösten, aber
vergeblich; der arme Mann wurde ganz tiefsinnig. Wenn einer ihn nur
ansah, dann dachte er schon: »Er sieht in dir einen Dieb.«

Es war ein Jammer; Frau und Kinder und die alten Eltern litten mit ihm,
und alle vermochten sie doch trotz ihrer innigen Liebe nicht zu helfen.
Viele Klagen hörte zwar niemand von den Pantoffelmachersleuten, aber die
alte Lustigkeit war wieder aus dem Turm entflohen.

So vergingen die Tage des Sommers in Heiterkeit für die Kinder, in
Sorgen für die Pantoffelmachersleute, und plötzlich hieß es: »In acht
Tagen fängt die Schule wieder an!«

Es war ein trüber, grauer Tag, an dem die fünf Schatzgräber den
Entschluß faßten, endlich einmal die Ferienarbeiten richtig in Angriff
zu nehmen. »Es wird auch Zeit,« sagte Frau Doktor Fabian, »ihr tut ja,
als wären die Bücher überhaupt nicht mehr auf der Welt.«

Trotz aller guten Vorsätze -- Anne-Marte hatte sich sogar Watte in die
Ohren gestopft, um nichts zu hören, was sie ablenken könnte -- wurde an
diesem Tage aus der Arbeit nicht viel. Es war so schwül, kein Lüftchen
wehte, selbst die Erwachsenen seufzten bei ihrer Arbeit. Die Bäume
standen so still in der grauen Luft, als wären sie aus Stein; unruhig
huschten die Schwalben über den Kirchplatz; sie flogen so tief, daß das
Gras, das hier und da zwischen den Steinen wuchs, von ihrer Berührung
zitterte. »Es wird ein Gewitter geben,« sagten alle Leute und schauten
nach dem Himmel empor. Wie eine graue Decke hing der über der Erde, von
der Sonne sah man nur einen blassen, hellen Schein.

Gegen zwei Uhr wurde es ganz dunkel. Klaus Hippel sah von seinem
Turmfenster aus dicke, schwere Wolken am Himmel emporsteigen, wie dunkle
Berge türmten sie sich auf, und oben hatten sie einen breiten,
schwefelgelben Rand. Es dauerte auch nicht lange, da sauste der Sturm
durch die Straßen, das Gewitter brach los. Blitze zuckten; der Donner
rollte dumpf und dröhnend, und plötzlich war es, als platzte der Himmel,
solche Regenmassen prasselten hernieder, und immer lauter heulte der
Sturm. Der alte Wachtturm schwankte ordentlich bei diesem Tosen des
Wetters, und die Pantoffelmachersleute schauten sich zagend an: »So ein
Wetter haben wir lange nicht gehabt,« murmelte Klaus Hippel. Und wie er,
so sagten auch die anderen Neustädter. Angstvoll blickte jeder hinaus,
und Schrecken ergriff alle, als die Feuerwehr klingelnd durch die
Straßen fuhr; es hatte aber nur in einen Schornstein eingeschlagen. Dann
krachte wieder so ein heftiger Donnerschlag, daß alle Fenster zitterten,
und auf dem Kirchplatz lag eine Linde zerschmettert am Boden. Der Sturm
riß Ziegel von den Dächern, und die Bäume neigten sich tief vor seiner
Macht. Bis in die Nacht hinein dauerte das Unwetter, dann ließ es nach,
und am nächsten Morgen strahlte die Sonne hell über Neustadt. Alles
blinkte und blitzte wie frischgewaschen, und der Himmel hatte kein
Fleckchen an seinem blauen Kleid. In dem hellen Sonnenschein aber sah
man recht, wie arg das Unwetter gehaust hatte; in den Gärten waren die
Beete zerwühlt, und der kleine Mühlbach am südlichen Stadtende gebärdete
sich wie ein wildgewordener Strom, so dick geschwollen vom Regenwasser
brauste er einher.

Im Stadtwald, auf den Promenaden lagen entwurzelte Bäumchen und Haufen
niedergebrochener Äste.

»Da könnte man gut Reisig sammeln, meine Holzkammer ist ohnehin leer,«
sagte Frau Paulinchen betrübt, als Brigittchen, Anne-Marte, Jörgel und
die beiden Bäckerbuben ihr am Nachmittag erzählten, wie es draußen
aussah. Die Kinder waren gekommen, um zu fragen, ob der Turm bei dem
Sturm geschwankt hätte; Jörgel hatte nämlich gesagt, dies könnte wohl
sein.

»Natürlich hat er geschwankt, wie ein Baum, hin und her!« sagte Klaus
Hippel, der fast beleidigt war, daß seinem Turm so wenig zugetraut
wurde.

Die Kinder bedauerten einstimmig, daß sie nicht dabei gewesen wären,
aber Mutter Paulinchen sagte, es wäre sehr unheimlich gewesen. Dann
seufzte sie wieder: »Ach könnte ich doch heute ordentlich Reisig suchen
gehen, aber mein Fuß ist zu schlimm!«

»Und ich muß die Pantoffeln hier heute noch liefern,« brummte Klaus
Hippel. »Schade, heute ist gerade Freiholztag!«

»Wir wollen Reisig suchen,« rief Anne-Marte vergnügt. »Ja,« stimmten
Jörgel, Brigittchen und Severin freudig ein, nur Wendelin war von dem
Plan nicht sehr entzückt.

»Na, du mit deinem weißen Kleid, Brigittchen, da möchte deine Tante
schön schelten!« meinte Mutter Paulinchen bedenklich. »Ach, ich laufe
fix zu Frida Müller, die borgt mir eine Schürze,« sagte Brigittchen,
»dann holen wir Holz, deinen ganzen Stall voll.«

Schwupps, war die Kleine auch schon zur Türe hinaus, und Anne-Marte
folgte ihr. Frida Müller war die Tochter einer Waschfrau, sie war in
gleichem Alter mit Brigittchen und Anne-Marte. Ihre Mutter wusch bei
Fabians und bei Schöns, und Frida holte sie manchmal ab und spielte dann
mit den Freundinnen, die Frida beide sehr nett fanden. Die Waschfrau
Müller wohnte in der Turmgasse, die dicht am alten Stadtturm lag, es war
also kein weiter Weg, den die Mädels zurückzulegen hatten. Und Frida war
daheim und sehr bereit, zu helfen. Sie holte rasch einen blauen Rock und
eine Schürze herbei, ja ein Kopftuch holte sie auch, weil Brigittchen
ihren weißen Staatshut aufhatte, und statt der feinen, braunen Schuhchen
zog diese ein Paar von Fridas Alltagsschuhen an.

Bald war die Kleine in ein richtiges Holzmädel umgewandelt, auch
Anne-Marte bekam eine blaue Schürze und ein Kopftuch, und Frida Müller
sagte noch: »Es kann alles schmutzig werden, es geht zu waschen.«
Kichernd vor Vergnügen kamen nach einem Weilchen beide in den Turm
zurück.

»Potzhundert, ihr seht aber schmuck aus!« rief Meister Hippel lachend,
»nun bin ich nur neugierig, wie viel Reisig ihr anbringen werdet!«

»Schrecklich viel,« riefen alle fünf, dann eilten sie hinaus, dem
Stadtwald zu. Sie fanden, es sei ein wundervolles Vergnügen, Reisig zu
suchen. Namentlich da so viele Äste am Boden lagen, da brauchte man nur
zuzugreifen.

Ein bißchen naß war es zwar von dem gestrigen Regen, aber das störte die
Kinder weiter nicht, sie suchten mit brennendem Eifer, und bald war der
kleine Handwagen, den die Pantoffelmacherin ihnen mitgegeben hatte,
hochbeladen. »Nun nehmen wir jeder noch ein kleines Bund auf den
Rücken,« schlug Jörgel vor, »na, dann soll Meister Hippel uns aber nicht
auslachen!«

Wendelin brummte ein wenig, er war nicht sehr dafür eingenommen, daß er
sich so oft bücken mußte, aber weil Brigittchen so voll Eifer war, tat
er auch mit.

»Ich bin Pferd,« rief Anne-Marte, als alle Bündel fertig waren.

»Ich auch,« schrie Severin.

»Und wir sind Vorreiter,« rief Jörgel und faßte Brigittchens Hand, und
lustig ging die Fahrt los.

»Wendelin muß schieben. Aber ordentlich, nicht bloß so tun,« gebot
Anne-Marte.

Ein bißchen seufzend gehorchte Wendelin, er wäre lieber Kutscher gewesen
und hätte sich ziehen lassen.

Das war eine lustige Fahrt durch den Wald mit dem beladenen Wagen. Die
beiden Pferde rasten in wilder Eile vorwärts, aber die Vorreiter waren
noch geschwinder. Am Rande des Wäldchens, da wo die Stadtmauer anfängt,
stolperte Brigittchen plötzlich an einem kleinen Abhang, und trotz
Jörgels freundlicher Mahnung, nicht zu fallen, lag sie plötzlich platt
am Boden in dem feuchten Moos. Ihr erster Gedanke war: »Gut, daß ich
mein weißes Kleid nicht anhabe.« Dann aber sah sie auf einmal etwas
Merkwürdiges vor sich im Moos liegen, und sie blieb einfach liegen, um
sich das Ding genauer anzusehen.

»Steh doch nur auf,« mahnte Jörgel, »hast du dich geschlagen?«

»Nein,« erwiderte Brigittchen sehr vergnügt und krabbelte empor, »sieh
mal, ich hab' hier was gefunden.«

Sie erhob sich und reichte Jörgel ein schwarzes, nasses Ding hin, das
der verwundert von allen Seiten betrachtete. »Es ist so schmutzig,«
sagte er verächtlich.

»Aber so schwer,« meinte Brigittchen, »es ist ein Paket, wer weiß was
drin ist.«

»Na, Kuchen sicher nicht!« rief Jörgel neckend.

»Ein Schatz vielleicht,« sagte Brigittchen, »ich nehme das Paket Vater
Klaus mit!«

»Vorsicht, aus dem Wege!« riefen jetzt Anne-Marte und Severin; sie
fuhren mit ihrem Wagen den Abhang hinunter. Wendelin schien zu denken,
es ginge bergauf, er schob mit aller Macht und pardauz überschlug sich
der Wagen am Abhang. Die Reisigbündel flogen hierhin und dahin,
Wendelin, durch den jähen Anprall erschreckt, schoß in einem weiten
Purzelbaum über alles hinweg, und eine Weile kollerten Kinder, Wagen und
Reisigbündel durcheinander. Dem armen Wagen knackten alle Knochen im
Leibe, den Kindern hatte das Durcheinander aber weiter nichts geschadet,
sie fanden es vielmehr höchst lächerlich. Wer nicht gefallen war, setzte
sich ins Moos, um sich ordentlich auszulachen. Heil, unzerbrochen, nur
ein wenig schmutzig, standen sie endlich auf.

»Mein schwarzes Ding,« rief Brigittchen, die noch am Boden saß, und sah
sich suchend um.

Es war weg, und Anne-Marte rief: »Laß es doch liegen.« Aber Brigittchen
wollte ihren Fund nicht im Stich lassen, und so halfen ihr denn auch die
anderen suchen. Schließlich fand es sich, daß Brigittchen auf dem
schwarzen Ding gesessen hatte, was zu neuem Gelächter Anlaß gab. So
kamen die Fünf lachend und höchst vergnügt mit ihrer Holzlast am Turm
wieder an, und Mutter Paulinchen kam erfreut die Treppe herab gehumpelt.
»Das lobe ich mir,« sagte sie, »nein, so eine Freude!«

»Jetzt muß Vater Hippel aber noch meinen Fund sehen,« rief Brigittchen
und hopste die Treppe hinauf, und oben hielt sie dem Pantoffelmacher das
schwarze Ding vor die Nase: »Das hab' ich gefunden!«

»Was ist denn das?« brummelte der, »ist wohl gar 'n toter Maulwurf oder
so was!«

Die Kinder kicherten, der Alte aber rückte seine Brille zurecht, um den
Fund genauer anzusehen. Aber plötzlich wurde er leichenblaß und seine
Hände zitterten. Hastig löste er einen Riemen, mit dem das schwarze Ding
zugeschnallt war, eine rotbraune, aber auch verwitterte Tasche kam
heraus. »Mutter!« rief Klaus Hippel mit bebender Stimme, »Mutter,
wahrhaftig, es ist die Tasche von unserm Friedrich!«

»Du lieber Gott!« stammelte Frau Paulinchen und faltete die Hände, »wie
ist das möglich?«

Die Kinder standen in stummem Staunen da, wie ein Märchen schien ihnen,
was sie sahen. Der alte Mann hatte unterdessen die Tasche geöffnet, in
der einige schwere Rollen steckten. »Das Geld ist drin, lieber Gott, ist
das ein Glück!« murmelte er, und dicke Tränen liefen über seine
gefurchten Wangen. Und dann lagen sich die beiden alten Leute in den
Armen und weinten und lachten, und die Kinder jubelten mit ihnen. »Es
war feierlicher als Weihnachten,« sagte Brigittchen später.

»Unsere Kinder müssen es wissen,« sagten die Alten.

»Wir gehen hin und sagen es,« riefen die Kinder wie aus einem Munde, und
ehe Pantoffelmachers noch etwas sagen konnten, stürmten sie schon alle
fünf die Treppe hinab. Die Turmgasse entlang gings, an Frida Müller
vorbei, und Brigittchen dachte gar nicht an ihren seltsamen Anzug.

Das Kontor des Herrn Schön lag am Markt, dorthin lenkten die Kinder ihre
Schritte, denn dort war um diese Zeit Friedrich Lange zu finden. Es war
ein hohes, altes Haus, in dem sich das Kontor befand. Durch einen
breiten, gewölbten Hausflur ging es hindurch und schrill schlug die
Klingel an, als die Kinder öffneten. Herr Schön stand gerade in dem
ersten Arbeitszimmer und sprach mit dem Bürgermeister, der ihn besucht
hatte und nun wieder gehen wollte. In diesem Augenblick stürmten
atemlos, naß, schmutzig und zerzaust die fünf Kinder ohne weiteres
herein, und alle fünf zusammen schrieen sie: »Wir haben das Geld
gefunden, die Tasche, die --«

»Welches Geld, welche Tasche? Ja, was soll denn das heißen?« rief Herr
Schön verblüfft. Dann erkannte er sein Töchterchen und sagte ärgerlich:
»Aber Kind, wie siehst du aus!« Doch Brigittchen, die sonst bei jedem
Tadel am liebsten weinte, war über ihren Fund so aufgeregt, daß sie laut
jubelte: »Ich habe die Tasche gefunden, die richtige Tasche, Klaus
Hippel sagte es, und das Geld wäre auch drin!«

»Brigittchen hat die Tasche gefunden!« jauchzten die anderen Kinder,
»Friedrich Langes Tasche!«

»Meine Tasche!« schrie Friedrich Lange; er sprang von seinem Platze auf,
wo er Pakete gepackt hatte, »ist's wahr, ist's wahr?«

»Ja,« sagten die Kinder leise und sahen schüchtern auf den Mann, der
sich an die Wand lehnen mußte, um nicht umzusinken. Er faltete die
zitternden Hände und schluchzte: »Mein Gott, ich danke dir, nun darf
mich niemand mehr einen Dieb nennen!«

Herr Schön und der Bürgermeister sahen erschüttert auf Friedrich Lange;
sie fühlten es jetzt beide, wie sehr der gelitten haben mochte. Die
Kinder mußten nun von ihrem Fund erzählen, und sie taten das mit mehr
Eifer und Geschrei, als gerade gut war, um aus der Geschichte klug zu
werden. Manchmal schrieen sie alle fünf durcheinander, und Brigittchen
war so bei der Sache, daß sie sich sogar platt auf die Erde warf, um die
Sache recht anschaulich zu machen. Herr Schön sah ganz erstaunt auf sein
Töchterchen, er kannte das daheim so stille Kind gar nicht wieder, nein,
und was für einen seltsamen Anzug sie nur trug und wie schmutzig sie
aussah! Aber Brigittchen merkte davon in ihrer Herzensfreude nichts, sie
lief auch mit ihren Freunden mit, als die beiden Herren und Friedrich
Lange eiligst zu dem Pantoffelmacher gingen, um zu sehen, ob es auch
wirklich die rechte Tasche sei, die gefunden worden war.

Friedrich Lange konnte kaum sprechen, und die alten, steilen Turmtreppen
sprang er nur so empor, und dann sah er schon bei seinem Eintritt auf
dem Tisch die Tasche liegen, die ihm und den Seinen so viel Kummer
bereitet hatte. Eine Nachbarin hatte inzwischen eiligst Frau Lange und
die Kinder herbeigeholt, und die Familie stand andachtsvoll vor dem
Tisch; ach, nun hatte ihr Kummer ein Ende!

»'s ist nicht zu sagen, nicht zu sagen, was für Dinge alles auf der Welt
passieren,« schrie Klaus Hippel und rannte aufgeregt in der Stube herum,
»aber freilich, wo anders mag nicht so viel geschehen als gerade in
Neustadt. Meine Güte, meine Güte, so eine Stadt, und solche Kinder, die
Holz holen und Taschen finden! Paulinchen, koch' Kaffee, mir wird es
schwach!« Und Paulinchen kochte Kaffee; Herr Schön aber versprach, er
wolle zur Feier des Tages eine Flasche Wein schicken, worüber der
Pantoffelmacher in neue Aufregung geriet.

Es war ein Leben in dem kleinen Turmstübchen, daß der alte Turm beinahe
vor Staunen zu wackeln begann. Und dann redeten alle davon, wo wohl die
Tasche gesteckt haben möchte. Sie hatte sicher wohl geborgen unter Moos
und Laub am Waldrand gelegen und der heftige Gewitterregen hatte sie
emporgespült.

»Nun haben wir doch einen Schatz gefunden,« jubelte Brigittchen und
tanzte mit Anne-Marte in der Stube herum, obgleich das bei der Enge, die
herrschte, kaum möglich war. »Tralala, tralala, wir haben einen Schatz
gefunden!«

Dann liefen die Mädels zu Frida Müller und tauschten ihre Kleider ein;
sie erzählten die wunderbare Geschichte, und Frida Müller sagte, es wäre
doch fein, daß Brigittchen gerade ihre, Fridas Sachen, dabei angehabt
hätte. Nachher liefen alle fünf Schatzgräber zu den Eltern, zu
Fröhlichs, und jedem, den sie dabei noch unterwegs trafen, erzählten sie
von ihrem Fund. Die Bäckerbuben erzählten es sogar, trotz sonstiger
Feindschaft, der Grünwarenhändlerin Lehmann, und diese fand die Sache so
erstaunlich, daß sie jedem Buben eine Birne gab und sagte: »Erzählt es
nochmal, recht langsam, und quatscht nicht so durcheinander, damit ich
alles verstehe. Wir sind ja verwandt, Friedrich Lange und ich, seine
Großmutter und meiner Schwiegermutter Tante waren Cousinen im dritten
Grade. Nein, daß ihr dummen Bengels auch immer dabei sein müßt, wenn
etwas los ist!«

Klaus Hippel guckte von diesem Tage an wieder mit so frohen Augen von
seinem Turm ins Weite, wie ein König über sein Land. Mutter Paulinchens
Fuß ward auch bald besser, und die Blumen am Turmfenster blühten so
üppig, als wollten sie ein Lob- und Danklied singen. Das sagte Friedrich
Lange; freilich, der hörte in diesen Tagen, die kamen und gingen,
überall Lob- und Danklieder, in seinem Herzen selbst aber erklang das
fröhlichste Danklied.




       Eine Geschichte, die traurig anfängt und fröhlich endet.


Gerade am letzten Tag der großen Ferien wurde Brigittchen krank. Es war
kein Schulfieber, wie es wohl manchmal kleine Faulpelze bekommen, wenn
sie wieder zur Schule gehen sollen, denn Brigittchen ging gern zur
Schule. Die Kleine war auch am Tage vorher vergnügt gewesen wie ein
kleiner Spatz, der einen früchtereichen Kirschbaum entdeckt hat. In der
Nacht aber bekam sie plötzlich Halsschmerzen, und als Doktor Fabian am
nächsten Tage kam, da machte er gleich ein recht ernstes Gesicht.

Bald wußte es die ganze Nachbarschaft, Brigittchen Schön ist krank. Und
leise sagten die Leute zu einander: »Es steht schlimm mit der Kleinen,
sie wird vielleicht sterben.« Wie ein leises Weinen erklang dies Wort da
und dort im Städtchen. Auch Anne-Marte, Jörgel und die beiden
Bäckerbuben hörten es, und auf einmal war alle ihre Lust am Spiel dahin.
Ihr Lachen verstummte, bedrückt gingen sie zur Schule, und nach der
Schule liefen sie auf den Kirchplatz und sahen zu dem Schönschen Hause
empor. Dort hinter den weiß verhängten Fenstern lag ihre holde, kleine
Freundin krank, so schwer krank. Anne-Marte weinte und die Buben machten
wütende Gesichter, als könnten sie damit die Krankheit vertreiben. Dann
rannten sie zu den Pantoffelmachersleuten in dem alten Stadtturm, um
dort von Brigittchen zu sprechen. Frau Paulinchen saß auf ihrer bunten
Truhe und weinte sich schier die Augen aus, und Klaus Hippel murmelte
immer traurig vor sich hin: »Unser Brigittchen ist krank, ach nee, unser
liebes Brigittchen!«

Was war aber all die Sorge der anderen Leute gegen die heiße Angst, die
der Vater um sein Kind im Herzen trug. Herr Schön wich nicht von dem
Bett seines Lieblinges, und sein Denken war ein einziges stummes Gebet:
»Lieber Gott, erhalte mein Kind!« Mit ihm aber wachte noch jemand Tag
und Nacht bei der kleinen Kranken, Helene Fröhlich war es. Am ersten
Tage war sie still in das Zimmer getreten, sie war mit einem lieben
Lächeln und warmen, tröstenden Worten gekommen. Wie die Sonne im März
die Frühlingshoffnung bringt, so brachte Helene Fröhlich die Hoffnung
ins Krankenzimmer. Es muß ja besser werden, dachte der Vater, wenn er in
die lieben Augen der freundlichen Pflegerin schaute. Und alle im Hause
fanden, es sei ein rechter Trost, daß Fräulein Helene da sei, und
Brigittchen fand sogar das Kranksein nicht schlimm, wenn Tante Helene am
Bett saß, die Medizin reichte und ganz sachte und lind über die
fieberheiße Stirne strich.

Und wie der Vater, so betete auch Helene Fröhlich im Herzen in jeder
Stunde: »Lieber Gott, erhalte das Kind!« Das Gebet, das so aus tiefstem
Herzensgrunde emporstieg, fand Erhörung, und es kam der Augenblick, da
Doktor Fabian tief aufatmend sagte: »Gottlob, nun ist die Gefahr
vorüber!«

Wie ein Jubelruf klang das Wort über den Kirchplatz hin, in die Gassen
und Gäßchen hinein. »Brigittchen Schön wird gesund! Wissen Sie schon,
dem Brigittchen geht es besser,« sagten die Leute zu einander. In einer
kleinen Stadt ist das halt anders, wie etwa in London, Berlin oder sonst
einer großen Stadt, wo die Leute nicht wissen, wer im Hause Freude oder
Leid trägt. In Neustadt kümmert sich eben einer um den andern, manchmal
vielleicht ein bißchen viel, und Klatsch und Tratsch entsteht daraus,
aber in Trauerstunden und Freudentagen möchte doch keiner die Teilnahme
der anderen entbehren.

»Brigittchen Schön geht es besser,« sagte darum auch die Bäckermeisterin
Gutgesell zu jedem, der in den Laden kam, und die gute Frau hatte
darüber eine solche Herzensfreude, daß sie gleich einem armen Weibe ein
großes Stück Kuchen zum Brot zugab.

»Brigittchen wird gesund,« riefen auch Wendelin und Severin und
purzelten in der Seligkeit ihres Herzens in Frau Lehmanns
Grünwarenkeller hinein.

»Du meine Güte, nee ist das eine Freude!« rief diese und vergaß mal
wieder, daß sie sich eigentlich immer über die Buben ärgerte.

Am Bett der kleinen Kranken aber saßen der Vater und Helene Fröhlich
still beieinander, Hand in Hand. Die Sorge um das Kind, das ihnen beiden
so lieb war, hatte sie vereint, und Helene Fröhlich hatte versprochen,
sie wollte Brigittchen eine treue Mutter werden. Als die Kleine nach
langem, gesunden Schlaf die Veilchenaugen aufschlug, da beugte sich
Tante Helene über sie und sagte liebevoll: »Nun will ich immer deine
Mutter sein!«

»Mutter,« flüsterte Brigittchen selig, »ach, nun habe ich auch eine
Mutter, wie Jantge!«

Freude hilft gesund machen. Dem Brigittchen half sie sicher. »Das geht
ja wie mit 'nem Schnellzug,« sagte Doktor Fabian, »potzwetter, das hätte
ich nicht gedacht, daß unser Sorgenkind so schnell gesund werden würde.
Freilich, wenn einen Vater und Mutter so gut pflegen, da ist es keine
Kunst!«

Es dauerte denn auch nicht lange, da fuhren Vater und Mutter mit
Brigittchen im Sonnenschein spazieren. Hinter dem Wagen her liefen mit
einem ungeheuren Freudenschrei alle Buben und Mädels vom Kirchplatz, aus
der Marienstraße und aus den Gäßlein ringsum. Es war just so, als
hielten die Prinzessinnen Einzug. Und Brigittchen saß im Wagen und
lachte so vergnügt, daß sie ganz rosige Bäckchen bekam. Wie wunderschön
war es doch auf der Welt!

Aus dem Fenster des alten Stadtturms sahen Klaus Hippel und Frau
Paulinchen über das Blumenbrettlein hinweg und beide nickten und
winkten, als Brigittchen unten vorbeifuhr. Der Pantoffelmacher aber
sagte: »Es ist eine richtige, feine Geschichte, wie das Brigittchen zu
einer Mutter gekommen ist. Ich sag's ja immerzu, in Neustadt passiert so
viel, wie nirgends in der Welt. Nee, nee, und die dummen Leute sagen
immer, so 'ne kleine Stadt sei langweilig!«

Der Sommer verging und der Herbst kam. An einem Oktobertag, der so warm
und hell war, daß er ganz gut hätte sagen können: »Schaut mich nur an,
ich bin eigentlich ein Augusttag!« sangen und tönten die Glocken von St.
Marien: »Hochzeit, Hochzeit!« In allen Ecken und Winkeln des Städtchens
hörten die Leute das Singen und Klingen, hörten es, daß Herr Schön und
Helene Fröhlich Hochzeit feierten miteinander. »Glück und Heil!«
jubelten die Glocken, und Glück und Heil, Freude und Segen, sangen auch
die Glocken in manchen Herzen. Es gab in Neustadt viele Menschen, die
sich ehrlich mitfreuten und die dem Brautpaar gute Tage wünschten.

Der ganze Kirchplatz und die Marienstraße dazu aber waren vom frühen
Morgen an in großer Aufregung. Vom Hause der Braut aus bis zur Kirche
waren Teppiche gelegt und Blumen gestreut, und über Teppiche und Blumen
hinweg schritt Helene Fröhlich in die alte Kirche hinein. »Sie ist so
schön wie eine Rose,« sagten die Leute; die alte Dorothee aber dachte in
ihrem Herzen: »Sie ist so schön, weil sie so gut ist.«

Blitzeblank, in neuen Kleidern und Anzügen, die Augen so strahlend, als
wären sie frisch geputzt, gingen die fünf Schatzgräber, Jantge und Karl
vor dem Brautpaar her und streuten Blumen. Sie kamen sich alle mit
einander ungeheuer wichtig vor. Wendelin und Severin trugen ihre Nasen
so hoch, als hinge an der obersten Kirchturmspitze eine Blume, an der
sie riechen müßten.

Frau Lehmann sah die Buben ganz verdutzt an und sagte zu Heine, der
neben ihr stand: »Man erkennt wirklich die Bengels kaum wieder, so
manierlich sehen die aus.«

Es war eine fröhliche Hochzeit, die nicht nur in dem alten Haus am
Kirchplatz gefeiert wurde, die auch die alten Frauen im Gertrudenspital
feierten, Pantoffelmachers im Stadtturm, und manche arme Familie da und
dort. Helene Fröhlich hatte schon dafür gesorgt, daß es an ihrem
Hochzeitstag auch anderen gut ging. Und lustig, wie überall, ging es
auch am Kindertisch zu. Anne-Marte kam zuletzt gar nicht mehr aus dem
Lachen heraus, und die Bäckerbuben hatten nur eine Klage, die, daß man
sich in guten Anzügen in Acht nehmen muß. Jörgel hielt sogar eine Rede,
gerade so, wie es Doktor Fröhlich am Tisch der Großen tat. Seine
Gefährten sagten alle, er würde gewiß noch mal ein Dichter werden, es
wäre zu fein gewesen.

Die strahlendsten Augen aber hatte Brigittchen, und in ihrem Herzlein
sang und klang auch eine Glocke: »Mutter, Mutter, Mutter!« tönte das
immerzu. Und zwischen dem Elternpaar, das an der Hochzeitstafel saß, und
ihrem kleinen Mädel am Kindertisch, ging immerzu ein Nicken und Winken
hin und her, das hieß: »Ja, wir sind glücklich, wir drei zusammen.«

Dann war das Fest zu Ende, die Lichter verlöschten, die Gäste gingen
nach Haus. »Nun wird es aber wieder einsam im Hause werden,« sagte
Doktor Fröhlich ein wenig betrübt, als seine Schwester mit ihrem Manne
Abschied nahm. »Nun läßt du mich wieder allein!«

»Ich gehe ja nur über den Kirchplatz, nicht nach London, Brüderlein,«
tröstete diese, »ich bleibe ja in Neustadt!«

»Ach ja, in Neustadt,« sagte der Doktor vergnügt, »es ist uns beiden
wirklich eine Heimat geworden.«

»Ja, eine Heimat, eine liebe Heimat,« rief Helene dankbar, »es ist gut
sein in ihr. Ich glaube beinahe, Klaus Hippel hat Recht, Neustadt ist
eine ganz besondere Stadt!«

»Bum« schlug die Uhr von St. Marien, es war, als wollte sie rufen: »So
ist es recht!«

Und wer es nicht glaubt, daß Neustadt eine besondere Stadt ist, ja der
muß eben zu Klaus Hippel gehen und fragen, der überzeugt ihn sicher.




                         Inhalts-Verzeichnis.


                                                            Seite
   Ankunft in Neustadt                                          5
   Die fünf Schatzgräber                                       12
   Gertrudis. Eine Geschichte aus alten Zeiten                 30
   Weihnachtsaugen                                             48
   Ein Fastnachtsspiel                                         62
   Durch der Schneekönigin Reich                               80
   Osterwasser                                                 92
   Der goldene Groschen                                       103
   In der fröhlichen Einkehr                                  111
   Christoffel will ein König werden!                         124
   Mohrchen                                                   144
   O diese Bäckerbuben                                        153
   Die Schatzgräber finden einen Schatz                       163
   Eine Geschichte, die traurig anfängt und fröhlich endet    175




Anmerkungen zur Transkription


Die Schreibweise und Grammatik der Vorlage wurden weitgehend
beibehalten. Lediglich offensichtliche Fehler wurden berichtigt wie hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 13]:
   ... pfiff Mausel, der Dompfaff, vergnügt: »O Tannnenbaum, o
       Tannenbaum, ...
   ... pfiff Mausel, der Dompfaff, vergnügt: »O Tannenbaum, o
       Tannenbaum, ...

   [S. 47]:
   ... das letzte Wort gespochen hatte. ...
   ... das letzte Wort gesprochen hatte. ...

   [S. 62]:
   ... wäre selbst allen schönen Frauen und Rittern im Zauberwalde
       Irgendwo ...
   ... wäre selbst allen schönen Frauen und Rittern im Zauberwalde
       irgendwo ...

   [S. 121]:
   ... Erst als ein dunkter Schatten auf ihre Arbeit fiel, sah sie
       auf. Vor ...
   ... Erst als ein dunkler Schatten auf ihre Arbeit fiel, sah sie
       auf. Vor ...

   [S. 157]:
   ... vollen Backen auf seiner Okarina bließ. Uhuhuhu -- pfpfpf
       ging das, ...
   ... vollen Backen auf seiner Okarina blies. Uhuhuhu -- pfpfpf
       ging das, ...

   [S. 159]:
   ... »Huh!« schrie die Grünewarenhändlerin Lehmann und purzelte
       mit ...
   ... »Huh!« schrie die Grünwarenhändlerin Lehmann und purzelte mit ...






End of the Project Gutenberg EBook of Kleinstadtkinder, by Josephine Siebe

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The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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