The Project Gutenberg eBook of Experimentelle Psychologie
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Title: Experimentelle Psychologie
Author: Johannes Lindworsky
Release date: July 25, 2024 [eBook #74123]
Language: German
Original publication: München: Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G, 1923
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE PSYCHOLOGIE ***
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1923 so weit
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Philosophische Handbibliothek
Band V
[Illustration]
PHILOSOPHISCHE
HANDBIBLIOTHEK
[Illustration]
_Herausgegeben von_
Clemens Baeumker
Ludwig Baur
Max Ettlinger
unter Mitarbeit von
Matthias Baumgartner / Adolf Dyroff
Godehard Jos. Ebers / Josef Ant. Endres / Josef Geyser
Martin Grabmann / Johannes Lindworsky / Hans Meyer
Franz Sawicki / Josef Schwertschlager
Johann Peter Steffes / Michael Wittmann
[Illustration]
1923
Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. München
Verlagsabteilung
Kempten
EXPERIMENTELLE
PSYCHOLOGIE
von
_Johannes Lindworsky S. J._
[Illustration]
Dritte, durchgesehene Auflage
Band V
der Philosophischen
Handbibliothek
[Illustration]
1923
Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet K.-G. München
Verlagsabteilung
Kempten
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck verboten
Made in Germany
*
Copyright 1923 by Josef Kösel & Friedrich Pustet, K.-G. München
Buchdruckerei des Verlag Josef Kösel & Friedrich Pustet, Kommandit-Ges.
Zweigniederlassung Kaufbeuren
Vorwort zur dritten Auflage
Ein doppeltes Ziel hatte sich diese Arbeit gesteckt: kurz und verlässig
zu berichten, was bisher über das Seelenleben des Erwachsenen erforscht
war, und die in diesem Bilde noch klaffenden Lücken sei es durch
eigene Untersuchungen, sei es durch Hypothesenbildung auszufüllen. Die
günstige Aufnahme, die das Buch gefunden -- auch die zweite Auflage
war vor Ablauf eines Jahres vergriffen --, dürfte beweisen, daß jenes
Doppelziel im wesentlichen erreicht wurde.
In der dritten Auflage wurden die inzwischen gezeitigten
Forschungsergebnisse verwertet, insoweit sie dem Plane des Buches
entsprechen und eine gewisse Abgeschlossenheit erlangt haben.
Zwei Wünsche, die mir von geschätzter Seite vorgetragen wurden, konnte
ich nicht erfüllen. Zunächst durfte ich ob des beschränkten Raumes
nicht mit solcher Breite schreiben, daß das Buch +mühelos+ von jedem
Gebildeten gelesen werden könnte. Wer es als Leitfaden neben den
Vorlesungen benützt -- und für Hochschüler ist die „Philosophische
Handbibliothek“ in erster Linie gedacht -- wird keine Schwierigkeiten
beim Studium finden. Andere Leser dürften bei etwas besinnlicher
Lektüre den Inhalt gleichfalls bewältigen und dann um so größeren
Gewinn davontragen. Zweitens wurde ein Abriß der Methoden, etwa als
Anhang gewünscht. Allein, was an Methodik für das Verständnis der
Tatsachen notwendig ist, wird stets an seinem Ort mitgeteilt. Im
übrigen möchte ich nicht der Täuschung Vorschub leisten, die Befähigung
zu psychologischer Forschungsarbeit lasse sich leichthin erwerben. Wer
eine genauere Einführung in die Anfangsgründe der Methodik wünscht,
sei auf das gediegene Werk von R. +Pauli+, „Psychologisches Praktikum“
3. Aufl. 1923, verwiesen, das sich u. a. auch durch ausgedehnte
Literaturnachweise auszeichnet. Noch weiter führende Literaturangaben
finden sich bei J. +Fröbes+, „Lehrbuch der experimentellen Psychologie“
2. Aufl. 1922/23. -- Der S. 90 zitierte Aufsatz ist zwar schon seit
geraumer Zeit gedruckt, wird aber vielleicht erst im nächsten Jahr
erscheinen.
+Köln+, im September 1923.
+Johannes Lindworsky+ S. J.
Druckfehlerberichtigung:
S. 104 Zeile 2 von unten lies: „objektiven“ statt „subjektiven“.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort V
Inhalt VII
Abkürzungen XII
+Einleitung+
1. Die Eigenart der experimentellen Psychologie 1
2. Die geschichtliche Entwicklung der experimentellen Psychologie 2
3. Gegenstand und Aufgabe der experimentellen Psychologie 6
4. Quellen und Methoden der experimentellen Psychologie 10
5. Überblick über die verschiedenen Zweige der experimentellen
Psychologie 15
I. Buch.
Psychische Elemente und elementare
Verbindungen
Erster Abschnitt: Die Empfindungen
1. Kap. Die Empfindung im allgemeinen 16
2. Kap. Die höheren Empfindungen
A. Die Gesichtsempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gesichtsempfindungen 20
2. Die Beziehung der Farbenempfindung zu den äußeren
Reizen 23
3. Die Gesetze der Farbenmischung 25
4. Der Simultankontrast 27
5. Die Umstimmung der Netzhaut 29
6. Die zeitlichen Verhältnisse der Lichtwirkung 30
7. Die örtlichen Verhältnisse der Lichtwirkung 31
8. Die Farbenblindheiten 32
9. Die Theorie des Hell- und Dunkelsehens.
Duplizitätstheorie 33
10. Die Theorien des Farbensehens 35
B. Die Gehörempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gehörempfindungen 38
2. Die Beziehung der Tonempfindungen zu den äußeren Reizen 42
3. Die Theorie der Gehörempfindung 45
3. Kap. Die niederen Empfindungen
A. Die Geschmacksempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Geschmacksempfindungen 48
2. Reize und Organe des Geschmacksinnes 50
B. Die Geruchsempfindungen 51
C. Die Temperaturempfindungen 53
D. Die Druckempfindung 56
E. Die Schmerzempfindung 57
F. Die Organempfindungen 59
G. Die statischen Empfindungen 60
H. Die kinästhetischen Empfindungen 63
4. Kap. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie 66
5. Kap. Die Psychophysik 68
1. Aufgaben und Methoden der Psychophysik 69
2. Das Webersche und das Fechnersche Gesetz 72
Zweiter Abschnitt: Empfindungskomplexe 75
1. Kap. Die gleichzeitigen Tonverbindungen
1. Die Tatsache der Tonverschmelzung 76
2. Gesetze der Tonverschmelzung 77
3. Die Erklärung der Konsonanz 78
2. Kap. Die optischen Raumeindrücke 79
A. Der optische Eindruck der Fläche
1. Das Flächenelement. Nativismus und Empirismus 80
2. Der blinde Fleck 83
3. Die kleinsten unterscheidbaren Raumgrößen in der Fläche 83
4. Unvollkommenheiten des Einauges 84
B. Die Erfassung der drei Dimensionen durch das Einauge
1. Das Aufrechtsehen und die horizontale Ordnung 85
2. Das Tiefensehen 87
C. Das Sehen mit beiden Augen
1. Doppeltsehen und Einfachsehen 89
2. Die Sehrichtung des Doppelauges 91
3. Das Tiefensehen mit zwei Augen 92
4. Der Ursprung der binokularen Tiefenwahrnehmung 94
3. Kap. Empfindungskomplexe des Tastsinnes
1. Der Raumsinn der Haut 96
2. Der Tastraum der Blinden 97
3. Theorie des Tastraumes 99
Dritter Abschnitt: Die absoluten Vorstellungen 102
Vierter Abschnitt: Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen
und Empfindungskomplexen 107
1. Die Synästhesien 107
2. Erscheinungsweisen der Farben 108
3. Die Sehgröße 110
4. Die nicht-optische Raumanschauung des Sehenden
a) Ortssinn und Lagewahrnehmung 112
b) Die Raumlokalisation im allgemeinen 115
Fünfter Abschnitt: Elementare Denkfunktionen
1. Die Beziehungserkenntnis 117
2. Das aktive Beziehen 119
3. Die Abstraktion 121
Sechster Abschnitt: Die Verbindung der Beziehungsfunktion mit
den Empfindungskomplexen
1. Kap. Die Gestaltwahrnehmung 123
2. Kap. Die Zeitwahrnehmung 125
3. Kap. Die Bewegungswahrnehmung 131
Siebter Abschnitt: Elementare Gefühle
1. Abgrenzung der elementaren oder sinnlichen Gefühle 137
2. Die Eigenart der sinnlichen Gefühle 138
3. Die Gefühlsdimensionen und -qualitäten 139
4. Die Beziehungen zwischen Empfindung und Gefühl 141
5. Verbindung und Lösung der Gefühle 142
6. Die physiologischen Begleiterscheinungen der Gefühle 144
7. Theorie der sinnlichen Gefühle 145
Achter Abschnitt: Das elementare Wollen 147
1. Überblick über die verschiedenen Willenstheorien 147
2. Die experimentelle Untersuchung des Willens 148
3. Das elementare Wollen nach den experimentellen
Ergebnissen 149
II. Buch.
Die Vorstellungserneuerung als Grundlage
der höheren psychischen Leistungen
Erster Abschnitt: Die allgemeinen Gesetze der
Vorstellungserneuerung 152
Zweiter Abschnitt: Die Assoziation als Grundlage der
Reproduktion 158
1. Kap. Gehirn und Bewußtsein
1. Das Nervensystem 159
2. Die Zuordnung einzelner Gehirnteile zu psychischen
Funktionen 160
2. Kap. Die Untersuchung besonderer Assoziationsgesetze
1. Die Methodik der Assoziationsforschung 163
2. Hauptergebnisse der Assoziationsforschung 165
a) Die Beziehungen zwischen der Zahl der Wiederholungen
und der Assoziationsstärke 165
b) Einfluß des Lernstoffes 167
c) Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens 168
d) Die Bedeutung des allgemeinen psychischen
Verhaltens 169
e) Nebenassoziationen 169
3. Kap. Ausdehnung der Betrachtung auf das Gesamtbewußtsein
1. Die Konstellation 170
a) Die Hilfen 171
b) Die Hemmungen 171
2. Die Komplexbildung 172
III. Buch.
Die höheren seelischen Leistungen des
Einzelnen
Erster Abschnitt: Die höheren Erkenntnisleistungen
1. Kap. Die Vergleichung 176
2. Kap. Die Dingerfassung 179
3. Kap. Wahrnehmung und Vorstellung 180
4. Kap. Begriffe und Kategorien 183
5. Kap. Die Gewißheit 187
6. Kap. Das schlußfolgernde Denken 189
7. Kap. Das produktive Denken 193
8. Kap. Urteil, Annahme und Frage
1. Das Urteil 196
2. Die Annahme 199
3. Die Frage 200
9. Kap. Die höheren Gedächtnisleistungen
1. Erinnerung und Wiedererkennen 201
2. Erinnerungstäuschungen 204
3. Die Aussage 207
10. Kap. Das Ichbewußtsein 208
Zweiter Abschnitt: Die höheren Gefühle
1. Eigenart der höheren Gefühle 214
2. Theorie und Einteilung der höheren Gefühle 215
3. Bemerkenswerte Arten der Gefühle 218
4. Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens 222
5. Die Beziehungen des Gefühls zu anderen Funktionen 224
Dritter Abschnitt: Das Willensleben
1. Kap. Die Vorbereitung des Willensaktes 226
1. Das Wesen des Motives 226
2. Einteilung der Motive 227
3. Vorbedingungen für die Wirksamkeit von Motiven 228
2. Kap. Die unmittelbaren Wirkungen des Willensaktes
1. Die determinierenden Tendenzen 229
2. Das Gesetz der speziellen Determination 232
3. Die Messung der Willenskraft. Das assoziative
Äquivalent 233
3. Kap. Die Willenshandlung als Folge des Willensaktes
1. Die äußere Willenshandlung 236
2. Die innere Willenshandlung
a) Die Aufmerksamkeitsbewegung 241
1. Begriff und Arten der Aufmerksamkeit 242
2. Eigenschaften der Aufmerksamkeit 243
3. Die Bedingungen der Aufmerksamkeit 246
4. Die Wirkungen der Aufmerksamkeit 247
5. Die Theorie der Aufmerksamkeit 248
a) Die bisherigen Theorien 248
b) Die genetische Aufmerksamkeitstheorie 249
6. Störungen der Aufmerksamkeit 252
b) Die Vorstellungsbewegung 253
1. Die gebundene Vorstellungsbewegung 254
2. Die freie Vorstellungsbewegung. Die Phantasie
a) Die Gestaltung der freien Vorstellungsbewegung 255
b) Freie Vorstellungsbewegung und Phantasie 256
IV. Buch.
Die von der Gemeinschaft beeinflußten
seelischen Leistungen 261
Erster Abschnitt: Die Sprache
1. Die Leistungen der Sprache 261
2. Die Entstehung der Sprache 262
3. Die Sprachentwicklung 264
Zweiter Abschnitt: Die Sitte
1. Gebräuche 267
2. Die Konstanz der Kultur 268
3. Recht und Sittlichkeit 269
Dritter Abschnitt: Die Kunst 272
1. Das Schöne 272
2. Der ästhetische Eindruck 272
3. Die Entstehung und Entwicklung der Kunst 275
Vierter Abschnitt: Die Religion 277
1. Der Gottesglaube 277
2. Das Gebet 279
3. Religiöse Entwicklungen 280
V. Buch.
Ausnahmezustände der Seele
Erster Abschnitt: Der Schlaf 282
Zweiter Abschnitt: Der Traum 287
Dritter Abschnitt: Die Hypnose 294
Namenregister 299
Sachregister 300
ABKÜRZUNGEN
APs: Archiv für die gesamte Psychologie.
CgEPs: Bericht über den ... Kongreß für experimentelle Psychologie.
FPs: Fortschritte der Psychologie
ZaPs: Zeitschrift für angewandte Psychologie.
ZPaPs: Zeitschrift für Pathopsychologie.
ZPs: Zeitschrift für Psychologie.
Einleitung
1. Die Eigenart der experimentellen Psychologie
In diesem Buche wird von seelischen Vorkommnissen die Rede sein:
wie wir die Farben sehen und die Töne hören; wie unsere Phantasie
arbeitet; wie das Gedächtnis seine Schätze gewinnt und verliert; wie
sich unser Gemüt regt; wie das menschliche Denken von Erkenntnis zu
Erkenntnis vordringt und unser Wille seine Ziele verfolgt. Solche und
ähnliche Vorgänge zu beobachten, sie im +einzelnen+ kennen zu lernen
und ihre Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, das ist, allgemein gesprochen,
die Forscheraufgabe des Experimentalpsychologen. Anders lauten die
Fragen, die sich der Philosoph über das Seelische stellt: Woher
stammen die seelischen Vorkommnisse? Was ist die Seele? Ist die Seele
geistig, unsterblich, mit Freiheit begabt? Wie verhalten sich Leib
und Seele? Der charakteristische Unterschied zwischen den Interessen
des Philosophen und des Experimentalpsychologen springt in die Augen.
Dieser schaut auf die seelischen Einzeltatsachen, auf das Wie der
psychischen Erscheinungen. Der Philosoph hingegen bemüht sich um ihre
letzten Gründe: die Seele als Urgrund der Bewußtseinserscheinungen ist
sein eigentlicher Forschungsgegenstand.
Der verschiedene Gesichtspunkt, von dem aus beide das nämliche
Seelenleben betrachten, bedingt die Entstehung zweier verschiedener
Wissenschaften. Weil aber der Experimentalpsychologe sich um
Einzeltatsachen kümmert, weil er nicht nach letzten Gründen und
allgemeinsten Gesetzen fragt, darum kann seine Wissenschaft nicht
als Philosophie gelten. Sie steht aber im engsten Zusammenhang mit
der philosophischen Psychologie. Der Experimentalpsychologe muß
wenigstens einen Teil seiner Aufgabe gelöst haben, ehe der Philosoph
die seinige auch nur beginnen kann; wenigstens einige Einzeltatsachen
des Seelenlebens müssen festgestellt, beobachtet und beschrieben sein,
ehe sich Schlüsse auf die letzten Ursachen solcher Tatsachen ziehen
lassen. Und noch vor jeder genaueren Kenntnis beider Wissenschaften
darf man vermuten, daß die Schlußfolgerungen des Philosophen um so
mannigfacher und sicherer sein werden, je mehr Tatsachenmaterial
der Experimentalpsychologe zutage gefördert hat. Die experimentelle
Psychologie ist somit eine unentbehrliche Hilfswissenschaft der
Philosophie.
Mit dieser vorläufigen Bestimmung ist auch schon die Eigenart der
Experimentalpsychologie kundgetan: sie muß ihrer ganzen Natur nach
darauf ausgehen, mit möglichst großer Sicherheit und in reichster Fülle
seelische Tatsachen festzustellen. Es stehen ihr zu dieser Aufgabe,
wie wir später noch im einzelnen sehen werden, mancherlei Methoden zu
Gebote. Von der idealsten dieser Methoden, dem Experiment, hat sie
ihren Namen erhalten. Diese Bezeichnung ist freilich ein Notbehelf;
denn nicht alle Probleme unserer Wissenschaft können durch das
Experiment gelöst werden. Gleichwohl sagt man besser experimentelle
als empirische Psychologie, da auch die philosophische Psychologie
empirisch sein muß; auch sie hat von Tatsachen auszugehen, wenn anders
sie eine wissenschaftliche Psychologie sein will.
2. Die geschichtliche Entwicklung der experimentellen Psychologie
Die experimentelle Psychologie, wie sie soeben von uns aufgefaßt wurde,
hat noch keine Geschichte, ja genau genommen, liegt sie selbst noch
in der Zukunft. Die experimentelle Psychologie ist nämlich zurzeit in
dem Prozeß der Loslösung von der Philosophie begriffen, den die Physik
schon lange hinter sich hat. Gegenwärtig will ein Teil der Autoren
nur die experimentelle Psychologie allein gelten lassen, während die
Mehrheit die reinen Tatsachenfragen zusammen mit den philosophischen
behandelt, freilich zum Schaden beider. Nur wenige entschließen sich
zur klaren Sonderung beider Wissenschaften. Läßt sich sonach eine
Geschichte der experimentellen Psychologie noch nicht schreiben,
so kann man doch die Entwicklung kenntlich machen, die bis zu dem
gegenwärtigen Stadium der allmählichen Verselbständigung geführt hat.
Die Psychologie hat niemals völlig der empirischen Grundlage entbehrt.
Erfahrungen wie Träume, Erinnerungen u. ä. bildeten häufig den
Ausgangspunkt und die Anregung zu den psychologischen Erwägungen der
alten griechischen Philosophen. Man wird aber kaum sagen können,
daß selbst ein Aristoteles, dem doch schon eine Formulierung der
Assoziationsgesetze gelang, in ähnlicher Weise darauf ausgegangen
wäre, psychische Tatsachen zu sammeln, wie er biologische und
zoologische Beobachtungen beigebracht oder überliefert hat. Und
so blieb es auch in der Hauptsache im Mittelalter. Einige wenige
leicht zugängliche Selbstbeobachtungen waren der Unterbau, auf dem
sich alsbald das spekulativ erarbeitete System der lebenswichtigen
philosophisch-psychologischen Fragen erhob. Das braucht nicht zu
befremden. Denn dies sind Fragen, zu denen jeder Mensch irgendwie
Stellung nimmt, während die psychischen Einzelerscheinungen eine solche
Bedeutung zumeist nicht beanspruchen und infolge ihrer Alltäglichkeit
und engsten Zugehörigkeit zu unserem Ich nicht einmal unsere
Verwunderung erregen -- die doch nach Aristoteles allein den Anstoß zur
Forschung gibt.
Um die Aufmerksamkeit der Forscher auf die seelischen Prozesse zu
lenken, genügte die Abwendung +Descartes+’ von der herkömmlichen
Psychologie noch nicht, obwohl er in der Seele nicht mehr das Prinzip
des Lebens, sondern das des Bewußtseins sah; es bedurfte der Opposition
der englischen Aufklärungsphilosophie, die in ihrem tendenziösen Kampfe
gegen die grundlegenden Begriffe der Substanz und Kausalität die
Tatsachen der Assoziation in den Mittelpunkt der Betrachtung stellte.
So entstand die Assoziationspsychologie, begründet von +Locke+, +Hume+
und +Hartley+, erneuert von J. St. +Mill+ und zuletzt durch +Bain+
glänzend vertreten. Mit ihrer Leugnung des Denkens und Wollens regte
sie zu lebhaftem Widerspruch an und sah sich auch selbst gezwungen,
in stets erneuten Versuchen die seelischen Erscheinungen allein durch
Empfindung und Vorstellung verständlich zu machen. So hat sie sich
ohne Zweifel um das Studium der Bewußtseinsphänomene verdient gemacht.
Sie stand jedoch der tieferen Einsicht ins Seelenleben im Wege, wo
immer sie jede Erörterung über die seelischen Elemente in dogmatischer
Befangenheit von vorneherein ablehnte und die widerstrebenden Tatsachen
mit der Zwangsjacke sensistischer Terminologie vergewaltigte.
Eine zweite Wurzel der heutigen experimentellen Psychologie hat man
in der Anbahnung einer physiologischen Psychologie zu erblicken.
Es waren zunächst Theoretiker, die von der Physiologie wertvolle
Aufschlüsse erwarteten. Die extremsten unter ihnen waren allerdings
auf dem besten Wege, die Psychologie zugrunde zu richten. So schon der
Assoziationspsychologe +Priestley+, der die psychologische Analyse
durch die Physik des Nervensystems abgelöst wissen wollte, und ähnlich
+Comte+, der an jeder Selbstbeobachtung verzweifelnd, Physiologie und
Phrenologie an die Stelle der Psychologie setzte. Besonnener gingen
+Lotze+, +Horwicz+ und +Maudsley+ voran. Die eigentliche Befruchtung
durch die Physiologie ist aber den experimentierenden Physiologen
wie +Helmholtz+, +Weber+, +Hering+ zu danken. Sie bildeten wichtige
Methoden aus, deren sich später die Psychologen bedienten.
Das Geburtsjahr der experimentellen Psychologie ist das Jahr 1860, wo
+Fechners+ „Elemente der Psychophysik“ erschienen. Angeregt durch E. H.
+Webers+ Untersuchungen über den Tastsinn, hat Gustav Theodor Fechner
mit bewußter Absicht das Experiment zur Erzielung psychologischer
Erkenntnisse angewandt und die Grundlage zu der ausgedehnten
experimentellen Methodik geschaffen, deren sich heute die Psychologen
erfreuen. Mit stärkerer Heranziehung der Physiologie setzte W. +Wundt+
das Werk Fechners fort und erwarb sich namentlich durch die Gründung
des ersten psychologischen Laboratoriums bleibende Verdienste um die
neue Wissenschaft. Seitdem hat sie, gepflegt von einer stattlichen
Zahl hervorragender Forscher und empfohlen durch die Fülle der von
ihr in kurzer Frist festgestellten Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten,
sich ihren Platz im System der Wissenschaften gesichert. Ein Markstein
in ihrer Entwicklung wird durch den Namen +Oswald Külpe+ bezeichnet,
insofern Külpe mit Entschiedenheit für die Verselbständigung der
experimentellen Psychologie als Einzelwissenschaft eintrat.
Gegenwärtig bahnt sich eine neue Entwicklung der Psychologie an.
Wie sich die Physik allmählich von der Naturphilosophie loslöste
und zur Experimentalphysik wurde, dann aber eine theoretische
Physik ausbildete, der nicht zuletzt die großen Fortschritte der
gesamten Physik zu danken sind, so melden sich heute die Ansätze zu
einer +theoretischen+ Psychologie. Während die experimentelle
Psychologie die Haupterscheinungen des Seelenlebens erforscht,
sucht die theoretische auf Grund der experimentellen Befunde die
allgemeinsten Gesetze des Psychischen aufzustellen, aus denen sich dann
die Einzelerscheinungen begreifen und ableiten lassen[1].
Hinsichtlich der bevorzugten Methoden lassen sich unter den heutigen
Psychologen drei Gruppen unterscheiden. Neben der großen Zahl der
prinzipiell experimentierenden Forscher finden sich solche, die
wie +Lipps+ und +Brentano+ nur die schlichte Selbstbeobachtung
heranziehen. Ihnen steht die phänomenologische Richtung nahe, deren
bedeutsamster Vertreter +Husserl+ ist. Sie geht allerdings nicht auf
die Herausstellung von psychischen Einzeltatsachen aus, sondern bemüht
sich, durch „Wesensschauung“ den Kern, das Wesentliche der seelischen
Erlebnisse aufzuzeigen. Der besonnene Experimentalpsychologe wird
weder die schlichte Selbstbeobachtung noch die phänomenologische
Wesensschauung aus seiner Werkstätte verbannen. Namentlich die letztere
kann ihm zur Vorbereitung wie zur Kontrolle der experimentellen
Forschung schätzenswerte Dienste leisten. Jedoch der Erfolg dürfte
schon heute dahin entschieden haben, daß beide Methoden für sich allein
kein ausreichendes Fundament mehr abgeben für den weitauslagernden Bau
der Tatsachenpsychologie.
Verwandt mit der Sonderung infolge der Methodik ist die durch den
theoretischen Standpunkt hervorgerufene. Hier haben wir die „reinen“
Psychologen, die eine Ergänzung unseres psychologischen Wissens
durch die Physiologie ablehnen und nur auf die bewußten Prozesse
das psychologische Lehrgebäude errichten wollen. Dementsprechend
verzichten sie auch auf die Klärungen, die von der Physiologie zu
erhoffen sind. Ihnen gegenüber weist die größere Mehrzahl darauf hin,
daß die Kette der Bewußtseinserscheinungen nicht lückenlos ist und
daß sich außerdem gesetzmäßige Beziehungen zwischen physiologischen
Zuständen und gewissen Seelenvorgängen nachweisen lassen. Diese
Gruppe heißt also jeden Aufschluß willkommen, den die Physiologie zu
geben vermag; gleichwohl betont auch sie, je länger je mehr, daß die
seelischen Erscheinungen in erster Linie zu beachten sind. Innerhalb
dieser Gruppe stehen sich nun wieder zwei oder drei Richtungen
gegenüber. Die eine bekennt sich rundweg zur Assoziationspsychologie
und weigert sich vorerst noch, elementare Denk- und Wollenserlebnisse
anzunehmen. Die Schar ihrer Anhänger lichtet sich mit jedem Jahr;
ihr bedeutendster Vertreter ist heute Th. +Ziehen+. Über sie suchte
der angebliche Voluntarismus +Wundts+ hinauszukommen, ohne jedoch
mit seiner Apperzeptionslehre außerhalb des engsten Schülerkreises
Anklang zu finden. Die dritte Gruppe endlich ging namentlich aus
der Schule +Külpes+ hervor. Wie sie jede wissenschaftliche Methode
auszunutzen gewillt ist, so sträubt sie sich auch nicht, neue seelische
Grundphänomene anzuerkennen, wenn anders sie durch zuverlässige
Beobachtungen verbürgt sind. Infolgedessen hat sie, von der Wundtschen
Richtung ausgehend, ihren Standpunkt bezüglich der Probleme des
Denkens und Wollens in stets neu aufgegriffenen Untersuchungen
allmählich wesentlich geändert und damit die Verbindung mit den von der
aristotelischen Philosophie herkommenden Forschern gewonnen.
Literatur
M. +Dessoir+, Abriß einer Geschichte der Psychologie. 1911.
O. +Klemm+, Geschichte der Psychologie. 1911.
3. Gegenstand und Aufgabe der experimentellen Psychologie
Wir haben als den Gegenstand der experimentellen Psychologie schon oben
im allgemeinen die seelischen Vorkommnisse gekennzeichnet. Um ihn
schärfer zu umschreiben und gegen die Objekte anderer Wissenschaften,
namentlich der Naturwissenschaft, abzugrenzen, müssen wir von der
naiven Auffassung des Erwachsenen ausgehen.
Der von psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen noch
unberührte Erwachsene sieht sich einer Welt von äußeren Dingen
gegenübergestellt, die mit seinem Ich nichts zu tun haben. Seiner
Auffassung nach sind ihm nicht zuerst seine Bewußtseinserscheinungen
gegeben, sondern jene greifbaren Gegenstände, die er vor sich sieht.
Erlebnisse wie Schmerz und Freude lenken ihn erst auf seine Innenwelt
hin. Hat er weiterhin Gelegenheit, festzustellen, daß ein anderer
Dinge als rot bezeichnet, die er etwa gelb nennt, so wird er auf den
subjektiven Beitrag aufmerksam, den jeder Mensch zur Wahrnehmung der
äußeren Dinge hinzubringt. Die Abhängigkeit vom Subjekt wird ihm noch
deutlicher, sobald er einmal beobachtet, wie er selbst den nämlichen
äußeren Gegenstand unmittelbar nacheinander, ohne daß sich an dem
Objekt oder an den äußeren Bedingungen der Wahrnehmung etwas ändert,
bald so, bald anders erblickt, wie er z. B. die Drehungsrichtung eines
Windrades jetzt auf sich zu-, jetzt von sich abgewandt sieht. Nimmt
er noch hinzu, daß sich bei geschlossenen Augen oder im Traum ganz
ähnliche Ausblicke darbieten, wie bei offenen Augen und im Wachzustand,
dann wird ihm klar, daß die Bilder der äußeren Gegenstände fast mehr
von ihm stammen als von den fremden Objekten. Trotzdem hören die
äußeren Dinge nicht auf, dem wahrnehmenden Ich wie etwas Fremdes,
Getrenntes gegenüberzustehen, und dieser Eindruck bliebe erhalten,
auch wenn das Subjekt zur Überzeugung käme, daß die Außenwelt in
Wirklichkeit nicht bestünde.
Diese beiden Umstände: die relative Subjektivität von Schmerz,
Freude, Wahrnehmungen u. ä. einerseits und die unzerstörbare
Gegensätzlichkeit des betrachtenden Subjektes und der Außenwelt
anderseits ermöglichen es, den Gegenstand der experimentellen
Psychologie scharf zu umschreiben. +Alle seelischen Vorkommnisse sind
einem Subjekt zugehörig; sie alle sind einem Bewußtsein immanent+,
so daß kein anderer Mensch ein unmittelbares Wissen von ihnen hat.
Diese Eigenart kommt nicht nur meinen Bewußtseinsvorgängen, sondern
allen zu, die es vielleicht gibt; sie läßt sich aber in keiner
Weise von den Dingen aussagen, die dem Ich fremd gegenüberstehen;
sie seien denn Erlebnisse eines anderen Bewußtseins. Gegenstand der
experimentellen Psychologie sind sonach alle jene Phänomene, die ihrer
Natur nach bewußtseinsimmanent und unmittelbar nur für das erlebende
Subjekt erfaßbar sind. Dabei sehen wir natürlich von ihrer etwaigen
Erfaßbarkeit durch höhere als menschliche Wesen ab. Alle anderen Dinge,
auf welche diese Kennzeichnung nicht zutrifft, bilden den Gegenstand
anderer Wissenschaften; die körperlichen unter ihnen insbesondere geben
das Objekt für die Naturwissenschaften ab.
Der Gegenstand der experimentellen Psychologie ist also nicht
die substantielle Seele; denn zu ihr gelangen wir nur unter
der Führung der philosophischen Psychologie, die auf Grund der
Bewußtseinserscheinungen nachzuweisen hat, daß die psychischen
Erlebnisse einen substantiellen Träger voraussetzen. Wir können aber
auch nicht die gesamte Erfahrung als Gegenstand der Psychologie
bezeichnen, auch nicht mit der Einschränkung: insoweit die Erfahrung
von unserem Ich abhängig ist. Zu unserer Erfahrung gehören nämlich
auch die Dinge außerhalb des Ich. Sie stehen aber in unserer
Auffassung, von der wir als Psychologen auszugehen haben, als etwas
Wirkliches und von dem Ich Unabhängiges vor uns. Auch die naive
Auffassung unterscheidet, sobald sie nur einmal darauf hingewiesen
wird, sehr wohl zwischen dem Gesichtsbild des Tisches, das sich je
nach dem Standpunkt des Betrachtenden beständig ändert, und dem
unverändert bleibenden Tisch, der diese verschiedenen Gesichtsbilder
bedingt. Die äußere Erfahrung und die Bewußtseinsinhalte sind
somit zwei ganz getrennte Gegenstandsgebiete. Wir wenden uns aber
auch drittens gegen jene Psychologen, die z. B. die Farben aus dem
Stoffgebiete unserer Wissenschaft ausscheiden wollen. Allerdings
sprechen uns die Farben als objektive Eigenschaften der Außendinge
an, und wir müssen hier von diesem unmittelbaren Eindruck ausgehen.
Es wird sonach eine Wissenschaft erforderlich sein, die sich mit den
Körperfarben befaßt. Allein wir stellen auch fest, daß es Farben als
immanente Bewußtseinsinhalte gibt, so immanent, daß die individuelle
Verschiedenheit des Farbensehens sich jahrhundertelang versteckt
hielt und immer nur sehr indirekt nachgewiesen werden kann. Farben
und Töne gehören darum sehr wohl zu dem Forschungsgegenstand der
experimentellen Psychologie.
Die +Aufgabe+ der experimentellen Psychologie deckt sich im allgemeinen
mit der einer jeden Tatsachenwissenschaft: sie heißt Beschreiben,
Gruppieren, Erklären. Die bewußtseinsimmanenten Erlebnisse sind
möglichst adäquat zu beschreiben. Was eine solche +Beschreibung+
voraussetzt und welchen Schwierigkeiten sie gerade in der Psychologie
begegnet, davon soll hier noch keine Rede sein. Die induktive Art
unserer Einführung wird sie uns noch oft fühlbar machen. Gelingt
aber die Beschreibung der Erlebnisse, so wird ein Vergleich dieser
Beschreibungen zeigen, ob immer wieder neuartige, voneinander
verschiedene Phänomene auftauchen -- in diesem Falle müßte man an
der Begründung einer wissenschaftlichen experimentellen Psychologie
verzweifeln -- oder ob sich gleiche bzw. verwandte Erlebnisse finden,
die sich in fest umgrenzten +Gruppen anordnen+ lassen. Auch hier
hat die Psychologie größere Hindernisse zu überwinden als andere
Einzelwissenschaften. Die Erlebnisse als ganze gleichen einander
sehr wenig, und es bedarf der Analyse, um zu psychischen Einheiten
oder gar zu psychischen Elementen vorzudringen, die dann als gleich
behandelt werden können. Endlich hat die Experimentalpsychologie auch
eine +Erklärung+ der Bewußtseinserscheinungen zu versuchen. Doch ist
der Begriff dieser Aufgabe des Erklärens kein einheitlicher. Im Sinne
der positivistischen Naturwissenschaft nennt man es eine Erklärung,
wenn es gelingt, die Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen aufzuweisen.
Sobald diese bekannt sind, ist man imstande, beim Auftreten eines
bestimmten Phänomens die Bedingungen anzugeben, die es herbeigeführt
haben, wie man auch umgekehrt, sobald gewisse Bedingungen erfüllt
sind, voraussagen kann, welche Folge sich einstellen wird. Diese Art
der Erklärung setzt also die Beobachtung von Gesetzmäßigkeiten im
psychischen Geschehen voraus. Ob solche Gesetzmäßigkeiten überhaupt im
Bewußtseinsleben vorliegen, das kann erst die folgende Untersuchung
lehren. Sie ohne weiteres und auf allen Gebieten dieser Disziplin
voraussetzen, wie dies z. B. +James+ tut, nur deshalb, weil sonst eine
wissenschaftliche Psychologie unmöglich sei, das kann nicht mehr als
vorurteilslose Forschung gelten. Eine andere Art der Erklärung greift
über den Bereich der Bewußtseinstatsachen hinaus und sucht z. B.
in dem physikalischen Reiz und in der Beschaffenheit der nervösen
Substanz die Ursachen bzw. die Bedingungen der Empfindung. Auch diese
Art muß die Psychologie, wenn sie nicht reine, sondern physiologische
Psychologie ist, verwerten. In diesem Sinne wird oft nach der Ursache
einer psychologischen Gesetzmäßigkeit zu forschen sein; ob z. B. die
Gesetzmäßigkeiten des Farbenkontrastes letztlich auf seelische oder auf
körperliche Faktoren zurückzuführen sind.
4. Quellen und Methoden der experimentellen Psychologie
Weil unser Forschungsgegenstand die Bewußtseinserscheinungen sind, so
erblicken wir in der +Bewußtseinswelt+, jener Welt, die in eigenartiger
Weise neben dem Reich der sichtbaren Dinge besteht, +die naturgemäße
und wesentliche Quelle+ der psychologischen Wissenschaft. Wo immer
sich Bewußtsein findet, da kann der Psychologe versuchen, Kenntnisse
zu schöpfen. Der Bewußtseinswelten gibt es aber unzählbare: bei jedem
Menschen, jedem Tiere, und selbst die Bewußtseinswelten höherer
Wesen brauchen nicht notwendig von vorneherein unberücksichtigt zu
bleiben. Dieser erfreuliche Quellenreichtum wird nun leider in seinem
Werte dadurch vermindert, daß all diese Milliarden von Quellen bis
auf eine einzige fest ummauerte und versiegelte Quellen sind. Nur in
sein eigenes Bewußtsein eröffnet sich dem Forscher ein unmittelbarer,
freier Einblick. Wir sind jedoch zu der Annahme berechtigt, daß das
Bewußtseinsleben in einem mehr oder weniger eindeutigen Zusammenhang
mit seinen Äußerungen steht. Der Einzelne bemerkt auf jeden Fall, wie
sich regelmäßig mit einem Erlebnis der Freude ein bestimmter, äußerlich
wahrnehmbarer Ausdruck verbindet; bei schmerzlichen Erlebnissen
hingegen stellt sich mit derselben Regelmäßigkeit ein merklich
verschiedener Ausdruck ein. Ähnliche Ausdruckserscheinungen gewahre
ich nun bei den andern Menschen und vielfach auch bei Tieren und
gelange so mit einem Analogieschluß dahin, auch bei diesen die gleichen
oder verwandte Bewußtseinserscheinungen anzunehmen. Richten wir unser
praktisches Verhalten zur Umwelt nach diesen Analogieschlüssen ein, so
gibt uns die Erfahrung recht. Unsere Überzeugung von dem Vorhandensein
und der Gestaltung des fremden Bewußtseins wird dann naturgemäß so
lebendig, daß wir unmittelbar in die fremde Seele zu schauen meinen und
die Mittelbarkeit unseres Wissens oft zum eigenen Nachteil vergessen.
Neben der primären Quelle psychologischer Forschung, dem Bewußtsein,
lernen wir also +die Äußerungen des Bewußtseins als sekundäre Quellen+
kennen. Die Äußerungen des Bewußtseins sind entweder fließende und
begleiten einen gleichzeitig verlaufenden psychischen Vorgang, oder sie
verbleiben als dauernde Wirkungen früherer Bewußtseinserscheinungen. Zu
ersteren gehören die lebendige Sprache, die willkürlichen Bewegungen,
die unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen u. a., zu letzteren die
Sprachdenkmäler, die Erzeugnisse von Kunst, Religion und Volksleben
u. ä. m. Eine dieser sekundären Quellen, die lebendige Sprache,
namentlich wenn sie, durch Frage und Antwort unterstützt, uns die
Selbstbeobachtungen anderer mitteilt, gestattet uns einen so klaren
Einblick in das fremde Bewußtsein, daß man mit Grund die Behauptung
wagen kann: wenigstens innerhalb gewisser Grenzen handle es sich da
schon nicht mehr um eine sekundäre Quelle, sondern die mitgeteilte
Selbstbeobachtung eines Fremden sei der eigenen Selbstbeobachtung des
Forschers gleichwertig. Dieses Problem restlos zu lösen, ist Aufgabe
der speziellen Erkenntnistheorie.
Die +Methoden+ der experimentellen Psychologie richten sich nach
ihren Quellen. Weil das Bewußtsein die primäre Quelle ist, ist
folgerichtig die +Selbstbeobachtung die primäre Methode+. Sie
gewährt die unmittelbarste Kenntnis der Seelenprozesse und bleibt
letzten Endes der Schlüssel zum Verständnis aller Ergebnisse, die
durch andere Methoden erzielt werden. Die Selbstbeobachtung kann
beabsichtigt oder unbeabsichtigt sein. Unbeabsichtigt wird sie stets
nur gelegentlich auftreten und darum nur spärliche Beiträge liefern.
Die beabsichtigte Selbstbeobachtung wird nun häufig +während+ des zu
beobachtenden Erlebnisses angestellt. Dadurch wird aber ihr Wert recht
zweifelhaft. Man braucht zwar nicht wie manche Autoren die absolute
Unmöglichkeit einer gleichzeitigen Selbstbeobachtung anzunehmen, aber
das läßt sich auch experimentell nachweisen, daß die gleichzeitige
Beobachtung modifizierend, wenn auch nicht notwendig fälschend auf
das Erlebnis einwirkt. Die gelegentliche Beobachtung hingegen stellt
sich in der Regel nicht während, sondern unmittelbar nach Ablauf des
seelischen Vorganges ein. Man kann sich leicht davon überzeugen, daß
ein Bewußtseinsphänomen unmittelbar nach seinem Ablauf nicht gänzlich
unserem Wissen entschwunden ist. Es steht gewissermaßen in seiner
Gesamtheit noch vor uns, ohne daß wir es im eigentlichen Sinne zu
reproduzieren brauchten. Man lasse sich z. B. eine mittelschwere
Kopfrechnung vorlegen, löse sie schnell und frage sich, wie man zur
Lösung gelangt ist. Man wird dann leicht angeben können, ob man einen
rechnerischen Kunstgriff gebraucht hat, ob man die Zahlen im Geiste
gesehen oder sie sogar phantasiemäßig niedergeschrieben usw. Die
Zuverlässigkeit solcher Angaben wird für uns über jeden Zweifel erhaben
sein. Ebensowenig wird man befürchten, die rückschauende Beobachtung
könne nachträglich das Erlebnis umgestalten. Das vermag nicht einmal
die Absicht zur rückschauenden Beobachtung, wenigstens solange sie
nicht eine bestimmte Erwartung einschließt.
Die +primäre+ wissenschaftliche +Methode der experimentellen
Psychologie ist somit die rückschauende Selbstbeobachtung+. Da aber
eine bloß gelegentliche Selbstbeobachtung nicht ausgiebig genug
ist, um auf sie eine ganze Wissenschaft aufzubauen, hat man sie
zur systematischen und experimentellen umgestaltet. Das Wesen des
+Experimentes+ beruht nun in der willkürlichen Herbeiführung eines
Vorganges zum Zwecke der wissenschaftlichen Beobachtung. Es macht den
Forscher von der Gunst des Zufalles unabhängig und ermöglicht eine
wiederholte und darum zuverlässige Beobachtung. Das psychologische
Experiment, das sich zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter
abspielt, hat überdies den Vorteil, daß der beobachtenden
Versuchsperson die Absichten und Erwartungen des Versuchsleiters
verborgen bleiben können, wodurch ein unvoreingenommenes Erleben
und Beobachten seitens der Versuchsperson möglich wird. Das
psychologische Experiment kann nun einen doppelten Zweck verfolgen:
es kann darauf ausgehen, einen seelischen Prozeß überhaupt nur
herbeizuführen, damit er genau beobachtet werde. In diesem Falle ist
es nach neuerer Terminologie (+Baade+) ein +Darstellungsexperiment+.
Die eingehendste Selbstbeobachtung ist bei ihm die Hauptsache.
Der Forscher kann aber auch erkunden wollen, wie verschiedene
psychische (oder auch psychische und physische) Faktoren aufeinander
einwirken: wie z. B. das Lernen bei gleichzeitiger Ablenkung der
Aufmerksamkeit erfolgt -- in diesem Falle bezeichnet man den Versuch
als +Kausalexperiment+. Auch dies ist ohne jede Selbstbeobachtung nicht
auszuführen. Aber sie tritt hier wesentlich zurück. Die Hauptsache
ist hier die Leistung der Versuchsperson, etwa die Bewältigung der
Lernaufgabe mit und ohne Störung. Auf diese Weise kann der Psychologe
planmäßig den verschiedenen Erlebnissen und Erlebnisseiten, wie
auch dem kausalen Nexus unter ihnen nachgehen und dadurch seine
Beobachtung zu einer systematischen machen. Dementsprechend ist beim
Kausalexperiment die Variation der Versuchsbedingungen wesentlich, beim
Darstellungsexperiment hingegen entbehrlich.
In einem umfassenderen Sinne läßt sich das psychologische Experiment
folgendermaßen einteilen. Hinsichtlich seines +Zweckes+: Das
+Prüfungsexperiment+ (Test) fragt nach dem Gelingen einer Leistung.
Das +Forschungsexperiment+ nach der Natur eines psychischen
Vorganges, und zwar als +messendes+ (psychophysisches) nach dessen
Größenverhältnissen, als +darstellendes+ nach dessen Beschaffenheit,
als +Kausalexperiment+ nach dessen Abhängigkeit von verschiedenen
Bedingungen. Eine zweite Teilung ergibt sich aus dem +Verhalten der
Versuchsperson+ (Vp). Je nachdem diese von dem Zweck und der Anlage
des Experimentes weiß, ist das Verfahren ein +wissentliches+,
+halbwissentliches+ oder +unwissentliches+. Je nachdem ferner die Vp
an dem Zustandekommen des seelischen Erlebnisses beteiligt ist, kann
man das Experiment als ein +auslösendes+ (ein Sinnesreiz ruft ohne
weiteres eine Empfindung oder ein Gefühl hervor), ein +ausführendes+
(die Vp bringt willkürlich die gewünschte Erscheinung hervor, z. B.
sie erinnert sich willkürlich) oder ein +gemischtes+ nennen. Das
ausführende Experiment ist entweder ein +unvollkommenes+, wenn die Vp
willkürlich ein Erlebnis nachzumachen sucht (Schreibtischexperiment),
oder ein +vollkommenes+, wenn sie durch die Versuchsanordnung in eine
Lage gebracht wird, in der sie naturgemäß zu jenem Erlebnis gelangt.
Durch das Experiment ist nun die bloß gelegentliche Beobachtung nicht
völlig außer Kurs gesetzt. Gerade sie weist oft dem Psychologen
neue Probleme zur experimentellen Nachprüfung und sie bleibt
der einzige Zeuge für all jene Seelenvorgänge, die sich nicht
willkürlich herbeiführen lassen. Um nun auch die bloß gelegentlichen
Selbstbeobachtungen der Forschung dienstbar zu machen, ist man auf
ihre planmäßige Sammlung bedacht. Man verwendet dazu zweckmäßig den
+Fragebogen+. Je genauer dem Aussender eines solchen Bogens die
Zuverlässigkeit der Beantworter bekannt ist, je zugänglicher die
erfragten Erlebnisse einer durchschnittlichen Beobachtungsgabe sind
und je mehr die Fassung der Fragen, frei von jeder Suggestion, den
Beantworter zur Angabe von Tatsachen anleitet, von theoretisierenden
Äußerungen hingegen fernhält, um so brauchbarer wird das Ergebnis einer
solchen Rundfrage sein.
Insoweit die sekundären Quellen nicht eine Fixierung der
Selbstbeobachtung sind und somit zur primären Quelle hinleiten, können
sie alle als Wirkungen psychischer Prozesse gelten, Wirkungen, aus
denen sich mancherlei Schlüsse auf ihre Ursachen ziehen lassen. Sie
sind fertige geistige Produkte und demnach keinem experimentellen
Eingriff mehr zugänglich. Ihnen gegenüber sind nur noch die Methoden
der Analyse, des Vergleiches und der statistischen Verarbeitung
möglich. Von besonderem Werte ist dabei der Vergleich, der sich nach
Aufstellung einer Entwicklungsreihe des betreffenden psychischen
Produktes, etwa der Kinderzeichnungen, ausführen läßt.
Literatur
R. +Pauli+, Psychologisches Praktikum. 3. Aufl. 1923.
W. +Stern+, Die differentielle Psychologie. 3. Aufl. 1921.
5. Überblick über die verschiedenen Zweige der experimentellen
Psychologie
Wir geben im Anschluß an +Titchener+ einen Überblick über die
verschiedenen Zweige der experimentellen Psychologie.
I. Die Psychologie des normalen Seelenlebens.
A. Die individuelle Psychologie.
1. Die Psychologie des Menschen.
a) Allgemeine Psychologie: die Psychologie des Erwachsenen.
b) Die spezielle Psychologie der einzelnen Entwicklungsstadien (des
Kindes, des Greises u. ä.).
c) Die differentielle Psychologie; sie behandelt die psychischen
Unterschiede der Individuen.
d) Die genetische Psychologie; sie erforscht die Entwicklung der
Psyche im Laufe des Lebens.
2. Die Tierpsychologie. Ihre Unterabteilungen ähnlich wie bei 1.
3. Die vergleichende Psychologie. Sie befaßt sich mit der
Vergleichung der verschiedenen Entwicklungsstufen der Seele bei
Tier und Mensch.
B. Die kollektive Psychologie.
1. Die Völkerpsychologie schildert die Erscheinungsweise des
Seelischen in der Gemeinschaft.
2. Die ethnologische Psychologie oder die differentielle Psychologie
der verschiedenen Völker und Rassen.
3. Die Klassenpsychologie oder die differentielle Psychologie der
Gesellschaftsklassen und Berufe.
II. Die Psychologie des kranken, anormalen Seelenlebens.
Diese Einteilung wählt das Subjekt der psychischen Vorgänge zum
leitenden Gesichtspunkt. Sie kann ergänzt werden durch zwei andere
Einteilungen, die entweder die psychischen Funktionen oder die
Gegenstände der psychischen Funktionen berücksichtigen. Daraus
ergibt sich eine Psychologie der Vorstellung, des Willens usw. auf
der einen Seite, und eine Sprach-, Kunst-, Religionspsychologie auf
der anderen. Die Einteilung nach Gegenständen führt theoretisch zu
unbegrenzt vielen Zweigen der Psychologie. Praktisch werden indes
nur jene bestehen können, die sich auf einen bedeutsamen Gegenstand
beziehen oder eigenartige psychische Erscheinungen betreffen.
Wir besprechen im folgenden in erster Linie die Psychologie des
normalen und gebildeten Erwachsenen. Doch werden wir an gegebener
Stelle auch die andern Zweige der Psychologie zu Rate ziehen.
Fußnoten:
[1] Vgl. des Verfassers, „Umrißskizze zu einer theoretischen
Psychologie“ 2. Aufl. 1923.
I. Buch.
PSYCHISCHE ELEMENTE UND ELEMENTARE VERBINDUNGEN
ERSTER ABSCHNITT
Die Empfindungen
1. Kap. Die Empfindung im allgemeinen
Die Erlebnisse, die den Gegenstand der Psychologie bilden, zeigen sich
uns als eine so vielgestaltige, stets wechselnde Mannigfaltigkeit,
daß es auf den ersten Blick als unmöglich erscheinen möchte, sie
wissenschaftlich zu beherrschen. Wie soll man das kaleidoskopartige
Geschehen festhalten, beschreiben, benennen, in die Ordnung eines
Systems bannen und gar noch Gesetzmäßigkeiten bei ihm entdecken?
Dazu kommt, daß die seelischen Vorgänge vollendete Einheiten zu
sein scheinen. Mehr oder weniger selbständige Glieder, wie bei
einem Organismus, oder gar abgeschlossene Teile, wie die Bausteine
eines Hauses, bieten sich dem ersten Blicke nicht dar. Alles ist
eng miteinander verwachsen, eines scheint kontinuierlich ins andere
überzugehen. Dennoch bleibt ein Weg, der, wenn auch mühsam, durch das
nahezu unentwirrbare Dickicht führt: Wir können gleiche, ähnliche oder
wenigstens verwandte Seiten der verschiedenen Erlebnisse feststellen.
Auf diesem Wege der Abstraktion gelangt schon das vorwissenschaftliche
Denken dazu, größere Gruppen seelischer Vorgänge zusammenzufassen;
es spricht von Erkennen, Wollen, Fühlen u. dgl. Wir verwerten diese
Absonderungen und suchen nunmehr in der Gruppe der Erkenntnisvorgänge
so weit mit der Abstraktion vorzudringen, als es überhaupt möglich
ist. Bei den Erkenntnisvorgängen läßt sich nun Inhalt und Akt
unterscheiden: sehe ich eine blaue Blume, so ist mein Sehen der +Akt+,
die blaue Blume der +Inhalt+ dieser Wahrnehmung. Unsere weitere
Abstraktion soll sich nur auf den Inhalt beziehen, und zwar in einer
einzigen Richtung. Wir beachten das eigenartige Blau der gesehenen
Blume. Ich finde diesen Inhalt bei anderen Individuen derselben
Gattung, vielleicht aber auch bei Blumen einer anderen Gattung und
bei Erzeugnissen der menschlichen Kunst. Der Inhalt „blau“ ist somit
für sein Bewußtwerden von seiner sonstigen Umgebung, von einer
bestimmten Gestalt u. ä. m. unabhängig. Er steht mir auch wieder
vor der Seele, wenn ich von ähnlichen Dingen träume. Vielleicht bin
ich sogar imstande, bei geschlossenen Augen die blaue Blume vor mir
zu sehen. Der Inhalt „blau“ ist also auch unabhängig und loslösbar
von dem Akt des Wahrnehmens, Träumens oder Vorstellens. Damit ist
nicht gesagt, daß wir den Inhalt „blau“ außerhalb eines dieser Akte
erleben könnten, es ist aber gezeigt, daß er von einem jeden einzelnen
dieser Akte relativ unabhängig ist. In entsprechender Weise läßt sich
dartun, daß jener Inhalt auch bewußtseinsmäßig gegeben sein kann, ohne
notwendig bestimmte andere Inhalte bei sich zu haben, wie etwa den der
räumlichen oder zeitlichen Lokalisation. Wir stellen somit als eine
charakteristische Eigenschaft dieses Bewußtseinsinhaltes fest, daß er
andern Inhalten gegenüber +relativ selbständig+ ist. Wir können das
„blau“ nicht nur in unserer Auffassung von solchen andern Inhalten
unterscheiden, wie da sind ein bestimmter Träger dieser Farbe, eine
bestimmte Form u. ä., sondern er selbst kann erlebnismäßig ohne einen
bestimmten aus ihnen vorkommen. Wir können nun in der Abstraktion
noch weiter gehen und etwa den Farbenton blau von seiner Ausdehnung
unterscheiden. Allein dieser begrifflich bzw. auffassungsmäßig
möglichen Unterscheidung vermag die erlebnismäßige Sonderung nicht
zu folgen. Wo immer wir den Inhalt blau erleben: wir finden ihn
wenigstens an ein Minimum von Ausdehnung gekettet. Wir bezeichnen
darum die Ausdehnung als eine Eigenschaft dieses Bewußtseinsinhaltes
und stellen fest, daß wir mit der erlebnismäßigen Abstraktion an ein
Ende gelangt sind: blau ist als ein +einfaches+ Erlebniselement
anzusehen. Vergleicht man sodann diesen Inhalt mit dem Namen oder dem
Begriff „blau“, so stellt sich heraus, daß der Name und der Begriff
als Prädikat der verschiedensten Blaunuancen anwendbar ist, er hat
eine gewisse Allgemeinheit. Das von mir erlebte Blau hingegen ist
stets etwas +Konkretes+, Individuelles, eine bestimmte Nuance, die mit
keiner andern verwechselbar ist. Es hat weiterhin eine Eigenart, die
nur durch sich selbst charakterisierbar ist: eine gewisse Greifbarkeit,
+Anschaulichkeit+, verglichen mit der „Blässe des Gedankens“. Wenn
wir ferner den Bewußtseinsinhalt „blau“ mit einem Gefühlserlebnis
vergleichen, so finden wir, daß wir ihn gewissermaßen uns selbst
gegenüberstellen und anschauen können, ohne befürchten zu müssen,
daß unsere Aufmerksamkeit ihn zugrunde richtet, wie das bei Gefühlen
und Willensakten der Fall zu sein scheint: das Erlebnis besitzt eine
gewisse Objektivität. Fassen wir all diese Eigentümlichkeiten des
Blau-Erlebnisses zusammen: die relative Selbständigkeit, Einfachheit,
Konkretheit, Anschaulichkeit und +Objektivität+, und studieren die
mannigfachen Seiten unserer Gesamterlebnisse, so werden wir entdecken,
daß eine überaus stattliche Reihe von ihnen die genannten Eigenschaften
aufweist. Wir fassen diese Erlebniselemente unter dem gemeinsamen
Namen der +Empfindungen+ zusammen. +Eine Empfindung ist somit ein
relativ selbständiger, einfacher, konkreter, anschaulicher, objektiver
Bewußtseinsinhalt.+
Ebenso wie die Blauempfindung lassen auch alle anderen Empfindungen
verschiedene Eigenschaften erkennen. Als allgemeine +Eigenschaften
der Empfindung+ zählt man gewöhnlich auf: Qualität, Intensität,
zeitliche Dauer und räumliche Ausdehnung. Die bedeutsamste dieser
Eigenschaften ist sicher die Qualität. Sie ist gewissermaßen der Kern
des Empfindungserlebnisses; sie ist das, was das Süß zum Süß, das Blau
zum Blau macht. Die Qualität einer Empfindung kann nicht geändert
werden, ohne daß zugleich die Empfindung selbst geändert wird, obwohl
es verschiedene Grade der Qualitätsänderung einer Erlebnisseite gibt.
Statt des einen bestimmten Blau kann eine andere Nuance eintreten:
die neue Empfindung ist der vorigen noch ähnlich. Es kann aber auch
ein Rot erscheinen: die neue Empfindung ist spezifisch verschieden.
Oder die Farbenempfindung wird durch eine Tonempfindung ersetzt: die
neue Empfindung ist zur früheren disparat. Nach der noch verbreiteten
Sprechweise von +Helmholtz+ wäre in dem vorletzten Falle eine neue
Qualität, im letzten eine neue Modalität erschienen. Schon weniger
durchsichtig sind die Verhältnisse bei der zweiten Eigenschaft der
Empfindung, der Intensität. Von der Intensität irgendeines Vorganges zu
reden, scheint vielen nur dann einen Sinn zu haben, wenn dieser Vorgang
eine +reine Intensitätsänderung+ zuläßt, d. h. wenn seine Intensität
sich ändern kann, ohne daß sich gleichzeitig auch die Qualität
verändert. Eine solche reine Intensitätsänderung wird allgemein
angenommen bei den Tönen, hingegen bei den Farbenempfindungen vielfach
angezweifelt, weshalb auch die Intensität als allgemeine Eigenschaft
der Empfindung angefochten wird. Die Frage nach der zeitlichen Dauer,
der dritten allgemeinen Eigenschaft, darf nicht mit der Frage nach
der Dauer des Reizes verwechselt werden, die erforderlich ist, damit
eine bestimmte Empfindung im Bewußtsein hervorgerufen werden könne. Es
fragt sich vielmehr, ob die voll entfaltete Empfindung, deren Dauer
bekanntlich sehr verschieden sein kann, überhaupt erlebbar sei, wenn
ihre zeitliche Dauer auf Null reduziert würde und die Empfindung in
einem unteilbaren Moment erlebt werden müßte. Eine beweisbare Antwort
wird sich auf diese Frage in keinem Sinne geben lassen. Es bleibt darum
auch fraglich, ob die zeitliche Ausdehnung eine allgemeine Eigenschaft
der Empfindung ist. Einer Empfindungseigenschaft ist es nämlich
wesentlich, daß sie nicht auf Null gebracht werden kann, ohne daß damit
die Empfindung selbst ihr Ende erreicht. Daß endlich die räumliche
Ausdehnung keine allgemeine Eigenschaft der Empfindung ist, dürfte kaum
bestritten werden. So wenig die Farbenempfindung ohne eine räumliche
Ausdehnung verwirklicht werden kann, so wenig scheint die Tonempfindung
ihrer zu bedürfen oder auch nur fähig zu sein. Man erkennt hieraus,
daß sich zwar die Empfindungserlebnisse unter einen allgemeinen Begriff
zusammenfassen lassen, daß dieser Begriff aber noch sehr verschieden
geartete Bewußtseinserscheinungen einschließt. Als wirklich allgemeine
Eigenschaft dieser verschiedenen Erlebnisse läßt sich eben nur die
Qualität und, in einem erweiterten Sinne, die Intensität nennen.
Literatur
A. +Messer+, Empfindung und Denken. 1908.
A. +Pfänder+, Einführung in die Psychologie.² 1920.
2. Kap. Die höheren Empfindungen
A. Die Gesichtsempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gesichtsempfindungen
Unter den zahlreichen Inhalten, die wir als Empfindungen bezeichnen,
sondert sich leicht und scharf umgrenzt die umfangreiche Gruppe
aus, welche der Sprachgebrauch als +Farben+ zusammenfaßt. Eine rein
psychologische Beschreibung dieser Empfindungen läßt sich nicht
geben. Sie sind ein letztes Erlebnisdatum, das nur durch sich selbst
hinreichend gekennzeichnet wird. Für den Farbentüchtigen zerfallen sie
in zwei Hauptarten, in die farblosen Lichter, auch +neutrale+ oder
tonfreie Farben genannt, und in die +bunten Farben+. Die farblosen
Lichter lassen sich nach ihrer inhaltlichen Ähnlichkeit in eine
kontinuierliche Reihe (Qualitätenreihe) ordnen, an deren einem Ende
das tiefste Schwarz, an deren anderem Ende das blendendste Weiß zu
stehen kommt, während die verschiedenen Abstufungen des Grau beide
Enden verbinden. Geometrisch und symbolisch wäre diese Qualitätenreihe
durch eine begrenzte Gerade darzustellen. Prüfen wir die verschiedenen
Abschnitte der Schwarz-Weißreihe darauf, ob die betreffenden Inhalte
der Definition der Empfindung genügen, so erhebt sich nur die eine
Schwierigkeit, ob wirklich die Graunuancen als +einfache Inhalte+
anzusprechen sind. Weist doch eine jede eine Ähnlichkeit sowohl mit
Schwarz wie mit Weiß auf. Allein ähnlich sein bedeutet noch nicht
zusammengesetzt sein. Nur wo sich im erlebten Inhalt Teile absondern,
die als solche psychisch zu verwirklichen sind, da liegt eine Mehrheit
von Empfindungen vor. Dieser Gesichtspunkt gilt auch für die noch zu
besprechenden Abstufungen der bunten Farben.
Um die bunten Farben zu ordnen, denken wir uns, wir erlebten sie in
ihrer größtmöglichen Ausgesprochenheit. Zunächst sei ein reines Rot,
ein reines Gelb und zahlreiche Schattierungen von Orange gegeben.
Bringt man diese in eine Qualitätenreihe, so beginnt sie etwa mit
Rot; dann folgen jene Arten von Orange, die dem Rot ähnlicher sind
als dem Gelb, dann ein Orange, das gleichviel Ähnlichkeit mit Rot
wie mit Gelb hat, weiter Nuancen, die mehr dem Gelb als dem Rot
verwandt sind, und endlich das reine Gelb. Die beiden Enden der Reihe
zeigen keine derartige Ähnlichkeit miteinander, die Zwischenfarben
hingegen haben Ähnlichkeit mit Rot wie mit Gelb. Ausgehend vom Rot
läßt sich feststellen, daß die Rotähnlichkeit immer mehr ab- und die
Gelbähnlichkeit immer mehr zunimmt. Ebenso wie die Schwarz-Weißreihe
wäre auch die Rot-Gelbreihe durch eine begrenzte Gerade zu
symbolisieren. Die nämliche Betrachtung wiederholt sich bei den
zwischen Gelb und Grün, Grün und Blau, Blau und Rot einzuschließenden
Farbentönen. Die geometrische Symbolisierung ergibt also vier Gerade,
deren Endpunkte je zwei Geraden gemeinsam sind und die darum ein
geschlossenes Viereck bilden. An seinen Endpunkten liegen die vier
Urfarben (+Hering+) Rot, Gelb, Grün, Blau. Sie weisen miteinander
keine Ähnlichkeit nach Art der Zwischenfarben auf und bedingen darum
je einen Richtungswechsel in der gesamten Farbenreihe: das von Rot
bis an das Gelb vorhandene Rotmoment hört mit dem Gelb auf und ist in
der Gelb-Grünreihe nicht mehr zu beobachten usf. Ob die Seiten des
Farbenviereckes als gleich lang anzunehmen sind, wäre davon abhängig,
ob in jeder der vier Farbenreihen gleichviel unterscheidbare Farbentöne
erlebt werden können.
Wie von jeder Urfarbe zu ihren beiden Nachbarfarben, so gibt es auch
direkte Übergänge von den Urfarben und den eingeschlossenen Tönen
zu Weiß, zu Schwarz und zu sämtlichen Graunuancen. Dieser Tatsache
verleiht man einen passenden Ausdruck, indem man die Schwarz-Weißlinie
zu ungefähr gleichen Teilen nach oben und unten durch das Farbenviereck
gehen und somit die Längsachse eines Oktaeders bilden läßt. (Fig. 1.)
In diesem Farbenoktaeder haben alle erlebbaren Farben ihren bestimmten
Platz: die obere Spitze nimmt das Weiß, die untere das Schwarz ein,
während die Urfarben an den Ecken der mittleren Ebene liegen. Da aber
das Gelb dem Weiß ähnlicher ist als das Blau, so ist die Farbenebene
nicht senkrecht, sondern schräg zur Schwarz-Weißlinie einzuzeichnen.
[Illustration: Fig. 1. Die Farbenpyramide.
Nach _Titchener_, Lehrbuch der Psychologie S. 63. Leipzig 1910,
_Barth_.]
Jede Farbe kann prinzipiell durch drei Momente bestimmt und in das
Farbenoktaeder eingeordnet werden: durch den Farbenton, d. h. durch
ihre Ähnlichkeit mit einer der vier Urfarben, durch ihre Helligkeit,
d. h. durch ihre Ähnlichkeit mit Weiß und durch ihre Sättigung, d. h.
durch die Deutlichkeit der Buntheit bzw. ihre Unähnlichkeit mit den
Tönen der Schwarz-Weißreihe.
Ein anderes Problem bildet die Frage nach der Intensität der
+Farbenempfindungen+. Man wird hier zweckmäßig zwei Fragen
auseinanderhalten: Gibt es bei der Farbenempfindung eine
Intensitäts+steigerung+? und: Kann den Farbenempfindungen wenigstens
+eine+ Intensitäts+stufe+ zuerkannt werden? War unsere Anordnung
der Farben in das Oktaeder richtig, so ist die erste Frage zu
verneinen; denn wir bestimmten jede Farbe nur aus den drei Momenten
der spezifischen Qualität, der Helligkeit und der Sättigung; für
eine Intensitätssteigerung bleibt kein Raum. Auch wenn irgendeine
der Farben auf dem kürzesten Weg zum Verschwinden gebracht wird, so
geschieht das nicht durch Herabsetzung ihrer Intensität, sondern
dadurch, daß eine andere Empfindung an ihre Stelle tritt, mag diese
andere Empfindung eine bunte Farbe oder auch Schwarz sein. Denn auch
Schwarz ist als positive Empfindung anzusehen. Wird es ja ebenso wie
alle andern Farben erlebt und draußen scharf umgrenzt vorgefunden,
zum Unterschied von dem bloßen Ausfallen, dem Nichthaben einer
Empfindung. Darum kann auch die Schwarz-Weißreihe nicht als eine
Intensitätsreihe angesprochen werden, wie Helmholtz meinte. Man muß
sich bei dieser Erwägung vor verschiedenen Verwechslungen hüten. Ganz
außerhalb der Erörterung hat die +Intensität des+ die Empfindung
hervorrufenden +Reizes+ zu bleiben, da es sich nur um die psychischen
Inhalte handelt. Ferner darf man die Intensität der Farbe nicht ihrer
+Helligkeit+, d. h. ihrer Ähnlichkeit mit Weiß gleichsetzen. Auch
die als +Eindringlichkeit+ bezeichnete Fähigkeit einer Empfindung,
die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gehört in einen ganz anderen
Problemkreis. Es muß vielmehr nach einer Empfindungseigenschaft
gesucht werden, wie sie deutlich bei den Tönen erlebt wird, die bei
gleichbleibender Qualität eine verschiedene Stärke besitzen können.
Fassen wir diese Intensität als Abstand von Null auf, so werden wir
jedem Ton eine bestimmte Intensität zuerkennen müssen, auch wenn
es einmal aus irgendeinem Grunde unmöglich würde, die Intensität
des Tones wie früher zu verändern. Aus dem gleichen Grunde wird man
auch jeder Farbenempfindung eine gewisse Intensitätsstufe zuerkennen
müssen, obwohl es unmöglich bleibt, diese herauf- oder herabzusetzen.
Neuerdings tritt +Stumpf+ für eine Intensitätsänderung der Farben
innerhalb enger Grenzen ein. (Vgl. +Stumpf+, Die Attribute der
Gesichtsempfindungen. 1917.)
2. Die Beziehung der Farbenempfindung zu den äußeren Reizen
Da die Empfindungen eine letzte psychische Gegebenheit sind, ist
es unmöglich, sie psychologisch zu erklären. Wir können aber über
manche ihrer Bedingungen Aufschlüsse gewinnen, wenn wir den rein
psychologischen Standpunkt verlassen und auf das körperliche Organ
wie auf die äußeren Reize achten, die an dem Zustandekommen der
Empfindungen beteiligt sind. Diese Grenzüberschreitung ist geboten,
weil wir ohne sie gewisse Gesetzmäßigkeiten nicht verstehen können, die
sich an den Bewußtseinsinhalten selbst zeigen.
Das Organ, durch welches die Farbeninhalte erstmals in unserem
Bewußtsein geweckt werden, ist das Auge. Sein Bau wird hier als
bekannt vorausgesetzt. Als +normale Reize+ wirken auf das Auge die
+Ätherwellen+ ein. Diese unterscheiden sich voneinander durch ihre
verschiedene +Länge+, ihre verschiedene +Intensität+ (Amplitude) und
durch ihre größere oder geringere +Reinheit+. Im allgemeinen hängt
der Farbenton von der Wellenlänge, die Helligkeit von der Intensität
und die Sättigung von der Reinheit ab. Stellt man im Spektralapparat
die reinen Farben her, so beginnen diese mit Rot, dem eine mittlere
Wellenlänge von rund 700 µµ entspricht. Urgelb entfällt dann auf die
Wellenlänge 580, Urgrün auf 500, Urblau auf 480. Für ultrarote und
ultraviolette Strahlen ist unser Auge nicht empfänglich. Alle Farben,
die nicht im Spektrum enthalten sind, müssen durch die Zusammensetzung
verschiedene Wellen erzeugt werden. So namentlich Weiß und Purpur.
Übrigens können auch jene bunten Farben, die im Spektrum eine eigene
Wellenlänge haben, durch die Vereinigung anderer Wellen hervorgerufen
werden. Nur der Schwarzempfindung entspricht kein äußerer Reiz.
Gleichwohl kann man durch bloßes Schließen der Augen oder durch
den Aufenthalt in einem lichtleeren Kaum noch nicht die tiefste
Schwarzempfindung erzeugen. Diese entsteht vielmehr, wenn man ein
dunkles Grau durch den Kontrast mit einem umgebenden Weiß vertieft.
Die Helligkeit der bunten Farben ist von zwei Faktoren abhängig.
Zunächst von der Wellenlänge; denn Gelb ist heller als Blau und Rot
(die spezifische Helligkeit der Farben). Sodann von der Intensität der
Reize. Nimmt die Intensität z. B. eines roten Lichtes zu, so wächst
innerhalb mittlerer Grenzen die Helligkeit (Weißlichkeit) des Rot.
Müssen wir schon diese Wirkung der mittleren Intensitätssteigerung als
eine qualitative Änderung der Farbenempfindung bezeichnen, so erst
recht die bei größerer Änderung der Intensität eintretende Änderung
der Farbe: Eine starke Vermehrung oder Verminderung der Intensität
des Farbenreizes beeinträchtigt auch den Farbenton. Rot und Grün
werden mit zunehmender Intensität des Lichtes direkt weiß; alle andern
Töne nähern sich dem Gelb oder Blau und gehen dann in Weiß über. Bei
starker Intensitätsabnahme hingegen dehnen sich im Spektrum Rot und
Grün aus. Ebenso verschiebt sich die Helligkeitsverteilung. Das
Maximum der Helligkeit rückt von Gelb nach Grün. Erscheint bei guter
Beleuchtung eine rote Fläche heller als eine blaue, so kehrt sich das
Helligkeitsverhältnis um, sobald man die beiden Farben sowie das Auge
verdunkelt. (Purkinjesches Phänomen.) Setzt man am Spektralapparat
die Lichtintensität noch weiter herab, so schwinden alle Farben, und
es bleibt ein farbloses Band zurück mit dem Helligkeitsmaximum an der
Stelle, wo zuvor das Grün gestanden hat.
Zur bequemeren Besprechung der Beziehungen zwischen Reiz und
Empfindung mußten wir auf die Farben+wahrnehmung+ übergreifen. Eine
+isolierte Empfindung+ ist ja im Grunde nur ein Abstraktionsprodukt.
Sie läßt sich einigermaßen annähernd veranschaulichen, doch nicht als
solche herstellen. (Vgl. W. +Baade+, Gibt es isolierte Empfindungen?
6. Kongreßbericht 1914.) -- Zum Studium der Farbenempfindungen
eignen sich nicht die +Oberflächenfarben+ der Gegenstände, da diese
durch ihre Verbindung mit den Dingen und durch unser Wissen davon
in ihrer Erscheinungsweise beeinflußt werden. Tauglicher sind die
von +Katz+ als +Flächenfarben+ bezeichneten Eindrücke, wie sie am
Spektralapparat oder bei Betrachtung einer farbigen Fläche durch
das Loch eines Schirmes erzielt werden. -- +Die Vergleichung bunter
Farben auf ihre Helligkeit+ ist auf direktem Wege nur sehr schwer
möglich. Man hilft sich, indem man versucht, jede der bunten Farben
zwischen ein Grau aus einer Grauskala einzuschließen, das sicher
heller, und ein anderes, das sicher dunkler ist als die betreffende
Farbe. Durch Übung kann man die Grenzen immer enger ziehen und
gewinnt so indirekt einen Maßstab für die Helligkeit der beiden
Farben. Über andere Methoden siehe +Langfeld+, Über heterochrome
Helligkeitsvergleichung ZPs 33. R. +Pauli+, Grundfragen der
Photometrie. (Die Naturwissenschaften Heft 41, 1913.)
3. Die Gesetze der Farbenmischung
Wirken mehrere Töne auf das Ohr ein, so entsteht eine Tonverbindung,
aus der sich die Einzeltöne bei etwas Übung leicht heraushören lassen.
Wirken jedoch mehrere farbige Lichter gleichzeitig auf den Sehnerv
ein, so entsteht im Bewußtsein nur eine einzige einfache Empfindung.
Nur die Rücksicht auf ihre Entstehung berechtigt die psychologisch
unzulässige Bezeichnung solcher Farben als Mischfarben. Die Gesetze
der Farbenmischung bilden die Hauptgrundlage für jede Theorie der
Gesichtsempfindung. Sie wurden darum schon von älteren Forschern wie
+Newton+, +Graßmann+, +Helmholtz+ eingehend behandelt.
Eine Mischfarbe läßt sich erzeugen, indem man auf einer farbigen
Kreisscheibe einen andersfarbigen Sektor anbringt und beide rotieren
läßt. Befestigt man darüber eine kleinere, konzentrische Scheibe, so
hat man die Möglichkeit, die am Rande erzeugte Mischfarbe mit der Farbe
der inneren Scheibe bequem zu vergleichen. Durch geeignete Wahl der
farbigen Scheiben ist es nun erreichbar, die Farbe des äußeren Ringes
der der inneren Scheibe gleichzumachen, d. h. eine +Farbengleichung+
herzustellen. Sie wird durch die Summe der Bogengrade der Mischfarben
einerseits und durch die verglichene Farbe anderseits ausgedrückt.
Mischt man auf die besagte Weise Rot mit Blau in bestimmter
Nuancierung, so erhält man Purpur, eine Farbe, die im Spektrum nicht
vorkommt. Nimmt man dagegen zu Rot Blaunuancen, die mehr nach Grün zu
liegen, so wird die Mischung immer ungesättigter -- wie überhaupt die
Mischfarben in der Regel weniger gesättigt sind als ihre Komponenten
-- und dem Grau ähnlicher, bis bei einem gewissen Grün eine tonfreie
Farbe entsteht: Ein bestimmtes Rot, mit einem bestimmten Grün gemischt,
ergibt ein bestimmtes Grau. Es läßt sich nun zeigen, daß für jede Farbe
eine andere existiert, die, mit ihr gemischt, Grau ergibt. (+Satz der
komplementären Farben.+) Mischt man jedoch zwei nichtkomplementäre
Farben, so erhält man eine bunte Mischfarbe, und zwar jene, die
innerhalb des Farbenviereckes auf der kürzeren Verbindungsstrecke der
beiden gemischten Farben liegt. (+Satz der Mischfarben.+) Wählt man
darum drei Farben so aus, daß die komplementäre einer jeden auf dem
Farbenviereck oder dem Farbenkreis zwischen den beiden andern liegt,
so kann man durch passende Mischungsverhältnisse alle Farbentöne
hervorrufen. Um möglichst gesättigte Mischfarben herzustellen, muß man
gewisse nichtkomplementäre Nuancen von Rot und Grün nebst Blauviolett
als Mischfarben benutzen. Auf Grund dieser Tatsachen ist endlich der
+dritte Satz+ verständlich, daß gleich aussehende Farben, miteinander
gemischt, gleich aussehende Mischungen ergeben.
Über die verschiedenen Methoden zur Herstellung der Farbenmischungen
vgl. +Fröbes+ I 51 f. Unstatthaft ist die Mischung von farbigen
Pigmenten oder Flüssigkeiten. -- Die Farbengleichungen verschiedener
Beobachter sind individuell etwas verschieden, weil die Netzhautmitte
der einzelnen Individuen eine verschieden starke Gelbpigmentierung
aufweist.
4. Der Simultankontrast
Legt man auf einen roten Grund ein kleineres Stück graues Papier und
fixiert etwa dessen Mitte während 1-2 Sekunden, so erscheint das graue
Papier grün gefärbt. Wiederholt man den Versuch mit den verschiedensten
Farben, so ergibt sich der Satz, daß jede Farbe in ihrer Umgebung ihre
komplementäre Farbe induziert (+Farbenkontrast+). Die Erscheinung
wird weit auffälliger, wenn man das bunte Umfeld und das graue Infeld
mit einem durchsichtigen Seidenpapier bedeckt (+Florkontrast+).
Entsprechend wird ein mittelgraues Papier auf weißem Grund verdunkelt,
auf schwarzem Grund aufgehellt (+Helligkeitskontrast+). Ist das
kontrastleidende Infeld gleichfalls gefärbt, so entsteht nach den
Gesetzen des vorigen Abschnittes eine Farbenmischung. Da nun die
Tendenz zur Induktion der Gegenfarbe von jedem Teilstück einer
farbigen oder hellen Fläche gilt, so läßt sich leicht ableiten, daß
die Sättigung bzw. Helligkeit innerhalb einer Fläche geringer sein
muß als am Rand (+Binnenkontrast und Randkontrast+). Dabei wird stets
eine Fixation des Blickes während einiger Sekunden vorausgesetzt.
Der Simultankontrast entsteht momentan, ist anfangs am deutlichsten
und geht dann rasch zurück. Entfernt man die beiden kontrastierenden
Felder ein wenig voneinander oder trennt man sie durch eine schwarze
Grenzlinie, so verringert sich der Kontrast oder verschwindet ganz.
Der Simultankontrast könnte auf den ersten Blick als eine
Beeinträchtigung unseres Sehens erscheinen. In Wirklichkeit kommt
er diesem sehr zustatten. Ohne den Simultankontrast wären nämlich
alle unsere Gesichtswahrnehmungen arg verschwommen. Infolge der
verschiedensten Unregelmäßigkeiten der brechenden Medien entsteht
nämlich auf der Netzhaut eine sehr unscharfe Abbildung des äußeren
Gegenstandes, der auch nur ein Gesichtsbild mit sehr ungenauen Umrissen
entsprechen könnte. Durch die Induktion der Gegenfarbe werden nun die
schwächeren, über das wahre Bild hinausragenden „Verzeichnungen“ mehr
oder weniger aufgehoben. Vom Standpunkt der noch zu besprechenden
+Hering+schen Farbentheorie beruht ein weiterer Vorteil des
Simultankontrastes darin, daß durch ihn die Netzhaut für die Aufnahme
des wandernden Farbeneindruckes gewissermaßen vorbereitet wird: die
Stelle der Netzhaut, die soeben infolge des Kontrastes zu einem roten
Objekt grün empfindet, ist in der besten Verfassung, um alsbald das
rote Objekt wahrzunehmen.
Die Tatsachen des +Simultankontrastes+ erklärt man heute allgemein
mit +Hering+, +Mach+ und älteren Forschern +physiologisch+. Man denkt
sich die benachbarten Stellen der Netzhaut oder eines andern Teiles
des nervösen Apparates in funktioneller Wechselwirkung zueinander
stehend, ähnlich wie die Wassersäulen in einer Manometerröhre: sinkt
die eine Wassersäule, so muß die Nachbarsäule steigen. Entspricht
nun dem Sinken die Empfindung der einen Gegenfarbe, so ist mit dem
Steigen die der andern verbunden; empfindet ein Netzhautelement rot,
so muß darum das Nachbarelement grün empfinden. +Helmholtz+ wollte die
Kontrasterscheinungen psychologisch als „Urteilstäuschung“ oder, wie
man heute sagen müßte, als Resultat der Auffassung deuten. Gegen diese
nicht mehr haltbare Anschauung sei nur ein durchschlagender Beweis von
G. E. +Müller+ angeführt. Einem Grünblinden wurden zwei Hintergründe
vorgelegt, ein grüner und ein grauer, die er beide für gleich grau
ansah. Auf beiden brachte man nun ein kleineres graues Quadrat an.
Während nun das Quadrat auf dem grauen Hintergrunde seine Farbe nicht
änderte, sah der Grünblinde das Quadrat auf dem grünen Hintergrund in
roter Farbe.
Die Tatsachen, auf die sich +Helmholtz+ stützte, gehören zumeist
in den Bereich der Oberflächenfarben (s. S. 25), wo wirklich
die Auffassung eine bedeutsame Rolle spielt, wie später noch
zu zeigen ist. Die hier besprochenen Gesetzmäßigkeiten werden
aber in erster Linie stets von den Flächenfarben verstanden. Die
auffällige Erhöhung des Kontrastes durch die Überdeckung mit einem
(weißen oder schwarzen) Flor dürfte auch darin begründet sein,
daß er die Farben als Flächenfarben erscheinen läßt. -- Andere
beachtenswerte Anschauungen über den Kontrast von E. R. +Jaensch+
(6. Kongreßbericht 1914) und F. W. +Fröhlich+ („Grundzüge einer
Lehre vom Licht und Farbensinn“ 1921). -- Übrigens leistet der
heute freilich eingebürgerte Ausdruck des Farben+kontrastes+ einer
Begriffsverwirrung Vorschub. Die Farben+inhalte+ rot-grün, gelb-blau
besagen nämlich keinerlei Gegensatz; ebensowenig die physikalischen
Reize.
5. Die Umstimmung der Netzhaut
Ein Lichtreiz, der auf eine bestimmte Stelle der Netzhaut einwirkt,
ruft, wie soeben geschildert, gleichzeitig eine Erregung der nicht
unmittelbar gereizten Netzhautteile hervor. Er verursacht aber auch,
nachdem er selbst schon vergangen ist, auf der unmittelbar gereizten
Stelle eine nachdauernde Erregung, der mannigfache Nachempfindungen
entsprechen.
Blickt man für einen Moment in ein sehr helles Licht und schließt
alsbald das Auge, so sieht man für eine Weile noch das Bild des
Lichtes. (+Positives Nachbild.+) So erscheint auch ein im Dunkeln
rasch bewegter Funke nicht als wandernder Punkt, sondern als
Lichtlinie. Fixiert man einen farbigen Gegenstand etwa eine halbe
Minute lang und schaut dann auf eine helle Wand, so hat man das Bild
des Gegenstandes in komplementärer Farbe vor sich, und zwar um so
lebhafter, je intensiver und anhaltender der Reiz war. (+Negatives
Nachbild, sukzessiver Kontrast.+) Betrachtet man eine Landschaft
durch ein gelbes Glas, so schwindet allmählich die gelbliche Färbung
der Gegenstände; sie erscheinen nach und nach in ihrer objektiven
Belichtung. Die Netzhaut ist für Gelb ermüdet. Richtet man nach
Entfernung des gelben Glases das Auge auf eine farblose Fläche, so
zeigt sie das komplementäre Blau. Diese als +Umstimmung der Netzhaut+
bezeichnete Erscheinung ist ganz allgemein: jede Lichteinwirkung setzt
die Aufnahmefähigkeit für das einwirkende Licht herab und erhöht die
für das gegenfarbige Licht. Darum erscheint auch farbiges Lampenlicht
nach kurzer Zeit als weiß. (Vgl. jedoch S. 109.) Im Zusammenhange
damit steht die sog. +gleichsinnige Lichtinduktion+: Fixiert man
eine farblose Scheibe auf farbigem Grund, so läßt sie zuerst die
Kontrastfarbe erkennen. Nach einiger Zeit aber tritt an die Stelle der
Kontrastfarbe die komplementäre, d. h. die Farbe des Umfeldes, so daß
Grund und Scheibe in dem gleichen Lichte erscheinen.
Die Erklärung der Umstimmungserscheinungen wird durchgängig auf dem
Gebiete der Physiologie gesucht. Sie ist je nach der allgemeinen
Farbentheorie, welche die einzelnen Autoren vertreten, verschieden.
An dieser Stelle genügt uns die schon bei dem Simultankontrast
verwertete Hilfsvorstellung der kommunizierenden Röhren. Lassen wir die
Farbenempfindung nicht nur von dem auf der einen Wassersäule ruhenden
Druck, sondern auch von der Menge des in der Röhre befindlichen Wassers
abhängig sein, so hat man eine Veranschaulichung dafür, daß mit der
Andauer des Reizes die geweckte Farbenempfindung schwächer werden und
die Disposition zur Empfindung der Gegenfarbe anwachsen muß. Eine
Ausnahme macht dann allerdings die Schwarz-Weißempfindung, deren
Verhalten die Zuhilfenahme neuer Hypothesen erfordert.
6. Die zeitlichen Verhältnisse der Lichtwirkung
Exponiert man eine weiße Scheibe weniger als ⅒ Sekunde, so wird sie
nicht als volles Weiß, sondern als Grau gesehen. Exponiert man auf
dieselbe Weise (tachistoskopisch) eine farbige Scheibe, so erscheint
sie farblos, und erst, wenn der farbige Reiz etwa ½ Sekunde lang auf
das Auge einwirkt, wird er richtig wahrgenommen. Man spricht hier von
dem +Ansteigen der Empfindung+. Der Reiz muß eine gewisse (zeitliche)
Schwelle überschreiten, damit die Farbe nicht nur als Licht
(generelle Schwelle), sondern auch als Farbe (spezifische Schwelle)
erscheine.
Hört der Lichtreiz auf, so schwindet damit noch nicht sofort die
Lichtempfindung, sondern sie klingt allmählich ab. Der schlichten
Beobachtung scheint dieses Abklingen ein bloßes Nachlassen der
eigentlichen Empfindung zu sein. Genauere Untersuchungen lassen
es als möglich erscheinen, daß das +Abklingen der Empfindung+
mit dem positiven Nachbild zusammenfällt, daß aber zwischen dem
positiven Nachbild und der eigentlichen durch den Lichtreiz
unmittelbar hervorgerufenen Empfindung dem primären Bild, noch eine
andere Erregung, das sekundäre Bild, liegt. (Vgl. +v. Kries+, Die
Gesichtsempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III. Bd.
8, Seite 101 ff.) Auf das positive Nachbild folgt dann, wie oben
beschrieben, das negative.
Wechseln auf einer rotierenden Scheibe weiße und schwarze Sektoren
miteinander ab, so hat das entstehende Grau die gleiche Helligkeit,
wie wenn das Weiß seine Helligkeit der ganzen Scheibe mitteilen
müßte. Hat also der weiße Sektor den Umfang von 180°, und wäre der
schwarze Sektor absolut dunkel, so erscheint die rotierende Scheibe
so hell, wie wenn die halbe Intensität der 180° Weiß auf die ganze
Scheibe verteilt wäre. (+Talbotsches Gesetz.+) Es verhält sich somit
das Auge in dieser Beziehung wie eine photographische Platte, die um
so länger exponiert werden muß, je schwächer die Beleuchtung ist,
falls der gleiche Wirkungsgrad erzielt werden soll.
Zu den zeitlichen Verhältnissen der Lichtreize können wir auch
die merkwürdigen Erscheinungen rechnen, die sich bei längerem
Aufenthalt im Dunkeln oder im Hellen ergeben. Tritt man aus einem
hell erleuchteten Raum in einen dunkeln, so kann man zunächst in
ihm nichts unterscheiden. Allmählich wird jedoch das Auge für die
schwachen Reize empfindlich, es herrscht die +Dunkeladaptation+ oder
das +Dämmerungssehen+. Nach einem Aufenthalt von etwa 20 Minuten
hat sich die Empfindlichkeit gegenüber dem Anfangszustand um das
8000fache vermehrt. -- Verläßt man nun den dunkeln Raum, so wird man
von der Helle empfindlich geblendet und vermag nichts zu sehen. Nach
kurzer Zeit gewöhnt sich jedoch das Auge wieder an das Licht: es ist
+helladaptiert+.
Wie schon oben erwähnt, werden bei Dunkeladaptation keine Farben-,
sondern nur noch Helligkeitsverschiedenheiten empfunden. Dabei
ruht das Helligkeitsmaximum nicht mehr im Gelb, sondern im Grün;
Blau erscheint heller als Rot. Aus diesem Grunde werden auch
Farbengleichungen für das dunkeladaptierte Auge unwahr. Nach den
bisherigen Forschungen gilt letzteres indessen nicht für den gelben
Fleck, die Stelle des deutlichsten Sehens. Diese für die Theorie
der Lichtempfindungen höchst bedeutsame Ausnahme wird freilich von
+Hering+ bestritten. (Archiv f. Ophthalmologie Bd. 90, S. 1 ff.)
7. Die örtlichen Verhältnisse der Lichtwirkung
Das Auge ist nicht allein auf die Leistungsfähigkeit der
Netzhautmitte angewiesen. Wieviel wir dem Sehen mit den seitlichen
und peripheren Teilen verdanken, können wir uns veranschaulichen,
wenn wir eine enge Röhre vor das Auge halten. Es läßt sich
leicht ausmessen, wie weit die Ausdehnung des nichteingeengten
Gesichtsfeldes reicht. Man stelle einen halbkreisförmigen Reif so
vor das Auge, daß dieses sich im Kreiszentrum befindet und die Mitte
des in der horizontalen Ebene aufgestellten Ringes fixiert. Nähert
man jetzt einen kleinen Gegenstand ruckweise vom äußeren Ende den
Ring entlang der Mitte, so findet man den Punkt, wo der Gegenstand
erstmals gesehen wird. Drückt man die Entfernung dieses Punktes von
der Reifmitte in Bogengraden aus, so hat man die seitliche Ausdehnung
des Gesichtsfeldes nach innen bzw. nach außen gemessen. Dreht man
alsdann den Reif um 90°, so daß er in der Vertikalebene liegt, so
kann man die obere und untere Grenze ermitteln. Ein nach diesem
Prinzip gebautes Instrument nennt man +Perimeter+.
Untersucht man nun mit Hilfe des Perimeters die
+Helligkeitsempfindlichkeit der Netzhaut bei Dunkeladaptation+, so
ergibt sich, daß diese an der Stelle des deutlichsten Sehens am
geringsten ist und innerhalb gewisser Grenzen nach der Peripherie zu
ansteigt. Dazu stimmt die Praxis der Astronomen, lichtschwache Sterne
nicht zu fixieren, sondern durch „Vorbeisehen“ zu betrachten. Bei
+Helladaptation+ besteht kein Unterschied der Hellempfindlichkeit
für die Mitte und die seitlichen Partien, dagegen zeigen sich
überraschende +Verschiedenheiten für die Farbenempfindungen+. Bringt
man bunte Scheibchen der Reihe nach an verschiedenen Stellen des
Perimeters an, so verschwinden in einer gewissen Zone bestimmte
Schattierungen von Rot und Grün, während andere in Gelb und Blau
übergehen: die +Zone der Rot-Grün-Blindheit+. Rückt man die
Farbenscheibchen noch weiter hinaus, so verschwinden alle Farben. Die
+Netzhautperipherie+ ist +total farbenblind+. Dabei ist der Umstand
bedeutsam, daß die Helligkeitsverteilung auf dieser äußersten Zone
mit der auf der Netzhautmitte übereinstimmt. Also auch hier ist
Gelb die hellste Empfindung, während bei der Dunkeladaptation, wo
gleichfalls die Farben in Grau übergehen, die größte Helligkeit an
der Stelle des Grün beobachtet wird. Auch das ist beachtenswert,
daß ausgedehntere farbige Objekte ebenso wie intensiver beleuchtete
weiter peripherwärts farbig erscheinen, als solche von geringerem
Umfang bzw. geringerer Intensität. Es entspricht endlich den bisher
genannten Tatsachen, wenn die für die Netzhautmitte hergestellten
Farbengleichungen sich auch auf den seitlichen Teilen als gültig
erweisen. Auch dies ist ein für die Theorie bedeutsamer Gegensatz zu
den Verhältnissen bei der Dunkeladaptation.
8. Die Farbenblindheiten
Bevor sich eine Theorie der Gesichtswahrnehmungen versuchen läßt,
müssen noch die Tatsachen aufgezählt werden, die aus dem experimentum
naturae bekannt geworden sind. Infolge angeborener Mängel, seltener
infolge von Krankheit (Vergiftung), stellen sich mannigfache
Abnormitäten im Farbensehen ein. Je leichter sich nun diese aus
einer Theorie verständlich machen lassen, um so mehr gewinnt die
betreffende Theorie an innerer Wahrscheinlichkeit. Breitet man
vor verschiedenen Individuen eine Anzahl farbiger Wollbündel aus
und greift man aus dieser Menge ein grünes Wollbündel heraus mit
der Aufforderung, alle gleichfarbigen neben das grüne zu legen,
so werden sich immer Individuen finden, die neben das grüne auch
graue und braune Wollfäden legen. Diese Individuen halten grau und
grün für gleich, weil sie eben grün überhaupt nicht empfinden.
Wiederholt man den Versuch mit einer andern Farbe, so wird man bei
einer hinreichend großen Zahl von Prüflingen solche finden, die für
andere Farben unempfänglich sind. Diese Anomalien des Farbensehens,
die Farbenblindheiten, wurden erst 1794 von +Dalton+ entdeckt. Sie
konnten so lange unbekannt bleiben, weil die Farbenblinden in der
Regel auch jene Farben richtig benennen, die sie als solche gar nicht
empfinden. Sie stützen sich dabei auf andere Merkmale und bezeichnen
etwa ihr helleres „Rot“ ebenso wie der Normale als Gelb.
Wie die fortschreitenden Untersuchungen ergeben, sind die +Arten der
Farbenblindheiten+ sehr mannigfaltig. Zu einer ersten Orientierung
genügt es indes, die drei wichtigsten und verbreitetsten Klassen
aufzuzählen: die Rot-Grün-Blindheit, die Gelb-Blau-Blindheit und
die totale Farbenblindheit. Die erste ist die häufigste. Sie findet
sich bei nahezu 4% aller Männer; bei Frauen jedoch sehr selten,
obwohl sie durch die Mutter vererbt wird. Der Rot-Grün-Blinde
sieht an der Stelle des Spektrums, wo für den Normalen das Grün
liegt, weiß. Links von dieser Stelle erblickt er nur Gelbnuancen,
rechts nur Abschattungen von Blau. Für die seltener anzutreffenden
Gelb-Blau-Blinden existieren nur die verschiedenen Arten von Rot
und Grün. Den total Farbenblinden endlich erscheint die Außenwelt
grau in grau, ähnlich wie sich dem Normalen ein photographisches
Bild darstellt. Das Spektrum der total Farbenblinden weist nicht
bei allen die gleiche Helligkeitsverteilung auf. Manche haben, um
nur die wichtigsten zu erwähnen, die gleiche Helligkeitsverteilung
wie das normale helladaptierte Auge, andere empfinden die
Helligkeitsabstufungen wie das dunkeladaptierte Auge.
Über verschiedene Abarten der Farbenanomalien, ihre Klassifikation
und andere Methoden ihrer Feststellung siehe +Fröbes+, I, 81 ff.
9. Die Theorie des Hell- und Dunkelsehens. Duplizitätstheorie
Wir beginnen die Darstellung der Theorie der Gesichtsempfindung mit
jener theoretischen Anschauung, die an letzter Stelle ausgebildet
wurde. Die Endteile des in der Netzhaut sich aufspaltenden und
ausbreitenden Sehnerven sind in der Hauptsache zwei anatomisch
verschieden gebaute Organe: die spindelförmigen Stäbchen und die
flaschenförmigen Zapfen. (Fig. 2.) Sie sind nicht gleichmäßig über
die Netzhaut verteilt, sondern die Netzhautmitte (fovea) enthält auf
der Stelle des deutlichsten Sehens (auf einer Fläche von etwa ½ mm
Durchmesser) nur Zapfen, während nach der Peripherie hin die Zapfen
immer spärlicher werden.
Die schon erwähnten Gesetzmäßigkeiten der Hell- und Dunkeladaptation,
insbesondere die verschiedene Helligkeitsverteilung im Spektrum
während dieser Zustände, die geringe Helligkeitsempfindlichkeit der
Netzhautmitte des dunkeladaptierten Auges, die totale Farbenblindheit
mit der Helligkeitsverteilung des Dunkelauges, die Tatsache, daß
in der Dämmerung ein fixierter weißlicher Fleck auf dunklem Grunde
verschwindet und umgekehrt ein schwarzer Fleck auf weißem Grunde
ganz ausfällt (K. L. +Schaefer+), alle diese Umstände führten zu der
Annahme, daß den anatomisch verschieden gebauten Endorganen auch
eine verschiedene Funktion zukomme: den Stäbchen die Wahrnehmung
der Schwarz-Weißreihe bei sehr schwacher Beleuchtung (der
+Dämmerungsapparat+), den Zapfen die Wahrnehmung aller Farben bei
hellem Licht (der +Hellapparat+). Diese Theorie wurde von M. +Schultze+
(1866) angedeutet und durch +Parinaud+ und namentlich +v. Kries+
ausgestaltet (Duplizitätstheorie).
[Illustration: Fig. 2. Schematischer Querschnitt durch die Retina nach
_Ramon y Cajal_. a und b Stäbchen und Zapfen. c und d Zapfenzellen und
Stäbchenzellen. e und f bipolare Zellen. g, h, i, j, k Ganglienzellen
des Sehnerven. H Optikusfasern. t _Müller_sche Stützfasern. s
zentrifugale Nervenfasern.
Nach _Ebbinghaus_, Grundzüge der Psychologie I 3. Aufl. Seite 187.
Berlin, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de _Gruyter &
Co._]
Die +Duplizitätstheorie+ erhielt eine eigenartige Bestätigung in der
Entdeckung des Sehpurpurs. Diese Substanz findet sich nur bei den
Stäbchen. Vom Licht bestrahlt, zersetzt sie sich augenblicklich und
bildet sich aufs neue, wenn dem Auge das helle Licht entzogen wird.
Es ließ sich nun nachweisen, daß die Unterscheidungsfähigkeit des
Dunkelauges in genau dem gleichen Maße wächst, wie sich der Sehpurpur
mit der Dauer des Aufenthaltes im Dunkeln vermehrt. Nimmt man nun
an, die Zersetzung des Sehpurpurs rufe direkt oder indirekt die
Weißempfindung hervor, so werden die Adaptationserscheinungen leicht
verständlich. Beim Eintritt in das Dunkel ist noch kein Sehpurpur
vorhanden, und da die Zapfen nur auf starke Reize ansprechen,
entbehrt man gewissermaßen jedes Organ zum Sehen. Allmählich bildet
sich der Sehpurpur; man unterscheidet langsam die Gegenstände im
schwach beleuchteten Raum. Tritt man nun ins Helle, so ruft die
lebhafte Zersetzung eine intensive Weißempfindung hervor, durch die
man wie geblendet und zum Erkennen der Dinge unfähig gemacht ist.
Sobald aber der Sehstoff aufgebraucht ist, hört die Blendung auf
und der Hellapparat vermittelt die Farbenempfindungen. Die totale
Farbenblindheit mit dem Helligkeitsmaximum im Grün erklärt sich nach
der Duplizitätstheorie sehr einfach durch das Nichtfunktionieren des
Zapfenapparates.
Die Duplizitätstheorie gewann neue Stützen aus der Erforschung
des Tierauges. So fand man Nachttiere mit gut entwickeltem
Stäbchenapparat und nachtblinde (hemeralope) Tiere, die wie die
Hühner wenig Stäbchen besitzen. Allein neben solchen Bestätigungen
ergaben sich auch mancherlei Schwierigkeiten. So will man bei
den nachtblinden Hühnern (wie auch neuerdings bei der Fovea
des menschlichen Auges) das Purkinjesche Phänomen festgestellt
haben, und die der Stäbchen entbehrenden Schildkrötenaugen sollen
Dunkeladaptation aufweisen.
10. Die Theorien des Farbensehens
Die ältere +Young-Helmholtzsche Theorie+ nimmt im Sehnerven drei
Faserarten an, deren Erregung die Rot-, Grün- und Violett- bzw.
Blauempfindung vermittelt. Jeder Lichtreiz wirkt auf alle drei Fasern
ein, erregt aber je nach seiner Wellenlänge eine der drei Fasern
besonders lebhaft. Das langwellige Licht z. B. erregt gleichmäßig Rot-,
Grün- und Blaufasern, am stärksten jedoch die Rotfasern, weshalb bei
seiner Einwirkung Rot empfunden wird. So erklären sich sehr einfach
die Gesetze der Farbenmischung. Um den Farbenkontrast verständlich
zu machen, mußte Helmholtz, wie wir sahen, zu einer psychologischen
Deutung greifen, die nicht allen Tatsachen gerecht wird. Das negative
Nachbild rührt nach dieser Theorie von der Ermüdung her: Hat das Auge
eine Zeitlang rot empfunden, so waren zwar alle drei Faserarten tätig,
aber die am stärksten erregte Rotfaser wurde auch am meisten ermüdet.
Wendet sich das Auge nun auf einen weißlichen Hintergrund, so ist die
Grün- und die Violettfaser leistungsfähiger als die Rotfaser, weshalb
ein komplementäres Grünblau gesehen wird. Allein von einer solchen
Ermüdung kann nach neueren Untersuchungen nicht die Rede sein. Selbst
nach zehnstündigem Aufenthalt im Hellen ist das Auge nicht merklich
ermüdet. Und doch stellt sich der Kontrast schon nach kurzer Zeit ein.
Am wenigsten leistet die Helmholtzsche Theorie für die +Erklärung
der Farbenblindheiten+. Man kann diese im allgemeinen zurückführen
entweder auf eine anormale Absorption: wie beim Normalen eine
gelbe Pigmentierung vor der Netzhaut liegt, so beim Anormalen eine
andere Färbung, die gewisse Lichtstrahlen absorbiert; oder auf eine
eigenartige Änderung der Netzhaut- bzw. der Nervenprozesse; oder auf
den Ausfall bestimmter optischer Organe oder Funktionen. Ob eine
anormale Pigmentierung vorliegt, wird sich im Einzelfall feststellen
lassen. Die große Mehrzahl der Anomalien kann jedoch auf diese Weise
nicht erklärt werden. Man hat somit entweder eine Änderung der
Funktionsweise oder den Ausfall von Funktionen anzurufen. Vor der
ersten Hypothese scheut jedoch ein streng wissenschaftliches Denken
zurück, da mit der Einführung unkontrollierbarer neuer Faktoren schier
alles erklärt werden kann. Wo immer sich darum eine organische Änderung
nicht unmittelbar feststellen läßt, ist jene hypothetische Erklärung
zu bevorzugen, welche die Anomalien mit dem Ausfall schon bekannter
Faktoren zu deuten vermag. Dazu ist nun die Helmholtzsche Theorie
nicht imstande, was hier jedoch im einzelnen nicht nachgewiesen werden
kann. (Vgl. +Fröbes+ I, S. 87.) Ebensowenig vermag sie die Frage zu
beantworten, warum die Farbenempfindungen stets paarweise einander
zugeordnet sind.
Gerade von der paarweisen Gegensätzlichkeit der Farbenempfindungen
nimmt die +Heringsche Theorie+ ihren Ausgang. Sie fordert drei
Sehsubstanzen: eine Weiß-Schwarz-, eine Rot-Grün- und eine
Blau-Gelbsubstanz. Reize, die auf diese Substanzen dissimilierend
einwirken, verursachen die Weiß-, die Rot- und die Blauempfindung;
assimilierend wirksame Reize hingegen rufen die Grün- und
Gelbempfindung hervor. Auf die Weiß-Schwarzsubstanz wirken die
äußeren Reize jedoch nur dissimilierend ein. Schwarz wird nur auf
innere Reize hin empfunden. Jedes farbige Licht besitzt auch eine
Weißvalenz. Beachtet man nun, daß die entgegengesetzten Prozesse der
Dissimilation und Assimilation die Tendenz haben, nach Aufhören der
Reize ineinander umzuschlagen, wie wir das schon an dem Bild des
Manometers veranschaulicht haben, so ergibt sich eine befriedigende
Deutung der wichtigsten Tatsachen. So versteht man leicht die
Farbenmischung, das Bestehen von Komplementärfarben, deren Mischung
Weiß als Restphänomen bestehen läßt, sowie die Wendepunkte in der
Qualitätenreihe der Farben. Ebenso begreift sich, daß an der Peripherie
der Netzhaut die Gegenfarben gleichzeitig verschwinden und bei der
Intensitätssteigerung des äußeren farbigen Reizes auch paarweise in
Weiß übergehen. Wird eine der Sehsubstanzen fortdauernd dissimiliert,
so wird schließlich das dissimilierbare Material erschöpft, die
betreffende Farbenempfindung verblaßt und nähert sich dem Grau
(Lokaladaptation). Hört nun der äußere Reiz auf, so setzt von selbst
der umgekehrte Prozeß ein, weshalb das negative Nachbild auftritt.
Da aber durch die Dissimilation der Assimilationsstoff auch in der
Nachbarschaft der erregten Netzhautstelle angehäuft wird und jede
Anhäufung des Assimilationsmaterials den Assimilationsprozeß zur Folge
hat -- Entsprechendes gilt von der Dissimilation --, so beginnt alsbald
neben jeder gereizten Netzhautstelle der entgegengesetzte Prozeß, und
wir erleben den Simultankontrast. Die Farbenblindheiten erklären sich
nach dieser Theorie im großen und ganzen als Ausfallserscheinungen. Für
gewisse Anomalien versagt indes die Heringsche Theorie. G. E. +Müller+
hat sie darum weiter ausgebaut, indem er außer antagonistischen
Netzhautprozessen noch innere Nervenerregungen mit verschiedenen
Valenzen annahm. (Vgl. +Fröbes+ I, 61 ff. u. 81 ff.)
Literatur
E. +Hering+, Grundzüge der Lehre vom Lichtsinne. Handbuch der ges.
Augenheilkunde. 1905/13.
F. W. +Fröhlich+, Grundzüge einer Lehre vom Licht- und Farbensinn.
1921.
B. Die Gehörempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Gehörempfindungen
Als wesentlich anderer Bewußtseinsinhalt steht übergangslos neben den
Farben das Reich der Schallwahrnehmungen. Wollen wir in ihm bis zu den
Empfindungen mit der Analyse vordringen, so scheidet sich die Menge
dieser Eindrücke leicht in zwei große Gruppen, in Klänge und Geräusche,
die schon das vorwissenschaftliche Denken als musikalische und
unmusikalische Eindrücke auseinanderhält. In der Analyse der Geräusche
ist man noch nicht weit fortgeschritten. Man unterscheidet Momentan-
und Dauergeräusche, schreibt ihnen die Eigenschaften der Stärke und
Höhe zu, ist aber noch nicht imstande, endgültig zu entscheiden, ob
das Geräusch stets ein zusammengesetzter Eindruck ist, oder ob es
Geräusch+empfindungen+ gibt, und ob im ersteren Falle die Geräusche
auf Töne zurückführbar sind. Man kann allerdings durch Häufung kurz
dauernder Töne ein Geräusch erzeugen. Allein damit wird die Frage nicht
entschieden, da die Verbindung solcher Empfindungen bzw. ihrer Reize
möglicherweise einen ganz neuen und andersartigen Bewußtseinsinhalt
bedingt. Eine Lösung dieser Frage kann nur durch den unmittelbaren
Vergleich des Geräuscheindruckes mit den Tonwahrnehmungen angestrebt
werden.
Bei den Klängen glaubt man jedoch sehr bald auf wahre Empfindungen zu
stoßen, an denen sich nur noch die bekannten Eigenschaften der Höhe,
der Stärke und der Klangfarbe beobachten ließen. Sieht man aber genauer
zu, so findet man, daß die Verschiedenheit des a der Violine von dem
a der Trompete, abgesehen von den Streich- und Blasegeräuschen, auch
darauf beruht, daß sich mit dem a der Violine andere Teiltöne verbinden
als mit dem der Trompete. Gelingt es, durch künstlich herbeigeführte
Interferenzwirkungen diese Teiltöne auszuscheiden, so verschwindet auch
die Klangfarbe als eine Empfindungseigenschaft, und es bleiben nur die
beiden andern übrig. Davon ist die +Tonstärke+ leicht erfaßbar: das
gleiche a einer Stimmgabel kann stärker und weniger stark ertönen.
Die verschiedenen Stärkegrade sind in einer eindimensionalen Geraden
adäquat darstellbar. Sehr viele Probleme birgt indes die zweite
Eigenschaft der +Tonhöhe+, die noch keineswegs befriedigend zu lösen
sind.
Vorab ist die Bezeichnung Tonhöhe für die rein psychologische
Betrachtung hinderlich. Wir verbinden mit dem Wort „Höhe“ in
der Regel den Begriff eines Maßes oder eines Vergleiches,
Bewußtseinsinhalte, die, wie später zu zeigen ist, in den Bereich
der Gedanken, nicht der Empfindungen gehören. Die Empfindung als
solche liefert uns nur eine eigenartige Tonqualität, und wenn mehrere
Töne nacheinander geboten werden, eine Anzahl in sich verschiedener
Tonqualitäten. Von einem oben und unten, hoch und niedrig enthält die
reine Empfindung nichts. Es fragt sich nun, ist diese Tonqualität
ein Letztes, Einheitliches? Zur Beantwortung dieser Frage müssen
wir die mannigfachen uns bekannten Töne nebeneinander halten. Da
stoßen wir auf die mißliche Tatsache, daß die Sprache für das
Reich der Töne keine Benennungen geschaffen hat außer allgemeinen,
wenig zweckdienlichen wie „hoch“ und „niedrig“. Die Musik, nicht
die Psychologie, hat sich zu helfen gesucht, indem sie aus der
unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Töne gewisse herausgriff und mit
willkürlichen Namen a, b, c usw. belegte. Böte man nun einem normal
hörenden, aber jede musikalische Erfahrung entbehrenden Menschen
eine größere Anzahl solcher Töne in bunter Reihenfolge und ließe
ihn eine Qualitätenreihe herstellen, wobei er die Töne, ähnlich wie
zuvor die Farben, nach ihrer qualitativen Zusammengehörigkeit zu
gruppieren hätte, so könnten wir wohl zwei Tatsachen feststellen:
als zusammengehörig würden einmal jene Töne bezeichnet, wie sie auch
von der Musik innerhalb der Tonleiter aneinander gereiht werden;
zweitens verriete sich die Neigung, Töne als nächst ähnlich paarweise
zusammenzufassen oder gar miteinander zu verwechseln, die in der
Musik als Oktaven oder Quinten bekannt sind. Es ergibt sich somit
die merkwürdige Erscheinung, daß derselbe Ton c′ sich von c in
einer Hinsicht weiter entfernt hat als etwa a, in anderer Hinsicht
dem Grundton c näher liegt als a. Es muß also die Tonqualität eine
doppelte Seite aufweisen: eine, die sich gleichmäßig fortschreitend
ändert, und eine, die nach dem Ausgangspunkt zurückstrebt. Eine
räumliche Darstellung beider Tendenzen in ihrer Vereinigung böte etwa
eine auf einem Zylinder aufgezeichnete Schraubenlinie. Dringlicher
indes als eine räumliche Symbolisierung dieser Verhältnisse ist
die psychologische Charakterisierung der beiden Seiten der sog.
Tonhöhe. Man hat für die geradlinig fortschreitende den Ausdruck
Höhe im engeren Sinne oder besser „Helligkeit“, für die periodisch
wiederkehrende die Bezeichnung Qualität versucht. W. +Köhler+
machte auf die unverkennbare Ähnlichkeit aufmerksam, welche die
verschiedenen Töne mit den Vokalen haben: die tiefen mit u, o, die
hohen mit e, i und wollte die Töne allein durch ihre „Vokalität“
charakterisieren. Aber vielleicht ist es richtiger, die Vokale durch
die Töne zu charakterisieren; erhalten sie ihren Charakter doch
durch bestimmte Töne, die Formanten (+Stumpf+, Die Struktur der
Vokale, 1918). Weil uns jedoch die Vokale geläufiger sind als die
reinen Töne, hören wir in diese leichter Vokale hinein, als umgekehrt
die Töne aus den Vokalen heraus. Auch ist mit der Vokalität die
ganze Eigenart des Tones nicht erfaßt; namentlich die zwischen den
Oktaven und Quinten zu dem Grundton bestehende Ähnlichkeit bleibt
unberücksichtigt. Wie auf den Vokalcharakter so hat man auch auf den
Raumcharakter der Töne hingewiesen: die tieferen Töne haben etwas
Breites, Ausgedehntes, die höheren etwas Spitzes an sich.
Obwohl Qualität und Höhe sich verschieden verhalten, in pathologischen
Fällen sogar getrennt voneinander auftreten sollen (G. +Révész+),
sind sie doch keine selbständigen Bewußtseinsinhalte und darum auch
nicht Empfindungen, sondern nur unselbständige Momente oder Seiten
der Tonempfindungen, ebenso wie der Farbenton und die Helligkeit, die
eine ungeteilte Farbenempfindung ausmachen. Wenn pathologisch in der
Parakusie oder normal in den Regionen der tiefsten und höchsten Töne
zwar das Steigen und Fallen noch erkannt wird, die Qualität hingegen
unbestimmbar ist, so liegen ähnliche Verhältnisse vor wie bei der
Farbenblindheit mit normaler Helligkeitsverteilung: es wird nicht die
Helligkeit allein empfunden, sondern verbunden mit einer bestimmten,
sich nahezu gleichbleibenden Qualität.
Die Qualitätenreihe der Töne, von der oben die Rede war, enthält eine
überaus große Mannigfaltigkeit von unterscheidbaren Einzeltönen.
Vergleicht man nun, von einem beliebigen Ton ausgehend, der Reihe nach
die aufeinanderfolgenden Töne mit dem Ausgangston, so findet man, daß
gewisse Töne so innig mit ihm verschmelzen, daß nur ein geübtes Ohr
die Zweiheit der Töne bemerkt, während bei dem Zusammenklingen anderer
die Zweiheit sofort hervortritt. Wir nennen nun den Tonabstand, bei
dem die innigste Verschmelzung eintritt, der Musiklehre folgend, eine
Oktav, den hinsichtlich des Verschmelzungsgrades nächstfolgenden eine
Quint, der sich die Quart, die große Terz, die Sext, die Sekunde und
die Septim anschließen. Der Zusammenklang der beiden letztgenannten
Intervalle ist für uns unlustbetont; wir sprechen von Dissonanzen,
während die erstgenannte Intervalle die wohlgefälligen Konsonanzen
ergeben.
Wie bei der Besprechung der Konsonanz, so überschreiten wir nochmals
das enge Gebiet der eigentlichen Empfindung, indem wir uns der
+Klangfarbe+ zuwenden. Doch ist diese zweifache Gebietsüberschreitung
hier berechtigt, weil wir durch sie die Tonempfindung selbst
näher kennen lernen. +Helmholtz+ wies experimentell nach, daß mit
den Tönen, die wir erzeugen, gewisse „Obertöne“ verbunden sind,
und zwar gesellt sich für gewöhnlich der nächste Oktavton, die
Quint von dieser Oktav, ferner die zweite Oktav usw. hinzu. Es
sind immer nur ganz bestimmte Töne, die sich mit dem Grundton
vereinigen, aber nicht alle Obertöne sind in jedem Falle vorhanden
und nicht alle sind jedesmal in der nämlichen Stärke gegeben. Wegen
dieser doppelten Variationsmöglichkeit klingen gleich hohe Töne
auf verschiedenen Instrumenten ganz verschieden. Mit Hilfe der
Helmholtzschen Resonatoren, metallener Hohlkugeln mit einer Öffnung
zum Auffangen und einer kleineren zur Abgabe des Tones in den
Gehörgang, lassen sich die Teiltöne aus dem Klangganzen heraushören.
So gelangt man zu einer Charakteristik des einfachen Tones gegenüber
dem zusammengesetzten Klang. Der einfache Ton ist angenehm, ohne
Rauhigkeit, unkräftig, in der Tiefe weich und dumpf, in höheren Lagen
hell und spitz. Der menschliche Mund beim Pfeifen und die Flöte
der Orgel erzeugen Klänge, die dem einfachen Ton sehr nahestehen.
Verbindet sich mit dem Grundton eine Anzahl niederer Obertöne, so
ergibt sich ein reicher musikalischer Klang wie bei der offenen
Orgelpfeife. Ungeradzahlige Teiltöne machen den Klang hohl und bei
größerer Anzahl näselnd. Ist der Grundton zugleich der stärkste,
so bezeichnen wir den Klang als voll, andernfalls als leer. Werden
endlich die jenseits des sechsten liegenden Obertöne sehr intensiv,
so erhalten wir den scharfen, rauhen Klang der Blechmusik.
2. Die Beziehung der Tonempfindungen zu den äußeren Reizen
Als allgemeiner Reiz für die Entstehung der Schallwahrnehmungen gelten
schwingende Luftmassen. Dem einfachen Ton entspricht die einfache
Sinusschwingung, und zwar wird die Gesamtqualität des Tones oder die
Tonhöhe durch die Zahl der in einer Sekunde erfolgenden Schwingungen
und die Intensität des Tones durch die Amplitude bedingt. Für die
Intensitätsregel ist allerdings zu beachten, daß sie in dieser
einfachen Form nur für Töne gleicher Höhe gilt. Denn die lebendige
Kraft, von der die Stärke des Tones abhängt, richtet sich sowohl nach
der Amplitude wie nach der Schwingungszahl; je größer diese ist, um so
geringer kann jene sein. Darum klingt von zwei Tönen gleicher Amplitude
der höhere lauter (+Helmholtz+), weshalb z. B. eine Piccoloflöte oder
ein guter Sopran ein stark besetztes Orchester zu übertönen vermag.
Die Zahl der Luftschwingungen in der Sekunde bestimmt die Höhe
des Tones. 435 Doppelschwingungen in der Sekunde ergeben z. B.
den Wiener Kammerton a. Die Raschheit der Schwingungen muß nun so
groß sein, daß auf eine Sekunde wenigstens 15 Schwingungen kommen,
wenn überhaupt ein Ton gehört werden soll (+Ellis+). Als oberste
Schwingungszahl, die auf uns noch den Eindruck eines Tones macht,
gibt man 20000 (+König+) oder 50000 (+Edelmann+) Schwingungen an.
Im Alter rücken diese Grenzen ein wenig zusammen (+Zwaardemaker+).
Wenn nun als untere Grenze 15 Schwingungen für die Sekunde genannt
werden, so ist damit nicht gesagt, daß tatsächlich wenigstens 15
Luftstöße unser Ohr treffen müßten, sondern es ist nur ausgesprochen,
+mit welcher Geschwindigkeit+ diese Stöße einander zu folgen haben,
damit überhaupt ein musikalischer oder doch ein akustischer Eindruck
entsteht. Es genügen nach den neueren Untersuchungen in Wirklichkeit
schon zwei aufeinanderfolgende Luftstöße zur Erzeugung einer
Tonempfindung. Allerdings ist der Charakter dieser Tonempfindung noch
nicht völlig bestimmt. Aber schon mit 16 Schwingungen ist der höchste
Grad der Bestimmtheit erreicht. Eine ähnliche Feinheit zeigt das Ohr
in dem mittleren Gebiet für die +Unterschiede der Geschwindigkeit+
der Luftstöße. Beträgt der Unterschied auch nur eine halbe Schwingung
in der Sekunde, so wird der Ton als ein qualitativ anderer erkannt,
wenngleich die Bestimmung seiner Höhe unsicher sein kann. Es lassen
sich darum in einer mittleren Oktave über 1000 Töne unterscheiden.
Bei etwa 40 Schwingungen irrt man allerdings um eine ganze Schwingung
und an den oberen Grenzen vollends um Tausende bei der Bestimmung der
Tonhöhen.
Höchst beachtenswert sind die Beziehungen, die zwischen den
Schwingungszahlen jener Töne bestehen, die wir oben rein
psychologisch als mehr oder weniger miteinander verschmelzend, mehr
oder weniger konsonant herausgestellt haben. Die Schwingungszahl
eines beliebigen Tones verhält sich zu der seiner Oktav, seiner
Quint, seiner Quart, großen Terz, kleinen Terz usw. wie 1:2, 2:3,
3:4, 4:5, 5:6 usf. Ähnlich einfache Verhältnisse finden sich bei den
Schwingungszahlen des Grundtones und der Obertöne. Diese verhalten
sich der Reihe nach wie 1:2:3:4:5 usf. Aus solchen Tatsachen darf man
jedoch nicht den Schluß ziehen, unser Ohr fasse diese eigenartigen
Zahlenverhältnisse auf, oder ein konsonantes Intervall erscheine uns
deshalb wohlgefällig, weil das Verhältnis der Schwingungszahlen ein
sehr einfaches sei. In dem Bewußtsein des über die Tonreize nicht
unterrichteten Menschen ist nichts vorhanden als der angenehme oder
unangenehme Zusammenklang zweier Töne. Dagegen besitzt unser Ohr eine
merkwürdige Fähigkeit, die kompliziertesten Luftwellen zu zerlegen.
Ertönt eine Stimmgabel, so werden die benachbarten Luftteilchen in
Transversalschwingungen versetzt, die sich geometrisch als einfache
Sinusschwingungen nach ihren einzelnen Phasen wiedergeben lassen.
Erklingt nun gleichzeitig eine zweite Stimmgabel, so erfassen die von
ihr ausgehenden Stöße das nämliche Luftteilchen. Auch sie möchten ihm
eine Sinusschwingung erteilen. Da es jedoch nunmehr beiden Antrieben
folgen muß, so wird seine Bewegung eine sehr eigenartige, und das
Kurvenbild der Totalbewegung wird ein recht kompliziertes, das mit
der ursprünglichen Sinuskurve kaum noch eine Ähnlichkeit aufweist.
Aber wie sich mathematisch jede Kurve in Sinuskurven zerlegen läßt
(+Fourrier+ 1822), so wird auch der verwickelte Gesamtreiz im Ohr
in seine einfachen Komponenten zerlegt. Und darum verschmelzen zwei
gleichzeitig erklingende Töne nicht zu einem Mischton wie zwei Farben
zu einer Mischfarbe verschmelzen, sondern jeder Ton bleibt für
sich bestehen. Aus demselben Grunde macht es für das Hören keinen
Unterschied, ob zwei Töne gleichzeitig oder nacheinander einsetzen,
so sehr sich auch die entstehende Gesamtkurve infolge einer
Phasenverschiebung verändert.
Man hat den der Tonempfindung bzw. dem musikalischen Eindruck
zugehörigen Reiz vielfach als periodische Luftschwingung dem
ein Geräusch verursachenden Reiz gegenübergestellt und diesen
als unperiodischen gekennzeichnet. Drückt man aber eine Anzahl
benachbarter Klaviertasten gleichzeitig nieder, so vernimmt man ein
Geräusch, obwohl hier aus der Summe periodischer Teilreize wieder
ein periodischer Gesamtreiz entstehen muß. Anderseits hört man beim
Ausklingen einer Sirene zweifellos einen musikalischen Klang, und
doch folgen sich hier nicht periodische Schwingungen, da die Reize
sich beständig ändern. Man wird also den musikalischen Reiz als
den einfacheren gegenüber dem sehr komplizierten Geräuschreiz zu
betrachten haben, ohne vorerst eine scharfe Grenzlinie ziehen zu
können.
Bevor wir nun die Theorie der Gehörempfindungen darstellen
können, müssen wir noch zwei Tatsachengruppen besprechen, die
über die Einzelempfindung hinausführen, die +Schwebungen+ und die
+Kombinationstöne+. Erklingen zwei benachbarte Töne gleichzeitig,
so bemerkt man rhythmische Intensitätsschwankungen: bei sehr nahe
zusammenliegenden Tönen ein allmähliches Ab- und Zunehmen der
Intensität, bei entfernteren vernimmt man abgegrenzte Stöße oder
endlich ein verworrenes Schwirren. Zählt man ab, wieviele Schwebungen
auf die Sekunde entfallen, so stellt sich heraus, daß die Zahl der
Schwebungen gleich der Differenz der Schwingungszahlen der beiden Töne
ist. Je näher also die Töne einander liegen, um so geringer ist die
Zahl der Schwebungen. Schwebungen bei hohen und bei niederen Tönen
unterscheiden sich durch die größere Rauhigkeit in den oberen Regionen.
Merkwürdigerweise ruft auch ein kräftiger Oberton Schwebungen mit dem
Grundton hervor, wodurch also ein neues, die Klangfarbe mitbestimmendes
Element gegeben ist.
Die Erklärung der Schwebungen möchte man zunächst bei den äußeren
Reizen suchen. Vereinigt man zwei wenig voneinander unterschiedene
Sinuskurven, so ergibt sich eine neue Kurve, die periodisch ein
Maximum und ein Minimum der Amplitude aufweist. Es wird also
wirklich die Luftwelle durch Interferenz abwechselnd geschwächt
und verstärkt. Allein diesem Deutungsversuch widerspricht die oben
mitgeteilte Tatsache, daß das Ohr von der durch Kombination der
Schwingungen entstandenen Form der Kurve unabhängig ist, da es
aus dieser die ursprünglichen Komponenten herausanalysiert. Somit
müssen die Schwebungen im Ohr selbst entstehen. Die Theorie der
Gehörempfindungen hat dies verständlich zu machen.
In eigenartiger Weise geht unser Sinnesorgan über die objektiv
vorhandenen Reize hinaus und bleibt doch wiederum in streng
gesetzmäßiger Beziehung zu den Reizen bei den sogenannten
+Kombinationstönen+. Wird gleichzeitig ein hoher (h) und ein tiefer
(t) Ton geboten, so hört man unter Umständen noch einen dritten Ton
von der Schwingungszahl h−t, den +Differenzton+. Außerdem ist ein
Ton von der Schwingungszahl h+t vernehmbar, der +Summationston+.
Sorgfältige Beobachtungen ergaben nun, daß sich zwischen dem Ton
t und dem tieferen Differenzton h−t ein neuer Differenzton bildet
von der Schwingungszahl t−(h−t) = 2t−h. Man nennt ihn den zweiten
Differenzton. Wie man sieht, lassen sich nach diesem Prinzip noch
eine Reihe anderer Kombinationstöne rein rechnerisch ableiten. Man
will sie zum Teil auch beobachtet haben. Von größerer Bedeutung
sind indes nur die drei genannten Kombinationstöne. Zu ihrer
einwandfreien Feststellung hat namentlich +Stumpf+ eine exakte
Methode ausgearbeitet, auf die wegen ihrer vorbildlichen Sorgfalt
hier wenigstens aufmerksam gemacht sei. (Stumpf, Beobachtungen über
Kombinationstöne ZPs. 55 [1910], S. 1 ff.)
Die Kombinationstöne, von denen hier die Rede ist, lassen sich
nicht aus äußeren Reizen erklären, die sich etwa infolge des
Zusammenwirkens zweier Schallquellen bilden. Eine derartige
Entstehung eines neuen objektiven Reizes ist allerdings möglich,
z. B. wenn man zwei Stimmgabeln auf einer gemeinsamen Unterlage
befestigt oder wenn im Harmonium zwei Pfeifen von einer gemeinsamen
Windlade aus gespeist werden. Die so entstehenden Kombinationstöne
verlangen keine weitere psychologische oder physiologische Erklärung.
Sie sind daran als objektive Töne zu erkennen, daß sie durch einen
Helmholtzschen Resonator verstärkt werden, während der subjektive
Kombinationston gleich laut bleibt. Sind aber die Schallquellen
sorgfältig getrennt, so kann sich ein neuer äußerer Reiz nicht
bilden, es sei denn, man setze besonders empfindliche und geeignete
elastische Körper beiden Reizen aus. So fand man, daß auch bei
getrennten Schallquellen empfindliche Flammen, Telephonplatten und
Membranen nach dem Muster des Trommelfelles mit dem Kombinationston
reagieren. Die Vermutung ist darum berechtigt, daß die
Kombinationstöne auf die nämliche Weise im Trommelfell entstehen.
Wenn man nun auch nach Wegfall des Trommelfelles Kombinationstöne
gehört hat, so könnten sie in einer andern Membran des Mittelohres,
etwa in dem runden Fenster am Eingang der Schnecke, erzeugt worden
sein.
3. Die Theorie der Gehörempfindung
Der äußere Gehörgang wird von dem Trommelfell, einer schräg
verlaufenden, trichterförmig nach innen eingezogenen Membran
abgeschlossen. Wie physikalische Untersuchungen lehren, sind Membranen
dieser Bauart am geeignetsten, die verschiedenartigsten Schwingungen
der umgebenden Medien aufzunehmen, ohne zu sehr in Eigenschwingungen zu
geraten, wodurch sie zur getreuen Vermittlung der fremden Schwingungen
untauglich würden. Innen liegt dem Trommelfell der Hammer an, der
einerseits dessen Eigenschwingungen zu dämpfen, anderseits die dem
Trommelfell von außen erteilten Schwingungen vermittels der beiden
andern Gehörknöchelchen, des Amboß und des Steigbügels, auf die Membran
des zum Vorhof führenden ovalen Fensters zu übertragen hat (Fig. 3).
Das innere Ohr ist mit einer Flüssigkeit erfüllt. Somit erzeugen die
Schwingungen am ovalen Fenster Flüssigkeitswellen, die sich durch das
ganze innere Ohr und namentlich durch die Schnecke fortpflanzen. Dort
teilen sie sich der mit Endolymphe angefüllten häutigen Schnecke mit
und erregen deren Grundmembran, auf welcher der Hörnerv endigt. Die
Grundmembran enthält etwa 20000 straff gespannte, zur Schneckenspindel
radiär verlaufende Fasern, deren Länge nach der Schneckenspitze hin
zunimmt.
[Illustration: Fig. 3. Schema des Gehörorgans (nach _Nagel_). 1. der
Hörnerv. 3. Utriculus. 4. ein Bogengang. 5. Sacculus. 10. das knöcherne
Labyrinth. 11. das Felsenbein. 12. das ovale, 13. das runde Fenster.
15, 16. der äussere Gehörgang. 17. das Trommelfell. 18-20. Hammer,
Amboß, Steigbügel. 21-23. Paukenhöhle und Eustachische Röhre.
Aus _Nagel_, Handbuch der Physiologie des Menschen III, 2 S. 542.
Braunschweig, _Vieweg & Sohn_.]
Nach der +Helmholtzschen Theorie+ soll nun jede dieser Fasern wie
die Saiten eines Klaviers auf einen bestimmten Ton abgestimmt sein:
die am Ausgang der Schnecke liegenden kürzeren auf die höheren,
die an der Spitze liegenden längeren Fasern auf die tieferen Töne.
Bei einer rhythmischen Erregung der Endolymphe würden dann nur jene
Fasern in Schwingung geraten, die auf diese Wellenbewegung abgestimmt
sind, ähnlich wie beim Hineinsingen in ein Klavier nur die den
gesungenen Tönen entsprechenden Saiten mitschwingen. Die Schwingung der
Hautfaser reizt den auf ihr endigenden Hörnerven, wodurch schließlich
im Gehirn ein der Gehörempfindung entsprechender psychophysischer
Prozeß hervorgerufen wird. Diese Ansicht wird durch Tierexperimente
bestätigt: Zerstörung der Schneckenspitze verursachte Taubheit für
tiefe, Zerstörung der Schneckenbasis Unempfänglichkeit für hohe Töne.
Den Haupteinwand gegen die Theorie, so winzige Fäserchen könnten nicht
auf die tiefen Töne abgestimmt sein, hat Helmholtz durch mathematische
Untersuchungen zurückgewiesen.
Die Resonanztheorie macht nun zunächst die +Tonlücken+ und +Toninseln+,
d. h. den krankhaften Ausfall gewisser Partien der Tonreihe, leicht
verständlich. Es versagen da die entsprechenden Teile der Grundmembran.
Ferner erklärt die Theorie ganz einfach die Tatsache der Klanganalyse:
mag die Gesamtwelle wie immer gestaltet sein, sie kann nur jene Teile
des Resonators in Schwingung versetzen, die auch durch ihre Komponenten
erregt würden. Helmholtz nahm nun an, jeder Faser der Grundmembran
entspreche eine bestimmte Nervenfaser, die stets mit demselben Ton
antworte. Anderseits glaubte er, bei jeder Erregung würde nicht nur
eine isolierte Faser in Schwingung versetzt, sondern auch die ihr
zunächst anliegenden. Diese Annahmen vertragen sich nicht mit der
Tatsache, daß wir einfache Töne zu hören imstande sind (+Stumpf+).
Man läßt darum heute die gleiche Nervenfaser innerhalb enger Grenzen
mit einer veränderlichen Erregung reagieren. So versteht man auch die
Schwebungen. Beim Erklingen zweier benachbarter Töne werden nicht
nur zwei vereinzelte Fasern erregt, sondern auch die Nachbargebiete
dieser beiden Fasern. Greifen diese nun übereinander, so müssen die
mittleren Fasern, die beiden Antrieben unterliegen, der Interferenz
zufolge bald ein Maximum, bald ein Minimum der Erregung aufweisen. Die
Dauergeräusche sodann würden durch eine gleichzeitige Erregung größerer
Strecken der Grundmembran verständlich, wobei ein Tongewirre entstehen
müßte, verbunden mit mannigfaltigen Interferenzerscheinungen, die den
Charakter des Unruhigen und Rauhen bedingten. Die Momentangeräusche
hingegen würden durch Reize erzeugt, die kürzer sind als eine
Schwingung und darum keinen Ton hervorrufen.
Die Helmholtzsche Theorie hat sich trotz mancher inneren
Schwierigkeiten bis heute zu behaupten vermocht. Als einzige
beachtenswerte Rivalin steht ihr heute die geistvolle +Theorie von
Ewald+ gegenüber. Ewald läßt durch jeden Reiz die ganze Grundmembran
in Schwingung geraten, und zwar so, daß sie in eine Reihe stehender
Wellen zerlegt wird. Die verschiedenen Reize erregen sie aber
in verschiedener Weise. Somit gehört zu jedem Klang ein ganz
charakteristisches Wellenbild. Können sich keine stehenden Wellen
bilden, so vernehmen wir ein Geräusch. Ewald konnte zeigen, daß eine
von Wasser umgebene Membran nach Art der Grundmembran tatsächlich
solche Wellenbilder gibt. Gleichwohl wird diese Theorie von der
Helmholtzschen durch die Zahl der erklärbaren Probleme übertroffen.
Zuletzt sei noch erwähnt, daß manche Forscher zu der Annahme eines
besonderen Organs für die Wahrnehmung der Geräusche neigen.
Literatur
C. +Stumpf+, Tonpsychologie 1883 u. 1890.
3. Kap. Die niederen Empfindungen
A. Die Geschmacksempfindungen
1. Qualitative Betrachtung der Geschmacksempfindungen
Es bereitet keine Schwierigkeit, die Inhalte der Geschmacksempfindung
von denen der höheren Sinne, des Gesichtes und des Gehörs, zu sondern.
Durch das, was man gemeinhin Geschmack nennt, wird unser Bewußtsein
in ganz eigenartiger Weise bereichert. Die Verlegenheit beginnt erst,
wenn wir uns bemühen, aus den im Alltagsleben als Geschmäcke benannten
Eindrücken die eigentlichen Geschmacksempfindungen herauszulösen. Die
Spielarten des Geschmackes der Speisen und Getränke scheinen unbegrenzt
zu sein. Schaltet man jedoch den Geruchsinn beim Schmecken aus, so
schrumpft ihre Zahl schon beträchtlich zusammen. Bei zugehaltener Nase
läßt sich ein Stück Zwiebel von einem Stück Apfel nicht unterscheiden,
und auch die Blume des Weines verschwindet. Weiter läßt sich leicht
erkennen, daß Wärme und Kälte den einzelnen Geschmackseindruck
mitbestimmen, ohne selbst Geschmack zu sein. Auch das Beißende,
Prickelnde, Stechende mancher Geschmackserlebnisse verrät sich leicht
als Bestand anderer Empfindungen, da wir solche Eindrücke für sich
allein, etwa auf unserer Hand, erfahren können, wo wir niemals versucht
sind, sie als Geschmäcke zu beurteilen. Nach all diesen Ausscheidungen
bleiben heute als allgemein anerkannt +nun vier Qualitäten+ des
Geschmackes übrig: +süß+, +sauer+, +salzig+, +bitter+.
Daß hier noch ungelöste Probleme liegen, kann man sich durch die
Frage zum Bewußtsein bringen: Wodurch unterscheidet sich rein
inhaltlich die Geschmacksempfindung von den Geruchs- und den
verschiedenen Arten der noch zu besprechenden Hautempfindungen?
Dabei müssen wir den Gedanken an die aufnehmenden Organe, an
die verursachenden Reize und an die körperlichen Begleit- oder
Folgeerscheinungen (man denke an die Würgbewegungen bei „ekelhaften“
Geschmäcken) gänzlich beiseite lassen. Allerdings kann die Antwort
auf obige Frage nur lauten: Sie unterscheiden sich durch sich selbst.
Es erhebt sich aber die weitere Frage: Ist dieser inhaltliche
Unterschied so groß, daß wir uns nicht einen Übergang zwischen den
Qualitäten vorstellen können? So versteht man auch, wie bis auf die
Gegenwart über den Empfindungscharakter von metallisch und alkalisch
Zweifel herrschen konnte. Letztere betrachtet man heute nicht mehr
als einfache Geschmacksempfindungen.
Die vier Geschmacksqualitäten haben keine Unterarten und stehen
unverbunden einander gegenüber. Graphisch wären sie vielleicht durch
vier isolierte Punkte darzustellen, von denen jedoch die Repräsentanten
von sauer, salzig und bitter näher beieinander liegen.[2] +Die Mischung
der Geschmäcke+ vergleicht man mit den Mischungen der Töne: Die beiden
Komponenten bestehen nebeneinander fort. Nur die Mischung von süß und
salzig soll den Mischgeschmack „fade“ ergeben. Es findet sich auch
eine der +Umstimmung+ der Netzhaut vergleichbare Erscheinung: nach
Einwirkung von schwacher Natronlauge schmeckt destilliertes Wasser süß.
2. Reize und Organe des Geschmacksinnes
+Geschmacksreize+ sind gelöste Stoffe, Dämpfe und Gase. Jedoch ist es
noch ganz unklar, in welchem Zusammenhang die chemische Beschaffenheit
eines Stoffes mit seinem Geschmack steht. Vielleicht wird die spätere
Forschung verhältnismäßig einfache Beziehungen finden, auf die sich
alsdann eine Theorie der Geschmacksempfindung aufbauen läßt. Als
sogenannten inadäquaten Reiz bezeichnete man oft den elektrischen
Strom, da er an der Anode den Eindruck sauer, an der Kathode den
Eindruck bitter oder alkalisch hervorruft. Es scheint indes der
elektrische Strom nur mittelbar, durch die elektrolytische Zersetzung
des Speichels zum Geschmacksreiz zu werden.
Die +Organe des Geschmacksinnes+ befinden sich beim Erwachsenen auf
der Zunge, dem weichen Gaumen, der Rückseite des Gaumensegels und im
Schlund. Beim Kinde scheinen noch andere Partien des inneren Mundes für
die Aufnahme von Geschmacksreizen befähigt zu sein. Man unterscheidet
drei Arten der sogenannten Geschmacksknospen: hinten auf der Zunge
die größten und seltenen papillae circumvallatae, die besonders für
bitter empfänglich sind; an den seitlichen Rändern die papillae
foliatae und vorne die papillae fungiformes, die für süß empfindlich
sind. Sauer und salzig soll man besonders an den Rändern und an der
Spitze der Zunge empfinden. Zwischen den Geschmacksbechern liegen
unempfindliche Stellen. Nach neueren Untersuchungen soll bei Reizung
der Nachbarstellen eine ähnliche Ausfüllung der unempfindlichen Partien
stattfinden wie auf dem blinden Fleck auf der Netzhaut. (+Ponzo.+ Vgl.
Zentralbl. für Psych. II, Nr. 20.)
Literatur
W. +Nagel+, Der Geschmackssinn, in Nagels Handbuch der Physiologie
III, 1905.
B. Die Geruchsempfindungen
Die Geruchsempfindungen mischen sich leicht mit den Meldungen der
niederen, d. h. vorwiegend den vegetativen Funktionen dienenden Sinne.
So kennt der Sprachgebrauch +stechende Gerüche+, die in Wahrheit +eine
Verbindung von Geruch- und Tastempfindungen+ sind. Pathologische
Erfahrungen (Anosmie) lehren beide auseinanderhalten, da der Geruch
ausfallen kann, während die stechende oder brennende Empfindung
bestehen bleibt. Ebenso redet man von +süßlichem+ und +säuerlichem
Geruch+. Durch künstliche Eingriffe wie durch das experimentum
naturae wissen wir jetzt, daß diese Mischempfindungen durch die
namentlich auf der hinteren Seite des Gaumensegels ausgelösten
+Geschmacksempfindungen+ zustande kommen. Schließt man also die
begleitenden Druck-, Stich-, Temperatur- und Geschmacksempfindungen
aus, so steht man den reinen Geruchsempfindungen gegenüber, die
auch nach dieser Loslösung noch eine unübersehbare Mannigfaltigkeit
darstellen.
Es wurden die verschiedensten Versuche unternommen, in die an
immer neuen Eindrücken reiche Welt der Gerüche eine beherrschende
+Ordnung+ und +Einteilung+ zu bringen. Bis heute hat noch keiner
dieser Versuche allgemeine Anerkennung gefunden. Am bekanntesten ist
die etwas einseitig nach der Botanik orientierte Einteilung +Linnés+
(1759), die neuerdings +Zwaardemaker+ unter Hinzufügung von zwei
weiteren Klassen wieder aufgegriffen hat. Zwaardemaker teilt alle
Gerüche in Nahrungs- und Zersetzungsgerüche ein. Zu ersteren gehören
vier Klassen: 1. Ätherische Gerüche (Fruchtäther, Wachs, Äther); 2.
Aromatische Gerüche (Kampfer, Gewürze); 3. Blumengerüche (Reseda,
Vanille); 4. Moschusgerüche (Moschus, Ambra). Fünf weitere Klassen
bilden die Zersetzungsgerüche: 1. Lauchgerüche (Knoblauch, asa
foetida); 2. Brenzliche Gerüche (Tabak, Teer); 3. Bockgerüche (Käse,
Schweiß); 4. Widerliche Gerüche (Wanzen); 5. Ekelhafte Gerüche (Aas,
Faeces). -- Die neueste Untersuchung (+Henning+) gelangt zu sechs
Grundklassen der Gerüche und ordnet sie einem regelmäßigen trigonalen
Prisma ein: würzig, harzig, brenzlich sind die drei Ecken seiner
Grundfläche; blumig, fruchtig, faulig die entsprechenden der oberen
Schnittfläche. Auf die Kanten und Flächen dieses Geruchskörpers kommen
Gerüche zu liegen, die in sich einfache Empfindungen sind, jedoch
Ähnlichkeit zu den verschiedenen Nachbarpunkten zeigen. Von diesen
unzerlegbaren Übergangsgerüchen sind die analysierbaren Mischgerüche
zu unterscheiden, die in dem Geruchsprisma keine Stelle finden. Eine
bestätigende Nachprüfung der Henningschen Gruppierung bleibt abzuwarten.
Bei länger anhaltendem Geruchsreiz nimmt die Intensität der
Empfindung ab, und die Empfänglichkeit für andere Gerüche wird
gleichfalls herabgesetzt, doch ist die Erklärung dieser Tatsache keine
einheitliche, sondern teils in der Ermüdung des Endapparates, teils
in der Abstumpfung der Aufmerksamkeit zu suchen. Doch steigt die
Ermüdung nicht bis zur völligen Unempfindlichkeit für stärkere Gerüche,
falls man absieht von einer toxischen Lähmung der Riechschleimhaut,
wie sie etwa durch Chloroform herbeigeführt wird. Bei gleichzeitigem
Einwirken mehrerer Geruchsreize beobachtet man teils eine +Mischung+
der Komponenten von verschieden hohem Verschmelzungsgrad, teils einen
+Wettstreit+ der Teilgerüche, teils eine wechselseitige +Aufhebung+.
Erfolgt letztere wegen der physikalischen Paralysierung der Reize,
so bietet sie kein besonderes psychologisches Interesse. Es soll
aber auch eine physiologische bzw. psychologische Kompensation der
Geruchsempfindungen vorkommen, was indes von Henning entschieden
verneint wird.
Als +Reize+ kommen für den Geruchsinn die materiellen Teilchen in
Betracht, welche die riechende Substanz aussendet. Ob sie jedoch
notwendig in gasförmigem Zustand die Nervenendigung erreichen müssen,
der ob diese auch durch Flüssigkeiten unmittelbar erregt werden
kann, ist heute noch umstritten. Auch die Beziehungen zwischen der
chemischen Konstitution der Riechstoffe und den Gerüchen bildet noch
ein offenes Feld der Forschung. Obwohl Vertreter derselben chemischen
Familie verschieden, und solche verschiedener Familien ähnlich riechen
können, scheint doch die Ähnlichkeit des inneren Aufbaues auch eine
Ähnlichkeit des Geruches zu bedingen.
Das +Organ+ des Geruchsinnes ist die braungelbe Riechschleimhaut
in der obersten der drei Nasenmuscheln. Ihre Gesamtgröße beträgt
nur etwa 5 qcm. Von hier aus führen die Riechnerven direkt durch
die Öffnungen des Siebbeins in die Schädelkapsel zu den lobi
olfactorii, den Riechkolben. In der Riechschleimhaut münden aber auch
Trigeminusfasern, die Vermittler der mit den Gerüchen verbundenen
Tastempfindungen. -- Zu einer Theorie der Geruchsempfindungen sind kaum
erste Ansätze vorhanden. Manche Forscher nehmen an, daß ähnlich wie
beim Farbensinn so auch hier entweder verschiedene Fasern oder doch
verschiedene Riechsinnsubstanzen für die verschiedenen Klassen von
Geruchsempfindungen vorhanden seien. Anders und einfacher denkt sich
Henning den Vorgang der Geruchsauslösung. Der eigentliche Geruchsreiz
besteht in der Aufspaltung des Riechstoffmoleküls an der Oberfläche der
Riechzelle. Nun entspricht den sechs Grundgerüchen je eine besondere
Art der molekularen Bindung der Riechstoffe. Somit ergeben sich auch
sechs verschiedene Arten der Spaltungen oder sechs verschiedene Arten
der Reizung ein und derselben Nervenfaser.
Literatur
H. +Henning+, Der Geruch. 1916.
C. Die Temperaturempfindungen
Kälte- und Wärmeeindrücke sind uns im allgemeinen ihrem Wesen nach
geläufig. Sie heben sich im Bewußtsein leicht von andern Empfindungen
wie Geruch, Geschmack, Druck, Schmerz ab. Ob wir nun Kälte und Wärme
als zwei gesonderte Empfindungsarten oder als Qualitäten einer
Empfindungsklasse ansehen sollen, ist für die rein psychologische
Betrachtung, die weder auf den verursachenden Reiz, noch auf dessen
einheitliche Messung durch das Thermometer, noch auf die empfänglichen
Organe oder die biologische Bedeutung dieser Eindrücke achten darf,
nicht leicht zu entscheiden. Sicher stehen beide Empfindungen
einander näher als alle anderen Modalitäten der Empfindung. Die
Psychologie der Alltagssprache hebt die Intensitätsstufen von warm
und kalt hervor (lau, warm, heiß, kühl, kalt, eisig) und weiß
namentlich von den Extremen auch Abarten anzugeben, wie „sengend
heiß“, „schneidend kalt“. Man erkennt indes sehr leicht, daß solche
Unterarten nur durch die Vereinigung von Temperatur- und anderen
Eindrücken zustande kommen. Somit gibt es +bei warm und kalt nur
die eindimensionale Intensitätssteigerung+. Ein genaueres Studium
der Temperaturempfindungen ist jedoch nur durch gesonderte Reizung
einzelner kleiner Hautstellen möglich. Dabei ergibt sich, daß die
Kälteempfindung nicht mit kühl, sondern mit kalt schlechthin beginnt.
Wird eine größere Fläche dem Kältereiz ausgesetzt, so hat man den
Eindruck „naß“, den man auch erfährt, wenn man die Stirne längere
Zeit von einem kalten Gegenstand berühren läßt und diesen alsdann
entfernt. Sonach scheint der Eindruck „naß“ Kälte ohne Berührung zu
besagen, ein Erlebnis, das wir in der Regel nur infolge Einwirkung
einer Flüssigkeit haben. Die Vorstellung „naß“ koppelt also für
unser Bewußtsein die reine Kälteempfindung mit der Vorstellung des
sie bedingenden Reizes zusammen. Sehr intensive Kältereize bewirken
eine Mischempfindung von Kälte und Schmerz. Die Steigerung der
Wärmeempfindung endigt mit dem Eindruck der +Hitze+. Diese kann man
jedoch nicht als eine Verbindung von Wärme- und Schmerzempfindung
auffassen; denn bei einer Temperatur von 36° redet man zwar von Hitze,
nicht aber von Schmerz. Wie namentlich die Untersuchungen von +Alrutz+
lehren, ist die +Hitzeempfindung eine Verschmelzung der Kalt- und
Warmempfindung+. Zum genaueren Verständnis müssen wir die +Organe+ der
Temperaturempfindungen berücksichtigen.
Betastet man mit einem Bleistift der Reihe nach verschiedene
Hautstellen, so beobachtet man an gewissen Punkten ein augenblickliches
Aufblitzen der Kälteempfindung. Man ist auf einen „+Kältepunkt+“
gestoßen. Untersucht man auf die gleiche Weise mit einem gleichmäßig
warm gehaltenen Metallstift, so entdeckt man andere Punkte, wo die
Wärme besonders verspürt wird; wenn auch die Wärmeempfindung nicht
so jäh ansteigt wie die Kälteempfindung. Es gibt somit besondere
Nerven zur Vermittlung der beiden Temperaturempfindungen. Ihre
Aufnahmeorgane liegen voneinander getrennt, und zwar kommen auf
einen Quadratzentimeter der Haut durchschnittlich 12-13 Kälte- und
nur 1-2 Wärmepunkte. Die Kältepunkte liegen der Hautoberfläche näher
als die Wärmepunkte, was ebenso wie ihre größere Zahl der Erhaltung
des Organismus dient, dem die Kälte nachteiliger werden kann als die
Wärme. Läßt man nun auf einen Kältepunkt einen Wärmereiz von 35°
einwirken, so empfindet man nicht Wärme, sondern Kälte, die „paradoxe
Kälteempfindung“. Eine paradoxe Wärmeempfindung zu erzeugen, erscheint
zwar als grundsätzlich möglich, läßt sich aber wegen der tiefen Lage
der Wärmepunkte nicht gut verwirklichen. Aus diesen Tatsachen erklärt
sich dann leicht, wie bei Einwirkung eines ausgedehnten Wärmereizes
höherer Temperatur die Hitzeempfindung als eine Verschmelzung der
beiden andern auftreten kann.
Als die +normalen Reize+ des Temperatursinnes bezeichnet man die
objektiven Temperaturunterschiede. In der Gegend von 28-29° liegt
eine Indifferenzzone, bei der weder kalt noch warm empfunden wird.
Sie schwankt übrigens je nach der Ausbildung der Endorgane an der
einzelnen Körperstelle und der augenblicklichen +Adaptation+ an
eine Temperatur. Der Indifferenzpunkt der Haut steigt nämlich oder
sinkt, wenn auf dieselbe Stelle längere Zeit eine höhere oder niedere
Temperatur eingewirkt hat. Hält man darum die eine Hand etwa eine
Minute lang in kühles, die andere gleichzeitig in warmes Wasser und
taucht alsdann beide in Wasser mittlerer Temperatur, so empfindet
man an der ersten Wärme, an der andern Kälte. -- Die +Theorie+
der Temperaturempfindungen ist noch wenig geklärt. Die Ansichten
von +Weber+ und +Hering+ kombinierend könnte man etwa sagen: der
Wärmeapparat reagiert nur auf Reize über, der Kälteapparat nur auf
Reize unter dem Indifferenzpunkt. Zunächst wird nur das Steigen
und Sinken der Temperatur gemeldet (Weber). Aber auch die absolute
(stationäre) Temperatur wird wahrgenommen (Hering), bis sich der
Indifferenzpunkt der Haut dem einwirkenden Reiz angeglichen hat.
Allerdings bleibt auch so noch ungeklärt, daß wir stundenlang Kälte
oder Hitze in einem Körperglied empfinden können. Die weitere Annahme
Herings, daß die Kälteempfindung auf assimilative, die Wärmeempfindung
auf dissimilative Vorgänge zurückführbar seien, ist nach der Entdeckung
der getrennten Sinnesorgane für beide Empfindungen nicht mehr haltbar.
Literatur
T. +Thunberg+, Physiologie der Druck-, Temperatur- und
Schmerzempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III, 1905.
D. Die Druckempfindung
Die Druckempfindung scheint von einer einzigen +Qualität+ zu sein. In
ihrem schwächsten Grade nennen wir sie Berührung. Auf einem einzelnen
Punkt der Körperhaut hervorgerufen, scheint sie doch immer eine gewisse
flächenhafte Ausdehnung zu besitzen und hat bei zunehmender Intensität
etwas Körniges an sich, als werde ein Sandkorn in die Haut gedrückt.
Reine Druckempfindungen sind selten zu beobachten. Spitz-stumpf,
rauh-glatt, hart-weich sind zusammengesetzte Eindrücke, die überdies
von uns den Gegenständen selbst beigelegt werden. Sehr umstritten ist
die Frage, welcher Empfindungsklasse der +Kitzel+ und das +Jucken+
angehören. Die meisten Forscher neigen dahin, ersteren zu den Druck-,
letzteres zu den Schmerzempfindungen zu rechnen.
Geringere Druckempfindungen dauern nicht lange an, auch wenn der äußere
Reiz fortwirkt. So gewöhnen wir uns rasch an den Druck der Kleider, der
Brille u. ä. Stärkere Empfindungen werden jedoch längere Zeit erlebt.
Merkwürdigerweise können diese den äußeren Reiz überdauern.
Als +adäquater Reiz+ gilt der mechanische Druck oder richtiger das
durch Deformation der Haut bewirkte +Druckgefälle+. Je stärker dieses
ist, je rascher der Druckreiz einwirkt und je größer die von ihm
betroffene Stelle ist, um so stärker ist die Druckempfindung. Wird
jedoch die dem Druckreiz ausgesetzte Fläche zu groß, so tritt die
Empfindung nicht auf, weil keine Deformation der Haut entsteht. Darum
empfinden wir im Bad den Wasserdruck nicht, es sei denn an der Stelle
der Haut, wo diese gleichzeitig mit der Luft in Berührung tritt. Auf
die Deformation der Haut infolge der anhaltenden Verschiebung der
Gewebeflüssigkeit ist wohl auch das Druckbild zurückzuführen, wie man
es z. B. nach Abnahme des festeingepreßten Hutes noch eine Zeitlang
haben kann.
Als +Organe des Drucksinnes+ lassen sich zurzeit die jeden Haarbalg wie
ein Korbgeflecht umgebenden Nerven und an den unbehaarten Stellen die
+Meißnerschen Tastkörperchen+ nennen. Letztere findet man, wenn man mit
abgestumpften Pferdehaaren die Hautfläche abtastet.
Literatur
M. v. +Frey+, Neuere Untersuchungen über die Sinnesleistungen der
menschlichen Haut. FPs. II S. 201 ff. 1914.
E. Die Schmerzempfindung
Zur Aufstellung eigener Schmerzempfindungen reicht die einfache
Selbstbeobachtung nicht hin. Sie führte im Gegenteil zu der Annahme,
der Schmerz sei keine Empfindung, sondern ein Unlustgefühl, das sich
bei den höhere Intensitätsstufen aller Empfindungen einstelle. Die
Pathologie machte uns nun mit Fällen von Analgesie ohne Anästhesie
bekannt, wo der Druckreiz zwar verspürt wurde, aber auch bei großer
Stärke nicht schmerzte. Anderseits entdeckte die Physiologie eigene
Schmerzorgane, die mit den Druck-, Kälte- und Wärmepunkten nicht
identisch sind. Betastet man mit einer Nadel oder einem zugespitzten
Pferdehaar die mit Seife gewaschene und feucht gehaltene Haut,
so empfindet man leichte Stiche, die sich qualitativ nicht von
schmerzenden Stichen unterscheiden. In diesem Fall kann also der
Schmerz nicht von einer zu heftigen Empfindung oder einer Zerstörung
der Organe herrühren. Anderseits bleibt er aus, wenn man mit einer
Nadel selbst tiefer in Temperaturpunkte einsticht.
Durch die Reizung der Schmerzpunkte ist man also in der Lage, die
Schmerzempfindung zu beobachten. +Ebbinghaus+ charakterisiert sie als
Stichempfindung, die langsam anschwillt und langsam abklingt. Als
eigentliche +Schmerzqualitäten+ nennt man allgemein den +stechenden+
und den +dumpfen+ Schmerz. Den ersteren erlebt man bei oberflächlichen
Reizen, von dem letzteren kann man sich ein Bild machen, wenn man
eine in die Höhe gezogene Hautfalte zusammenkneift. +Becher+ will
am sensiblen Dentin eine von den genannten deutlich verschiedene
Schmerzqualität beobachtet haben. Die sonst oft erwähnten Arten
des Schmerzes: der stechende, brennende, schneidende Schmerz sind
Verbindungen verschiedenartiger Empfindungen. Der Schmerzempfindung
ist es eigentümlich, daß sie schon bei geringer Heftigkeit unlustvoll
ist. Dennoch ist die Unlust weder stets noch immer eindeutig mit
ihr verbunden. Leichte Stichempfindungen können indifferent oder
auch lustbetont sein, während anderseits die nämliche stärkere
Schmerzempfindung bald höhere, bald niedere Unlust mit sich bringt, je
nachdem man das Steigen oder Abnehmen des Schmerzes erwartet (Becher).
Schmerzerregend können bekanntlich die verschiedensten +Reize+
wirken: mechanische, thermische, elektrische und chemische. Die
+schmerzempfindlichen Punkte+ scheinen alle andern Hautsinnespunkte
an Zahl zu übertreffen. Ist so für den Schutz des Organismus gesorgt,
so verhindert die größere Latenzzeit, daß wir durch zu häufige
Schmerzempfindungen belästigt werden. Von den Hautsinnen wird nämlich
bei gleichzeitiger Reizung zuerst Druck, dann Kälte, dann Wärme und
erst an letzter Stelle Schmerz empfunden.
Literatur
T. +Thunberg+, Physiologie der Druck-, Temperatur- und
Schmerzempfindungen, in Nagels Handbuch der Physiologie III, 1905.
F. Die Organempfindungen
Bislang war es immer möglich, die besprochenen Empfindungen im
Bewußtsein auffindbar zu machen und bis zu einem gewissen Grade zu
isolieren. Das wird bei den sog. Organempfindungen seine beträchtlichen
Schwierigkeiten haben. Auch schwebte demjenigen, der den Namen
„Organempfindungen“ in die Psychologie einführte, keineswegs der streng
formulierte Empfindungsbegriff vor, wie wir ihn oben aufstellten.
Man versteht vielmehr unter diesem Worte die +Gesamtheit der
sinnlichen Eindrücke, die uns über den inneren Zustand des Organismus
unterrichten+: Ermüdung und Frische, Hunger, Durst, Sättigung und
Übelkeit, Atemnot und Herzaffektionen, Empfindungen des Genitalsystems
u. ä. m. Wie man sieht, hat man es hier mit einem Komplex von
Empfindungen zu tun, demgegenüber die Psychologie +zwei Aufgaben+ zu
lösen hat: sie muß erstens feststellen, welche Teilempfindungen in die
einzelnen Komplexe eingehen; sie muß zweitens untersuchen, ob bei der
Analyse der genannten Gesamteindrücke neue Arten der Empfindung zu
entdecken sind. Beide Aufgaben sind noch kaum in Angriff genommen. Das
ganze Gebiet wird zurzeit noch fast ausschließlich von der Physiologie
beherrscht. Daß bei den meisten Organempfindungen Druck, Kitzel,
Schmerz und Temperaturempfindungen eine Komponente bilden, ist leicht
zu erkennen. Einen von diesen verschiedenen Sinnesinhalt konnte man
indes bis heute noch nicht mit Sicherheit aufzeigen.
Ebensowenig wie eine eigenartige Empfindung läßt sich ein besonderes
+Organ dieser Empfindungen+ nennen. Erwähnenswert ist vorerst
nur die vielumstrittene Frage, ob die inneren Organe überhaupt
empfindungsbegabt seien. Manche chirurgische Erfahrungen sprachen
dafür, daß z. B. die Organe des Verdauungssystems völlig unempfindlich
seien. Die großen Schmerzen bei Darmerkrankungen schienen nur von der
umgebenden höchst empfindlichen Bauchwand herzurühren. Es dürften
jedoch die inneren Organe nur gegen eine bestimmte Art von äußeren
Reizen unempfindlich sein, während sie auf die ihnen entsprechenden
inneren Reize im normalen Zustande mit mäßigen Empfindungen, in
entzündetem Zustande mit heftigen Schmerzen reagieren.
Literatur
E. +Becher+, Über die Sensibilität der inneren Organe, ZPs. 49
(1908), 341 ff.
G. Die statischen Empfindungen
War es bei den Organempfindungen wenigstens möglich, auf gewisse
Empfindungskomplexe hinzuweisen, so müssen wir hier, um einen
Anknüpfungspunkt zu gewinnen, Bewußtseinstatsachen heranziehen, die
weit das Gebiet der Empfindungen überschreiten. Wir sind imstande,
mit ziemlich großer Genauigkeit auch bei verschlossenen Augen die
+Lage+ zu beurteilen, +die unser Gesamtkörper im Raume einnimmt+.
Dieses Urteil gründet sich nicht auf die Druckempfindungen allein,
die der Körper je nach der Richtung der Schwerkraft erleidet. Denn
einmal kann man die Druckempfindungen möglichst ausschalten, und zum
andern zeigt sich, daß bei gewissen Erkrankungen trotz der vorhandenen
Druckempfindungen völlige Nichtorientierung herrscht. Zweitens wissen
wir auch bei geschlossenen Augen Bescheid über +Bewegungen+, die
+der Körper als Ganzes+ ohne Bewegung seiner Glieder macht, mag sie
nun eine geradlinige oder eine Drehbewegung sein. Allerdings muß die
bedeutsame Einschränkung hinzugefügt werden, daß wir immer nur die
+Beschleunigung+ der Geschwindigkeit und mit dieser auch die +Richtung+
der Bewegung wahrnehmen, während wir bei gleichmäßiger Bewegung
ohne derartige Wahrnehmungen bleiben und bei Verlangsamung leicht
der Täuschung einer scheinbar entgegengesetzten Bewegung verfallen.
Wendet man aber bei gleichförmiger Bewegung den Kopf oder den ganzen
Körper, so erkennt man augenblicklich die tatsächlich vorhandene
Bewegungsrichtung wieder. All diese Wahrnehmungen von der Lage des
Körpers können nun gewiß nicht der Inhalt irgendwelcher Empfindung
sein, sondern schließen, wie später darzutun ist, sogar Denkprozesse
ein; allein es muß sich mit der Lage oder der Beschleunigung des
Körpers +wenigstens ein eindeutiger Empfindungskomplex+ verbinden,
auf den sich unser Urteil stützt. Es stellt sich nämlich heraus, daß
auch die Tiere sinnliche Anhaltspunkte für die Körperlage besitzen,
und anderseits geht der Verlust des Lagebewußtseins parallel mit dem
Verlust gewisser nervöser Organe.
Dieser +nervöse Apparat+ befindet sich neben der Gehörschnecke. Er
besteht aus drei halbkreisförmigen Kanälen, den Bogengängen, die in
drei Ebenen nahezu senkrecht aufeinanderstehen. Diese Kanälchen sind
mit Flüssigkeit gefüllt und erweitern sich an ihren Enden zu den sog.
Ampullen, von deren Innenwand feine Härchen in die Flüssigkeit der
Bogengänge hineinragen. Unmittelbar neben den Bogengängen liegen die
beiden Säckchen, das elliptische und das runde, die gleichfalls mit
Endolymphe gefüllt sind und in denen feine Kalkplättchen, die sog.
Otolithen, auf zarten Härchen ruhen. In diese drei miteinander nicht
kommunizierende Räume, in die Bogengänge und die beiden Säckchen,
mündet der nervus vestibularis. Schneidet man nun diese Organe bei
Tieren heraus, so werden diese gegen ihre Körperlage gleichgültig:
die Katze, die zuvor Schaukelbewegungen nicht vertragen konnte,
schläft jetzt ruhig in der Schaukel ein. Beseitigt man nur einzelne
Bogengänge oder reizt man sie künstlich, so erscheinen Störungen in
der Lageauffassung der betreffenden Ebene. In einem sehr hübschen
Tierexperiment wies +Kreidl+ die Bedeutung der Otolithen nach: Krebse
verlieren manchmal ihre Otolithen und erhalten neue aus dem Material
ihrer Umgebung. Kreidl richtete es nun so ein, daß Eisenteilchen an
Stelle der Otolithen traten. Brachte er dann einen Magneten von einer
Seite her in die Nähe des Tieres, so warf es sich auf die andere Seite,
offenbar weil es den Eindruck hatte, in die Richtung des Magneten zu
fallen. Wurden die Eisenteilchen jedoch nur außen an den Kopf des
Tieres geklebt, so blieb es gleichgültig gegen die Einwirkung des
Magneten oder wurde passiv angezogen. Endlich entbehren Taubstumme
ohne Labyrinth des Drehschwindels, der sich bei Normalen nach mehreren
Drehbewegungen einstellt, wie sie anderseits im Wasser untergetaucht,
ihre Körperlage nicht beurteilen können. All diesen Tatsachen sucht man
in folgender Auffassung gerecht zu werden.
Beginnt der Kopf eine Bewegung in einer der drei Ebenen der Bogengänge,
so bleibt für den Anfang das Labyrinthwasser ein wenig zurück und übt
so einen Druck bzw. Zug auf die Härchen in den Ampullen aus. Wird die
Bewegung gleichförmig, so muß nach physikalischen Gesetzen dieser Zug
aufhören, um wieder einzusetzen, sobald die Bewegung merklich langsamer
wird oder plötzlich aufhört. Nimmt man nun an, daß die Verbiegung
der Sinneshaare in jeder Ebene eine charakteristische Empfindung
oder einen eigenartigen Empfindungskomplex bedingen -- die Drehung
des Kopfes können sie unmittelbar nicht melden --, so erklären sich
leicht die oben aufgezählten Wahrnehmungen der Körperbewegungen.
Eine andere Aufgabe haben die Otolithen. Sie drücken bei aufrechter
Haltung nach unten. Wird der Körper oder der Kopf für sich schief
geneigt, so verbiegen sie die Haare, und diese Verbiegung bleibt, im
Gegensatz zu der Biegung der Haare in den Ampullen, solange die schiefe
Haltung eingenommen wird. Die Otolithen dürften also die dauernden
Lageempfindungen vermitteln.
Es scheint nun ziemlich sicher zu sein, daß die Reizungen des
Vestibularnerven mancherlei Reflexbewegungen auslösen, durch die
sich die Sinneswesen gegen Lagestörungen schützen können. Aber es
ist noch umstritten, ob sie auch Empfindungen hervorrufen. Die
meisten Forscher entscheiden sich für letzteres und weisen auf die
eigentümlichen Inhalte hin, die man hat, wenn man sich nach längerer
Drehung plötzlich ganz ruhig hält und auf die Eindrücke im Kopfe
achtet. Gibt man nun das Vorhandensein charakteristischer Eindrücke
zu, so fragt es sich weiter, ob diese von den Tastempfindungen
verschieden sind oder nur eine besondere Qualität bzw. Verbindung
von Tastempfindungen darstellen. Letzteres hält +Wundt+ für
wahrscheinlich, während +Nagel+ und andere in ihnen eine neue
Empfindungsart erblicken. Wie immer auch diese Frage zu beantworten
ist, so ist doch festzuhalten, daß die statischen Empfindungen aus
sich weder einen räumlichen Charakter besitzen, noch viel weniger
unmittelbar eine Lage, eine Drehung u. ä. zu melden vermögen, da die
Inhalte „Lage“ und „Bewegung“ Relationen einschließen, die nur das
Denken erfassen kann.
Literatur
A. +Kreidl+, Die Funktion des Vestibularorgans, Ergebnisse der
Physiologie V (1906), 572.
H. Die kinästhetischen Empfindungen
Die Bezeichnung „kinästhetische Empfindungen“ ist ein Sammelname für
jene Sinnesangaben, die uns von der +Lage+ und der +Bewegung der+
verschiedenen +Körperteile zueinander+ Kunde geben. Im engeren Sinne
schließt er die Gesichtsempfindungen aus und läßt es dahingestellt,
ob neben den schon bekannten Hautempfindungen eine neue Art von
Sinneseindrücken besonderen Anspruch auf diesen Namen erheben kann. Die
Aufstellung einer neuen Empfindungsklasse begegnet hier noch größeren
Schwierigkeiten als bei den statischen Empfindungen. Denn hier ist
es weder möglich auf bestimmte Bewußtseinserscheinungen noch auf ein
bestimmtes Organ hinzuweisen. Wir müssen darum von gewissen Leistungen
der Seele ausgehen und prüfen, ob sich diese mit dem bisher gefundenen
Empfindungsmaterial verständlich machen lassen.
Wir Erwachsene sind imstande, die +Lage der+ verschiedenen
+Körperglieder+ zueinander auch ohne die Hilfe des Gesichtssinnes
ziemlich genau zu beurteilen. Daß dies nichts Selbstverständliches
ist, offenbaren uns Krankheitsfälle, wo der Patient bei geschlossenen
Augen zwar seinen Arm bewegen, aber nichts über dessen Haltung aussagen
kann und ihn in den unbequemsten Lagen beläßt, die ein anderer ihm
gibt. Wir wissen sodann von den +aktiven+ und +passiven Bewegungen+
unserer Glieder, und zwar ist dieses Wissen ein recht genaues. Der
an Ataxie Leidende hingegen scheint gerade die feinere Kenntnis
seiner Gliedbewegungen zu entbehren; denn alle seine Bewegungen sind
unvollkommen und schleudernd. Weiter verspüren wir den +Widerstand+
elastischer und fester Gegenstände, ein Erlebnis, das nicht allein
durch die Druckempfindungen der Haut zu erklären ist, da es auch bei
Unempfindlichmachung der Haut bestehen bleibt. Daß der Hautsinn hier
nicht in Frage kommt, zeigt auch die von +Goldscheider+ beschriebene
+paradoxe Widerstandsempfindung+. „Hält man an einem Faden ein nicht
zu leichtes Gewicht und macht damit eine schnelle Abwärtsbewegung, so
hat man im Augenblick des Auftreffens des Gewichtes auf den Boden die
Empfindung eines Widerstandes ... Es ist, als ob man mit einem Stock
aufstieße. Setzt man die Abwärtsbewegung weiter fort, so hat man die
Empfindung, als ob man eine Federkraft zu überwinden habe.“ (+Fröbes+
I, 155.) Endlich schätzen wir die Gewichte der von uns gehobenen Körper
und die von uns zum Ziehen oder Drücken verwendete Kraft, weshalb man
von +Schwere-, Spannungs- und Kraftempfindungen+ redet. Es fragt sich
nun, welchen Sinnesdaten sind alle diese Leistungen zu verdanken?
Zweifellos tragen die +Hautempfindungen+ einen Teil zu den genannten
Kenntnissen bei. Dennoch kann man sie nicht an erster Stelle dafür
verantwortlich machen, wie es die ältesten Erklärungen wollten,
da bei künstlicher oder krankhafter Ausschaltung der Hautsinne
die kinästhetischen Wahrnehmungen nicht wesentlich beeinträchtigt
werden. -- Spätere Forscher, wie +Bell+ und E. H. +Weber+, sahen in
den +sensorischen Muskelnerven+ die Quelle des hier zu erklärenden
Wissens: Entsprechend der verschieden starken Muskelspannung
treten verschiedene Spannungsempfindungen auf und liefern so einen
Anhaltspunkt zur Beurteilung der Gliedlage. Dagegen sprachen
indes Fälle von Muskeldegeneration, in denen gleichwohl die Lage
der Glieder und der Unterschied von Gewichten angegeben werden
konnte. Zudem hängt ja auch die Lage eines Gliedes nicht eindeutig
von der Kontraktion des Muskels ab: bei einer passiven Bewegung
werden die Muskeln überhaupt nicht kontrahiert, und dieselbe Lage
eines Gliedes kann bei großer wie bei geringer Muskelspannung
eingehalten werden. -- Ein dritter Erklärungsversuch führte die
+Innervationsempfindungen+ ein: es soll uns der motorische Impuls
bewußt werden, den wir den Muskeln erteilen. Wird sich ja auch ein
Kranker, der sein gelähmtes Bein bewegen will, einer Kraftanstrengung
bewußt, obwohl in dem Muskel selbst keinerlei Kontraktion
erfolgt. Allein die verspürte Kraftanstrengung kann auf andere,
gleichzeitig miterregte Muskeln zurückzuführen sein und verliert
somit jede Beweiskraft. Dagegen werden die Innervationsempfindungen
unwahrscheinlich, da Kranke vielfach ihre Glieder richtig gebrauchen,
sie also richtig innervieren, ohne darum über die Lage und Bewegung
ein Wissen zu erlangen. Daß wir von dem Impuls, den wir unseren
Bewegungen erteilen, nichts wissen, veranschaulicht eine bekannte
Gewichtstäuschung: Hebt man zwei gleich schwere, aber verschieden
große Gewichte, indem man auf sie hinblickt, so kann man sich
von dem Eindruck nicht freimachen, das kleinste Gewicht sei das
schwerste. Wir heben nämlich unwillkürlich das größere Gewicht mit
einem größeren Krafteinsatz. Käme uns nun der erteilte Impuls zu
Bewußtsein, so könnten wir ihn bei der Gewichtsvergleichung beachten
und uns so über die Täuschung hinweghelfen.
Nach Erledigung der Innervationsempfindungen erlangte die
+Goldscheidersche Theorie+ nahezu allgemeine Anerkennung: Die
Gelenke sollen sehr dicht mit den Vater-Paccinischen Tastkörperchen
besetzt sein. Drehen sich nun bei einer Bewegung zwei Gelenkflächen
gegeneinander, so werden die Tastkörperchen stets an einer anderen
Stelle gedrückt. Jeder Stellung des Gliedes entspricht darum eine
eigenartige Reizung der Vater-Paccinischen Körperchen. Somit
kann sich diese qualitativ eigenartige Empfindung eindeutig mit
dem optischen Bild von der Bewegung des Gliedes verbinden und so
allmählich zu einer ausreichenden Kunde von der gegenseitigen
Stellung der Glieder werden. So erklärt sich auch leicht die
Widerstandsempfindung als ein Gelenkdruck. Zur Deutung der paradoxen
Widerstandsempfindung aber ist noch zu beachten, daß der Zug des
Gewichtes eine gleichgroße entgegengerichtete Muskelspannung bedingt.
Berührt nun das herabgelassene Gewicht den Boden, so hört der Zug
auf, während jene Muskelspannung noch andauert, dadurch die Gelenke
aneinander preßt und so denselben Eindruck wie ein äußerer Widerstand
hervorruft.
Auch diese Theorie, deren positive Beweise man schon bald
angegriffen hat, wurde neuerdings stark erschüttert, als es
gelang, die freigelegten Gelenkflächen Operierter verschiedenen
Reizen auszusetzen. Dabei ergab sich, daß von den Gelenk+flächen+
aus überhaupt keine Empfindungen zu wecken waren. Wenn darum die
Gelenk-Organe überhaupt Träger von Bewegungsempfindungen sind,
so müssen diese in den die Gelenke umspannenden Gelenk+kapseln+
ausgelöst werden, die allerdings reichlich mit Nerven versehen sind.
Die eindeutige Zuordnung bestimmter Empfindungskomplexe dieser Art zu
bestimmten Lagen der Glieder wäre vielleicht auch hier möglich. Indes
die bestechende Einfachheit der alten Goldscheiderschen Auffassung
ist dahin.
So ist also heute die Frage der kinästhetischen Empfindungen noch
ungeklärt. Die neuesten Untersuchungen +Störrings+ lassen den Beitrag
des Drucksinnes der Haut für feinere Bestimmungen wieder bedeutsamer
erscheinen, während die Forschungen +v. Freys+ den +Kraftsinn+ aufs
neue zu Ehren bringen. Daß wir wirklich Muskel- oder Sehnenempfindungen
haben, die von dem aufgewandten Kraftmaß Kunde geben, beweist ein
schlichter Versuch: Hat der steifgehaltene Arm ein aufgesetztes
Gewicht zu heben, so erscheint es schwerer, wenn es weiter von dem
Drehgelenk entfernt aufgelegt wird, als wenn näher. Hier sind die
Gelenkempfindungen die nämlichen, weil der Arm sich in beiden Fällen
um gleichviel Grade hebt; die Druckempfindungen, die das aufgesetzte
Gewicht auf der Haut hervorruft, können ausgeschaltet werden, und
die inneren Spannungsempfindungen, d. h. jene Empfindungen, die der
Druck des kontrahierten Muskels von innen auf die Haut auslöst, sind
auch jedesmal die gleichen. Verschieden ist nur die aufgewandte
Kraft. Vorerst lassen sich somit die kinästhetischen Empfindungen
noch nicht ausschließlich oder vorwiegend +einem+ Organ zuschreiben.
Alle genannten Organe, die Haut, die Gelenke und die Muskeln, sind in
gewissem Grade befähigt, Lage- und Bewegungsempfindungen zu vermitteln.
Über die Qualität dieser Empfindungen, ob sie untereinander gleich und
ob unter ihnen ganz neuartige Phänomene sind, läßt sich heute noch
nichts ausmachen. Aber auch hier ist zu betonen, daß der Inhalt dieser
Empfindungen in sich nichts von einer Lagebestimmung enthalten kann.
Literatur
+Ebbinghaus-Bühler+, Grundzüge der Psychologie I⁴ § 32. Die Kraft-
und Bewegungsempfindungen.
Fußnoten:
[2] Anders H. Henning, Der Geruch 1916 S. 491 ff., der ein
Geschmackstetraeder aufstellt.
4. Kap. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie
Läßt man einen Wärmereiz auf einen Kältepunkt einwirken, so entsteht,
wie wir sahen, eine paradoxe Kälteempfindung. Drückt man die hinter dem
Trommelfell herziehende Chorda tympani, die unter anderem Fasern des
Geschmacksnerven enthält, so erlebt man eine Geschmacksempfindung. Das
gleiche geschieht, wenn man diesen Nerv elektrisch oder chemisch reizt.
Der Sehnerv antwortet bei elektrischer, chemischer und mechanischer
Reizung mit einer Lichtempfindung. Solche und ähnliche Beobachtungen
führten zur Aufstellung des Satzes von den spezifischen Sinnesenergien
durch Joh. + Müller+ (1826): +Der gleiche Reiz ruft in verschiedenen
Sinnen verschiedene Empfindungen hervor, je nach der Natur des Sinnes+;
verschiedene Reize rufen in dem gleichen Sinne die gleiche Empfindung
hervor. Was besagt dieser Satz? Er besagt, daß der Empfindungsinhalt,
das Quale der Empfindung, aus dem empfindenden Subjekt stammt. Es wird
nicht eine Eigenschaft eines äußeren Gegenstandes gleichsam durch die
Sinne nur hindurchgeleitet zur wahrnehmenden Seele, sondern die Seele
antwortet in verschiedener Weise auf die einwirkenden Gegenstände, je
nach der Sinnespforte, bei der sie anklopfen. Ein psychologisch und
erkenntnistheoretisch höchst bedeutsamer Satz.
Man muß sich indes vor einer +unberechtigten Verallgemeinerung+ dieses
Satzes hüten. Er besagt nicht, daß unsere Seele oder ihre Sinne völlig
gleichgültig seien gegen die einwirkenden Reize, womit einem extremen
Subjektivismus Tür und Tor geöffnet wäre. Es sind nämlich +nur+ die
einem jeden Sinne entsprechenden, +die adäquaten Reize begünstigt+.
Vor den inadäquaten Reizen sind die meisten Organe schon durch äußere
Schutzvorrichtungen für gewöhnlich bewahrt (+Ettlinger+). Außerdem
vermögen die inadäquaten Reize nur unabgestufte, unklare Eindrücke
hervorzurufen. Bei den adäquaten Reizen hingegen zeigt sich eine
streng gesetzmäßige Zuordnung von Reiz und Empfindung. Einen Beweis
dafür boten die Qualitäten des Farbensinnes, die ganz eindeutig an
bestimmte Wellenlängen gebunden sind. Andere Belege dafür wird uns die
Psychophysik liefern.
Weitere Probleme, die der Müllersche Satz aufwirft, sind von einer
endgültigen Antwort noch mehr oder weniger entfernt. So vor allem
die Frage, was man sich unter der spezifischen Energie eines
Sinnesnerven zu denken habe. Man wird da nicht an eine geheimnisvolle
Kraft denken dürfen, die in dem Nerven wohnt, sondern eher an einen
eigenartigen physiologischen Zustand, der bewirkt, daß der Nerv,
wenn er überhaupt erregt wird, immer nur in eine bestimmte Art der
Erregung versetzt werden kann; wie etwa eine Klaviersaite oder ein
Resonanzboden, wenn sie durch irgendwelchen Druck oder Stoß überhaupt
in eine selbständige Bewegung geraten, immer nur eine bestimmte Form
der Erschütterung aufweisen. -- Allerdings steht es nicht fest,
ob es der periphere Nerv ist, der, wie wir soeben voraussetzten,
in eine spezifische Erregung gerät, oder ob diese nur im Gehirn
ausgelöst wird, während der Nerv als indifferenter Leiter jeden
Reiz zu übermitteln imstande ist. Für die letztere Ansicht werden
die Halluzinationen, subjektive Erregungen, die sicher im Gehirn
entstehen, geltend gemacht. Aber mit dem Bestand solcher zentraler
Erregungen ist noch nichts für die Beschaffenheit der peripheren
Nerven entschieden. Für die spezifisch verschiedene Erregbarkeit der
Leitungsnerven hingegen bildet ihre mit Sicherheit festzustellende
verschiedene Organisation ein beachtenswertes Argument. -- Endlich
läßt sich die Frage, ob die spezifische Energie den Sinnen angeboren
oder erst im Laufe des Lebens erworben sei, nicht lösen. Die
Erwerbung der spezifischen Sinnesenergie im Verlauf des Lebens hat
die Beobachtung für sich, daß bei Blinden oder Tauben, denen von
Geburt an diese Empfindungen abgehen, eine inadäquate Reizung der
Nervenstränge keine Licht- oder Schallempfindung bewirken. Es scheint
somit, als müsse der adäquate Reiz, der durch das äußere Organ
leicht in den Sinnesnerven eintritt, diesen erst in seiner Weise
bearbeiten und disponieren, so daß er später auch auf inadäquate
Reize nicht mehr anders als in dieser vorgebildeten Art ansprechen
kann. Wäre dies der Fall, dann käme den äußeren Reizen eine noch
größere Bedeutung zu, als wir ihnen soeben einräumten. Die Reize
schüfen sich geradezu die Reaktion. Sodann wäre die von manchen
Entwicklungstheoretikern vertretene Hypothese glaubhafter, daß
sich nämlich die Vielheit der Sinne aus einem einzigen primitiven
Sinne durch beständiges Einwirken der verschiedenen äußeren Reize
herausdifferenziert habe. Allein die genannte Beobachtung an
Blind- und Taubgeborenen ist kein durchschlagender Beweis, da ein
Gehirnzentrum degenerieren kann, wenn es nicht geübt wird.
Literatur
R. +Weinmann+, Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, 1895.
N. +Brühl+, Die spezifischen Sinnesenergien nach Joh. Müller im
Lichte der Tatsachen, 1915.
5. Kap. Die Psychophysik
Zündet man in einem nur von +einer+ elektrischen Lampe dürftig
erhellten Saal eine zweite gleichstarke Lampe an, so ist die
Beleuchtungssteigerung ganz auffällig. Wird jedoch zu hundert Lampen
eine weitere hinzugefügt, so wird niemand die größere Helligkeit
zu bemerken imstande sein. Diese auf allen Empfindungsgebieten zu
beobachtende Tatsache erlangte eine für die Entwicklung der gesamten
Psychologie grundlegende Bedeutung, als der Physiologe E. H. +Weber+
(1846) bei Untersuchung des Hautsinnes fand, daß sie einer bestimmten
Gesetzmäßigkeit folgt: Muß man zu einem Druck von der Stärke 100
einen solchen von der Stärke 1 hinzufügen, damit der Unterschied
im Druck überhaupt gemerkt wird, so muß bei einem solchen von der
Stärke 200 ein Druck von der Stärke 2 hinzukommen, soll nunmehr die
Verstärkung des Druckes eben bemerkbar sein. Oder: das Verhältnis
von Reizzuwachs, bei dem eben eine Empfindungszunahme eintritt, zum
Anfangsreiz ist konstant (¹⁄₁₀₀ = ²⁄₂₀₀). Diese Entdeckung legte für
G. Th. +Fechner+ den Gedanken nahe, von hier aus ein brauchbares Maß
der Empfindung zu gewinnen. Und es war ein Lieblingstraum von ihm,
von diesen vielversprechenden Anfängen aus das ganze psychische Leben
mit der mathematischen Formel zu beherrschen. Es sollte in Zukunft
nicht mehr von Psychologie, sondern von +Psychophysik+ die Rede sein.
Dieser Wunsch hat sich nun freilich nicht erfüllt. Dagegen wurde er die
gesegnete Quelle der meisten psychologischen Forschungsmethoden und
die Anregung, auch auf andere Gebiete die quantitativen Arbeitsweisen
zu übertragen. Diese Methoden verstehen wir jedoch im Folgenden nicht
unter Psychophysik.
1. Aufgaben und Methoden der Psychophysik
Die unmittelbare Aufgabe der Psychophysik besteht in der Ermittlung
bestimmter Reizgrößen. Nicht jeder physikalische Reiz löst schon eine
Empfindung aus. Erst wenn ein Licht, eine Schallschwingung, ein Gewicht
eine gewisse Größe erreicht, empfinden wir etwas. Man nennt diese von
dem Reiz zu erreichende Größe die absolute +Schwelle+ der betreffenden
Empfindung. Sie ist bei den verschiedenen Sinnen verschieden und
innerhalb desselben Sinnes je nach dem Ort der Reizung bzw. nach den
erregten Nervenfasern verschieden. Die absolute Schwelle kann als Maß
der Empfindlichkeit dienen. Denn je niedriger für einen Sinn bzw. für
ein bestimmtes Nervengebiet die Reizschwelle ist, um so größer ist
seine Empfindlichkeit.
Eine zweite Aufgabe liegt in der Ermittlung der +Unterschiedsschwelle+.
Wie groß muß der zu einem schon wahrgenommenen Reiz hinzutretende
Reizzuwachs sein, damit ein Unterschied in der Empfindung
erkennbar werde? Es wäre da zu untersuchen, ob jeder Unterschied
der Reize bemerkt wird, ob stets der gleiche Reizzuwachs einen
Empfindungsunterschied herbeiführt, wie sich die einzelnen Sinne in
dieser Hinsicht verhalten usw. Drittens sind die +äquivalenten Reize+
zu bestimmen. Die zu beantwortende Frage lautet hier: Welche Reize
lösen die gleiche Empfindung aus? Erscheint z. B. der Abstand zweier
Zirkelspitzen gleich groß, wenn der Tastzirkel an verschiedenen Stellen
aufgesetzt wird? Weiter sind die +äquivalenten Reizunterschiede+ zu
finden: gegeben sind zwei Paare veränderlicher Reize und man soll
erkunden, unter welchen Bedingungen die von je zwei Reizen gebildeten
Empfindungsunterschiede einander gleich erscheinen. Endlich die
Ermittlung gleichwertig erscheinender +Reizverhältnisse+: zu drei
gegebenen Reizen A, B, a muß der vierte b gefunden werden, so daß
A : B = a : b (+Bühler+).
Die +Methoden+ zur Lösung der vier Hauptaufgaben teilt man nach
+Ebbinghaus+ ein in die Methoden der +Reizfindung+ und der
+Urteilsfindung+, d. h. entweder ist die Empfindungsgröße schon
bestimmt und es bleibt der Reiz zu suchen, der sie herbeiführt, z. B.
gesucht ist der Reiz, der eine ebenmerkliche, übermerkliche, einer
andern gleiche Empfindung bewirkt -- oder die Reize sind gegeben und
das Urteil über sie wird erfragt, z. B. gegeben sind drei Gewichte
a, b, c, und es ist zu beurteilen, ob der Schwereunterschied bei
den Reizen a−b dem bei den Reizen b−c gleich sei oder nicht. Die
allgemeine Methode der Reizfindung teilt sich in die zwei besonderen:
+die Methode der Herstellung und die Grenzmethode+. Bei der ersteren
hat der Beobachter den gewünschten Reiz selbst herzustellen. Er
verschiebt z. B. auf einer Geraden eine Trennungsmarke, bis sie im
Mittelpunkte zu stehen scheint. Bei der Grenzmethode hingegen bietet
der Versuchsleiter (Vl) den zu vergleichenden bzw. zu beurteilenden
Reiz dar, indem er sich allmählich jener Grenze nähert, bei welcher
das festgesetzte Urteil abgegeben wird. Es wird also z. B. gefragt,
bei welcher Spitzendistanz des Tastzirkels +zwei+ Punkte wahrgenommen
werden. (Vgl. S. 96.) Der Vl berührt dann die Haut der Vp bei so engem
Abstand der Spitzen, daß gewiß nur ein einziger Punkt wahrgenommen
werden kann. Allmählich vergrößert er dann den Abstand, bis die Vp den
Eindruck von zwei Berührungen hat. Den so gefundenen Abstand bezeichnet
man als die untere Raumschwelle. Darauf wird der Tastzirkel von neuem
aufgesetzt, und zwar diesmal mit einer Entfernung der Spitzen, die
beträchtlich größer ist als die untere Raumschwelle, so daß die Vp
notwendig den Zweiheitseindruck gewinnt. Nunmehr wird die Zirkelweite
in gleichmäßigen Schritten immer mehr vermindert, bis die Vp wieder
das Urteil abgibt: einfache Berührung. Der Abstand, bei welchem dies
geschieht, gilt dann als obere Raumschwelle, und das arithmetische
Mittel aus unterer und oberer Schwelle wird als die Raumschwelle
schlechthin angesehen. -- Die Methode der Urteilsfindung ist nur in
der sog. +Konstanzmethode+ vertreten. Der Vl bereitet eine größere
Anzahl von Reizen vor und wendet sie in planvollem Wechsel an. Er legt
sich etwa zehn Zirkelabstände zurecht und setzt in buntem Wechsel bald
einen kleinen, bald einen großen Abstand auf und läßt die Vp jedesmal
beurteilen, ob eine oder zwei Spitzen empfunden wurden. Dabei kommt
jeder Abstand wiederholt vor.
Die Konstanzmethode ist die verlässigste, weil sie die Vp über den
Sachverhalt völlig in Unwissenheit hält. Dagegen ist die Berechnung
der verschiedenen Empfindungsgrößen bei ihr nicht sehr einfach. Auch
verlangt sie eine sehr große Zahl von Einzelversuchen. Bei gewissen
Versuchsanordnungen muß jeder Reiz etwa vierzigmal verwendet werden,
somit sind bei zehn Reizstufen schon 400 Einzelversuche notwendig. Die
beiden andern Methoden hingegen führen mit ungleich weniger Versuchen
zum Ziel und erlauben die Berechnung der Empfindungsgrößen durch
einfache Mittelziehung (arithmetisches Mittel oder Zentralwert). Dafür
aber sind beide kein unwissentliches Verfahren. Die Herstellungsmethode
ist naturnotwendig ganz wissentlich, und bei der Grenzmethode merkt
die Vp sehr bald, ob die angewandten Reize steigen oder fallen. Zur
sicheren Verwendung der psychophysischen Methoden sind nun noch eine
Anzahl von Vorsichtsmaßregeln notwendig. Aus der räumlichen und
zeitlichen Folge der Reize, sowie aus dem Verhalten der Vp entspringen
Fehlerquellen, die unschädlich gemacht werden müssen. Dafür, so wie
für die genauere mathematische Behandlung der Ergebnisse sei auf die
einschlägige Fachliteratur verwiesen.
Literatur
G. Th. +Fechner+, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., 1860.
G. E. +Müller+, Die Gesichtspunkte und Tatsachen der psychophysischen
Methodik, 1903.
2. Das Webersche und das Fechnersche Gesetz
Nachdem die oben schon angeführte Entdeckung E. H. Webers von Fechner
aufgegriffen wurde, der sie auch mit dem Namen +Webersches Gesetz+
versah, wurde ihre Gültigkeit auf allen Sinnesgebieten geprüft.
Abgesehen von sehr starken und sehr schwachen Reizen, hat man nun das
Webersche Gesetz auf allen Sinnesgebieten mit Ausnahme von Geschmack
und Geruch annähernd bestätigt gefunden. Und zwar gilt es im großen und
ganzen nicht allein für ebenmerkliche, sondern auch für übermerkliche
Empfindungsunterschiede. Diese Gesetzmäßigkeit kommt uns zu statten,
wenn die Beleuchtung der Gegenstände schwankt. Obwohl in solchen Fällen
die Helligkeit der einzelnen Teile eine ganz andere wird, bleibt der
Gegenstand für uns doch gleich gut erkennbar, da es für uns in erster
Linie auf die Verhältnisse der Helligkeiten ankommt.
Für das Webersche Gesetz wurde eine +dreifache Erklärung+ versucht.
Eine psychophysische von +Fechner+: das Gesetz beruht auf dem
Übergang vom Physischen zum Psychischen. Eine psychologische von
+Wundt+: die Empfindungen entsprechen immer genau den Reizen,
aber bei der vergleichenden Beurteilung der Empfindungen tritt
die Größenverschiebung ein. Die Fechnersche Theorie muß als
unbegründet fallen. Die Wundtsche erklärt nicht, warum die
Unterschiedsempfindlichkeit auf verschiedenen Sinnesgebieten
verschieden groß ist. Es dürfte also nur die physiologische Deutung
übrig bleiben, nach der die stärker beanspruchten Nerven einen höheren
Reizzuwachs verlangen, um aufs neue zu reagieren, ähnlich wie eine
stärker belastete Wage auch ein größeres Übergewicht braucht, um
auszuschlagen. Für diese Auffassung sprechen auch mancherlei Analogien
aus Physiologie und Chemie.
[Illustration: Fig. 4. Graphische Darstellung des _Fechner_schen
Gesetzes.
Nach _Titchner_, Lehrbuch d. Psychologie Fig. 27, S. 219, Leipzig, _J.
A. Barth_.]
Ausgehend von dem Weberschen Gesetz und unter der Voraussetzung, daß
die ebenmerklichen Empfindungszuwüchse, in denen eine Empfindung
vom Nullpunkt bis zu einem beliebigen Intensitätsgrade ansteigt,
einander gleich seien, hat Fechner eine „+Maßformel+“ abgeleitet,
die in ihrer einfachsten Form lautet: s = log r; in Worten: wenn die
Empfindungen arithmetisch zunehmen, so steigen die zugehörigen Reize
in einer logarithmischen Kurve an. (+Fechnersches Gesetz.+) (Fig.
4.) Mit dieser Formel wäre die prinzipielle Möglichkeit geboten, die
Empfindung zu messen. Man hat nun sowohl die Gültigkeit der erwähnten
Fechnerschen Voraussetzung wie auch die Größennatur und die Meßbarkeit
der Empfindungsintensität angezweifelt. Allein die Gleichheit der
ebenmerklichen Empfindungszuwüchse ist zum wenigsten eine sehr
naheliegende Annahme, und die Empfindungsintensitäten erscheinen
dem Unvoreingenommenen als wahre Größen, zwar nicht extensiver, aber
doch intensiver Natur. Der Schall des Donners erscheint uns wirklich
stärker als der eines umfallenden Ofenschirmes. Ebenso können wir mit
Sicherheit zwei Druckempfindungen als gleich oder ungleich beurteilen.
Übrigens hat das Fechnersche Gesetz in der weiteren Entwicklung der
Psychologie keine größere Bedeutung erlangt. Sein Wert liegt in dem
energischen Versuch, Maß und Zahl in die Psychologie einzuführen, ein
Ziel, das die Psychologie seither nicht aus dem Auge verloren hat und
auch grundsätzlich festhalten muß, will sie eine wahrhaft empirische
Wissenschaft bleiben.
Außer der Empfindungsintensität hat man keine andere psychische Größe
mehr mit Erfolg zu messen versucht. Die Messung der Willenskraft
durch +Ach+ muß als verfehlt gelten. (S. unten.). Dagegen liefert
die Häufigkeit, die Dauer und die Güte eines seelischen Vorganges
bzw. der von ihm vollbrachten Leistung Zahlenwerte, die sehr großen
Aufschluß versprechen. Die Behandlungsweise solcher Zahlenwerte kann
hier nicht dargestellt werden. Nur auf die Korrelationsrechnung
sei noch kurz verwiesen. Auch wo sich geistige Leistungen nicht
unmittelbar messen lassen, bleibt es doch zumeist möglich, sie nach
ihrer Güte in Rangstufen anzuordnen, oder festzustellen, wie oft
sich gewisse Merkmale mit anderen verbinden. Die Mathematik hat nun
Formeln erarbeitet, mit denen der Grad der Beziehung berechnet werden
kann, in der zwei Rangordnungen oder mehrere Merkmale zueinander
stehen.
Literatur
R. +Pauli+, Über psychische Gesetzmäßigkeit. 1920.
W. +Betz+, Über Korrelation. 3. Beiheft zur ZAngPs. (1911).
ZWEITER ABSCHNITT
Empfindungskomplexe
Faßt man die Empfindungen als die elementaren Bausteine des
anschaulichen Erkennens auf, so läßt sich die Frage aufwerfen,
wie sich die Verbindung solcher Elemente gestalten werde: Wird
sie eine reine Addition von Empfindungen sein, oder werden
bei dem Zusammensein von Empfindungen neue Gesetzmäßigkeiten
auftreten? Bei der Untersuchung dieser Frage könnte man wie bei
der Empfindungslehre immer streng von dem psychisch Gegebenen
ausgehen, Empfindungskomplexe aufsuchen und sie erforschen. Statt
dieses analytischen Weges, der mancherlei Schwierigkeiten bietet,
steht uns aber auch der bequemere synthetische offen. Wir kennen
schon die Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung und dürften auch
durch die vorausgegangenen Betrachtungen gegen den „stimulus-error“
(+Titchener+), d. h. gegen die Verwechslung von physikalischem Reiz
und psychischem Erlebnis geschützt sein. Man könnte also systematisch
durch gleichzeitige Verwendung mehrerer Reize Empfindungskomplexe
hervorzurufen bedacht sein. Dabei müßten zwei oder mehr Reize
zunächst auf dasselbe Sinnesorgan und dann auf verschiedene Organe
einwirken. In manchen Fällen, wo mehrere adäquate Reize nicht allein
dasselbe Organ, sondern auch dieselben Nervenfasern erregen, wird
wie bei dem Auge nur eine einzige Empfindung entstehen. Diese Fälle
gehören nicht hierher und wurden auch schon bei der Empfindungslehre
besprochen; alle anderen Fälle sind jedoch hier zu berücksichtigen.
Allerdings liegt eine systematische Durchforschung des Gesamtgebietes
noch nicht vor. Das wenige über die Verbindung der niederen
Sinnesempfindungen, wie der Gerüche und Geschmäcke, wurde schon oben
gelegentlich gestreift. Beide Empfindungsarten gehen miteinander
auf jeden Fall eine sehr innige Verbindung ein, die der Unkundige
nicht leicht zu analysieren vermag. Immerhin scheint es hier bei
einer einfachen Addition der Empfindungen zu bleiben. Doch stehen
genauere Untersuchungen noch aus. Bei den andern Sinnen hingegen
werden durch das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer Sinnesreize
seelische Gebilde bedingt, die schon immer die Aufmerksamkeit der
Psychologen erregten und darum eingehender erforscht sind. Von diesen
Empfindungskomplexen sind die aus Tönen bestehenden verhältnismäßig
die einfachsten: fehlt doch bei ihnen das räumliche Moment. Mit ihnen
soll darum bei der Besprechung der Empfindungskomplexe begonnen
werden.
1. Kap. Die gleichzeitigen Tonverbindungen
1. Die Tatsache der Tonverschmelzung
Läßt man gleichzeitig zwei oder mehrere Töne erklingen, so verschmelzen
gewisse Töne oder Tongruppen so innig miteinander, daß ein neues
einheitliches Tongebilde aus ihnen entstanden zu sein scheint, ähnlich
wie aus der Vereinigung mehrerer Farbenreize eine neue Empfindung,
die Mischfarbe, entsteht. Diese neue Empfindung scheint eine eigene
Qualität, Intensität, ja sogar eine eigene Tonhöhe zu haben. Indes
sind doch nur musikalisch weniger begabte Psychologen, wie +Fechner+,
für den Empfindungscharakter solcher Tonverbindungen eingetreten. Für
Musiker und musikalisch hochbefähigte Forscher, wie +Helmholtz+ und
+Stumpf+, steht es außer Frage, daß auch in diesen Verschmelzungen eine
Mehrheit von Empfindungen vorliegt. Anders als bei der einheitlichen
Mischfarbe lassen sich hier die Teilempfindungen herausanalysieren, und
zwar nicht nur infolge der Bekanntschaft mit den Tonverbindungen; denn
ein geübter Musiker vermag auch aus den fremdartigen Klängen eines ihm
unbekannten Instrumentes die Teiltöne herauszuhören.
Allein trotz der inhaltlichen Mehrheit läßt sich eine gewisse Einheit
und Bindung des Tonkomplexes nicht bestreiten, auch dann, wenn er
sich nicht aus den am stärksten verschmelzenden Tönen zusammensetzt.
Solange ein solcher Tonkomplex nicht analysiert wird, legt man ihm als
Ganzem unwillkürlich bestimmte Eigenschaften bei. Schärferes Zusehen
führt jedoch zu mehrfachen Berichtigungen. Nach den besten Beurteilern
kommt der Tonverbindung keine eigene Intensität zu; auf jeden Fall
ist der Mehrklang nicht stärker als der Teilton, wohl aber voller und
reicher. Die Höhe, die das Tonganze zu haben scheint, richtet sich
nach dem tiefsten Teiltone. Erklingen Grundton und Oktav zusammen und
bleibt dann der Oktavton aus, so hat man nicht den Eindruck, als ob
sich die Höhe des Zweiklanges verändert habe; umgekehrt erlebt man aber
einen überraschenden Aufstieg, wenn der Grundton wegfällt. Folgen zwei
Akkorde aufeinander, so wird der Höhenschritt der Akkorde nach dem
Schritt jener Stimme beurteilt, die am meisten steigt. Diese Tatsachen,
sowie der Umstand, daß man gewisse Eigenschaften hoher Obertöne,
wie das Schrille, Dissonante u. ä. auf den ganzen Klang überträgt,
beweisen, daß wir es hier nicht mit Eigenschaften zu tun haben, die
dem Empfindungskomplex als solchem zukommen, sondern daß Auffassungs-
und Beurteilungsphänomene vorliegen, deren Verständnis erst später
erschlossen werden kann.
2. Gesetze der Tonverschmelzung
Nicht alle Tonpaare verschmelzen gleich innig, d. h. nicht alle
nähern sich gleichviel dem Einklang. Unter +Verschmelzung+ verstehen
wir nämlich mit +Stumpf+ die +Annäherung an den Einklang+.
Gewisse Tonpaare unterscheidet auch ein musikalisch normales
Ohr nicht ohne weiteres vom Einklang, während andere auch von
Unmusikalischen sofort als Zweiklang gehört werden. Die genauere
Untersuchung ergibt folgende Gesetze der Tonverschmelzung. Sie hängt
zunächst von der +Höhe+ der beiden Töne ab. Nach der Innigkeit
der Verschmelzung scheinen fünf Stufen zu bestehen: Oktav, Quint,
Quart, Terzen und Sexten, endlich alle übrigen Intervalle, die
untereinander keinen Unterschied des Verschmelzungsgrades aufweisen.
Die Verschmelzungserscheinung ist sodann +in allen Tonlagen+ zu
beobachten, extrem hohe und tiefe Lagen vielleicht ausgenommen.
Drittens gilt das +Erweiterungsgesetz+: ein Intervall läßt sich um
eine Oktav erweitern, ohne seinen Verschmelzungsgrad einzubüßen.
Die Non hat darum die gleiche Verschmelzung wie die Sekund, C und
c wie C und c¹. Viertens ist der Verschmelzungsgrad +unabhängig
von der Stärke wie von der Zahl der Teiltöne+. Die Einheitlichkeit
eines Zweiklanges vermindert sich also nicht, wenn beide Töne oder
einer von ihnen stärker bzw. schwächer wird; sie leidet auch nicht
darunter, daß ein dritter Ton hinzutritt.
+Konsonanz und Dissonanz.+ Unter Konsonanz versteht der
Sprachgebrauch sowohl die innige Verbindung zweier Töne, wie auch
die Annehmlichkeit, die einer solchen Verbindung eigen ist. Sieht
man von letzterem als einem Gefühlsmoment ab, es wechselt nämlich je
nach dem Beurteiler, so kann man die Konsonanz der Verschmelzung in
unserem Sinne gleichsetzen. Die Stufenfolge in der Vollkommenheit
der Konsonanz, welche die Musikwissenschaft aufgestellt hat, stimmt
nämlich mit der Reihenfolge der Verschmelzungsgrade überein. Nach der
Musiktheorie sind Oktav, Quint und Quart vollkommene Konsonanzen,
Terzen und Sexten unvollkommene, alle andern Dissonanzen. Ein
prinzipieller Gegensatz zwischen Konsonanzen und Dissonanzen ließ
sich jedoch experimentell nicht nachweisen. Somit darf die Dissonanz
als mangelnde Einheitlichkeit zweier oder mehrerer Töne gelten.
Empfindungsmäßig erscheint die Konsonanz als das Klare, Einfache,
während die Dissonanz als rauh, unklar, zwiespältig anspricht.
3. Die Erklärung der Konsonanz
Eine kurze Besprechung der verschiedenen Erklärungsversuche wird uns
zugleich noch einzelne Faktoren kennen lehren, die den Gesamteindruck
mitbestimmen. Der älteste Erklärungsversuch beachtete besonders
die +einfachen Verhältnisse+, die zwischen den Schwingungszahlen
konsonanter Töne herrschen; einfache übersichtliche Verhältnisse
seien uns angenehm (+Leibniz+). Allein die Konsonanz empfindet
auch derjenige, der von den mathematischen Verhältnissen der
Schwingungszahlen keine Ahnung hat. Ebensowenig wie von den
Schwingungszahlen entdecken wir etwas von der +Rhythmik der
harmonischen Töne+ (+Lipps+). Verständlicher ist die Erklärung,
welche die harmonischen Intervalle unmittelbar ein +Lust-+, die
unharmonischen unmittelbar ein +Unlustgefühl+ hervorrufen läßt. In
der Tat begleitet jene in der Regel ein unmittelbares Lust-, diese
ein unmittelbares Unlustgefühl. Doch ist dieser Zusammenhang ein
unauflöslicher. Im Altertum soll die Oktav, im Mittelalter die Quint
als angenehmstes Intervall gegolten haben, während heute die Terz
bevorzugt wird. Und wie die Lust, so kann auch die Unlust wandern:
Freunde moderner Musik können an dissonanten Intervallen Gefallen
finden. +Helmholtz+ hatte auf die große Bedeutung der +Obertöne+ für
die Klänge hingewiesen. Ein gewisser Reichtum an Obertönen scheint in
Wirklichkeit den Gesamteindruck der Konsonanz zu verstärken. Zwischen
Obertönen und Grundtönen entstehen ferner, wie oben gezeigt wurde,
Differenztöne, die ihrerseits Schwebungen verursachen können. Diese
verleihen dem Gesamteindruck etwas Rauhes. Darum erblickte Helmholtz
das Wesen der Dissonanz in den Schwebungen, das der Konsonanz in
der Freiheit von solchen. Allein abgesehen von der Mißlichkeit, daß
der positive Eindruck der Annehmlichkeit, wie ihn etwa die Terz
gewährt, durch etwas rein Negatives verständlich gemacht werden soll,
verträgt sich diese bedeutsame Theorie nicht mit den Tatsachen. Denn
Stumpf gelang der Nachweis, daß es schwebungsfreie Dissonanzen und
von Schwebungen begleitete Konsonanzen gibt. Helmholtz versuchte
noch eine zweite Erklärung durch die +Klangverwandtschaft+. Zwei
Töne sind um so ähnlicher, je mehr gemeinsame Obertöne sie haben.
Nun sind gerade die konsonantesten Töne auch die im genannten
Sinne ähnlichsten. Konsonanz ist darum als Ähnlichkeit der Töne zu
verstehen. Indes, auch obertonfreie Töne verschmelzen. Auf eine andere
Art der Klangverwandtschaft machte +Wundt+ aufmerksam und suchte
sie zur Theorie der Konsonanz zu verwerten: zwei Töne sind indirekt
miteinander verwandt, wenn sie Obertöne desselben Grundtones sind.
Tatsächlich wird auch bei einem Zweiklang der Grundton als Differenzton
mitempfunden. Auch diese Theorie weist zwar neue Elemente auf, die
bei dem Gesamteindruck mitspielen, läßt jedoch das Grundphänomen
unerklärt. Der gemeinsame Grundton fügt zu den beiden andern nur einen
dritten hinzu, besagt aber noch nicht eine Konsonanz der Primärtöne.
Nach Ablehnung all dieser scharfsinnigen und für die Erkenntnis der
Konsonanzerscheinungen wertvollen Erklärungsversuche kommt schließlich
+Stumpf+ dazu, in der +Verschmelzung eine letzte psychologische
Tatsache+ zu erblicken, die also psychologisch nicht weiter gedeutet
werden kann und höchstens eine weitere physiologische Erklärung zuläßt.
Vermutlich entsprechen den stärker verschmelzenden Tönen einheitlichere
physiologische Vorgänge, die darum auch einen einheitlicheren
psychischen Vorgang bedingen.
Literatur
C. +Stumpf+, Tonpsychologie. 2 Bde. 1883/1890.
2. Kap. Die optischen Raumeindrücke
Eine Mehrheit optischer Reize, die gleichzeitig auf das Auge einwirken,
bedingen durch ihre Vielheit einen ganz anderen Eindruck als eine
Mehrheit akustischer Reize. Mögen noch so viele und vielartige
Luftwellen unser Ohr treffen, es entsteht niemals ein räumlich
ausgedehnter Klang; der Klang gewinnt niemals etwas Flächenhaftes. Das
Auge hingegen empfängt den unmittelbaren Eindruck einer sich in die
Breite und Tiefe erstreckenden Ausdehnung; wenigstens ist dies so bei
dem normalen Erwachsenen, von dem unsere Betrachtung stets ausgeht.
Es wird sich empfehlen, zunächst den optischen Eindruck der Fläche zu
studieren.
A. Der optische Eindruck der Fläche
1. Das Flächenelement. Nativismus und Empirismus
Als erstes Problem drängt sich die Frage auf: Woher stammt das
Räumliche beim Zusammentritt mehrerer Gesichtsempfindungen, oder
genauer: bei der Reizung benachbarter Netzhautelemente? Bewirkt schon
die Reizung einer einzigen Optikusfaser einen flächenhaften Eindruck?
Ein solcher Versuch müßte wohl an einem Blindgeborenen angestellt
werden, um etwaige Einflüsse der Entwicklung auszuschließen; allein mit
unseren gegenwärtigen Mitteln ist er nicht ausführbar. Wir gehen darum
besser von der uns bekannten Gesichtsempfindung selbst aus, die wir uns
zunächst mit einem Raumwert ausgezeichnet vorstellen. Versuchen wir nun
das Flächenhafte eines Rot auf Null zu reduzieren, so leuchtet ein, daß
damit die Empfindung selbst verschwinden muß. Die Ausdehnung scheint
somit eine der Gesichtsempfindung ursprünglich zukommende Eigenschaft
zu sein.
Damit, daß das Empfindungselement von Haus aus flächenhaft ausgedehnt
ist, ist noch nicht verständlich gemacht, warum die Reizung mehrerer
nebeneinander liegender Netzhautelemente eine Summation der
Flächeneindrücke ergibt, mit andern Worten, weshalb wir in diesem
Falle eine ausgedehntere Fläche wahrnehmen. Noch viel weniger ist
damit erklärt, wieso die räumliche Ordnung der Gesichtseindrücke der
räumlichen Anordnung der gereizten Netzhautelemente entspricht.
Namentlich um diese beiden letzten Fragen dreht sich auch heute noch
der Streit zwischen Empirismus und Nativismus.
Teils aus metaphysischen Gründen, mit Rücksicht auf die Einfachheit
der Seele (+Herbart+, +Lotze+), teils aus dem methodischen Gedanken
heraus, mit möglichst wenigen Elementen des Seelenlebens auszukommen
(die englischen Assoziationspsychologen), erkennt der Empirismus der
ursprünglichen Gesichtsempfindung keine Ausdehnung zu. Die Entstehung
der räumlichen Ordnung des Gesichtsbildes suchte Lotze durch die
geistvolle +Theorie der Lokalzeichen+ zu erklären: Wird eine
exzentrisch gelegene Netzhautstelle von einem Lichtreiz getroffen,
so wendet das Auge unwillkürlich die Netzhautmitte der Lichtquelle
zu. Es führt dabei eine ganz bestimmte Muskelbewegung aus, die
immer nur dann vorhanden ist, wenn nach anfänglicher Reizung jener
bestimmten Stelle die Netzhautmitte dem Lichtreiz ausgesetzt werden
soll. Werden andere exzentrische Stellen getroffen, so erfolgen
andere Bewegungen und dementsprechend andere Muskelkontraktionen.
Jede Muskelkontraktion ruft aber in der Seele eine eigenartige
Spannungsempfindung hervor. Somit verbindet sich mit der Reizung
einer jeden Netzhautstelle eine eigenartige Spannungsempfindung:
dem System der Netzhautstellen entspricht ein System von
Spannungsempfindungen. Wie die Bücher einer Bibliothek durch ihre
Etiketten, so sind die qualitativen Erregungen der einzelnen
Netzhautorte durch ihre Spannungsempfindungen gekennzeichnet. Und
genau so wie eine solche Bibliothek in beliebiger Ordnung verpackt
und doch in der früheren Ordnung in einem andern Raume wieder
aufgestellt werden kann, so können auch in der Nervenleitung die
Erregungen einen beliebigen Weg nehmen: die Seele weiß dann doch die
ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen. -- +Wundt+ baute diese
Theorie zu der der komplexen Lokalzeichen aus. Die Farbenqualitäten,
die von dem gleichen Reiz auf verschiedenen Orten der Netzhaut erregt
werden, sind nicht gleich; bekanntlich verlieren sich nach der
Peripherie zu sogar einzelne Farbentöne. Für jeden Punkt der Netzhaut
gibt es eine charakteristische lokale Färbung. Mit dieser verbinden
sich die gleichfalls charakteristischen Spannungsempfindungen.
Und die Verschmelzung beider ergibt in der Seele ein völlig neues
Produkt: die Ausdehnung samt der Ordnung. Allerdings soll sich dieser
Vorgang nicht in der Entwicklung des Individuums, sondern in der des
Stammes vollzogen haben.
Allein die von den Empiristen vorgebrachten Gründe sind nicht
überzeugend, und anderseits stehen ihrer Erklärung die größten
Schwierigkeiten im Wege. Die Einfachheit der Seele kann diese
sicher nicht hindern, ein Ausgedehntes abzubilden. Hingegen ist es
unbegreiflich, wie die Summation unräumlicher Empfindungen jemals
die Vorstellung einer Fläche liefern soll. Auch bleibt unfaßbar,
daß die Verschmelzung von Licht- und Spannungsempfindungen das ganz
anders geartete Produkt des Räumlichen ergibt. Der methodische
Vorteil, mit weniger Elementen eine Erscheinung zu erklären, darf
nicht durch die Einführung unbegreiflicher Annahmen erkauft werden.
Weiter, die Lokalzeichentheorie muß eine Empfindlichkeit für kleinste
Augenbewegungen ansetzen, die mit unseren sonstigen Erfahrungen nicht
übereinstimmt. Überdies ist die Feinheit der Lokalisation gerade
bei +der+ Stelle der Netzhaut am größten, die keine Bewegungen zur
Erreichung besserer Sichtbarkeit auszuführen braucht, nämlich beim
gelben Fleck. Aus diesen Gründen neigt darum heute die Mehrzahl der
Psychologen hinsichtlich der Flächenwahrnehmung dem Nativismus zu: Es
ist eine letzte, nicht weiter zu erklärende Tatsache, daß der Reizung
eines Netzhautelementes eine räumliche Lichtempfindung entspricht.
Es ist ferner eine letzte Tatsache, daß die von räumlich getrennten
Netzhautelementen erregten Empfindungen sich nicht über-, sondern
flächenhaft aneinanderlegen, und zwar in der gleichen Reihenfolge und
Richtung, in welcher die von den Lichtwellen getroffenen Nervenzellen
angeordnet sind. Jeder Reizung einer bestimmten Netzhautstelle
entspricht ein bestimmter Ortswert. Eine begünstigende Bedingung, nicht
eine Erklärung dafür, liegt in der Tatsache, daß das Linsensystem des
Auges die einzelnen Lichtstrahlen geordnet auf der Netzhaut verteilt,
und daß die isolierte Nervenleitung die einzelnen Erregungen gesondert
zum Gehirn weiterführt. Ist somit nach nativistischer Auffassung der
Ortswert einer Netzhauterregung von Anfang an mitgegeben, so kann doch
die weitere Entwicklung eine Verfeinerung der Ortsauffassung bewirken.
Beides veranschaulicht sehr hübsch die pathologische Erfahrung bei
Loslösung und Verschiebung der Netzhaut. Weil die Netzhautelemente
ihren bestimmten Ortswert haben, erscheint dem Kranken ein regelmäßig
gezeichnetes Gitter als verzerrt. Nach einiger Zeit soll sich jedoch
wieder das normale Bild einstellen, weil nunmehr die verschobene
Netzhautpartie einen andern Ortswert erlangt hat.
Die soeben dargestellte nativistische Auffassung muß sich heute wohl
einige Abstriche gefallen lassen. Die Annahme, daß die Erregungen des
einzelnen Sehnerven schon einen ausgebreiteten (das Wort „flächenhaft“
legt schon den Begriff des „ebenen“ nahe, der hier verfrüht ist; vgl.
S. 87) Eindruck bedingen, und die Tatsache, daß dank des dioptrischen
Apparates jedes Netzhautelement von einem vorbeiziehenden Objekt
in jener zeitlichen Reihenfolge gereizt wird, die dem objektiven
Sachverhalt entspricht, erklären die fraglichen Erscheinungen.
Ohne Rücksicht auf den weiteren Verlauf der Sehnerven oder deren
Einstrahlung ins Sehzentrum muß sich das Sehding ausgebreitet und
richtig orientiert aufbauen[3]. Das Nebeneinander, die Richtung und die
Reihenfolge der „Flächenelemente“ ist keine letzte Tatsache, sondern
eine notwendige Folge der beiden genannten Faktoren. Darum bedarf es
auch keines angeborenen „Ortswertes“, es genügt ein erworbener.
2. Der blinde Fleck
Die Sehsphäre im Gehirn erleidet mancherlei Unterbrechungen, so
schon durch die unempfindliche Stützsubstanz, die Neuroglia. Auch
die Netzhaut enthält verschiedene unempfindliche Stellen. Trifft
das Bild kleinster Punkte auf sie, so verschwinden die Punkte; sie
tauchen gleichsam unter. Dennoch zeigt das anschauliche Gesichtsfeld
selbst keinerlei Unterbrechungen. Daraus ergibt sich das interessante
Problem, wie solche Lücken von der Seele ergänzt werden. Am meisten
wurde dieses Problem am blinden Fleck untersucht. Blinder Fleck
heißt die unweit von der Netzhautmitte gelegene Eintrittsstelle des
Sehnerven. Zeichnet man etwa 5 cm voneinander entfernt zwei nahezu
in einer Horizontalen liegende Kreuze und fixiert bei geschlossenem
linken Auge das links liegende aus etwa 17 cm Entfernung, so
verschwindet das rechts liegende, um bei geringer Verschiebung des
Auges sofort aufzutauchen. Das rechts angebrachte Kreuz kann auch
durch einen Kreis von 1 cm Durchmesser ersetzt werden. Es ist also
eine beträchtliche Ausdehnung, die so zum Verschwinden gebracht wird.
Was wir nun an dem blinden Fleck sehen, möge der Leser durch eigene
Versuche finden.
3. Die kleinsten unterscheidbaren Raumgrößen in der Fläche
Eine linear angeordnete Reihe von Lichtreizen erzeugt das seelische
Bild einer Lichtlinie. Es fragt sich nun: wie ist die Zuordnung der
einzelnen Netzhautelemente zu den Teilen des gesehenen Bildes? Läßt
man zwei getrennte Lichtreize auf eng benachbarte Netzhautstellen
einwirken, so erscheinen sie als zwei gesonderte Punkte, wenn sie
den Gesichtswinkel von etwa 1′ bilden. Man nimmt an, daß zwischen
den beiden gereizten Elementen wenigstens ein anderes liegen und von
einem merklich verschiedenen Reiz getroffen werden muß, falls so nahe
beieinanderliegende Punkte „aufgelöst“ werden sollen. Doch steigt die
Feinheit des +Auflösungsvermögens+ mit der Stärke der einwirkenden
Reize und mit der Größe des Helligkeitskontrastes zwischen den
leuchtenden Punkten und dem Grund, unter günstigen Bedingungen bis
zu einem Auflösungswinkel von 10″. Für diesen Fall würde allerdings
die obige Annahme der Trennung zweier Eindrücke durch ein dazwischen
liegendes Netzhautelement nicht mehr ausreichen[4]. Die +Sehschärfe+
wird noch größer, wenn es sich darum handelt, die verschiedene
Lage zweier Geraden zu erkennen; nach +Hering+ deshalb, weil bei
verschiedener Lage sofort eine andere Reihe von Netzhautelementen
erregt wird. Die Sehschärfe ist am größten in der Netzhautmitte; bei
20° Entfernung ist sie (nach +Dor+) nur ¹⁄₄₀, in 40° nur ¹⁄₂₀₀ von
dieser.
Unter „+Augenmaß+“ versteht man die Fähigkeit, Richtung und Größe
einer Linie zu beurteilen. Im Zusammenhang mit unserem Grundproblem
interessiert uns vor allem der +Geradheitseindruck+, den eine
objektiv gerade Linie hervorruft. Er ist keineswegs immer vorhanden.
Hält man ein Lineal so vor das Auge, daß man es fixiert und es
gleichzeitig einen rechten Winkel zur Blicklinie bilden läßt, so
erscheint das Lineal gerade. Verschiebt man es jedoch gegen den
Fixationspunkt, so zeigt es eine konkave Krümmung gegen diesen.
Den Ursprung des Geradheitseindruckes wollte +Helmholtz+ aus den
Augenbewegungen erklären: bewegt man das Auge einer geraden Linie
entlang, so verschiebt sich das Netzhautbild in sich selbst, was
bei einer gekrümmten nicht der Fall ist. Bei der Geraden entsteht
so eine Linie, bei der gekrümmten müßte ein breites Band erzeugt
werden. Allein wir erkennen die Gerade auch mit ruhendem Auge, und
bei nicht allzu schneller Bewegung läßt auch die krumme Linie kein
Band entstehen (+Bühler+). Auch hier wird man mit +Hering+ auf eine
ursprüngliche Zuordnung bestimmt gelagerter Netzhautelemente zu dem
Eindruck der Geradheit schließen müssen.
4. Unvollkommenheiten des Einauges
Daß eine einäugig betrachtete, nicht fixierte Gerade als gebogen
erscheint, und daß dementsprechend eine aus hyperbolischen Kurven
hergestellte Schachbrettfigur unter bestimmten Bedingungen wie
eine normale gesehen wird (+Helmholtz+), das sind Widersprüche
zwischen der gegenständlichen Welt und ihrem psychischen Abbild,
Empfindungsinadäquatheiten, wie österreichische Psychologen sich
ausdrücken. Sie werden allerdings durch das zweiäugige Sehen
und durch andere Hilfsmittel zumeist ausgeglichen. Eine andere
Empfindungsinadäquatheit stellt sich heraus, wenn man eine
Horizontale bei einäugiger Betrachtung nach dem Augenmaß teilen will.
Der nach der Körpermitte zu gelegene Teil der Linie wird dann zu
klein gemacht. Er hat also für das Auge einen größeren Wert als der
andere Teil. Da aber sein Bild stets auf die nach auswärts gelegene
Hälfte der Netzhaut fällt, kann man auch sagen: die Breitenwerte
wachsen auf der äußeren Hälfte der Netzhaut rascher als auf der
inneren. Ebenso wird bei Halbierung einer Vertikalen der obere
Abschnitt zu klein genommen. Die Höhenwerte wachsen also auf der
unteren Netzhauthälfte rascher als auf der oberen. In ähnlicher
Weise fanden sich Richtungstäuschungen, so beim Herstellen einer
Vertikalen oder einer Horizontalen allein mit Hilfe +eines+ Auges und
unter Ausschluß äußerer Anhaltspunkte. Wie diese Erscheinungen, so
sind auch einzelne geometrisch-optische Täuschungen unmittelbar auf
Unvollkommenheiten des Auges zurückzuführen. So erscheint ein weißes
Quadrat auf schwarzem Grund größer als ein schwarzes auf weißem
Grund, wie überhaupt helle Flächen gegenüber dunklen überschätzt
werden. Offenbar ergreift da der Reiz durch Irradiation auch die
benachbarten Netzhautelemente, die nicht direkt von dem Lichtstrahl
getroffen werden. Die Vertikale wird gegenüber der Horizontalen
überschätzt. Ein wirkliches Quadrat erscheint den meisten Beurteilern
als zu hoch. Bei dieser Täuschung könnten jedoch auch die verschieden
großen Bewegungsanstrengungen mitspielen, die man bei beiden
Richtungen aufzuwenden hat, weshalb manche Forscher hier von
Assoziationstäuschungen sprechen. Dagegen dürfte es auf die vertikale
Teilungstäuschung hinauskommen, wenn uns die gedruckte 8 und das
gedruckte S als symmetrisch gebaut anspricht, während sich doch
durch einfache Umkehrung die größere Ausdehnung des unteren Teiles
unschwer erkennen läßt. Andere geometrisch-optische Täuschungen als
die genannten setzen höhere geistige Prozesse voraus.
B. Die Erfassung der drei Dimensionen durch das Einauge
1. Das Aufrechtsehen und die horizontale Ordnung
Der Begriff „aufrecht“ besagt eine Beziehung der Lage eines Dinges
zu einem andern. Beziehungen (als solche) zu erfassen, ist aber
nicht Sache der Sinne -- eine Tatsache, die wir später ausführlich
nachzuweisen haben. Wenn wir darum in der Empfindungslehre an die Frage
herantreten, warum wir +aufrecht sehen+, ist es erforderlich, vorab
darüber klar zu werden, welcher anschauliche Tatbestand vorliegt, wenn
wir die Lage irgendeines Dinges als aufrecht bezeichnen. Da ergibt
sich, daß aufrecht soviel bedeutet wie der gewöhnlichen stehenden Lage
unseres Körpers gleichgerichtet. Als unten gelegen charakterisieren wir
dabei jene Teile, die unseren Füßen und dem Boden, auf dem wir stehen,
am nächsten sind, während die entgegengesetzt liegenden sich „oben“
befinden. Senkt sich der Blick, so erscheint die Wurzel eines Baumes
z. B. nahe bei unseren Füßen, die Krone hingegen strebt, wie unser
Haupt, dem Himmelsgewölbe zu. Treten wir dagegen vor einen gefällten
Baum hin, so erstreckt sich der gesehene Baum horizontal. Seine Krone
liegt jetzt vielleicht in der Nähe unserer rechten Hand und sein
Stamm in der Nähe unserer linken. Die Orientierung nach diesen beiden
Richtungen geschieht somit nach der Lage unseres eigenen Körpers.
Da sich nun die von unten und oben, von rechts und links kommenden
Lichtstrahlen im Knotenpunkt des Auges kreuzen und erst nach dieser
Kreuzung die Netzhaut treffen, so hat das Netzhautbild eine andere
Lage als der gesehene Baum: seine unteren Teile bilden sich auf der
oberen, seine rechten Teile auf der linken Hälfte der Netzhaut ab, und
umgekehrt.
Unsere Darlegung hält sich streng an die Bewußtseinstatsachen. Da
nun unser Bewußtsein nichts von der Existenz eines Netzhautbildes
meldet, so gibt es für uns kein „Problem des Aufrechtsehens“. Dieses
entstand erst, als die Wissenschaft das Netzhautbild entdeckte, indes
noch nicht echt psychologisch denken gelernt hatte. Man versuchte die
Lösung des vermeintlichen Problems durch eine +Projektionstheorie+.
Nach ihr verlegt das Auge dem Lichtstrahl rückwärts folgend, das
Objekt dorthin, woher der Strahl kommt. Allein diese Theorie ist
ebenso überflüssig wie unhaltbar. Denn einmal wissen wir nichts
von einer solchen Rückverfolgung der einfallenden Lichtstrahlen.
Sodann gelangten wir auch dabei, wie die Ausführungen des vorigen
Abschnittes zeigen, gar nicht immer an die Orte der Lichtreize, da
die einzelnen Regionen der Netzhaut nicht gleichwertig sind und darum
das „Sehding“ (+Hering+) dem wirklichen Ding nicht völlig entspricht.
Einen andern durchschlagenden Beweis gegen die Projektionstheorie
werden wir später kennen lernen. Ebenso unhaltbar sind die
Vermutungen über eine Wiederumkehrung des Netzhautbildes auf dem Wege
zum Gehirn, und die über eine Korrektur des umgekehrten Bildes durch
den Tastsinn. -- Einen experimentellen Beweis für den empirischen
Ursprung der Lageauffassung erbrachte der Amerikaner +Stratton+.
Er hielt ein Auge verschlossen und versah das andere mit einer
Linsenkombination, die das Netzhautbild umkehrte. Anfangs erblickte
er die Umgebung umgekehrt. Allein schon nach wenigen Tagen verlor
sich dieser Eindruck; die Dinge fingen an, denselben Eindruck des
„aufrecht“ zu machen wie normal. Die Lage des Netzhautbildes ist also
für unser Sehen im Grunde nebensächlich. Nur infolge der Gewöhnung
bilden sich auch für die einzelnen Teile der Netzhaut Lagewerte aus.
Und darum erscheint bei Gebrauch einer das Netzhautbild umkehrenden
Linse die Außenwelt auf dem Kopf stehend. Diese Lagewerte sind
indes nur durch Angewöhnung erworben und können deshalb durch eine
entgegengesetzte Gewöhnung überwunden und durch gegenteilige ersetzt
werden.
2. Das Tiefensehen
Größere Schwierigkeiten als die erörterten bereitet die Erklärung
der +Tiefendimension+. Auch der von Geburt aus Einäugige hat eine
anschauliche Tiefenwahrnehmung. Von einer Tiefen+empfindung+
kann man hier nicht wohl sprechen; denn man wüßte beim Einauge
keine physiologische Erregung zu nennen, der diese Empfindung
entspräche. Es wird darum der empfindungsmäßige Flächeneindruck durch
Vorstellungselemente eine Ergänzung erfahren. Vielleicht kann man sich,
ehe experimentelle Untersuchungen zu Gebote stehen, den anschaulichen
Tiefeneindruck des Einäugigen folgendermaßen entstanden denken. Man
stelle sich einige Schritte vor eine Zimmerwand. Man sieht diese Wand
als eine Fläche in einer bestimmten Entfernung. Neigt man den Kopf
zur Erde, so erblickt man den Boden in der nämlichen Weise als Fläche
wie zuvor die Wand. Will der Einäugige nun einen in der Schnittlinie
dieser beiden Flächen befindlichen Gegenstand erreichen, so muß er
sich zu ihm hinbewegen. Hält er dabei den Kopf gesenkt, so gewinnt
er ein anschauliches Maß seiner Entfernung von der Wand (also der
Tiefendimension) durch die Flächenwerte, die sein zum Boden geneigtes
Auge erfaßt. Allerdings haben wir hier der leichteren Verständlichkeit
zulieb zwei nicht zutreffende Voraussetzungen gemacht: einmal, daß
der Einäugige Wand und Boden in einer bestimmten Entfernung sähe, --
damit besäße er ja schon die Tiefenwahrnehmung; sodann, daß er Wand
und Boden als ebene Flächen erblicke, -- die Anschauung einer ebenen
Fläche ist auch nicht möglich ohne die sinnlich fundierte Erkenntnis,
daß die seitwärts des Blickpunktes liegenden Teile der Ebene weiter
vom Betrachtenden entfernt sind als die unmittelbar fixierten. Beide
Voraussetzungen lassen sich jedoch leicht entbehren. Es genügt, daß die
objektiven Flächen der Wand und des Bodens entfernungslos erscheinen,
wie etwa dichter Nebel, der das Auge umgibt, und ferner, daß sich aus
dieser entfernungslosen, verschiedenfarbigen Fläche die Fixationspunkte
auf Wand und Boden sowie die Schnittlinie der beiden Flächen und der
auf ihr gelegene Gegenstand für das Auge abheben. Sieht nun auch der
Einäugige keine ausgedehnte Fläche vor sich, so erfaßt sein Blick doch
jeweils Flächenelemente, deren Summe eine anschauliche Wahrnehmung
der dritten Dimension ermöglicht. So oder ähnlich mag sich der Prozeß
bei dem einäugigen Kinde vollziehen. Die so anfänglich wahrgenommenen
Tiefendimensionen sind natürlich von sehr geringer Ausdehnung. Es
genügt indes, daß sie überhaupt wahrgenommen wird, um sich dann
gleichzeitig mit der Erfassung der beiden andern Dimensionen zu
entwickeln. Ist einmal der unmittelbare Tiefeneindruck auf diese oder
ähnliche Weise gewonnen, so bilden sich auch leicht die +sekundären
Faktoren der Tiefenwahrnehmung+ aus.
Als deren erster ist auch für das Einauge die +Winkelverschiebung+
(Parallaxe) zu nennen, welche die Sehstrahlen erfahren, wenn sich
das Auge vor den verschieden tief gelegenen Gegenständen bewegt.
Sodann gewöhnen wir uns daran, Dinge, die wir unter einem kleinen
+Gesichtswinkel+ sehen, die also ein kleines Bild auf der Netzhaut
entwerfen, wenn anders uns ihre wahre Größe bekannt ist, für
entfernt zu halten. Weiter wird die Deutlichkeit der Umrisse zum
Kriterium der Nähe, die Verschwommenheit zum Kriterium der Ferne
(+Luftperspektive+). Endlich vermittelt die gegenseitige +Verdeckung
und Beschattung+ der Körper ein Wissen von ihrer relativen Entfernung.
Nach neueren Untersuchungen ist die Tiefenwahrnehmung des Einäugigen
besser als die monokulare des Normalen. Dabei helfen dem Einäugigen
weit weniger die Muskelempfindungen, die durch die Akkomodation
des Auges, d. h. durch die Einstellung auf die Nähe oder die Ferne
bedingt werden, als vielmehr die Kopfbewegungen. -- Dank der
sekundären empirischen Faktoren des Tiefensehens können auch gemalte
Bilder körperlich wirken. Um diesen Eindruck des Plastischen zu
steigern, betrachtet man sie durch eine enge Röhre, wodurch der
störende Rand des Bildes ausgeschaltet wird. Sehr schöne plastische
Eindrücke liefert der +Verant+, eine eigenartig geschliffene Linse,
die, nahe vor das Einauge gebracht, die von einem dahinterliegenden
Bilde ausgehenden Strahlen so bricht, daß sie dasselbe Netzhautbild
erzeugen, wie es auch von dem wirklichen Gegenstand hervorgerufen
würde. Vermittels des Veranten kann man sich davon überzeugen,
daß die Anschaulichkeit der Tiefenwahrnehmung des Einauges nicht
hinter der des Doppelauges zurückzustehen braucht, eine theoretisch
bedeutsame Feststellung.
C. Das Sehen mit beiden Augen
1. Doppeltsehen und Einfachsehen
[Illustration: Fig. 5 a]
[Illustration: Fig. 5 b]
Welche Bewußtseinsinhalte gewinnen wir, wenn wir mit zwei Augen sehen?
Hält man zwei Finger in einer Linie, aber in verschiedener Entfernung
vor beide Augen und fixiert den nächstgelegenen, so erscheint der
entferntere doppelt; richtet man jedoch den Blick auf den entfernteren,
so sieht man den näheren doppelt. Die vereinte Tätigkeit beider Augen
kann somit sowohl einfache wie doppelte Bilder liefern. Es fragt sich
also: Wann sehen wir einfach und wann sehen wir doppelt? Entwirft
man eine schematische Zeichnung von der Lage beider Augen und dem
Gang der Lichtstrahlen in den beiden genannten Fällen, so findet man:
das Bild der fixierten Punkte fällt jedesmal auf den nämlichen Punkt
der Netzhaut, auf die Netzhautmitte. (Fig. 5.) Die Bilder der nicht
fixierten Punkte treffen nicht auf gleichgelagerte Stellen: wird der
entferntere Finger fixiert, so bildet sich der nähere in dem linken
Auge links, in dem rechten Auge rechts von der Netzhautmitte ab;
wird der nähere fixiert, so fällt das Bild des entfernteren in dem
linken Auge rechts und in dem rechten links von der Netzhautmitte.
Richten wir beide Augen statt auf einen einzelnen Punkt auf einen
ausgedehnten Gegenstand, so sehen wir den ganzen Gegenstand einfach.
Das schematische Bild des Strahlenganges läßt erkennen, daß z. B. die
von dem rechten Ende eines Pfeiles ausgehenden Lichtstrahlen auf jeder
Netzhaut Punkte treffen, die in gleicher Richtung und in (ungefähr)
gleichem Abstand von der Netzhautmitte gelegen sind; es sind das
gleichgelagerte oder korrespondierende Punkte, auch identische oder
Deckpunkte genannt. Da ihre Erregung durch gleichfarbige Lichtstrahlen
dem Bewußtsein die nämliche Empfindungsqualität vermittelt, so kann
nur +ein+ Sehding bewußt sein[5]. Anders ist es bei der Reizung
von nichtkorrespondierenden Stellen der Retina. Bei gleicher
Empfindungsqualität haben sie doch einen verschiedenen Ortswert zu
melden und erzeugen darum ein doppeltes Bild. -- Würde man rein
mathematisch die Gesamtheit der Schnittpunkte jener Linien aufsuchen,
die von korrespondierenden Netzhautpunkten ausgehen und je durch
die Knotenpunkte der beiden Augen geführt sind, so erhielte man die
Gesamtheit all jener Punkte, die bei einer bestimmten Augenstellung
einfach gesehen werden; es wäre dies der mathematische +Horopter+.
Allein wir haben oben schon gefunden, daß die beiden Netzhauthälften
nicht ganz gleichwertig sind. Da nun jeweils die innere Netzhauthälfte
des einen Auges zu der äußeren des andern Auges in Beziehung gebracht
werden muß, so werden weder die Deckpunkte exakt die gleiche Lage zur
Netzhautmitte haben, noch wird der mathematische mit dem empirischen
Horopter ganz übereinstimmen. Überhaupt ist festzuhalten, daß die
Deckpunkte einen gewissen Spielraum zulassen, innerhalb dessen noch
einfach gesehen wird.
Da wir immer nur einen Teil des Sehfeldes fixieren können, so müßten
wir nach dem Gesagten immer Doppelbilder haben, von den Dingen,
die vor dem Fixierpunkt, und von denen, die hinter ihm liegen. Und
doch bemerken wir für gewöhnlich nichts von ihnen. Woher dies? Wer
das anfangs erwähnte Experiment anstellt, wird finden, daß es eine
gewisse Mühe macht, einen Punkt zu fixieren und einen andern daneben
zu beachten. In demselben Maße, wie es gelingt, die nicht fixierten
Punkte zu beachten, nimmt die Klarheit des Doppelbildes zu. Da wir
nun im praktischen Leben immer nur den fixierten Gegenständen die
größere Aufmerksamkeit zu widmen pflegen, so entwickeln sich die
Doppelbilder nicht zu merklicher Klarheit. Dazu kommt, daß wir unsere
Fixation fortwährend wandern lassen und daß die von beiden Netzhäuten
herrührenden Bilder häufig nicht gleich stark sind, weshalb das
schwächere von dem stärkeren verdrängt wird.
Werden die korrespondierenden Punkte von gleichartigen Reizen
getroffen, so steht im Bewußtsein nur +ein+ Bild. Man kann darum
den Versuch machen, zwei Deckpunkte durch +verschiedenartige+ Reize
zu erregen. Es erfolgt dann eine Mischung und Vereinigung beider
Eindrücke, wo diese leicht möglich ist. So verbindet sich eine
Druckschrift bequem mit einem weißen oder farbigen Hintergrund. Auch
nichtkomplementäre Farben lassen häufig die entsprechende Mischfarbe
erkennen. Komplementäre ergänzen sich unter gewissen Bedingungen
zu grau. Aber namentlich bei ihnen zeigt sich gern der sogenannte
Wettstreit der Sehfelder: es erscheint nicht die Mischung beider,
sondern abwechselnd bald die eine und bald die andere Farbe allein.
Eine geringe Verschiebung des gegenseitigen Stärkeverhältnisses oder
auch die Bevorzugung des einen Reizes durch die Aufmerksamkeit läßt
diesen alsbald über den Konkurrenten obsiegen.
2. Die Sehrichtung des Doppelauges
Fixieren wir ein näher gelegenes Objekt, so konvergieren die
Blicklinien beider Augen, d. h. die Verbindungslinien des fixierten
Punktes mit der Netzhautmitte eines jeden Auges bilden zusammen einen
Winkel, wie sich aus der schematischen Zeichnung ersehen läßt. (Fig.
5.) Es ergibt sich also das Problem: In welcher Richtung sehen wir
bei Verwendung beider Augen die Gegenstände, da doch jedes Auge in
eine andere Richtung weist? Man bringe an einer Fensterscheibe einen
kleinen Fleck an, schließe das linke Auge und fixiere mit dem rechten
den Fleck auf der Scheibe und merke sich gleichzeitig jenes Objekt
der äußeren Umgebung, das man beim Fixieren des Fleckes miterblickt.
Darauf schließe man das rechte Auge und fixiere mit dem linken. Man
sieht dann hinter dem Fleck ein anderes äußeres Objekt, das von dem
soeben wahrgenommenen beträchtlich nach rechts gelegen ist. Nunmehr
fixiere man den Fleck auf der Scheibe ein drittes Mal, aber jetzt
mit beiden Augen. Dann scheinen die beiden zuvor gesehenen Objekte
nicht voneinander entfernt, sondern in derselben Richtung hinter dem
Fleck zu liegen. Alle Gegenstände, die auf der Sehrichtung des einen
Auges liegen, werden mit denen, die auf der zugehörigen Sehrichtung
des andern Auges liegen, in eine gemeinsame Sehrichtung vereinigt.
Dies ist das +Gesetz der identischen Sehrichtungen+ (+Hering+).
Das Doppelauge lokalisiert so, als ob es ein einziges, zwischen
den beiden Augen gelegenes wäre. (Das „Zyklopenauge“.) Durch diese
Tatsache ist die oben erwähnte Projektionstheorie endgültig erledigt.
3. Das Tiefensehen mit zwei Augen
Denkt man sich durch den Fixationspunkt senkrecht zur Blicklinie
des Zyklopenauges eine Ebene gelegt, so bilden sich außer dem
Fixationspunkt auch die auf dieser „Kernfläche“ befindlichen Punkte
auf identischen Netzhautstellen ab und werden somit einfach gesehen.
Fixiere ich darum von zwei Nadeln, die in der Kernfläche sind, die
eine, so erhalte ich auch von der nicht fixierten ein einfaches
Bild. Verschiebt man nun diese Nadel ein wenig vor oder hinter die
Kernfläche, so bleibt ihr optisches Bild dennoch einfach, doch wird
ihre Tiefenlage vor oder hinter der Kernfläche wahrgenommen. Verschiebt
man die Nadel jedoch etwas mehr aus der Kernfläche heraus, so wird
sie alsbald doppelt gesehen. Der Strahlengang bei den drei erwähnten
Lagen der nicht fixierten Nadel läßt sich sehr leicht zeichnen. Aus dem
schematischen Bild kann man nun unmittelbar folgenden Satz ablesen: Das
Einfachsehen nicht fixierter Punkte ist nicht streng an die identischen
Netzhautstellen gebunden; werden indes zwei nur ungefähr identische
Punkte der Netzhäute gereizt, so scheint das Objekt, von dem diese
Reizung ausgeht, vor bzw. hinter der Kernfläche zu liegen.
Die Gegenprobe und den vollen Beweis zu diesem Satz erbringt ein von
+Hering+ angegebener Versuch, in dem eine Reizung nahezu identischer
Punkte ermöglicht wird, ohne daß sie, wie soeben, von einem objektiv
außerhalb der Kernfläche liegenden Ding bewirkt wird. Man zeichne auf
zwei Papiere je drei einander parallele und gleichweit abstehende
Gerade und bringe beide Zeichnungen in einem Stereoskop an Stelle der
stereoskopischen Bilder symmetrisch an, so daß die Geraden senkrecht
von oben nach unten verlaufen. Fixiert man jetzt die mittleren
Linien, so erblickt man statt der sechs vorhandenen nur drei in einer
Ebene liegende Gerade. Zeichnet man nun auf einem der Papiere die
mittlere Gerade ein wenig nach rechts oder links, so bildet beim
Hineinschauen das eine Auge die mittlere Gerade genau im mittleren
Längskreise ab, während das andere sein Bild ein wenig links oder
rechts von der Netzhautmitte hat, -- die Richtung beider Augen
bleibt nämlich nach wie vor dieselbe. Die psychische Wirkung dieser
Reizungsart ist nun die, daß nunmehr nicht etwa vier Striche gesehen
werden, sondern daß nur drei Gerade erscheinen, deren mittlere jedoch
vor oder hinter den anderen zu liegen scheint.
Die zwei soeben geschilderten Versuche gestatten auch eine +Messung
der Tiefensehschärfe+. Man rückt von drei in der Kernfläche
befindlichen Nadeln die mittlere so weit aus der Kernfläche, bis ihre
verschiedene Tiefe eben bemerkt wird. Oder man mißt, wie weit bei dem
stereoskopischen Versuch die mittlere Senkrechte seitlich verschoben
werden muß, bis ein Tiefeneindruck entsteht. Es stellte sich heraus,
daß das Tiefensehen durch die Übung die Feinheit der Sehschärfe
erreichen kann: eine Lagedifferenz der beiden Netzhautbilder von
10″ vermag schon einen Tiefeneindruck zu bewirken. Je weiter die
zu beurteilenden Dinge vom Auge entfernt sind, um so größer muß
ihr gegenseitiger Abstand sein, soll er noch als Tiefenunterschied
erkannt werden: auf 1 m 0,4 mm, auf 50 m 1 m, auf 420 m 80 m, während
über 2600 m kein Tiefenunterschied mehr aufgefaßt wird. Der Sehraum
entspricht somit auch in dieser Hinsicht nicht dem geometrischen Raum.
Zu beachten ist noch, daß nur die feinen Lageunterschiede der Bilder
auf den +Querschnitten+ der Netzhaut den Tiefeneindruck hervorrufen.
Solche Bilder heißen querdisparat, und die gekennzeichnete
Lageverschiedenheit heißt +Querdisparation+. Die Verschiebung der
Netzhautbilder infolge ihrer Verrückung aus der Kernfläche führt auch
den Namen der +binokularen Parallaxe+.
Eine Anwendung der binokularen Parallaxe ist das +Stereoskop+. In
geringem Abstand wird jedem Auge ein eigenes Bild dargeboten. Durch
eine Prismenkombination wird nun erreicht, daß die nebeneinander
liegenden Teilbilder auf die Deckpunkte beider Augen fallen. Diese
Bilder wurden hergestellt, indem man etwa denselben Gegenstand
gleichzeitig durch zwei in Augenweite voneinander entfernte Kameras
photographierte. Somit erhält jedes Auge ein eigenes Bild, das
jedoch nur wenig von seinem Gegenstück abweicht. Die solchermaßen
gesicherte Querdisparation verursacht den körperlichen Eindruck
des gesehenen Bildes. Darum kann umgekehrt das Stereoskop auch
prüfen, ob zwei Bilder genau gleich oder auch nur um ein weniges
voneinander verschieden sind. Echte Banknoten z. B. stammen aus
derselben Druckerpresse. Symmetrisch unter das Stereoskop gebracht,
müssen sie darum ein unkörperliches Bild ergeben. Springen jedoch
einzelne Buchstaben und Striche aus der Bildebene hervor, so ist die
Ungleichheit der Bilder und damit der verschiedenartige Ursprung der
Drucke erwiesen.
4. Der Ursprung der binokularen Tiefenwahrnehmung
An dieser Stelle kehrt die Streitfrage wieder, ob unsere
Tiefenwahrnehmung angeboren oder erworben sei. Nachdem wir schon
ausgeführt haben, daß und wie das Einauge eine vollkommene
Tiefenwahrnehmung erlangen kann, dürfen wir von der historischen
Entwicklung der Kontroverse absehen und können sogleich die Kernfrage
nennen, um die sich heute der ganze Streit dreht. Auch der Nativist
gibt heute zu, daß allein mit den Mitteln des Einauges tatsächlich
eine Tiefenwahrnehmung zu erzielen ist. Er behauptet jedoch, daß die
Querdisparation eine unmittelbare und wahre +Empfindung+ der Tiefe
vermittle, eine Empfindung, die uns zwar nicht die absolute Entfernung
der Dinge vom Auge unmittelbar kennen lehrt, die jedoch die Lage der
Gegenstände zu der Kernfläche zeigt. Aus diesem Grundkapital entwickle
sich die vollkommene Tiefenwahrnehmung des Erwachsenen, für den
schließlich die Querdisparation das feinste und eigentlichste Mittel
zur Erkennung der Tiefenunterschiede wird. Man braucht ja nur ein
Auge zu schließen, um alsbald eine beträchtliche Herabsetzung unseres
Körperlichsehens festzustellen.
Dem Nativismus stehen für seine Ansicht schwerwiegende Gründe zu
Gebote. Ihr wuchtigster dürfte der oben (S. 91 f.) beschriebene
Stereoskopversuch sein: die einfache Reizung querdisparater
Netzhautpunkte bewirkt ohne irgendwelche anderen objektiven oder
subjektiven Anhaltspunkte eine Tiefenwahrnehmung. Dazu kommt die
große Schwierigkeit, den unleugbar anschaulichen Charakter des
Tiefeneindruckes aus Vorstellungselementen verständlich zu machen.
-- Indes durchschlagend sind diese Beweise nicht. Solange es nicht
möglich ist, bei einem operierten Blindgeborenen den Heringschen
Stereoskopversuch mit Erfolg anzustellen, bleibt es erlaubt,
den Tiefeneindruck bei querdisparater Reizung aus der Erfahrung
herzuleiten: wie für den Einäugigen die monokulare Parallaxe, so
entwickelt sich beim Normalen die binokulare zum Kriterium des
Tiefensehens. Die Unmittelbarkeit des Tiefeneindruckes braucht dabei
nicht zu überraschen. Denn ebenso unmittelbar lokalisieren wir auch
einen Tastreiz, was uns nur auf Grund der Erfahrung möglich ist.
Ferner glauben wir auch gezeigt zu haben, wie der Einäugige zu dem
anschaulichen Inhalt seiner Tiefenwahrnehmung gelangt. Endlich
dürfte noch zu beachten sein, daß die Tiefenauffassung, wenigstens
bei dem erwachsenen Menschen, nicht auf die gleiche Stufe wie die
Flächenwahrnehmung zu setzen ist. Wir möchten sie vielmehr der
Gestaltwahrnehmung (s. unten) nahebringen. Auch bei dieser erleben wir
unmittelbar und in gewissem Sinne anschauliche Eindrücke, die aber
gleichwohl nicht als Empfindungen angesprochen werden können.
Die Empiristen berufen sich ihrerseits auf die vollkommene
Tiefenanschauung der Einäugigen, mit der gewiß die Notwendigkeit, aber
nicht eine etwa nachweisbare Tatsächlichkeit der Tiefenempfindung
auszuschließen ist. Es liegen aber aus der jüngsten Zeit verschiedene
Experimente vor, die den Empfindungscharakter querdisparater Erregungen
als zweifelhaft erscheinen lassen. So wies +Karpinska+ nach, daß
sich die räumliche Auffassung bei stereoskopischer Betrachtung
nur allmählich ausbildet, somit auch mehr Zeit benötigt als die
Gesichtsempfindungen; daß sie an Schnelligkeit von der durch den
Veranten vermittelten plastischen Auffassung übertroffen wird, bei
dem bekanntlich nur Erfahrungskriterien wirksam sind; daß sie endlich
durch die Einstellung des Subjektes ganz unterdrückt werden kann. Das
Pseudoskop ferner, das durch Vertauschung der stereoskopischen Bilder
das Relief der Dinge umkehrt, einen runden Balken sonach als Hohlrinne
erscheinen läßt, vermag diese Umkehrung bei dem Bilde des menschlichen
Gesichtes nicht zu erreichen; die Erfahrungsmomente überwinden
hier also die Querdisparation. Sodann läßt sich der Effekt der
Querdisparation an bloß einem Auge dadurch erzielen, daß man die für
die beiden Augen bestimmten stereoskopischen Bilder in rascher Folge
demselben Auge exponiert (+Straub+). Schließlich will +Poppelreuter+
das flächenhafte, „malerische“ Sehen, das monokular leicht zu
bewerkstelligen ist, nach einiger Übung auch binokular erlernt haben.
Es lassen sich aber wohl Vorstellungen, nicht jedoch Empfindungen unter
dergleichen Voraussetzungen unterdrücken. Nach dem Gesagten tragen wir
kein Bedenken, die Position des Empirismus als die zur Zeit günstigere
anzusehen.
Literatur
Über die nativistisch-empiristische Kontroverse und die ältere
Literatur zu dieser vgl. +Fröbes+ I, 2. Aufl., S. 331 ff.
Fußnoten:
[3] Vgl. die S. 90 zitierte Arbeit.
[4] Eine Erklärungsmöglichkeit bietet die S. 90 zitierte Arbeit.
[5] Vgl. J. +Lindworsky+, Zur Theorie des binokularen Einfachsehens
und verwandter Erscheinungen. ZPs 1923.
3. Kap. Empfindungskomplexe des Tastsinnes
1. Der Raumsinn der Haut
Die Reizung eines Druckpunktes oder einer beliebigen Hautstelle ruft
eine flächenförmig ausgedehnte Empfindung hervor. Wir können uns bei
dieser Feststellung nur auf den unmittelbaren Eindruck stützen, werden
aber die Richtigkeit dieser Beobachtung aus den alsbald zu nennenden
Tatsachen bestätigt finden. Was geschieht nun, wenn man +gleichzeitig
mehrere Stellen der Haut reizt+? Setzt man die beiden Spitzen eines
Zirkels (man verwendet dazu eigens hergestellte Tastzirkel oder
Ästhesiometer) nahe beieinander auf die Haut, so verspürt man einen
einfachen Druck, als wenn nur ein einziger Punkt gereizt worden wäre.
Rückt man nun die Zirkelspitzen ein wenig auseinander und setzt sie
von neuem auf, so wird der wahrgenommene Punkt etwas breiter, dehnt
sich zu einer Fläche, wird dann eine Linie, und erst bei einer gewissen
Zirkelweite hat man den Eindruck, daß zwei getrennte Punkte der Haut
gereizt worden sind. Eben diesen Abstand, den zwei gleichzeitig
einwirkende Tastreize wahren müssen, um als zwei bemerkt zu werden,
bezeichnet man als die +Raumschwelle+. Sie ist an verschiedenen
Körperteilen verschieden groß: an der Zungenspitze 1 mm, an der
Fingerspitze 2 mm, am größten am Rücken und an den Gliedmaßen, etwa 6
mm am Oberarm. Die Raumschwelle mißt die Feinheit unseres +Raumsinnes+,
d. h. der „Fähigkeit, Form, Größe, Zahl, Bewegung der unsere
Hautoberfläche berührenden Gegenstände mittels der Tastempfindung zu
erkennen“. Je kleiner die Schwelle, um so feiner der Raumsinn.
Die Raumschwelle ist bei Kindern kleiner als bei Erwachsenen. Sie
wechselt auch bei den einzelnen Individuen. Um die +simultane+
Raumschwelle sicher zu erhalten, muß man übrigens die beiden
Zirkelspitzen gleichzeitig und mit gleich starkem Druck aufsetzen.
Sukzessive und ungleich starke Berührung verkleinert die Schwelle.
Auch Wärme und Blutfülle macht die Haut empfindlicher, während
Kälte und Blutleere die Empfindlichkeit herabsetzt. Im gleichen
Sinne wie diese Faktoren wirken Übung und Ermüdung. Allerdings
nicht so, daß die Übung, wie man früher vielfach glaubte, das
Sinnesorgan selbst verfeinerte. Im Grunde wird nur die Einstellung
auf die Unterscheidung der beiden Eindrücke geübt. Das zeigte sich
bei der Untersuchung von Blinden. Bei ihnen nahm man vielfach eine
außergewöhnliche Verfeinerung des Hautsinnes an, da sie diesen Sinn
so außerordentlich übten, und da man überdies meinte, der Ausfall
eines Sinnes komme den übrigbleibenden zugute. Es stellte sich nun
heraus, daß bei gleicher Aufmerksamkeitsanspannung der Raumsinn
der Blinden infolge des beständigen Tastens stumpfer war als der
der Sehenden. Ebenso scheint die Vergrößerung der Raumschwelle
infolge der Ermüdung in erster Linie auf die Beeinträchtigung der
Aufmerksamkeit zurückzuführen zu sein. Wenn man darum mit den
experimentierenden Pädagogen (+Griesbach+) die Bestimmung der
Raumschwelle zum Nachweis der Ermüdung benutzen will, muß man die
Schwelle unmittelbar nach der ermüdenden Arbeit bestimmen, weil sonst
die „Aufmerksamkeit“ sich alsbald wieder erholt.
2. Der Tastraum der Blinden
Es ist für den Sehenden sehr schwer, sich zu veranschaulichen, was eine
Mehrheit von Tastempfindungen ihm von der Außenwelt mitteilt. Will man
sich darüber Rechenschaft geben, so drängen sich stets die Angaben des
Gesichtsinnes dazwischen. Man wird darum besser die Blindgeborenen
befragen. Da ist nun entgegen vereinzelten Ansichten älterer
Psychologen vor allem festzustellen, daß die Blindgeborenen allmählich
zu einer Raumanschauung in demselben Sinne wie die Sehenden gelangen.
Operierte Blindgeborene sind nämlich durchaus nicht der Ansicht,
daß sie mit der nunmehr optisch vermittelten Raumanschauung etwas
absolut Neues in sich aufnähmen. Ebenso spricht dagegen die Existenz
blindgeborener Mathematiker, die sich ohne besondere Schwierigkeit
die doch aus dem anschaulichen Raum gewonnenen geometrischen Begriffe
aneignen. Auch die Modellier- und Schnitzleistungen Blindgeborener
wären ohne persönliche Raumanschauung kaum zu verstehen.
Mit der Raumanschauung ist nun zunächst gegeben, daß eine Vielheit
benachbarter Tastempfindungen einen flächenhaften Eindruck bewirkt.
Allerdings ist die simultane Erfassung der Flächen nicht sonderlich
entwickelt. Viel leichter ist die Erkennung punktförmiger Eindrücke,
weshalb auch die dem Blinden am meisten entsprechende (+Braille+sche)
Schrift punktförmige Reize verwertet, die in der Zahl von 1 bis 6 nach
Art der Dominofiguren angeordnet sind. Um die Form eines flächenhaften
Reizes, etwa eines Polygons aus Karton, zu erkennen, führt der Blinde
Tastzuckungen längs der Umrisse aus. Damit verwandelt er freilich die
simultane Auffassung in eine sukzessive und führt gleichzeitig höhere
psychische Prozesse ein, die wir jetzt noch nicht analysieren können.
Körperliche Objekte kleineren Umfanges lehrt ihn das umschließende
Tasten kennen. Hier treten zu den Eindrücken des Hautsinnes diejenigen
der Bewegungssinne. Zweifellos vermag der Tastsinn allein eine
Anschauung von der dritten Dimension nicht zu geben. Ebenso sicher ist
die Mitwirkung des kinästhetischen Apparates. Wie jedoch im einzelnen
die dreidimensionale Raumanschauung des Blinden zustandekommt, ist uns
noch weniger durchsichtig, als es bei dem Gesichtssinn der Fall war.
Zur genaueren Untersuchung der räumlichen Verhältnisse dienen sodann
bei kleineren Maßen die Finger mit ihren Konvergenzbewegungen, bei
größeren die ebenso fungierenden Arme. Damit ist auch der Umfang des
vom Blinden leicht zu beherrschenden Anschauungsraumes gegeben. Größere
Räume kann er durch Schrittbewegungen in die Länge und Breite sowie
durch Steig- oder Kletterbewegungen in die Höhe oder Tiefe ausmessen,
doch vermag er diese Eindrücke nur schwer zu einem geschlossenen
anschaulichen Bild zu vereinigen. Der Tastsinn ist eben ein Nahsinn.
Der Blinde hilft sich deshalb mit der „Tastraumzusammenziehung“. Er
verkleinert in seiner Anschauung die Objekte und stellt sie sich in
ihren Proportionen nach Art der von Hand und Arm unmittelbar erfaßten
vor.
Literatur
Näheres über die hier berührte Blindenpsychologie bei J. +Fröbes+ I,
2. Aufl., S. 361 ff.
3. Theorie des Tastraumes
Zwei Probleme sind hier zu lösen. Zuerst das Problem der
+Raumschwelle+: Warum läßt sich zwar an jedem Punkt der Haut, praktisch
genommen, eine Tastempfindung auslösen, während die Berührung zweier
Punkte nur dann zwei Eindrücke verursacht, wenn die beiden Punkte eine
bestimmte Entfernung haben?
E. H. +Weber+ erdachte zur Beantwortung dieser Frage die Theorie der
+Empfindungskreise+. Je ein Tastnerv ist einem bestimmten Hautkreis
zugeordnet. Alle Reizungen innerhalb dieses Kreises erregen den
gleichen Nerv, bedingen somit dieselben Tastempfindungen und bleiben
deshalb ununterscheidbar. Das stimmt recht gut zu dem anatomischen
Befund einzelner Druckpunkte und erklärt auch die Tatsache, daß
nur in einer gewissen Distanz zweier Druckreize zwei Tasteindrücke
entstehen. Allein die Raumschwelle müßte nach dieser Theorie an
derselben Hautstelle beträchtlich schwanken. Denn berührten die
Zirkelspitzen die beiden Empfindungskreise dort, wo sie mit ihrer
Peripherie zusammenstoßen, so müßte eine verschwindend kleine
Schwelle gefunden werden, während sie unvergleichlich zunähme, wenn
sie zwei möglichst entfernte Punkte träfen. Weber änderte darum
später seine Theorie dahin ab, daß er jeden Empfindungskreis aus
einer Anzahl Elementarkreise bestehen läßt und zur Entstehung eines
zweiten gesonderten Eindruckes verlangt, daß zwischen den beiden
Reizstellen eine gewisse Zahl von Elementarkreisen eingeschlossen
werde. So wird er zwar den Tatsachen gerecht, doch kann er sich für
diese Zusatzhypothese nicht auf anatomische Befunde berufen.
Das Problem ist jedoch genau wie das des binokularen Einfachsehens
psychologisch zu lösen (vgl. S. 81 f.). Gleiche Sinnesmeldungen
bedingen nur +ein+ psychisches Ding. Die Tastqualität aus räumlich
benachbarten Tastnerven ist nun nahezu gleich. Solange sie sich darum
nicht mit verschiedenartigen Eindrücken anderer Sinne verbinden
kann (vgl. S. 111 ff.), bietet sie nicht die Grundlage zu einer
Mehrheitsunterscheidung.
Zweitens hat die psychologische Theorie zu erklären, welcher Art
die elementaren Raumeindrücke sind und wie aus diesen Elementen
sich zuletzt der psychische Inhalt des Tastraumes ergibt. Auch hier
streitet der extreme Empirismus mit einem gemäßigten Nativismus. Die
oben ausführlicher dargestellte Theorie +Lotzes+ von den Lokalzeichen
und ihre Abänderung durch +Wundt+ wird mit nur geringen Variationen
auf den Tastraum angewendet. Nach ihnen enthält die elementare
Tastempfindung nichts von Ausdehnung. Aber jede einzelne Tastempfindung
hat je nach der Körperstelle, auf der sie ausgelöst wird, eine
charakteristische Abtönung infolge der Mitempfindungen, die an jedem
Teil des Körpers andere sind -- eine bis zu gewissem Grade zutreffende
Annahme. Die Raumwerte erwachsen diesen Tastempfindungen nur durch
die erfahrungsmäßige Verbindung mit den visuellen Ortsvorstellungen:
bei Reizung einer bestimmten Körperstelle wird eine qualitativ
charakteristische Tastempfindung hervorgerufen, und diese weckt die
visuelle Vorstellung von dem betreffenden Körperteil. Indes auf diesem
Wege könnten Blindgeborene niemals zu einer Tastraumvorstellung
gelangen.
+Wundt+ gesellt darum auch hier den qualitativ eigenartigen
Tastempfindungen die Bewegungsempfindungen oder genauer die
Innervationsgefühle bestimmter Bewegungen zu, die von den
Tastempfindungen angeregt würden. Die „psychische Synthese“ beider
soll dann auch hier eine Raumanschauung erzeugen. Die innere
Unwahrscheinlichkeit dieser Theorie ist natürlich beim Tastraum nicht
geringer als beim Sehraum.
Man wird deshalb auch hier genau wie bei der optischen Raumwahrnehmung
ein nativistisches Grundkapital zugestehen müssen. Die einzelne
Tastempfindung liefert an sich schon eine räumliche flächenhafte
Ausdehnung. Daß sich diese Flächenelemente nebeneinander legen, und
zwar in einer bestimmten und gleichmäßigen Richtung, erklärt sich wie
beim Auge (s. S. 83).
Bisher haben wir nur die Raumanschauung des Blindgeborenen
berücksichtigt. Um die des Sehenden völlig zu verstehen, müssen wir
zuvor von einer Gruppe seelischer Inhalte sprechen, die uns als solche
bisher noch nicht bekannt wurden, wenn wir auch nicht umhin konnten,
sie gelegentlich zu streifen: die Vorstellungen.
Literatur
C. +Spearman+, Fortschritte auf dem Gebiet der räumlichen
Vorstellungen. ArGsPs 8 (1906).
O. +Klemm+, Über die Lokalisation von Schallreizen. 6. CgEPs (1914).
DRITTER ABSCHNITT
Die absoluten Vorstellungen
Ohne jede erkenntnistheoretische Überlegung ist dem Bewußtsein auch
des primitiven Menschen oder des Kindes gegeben, daß zwischen den
äußeren Geschehnissen und unseren Eindrücken ein gewisser Zusammenhang
besteht: zündet man vor meinen Augen ein Streichholz an, so sehe ich
eine Flamme; setzt man ein Musikinstrument in Tätigkeit, so vernehme
ich Töne. Wir stellen aber auch fest, daß das Gegenstandsbewußtsein
bisweilen Inhalte erlebt, für deren Erscheinen sich kein äußerer Reiz
verantwortlich machen läßt. Es können uns auch bei geschlossenen Augen
und im Traum Dinge sichtbar erscheinen, oder wir können Melodien
hören, die allem Anschein nach nicht in der Außenwelt erzeugt werden.
Solche Erlebnisse des Gegenstandsbewußtseins, die nicht unmittelbar
von einem äußeren, oder genauer gesprochen von einem peripheren
Sinnesreiz abhängig sind, bezeichnet man als Vorstellungen. Um jedoch
auszudrücken, daß wir hier von diesen Erlebnissen sprechen, insofern
sie noch nicht von der Seele weiterhin bearbeitet sind, heißen wir
sie die +absoluten Vorstellungen+, ein Ausdruck, der erst später ganz
verständlich gemacht werden kann.
Um die Einteilung dieser Vorstellungen in Erinnerungs- und
Phantasievorstellungen kümmern wir uns hier ebensowenig wie um ihren
Ursprung. Nur das sei als allgemein zugestandene Erfahrungstatsache
erwähnt, daß zum wenigsten die Elemente dieser Vorstellungen
ursprünglich infolge peripherer Sinneserregung im Bewußtsein erweckt
worden sein müssen; denn Blindgeborene können sich von keinen Farben,
Taubgeborene von keinen Tönen eine Vorstellung machen. Im übrigen
beachten wir an dieser Stelle nur die inhaltlichen Eigenschaften.
Als +charakteristische Eigenschaft+ pflegt man da zunächst die
„+Blässe+“ und „+Mattigkeit+“ der Vorstellungen zu betonen. Und
im allgemeinen werden auch die unmittelbar von dem äußeren Reiz
abhängigen Eindrücke unvergleichlich lebhafter sein als die
nur mittelbar reizbedingten. Allein man hat diese Blässe doch
zu sehr betont. Solange die Psychologie nur auf den dürftigen
Selbstbeobachtungen der Philosophen aufgebaut wurde, pflegte man
allen Menschen so matte Vorstellungen zuzuschreiben, wie sie den in
abstrakten Gedankengängen sich bewegenden Philosophen eigen sind.
Sobald man aber mit +Fechner+ und später mit +Galton+ auch Angehörige
anderer Berufe nach ihren Vorstellungen befragte, ergab sich, daß
manchmal die Lebhaftigkeit der Vorstellungen nicht geringer war als
die der Wahrnehmungen. Insbesondere hatte man angezweifelt, daß die
in die Vorstellungen eingehenden Empfindungsinhalte in dem gleichen
Sinne +Intensität+ besäßen wie die reizbedingten Empfindungen. Man
konnte das um so eher bezweifeln, als bei dem gewöhnlichen Gebrauch
der Vorstellungen der Empfindungsinhalt stark vernachlässigt wird.
Sind uns die schematischen Umrisse einer Vorstellung gegeben, so
haben wir in der Regel genug für unsere geistige Arbeit, zu der wir
jene Vorstellungen benötigen. Es wäre Zeit- und Energievergeudung,
wollten wir noch die verschiedenen Empfindungsinhalte zur
ursprünglichen Intensität ansteigen lassen. Und je abstrakter
unser Denken wird, um so mehr dürfen wir die Empfindungsinhalte
vernachlässigen, um so mehr wird uns aber auch die Befähigung zum
intensiven anschaulichen Vorstellen verloren gehen. Läßt man jedoch
die Empfindungsinhalte der Vorstellungen sich entwickeln, so zeigen
sie die gleiche Art der Intensität wie die unmittelbar durch einen
peripheren Sinnesreiz hervorgerufenen. So ließ +Schaub+ dargebotene
Klänge vorstellen und dann die Intensität dieser Vorstellungen mit
der Intensität des zum zweiten Mal dargebotenen Reizes vergleichen.
Die Aufgabe wurde von allen Versuchspersonen gelöst, was nicht
möglich wäre, ginge den Vorstellungen eine wahre Intensität ab, und
öfters wurde in der Vorstellung dieselbe Intensität erreicht wie
in der Wahrnehmung. Das stimmt auch ganz dazu, daß bei den anderen
reizunabhängigen Erlebnissen, beim Traum und in der Halluzination,
vollste Intensität und Lebendigkeit erlebt wird.
Sodann macht man auf die +Flüchtigkeit+ und Unbeständigkeit der
Vorstellungen aufmerksam. Die Standuhr auf meinem Schreibtisch
bleibt in unveränderter Weise stehen. Solange ich sie anblicke,
habe ich den nämlichen klaren Eindruck. Anders, wenn ich den
Blick abwende und die Uhr vorstelle. Da wird das Bild gar bald
verschwinden, um von einem andern verdrängt zu werden, oder auch
nach einer Zwischenzeit wieder aufzutauchen. Zweifellos ist die
Unbeständigkeit eines der gewöhnlichsten Kennzeichen der Vorstellung.
Nur darf man nicht behaupten, jede Wahrnehmung sei beständig und
jede Vorstellung unbeständig. Namentlich Wahrnehmungen geringer
Intensität -- etwa das Ticken einer vom Ohr entfernten Taschenuhr
-- schwanken außerordentlich, während anderseits Vorstellungen
eine geradezu belästigende Konstanz erlangen können. Namentlich
gilt das von krankhaft fixierten Vorstellungen. Ähnliches ist über
die +Lückenhaftigkeit+ dieser Bewußtseinsinhalte zu sagen: für
gewöhnlich sind die Vorstellungen inhaltsarm und unvollständig;
allein einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber der Wahrnehmung
bedingt das nicht. Denn jeder einzelne Zug in dieser kann Inhalt
einer Vorstellung werden. In der Tat findet man bei besonders
vorstellungsbegabten Individuen eine erstaunliche Fülle der
inneren Bilder. So soll ein französischer Porträtmaler imstande
gewesen sein, nach einer halbstündigen Sitzung ein Porträt aus dem
Gedächtnis zu malen und auf diese Weise an 300 Bilder im Jahre
ausgeführt haben. Noch ausgesprochener begegnet man den naturgetreuen
Vorstellungen im Traum und in der Halluzination. Freilich täuscht
sich der in der psychologischen Beobachtung Ungeschulte leicht über
die Ausführlichkeit seiner Vorstellungen, indem er anschaulich
vorzustellen meint, was er in Wirklichkeit nur unanschaulich über
den Gegenstand weiß, oder indem er Surrogatvorstellungen für echte
hält. So vermeint mancher, einen Geruch vorzustellen, während er
in Wirklichkeit nur weiß, wie das Objekt riecht und gleichzeitig
Schnüffelbewegungen ausführt. Oder man versucht, anschaulich Schmerz
zu erleben, stellt sich in Wahrheit aber nur Körperbewegungen
vor, welche die Begleiterscheinung des Schmerzes bzw. seine
Ausdrucksbewegungen wären, oder macht gar Ansätze zu ihnen.
Die Vorstellungen sind ferner häufig von dem Bewußtsein der
Anstrengung oder der +Tätigkeit+ des Subjektes begleitet. Bemühen wir
uns nicht um sie, so entstehen sie sehr oft nicht oder verschwinden
bzw. verändern sich gar bald. Aber wesentlich ist eine solche
Tätigkeit dem Vorstellungserlebnis nicht. Bekannt sind ja die
Zwangsvorstellungen, die uns gegen unseren Willen verfolgen, und dem
rechten Künstler stehen die Kinder seiner Muse in der Regel ungerufen
vor der Seele. Anderseits drängen sich auch die Wahrnehmungen uns
nicht immer auf, sondern fordern, namentlich wenn sie von geringer
Intensität sind, die Anspannung der Aufmerksamkeit.
Lange Zeit hielt man es für ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal
von Wahrnehmung und Vorstellung, daß erstere im objektiven, letztere
im subjektiven oder im +Vorstellungsraum+ lokalisiert sei. Sehr
viele Menschen richten in der Tat die Aufmerksamkeit nach innen,
gewissermaßen in das Innere ihres Kopfes, wenn sie Vorstellungen
erzeugen wollen. Auch scheinen namentlich die Vorstellungen kleiner
und vereinzelter Gegenstände umgebungslos in einem nebelartigen Raum
zu schweben, dem „Vorstellungsraum“. Indes sehen Vorstellungsbegabte
häufig die vorgestellten Dinge unmittelbar vor sich im objektiven
Raum, können sie bei offenen Augen an einen beliebigen Ort
lokalisieren (die „Eidetiker“ +Jaenschs+), und auch den weniger
Begabten gelingt es auf jeden Fall, ergänzende Teilvorstellungen
mit dem wahrgenommenen Objekt zu verbinden und auf diese Weise im
wirklichen Raum vor sich zu sehen. Das Isolierterscheinen kleiner
Gegenstände dürfte nur auf einer unvollendeten Reproduktion beruhen.
Wie der Vorstellungsraum eingehender experimenteller Untersuchung
gegenüber nicht standhält, so muß auch das den Vorstellungen oft
zugeschriebene Merkmal der +Bildhaftigkeit+ preisgegeben werden.
Bei der normal entwickelten Vorstellung hat man durchaus nicht den
Eindruck, ein Bild vor sich zu haben, sondern man glaubt dem Ding
selbst gegenüberzustehen.
So ergibt sich also, ganz im Gegensatz zu den früheren Anschauungen,
daß sich die Eindrücke, die unmittelbar durch periphere Sinnesreizung
hervorgerufen werden, in keinem Stücke prinzipiell von den nur
mittelbar reizbedingten unterscheiden. Es gibt +keine Eigenschaft der
Wahrnehmungen, die nicht auch an den Vorstellungen nachzuweisen wäre,
und umgekehrt+ findet sich keine Eigentümlichkeit der Vorstellung,
die nicht ebenso einer Wahrnehmung anhaften könnte. Die praktische
Scheidung beider Erlebnisse wird nun dadurch ermöglicht, daß
gewisse Züge bei der Wahrnehmung und andere bei der Vorstellung für
gewöhnlich stärker ausgeprägt sind. Das gilt freilich nur für die
Durchschnittswahrnehmungen und -vorstellungen. Gewisse schwächere
Wahrnehmungen können allein auf Grund ihres anschaulichen Inhaltes
nicht von den Vorstellungen, gewisse lebhaftere Vorstellungen
nicht von den Wahrnehmungen unterschieden werden. Hier helfen nur
verstandesmäßige Überlegungen. Wie wir später noch sehen werden, nimmt
übrigens die Seele die absoluten Wahrnehmungen und die absoluten
Vorstellungen in Arbeit und ermöglicht so ein leichtes und sicheres
Unterscheiden beider. Diese verarbeiteten Erlebnisse meint man in der
Regel, wenn man von Wahrnehmung und Vorstellung schlechthin spricht.
Die Fähigkeit, Vorstellungen in sich wachzurufen, ist nicht bei allen
Individuen gleich groß. Zu diesem Unterschied tragen ursprüngliche
Anlage und Übung bei. Wie +Jaensch+ und +Kroh+ fanden, ist die
„eidetische“ Anlage verhältnismäßig oft bei Jugendlichen anzutreffen,
doch nicht in allen Gegenden gleich häufig. Außerdem differenzieren
sich die Individuen noch dadurch, daß die Vorstellungsfähigkeit nicht
auf allen Sinnesgebieten gleich mächtig ist. Einzelne sind imstande,
mit Leichtigkeit Gesichtsvorstellungen zu erzeugen, bei andern sind die
inneren Gehöreindrücke gut ausgebildet, andere wiederum stellen sich
leicht Bewegungen vor. Je nachdem eines dieser Sinnesgebiete einseitig
entwickelt ist, spricht man von dem +visuellen+, dem +akustischen+ und
dem +motorischen Typus+. Nur ganz selten findet man Vertreter eines
ausgesprochenen Typus, doch pflegt bei den meisten Menschen eine der
drei Seiten bevorzugt zu sein. Da, wie erwähnt, auch die Übung von
Bedeutung ist, versteht man, daß für das Gebiet der Wortvorstellungen
der akustische Typ, für die Sachvorstellungen der optische vorherrscht.
Auf dem Gebiete des Geruches, Geschmackes und des Hautsinnes ist das
Vorstellungsleben des Menschen nur sehr schwach entwickelt, vielleicht
sogar zurückgebildet. Es lohnt sich darum nicht, hier nach besonderen
Vorstellungstypen zu suchen.
Literatur
J. +Segal+, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen.
Münchener Stud. 4. Heft. 1916.
J. +Lindworsky+, Wahrnehmung und Vorstellung. ZPs 80 (1918).
O. +Kroh+, Subjektive Anschauungsbilder bei Jugendlichen. 1922.
VIERTER ABSCHNITT
Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen und Empfindungskomplexen
Ebensowenig wie eine systematisch durchgeführte Erforschung der
Empfindungskomplexe steht uns eine solche für die Verbindung von
Empfindungen und Empfindungskomplexen mit Vorstellungen zu Gebote. Wir
können darum nur an einzelnen Beispielen das Ergebnis einer solchen
psychischen Synthese veranschaulichen.
1. Die Synästhesien
Manche Personen berichten, daß ihnen beim Hören von Vokalen oder
auch beim Sehen von Schriftzeichen bestimmte Farben mitgegeben sind.
So erschien +Fechner+ der Vokal e gelb, a weiß, u schwarz, der
Trompetenton rot, der Flötenklang blau. Genauere Erhebungen über
dieses sog. Farbenhören ergaben die mannigfachsten Abarten dieser
nicht allzu seltenen Erscheinung. Es zeigt sich bei den verschiedenen
mit ihr begabten Persönlichkeiten keinerlei Konstanz der Paarung von
Klängen und Farben. Auch sieht der eine die Farben an dem Schriftbild,
der andere an der Tonquelle, ein dritter irgendwo im Außenraum. Auch
die Deutlichkeit der Farben ist wechselnd. In einem extremen Fall
(+Lemaitre+) sollen sie sogar das Sehen der Umgebung gestört haben:
wenn andere sprachen, konnte der Betreffende sein Bild im Spiegel
nicht sehen. Andere erblicken beim Anhören musikalischer Gebilde
charakteristisch wechselnde Figuren. In den gleichen Zusammenhang
gehören die sog. sekundären Geschmacksempfindungen beim Sehen
einer Speise, das Hören des Windes beim Anblick eines im Gemälde
dargestellten Sturmes u. dgl.
Man hat die +Erklärung der Synästhesien+ früher mehr auf
physiologischem Gebiet gesucht. Eine enge Verbindung der den
einzelnen Empfindungen zugehörigen Teile des nervösen Zentralorgans
sollte überhaupt die allgemeine Tendenz einer jeden Sinneserregung
begründen, in benachbarte Gebiete überzustrahlen. Wo immer zu
dieser allgemeinen Tendenz noch eine individuelle Veranlagung zur
leichten Ansprechbarkeit des zentralen Apparates hinzukomme, da
würden sich die Sekundärempfindungen einstellen. Indes, wenn dem
so wäre, müßte sich doch eine weit größere Übereinstimmung in der
Verbindung bestimmter Klänge mit bestimmten Farben beobachten
lassen. Statt dessen ist häufig der Ursprung der Erscheinung aus
der Erfahrung des Individuums nachweisbar. So, wenn beim Ton eines
Instrumentes gerade jene Farbe gesehen wird, die dem Instrument
selbst eigentümlich ist, oder wenn die Vokalfarbe sich mit der
Muttersprache verändert. Wenn vollends Monats- oder Tagesnamen, genau
so wie sonst die einfachen Vokale, charakteristische Farben annehmen,
dann kann von einem physiologischen Zusammenhang schon gar nicht mehr
die Rede sein. Die naturgemäßeste Erklärung ist darum die aus der
Verbindung jener Wahrnehmungen mit den Vorstellungen der betreffenden
Farben. In der Lebenserfahrung des Individuums haben sich infolge
besonderer Umstände einmal die Wahrnehmungen gewisser Klänge mit der
Wahrnehmung bestimmter Farben verbunden. Nach den später noch zu
besprechenden Assoziationsgesetzen ruft dann die erneute Wahrnehmung
des Klanges die Vorstellung der damals gleichzeitig gesehenen Farbe
wach. Psychologisch bedeutsam ist hier, daß in solchen Fällen die
Vorstellung sehr lebhaft wird und die Intensität der Klangempfindung
erreicht, weshalb man ja auch von Sekundär- oder Pseudo+empfindungen+
spricht. Eine Schwierigkeit liegt jedoch darin nicht, wir sahen ja
schon, daß die Vorstellung nicht notwendig hinter der Intensität der
Empfindung zurückbleiben muß.
Literatur
E. +Bleuler+, Zur Theorie der Sekundärempfindungen. ZPs 65.
K. +Lenzberg+, Zur Theorie der Sekundärempfindungen und zur
Bleulerschen Theorie im besondern. ZaPs 21.
2. Erscheinungsweisen der Farben
Betrachtet man die eintönige Farbe eines Gegenstandes, etwa einer
mit buntem Papier überzogenen Pappschachtel, das eine Mal mit freiem
Auge und das andere Mal durch einen durchlochten Schirm derart, daß
man nur die farbige Fläche erblickt, die Form und die Stellung des
Gegenstandes jedoch nicht zu erkennen imstande ist, so wird man
einen namhaften Unterschied gewahr werden. Bei freier Betrachtung
hat die Farbe eine feste Lokalisation, erscheint selbst wie etwas
Festes und weist u. U. Glanz oder Lichter auf. Durch einen Schirm
gesehen, verliert sie die bestimmte Lokalisation, die Farbe scheint
uns frontalparallel gegenüberzustehen, gewinnt an Zartheit,
tritt nicht als Eigenschaft eines anderen Dinges auf und erlaubt
dem Blick, gewissermaßen in sie einzudringen. +Katz+, der diese
Unterschiede zuerst eingehend erforschte, spricht von verschiedenen
+Erscheinungsweisen+ der Farben und nennt die frei gesehenen
„Oberflächenfarben“, die anderen „Flächenfarben“. Wir haben es da
nicht mit anderen Empfindungen zu tun, sondern mit der Modifikation
dieser Empfindungen infolge des Hinzutretens der Vorstellungen.
Es können nämlich alle von den oben (S. 20) beschriebenen
Farbenempfindungen abweichenden Erscheinungsweisen der Farben durch
Betrachten mit einem Schirm auf die Empfindungen des Farbenoktaeders
zurückgeführt werden. Ohne diese Reduktion jedoch lassen sie sich
nicht in die Qualitätenreihen des Farbenoktaeders einreihen.
Namentlich zeigen sie eine ganz neue, bei den Empfindungen nicht zu
entdeckende Qualität: die Ausgeprägtheit der Farbe. Die nämliche
Farbe erscheint als Oberflächenfarbe, in verschiedener Entfernung von
der Lichtquelle gesehen, verschieden stark ausgeprägt, in größerer
Entfernung gewissermaßen „mit Dunkelheit verhüllt“. -- Entsprechende
Erscheinungsweisen hat +Katz+ bei den Tast- und +Henning+ bei den
Geruchserlebnissen gefunden.
Obwohl bei wechselnder Beleuchtung die Gegenstände sehr
verschiedenartige Reize ins Auge senden, erscheinen sie uns im
allgemeinen nicht verändert: ein Stück Kohle in der Mittagssonne
erscheint schwarz, ein Blatt Papier in der Dämmerung weiß,
und doch reflektiert ersteres vielleicht mehr Licht als
letzteres. Diese +Konstanz der Farben+ suchte +Hering+ durch die
„Gedächtnisfarben“ zu erklären: wir haben von den uns geläufigen
Dingen Standardvorstellungen, und diese verbinden sich mit den
objektiven Eindrücken und meistern sie. Dazu treten noch andere
Faktoren wie die Pupillenerweiterung bei abnehmender Helligkeit und
die Kontrastwirkung (s. S. 29).
Allein da wir auch bei unbekannten Objekten die wechselnde
Beleuchtung gleichsam in Rechnung stellen, befriedigt diese Theorie
nicht ganz. +Katz+ versuchte eine Aufmerksamkeitstheorie, und
+Bühler+ will neuerdings die Wahrnehmung der Farbe eines Objekts
von der seiner Beleuchtung ganz trennen (Zweifaktorentheorie). Eine
Entscheidung ist heute noch nicht möglich. Nur andeutungsweise
und bildhaft läßt sich sagen, in welche Richtung die geklärten
Tatsachen und die fruchtbaren Gesichtspunkte aller Theorien weisen:
Wir „sehen“ nicht so sehr die Dinge, wir bauen sie vielmehr draußen
auf. Zu jeder Empfindung tritt etwas Vorstellungsmäßiges hinzu:
was und wieviel, das regelt sich durch den Gesamteindruck und die
Einstellung des Subjektes. In dem Maße, als wir die Anhaltspunkte
zum Aufbau des Sehdinges verlieren (später können wir statt dessen
sagen: in dem Maße, als das Reproduktionsmotiv, z. B. durch den
Doppelschirm, verringert wird, s. S. 154 f.), kommen die Empfindungen
als solche zur Geltung. Die Geschwindigkeit der hier stattfindenden
Vorstellungserweckung reicht zum Aufbau des Sehdinges vollkommen aus.
Während also im Fall der Synäthesien die Vorstellung der
Wahrnehmung mehr äußerlich anhaftet, greift sie bei den soeben
besprochenen Erscheinungen abändernd in die Wahrnehmung ein,
ergänzt gewissermaßen die Wahrnehmung, und zwar teilweise
entgegen dem objektiven Sachverhalt. Die gleiche Rolle spielt die
Vorstellung bei der +Illusion+: eine Wahrnehmung wird durch die
hinzutretenden Vorstellungen derart ergänzt, daß wir uns über
den Gegenstand täuschen. Ein im Finstern gesehener Baumstrunk
erscheint als Wegelagerer. Wir haben es hier übrigens nicht mit
Ausnahmefällen zu tun. Die eingehendere experimentelle Forschung
und zuverlässige Gelegenheitsbeobachtungen ergeben, daß praktisch
zu allen Wahrnehmungen des psychisch fertigen Menschen ergänzende
Vorstellungen hinzutreten.
Es wäre nun eine ganz schiefe Auffassung, wollte man meinen, die
Rolle der ergänzenden Vorstellungen sei im allgemeinen eine störende.
In der Mehrzahl der Fälle ist sie eine überaus fördernde. Wie man
unter Berücksichtigung der später zu behandelnden Assoziationsgesetze
leicht erkennen kann, vervollständigen die Vorstellungen die
unvollkommenen Wahrnehmungen in der Regel ganz im Sinne des
objektiven Sachverhaltes und ermöglichen darum eine Kraftersparnis
bei den Wahrnehmungsprozessen. Wir entdecken nur die alle unsere
Wahrnehmungen beständig begleitenden Vorstellungen nicht, solange sie
mit dem objektiven Sachverhalt übereinstimmen, werden aber auf sie
aufmerksam, wenn sie uns gelegentlich in die Irre führen.
Literatur
D. +Katz+, Die Erscheinungsweisen der Farben. 1911.
K. +Bühler+, Die Erscheinungsweisen der Farben. 1923.
3. Die Sehgröße
Auch in die so rätselhaften Erlebnisse des Größeneindruckes kommt
Klarheit, wenn wir sie als Verschmelzungsprodukte von peripher
bedingten Empfindungskomplexen mit den absoluten Vorstellungen
auffassen. Unterscheiden wir zunächst die wirkliche, in Metern
angebbare Größe eines Gegenstandes von der geschätzten, d. h. der
vermuteten wirklichen, und der scheinbaren, der Sehgröße. Nur mit
dieser haben wir es zu tun. So erscheint uns der Mond am Horizont
groß, im Zenit klein, obwohl die Entfernung und der Sehwinkel beidemal
unverändert bleiben. Einem tieferen Verständnis dieser und ähnlicher
Erlebnisse steht nun das Wort „Sehgröße“ im Wege. Größe als Erlebnis
setzt immer Verhältniserfassungen, also gedankliche Elemente voraus.
Da aber die Tiere ähnliche „Größeneindrücke“ zu haben scheinen, müssen
wir uns nach einem andern Terminus umsehen und sprechen statt von der
Größe von der Mächtigkeit einer Ausdehnung im Gesichtsfeld. Innerhalb
desselben Raumes ist die Mächtigkeit einer Ausdehnung um so größer, je
größer der zugehörige Sehwinkel ist.
In den ersten Jahren seines Lebens lernt nun das Kind ein Doppeltes:
Es lernt verschiedene Räume kennen, und zwar Räume von typischer
Verschiedenheit. Erlaubt man eine etwas krasse Typisierung, so könnte
man von einem Stubenraum, einem Straßenraum und einem Landschaftsraum
sprechen, ähnlich wie man von einem Finger-, Arm- und Schrittraum beim
Blinden redet. Zweitens lernt das Kind innerhalb eines jeden Raumes
die Mächtigkeit anschaulich kennen, die den einzelnen Teilen des
Gesichtsfeldes entspricht: die Türe hat eine andere Mächtigkeit als die
Wand, das Haus eine andere als die Straße. Dies „anders und anders“
besagt jedoch keinen Vergleich, sondern nur, daß bald diese, bald jene
anschaulichen Vorstellungen geweckt werden, wie sie etwa beim Abtasten
und Abschreiten gewonnen wurden. Fügen wir nun hinzu, daß nach den
Assoziationsgesetzen durch die peripher bedingten Empfindungskomplexe
bald diese, bald jene Raumvorstellung geweckt wird und mit ebendiesen
Empfindungskomplexen verschmilzt, so haben wir die einfache Formel für
alle Größeneindrücke und -täuschungen gefunden, die uns mit den Tieren
gemeinsam sind.
Durchgehen wir einige Erscheinungen. Wohlvertraute Gegenstände
erscheinen im Nahraum nicht kleiner, auch wenn sie sich entfernen
und somit ihr Sehwinkel kleiner wird; sie verbleiben im Nahraum, wo
ihre Mächtigkeit uns wohlbekannt ist. Betrachten wir ein Bild an der
Wand durch einen verstellbaren Rahmen, den wir bald in diese, bald
in jene Entfernung vom Auge bringen, so sehen wir dasselbe Bild beim
nämlichen Sehwinkel und derselben objektiven Entfernung bald größer,
bald kleiner, bald näher, bald ferner, je nach der Raumvorstellung,
die mit Hilfe des vorgehaltenen Rahmens geweckt wird. Aus demselben
Grunde erscheinen uns Inschriften innerhalb eines beleuchteten
Tramwagens bisweilen als riesige Mauerplakate, wenn ihr Spiegelbild
auf eine Häuserwand projiziert wird. v. +Sterneck+ hat darum das
ganze Problem der Sehgröße, ähnlich wie wir, doch mit der Annahme
von „Referenzflächen“ lösen wollen. Aber von solchen Referenzflächen
wissen wir z. B. bei der Betrachtung des Mondes im Zenit nichts.
Die Referenzfläche ist eben nur ein Bestandstück des vorgestellten
Raumes, das fehlen kann. Warum erscheint uns also der hochstehende
Mond kleiner als der niedrig stehende? Weil unsere Erfahrung in
der senkrechten Richtung uns nicht die nämlichen Raumvorstellungen
liefert wie in der wagrechten. Haben wir hier einen Stuben-, Straßen-
und Landschaftsraum kennen gelernt, so wird uns dort nur ein Stuben-
und Haus- oder Turmraum geläufig. Der hochstehende Mond gewinnt darum
nur die Mächtigkeit, die seinem Sehwinkel im zweiten Raum entspricht,
während er am Horizont die Mächtigkeit des dritten Raumes erlangt.
Übrigens erleben wir die gleiche Erscheinung auch bei irdischen
Gegenständen. Ich sah den zierlichen Adler vom Bismarcksturm am
Starnbergersee als einen erschreckend großen Vogel auf dem Kamm
eines nahen Hügels stehen, als der Turm, auf dem er thront, von
diesem Hügel verdeckt wurde. Ob sich übrigens diese Größentäuschung
bei Fliegern, die ja auch Erfahrungen beim senkrechten Aufsteigen
sammeln, vermindert?
Unsere ganze Erklärung wird indes von einem Einwand bedroht. Nach
dem Gesagten muß die Mächtigkeit bekannter Objekte in allen Räumen
die nämliche bleiben, und doch erscheinen uns die Menschen, von
der Galerie eines Theaters oder von einem hohen Berg gesehen, als
Puppen. Nun, hier handelt es sich auch wieder um die uns unbekannte
Höhenrichtung, für die uns keine geläufige Raumvorstellung zu
Gebote steht, ja, wir bringen sogar häufig an diese Eindrücke die
Vorstellung des Nahraumes heran, z. B. wenn sie von dem Aufsteigen
im Treppenhaus noch im Bewußtsein steht. In der horizontalen
Richtung hingegen begegnet uns dieser frappante Kleinheitseindruck
solange nicht, als wir nicht mit den Denkprozessen an die
Sehdinge herantreten und eigentliche Vergleiche anstellen. Solche
Vergleichungen der Sehgröße eines fernen Gegenstandes mit einem nahen
sind bekanntlich schwierig und ergeben sehr abweichende Urteile,
weil die Mächtigkeit eines Sehdinges nur durch Einbeziehung in einen
bestimmten Raum zur vergleichbaren Größe wird, dieser Raum aber keine
scharf begrenzte, objektive Größe ist.
Literatur
A. +Müller+, Die Referenzflächen des Himmels und der Gestirne. 1918.
4. Die nicht-optische Raumanschauung des Sehenden
a) Ortssinn und Lagewahrnehmung
Werden wir an irgendeiner Körperstelle berührt, so können wir im
allgemeinen ziemlich genau den Ort der Berührung angeben. Man
bezeichnet diese Fähigkeit als den +Ortssinn+. Daß diese Leistung
nicht mit der des oben besprochenen Raumsinnes der Haut zusammenfällt,
geht aus pathologischen Tatsachen hervor, wo bei normalem Ortssinn die
simultane und selbst die sukzessive Raumschwelle abnorm hoch sind. In
einem anderen Falle (+Spearman+) wurde sehr gut lokalisiert, während
selbst sukzessive Reize an demselben Glied nicht auseinandergehalten
werden konnten. Dennoch darf man sich den Ortssinn nicht als eine
einfache seelische Fähigkeit denken. Er ist gewiß noch komplizierter
als der Raumsinn, der sich vielleicht noch aus einfachen anatomischen
Grundbedingungen verstehen läßt. Die Lokalisation eines Tastreizes
erfolgt meist so, daß die Tastempfindung von einem schematischen
visuellen Vorstellungsbild der betreffenden Körpergegend begleitet
ist. Infolge der unbeschränkt häufigen Erfahrung brauchen wir aber,
gemäß einem noch zu erwähnenden Assoziationsgesetz, nicht mehr bewußt
auf die qualitative Eigenart der Tastempfindung zu achten, sondern
unmittelbar an die betreffende Reizung schließt sich das visuelle Bild
der gereizten Körperstelle an. Darum hängt auch die Genauigkeit der
Lokalisation und selbst die Größenschätzung der von der Haut berührten
Objekte von der Güte der Visualisation ab: wer bessere optische
Vorstellungen von den berührten Körperteilen in sich erzeugen kann,
lokalisiert besser und schätzt die Größen richtiger.
Die Leistungen des Ortssinnes möchten nach dem Gesagten wohl als
nahezu selbstverständlich erscheinen und kein nennenswertes Problem
einschließen. Allein man darf nicht vergessen, daß diese relativ
einfachen Erklärungen erst in mühevoller Einzelforschung erarbeitet
werden mußten, um allmählich die Auffassung von jener rätselhaften
Fähigkeit der Tastnerven zu verdrängen, vermöge deren sie unmittelbar
von jeder einzelnen Körperstelle Kunde bringen sollten.
Es bereitet nunmehr keine Schwierigkeit, eigenartige +Täuschungen+
auf dem Gebiete des Tastsinnes zu verstehen. Verschiebt man die
Lippen horizontal gegeneinander und berührt sie dann gleichzeitig
mit einem vertikal gehaltenen Bleistift, so entsteht der Eindruck,
es sei der Bleistift schräg geneigt (+Czermak+). Oder die bekannte
+aristotelische+ Täuschung: kreuzt man Zeige- und Mittelfinger und
rollt mit den so gekreuzten Fingern ein Kügelchen, so glaubt man
deutlich zwei Kügelchen unter den Fingern zu haben. Die Täuschung
wird um so stärker, je weniger man auf die Lage der Finger achtet,
und verschwindet, wenn man auf die Finger sieht. In beiden Fällen
steht die durch die Erfahrung geleitete Meldung des Ortssinnes in
Widerspruch mit dem wirklichen Sachverhalt und bedingt so eine
falsche Auffassung, zu der allerdings außer dem Ortssinn noch höhere
Funktionen mitwirken.
Hat der Ortssinn nur anzugeben, welche Körperstelle berührt wird, so
wird uns in der +Lagewahrnehmung+ außerdem noch vermittelt, welche
Stellung im Raum ein Körperteil in dem Augenblick einnimmt, wo ihn
ein Tastreiz trifft. Nach der trefflichen Analyse +Spearmans+ besagt
jede Lagewahrnehmung ein Dreifaches: 1) die Angabe des Ortssinnes,
an welcher Stelle des Körpers der Reiz auftraf (die segmentale
Bestimmung); 2) die Kunde über die von den Gelenken gebildeten
Winkel (die artikuläre Bestimmung); 3) ein Wissen von der Länge der
Zwischenglieder (die intermediäre Bestimmung). Über die segmentale
Bestimmung ist nichts hinzuzufügen. Die intermediäre Bestimmung wird
durch die festliegenden Vorstellungen des Gesamtkörpers besorgt.
Schwierigkeiten bereitet nur die artikuläre Bestimmung, namentlich
wenn man sie mit Spearman auf die Gelenkempfindungen zurückführt.
Nach dem, was oben (S. 63 f.) über die kinästhetischen Empfindungen
gesagt wurde, wird man auch hier vorerst statt der Gelenkempfindungen
die vereinigten Wahrnehmungen der Haut- und Kraftempfindungen
heranziehen müssen. Sie sind auch in der Ruhelage der Glieder
vorhanden und können sich mit der visuellen Vorstellung von der
Haltung des Gliedes verbinden.
Bei der experimentellen Untersuchung der Lagevorstellungen zeigte
sich immer eine große Unmittelbarkeit in der Erkenntnis der Lage.
Es brauchten nicht erst die Vorstellungen der zentralen Körperteile
wachgerufen zu werden, damit von da aus eine Orientierung ermöglicht
würde. Daraus schloß man auf eine direkte physiologische Assoziation,
die sich zwischen einer bestimmten physiologischen Erregung der
Gelenknerven und der Lagevorstellung ausgebildet hätte. Für die
Möglichkeit solcher „physiologischer“ Assoziationen sprechen
allerdings verschiedene Tatsachen. Allein die neueren Untersuchungen
der Vorstellungen deuten doch darauf hin, daß diese schon in
einem recht primitiven Stadium der Reproduktion außerordentlich
viel zur Orientierung beitragen können. In der Tat berichten auch
die Versuchspersonen Spearmans, die zentralen Körperteile seien
konfus vorgestellt worden. Solange man unser ganzes Erkennen in
die Vorstellungen verlegte, war man berechtigt, die Funktion bloß
konfuser Vorstellungen gering zu bewerten. Heute, wo man wieder
die Bedeutung eines von den Vorstellungen verschiedenen Denkens
anerkennt und sich darüber klar ist, daß diese höhere Funktion bei
der konkreten Lageerfassung nicht auszuschalten ist, wird man auch
die Bedeutung der konfusen Vorstellung der zentralen Körperteile
höher einschätzen müssen und vermutlich eine physiologische
Assoziation entbehrlich finden. Die Unmittelbarkeit und Promptheit
der Lokalisation verschlägt demgegenüber nichts; sie zeigt sich auch
bei ähnlich gelagerten Verhältnissen, wie etwa bei dem später zu
besprechenden Wortverständnis.
b) Die Raumlokalisation im allgemeinen
Die Grundtatsache der Verbindung der Vorstellungen mit Empfindungen
macht nun ohne weiteres das +allgemeine Lokalisationsgesetz+
verständlich: „Die Empfindung E wird an denjenigen Ort des
Gesichtsraumes lokalisiert, dessen visuelle Vorstellung V durch die
gegebene Empfindung E in das Bewußtsein eingeführt wird und mit ihr
verschmilzt, sei es weil beide in der Erfahrung sich miteinander
assoziiert haben, sei es weil V unter den gegebenen Umständen sich in
einer besonders hohen Bereitschaft befindet“ (+Fröbes+).
Erinnert man sich nun hier des Gesetzes der spezifischen
Sinnesenergie, demzufolge ein Sinnesnerv stets mit der gleichen
Empfindung antwortet, einerlei wie und wo er gereizt wird, so
begreift man leicht folgende Tatsache: Bei durchbohrtem Trommelfell
ist die hinter diesem liegende Chorda tympani einer unmittelbaren
Reizung zugänglich. Reizt man nun diesen Nervenstrang, der auch
Fasern des Geschmacksnerven führt, so vermeint man auf der Zunge
zu schmecken. Ganz allgemein verlegen wir innere Reize der
Empfindungsnerven an die uns aus der Erfahrung bekannten Orte der
peripheren Reizung. Wenn man hier von einem „Gesetz der exzentrischen
Projektion“ redet, darf man nicht glauben, wir nähmen den Reiz
zuerst innerhalb der Nervenbahn wahr und verlegten ihn dann wieder
hinaus an das Nervenende, sondern unmittelbar mit der Erregung des
Nerven taucht das Bild der durch die Erfahrung bekannten normalen
Reizungsstelle wieder auf. Es ist somit dieses Gesetz nur ein
besonderer Fall des allgemeinen Lokalisationsgesetzes. Hiermit
erklären sich auch einfach die bekannten Täuschungen Amputierter, die
in den vielleicht schon Jahre lang abgenommenen Gliedern noch Schmerz
und Druck u. ä. zu empfinden meinen.
Aus dem allgemeinen Lokalisationsgesetz versteht man auch die
scheinbare +Raumwahrnehmung anderer Sinne+. In Wirklichkeit bietet
nur der Gesichts- und der Tastsinn räumliche Inhalte. Wer beide
Sinne entbehrte, könnte nie zu einer Raumanschauung gelangen. Sie
bliebe ihm ebenso unbekannt wie dem Blindgeborenen die Farben. Die
richtige Lokalisation der Geschmacks-, Schmerz- und Temperaturreize
(wobei bemerkt sein mag, daß die Lokalisation um so schärfer ist, je
lebenswichtiger der Reiz) bedarf keiner weiteren Erläuterung. Der
Raum, der sich aus solchen einzelnen Raumdaten ergeben könnte, wäre
beim Sehenden letztlich nur der Gesichtsraum, beim Blindgeborenen
der Tastraum. Das nämliche gilt aber auch vom Ohr, das uns über die
Entfernung und Richtung unsichtbarer Schallquellen benachrichtigt.
Die besondere Aufgabe der Forschung besteht hier nur darin, die
empirischen Anhaltspunkte zu ermitteln, nach denen im einzelnen
Entfernung und Richtung der Schallquelle beurteilt wird. Ein erster
Anhaltspunkt für die Entfernung ist die Intensität des Reizes: je
schwächer ein bekannter Reiz, um so weiter muß er entfernt sein. Es
besteht hier ein ganz ähnliches Verhältnis wie zwischen der Sehgröße
und der Entfernung. Darum kann man sich auch hier ebenso täuschen
wie dort: ein leises Pochen an der Türe erscheint als furchtbarer,
doch weit entfernter Kanonendonner, und auch das Umgekehrte bleibt
an sich möglich, je nachdem wir entweder die tatsächliche Entfernung
oder die wirkliche Stärke des Schallreizes falsch ansetzen. In
Wirklichkeit zeigt sich indes nicht immer dieses einfache Verhältnis
eingehalten. Gleichartige, aber verschieden starke Töne werden
nicht notwendig in verschiedene Entfernung lokalisiert. Zu dieser
Verbesserung der Lokalisation verhelfen die jeden Ton begleitenden
Obertöne. Diese sind bekanntlich nicht alle gleich laut und werden
darum je in verschieden weiter Entfernung unhörbar: die niederen
verstummen zuerst. Aus diesem Umstand entwickelt sich ein tatsächlich
benutztes, aber als solches nicht erkanntes Kriterium für die
Schätzung der Entfernung. +Ernst Mach+ hat das mit einem treffenden
Ausdruck als die „Luftperspektive für Töne“ bezeichnet. Deshalb läßt
sich auch umgekehrt durch Verstärkung der Obertöne eines Klanges der
Eindruck größerer Entfernung erzielen. Von höchster Bedeutung für
die Lokalisation ist die Richtung der Aufmerksamkeit. Wird durch
irgendeinen Umstand unsere Aufmerksamkeit auf ein Ding gelenkt, das
als Schallquelle in Frage kommen kann, so sind wir auch geneigt,
es als solche anzusprechen. Darauf beruht ein Hauptkunstgriff der
Bauchredner.
Literatur
C. +Spearman+, Fortschritte auf dem Gebiete der räumlichen
Vorstellungen. APs 8 (1906).
O. +Klemm+, Über die Lokalisation von Schallreizen. 6. CgEPs (1914).
FÜNFTER ABSCHNITT
Elementare Denkfunktionen
1. Die Beziehungserkenntnis
Vergleichen wir zwei Linien, zwei Figuren oder sonstige Dinge
miteinander, so entdecken wir, daß sie entweder gleich oder ungleich,
verschieden oder ähnlich sind. Wir sprechen da von +Sachverhalten+.
Der Satz: A ist größer als B, bezeichnet einen Sachverhalt. Mit den
Ausdrücken gleichsein, größersein, oberhalb-, rechts davon sein u. ä.
verbinden wir einen ganz bestimmten Inhalt. Wir meinen damit etwas
anderes als die bloße Summe der beiden erkannten Dinge: wir meinen
eben die zwischen ihnen herrschende +Beziehung+. Die experimentelle
Untersuchung hat gezeigt, daß man an zwei Dinge denken, sie anschaulich
vorstellen und sogar beachten kann, ohne gleichzeitig und notwendig
auch die Beziehung zu erfassen, die zwischen ihnen obwaltet. Man
kann z. B. zwei Figuren unter mehreren sehen und beachten, die
objektiv einander gleich sind, ohne deren Gleichheit gewahr zu
werden. Die Beziehungserkenntnis ist somit mehr als die bloße
bewußtseinsmäßige Erfassung der in Beziehung stehenden Gegenstände:
+das Relationsbewußtsein enthält mehr als die Termini der Relation+.
Der Beziehungsgedanke, wie wir kurz sagen wollen, ist aber zweitens
auch ein wahrer Bewußtseinsinhalt: wir sprechen keine leeren Worte aus,
wenn wir von Gleichheit, von Ähnlichkeit usw. reden, sondern meinen
damit etwas ganz Bestimmtes. Diese Tatsache bliebe bestehen, auch wenn
wir Gleichsein, Verschiedensein usw. überhaupt nicht denken könnten,
ohne gleichzeitig an Dinge zu denken, die gleich oder verschieden sind.
Die eingehendere Forschung machte uns jedoch mit Erlebnissen bekannt,
wo der Beziehungsinhalt als solcher im Mittelpunkt des Bewußtseins
steht. Es erwächst darum die Aufgabe, zu prüfen, ob sich diese
Beziehungsgedanken auf die bisher besprochenen Erkenntniselemente
zurückführen lassen, oder ob sie als neue Elemente anzusprechen sind,
und wenn sich letzteres ergeben sollte, zu untersuchen, in welchem
Verhältnisse diese neuen Erkenntniselemente zu den schon bekannten
stehen.
Die von älteren Psychologen oft ausgesprochene Meinung,
Beziehungserkenntnisse (wir unterscheiden auch hier zwischen
Erkenntnis+akt+ und Erkenntnis+inhalt+ und beschäftigen uns hier
zunächst nur mit dem Inhalt) seien kein Plus gegenüber dem Bewußtsein
der Termini: mit dem Bewußtsein von zwei Strecken sei auch das
Bewußtsein ihrer Gleichheit oder Verschiedenheit unmittelbar gegeben,
braucht nach den erwähnten experimentellen Befunden nicht mehr
widerlegt zu werden. Man hat sodann hie und da geglaubt, solche
Relationen seien nichts anderes als die Worte oder die symbolischen
Zeichen, mit denen wir sie zum mündlichen oder schriftlichen Ausdruck
bringen. Allein Worte wie Zeichen sind weder Bedeutungen noch
wesentlich mit solchen verknüpft. Wir müssen ja die Bedeutung der
Worte der Muttersprache wie der fremden Sprachen eigens lernen. Ganz
dasselbe gilt für irgendwelche Körperbewegungen. Allerdings schütteln
wir zuweilen den Kopf, um den Gegensatz unserer Ansicht zu einer soeben
geäußerten kundzutun. Aber das Kopfschütteln als solches besagt doch
nicht den Gegensatz. Das Kopfschütteln liefert unserm Bewußtsein nur
eine Anzahl von Spannungs- und Bewegungsempfindungen, niemals aber
die Bedeutung „nein!“, „falsch!“ oder Ähnliches. (Bei manchen Stämmen
bedeutet Kopfschütteln „ja“, Kopfnicken „nein“.) Erfassen wir nicht
zuvor selbständig diese Relation, so werden wir niemals das Bedürfnis
verspüren, sie durch eine Ausdrucksbewegung kundzugeben.
Wir können nun versuchen, beliebige der uns bekannten Empfindungen oder
Empfindungskomplexe in irgendwelcher Zusammensetzung oder Abänderung
ins Bewußtsein einzuführen: niemals wird sich aus solchen Elementen
ein Beziehungsinhalt ergeben. Allen Empfindungen -- und ebenso den
später zu besprechenden Gefühlen -- versagt gewissermaßen die Sprache,
wenn wir sie zum Ausdruck einer Beziehung nötigen wollen. Es ist
darum die Beziehungserkenntnis nicht nur ein selbständiger, auf die
bekannten Empfindungen nicht zurückführbarer Bewußtseinsinhalt, sondern
auch ein Erlebnis, das sich überhaupt nicht mit Empfindungsmitteln
wiedergeben läßt. Den Empfindungen ist nämlich, wie wir sahen, die
Anschaulichkeit wesentlich: Farben, Gerüche, Töne usw. haben etwas
Handgreifliches, während Gleichheit, Verschiedenheit, Gegensatz als
Bewußtseinsinhalte abstrakt, schemenhaft sind. Empfindungen haben
eine, wenn nicht gar mehrere Intensitätsstufen, von einer Intensität
der Beziehungserkenntnisse zu reden, verliert jeden Sinn: Beziehungen
werden erkannt oder nicht erkannt. Jeder Empfindungsinhalt ist etwas
Konkretes, bestimmt Nuanciertes: Gleichheit, Ähnlichkeit, Lagebeziehung
sind als Bewußtseinsinhalte stets etwas Allgemeines, auch wenn
wir damit nur das Gleichsein usw. anschaulicher Dinge meinen. Aus
all diesen Gründen lassen sich die Relationserkenntnisse mit den
Empfindungen und Vorstellungen bzw. deren Komplexen nicht auf die
gleiche Stufe stellen. Sie gehören einer von jenen Erlebnissen scharf
getrennten Klasse an, und da sich kein Übergang zwischen diesen Klassen
aufzeigen oder auch nur ausdenken läßt, ist die Verschiedenheit beider
als eine +wesentliche+ zu bezeichnen. Wir behalten für die Erlebnisse
der höheren Klasse den Ausdruck „denken“ vor, mit dem ja auch der
vorwissenschaftliche Sprachgebrauch eine höhere Erkenntnisweise
auszeichnet.
Es empfiehlt sich, schon hier zwei Erlebnisse auseinanderzuhalten:
das Entdecken von Beziehungen und das Erkennen von Sachverhalten.
Sind die Gegenstände A und B gegeben und ich erfasse zum ersten Mal
eine Beziehung zwischen ihnen, und zwar eine Beziehung, die ich nie
zuvor erlebt habe, so liegt eine ursprüngliche Beziehungserfassung
oder die +Entdeckung+ einer Beziehung vor. Finde ich dieselbe
Beziehung dann bei den Gegenständen C und D, so kann ein
+Erkennen von Sachverhalten+ vorliegen: ich erlebe die Beziehung
zwischen C und D +und+ erkenne sie als gleich mit der früher
erfahrenen. Sachverhaltsfeststellungen setzen somit eine doppelte
Beziehungserfassung voraus; sie sind uns Erwachsenen geläufiger als
die Beziehungsentdeckungen, von denen hier zunächst die Rede ist.
2. Das aktive Beziehen
Sehr oft drängen sich uns die zwischen den Dingen herrschenden
Beziehungen ganz von selbst auf. Die Verschiedenheit eines roten
Papierstreifens von einem grünen kann kaum übersehen werden. Stellt man
uns aber die Aufgabe, zu einer bestimmten Farbe aus einer Reihe von
Farben und Farbenstufen die jener ersten gleichartige herauszufinden,
dann werden wir vielleicht jede einzelne Vergleichsfarbe mit dem Muster
in Beziehung bringen; sei es, daß wir beide nebeneinander legen, sei
es, daß wir nur den Blick von der einen zur andern wandern lassen,
sei es, daß wir mit ruhendem Blick unsere Beachtung bald dem einen,
bald dem andern Vergleichsobjekte zuwenden. Dieses Aufeinanderbeziehen
ist ein wirklicher Vorgang, ein reales Erlebnis, das z. B. in den
Denkexperimenten eine hervorragende Rolle spielt. Es ist ferner
etwas ganz anderes als die zuvor behandelte Beziehungserfassung.
Denn diese kann aufleuchten, ohne daß wir die Termini zuvor aktiv
in Beziehung bringen müßten, und umgekehrt kann das aktive Beziehen
vorgenommen werden, ohne daß sich unserem Geiste ein Verhältnis
zwischen den Beziehungsgegenständen offenbart. Am meisten Ähnlichkeit
hat dieses Erlebnis mit der aktiven Blickwanderung, aber man kann auch
bei ruhendem Blick, ja sogar ohne jede Beteiligung des Auges oder
irgendeines anderen Sinnes aktiv beziehen, z. B. wenn man Begriffe wie
Tapferkeit und Geduld miteinander vergleicht. Das Beziehen ist auch
nicht identisch mit willkürlicher Aufmerksamkeit. Zwar wird man in der
Regel den aufeinander bezogenen Dingen Aufmerksamkeit widmen, doch
können wir selbst mehreren Gegenständen unsere Aufmerksamkeit zuwenden,
ohne sie deshalb schon aufeinander zu beziehen. Man denke etwa an
die Versuche über den Umfang der Aufmerksamkeit, bei denen mehrere
Einzelobjekte bei raschester Darbietung von der Aufmerksamkeit umspannt
werden müssen. Endlich ist das Beziehen nicht gleichbedeutend mit dem
Wollen. Wir können freilich das aktive Beziehen wollen, und es ist
nicht unwahrscheinlich, daß das aktive Beziehen immer von dem Wollen
abhängig ist, aber der Wille betätigt sich auch in andern Funktionen,
z. B. in der Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Objekt oder in einer
Körperbewegung u. dgl.
Vielleicht eröffnet jedoch folgender Gedankengang ein Verständnis des
aktiven Beziehens ohne Annahme einer neuen elementaren Denkfunktion.
Haben wir dank der elementaren Fähigkeit der Beziehungserfassung
mehrmals Beziehungen zwischen verschiedenen Gegenständen entdeckt,
so kann eine solche Entdeckung ein Ziel unseres Wollens werden.
Richten wir darum willkürlich mit dem Wunsche, eine etwa vorhandene
Beziehung zu erfassen, unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenstände --
wie dies möglich ist, hat die Willenslehre zu zeigen --, so üben
wir das einfachste aktive Beziehen. Die weitere Erfahrung belehrt
uns, daß ein Wandern der Aufmerksamkeit von einem Glied zum andern
hier zweckdienlich sein kann, und wir lernen so eine höhere Art des
aktiven Beziehens. Sind wir sodann mit den verschiedenen Arten der
Beziehungsinhalte, wie Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit,
vertraut geworden, so wird auch der allgemeine Wunsch, eine
etwa vorhandene Beziehung aufzufinden, durch die besonderen
Gesichtspunkte, ob Gleichheit, Verschiedenheit usf., ersetzt.
3. Die Abstraktion
Erfassen einer Beziehung und aktives Beziehen haben beide zur
Voraussetzung, daß die Gesamtheit unserer Eindrücke nicht ein
unauflösbares Ganzes sind, sondern daß sich aus dieser Gesamtheit
Teileindrücke herausheben oder doch herauslösen lassen. Nur so
erhalten wir eine Mehrheit von Erkenntnisdingen, die wir miteinander
in Beziehung bringen können. Man könnte meinen, das sei durch die
Verschiedenheit der Sinneseindrücke schon hinreichend sichergestellt;
ein blauer Farbring, der um einen gelben gelegt ist, hebt sich von
selbst von diesem ab. Ganz gewiß bedeutet die objektive Verschiedenheit
der sinnlichen Eindrücke, der Sinnesdinge, eine namhafte Hilfe für das
Herauslösen von Teileindrücken. Bedenkt man indes, daß wir auch aus
einer ganz gleichmäßig gefärbten Fläche beliebige Partien allein durch
die Beachtung herausgreifen können, so legt das nahe, daß wir es mit
einer anderen Funktion als dem rein sinnlichen Erfassen zu tun haben;
ganz abgesehen davon, daß sich dieses Herausgreifen nicht notwendig auf
Sinnesdinge erstrecken muß.
Auch die Abstraktion können wir versuchsweise auf andere
Funktionen zurückführen, so daß von den drei genannten nur die
Beziehungserfassung als einzige elementare Denkfunktion übrigbleibt.
Zu diesem Zwecke setzen wir voraus, die unwillkürliche Aufmerksamkeit
sei eine psychische Verhaltungsweise, die auch willkürlich
eingenommen werden kann. Bei der Lehre von der Aufmerksamkeit
haben wir dies näher zu klären und zu beweisen. Ist uns nun zum
erstenmal die Verschiedenheit eines blauen von einem gelben
Farbenton aufgefallen, so mag die blaue und die gelbe Farbe die
Aufmerksamkeit auf sich lenken, und zwar nur auf sich und ohne
Zutun unseres zielsetzenden Wollens. Ist das mehrmals geschehen,
so haben wir ein Verhalten kennen gelernt, das wir nun auf jeden
Teilinhalt des Bewußtseins anwenden können: wir haben abstrahieren
gelernt. Somit wäre die Abstraktion nichts anderes als die Zuwendung
der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand. Neueste
Untersuchungen (M. v. +Kuenburg+) über die Abstraktion des Kindes
sind dieser Auffassung günstig.
Wir haben soeben die Abstraktion in ihren ersten Anfängen
geschildert. Der Erwachsene abstrahiert in der Regel, indem er
einen Gesichtspunkt an die Gegenstände heranbringt, z. B. in der
Form einer Frage: wo ist der Eingang? Ein solcher Gesichtspunkt
wirkt als antizipierendes Schema (siehe unten S. 173), er gibt der
Aufmerksamkeit eine bestimmte Richtung und bereitet die Wahrnehmung
der Relationsfundamente vor, indem er verwandte Vorstellungen in
Bereitschaft setzt.
Über die +Leistung+ der Abstraktion haben die Experimente schon
mancherlei ergeben. +Külpe+ bot seinen Vpn verschiedenfarbige in
einer bestimmten Figur angeordnete Buchstaben. Die Vpn hatten bald
auf die Gesamtanordnung, bald auf die Farbe der Buchstaben, bald
auf deren Form zu achten. Es zeigte sich nun, daß die sogenannte
+positive Abstraktion+, das Herausgreifen der zu beachtenden Teile,
außerordentlich gut gelingt. Wenn die Beobachter auch gar nichts oder
nur sehr wenig von der Form und der Farbe der Buchstaben zu berichten
wußten, so konnten sie doch die Gesamtanordnung sehr genau angeben
und umgekehrt. Das Absehen von den nicht zu beachtenden Momenten kann
auch willkürlich geschehen und heißt dann +negative Abstraktion+. Sie
scheint mehr zu sein als ein einfaches Nichtbeachten der Elemente,
vermutlich handelt es sich dabei um eine Unterdrückung oder Hemmung.
Die Abstraktion wird freilich um so schwerer, je enger zwei Elemente
miteinander verbunden sind. So ist Form und Farbe der Buchstaben
abstraktiv schwerer zu trennen als Form und Gesamtanordnung.
Literatur
J. +Lindworsky+, Das schlußfolgernde Denken. Freiburg 1916. II. Teil,
4. Abschnitt: Beiträge zur Psychologie der Beziehungserkenntnis.
F. +Seifert+, Zur Psychologie der Abstraktion und Gestaltauffassung.
ZPs 78 (1918).
SECHSTER ABSCHNITT
Die Verbindung der Beziehungsfunktion mit den Empfindungskomplexen
1. Kap. Die Gestaltwahrnehmung
Die sensistische Richtung in der experimentellen Psychologie, die alle
Erlebnisse nur aus den sinnlichen Elementen verständlich machen will,
ging lange Zeit unachtsam an einer höchst geläufigen Erscheinung des
Alltags vorüber, die übrigens jeder Psychologenschule schwere Rätsel
aufgibt. Es ist das Verdienst Chr. v. +Ehrenfels+’, nachdrücklich
die Aufmerksamkeit auf das Problem der Gestaltwahrnehmung gelenkt zu
haben. Seit seinem Aufsatz „Über Gestaltqualitäten“ (1890) ist die
Erörterung dieses Problems noch nicht zum Stillstand, aber auch noch
nicht zu einer allseitig befriedigenden Lösung gekommen. Betrachtet man
vier Punkte in dieser Anordnung ⁘, so kann man sie als Kreuz und als
Quadrat auffassen. Die Sinnesdaten sind in beiden Fällen die nämlichen,
die sich ergebenden Gestalten sind verschieden, und jede einzelne
ist offenbar mehr als die Summe der vier punktförmigen Eindrücke.
Noch deutlicher wird das bei der Melodie. Man kann ein Lied so
transponieren, daß kein einziger Ton derselbe bleibt, und doch erkennt
jedermann sofort die alte Melodie wieder. Die melodische Gestalt ist
also offenbar etwas anderes als die Summe der Einzeltöne.
Der Versuch einer +Analyse des Gestalteindruckes+ wird heute wohl
folgende Faktoren aufzählen können. Erste Voraussetzung ist eine
Mehrheit sinnlicher Daten, die im Raum oder in der Zeit verteilt sind.
Ihre Qualität und Intensität ist von untergeordneter Bedeutung, wie
schon die Transposition einer Melodie zeigt; auch die vier Punkte in
obiger Figur könnten eine beliebige Farbe haben, wenn auch zu beachten
bleibt, daß Qualität und Intensität auf die normale Gestaltbildung
von Einfluß ist: ist z. B. der letzte Ton eines Tonpaares höher, so
werden die Töne in der Regel in jambischer Gestalt aufgefaßt. Zweitens:
Bei unseren vier Punkten wäre es möglich, daß die (früher erworbene)
+Vorstellung+ eines Rhombus, eines Kreuzes, zweier Parallelen je nach
ihrer Bereitschaft auftauchte und die Auffassung der Punkte bestimmte.
Allein damit ist das Problem nicht zu lösen. Wir können ja den
Einzeleindrücken völlig neue Gestalten entnehmen, von denen wir noch
keine Vorstellung haben.
Wichtiger als die Vorstellungen in Bereitschaft sind (drittens) die
+aktiven Beziehungsakte+. Dieses aktive Beziehen oder Zusammenfassen
ist nicht mit der Aufmerksamkeitsbeachtung zu verwechseln. Das
Beachten eines jeden einzelnen Tones einer Tonfolge macht aus ihr
keine Melodie, sondern kann eine solche eher in ihre Teile wieder
zerfallen lassen. Aus dem aktiven Aufeinanderbeziehen ergibt sich
(viertens) eine +Beziehungserfassung+. Zwar besagt eine derartige
Beziehungserfassung nichts über das abstrakte Verhältnis der Längen
zweier Geraden, der Schwingungszahlen zweier Töne usw., aber wir
erleben, wie die anschaulichen Termini der Beziehung sich zueinander
verhalten. Wäre der Ausdruck nicht mißverständlich, so möchte man von
anschaulichen Beziehungen reden. Wir hören nicht bloß einen Ton und
dann den anderen, wir erfassen es vielmehr, wie nah oder wie fern die
Qualität des zweiten zu der des ersten steht. Zweifellos steigert
solch bewußtes Erfassen der Aufeinanderfolge von sinnlichen Eindrücken
die Gefühlswirkung, die sich ohnedies schon an eine Empfindungsfolge
anschließt. Doch machen die Gefühle nicht die Gestaltqualität aus: ein
Fünfeck unterscheidet sich von einem Sechseck nicht so sehr durch seine
Gefühlswirkungen als eben durch seine Gestalt.
Wir haben bisher die Faktoren aufzuzählen gesucht, die beim Auffassen
einer +neuen+ Gestalt wirksam sind. Man hat früher gestritten, ob
Gestalten analytisch oder synthetisch aufgefaßt würden. Einzelne
Autoren meinten, wir seien immer auf das synthetische Fortschreiten
von den Teilen zum Ganzen angewiesen. Die Experimente ergaben, daß
beide Auffassungsweisen möglich sind. Doch dürfte bei völlig neuen
und zeitlich sich entwickelnden Gestalten, wie Rhythmus und Melodie,
die Synthese vorherrschen. Es ist das ein ganz eigenartiges Erlebnis,
wenn etwa eine Folge von vier Tönen, die anfangs ungeordnet und
unübersehbar sind und darum wohl auch den Eindruck einer größeren
Anzahl machen, Gestalt annimmt. Eine lustbetonte Klarheit und
Einfachheit tritt ein, und man staunt über die geringe Zahl der
Einheiten, die sich leicht beherrschen lassen: die vier Töne waren
eben nur die zweimalige Wiederholung der nämlichen Terz.
Ist die Gestaltauffassung mehr als der rein sinnliche Eindruck,
dann werden wohl auch die +Täuschungen+ über die objektiv
gegebenen Gestalten nicht ausschließlich auf Inadäquatheiten der
Sinnesfunktionen beruhen. Den sicher erweisbaren Anteil der Sinne an
diesen Täuschungen haben wir oben besprochen (S. 81 f.). Was durch
die Unvollkommenheiten der Organe nicht erklärt werden konnte --
und es ist dies der größere und bedeutsamere Teil --, hat man durch
Assoziationstheorien, Augenbewegungstheorien, Aufmerksamkeits- und
Urteilstheorien zu fassen gesucht, Theorien, die oft den Anspruch auf
Alleinherrschaft machten. Ist unsere Analyse der Gestaltwahrnehmung
auch nur einigermaßen richtig, dann sind nahezu ebensoviel Faktoren
bei der Fälschung der Gestaltwahrnehmung, wie bei ihrer Entstehung
am Werke. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer einzigen der genannten
Theorien auszukommen, ist darum nicht groß. Eine systematische
Durchprüfung aller Wahrnehmungstäuschungen auf die einzelnen Faktoren
mit dem Versuch einer Variation derselben wäre noch anzustellen.
Auf Einzelnes hat man indessen schon aufmerksam gemacht, so auf die
Verwechslung der Beziehungspunkte, namentlich beim Vergleich zweier
Gestalten: ein auf der Spitze stehendes Quadrat erscheint größer als
ein liegendes, weil man statt der Flächen die beiden von Punkten der
Figuren begrenzten Senkrechten aufeinander bezieht (+Schumann+);
>----< erscheint länger als <---->, weil man den von den Schrägen
eingeschlossenen Raum mit einbezieht (+Müller-Lyer+).
Literatur
K. +Bühler+, Die Gestaltwahrnehmungen I (1913).
M. +Wertheimer+, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. Psychol.
Forschung (1922) I, S. 41 ff. (vgl. unten S. 131 ff.).
2. Kap. Die Zeitwahrnehmung
Wohl auf keinem anderen Gebiete der experimentellen Psychologie
ist eine vorausgehende Besinnung und begriffliche Klärung über den
Untersuchungsgegenstand so unerläßlich wie bei der Darstellung des
„Zeitsinnes“. Auch hier beginnen wir mit dem, was uns unmittelbar in
der Erfahrung gegeben ist. Da finden wir nun, daß die ganze, unserem
Gegenstandsbewußtsein zugängliche Welt, wir selbst und unser Erleben
nicht ausgenommen, einem zeitlichen Verlauf unterworfen ist. Diese
+objektive Zeit+ erforscht die Psychologie nicht. Die Psychologie fragt
nur: Wie erfassen und erleben wir die objektive Zeit?
Aus dem Gebiet des Zeitlichen erobert unser Bewußtsein nun mancherlei.
Wir sprechen von der +Zeit im allgemeinen+ und von verschiedenen
Zeitstrecken, geradeso wie wir von dem Raum im allgemeinen und von
verschiedenen räumlichen Erstreckungen reden. Da haben wir es mit der
letzten dem Bewußtsein möglichen Eroberung eines Erlebnisses zu tun:
wir sind zur +begrifflichen+ Erfassung der Zeit vorgedrungen, eine
Leistung, die wir erst bei Behandlung der Begriffe würdigen können. Wir
beherrschen zweitens die +zeitlichen Beziehungen+: das Nacheinander,
das Früher, Später, die Gleichzeitigkeit, das Jetzt. Sehen wir davon
ab, daß namentlich bei der sprachlichen Verwertung dieser Dinge
gleichfalls eine hohe begriffliche Verarbeitung der Zeiterlebnisse
vorausgegangen sein muß, so braucht es doch keinen langen Nachweis,
daß wir diese Verhältnisse auch vor aller Sprache und Begriffsbildung
zu erkennen imstande sind. Das kleine Kind dürfte schon ohne Sprache
und ohne weitläufige Begriffsbildung bemerken, daß das Heranbringen
der Milchflasche vor dem Trinken und das Zubettgelegtwerden nach
dem Trinken kommt. Es ist dies eine +Beziehungserfassung+, die ohne
Denkfähigkeit nicht möglich ist. Und weil solche Beziehungserfassungen
auch bei der Zeitwahrnehmung, wie sie die Experimente untersuchten,
eine so große Rolle spielen, darum weisen wir der Zeitwahrnehmung
entgegen dem bisherigen Gebrauch diese Stelle innerhalb der
systematischen Darlegung an. Aus dem gleichen Grunde müssen wir
auch dem Tier die Erfassung des Vorher, Nachher, des Jetzt und der
Gleichzeitigkeit absprechen.
Drittens nehmen wir unmittelbar die +Dauer+ wahr: das, was die
Sinne uns zeigen, wird uns als dauernd vorgestellt, und auch die
Erlebnisse in uns, das Suchen und Forschen, das Lieben und Leiden,
tritt immer nur als ein dauerndes Erleben auf. Das Dauern ist uns in
+allen+ unseren Erlebnissen gegeben, wie das Ausgedehntsein in den
Erlebnissen des Gesichts- und Tastsinnes gegeben ist. So verstanden,
erlebt auch das Tier die Dauer. Sobald man jedoch nur diese eine
Eigenschaft aller seelischen Geschehnisse für sich betrachtet, hat
man eine Abstraktionsleistung vollzogen, deren wir das Tier nicht für
fähig halten. Diese für sich allein genommene Seite individueller
Bewußtseinsvorgänge ist es, die den eigentlichen Gegenstand der
Zeitsinnuntersuchungen bildet. Man erkennt sofort, daß die Bezeichnung
Zeitsinn eine sehr wenig glückliche war. Es geht nicht an, für die
Erfassung eines unselbständigen Merkmals einen besonderen Sinn
anzusetzen, man müßte sonst auch einen eigenen Raumsinn oder gar einen
Intensitätssinn einführen. Dank dieser prinzipiellen Gleichstellung der
Dauer mit den Sinneseindrücken, wie sie der sensistischen Psychologie
geläufig war, stellte man dem Experiment +zwei Hauptaufgaben+: die
Bestimmung der Zeitschwelle und die Vergleichung von Zeitstrecken. Für
das Kernproblem, die Erfassung der Dauer, konnten diese Untersuchungen
nicht sehr viel auswerfen; den reichsten Gewinn erzielt dabei die
Psychologie des Urteils. Das Wichtigste sei kurz mitgeteilt.
Wenn man feststellt, daß das Auge schwache Lichtblitze als zwei
erkennt, die sich in einem Zeitintervall von rund 45 σ (1 σ = ¹⁄₁₀₀₀
Sekunde), oder bei Einwirkung auf verschiedene Netzhautpunkte von 10
σ (+Pauli+) folgen, daß der Tastsinn zu derselben Leistung 27 σ, das
Gehör nur 16 σ oder gar nur 2 σ benötigt, dann hat man im Grunde das
zeitliche Auflösungsvermögen dieser Sinne gefunden. Man weiß nun,
wieviel Zeit ein jeder braucht, um einen Reiz genügend abklingen zu
lassen, damit ein folgender von jenem unterschieden werden kann -- an
sich höchst bedeutsame Ergebnisse. Hinsichtlich der +Dauerschwelle+
erfahren wir hieraus indessen nur, daß sie unter 2 σ liegen muß.
Bei der Beurteilung von +Zeitstrecken+ empfiehlt es sich, +drei
Hauptfälle+ auseinander zu halten: man beachtet die Dauer
gleichzeitig während des Erlebens; man beurteilt sie erst beim
Rückblick auf das Erlebte; man beurteilt sie vorausschauend und den
Eintritt eines bestimmten Ereignisses abwartend.
Zu dem ersten Hauptfall gehören namentlich die experimentellen
+Vergleichungen zweier Zeitstrecken+. Sind diese +sehr+ kurz, dann
achtet man in Wirklichkeit nicht auf die Dauer, sondern auf die
Geschwindigkeit, mit der sich die die Zeitstrecke begrenzenden
Reize folgen. Bei +längeren+ Zeitintervallen, etwa bis zu 3″,
scheint ein unmittelbarer anschaulicher Vergleich der Dauer möglich
zu sein. Bei noch größerem Zeitabstand wird der unmittelbare
Vergleich schwerer. Der Beobachter muß die Grenzreize, z. B. die
Metronomschläge, mit sichtlicher Bemühung zusammenhalten, damit die
Vergleichung zuverlässig bleibt. Das weist darauf hin, daß größere
Strecken überhaupt nur an den sie ausfüllenden Erlebnissen gemessen
werden können. Das ist nach unserer Auffassung der Dauer als eines
unselbständigen Momentes zu erwarten und ist im Grunde auch bei dem
Vergleich der kleineren Zeiten vorhanden. Nur daß hier die wenig
ausgesprochenen Erlebnisse des Allgemeinbefindens hinreichen, während
bei längerer Dauer charakteristische Dinge, wie aktives Bemühen,
Nachkonstruieren der Zeitstrecke, Beachtung der Atembewegungen, der
wachsenden Spannung u. ä., zu Hilfe genommen werden. Als allgemeine
Regel ergab sich bei diesen Zeitvergleichungen: kleine Zeiten werden
überschätzt, große werden unterschätzt; zwischen beiden liegt eine
Indifferenzzone von 1-2″, die nahezu richtig beurteilt wird. Auf
den Zeitvergleich wirken mancherlei Faktoren bestimmend ein: so die
verschiedene Stärke der das Zeitintervall abgrenzenden Signale; das
intensivere Signal verkürzt das Intervall, wenn es an dessen Anfang
steht, es verlängert es, wenn es das Intervall abschließt. Doch
gehören diese Dinge in die Psychologie des Vergleiches.
Erlebt man vielerlei während einer bestimmten Spanne objektiver Zeit
und achtet gleichzeitig auf die Dauer, so erscheint sie einem lang;
achtet man hingegen nicht auf die Zeit, so wird man von dem Ende
der Zeitspanne überrascht. Daher auch der große Unterschied bei dem
Vergleich von leeren und ausgefüllten Zeitstrecken, der sich aber
je nach der Aufmerksamkeitsrichtung des Beobachters anders geltend
macht. In der Erinnerung hingegen wird eine erlebnisreiche Zeitspanne
größer erscheinen als eine erlebnisarme. Da uns für die Wahrnehmung
der Zeit kein besonderes Sensorium zur Verfügung steht, und der
absolute Eindruck des Langen oder Kurzen nur aus der Menge der
durchschnittlich in der Zeiteinheit erlebbaren Ereignisse entsteht,
so begreift man auch, daß bei einer außergewöhnlichen Steigerung
des Vorstellungslebens, wie sie etwa der Haschischgenuß hervorruft,
die Dauer geläufiger Verrichtungen merkwürdig gesteigert zu sein
scheint: das Passieren einer Straße will kein Ende nehmen, weil
außergewöhnlich viele Bilder durch den Geist des Gehenden ziehen.
Im dritten Hauptfall erwarten wir ein zukünftiges Ereignis. An
sich verfließt uns da die Zeit nicht langsamer als sonst, aber wir
konstatieren immer wieder, daß unser Verlangen noch nicht erfüllt
ist. Damit verdrängen wir gleichzeitig Gedanken und Beschäftigungen,
die uns zerstreuen könnten, und es entsteht die Langeweile.
Offenbaren die genannten Verhältnisse die Relativität
und Subjektivität unserer Zeitschätzung, so zeigt die
„+Zeitverschiebung+“ unsere Unfähigkeit, ein Jetzt zu fixieren,
wenn es durch zwei disparate Sinneseindrücke gekennzeichnet wird.
Diese Tatsache ist unter dem Namen der persönlichen Gleichung schon
lange in der Astronomie bekannt: zwei Beobachter werden niemals in
übereinstimmender Weise angeben, an welcher Stelle des Fadenkreuzes
der durchgehende Stern beim Ertönen des Sekundenschlages stand.
+Wundt+ prüfte dies genauer durch „Komplikationsversuche“. Die Vp
hat einen sich bewegenden Zeiger zu beobachten und festzustellen,
wo der Zeiger stand, als ein Glockensignal ertönte. Anfangs wird in
der Regel eine Stellung vor der richtigen, später eine solche hinter
der zutreffenden genannt. Man hört also im Anfang gewissermaßen das
Signal, bevor es gegeben ist, und später scheinbar erst, nachdem es
schon erklungen. Die Erklärung des Phänomens ist noch umstritten.
Man wird es nicht einfach mit Wundt auf die verschieden lange
Apperzeptionszeit der beiden Reize zurückführen können, sondern
beachten müssen, auf welchen Reiz der Beobachter jeweils eingestellt
ist: die Auffassung jenes Sinnesreizes, den die Vp zunächst
erwartet, ist begünstigt und erfolgt darum vor der des anderen
Reizes (+Michotte+). Erhellt man die Fensterreihe eines Schirmes
gleichzeitig durch eine Geißlerröhre und läßt eines der Fenster
beachten, so scheint die Aufhellung von dieser Stelle auszugehen
(+Bethe+).
Eine weitere Ungenauigkeit in der Zeitauffassung, die jedoch
unserem ganzen Denken und Leben zum Heile gereicht, begehen wir
bei der Auffassung des +Jetzt+. Das objektive Jetzt kann nur in
einem unteilbaren Augenblick bestehen, das subjektive Jetzt, die
„+psychische Präsenzzeit+“ hingegen umfaßt mehrere Sekunden. Das in dem
punktförmigen Jetzt Erlebte entschwindet nämlich beim Gesunden nicht
stracks dem Bewußtsein. Es verweilt zwar nicht mehr im Mittelpunkt,
es verliert auch je länger, je mehr an Klarheit und Ausgeprägtheit,
aber es steht doch noch so vor unserem Geiste, daß wir es nicht zu
reproduzieren, sondern nur zu beachten brauchen, falls wir es noch
einmal zu besehen wünschen, während wir die Erlebnisse der früheren
Vergangenheit überhaupt erst wieder ins Bewußtsein zurückführen müssen.
Der große Vorteil dieser Einrichtung liegt auf der Hand und wird
besonders gewürdigt, wenn krankhafte Übermüdung des Gehirns den Faden
der psychischen Kontinuität abreißen läßt.
Das stufenweise Verblassen der eben dagewesenen Erlebnisse verleiht
diesen gewissermaßen Temporalzeichen, an denen ihre zeitliche Folge
erkennbar bleibt: je verblaßter der Bewußtseinsinhalt, um so älter
ist er. Vermittels dieser Temporalzeichen glaubte man eine streng
empiristische +Zeittheorie+ entwerfen zu können, ganz ähnlich wie
+Lotze+ es beim Raum versucht hatte: die Dauer würde nicht unmittelbar
wahrgenommen, sondern entstünde erst aus den Bewußtseinsinhalten samt
ihren Temporalzeichen. Allein wenn wir den Übergang von dem Jetzt
in die Vergangenheit oder vielleicht auch nur von dem Sosein in das
Anderssein nicht unmittelbar als solchen erleben, werden wir aus den
genannten Elementen ebensowenig die Zeit integrieren, wie wir den Raum
aus den Lokalzeichen gewinnen konnten. Man muß darum auch bei der
Zeit- bzw. der Veränderungswahrnehmung ein geringes Anfangskapital im
Sinne des Nativismus voraussetzen. Alles weitere -- und das ist das
wichtigste Ergebnis der Experimente -- wird in der Erfahrung gewonnen.
Wie wir Abgrenzungen des Raumes zu Raumgestalten vereinigen, so
fassen wir Abgrenzungen der Zeit zu +Zeitgestalten+ zusammen: zwei
Zeitmarken (Taktschläge, Lichter, Berührungen) bilden zusammen mit
ihrem zeitlichen Intervall eine Zeitstrecke. Mehrere Zeitstrecken
schließen sich zu einer +rhythmischen Gestalt+ zusammen. Dabei pflegt
eine oder mehrere der Zeitmarken durch die Beachtung betont zu
werden. Diese Hervorhebung einzelner Zeitmarken kommt praktisch einer
Intensitätssteigerung gleich, ist mit ihr jedoch nicht identisch: sie
kann ja auch den merklich schwächeren Reizen zugewiesen werden.
Da viele unserer Bewegungen, namentlich unser Gang, rhythmisch
gegliedert sind, lösen rhythmische Eindrücke alsbald unwillkürliche
Bewegungen aus. Darum meinte G. E. +Müller+, die rhythmische
Auffassung objektiv völlig gleichmäßiger Reize sei nur eine Folge
früherer Erfahrungen. +Koffka+ versuchte diese Ansicht experimentell
zu widerlegen: optische Eindrücke sollen mit Ausschluß jeglicher
Bewegungsimpulse dennoch rhythmisch erlebt werden können. Es wird
schwer sein, hierfür einen unanfechtbaren experimentellen Beweis zu
liefern. Aber da der Gedanke G. E. Müllers auf dem Gebiet der übrigen
Gestaltwahrnehmungen versagt und das Rhythmuserlebnis den gleichen
Charakter wie die anderen Gestaltwahrnehmungen trägt, werden wir
es wie diese in der Hauptsache auf das aktive Zusammenfassen und
auf das Erleben der Beziehungen zwischen anschaulichen Elementen
zurückführen, während wir der subjektiven Betonung der objektiv
gleichmäßigen Zeitmarken nur eine vorbereitende Rolle zuteilen.
Literatur
V. +Benussi+, Psychologie der Zeitauffassung. 1913.
H. +Werner+, Über optische Rhythmik. APs 38 (1918).
3. Kap. Die Bewegungswahrnehmung
Ganz ähnlich wie bei der Zeitwahrnehmung läßt sich auch hier eine
begriffliche Sonderung vornehmen. Wir brauchen darum nur auf die obigen
Ausführungen zu verweisen. Die Hauptprobleme werden sich alsdann an
die unmittelbar wahrzunehmende Bewegung knüpfen und vor allem das
psychologische Wesen der Bewegungswahrnehmung zu ergründen haben. Es
empfiehlt sich für unsere Zwecke nicht, hier induktiv voranzugehen, wir
hätten der Tatsachen zu viele mitzuteilen, bevor der Leser imstande
wäre, sie zu würdigen und zu überschauen. Wir werden darum zuerst
die +Theorie der Bewegungswahrnehmung+ erörtern, um uns darauf mit
eigenartigen Fällen aus dem Gebiet der Bewegungswahrnehmung abzufinden.
Ältere Autoren versuchten die Bewegungswahrnehmung als einen
+Schluß+ aus den Wahrnehmungen der veränderten Lage desselben
Körpers zu verstehen. In der Tat schließen wir bei sehr langsamen
Bewegungen (Gletscherbewegungen, Umlauf des Stundenzeigers) aus den
verschiedenen Lagen auf eine vorausgegangene Bewegung. Aber so läßt
sich das Erlebnis der gewöhnlichen Bewegungswahrnehmung nicht deuten.
Denn nicht vergangene, sondern gegenwärtige Bewegungen sehen wir da.
Überdies wissen wir heute, daß ein Schluß uns immer nur Beziehungen
zwischen bekannten Gliedern mitzuteilen, niemals aber anschauliche
Inhalte, die uns nicht schon die Wahrnehmung geliefert hätte,
vorzuführen vermag. Und etwas Anschauliches ist zweifellos in der
Bewegungswahrnehmung geboten.
Es lag daher nahe, eine besondere +Bewegungsempfindung+ anzusetzen
(+Exner+), oder doch die Bewegung ein unselbständiges Moment der
Empfindungen sein zu lassen, ähnlich wie die Intensität (+Schumann+).
Mancherlei Tatsachen sprechen für solche Theorien.
Die Feinheit der Bewegungswahrnehmung ist in der Netzhautmitte etwa
fünfmal so groß wie an der Peripherie. Die Fähigkeit, zwei bewegte
Objekte auseinander zu halten, ist auf dem gelben Fleck ebenso groß
wie die Sehschärfe, mit der zwei ruhende Punkte aufgelöst werden. An
der Peripherie hingegen werden die bewegten Sehdinge viermal besser
unterschieden als die unbewegten. Doch lassen sich diese Verhältnisse
rein physiologisch verständlich machen (+Lasersohn+).
Außerdem widerstreitet den Empfindungstheorien dieses: Wo immer
der adäquate Reiz für das Auftreten einer Empfindung bzw. die
Veränderung eines Empfindungsmomentes gegeben ist, tritt bei
normalen Verhältnissen auch die Empfindung bzw. die Veränderung des
Empfindungsmomentes ein. Der einzige adäquate Reiz -- wir bleiben
vorerst immer bei der optischen Bewegungswahrnehmung -- wäre hier
nun die sukzessive Erregung benachbarter Netzhautstellen durch die
gleichen Lichtwellen. So oft sie statt hätte, müßte auch Bewegung
gesehen werden. Dem ist jedoch nicht so. Bewege ich mein Auge über
einen Gegenstand hin, so nehme ich zumeist optisch keine Bewegung
wahr.
Andere Theorien verzichten auf die Einführung eines neuen
psychischen Elementarvorganges. So glaubt +Linke+ (wir modifizieren
ein wenig seinen Gedanken), die Wahrnehmung der jeweils anderen
Lage des bewegten Gegenstandes zu seiner Umgebung mache die
Bewegungswahrnehmung aus. Sinnlich wäre uns jeden Augenblick ein
anderes Lagebild geboten. Dazu kämen zwei Beziehungserfassungen,
die nur gedanklich zu leisten sind: einmal die Lageerfassung,
sodann die +Identifikation des+ objektiv bewegten +Gegenstandes in
den wechselnden Lagen+. In Worte gefaßt, wäre also das Erlebnis:
„Jetzt hier, jetzt da, jetzt dort! ...“ Man hat diese Theorie mit
untauglichen Waffen bekämpft. Der Identifikationsprozeß ist nichts
„Logizistisches“. Identifizieren ist ein wirkliches Erlebnis. Zwar
geben wir es nicht immer durch Worte kund, ja wir konstatieren
es nicht einmal immer -- wie wir auch die Verschiedenheit der
vor uns ausgebreiteten Farben geistig erfassen, ohne sie immer
zu konstatieren. Auch sind wir bei Beobachtung eines bewegten
Gegenstandes hinreichend auf die Erfassung der Identität eingestellt.
Daß es Scheinbewegungen zwischen zwei nacheinander aufleuchtenden
Grenzlinien gibt, ohne daß diese für identisch gehalten werden
(+Wertheimer+), bedeutet keine unüberwindliche Schwierigkeit, da
dieses Erlebnis nur bei solchen beobachtet wird, die schon eine
reiche Erfahrung im Bewegungssehen hinter sich haben. Dagegen vermißt
man eher eine Erklärung des anschaulichen Überganges von einer Lage
in die andere, der doch wirklich gesehen wird.
Am meisten befriedigt wohl eine in der Hauptsache von +Stern+
begründete Theorie. Stern nimmt eine +unmittelbare Wahrnehmung
der Veränderung+ an: wir sehen, wie ein Licht verblaßt, wie ein
Abstand zunimmt oder sich verkleinert. Voraussetzung einer
solchen Veränderungswahrnehmung ist einerseits das Erleben der
sich kontinuierlich ändernden Empfindungen, anderseits eine Art
Identifikation, die Dingerfassung. Bewegt sich nun ein Gegenstand
auf einer sichtbaren Strecke, so erkennen wir an den sinnlichen
Daten nicht nur die Veränderung der Lage, sondern auch unmittelbar
das Zunehmen der einen und das Abnehmen der andern Distanz auf der
sichtbaren Strecke. Damit wäre wohl auch der anschauliche Charakter
der Bewegungswahrnehmung erklärt, ohne daß neue Erkenntniselemente
angesetzt werden müßten.
Gegen diese Theorie bedeutete die Wahrnehmung eines bewegten
leuchtenden Punktes im Dunkeln, also ohne unterscheidbare
Anhaltspunkte für die Lageauffassung, erst dann eine Schwierigkeit,
wenn sie an einem Individuum ohne jede Erfahrung auf dem Gebiet
des Bewegungssehens oder gar der Bewegungswahrnehmung überhaupt
festgestellt würde. Für den Erwachsenen gewinnen nämlich die
einzelnen Netzhautpunkte einen Ortswert (s. S. 81 f.), und ebenso
können die verschiedenen Phasen des Nachbildes, das der leuchtende
Punkt hinterläßt, und endlich die Bewegungen, die erforderlich
sind, um ihm mit der Blickrichtung zu folgen, zu Kriterien des
Bewegungseindruckes werden. Übrigens muß die Bewegung im Dunkeln
rascher verlaufen als im Hellen, um wahrgenommen zu werden.
Da wir die Bewegungswahrnehmung in der Hauptsache auf höhere Prozesse
zurückführen, müssen wir sie folgerecht zu unserem Standpunkt dem
Tier aberkennen. Es genügt aber auch zur Erklärung der Tatsachen,
wenn der kontinuierlich sich ändernde Gesichtseindruck, den
z. B. die Katze von der laufenden Maus erhält, das Tier in jedem
Augenblick zu anderen zweckmäßigen Bewegungen veranlaßt. -- Aus dem
Relativitätscharakter der Bewegungswahrnehmung ergibt sich ferner,
daß wir kein zwingendes sinnliches Merkmal dafür haben, ob sich
der zufällig beachtete Punkt oder der Hintergrund bewegt. Unsere
allgemeine Erfahrung legt uns nahe, die Bewegung im allgemeinen auf
den kleineren Gegenstand zu beziehen und den größeren Hintergrund als
ruhend aufzufassen. Darum scheint uns der Mond, an dem zerrissene
Wolken vorbeijagen, häufig in eiliger Bewegung begriffen. Im
allgemeinen läßt sich sagen: der Träger der Bewegung wird durch
Erfahrungskriterien bestimmt; beim Widerstreit der Kriterien kann es
zu Täuschungen kommen.
Wir haben uns nunmehr mit einer Reihe eigentümlicher Erscheinungen
auf dem Gebiet des Bewegungssehens auseinanderzusetzen. Verfolgen
wir mit fixierendem Blick einen Vogel am wolkenlosen Himmel, so
nehmen wir die Bewegung wahr, ohne daß sich auf der Netzhaut die
Reize nennenswert ändern. In diesem Falle wird der Bewegungseindruck
durch die gleichzeitigen Bewegungen des Auges oder des Kopfes
hervorgerufen. Aus der optischen Wahrnehmung unserer bewegten Glieder
gewinnen nämlich die kinästhetischen Empfindungen ihre Bedeutung
als Bewegungsempfindungen, während beim Blindgeborenen einfach an
die Stelle der Netzhaut die Tastorgane treten. -- Beobachten wir
ruhende Objekte mit bewegtem Auge, so erscheinen uns die Dinge bald
ruhend, bald bewegt, je nachdem unsere Augenbewegungen, einerlei ob
sie aktiv oder passiv sind, als Reproduktionsmotive für die Ruhe
bzw. Bewegungsauffassung mit in Konkurrenz treten. Es kann sogar
gleichzeitig ein Teil des Gesamtbildes ruhend und ein anderer als
bewegt gesehen werden: lese ich z. B. einen gedruckten Anschlag,
der dicht neben einem geschlossenen Rolladen angebracht ist, so
bleibt trotz der Lesebewegungen des Auges der Druck wie immer
auf derselben Stelle, während der Rolladen zur Seite in die Höhe
zu steigen scheint. -- Weiterhin kann unter Umständen Bewegung
wahrgenommen werden, ohne daß sich in der Außenwelt oder auf der
Netzhaut irgend etwas verändert. Wer bei gelähmten Augenmuskeln ein
seitlich erblicktes Objekt fixieren will, hat den Eindruck, daß es
vor ihm flieht, und doch behielt das Objekt sowohl wie das gelähmte
Auge seine frühere Lage bei. Ähnliches erlebt man beim Drehschwindel.
Es handelt sich hier um eine sekundäre Bewegungstäuschung: wer sich
erfolglos bemüht, ein Ding durch Bewegung zu erreichen, weiß, daß es
sich bewegt, und erlebt auch anschaulich einen Bewegungseindruck.
Der Gelähmte bemüht sich nun gleichfalls erfolglos um die optische
Erreichung jenes Sehdinges und erfährt darum den Eindruck des
Fliehens.
Ein sehr sorgfältiges Studium hat man neuerdings einer anderen Klasse
von +Scheinbewegungen+ gewidmet. Läßt man zwei benachbarte Objekte,
etwa parallele Striche nacheinander sichtbar werden und steigert
allmählich die Schnelligkeit der Sukzession, so scheint bei einer
gewissen Geschwindigkeit etwas von dem ersten Strich zum zweiten
herüberzuspringen. Doch vermeint man nicht, das nämliche Ding von
der Ausgangs- zur Endlage kommen zu sehen, vielmehr mutet einem der
Vorgang eher wie eine Bewegung ohne Bewegtes an. Bei noch größerer
Geschwindigkeit, unter 30 σ verschwindet diese Scheinbewegung,
und die beiden Striche werden gleichzeitig und ruhend gesehen.
+Wertheimer+ versucht solche Scheinbewegungen vermittels einer
physiologischen Theorie zu erklären: Die den beiden Parallelen
entsprechenden Erregungen im Gehirn breiten sich allseitig aus.
Infolgedessen treffen die Ausstrahlungen von beiden Erregungen
aufeinander, verstärken sich und erwecken den Eindruck einer
Bewegung. Folgen die beiden Reize zu langsam, so ist die Ausstrahlung
des ersten schon abgeklungen, ehe die zweite einsetzt; folgen
sie zu schnell, so treten die Ausstrahlungen nahezu gleichzeitig
auf, so daß sich keine Richtung der Bewegung herausbilden kann.
Diese physiologische „Querfunktion“ soll auch die Grundlage der
Gestaltauffassung sein. Innerhalb gewisser Grenzen mag diese
geistvolle Theorie dem Sachverhalt entsprechen. Es stehen ihr jedoch
manche Tatsachen entgegen. Setzt man statt der parallelen Striche
parallele, aber entgegengesetzt gerichtete Pfeile, so scheint der
erste Pfeil nicht nur herüberzuspringen, sondern auch eine Wendung zu
machen, was mit der Theorie nicht recht verträglich ist. Auch wird
die Erscheinung bei kurz dauernder und sehr intensiver Exposition
der einzelnen Reize weniger deutlich als bei sehr rascher und wenig
intensiver Darbietung. Diese und andere Umstände weisen darauf hin,
daß nicht ausstrahlende Gehirnreize, sondern ergänzende Vorstellungen
die Grundlage der Scheinbewegungen sind. Eine genauere Begründung
dieser Ansicht kann indes hier nicht geboten werden.
Sehr viele Rätsel gibt das +Stroboskop+ (Kinematograph) den
Psychologen auf. Es sind viele Bilder dargeboten, und doch wird nur
+ein+ bewegtes Ding gesehen; es werden prinzipiell ruhende Bilder
gezeigt, und doch nimmt man Bewegung wahr; es werden die Bilder von
getrennten Phasen der Bewegung vorgeführt, und doch erscheint eine
zusammenhängende Bewegung. Eine allseitig befriedigende Lösung der
Probleme liegt noch nicht vor. In der Hauptsache sind jene höheren
Prozesse zu betonen, die auch bei der einfachen Bewegungswahrnehmung
die erste Rolle spielen. Dazu kommen ähnlich wie bei den
Scheinbewegungen die ergänzenden Vorstellungen aus der sonstigen
Erfahrung, und endlich sind außer der Trägheit der Netzhautprozesse
wohl auch die positiven Nachbilder und die dem bewegten Bilde
folgenden Blickbewegungen an dem Gesamtergebnis beteiligt.
Noch merkwürdiger sind die +autokinetischen+ Bewegungen. Der
Beobachter befindet sich im Dunkelraum und fixiert einen Leuchtpunkt.
Mit einemmal beginnt der Leuchtpunkt sich zu bewegen, obwohl die
Lichtquelle ihren Standort nicht verändert hat, und obwohl die
meßbaren Fixationsschwankungen des Beobachters so gering sind,
daß sie für die wahrgenommene Bewegung gar nicht in Frage kommen.
Die Erklärung liegt auch hier bei den ergänzenden Vorstellungen.
Der Beobachter tritt mit einer gewissen Vorstellung von der Lage
des umgebenden Raumes in das Dunkelzimmer. Da er im Dunkeln keine
Anhaltspunkte, „Verankerungen“ (Wertheimer), für diese seine
Vorstellung hat, kann sie unter Umständen durch eine andere
verdrängt werden, was sehr leicht geschieht, wenn etwa durch ein
Geräusch am Boden die Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird. Wie
nun die Lageveränderung zu dem gesehenen Raum, so wird auch die
Lageveränderung zum vorgestellten Raum als Bewegung aufgefaßt.
Blickt man eine Zeitlang auf einen Wasserfall, oder auf den Boden
vor den Füßen beim Gehen oder auf sonst einen bewegten großflächigen
Gegenstand und richtet dann das Auge auf ein ruhendes Objekt, so
scheint dieses sich für Augenblicke im entgegengesetzten Sinne
zu bewegen. Dieses negative Bewegungsnachbild hat eine stattliche
Reihe von experimentellen Untersuchungen veranlaßt. Es dürfte nicht
in allen Fällen auf die gleichen Bedingungen zurückzuführen sein.
Bisweilen werden unbeachtete Augenbewegungen, eine Nachwirkung
des längeren Hinsehens auf die bewegte Fläche (Nystagmus), der
Grund sein. Doch nicht immer; so nicht bei dem an einer Spirale
gewonnenen Nachbild, das sich gleichzeitig in entgegengesetzter
Richtung auszudehnen und wieder zusammenzuziehen scheint. Da dürften
die abklingenden Netzhautprozesse eine Rolle spielen. In anderen
Fällen werden ergänzende Vorstellungen mitwirken, und endlich kann
die einseitige Muskelanspannung ähnlich wie bei dem Gelähmten eine
Bewegung vortäuschen.
Literatur
W. +Lasersohn+, Kritik der hauptsächlichsten Theorien über den
unmittelbaren Bewegungseindruck. ZPs 61 (1912).
M. +Wertheimer+, Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung.
ZPs 61 (1912).
SIEBTER ABSCHNITT
Elementare Gefühle
1. Abgrenzung der elementaren oder sinnlichen Gefühle
Was man mit dem Wort Gefühl oder Emotion meint, wird einigermaßen
verständlich, wenn man bekannte Erfahrungstatsachen zusammenstellt, wie
die Annehmlichkeit des Süßen, die Widrigkeit des Bitteren, die Wonne
idealer Begeisterung, die Ergriffenheit der Andacht, der Schmerz des
Verlustes, die Freude des Erfolges. Das sind freilich sehr komplexe
Erlebnisse, aber wenn wir in Gedanken alles an ihnen wegnehmen, was
sie von Sinneseindrücken, Vorstellungen und Gedanken einerseits, an
Absichten, Entschlüssen und Strebungen anderseits enthalten, so scheint
es, bleibt doch noch etwas übrig, was all diesen Bewußtseinsvorgängen
gemeinsam ist, nämlich die eigenartige Affektion des Erlebenden. Oder
stellen wir eine Bedeutungsanalyse der Begriffe angenehm und unangenehm
an, so finden wir nichts, was mit Recht als Erkenntnis oder als
Willensvorgang bezeichnet werden dürfte, und doch ist jeder Unbefangene
davon überzeugt, daß mit diesen Worten auf wirkliche Erlebnisse oder
Erlebnisbestandteile hingewiesen wird.
Es erscheint nun aussichtslos, alles, was in der Literatur und im
Leben als Gefühl genannt wird, miteinander vergleichen und aus diesem
Vergleich die elementaren Gefühle ableiten zu wollen. Dafür sind
diese Gesamterscheinungen viel zu verwickelt. Da nun normalerweise
immer +etwas+ angenehm oder unangenehm ist, gehen wir zweckmäßiger
von den einfachsten Erkenntnisgegenständen, den Empfindungen, aus und
untersuchen, ob sich Gefühle an sie anschließen. Wir würden solche
Gefühle dann als sinnliche bezeichnen. Das Recht, von „sinnlichen oder
elementaren“ Gefühlen zu reden, kann uns eine solche Prüfung allerdings
nicht geben. Dazu müssen wir hier voraussetzen, was später glaubhaft
gemacht werden soll, daß diese Gefühle nicht weiter in Teilgefühle
zerlegbar sind und daß sie auch die letzten Bestandteile der sog.
höheren Gefühle, wie der logischen, sozialen oder religiösen, bilden.
2. Die Eigenart der sinnlichen Gefühle
Läßt man einen Sinneseindruck möglichst isoliert auf sich einwirken,
so wird man in vielen Fällen von einem solchen Eindruck angenehm oder
unangenehm berührt, und zwar nicht allein von den Erregungen der
niederen Sinne, wie +Brentano+ meinte. Auch eine leuchtende Farbe,
ein süßer Ton kann bei der experimentellen Darbietung geradezu wonnig
sein. Man hat nun früher die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit
als eine +Eigenschaft+ der Empfindung aufgefaßt; wie man Qualität,
Dauer, Intensität als Seiten der Empfindung kennt, so fügte man als
weitere den Gefühlston hinzu (+Ziehen+). Der Irrtum rührt von der
Schwierigkeit her, Erlebnisse wie Annehmlichkeit zu beobachten.
Unsere Auffassung verbindet nachträglich zu gern die Wirkung eines
Eindruckes mit diesem selbst: wir sehen es scheinbar dem Zucker
an, nicht nur, daß er süß, sondern auch, daß er gut schmeckt.
Bemüht man sich indes, das Erlebnis nicht in seiner nachträglichen
Verarbeitung, sondern in seiner gegenwärtigen Erscheinung zu erfassen,
so will es nicht gelingen, die Annehmlichkeit des Zuckers uns
ebenso gegenüberzustellen wie seine Süßigkeit. Dazu kommen noch die
beachtenswerten Einwände +Külpes+ gegen diese Auffassung: Das Gefühl
zeigt dieselben Eigenschaften wie die Empfindung, nämlich Qualität,
Intensität, Dauer; es kann also nicht selbst Eigenschaft der Empfindung
sein. Sodann können die anderen Eigenschaften der Empfindung nie zu
null werden, ohne daß die Empfindung selbst null würde; das Gefühl
aber kann ohne Beeinträchtigung der Empfindung verschwinden. Endlich
ist die Empfindung durch Qualität, Intensität und Dauer hinlänglich
charakterisiert; das Gefühl trägt zu ihrer Kenntnis nichts Neues
bei, sondern verhält sich in dieser Hinsicht ähnlich wie eine zweite
Empfindung, die zu einer andern hinzutritt.
Eine andere Auffassung will in dem Gefühl nicht eine Eigenschaft
einer schon vorhandenen Empfindung erblicken, sondern eine neue oder
+Begleitempfindung+, die sich mit der zunächst gegebenen verbindet.
So suchte schon +James+ die Gefühle bei den Organempfindungen, und
neuerdings will +Stumpf+, wenigstens für die sinnlichen Gefühle
(zentrale) Mitempfindungen einführen. Schmerz und Wohlsein seien die
einzigen Qualitäten dieser Mitempfindungen, die sich zu den einzelnen
Empfindungen der anderen Sinne hinzugesellten. Dagegen spricht jedoch
außer dem ganz hypothetischen Charakter dieser Auffassung und der
Fremdartigkeit dieser „Sinne“, für die keine Organe nachzuweisen sind,
vor allem der Bewußtseinsbefund. +Stumpf+ läßt die höheren Gefühle,
wie Freude am Erfolg, als eine eigene Klasse neben den Erkenntnis-
und Willensvorgängen bestehen. Wenn man nun z. B. aus dem Erlebnis
der nichtsinnlichen Freude alle Erkenntnis- und Willensmomente
hinwegnimmt und auch die Mitempfindung des Wohlseins, die nach
Stumpf auch solchen Erlebnissen beigemischt ist, so fragt es sich,
ob überhaupt noch ein Erlebnisrest bleibt. Bleibt aber ein solcher,
dann ist die erscheinungsmäßige Verwandtschaft, die zwischen ihm
und den „Mitempfindungen“ herrscht, eine unvergleichlich engere als
die zwischen den Mitempfindungen und den eigentlichen Empfindungen.
-- Derselbe Gedanke entzieht auch der James-Langeschen Theorie den
Boden. Sind wir wirklich nur darum traurig, weil wir weinen (+James+),
oder weil wir irgendwelche Organempfindungen haben (+Lange+), so
bleibt unerklärt, wie denn das merkwürdige Moment des Angenehmen
oder Unangenehmen in unser Bewußtsein gelangen soll, da es weder
eine Empfindung noch eine Eigenschaft der Empfindung sein kann. Ist
doch auch das Gefühl in einer ganz anderen Weise subjektiv, als es
irgendwelche Empfindung sein kann.
3. Die Gefühlsdimensionen und -qualitäten
Wie +Helmholtz+ bei den Empfindungen von Modalitäten (die verschiedenen
Sinne) und Qualitäten (die verschiedenen Empfindungen desselben
Sinnes) sprach, so redet man von verschiedenen Dimensionen der
Gefühle überhaupt und von den verschiedenen Qualitäten innerhalb der
Dimensionen. Die Zahl der Dimensionen ist nach einigen praktisch
unbegrenzt, da die Seele auf jeden Erkenntnisgegenstand anders
reagiert. +Wundt+ hingegen zählt drei Gefühlsdimensionen auf:
Lust-Unlust, Erregung-Beruhigung, Spannung-Lösung. Die Mehrzahl
der Psychologen aber bekennt sich zu der eindimensionalen oder der
Lust-Unlusttheorie. Innerhalb der Dimensionen nehmen nun manche Autoren
eine Mehrheit von Qualitäten an, so namentlich +Wundt+, während andere
nur je eine Qualität gelten lassen, wie +Külpe+.
Es wird genügen, hier die Gründe gegen die Dreidimensionalität
anzuführen, weil sie gleichzeitig gegen jede Mehrdimensionalität
sprechen. Man leugnet nicht, daß es neben Lust-Unlust noch
Erregung-Beruhigung, Spannung-Lösung gibt, vermag aber in den
beiden letzten Erlebnispaaren nicht elementare Gefühlsvorgänge zu
erblicken. Zweifellos herrschen bei diesen Zuständen ausgesprochene
Organempfindungen, wie sie schon durch die Beschleunigung und
nachherige Verlangsamung des Pulses, durch das Anhalten und
nachfolgende Vertiefen des Atmens gegeben sind. Auch gedankliche
Momente können namentlich bei der Spannung vorhanden sein. Alle diese
Faktoren pflegen von leichten Lust-Unlustgefühlen begleitet zu sein.
Sieht man davon ab, so scheint für ein weiteres elementares Gefühl
nichts übrigzubleiben.
Gegen die Mehrheit der Qualitäten aber spricht folgendes: Wenn die
Gefühle etwa mit den Empfindungen wechselten, so müßte es ihrer eine
unglaublich große Zahl geben. Dann wäre es aber schwer begreiflich,
daß wir nur so wenige Qualitäten feststellen können, während wir
doch bei den ebenfalls sehr mannigfachen und nur wenig voneinander
verschiedenen Farbentönen eine gar große Zahl mit Sicherheit
herausgreifen. Auch bereitet es keine Schwierigkeit, alle Arten der
Lust direkt miteinander zu vergleichen. Übrigens dürfte es auch
biologisch hinreichen, wenn die Gefühle nur bekunden, daß unsere
Natur durch einen Eindruck angenehm oder unangenehm berührt wird,
da ja die Mannigfaltigkeit der Eindrücke durch die Empfindungen
ausgiebig zu Worte kommt (+Külpe+). So beachtenswert solche Gründe
auch sind, so schließen sie die Möglichkeit nicht aus, daß einmal
durch einwandfreie Beobachtungen die Mehrdimensionalität der Gefühle
erwiesen wird. Leider stehen viele der bisher angestellten Versuche
zu sehr unter der Herrschaft der Schule, der die Beobachter angehören.
4. Die Beziehungen zwischen Empfindung und Gefühl
Die Abhängigkeit der Gefühle von den Empfindungen wird experimentell
durch die +Eindrucksmethode+ geprüft: man läßt eine Empfindung auf
die Vp einwirken und von ihr das entstehende Gefühl beschreiben.
Andere Methoden erlauben ein mehr objektives Verfahren. So die
+Methode der Herstellung+: die Vp hat etwa am Spektralapparat die
ihr wohlgefälligste Farbe einzustellen. Die +Methode der Wahl+:
aus mehreren Gegenständen, die gleichzeitig geboten sind, ist
der wohlgefälligste oder mißfälligste herauszunehmen, oder alle
Gegenstände sind ihrer Wohlgefälligkeit nach in eine Rangordnung zu
bringen. Endlich die +Reihenmethode+: aus je einem Paar von Objekten
ist das Gefälligere zu bestimmen; wenn dann jedes Objekt mit jedem
anderen gleich oft verglichen ist, so gibt die Häufigkeit der
Vorzugsurteile für die einzelnen Objekte einen gewissen Maßstab für
die Lebhaftigkeit des durch sie geweckten Gefühles. Die objektiven
Methoden sind allerdings weniger rein und müssen durch die subjektive
ergänzt werden, um die Einflüsse der Erfahrung (den assoziativen
Faktor) einigermaßen auszuschließen.
Nach den genannten Methoden läßt sich nun die Abhängigkeit des
Gefühles von den Eigenschaften der Empfindung, der Qualität,
Intensität und Extensität und der Dauer bestimmen. Welche
Empfindungsqualitäten lustvoll, und welche unlustvoll sind, ist
in der Hauptsache schon aus dem Alltagsleben bekannt: das Süße,
Glatte, Warme usw. ist uns angenehm, das Bittere, Kalte, Rauhe
eher unangenehm. Wichtiger ist, daß die niederen Sinne lebhaftere
Gefühle hervorrufen als die höheren. Ihre Meldungen sind ja auch
im allgemeinen von größerer unmittelbarer Bedeutsamkeit für das
Leben, während die Gesichts- und Gehörempfindungen als Bausteine
umfangreicherer Erkenntnisse zurücktreten: ob das Automobil, das
mich zu überfahren droht, rot oder gelb ist, ist mir zunächst
gleichgültig. Es steigert sich darum auch die Gefühlswirkung der
Farben und Töne, wenn sie im Experiment isoliert geboten werden.
Die Abhängigkeit des Gefühles von der Empfindungs+intensität+ hat
+Lehmann+ genauer untersucht. Die Empfindung muß die „intensive
Schwelle“ übersteigen, d. h. sie muß eine gewisse Stärke erreichen,
um überhaupt gefühlsbetont zu sein. Mit wachsender Intensität steigt
dann Lust und Unlust. Während aber die Lust bei einem gewissen
Intensitätsgrad ihren Höhe- und Wendepunkt erreicht, von dem aus
sie abnimmt, um schließlich zur Unlust zu werden, scheint diese nur
einfachhin zuzunehmen. Der Umschlag der Lust in Unlust brauchte aber
nicht auf der Intensitätszunahme als solcher zu beruhen. Es dürften
vielmehr allmählich andere Empfindungen hinzutreten, wie bei der
Intensitätssteigerung des Lichtes der Blendungsschmerz, die unangenehm
sind. -- Zu bemerken ist noch, daß manche Empfindungsqualitäten, die
im allgemeinen als unlustvoll gelten, stark herabgesetzt, angenehm
werden, so manche Gerüche, während andere, die allgemein als lustvoll
bekannt sind, bei größerer Intensität unangenehm werden, so das
Süß. Beide Tatsachen lassen sich aber auch den soeben dargestellten
Gesetzmäßigkeiten zwischen Gefühl und Empfindungsintensität
unterordnen, wenn man annimmt, daß z. B. jene Gerüche sich für
gewöhnlich in einem zu hohen Intensitätsgrade befinden.
Ähnlich wie bei der Intensität verläuft die Gefühlskurve bei der Dauer.
Nachdem die Zeitschwelle überschritten ist, steigen die Gefühle an.
Nach einiger Zeit tritt Abstumpfung ein, jedoch bei der Unlust später
als bei der Lust. Der schließliche Wandel der Lust in Unlust scheint
auch hier nur auf indirektem Wege bewirkt zu werden.
5. Verbindung und Lösung der Gefühle
Wer mehrere Gefühlsdimensionen annimmt, kann ohne weiteres die
Verbindung mehrerer Gefühle aus verschiedenen Dimensionen einräumen:
lustvolle Erregung, bange Spannung sind uns aus der Erfahrung wohl
bekannt. Umstritten ist jedoch die Vereinigung verschiedener Gefühle
derselben Dimensionen. +Wundt+ glaubt an eine solche Verbindung zu
einem +Totalgefühl+. Ähnlich wie nach ihm Empfindungen zu einem
wesentlich neuen Eindruck verschmelzen, so vereinigen sich nach dem
Prinzip der Einheit der Gemütslage die Partialgefühle nicht wie
Summanden, sondern wie die Elemente einer chemischen Verbindung. Die
Experimente deuten jedoch eher darauf hin, daß wenigstens Lust und
Unlust sich nicht einfachhin mischen. Sie wechseln vielmehr ab, je
nachdem der die Lust oder der die Unlust bedingende Eindruck beachtet
wird. Dagegen dürfte eine Zusammensetzung von Teilgefühlen gleicher
Qualität vorkommen, z. B. in dem +Gemein-+ oder +Lebensgefühl+, das
aus den verschiedenen Organempfindungen entspringt.
Von hoher Bedeutung für unser Willensleben ist die +Übertragung der
Gefühlstöne+. Ein Ort, an dem wir Unwillkommenes erlebt, wird uns
selbst unlieb u. ä. m. Man hat diese Tatsache bisweilen nach dem
Schema der assoziativen Verbindung zu erklären versucht: wie sich eine
Vorstellung a mit der Vorstellung b assoziiert, wenn beide gleichzeitig
im Bewußtsein sind, so verknüpfe sich das anderweitig verursachte
Gefühl mit der Vorstellung, die zufällig gleichzeitig im Bewußtsein
sind, so verknüpfe sich das an der des Ortes. Allein die Gefühle sind
nicht als derartig selbständige Bewußtseinsinhalte zu erweisen. Im
Gegenteil, die Unmöglichkeit, Gefühle für sich allein oder überhaupt
zu reproduzieren -- wir können uns wohl gedanklich daran erinnern,
ein bestimmtes Gefühl verspürt zu haben, aber wir können uns jenes
Gefühl selbst nur dadurch wieder anschaulich vergegenwärtigen, daß
wir uns das veranlassende Erlebnis vorstellen -- zeigt das Gefühl
als eine Folgeerscheinung, nicht als selbständigen Vorgang. Auch
die Theorie der Gefühle, zu denen die anderweitigen Beobachtungen
hindrängen, verträgt sich nur schwer mit dieser Erklärung. Es dürfte
vielmehr durch die Wahrnehmung des Ortes die Erinnerung an jenes
Erlebnis mit angeregt werden und aus dieser mehr oder weniger bewußten
Erinnerung das Gefühl stammen, das wir dann auf den Ort als seine
Quelle beziehen. Denn einerseits steht fest, daß die Gefühle dem vollen
Bewußtwerden der zugehörigen Vorstellungen vorauseilen, und anderseits
werden wir bei der Besprechung der Assoziationen sehen, wie vielerlei
Begleitvorstellungen jede Wahrnehmung wachruft. Es wäre übrigens eine
bedeutsame Aufgabe, festzustellen, wieviel nur übertragene Gefühlstöne
unsere Umwelt aufzuweisen hat und welches Lebensalter für diese
Übertragung am empfänglichsten ist.
Die sog. +Analogien der Empfindung+, das „schreiende“ Rot, das
„düstere“ Schwarz, die „freudigen“ Töne usw., beruhen primär nicht
auf der Übertragung des Gefühlstones. Es gleichen sich vielmehr die
analogen Empfindungen in den Gefühlen, die sie in uns erwecken:
düstere Farben und tiefe Töne stimmen ernst, leuchtende Farben und
hohe Töne erregen und heitern auf. Diese ursprünglichen Wirkungen
bedingen nun ihre zweckbewußte Verwendung, und erst dieser Umstand
läßt auch die Übertragung des Gefühlstones ins Spiel treten: Wir
verwenden das Schwarz als Zeichen der Trauer, weil es der Trauer
entsprechende Stimmungen fördert, aber wegen dieser Verbindung
des Schwarz mit den Trauerfällen des Lebens vertieft sich durch
Gefühlsübertragung der Stimmungswert des Schwarz.
6. Die physiologischen Begleiterscheinungen der Gefühle
Die Gefühle verschaffen sich auf mannigfache Weise in dem Verhalten
des menschlichen Körpers Ausdruck. Sie beeinflussen den Herzschlag
(Puls), das Atmen, die Blutverteilung, die Muskelkraft. Es bestand
nun die frohe Hoffnung, an bestimmte Gefühle möchte in eindeutiger
Weise eine bestimmte physiologische Veränderung gebunden sein.
Gelang es dann durch die unmittelbare sinnliche Einwirkung
(+Eindrucksmethode+) oder durch die willkürliche Erinnerung der Vp
(+Reproduktionsmethode+), ein beliebiges Gefühl zu verursachen, so
konnte man mit Leichtigkeit die zugehörige körperliche Veränderung
als das Symptom jenes Gefühles entdecken, eine Entdeckung, die später
den umgekehrten Weg von der Feststellung des Symptoms zur Erkenntnis
des herrschenden Gefühles eröffnet hätte. Der Herzschlag ließ sich
durch den Kardiographen, der Puls durch den Sphygmographen, die
Atmung durch den Pneumographen und die Blutverteilung durch den
Plethysmographen nachweisen. Die drei ersten Apparate übertragen den
von den verschiedenen Organen ausgehenden Druck pneumatisch oder
mechanisch auf einen Hebel, dessen freies Ende mit einer Schreibfeder
versehen ist, die einer rotierenden Papierschleife anliegt. Der
Plethysmograph ist im wesentlichen ein mit Wasser gefülltes Gefäß,
in welches ein Körperglied unter wasserdichtem Verschluß eingeführt
wird. Bei manchen seelischen Erregungen drängt nun das Blut in die
Extremitäten hinein, bei andern zieht es sich aus ihnen zurück.
Dadurch wird das Volumen des Gliedes im Plethysmographen größer oder
geringer, was nach außen durch das Fallen oder Steigen des Wassers
im Apparate bemerkbar ist. Weiter zeigt das Galvanometer einen
Ausschlag, wenn die im Stromkreis befindliche Vp lebhaftere Gefühle
verspürt (psychogalvanisches Phänomen). Die Muskelkraft endlich wird
durch Hebeleistungen am Ergographen oder durch Druckleistungen am
Dynamometer gemessen.
Die Erwartungen, die man an diese Methoden geknüpft hatte, schienen
zunächst durchaus erfüllt, bei tieferem Eindringen aber völlig
enttäuscht zu werden. Die Versuchsresultate widersprachen sich. Je
mehr indes die Selbstbeobachtung der Vp herangezogen wurde, um so
mehr lösten sich die Widersprüche. Zunächst sind die physiologischen
Schwankungen nicht allein an die Gefühle gebunden, sondern auch an
die psychische Tätigkeit, insbesondere an die willkürliche Bewegung.
Außerdem ist das Verhalten der Vpn bei den in ihnen erzeugten
Erlebnissen nicht immer das gleiche, wodurch notwendig auch die
äußere Reaktion eine andere werden muß. Berücksichtigt man diese und
andere Fehlerquellen, so ergibt sich doch eine verhältnismäßig hohe
Übereinstimmung der Versuchsresultate (+Leschke+). Es mag genügen,
folgende zu erwähnen. Die Lust beschleunigt die Atmung und macht
sie flacher, erhöht und verlängert in der Regel auch den Puls; das
Blut wird gegen die Peripherie und zum Gehirn verschoben. Diese
Veränderungen lassen sich als eine Tendenz zur Erhaltung der Lust
deuten; denn „die bessere Blutversorgung in Peripherie und Gehirn
bewirkt eine größere periphere wie zentrale Aufnahmefähigkeit für
den lustbetonten Reiz“ (+Fröbes+). Bei Unlustreizen verhalten sich
die Vpn verschieden, entweder abwehrend oder sich ergebend. Demgemäß
ist die Atmung entweder flach und gehemmt, oder nach anfänglicher
Stockung tiefer und langsamer. Die Pulse sind verkürzt und
erniedrigt; das Armvolum sinkt; im Gehirn herrscht Anämie, wodurch
die Unlustreize schließlich unwirksam werden[6].
7. Theorie der sinnlichen Gefühle
Wir dürfen hier von jenen theoretischen Anschauungen absehen, die wie
die James-Langesche oder Stumpfsche Theorie die Gefühle überhaupt als
besondere Bewußtseinserscheinungen beseitigen. Auch die Bestimmung
älterer Philosophen, das Gefühl sei die Erkenntnis des Nutzens oder
Schadens eines Reizes, leugnet die Eigenart der sinnlichen Gefühle,
indem sie diese zu Erkenntnisvorgängen macht. Man wird zwar behaupten
können, daß sich die Lust im allgemeinen an förderliche, die Unlust im
allgemeinen an schädliche Reize anschließe, aber darum ist das Gefühl
noch keine Erkenntnis dieser Zweckmäßigkeit. Dasselbe gilt von der
Herbartschen Meinung, das Gefühl sei das unmittelbare Innewerden der
Hemmung oder Förderung der Vorstellungen (+Nahlowsky+). Auch diese
Theorie ist nicht aus der Beobachtung der Wirklichkeit geschöpft.
Der Grundgedanke der heutigen Theorien lautet: Lust ist Funktionslust,
Unlust ist Funktionsunlust, d. h. dem Gefühl entspricht nicht ein
besonderer physiologischer Vorgang, sondern eine bestimmte Weise jener
physiologischen Prozesse, die der Empfindung dienen. Und zwar kommen
dabei die zentralen, nicht die peripheren Prozesse in Betracht,
da zwischen den peripher und den zentral erregten Gefühlen kein
Unterschied besteht. A. +Lehmann+ hat diese Theorie etwas weiter
ausgebaut: Wird der Energieumsatz durch den Stoffwechsel ausgeglichen,
dann ist der psychophysische Prozeß von Lust begleitet, andernfalls
von Unlust. Einzelne Psychologen schränken diesen Gedanken auf die
Organempfindungen ein: nicht etwa die Farbenempfindung selbst, sondern
die mit der Farbenempfindung vorhandene Organempfindung ist lust- oder
unlustvoll. Je nachdem man nun annimmt, daß die Seele nur auf die
Funktionsweise der der +Empfindung+ dienenden Prozesse mit einem Gefühl
reagiert, oder daß auch die Funktionsweise anderer Vorgänge ihren
Widerhall im Gefühl findet, wird man berechtigt sein, Gefühle ohne
Vorstellungsgrundlage anzuerkennen oder nicht. Die bisher beigebrachten
Beobachtungen von völlig grundlosen Gefühlen der Angst oder der
Freude schließen diffuse, wenig beachtete Organempfindungen nicht mit
Sicherheit aus, um so weniger, wenn man auch hier die Möglichkeit
berücksichtigt, daß die Gefühle früher klar bewußt werden als die
Vorstellungen. Läßt man sie nun gar (im pathologischen Zustand) die
Bewußtseinsschwelle vor den Empfindungen erreichen, dann hat man wohl
den besten Ausgleich beider Ansichten.
Literatur
A. +Lehmann+, Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens. 2.
Aufl. 1914.
G. +Störring+, Psychologie des Gefühlslebens. 1916.
Fußnoten:
[6] E. +Küppers+ (Über die Deutung der plethysmographischen Kurve).
ZPs 81 [1919] ordnet die Blutverschiebungen nicht den Gefühlen,
sondern den Verhaltungsweisen des Erlebenden zu.
ACHTER ABSCHNITT
Das elementare Wollen
Seit alters drängte sich dem vorwissenschaftlichen Denken wie der
zünftigen Philosophie die Überzeugung auf, daß es im Seelenleben
Erscheinungen gibt, deren Kern auf keine der bisher besprochenen
Erlebnisformen zurückführbar ist, die darum als besondere Klasse
unter den psychischen Elementen aufgezählt werden müssen. Die Sprache
hat für diese Phänomene den Ausdruck Wollen oder Streben geschaffen.
Während nun in früheren Zeiten kein Zweifel gegen diese allgemeine
Überzeugung aufkommen konnte, legte man in der ersten Blütezeit der
experimentellen Psychologie keinen besonderen Wert auf diese allgemeine
Übereinstimmung, sondern schloß sich dem englischen Sensismus an,
der das Wollen als Elementarvorgang entschieden ablehnte. Heute, wo
man Wesen und Wert der Selbstbeobachtung inner- und außerhalb des
Experimentes wissenschaftlich erfaßt hat, trägt man Bedenken, einer so
allgemeinen Anschauung leichthin zu widersprechen, und das um so mehr,
als auch die experimentellen Untersuchungen in wichtigen Punkten zu der
vorexperimentellen Meinung zurückführen. Gleichwohl sind wir von einer
Einheitlichkeit der Lehre noch weit entfernt.
1. Überblick über die verschiedenen Willenstheorien
Kein Psychologe bestreitet das Vorhandensein von Erlebnissen,
die als Ganzes den Namen von Willensvorgängen verdienen. Sehr
viele der neueren Psychologen hingegen glauben diese Vorgänge
auf Erkenntnis oder Gefühl zurückführen zu können. So meint
+Spencer+, die willkürliche Handlung unterscheide sich nur dadurch
von der unwillkürlichen, daß bei ihr die auszuführende Bewegung
zuvor vorgestellt wird; im übrigen aber sei jede Willenshandlung
nichts anderes als eine Folge von Vorstellungen, an die sich
dank angeborener Dispositionen die äußere Handlung anschließt.
Wir werden später Tatsachen kennen lernen, die zugunsten einer
solchen Auffassung sprechen. Ganz ähnlich urteilt Th. +Ziehen+.
Statt des Willensaktes nimmt er nur eine „intensive, von starken
Gefühlstönen begleitete Zielvorstellung“ an. Auch +Meumann+
gehört neben +Ebbinghaus+, +Ribot+ und +Janet+ zu dieser ersten
Gruppe. Wenn Meumann auch von der „Zustimmung“ als dem Ursprung
der willkürlichen Handlung spricht, so will er damit doch
kein nichterkenntnismäßiges Element einführen. +Münsterberg+
hingegen suchte das Charakteristische der Strebevorgänge in den
Spannungsempfindungen, die der erwarteten Bewegung vorausgehen. Als
grundsätzlichen Gegner der Genannten betrachtet sich +Wundt+. Er
bezeichnet seine Psychologie mit Vorliebe als voluntaristische, da
erst sie der Eigenart des Wollens gerecht werde. Der Willensvorgang
ist nach ihm ein Affekt, der in seinem eigenen Verlauf seine Lösung
findet. Es sind also Gefühle, in die +Wundt+ das Wesen des Wollens
verlegt. Eine letzte Gruppe endlich erklärt das Wollen als einen von
Vorstellungen und Gefühlen wesentlich verschiedenen Vorgang. So außer
den Aristotelikern namentlich +Lotze+ und von den neueren +Pfänder+,
+Schwarz+, +Ach+ und +Michotte+.
2. Die experimentelle Untersuchung des Willens
So beachtenswert die einhellige Annahme eines ursprünglichen
Wollens durch die überwiegende Mehrheit der älteren Philosophen
auch war, sie verlor an Bedeutung, als man einerseits die
Schwierigkeit und Unzuverlässigkeit einer unkontrollierbaren
Selbstbeobachtung, anderseits gewisse Tatsachen kennen lernte,
die ein eigentliches Wollen überflüssig erscheinen ließen. Man
beobachtete nämlich, wie sich bisweilen die äußere Handlung rein
mechanisch ohne Dazwischenkunft eines besonderen Willensaktes,
ja vielfach ganz gegen die Absicht des Handelnden an bestimmte
Vorstellungen anschloß. Als man später die Willenshandlung in der
Form einfachster Reaktionsbewegungen, wobei etwa auf das Hören
eines Signals ein Taster niederzudrücken war, dem Experiment
unterwarf, stellte sich heraus, daß die Vpn nichts von einem
Willensakt erlebten. Die fortschreitende Technik des psychologischen
Experimentes zeigte allerdings, daß hier ein doppelter Fehler
begangen war. Erstens braucht der bestimmende Willensakt nicht
während der gewollten Handlung aufzutreten. +Ach+ zeigte vielmehr,
daß von dem Vorsatz determinierende Tendenzen ausgehen, die den
Verlauf der Willenshandlung auch ohne Erneuerung des Willensaktes
sicherstellen. Man hatte sonach den Willensakt an einer verkehrten
Stelle erwartet: nicht bei der Ausführung des Versuches, sondern bei
der willkürlichen Übernahme der Anweisung des Versuchsleiters hätte
er gesucht werden müssen. Zweitens hatte man mechanisierte Vorgänge
mit von Haus aus einfachen verwechselt: geläufige Fingerbewegungen
enthalten kaum noch irgendwelche bedeutsamen Erlebnisse, sind
also zum Studium des Willensvorganges ungeeignet. +Ach+ führte
darum die fruchtbare Neuerung ein, durch vorgeschobene Hindernisse
einen möglichst ausgesprochenen Willensakt zu veranlassen. Er ließ
zuvor Silbenpaare einprägen, bot alsdann die erste der gelernten
Silben mit der Anweisung, nicht die hinzugelernte auszusprechen,
sondern eine beliebige andere Silbe zu nennen bzw. zu der ersten
einen Reim zu bilden u. dgl. Die vorausgehende Einprägung schuf
ein Hindernis für die Ausführung der Vp. Um dieses zu überwinden,
bemühte sie sich, namentlich wenn sie erfahren, wie die eingeprägte
Silbe sich gegen jede Absicht durchzusetzen suchte, mit einem recht
energischen Willensakte die verlangte Reaktion sicherzustellen. Auf
die Bedenklichkeiten dieses experimentellen Verfahrens brauchen wir
hier nicht einzugehen. Es war jedenfalls insofern erfolggekrönt, als
es +Ach+ zum erstenmal gelang, den Willensakt wirklich beobachten
zu lassen. Einen andern glücklichen Versuch unternahm +Michotte+.
Er führte experimentell einen +Wahlakt+ herbei, indem er seinen
Vpn je zwei Zahlen bot mit der Aufforderung, sich auf ernsthafte
Gründe hin zu entscheiden, ob sie die vorgezeigten Zahlen addieren
oder subtrahieren, bzw. in anderen Versuchen multiplizieren oder
dividieren wollten. Statt der Ausführung der von den Vpn gewählten
Rechenoperation verlangte er eine Reaktion mit dem Morsetaster.
So gewann er gegenüber +Ach+ den Vorteil, den Willensakt in die
sogen. Hauptperiode des Versuches zu bekommen, während bei +Ach+
der energische Vorsatz jedesmal unmittelbar vor dem eigentlichen
Experiment lag, und zweitens gestattete der Verzicht auf die
Verwirklichung der gewählten Rechenoperation, den Versuch sofort
nach dem Wahlakt abzubrechen, wodurch die schwierige Beobachtung
dieses Aktes ungemein gefördert wurde. Trotz der Geringfügigkeit
des Wahlgegenstandes erlebten alle Vpn eine ernsthafte Wahl, die
mit den Entschließungen des Alltags grundsätzlich vergleichbar war.
Auch verschlug es nichts, daß die Vpn die Rechnung nicht ausführen
mußten; denn die Tasterreaktion nahm ganz und gar den Charakter einer
Verwirklichung des Vorsatzes an. Aber nur ganz allmählich erlernten
die Vpn ihr flüchtiges Erlebnis beobachten und beschreiben.
3. Das elementare Wollen nach den experimentellen Ergebnissen
Die Untersuchungen von +Michotte+ sowie die von +Ach+ und seinen
Schülern führten einhellig zu dem Resultat: es gibt ein eigentliches
Erlebnis des Wollens. Vorstellungen, Spannungsempfindungen und Gefühle
können es gelegentlich begleiten, sind ihm jedoch nicht wesentlich.
Auch unterscheidet sich dieses Erlebnis deutlich von jeder rein
assoziativen Folge von Vorstellungen oder Bewegungen. Seine Eigenart
beruht darin, daß es eine innere Tätigkeit ist, und zwar eine solche,
die man nur dann richtig beschreibt, wenn man das Ich als Subjekt oder
Ausgangspunkt dieser Tätigkeit nennt. Diese Betätigung des Subjektes
ist durchaus nicht mit der Konstatierung „ich will“ zu verwechseln.
Sie ist vielmehr die Stellungnahme des Subjektes zu einem Ziel, sie
ist das, was wir als „Streben“ bezeichnen. Es ist ihr aber nicht
wesentlich, wie +Ach+ meinte, daß sie sich stets auf ein zukünftiges
Tun bezieht; die Wahlentscheidungen bei Michotte waren Willensakte, die
ausschließlich die Gegenwart berücksichtigten.
Man wird die genannten Verschiedenheiten des Wollens wohl kaum als
+Qualitäten des Willensaktes+ auffassen dürfen. Als solche findet
man öfters Wollen und Widerstreben genannt. Leider kann sich diese
Unterscheidung vorerst noch nicht auf experimentelle Befunde stützen,
weshalb der Anerkennung eines negativen Wollens gleichmäßig seine
Verwerfung gegenübersteht, indem man behauptet, das Widerstreben sei
nur das Wollen eines andern Zieles.
Sehr geläufig ist dagegen der Alltagserfahrung die Unterscheidung
verschiedener +Intensitäten des Wollens+. Wir kennen energisches und
flaues Wollen. Auch +Ach+ unterscheidet das ausgeprägte primäre und
das schwache Wollen. Allein die hier ganz wesentliche Frage, ob die
gemeinhin wahrzunehmende Steigerung des gesamten Willensaktes auch
seinem inneren Kern, nämlich dem elementaren Wollen beizulegen ist,
oder ob nur die Ausstaffierung des Willensaktes durch lebhaftere
Gefühle, stärkere Spannungsempfindungen, lautere Beteuerungen eine
Intensitätssteigerung vortäuscht, ist heute noch nicht mit Sicherheit
zu beantworten. Manche Versuchsergebnisse deuten eher in die Richtung,
daß der Willensakt nicht intensiver, sondern nur unbedingter werden
kann, d. h. daß er sein Ziel nicht mit vermehrter Kraft, sondern um
höheren Preis anstrebt.
Sehr bedeutsam für die Auffassung des Willensaktes ist endlich die
Beobachtung +Michottes+, die sich im Grunde auch bei +Ach+ finden
läßt, daß das Wollen nicht an eine bestimmte gewissermaßen äußere Art
des Erlebens gebunden ist. Das charakteristische Tätigkeitserlebnis
des Wollens kann vielmehr gleichsam die Seele der verschiedensten
Prozesse bilden: Worte, Gesten, inneres Meinen, inneres Hinzielen ist
bald ein willentlicher, bald ein unwillentlicher Vorgang, je nachdem
sich das eigentliche Wollen mit ihnen verbindet oder nicht. Anderseits
sprechen gute Beobachtungen dafür, daß es ein isoliertes Wollen, einen
reinen Willensakt nicht gibt: wie die Seele den Körper, so braucht der
Willensakt eine Verhaltungsweise, in der er sich kundgibt.
Das von +Ach+ und +Michotte+ untersuchte Wollenserlebnis ist zwar
nicht als elementares zu bezeichnen, sondern als vollbewußtes. Weitere
Untersuchungen zeigen jedoch, daß der „Willenszug“ bei ihm der gleiche
ist wie beim triebhaften Wollen. Beide unterscheiden sich nur durch das
zum Willensakt hinzutretende Wissen vom Wollen und seinen Zielen. Der
+Trieb+ ist das naturhafte, nach Akt und Ziel nicht beachtete Streben.
Literatur
N. +Ach+, Über den Willensakt und das Temperament. 1910.
A. +Michotte+ et N. +Prüm+, Etude expérimentale sur le choix
volontaire et ses antécédents immédiats. Arch. de Psych., Bd. 10.
1910.
J. +Lindworsky+, Der Wille.³ 1923.
II. Buch
DIE VORSTELLUNGSERNEUERUNG ALS GRUNDLAGE DER HÖHEREN PSYCHISCHEN
LEISTUNGEN
Verfügten wir nur über die bisher aufgezählten Fähigkeiten des
Seelenlebens, dann wäre ein nennenswerter Fortschritt nicht zu
erreichen. Ein ungefähres, aber längst nicht ausreichendes Bild
von der Hilflosigkeit eines solchen Geistes gibt uns der Zustand
greisenhafter Gedächtnisschwäche, bei der kein neuer Eindruck haften
bleibt. Die psychologische Tatsache also, die wir bei der Analyse
und Erklärung der bis jetzt beschriebenen Bewußtseinserscheinungen
ganz oder fast ganz unbeachtet ließen, die wir jedoch bei der
Besprechung der höheren Leistungen nicht mehr missen können, ist die
Tatsache der +Vorstellungserneuerung+. Wenn wir wie immer von dem
unmittelbar Gegebenen ausgehen, dann treffen wir bei dem Erwachsenen
die Überzeugung, daß uns früher Erlebtes wieder in den Sinn kommt. Die
erkenntniskritische Frage, ob diese Erinnerungen mit der tatsächlichen
Vergangenheit übereinstimmen, und die erkenntnispsychologische Frage,
wie es überhaupt zu dem Bewußtseinsinhalt „mein früheres Erlebnis“
kommt, darf an dieser Stelle ausgeschaltet werden.
ERSTER ABSCHNITT
Die allgemeinen Gesetze der Vorstellungserneuerung
1. Die Wiedervergegenwärtigung vergangener Erlebnisse ist eine überaus
mannigfache, allzu mannigfach, so möchte es scheinen, als daß sie sich
irgendwelchen Gesetzen einordnen ließe. Fragen wir uns aber zunächst
einmal nach den +Erlebnisarten, die sich reproduzieren lassen+, so
vermissen wir darunter alsbald Willensakte und Gefühle. Wir erinnern
uns zwar an die Tatsache, daß wir einen Entschluß gefaßt haben und daß
wir traurig waren, ja bei dem Gefühl ist noch etwas mehr vorhanden:
taucht die Erinnerung an den Anlaß der früher erlebten Trauer auf,
dann werden wir aufs neue traurig, aber dieses Gefühl trägt nicht
den Erinnerungscharakter, wie die es veranlassende Vorstellung.
Auch sind wir nicht imstande, ein Gefühl unmittelbar und für sich
wieder lebendig zu machen, sondern müssen uns zuvor an seinen Anlaß
erinnern. Diese Unmöglichkeit, sich des Gefühles zu erinnern, stimmt
auch ganz zu der theoretischen Auffassung, die wir uns über das
Wesen des Gefühls bildeten, ebenso wie es in der Natur der Akte (des
Erkennens und Wollens) liegt, nicht reproduzierbar zu sein. Es bleiben
somit für die Reproduktion übrig jene Eindrücke, die unmittelbar von
Empfindungen herrühren. Es hat sich aber bei Reproduktionsversuchen
gezeigt, daß nicht nur die +sinnlichen Eindrücke+ wieder ins Bewußtsein
gerufen werden können, sondern auch die Beziehungen, die wir an ihnen
entdeckt haben: wir erinnern uns auch an +Sachverhalte+. Oft ist es
sogar zunächst ein Sachverhalt, der sich bei der Bemühung um eine
Reproduktion einstellt: so besinnen wir uns auf einen Namen und finden
zunächst, er sei ganz ähnlich einem anderen. Es muß hier allerdings
noch dahingestellt bleiben, ob die Reproduktion eines Sachverhaltes
gleich unmittelbar ist wie die von sinnlichen Eindrücken.
2. Vorstellungen und Sachverhalte tauchen beim Besinnen oder
gelegentlich auch ungesucht in unserer Erinnerung auf. Sammelt man
solche Erinnerungserlebnisse in genügender Zahl, so offenbart sich
trotz aller Buntheit der Einfälle eine gewisse +Gesetzmäßigkeit+,
die zum Teil schon +Aristoteles+ aufgefallen ist. Eine Wahrnehmung
oder auch eine Vorstellung ist häufig von einer Reproduktion gefolgt,
deren Gegenstand in +örtlicher+ oder +zeitlicher Berührung+ mit dem
Gegenstand der vorausgehenden Wahrnehmung oder Vorstellung sich befand;
der Anblick einer Straße ist gefolgt von der Erinnerung an einen
Unfall, der sich dort abgespielt. Die Regelmäßigkeit, mit der unter
solchen Bedingungen eine Vorstellungserneuerung eintritt, und die
eigenartige Erlebnisweise, die manchmal dabei zu beobachten ist: die
vorausgehende Wahrnehmung berührt uns merkwürdig; ist inhaltsschwerer
als andere; läßt uns nicht so schnell los; wir spüren, wie in unserem
Bewußtsein sich irgend etwas herausarbeitet usw.; all dies bestimmt
uns sehr bald, in der vorausgehenden Wahrnehmung die Ursache jener
Vorstellungserneuerung zu erblicken. Wir sagen: jene Wahrnehmung
erinnert mich an, wir bezeichnen sie als das +Reproduktionsmotiv+ und
behaupten, es gehe von ihr eine +Tendenz+ aus, die mit ihrem Gegenstand
zeitlich und örtlich verknüpften Gegenstände ins Bewußtsein zu rufen.
Eine gleiche Tendenz entdeckte sodann Aristoteles hinsichtlich der dem
Wahrnehmungsgegenstand entgegengesetzten und endlich der ihm ähnlichen
Dinge: +Gegensätzliches+ und +Ähnliches+ rufen sich wechselseitig ins
Bewußtsein.
Zu diesen drei fand man in unserer Zeit noch andere
Reproduktionsfälle. Nicht nur Vorstellungen von Gegenständen, die
örtlich oder zeitlich mit andern Gegenständen verknüpft sind, werden
zum Reproduktionsmotiv für die Vorstellungen eben jener Gegenstände,
auch Vorstellungen, die ersteren nur inhaltlich ähnlich sind, rufen
letztere herbei: Die Farbe blau ruft die Wortvorstellung blau ins
Bewußtsein, aber auch die Farbe violett soll von dem Kinde, das
sie zum erstenmal sieht, blau benannt werden; hier hätte also die
Wahrnehmung violett dieselbe Vorstellung reproduziert, wie das ihm
ähnliche blau. Dieses Gesetz der +Substitution+ ist natürlich nicht
mit dem aristotelischen Gesetz der Ähnlichkeit zu verwechseln.
Weiterhin werden bisweilen Vorstellungen bewußt, ohne daß eines der
genannten vier Gesetze dafür verantwortlich gemacht werden kann. Es
sind das immer Vorstellungen, die kurze Zeit zuvor erlebt wurden. Man
spricht da von der +Perseverationstendenz+ (G. E. +Müller+): eine
Vorstellung, die einmal im Bewußtsein war, hat die Neigung, bald
wieder bewußt zu werden. Endlich treten hie und da Vorstellungen
ins Bewußtsein ohne jedes erkennbare Reproduktionsmotiv. Man nannte
sie +freisteigende Vorstellungen+. Die Zahl der sicher erwiesenen
Fälle von freisteigenden Vorstellungen ist indes nicht so groß --
zumeist hatte man das Reproduktionsmotiv übersehen oder wieder
vergessen --, daß durch sie die allgemeine Gesetzmäßigkeit der
Vorstellungserneuerung in Frage gestellt würde.
3. Man versuchte nun, die +drei aristotelischen Gesetze auf eines
zurückzuführen+. Zunächst das +Kontrastgesetz+. Gegensätze finden
sich bisweilen in der Natur beieinander, so Berg und Tal, Festes
und Flüssiges. Sodann machen Gegensätze einen starken Eindruck
auf den Erlebenden. Man wird darum eher auf sie aufmerksam und
vereinigt so die gegensätzlichen Inhalte im Bewußtsein, während
nichtgegensätzliche Inhalte unter sonst gleichen Bedingungen nur
vereinzelt und getrennt aufgefaßt werden. Aus dem nämlichen Grunde
stellt die Sprache so häufig die Gegensätze nebeneinander: jung
und alt, arm und reich. Es lassen sich also gar manche Fälle der
Kontrastreproduktion auf die Berührung in Raum und Zeit zurückführen.
In andern Fällen weisen die Gegensätze Ähnlichkeiten auf: schwarz
und weiß sind darin einander verwandt, daß sie beide neutrale Farben
sind und beide an einem Ende der neutralen Qualitätenreihe stehen.
Hier bleibt sonach eine Reduktion auf das Ähnlichkeitsgesetz möglich.
Aus diesem Grunde läßt man das Kontrastgesetz heute nicht mehr als
ursprüngliches Reproduktionsgesetz gelten.
Auch das +Ähnlichkeitsgesetz+ dürfte sich als nicht elementar
erweisen. Die bis jetzt bekannten Fälle, wo eine Vorstellung nicht
eine mit ihr örtlich oder zeitlich verbundene, sondern eine nur
ähnliche Vorstellung weckt, zeigen alle eine +partielle Gleichheit+
beider Vorstellungen: Wenn die Silbe pön statt der gleichzeitig
mit ihr gesehenen Silbe ref die Silbe lön ins Bewußtsein ruft, so
ist dem Reproduktionsmotiv pön und der reproduzierten Vorstellung
lön der Teil ön gemeinsam. Dieser Teil perseveriert aus der ersten
Vorstellung und zieht nach dem Gesetz der raum-zeitlichen Berührung
den früher mit ön gleichzeitig gesehenen Bestandteil l nach sich
(+Peters+). Partielle Gleichheit kann vorhanden sein, auch wenn
die Dinge nicht so einfach liegen wie in diesem Fall. Es möge eine
kleine schwarze Sicherheitsnadel die Vorstellung einer großen weißen
reproduzieren. Auch da haben wir außer der Zweckgleichheit die
Gleichheit der Behandlungsweise und der Gestalt. Endlich wird in
vielen Fällen die Reproduktion zwischen ähnlichen Vorstellungen keine
unmittelbare sein, sondern durch die Reproduktion eines Sachverhaltes
bedingt werden: an die Wahrnehmung der Vorstellung eines Dinges
schließt sich das Wissen an: hierzu gibt es etwas Ähnliches. Überdies
können, wie +Selz+ gezeigt hat, die meisten der bisher erwiesenen
Fälle der Ähnlichkeitsreproduktion aus dem später zu besprechenden
Gesetz der Komplexergänzung erklärt werden.
Somit bleibt von den drei aristotelischen Gesetzen +nur das
Berührungsgesetz als fundamentales+ übrig. Damit ist auch die
Unebenheit ausgeglichen, daß die beiden ersten Gesetze sich auf
inhaltliche Momente stützen, während das letzte dem Inhalt gegenüber
völlig indifferent ist und nur auf das zufällige Zusammensein
mehrerer Inhalte im Bewußtsein Bezug nimmt. Auch dieses Gesetz
hat man durch Ausscheidung des Raummomentes zu vereinfachen und
durch Ausweitung des Begriffes der zeitlichen Berührung jenen
Tatsachen anzupassen gesucht, in denen eine Reproduktion von
aufeinanderfolgenden Vorstellungen beobachtet wurde. In der Tat ist
das Raummoment, wie leicht zu finden, überflüssig. Anderseits ist
die Ausdehnung der zeitlichen Berührung auf nahe zeitliche Folge
unnötig. Wie wir gesehen haben, entfallen die Erlebnisse nicht sofort
dem Bewußtsein, sondern klingen langsam ab. Darum findet ein nach
kurzer Pause aufgenommener Eindruck die unmittelbar vorausgegangenen
noch vor und wird mit ihnen zu +einem+ Bewußtseinsinhalt vereinigt.
Beachtet man zudem, wie sich bei freier Reproduktion die
Vorstellungen aneinanderschließen, so wird man sie nicht so sehr als
einzelne für sich abgeschlossene Bewußtseinsinhalte, denn vielmehr
als Teile eines Gesamtbewußtseins betrachten und den Nachdruck
nicht auf die zeitliche Berührung, sondern auf die Zugehörigkeit zu
einem Gesamtbild legen (+Poppelreuter+). Wir kommen so zu dem einen
+Hauptgesetz der Reproduktion+: ein bewußt gewordener Teil eines
früheren Gesamtbewußtseins hat die Tendenz, die übrigen Teile jenes
Gesamtbewußtseins nach sich zu ziehen.
Es scheint nicht ausgeschlossen, auch die meisten
+Perseverationserscheinungen+ diesem Hauptgesetz unterzuordnen. Die
Tatsache, daß eine bestimmte Vorstellung immer wieder ins Bewußtsein
drängt, ist häufig durch die Reproduktion allein verständlich: im
Hause des Verstorbenen wird man beständig an den Toten erinnert. Hat
gar ein Erlebnis starke Organempfindungen hervorgerufen, so trage
ich in den bekanntlich länger anhaltenden körperlichen Erregungen
das Reproduktionsmotiv für die Vorstellung jenes Erlebnisses im
eigenen Leibe mit mir herum. Der Vorgang kann aber auch anders
verlaufen. Gewisse Vorstellungen mögen das Bewußtsein beschäftigt
haben und durch andere abgelöst worden sein. Läßt nun letzteren
gegenüber die Aufmerksamkeit nach, so kann wieder eine der früheren
Vorstellungen bewußt werden, ohne im bisherigen Sinne reproduziert
zu sein. Nehmen wir nun an, diese Vorstellung sei nicht ganz aus
dem Bewußtsein geschwunden gewesen, sondern nur zurückgetreten, und
ihr wende sich jetzt wieder die Aufmerksamkeit zu, so wäre sie eben
der bevorzugte Bewußtseinsinhalt und würde sich als solcher nach
dem allgemeinen Reproduktionsgesetz wieder zu entfalten suchen. In
manchen Fällen kann man allerdings kaum voraussetzen, daß sich die
frühere Vorstellung im Bewußtsein erhalten habe. Wir müssen dann
annehmen, die dem bewußten Phänomen entsprechende Gehirnerregung
habe noch fortbestanden und dank des Zurücktretens der anderen
Bewußtseinsinhalte die Vorstellungserneuerung veranlaßt.
In ähnlicher Weise deutet auch die +Substitution+ auf die (partielle)
Gleichheit physiologischer Prozesse hin, wenn anders sie sich
überhaupt bestätigt. Die bisher beigebrachten Nachweise sind
noch zu dürftig. Denn die sinnlosen Silben, an denen +Müller+ und
+Pilzecker+ sie entdeckten, enthalten immer gleiche Elemente: wenn
die Silbe pön eine zu lön gelernte Silbe herbeiführt, so könnte
dies daher kommen, daß nur der beiden Silben gemeinsame Teil ön für
die Reproduktion ausschlaggebend wird. Das gleiche gilt von der
Reproduktion eines Liedtextes durch eine transponierte Melodie.
Gewiß mögen bei dieser alle Noten andere sein als die urspünglich
mit dem Text verbundenen, aber es bleibt noch die in beiden Fällen
gleiche Gestalt, die Melodie, die zweifellos für die Reproduktion des
Textes verantwortlich ist. Als beweiskräftig erübrigt nur noch die
Substitution ähnlicher Farben und Gerüche. Leider ist nirgendwo ein
exakter Beweis für eine solche Substitution erbracht. Ein solcher
hätte übrigens auch eine mittelbare Reproduktion (etwa infolge
gleicher Wirkungen auf den Organismus) auszuschließen.
Auch die kleine Zahl von wirklich +freisteigenden Vorstellungen+ muß
wohl durch eine besondere Konstellation physiologischer Prozesse
erklärt werden. Wie man sich dies im einzelnen zu denken hat, kann
erst weiter unten besprochen werden.
Kann die Frage nach dem Hauptgesetz der Reproduktion, d. h. die
Frage, welche Inhalte uns bei der Vorstellungserneuerung bewußt
werden, als gelöst gelten, so ist die weitere Frage nach dem +Wie der
Vorstellungsentfaltung+ noch kaum in Angriff genommen. Nur den einen
Satz kann man aufstellen: die Vorstellungsentfaltung vollzieht sich
meist vom Allgemeinen zum Besondern. Jedoch sind die Bedingungen noch
aufzufinden, unter denen dieser Satz aus einer Regel zu einem Gesetz
wird.
Literatur
W. +Poppelreuter+, Über die Ordnung des Vorstellungsablaufes. APs 25
(1912).
J. +Lindworsky+, Beiträge zur Lehre von den Vorstellungen. APs 42
(1921).
ZWEITER ABSCHNITT
Die Assoziation als Grundlage der Reproduktion
Die Tatsache, daß früher gewonnene Eindrücke wieder aufleben,
nötigt zur Annahme, solche Eindrücke oder Wahrnehmungen seien
nicht einfachhin verloren gegangen, sondern würden irgendwie in
uns unbewußterweise aufbewahrt. Die weitere Tatsache, daß das
Bewußtwerden eines Teiles einer früheren Wahrnehmung die Bedingung für
das Bewußtwerden des übrigen Teiles ist, beweist, daß zwischen den
Teilen der Gesamtwahrnehmung irgendwelche +Verbindung+ besteht. In
früheren Zeiten, wo man diese Teile der Gesamtwahrnehmung als in sich
abgeschlossene Vorstellungen oder gar Ideen auffaßte, prägte man die
Bezeichnung „Vorstellungs-“ oder gar „Ideenassoziation“. Wir können den
Ausdruck Assoziation der Vorstellungen beibehalten, ohne deshalb die
einzelnen Vorstellungen fälschlich als in sich abgeschlossene Dinge zu
nehmen. Es fragt sich nunmehr: wie kommt jene Aufbewahrung der früheren
Eindrücke und die Verbindung ihrer Teile zustande? Sind sie dem
Untergrund des Bewußtseins, etwa der substantiellen Seele zuzuschreiben
oder den Gehirnvorgängen oder beiden? Eine endgültige Antwort auf diese
Frage kann die experimentelle Psychologie nicht geben. Sie kann aber
das Tatsachenmaterial vorlegen, auf das sich jeder verständige und
wissenschaftliche Lösungsversuch zu stützen hat. An dieser Stelle nun
dürfen wir die Berücksichtigung der körperlichen Vorgänge, die mit den
seelischen in Verbindung stehen, nicht länger umgehen.
1. Kap. Gehirn und Bewußtsein
1. Das Nervensystem
Die Reizung der Sinnesorgane, des Auges, der Haut usw. bedingt
einen seelischen Eindruck. Diese Sinnesorgane sind nun, wie die
Anatomie nachweist, durch feinste Verbindungen, die Nerven, an das
Zentralnervensystem, d. h. an das Rückenmark, das verlängerte Mark
und das Gehirn, angeschlossen: die Durchschneidung dieser Verbindung
macht das Auftreten einer Empfindung unmöglich. Diese Verbindung
der Peripherie mit dem Zentrum ist aber nicht eine ununterbrochene
Leitung, sondern setzt sich aus mehreren +Neuronen+ (Fig. 6)
zusammen. Das Neuron besteht aus einer Nervenzelle (Ganglienzelle)
und deren Fortsätzen, nämlich den kürzeren Verästelungen (Dendriten)
und dem langen Achsenzylinder, durch den sich die Erregung der
Ganglienzelle fortpflanzt. An seinem freien Ende splittert sich der
Achsenzylinder in feine Endbäumchen auf, die sich manchmal wie ein
korbartiges Geflecht um die Ganglienzelle eines anderen Neuron legen.
Somit scheint die Übertragung der Nervenerregung nicht durch direkte
Leitung, sondern durch eine Art Induktion zu erfolgen.
[Illustration: Fig. 6. Schema eines Neuron (nach _E. Becher_, Gehirn u.
Seele. _C. Winters_ Verlag. Heidelberg). K Kern der Ganglienzellen, d
Dendriten, n Achsenzylinder, k seitliche Fortsetzung, e Endbäumchen.]
Nicht immer wird die von der Körperoberfläche kommende Erregung
bis zum Gehirn fortgeleitet. Dringt sie z. B. durch die hintere
(sensible) Wurzel eines Rückenmarksnerven in das Rückenmark, so kann
sie dort schon auf einen motorischen Nerv übertragen und durch die
vordere (motorische) Wurzel der Rückenmarksnerven wieder nach außen,
und zwar zu einem Muskel, geführt werden, der sich alsbald bewegt,
wenn ihn die Erregung trifft. So entsteht der einfache +Reflexbogen+
(Fig. 7) der Rückenmarksreflexe, die ohne jedes Bewußtsein verlaufen.
Sie funktionieren, auch wenn man das Groß- und das Mittelhirn
abgetrennt hat. Ist der periphere Reiz stärker, so beschränkt er sich
nicht auf diesen einfachen Bogen. Er steigt vielmehr im Rückenmark
auf ein höheres Niveau und erregt dort einen motorischen Nerven.
Darum fängt der geköpfte Frosch allmählich mit allen Gliedmaßen zu
strampeln an, wenn man eine Hautstelle stärker und stärker reizt. Die
stärksten Sinnesreize gelangen bis zur dünnen (3-5 mm beim Menschen)
Gehirnrinde. In ihr befinden sich ungezählte Ganglienzellen, die ihr
die graue Färbung verleihen, während die markhaltigen Leitungsfasern
(Achsenzylinder) dem Durchschnitt der Leitungsstränge, zu denen
sie sich vereinigen, ein weißes Aussehen geben. Die Ganglienzellen
der Hirnrinde stehen auch untereinander durch die sogenannten
+Assoziationsfasern+ in Verbindung. Soviel man heute weiß, entspricht
nur der Erregung der grauen Hirnrinde ein Bewußtseinsvorgang.
[Illustration: Fig. 7. Schema des Reflexbogens (nach _E. Becher_,
Gehirn und Seele _C. Winters_ Verlag, Heidelberg). w weiße Substanz, gr
graue Substanz des Rückenmarks, s sensible, m motorische Nervenfasern,
sg Spinalganglien der sensiblen Faser, a Achsenzylinder, k seitl.
Fortsetzung, e Aufsplitterung des Achsenzylinders, mz motorische
Ganglienzelle.]
2. Die Zuordnung einzelner Gehirnteile zu psychischen Funktionen
Die Sektionsbefunde nach geistigen Störungen, die Exstirpation
einzelner Gehirnpartien an lebenden Tieren, die Reizung zufällig
bloßgelegter Gehirnteile, die anatomische Verfolgung der nervösen
Bahnen, die Vergleichung der Gehirnentwicklung in der gesamten
Tierreihe, diese und andere Methoden der Gehirnforschung ergeben
ziemlich enge Beziehungen zwischen Gehirn und Geistesleben. Je
besser das Zentralorgan, namentlich die graue Hirnrinde ausgebildet
ist, um so höher steht das geistige Leben des Individuums. Man darf
zwar weder das absolute Gewicht des Gehirns als Maß der geistigen
Bedeutung nehmen -- es stünde dann der Elefant an der Spitze --,
noch darf man das Verhältnis des Gehirn- zum Körpergewicht allein
berücksichtigen -- dann überträfen die kleinen Vögel den Menschen
--, stellt man aber mit +Lehmann+ beide Faktoren in Rechnung, so
ergibt das Produkt beider, H H/K = H²/K (H = Hirngewicht, K =
Körpergewicht), ein ungefähres Maß der geistigen Höhe.
Es zeigt sich zweitens, daß +bestimmte Gebiete+ der grauen Hirnrinde
ziemlich eng mit bestimmten psychischen Vorgängen verbunden sind.
(Fig. 8.) So dient der Hinterhauptslappen beider Hirnhemisphären
den Gesichtseindrücken, der Schläfenlappen dem Hören, ein Teil
der dritten linken Stirnwindung (+Broca+sches Zentrum) ist den
Sprechbewegungen, ein Teil der ersten linken Schläfenwindung
(+Wernicke+) dem Sprachverständnis zugeordnet, während die
Scheitelgegend den Körperbewegungen zugehört. Manche Funktionen
scheinen, wie die schon erwähnten der Sprechbewegungen und des
Sprachverständnisses, vorwiegend einseitig lokalisiert zu sein, bei
Rechtshändern links und umgekehrt bei Linkshändern rechts; andere,
wie Sehen und Hören, sind gleichmäßig auf beide Hälften der Hirnrinde
verteilt, und zwar dient beim Sehen der linke Hinterhauptslappen
der linken Netzhauthälfte beider Augen und der rechte der rechten;
ein Teil der optischen Nerven verläuft also gekreuzt. Da aber beide
Gehirnhemisphären miteinander durch besondere Leitungswege verbunden
sind und ein Teil der Nervenfasern auch direkt in die andere Hälfte
einmündet, so kann bei Versagen des einen Teiles der andere zur Not
aushelfen und allmählich ausgebildet werden.
[Illustration: Fig. 8. Schema der Gehirnwindungen (nach _E. Becher_,
Gehirn und Seele. _C. Winters_ Verlag, Heidelberg).]
In der Beurteilung des Zusammenhanges von Gehirn und psychischen
Funktionen hat man sich vor zwei Extremen zu hüten. Es ist
einerseits verkehrt, jede Zuordnung bestimmter Regionen zu
bestimmten Tätigkeiten zu bestreiten. Trotz mancher Schwankungen
und Unklarheiten bestätigen sich die genannten Beziehungen immer
wieder. Die bisweilen zu beobachtende Stellvertretung beschädigter
Gehirnpartien durch andere ist nicht durch ein freies Wandern der
psychischen Funktionen über die Gehirnrinde, sondern dadurch zu
erklären, daß die stellvertretenden Gebiete auch schon früher,
wenngleich schwächer, an der psychischen Funktion beteiligt waren.
Die Koppelung von Hirnvorgang und seelischer Erregung scheint
vielmehr eine recht enge und scharf umschriebene zu sein. Nur so
versteht man, daß infolge gewisser Krankheiten sauber umgrenzte
Gebiete unseres Wissens, wie einzelne fremde Sprachen, ausfallen
können. Das gleiche beweisen die Abarten der +Aphasie+, bei denen
teils nur das Selbstsprechen, teils nur das Nachsprechen oder das
Sprachverständnis gestört sein kann; ferner die Lesestörungen
(+Alexie+), wo nur das Leseverständnis oder das laute Lesen, endlich
die Schreibstörungen, wo infolge von Gehirndefekten entweder
nur das Spontanschreiben oder nur das Abschreiben oder nur das
Diktatschreiben versagen kann (+Agraphie+).
Anderseits darf man die Lokalisation der psychischen Vorgänge
auch nicht übertreiben. Zunächst ist es durchaus unpsychologisch,
so komplizierte Dinge wie Freundschaft, Vaterlandsliebe u. dgl.
an umschriebene Gehirnteile bannen zu wollen, wie es +Galls+
Phrenologie und später +Flechsigs+ Theorien taten. Alle Erfahrungen
weisen vielmehr auf eine Lokalisation nach +Elementen+ der
Bewußtseinserscheinungen hin. Man hat darum auch ganz die Anschauung
fallen gelassen, als ob sich die einzelnen Vorstellungen als Ganze
in einzelne Zellen einschlössen. Es dürften vielmehr bei der
Erneuerung einer Vorstellung ebenso wie bei dem ersten Eindruck
stets eine Reihe von Hirnzellen, und zwar an entlegenen Teilen der
Rinde, in Mitleidenschaft gezogen werden. Denn einmal vereinigen
manche Vorstellungen sowohl optische wie akustische Elemente, die
bekanntlich an getrennte Regionen geknüpft sind; sodann können
infolge von Erkrankungen auch einzelne Elemente wieder ausfallen,
so die Farben der Vorstellungen; endlich ist gar kein Grund
abzusehen, warum sich die zu den einzelnen Vorstellungen gehörigen
Nervenerregungen bzw. die von diesen in der Rinde zurückgelassenen
Spuren nun gerade so gegeneinander abschließen sollten, wie es
den wahrgenommenen Gegenständen entspricht, -- wir werden später
sehen, daß die Dingauffassung durchaus noch nicht mit dem sinnlichen
Eindruck gegeben ist. Würde aber stets der optische oder akustische
Gesamteindruck in eine Zelle oder Zellgruppe lokalisiert, so
wäre die Reproduktionserscheinung, daß wir von einem Teil eines
Gesamteindruckes auf andere Gesamteindrücke geraten, die mit dem
ersten sonst nichts zu tun haben, schwer verständlich. Was endlich
die Lokalisation der anschaulichen Elemente betrifft, so wird
man zweckmäßigerweise vorerst noch auf eine genauere Vorstellung
verzichten. Auch von den heute bekannten Bewegungszentren kann
man nicht mehr behaupten, als daß sie von hoher Bedeutung für das
Zustandekommen der Bewegung sind und unversehrt sein müssen, damit
diese erfolge.
Nach dem bisher Gesagten dürfen wir mit Sicherheit erwarten, daß der
Vorstellungsverbindung, auf die wir durch die Reproduktionsgesetze
geführt wurden, zum wenigsten auch eine physiologische Bindung
jener nervösen Elemente im Gehirn entspricht, die bei dem ersten
Eindruck erregt worden sind. Das beweisen die pathologischen Fälle
der Aphasie, Alexie, Agraphie, das stimmt zu dem Hauptgesetz der
Reproduktion, welches gegen den Sinn der Vorstellungen indifferent
ist, das geht endlich mit Wahrscheinlichkeit aus der völligen
Mechanisierung eingeprägter Vorstellungsfolgen hervor. Wir nehmen
also an, ein erstmaliger Eindruck lasse im Gehirn eine Spur oder
Disposition zurück: die bei ihm erregten Zellen seien infolge der
Erregung nicht mehr in demselben Zustand wie zuvor -- wir mögen uns
diese Veränderung als Erhöhung ihrer Reizbarkeit denken --, außerdem
bestehe eine physiologische Verbindung zwischen den gleichzeitig
einmal beanspruchten Zellen. Diese Verbindung könnte durch
eigentliche Leitungsbahnen wie auch rein dynamisch hergestellt sein;
der Vergleich mit der drahtlosen Telegraphie oder mit der indirekten
Erregung von Stimmgabeln liegt nahe. Mit diesen Hilfsvorstellungen
treten wir an die Untersuchung der besonderen Gesetze der
Reproduktion bzw. der Assoziation heran.
2. Kap. Die Untersuchung besonderer Assoziationsgesetze
1. Die Methodik der Assoziationsforschung
Die inhaltliche Erforschung der aufeinander spontan folgenden
Vorstellungen ergab die drei bzw. fünf Reproduktionsgesetze, die sich
auf eines bzw. zwei zurückführen ließen. Die qualitative Erforschung
des Reproduktionsvorganges ist noch kaum in Angriff genommen, vielfach
gar nicht als besondere Aufgabe erkannt. Die quantitative Forschung
hingegen ist an dem Spezialfall der willkürlichen Einprägung ausgiebig
untersucht worden. Bahnbrecher war hier H. +Ebbinghaus+, während G.
E. +Müller+ das Verdienst der kritischen Nachprüfung und allseitigen
Ausgestaltung der Ebbinghausschen Gedanken zukommt.
+Ebbinghaus+’ großer Gedanke war der, Maß und Zahl an die
Einprägungsvorgänge, durch die bekanntlich Assoziationen gestiftet
werden, heranzubringen. Der Versuch, dies bei der Erlernung von
Gedichten zu tun, zeigte alsbald, daß das Lernmaterial zu ungleich war,
als daß die einzelnen Lernversuche und ihre Ergebnisse miteinander
hätten verglichen werden dürfen. +Ebbinghaus+ bildete darum aus je
einem Vokal und zwei Konsonanten sinnlose Silben (lap) und setzte
sie zu Silbenreihen zusammen. Später druckte man diese Silben
untereinander auf einen Streifen und ließ sie ruckweise hinter einem
Lesespalt erscheinen. Bei diesem Vorgang ist nun eine mannigfache
Messung möglich. Desgleichen sind die Aufgaben sehr verschieden, die
man der Vp stellen kann. Aufgabe und Messung charakterisieren nun die
verschiedenen Methoden der Assoziationsforschung.
Die +Erlernungsmethode+ stellt als Methode des unmittelbaren
Erlernens die Aufgabe, eine Silbenreihe bis zum glatten Aufsagen zu
erlernen. Dabei wird die ganze Silbenreihe stets auf einmal gelesen
und als ganze eingeprägt. Hier ist die Zahl der erforderlichen
Wiederholungen sowie die Schnelligkeit des einprägenden Lesens
das quantitative Element. -- Das +Ersparnisverfahren+ setzt
einmal erlernte und teilweise wieder vergessene Reihen voraus und
zählt, wieviele Wiederholungen aufgewandt werden müssen, bis die
Reihe wieder ohne Anstoß hergesagt werden kann. Aus der Anwendung
beider Methoden läßt sich etwa ermitteln, wie das Vergessen
eines eingeprägten Stoffes voranschreitet. Allerdings nur unter
der Voraussetzung, daß gleich lange Reihen unter sonst gleichen
Bedingungen durchschnittlich dieselbe Anzahl von Wiederholungen
benötigen, um erstmals eingeprägt zu werden. In der Tat gilt diese
Voraussetzung: die Wiederholungszahlen der verschiedenen Lernversuche
scharen sich verhältnismäßig dicht um einen Hauptwert, etwa das
arithmetische Mittel, ein Beweis, daß auf diesem Gebiete eine strenge
Gesetzmäßigkeit herrscht. -- Will man die Reihe nicht vollständig
auswendig lernen lassen, so bietet man nach einer gewissen Zahl von
Wiederholungen einzelne Silben der Reihe dar und läßt die auf sie
folgende Silbe aussprechen. Das Verhältnis der richtigen Treffer
(daher der Name +Treffermethode+) r zur Zahl aller Prüfungen n, also
r/n, gibt ein Maß der Assoziationsstärke. Auch die Geschwindigkeit,
mit der auf die vorgezeigte Silbe die zu ihr gehörige ausgesprochen
wird, ist von Bedeutung. Natürlich erhält man durch keine der
genannten Messungen eine absolute Wertangabe für die Stärke der
Assoziation, sondern nur eine relative. Auch sind die Ergebnisse der
Erlernungs- und der Treffermethode nicht ohne weiteres miteinander
vergleichbar, weil das subjektive Verhalten bei beiden nicht genau
dasselbe ist. +Andere Methoden+, wie die der behaltenen Glieder und
die der Hilfen, die entweder die von einer Reihe behaltenen Glieder
oder die Anzahl der Hilfen zählt, welche der Vl gewähren muß, damit
eine Reihe ganz aufgesagt werde, ebenso die Wiedererkennungsmethode,
die nach wenigen Wiederholungen einer Reihe deren Silben vorführt
und angeben läßt, ob man sie als Bestandteile der früheren Reihe
wiedererkennt, sind von untergeordnetem Werte und nur für bestimmte
Versuchszwecke passend.
Die bis jetzt genannten Methoden erforschen nur die unter ganz
bestimmten und bekannten Bedingungen gestifteten Assoziationen,
und zwar sowohl den Prozeß der Assoziationsstiftung, wie auch den
Grad der Assoziationsfestigkeit und deren Verfall. Andere Methoden
untersuchen die Stärke jener Assoziationen, die das Leben gestiftet
hat: die +Assoziationsreaktionen+. Bietet man optisch oder akustisch
einer Vp ein Wort dar mit der Anweisung, das nächst einfallende Wort
auszusprechen, und wiederholt diesen Versuch bei möglichst vielen
Individuen, so stellt sich heraus, daß ein hoher Prozentsatz der Vpn
auf das nämliche Reizwort mit demselben Reaktionswort reagiert, auf
„Blitz“ wird die Mehrzahl der Erwachsenen mit „Donner“ antworten.
Je mehr Individuen sich auf die gleiche Reaktion einigen, um so
stärker ist die Assoziation zwischen dem Reiz- und dem Reaktionswort.
An diesem Grundschema der Assoziationsreaktion lassen sich nun
mannigfache Variationen anbringen: Man kann die Reizvorstellung und
die Art ihrer Darbietung verändern (Wort- oder Sachvorstellung,
akustische oder optische Darbietung); man kann ferner die Art der
Reaktionsvorstellung ganz in das Belieben der Vp stellen oder sie
mehr und weniger einschränken, indem man z. B. eine verwandte oder
entgegengesetzte Vorstellung finden läßt; man kann statt einer
Vorstellung eine Reihe solcher sich entwickeln lassen. Bei all
diesen Versuchen ist die Messung der Reaktionszeiten lehrreich.
Nur darf man sich nicht mit den Angaben der Reaktionsvorstellungen
begnügen, sondern muß auf Grund der rückschauenden Selbstbeobachtung
jedesmal das ganze Erlebnis schildern lassen. Sehr häufig ist nämlich
das Reaktionswort gar nicht die erste durch die Reizvorstellung
ausgelöste Vorstellung, weil die Vp, ohne sich recht darüber klar
zu sein, gewisse Anforderungen an die Reaktionsvorstellungen
heranbringt. Selbstverständlich kann man auch den subjektiven Zustand
der Vp variieren, indem man die Versuche entweder im frischen oder im
ermüdeten oder in einem durch Alkohol u. dgl. beeinflußten Zustand
ausführt.
2. Hauptergebnisse der Assoziationsforschung
a) Die Beziehungen zwischen der Zahl der Wiederholungen und der
Assoziationsstärke
Ein einmaliges Bewußtwerden eines Erlebnisses kann bekanntlich dies
dauernd einprägen, falls das Vorkommnis sehr eindrucksvoll ist. Die
einmalige Vorführung indifferenter Inhalte jedoch, wie sinnlose
Silben, Zahlen, zusammenhanglose Worte, ist nur dann von Erfolg, wenn
es sich um eine geringe Zahl solcher Inhalte handelt: 6-7 sinnlose
Silben, 10-12 Zahlen oder Buchstaben können von Erwachsenen nach
einmaligem Lesen oder Hören aufgesagt werden; von sinnvollen oder gar
zusammenhängenden Worten kann ungleich viel mehr behalten werden. Wir
fassen eben die Wörter nicht nach ihren Elementen, den Buchstaben, und
die Sätze nicht nach ihren einzelnen Wörtern auf, sondern beachten und
behalten jedesmal die Einheiten. Indes wird durch einmaliges Darbieten
einer solchen kurzen Reihe keine bleibende Assoziation gestiftet.
Die wahrgenommenen Elemente verharren vielmehr im Sekundärerlebnis
noch eine kurze Zeitspanne, so daß die etwa dargebotenen sechs
sinnlosen Silben gleichzeitig im Bewußtsein stehen und darum nochmals
wiedergegeben werden können. Man spricht hier vom +unmittelbaren
Behalten+. Wird jedoch dessen Spannweite überschritten, werden statt
sechs etwa neun sinnlose Silben vorgeführt, dann werden nicht etwa
sechs behalten und drei vergessen, sondern von den neun lassen sich
kaum zwei bis drei nennen. Die Spannweite des unmittelbaren Behaltens
ist nach Alter, Individuum und Frische sehr verschieden.
Überschreitet die Silbenreihe eine gewisse Länge, so sind zu ihrer
Einprägung mehrere Wiederholungen erforderlich; für eine 12silbige
Reihe etwa 16 Wiederholungen. Es fragt sich nun: wie wächst die
Zahl der zur Einprägung notwendigen Wiederholungen, wenn die zu
erlernende Reihe vergrößert wird? Man könnte erwarten, daß die Zahl
der Wiederholungen in gleicher Weise steigen würde wie die der Silben.
Anderseits wäre es aber auch möglich, daß die Wiederholungszahl nicht
anwüchse, da bei jeder Reihenlänge doch immer nur die Assoziation
zwischen je zwei Silben zu stiften, somit die gleiche Leistung zu
vollbringen ist. Aber keine dieser Möglichkeiten verwirklicht sich,
sondern die Wiederholungszahl steigt anfangs sehr schnell, später
langsamer. +Ebbinghaus+ gibt folgende Zahlen an: Anzahl der Silben: 7,
12, 16, 24, 36; notwendige Wiederholungen: 1, 16,6, 30, 44, 55. Eine
ganz befriedigende Erklärung dieser Gesetzmäßigkeiten gibt es noch
nicht. Sicherlich ist die Erlernung von 36 Silben eine größere Leistung
als die von drei Zwölferreihen, da im ersten Fall 36, im letzten nur
je 12 Silben am Ende der Reihe gleichzeitig gewußt werden müssen.
Schon die Alltagserfahrung besagte: je öfter man einen Lernstoff
wiederholt, um so tiefer prägt er sich ein. Die Experimente bestätigen
diese allgemeine Regel, zeigen aber auch, daß nicht einfachhin eine
Proportionalität zwischen der Anzahl und dem Einprägungswert der
Wiederholungen herrscht. Die erste Lesung hat bei sinnlosem Material
den größten Einprägungswert; bei sinnvollem gilt dies von der zweiten,
da die erste der Orientierung dient. Ist die Reihe einmal gelernt, so
prägen die überschüssigen Wiederholungen sie verhältnismäßig nicht viel
mehr ein, sind darum weniger zweckmäßig.
b) Einfluß des Lernstoffes
Zunächst ist die Stellung der einzelnen Elemente von Bedeutung.
Anfang und Ende einer Silbenreihe werden zuerst behalten, die Mitte
wird regelmäßig am schwersten gelernt. Unmittelbar vorausgehende
und unmittelbar nachfolgende Einprägungen scheinen einer weiteren
Assoziationsstiftung nachteilig zu sein. Je geläufiger sodann die
einzelnen Silben einer Reihe oder überhaupt die Elemente eines
Lernstoffes sind, um so leichter prägen sie sich ein: eine Reihe,
die aus bekannten Silben aufgebaut ist, wird leichter erlernt als
eine aus unbekannten. Das ist übrigens auch ein Grund, weshalb
die Einprägung längerer Reihen mehr Wiederholungen beansprucht
als die kürzerer. Je stärker ferner und je eindringlicher die
Elemente dargeboten werden, um so besser werden sie behalten. Das
gilt in gewissem Sinne auch für die Dauer der Einwirkung: bleiben
die einzelnen Silben längere Zeit sichtbar, so vermehren sich
die Treffer. Anderseits werden die Reihen unter sonst gleichen
Bedingungen aber doch schneller erlernt, wenn sie schneller gelesen
werden. Man hat dieses Paradox durch den Einfluß der Perseveration
zu klären gesucht: bei dem Trefferverfahren, das 5 Minuten nach der
Darbietung einsetzt, spielt die Perseveration eine größere Rolle
als bei dem Erlernungsverfahren, wo die ganze Reihe unmittelbar
nach der Einprägung aufgesagt wird. Nun ist die Perseveration
um so stärker, je länger der Eindruck währte. Sie kann also bei
langsamer Darbietung mehr zur Geltung kommen als bei schneller
(+Ephrussi+). Vielleicht kann noch folgender Umstand berücksichtigt
werden. Bei dem Trefferverfahren kommt es (auch subjektiv) darauf
an, nur je ein Silbenpaar einzuprägen, und dafür ist eine längere
Darbietung vorteilhaft. Bei dem Erlernungsverfahren hingegen soll
immer die ganze Reihe behalten werden. Wenn nun wirklich, wie wir
oben annahmen, die Hauptbedingung für die Assoziationsstiftung in
der gleichzeitigen Vereinigung der Inhalte im Bewußtsein besteht,
dann wird innerhalb gewisser Grenzen eine schneller gelesene Reihe
sich leichter zu einem Gesamtbewußtseinsinhalt vereinigen lassen als
eine langsam gelesene, und es ist zu erwarten, daß die Reproduktion
der Teilinhalte eines Gesamtbewußtseins gegenüber der Reproduktion
mehrerer aufeinanderfolgender Bewußtseinszustände im Vorteil ist.
c) Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens
Das Abnehmen der Assoziationsfestigkeit bestimmte zuerst +Ebbinghaus+
vermittels der Methode der Ersparnisse: Mehrere gleichartige Reihen
werden erlernt. Nach zwanzig Minuten wird eine von ihnen so oft
wiederholt, bis sie wieder aufgesagt werden kann; nach einer Stunde
wird eine zweite auf die gleiche Weise wieder aufgefrischt; nach acht
Stunden eine dritte usf. Es stellte sich heraus, daß die erlernten
Reihen -- Ähnliches gilt von allen anschaulichen Vorstellungsfolgen,
z. B. auch von Handfertigkeiten -- anfangs sehr rasch und später sehr
langsam vergessen werden. Daraus ergibt sich unmittelbar: sind uns zwei
Lernstoffe augenblicklich gleich geläufig, so werden wir nach einiger
Zeit denjenigen von beiden besser wissen bzw. weniger vergessen haben,
den wir zuerst gelernt haben.
Da sich innerhalb gewisser Grenzen auch ein dauerndes Behalten
erzielen läßt, das keine Wiederholungen mehr erfordert, so kann
eine bis zum eben Hersagen erlernte und jeden Tag bis zu demselben
Punkte wieder aufgefrischte Reihe nicht jedesmal gleichviel an
ihrer Assoziationsstärke verlieren. Somit werden alte Assoziationen
durch gleich viele Wiederholungen mehr gestärkt als junge (+Jost+).
Das Experiment lehrt aber außerdem noch, daß das rasche Sinken
der Assoziationsstärke namentlich durch die erste Wiedererlernung
aufgehalten wird (+Meumann+). Mit dem Jostschen Satz hängt die
wichtige Tatsache zusammen, daß es für die Einprägung vorteilhafter
ist, die Wiederholungen möglichst zu verteilen, als den Lernstoff auf
einmal zu bewältigen. Von besonders hohem Einprägungswert sind ferner
jene Wiederholungen, die in Aufsageversuchen bestehen. Rezitationen,
die zwischen einfache Wiederholungen eingeschoben werden, ersparen
eine beträchtliche Zahl Wiederholungen. Die Aufsageversuche nämlich
machen die schwachen Stellen kenntlich, lenken somit bei weiteren
Einprägungen die Aufmerksamkeit auf sie und leiten zur Gruppenbildung
an. Damit kommen wir zu neuen Lernbedingungen. die mit der
Wiederholung als solcher nichts gemein haben.
d) Die Bedeutung des allgemeinen psychischen Verhaltens
Ein großes Hindernis der Einprägung bildet die geistige Ermüdung.
Der späte Abend eignet sich durchschnittlich ebensowenig wie die
Zeit der Verdauung zum Memorieren. Weiterhin stören Unlustgefühle
gewaltig den Lernprozeß, während eine nicht allzu lebhafte Freude
fördert. Das Interesse beschleunigt die Einprägung wohl in erster
Linie wegen der Aufmerksamkeitssteigerung, die es bedingt. Zwar läßt
sich nicht behaupten, ohne Aufmerksamkeit sei jegliches Behalten
ausgeschlossen, aber im Bereiche der willkürlichen Einprägung bildet
die Aufmerksamkeitskonzentration einen ausschlaggebenden Faktor,
weshalb auch die Gedächtnispädagogen in erster Linie zur Beherrschung
der Aufmerksamkeit erziehen. Ähnliches gilt von dem Willen zur
Einprägung. Ohne diesen bringen auch recht zahlreiche Wiederholungen
nicht merklich voran. Neuere Untersuchungen legen endlich nahe, daß es
ein Behalten auf bestimmte Fristen gibt: was nur für einen bestimmten
Termin eingeprägt ist, scheint rascher vergessen zu werden als das für
immer Gelernte. Doch bedarf diese Frage noch weiterer Untersuchungen.
Die oben (S. 102 f.) erwähnten Vorstellungstypen machen sich auch
für das Lernen geltend. Im allgemeinen gilt: jene Darbietungsweise
ist die günstigste, welche dem Vorstellungstypus des Lernenden
entspricht. Diese allgemeine Regel erleidet aber durch die besonderen
Umstände zahlreiche Ausnahmen. So wird der Visuelle eine Reihe
römischer Zahlen akustisch einprägen, weil ihm die akustischen
Zahlvorstellungen geläufiger sind als die römischen Zahlbilder.
Umgekehrt wird der Akustiker sich des visuellen Gedächtnisses
bedienen, wenn ihm mehrere optische Bilder vorgeführt werden, für die
er keinen Namen besitzt. Beides wegen des oben (S. 167) genannten
Gesetzes, daß sich eine Reihe aus bekannten Elementen leichter merken
läßt als eine aus völlig neuen gebildete.
e) Nebenassoziationen
Außer der Assoziation, die von einem Teile der dargebotenen Reihe zum
nächstfolgenden führt und die sich als Hauptassoziation bezeichnen
läßt, weil sie den Weg vorschreibt, den die Reproduktion beim
Aufsagen der Reihe in der Regel nimmt, entdeckte schon +Ebbinghaus+
noch andere Assoziationen. Es ist nicht nur die erste Silbe mit der
zweiten, sondern auch die erste mit der dritten, der vierten und
sogar nachweislich mit der siebten Silbe verbunden (+überspringende
Assoziationen+). Allerdings wird die Stärke der Assoziation um
so geringer, je weiter der ursprüngliche Abstand der Silben ist.
Sodann fand sich eine +rückläufige Assoziation+: es besteht auch
eine Reproduktionstendenz von der nachfolgenden zur vorausgehenden
Silbe. Endlich die +Stellenassoziation+: man merkt sich außer der
Silbe auch ihre Stelle in der Reihe, entweder durch das Zahlwort:
dritte Silbe, oder visuell: in der Mitte, oder akustisch, insofern
als den rhythmisch ausgesprochenen Taktteilen eine charakteristische
Betonung zukommt. Alle diese Nebenassoziationen verraten sich teils
im Trefferverfahren, wenn man die falschen Reaktionen auf ihre
Herkunft untersucht, teils im Ersparnisverfahren, wenn man Reihen
bildet, in denen entweder die mittelbar aufeinanderfolgenden Silben
oder die Stellenwerte erhalten bleiben. Übrigens stimmt die Tatsache
der Nebenassoziationen sehr gut zu der oben dargelegten Auffassung
der Simultanassoziation (S. 156), denn alle durch Nebenassoziation
verbundene Glieder waren einmal gleichzeitig im Bewußtsein. Somit
wäre uns durch die überspringenden Assoziationen ein Maß für
den „sukzessiven“ Bewußtseinsumfang gegeben, und falls unsere
Auffassung richtig ist, müßten bei rascherem einprägendem Lesen
die überspringenden Assoziationen sich weiter erstrecken als bei
langsamem.
3. Kap. Ausdehnung der Betrachtung auf das Gesamtbewußtsein
1. Die Konstellation
Die willkürlich hergestellte Assoziation zwischen den Gliedern einer
Reihe gibt noch kein vollständiges Bild der Assoziationsverhältnisse
im Gesamtbewußtsein. Die Vorstellungen der Reihenelemente sind nur
künstlich isoliert und erhalten so eine stärkere Beachtung und
assoziative Verbindung; namentlich wird aber bei der Reproduktion nur
ihnen Beachtung geschenkt, wodurch sie besonders gefördert und andere
Vorstellungen, die gleichzeitig auftauchen möchten, vernachlässigt
werden. Die Vorstellungsverbindungen, welche das Leben stiftet, lassen
sich nicht durch das Kettenschema der Silbenreihen, sondern eher durch
ein Netzschema veranschaulichen. Es geht ja von jeder Teilvorstellung
eine assoziative Verbindung nach allen Seiten aus, wenn auch diese
Verbindungen nicht alle gleich stark sind. Dementsprechend strahlen
von einer Teilvorstellung auch nach allen Seiten Reproduktionstendenzen
aus. Nun ist unserem Bewußtsein aber niemals nur eine Vorstellung
gegeben. Stets ist eine Mehrheit an Vorstellungen vorhanden. Sehr viele
von ihnen haben wir schon früher einmal gehabt. Von ihnen gehen deshalb
gleichzeitig die verschiedenartigsten Reproduktionstendenzen aus, die
sich gegenseitig teils fördern, teils hemmen.
a) Die Hilfen
Die Gesetzmäßigkeiten des Vergessens zeigen, daß nichterneuerte
Assoziationen zwar geschwächt werden, aber nicht völlig verschwinden.
Das läßt vermuten, daß ein erfolgloser Reproduktionsversuch
auch nicht gänzlich wirkungslos bleibe. In der Tat fällt einem
ein gesuchter Name bisweilen kurze Zeit darauf in einem anderen
Zusammenhang ein. Der Reproduktionsversuch hat diesen Namen
in höhere Bereitschaft gestellt. Wenn nun nach dem gesuchten
Namen nicht nur von einer, sondern von mehreren Vorstellungen
aus Reproduktionstendenzen hinstrahlen, so läßt sich erwarten,
daß er endlich ins Bewußtsein gehoben wird, auch wenn keine der
verschiedenen Reproduktionstendenzen für sich allein dies hätte
vollbringen können. Die Reproduktion des Namens gelingt infolge
der +Konstellation+. So erteilt man in der Schule bisweilen
Gedächtnishilfen: will der Name Finsteraarhorn nicht einfallen, so
fragt man nach dem dort entspringenden Fluß, der Aar.
b) Die Hemmungen
Wie es die Reproduktion fördert, wenn von zwei Teilvorstellungen
Reproduktionstendenzen auf die zu erneuernde Vorstellung hinführen,
so wird es umgekehrt der Reproduktion der Vorstellung b durch
die Vorstellung a hinderlich sein, wenn von a gleichzeitig zwei
Reproduktionstendenzen ausgehen, nach b und nach c. In der Tat läßt
sich diese assoziative Hemmung experimentell nachweisen, und zwar
in doppelter Art: ist a schon mit b assoziiert und soll noch mit c
verbunden werden, so ist die Assoziation ac schwerer zu bilden als
sonst (+generative+ Hemmung); sodann wird durch die neue Verknüpfung
ac die ältere Assoziation ab geschwächt (+effektuelle+ Hemmung).
Diese herkömmliche Ausdrucksweise ist allerdings ungenau, da wir
streng genommen nur von der Reproduktion etwas aussagen können,
nämlich: die Reproduktionsmöglichkeiten des c wie des b mit a als
Reproduktionsmotiv sind herabgesetzt. Daß die Assoziation als solche
nicht beeinträchtigt ist, beweisen die später zu besprechenden
Versuche über Komplexbildung, nach denen beide Hemmungen nur unter
bestimmten Bedingungen eintreten. Damit verschwindet auch das
Bedenken, unser ganzes Vorstellungsleben müsse unter diesen beiden
Hemmungen leiden oder gar unmöglich werden. Wo aber die assoziativen
Hemmungen eingreifen, wo von einer Vorstellung tatsächlich
gleichzeitig verschiedene Reproduktionstendenzen ausgehen, da
kommt es zur Konkurrenz der assoziierten Vorstellungen, indem die
überwertige obsiegt, oder es treten Mischwirkungen zutage, wie „Kreuz
und Rüben“ aus kreuz und quer und Kraut und Rüben.
Die +rückwirkende+ Hemmung ist jedoch den assoziativen nicht
gleichzustellen. Läßt man unmittelbar nach Einprägung einer
Reihe eine intensive geistige Beschäftigung wie Memorieren oder
aufmerksames Betrachten von Bildern folgen, so wird von dem
erlernten Stoff ungleich mehr vergessen als ohne diese nachfolgende
Tätigkeit. Hier werden wirklich die Assoziationen geschwächt; denn
die Reproduktion ist unter allen Bedingungen erschwert, auch dann,
wenn die Vorstellungen aus der nachfolgenden Beschäftigung nicht
als störende Konkurrenten auftreten. Daher die Bedeutung der Pausen
nach dem Auswendiglernen. Die frisch gebildete Assoziation braucht
Zeit, um sich zu befestigen und -- zu verstärken. Merkwürdigerweise
verbessert sich nämlich unser Gedächtniswissen im Verlauf der Zeit:
in Versuchen von +Boldt+ war das Ergebnis der Prüfung nach einem
Tag besser als nach einer Viertelstunde, und da besser als nach 5
Minuten. +Ebbinghaus+ war diese Tatsache entgangen, weil er stets
mehrere Reihen hintereinander lernen ließ, die sich gegenseitig
hemmten. Für diese auffallende Erscheinung ist einstweilen folgende
Erklärungsmöglichkeit vorhanden: Gleichzeitig mit dem eigentlichen
Lernstoff werden eine Reihe anderer Vorstellungen aus der gesamten
Lernsituation miteingeprägt. Sie werden beim Hersagen der Reihe
ebenfalls in Bereitschaft gesetzt und hemmen darum den glatten
Ablauf. Nun unterliegen beide Vorstellungsreihen, die Haupt- wie die
Nebenvorstellungen, dem Vergessen. Weil aber die Nebenvorstellungen
weniger beachtet waren, stand ihnen von Anfang an eine schwächere
Assoziation zu Gebote wie den Hauptvorstellungen. Somit erreicht bei
ersteren die Reproduktionstendenz bald den Nullpunkt, während sie für
die letzteren noch wirksam bleibt. Vielleicht hat man außer diesem
Umstand noch ein Ausreifen der physiologischen Dispositionen zur
Erklärung heranzuziehen.
2. Die Komplexbildung
Teilt man eine Silbenreihe in Gruppen zu je drei Silben, läßt sie in
anapästischem Rhythmus (◡◡́—) lesen und bietet später der Vp eine
der betonten Silben mit der Aufforderung, die nächsteinfallende
Silbe auszusprechen, so wird die zweitvorhergehende Silbe häufiger
reproduziert als die unmittelbar vorausgehende (+initiale
Reproduktionstendenz+). Es besteht sonach eine Tendenz, ausgehend
von einem Glied des Komplexes, den ganzen Komplex ins Bewußtsein zu
heben. Läßt man eine Silbe aus einem solchen Komplex in einer zweiten
Reihe sich mit einer komplexfremden Silbe assoziieren, so läßt sich die
generative und effektuelle Hemmung, die nach dem obigen zu erwarten
wäre, an jener Silbe nicht nachweisen, sobald sie innerhalb des
Komplexes reproduziert wird (+Frings+). Es wird also offenbar beim
Aufsagen einer in Komplexe eingeteilten Reihe nicht jede Silbe für sich
reproduziert, sondern der Komplex, in dem sie sich befindet, wird als
Ganzes wieder erneuert. Ähnliche Beobachtungen macht man auch bei der
freien und gebundenen Reproduktion bedeutungshaltiger Vorstellungen.
Wir müssen somit unsere Auffassung der Assoziationen dahin erweitern,
daß sich nicht nur an ein einzelnes Element nach verschiedenen
Richtungen hin andere Elemente anschließen, sondern daß auch häufig
eine Mehrheit von Elementen in einem Komplex vereinigt sind und daß
solche Komplexe ähnlich wie die Elemente untereinander assoziativ
verknüpft sind.
Einen Komplex hat man sich jedoch nicht wie eine eingeprägte
Silbenreihe zu denken, deren letzte Silbe man wieder mit der ersten
assoziiert hätte und deren Glieder umso fester miteinander verknüpft
sind, je häufiger sie wiederholt werden. Dem Komplex ist es vielmehr
charakteristisch, daß er als ein +Ganzes+ eingeprägt und als ein
+Ganzes+ reproduziert wird. Ist nun ein +Teil+ eines solchen Komplexes
gegeben, so geht die Reproduktion nicht so sehr auf den nächstfolgenden
+Teil+ als vielmehr auf den +ganzen+ Komplex. Häufig ist uns jedoch
nicht ein Teil, sondern eine schematische Antizipation des Komplexes
gegeben; wir haben ihn gleichsam in Umrissen, ähnlich wie wir von einer
entfernten Inschrift nur die Umrisse der Wortbilder sehen. Ein solches
antizipierendes Schema hat nun gleichfalls die Tendenz, den zugehörigen
Komplex zu reproduzieren. So tritt uns bisweilen aus dem in seinen
Einzelheiten nicht erkannten Wortbild das Wort selbst ins Bewußtsein,
ohne daß die Buchstaben deutlich zu werden brauchen. (+Gesetze der
Komplexergänzung.+) So versteht man, daß unser Vorstellungsleben der
von der mannigfachen Verknüpfung der Elemente ausgehenden Hemmung nicht
unterliegt. So erklären sich auch die beim unmittelbaren Behalten
erwähnten Tatsachen: wir prägen uns eine Anzahl Wörter fast ebenso
leicht ein wie die nämliche Anzahl Buchstaben. Gleichwohl sind die
Elemente in dem gesamten Reproduktionsvorgang nicht ohne Bedeutung: die
von ihnen ausgehenden Reproduktionstendenzen geben oft den Ausschlag,
wenn mehrere zu demselben antizipierenden Schema passende Komplexe
miteinander konkurrieren.
Die Einführung der Komplexe im soeben dargelegten Sinne stellt die
Gedächtnisforschung vor ganz neue Probleme. Vielleicht muß einmal
die gesamte Gedächtnislehre auf diesem Begriff neu aufgebaut werden,
da wir unsere Eindrücke möglicherweise überhaupt nur in Komplexen
aufnehmen[7]. Wie dem auch sei, zwei Bedingungen lassen sich heute
schon angeben, welche die Bildung von Komplexen fördern. +Ohne
Zutun+ des Subjektes muß sich ein Komplex bilden, wenn in der Menge
wechselnder Eindrücke ein Empfindungsganzes häufig unverändert
wiederkehrt. So hebt sich für das junge Tier wohl allmählich das Bild
des Futters, des Herrn usw. heraus. +Mit dem Zutun+ des Subjektes
entstehen Komplexe durch Zusammenfassung (s. S. 124). Ganz von
selbst teilen die Vpn eine Silbenreihe in einzelne Gruppen ab; die
rhythmische Betonung bestimmter Silben leistet dabei eine große
Hilfe: die einfache Zusammenfassung wird zur Gestaltauffassung. Je
größer bei gleicher Übersichtlichkeit ein Komplex gemacht werden
kann, um so leichter wird die ganze Reihe erlernt.
Auch das +sinnvolle Lernen+ versteht man am besten als einen
Sonderfall der Komplexassoziation. Sinnvolles Lernen ist nämlich
nur dadurch möglich, daß eine Beziehung zwischen den beiden
einzuprägenden Vorstellungen hergestellt und das so entstandene
Beziehungsganze eingeprägt wird. Allerdings kann man auch zwei
Vorstellungen zu einer sinnvollen Gesamtvorstellung vereinigen,
Muster und Neffe zu Musterneffe; man bildet so durch einfache
Addition zweier Komplexe einen größeren, doch ist hier der Sinn
des neuen Komplexes von untergeordneter Bedeutung, lassen sich ja
auch mit demselben Nutzen +sinnlose+ Verbindungen dieser Art, wie
„Kliometerthal“, verwerten. Sobald aber eine Beziehung zwischen
den einzuprägenden Vorstellungen gefunden ist, hat man einen
+Sachverhalt+ und damit einen eigenartigen sinnvollen Komplex
gewonnen. Dieser Komplex wird tatsächlich reproduziert. Es fragt sich
aber noch, ob der Beziehungsgedanke als solcher eingeprägt wird.
Wäre dies der Fall, so hätte man neben den Residuen anschaulicher
Vorstellungen noch ein neues Gedächtniselement anzuerkennen:
die unanschaulichen Dispositionen unanschaulicher Gedanken. Die
sachliche Schwierigkeit dieser Annahme reicht nicht aus, sie a
limine abzuweisen. Indes ist die Frage heute noch nicht spruchreif.
Es bleiben nämlich zur Erklärung der heute bekannten Tatsachen
noch mancherlei Möglichkeiten. Zunächst kann das Wissen um einen
Sachverhalt vermittels eines Satzes oder Wortes eingeprägt werden.
Weiterhin kann der Beziehungsgedanke schon früher eine anschauliche
Repräsentation z. B. durch Schemata, wie Gleichheitszeichen u. ä.,
gefunden haben, so daß es jetzt genügt, wenn die zwei Vorstellungen
mit jenem geläufigen anschaulichen Symbol zu einem assoziativen
Komplex verbunden werden. Ferner kann die Sachverhaltserfassung die
beiden Vorstellungen bzw. ihre in Beziehung zueinander tretenden
Seiten so hervorheben, daß bei ihrer Reproduktion der früher
erkannte Sachverhalt gar nicht mehr übersehen werden kann. Befinden
sich z. B. unter einer Anzahl gleichzeitig dargebotener Figuren
zwei formgleiche, so kostet es anfangs vielleicht Mühe, diesen
Sachverhalt aufzufassen. Hebt man alsdann die gleichen Figuren durch
Verstärkung ihrer Umrisse heraus, dann wird man die Zeichnung kaum
noch ansehen können, ohne die Gleichheit jener Figuren geradezu
unmittelbar wahrzunehmen. Es wäre nun möglich, daß infolge der
Sachverhaltserfassung die Gedächtnisspuren zweier Vorstellungen in
ähnlicher Weise herausgehoben würden, wie die Umrisse jener Figuren.
Endlich mag in vielen Fällen die scheinbar eingeprägte Beziehung
beim Wiederauftauchen der Vorstellungen neu erfaßt werden. Erst wenn
das Gebiet der eben bewußtwerdenden Vorstellungen näher bekannt ist,
wird eine endgültige Stellungnahme möglich sein. Wir wissen auf jeden
Fall heute schon, daß die eben auftauchenden Vorstellungen eine hohe
Bedeutung im Seelenleben haben und daß aller Wahrscheinlichkeit nach
Beziehungen zwischen Vorstellungen erfaßbar sind, bevor diese selbst
zur klaren Bewußtheit gelangen.
Literatur
M. +Offner+, Das Gedächtnis. 3. Aufl. 1913.
O. +Selz+, Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, 1913.
E. +Becher+, Gehirn und Seele, 1911.
J. +Lindworsky+, Fordern die Reproduktionserscheinungen ein
psychisches Gedächtnis? Phil. Jahrbuch 1920.
Fußnoten:
[7] Vgl. meine Besprechung von O. +Selz+, Zur Psychologie des
produktiven Denkens und des Irrtums, in ZPs 93 (1923).
III. Buch
DIE HÖHEREN SEELISCHEN LEISTUNGEN DES EINZELNEN
ERSTER ABSCHNITT
Die höheren Erkenntnisleistungen
1. Kap. Die Vergleichung
Das Zusammenwirken von Gedächtnis und Erkenntnisfähigkeiten ermöglicht
die höheren Erkenntnisleistungen, deren wichtigste im folgenden
besprochen werden sollen. Die Vergleichung zweier unmittelbar und
gleichzeitig gegebener Bewußtseinsinhalte oder äußerer Gegenstände, der
sog. +Simultanvergleich+, beansprucht allerdings fast gar nicht das
Gedächtnis, wenn wir von seinem sprachlichen Ausdruck etwa absehen. Er
scheint sogar vielen überhaupt nicht über die sinnliche Wahrnehmung
hinauszugehen: wenn das Auge nebeneinander rot und grün erblickt, so
meint man, müsse es auch notwendig die Verschiedenheit dieser Farben
auffassen. Die innere Unmöglichkeit dieser Anschauung haben wir schon
dargetan (S. 108 ff.). Hier betonen wir nur, daß auch bei einem so
einfachen Erlebnis eine Mehrheit von seelischen Funktionen, allerdings
reduziert und in ein einheitliches Phänomen verschmolzen, vorliegt. Die
Experimente lehren nämlich, daß zwei objektiv gleiche Gegenstände nicht
nur im Bewußtsein stehen, sondern sogar eigens beachtet werden können,
ohne darum als gleich erkannt werden zu müssen. Wenn sich auch die
ersten und einfachsten Verschiedenheiten z. B. ohne weiteres aufdrängen
werden, so ist für gewöhnlich zum Zustandekommen eines Vergleiches
vor allem der Gesichtspunkt (die Aufgabe) notwendig, unter dem die
zu vergleichenden Gegenstände betrachtet werden müssen. Bisweilen
ist sodann ein wiederholtes Zusehen erforderlich. Hat man einmal den
Gesichtspunkt der vergleichenden Betrachtung geübt, so verharrt er
häufig als Einstellung, und unwillkürlich drängt sich alsdann auch bei
anderen Wahrnehmungen die objektiv bestehende Beziehung der Gleichheit,
Ungleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit usw. auf und bedingt die
Täuschung, der Vergleichsakt sei nichts Neues gegenüber der schlichten
Wahrnehmung.
Ganz neue und schwierige Probleme enthüllte die experimentelle
Untersuchung des +Sukzessivvergleiches+. Bislang glaubte man,
wenn man zwei nacheinander erlebte Eindrücke vergleiche, so
stelle man der Wahrnehmung des zweiten Reizes das Erinnerungsbild
des ersten gegenüber, und es wiederholten sich die Vorgänge des
Simultanvergleiches. Bei sehr schwierigen oder gestörten Vergleichen
geht man bisweilen in der Tat so voran. Aber nach den einstimmigen
Befunden aller Forscher werden die richtigsten und sichersten
Vergleichsurteile dann gefällt, wenn die Vpn gar nicht an den
vorausgegangenen Eindruck denken, wenn sie ihn ganz bestimmt nicht mehr
im Bewußtsein gehabt zu haben erklären. Ist das Gedächtnisbild des
ersten Reizes vorhanden, so verbessert es nicht die Vergleichsleistung.
Ja, es kann sogar ein solches Gedächtnisbild vorhanden sein und selbst
als ungenau erkannt werden.
+Schumann+ suchte das Problem durch die Verwertung der Nebeneindrücke
zu lösen. Tatsächlich begründen die Vpn manchmal ihr Vergleichsurteil
mit dem Auftreten eines Nebeneindruckes: die zu zweit gesehene
Kreisfläche scheint zusammenzuschrumpfen und wird darum als kleiner
beurteilt; der dritte Schlag eines Schallhammers überrascht, und
darum muß die Zeitspanne zwischen dem zweiten und dritten Schlag
kleiner sein als die zwischen dem ersten und dem zweiten. Solche
Nebeneindrücke seien bei den ersten Simultanvergleichen des Kindes
aufgetreten, hätten sich darum mit den Urteilen kleiner-größer
verknüpft und dienten jetzt umgekehrt zur Begründung dieser Urteile.
Hie und da mag dem in der Tat so sein. Allein längst nicht bei
allen Sukzessivvergleichungen sind Nebeneindrücke bezeugt, und
sehr viele der bezeugten Nebeneindrücke sind beim eigentlichen
Simultanvergleich ganz unmöglich, so das Zusammenschrumpfen und
Anschwellen einer Fläche u. a. +Brunswig+ glaubte darum, es genüge
die Erfassung des zweiten Eindruckes mit einer Richtung auf den
ersten und einem latenten Wissen von diesem. Eine beträchtliche
Erklärung ist indes damit nicht geboten. Neuere Befunde dürften
die merkwürdige Erscheinung aufhellen. Unsere Bewußtseinsinhalte
befinden sich auf verschiedenen Stufen der Klarheit und Beachtung
(+Westphal+). Außerdem ist stets eine Gruppe von Vorstellungen im
Begriff, über die Schwelle des Bewußtseins zu steigen bzw. unter sie
zu sinken; schon eine geringe Veränderung der Konstellation kann
sie unbewußt oder schwach bewußt machen. Es ist nun, wie +Michotte+
und der Verfasser selbst gefunden haben, eine Beziehungserkenntnis
möglich, bevor die bezogenen Bewußtseinsinhalte klar erfaßt sind. So
wird also der zweite Eindruck nicht mit dem Gedächtnisbild, d. h.
einer reproduzierten und als solcher bewußten Vorstellung der ersten
Wahrnehmung verglichen, sondern mit dem der Schwelle nahen und darum
nicht mehr oder noch nicht beachteten ersten Eindruck.
Läßt man paarweise Gewichte miteinander vergleichen, so wird
bisweilen das zuerst gehobene sofort als „schwer“ bzw. „leicht“ oder
gar als schwerer, leichter beurteilt, noch bevor der Vergleichsreiz
gegeben ist. Maßgebend für ein solches Urteil ist der „+absolute
Eindruck+“. Die genauere Untersuchung ließ erkennen, daß in
dergleichen Fällen durch die häufigen Hebungen eine Vorstellung
entweder des unveränderten Vergleichsgewichtes oder eine Vorstellung
eines mittleren Gewichtes in Bereitschaft gesetzt wurde. Diese tritt
nun bei der Hebung des Gewichtes über die Schwelle und ermöglicht in
der nämlichen Weise, wie es bei dem Sukzessivvergleich beschrieben
wurde, die Einsicht: schwer. Dieser absolute Eindruck kommt auf den
verschiedensten Gebieten vor und ist für die Entwicklung unseres
geistigen Lebens von allerhöchster Bedeutung. Es ist also im Grunde
der absolute Eindruck nur ein sehr abgekürzter Vergleich des neuen
Reizes mit einem nicht klar als solchen erkannten Durchschnittswert.
Er wäre darum richtiger ein relativer Eindruck zu nennen.
Was hier über die Vergleichung gesagt wurde, dürfte in der Hauptsache
von allen Beziehungserfassungen gelten. Auch bei den anderen
Relationen ist eine Beziehungserfassung möglich, schon bevor der
zweite Beziehungspunkt klar bewußt ist. Auch bei ihnen wird es
absolute Eindrücke geben, denen man allerdings heute noch nicht weiter
nachgespürt hat. Und endlich können alle Beziehungserfassungen zu einem
reproduzierbaren Beziehungs- oder Sachverhaltswissen werden.
Die Gesichtspunkte, mit deren Hilfe man eine Beziehung leichter
findet, z. B. die Frage: sind a und b einander gleich?, stammen
natürlich aus früheren Beziehungserfassungen. Somit muß die
erstmalige Entdeckung einer Beziehung stets +ohne+ vorausgehenden
Gesichtspunkt zustande kommen. Aber wir würden diese erstmalige
Entdeckung nicht leisten, blickten wir nicht „zufällig“ in jener
geistigen Sehrichtung auf die Dinge, die später willkürlich
vermittels des Gesichtspunktes herbeigeführt werden kann.
Übrigens erfassen wir nicht alle Beziehungen direkt an den
Außendingen. Gleichheits- und Lagebeziehungen z. B. „sehen“ wir
unmittelbar in der Außenwelt. Die Relation der Ursächlichkeit
hingegen erfassen wir direkt nur bei unserer inneren
Willenstätigkeit. Da wir nun vermittels einer Gleichheitserfassung
bemerken, daß Körper, die zueinander in räumliche Berührung kommen,
unter gewissen Bedingungen -- schematisch gesprochen -- sich so
verhalten wie Willensentschluß und Willenshaltung, so sehen wir nach
dem Gesetz der Komplexergänzung (S. 173) unsere Tätigkeit in die
Dinge hinein und vermeinen fast, die Relation der Ursächlichkeit
unmittelbar zu erfassen. Aber diese Beziehungserfassung, deren
Kerngedanke durch spätere Erfahrungen und Überlegungen gerechtfertigt
wird, ist nur eine indirekte.
Literatur
K. +Bühler+, Die geistige Entwicklung des Kindes³ (1922), § 15: Das
Vergleichen und die Relationswahrnehmung.
2. Kap. Die Dingerfassung
Wir müssen uns wohl an den Neugeborenen wenden, um etwas über die
Entstehung der Dingerfassung zu erfahren; uns Erwachsenen scheint es
ja eine ganz unmittelbare, unableitbare Gegebenheit zu sein, daß wir
außer uns nicht Eindrücke, sondern Dinge gewahren. Manche Philosophen
lehrten sogar, der Substanzbegriff sei das erste, unmittelbar Gegebene.
Wenn es aber gelingt, die Dingauffassung aus elementaren Funktionen
verständlich zu machen, so wäre unsere Anschauung bis auf weiteres
gesichert.
Nach allem, was wir vom Neugeborenen wissen, ist ihm zunächst nur
eine bunte Mannigfaltigkeit von Eindrücken gegeben, ein „Zusammen“,
das weder Struktur noch „Undverbindung“ ist. Irgendwie kristallisiert
sich aus dieser Mannigfaltigkeit ein Ichbewußtsein primitivster Art
heraus. Genaueres läßt sich heute noch nicht darüber angeben, aber
die Unableitbarkeit des Ichbewußtseins überhaupt, die wir anderswo
aufzuzeigen haben, verlangt, daß es auch beim Kinde in irgendeiner
Form angenommen werde. Von diesem Ansatz aus läßt sich dann die
Dingauffassung leicht gewinnen. Das Kind hat ungezählte Gelegenheiten
zu beobachten, wie sich ein Teil seines Empfindungskomplexes anders
verhält als es selbst: gewisse Teile seines Empfindungskomplexes
verändern sich, andere bleiben. Dieser Erfassung des Gegensatzes
dürfte die Erfassung einer gewissen Gleichheit parallel gehen. In
der Tat liegen ja viele Gleichheitsbeziehungen vor: die Menschen der
Umgebung vollführen ähnliche Bewegungen wie das Kind, lassen ähnliche
Laute vernehmen usf. Finden wir nun schon beim Erwachsenen, daß er bei
Feststellung etwaiger Gleichheit stets geneigt ist, das Vorhandensein
größerer Gleichheit anzunehmen, d. h. dem zweiten in einer Hinsicht als
gleich erkannten Gegenstand noch weitere Züge des ersten beizulegen, so
wird dies beim Kinde auch zu erwarten sein. Das Kind wird hinter dem
teils gleich-, teils andersartigen Eindruck Züge seines eigenen Ich
vermuten. Das Nächste, was ihm seine Beziehungserfassungen liefern,
sind also nicht Dinge, sondern +Neben-iche+. Der animistische Zug, den
die Kinderforscher immer wieder feststellen, dürfte ein Rest davon
sein. Allmählich schreitet nun die Beziehungserfassung fort, entdeckt
immer neue Verschiedenheiten von dem eigenen Ich, und auf dem Weg der
später zu schildernden Begriffsbildung wird aus dem Neben-ich ein sehr
abstraktes „Ding“.
3. Kap. Wahrnehmung und Vorstellung
Die peripher erregten Eindrücke unterscheiden sich, wie oben
ausgeführt wurde, von den zentral bedingten nur graduell. Es gibt
kein Charakteristikum, das nur der einen von beiden Erlebnisklassen
eigen wäre. Dennoch verwechseln wir im gesunden Zustande nur ganz
selten Wahrnehmung und Vorstellung. Im Gegenteil schreibt das
vorwissenschaftliche Denken der Wahrnehmung ganz andere Eigenschaften
zu als der Vorstellung: in der Wahrnehmung stehen wir dem Gegenstande
selbst gegenüber, in der Vorstellung nicht; die Wahrnehmung hat
Wirklichkeitscharakter, die Vorstellung gibt sich als bloßer Schein.
Und zwar unmittelbar, ohne besondere Überlegung. Es fragt sich also:
wie kommen solche Unterschiede zustande, wenn die inhaltlichen Merkmale
bei beiden Erlebnisklassen wesentlich die gleichen sind?
Wir haben oben schon bemerkt, daß gewisse inhaltliche Züge der
Wahrnehmung, andere der Vorstellung in höherem, ausgeprägterem
Grade eignen: die Empfindungsintensität ist bei der Wahrnehmung
im allgemeinen größer als bei der Vorstellung; die Konstanz und
Fülle der Inhalte desgleichen; an die Wahrnehmung schließen sich
bisweilen Erlebnisse an, die bei der Vorstellung ausbleiben;
wahrgenommenes Feuer brennt, vorgestelltes nicht. Diese
graduelle Verschiedenheit der Durchschnittswahrnehmung von der
Durchschnittsvorstellung kann nun +in einem beziehenden Akte
erkannt+ werden: das Kind kann die Wahrnehmungseindrücke einer
brennenden Kerze mit den Vorstellungseindrücken vergleichen und
deren Verschiedenheit erkennen. Diese einmalige Einsicht vermag
sich als +Sachverhaltswissen+ (vgl. S. 178 f.) einzuprägen.
Vermittels einer weiteren Beziehungserfassung kann es, fußend auf
dem genannten Sachverhaltswissen, zu der Erkenntnis vordringen:
Erlebnisse bei geschlossenen Augen unterscheiden sich in bestimmter
Weise von Erlebnissen bei offenen Augen. Es braucht jetzt nur
von seiner Umgebung einen Sammelnamen für beide Erlebnisarten zu
erfahren, um dauernd zu wissen: Wahrnehmungen unterscheiden sich
in einer bestimmten Weise von Vorstellungen. Noch ein Moment ist
hinzuzufügen, um diese Erfahrung zu einer stets verwendbaren zu
gestalten: Wir sahen, bei wiederholten Vergleichungen bildet sich
aus dem Durchschnitt der Erlebnisse ein unbemerkter Maßstab heraus,
an dem ein neuer Eindruck unwillkürlich gemessen wird; man hat dann
den absoluten Eindruck der Schwere, der Kälte usw. Dieser absolute
Eindruck haftet scheinbar an dem wahrgenommenen Gegenstand selbst,
erscheint wie eine seiner Eigenschaften. In genau der gleichen Weise
kann sich auch bei den vielen beabsichtigten und unbeabsichtigten
Vergleichungen von Erlebnissen der einen (Wahrnehmungs-) zu denen
der andern (Vorstellungs-) Gruppe ein +absoluter Eindruck+ des
Wahrnehmungs- bzw. Vorstellungsmäßigen herausbilden. Wir wissen dann
sofort, noch vor jeder Erinnerung und Vergleichung, ob wir es mit
einer Wahrnehmung oder Vorstellung zu tun haben.
Es ist also die entwickelte Wahrnehmung ebensowenig wie die Vorstellung
ein einfaches und von vornherein fertiges Erlebnis, sondern neue
Relationserkenntnisse treten zu der Dingerfassung hinzu und machen
aus ihr entweder eine Wahrnehmung oder eine Vorstellung. Aus diesem
Grunde begreift sich nun einerseits, wie es nicht immer zu einer
Wahrnehmung oder Vorstellung kommen kann, z. B. wenn die Eindrücke von
den Durchschnittserlebnissen abweichen, indem etwa die Wahrnehmung
sehr schwach oder die zentral erregte Vorstellung sehr lebhaft ist.
Ein absoluter Eindruck kommt da nicht auf, und auch ein absichtlicher
Vergleich führt nicht immer zur Entscheidung darüber, ob wir wahrnehmen
oder vorstellen. Anderseits wird verständlich, daß es auch bei
ausgesprochenen Erlebnissen nicht immer zum Wahrnehmungserlebnis
kommen muß. Beziehungserkenntnisse können nämlich ausbleiben,
namentlich wenn der Gesichtspunkt für sie fortfällt. Ein Dichter hat
bisweilen durchaus nicht den Eindruck, daß er die Personen seiner
Dichtung und deren Handlungen nur vorstelle, und umgekehrt vermag
der Inhalt des Wahrgenommenen uns bisweilen so zu fesseln, daß wir
uns fragen: wache ich, oder träume ich? Und endlich versteht man so
die Täuschungen über Wahrnehmung und Vorstellung. Sind die Züge,
die bei der Wahrnehmung durchschnittlich stärker auftreten als bei
der Vorstellung, infolge besonderer Umstände einmal bei den zentral
erregten Bewußtseinserscheinungen stärker ausgebildet, dann stellen
sich +Illusionen+ oder +Halluzinationen+ ein. Bei der Illusion wird
die wirkliche Wahrnehmung durch nur Vorgestelltes ergänzt: eine
wirklich gesehene Klingel hören wir fälschlicherweise auch tönen. Der
Halluzinant hingegen glaubt Dinge im objektiven Raum wahrzunehmen, die
ganz und gar seiner subjektiven Vorstellungstätigkeit entspringen.
Namentlich solche Täuschungen weisen uns darauf hin, daß unsere
Wahrnehmungen den +Charakter der Wirklichkeit+ tragen, die
Vorstellungen den des „nur Eingebildeten“. In den Wahrnehmungen
vermeinen wir den wahrgenommenen Gegenstand selbst zu ergreifen, in
den Vorstellungen nicht so. Auch diese Züge sind keine den beiden
Erlebnisweisen absolut zukommende. Die Erfahrung lehrt uns vielmehr:
bei Erlebnissen der einen Klasse, für die wir später den Namen
„Wahrnehmungen“ lernen, zeichnet sich der Gegenstand des Bewußtseins
durch größere Dauer aus; eine nähere Beschäftigung mit ihm hat auch
andere Folgen als mit einem solchen der anderen Erlebnisklasse: ein
Berühren der Kerzenflamme in der Wahrnehmung verläuft anders als in
der Vorstellung. So gewinnen wir einen Einblick in einen besonderen
Beziehungszusammenhang. Auch diese Einsicht kann als Erfahrung dem
Beziehungsgedächtnis anvertraut werden. Auch sie wird, was allerdings
durch die experimentelle Forschung noch eigens nachzuweisen bleibt,
einen absoluten Eindruck erzeugen. Auf diese Weise gestalten sich die
peripher bedingten und die zentral bedingten Eindrücke allmählich
durch die Beziehungserfassungen, durch das Beziehungswissen und
durch den absoluten Eindruck zu verschiedenartigen Erlebnissen aus,
die praktisch nur in seltenen Fällen verwechselt werden können. Es
empfiehlt sich darum, auch die Worte Wahrnehmung und Vorstellung
nur von den so ausgestalteten Erlebnissen zu gebrauchen und die
noch nicht durch Relationserfassungen ergänzten Eindrücke als
absolute Wahrnehmungen bzw. absolute Vorstellungen zu bezeichnen.
Unter Anwendung dieses Sprachgebrauches gilt dann: +zwischen
absoluten Wahrnehmungen und absoluten Vorstellungen besteht kein
wesentlicher Unterschied+; sie gehen unmerklich ineinander über --
+zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen besteht ein wesentlicher
Unterschied+; sie sind durch eine übergangslose Kluft getrennt.
Literatur
J. +Lindworsky+, Wahrnehmung und Vorstellung. ZPs 80 (1918).
4. Kap. Begriffe und Kategorien
+Aristoteles+ und nach ihm +Thomas von Aquin+ mit seiner Schule
faßten die Begriffe (Pferd, Seele, Gerechtigkeit) als species
intelligibiles, als einzelne unsinnliche Bewußtseinsinhalte, die
uns das Wesen der Dinge zeigen. Sie fußen auf der unbezweifelbaren
Beobachtung, daß wir bei dem Anhören solcher Begriffswörter einen
ganz positiven Bewußtseinsinhalt erleben. Die experimentellen und
pathologischen Erfahrungen über das Wortverständnis geben ihnen
Recht: von der ungestalteten Klangwahrnehmung geht es über die
gestaltete Worterfassung zum sinnvollen Verständnis, und jede dieser
Stufen kann für sich versagen. Außerdem betonten die Thomisten schon
gegenüber den Nominalisten, die Bedeutung der Begriffswörter gehe
nicht nur über den Wortklang als solchen hinaus, sie sei auch durch
kein Phantasma wiederzugeben; denn jedes Phantasma, jede anschauliche
Vorstellung ist individuell, die Begriffe hingegen sind wesentlich
allgemein, ihr Inhalt kann unverändert auf jedes Individuum angewandt
werden. Damit hatten sie eigentlich den Streit zwischen +Locke+ und
+Berkeley+ schon vorweggenommen. Die Erfahrung lehrte sie aber auch
die Unentbehrlichkeit der anschaulichen Vorstellungen kennen. Sie
vereinigten darum beide Erkenntnisse in der Lehre, der Verstand könne
im gegenwärtigen Zustand nur durch Hinwendung zu den Phantasmata etwas
erkennen. Hiermit war mit bewundernswerter Schärfe herausgestellt,
was eine Theorie der Begriffe zu leisten hat: es muß erklärt werden,
woher die allgemeingültigen, durch keine anschauliche Vorstellung zu
ersetzenden Bewußtseinsinhalte kommen und wie zu diesen Tatsachen die
Behinderung des Denkens infolge der Behinderung des Vorstellens paßt.
Den Allgemeinvorstellungen +Lockes+, den Typenbildern +Galtons+ sowie
allen Verdichtungs- und Möglichkeitstheorien war damit schon der Boden
entzogen. Die Klarheit der Begriffe erlaubt eben nicht, sie als eine
Zusammenziehung verschiedener Individualvorstellungen auszugeben; der
tatsächlich vorhandene Bewußtseinsinhalt widerspricht der Deutung, der
Begriff Pferd sei in der Möglichkeit beschlossen, zu dem Wort Pferd die
verschiedensten anschaulichen Vorstellungen zu reproduzieren: ein nur
möglicher Bewußtseinsinhalt kann mir nichts sagen. Anderseits weckte
die Lehre von der Unentbehrlichkeit der Phantasmen auch Zweifel an
den Versuchsergebnissen +Bühlers+, dessen Vpn absolut unanschauliche
Gedanken frei von jeder Vorstellung erlebt haben wollten. Dazu kamen
die Beobachtungen anderer Experimentatoren, die wenigstens bei länger
dauernden Vergegenwärtigungen von Begriffen stets die Entwicklung
anschaulicher Vorstellungen fanden (+Schwiete+). Aber auch die im
übrigen bestechende Theorie (+Witaseks+), wir beachteten nur das den
verschiedenen Individuen Gemeinsame und abstrahierten negativ von den
Verschiedenheiten, genügt nicht ganz. Welches anschauliche Gemeinsame
halten wir denn zurück, wenn wir aus verschiedenen Grünschattierungen
den Allgemeinbegriff grün gewinnen?
Die Lösung dieses Problems dürfte in dem Erlebnis der
Beziehungserfassungen und in der Fähigkeit zum Sachverhaltswissen
ruhen. Im Umgang mit dem Pferde z. B. erfassen wir mancherlei
Sachverhalte, die sich auf es beziehen: es hat eine bestimmte Größe,
vier Beine, einen langen Schweif usw. Haben wir nun sechs Pferde
kennen gelernt, so können wir eine Anzahl dieser Sachverhalte auf
alle anwenden, manche jedoch nur auf einen Teil. Die Summe jener
Sachverhalte, die von allen sechs Tieren gelten, ist dann unser
Begriff vom Pferde. So erklärt sich wohl das meiste: Die auf
die sechs Pferde anwendbaren Sachverhalte sind ihrer Natur nach
allgemein; wie sie auf ungezählte Individuen anwendbar sind, so
sind sie anderseits durch keine anschauliche Vorstellung adäquat
wiederzugeben. Dennoch sind sie weder erstmalig zu erlangen, noch
später gedächtnismäßig zu verwerten ohne Vorstellungen. Sachverhalte
schließen ja Beziehungen ein. Beziehungen lassen sich aber erstmalig
nur an anschaulichen Inhalten abstrahieren, und niemals wird ein
realer Gegenstand restlos in Beziehungen aufgelöst und darum auch
nicht durch Beziehungsinhalte allein wiedergegeben werden können.
So erhellt ferner, wie unsere Begriffe einer beständigen Ergänzung
und Berichtigung durch die Erfahrung unterliegen. Weiter: setzt sich
der Begriff aus einer Summe von Sachverhaltserfassungen zusammen, so
kann bei der Verwendung des Begriffes die Reproduktion von einzelnen
Teilen dieser Summe versagen und somit irrige Urteile verschulden,
obwohl man sich zuvor den richtigen Begriff angeeignet hat, eine
Tatsache, die bei der Annahme einfacher geistiger Begriffsgrößen nur
schwer zu deuten ist. Auch die widersprechenden Ergebnisse +Bühlers+
und +Schwietes+ sind nunmehr zu vereinbaren: Wir wissen heute, daß
Beziehungen erfaßbar sind, noch bevor die Fundamente der Beziehungen
klar im Bewußtsein stehen. Bei einer komplexen Denktätigkeit
haben nun die einzelnen anschaulichen Vorstellungen, die uns die
Beziehungserkenntnisse liefern, keine Zeit, sich zu entfalten; sie
sinken alsbald wieder unter die Schwelle, und auch die beste Vp
wird unter gewöhnlichen Verhältnissen mit Sicherheit behaupten, der
Gedanke sei jeglicher Vorstellungen bar erlebt worden. Es gelang
uns ja nur ganz zufällig, unter außer gewöhnlichen Bedingungen, die
anschaulichen Vorstellungen zu entdecken, die, kaum bewußt, die
Grundlagen von Beziehungserfassungen bilden. Bietet man den Vpn
jedoch nur einzelne Wörter, so bleibt den Vorstellungen Raum und
Energie, sich zu entfalten. Ist endlich für solche Entwicklung keine
volle, sondern nur eine spärliche Möglichkeit belassen, so begreift
man, wie sich infolge der zufällig herrschenden Konstellation nur
einzelne Teile der zugehörigen oder der mitangeregten Vorstellungen
höher über die Schwelle heben; möglicherweise sind diese Teile für
das Wesentliche des Begriffes ganz nebensächlich, und wir gelangen so
zu der schon lang als Paraphantasie bekannten Erscheinung.
Von hier aus klärt sich auch das Erlebnis des +Erkennens von
wahrgenommenen Gegenständen+. Man hat richtig hervorgehoben, es genüge
zum Erkennen von Dingen nicht, ihr sinnliches Bild in uns aufzunehmen,
das Ausschlaggebende sei die zum Sinneseindruck hinzukommende
Bedeutung; derselbe Sinneseindruck vertrage sich etwa mit der
Auffassung Tonscherbe und Speckschwarte (+Schapp+). Wir können jetzt
angeben, was diese geheimnisvolle +Bedeutung+ ist: nichts anderes als
das Wissen von den Beziehungen, in denen der sinnliche Eindruck zu
andern Dingen steht. Das sind zunächst jene allgemeinen Beziehungen,
die ihm den Charakter des Dinges, und zwar des wahrgenommenen Dinges,
verleihen. Dann etwa Beziehungen zu seiner Verwendung, seiner Herkunft
usw. Wenn aber solche Beziehungen überhaupt nicht vorhanden oder doch
von uns nicht gewußt wären? Dann hätten wir gleichwohl den Gegenstand
wahrgenommen, nur bliebe er uns unverständlich. Zur Wahrnehmung gehört
mithin wesentlich nur, daß der Eindruck als von einem unabhängig
von uns existierenden Dinge herrührend erkannt wird. Seine weitere
Bedeutung ermöglicht nur die verständnisvolle Erfassung. Und diese
Bedeutung schwebt nicht wie die platonischen Ideen irgendwo, sondern
ist assoziativ mit dem Sinneseindruck verbunden. Man darf auch nicht
behaupten, sie sei immer das Ausschlaggebende für den Sinneseindruck.
Normalerweise wird der Eindruck die mit ihm assoziativ verknüpften
Fundamente der Beziehungen und damit diese selbst ins Bewußtsein
ziehen. Es kann aber auch infolge der Konstellation z. B. infolge der
Erwartung die Bedeutung zuerst gegeben sein und so den undeutlichen
Sinneseindruck entweder richtig ergänzen oder wie in der Illusion
unzweckmäßig ausstaffieren oder abändern.
+Der Begriff ist ein Wissen von Sachverhalten.+ Nach der Art,
wie Sachverhalte gewonnen sein können, lassen sich darum auch
+verschiedene Gruppen von Begriffen+ auseinanderhalten. Sachverhalte
lassen sich gewinnen, indem man von dem Gegenstand in möglichst
allgemeinem Sinne ausgeht, ihn etwa als Ding auffaßt und nun seine
Beziehungen zu andern Dingen aufsucht, und zwar wiederum möglichst
allgemeine Beziehungen. So läßt sich ein Gegenstand eindeutig, aber
indirekt bestimmen. Wir können dann von ihm reden, ganz klare Urteile
über ihn fällen, ohne auch nur die geringste Vorstellung zu haben,
die uns sein anschauliches Bild vorführte. So kann der Blindgeborene
richtig von Rot sprechen, wenn er es als einen im normalen Auge
durch Ätherwellen von der Länge 762 bis 855 µµ bewirkten Eindruck
bezeichnet. Eine andere Art der Begriffsbildung ist folgende: Man
stellt sich anschaulich eine ganz bestimmte Schattierung des Rot vor
und erklärt: rot sind jene Farben, die diesem individuellen Rot
qualitativ ähnlich sind. Das ist ein richtiger Allgemeinbegriff, aber
wesentlich auf einen besonderen Fall aufgebaut. Einen solchen Begriff
kann nur der Sehende bilden. Endlich kann ich auch die anschauliche
Wirkung als Fundament jener Beziehung nehmen, die einen Gegenstand
charakterisieren soll. Auf diese Weise ist es möglich, sogar das
Gefühl als Bestandstück in die Begriffsbestimmung mit aufzunehmen.
Definiert man z. B. das Schöne als das, was eine ästhetische Wirkung
ausübt, so kann ich diese Wirkung entweder durch die Beziehungen,
die sie zu andern Erlebnissen oder andern Dingen überhaupt hat, mehr
oder weniger abstrakt festlegen, ich kann sie mir aber auch nach
Kräften anschaulich vergegenwärtigen und erklären: schön ist das,
was „so“ auf mich wirkt, demgegenüber mir „so“ zumute ist. So stehen
also den abstrakten Begriffen solche mit anschaulichem Einschlag zur
Seite. Für die wissenschaftliche Arbeit sind letztere wenig geeignet,
da sie verhältnismäßig viel Zeit und Kraft verbrauchen. In der
künstlerischen und religiösen Betrachtung hingegen spielen sie eine
große Rolle.
Sollten nicht die +Kategorien+, die allgemeinsten Begriffe von
Gleichheit, Verschiedenheit, auf diesem Wege in unser Geistesleben
eingeführt worden sein? Der Umstand, daß statt einer erwarteten
Speise etwa eine andere kommt, bedingt Empfindungen ganz eigener
Art, die keineswegs die Beziehungserfassung der Andersartigkeit zur
Grundlage zu haben brauchen. Unter günstigen Verhältnissen läßt
sich sehr deutlich beobachten, wie das Zusammentreffen eines neuen
Eindruckes mit einer fremdartigen Einstellung ausgesprochene innere
Empfindungen hervorruft, die zumeist auch von charakteristischen
Gefühlen begleitet sind. Mit dieser anschaulichen Wirkung der
Verschiedenheit verbindet das Kind die von den Erwachsenen
übernommene Bezeichnung „anders“, „verschieden“ (dem Urmenschen mag
die der gleichen Gefühlswirkung entsprechende gleichmäßige Kundgabe
allmählich zum Namen dieses Sachverhaltes geworden sein). „Anders“,
„verschieden“ ist also am Platze und stellt sich überdies assoziativ
ein, wenn es „so tut“. Es tut aber so, wenn das nicht kommt, was man
bewußt oder unbewußt erwartete. So erlangt das Wort „verschieden“
dank der wachsenden Erfahrung seinen abstrakten Sinn. Es würde zu
weit führen, diesen Gedanken für alle Kategorien auszuwerten.
Literatur
K. +Bühler+, Die geistige Entwicklung des Kindes³. 1922.
J. +Lindworsky+, Zur Psychologie der Begriffe. Philos. Jahrbuch
(1919) und Umrißskizze zu einer theoret. Psychologie². 1923. S. 31 ff.
N. +Ach+, Über die Begriffsbildung. 1921.
5. Kap. Die Gewißheit
Man hat die Gewißheit bisweilen als eine Eigenschaft der Erkenntnis,
bisweilen als ein besonderes Gefühl hingestellt. Tiefergehende
empirische Untersuchungen liegen darüber noch nicht vor. Wir
beschreiten darum den Weg der Synthese; zeigen, wie die uns bekannten
Faktoren notwendig wirken müssen, und prüfen, ob die Vereinigung dieser
Faktoren ausreicht die anderweitig bekannten Erscheinungen zu erklären.
Nehmen wir an, es gäbe kein elementares Gewißheitserlebnis, dann hätte
ein denkendes Individuum am Anfang seiner Denktätigkeit wohl etwa
die Einsicht: A größer als B, aber diese Einsicht wäre weder gewiß
noch ungewiß, sondern schlicht und unangefochten gegeben. Machte nun
ein solcher Mensch die Erfahrung, daß etwa bei flüchtigem Hinschauen
Einsichten gewonnen werden, die sich bei sorgfältiger Auffassung
nicht bestätigen, so hätte er eine neue Zusammenhangsbeziehung
erkannt: flüchtiges Hinsehen ist verbunden mit der Unbeständigkeit
der so erlangten Einsichten, genaues Hinsehen ist verbunden mit der
Beständigkeit der Einsicht. Würde ihm nun die Frage vorgelegt, ob seine
Erkenntnis: A größer als B, auch gewiß, d. h. von Bestand sei, so würde
er prüfen, ob er flüchtig oder genau hingesehen hatte, und mit dieser
Beziehungseinsicht begründen, daß A wirklich größer als B sei. Die
Gewißheit bestände hier also in einer zweiten Beziehungserfassung, die
sich auf die Art und Weise, wie die erste gewonnen wurde, erstreckt.
Die fortschreitende Erfahrung lehrt noch andere Umstände kennen,
durch welche die Zuverlässigkeit einer Beziehungserfassung in Frage
gestellt werden kann. Sind solche Hindernisse einer zuverlässigen
Erkenntnis nicht zu entdecken, so herrscht wieder Gewißheit.
Erkenntnistheoretische Überlegungen werfen erst später das Problem
auf, ob denn die Dauerhaftigkeit einer Einsicht deren absolute
Richtigkeit verbürge; es wäre ja möglich, daß die bisher für gewiß
gehaltene Einsicht, nämlich die unmittelbare und ungehindert vollzogene
Beziehungserfassung, zwar die beste Erkenntnis sei, die uns Menschen
möglich ist, aber keine Gewähr biete, der absoluten Wirklichkeit zu
entsprechen. Mit andern Worten, die Zurückführung einer Erkenntnis
auf eine unmittelbare, ungestörte Beziehungserfassung gebe zwar eine
natürliche, aber keine philosophische Gewißheit. Dieses Problem ist
durch erkenntnistheoretische Erwägungen zu lösen, deren Ergebnis
entweder zur Ergänzung der natürlichen durch die philosophische
Gewißheit oder zum Verzicht auf letztere führt.
Die Gewißheit besteht nach dem Gesagten in neuen
Sachverhaltserfassungen über die Art und Weise, wie dieser als gewiß
zu beurteilende Sachverhalt selbst erkannt wurde. Die Gewißheit kann
sich darum steigern, zwar nicht als Einsicht; denn Einsichten sind
entweder vorhanden oder nicht vorhanden, wohl aber hinsichtlich der
Begründung dieser Einsicht. Die Einsicht, daß wir uns nicht geirrt
haben, pflegt aber auch von +Gefühlen+ begleitet zu sein, von Lust-
und Tätigkeitsgefühlen, wie sie den Wanderer überkommen, der sich
davon überzeugt, daß er den rechten Weg eingeschlagen. Diese Gefühle
lassen nun eine erhebliche Steigerung zu, und an sie denken wir
zumeist, wenn wir von Gewißheit sprechen.
Wo immer die gleichen oder verwandte Sachverhalte erfaßt werden,
kürzt sich auf die Dauer dieser Prozeß ab. Wie das geschieht, wurde
oben dargestellt (S. 178). Hier dürften namentlich die +Kriterien+
eine bedeutende Rolle spielen. Das rasche und klare Auftreten einer
Einsicht wird uns z. B. zum Kriterium dafür, daß alle Bedingungen
für eine sichere Erkenntnis erfüllt waren. An das Wissen darüber,
vielleicht auch an diese Kriterien selbst können sich nun assoziativ
die Träger des Gewißheitsgefühles anschließen und so bisweilen eine
subjektive Sicherheit erzeugen, über die man im einzelnen nur schwer
Rechenschaft ablegen kann.
6. Kap. Das schlußfolgernde Denken
Nachdem sich uns der lang verborgene Vorgang des naturgemäßen
Schlußfolgerns enthüllt hat, ist es auch klar geworden, daß die
psychologische Erörterung dieses Prozesses nicht mit der Besprechung
des Syllogismus anheben darf. Der Syllogismus ist ein Kunstprodukt und
verlangt ein sehr eindringliches Studium und feinste Selbstbeobachtung,
um das in ihm verhüllte psychologische Rätsel zu lösen. Nur das eine
offenbart er uns leicht, was ein Schluß zu +leisten+ hat: aus schon
vorhandenem Wissen wird ohne Zuhilfenahme der Wahrnehmung ein neues
Wissen erschlossen. Damit ist der Weg für die experimentelle Forschung
gewiesen: man veranlasse die Vpn, in freier Weise aus ihrem bisherigen
Wissen zu neuen Einsichten zu gelangen. Die mannigfaltigsten Aufgaben
mußten durchprobiert, aus der Fülle der Erlebnisse mußten alle rein
reproduktiven Vorgänge ausgeschieden werden, bis man endlich zu der
unter Vorstellungen und Gefühlen ganz vergrabenen Seele des Prozesses
vordrang. So ergab sich denn folgendes.
Der naturgemäße Schluß läßt sich als +eine Beziehungserfassung an
gewußten Sachverhalten+ definieren. Er ist somit kein Elementarvorgang,
sondern setzt sich aus den schon bekannten Erscheinungen des
Relationswissens und der Relationserfassung zusammen. Das
Vermittelte, Abgeleitete des Schlusses beruht darin, daß die neue
Beziehungserfassung an dem schon vorhandenen Wissen erfolgt. Seine
einfachste Form ist etwa in folgendem Beispiel erkennbar: A liegt über
B, das weiß ich, und ich erfasse neu daran: also B unter A. Auf dieses
Schema lassen sich alle schlußmäßig gewonnenen Erkenntnisfortschritte,
auch die innerhalb verwickelter Aufgaben, zurückführen. Dabei kann
man füglich drei Hauptarten unterscheiden, in denen der naturgemäße
Schluß auftritt. Erstens: der gewußte Sachverhalt wird anschaulich
dargestellt, und an dieser anschaulichen Darstellung wird wie an einer
Wahrnehmung eine neue Beziehung erfaßt. A über B wird etwa wie auf
einer Tafel geschrieben gesehen, und an diesem inneren Bilde wird dann
abgelesen: B unter A. Dieselbe Beziehung kann aber auch ohne jede
Veranschaulichung rein begrifflich erfaßt werden. Und drittens kann
sich rein assoziativ an den ersten Satz bzw. an das „oberhalb“ das
„unterhalb“ anschließen und als richtige Folgerung erkannt werden.
Namentlich diese dritte Art ist sehr häufig. Es bewahrheitet sich bei
ihr das Dichterwort von der „gebildeten Sprache, die für uns dichtet
und denkt“. Aber gerade in solchen Fällen wird unter den günstigen
Bedingungen des Experimentes bisweilen handgreiflich deutlich, daß
der Schlußakt etwas anderes ist als die einfache assoziative Folge
von Subjekt und Prädikat. Ist nämlich die Beziehungserfassung „ist
gleich“ nicht erfolgt, dann erscheint die rein assoziativ dargebotene
Ergänzung wie ein Lösungsvorschlag, der erst geprüft werden muß, und
aus der Schlußaufgabe wird ein Begründungsvorgang.
Der Schlußvorgang kann auch folgendermaßen beschrieben werden:
Wissensmäßig ist uns ein Sachverhalt gegeben. Dieser Sachverhalt
besitzt eine weitere Seite, die bisher noch nicht beachtet wurde.
Ich weiß z. B., mein Freund A hat die Gicht. Mit dem Sachverhalt
„Gicht haben“ ist aber der andere „mürrisch sein“ verbunden,
doch habe ich bis jetzt nicht darauf geachtet. Jetzt fällt mein
beziehendes Blicken auf diese neue Seite des Sachverhaltes „A ist
gichtig“, und ich erkenne: A ist mürrisch. So angesehen, lassen sich
zwei Hauptfälle unterscheiden: Die neue Seite des Sachverhaltes
ist entweder von vorneherein dem Bewußtsein gegeben, nur ist die
Beziehung zwischen dem Ausgangspunkt und dieser anderen Seite noch
nicht erfaßt, oder die neue Seite des Sachverhaltes entfaltet sich
erst während des Denkens. Beidemal kann der Sachverhalt anschaulich
oder auch begrifflich gegeben sein. Im ersteren Fall nähert sich
die Schlußfolgerung der einfachen Wahrnehmung, im letzteren Fall
verschwindet sie häufig fast ganz hinter dem inneren Sprechen.
Zudem kann die eigentliche Seele des Schlusses, die neugewonnene
Beziehungserkenntnis, dadurch noch mehr zurücktreten, daß die
Blickrichtung schon von vorneherein festgelegt ist, so wenn ich
mich frage: was haben wir von der gegenwärtigen Lage zu erwarten?
In dieser Einstellung ist schon das Schema „A ist ...“ angelegt. Es
braucht nur noch durch eine neu auftauchende Seite des Sachverhaltes
ausgefüllt zu werden. Darum fällt auch der Nachdruck des Erlebnisses
auf die Reproduktion dieser neuen Seite und nicht auf die Erfassung
der Beziehung, obwohl ohne diese von einem Erkenntnisfortschritt
nicht die Rede sein kann.
Die zuletzt beschriebenen Fälle des in Worte gekleideten Denkens
hat die Gelegenheitsbeobachtung schon herausgegriffen, als sie die
Behauptung aufstellte: wir denken in Enthymemen. Die experimentelle
Beobachtung mußte demgegenüber nachweisen, daß das Enthymem nur
+eine+ der verschiedenen Schlußweisen ist. Übrigens vermochte die
Heraushebung solcher enthymemartiger Schlüsse noch kein rechtes Bild
von dem Wesen des Schlußvorganges zu vermitteln. Denn einerseits hat
sie den wichtigsten Teil des Prozesses, eben die Beziehungserfassung,
nicht ans Licht gezogen, anderseits legte sie unverdienten Nachdruck
auf das „also“. Logische Erwägungen und die Art der Darstellung der
Schlüsse ließen bisher glauben, im Vordergrunde des Schlußerlebens
stehe die Betonung des Zusammenhanges zwischen der Ausgangs- und der
Schlußerkenntnis. Dem ist aber keineswegs so, wie das Experiment
gezeigt hat. Das Wichtigste ist für den Erlebenden die neue
Erkenntnis selbst. Erst wenn er an ihrer Richtigkeit zweifelt oder
wenn er sie für einen anderen begründen will, wird das „also“,
wird der innere Zusammenhang zwischen Voraussetzung und Folgerung
hervorgehoben. Die logische Richtigkeit ist beim naturgemäßen
Schließen überhaupt eine spätere Sorge. Das zeigt sich namentlich bei
den Zusammenhangsrelationen. Wir schließen da in der Regel auf das
(alleinige) Bestehen jenes Zusammenhanges, der sich uns gerade dank
der Konstellation anbietet. So folgert man etwa aus dem Satz „A ist
Schwager“: also hat er eine verheiratete Schwester.
Es bedingt nun gar keinen Unterschied, ob der Ausgangssachverhalt
durch einen oder mehrere Sätze (oder Wahrnehmungen) beschafft wird.
Zwischen der sog. unmittelbaren Folgerung A über B, also B unter A,
und der mittelbaren Folgerung A über C, C über B, also B unter A,
besteht gar kein Wesensunterschied. Beidemal wird ein Sachverhalt in
unser Wissen eingeführt, und an dem so gewonnenen Sachverhaltswissen
wird eine neue Beziehung erfaßt. Ähnlich verhält es sich mit dem
regelrechten +Syllogismus+ der Logik. Auch seine Prämissen dienen nur
dazu, den Gesamtsachverhalt vorzulegen. Das syllogistische Schließen
unterscheidet sich von dem naturgemäßen auf doppelte Weise. Hier ist
häufig der Gesamtsachverhalt von Anfang an noch nicht gegeben, die
neue Seite des Sachverhaltes, auf die sich das beziehende Blicken
richtet, ist noch nicht entfaltet, und es bleibt oft der zufälligen
Konstellation anheimgegeben, welche der verschiedenen Seiten des
Sachverhaltes sich darbieten werden. Dieser Zufälligkeit beugt der
Syllogismus vor, indem er durch einen der Vordersätze gerade jene
Seite des Sachverhaltes bewußt macht, auf die der Schluß gehen soll.
Außerdem wird die Beziehungsrichtung durch die begünstigte Stellung
von S und P vorbereitet. Es kann nun auch beim Syllogismus der Schluß
vermittels einer Beziehungserfassung an einem anschaulich gegebenen
Gesamtsachverhalt gewonnen werden, oder es können die begrifflichen
Beziehungen im Vordergrunde stehen, oder es kann die sprachliche
Form besonders betont sein. Daraus ergeben sich mannigfache, aber
ziemlich gesetzmäßig sich bildende Variationen, die hier im einzelnen
nicht aufgezählt werden können. Doch sei noch folgende lehrreiche
Beobachtung erwähnt: Man kann an Hand der wohlverstandenen Prämissen
zu dem Schlußergebnis gelangen, ohne den oben geschilderten Prozeß
durchzumachen. Die Beobachter erklären in solchen Fällen einhellig,
sie hätten kein Schlußerlebnis gehabt. Wenn nämlich der Mittelbegriff
infolge des Obersatzes prägnant wird, wenn z. B. in dem bekannten
Syllogismus von dem sterblichen Menschen das Wort Mensch im Untersatz
„Cajus ist ein Mensch“ sich schon mit der Bedeutung „sterblich“
versehen darbietet, wird die Sterblichkeit des Cajus ohne jene neue
Beziehungserfassung erkannt, in der wir die Seele des Syllogismus und
des Schlusses überhaupt erblicken.
Verwandt mit dem Schließen ist das +Begründen+. Nur ist hier das
Ziel der Denkarbeit in dem zu ermittelnden Sachverhalt schon
gegeben. Der Begründungsvorgang verläuft nun im allgemeinen so, daß
der Denkende durch eine Analyse des Sachverhaltes zu einem anderen,
sicher feststehenden Sachverhalt vorzudringen sucht, von dem aus
er durch einen eigentlichen Schluß den zu begründenden Sachverhalt
wiedergewinnt. Ähnlich wie bei dem Schlußprozeß das „also“, tritt hier
das „denn“ in den Hintergrund.
Literatur
G. +Störring+, Experim. Untersuchungen über einfache Schlußprozesse.
ArPs 11, 1908.
J. +Lindworsky+, Das schlußfolgernde Denken. 1916.
7. Kap. Das produktive Denken
Unter produktivem Denken verstehen wir hier ganz allgemein das Denken
im Dienste bestimmter Aufgaben. Solches Denken ist ganz wesentlich eine
Willenshandlung und muß unter diesem Gesichtspunkt später noch eigens
betrachtet werden. Hier berücksichtigen wir nur die Erkenntnisvorgänge.
Früher glaubte man, eine gestellte Aufgabe lasse alle möglichen mit
dem Aufgabewort assoziierten Vorstellungen auftauchen; man ginge
dann die einzelnen Vorstellungen durch, verwerfe die unpassenden und
greife die passende heraus. Nun hat aber +Selz+ gezeigt, daß von
einer solchen diffusen Vorstellungsreproduktion keine Rede sein kann.
Nicht unzusammenhängende Einzelvorstellungen tauchen auf, sondern das
methodische Verfahren, das wir zur Lösung der Aufgabe früher erlernt
haben, wird uns bewußt. Die Vorstellung des Verfahrens wirkt nun als
antizipierendes Schema und liefert uns gleichfalls keine diffusen,
sondern nur die mit ihm einen Komplex bildenden sachdienlichen
Vorstellungen. Sie werden mit der Aufgabe verglichen, und wenn durch
eine Beziehungserfassung ihre Übereinstimmung mit der Aufgabe erkannt
ist, werden sie angenommen, andernfalls wird methodisch weiter gesucht.
Wir fanden diese Ergebnisse auf einem von +Selz+ nicht untersuchten
Gebiet bestätigt. Unseren Vpn war die Aufgabe gestellt, Vergleiche
zu finden, z. B. was läßt sich mit einem Bügeleisen vergleichen?
Es drängen sich nun keineswegs alle möglichen mit „Bügeleisen“
assoziierten Vorstellungen auf, sondern die Vpn fragen sich in der
Regel: was tut das Bügeleisen? Sie abstrahieren also einen bestimmten
Sachverhalt, z. B. den des Glättens. Dieser Zug dient nun als
antizipierendes Schema für eine weitere Komplexergänzung: was glättet
auch? Der Komplex ergänzt sich etwa durch die Vorstellung: sanfte Worte.
Allgemein gesprochen handelt es sich also bei der Lösung von Aufgaben
darum, Ziel und Mittel zusammen zu bringen. O. +Selz+ unterscheidet
hier vier mögliche Fälle. 1) Das zu erreichende Ziel und die zum Ziel
führenden Mittel können dem Denker bekannt und gegenwärtig sein.
Weiß er außerdem noch die Zuordnung jener Mittel im allgemeinen
zu dieser bestimmten Art von Zielen, so braucht er einfach diese
anzuwenden. Ein Beispiel: Sind vielstellige Zahlen zu multiplizieren,
so braucht man sich nur an den Sachverhalt zu erinnern, daß eine
bestimmte logarithmische Rechnungsweise zum Ziel führt und sich jenes
Verfahren selbst wieder zu vergegenwärtigen und anzuwenden. Es sind
also in der Hauptsache Sachverhalts-, d. h. Komplexreproduktionen
(S. 173), die hier in Frage kommen. 2) Ist das Ziel gegeben, ein
zweckdienliches Mittel jedoch noch nicht bekannt, so werden ebenfalls
vermittels Komplexreproduktionen mannigfache Mittel ins Gedächtnis
gerufen, die allenfalls in Frage kommen könnten, und diese werden
einzeln auf ihre Tauglichkeit geprüft. So hätte man sich etwa zu
fragen: sind Logarithmen zur Addition verwendbar? Hier muß also zur
Reproduktion noch die Beziehungserfassung der Geeignetheit, wohl
zumeist eine Erfassung der Gleichheit, hinzutreten. Dabei wird häufig
ein Schlußprozeß eingreifen. Jedes Mittel stellt nämlich für uns
einen Sachverhalt dar. Zeigt sich nun dieser Sachverhalt von einer
Seite, die für unsere Zwecke wertlos ist, so verwerfen wir es als
ungeeignet. Durch schlußfolgerndes Denken entdecken wir aber unter
Umständen an diesem Sachverhalt eine neue Beziehung, wie wir sie
brauchen, und anerkennen nun das Mittel als das erwünschte. Wir suchen
z. B. nach einem Werkzeug, das uns die Dienste einer Zange leistet.
Wir finden eine Schere. Ihre Geeignetheit zum Schneiden befriedigt
uns nicht. Da entdecken wir, daß sie, quergestellt, zum Packen und
Heben verwendbar sei, und sind so zum Ziele gelangt. Es befreit uns
also der Schluß aus den Fesseln der Assoziationen, wenngleich sein
Zustandekommen gar häufig auch von assoziativen Bedingungen abhängt.
3) Birgt aber unser Gedächtnis kein taugliches Mittel, so sind wir auf
die Gnade des Zufalls angewiesen. Dank der Determination zur Lösung
der uns vorschwebenden Aufgabe, von der bei den Willenshandlungen
noch die Rede sein wird, bleiben wir nämlich auf das Entdecken eines
geeigneten Mittels eingestellt und richten gleichsam an alle Dinge,
die uns begegnen, die Frage, ob sie nicht für unsere Zwecke verwendbar
seien. Der weitere Verlauf ist derselbe wie im vorigen Falle: entweder
wir erkennen die Untauglichkeit des Mittels oder wir entdecken durch
unmittelbare oder mittelbare Beziehungserfassung seine Brauchbarkeit
und rufen erfreut unser Heureka. 4) Endlich kann uns ein Mittel und
sein Erfolg als etwas Tatsächliches, aber von uns nicht Erstrebtes
zufällig dargeboten werden. So bemüht sich der Primitive, ein Tongefäß
in einem geflochtenen Korb zu formen, der Korb aber hinterläßt
ornamental wirkende Eindrücke in der Tonmasse. Eine dreifache
Relationserfassung wird hier das schöpferische Denken ausmachen:
die regelmäßigen Eindrücke müssen als die Ursache des ästhetischen
Genusses, der Korb als Ursache der Toneindrücke und die Erzeugung
solcher Eindrücke als ein mögliches Ziel eigener Tätigkeit erkannt
werden.
Komplexergänzung, Beziehungserfassung und Willensvorgänge sind die drei
Faktoren, die in das produktive Denken Richtung, Ordnung und Abkürzung
hineinbringen. Wollte man es ohne die beiden letzten Faktoren oder gar
einzig und allein mit Elementarassoziationen begreifen, so wäre das
ein ebenso aussichtsloses Beginnen, wie wenn man Goethes Faust aus
blindlings hingeworfenen Buchstaben zu erhalten hoffte.
Aus dem bisher Gesagten können wir leicht zwei Arten der Begabung
für das produktive Denken ableiten: die Begabung zum +Entdecken+ und
die zum +Erfinden+. Am vorgegebenen Inhalt müssen Beziehungen erfaßt
werden, das ist die Sache des Entdeckers; das nur wenig bestimmte
antizipierende Schema muß sich leicht mit einem bestimmteren Inhalt
füllen, das ist die Begabung des Erfinders. Man wird aber die
Befähigung des Entdeckers nicht im Gegensatz zu der des Erfinders auf
dem Gebiet des „Intellektes“, d. h. der Beziehungserfassung selbst
zu suchen haben. Soweit mein Beobachtungsmaterial reicht, beruht
die Entdeckergabe nicht so sehr darauf, daß man an +zwei+ schon
vorliegenden Inhalten Beziehungen erfaßt, als vielmehr darauf, daß der
eine gegenwärtige Inhalt leicht einen zweiten verwandten ins Bewußtsein
ruft, anders gesagt: daß die allgemeineren Züge eines gegebenen
Vorstellungsinhaltes leicht die eines anderen Vorstellungskomplexes
miterregen. Die Beziehungserfassung folgt dann nach und vollendet die
Entdeckung. -- Die Absicht und die Einstellung zu erfinden oder zu
entdecken ist für den Erfolg von höchster Bedeutung und kann bis zu
einem gewissen Grad die Begabung ersetzen. Aber nur selten wird sich
ohne diese Begabung Erfinderfreude und Entdeckereinstellung ausbilden.
Literatur
O. +Selz+, Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums.
1922.
J. +Lindworsky+, Vorzüge und Mängel bei der Lösung von Denkaufgaben.
ZaPs 18 (1921).
8. Kap. Urteil, Annahme und Frage
1. Das Urteil
Der seelische Vorgang beim Urteilen ist noch keineswegs mit Sicherheit
erkannt. Man hat in den psychophysischen Experimenten die Vpn immer
und immer wieder urteilen lassen, freilich ohne den Urteilsvorgang
als solchen zum Gegenstand der rückschauenden Beobachtung zu
machen, aber auch als Nebenresultat haben diese Versuche für das
psychologische Wesen des Urteils kaum einen Ertrag gehabt. Die
Untersuchung +Marbes+ jedoch, die unmittelbar dem Urteil als solchem
gewidmet war und zum erstenmal die systematische Selbstbeobachtung
darauf anwendete, scheiterte an der allzuweiten Bestimmung des
Gegenstandes: jeder psychische Vorgang, auf den das Prädikat richtig
oder falsch sinngemäß anwendbar sei, sollte als Urteil gelten. Das
mußte notwendig zu +Marbes+ Ergebnis führen: es gibt kein für das
Urteil charakteristisches Erlebnis. Überdies fehlte es den Vpn +Marbes+
damals noch an der erforderlichen Schulung in der Selbstbeobachtung
für diese überaus schwierige Aufgabe. Ergebnisreicher war eine Arbeit
von +Messer+. Sie sicherte den erlebnismäßigen Unterschied des Urteils
von jeder rein assoziativ bedingten Wortfolge wie von der attributiven
Beziehung und ließ den aktiven Charakter des Urteils erkennen. Seit
dieser Zeit wurde der Urteilsakt nicht mehr experimentell erforscht, so
daß wir uns einstweilen noch mit einer phänomenologischen Analyse unter
Verwertung anderweitiger experimenteller Ergebnisse behelfen müssen.
Da die Sprachwissenschaft ebenso wie die Logik sich mit dem
Urteil abgeben, erstreckt sich die Bezeichnung „Urteil“ nicht
auf gleichartige Erlebnisse: ein nachgesprochener Satz ist gewiß
eine andere Bewußtseinserscheinung als etwa ein „freventliches
Urteil“. Was hier untersucht werden soll, ist die ausgesprochenste
Erlebnisweise, wie sie in dem „überzeugten“, dem „abschließenden“,
dem sittlich bewertbaren Urteil vorliegt. Von diesen Urteilen
kann nun heute als feststehend gelten, daß sie mehr sind als eine
bloß assoziativ bedingte Wortfolge. Man kann sie ferner weder
als eine Verbindung zweier Vorstellungen, noch als die Zerlegung
einer Gesamtvorstellung in ihre Teile (+Wundt+) auffassen. Wir
verweisen hier auf die scharfe Kritik, die +Franz Brentano+ an
den alten, unzulänglichen Urteilstheorien geübt hat. Das haben ja
auch die Vpn +Messers+ deutlich bekundet, und das ergibt sich aus
der allgemein zugestandenen Tatsache, daß +ein Urteil immer einen
Sachverhalt betrifft+. Auch die Impersonalien wie „Feuer!“, „es
blitzt“ stellen uns nicht Vorstellungen bzw. Dinge dar, sondern
eigentliche Sachverhalte: der Vorgang selbst ist ein Sachverhalt und
enthält überdies noch mannigfache Beziehungen, so zu Raum und Zeit:
es blitzt hier, es regnet jetzt. Sachverhalte lassen sich aber,
wie oben gezeigt wurde, bewußtseinsmäßig nicht mit Vorstellungen
allein wiedergeben. Zu einem Urteil gehört somit auf jeden Fall eine
Sachverhalts-, eine Beziehungserkenntnis. Man wollte darum schon
umgekehrt das Urteil der Beziehungserfassung gleichsetzen.
Indes nicht jede Beziehungserfassung kann ein Urteil genannt werden.
Lege ich jemand ein aus verschiedenfarbigen Strichen hergestelltes
Vieleck vor und lasse dessen Regelmäßigkeit beurteilen, so kann auch
die Verschiedenheit der Farben als solche erkannt werden. Wie nun
die Untersuchungen über Haupt- und Nebenaufgaben gelehrt haben, kann
diese zweite Erkenntnis auf den verschiedensten Bewußtseinsstufen
erlangt werden, und zwar auf so tiefen, daß zwar noch eine rechte
Beziehungserfassung vorhanden, aber von dem charakteristischen
Urteilserlebnis keine Spur zu bemerken ist. Anderseits bedarf es zum
Urteil keiner originalen Beziehungs+erfassung+, sondern es genügt
das Verständnis der im Urteil ausgesprochenen Beziehung. Ohne eigene
Einsicht kann ich die Meinung eines anderen zu meinem Urteil machen
oder ein früher gewonnenes Urteil ohne Einblick in seine sachliche
Begründung mit voller Überzeugung von neuem fällen.
Zu der wenigstens verstehenden Kenntnisnahme von einem Sachverhalt
(er heiße „Grundsachverhalt“) tritt aber in einem echten Urteil, wie
schon von altersher bemerkt wurde, eine persönliche Überzeugung oder
wenigstens eine +Gewißheit+ des Urteilenden. Das nur verstehende
Aussprechen eines Satzes ist kein Urteil. Da aber, wie eben bewiesen,
die selbständige Beziehungserfassung auch nicht das Wesen des Urteils
ausmacht, so scheint nichts übrig zu bleiben als die Gewißheit, die
entweder auf eigener Einsicht oder auf fremder Autorität beruht. Wir
haben oben (S. 181 f.) gezeigt, wie Gewißheit zustandekommen und in
welchen Erlebnissen sie bestehen kann. Das alles ist zweifellos beim
echten Urteil vorhanden. Aber ist damit das ganze Urteilserlebnis
erschöpft?
Die experimentelle Untersuchung hebt ein +aktives Moment+ beim Urteil
als besonders charakteristisch hervor. Dasselbe betonen fast alle
Psychologen, die das Wesentliche des Urteils in dem Bejahen und
Verneinen erblicken. Nun liegt ja schon in der Beziehungserfassung
etwas Aktives, und man könnte meinen, die zwar nicht immer, aber doch
häufig beim Urteil auftretenden originalen Beziehungserfassungen
machten, vielleicht im Verein mit dem aktiven Aussprechen, den
Charakter des Urteils aus. Allein Versuche mit Beziehungserfassungen
lehrten, daß der Aktcharakter der Beziehungen unter Umständen
zurücktritt, bisweilen von den Vpn völlig verkannt wird. Er müßte
darum ganz verschwinden bei Urteilen, deren Grundsachverhalt ebenso
wie ihre Gewißheit (Begleitsachverhalt) in einem statischen Wissen
und nicht in einem dynamischen Erfassen gegeben sind. Und was die
Entleihung des aktiven Charakters aus vorhandenen oder intendierten
Sprechmuskelbewegungen betrifft, so lassen sich diese herabsetzen,
ohne daß der aktive Charakter Einbuße leidet. Wir müssen darum nach
weiteren Zügen des Urteilserlebnisses suchen.
Beachtet man, wie sich die Menschen bisweilen für eine bloße
Behauptung ereifern können, so kann man nicht daran zweifeln, daß
für das Zustandekommen eines ausgeprägten Urteils das Wollen von
Bedeutung ist. Was will aber der Urteilende? Unterscheiden wir
vorgreifend das Wollen als ein Lieben und als ein Tunwollen. Das
Objekt des Liebens braucht nicht der Grundsachverhalt zu sein; man
behauptet ja auch sehr unliebsame Grundsachverhalte. Es kann aber
sehr wohl der Begleitsachverhalt sein, nämlich daß wir die Wahrheit
gefunden haben; denn das ist zweifellos ein Wert. Aber auch das
Tunwollen verlangt sein Objekt. Es ist nun ein erstrebenswertes Ziel,
daß andere erfahren und glauben, +daß+ wir die Wahrheit gefunden und
was wir als Wahrheit gefunden. Das naturgemäße Mittel hierzu ist
die sprachliche Äußerung von Grund- und Begleitsachverhalt, wobei
letzterer in der Regel nicht eigens formuliert, sondern nur durch die
Art und Weise, wie wir den Grundsachverhalt aussprechen, kundgegeben
wird. Bezweifelt man die Richtigkeit unserer Aussage, so heben
wir den Begleitsachverhalt eigens hervor oder beweisen ihn. Diese
Momente dürften für Urteile, deren Grund- und Begleitsachverhalt uns
evident erscheint, genügen. Bei andern hingegen, insbesondere bei
Urteilen, die ich auf fremde Autorität hin fälle, vollendet erst der
willkürliche Akt des Zustimmens das eigentliche Urteilserlebnis.
Von diesem Standpunkt aus läßt sich nun mancherlei klar überschauen:
Neben der erkannten Gewißheit gibt es noch eine Sicherheit des
Urteilens. Sie dürfte, abgesehen von den Gefühlsmomenten, die
sich aus der Gewißheit ergeben, wesentlich in der Entschiedenheit
und Unbedingtheit des Wollens liegen. Die verschiedenen Arten des
Urteils, positives, negatives, wahrscheinliches, existenziales und
kategorisches Urteil, wären darnach nicht Abarten des Urteilsaktes,
sondern des Urteilsgegenstandes und darum in der Psychologie nicht zu
erörtern[8]. Allerdings kann sich bei dem negativen Urteil ebensogut
wie bei dem positiven ein Wollen auch auf den Grundsachverhalt
erstrecken und dem Urteilserlebnis noch eine besondere Färbung geben:
„ich habe gesiegt“, „ich bin nicht verloren“. Aber diese Beimischung
hat mit dem Urteilscharakter als solchem nichts zu tun, wie man
sofort erkennt, wenn man die Grundsachverhalte umtauscht: „ich bin
verloren“, „ich habe nicht gesiegt“.
2. Die Annahme
Die Annahme wird häufig mit dem Urteil zusammengebracht, weil sich
ihre äußere Form, der Satz, mit der äußeren Form des Urteils teilweise
deckt. Wir erfassen sie indes wohl gründlicher, wenn wir sie mit der
selbsttätigen Beziehungserkenntnis vergleichen. Die letztere ist
nur möglich an einem vorgegebenen Sachverhalt und bedeutet eben ein
Entdecken einer in einem objektiven Sachverhalt steckenden Beziehung.
Nachdem wir aus solchen Beziehungserfassungen die weitere Beziehung
abstrahiert haben, daß es Beziehungen gibt, welches ihr allgemeines
Schema ist und welches ihre Bestandteile sind, sind wir in der Lage,
in Gedanken Beziehungen herzustellen. Wir brauchen dazu nur bestimmte
Glieder gedanklich in ein beliebiges Verhältnis zueinander zu bringen,
wobei wir uns um die objektive Verwirklichung dieser Beziehungen nicht
kümmern. Die Annahme ist also eine willkürlich in Gedanken hergestellte
Beziehung zwischen beliebigen Gegenständen. Ihren sprachlichen Ausdruck
findet sie in dem abhängigen Aussagesatz.
3. Die Frage
Das psychologische Wesen der Frage bietet nunmehr keine Schwierigkeit.
Die eigentliche Frage ist offenbar der (geäußerte) Wunsch, den
herrschenden Sachverhalt kennen zu lernen. Das gilt für die allgemeine
Frage: Was gibt’s? Dieser Wunsch hat sich in der Sprache eine
charakteristische Ausdrucksform geschaffen und ist mit dieser ebenso
innig verschmolzen wie das Wollen mit dem ausgeprägten Urteil. Wir
stellen aber auch spezielle Fragen: Regnet’s? Diese Art zu fragen
wird uns nur durch die Fähigkeit, Annahmen zu bilden, ermöglicht.
Eine solche bestimmte Frage ist ja nichts anderes als der geäußerte
Wunsch, das Verhältnis des tatsächlich bestehenden zu einem schlicht
angenommenen Sachverhalt kennen zu lernen. Dieser Frage nach dem
Grundsachverhalt tritt die Frage nach dem Begleitsachverhalt:
„Wirklich?“ an die Seite (Überzeugungsfrage).
Wie es scheinbare Urteile gibt, so gibt es auch +scheinbare Fragen+.
In solchen beobachten wir die uns bekannte Verhaltungsweise des
Fragenden, beabsichtigen aber damit nicht den erfragten Sachverhalt
kennen zu lernen, sondern verfolgen andere Zwecke: Der Examinator
will die Beziehung zwischen dem Wissen des Gefragten und dem in der
Frage gemeinten Sachverhalt erfahren; andern dient die Frage dazu,
den Gefragten zu irgendwelchen Reaktionen zu veranlassen.
Literatur
F. +Brentano+, Von der Klassifikation der psychischen Phänomene. 1911.
K. +Bühler+, Die geistige Entwicklung des Kindes³, 1922, S. 341 ff.
Fußnoten:
[8] Damit wird die bekannte Schwierigkeit der negativen Urteile der
Erklärung der negativen Sätze zugeschoben. Die negativen Sätze
lassen sich wohl am einfachsten als der in der Sprachentwicklung
herausgebildete Ausdruck für den Sachverhalt der Andersartigkeit
zwischen einem angenommenen und dem tatsächlich bestehenden
Sachverhalt auffassen.
9. Kap. Die höheren Gedächtnisleistungen
1. Erinnerung und Wiedererkennen
Aus der Erforschung der Reproduktionsvorgänge wissen wir, wie es
geschehen kann, daß etwa der Anblick eines Apfels mich an einen
Landaufenthalt erinnern oder, genauer gesprochen, die Vorstellung
jenes Landaufenthaltes wachrufen kann. Es weckt da nicht der Anblick
des gesehenen Apfels die Vorstellung eines anderen, damals gesehenen,
und die Vorstellung von diesem die mit ihr vereinigten Bilder der
Umgebung jenes früher gesehenen Apfels, sondern unmittelbar bringt der
wahrgenommene Apfel die gesamte Erinnerungsvorstellung ins Bewußtsein,
nach jenem allgemeinen Gesetz: eine Vorstellung hat die Tendenz, sich
zur Gesamtvorstellung zu ergänzen. Damit ist nun freilich wohl der
Reproduktionsvorgang, aber noch nicht die Gedächtnisleistung erklärt.
Denn jede Gedächtnisleistung besagt, daß ich das reproduzierte Bild als
+mein früheres Erlebnis+ erkenne. Außer der Vorstellungserneuerung ist
also begreiflich zu machen, warum die reproduzierte Vorstellung als
mein Erlebnis und warum sie als mein früheres Erlebnis erscheint.
Das erste Problem ist nach den neueren Untersuchungen über die
Vorstellungen gelöst bzw. auf ein allgemeineres verschoben: da
die absolute Vorstellung sich nicht von der absoluten Wahrnehmung
unterscheidet (S. 102 ff.), so finde ich mich in der Vorstellung auf
dieselbe Weise gegenwärtig wie in der Wahrnehmung. Und ebenso wie ich
in der Wahrnehmung in der Regel eine Beziehung auf mein Ich vorfinde,
so auch in der Vorstellung. An diesem Umstande ändern auch die zur
absoluten Vorstellung hinzukommenden Beziehungserfassungen nichts.
Wenigstens gilt dies für die entwickelte Situationsvorstellung. Die
Vorstellung eines vereinzelten Gegenstandes jedoch wird entweder
nicht als mein Erlebnis bewußt oder sie gewinnt diesen Zug aus
anderen Kriterien, die die Erfahrung uns als unseren Erlebnissen
anhaftend kennen lehrte.
Schwieriger abzuleiten ist der andere Zug, das +Vergangenheitsmoment+.
Wie kommt überhaupt eine zeitliche Bestimmung in das Vorstellungsbild
hinein? Ein Bild ist doch an und für sich zeitlos; es kann ebensogut
ein niemals geschehendes, wie ein vergangenes, gegenwärtiges oder
zukünftiges Ereignis darstellen. Ein erster Lösungsversuch berief sich
auf ein Bekanntheitsgefühl oder eine +Bekanntheitsqualität+, die früher
wahrgenommenen Dingen ebenso anhaftet wie vertrauten Vorstellungen
früherer Erlebnisse (+Höffding+). In der Tat verspüren wir oft ein
solches Gefühl, und es vermittelt uns wirklich und scheinbar ohne
weiteres die Sicherheit, einem alten Bekannten gegenüberzustehen. Man
erklärte dann dieses Gefühl dadurch, daß der früher schon erlebte
Eindruck lebhafter und allseitiger als nichterlebte die Reproduktion
der mit ihm verbundenen Vorstellungen anrege, was in uns ein
eigenartiges Gefühl des Angenehmen wecke. Die angeführte Tatsache wie
ihre weitere Deutung wird man gelten lassen müssen, aber wie daraus
der Vergangenheitscharakter entspringen soll, ist nicht einzusehen; es
sei denn, jenes Bekanntheitsgefühl erwecke unmittelbar auf Grund einer
apriorischen Zuordnung die angeborene Idee der Vergangenheit.
A. +Lehmann+ zeigte experimentell, daß Gerüche als bekannt beurteilt
wurden, wenn sie assoziativ Vorstellungen früherer Erlebnisse
wachriefen. Aber nehmen wir auch an, von dem Bild des früheren
Erlebnisses führe eine lückenlose Reihe anderer Erlebnisvorstellungen
bis auf meine gegenwärtige Situation, so hätte ich in dieser
Vorstellungskette doch noch nicht das zeitliche Moment, wenn es
nicht von vornherein in jeder einzelnen Vorstellung wäre. Es
könnte ja eine solche Bilderreihe reine Phantasie sein, und wie
soll man spontan auftretende Phantasiebilder von Erinnerungen
unterscheiden, wenn nicht gerade durch den zeitlichen Charakter?
Darum hilft auch der Lösungsversuch +Claparèdes+ u. a. nichts, die
Bekanntheit in der Verbindung mit dem Ich zu suchen. Denn auch
die Phantasievorstellungen können aufs innigste mit dem Ich des
Bewußtseins verbunden sein.
Das Rätsel des Sicherinnerns läßt sich lösen, wenn man zwei Faktoren
berücksichtigt, welche die bisherige Diskussion außer acht ließ: das
Beziehungswissen und das Zeiterleben. Lassen wir einen Ton für einen
Augenblick erklingen, so ist die in uns geweckte Tonempfindung nicht
mit dem Aufhören des physikalischen Reizes schon verschwunden; sie
steht noch im unmittelbaren Gedächtnis, und wir können ihr allmähliches
Verlöschen beobachten. Die einzelnen Stadien dieses Verlöschens sind
uns nicht diskontinuierlich wie mikroskopische Schnitte gegeben,
sondern wir erleben das Verlöschen des Klangbildes kontinuierlich
mit: wir erleben es, daß der Eindruck, der stark war, schwach wird
(vgl. S. 130 f.). In solchen anschaulichen Zeiterlebnissen erfassen
wir die Zusammenhangsrelation: zu einer Bewußtseinserscheinung
von eigenartiger Schwäche, Verblasenheit usw. gehört eine andere,
lebhaftere, aus der jene schwache hervorging. Aus der Verallgemeinerung
dieser Erfahrungen werden Eigentümlichkeiten wie die Verblasenheit
von Bewußtseinserscheinungen zu einem Kriterium der Zugehörigkeit zu
einem anderen Eindruck, aus dem sie hervorgingen, d. h. eben zu einem
Kriterium der Vergangenheit.
Zu diesen +Fundamentalkriterien+ treten im Verlauf der Entwicklung
andere hinzu, die sich in der Regel mit ihnen vereint finden. So die
relative Festigkeit einer Erinnerungsvorstellung gegenüber einer
Phantasievorstellung, die Möglichkeit, von der Erinnerungsvorstellung
bis auf die augenblickliche Lage des Subjektes eine geschlossene
Bildreihe herzustellen, die Tatsache, daß Erwartungen, die von
Erinnerungsvorstellungen geweckt werden, sich durch die folgende
Wahrnehmung bestätigen, endlich das eigenartige Vertrautheitsgefühl,
das Erinnerungsvorstellungen häufig begleitet. G. E. +Müller+ hat aus
den Selbstbeobachtungen bei Gedächtnisversuchen eine erstaunliche
Menge derartiger Kriterien gesammelt. Die meisten dieser +Kriterien+
dürften +sekundärer Natur+ sein. Es können also die verschiedenen
älteren Erklärungsversuche nebeneinander bestehen, nur weisen sie
nicht auf den Kernpunkt, die Entstehung des Zeitmerkmales in einer
Vorstellung hin.
Das +Wiedererkennen+ verhält sich zur Erinnerung ähnlich wie die
Begründung zum Schluß. Nehmen wir einen früher gesehenen Gegenstand
wahr, so weckt sein Bild vielleicht die Vorstellung von jener
ersten Wahrnehmung, und zwar erscheint nach dem Gesagten jene
Wahrnehmungssituation als mein früheres Erlebnis. Die Identität des
Gegenstandes ist uns dabei implizite gegeben, und wir wissen deshalb:
der in der Wahrnehmung vor mir stehende Gegenstand ist derselbe,
mit dem ich es schon einmal, und zwar bei jener Gelegenheit, zu tun
hatte. Aus solchen ausführlichen Wiedererkennungsvorgängen lernen
wir die mit ihnen regelmäßig verbundenen Begleiterscheinungen als
+Kriterien der Bekanntheit+ kennen. Noch bevor die ausführliche
Wiedererkennung eintritt, verspüren wir die eigenartigen Zustände
der einsetzenden Reproduktion (man denke an den Zustand, den wir
durchmachen, wenn uns ein gesuchter Name „auf der Zunge liegt“),
schwache Lustgefühle, eine merkwürdige Steigerung unseres Interesses
für jenen Gegenstand. Da solche Erlebnisse in der Regel von dem
Wiedererkennen gefolgt sind, werden sie uns selbst zu den Symptomen der
Bekanntheit (+Bekanntheitsqualität+). Aber nur darum, weil sich mit
ihnen das Beziehungswissen verbindet: solche Zustände sind die Wirkung
bekannter Eindrücke, vermitteln sie uns das Bekanntheitsbewußtsein.
Ohne ein solches Wissen käme es höchstens wie beim Tier zu einer
besonderen Weise der Reaktion, wie sie gewohnten und darum zumeist auch
lustbetonten Eindrücken gegenüber zu beobachten ist.
Nach unserer Darlegung müßte in der Entwicklung des Menschen zuerst
die Erinnerung und dann das Wiedererkennen auftreten. Es wird schwer
sein, dies beim Kinde festzustellen, da zweifellos beim Kinde die
soeben genannten, auch beim Tier zu beobachtenden Reaktionsweisen
gegenüber gewohnten Dingen zuerst einsetzen und ein Wiedererkennen
vorzutäuschen imstande sind.
Auch unsere Erklärung der Erinnerung wie des Wiedererkennens greift
auf die +Reproduktionsvorgänge+ zurück. Das könnte bedenklich
erscheinen, weil Reproduktion und Erinnerung verschiedenen
Gesetzmäßigkeiten folgen. Allein die Leistung ist in beiden
Fällen eine ganz andere: die Reproduktion hat einen bestimmten
Vorstellungsinhalt selbst vorzuführen; mit Stellvertretern, Symptomen
u. dgl. ist ihr nicht gedient. Das Wiedererkennen hingegen hat ein
Beziehungswissen zu wecken und kann sich dazu mannigfacher Symptome
bedienen. Und drittens können diese Symptome -- wohl nach einer
allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Beziehungserlebnisse (vgl. S. 178)
-- schon wirksam werden, wenn sie eben die Bewußtseinsschwelle
überschritten haben, während eine Reproduktionsaufgabe in diesem
Zustande noch nicht als gelöst gelten kann.
2. Erinnerungstäuschungen
Reproduktion früherer Eindrücke, anhebende Reproduktionen, Gefühle, die
durch letztere angeregt werden, Beziehungserfassungen, Reproduktion
eines Beziehungswissens und endlich, was bisher noch nicht genannt
wurde, Beurteilungen und Schlüsse auf Grund mannigfacher Kriterien
können zusammenwirken, um eine Vorstellung als Bild eines früheren
Erlebnisses oder einen neuen Eindruck als die Wahrnehmung eines
bekannten Gegenstandes erscheinen zu lassen. Von jedem einzelnen dieser
Faktoren wissen wir nun, daß er gelegentlich versagen kann, und dürfen
darum erwarten, daß aus solchem Versagen Erinnerungstäuschungen bzw.
Erinnerungsausfälle entstehen.
Klingen die Reproduktionstendenzen an, ist aber die vollständige
Reproduktion behindert, so erscheint uns ein Gegenstand bekannt,
aber wir wissen nicht, „wo wir ihn hintun sollen“. Werden auch die
ersten Ansätze zur Reproduktion nicht lebendig, so halten wir den
Gegenstand für neu. Wir können aber anderswoher wissen, daß der
betreffende Gegenstand uns doch bekannt sein muß, und so mag das
eigenartige +Fremdfinden+ bedingt sein: spricht man ein geläufiges
Wort der Muttersprache oftmals rasch hintereinander aus, so klingt es
mit einemmal merkwürdig fremd und sinnlos. Vermutlich werden durch
das rasche Aufsagen die mit dem Wort assoziierten Vorstellungen
nicht mehr angeregt, entsprechend dem allgemeinen Gesetz der
Bahnung; das Wort besagt uns also nichts mehr, während wir doch
gleichzeitig wissen, daß es einen Sinn hat. Die sog. Entfremdung der
Wahrnehmungswelt dürfte jedoch damit nur teilweise erklärt sein.
Dem Ausfall der Erinnerung steht deren Fälschung gegenüber.
Man könnte füglich eine teilweise und eine vollständige
unterscheiden. Bei der +teilweisen Fälschung+ vermischen sich
infolge der Konstellation fremde Vorstellungselemente mit der
Erinnerungsvorstellung. Tragen diese eingeschobenen Elemente keine
von der Erinnerungsvorstellung stark abweichenden Züge, so werden
auch sie als Bilder früherer Erlebnisse genommen, namentlich wenn
die Gesamtvorstellung unmittelbar als Erinnerung aufgefaßt wird.
Findet eine eigentliche Beurteilung, ob wirklich erlebt oder
nicht, statt, so wird es unter anderem auch von der Begabung des
Individuums abhängen, ob es einer Erinnerungstäuschung verfällt oder
nicht. Kinder unterliegen deshalb leichter diesen Täuschungen als
Erwachsene. Bei ihnen kommt auch die totale Erinnerungsfälschung in
der Form der Phantasielügen häufig vor: während sie am Erzählen sind,
drängt sich ihnen das Phantasiebild mit der gleichen Leichtigkeit
und Klarheit wie das Erinnerungsbild auf und wird darum als solches
ausgegeben. Wegen ihrer reicheren Phantasiebegabung sind darum auch
Frauen derartigen Täuschungen mehr ausgesetzt als Männer.
Eine andere Art der Erinnerungsanomalie täuscht nicht hinsichtlich
des Inhaltes, sondern des +Aktes+: ein neuer Eindruck erscheint
fälschlich als bekannt. Namentlich in pathologischen Fällen wird die
Bekanntheitsqualität durch neue Eindrücke ausgelöst, +ohne daß+ der
Kranke von der Neuheit der Eindrücke überzeugt ist. (Reduplizierende
Paramnesie.) Anders bei dem oft besprochenen +déjà vu+: obwohl wir
genau wissen, daß die Lage, in der wir uns augenblicklich befinden,
völlig neu ist, haben wir doch den überwältigenden Eindruck, genau
das gleiche schon einmal erlebt zu haben. Bekanntlich stützt
sich die Lehre von der Seelenwanderung mit Vorliebe auf solche
Erlebnisse. Die allgemeine Erklärung dieser Erscheinung ist wohl
folgende: Durch irgendeinen Umstand wird der Bekanntheitseindruck
hervorgerufen, während wir doch gleichzeitig, auf andere Gründe
gestützt, genau wissen, daß wir zum erstenmal dies erleben. Ist der
Bekanntheitseindruck von einem lebhaften Gefühl begleitet, so mag er
durch einen ganz nebensächlichen Zug an dem Erlebnis ausgelöst sein,
er wird sich über das Gesamterlebnis ausbreiten und dieses selbst
als bekannt erscheinen lassen. Nach meinen bisherigen Beobachtungen
möchte ich zwei Arten des déjà vu unterscheiden: Bei der ersten regt
ein (nebensächlicher) Zug der Wahrnehmung eine Reproduktion an, die
weiter nicht beachtet wird, aber das Bekanntheitsgefühl auslöst, das
fälschlich auf das Gesamterlebnis bezogen wird. Diese Fälle sind
niemals so überraschend wie die alsbald zu besprechenden. Es gelingt
auch häufig, den Reproduktionsvorgang rückschauend festzustellen.
Dementsprechend zeigen sich allmähliche Übergänge von dem falschen
Wiedererkennen zu der ganz normalen Reproduktion im Anschluß an eine
Wahrnehmung. Die andere Art habe ich vor Jahren zum erstenmal auf
Grund einer zuverlässigen Beobachtung beschrieben (ArPs 15 [1909])
und kann sie heute durch neue Beobachtungen sicherstellen. Das
Schema des ganzen Vorganges ist dieses: Eine flüchtige Wahrnehmung
wird unterbrochen oder eine alsbald erfolgende Wahrnehmung wird
in der Vorstellung vorweggenommen. Darauf tritt eine Ablenkung
ein, durch die der Bewußtseinszusammenhang bei dem ermüdeten oder
psychasthenischen Individuum für einen Augenblick abgebrochen wird.
-- Die nervöse Erschöpfung ist nach den Untersuchungen +Heymans+
eine besonders günstige Vorbedingung des falschen Wiedererkennens,
weshalb auch diese Erscheinung in der Pubertätszeit besonders häufig
ist. -- Gleich nach der kurzen Ablenkung wendet man sich wieder der
Wahrnehmung zu. Da somit derselbe Bewußtseinsinhalt wiederkehrt,
der unmittelbar vor der Ablenkung uns beschäftigte, erscheint das
Erlebnis als bekannt, ohne daß wir den Bekanntheitseindruck erklären
können, während wir anderseits sehr wohl wissen: die Situation ist
neu. Ein Beispiel. Ich gehe mit einigen Begleitern einen Gartenweg
entlang. „Haben Sie schon gehört ...“, beginnt einer von ihnen und
kündigt eine mir sehr wohl bekannte Geschichte an, die mir nunmehr
als Ganzes im Bewußtsein steht. Weil sie mich aber langweilt, befasse
ich mich beim Weitergehen mit den Blumen am Wege. Als wir nun am Ende
des Weges umkehren wollen, erlebe ich ein ganz ausgesprochenes déjà
vu, und zwar besagt es: genau diese individuelle Situation mit all
ihren Einzelheiten hast du schon erlebt. Da ich damals schon meine
Theorie der Fausse Reconnaissance veröffentlicht hatte, besinne
ich mich darauf, wo eine Wiederholung eines Teiles der Wahrnehmung
vorliege, finde jedoch keine und stelle mit Bedauern fest, daß die
Theorie hier versage. Erst nach einiger Zeit kommt mir der Augenblick
wieder zu Bewußtsein, wo die Erzählung angekündigt worden war. Die
Erklärung des Phänomens lag nun zutage. Bei der Ankündigung der
Erzählung hatte ich sie in der Vorstellung vorweggenommen. Dann wurde
ich durch das Betrachten der Blumenbeete abgelenkt. Als ich am Ende
des Weges wohl oder übel wieder einen Teil der Erzählung anhören
mußte, wurde die Eingangssituation reproduktiv angeregt, konnte aber
infolge einer an diesem Tage sehr merklichen Schlaffheit, sowie
wegen der unmittelbar vorausgegangenen Ablenkung nicht hinreichend
reproduziert werden, weshalb ein unerklärliches Bekanntheitsgefühl
verspürt wurde, das sich nach Art aller Gefühle auf die gesamte Lage
verbreitete. Wegen der augenblicklichen Reproduktionsstörung konnte
natürlich auch die das ganze Erlebnis bedingende Eingangslage nicht
sofort wieder bewußt werden, die Theorie mußte für den Augenblick
als unzureichend erscheinen, wodurch eine ganz vorzügliche Kontrolle
der Zuverlässigkeit der Beobachtung gegeben war. Die wichtige
Voraussetzung dieser Erklärung, daß durch die vorstellungsmäßige
Vorwegnahme einer Wahrnehmung schon ein Bekanntheitseindruck bedingt
wird, läßt sich übrigens experimentell nachweisen.
Literatur
M. +Rosenberg+, Über die Erinnerungstäuschungen usw. ZPaPs 1 (1912).
3. Die Aussage
Ein wichtiges Anwendungsgebiet unseres Problems hat eingehende
experimentelle Untersuchung erfahren, die Zeugenaussage. Man ließ
Kinder und Erwachsene Bilder betrachten oder zuvor verabredeten
Begebenheiten beiwohnen und teils unmittelbar darauf, teils nach
bestimmter Frist frei über das Erfahrene berichten, sowie in einem
sorgfältig vorbereiteten Verhör entsprechende Fragen beantworten.
Die Erinnerungstäuschungen, die hierbei unterliefen, waren nun
überraschend zahlreich. Allgemeingültige Zahlenwerte lassen sich
begreiflicherweise nicht anführen, da die Fehlermenge sich ebensowohl
mit dem Subjekt wie mit dem Gegenstand wie endlich mit der Art der
Aussage ändert. Im allgemeinen gilt etwa folgendes: Ein Zeugnis
ist niemals im ganzen zu bewerten, da auch ein zuverlässiger Zeuge
Erinnerungstäuschungen unterworfen ist. Der unbeeinflußte Bericht
kann bisweilen genau sein, von einem Verhör darf man das nie
erwarten. Fragt man, wie in den Versuchen, nach +allen+ Einzelheiten
eines Erlebnisses, so darf man mit ungefähr einem Drittel falscher
Antworten rechnen. Die Fehlerzahl steigt, wenn die Fragen eine
bestimmte Antwort nahelegen (Suggestivfragen), namentlich bei
Kindern. Kinderaussagen sind überhaupt nur mit größter Vorsicht
zu veranlassen und zu bewerten. Werden dieselben Fragen in einem
Verhör wiederholt, so wächst die Zahl der Antworten, aber auch die
der Fehler. Hinsichtlich des zu berichtenden Vorfalles gilt, daß
Aussagen über Vorgänge nur dann zuverlässig sind, wenn die Vorgänge
mit Aufmerksamkeit und ohne zu große Gemütsbeteiligung beobachtet
wurden. Aussagen über Nebenumstände sind überhaupt von fraglichem
Wert, namentlich über Farben, Zeit- und Größenverhältnisse. Diese
Versuche bestätigen sehr hübsch die theoretisch bedeutsame Tatsache,
daß uns keine gesonderten Erinnerungsvorstellungen zu Gebote stehen,
sondern daß alle unsere Vorstellungen zu Erinnerungen werden können,
je nachdem sie sich mit den Kriterien der Erinnerungen auszustatten
vermögen.
+Die Aussage+ ist aber mehr als eine Erinnerung. Sie ist +ein
Urteil+, das gleichzeitig über den vorgestellten Sachverhalt
abgegeben wird, daß man ihn eben erlebt habe. Es hängt darum die
Aussage nicht allein von den Erinnerungskriterien ab, die sich an
die auftauchenden oder nahegelegten Vorstellungen anschließen;
es müssen diese Kriterien auch beurteilt werden. Da macht sich
nun stark die individuelle Urteilsbereitschaft geltend, ferner
die Urteilseinstellung auf die Behauptung, etwas erlebt zu haben,
endlich alle die Beweggründe, die zu einem Urteil führen können:
das Interesse an dem Grundsachverhalt, das Interesse an dem
Begleitsachverhalt, der Gewißheit, und an dem Urteilsakt, wie etwa
der Wunsch, ein ergiebiger Zeuge zu sein.
Literatur
W. +Stern+, Beiträge zur Psychologie der Aussage. 2 Bde. 1903/6.
W. und Cl. +Stern+, Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten
Kindheit. 1909.
10. Kap. Das Ichbewußtsein
Dem Worte Ich entsprechen mancherlei Bedeutungen. Wir greifen drei
von ihnen heraus und untersuchen, wie das Individuum zu den drei
Bedeutungserlebnissen gelangt. In dem Satze: ich heiße Müller und
wohne usw. bezeichnet „ich“ das +gesellschaftliche+ Ich, die
ganze Persönlichkeit, den Körper inbegriffen. Sagt jemand: ich bin
ein Gemütsmensch, so denkt er weniger an sein Äußeres, sondern
vorab an seine Seele, an sein Inneres, wie es regelmäßig mit einer
Anzahl konstanter Eigenschaften verbunden erscheint. Man könnte es
das +persönliche+ Ich nennen. In Sätzen wie „ich denke“, „ich
verlange“ hingegen sieht man auch von den dauernden Eigentümlichkeiten
des Innenmenschen ab und hat nur das Subjekt jener seelischen Akte
im Auge, von denen gerade die Rede ist. Wir können hier von dem
+reinen+ Ich sprechen.
Es läßt sich leicht verfolgen, wie die Bezeichnung „ich“ in der
Entwicklung des Individuums auftritt. Sie wird heute von der Umgebung
übernommen und zunächst für das gesellschaftliche Ich verwendet,
und zwar früher, wenn ältere Geschwister das Kind umgeben, als wenn
sich die Eltern allein mit dem Kinde befassen. Aber lange bevor der
Gebrauch des Wortes „ich“ erlernt ist, verrät sich schon deutlich ein
ausgesprochenes Ichbewußtsein, das dem reinen Ich näher steht als den
beiden anderen. Ganz entsprechend liegt auch die Schwierigkeit des
Ichproblems in dem Auftreten des reinen Ich. Es bildet den Kern der
andern Ichbedeutungen, die ohne diesen Kern als Inbegriff gewisser
Wahrnehmungen an der eigenen Persönlichkeit gelten könnten.
Hinsichtlich des reinen Ich sind nun drei Fragen möglich. Gibt es
überhaupt einen erlebnismäßig erfaßbaren Gegenstand, der dem Worte
„ich“ entspricht, oder wird dieser Gegenstand erst durch unser
Denken geschaffen wie etwa eine Vierergruppe, die wir willkürlich
und rein gedanklich aus einer regelmäßigen Anordnung von Punkten
herausgreifen? Zweitens: falls das Ich erlebbar ist, erleben wir
es ebenso unmittelbar und isoliert, wie es unsere Ausdrucksweise
vermuten läßt? Und drittens: wenn das Ich nicht unmittelbar und
isoliert erlebt wird, wie wird dann das unmittelbar Erlebte
verarbeitet?
+Hume+ und einige Sensisten versuchten jedes unmittelbare Erleben
des Ich zu leugnen: das Ich sei nur ein Bündel von Vorstellungen.
Aber ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, aus einem solchen Bündel
von Vorstellungen jene Einheit des Bewußtseins zu konstruieren,
die wir tatsächlich erleben -- eine Unmöglichkeit, die Hume selbst
eingestand --, widerspricht diese Auffassung den einfachsten
Beobachtungstatsachen. Es läßt sich kein Gedanke, kein Verlangen,
keine Empfindung, kein Gefühl aufzeigen, das nicht +mein+ Erlebnis
wäre; es ist unmöglich, ein Erlebnis in sich hervorzurufen oder in
der rückschauenden Beobachtung zu entdecken, das nicht zugleich das
Erlebnis eines Bewußtseins, eines Subjektes wäre. Das wird heute auch
nahezu allgemein zugegeben.
Anderseits kann aber auch niemand ein so isoliertes Ich in sich
entdecken, wie es das begriffliche Ich ist. Denn da kein einziger
Bewußtseinsvorgang frei vom Ich bleibt, ist auch das Ich stets ein
anderes und ganz und gar durch die augenblicklichen Erlebnisse
bestimmt, so daß man nicht leicht bleibende Eigenschaften des
reinen Ich aufzählen kann. Das Ich zeigt sich uns immer nur in den
Erlebnissen, wie etwa die Intensität oder die Ausdehnung sich nur an
der Empfindung offenbart. Kommen wir doch zu einem isolierten Ich,
so liegt dies an unserer Fähigkeit, den immer wiederkehrenden Ichzug
aus den verschiedenen Erlebnissen herauszuheben. Es ist also die
Befähigung zur Abstraktion, d. h. letztlich zur Beziehungserfassung
(vgl. S. 121 f.), die uns den Ichzug unserer Erlebnisse erkennen
läßt. Denken wir uns diese Fähigkeit hinweg, so haben wir wohl
ein erlebendes Subjekt, aber kein Ich; denn das Ich ist eben das
herausgeschälte Subjekt. Dieser Zustand verwirklicht sich nach
unserer Auffassung beim Tier und dürfte daran schuld sein, daß
Freud und Schmerz bei ihm ganz wesentlich geringer sind als beim
Menschen. -- Wenn wir den Ichcharakter unserer Erlebnisse mit der
Intensität oder der Ausdehnung einer Empfindung verglichen haben,
so gilt das nur hinsichtlich seiner innigen Verschmelzung mit den
Bewußtseinserscheinungen, aber nicht hinsichtlich der Unterordnung
dieser unselbständigen Momente. Das Ich erscheint nämlich nicht immer
so bescheiden im Hintergrund wie etwa bei einer Wahrnehmung, die uns
ganz gefangen hält. Es wird auffälliger bei den Gefühlszuständen,
es gibt sich endlich als das tätige bei den Willensakten. An ihnen
gewinnen wir wohl zuerst die Auffassung von dem Ich als dem Träger
unserer Erlebnisse, als dem ersten soliden Etwas, das für uns der
Prototyp eines Dinges wird.
Es bleibt nunmehr die normale +Einheit des Ich+ zu erklären. Greifen
wir einen Querschnitt des Seelenlebens heraus, so bildet die
hier herrschende Einheit des Ich in den gleichzeitig vorhandenen
Empfindungen, Gefühlen und Strebungen kein sonderliches Problem. Denn
alle diese Erlebnisse sind ja nur künstlich abstrahierte Züge eines
unteilbaren Gesamtzustandes des Ich. Wir haben darum nicht verständlich
zu machen, wieso das vor mir sichtbare Grün und Braun von demselben Ich
empfunden werden kann. Anders verhält es sich mit dem Längsschnitt der
Erlebnisse, mit den zeitlich sich folgenden Bewußtseinserscheinungen.
Da wiederholen sich nun die Erwägungen, die wir beim Zeitbewußtsein
und bei dem Problem der Erinnerung anstellten. Die unbefangene
Selbstbeobachtung lehrt uns ebenso wie andere Überlegungen, daß unser
Erlebnisstrom kein diskontinuierlicher, sondern ein stetig fließender
ist, daß wir den Übergang von einer lauten Tonwahrnehmung in eine
leisere u. ä. unmittelbar wahrnehmen. Da aber alle unsere Wahrnehmungen
mit dem Ichcharakter unzertrennlich verbunden sind, müssen wir auch
unmittelbar das Verharren des Ich von einem Zeitmoment zum andern
wahrnehmen. Wenn wir nun bei der Erinnerung an auseinanderliegende
Erlebnisse zu der Überzeugung kommen „mein früheres Erlebnis“, so
setzen wir mittels des uns geläufigen Schlußverfahrens den sich uns
zunächst darbietenden Zusammenhang als den einzig möglichen an (S.
192). In der Erkenntnis „mein früheres Erlebnis“ erfassen wir mit einem
logisch noch nicht ganz gesicherten Schluß die Identität unseres Ich
mit dem Subjekt des früheren Erlebnisses. Eine unmittelbare Evidenz
kann dieser Schluß nicht bieten: es könnte ja ein Wechsel des Subjektes
stattgefunden haben, und dem neuen Subjekt könnten die Erinnerungen
des alten mitgeteilt sein. Indes naheliegende philosophische Gründe
rechtfertigen nachträglich den naturgemäß vollzogenen Schluß.
Auch die +Substantialität+ des Ich erfassen wir nicht unmittelbar.
Gewiß ist für uns das Ich das Allersolideste, was wir kennen. Aber
den Begriff der Substanz bilden wir uns doch erst mit Hilfe unserer
Erfahrungen an der Außenwelt.
Unsere Erklärung des Ichbewußtseins läßt nun die +Anomalien+ des
Selbstbewußtseins leicht verstehen. Auch hier gehen die normalen
Zustände unvermerkt in die pathologischen über. Wir sagten, das
helle Ichbewußtsein ist das Ergebnis einer Beziehungserfassung.
Beziehungserfassungen und ebenso das aus ihnen sich herleitende
Wissen, von dem wir hier absahen, sind nicht immer aktuell, sondern
können gelegentlich zurücktreten. Sie werden es in der Regel dann
tun, wenn andere Inhalte in erhöhtem Maße die Aufmerksamkeit auf
sich ziehen. Das ist kaum möglich bei Gefühlserlebnissen, leichter
bei Willenshandlungen und sehr wahrscheinlich, wenn wir uns wie in
der Wahrnehmung oder auch im Vorstellungsleben mit den Gegenständen
befassen. In solchen Zuständen sagen nicht nur die Dichter,
sondern auch die Vpn in experimentell herbeigeführten Erlebnissen:
nicht ich denke, sondern es denkt in mir. Man muß nach derartigen
Bewußtseinsvorgängen wieder „zu sich kommen“. Natürlich war auch bei
ihnen der Ichzug niemals vollständig verschwunden.
Noch weiter entfernt sich vom normalen Zustand die
+Depersonalisation+, die Entfremdung des Ich. Jeder einzelne ist
an eine gewisse Summe ziemlich gleichbleibender Körperempfindungen
und der durch diese bedingten Gefühle gewöhnt. Zusammen mit dem
begrifflichen Wissen von unserem Ich und seiner Identität in der
Zeit sind sie daran schuld, daß das Ich unserer Auffassung, das
„persönliche“ Ich, sich nicht mit jeder neuen Wahrnehmung ändert. Das
wird anders bei sehr großartigen und überraschenden Wahrnehmungen.
Ein ergreifendes Schauspiel, eine überwältigende Landschaft, ein
neuer weitgespannter Gedankengang vermag die Summe der gewohnten
Empfindungen in den Hintergrund zu drängen: wir fühlen uns dann als
andere Menschen, „wie ausgewechselt“. Ein noch stärkerer Eindruck
wird erzielt, wenn die sonst konstanten Körperempfindungen verändert
werden. Wasser im Gehörgang, Ohrensausen u. dgl. geben uns schon eine
Ahnung von diesem Zustand, wenngleich diese umschriebenen Störungen
nach einiger Zeit überwunden werden. Ändert sich jedoch die konstante
Empfindungsmasse in höherem Grade, so kommen wir uns selbst als
andere vor, leben wie in einer andern Welt, sehen alles wie durch
einen Nebel. Man kann heute noch nicht angeben, +welche+ Empfindungen
insbesondere in Mitleidenschaft gezogen werden müssen, damit dieser
Zustand eintritt. Man hat an die Organempfindungen, an die uns
stets begleitenden Reproduktionstendenzen bzw. ihre Spiegelung im
Bewußtsein und namentlich an Gefühle (+Österreich+) gedacht. Aller
Wahrscheinlichkeit nach wird nicht die Alteration einer +bestimmten+
Empfindungs- oder Gefühlsgruppe die Depersonalisation bewirken,
sondern der Ausfall, die Änderung oder vielleicht auch die Vermehrung
der konstanten Empfindungen, die wir an unserem „persönlichen“
Ich gewöhnt sind, muß in irgendeiner Weise ein +bestimmtes Maß+
erreichen, damit wir uns als andere Menschen fühlen.
Würden die Bewußtseinsinhalte in einem Subjekt sämtlich verändert
-- womit zugleich die Reproduktion der früheren Zustände praktisch
wegfiele --, so wäre zwar das substantielle Ich dasselbe geblieben,
das persönliche (und oft auch das gesellschaftliche) Ich des zweiten
Zustandes hingegen wäre ein +völlig+ anderes geworden, ohne sich
jedoch dieser Spaltung bewußt werden zu können. Lassen wir nun
dem Ich einen kleinen Teil seiner konstanten Empfindungen, geben
ihm aber im übrigen einen neuen Bewußtseinsinhalt und erschweren
ihm die Reproduktion des früheren Bewußtseinsinhaltes, so ist das
persönliche Ich dieses Menschen gespalten. Je nachdem er sich nun
in dem einen oder in dem anderen Bewußtseinsinhalt bewegt, wird er
ein anderer Mensch sein, eine andere Rolle spielen. Und er wird
sich der Spaltung seines Ich bewußt werden, sobald ihm irgendwelche
Erinnerung an den andern Zustand möglich ist. Wenn diese Bedingungen
zu verwirklichen sind, dann muß es nicht nur ein Doppel-Ich,
sondern ein drei-, vier- und mehrfaches Ich geben können. In der
Tat weist die Pathologie solche Fälle auf. Verändert eine Krankheit
die Organempfindungen wesentlich, so beginnt der Kranke ein neues
Bewußtseinsdasein, zumeist mit völliger Erinnerungsunfähigkeit
(Amnesie) für die Zeit vor der Erkrankung. Ähnliches läßt sich
durch Hypnose erzielen und bei Hysterischen auch durch mehr oder
weniger freiwillige Autohypnose. Wie ein Schauspieler willkürlich
eine von ihm einstudierte Rolle geben kann, so geraten jene Kranken
unwillkürlich in eine der Rollen hinein, die ihnen aus ihrer
Erfahrung, ihrer Romanlektüre oder ihren Träumereien geläufig ist,
doch mit dem Unterschied, daß der Schauspieler sich jeden Augenblick
auf sein bürgerliches Ich besinnen kann, während dem Kranken infolge
der Konstellation der Rückweg verlegt ist, wie auch der Normale nicht
ohne weiteres von einer Melodie in eine beliebige andere übergehen
kann.
Literatur
K. +Österreich+, Phänomenologie des Ich. I. 1910.
ZWEITER ABSCHNITT
Die höheren Gefühle
1. Eigenart der höheren Gefühle
Als elementare Gefühle hatten wir Lust und Unlust kennen gelernt.
Nur wenige Psychologen setzen außer diesen beiden noch andere
niedere Elementargefühle an, und auch sie beschränken deren Zahl
zumeist auf einige wenige. An höheren Gefühlen dagegen werden immer
eine fast unübersehbare Menge aufgezählt: Liebe, Haß, Furcht,
Vertrauen, Kindesliebe, Elternliebe, Gottesliebe, ästhetische,
logische, religiöse, soziale Gefühle usw. So wenig es gelingt, diese
Mannigfaltigkeit auf einige Fundamentalgruppen zurückzuführen, so
scharf lassen sie sich von den niederen Gefühlen absondern: Lust und
Unlust schließen sich völlig grundlos an bestimmte Empfindungen an. Es
hat innerhalb der psychologischen Betrachtung keinen Sinn zu fragen,
warum uns eine Farbe angenehmer sei als eine andere, warum gewisse
Klänge lustvoller sind als andere. Das sind letzte Tatsachen. Auch die
Zuträglichkeit eines Reizes gibt dafür keine psychologische Erklärung,
allenfalls eine teleologische; denn vor jeder Einsicht in die
Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit eines Reizes und selbst wider eine
solche Einsicht vermag er eine lust- oder unlustbetonte Empfindung zu
wecken. Anders bei den höheren Gefühlen. Sie erscheinen, von seltenen
Ausnahmen abgesehen, immer als begründet.
Ihre Erscheinungsweise hat +Bain+ gegenüber den niederen Gefühlen
treffend gekennzeichnet. Sie steigen langsamer an als die sinnlichen
Gefühle; hängen stark von der herrschenden Stimmung ab; sind leichter
willkürlich zu unterdrücken; enthalten mehr Reproduktionen und sind
gewissermaßen ausgedehnter und unschärfer als jene, darum auch leichter
und länger zu ertragen. Die Richtigkeit dieser Bemerkungen leuchtet
sofort ein, wenn man einen körperlichen mit einem seelischen Schmerz
vergleicht.
2. Theorie und Einteilung der höheren Gefühle
Eine befriedigende Theorie der höheren Gefühle sollte sich eigentlich
auf eine erschöpfende Aufzählung, Beschreibung, Gruppierung und Analyse
sämtlicher höheren Gefühle stützen. Dazu fehlen jedoch die Vorarbeiten.
Wir streben darum auf kürzerem Wege eine vorerst noch hypothetische
Auffassung der höheren Gefühle an, die uns zugleich ermöglicht, die
Mannigfaltigkeit der Gefühle zu überblicken.
Vor allem fragt es sich, +ob es höhere Elementargefühle gibt+,
ähnlich wie es höhere Erkenntnisleistungen elementarer Natur gibt.
Wir verneinen bis auf weiteres diese Frage. Denn bis heute ist es
noch nicht gelungen, solche höhere Gefühlselemente aufzuzeigen,
ähnlich wie man Lust und Unlust aufzeigen kann. Die Unmöglichkeit,
eine befriedigende Einteilung der Gefühle vom inhaltlichen bzw.
qualitativen Gesichtspunkt aus zu gewinnen, spricht auch dafür. Die
Zahl der höheren Gefühle scheint praktisch unbegrenzt zu sein, da fast
jeder Sachverhalt ein besonderes Gefühl nach sich zieht. Neben all den
ästhetischen, religiösen, logischen Gefühlen lassen sich mit ebensoviel
Recht besondere Gefühle für jeden Stand und jede Lebenslage finden:
von einem Hochzeits- und Begräbnisgefühl kann man ebensogut reden
wie von einem Sextaner-, Quintaner-Gefühl usw. Das beweist, daß das
Charakteristische der höheren Gefühle in der Regel in dem Sachverhalt
liegt, auf den sie sich beziehen. Und wären Gefühle, die weder der
Einsicht dienen, noch -- von Lust, Unlust abgesehen -- das Streben
leiten sollen, nicht ein wahrer Luxus? Auch die von +Bain+ genannten
Eigentümlichkeiten der höheren Gefühle deuten auf ihre Zusammensetzung
und Ableitbarkeit hin. Endlich sprechen dafür pathologische Fälle,
bei denen die Einsicht in die Erfreulichkeit oder Unerfreulichkeit
eines Sachverhaltes klar erfaßt wurde, ohne daß ein merkliches Gefühl
zu beobachten war. Wie hier die körperliche Erkrankung, so weist die
Förderung und Hemmung auch höherer Gefühle durch Alkohol oder Brom
darauf hin, daß das emotionale Moment ebenso wie bei den niederen
Gefühlen in enger Berührung mit den physiologischen Vorgängen steht.
Es wird aber nicht angehen, sie einfachhin als eine Verbindung von
Sachverhaltserfassungen mit den sinnlichen Gefühlen anzusprechen.
Dem steht einerseits der bezeichnende Unterschied von Ernst- und
Phantasiegefühlen (der nur phantasierte Sachverhalt erweckt andere
Gefühle als der wirklich erlebte), anderseits das scheinbare Vorkommen
höherer Gefühle, wie Furcht, Anhänglichkeit u. ä. bei Tieren, entgegen,
denen wir bekanntlich die Sachverhaltserfassung abstreiten. Wir müssen
also einen andern Weg versuchen.
Wir sahen, Empfindungen sind zumeist von einem stärkeren oder
schwächeren Gefühlston begleitet, und zwar faßten wir die
Gefühlsreaktion nicht als eine einsichtige Antwort der Seele auf die
Empfindung, sondern als den psychischen Parallelvorgang zu einem
mit der sensorischen Erregung irgendwie funktionell verbundenen
Nervenprozeß auf. Es muß darum auch die Summe von Empfindungen zu
irgendwelcher, vielleicht algebraischen Summe von Gefühlen führen.
Zwischen den Empfindungen und den Elementen der absoluten Vorstellung
(S. 102 ff.) machten wir aber keinen Unterschied. Es wird darum
auch die Vorstellung eine Gefühlssumme mit sich bringen. Und die
Assoziation von Vorstellungen wird auch die Vermehrung der Gefühlsmasse
bedeuten. Wir glauben nun, daß aus diesen Gefühlsreserven unser ganzes
emotionales Leben gespeist wird. Also jede Gefühlserregung hätte
demnach die Mitarbeit des Reproduktionsapparates zur Voraussetzung.
Das wird weniger befremden, wenn man bedenkt, daß bei all unserer
geistigen Tätigkeit die Reproduktion weit stärker beteiligt ist, als
es die uns auffälligen Reproduktionsinhalte vermuten lassen, und wenn
man zweitens berücksichtigt, daß die zu einer Reproduktion gehörigen
Gefühle weit schneller in den Blickpunkt des Bewußtseins treten als die
sie auslösenden Vorstellungen: Sehr oft überflutet uns ein scheinbar
unbegründetes Gefühl, und wenn wir rückschauend das Bewußtsein
absuchen, finden wir bisweilen einen eben angeklungenen Namen
u. dgl., der das Lust- oder Unlustgefühl mit sich gebracht hat. Die
Bedeutung der Vorstellungen als Gefühlserreger wächst nun beim Menschen
beträchtlich durch seine Fähigkeit zur Beziehungserfassung. Nehmen wir
an, es seien ihm zwei Vorstellungen von verschiedenen unlustvollen
Sachverhalten gegenwärtig. Nur auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit in
einem Bewußtseinszustand würden sie sich vielleicht nicht allzu eng
miteinander verknüpfen. Erfaßt das Individuum aber ihre Ähnlichkeit
oder sonstige Beziehungen zwischen den beiden Sachverhalten, so werden
sie fest miteinander assoziiert. Verknüpft sich mit beiden noch der
gemeinsame Name „Unglück“, so ist später dieses Wort imstande, den
Gefühlston beider Vorstellungen wachzurufen. So gleicht also das Gefühl
einem Strome, der um so gewaltiger ist, je zahlreicher die Flüsse und
Bächlein sind, die in ihn münden.
Wenn wir keine elementaren höheren Gefühle anerkennen, sondern die
Empfindungen die Quellen, die Empfindungskomplexe die Staubecken
aller Gefühle sein lassen, so ist damit auch die +Einteilung+
aller Gefühle für uns gegeben: Die nur durch Empfindungskomplexe
ausgelösten Gefühle bezeichnen wir als niedere, während höhere
Gefühle alle jene sind, bei denen eine Beziehungserfassung ein neues
Staubecken anschließt und eröffnet. So hat der Komplex „Mutter“
seine eigenen Gefühlsmassen. Ebenso der Komplex „Totsein“. Die
Beziehungserfassung: Mutter ist tot, bewirkt aber nicht nur eine
Summierung beider Gefühlsmassen, sondern öffnet das Staubecken
„Verlust“. So denken wir uns, in grober Schematisierung dargestellt,
das Zustandekommen der höheren Gefühle.
Auch die höheren Gefühle zerfallen in qualitativer Hinsicht nur in
die beiden Hauptgruppen der Lust- und Unlustgefühle, an die sich
allenfalls noch die gemischten Gefühle anreihen. Mustert man die
Beziehungserfassungen, durch welche eine Gefühlsmasse relaisartig
angeschlossen wird, so scheinen es nur zwei Arten zu sein: entweder
erfaßt man die +mögliche+ Förderung bzw. Beeinträchtigung des
Subjektes durch einen Gegenstand, oder die +tatsächliche+, sich
vollziehende oder schon erfolgte Förderung bzw. Beeinträchtigung.
Die erste Art der Beziehungserfassung begründet die +Wert-+,
+Unwertgefühle+, die zweite die +Gewinn-+, +Verlustgefühle+, wie
wir der Kürze halber sagen wollen. Man darf wohl annehmen, daß die
Erfahrung uns einen größeren Vorrat an Gefühlsmassen für die letztere
Beziehungserfassung zu Gebote stellt. Alle vier Gefühlsarten können
nun aus Ursachen, die später zu besprechen sind, vorübergehend oder
dauernd sein. Weiterhin können sie durch untergeordnete, aber recht
charakteristische Begleiterscheinungen ausgestattet sein. Es können
Empfindungen, insbesondere Organempfindungen, und vasomotorische
Veränderungen hinzutreten, ferner Instinktbewegungen, unwillkürliches
und willkürliches Streben, unwillkürliche und willkürliche
Ausdrucksbewegungen. Überdies können diese Begleiterscheinungen,
insoweit sie nicht willkürlich sind, sich auch mit den niederen
Gefühlen verbinden. Es ergäbe sich also folgendes Schema:
+Niedere Gefühle+ | +Höhere Gefühle+
|
Lust } aus Empfindungen | Wert-, Unwertgefühle
Unlust } und Empfindungskomplexen | Gewinn-, Verlustgefühle
Gemischte G. } | Gemischte Gefühle
|
-------------------------------------------+-------------------------
Verbinden { 1. miteinander |
sich { 2. mit Organempfindungen |
{ 3. „ Instinktreaktionen |
{ 4. „ unwillkürl. Streben |
{ 5. „ | willkürlichem Streben
{ 6. „ unwillkürlichen |
{ Ausdrucksbewegungen |
{ 7. „ | willkürlichen Handlungen
{ 8. „ Empfindungen bzw. Einsichten, die selbst nicht
gefühlsbetont sind.[9]
3. Bemerkenswerte Arten der Gefühle
Mit Recht stellt man Schein- oder Phantasie- und Ernstgefühle
gegenüber. Es ist nicht das gleiche, ob man sich über Ereignisse in
der Phantasiewelt oder über solche in der Wirklichkeit freut oder
abhärmt. Es kehren hier übrigens dieselben Betrachtungen wieder, die
bei dem Problem Wahrnehmung -- Vorstellung angestellt wurden. Der
ursprüngliche Zustand ist weder Schein noch Wirklichkeit, sondern
einfachhin die Gegebenheit. Alle Gefühle, die diese Gegebenheiten
auslösen, sind echt: der seelische Schmerz im Traum des Erwachsenen
übertrifft, da alle Hemmungen wegfallen, den im Wachzustand erlebten
oft ganz beträchtlich. Das Problem der Schein- und Ernstgefühle
besteht hier also noch nicht. Erst wenn wir Schein und Wirklichkeit
zu unterscheiden gelernt haben, sind wir fähig, Scheingefühle zu
erleben. Die erkenntnismäßige Grundlage der Ernstgefühle sind dann
echte Beziehungserfassungen, die der Scheingefühle nur Annahmen. Darum
kann auch niemals ein Scheingefühl dem Ernstgefühl gleichkommen,
weil ihm der nur durch eine echte Sachverhaltserfassung mögliche
Anschluß neuer Gefühlsmassen versagt bleibt. Und doch enthalten die
Scheingefühle mehr als die algebraische Summe der zugrunde liegenden
Empfindungskomplexe. Woher dieser Überschuß? Mit den höheren wie mit
den niederen Gefühlen verbinden sich gewisse Verhaltungsweisen: man
senkt den Blick bei Trauer, erhebt das Haupt bei Freude u. ä. m. Diese
Verhaltungsweise lernen wir durch die Erfahrung kennen und führen sie
willkürlich ein, insoweit sie sich nicht rein assoziativ von selbst
einstellt. Diese Verhaltungsweise selbst aber ist wiederum assoziativ
mit Vorstellungen von demselben Gefühlston verbunden: so oft wir diese
oder jene Verhaltungsweise einschlugen, beschäftigten uns ja fröhliche
oder traurige Dinge.
Unter den Verhaltungsweisen, die sich an Lust oder Unlust
anschließen, sind viele angeboren, manche sind sogar eigentliche
Instinkte, nur wenige sind anerzogen oder gar von dem Subjekt
absichtlich gewählt. Die Verbindung der Empfindungskomplexgefühle
mit angeborenen Verhaltungsweisen oder Instinkten täuschen nun die
Wesensgleichheit gewisser höherer menschlicher Gefühle mit denen der
+Tiere+ vor: ein Hund scheint sich in gleicher Weise zu freuen und
zu fürchten wie ein Mensch. Und doch dürfen wir ihm nach unserer
Sprechweise +keine höheren Gefühle+ zuschreiben. Es fehlt ihm
eben die Beziehungserfassung, welche Freude oder Trauer begründet
erscheinen läßt und darum dem Erlebnis neue Gefühlsströme zuleitet.
Es ist darum auch das Gefühlsleben der Tiere höchstwahrscheinlich
weniger tief als das der Menschen, wenn schon die zu Lust und Unlust
gehörenden Instinkte sich hemmungsloser und darum auch lebhafter
austoben als beim Menschen. Das Kind nähert sich in dieser Beziehung
mehr dem Tiere.
Starke Gefühle, verbunden mit einer Störung des normalen
Vorstellungsverlaufes und begleitet von merklichen körperlichen
Veränderungen, nennt man +Affekte+, die passiones der Alten. Der
Affekt setzt mit einem Gefühlsstoß ein, dann wird er zumeist stumm,
die Vorstellungen werden für Augenblicke gehemmt, um dann bei
Lust rascher zu verlaufen und bei Unlust gehemmt zu bleiben. Bei
Lustgefühlen ist sodann ein Steigen, bei Unlust ein Sinken der Pulse
zu beobachten. Bei manchen Affekten steigert sich die Muskelspannung
(sthenische Affekte), so beim Zorn, während sie beim Schreck gehemmt
wird (asthenischer Affekt). Bei sthenischen Affekten erhöht sich nach
+Wundt+ das Volum der Blutgefäße, die Pulse sind kräftig, die Atmung
heftig und unregelmäßig. Im asthenischen Affekt hingegen erscheint
die Atembewegung beschleunigt und flach, die Pulse herabgesetzt, das
Gesamtvolumen der Gefäße verringert. Einzelne Affekte haben zudem
noch ganz charakteristische Begleiterscheinungen, so die Furcht das
Herzklopfen, starker Schreck die Erschlaffung der Muskeln.
Zweifellos müssen diese organischen Begleiterscheinungen den Affekten
ein ganz eigenartiges Gepräge verleihen. Die +James-Langesche
Theorie+ der Affekte ging in ihrer Bewertung sogar so weit, in ihnen
das Wesen dieser Gemütsbewegungen zu sehen: wir weinen nicht, weil
wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Diese
Theorie schoß in doppelter Hinsicht über das Ziel hinaus. Zunächst
übersah sie die von allen Organempfindungen wesentlich verschiedenen
Gefühlstöne der Lust und Unlust. Sodann beachtete sie nicht das
Begründungsverhältnis, das tatsächlich in jedem Affekt normalerweise
vorhanden ist: wir sind uns dessen bewußt, daß wir wirklich +wegen+
des Verlustes traurig oder +wegen+ des Gewinnes freudig sind.
Gleichwohl nähert sich unsere Auffassung der Affekte in beiden
Rücksichten wieder mehr der James-Langeschen Theorie. Da wir die
unterscheidenden Merkmale der verschiedenen höheren Gefühle nicht
in spezifischen Gefühlsqualitäten, sondern in den sie begleitenden
Bewußtseinsvorgängen suchen, schreiben wir notwendig den organischen
Erscheinungen beim Affekt eine größere Bedeutung zu. Sodann erkennen
wir zwar das Begründungsverhältnis des unbefangenen Bewußtseins an:
ich freue mich, weil ich Erfolg habe, aber wir teilen nicht die
Ausweitung dieses Zusammenhanges, die das naive Bewußtsein vornimmt.
Dem naiven Menschen erscheint die gefühlsmäßige Freude oder Trauer
ebensosehr als die unmittelbare und notwendige Antwort der Seele
auf die Einsicht in den vorausgehenden Erfolg oder Mißerfolg, wie
die Erkenntnis der Gleichheit oder Ungleichheit die unmittelbare
und notwendige Reaktion der Seele ist, wenn ihr zwei gleiche oder
verschiedene Inhalte mit der Aufgabe zu vergleichen gegeben sind. Es
braucht aber nur wenig kritischen Blick, um zu erkennen, daß zwischen
den Inhalten „Erfolg“ und „Freude“ ebensowenig ein denknotwendiger
Zusammenhang besteht wie zwischen einem Rot und dem mit ihm
kontrastierenden Grün. In der Tat kann ja auch infolge krankhafter
Störungen die normalerweise zu erwartende Gefühlsreaktion bei der
Wahrnehmung eines Erfolges oder Mißerfolges ausbleiben. Die Grundlage
zu einer jeden Gefühlsreaktion bildet eben nicht ein logischer,
sondern ein physiologischer Zusammenhang, nämlich der zwischen
Empfindung und Empfindungsgefühl.
Den Affekten stellt man die +Stimmungen+ gegenüber. Während man
unter Affekt einen stärkeren, aber akuten Seelenzustand versteht,
denkt man bei Stimmung an eine mäßigere, aber dauernde Verfassung
ähnlicher Art. Dabei ist dem Affekt der Sachverhalt, um dessentwillen
er sich entwickelt hat, gegenwärtig, während er der Stimmung wieder
entschwunden sein kann. Zumeist dürfte die Stimmung aus einem Affekt
hervorgehen. Die charakteristischen Organempfindungen pflegen nämlich
länger standzuhalten als die sie hervorrufenden Erkenntnisse, und da
sie selbst zumeist von ähnlichem Gefühlscharakter sind, rücken sie
teils immer wieder, sobald man sie beachtet, das betreffende Gefühl in
den Vordergrund des Bewußtseins, teils führen sie die Erinnerung an den
die Stimmung auslösenden Sachverhalt herbei.
Die +Leidenschaften+ sind nicht mehr den Gefühlen oder Affekten
beizuzählen. Unter Leidenschaft versteht der Sprachgebrauch vielmehr
ein vorherrschendes Interesse, das stark genug ist, um zu schwierigen,
gelegentlich auch zu wenig überlegten Handlungen anzutreiben.
Das Vorhandensein von +Gefühlsdispositionen+ zeigt sich darin, daß
einzelne Individuen zu bestimmten Gefühlen mehr hinneigen als andere.
Die Ursache hiervon wird an physiologischen Zuständen liegen. Es läßt
sich denken, daß die beiden Funktionsweisen des nervösen Apparates,
an welche Lust bzw. Unlust gebunden ist, nicht bei jedem Individuum
gleich gut entwickelt seien. Sodann können abnorme Körperzustände
dauernd eine gewisse Menge einseitig gefühlsbetonter Empfindungen
liefern und somit eine Steigerung der Gefühle in der einen oder
der anderen Richtung veranlassen. So sind Schwindsüchtige mehr
zur Heiterkeit, Diabetiker zur Verdrossenheit disponiert. Endlich
dürfen auch die psychischen Dispositionen nicht übersehen werden.
Wer sehr viel Leid erfahren hat, dem stehen mit diesen Erinnerungen
ebensoviele Quellen zu Unlustgefühlen zur Verfügung.
4. Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens
Nach unserer Auffassung sind die höheren Gefühle etwas sehr
Kompliziertes. Man wird darum bei ihnen auch keine einfachen und klar
umschriebenen Gesetze erwarten dürfen. Außerdem werden sich diese
Gesetze häufiger auf den dem Gefühle zugrunde liegenden Sachverhalt als
auf das emotionale Moment beziehen.
Das +Kontrastgesetz+: ein Gefühl wird durch sein Kontrastgefühl
gesteigert. Die Lust am warmen, erleuchteten Zimmer wird gesteigert
durch die Wahrnehmung des unfreundlichen Wetters; die Unlust über
solches Wetter, durch welches man marschieren muß, infolge des
Anblickes einer gemütlichen Wohnung. Man erkennt hier leicht, daß bei
solchen Kontrasten auch ganz neue Sachverhalte erfaßt werden, die dann
ihrerseits den Zuwachs des Lust- oder Unlustgefühles verschulden. --
Der +Folgesatz+: eine Reihe von Lust- oder Unlustgefühlen bedeutet nur
dann eine merkliche Steigerung des betreffenden Gefühles, wenn jedesmal
ein stärkeres Gefühl erzeugt wird. Der Satz gilt zweifellos nur im
allgemeinen und ist in der Hauptsache wohl psychologisch durch die
Herabsetzung der Bewertung häufig erscheinender Dinge zu erklären, wenn
auch die Abstumpfung gegen den Gefühlston, die er auch voraussetzt,
physiologisch bedingt sein muß.
Noch wenig geklärt sind die +Gesetze der gleichzeitigen Verbindung
mehrerer Gefühle+. Gleichartige Gefühle scheinen sich irgendwie zu
summieren. Doch nicht in einfacher algebraischer Weise. Sie behalten
stets eine gewisse Selbständigkeit. Ihre Vereinigung ist um so
inniger, je mehr die Erkenntnisgrundlagen miteinander verschmelzen.
Das Gefühl wird eben stärker, je mehr sich unsere Aufmerksamkeit dem
Gefühlserreger zuwenden kann, was bei der Abhängigkeit des Gefühls
von seinen Reproduktionsgrundlagen leicht verständlich ist. Die
mannigfachen Reize eines Festmahles kann man nicht alle gleichzeitig
in größter Intensität auf sich einwirken lassen. Darum scheinen
die von ihnen erweckten Gefühle eher nebeneinander zu stehen. Bei
einem Ornament hingegen kann Form und Farbe gleichzeitig und fast in
vollster Intensität im Blickpunkt der Beachtung stehen, und darum
scheint es ein einheitliches Gefühl hervorzurufen. Aus demselben
Grunde will sich Lust und Unlust aus verschiedenen Quellen nicht
recht mischen. Sie treten vielmehr abwechselnd in den Vordergrund,
je nachdem wir dem einen oder dem andern mehr Beachtung schenken.
Dennoch erscheinen sie nicht einfachhin voneinander getrennt, sondern
die Unlust verleidet uns die Freude, und die Lust läßt vermutlich
das Leid nicht zur vollen Entwicklung gelangen. Anders bei den sog.
gemischten Gefühlen, wie dem Spannenden, Romantischen, Tragischen, wo
die Unlust eine notwendige Vorbedingung des angenehmen Gefühles ist.
Allerdings darf man hier nicht übersehen, daß diese vorausgehende
Unlust eher ein Scheingefühl ist oder doch wenigstens durch die
bestimmte Erwartung des glücklichen Ausganges gemildert wird. Sonst
zerfällt das gemischte Gefühl in zwei gesonderte Phasen, der Unlust
und der Lust.
Praktisch bedeutsam ist die +zeitliche und gegenständliche Verschiebung
des Gefühles+. Zeitlich verschiebt sich das Gefühl, indem es einer
Erinnerungsvorstellung vorauszueilen scheint. Genauere Beobachtung und
der Vergleich mit erstmaligen Wahrnehmungen, die Gefühle wecken, noch
ehe sie selbst zur klaren Entfaltung gelangt sind, lehrt indes, daß
diese Verschiebung nur eine scheinbare ist. Es genügt aber eine gerade
überschwellige Reproduktion, damit schon ein merkliches Gefühl verspürt
werde. Dieses lenkt nun sofort die Aufmerksamkeit auf sich, wodurch
dann häufig die angefangene Reproduktion wieder versagt und das Gefühl
als ein völlig unbegründetes erscheinen läßt. Die gegenständliche
Verschiebung ist unter dem Namen der Gefühlsübertragung oder der
Irradiation des Gefühlstones bekannt und schon bei den elementaren
Gefühlen besprochen worden (S. 141 f.).
Ebenso stimmt es zu unseren theoretischen Anschauungen sehr wohl,
daß sich ein eigentliches +Gefühlsgedächtnis+ nicht nachweisen
läßt. Ein Gefühlserlebnis ist immer nur durch die Vergegenwärtigung
seiner erkenntnismäßigen Grundlage zu erneuern. Dabei werden
bezeichnenderweise die einfacheren Gefühle schwerer reproduziert als
die zusammengesetzten: die Vergegenwärtigung der Lust an einer Speise
ist weit schwächer als die an einer Melodie oder an einem Erfolg. Die
Lust an einem Sinneseindruck gründet sich nämlich einzig auf diesen
isolierten Reiz, und dieser ist bekanntlich nicht mehr in gleicher
Stärke zu reproduzieren. Die Lust an einem Erfolg hingegen ist in der
Hauptsache eine Beziehungslust, die schon beim ersten Erleben nicht
aus dem unmittelbaren Sinneseindruck, sondern reproduktiv aus den
Gefühlsvorräten geschöpft wurde. Diese sind aber heute noch ebenso
reichhaltig wie beim ersten Erleben.
5. Die Beziehungen des Gefühls zu andern Funktionen
Gefühle schaffen Werte, sobald sie sich mit einem Gegenstand verbinden,
mag diese Verbindung eine ursprüngliche oder durch Gefühlsübertragung
entstandene sein. Dementsprechend beeinflussen sie auch alle
Werturteile, d. h. sie begründen +Werturteile+. Ebenso unmittelbar ist
ihr Einfluß auf das Streben, das ja stets auf einen Wert gerichtet
ist. Wenig geklärt ist jedoch ihre Bedeutung für die Entstehung eines
Entschlusses oder einer +Willenshandlung+, wenn die Gefühle sich nicht
mit dem Ziel des Strebens verbinden, sondern gewissermaßen das Milieu
sind, in dem die Willenshandlung geboren wird. Erregende Gefühle,
Unlust ebensowohl wie Lust, scheinen zum Entschluß und zur Handlung
anzutreiben, niederdrückende scheinen sie zu hemmen.
Deutlich ist die Einwirkung der Gefühle auf die +Vorstellungen+.
Lustgefühle vermehren den Reichtum an Vorstellungen, Unlustgefühle
erschweren die Vorstellungsreproduktion, vermutlich deshalb,
weil Lust die Blutzufuhr nach dem Gehirn steigert, Unlust sie
herabsetzt. Die Gefühle wirken sodann stark konstellierend, d. h. sie
bestimmen die Auswahl der Vorstellungen. Ein Affekt läßt nur solche
Vorstellungen aufkommen, die ihm entsprechen: ein Unglück weckt
traurige, ein Glücksfall fröhliche Erinnerungen. Das erklärt sich
teils aus der assoziativen Verbindung, welche Vorstellungskomplexe
gleicher Gefühlsbetonung eingehen, teils aus den gleichartigen
Affekten gemeinsamen Organempfindungen, die ihrerseits wieder zu
Reproduktionsmotiven der früheren Erlebnisse werden, teils daraus, daß
uns in einem Affekt Erinnerungen bzw. Vorstellungen von andersartigem
Gefühlston unwillkommen sind und darum schon auf der Schwelle
unterdrückt werden.
Sodann sind die Gefühle bedeutungsvoll für die +Erinnerung+.
Erlebnisse, die gefühlsbetont sind, haben, wie experimentelle
Untersuchungen lehrten, größere Erinnerungsfestigkeit als indifferente,
vielleicht weil sie größere Aufmerksamkeit fanden, vielleicht weil man
sich willkürlich mehr mit ihnen beschäftigte. Dabei werden lustbetonte
häufiger erinnert als unlustbetonte (Erinnerungsoptimismus), wohl
darum, weil wir uns willkürlich von der aufsteigenden Erinnerung
unlustvoller Erlebnisse abwenden. Nur wenn das unliebsame Geschehnis
von sehr großer Bedeutung für den Erlebenden war, verschafft es sich
eine bevorzugte Stelle unter den Erinnerungen.
+Literatur+
Th. +Ribot+, Psychologie der Gefühle. 1903.
G. +Störring+, Psychologie des menschlichen Gefühlslebens. 1916.
A. +Mosso+, Die Furcht. 1899.
Fußnoten:
[9] Die besonderen Formen der Zusammensetzung dieser Inhalte
berücksichtigt die phänomenologische Einteilung +Schelers+, der
sinnliche Gefühle, Lebensgefühle (Gefahr), seelische Gefühle
(Freude) und geistige Gefühle (Seligkeit) unterscheidet. Vgl. Der
Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
DRITTER ABSCHNITT
Das Willensleben
1. Kap. Die Vorbereitung des Willensaktes
Während ein Akt der absoluten Wahrnehmung keinerlei Vorbereitung im
Bewußtsein voraussetzt, sondern theoretisch wenigstens ein erster
Bewußtseinsvorgang sein kann, ist ein Willensakt nicht denkbar, der
nicht ein gewisses Vorspiel in der Seele hätte. Von den Inhalten nun,
die einem Willensakt vorausgehen, scheinen einige in nur zufälliger,
andere in notwendiger Verbindung mit ihm zu stehen. Man nannte letztere
die Motive des Wollens.
1. Das Wesen des Motives
Die wenigen Forscher, die den Motivationsvorgängen experimentell
beizukommen suchten, konnten sich noch nicht auf eine
Begriffsbestimmung des Motivs einigen. Sie zählten darunter sowohl
verstandesmäßige Beweggründe, wie unwillkürliche Strebungen, Gefühle
und Bewegungsvorgänge. Vergleicht man jedoch die von ihnen als
Motive bezeichneten Erlebnisse miteinander, so stellt sich heraus,
daß man die Vorbedingungen der äußeren Willens+handlung+, in der
sich der Willensakt kundgab, mit denen des inneren Willens+aktes+
verwechselte und dabei die Wirkursachen reproduktiver Vorgänge nicht
von den Beweggründen des Entschlusses unterschied. Führt man diese
Unterscheidung durch, so ergibt sich ein einheitlicher Begriff des
Motives: +Motiv des Willensaktes ist alles, was sich der Seele als
ein durch den Willensakt zu verwirklichender Wert vorstellt+. Dabei
verstehen wir unter Wert alles, was für das betreffende Individuum
vorteilhaft ist.
Diese Art Motive sind nun von verschiedener Gestaltung. Die niederste
Stufe von ihnen wird durch einfache Sinneseindrücke oder richtiger
durch einfachste, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände gebildet. Sie
müssen aber lustbetont sein, damit ihr Besitz als ein Vorteil für
das Subjekt erscheinen kann. Auf dieser Stufe ist das niedere Gefühl
ausschlaggebend. Nicht als ob das Gefühl als solches erstrebt
würde, erstrebt wird immer nur der gefühlsbetonte Gegenstand;
aber würde dieser Gegenstand nicht ein Lustgefühl wecken, wäre er
nicht tatsächlich ein „Bringer der Lust“, so hätten seine übrigen
Eigenschaften keine Anziehungskraft. Andere Gegenstände erwecken nicht
unmittelbar als solche ein merkliches Gefühl, und nur verstandesmäßig
und mit einer gewissen Nüchternheit werden sie als vorteilhafte Dinge
erkannt. Allein entgegen den früheren Ansichten reicht diese kühle
Einsicht hin, das Verlangen nach ihnen auszulösen. So erkennt man das
Studium als eine dem Individuum zuträgliche Sache und wendet sich ihm
zu, auch wenn kein erkennbares Lustgefühl uns diese Arbeit angenehm
macht. Ebensowenig wie ein Gefühl ist eine besondere Anschaulichkeit
der Motivwerte erforderlich; auch ganz abstrakt erfaßte Vorteile können
entschiedene Willensentschlüsse hervorrufen.
2. Einteilung der Motive
Als +niedere+ oder elementare Motive können wir solche bezeichnen,
deren ganzer Wert in dem unmittelbar von ihnen erregten Lustgefühl
beruht. +Höhere+ Motive hingegen sind diejenigen, deren Wert erst
durch eine Beziehungserfassung erkennbar ist. Diese psychologische
Einteilung deckt sich natürlich nicht mit einer gleichlautenden aus
der Ethik oder der Wertlehre: ein psychologisch hoher Wert kann ein
ethischer Unwert sein.
+Innere+ Motive sind solche, die dem Willensziel selbst entnommen
sind, etwa die Schönheit oder die Nützlichkeit der Ordnung, falls
diese der Gegenstand des Entschlusses ist. +Äußere+ Motive wären in
diesem Falle die Rücksicht auf andere Menschen, der Wunsch, seiner
bisherigen Gewohnheit zur Ordnung nicht untreu zu werden, oder auch
ein rein subjektives Verlangen, eine Art Laune, jetzt einmal sich für
die Ordnung zu entscheiden. Die bisher besprochenen Motive werden
von positiven Werten gebildet. Ein negativer Wert, ein Unwert hat
keine Anziehungskraft. Es muß aber vorerst die Frage noch offen
bleiben, ob ein negativer Wert ein Motiv für ein negatives Streben
bilden kann. Die experimentellen Forschungen reichen noch nicht hin,
die Tatsächlichkeit eines besonderen negativen Strebens zu beweisen.
Es könnte sein, daß die Flucht vor einem Unwert psychologisch
derselbe Vorgang wäre wie das positive Streben, dessen Richtung nur
in unserer Auffassung doppelt gekennzeichnet wäre, nämlich durch
den Ausgangspunkt und durch den Zielpunkt. Dann würde auch der zu
meidende Unwert nicht als solcher willensbestimmend wirken, sondern
das Gut, der Vorteil, der in dieser Flucht vor dem Unwert enthalten
ist.
3. Vorbedingungen für die Wirksamkeit von Motiven
Als allgemeinste Vorbedingung ist das Bewußtwerden der Motive
zu nennen. Werte, Vorteile sind keine Wirkursachen, die sich
geltend machen können, ohne selbst bewußt zu sein, wie das bei den
Reproduktionstendenzen der Fall ist. Diese gehören zu dem Mechanismus
unseres geistigen Lebens, sie wirken ohne selbst erkannt zu sein.
In der Motivation hingegen treten die Inhalte vor die Seele. Sie
gehören also in eine ganz andere Gattung der seelischen Kräfte. Darum
kann es streng genommen keine unbewußten Motive geben. Doch kann der
Wert oder Unwert in sehr verschiedener Weise bewußt werden: Er wird
z. B. vorstellungsmäßig im voraus verkostet, oder der Gedanke an ihn
weckt ein Gefühl, und dieses bleibt als Motiv stehen, während der
Gedanke schwindet. Sehr häufig ist uns jedoch ohne besondere Gefühle
mehr oder weniger die Bedeutung des Zieles gedanklich gegenwärtig;
Gedanken, die freilich um so abstrakter werden, je häufiger sie
wiederkehren. Bedenkt man nun, daß uns verschiedene Seiten eines
Wertes oder Unwertes gleichzeitig, und zwar auf verschiedene
Weise gegeben sein können, daß sich ferner diese gleichzeitigen
Werterlebnisse häufig auf verschiedenen Bewußtseinsstufen befinden,
so versteht man die bisweilen festzustellende Unklarheit über die
eigenen Ziele und die „Lüge des Bewußtseins“, d. h. die Täuschungen
über die wirklich ausschlaggebenden Motive unseres Handelns.
Weitere interessante Einzelheiten über die Erschließung eines Wertes
ergeben die Untersuchungen von +Michotte+ und +Prüm+.
So ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge mehrere
werthaltige Gegenstände vorgelegt werden, wenn es sich darum
handelt, zwischen ihnen eine Wahl zu treffen. Und auch die Art und
Weise der Wertprüfung ist von Bedeutung. Sie kann nämlich entweder
analytisch zergliedern oder mehr großzügig aufs Ganze gehen. Trägt
der zu prüfende Gegenstand seinen Wert ziemlich offen zur Schau, so
ist es im allgemeinen günstig, ihn an erster Stelle vorzulegen. Man
entscheidet sich dann leicht für ihn ohne eingehendere Prüfung. Will
man dagegen, daß der Wählende sich für einen Gegenstand von nicht
offenkundigem Wert entschließe, so ist es ratsam, ihm zunächst einen
anderen mit offenkundigen Mängeln vorzuhalten. Er wird dann in der
Regel diesen ersten nach einer oberflächlichen Besichtigung ablehnen,
den zweiten hingegen einer ins einzelne gehenden Prüfung unterwerfen,
bei der sich dann der Wert des zweiten deutlicher herausstellt.
Eine andere Vorbedingung für das Wirksamwerden der Motive ist die
Erreichung einer entsprechenden +Kraft+. Soweit unser jetziges Wissen
reicht, kann man nicht behaupten, daß angesichts einer bestimmten
Werthöhe notwendig ein Willensakt ausgelöst werde, aber daß nicht
jedes Motiv stark genug ist, unter allen Umständen uns zu einem
bestimmten Entschluß zu vermögen, das offenbarte sich auch schon in
den Wahlversuchen. In solchen Fällen hilft dann die gegenseitige
Verstärkung der Motive über den toten Punkt hinweg. Die Vereinigung
mehrerer Motive kann nämlich einen Gesamtwert ergeben, angesichts
dessen der Entschluß zustande kommt. Dabei gewinnen die äußeren
Motive ihre hervorragende Bedeutung. So namentlich die Rücksicht auf
die bisherige Gewöhnung. Damit eröffnet sich ein doppelter Weg zur
Beeinflussung des Willens: ein direkter durch unmittelbares Vorhalten
der Motive und ein indirekter durch die Gewöhnung, der dann ein
äußeres Motiv entnommen werden kann, nämlich die Gleichförmigkeit des
eigenen Handelns.
2. Kap. Die unmittelbaren Wirkungen des Willensaktes
1. Die determinierenden Tendenzen
Das Wesen des Willensaktes wurde schon oben bei Darstellung der
elementaren Funktionen besprochen. Während nun die anderen seelischen
Elemente sich zu höheren Leistungen komplizieren können, scheint der
Willensakt als solcher stets der gleiche zu bleiben. Eine besondere
Ausgestaltung scheinen nur die Objekte des Wollens zu erfahren. Wir
wenden uns darum gleich den Wirkungen des Willensaktes zu.
In den verschiedenartigsten Reaktionsversuchen hatte es sich immer
deutlicher herausgestellt, daß der Verlauf des ganzen Erlebnisses
in eigenartiger Abhängigkeit stand von der +Aufgabe+, welche die Vp
übernahm. Am auffälligsten wurde das in hypnotischen Versuchen. Da
erhält z. B. die Vp die Aufgabe, die ihr nach der Hypnose vorzulegenden
Zahlen zu multiplizieren. Aufgeweckt, erblickt sie das Zahlenpaar
5/7 und spricht augenblicklich die Zahl 35 aus, ohne im geringsten
angeben zu können, was sie zum Aussprechen dieser Zahl veranlaßt hat.
+Ach+ wollte diesem Vorgang durch die Aufstellung der determinierenden
Tendenzen (im folgenden det. T.) gerecht werden. Der in der Übernahme
einer Aufgabe liegende Willensakt erzeugt die det. T. zur Ausführung
dieser Aufgabe. Diese Tendenzen sind nach +Ach+ weder mit den
assoziativen noch mit den perseverierenden Reproduktionstendenzen
gleichzusetzen, sondern stellen eine ganz neue Art von Tendenzen
dar. Sie wirken im Unbewußten und ziehen ein spontanes Auftreten der
determinierten (d. h. von der Aufgabe verlangten) Vorstellung nach
sich. Nach +Achs+ Vorgang stellte später +Koffka+ eine ganze Reihe von
det. T. auf, darunter auch solche, die nicht von einem Willensakte,
sondern von einem Gedanken ausgehen sollten.
Zweifellos haben +Ach+ und die ihm nahestehenden Forscher eine
wichtige Tatsache mit dem Namen der det. T. gekennzeichnet. Die
Zielstrebigkeit, die in unserem Denk- und Handlungsverlauf herrscht,
sobald ein bestimmter Willensentschluß gefaßt worden ist, ist derart,
daß man nicht recht glauben mag, sie könne durch die konstellierende
Kraft einer Obervorstellung (+Liepmann+) bewirkt werden. Es muß
eine ordnende Kraft in den Ausführungen unserer Entschlüsse
herrschen. Es ist aber nicht erwiesen, daß dies eine neuartige, von
der Zielvorstellung ausgehende Tendenz sei. Denn die Leistungen,
die insbesondere dieser Tendenz zugeschrieben werden, lassen sich
auch durch die bekannten Reproduktionstendenzen verständlich
machen. Die Aufgabe bildet nämlich als antizipierendes Schema (S.
173) ein Reproduktionsmotiv für das Erscheinen der determinierten
Vorstellungen, und die oft unvermittelt und ohne Erinnerung an die
Aufgabe erscheinende richtige Lösung findet ihre Parallele bei
offenkundigen Reproduktionsvorgängen, die keiner Aufgabe entsprungen
sind.
Anderseits ist die Willkürhandlung doch nicht rein assoziativ bedingt.
Sie müßte sonst ebenso leicht entgleisen wie ausschließlich assoziativ
geleitete Reproduktionen. Den „Einfällen“, die uns die Assoziationen
liefern, ist es ja charakteristisch, daß sie sehr wenig vom Sinn
beherrscht sind und „vom Hundertsten ins Tausendste“ führen. Vor allem
aber muß dem in den Willensexperimenten beobachteten Erlebnis des
„ich will“ seine Stelle und Bedeutung in dem ganzen Vorgang werden.
Wir müssen uns da freilich noch mit Hypothesen begnügen und denken
uns den einfachen Willensvorgang folgendermaßen. Die Vp habe sich in
der Vorperiode dazu entschlossen, beim Erscheinen eines bestimmten
Reizes den niedergedrückten Taster loszulassen. Der Reiz erscheint,
die Vp erkennt ihn als das vereinbarte Zeichen und erblickt angesichts
der Gesamtlage in dem Loslassen des Tasters ein zu wollendes Ziel.
Jetzt erfolge der eigentliche Willensakt: die Vp will das Loslassen.
Nehmen wir nun an, der Vp sei dabei neben anderen Vorstellungen auch
die zum Loslassen des Tasters erforderliche Bewegungsvorstellung
gegenwärtig, so ist zu erklären, warum von den verschiedenen ihr
gegenwärtigen Vorstellungen nur diejenige zum Ausgangspunkt einer
Reproduktion wird, die sich auf das Loslassen des Tasters bezieht.
Der Assoziationspsychologe behauptet hier: der aufgetauchte Reiz
reproduziert den in der Vorperiode gefaßten Vorsatz und damit die
Vorstellung des Loslassens, und so wird diese verstärkt und vor allen
anderen zum Reproduktionsmotiv. Wir bestreiten nun durchaus nicht, daß
ein solcher assoziativ bedingter Vorgang stattfindet und in gewissen
Fällen sogar die Bewegung herbeiführen kann. Aber das gilt doch nur
für jene Fälle, wo die Zielvorstellung auf diese Weise hinreichend
intensiv gemacht werden kann. Es erklärt aber nicht die Zielstrebigkeit
unserer Vorstellungen und Bewegungen, wie sie sich etwa auf einem
Geschäftsgang mitten durch die lebhaftesten Eindrücke einer Großstadt,
und zwar bei nahezu völligem Zurücktreten des Zielgedankens, zeigt.
Ferner wird so nicht verständlich, warum alle unsere Willenshandlungen
von einer +Bedeutung+ beherrscht sind, und endlich wäre der tatsächlich
vorhandene Willensakt in dieser Auffassung höchst überflüssig. Wir
nehmen darum an, das „ich will loslassen“ sei eine Hinwendung zu der
Bewegungsvorstellung und verstärke durch diese Hinwendung unmittelbar
diese Vorstellung, so daß sie zu einem wirksamen Reproduktionsmotiv
für die weiterhin notwendigen Bewegungsvorstellungen werden kann.
Die gleiche Leistung, die unter anderen Bedingungen die assoziative
Konstellation vollbringt, schreiben wir also dem Willensakt zu. Wir
stützen uns für diese Annahme auf eine Reihe von Beobachtungen (von
+Stumpf+, G. E. +Müller+ u. a.), nach denen die willkürliche Beachtung
einer Empfindung oder Vorstellung diese verstärkt.
Bei +zusammengesetzten Willenshandlungen+ wird der Beginn auf die
nämliche Weise von statten gehen. Ist dann eine gewisse Reihe von
Vorstellungen abgelaufen, so stockt die Willenshandlung. Rein
reproduktiv taucht nun wieder die Aufgabe bzw. der Vorsatz auf und
reproduziert dadurch eine weitere Reihe von Vorstellungen, denen
gegenüber sich der Willensakt wie bei der einfachen Willenshandlung
wiederholt. Geschieht dies nicht oder wird die Zielvorstellung
nicht aufs neue lebendig, so kommt es zu den merkwürdigen, rein
assoziativ bedingten Fehlhandlungen, oder man fragt sich verwundert:
Was wollte ich doch? Ein Akt des Besinnens leitet dann zur alten
Fährte zurück. Der Wille verhütet also, daß unsere Handlungen nicht
einzig von der zufälligen Intensität der Vorstellungen abhängen. Er
befreit uns darum aus dem Banne der Assoziationen. Er sorgt auch
dafür, daß unsere Willenshandlungen nicht beständigen Stockungen
unterliegen, wie das Aufsagen eines schlecht gelernten Gedichtes.
Das Perseverieren der Aufgabe oder ihre öftere Zurückführung ins
Bewußtsein ermöglicht uns sodann, durch einen Vergleich unserer
Handlungsweise mit dem vorgesteckten Ziele deren Richtigkeit zu
kontrollieren.
2. Das Gesetz der speziellen Determination
War den Vpn +Achs+ die Aufgabe gestellt, mit einer beliebigen Silbe zu
reagieren, so benötigten sie dazu in der Regel mehr Zeit, als wenn sie
eine Silbe auszusprechen hatten, die noch gewissen Bedingungen genügen
mußte; auf die dargebotene sinnlose Silbe mit einer Reimsilbe zu
antworten, war leichter, als irgendeine sinnlose Silbe auszusprechen.
+Ach+ faßte diese Tatsachen in dem Gesetz der speziellen Determination
zusammen: Je spezieller die Determination, desto rascher und sicherer
wird die Verwirklichung erreicht.
Gegen dieses Gesetz hat man den einleuchtenden Einwand erhoben:
es ist zweifellos leichter, irgendeine Stadt Deutschlands zu
nennen, als eine Stadt mit 85300 Einwohnern. Anderseits schien sich
die Beobachtung +Achs+ bei den verschiedensten Versuchen immer
wieder zu bestätigen. Eine genauere Betrachtung der betreffenden
Versuchserlebnisse dürfte indes Klarheit schaffen. Da +Ach+ in den
det. T. eigenartige Vorgänge erblickte, trug er kein Bedenken, so
verschiedene Tätigkeiten, wie das Aussprechen irgendeiner sinnlosen
Silbe und das Reimen zu einer schon gegebenen Silbe, unmittelbar
miteinander zu vergleichen. Wir erkennen die Eigenart der det.
T. nicht an, müssen darum auf die verschiedenen Erlebnisse selbst
eingehen. Da finden wir nun, daß die genannten zwei Reaktionsweisen
sehr verschiedene Erlebnisse sind: in dem einen Falle ist reproduktiv
eine ganze Silbe herbeizuschaffen, in dem andern braucht nur ein
einziger Konsonant gefunden zu werden, der, als Anfangskonsonant
in die schon gebotene sinnlose Silbe eingesetzt, unmittelbar die
geforderte Reimsilbe liefert. Es ist somit nicht zu verwundern, wenn
diese speziellere Aufgabe rascher und sicherer gelöst wird als die
allgemeinere, mit irgendeiner Silbe zu antworten. Es können also
nur gleichartige Aufgaben miteinander verglichen werden, etwa die
Aufgabe zu reproduzieren. Hier bewährt sich nun das Achsche Gesetz
sehr deutlich, während anderseits der obige Einwand in voller Kraft
bestehen bleibt. Beide Umstände lassen sich nun folgendermaßen in
Einklang bringen, und zwar ohne Verwertung von det. Tendenzen.
Jede Aufgabe kann als antizipierendes Schema für einen geforderten
Reproduktionsprozeß gelten, muß ja doch wenigstens eine bestimmte
Verhaltungsweise reproduziert werden. Je spezieller nun eine Aufgabe
ist, um so reichhaltiger ist das antizipierende Schema, ein um so
wirksameres Reproduktionsmotiv gewährt es für die Ausführung der
Aufgabe. Allerdings stellt auch jene besondere Seite der Aufgabe eine
Bedingung, der die Lösung genügen muß, und diese Bedingungen sind
nicht immer gleich leicht zu erfüllen.
Berücksichtigt man alle diese Umstände, so läßt sich das Gesetz der
speziellen Determination folgendermaßen aussprechen: Die spezielle
Determination wird schneller und sicherer verwirklicht, insofern sie
induktionskräftige, konvergierende Reproduktionsmotive bietet und nicht
geläufigere Reproduktionen ausschließt. Es ist also im Grunde ein
Reproduktionsgesetz, nicht ein Willensgesetz. Da es aber namentlich für
die Willensleitung von besonderem Werte ist, findet es in dem Kapitel
über den Willen eine passende Stelle.
3. Die Messung der Willenskraft. Das assoziative Äquivalent
+Ach+ hatte den fruchtbaren Gedanken, der Verwirklichung einer
Absicht Hindernisse in den Weg zu legen und an der Überwindung dieser
Hindernisse die Willenskraft zu messen. Hat eine Vp ein Paar sinnloser
Silben fest eingeprägt, so geht von der ersten der erlernten Silben
eine starke Reproduktionstendenz zur zweiten. So oft die Vp die
erste Silbe hört oder ausspricht, ist sie versucht, auch die zweite
auszusprechen. Hat sie nun die Aufgabe übernommen, auf die zugerufene
Silbe mit einem Reim oder mit einer gänzlich neuen Silbe zu antworten,
so werden, meinte +Ach+, zwei Tendenzen miteinander in Widerstreit
geraten. Die Reproduktionstendenz sucht die hinzugelernte Silbe
herbeizuführen, die aus der Aufgabe stammende det. Tendenz hingegen
sucht die Lösung der Aufgabe zu bewirken. Die stärkere Tendenz von
beiden wird siegen. Da man nun die Reproduktionstendenz durch Häufung
der Wiederholungen des einzuprägenden Silbenpaares in beliebiger
Stärke herstellen kann, so wird sich ein Stärkegrad schaffen lassen,
demgegenüber auch das energischste Wollen versagt und die Aufgabe durch
die obsiegende Reproduktion vereitelt wird: das assoziative Äquivalent
der Determination bzw. der Willenskraft ist erreicht, ein Maß für
die Willenskraft ist somit gefunden. -- Der überaus einleuchtende
Gedankengang +Achs+ schien durch die Ergebnisse der Versuche bestätigt
zu werden: in der Regel ließ sich durch die Verstärkung der Assoziation
eine so kräftige Reproduktionstendenz erzeugen, daß der redlichste
Vorsatz der Vpn an ihr zuschanden ward. Nur einige wenige Vpn
verstanden es, trotz stärkster Reproduktionstendenzen ihren Willen
durchzusetzen, und zwar merkwürdigerweise ohne besonders energische
Willensanstrengung.
Konnten wir schon die +Ach+sche Voraussetzung zur Messung der
Willensstärke, nämlich die Eigenart der det. Tendenz, nicht anerkennen,
so muß der zuletzt erwähnte Umstand uns erst recht skeptisch machen.
Prüft man darum das Verhalten der Vpn näher, so ergibt sich, daß man
es in beiden Fällen mit einem ganz verschiedenen Benehmen zu tun hat:
die Vpn, bei denen das assoziative Äquivalent erreicht wird, fassen
in der Vorperiode des Versuches ihren Vorsatz, bemühen sich dann aber
nicht, ihn im Bewußtsein zu halten, sondern überlassen sich dann
ganz dem Eindruck der Versuchssituation und den von ihr geweckten
Reproduktionstendenzen; andere hingegen halten ihren Entschluß, wenn
auch noch so schwach, bewußt und können darum die auftauchenden
Reproduktionstendenzen leicht unterdrücken. Wie neuere Untersuchungen
(+Lewin+, +Sigmar+) gelehrt haben, kommen diese Reproduktionstendenzen
trotz des Vorsatzes überhaupt nicht auf, wenn es gelingt, die Vp
abzulenken. Es mißt also das assoziative Äquivalent gar nicht
die Willenskraft, sondern höchstens das Stärkeverhältnis zweier
Reproduktionstendenzen, nämlich der von der Einprägung bedingten und
der von dem Vorsatz in derselben assoziativen Weise grundgelegten
Reproduktionstendenz.
+Selz+ hat den Versuchen +Achs+ gegenüber gemeint, die Willenskraft
sei überhaupt auf einem ganz anderen Gebiet zu erproben als auf
dem der Ausführung eines Vorsatzes: die erstmalige Setzung eines
Entschlusses sei der Ort, wo sich die Willenskraft bewähre. In der
Tat scheint es einen stärkeren Willen zu erfordern, sich zu einer
Arbeit oder gar zu einem Leiden zu entschließen, als zu einem
Vergnügen. Der erste Eindruck spricht allerdings dafür, daß in jenen
Fällen eine größere Willensintensität wirksam werde. Sieht man aber
genauer zu, so rührt dieser Eindruck zum Teil daher, daß man bei der
Übernahme unlustvoller Dinge gern äußere Ausdrucksbewegungen von
größerer Intensität zuhilfe nimmt, wie krampfhafte Muskelbewegungen.
Sie können gewiß den inneren Willensakt nicht zu einem intensiveren
gestalten und werden auch von rechten Künstlern des Wollens lieber
vermieden. Zum andern Teil rührt der Eindruck daher, daß nach dem
einmaligen Entschluß zum Opfer sich die unangenehme Seite immer
wieder von neuem aufdrängt und zur Zurücknahme des Entschlusses
bewegen möchte, wie man sich auch umgekehrt einen solchen Entschluß
erleichtern kann, wenn man den Blick unverwandt auf den für das
Opfer sprechenden Beweggrund richtet. Auf jeden Fall läßt sich auf
die besagte Weise ein gewaltsamer Willensakt umgehen. Versuche des
Verfassers über den Entschluß zum Unliebsamen sprechen entschieden
gegen das Vorhandensein und die Bedeutung intensiver Willensakte.
Unser Wollen scheint somit nicht einem kräftigen Hammerschlag,
sondern einer sicheren Weichenstellung oder einer Einschaltung
eines Kontaktes vergleichbar zu sein, wozu auch keine besondere
Kraft benötigt wird. Die gesamte Willensstärke dürfte in der
Bereitstellung kräftiger Beweggründe und in einer geschickten Lenkung
der Aufmerksamkeit beruhen. Damit lassen sich manche Tatsachen
befriedigend erklären. So der Umstand, daß die Willensstärke keinem
Alter oder Geschlecht allein vorbehalten bleibt, oder die andere, daß
Menschen, die auf einem Gebiet sehr willensstark sind, auf anderen
völlig versagen: nicht die vorhandene oder mangelnde Willensstärke,
sondern die bereitstehenden oder fehlenden Motive geben den Schlüssel
zum Verständnis solch widerspruchsvollen Verhaltens.
3. Kap. Die Willenshandlung als Folge des Willensaktes
1. Die äußere Willenshandlung
Es war ein dornenvolles Problem für die Assoziationspsychologie, wie
auf den in Vorstellungen oder Gefühle aufgelösten Willensakt die
erwünschte äußere Bewegung folgen könnte. Da verrieten experimentelle
Untersuchungen, daß man kaum einen anschaulichen Gegenstand
oder gar eine Bewegung vorstellen könne, ohne völlig unbewußte
Bewegungen auszuführen, die dem vorgestellten Objekt entsprechen.
Man stellte also den Satz auf: jede Vorstellung hat die Tendenz,
eine Bewegung hervorzurufen oder gar das von ihr gemeinte Objekt zu
verwirklichen. Das Problem wäre dann nicht darin zu suchen, daß auf
die Zielvorstellung eine Bewegung folgt, sondern eher darin, warum
nicht auf jede Vorstellung hin eine Bewegung eintritt. Indes setzen
alle Fälle einer durch eine Vorstellung ausgelösten (ideomotorischen)
Bewegung schon eine Übung in dieser Bewegung voraus. Nur wenn eine
Vorstellung häufig von einer Bewegung gefolgt war, hat sie die
Tendenz, eine solche wieder hervorzurufen. Es ist das somit nur ein
Sonderfall des allgemeinen Assoziationsgesetzes. Man käme auch von
diesem Standpunkt aus zu den merkwürdigsten Folgerungen: Zunächst
würde der tatsächlich vorhandene Willensakt gänzlich bedeutungslos.
Sodann müßte die innere Verbindung zwischen Vorstellung und Handlung
erklärt werden. Man hat dies durch eine Ähnlichkeitsassoziation zu
erreichen versucht. Aber worin soll die Ähnlichkeit beider bestehen?
Gewiß nicht in ihrer psychologischen Natur; denn die Vorstellung
einer Bewegung ist etwas ganz anderes als die Bewegung selbst. Es
bleibt also nur eine Ähnlichkeit zwischen dem Inhalt, der Bedeutung
der Vorstellung und der Handlung. Allein ganz abgesehen davon,
daß das Gesetz der Ähnlichkeitsassoziation so nicht zu verstehen
ist, erwächst so die neue Schwierigkeit, warum denn nicht jegliche
Bedeutung zur Verwirklichung dieser Bedeutung führt, warum insbesondere
gewisse einfachste Bewegungen auch beim entschiedensten Willen und
bei unversehrtem Bewegungsapparat nicht zu verwirklichen sind, man
denke an die willkürliche Bewegung der Ohren. Hier bliebe nur die
Annahme einer zuvor angelegten Verbindung zwischen Vorstellungen und
Bewegungen möglich, womit dann freilich die wissenschaftliche Erklärung
ihr Ende erreicht hätte. Allerdings die eben genannte Tatsache, daß
viele Menschen gewisse Bewegungen, zu denen sie an sich befähigt sind,
trotz besten Willens nicht auszuführen vermögen, beweist anderseits,
daß die Willenshandlung mit dem bloßen Hinweis auf die bestehende
Willensabsicht nicht erklärbar ist.
Vor jedem Erklärungsversuch wird es sich empfehlen, eine Übersicht
über +die verschiedenen Arten der Bewegungen+ zu geben, die
zu unserem Seelenleben in Beziehung stehen. Zunächst sind die
+Reflexbewegungen+ zu berücksichtigen. Einige von diesen, wie die
Verdauungs- und Herzbewegungen, vollziehen sich ganz unabhängig
von unserem Bewußtsein. Wir bemerken sie höchstens, wenn sie
krankhaft gestört sind. Andere Reflexbewegungen, wie das Niesen,
der unwillkürliche Lidschluß, treten erst dann ein, wenn ein
entsprechender Reiz gewisse Empfindungen auslöst. Dennoch ist
die Reflexbewegung in ihrem Eintritt in der Regel von unserem
Willen ganz unabhängig; höchstens können wir einzelne von ihnen
indirekt durch Einführung oder Beachtung anderer Reize hemmen.
Alle Reflexbewegungen sind angeboren. Schon beim kleinen Kind sind
sie zu beobachten: bei Lichteinfall schließen sich krampfhaft die
Augenlider, bei Berührung des Handtellers ballt sich die Faust,
süße Geschmacksreize rufen Schlucken, bittere das Öffnen des Mundes
oder gar das Ausstoßen der Reize hervor. Über den Reflexbewegungen
stehen die +Instinktbewegungen+. Darunter „versteht man komplizierte
Bewegungen, die von Anfang an, d. i. ohne vorausgehende Übung,
wohlgeordnet ausgeführt werden und in hohem Grade den Stempel
der objektiven Zweckmäßigkeit an sich tragen“ (+Bühler+). Solche
Instinktbewegungen sind uns aus dem Leben der Tiere sehr wohl
bekannt: der Nestbau der Tiere, ihre Verteidigungskünste u. ä. Auch
der Mensch verfügt über Instinktbewegungen, doch sind sie bei ihm
verhältnismäßig gering an Zahl und einfach. Sie dienen hauptsächlich
dem Ernährungs- und dem Atmungsprozeß. Auch die Instinktbewegungen
sind angeboren. Ihre Verbindung mit dem Bewußtsein ist jedoch enger
als die der Reflexe. Die Instinktbewegungen treten erst dann auf,
wenn bestimmte innere oder äußere Reize sich im Bewußtsein geltend
machen. Das junge Entchen beginnt zu schwimmen, sobald es zum Wasser
kommt, und die Nahrungsaufnahme des Tieres wird beendet, sobald sich
die Sättigungsempfindungen einstellen. Die Instinkthandlungen sind
auch dadurch vom Bewußtsein abhängig, daß sie von dem erwachsenen
Menschen leicht willkürlich unterdrückt und beim Tier durch die
Dressur gehemmt werden können[10].
Von beiden Gruppen sind die eigentlichen Willkürhandlungen wesentlich
verschieden. Sie sind vor allem nicht als solche angeboren, sondern
müssen neu erlernt werden; sie liegen nicht in ihrem Verlauf fest,
so daß auf bestimmte Eindrücke hin eine bestimmte Bewegungsfolge
erschiene. Allerdings erlauben auch die Instinktbewegungen der Tiere,
namentlich der höheren, eine gewisse Anpassung: nicht nur ein fest
umrissener Eindruck, sondern auch ein diesem nur ähnlicher vermag
innerhalb gewisser Grenzen den Instinkt auszulösen, und auch dieser
hat eine gewisse Variationsbreite. Gleichwohl herrscht doch eine
unverkennbare Einförmigkeit der Handlungsweise. Bei den gewollten
Bewegungsfolgen aber wird für jede neue Lage ein anderes Verhalten
eingeschlagen. Wird endlich eine erlernte Bewegung durch ausgedehnte
Übung sehr geläufig, so entzieht sie sich wieder dem Bewußtsein mehr
und mehr, sie wird automatisch.
Aus dieser Übersicht der Bewegungen geht hervor, daß das oben
aufgeworfene Problem: wie kommt es vom Willensakt zur gewollten
Bewegung, nur für die dritte Art der Bewegungen gilt. Die heute
allgemein angenommene Beantwortung des Problems ist nun diese:
Von Geburt aus stehen dem Kind eine Anzahl von Reflex- und
Instinktbewegungen zu Gebote, die es auf einzelne Reize hin ausübt und
dann aus Spielfreude unzähligemale wiederholt. Jede Bewegung hinterläßt
nun eine Vorstellung von sich, und diese Vorstellung assoziiert sich
physiologisch mit den motorischen Erregungen, die zur Bewegung führen.
Und zwar wird diese Assoziation in beiden Richtungen ausgebildet: von
der Bewegung zum Bewegungsbild und umgekehrt. Dieses Bewegungsbild
kann ein kinästhetisches im engeren Sinne sein (S. 63) oder auch ein
optisches Bild. Sobald das Kind einmal die Vorstellung von seinen
Bewegungen erlangt hat, können diese Ziel seines Wollens werden. +Es
will die Bewegung+, und dieses innerliche Wollen, diese Hinwendung
zur Bewegungsvorstellung versetzt diese nach unserer Annahme in die
Möglichkeit, den assoziativen Prozeß von der Bewegungsvorstellung zur
motorischen Erregung einzuleiten. Soweit wäre die einfache und als
solche schon angeborene Bewegung verständlich. Die nichtangeborenen
Bewegungen lassen sich nun als Zusammensetzungen aus angeborenen
auffassen. Sie werden dem Kinde teils von seiner Umgebung beigebracht,
teils mehr zufällig von ihm erworben. Das Schema des Vorganges ist
ganz das gleiche wie zuvor. Nur daß wir statt einer einfachen eine
zusammengesetzte Bewegungsvorstellung oder, wenn man lieber will,
die Vorstellung einer zusammengesetzten Bewegung einführen müssen.
So erklären sich die beiden wichtigen Tatsachen: einmal die zum Teil
recht mühsame Erlernung neuer Bewegungen, die nur durch zahlreiche
Wiederholungen geläufig werden und sich in dieser Beziehung geradeso
wie andere Gedächtnisleistungen verhalten; sodann die Unmöglichkeit,
gewisse einfache Bewegungen auszuführen, zu denen zwar der motorische
Apparat vorhanden wäre, die aber als solche nicht angeboren sind. Es
fehlt in letzterem Falle eben die Bewegungsvorstellung, das assoziative
Bindeglied zwischen Willensakt und motorischer Erregung. Sobald dieses
herbeigeschafft ist, und es läßt sich herbeischaffen, werden auch
solche Bewegungen erlernt.
Man hat nun heiß darüber gestritten, welchem Sinnesgebiet die
Bewegungsvorstellung angehöre. Zunächst glaubte man sie unter den
im engeren Sinne kinästhetisch zu nennenden Vorstellungen suchen
zu müssen. Die experimentelle Selbstbeobachtung entdeckte indes
kaum etwas von diesen Vorstellungen. Auch das optische Bild unserer
Muskelbewegungen, an das man an zweiter Stelle dachte, tritt nur
verhältnismäßig selten auf, zumeist nur, wenn es sich um ungewohnte
Bewegungen handelt. Sehr häufig werden die äußeren Handlungen durch
die Betonung dieser Vorstellungen eher gehemmt, dagegen gelingen
sie in der Regel am besten, wenn man sich nur mit dem äußeren zu
erreichenden Effekt befaßt. Manche Autoren wollten darum überhaupt
die Bedeutung der Bewegungsvorstellungen anzweifeln. Allein da hat
man mit ungeeigneten Waffen gekämpft. Das steht auf jeden Fall fest,
daß von der Vorstellung des Endzieles zu seiner Verwirklichung
kein direkter Weg führt. Sonst müßte jeder Normale beliebig die
Ohren bewegen können. Ferner darf man nicht übersehen, daß alle
diesbezüglichen experimentellen Untersuchungen an Erwachsenen und
deren geläufigen Bewegungen angestellt wurden. Vielleicht geht man
hier synthetisch sicherer voran. Zweifellos haben wir kinästhetische
Empfindungen und dementsprechend bei den verschiedenen Bewegungen
eindeutig verschiedene Komplexe solcher kinästhetischer Empfindungen.
Es liegt nun durchaus kein Grund vor, daß diese kinästhetischen
Empfindungskomplexe nicht ebenso wie alle anderen Empfindungen später
als Vorstellungen reproduzierbar seien. Außer diesen kinästhetischen
Vorstellungen erwerben wir aber auch die mit ihnen sich assoziierenden
optischen Bewegungsvorstellungen, die Vorstellungen von den Namen
dieser Bewegungen und die von der Wirkung, dem Ziel solcher Bewegungen.
Alle diese Bilder sind miteinander assoziativ verbunden. Soll nun eine
eingeübte Bewegung ausgeführt werden, so empfiehlt es sich, nur das
Endziel im Auge zu haben: der geschickte Tennisspieler denkt nicht an
den Schlag, den er demnächst ausführen will, sondern an die Stelle,
wohin er den aufgefangenen Ball senden muß. Die an die Vorstellung von
dem Endziel gebundenen weiteren Vorstellungen sind gut assoziiert und
werden sich ganz von selbst der Reihe nach einfinden; eine besondere
Aufmerksamkeitsrichtung auf sie könnte den Ablauf ebenso stören,
wie es das Aufsagen eines gut erlernten Gedichtes stört, wenn man
auf die Einzelheiten der Worte achtet. Dennoch sind die optischen
und kinästhetischen Vorstellungen, die sich an die Zielvorstellung
anreihen, nicht überflüssig. Denn wird die beabsichtigte Bewegung ein
wenig gestört, so kann sich die Aufmerksamkeit ihnen zuwenden und die
richtige Weiterführung der Bewegung vermitteln. Vielleicht beruht
aber die Hauptbedeutung, namentlich der kinästhetischen Vorstellung,
in folgendem. Besitzen wir von irgendeiner Erscheinung geläufige
Vorstellungen, so werden diese ins Bewußtsein gerufen, sobald sich jene
Erscheinung aufs neue zeigt. Damit ist die Möglichkeit geboten, die
wiederholte Erscheinung mit der Vorstellung von ihr zu vergleichen,
oder wenigstens ein Abweichen beider als etwas irgendwie Befremdliches
zu verspüren. Durch diese Differenzen, die wir gar nicht als solche zu
erkennen brauchen, werden wir also auf die Einzelheiten der Bewegung
aufmerksam gemacht, sobald sich ihre Ausführung von ihrer Vorlage
entfernt, und können somit durch Hinwendung unserer Aufmerksamkeit
eine Entgleisung verhüten. Nach dieser Auffassung dienen sonach die
kinästhetischen Vorstellungen der feinsten, die optischen der gröberen
Korrektur der jeweils vollzogenen Bewegungen.
Das wird bestätigt durch einige Beobachtungen aus der Pathologie.
Sind die Lageempfindungen gestört, so können bisweilen die Kranken
das betreffende Glied nicht bewegen. Ein solcher Kranker läßt z. B.
Gegenstände, die er in der Hand hat, fallen, sobald er nicht auf
seinen Arm schaut. Offenbar können die kinästhetischen Vorstellungen,
die zur entsprechenden motorischen Erregung hinleiten, auf doppeltem
Wege geweckt werden: durch die kinästhetischen Empfindungen und
durch die optischen Vorstellungen. Wären aber die kinästhetischen
Vorstellungen überflüssig und könnte die motorische Erregung ebenso
leicht durch die optischen Vorstellungen ausgelöst werden, so
verstünde man nicht, wie bei der Ataxie der Ausfall oder die Störung
der kinästhetischen Empfindungen die wohlbekannte Bewegung so sehr
beeinträchtigen könnte. Für die Auslösung der Bewegung wären sie
ja überflüssig. Sie könnten also nur noch der feineren Kontrolle
dienen. Dann müßte aber das optische Bild der Bewegung mit dem durch
die jeweiligen Lageempfindungen erzeugten kinästhetischen verglichen
werden, ein Vorgang, der weder durch die Selbstbeobachtung bekundet
wird, noch der sonst herrschenden Zweckmäßigkeit des psychischen
Lebens entspricht. Gegen die kinästhetischen Vorstellungen darf man
auch nicht geltend machen, sie ließen sich nicht ins Gedächtnis
zurückrufen. Neuere Beobachtungen haben uns Vorstellungen kennen
gelehrt, die sich nur wenig über die Bewußtseinsschwelle erheben und
nur unter ganz besonderen Verhältnissen überhaupt zu entdecken sind.
Vermutlich gehören die kinästhetischen Vorstellungen zu ihnen: man
wird „den Faden finden“ müssen, um sie überhaupt ans Licht zu ziehen,
ähnlich wie man oft die Worte eines Liedes nur von der Melodie aus
reproduzieren kann.
Literatur
H. +Liepmann+, Die Störungen des Handelns bei Gehirnkranken. 1905.
J. +Lindworsky+, Der Wille. 3. Aufl. 1923.
2. Die innere Willenshandlung
a) Die Aufmerksamkeitsbewegung
Die Lehre von der Aufmerksamkeit ist trotz zahlreicher Untersuchungen
immer noch eines der unbefriedigendsten Kapitel der experimentellen
Psychologie. Wenn wir sie bei der Psychologie der Willenshandlung
unterbringen, so glauben wir nicht, daß jede Aufmerksamkeitserscheinung
als innere Willenshandlung aufzufassen sei, wir hoffen aber
von hier aus einen sicheren Zugang zum Verständnis aller
Aufmerksamkeitserlebnisse zu gewinnen, da sich die wichtigsten von
ihnen nur als Willensäußerungen erklären lassen.
1) +Begriff und Arten der Aufmerksamkeit.+ Die Aufmerksamkeit
spielt eine so große Rolle im täglichen Leben, daß jedermann
einen hinreichenden Begriff von ihr besitzt. Die Inhalte, die
wir mit Aufmerksamkeit bedenken, werden der Mittelpunkt unseres
Bewußtseinslebens. Ihr Gegenteil, die Zerstreutheit, läßt keine innere
Sammlung, kein Verharren bei dem nämlichen Gegenstand aufkommen.
Sie ist mit der berühmten Zerstreutheit des Gelehrten nicht zu
verwechseln, die in Wahrheit ein sehr hoher Grad der Aufmerksamkeit
zu sein pflegt, sich aber nicht auf jene Dinge richtet, mit denen es
der „Zerstreute“ gerade äußerlich zu tun hat. -- Hinsichtlich des
Gegenstandes, dem sich die Aufmerksamkeit zuwendet, unterscheidet man
die sinnliche von der geistigen Aufmerksamkeit, eine Unterscheidung,
die in anderem Zusammenhang auch auf die sinnliche oder die geistige
Erkenntnisfähigkeit bezogen wird, die aufmerksam ist. Weit geläufiger
und bedeutsamer ist die Unterscheidung einer willkürlichen und einer
unwillkürlichen Aufmerksamkeit. Die willkürliche wird bisweilen
auch der aktiven, die unwillkürliche der passiven Aufmerksamkeit
gleichgesetzt, womit allerdings der Theorie schon namhaft vorgegriffen
ist.
Es wird die Untersuchung wesentlich erleichtern, wenn wir von
vornherein Wesen, Hilfsmittel, Folgen und Begleiterscheinungen der
Aufmerksamkeit unterscheiden. Das +Wesentliche+ der Aufmerksamkeit
sieht schon der vorwissenschaftliche Sprachgebrauch in einem
gewissen willkürlichen oder unwillkürlichen Verhalten des
Individuums. Als +Hilfsmittel+ können mancherlei Einstellungs- und
Anpassungsbewegungen der Sinnesorgane gelten, so oft es sich um die
aufmerksame sinnliche Wahrnehmung handelt. Diese Hilfsmittel werden
teils willkürlich angewandt, teils treten sie durch angeborene
Reflexe ins Spiel. Die Verwendung dieser Hilfsmittel erlaubt noch
keinen Schluß auf das Bestehen der Aufmerksamkeit; denn man kann
willkürlich seine Aufmerksamkeit einem ganz anderen Gegenstande
zuwenden als dem, auf welchen man die Sinnesorgane einstellt, und
anderseits erscheinen schon beim Neugeborenen und beim jungen Tiere
Reflexbewegungen, die zwar der Aufmerksamkeit dienen können, ihr
Vorhandensein indes nicht wahrscheinlich machen. Dasselbe gilt
von den wohl angeborenen Hemmungsmechanismen: das schreiende Kind
kommt plötzlich zur Ruhe, wenn ein starker Licht-, Schall- oder
Druckreiz unvermittelt einsetzt: der starke Reiz unterbricht da die
begonnene Tätigkeit und verhindert andere Reize bis zum Bewußtsein
vorzudringen. Als +Folge+ der Aufmerksamkeit gilt gewöhnlich
die größere Intensität oder auch die größere Klarheit eines mit
Aufmerksamkeit bedachten Bewußtseinsinhaltes. Beides kann aber
auch durch andere Umstände wie die größere Intensität des Reizes
bedingt sein. Man wird darum die Klarheit und die Intensität der
Bewußtseinsinhalte nicht einfachhin dem Aufmerksamkeitszustande
gleichsetzen dürfen. Kann es doch auch geschehen, daß die beachteten
Inhalte trotz der größten Aufmerksamkeit nicht zu nennenswerter
Klarheit und Deutlichkeit zu erheben sind. Endlich darf man die
+Begleiterscheinungen+ der Aufmerksamkeit, wie das Stirnrunzeln
oder andere Muskelspannungen oder auch die bei der Aufmerksamkeit
häufig zu beobachtenden Puls- und Atmungserscheinungen (der Atem wird
schneller und oberflächlicher; das Blut drängt zum Gehirn) nicht mit
dem Aufmerksamkeitszustand selbst verwechseln. Es herrscht nicht
einmal eine eindeutige Zuordnung beider Dinge. Im Gegenteil können
die körperlichen Begleiterscheinungen der Aufmerksamkeit oftmals
hemmend im Wege stehen.
2) +Eigenschaften der Aufmerksamkeit.+ Sie lassen sich nach den
Gesichtspunkten der Extensität, der Intensität und der zeitlichen
Verhältnisse betrachten.
Unser Bewußtsein enthält stets eine Menge von Einzelinhalten, doch
nicht alle von ihnen sind gleichzeitig Gegenstand der Aufmerksamkeit.
Es scheint sogar, daß immer nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der
Bewußtseinsinhalte aufmerksam beachtet werden kann. (Die Enge des
Bewußtseins.) Dieser +Umfang der Aufmerksamkeit+ ist nicht bei allen
Menschen und wohl auch nicht bei demselben Individuum zu allen Zeiten
gleich groß. Manche Hysterische sind zu keiner weiteren Wahrnehmung
mehr fähig, wenn man mit ihnen spricht. Es wurden die verschiedensten
Versuche angestellt, um den Umfang der Aufmerksamkeit zu messen. Ein
absolutes Maß läßt sich jedoch hier niemals gewinnen. Ein relatives
Maß erhält man, indem man der Vp eine Aufgabe stellt, die sie nur
bei aufmerksamer Beachtung der Reize lösen kann, und die in einer
so kurzen Zeit zu erledigen ist, daß Aufmerksamkeitswanderungen
ausgeschlossen sind. Ist dann die Leistung an sich den verschiedenen
Vpn gleich geläufig, so läßt der verschiedene Umfang der Leistung
einen verschiedenen Umfang der Aufmerksamkeit erkennen. So vermag
der Erwachsene bei tachistoskopischer Darbietung 4-6 unverbundene
Buchstaben oder Striche deutlich zu erkennen, während ein Kind von
zwölf Jahren nur 3-4 auffassen kann. Werden dagegen mehrere Teilinhalte
zu Einheiten verbunden, so kann eine unvergleichlich größere Menge von
Teilinhalten beachtet werden; man denke an die Fülle der Eindrücke, die
bei einer Orchestermusik gleichzeitig mit Aufmerksamkeit bedacht werden.
Als zweite Eigenschaft der Aufmerksamkeit kommt ihre +Intensität+
in Betracht. Nach allgemeiner Auffassung steht der Umfang der
Aufmerksamkeit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Intensität. Das
bestätigen im großen und ganzen auch die Experimente, solange
wenigstens unter der Aufmerksamkeit nichts anderes verstanden wird
als die Hinwendung zum Bewußtseinsinhalt. Sobald aber außer der
schlichten Hinwendung auch noch besondere +Auffassungsprozesse+ in
das Aufmerksamkeitserlebnis mithineinbezogen werden, dürfte jenes
Reziprozitätsverhältnis nicht mehr gelten. Die Intensität oder die
Konzentration der Aufmerksamkeit kann nun eine verschieden hohe sein,
doch ist es nicht leicht, ein brauchbares Maß hierfür zu finden.
Die Aufmerksamkeitskonzentration läßt sich am wenigsten an den
begleitenden Spannungsempfindungen und anderen Ausdrucksbewegungen
zuverlässig beurteilen. Sie bringen ja sehr oft störende Inhalte
ins Bewußtsein. Einwandfreier geben unter sonst gleichen Umständen
die erzielten Klarheitsgrade Auskunft über die Intensität der
Aufmerksamkeit, durch die sie erreicht wurden. Indes bleibt man
hierbei auf die subjektive Schätzung angewiesen. Man suchte darum in
dem objektiven Ausfall einer Aufmerksamkeit erfordernden Leistung
einen indirekten, aber zahlenmäßigen Ausdruck zu gewinnen. Oder man
führte Schwellenbestimmungen aus, während die Vp sich aufmerksam
mit einer andern Arbeit beschäftigte: je größer die Konzentration
war, um so größer fiel auch der Schwellenwert aus. Endlich hoffte
man durch Störungsversuche die Aufmerksamkeitsintensität messen zu
können: je größer die Konzentration sei, um so größer müßte auch
der Störungsreiz ausfallen, bei dem die Ablenkung zuerst gelang. Da
zeigte sich nun, daß längst nicht jede Störung eine Verschlechterung
der Leistung bedeutet. Oft gewöhnt man sich an den Störungsreiz,
oder er wird sogar der Antrieb zu größerer Hingabe an die Arbeit,
so daß diese im Gegenteil verbessert wird. Nur gegen unregelmäßige
Störungsreize und solche, die an sich schon das Interesse der Vp
wecken, kann man sich schwer wehren. Übrigens fragt es sich noch,
ob die Ablenkbarkeit wirklich immer im umgekehrten Verhältnis zur
Intensität der Aufmerksamkeit steht. Es wäre ja möglich, daß jemand
sowohl einer hohen Aufmerksamkeitsintensität wie einer großen
Ablenkbarkeit fähig wäre.
Die Ablenkbarkeit führt uns zu den Eigenschaften der Aufmerksamkeit,
die der +zeitlichen Ordnung+ angehören: der Konstanz der
Aufmerksamkeit, der Schnelligkeit der Aufmerksamkeitswanderung bzw.
Aufmerksamkeitsanpassung, und der Aufmerksamkeitsschwankung. Ist
die Aufgabe gestellt, bei dem einmal gegebenen Bewußtseinsinhalt
zu verharren, so machen sich die +Aufmerksamkeitsschwankungen+
bemerklich. Sie zeigen sich hinsichtlich des Umfanges, hinsichtlich
des Gegenstandes, der im Blickpunkt der Aufmerksamkeit steht, und
hinsichtlich der Klarheit des fixierten Objektes. Beachtet man
sehr schwache Empfindungen, so verschwinden diese in gleichmäßigen
Zeitabschnitten, so das Ticken der Taschenuhr bei größerem Abstand
vom Ohr. Es ist noch umstritten, ob diese Schwankungen vorwiegend
zentraler oder peripherer Natur sind; vielleicht beruhen sie auf
der periodisch schwankenden Blutzufuhr nach dem Gehirn. Es ist aber
auch nicht möglich, bei demselben Gegenstand unbegrenzt lang mit
der Aufmerksamkeit zu verharren. Diese Schwankungen werden teils
durch die Ermüdung, teils durch die Interesselosigkeit bedingt.
Kinder, Kranke und Geschwächte können nur schwer bei demselben Objekt
länger verweilen, zweifellos wegen der Schwäche des psychophysischen
Apparates. Gesunden hingegen wird es schwer, demselben einfachen
Sinnesinhalte, etwa einer Farbe, längere Zeit ungeteilte
Aufmerksamkeit zu schenken. Daß sie von einer solchen Betrachtung
nicht eigentlich ermüdet sind, geht aus der Leistungsfähigkeit
hervor, die sie unmittelbar darnach beweisen können. Offenbar
übten andere Gegenstände, die sich inzwischen der Wahrnehmung
oder der Vorstellung anboten, eine größere Anziehungskraft aus.
Dementsprechend gelingt es, denselben Gegenstand um so länger zu
beachten, je mehr Teilinhalte er bietet, oder je mehr auf ihn
bezügliche Vorstellungen er ins Bewußtsein ruft. Hauptsächlich aus
dem letzteren Grunde und nicht so sehr wegen der nervösen Ermüdung
können sich Kinder weniger lang mit der Betrachtung eines Bildes
beschäftigen als Erwachsene. Handelt es sich aber darum, einem neuen
Gegenstande die Aufmerksamkeit zuzuwenden, so erheben sich vor allem
zwei Fragen: Wie schnell kann überhaupt die Aufmerksamkeit wandern?
Und: Gelingt es allen Menschen gleich schnell, sich auf die Beachtung
eines neuen Objektes einzustellen?
Früher setzte man die +Geschwindigkeit des Aufmerksamkeitsschrittes+
sehr hoch an; genauere Versuche ergaben indes, daß er nicht
kürzer als eine Drittel Sekunde ist. Die +Adaptationsfähigkeit+
der Aufmerksamkeit kann man feststellen, indem man sonst gleich
guten Lernern einen schwierigen Memorierstoff vorlegt und zusieht,
wieviel bei den ersten Wiederholungen haften bleibt: Individuen
mit guter Anpassung der Aufmerksamkeit werden mehr behalten als
solche mit geringer Einstellungsfähigkeit. Es wird sich hierbei wohl
in erster Linie um assoziative Faktoren handeln: je rascher die
Vorstellungskomplexe bereitgestellt sind, die zur rechten Auffassung
und zum Überschauen des Lernstoffes benötigt werden, um so eher wird
das Subjekt auf den neuen Stoff eingestellt sein.
3) +Die Bedingungen der Aufmerksamkeit.+ Die eine wesentliche
Bedingung der +willkürlichen+ Aufmerksamkeit ist der Entschluß, auf
einen Gegenstand zu achten. Wie dieser Entschluß verwirklicht werden
kann, wird später zu untersuchen sein. Was immer dann Bedingung der
+unwillkürlichen+ Aufmerksamkeit ist, kann auch die Erreichung der
willkürlichen fördern. Mehr disponierend und die Aufmerksamkeit
nur begünstigend sind die physiologischen Faktoren wie Frische
oder Erregtheit durch Reizmittel wie Tee. Auch die krankhafte
Erregbarkeit der Nerven kann die Aufmerksamkeit fördern. Man nennt
sodann die Intensität und die Wiederholung der Reize als Bedingungen
der Aufmerksamkeit. Allein es ist zu beachten, daß beide rein
psychophysisch und ohne Vermittlung der Aufmerksamkeit eine größere
Intensität des psychischen Eindruckes bewirken können: der starke und
der wiederholte Reiz setzt sich besser durch. Dennoch läßt sich nicht
leugnen, daß Intensität und Wiederholung eines Reizes gelegentlich
auch die Aufmerksamkeit fesseln. Allerdings herrscht da kein einfaches
Abhängigkeitsverhältnis: nicht immer erregen diese Faktoren die
Aufmerksamkeit. Ein Lehrer, der nur mit stärkster Stimme seine Schüler
anzureden pflegt, der immer dieselben Schreckmittel wiederholt,
findet schließlich keine Beachtung mehr. Ein ähnlicher Gegensatz
besteht zwischen Neuheit und Vertrautheit des Reizes, zwischen dem
Fehlen anderweitiger Vorstellungen und ihrem Gegebensein. Beides kann,
je nach den Umständen, sowohl die Aufmerksamkeit herausfordern, als
auch sie unberührt lassen, und so scheint die Aufmerksamkeit jeder
Regel zu spotten. Gleichwohl dürfte folgende Überlegung eine klare
Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. Es gibt nur +eine+ Bedingung für die
Erregung der unwillkürlichen Aufmerksamkeit: die Bedeutsamkeit des
wahrgenommenen Gegenstandes. Alle anderen Faktoren sind entweder nur
disponierend oder haben rein psychophysisch die gleiche Wirkung wie
die Aufmerksamkeit, nämlich die Verstärkung des Eindruckes. Manche der
letzteren können nun, abgesehen von dieser psychophysischen Wirkung,
unter gewissen Umständen dem Wahrnehmungsgegenstand eine Bedeutsamkeit
verleihen: so ist im allgemeinen ein stärkerer Eindruck bedeutsamer als
ein schwacher. Haben wir aber einmal die Unbedeutsamkeit eines Dinges
trotz seiner Auffälligkeit erkannt, so wird zwar die psychophysische
Wirkung noch eintreten, aber das Bewußtsein verschafft sich durch
Nichtbeachtung gewissermaßen ein Ventil. So versteht man, wie die
entgegengesetzten Bedingungen die gleiche Wirkung haben können:
ein sehr leise ausgesprochenes Wort kann in demselben Maße die
Aufmerksamkeit erregen wie ein sehr laut gesprochenes. Und damit werden
wir darauf hingewiesen, daß wir das innerste Wesen der Aufmerksamkeit
nicht im Bereiche der physiologischen Wirkursachen, sondern in dem der
Bedeutungen zu suchen haben.
4) +Die Wirkungen der Aufmerksamkeit.+ Nach zuverlässigen
experimentellen Beobachtungen werden schwache Empfindungen durch
die Aufmerksamkeit verstärkt. Damit ist noch nicht gesagt, daß auch
starke merklich gesteigert werden müßten. Denn bestünde die Funktion
der Aufmerksamkeit darin, die vorhandene psychophysische Energie
auf die beachteten Inhalte zu konzentrieren, so könnte dadurch den
Empfindungen nur ein beschränkter Zuwachs verliehen werden, der bei
höheren Intensitätsstufen der Empfindungen unbeachtet bleiben müßte.
Sodann beschleunigt die Aufmerksamkeit den Empfindungsprozeß, sie
bahnt gewissermaßen den Reizen einen Weg. Denn läßt man einem von
zwei gleichzeitig auftretenden Reizen, etwa einem optischen und einem
akustischen, die besondere Aufmerksamkeit zuwenden, so tritt immer
der jeweils beachtete zuerst ins Bewußtsein (Komplikationsversuche
S. 129). Fernerhin wird die Stiftung von Assoziationen sowie die
Reproduktion der Vorstellungen durch die Aufmerksamkeit begünstigt.
Nur die Gefühle scheinen durch sie nicht gefördert, sondern
eher zerstört zu werden. Ein Affekt, den man analysieren will,
verschwindet. Das kann nach unserer Auffassung der Gefühle, auch
der höheren, nicht befremden. Wäre das Gefühl ein selbständiger
Bewußtseinsvorgang, eine selbstherrliche Reaktion der Seele auf
einen Eindruck, dann verstünde man freilich nicht, warum es nicht
willkürlich aufrechterhalten werden könnte, trotz der darauf
gerichteten Aufmerksamkeit. Wir faßten aber die Gefühle als den
Bewußtseinsreflex bestimmter Funktionsweisen der Vorstellungen auf.
Ein Gefühl kann es somit nur dann geben, wenn eine Vorstellung bewußt
ist. Richtet sich darum die Aufmerksamkeit auf das Gefühl, so muß
naturnotwendig die Vorstellung und damit auch das durch sie bedingte
Gefühl aus dem Bewußtsein schwinden.
5) +Die Theorie der Aufmerksamkeit.+ Die meisten der heutigen
Aufmerksamkeitstheorien setzen sich zur Aufgabe, zu erklären, wie die
Aufmerksamkeit einen Bewußtseinsinhalt zu größerer Klarheit erheben
kann. Dagegen achten sie weniger auf eine befriedigende Einordnung des
Erlebnisses in die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge und auf eine
einleuchtende Gruppierung und Deutung der Aufmerksamkeitsstörungen.
Nach einem Überblick über die wichtigsten Aufmerksamkeitstheorien
werden wir versuchen, auch diese Aufgaben zu lösen.
a) +Die bisherigen Theorien.+ Dürr unterscheidet recht übersichtlich
Hemmungs-, Unterstützungs- und Bahnungstheorien. Nach der
+Hemmungstheorie+ werden alle Inhalte außer dem beachteten
gehemmt. +Wundt+ weist diese Hemmungsaufgabe dem in dem Stirnhirn
lokalisierten Apperzeptionszentrum zu. Nun gibt es freilich
eine wechselseitige Hemmung von Bewußtseinsinhalten (vgl. S.
171 f.), allein man sieht nicht recht ein, warum nun gerade
diese und nicht andere oder gar alle Vorstellungen in gleicher
Weise gehemmt werden. Auch die Einführung des hypothetischen
Apperzeptionszentrums gewährt keine größere Klarheit. Die ganze
Theorie erscheint nur als eine wenig glückliche Umschreibung der
Tatsachen. -- Von den +Unterstützungstheorien+ bedarf die +Machs+,
wonach die Aufmerksamkeit nichts weiter ist als die Einstellung
der Sinnesorgane, keine Widerlegung. +Ribot+ bildete eine
motorische Theorie aus: Die körperlichen Begleiterscheinungen der
Aufmerksamkeit sind mehr als bloße Zugaben, sie sind das Wesentliche
der Aufmerksamkeit. Denn sie senden Bewegungsempfindungen ins
Bewußtsein und steigern so die bewußten Zustände. Unterdrückt
man alle diese begleitenden Bewegungen, so beseitigt man die
Aufmerksamkeit selbst. Allein man versteht nicht, wie ein
Bewußtseinsinhalt durch Hinzufügung ganz verschiedenartiger Inhalte
verstärkt werden kann. Die Erfahrung beweist das Gegenteil, wenn man
von einzelnen Grenzfällen absieht, wo gleichzeitige Empfindungen
eine gewisse Anregung zu geben scheinen. Verständlicher ist die
zentrosensorische Theorie von G. E. +Müller+. Beim Aufmerken auf
einen Inhalt führt man jenen Zustand herbei, den das Bewußtsein
hatte, als es früher jenen Inhalt erlebte. Dadurch vereinigt sich
die aus dem gegenwärtigen Reiz stammende Erregung mit der aus der
Vorstellung herrührenden, und die Intensität des Eindruckes wächst.
Damit ist zweifellos auf ein Hilfsmittel hingewiesen, das der
willkürlichen Aufmerksamkeit zu Gebote steht, namentlich wenn sie
sich auf sinnliche und anschauliche Objekte richtet. Es versagt
aber in vielen Fällen der unwillkürlichen Aufmerksamkeit und macht
uns das charakteristische Verhalten bei der Aufmerksamkeit nicht
verständlich. -- Die +Bahnungstheorie+ (+Ebbinghaus+, +Dürr+) läßt
durch wiederholte Erregung derselben Gehirnpartien die Bahnen des
Reizes immer geläufiger werden, so daß die Erregung sich immer
weniger seitlich verliert und ganz in der Hauptbahn verbleibt,
wodurch der seelische Eindruck immer klarer wird. Damit wird aber die
Aufmerksamkeit in eine Abhängigkeit von der Übung gebracht, die durch
die Tatsachen nicht gerechtfertigt wird. Wir können auch ungewohnten
und schwächsten Eindrücken unsere Aufmerksamkeit zuwenden und sie
dadurch zu größerer Klarheit erheben.
b) +Die genetische Aufmerksamkeitstheorie.+ Wir machen den
Versuch, außer den Wirkungen der Aufmerksamkeit auch das dieser
eigentümliche Verhalten zu verstehen. Gibt es ein erlernbares
Aufmerksamkeitsverhalten, dann bereitet die Erklärung der
+willkürlichen+ Aufmerksamkeit keine besonderen Schwierigkeiten. Sie
ist dann eben das gewollte Aufmerksamkeitsverhalten. Das ganze Problem
wird deshalb auf die +unwillkürliche+ Aufmerksamkeit zurückgeschoben.
Versuchen wir nun zunächst einmal, die Aufmerksamkeit als einen
eigenartigen seelischen Vorgang überhaupt entbehrlich zu machen, indem
wir sie mit dem spontanen Wollen identifizieren: die Seele gewahrt
einen Wert und will ihn. Von diesem Wollen mußten wir oben hypothetisch
behaupten, es steigere die Intensität eines Bewußtseinsinhaltes. Dazu
berechtigte uns erstens die von den besten Beobachtern festgestellte
Tatsache, daß es ein willkürliches Steigern dieser Art gibt, wobei wir
es dahingestellt sein ließen, ob es auf Rechnung der Willenstätigkeit
selbst oder der von ihr abhängigen Aufmerksamkeit zu schreiben sei.
Wir wurden zu dieser Annahme sodann zweitens genötigt, weil nur so
dem beobachteten Wollenserlebnis eine gebührende Stelle eingeräumt
und dem Sinn und der Bedeutung eine entsprechende Rolle in unserem
Leben zugewiesen werden konnte. Es standen dieser Annahme auch keine
metaphysischen Schwierigkeiten, etwa aus der Vermehrung der Energie,
im Wege; denn es genügt, daß durch diesen Eingriff des Willens die
vorhandene psychophysische Energie nur in ihrer Bewegungsrichtung
beeinflußt werde. Will also die Seele einen ihr erscheinenden Wert,
so wird diese Vorstellung gefördert und nimmt darum auch an Klarheit
zu. Damit dürfte aber auch das gegeben sein, was man bildlich als eine
Hinwendung der Seele zu einem Inhalt bezeichnet. Es wird nämlich auf
dasselbe hinauskommen, ob die Seele sich einem Inhalte eigens zuwendet,
oder ob sie ihn wollend klarer werden läßt. Der Sprachgebrauch also,
der ein Hinwenden der Aufmerksamkeit kennt, brauchte uns nicht irre
zu machen. Kommen wir aber im übrigen mit dem Wollen allein aus?
Wenn Aufmerken nichts anderes ist als einfaches Wollen, dann ist ein
willkürliches Aufmerken, das nicht zugleich ein Wollen des beachteten
Gegenstandes ist, unmöglich. Allein wir können unsere Aufmerksamkeit
willkürlich Dingen schenken, die wir ganz und gar nicht wollen. Es kann
somit das Aufmerken nicht einfachhin mit dem Wollen identisch sein.
Wir dürften nun auf das Rechte stoßen, wenn wir einen von der
neueren experimentellen Forschung aufgezeigten allgemeinen Zug des
Seelenlebens berücksichtigen. Fast überall läßt sich in unserem
Bewußtsein Inhalt und Form auseinanderhalten, und sehr häufig läßt
sich die Form für sich ohne den Inhalt seelisch verwirklichen. Und so
will es uns scheinen, das Kind kenne ursprünglich, von angeborenen
Reflexbewegungen abgesehen, kein Aufmerksamkeitsverhalten, weder ein
willkürliches noch ein unwillkürliches, sondern nur ein triebhaftes
Wollen. Mit diesem Wollen verwirklicht es aber jedesmal eine bestimmte
Haltung der Seele, eben jenes Hingegebensein an einen Gegenstand, das
tatsächlich für das Erfassen des Gegenstandes am vorteilhaftesten ist.
So lernt es durch seine Willensakte diese Haltung kennen. Sie läßt
sich nun, wie so manche andere Bewußtseinsform, für sich erzeugen,
und das Kind wird sie darum später auch willkürlich einnehmen,
sobald sie ihm zu einem erstrebenswerten Willensziel geworden ist.
Wir unterscheiden also bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit deren
Wirkung: das Klarerwerden des beachteten Inhaltes, das durch jenes
seelische Verhalten bedingt wird, und das Aufmerksamkeitsverhalten
selbst. Das nur äußerliche Aufmerksamkeitsverhalten besteht in den
angeborenen und den angelernten, der inneren Aufmerksamkeit dienenden
Bewegungen. Das innere und eigentliche Aufmerksamkeitsverhalten
besteht in der genannten seelischen Haltung, die anfänglich mit dem
triebhaften Streben zu einem ungeteilten Akte verschmolzen ist, später
für sich allein willkürlich herbeigeführt wird. Im letzteren Falle
ist sie in der Regel nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Ziel.
Die Aufmerksamkeitshaltung ist somit ein aktiver Vorgang wie der
Willensakt. Zwar redet man bisweilen von passiver Aufmerksamkeit, von
einem Hingerissenwerden, allein genau besehen liegt hier doch immer
ein triebhafter Willensakt vor. Die Aufmerksamkeitshaltung braucht
darum in solchen Fällen nicht eigens hervorgebracht zu werden, da
sie in dem Willensakt schon verwirklicht ist, und so entsteht der
charakteristische Unterschied zwischen willkürlicher oder aktiver und
unwillkürlicher oder passiver Aufmerksamkeit.
Die Verbindung der inneren Aufmerksamkeit mit den äußeren
Aufmerksamkeitsbewegungen oder auch mit jenen inneren Hilfsmitteln,
die von den bisherigen Theorien mit Recht genannt wurden, bedarf
keiner besonderen Erörterung. Nur auf das +Apperzeptionsproblem+
sei noch hingewiesen, da es mit dem der Aufmerksamkeit in engem
Zusammenhange steht. Namentlich +Herbart+ betonte die Apperzeption
der Eindrücke durch die bereitstehenden Vorstellungsmassen: der
Mathematiker versteht das Wort „Wurzel“ anders als der Botaniker. H.
+Münsterberg+ zeigte, wie man sogar den Sinneseindruck beeinflussen
könne, je nachdem man eine andere Vorstellungskonstellation
erzeugt. Hat man einer Vp das Wort „Kummer“ zugerufen, so wird sie
das tachistoskopisch dargebotene Wort „Triest“ leicht als Trost
lesen. Neben dieser anschaulichen Apperzeption gibt es auch eine
solche des Denkens. Legt man einer Vp statt einer Vorstellung
einen Gesichtspunkt, also eine Relation nahe, so wird sie die ins
Bewußtsein tretenden Inhalte zumeist unter diesem Gesichtspunkt
auffassen und darum mehr an ihnen bemerken, als ohne diesen
Gesichtspunkt. So läßt sich etwa das Verhältnis zur sittlichen
Ordnung, zum guten Geschmack, zur Nützlichkeit als leitender
Gesichtspunkt einfügen, und der Erlebende wird seine Eindrücke sehr
oft um die jenen Gesichtspunkten entsprechenden Beziehungserfassungen
bereichern. Diese Erhöhung der Leistung darf also nicht der
Aufmerksamkeit als solcher zugeschrieben werden, wie es bisweilen
geschieht. Denn wenn auch diese gedankliche Apperzeption bei den
beachteten Inhalten häufiger sein wird als bei den nichtbeachteten,
so hat doch die Apperzeption in dem üblichen Sinne nichts mit
Aufmerksamkeit zu tun. Nur +Wundt+ gebraucht die Ausdrücke
„apperzipieren“ und „in den Blickpunkt des Bewußtseins rücken“ als
gleichbedeutend.
6) +Störungen der Aufmerksamkeit.+ Von dem soeben gewonnenen
theoretischen Standpunkt aus wird sich auch ein einigermaßen
befriedigender Überblick über die Störungen der Aufmerksamkeit geben
lassen. Wir sehen in der Aufmerksamkeit eine seelische Haltung, die
in bewußter oder unbewußter Abhängigkeit vom Willen eingenommen
wird. Diese Haltung hat sodann eine Lenkung der psychophysischen
Energie zur Folge. Damit sind die Angriffspunkte für mögliche
Schädigungen genannt. Sie befinden sich teils bei den den Willen
beeinflussenden Motiven, teils bei den nervösen Elementen, auf die
sich die Einwirkung der Haltung erstreckt. Wir haben aber keinen
Anlaß, sie beim Willensakt oder bei der Aufmerksamkeitshaltung
selbst zu suchen. Die willkürliche Aufmerksamkeit wird gestört oder
unmöglich gemacht, sobald das Individuum nicht über ausreichende
Motive verfügt, um die Aufmerksamkeitshaltung ihrer selbst willen
oder als Mittel zu einem fernerliegenden Ziele einzunehmen. So bei
Kindern, vorausgesetzt, daß sie die Aufmerksamkeitshaltung überhaupt
schon erlernt haben, und bei kindisch Gewordenen. Diesem Mangel
läßt sich ein Übermaß zur Seite stellen, wenn etwa eine Phobie oder
ein Verfolgungswahn zu unablässiger Wachsamkeit treibt. Doch wird
dieses Übermaß nicht so sehr als Fehler der Aufmerksamkeit gelten
wie der zuerst erwähnte Mangel. Deutlicher wird das Zuviel und das
Zuwenig bei der unwillkürlichen Aufmerksamkeit. Es handelt sich
dabei stets, wie wir sahen, um ein triebartiges Wollen. Der Mangel
an überragenden Werten bedingt die Unrast und Unstetigkeit der
Kinder und der Idioten. Abnorm hohe Werte führen zu den bei fixen
Ideen beobachteten Aufmerksamkeitsstörungen. Die willkürliche wie
die unwillkürliche Aufmerksamkeit kann nun durch Mängel des nervösen
Apparates beeinträchtigt werden. Eine allgemeine Verminderung der
psychophysischen Energie, wie sie bei Erschöpften und Kindern
wahrscheinlich ist, könnte die Aufmerksamkeitsleistung in jeder
Hinsicht herabdrücken. Namentlich dürfte der Aufmerksamkeitsumfang
darunter leiden. Sodann pflegt sich die nervöse Ermüdung bei der
Perseveration wie bei der Reproduktion zu zeigen. Der Mangel an
Perseveration zerreißt die Kontinuität des Bewußtseins und muß darum
die Konstanz der Aufmerksamkeit erschweren. Die einseitig gesteigerte
Perseveration hingegen erschwert den für das normale Geistesleben
erforderlichen Fluß der Aufmerksamkeit. Die Reproduktionshemmung
ferner erlaubt nicht, daß sich hinreichend schnell und leicht
solche Vorstellungen einfinden, die mit der beachteten in einem
Bedeutungszusammenhang stehen. Der Erlebende sieht sich darum ganz
dem Zwange der Assoziationen preisgegeben; er „kann seine Gedanken
nicht zusammenhalten“ und muß in der Richtung des geringsten
Widerstandes nachgeben. Eine abnorme Steigerung der Reproduktion
hingegen wird die Aufmerksamkeitsleistung nicht unmittelbar
schädigen, sondern sie nur gefährden, und zwar dadurch, daß ihr
allzuviele lockende Ziele vorgehalten werden. Sind dann -- um
+Achs+ prägnanten Ausdruck zu gebrauchen -- die determinierenden
Tendenzen zu schwach, so kommt es zur Ideenflucht. Auf eine Störung
des nervösen Apparates ist es auch zurückzuführen, wenn sich an
die Vorstellungen übermäßige Gefühle anschließen. Es treten dann
die Anomalien auf, die wir oben aus der Überhöhung der Werte
ableiteten, und außerdem ist eine Einengung des Bewußtseins bzw. des
Aufmerksamkeitsfeldes zu erwarten, vermutlich darum, weil die in
solchen Fällen ohnedies beschränkte psychophysische Energie einseitig
der gefühlsbetonten Vorstellung zugewandt wird.
Literatur
E. +Dürr+, Zur Lehre der Aufmerksamkeit. 1907.
A. +Mager+, Die Enge des Bewußtseins. 1920.
b) Die Vorstellungsbewegung
Die innere Willenshandlung gliche dem Vogel im Käfig, könnte sie sich
nur in der Aufmerksamkeitsbewegung verwirklichen, sie wäre dann stets
auf das unmittelbar Gegebene beschränkt. Es ist uns aber ermöglicht,
entsprechend unseren Absichten und Willenstrieben in unseren Gedanken
und Vorstellungen voranzuschreiten, und zwar sowohl in gebundener wie
in freier Vorstellungsbewegung.
1) +Die gebundene Vorstellungsbewegung.+ Unter einer gebundenen
Vorstellungsbewegung verstehen wir die +unter der Leitung einer
Aufgabe+ stehenden Gedankengänge. Hier sind namentlich drei Fragen zu
beantworten: Woher der Fortschritt? Woher die Zielstrebigkeit? Woher
die Grenzen?
Die Ausgangsvorstellung bei der gebundenen Bewegung ist die Aufgabe.
Wir haben sie schon oben als antizipierendes Schema aufgefaßt. Mit
diesem antizipierenden Schema sind sowohl die Methoden zur Lösung der
Aufgabe wie auch jene Vorstellungen assoziiert, die das Material zur
Lösung bieten. So verbindet sich mit der Aufgabe, die Jahreszinsen von
1200 Mark zu 4% zu berechnen, die bekannte Methode der Regeldetri, und
mit der dabei verwendeten Vorstellungsgruppe 4. 12 ist die Vorstellung
48 zu einem Komplex verbunden. Es fragt sich nun: wie kommt es von dem
antizipierenden Schema der Aufgabe zur Reproduktion der zugehörigen
Methode? Die Antwort wurde schon bei der Behandlung des produktiven
Denkens (S. 191 f.) gegeben: Das antizipierende Schema entfaltet sich
nach den Gesetzen der Komplexergänzung, doch unter ganz wesentlichem
Einfluß der zielstrebigen Aufmerksamkeit, d. h. also des Willens, der
die Richtung der Vorstellungsentfaltung mitbestimmt. (Vgl. S. 229 ff.)
Denn nicht alle antizipierenden Schemata sind so eindeutig mit +einer+
erfüllenden Vorstellung verknüpft wie die als Beispiel genannte
Rechenaufgabe. Sind mehrere erfüllende Vorstellungen mit demselben
antizipierenden Schema verbunden, so entscheidet die zufällige höhere
Bereitschaft (Konstellation), welche Komplexergänzung eintritt. Dank
der kontrollierenden Relationserfassung wird nun alsbald erkannt, ob
die reproduzierte Vorstellung der Lösung der Aufgabe dient, d. h.
ob zwischen den Forderungen der Aufgabe und den Eigenschaften des
Lösungsvorschlages Gleichheit besteht. Wenn dies nicht zutrifft,
müssen Methoden zur Abänderung auftauchen und gewählt werden, oder
man beginnt die Aufgabe von neuem. Der Fortschritt in der gebundenen
Vorstellungsbewegung kommt sonach von dem Willen zur Lösung, die
Zielstrebigkeit von der im Bewußtsein festgehaltenen Absicht, und
die Grenze der Vorstellungsreihe wird entweder mit dem die Lösung
begleitenden Erfüllungsbewußtsein erreicht oder mit der Einsicht, daß
die zur Lösung erforderlichen Vorstellungen versagen, „es fällt einem
nichts mehr ein“ oder auch dadurch, daß die Absicht zur Aufgabelösung
verlassen wird oder gar dem Bewußtsein entfällt.
Literatur
O. +Selz+, Die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. 1913.
J. +Lindworsky+, Das schlußfolgernde Denken, II. Teil, 1916.
O. +Selz+, Zur Psychologie des produktiven Denkens. 1922.
2) Die freie Vorstellungsbewegung. Die Phantasie.
a) +Die Gestaltung der freien Vorstellungsbewegung+. Auch wenn wir
keine Aufgabe übernommen haben, bleiben wir doch nicht bei ein
und derselben Vorstellung stehen. Es wechseln die Bilder und die
Gedanken. Wo aber sind die treibenden Kräfte in diesem Wechsel?
Wahrscheinlich ist die psychophysische Energie, die einen Teil
des zentralen Apparates soweit erregt, daß ein Bewußtseinsvorgang
eintritt, sehr labil. Eine leichte Ermüdung, eine Verminderung der
Blutzufuhr kann den augenblicklichen Bewußtseinszustand aufhören
lassen und einem anderen das Feld frei machen. Wäre dies die einzige
Bedingung des Vorstellungswechsels, so müßte sich dieser allein
aus dem Assoziationsgesetz verstehen lassen. Wir kennen in der Tat
Bewußtseinsvorgänge dieser Art. Es sind das die Vorstellungsreihen
Ideenflüchtiger.
Man sieht aber sofort, wie wenig eine solche Vorstellungsbewegung
mit der freien Gedankenfolge eines Normalen zu tun hat. Wenn wir uns
ohne jede Zielsetzung planlos unseren Gedanken überlassen, ertappen
wir uns allerdings auf mancherlei Gedankensprüngen, über die wir uns
bisweilen recht belustigen können. Aber gerade dieser Eindruck, den
sie auf uns machen, beweist, daß das Sprunghafte, Unzusammenhängende
auch bei diesen Träumereien in gewissem Sinne eine Ausnahme bildet.
Etwas „Sinn“ steckt immer hinter jenen Bildern; sie dürften sogar
der geradeste Zugang zum innersten Wesen eines Menschen sein. Diesen
Erscheinungen gegenüber bleibt also zu erklären, wieso bei ihnen ein
Gedankenfortschritt zustande kommt, wodurch dessen Richtung bestimmt
wird und was die Richtungsstörungen bedingt.
Gehen wir spazieren, so mag eine Zeitlang die äußere Umgebung und
ihr Wechsel allein unser Gegenstandsbewußtsein erfüllen. Sehr bald
aber wird irgendein Sachverhalt, den wir in der Vorstellung weiter
tragen, unser Interesse erregen. Wir wenden uns ihm aufmerkend
oder sogar strebend zu, und damit wird er zum Reproduktionsmotiv,
das eine neue Vorstellung weckt. Vielleicht bietet auch diese neue
Vorstellung Anziehungspunkte und damit die Bedingung zu weiteren
Reproduktionen. Das Fortschreiten in den Vorstellungen kommt also von
der unwillkürlich erregten Aufmerksamkeit her, und die Triebfeder
des Ganzen ist zumeist unreflektiertes Wollen. Da sich nun die
Gegenstände des jeweiligen Interesses nach der augenblicklichen
Gesamtverfassung richten und diese beim Gesunden nicht allzu
sprunghaft wechselt, so wird innerhalb gewisser Grenzen auch eine
gewisse Gleichförmigkeit und Einheitlichkeit des Gedankenganges
herrschen, ganz abgesehen von der Einheitlichkeit, die oft durch die
Entstehungsgeschichte unserer Assoziationen, namentlich der Komplexe,
bedingt ist. Bisweilen erhebt sich aber auch das triebhafte Wollen
zum überlegten, und wir stellen uns inmitten unserer Träumereien und
um ihretwillen Zwischenaufgaben: wir besinnen uns oder stellen uns
ein Problem, und so wird der Gedankenzusammenhang auf eine weitere
Strecke verbürgt. Da aber jene Interessen in der Regel nicht allzu
groß sind, unterliegen sie, sobald sich ein stärkerer Konkurrent
erhebt. Das Nichtvorhandensein oder die Geringwertigkeit der
Zwischenziele ist auch der Grund, weshalb sich in dem Gesamtverlauf
die Spuren der Assoziationen bemerklich machen. Anderseits verrät
der aus dem triebhaften Wollen stammende Richtungsfaktor in der Tat,
welche Dinge das Interesse des betreffenden Menschen erwecken.
b) +Freie Vorstellungsbewegung und Phantasie.+ Die Volkssprache hat
sich des Ausdruckes Phantasie bemächtigt, hat diese „Fähigkeit“ für
alles verantwortlich gemacht, was sie mit den populären Begriffen
Verstand und Gedächtnis nicht bewältigen konnte und damit diesem
Wort einen so mannigfach schillernden Sinn verschafft, daß die
wissenschaftliche Psychologie es kaum verwerten kann. Zur Klärung
fragen wir zunächst, welche psychischen Erscheinungen auf Rechnung
der Phantasie gesetzt werden, sodann, auf welchem Wege man diese
Erscheinungen verständlich zu machen sucht, um dann unsere eigene
Stellung einzunehmen.
Einer besonderen Phantasiebegabung schreibt man es zu, wenn jemand sehr
anschauliche und lebhafte Vorstellungen erzeugen kann. Weiter ist es
die „kühne Seglerin Phantasie“, die ihre unerwarteten und jeglicher
Regel Hohn sprechenden Fahrten macht. Sodann ist sie die begnadete
Schöpferin großer Werke und Erfindungen, namentlich ästhetischer Natur.
Bisweilen wird sie einfachhin dem höchsten Denken gleichgesetzt.
Allein von den Leistungen und Eigenschaften, die man der Phantasie
zuschreibt, kann nur die relative Ungebundenheit und Regellosigkeit
oder auch ihr Spielcharakter allgemeine Bedeutung beanspruchen.
Denn die große Lebhaftigkeit der Vorstellungen ist entbehrlich für
den mathematischen Denker und den technischen Erfinder, den man
gemeinhin auch vorwiegend mit der Phantasie arbeiten läßt. Auch
die Schöpferkraft der Phantasie braucht nicht als übermäßig groß
angenommen zu werden. Denn auch die bescheidenste Ausmalung eines
geträumten Erfolges zählt man schon unter die Phantasieleistungen.
Der Vorgang also, der zu erklären bleibt, ist die Erzeugung von
Gedanken und Vorstellungskomplexen, die als solche nicht der
Erinnerung entnommen, aber auch nicht durch methodische Denkschritte
gewonnen sind. Und zwar sind es Vorgänge solcher Art, daß sich bei
ihnen gelegentlich lebhafteste Anschaulichkeit und überraschende
Produktivität finden kann.
Die Leistungen der Phantasie sucht man bald durch eine besondere
Fähigkeit, bald durch eine besondere Funktionsweise der bekannten
Fähigkeiten zu erklären. Die allzu starre Auffassung, die man von der
„Erinnerungsfähigkeit“ hatte, verlangte eine neue psychische Kraft,
um jene Bilder zu verstehen, die keine Erinnerungen waren. Andere
begnügten sich mit einer freien Verwendung der aus der Erinnerung
stammenden Vorstellungselemente. So glaubte +Berkeley+, die
Erinnerungsvorstellungen zersetzten sich im Laufe der Zeit und würden
mit Elementen aus anderen Erinnerungen durchdrungen. Andere sehen
das Wesen der Phantasietätigkeit in der Analogiebildung: aus der
Vorstellung eines gewöhnlichen Menschen wird das analoge Bild eines
Riesen. Andere glaubten mit der Ähnlichkeitsassoziation auszukommen.
Durchmustern wir nun diese Lösungsversuche. Wir haben die Erinnerung
nicht einer geschlossenen Erinnerungsfähigkeit zugeschrieben,
sondern erklärten sie aus dem Zusammenwirken der Vorstellungen
mit der Beziehungserfassung. Die Vorstellungen sind somit für uns
nicht unzertrennlich an die Erinnerung gebunden, wir können sie
ebensogut für die Phantasieleistungen heranziehen. Allerdings mit
einem bloßen Zerfall der früheren Erinnerungsvorstellungen und deren
Durchsetzung mit Elementen aus anderen Erinnerungen lassen sich
die Phantasieleistungen nicht verständlich machen. Nicht einmal
mit der gewiß des öfteren wirksamen Analogiebildung. Denn der
schlichteste Wachtraum ist mehr als eine einfache Umformung alter
Vorstellungen und auch mehr als eine einfache Kombination aus ihnen.
Noch viel weniger reicht die Ähnlichkeitsassoziation hin, etwa die
Phantasielüge eines Kindes zu erklären. Assoziationen allein bringen
niemals den bei Phantasiestücken beobachteten Sinn zustande. Aber
auch die Gleichsetzung der Phantasie mit dem höchsten produktiven
Denken kann nicht befriedigen. Denn einmal kennen wir jetzt die
wichtigsten Faktoren und Gesetze des schöpferischen Denkens und
wissen, daß sie sich auch in einem ganz nüchternen und methodischen
Gedankengang betätigen können, der mit Phantasie durchaus nichts
gemein hat. Anderseits ist die höchste Art des produktiven Denkens,
wie wir sahen, durchaus kein Wesenszug der Phantasie. Eine neue
Auffassung der Phantasieleistung hat J. +Segal+ versucht:
Phantasie sei „ein Denken, Fühlen und Wollen in vorgestellten
Situationen mit Wirklichkeits- und Gegenwartscharakter“. Eine sehr
bestechende Definition. Aber dann „phantasiert“ der Klavierspieler
nicht, solange er sich seiner wirklichen Situation bewußt bleibt.
Vielleicht kommen wir zu einem wissenschaftlich brauchbaren Begriff,
wenn wir die Phantasietätigkeit als die +Ausfüllung eines nicht
vollständig spezialisierten antizipierenden Schemas+ definieren. Diese
Definition läßt eine engere und eine weitere Betrachtungsweise zu.
Im +engeren+ Sinne würde darunter die anschauliche Ausführung eines
einzelnen weniger determinierten Schemas verstanden. Dem Künstler ist
z. B. das Thema: „frische Rosen“ gegeben. Dieses Schema ist nach Zahl,
Maß, Farbe, Gestalt usw. unbestimmt. Ein nur technisch befähigter
Maler könnte es wegen dieser Vagheit nicht aus eigenem ausfüllen. Dem
wahrhaft Phantasiebegabten, dem Erfinder (vgl. S. 195 f.) füllt sich
das Schema von selbst.
Im +weiteren+ Sinne gestattet unsere Definition die +Phantasietätigkeit
mit der soeben beschriebenen freien Vorstellungsbewegung zu
identifizieren+. In der freien Vorstellungsbewegung haben wir einen
Komplex scharf umschriebener Bedingungen, die sich sonst nirgendwo so
zusammenfinden: die erkennenden Funktionen außerhalb einer straffen
Gesamtaufgabe und unter dem Einfluß des triebhaften Wollens und der
Assoziationen. Damit ist, wie wir gezeigt haben, der spielhafte, teils
ungebundene, teils gebundene Gedankenfortschritt gegeben. Gebunden
wird er immer dann, wenn eine Zwischenaufgabe für den Augenblick zum
Willensziel wird, doch so, daß der ganze Vorstellungsverlauf nicht in
feste Regeln eingeschlossen ist. In der freien Vorstellungsbewegung
ist auch Gelegenheit zu Neubildungen. Zum kleineren Teil dürften diese
aus den Zufälligkeiten der assoziativ bedingten Reproduktionsvorgänge
stammen. Den größeren Teil liefern sicher die Relationserfassungen
und die Annahmen. Die letzteren werden als willkürliche Verbindungen
beliebiger Gegenstände zum antizipierenden Schema für die Reproduktion
anschaulicher Vorstellungen: wie ein gezeichnetes Stickmuster geben
sie den Ort im Bewußtsein an, wo sich die anschauliche Begabung
des Individuums auswirken kann. Unsere Auffassung läßt also die
Anschaulichkeit zu ihrem Rechte kommen. Wir begreifen jetzt aber auch,
daß man das produktive Denken in so enge Beziehung zur Phantasie
gebracht hat: Wie sich bei den Schlußuntersuchungen herausstellte,
stehen uns für das fortschreitende Denken, auch wenn es von einer
ganz bestimmten Aufgabe beherrscht wird, nur wenige spezialisierte
Methoden zur Verfügung. Darum muß auch das ernste Denken streckenweise
phantasiemäßig arbeiten, wie umgekehrt die Phantasie streckenweise
aufgabenmäßig vorgeht. Die außergewöhnlichen schöpferischen
Leistungen der großen Dichter und Künstler sind zwar der Phantasie
nicht wesentlich, gedeihen aber auf dem Boden der von uns genannten
Bedingungen, sobald noch die eine oder die andere Sonderbedingung
hinzutritt. Große Lebhaftigkeit der Vorstellungen, tiefes Gefühl und
Raschheit der Vorstellungsbewegung scheinen die wichtigsten davon
zu sein, die bald einzeln, bald zusammen das Phantasieleben des
gottbegnadeten Künstlers über das anderer Sterblicher hinausheben.
Sehr oft wird diese Begabung noch durch besondere Studien unterstützt.
Man erzählt von manchen Dichtern, daß sie schon in früher Jugend sich
in der Weltliteratur sehr wohl auskannten, wodurch natürlich ihr
Vorstellungsschatz mit einer Unzahl von Motiven, Bildern und Wendungen
bereichert war. Von Mozart ist es nachgewiesen, wie sehr sein Schaffen
durch die zeitgenössische Musik befruchtet wurde. Was endlich die
oft bewunderte geheimnisvolle Entstehung so mancher künstlerischen
Konzeption betrifft, die dem Menschen eher eingegeben als von ihm
selbst hervorgebracht zu sein scheint, so sind uns heute doch schon
die ersten Spuren dieser verborgenen Wege des Genius sichtbar: Zumeist
hat sich der Künstler schon längere Zeit mit seinem Plan getragen,
ohne daß ihm eine befriedigende Ausführung kommen wollte. Doch die
Arbeit war nur scheinbar vergebens. Er hat so eine Menge von dienlichen
Vorstellungen in Bereitschaft gesetzt, die je und dann seinen Geist
beschäftigten. Eines Tages blitzt ihm eine neue Beziehungserfassung
auf: eine Ähnlichkeit, eine Gleichheit, ein Gegensatz usf. Wir sahen,
daß solche Beziehungserfassungen aufleuchten können, noch bevor ihre
anschaulichen Fundamente klar bewußt sind. Der Erlebende kann darum
auch nicht sagen, wie er auf den Gedanken kam. Aber es bleibt nicht bei
dem abstrakten Gedanken; er ist nur das antizipierende Schema, in das
jetzt mit Macht die anschaulichen Vorstellungen drängen: kein dürres
gedankliches Gerippe, sondern lebendiges Fleisch und Blut steht vor der
Seele. Nur selten wird es ob der nachdrängenden Bilder gelingen, den
einleitenden Beziehungsgedanken zu erhaschen, und die eigene Schöpfung
wird dem Meister wie ein gnädiges Geschenk, eine köstliche Inspiration
einer huldvollen Muse erscheinen.
Literatur
Th. +Ribot+, Die Schöpferkraft der Phantasie. 1902.
R. +Müller-Freienfels+, Psychologie der Kunst I, 1912.
H. +Henning+, Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie I.
ZPs 81 (1919).
Fußnoten:
[10] Zur Auffassung der tierischen Instinkte vgl. m. „Umrißskizze zu
einer theoret. Psychologie“, S. 41 ff.
IV. Buch
DIE VON DER GEMEINSCHAFT BEEINFLUSSTEN SEELISCHEN LEISTUNGEN
Die bisher besprochenen höheren seelischen Leistungen würden sich
im wesentlichen in gleicher Weise herausbilden, ob der Mensch nun
vereinzelt oder in Gemeinschaft lebte. Nicht so die noch höher
stehenden komplizierten Leistungen, von denen im folgenden die Rede
sein soll. Sie würden zwar auch beim Einzelnen nicht völlig ausbleiben;
denn die Einzelseele trägt die Befähigung zu ihnen in sich, und
nichts ist törichter, als ihr Entstehen einer phantastisch ersonnenen
Gemeinseele zuzuschreiben. Allein die frühzeitige Anregung, die
wirksame Förderung und die eigenartige Beeinflussung dieser Leistungen
geht nur von der Masse aus: so wie sie nun einmal sind und wurden,
sind und wurden sie nur durch das Zusammenwirken vieler Menschen.
Sprache, Sitte, Kunst und Religion sind die bedeutsamsten dieser
Massenleistungen. Unsere Darstellung muß sich darauf beschränken,
die wichtigsten Probleme aus diesen vier Gebieten zu nennen. Denn so
umfangreich auch naturgemäß die bisherigen Untersuchungen auf diesen
Gebieten ausgefallen sind, so wenig können diese jüngsten Zweige der
Psychologie ausgereifte Früchte darbieten.
ERSTER ABSCHNITT
Die Sprache
1. Die Leistungen der Sprache
Die Frage nach den Leistungen der Sprache ist kein ausschließlich
psychologisches Problem, auch der Biologe und der Philologe kann sie
aufwerfen. Sie muß aber zur allgemeinen Orientierung an die Spitze der
psychologischen Untersuchung gestellt werden, wie sich alsbald zeigen
wird. Die Sprache hat nach +Bühlers+[11] trefflicher Unterscheidung
eine dreifache Aufgabe: +kundzugeben+, was in der Seele des Sprechenden
vorgeht; +auszulösen+ im Hörenden, was an seelischen Vorgängen der
augenblicklichen Lage entspricht, und Sachverhalte +darzustellen+,
die der Sprechende erfaßt hat. Das Letztgenannte, die Erfassung des
Sachverhaltes durch den Sprechenden, halten wir für einen notwendigen
Zusatz, um zu einer Leistungsdefinition der Sprache zu kommen, die
diese von den im Effekt gleichen Leistungen eines mechanischen
Apparates oder den Dressurleistungen der Tiere unterscheidet.
2. Die Entstehung der Sprache
Man hat es sich auf verschiedene Weise zurechtgelegt, wie der
Mensch aus einem sprachlosen Zustand in den sprachbegabten kommen
könne. Ganz unpsychologisch dachte zunächst die +Erfindungstheorie+
an die absichtliche Beschaffung von Darstellungsmitteln. Die
+Nachahmungstheorie+ hingegen sah den Ursprung der Sprache in der
Nachahmung der Dinge durch die Worte, was natürlich nur für einen
verschwindend kleinen Teil der Worte zutreffen kann. Endlich die
+Naturlauttheorie+ glaubt, beim Anblick bestimmter Dinge seien zufällig
oder aus einem Gefühlsdrang heraus naturhafte Laute ausgestoßen worden;
diese hätten sich dann mit der Vorstellung jener Dinge fest assoziiert,
so daß diese Vorstellungen jene Laute und die Laute hinwiederum die
Vorstellungen ins Bewußtsein riefen.
Man braucht solche Theorien über Vorgänge, von denen uns jede Kunde
für immer versagt bleibt und die man auch nicht, etwa durch die
Abschließung normaler Kinder von jeder sprachlichen Beeinflussung,
willkürlich herbeiführen wird, nicht für müßige Spielereien zu halten.
Sie haben Wert, wenn nicht nach dem tatsächlichen, historischen,
sondern nach dem psychologisch möglichen Verlauf gefragt wird. Läßt
sich die Entstehung der Sprache aus den uns bekannten Gesetzen und
Funktionen restlos ableiten? Die Unzulänglichkeiten, die sich bei der
Beantwortung dieser Frage vielleicht herausstellen, offenbaren dann
die noch vorhandenen Lücken unseres Wissens. Fragt man so, wie eben
gesagt, dann wird man die beiden methodischen Grundfehler der genannten
Theorien vermeiden: Man wird sich nicht auf +eine+ psychische Funktion
oder eine einzige Gesetzmäßigkeit zur Lösung des Problems festlegen.
Man wird zweitens auch nicht einseitig die Darstellungsfunktion der
Sprache ins Auge fassen.
Die +Entstehung der Kundgabefunktion+ ist dann wohl an erster Stelle
zu besprechen. Wir finden ja diese Funktion bei den Tieren, die ihrer
Freude, ihrer Furcht, ihrem Schmerz, ihrer Erwartung usf. lebhaften
und ziemlich eindeutigen Ausdruck geben können, ohne sich einer
wahren Sprache zu erfreuen. Die Kundgabe ist also das Einfachere und
Frühere an der Sprache. Ihre Mittel sind die +Ausdrucksbewegungen+.
Damit bezeichnet man zunächst unwillkürliche Bewegungen, die sich
bei Gemütsbewegungen von selbst einstellen, wie Freuden- und
Schmerzensrufe, die Mimik des Gesichtes, Bewegungen der Gliedmaßen
und die Haltung des ganzen Körpers. Viele der Ausdrucksbewegungen
sind angeboren. Sie finden sich bei allen Menschenrassen in der
gleichen Weise. Andere sind ohne jede Absicht von der Umgebung
übernommen und darum oft nach Stämmen oder gar Familien verschieden.
Wir teilen die Ausdrucksbewegungen ein in die unmittelbaren oder
reflektorischen und in die übertragenen. Die +unmittelbaren+, wie
Herzklopfen, Erröten, Bewegungsdrang und schließlich Hemmung der
Funktionen, erklären sich am einfachsten als Ausstrahlungen der
durch den Affekt verursachten Erregung. Diese ist allen Affekten
gemeinsam ohne Rücksicht auf deren Qualität und bewirkt auch bei
allen, wenn sie eine gewisse Intensitätsstufe erreichen, eine
Hemmung oder Lähmung der anderen Funktionen. Die +übertragenen+
Ausdrucksbewegungen sind ursprünglich zweckmäßige, aber für eine
andere Situation bestimmte Bewegungen, +teils angeboren+, wie das
Mundspitzen beim süßen Geschmack, das diesen möglichst auszukosten
erlaubt, oder die Flucht- und Abwehrbewegungen beim Tiere, +teils
erworben+, wie das Ballen der Fäuste. Die angeborenen denkt man
sich nun auf assoziativem Wege übertragen: das gleiche wohlige
Befinden führt assoziativ das nämliche Mundspitzen herbei wie der
süße Geschmack, der unangenehme Eindruck unlieber Erfahrungen das
Mundöffnen wie zum Ausstoßen des bitteren Reizes. Die erworbenen
dagegen stellen sich teils assoziativ, teils triebartig ein. Man
befindet sich ja in einer Lage, wo solche Bewegungen sehr angebracht
sind. Daß diese Lage zumeist nur in der Vorstellung besteht, tut
wenig zur Sache, und außerdem bleibt, wenn z. B. das Niederschlagen
des Gegners in Wirklichkeit nicht möglich ist, die dazu führende
Teilhandlung des Fäusteballens immer noch ein sehr wünschenswertes
Ziel.
Die Ausdrucksbewegungen erfüllen nun sehr leicht die +Funktion
der Auslösung+. Reflektorisch werden die Sinnesorgane auf sie
eingestellt, und unwillkürlich richtet sich auch die innere
Aufmerksamkeit auf sie. Rein assoziativ können sodann gewisse
angeborene Äußerungen ihnen ähnliche und damit auch die zugehörige
Stimmung beim Zuhörer oder Zuschauer auslösen: ein Hund oder ein
kleines Kind, dem man weinerlich zuredet, fängt an zu winseln bzw.
zu weinen. Endlich vermöge seiner Relationserkenntnis erfaßt der
Mensch die Gleichheit solcher Äußerungen mit denen, die er selbst
früher getan, und erschließt unschwer nach dem Verfahren bei
Zusammenhangsrelationen den seelischen Zustand in dem Mitmenschen
oder im Tier. Sobald dieses Verständnis einmal gewonnen ist, kann
ein Verhalten willkürlich eingeschlagen werden, sowohl zum Zwecke
der Auslösung wie der +Darstellung+. Und das ist der berechtigte
Kern der Naturlauttheorie. Er schließt die Nachahmungstheorie für
alle jene Fälle nicht aus, wo es überhaupt möglich war, die Dinge
durch Laute nachzuahmen, was der Mensch vor jeder Darstellungsabsicht
aus reiner Freude an der spielerischen Nachahmung üben konnte.
Wichtiger und früher als die Erfindung von Worten wird die Entdeckung
von Darstellungsmitteln sein, wie sie uns die Kinderpsychologie
schildert: ein kleines Kind will mit einem Löffel im Sande einen
geraden Strich ziehen, wird aber wegen seiner schwachen Kräfte in
die krumme Linie abgedrängt, kommt auf diese Weise zufällig zu
einem geschlossenen Oval und ruft plötzlich freudestrahlend aus:
„agag“ -- es hat ein Darstellungsmittel für das Ding „Ei“ entdeckt
(+Krötzsch+). Auch der Zufall wird gerade wie bei der Entwicklung der
Kindersprache eine bedeutsame Rolle spielen: +Preyers+ Kind schnappte
das Wort burtsa (Geburtstag) auf, ohne es natürlich zu verstehen, und
verwandte dieses Wort fortan, wo immer es etwas Freudiges gab. So
kann auch der Urmensch Laute, die er beim erstmaligen Anblick eines
Dinges zufällig vernahm, willkürlich zum Namen dieses Dinges gemacht
haben. Das sind auf jeden Fall mögliche Wege der Sprachentstehung.
3. Die Sprachentwicklung
Auch für diese Problemgruppe ist uns die Kinderpsychologie ein besserer
Führer als die Geschichte, wenigstens insoweit es sich um die ersten
Entwicklungsstufen handelt. Erscheinen zuerst die Worte oder die
Sätze? Der äußeren Form nach verwendet das Kind zuerst nur Worte, aber
seine Worte haben den Sinn von Sätzen, und zwar verwendet es bis in
die Mitte des zweiten Jahres mit bewunderungswürdiger Gleichförmigkeit
nur Einwortsätze, wie „tul“ (ich will auf den Stuhl); von da ab
eine Zeitlang nur Zweiwortsätze, bis es dann zu den Mehrwortsätzen
übergeht. Ganz ähnlich wird man sich die sprachlichen Anfänge der
Menschheit zu denken haben, nur daß das Bedürfnis zur Dingbenennung
ein größeres war. Wenn wir so den Satz an den Anfang der Entwicklung
stellen, so bestimmen wir das Wesen des Satzes nicht nach der
eigenartigen Gliederung in Subjekt und Prädikat, die er im weiteren
Verlauf der Entwicklung gewinnt, sondern nach seiner Leistung, indem
wir uns das Wort +Bühlers+ zu eigen machen: „Sätze sind die einfachen,
selbständigen, in sich abgeschlossenen Leistungseinheiten oder kurz
die Sinneinheiten der Rede.“ Da aber die Sätze zunächst wohl nur in
einem einzigen Wort ihren Ausdruck finden, so steht hinsichtlich der
sprachlichen Form das Wort am Anfang der Entwicklung.
Für die weitere Entwicklung der Wörter geben uns die beim Kinde
beliebten, oft sehr treffenden und originellen Zusammensetzungen
einen Fingerzeig. So bezeichnet ein Kind namens Hilda mit „mama-bäh“
ein altes und mit „ilda-bäh“ ein junges Schaf. Die Gleichheit der
Wortformen bestimmter Gruppen versteht man aus der schon oben (S.
173) erwähnten Verselbständigung und Loslösung des Wortschemas.
Dieser Prozeß offenbart sich beim Kinde, wenn es Wörter bildet wie
„mappler“ (Bote mit Mappe), „die rauche“ (Zigarre), die „summe“
(Biene), oder die Komparative „güter“, „vieler“, „hocher“, die es
gewiß nicht von den Erwachsenen gehört hat.
Endlich ist das Problem der +Sprachänderung+ zu nennen, und zwar der
Wortlaut- wie der Bedeutungsänderung, insofern beide nicht durch
äußere Bedingungen, wie das Zusammentreffen mit anderssprachigen
Völkern, zu erklären sind. Der Lautwandel kann sich auf alle Teile
des Wortes erstrecken, auf die Vokale, Konsonanten, die Quantitäten,
Tonhöhen und Akzente, und endlich auf die Wortmelodie. Vorerst
können wir jedoch nur auf einige psychologische Gesetzmäßigkeiten
hinweisen, die bei der Lautveränderung mitspielen. Die Perseveration
der Vokale, die sogar bei der Wortwahl in der geordneten Rede zu
beobachten ist, wird daran schuld sein, daß in den ural-altaischen
Sprachen das Suffix denselben Vokal annimmt wie die Stammsilbe. Die
enge Verbindung des Lautbildes mit den motorischen Einstellungen
bzw. den Sprechbewegungen, verbunden mit der Tatsache, daß sich
die Aufmerksamkeit einem späteren Wortbestandteil zuwendet, kann
bewirken, daß aus subcurro succurro, aus dem lateinischen octo das
italienische otto wird; wenigstens finden sich beim Verschreiben
ganz analoge Fälle, die auf Grund der Selbstbeobachtung die genannte
Erklärung fordern. Die oft erwähnte Analogiebildung -- nach dem
regelmäßigen „des Tags“ wird das grammatisch minder richtige „des
Nachts“, nach septentrionalis meridionalis statt meridialis gebildet
-- ist nichts anderes als die soeben genannte Loslösung des Schemas:
je häufiger eine Wortform ist, um so mehr sucht sie sich die weniger
gebrauchten anzugleichen. Endlich die Kontamination (aus die Fohle
und das Füllen wird das Fohlen) ist uns schon als assoziative
Mischwirkung (S. 172) bekannt. Über den Lautwandel hingegen, wie ihn
das Gesetz der germanischen Lautverschiebung ausspricht, läßt sich
noch nichts Überzeugendes sagen.
Die genannten beim Lautwandel wirksamen psychischen Faktoren sind
individual-psychologischer Natur, d. h. sie würden sich geltend
machen, wenn auch die Umgebung nicht auf den Sprecher einwirkte.
Anders ist es beim +Bedeutungswandel+. In der Regel geht der
abweichende Gebrauch eines Wortes wohl von einem einzelnen aus, wird
dann aber von der Umgebung übernommen, sei es, weil die dargebotene
Neuheit gefällt oder einem oft gespürten Bedürfnis entspricht,
wenn etwa die Zeitverhältnisse einen neuen Begriff ausgebildet
haben, für den noch kein Wort besteht, sei es, weil die Neubildung
Mode wird. Eine andere Frage indes ist die, welche psychologischen
Gesetze den Bedeutungswandel selbst regeln. Hier betont man
besonders die Ähnlichkeitsbeziehung und die Berührungsassoziation.
Eine Ähnlichkeits- oder Gleichheitsbeziehung wird erfaßt, wenn
man von dem „Kopf“ des Salates, den „Augen“ des Würfels spricht.
Eine Berührungsassoziation hingegen ist am Werk gewesen, als die
Münze von den Römern moneta genannt wurde, weil die römische
Münzstätte neben dem Tempel der Juno Moneta lag. Freilich hat die
Berührungsassoziation in solchen Fällen nur die Vorarbeit geleistet,
indem sie die Vorstellung des Tempels und seines Namens dem vom
Geld Sprechenden nahelegte. Die Bedeutung ist hier schon vorhanden;
das Wort, das sie einfangen soll, muß gefunden werden. So gewinnen
bisweilen auch Synonyma einen verschiedenen Sinn, wenn ihre Bedeutung
sich aufspaltet und nach einer neuen Bezeichnung verlangt.
Literatur
W. +Wundt+, Völkerpsychologie, Die Sprache. 1904.
C. u. W. +Stern+, Die Kindersprache. 1907.
H. +Werner+, Vom Ursprung der Metapher. 1920.
Fußnoten:
[11] Vgl. K. +Bühler+, Kritische Musterung der neueren Theorien
des Satzes. Indog. Jahrbuch 1918, und: Vom Wesen der Syntax in
„Idealistische Neuphilologie“, 1922.
ZWEITER ABSCHNITT
Die Sitte
1. Gebräuche
Gebräuche pflegt man mitzumachen, ohne sich über sie Rechenschaft zu
geben. Ein Beispiel: In einer protestantischen Kirche Norddeutschlands
war es Brauch, nach dem Empfang des Abendmahles nach einer bestimmten
Richtung hin eine Verbeugung zu machen. Kein Mensch hätte einen
vernünftigen Grund für diese Zeremonie angeben können, aber niemand
fragte auch nach einem solchen. Seit undenklichen Zeiten hatten alle
Glieder der Gemeinde diese Verbeugung mit der geziemenden Ehrfurcht
wiederholt. Was dem Psychologen daran auffallen muß, ist die
Irrationalität, die Gleichförmigkeit und die Dauerhaftigkeit dieser
Verhaltungsweise. Daß das menschliche Verhalten überhaupt irrational
sei, läßt sich aus solchen Vorkommnissen nicht schließen. Denn in der
Regel war es früher einmal recht zweckmäßig oder in sich begründet. Die
Irrationalität kommt nur dadurch hinein, daß ein früher angemessenes
Verhalten zur bleibenden Gewohnheit wird, auch wenn der begründende
Anlaß geschwunden ist. So entdeckte man bei einer Restauration jener
Kirche unter der Tünche ein Marienbild, und der Ursprung jener
eigentümlichen Sitte aus der vorreformatorischen Zeit lag offen zur
Schau. Aber warum hält man solche Gebräuche bei, auch wenn sie keinen
Sinn mehr haben? Zum Teil und anfangs ist die mechanische Gewohnheit
schuld. Der Kampf gegen eine äußere Gewohnheit ist unlustvoll.
Außerdem wird die Gewohnheit als solche, wie die Willensexperimente
gezeigt haben, zu einem wirklichen Beweggrund, einem äußeren Motiv:
sich gleichförmig zu bleiben ist ein eigentlicher Wert. Der neu
Hinzukommende fügt sich dem Brauch teils in gedankenloser Nachahmung,
teils um nicht aufzufallen oder anzustoßen, teils weil er sich sagt:
wenn man mir auch keinen inneren Grund anzugeben vermag -- es wird
schon seinen Grund haben. Dazu kommt die relative Unwichtigkeit der
Sache: es kostet in der Regel wenig Mühe, sich einem Brauch zu fügen,
und die eigenen Lebensinteressen lassen für den Kampf gegen solche
Dinge keinen Raum. Es braucht also einen außergewöhnlichen Anlaß
oder einen allgemeinen Umsturz, um irrationale Gepflogenheiten zu
beseitigen. Doch nur ganz selten sind sie völlig irrational. Sehr oft
haftet ihnen wenigstens ein ästhetischer Wert an. Und fast immer wird
der Brauch zum Träger oder doch zum Reproduktionsmotiv für gewisse
festliche Stimmungen, und damit gewinnt er ein Recht aufs Dasein trotz
aller sonstigen Irrationalität.
2. Die Konstanz der Kultur
Das Verständnis für die Konstanz der Gebräuche läßt auch die
merkwürdige Tatsache begreiflicher erscheinen, daß ein Volk auf einer
verhältnismäßig niedrigen Kulturstufe stehen bleiben kann, obwohl
es in seiner geistigen Veranlagung das Prinzip zu immer weiterem
Fortschritt in sich trägt. Beispiele dafür bietet bei jeder Nation die
bäuerliche Bevölkerung, sodann namentlich das chinesische Volk, in ganz
auffallender Weise aber die sog. primitiven Völker. Alle die Faktoren,
die wir soeben nannten, sind auch hier am Werk. Nur darf man auch das
niedere Kulturleben nicht als irrational auffassen. Es verkörpert
vielmehr eine beträchtliche Menge ganz hervorragender Werte, die man
erst dann würdigt, wenn man es mit der Lebensweise der höchststehenden
Tiere vergleicht. Und diese Werte: auskömmliche Nahrung, Kleidung und
Schutz, sowie die Befriedigung der elementarsten seelischen Bedürfnisse
sind der eigentliche Grund, weshalb kein weiterer Fortschritt mehr
gemacht wird: es liegt keine Not, kein Bedürfnis vor, das zur
Anstrengung der erfinderischen Gaben zwänge. Kein Fortschritt sodann
ohne Relationserfassung. Aber diese ist in einem abgeschlossenen Kreise
sehr bald nicht mehr möglich. Denn die nächstliegenden Beziehungen sind
schon alle erfaßt, und vor der Einsicht in die entfernteren bewahrt
die assoziative Bahnung, die durch die Überlieferung der Einsichten
anderer wie durch die Gewohnheiten und Gebräuche geschaffen wurde. Je
mehr solche Kreise durch die Natur oder den eigenen Wunsch vom fremden
Wissen abgeschlossen bleiben, je seltener ihnen somit die Fundamente
zu neuen Beziehungserfassungen geboten werden, um so stabiler wird ihr
Kulturzustand bleiben. Darum ist auch der Gang der Kulturentwicklung
selten ein rationaler, sondern durch Zufälligkeiten bedingt: das
zufällige Zusammentreffen mit Vertretern höherer Kulturkreise, nicht
der innere Gang der Entwicklung, ist oft für die Richtung des weiteren
Fortschrittes maßgebend.
Ob damit auch der ethische Entwicklungsstillstand zu erklären ist?
Die Frage ist heute noch nicht spruchreif. Sollten nicht die sozialen
Bedürfnisse einerseits, die Zugeständnisse an die menschliche
Schwachheit anderseits häufig den Anstoß zur Bildung gewisser
religiöser Meinungen gegeben haben, die zwar jenen Bedürfnissen gerecht
wurden, aber auch der sittlichen Höherentwicklung den Riegel vorschoben?
Literatur
E. +Franke+, Die geistige Entwicklung der Negerkinder. 1915.
A. +Vierkandt+, Die Stetigkeit im Kulturwandel. 1908.
3. Recht und Sittlichkeit
In jeder Gemeinschaft von Menschen gelten gewisse Satzungen als
das +Recht+ dieser Gemeinschaft. Man mag sie mit +Ebbinghaus+ als
Zwangsbestimmungen auffassen, die die Gesellschaft zur Sicherung
ihres eigenen Bestandes getroffen hat. Damit ist das fundamentalste
Interesse, das der Psychologe an ihnen hat, erschöpft. Denn die
psychischen Kräfte, die zu solchen Bestimmungen führen, sind uns
bekannt. Beziehungserfassungen, die anfangs sehr unzulänglich sind und
durch beständige Korrekturen präzisiert und erweitert werden müssen,
und der Trieb zur Selbsterhaltung wie zur Erhöhung des Lebensgenusses
reichen zu ihrer Erklärung hin. Wichtiger jedoch sind folgende
Tatsachen. Ganz abgesehen von den Rechtsbestimmungen der Gemeinschaft,
werden gewisse Handlungen, und mögen sie auch nur innere Willensakte
sein, für +erlaubt+, andere für nicht erlaubt gehalten, und manche der
erlaubten gelten als +gut+, während alle nicht erlaubten als +böse+
beurteilt werden. Und zwar werden diese Urteile einschränkungslos
gefällt. Ferner fühlen wir uns bedingungslos zu gewissen guten
Handlungen +verpflichtet+ und von der Vollbringung böser abgeschreckt.
Über beides belehrt uns unser +Gewissen+. Die Stimme dieses Gewissens
lautet wenigstens in seinen elementarsten Forderungen bei allen
Menschen aller Zeiten und aller Rassen gleich, in Einzelfällen jedoch
kann dem einen eine Tat als sittlich erscheinen, die dem anderen ein
Greuel ist.
Mit den genannten Erscheinungen befaßte sich bisher vor allem
die +Ethik+, während sie neuerdings von manchen Psychologen als
zu ihrem Gebiet gehörig beansprucht werden. Pflichtbewußtsein,
Gewissen und Gewissensbisse, Befriedigung und Reue sind nun
zweifellos seelische Vorkommnisse, über deren Entstehung zunächst
der Psychologe Auskunft geben muß. Aber gehört auch das ganze
System der ethischen Sätze in die Psychologie? Das wird wohl ganz
von dem Ursprung dieser Sätze abhängen. Sind sie in der Hauptsache
von nicht-seelischen Sachverhalten abstrahiert, so fallen sie
außerhalb des Rahmens der Psychologie geradeso wie die Sätze der
Mathematik, der Völkerkunde, des Rechts. Sind sie aber nur aus
dunklen Gefühlen, angeborenen Instinkten und undurchsichtigen
latenten Einstellungen hervorgegangen, dann muß die Psychologie über
jeden einzelnen von ihnen Rechenschaft geben, und die Ethik wäre
höchstens eine Zusatzwissenschaft der Psychologie, die gewissermaßen
das Inventar dieser Sitze aufzunehmen und über die zwischen ihnen
obwaltenden Beziehungen zu spekulieren hätte. Trifft jedoch diese
Auffassung nicht das Richtige, dann hat der Psychologe nur die
allgemeinen Quellen zu bezeichnen, denen die ethischen Einsichten
-- denn das müssen sie in diesem Falle sein -- entspringen, und die
auffallendsten Züge des sittlichen Lebens verständlich zu machen.
Es wäre nun mit keinerlei Tatsachen zu belegen, wollte man das
sittliche Bewußtsein aus einem apriorischen sittlichen Gefühl
ableiten. Gefühle bauen sich ja immer auf Erkenntnisgrundlagen auf.
Schon eher könnte man etwa wegen der bei Tieren zu beobachtenden
Anhänglichkeit zwischen Alten und Jungen an Instinkte denken. Und
zweifellos ist auch die menschliche Eltern- und Kindesliebe von
instinktiven Trieben stark gefördert. Allein der Instinkt -- und
dasselbe gälte von ererbten oder anerzogenen Gewohnheiten und
latenten Einstellungen -- verleiht wohl eine triebhafte Neigung zu
einer bestimmten Verhaltungsweise, sowie eine gewisse Sicherheit
und Gleichförmigkeit in ihr, aber niemals das Bewußtsein der
Verpflichtung. Hingegen lassen sich alle fundamentalen sittlichen
Gebote aus dem gegebenen Sachverhalt der Notwendigkeit zu leben und
leben zu lassen als Beziehungserkenntnisse gewinnen. Aber damit
ist nur der Inhalt dieser Gebote, nicht der Charakter +absoluter
Verbindlichkeit+ gegeben. Dieser erklärt sich hinreichend aus der
allgemein menschlichen Überzeugung von einer übernatürlichen,
göttlichen Macht, deren Werk diese Welt mitsamt der auf ihr lebenden
Menschheit ist, eine persönliche, allwissende Macht, die es nicht
duldet, daß ihr Werk durch einen Frevler ungestraft gefährdet wird.
So ist der tiefste +Grund aller Sittlichkeit+ der absolute Wille zur
Erhaltung der realsten Werte, und die +Erkenntnisquelle+ für die
sittlichen Gebote ist darum keine andere als die von Gott geschaffene
Natur. So erklärt sich die Gleichförmigkeit des sittlichen
Bewußtseins in den Grundanschauungen und die Abweichungen gegenüber
verwickelteren Verhältnissen. Das +Gewissen+ ist dann nichts anderes
als das lebendige Wissen von dem, was sittlich gut ist. Es spielt
dieselbe Rolle wie die Aufgabe im psychologischen Versuch und kann
wie diese bald bewußt, bald dem Bewußtsein entschwunden, bald ganz,
bald teilweise bewußt sein. Die Erscheinungen der Reue und des guten
Gewissens bedürfen von diesem Standpunkt aus keiner besonderen
Erklärung. Das Gefühlsmäßige an der Reue kann allerdings oft höchst
irrational sein. Das wäre nicht recht zu verstehen, wenn das Gefühl
eine unmittelbare Antwort der Seele auf die vorausgehende Einsicht
wäre, begreift sich aber sehr leicht auf Grund der oben dargelegten
Theorie der höheren Gefühle, die der Zufälligkeit der assoziativen
Verkettungen einen beträchtlichen Spielraum zuweist. Darum kann
es einen Menschen bis an sein Lebensende bitter schmerzen, wenn
er sich vielleicht einer durchaus entschuldbaren Härte gegen ein
Tier erinnert, während er schwerwiegender sittlicher Verfehlungen
zwar mit Mißbilligung, doch höchst gelassenen Gemütes gedenkt. Ein
anderes irrationales Moment schleicht sich in unser sittliches
Handeln dadurch ein, daß die Güte oder die Verwerflichkeit einer
Willenshandlung auf die äußere Tat bezogen wird statt auf den inneren
Willensakt. Die äußere Tat wird darum in diesem Falle entweder mit
frommer Scheu beibehalten oder mit heiligem Entsetzen gemieden,
auch wenn sie durch die veränderten Umstände zwecklos oder sittlich
gleichgültig geworden. Dabei trägt außer der falschen Beziehung
des sittlichen Charakters auf die äußere Handlung auch die aus der
Gewöhnung stammende Lust bzw. die mit der Verleugnung einer Gewöhnung
verbundene Unlust ihren Teil der Schuld an der Entstehung eines
sittlich irrationalen Verhaltens.
Literatur
V. +Cathrein+, Moralphilosophie⁵. 1911.
DRITTER ABSCHNITT
Die Kunst
Vorbedingung und Quelle des Kunstschaffens ist der Kunstgenuß. Erst
wenn wir das Schöne und den Genuß des Schönen verstanden haben, können
wir die Frage nach der Entstehung der Kunst aufwerfen.
1. Das Schöne
Die Ansicht, daß es eine absolute Schönheit gebe, findet heute keine
Verteidiger mehr. Das braucht indes niemand zu erschrecken; denn
es handelt sich bei der Aufstellung dieses Satzes nicht darum, die
Welt um einen absoluten Wert ärmer zu machen, sondern um eine ganz
schlichte Bedeutungsanalyse des Wortes „schön“. „Schön“ besagt eben,
wie +Fechner+ richtig betonte, etwas wesentlich Relatives, geradeso wie
„heilsam“. Es war darum den Vertretern der absoluten Schönheit niemals
möglich, diesen Begriff zu bestimmen, ohne die Beziehung auf das
genießende Subjekt heranzuziehen. Wer den Versuch macht, greift gern
nach dem Begriff „vollkommen“, wird aber nicht geneigt sein, etwa eine
vollkommene Kröte schön zu finden. Schön ist also das, was gefällt, was
einen „ästhetischen Eindruck“ hervorruft.
2. Der ästhetische Eindruck
Man ist sich darüber einig, daß das Schönheitserlebnis ein
uninteressiertes Gefallen ist, eine Freude an einem Gegenstand seiner
selbst wegen, die in sich eine gewisse Ruhe findet. Zu weiteren
allgemein anerkannten Bestimmungen ist die psychologische Analyse
nicht vorgedrungen. Versuchen wir tiefer zu graben, indem wir zunächst
die +Gegenstände+ des ästhetischen Genießens aufzählen. Die einfachen
+Empfindungen+ der Farben, Töne, Gerüche können einen ausgesprochenen
Schönheitseindruck hinterlassen, wie man in der Abgeschiedenheit
des psychologischen Versuches immer wieder feststellen kann. Weiter
die +Gestalten+, d. h. aufeinander bezogene anschauliche Inhalte:
Farbenharmonien, Figuren, Rhythmen. Sie bilden die gewöhnliche Quelle
des ästhetischen Genusses, weshalb man oft das anschauliche Moment als
sein wesentliches Bestandstück genannt findet. Aber ist das Gefallen
als solches ein wesentlich anderes, wenn es sich auf Anschauliches,
als wenn es sich auf Unanschauliches bezieht? Mir scheint, die Freude,
die ich an der Eleganz eines wissenschaftlichen Verfahrens erlebe,
ist keine andere als die an der gelungenen Farbenharmonie. Also auch
+unanschauliche Beziehungen+ wie Eleganz und Normgemäßheit können schön
sein. Andere Gegenstände lassen sich nicht aufzeigen.
Es gibt somit keinen spezifisch ästhetischen Reiz, und das
Schönheitserlebnis muß mehr als andere durch das Verhalten
des Erlebenden bedingt sein. Aber dem Tier trauen wir kein
Schönheitserlebnis zu. Liegt das daran, daß das Tier nicht
uneigennützig bei dem Gefallen stehen bleibt, oder daran, daß in
dem ästhetischen Genuß eine Denkleistung verborgen ist, zu der das
Tier unfähig ist? Das Erstere dürfte kaum den Knoten lösen. Ist doch
der Riechgenuß beim Tier wie beim Menschen häufig die Endstation
des Erlebnisses, und daß das Riechen dem Tier lustvoll sein kann,
ist ebenso gewiß wie, daß es dem Menschen ein wirklich ästhetisches
Gefallen zu bereiten vermag. Es muß also ein geistiger Akt im
Schönheitserlebnis stecken. In der Tat finden wir bei ihm eine doppelte
Beziehungserfassung: wir erkennen, daß wir eine Freude erleben (womit
nach unserer Gefühlstheorie eine neue Freude erregt wird, ohne jedoch
einen processus in infinitum einzuleiten), und wir erkennen die Quelle
unserer Freude. Erst diese doppelte Relationserfassung erlaubt es
uns, uns die Beschaffung einer Freude zum Willensziel zu machen und
willkürlich bei der Freude selbst stehen zu bleiben. +Das ästhetische
Erlebnis ist also die bewußt und um ihrer selbst willen genossene
Freude.+ Der Gegenstand, der sie erweckt, ist gleichgültig.
Aber dann wäre auch die Geschmacksfreude und der geschlechtliche
Genuß einzubeziehen? Grundsätzlich könnte man dies einräumen, wären
nicht diese Erlebnisse derart mit Trieben und Reflexen verkoppelt,
daß ein ruhiges Stehenbleiben bei dem Genuß praktisch unmöglich
ist. -- Von dem Standpunkt, den wir gewonnen, ist es nun leicht, zu
heißumstrittenen Fragen Stellung zu nehmen. Auf der +Erlebnisseite+
erweisen sich als +unwesentlich+ die Einfühlung, die Kontemplation,
die innere Nachahmung, die ästhetische Illusion und was man sonst
noch als die Seele des ästhetischen Genusses bezeichnet hat. Ihre
Bedeutsamkeit zur Vervielfältigung des Schönheitseindruckes soll
darum nicht bestritten werden. Mit der +Einfühlung+ denken wir uns
z. B. selbst in die tragende Säule hinein und erleben ein freudiges
Kraftbewußtsein. +Kontemplative+ Wonnen treten hinzu, wenn der schöne
Gegenstand eine Flut von Gedanken anschwellen läßt. Die +innere
Nachahmung+ stellt sich beim Anblick des Diskuswerfers unwillkürlich
ein und reißt uns aus unserer eigenen Welt heraus. Auch die bewußte
+Selbsttäuschung+ erhöht vielleicht hie und da, insbesondere im
Theater, den Genuß. Aber all dies begründet nicht erstmals das
ästhetische Erleben. -- Weiter, bezüglich des +Gegenstandes+ leuchtet
nunmehr ein, daß es keinen Gegenstand gibt, der nicht dann und wann,
für diesen oder jenen den Eindruck des Schönen machen könnte. Denn
einerseits verändert sich die subjektive Verfassung: derselbe Reiz
kann heute lustvoll, morgen unlustbetont sein. Anderseits kommt
uns die Fähigkeit des Abstrahierens zu Hilfe. An jedem Gegenstand
lassen sich gar viele anschauliche Züge und geradezu unzählige
unanschauliche Beziehungen auffinden: unter diesen Momenten wird
wenigstens eines sein, das einen freuen kann. Und dieses eine
kann ich für sich beachten. Darum kann selbst ein Schurkenstreich
durch seine Genialität Gefallen erwecken. Das Auffinden solcher
Beziehungen und ihre Loslösung muß freilich erlernt werden, und
deshalb beobachten wir, daß gewisse ästhetische Genüsse, wie die
Freude an der Landschaft und gar an einer schaurigen Landschaft,
verhältnismäßig spät auftreten. -- Sodann schlichtet sich der Streit
um den +Primat von der Form oder der Idee+. Beide können zu Quellen
der ästhetischen Freude werden. Sie können darum auch einzeln
jedes für sich betont werden; achtet aber der Genießende auf beide
zugleich, so wird ein Mißverhältnis zwischen ihnen Unlust erregen
und darum den ästhetischen Eindruck mindern. Ganz ähnlich ist das
Verhältnis des +direkten+ zu dem +assoziativen Faktor+. Als direkten
Faktor bezeichnet Fechner den unmittelbar gegebenen Reiz, der den
Gefälligkeitseindruck bewirkt, etwa die Melodie; der assoziative
Faktor besteht dann in den Vorstellungen und Gedanken, die durch
die Melodie geweckt werden. Beide tragen zu dem ästhetischen
Gesamteindruck bei und haben darum ihr gutes Recht. Gar manches Lied,
das ohne den assoziativen Faktor uns nicht ansprechen würde, gefällt
wegen der trauten Erinnerungen, die es wachruft. -- Endlich erhellt,
daß an und für sich in +Geschmacksfragen ein objektiv+, d. h.
für den Normalmenschen gültiges +Urteil+ wohl +möglich+ ist. Die
mannigfachen Abweichungen der ästhetischen Urteile rühren teils von
der verschiedenen augenblicklichen Verfassung des Individuums, teils
von der verschieden großen Empfänglichkeit für die anschaulichen
Inhalte, teils von der ungleichen Fähigkeit, Beziehungen an dem
Objekte zu entdecken, teils von der größeren oder geringeren Menge
von Gesichtspunkten, unter denen das Kunstwerk betrachtet wird, teils
-- und das ist die Hauptsache -- von der Verschiedenheit dessen her,
was am Gegenstand ins Auge gefaßt wird: das Ganze oder einzelne
Züge, dieselben oder verschiedene Züge. Je mehr sich zwei Beurteiler
in den genannten Stücken gleichen, um so einstimmiger wird das
Geschmacksurteil ausfallen.
3. Die Entstehung und Entwicklung der Kunst
Es ist eine bedenkliche Einseitigkeit, wenn man die Kunst aus +einem+
bestimmten Lebensbedürfnis, etwa aus der Religion, ableiten will, ein
Irrtum, der aus der unzulänglichen Auffassung des ästhetischen Erlebens
stammt. Es läßt sich vielmehr die Entstehung und Entwicklung der Kunst
in eine einzige +allgemeine Formel+ einkleiden: +der ästhetische Genuß
muß entdeckt und zum Ziel des Wollens gemacht werden+. Der Mensch
mußte also erstens sich über einen Gegenstand freuen; zweitens diese
Tatsache bewußt auffassen; drittens die Bedingungen dieses Erlebnisses
erkennen; viertens diese Bedingungen willkürlich herbeiführen, um
jene Freude wieder zu genießen. Das Grunderlebnis kann nun auf den
allerverschiedensten Gebieten liegen. Eine notwendige Geh- oder
Springbewegung kann ihn die Freude an Bewegungen und Rhythmus und damit
die Anfänge der Tanzkunst entdecken lassen; ein zufälliger Ruf, die
Nachahmung einer Tierstimme kann ihn zur Musik führen; die Abdrücke
eines Korbgeflechtes in der Tonerde, die er vermittels jenes Korbes
zu einem Gefäß zu formen suchte, ließ ihn die Elemente der Ornamentik
finden usf. Je häufiger nun der Mensch solche ästhetische Entdeckungen
machte, um so mehr steigerte sich sein Schönheitssinn. Denn es bilden
sich in der oben (S. 221 f.) beschriebenen Weise Gefühlsdispositionen
für das ästhetische Erleben aus, und es mehren sich die Gesichtspunkte,
welche seine ästhetische Betrachtung leiten und ihn zu häufigerem Genuß
führen. Das Kunstgenießen wie das Kunstschaffen bliebe aber auf einer
kümmerlichen Stufe stehen, wenn der Einfluß der Gesellschaft fehlte.
Wie wenige Bilder würden gemalt, wie wenige Lieder gesungen, wenn es
nur ein einziges Menschenwesen gäbe. Doch abgesehen von der Freude,
die in der Mitteilung des eigenen ästhetischen Genusses liegt, und von
dem Ansporn, der dem Ehrgeiz des Künstlers durch Lob und Tadel zuteil
wird, waren es die verschiedenen Bedürfnisse der Gesellschaft, die zur
Entstehung ausgesprochener Kunstzweige den wirksamsten Anstoß gaben.
Der Aberglaube brauchte Abbildungen von Menschen und Tieren, denen man
durch Bildzauber beizukommen hoffte -- was man dem Bilde zufügte, mußte
der Abgebildete selbst erleiden --, und so entstand die bildende Kunst
als ein besonderer Zweig des Kunstschaffens. Die Gesellschaft brauchte
Wohnhäuser für die Familien und öffentliche Gebäude für die Zwecke
der Gemeinschaft: und so entstand die Baukunst. Und darum gilt ganz
allgemein, daß die Anfänge der Kunst ein mehr soziales Gepräge tragen.
Literatur
G. Th. +Fechner+, Vorschule der Ästhetik. 1876.
O. +Külpe+, Grundlagen der Ästhetik. 1921.
VIERTER ABSCHNITT
Die Religion
Auch auf die Probleme der Religionspsychologie läßt sich heute nur erst
hinweisen. Die allseitige und möglichst exakte Behandlung dieser Fragen
bleibt der Zukunft vorbehalten.
1. Der Gottesglaube
Unterscheiden wir hier den Glauben an eine außerweltliche Macht
von dem an einen persönlichen Gott. Solange man den Problemen der
Denkpsychologie nicht näher nachgespürt hatte, wurde das Gefühl oder
auch die Phantasie für den Ursprung des Gottesglaubens im allgemeinen
verantwortlich gemacht. Wer indes auf dem Boden der Tatsachen bleibt,
begreift alsbald, daß die Überzeugung von einem oder mehreren
jenseitigen Wesen ein Erkenntnisinhalt ist. Erkenntnisse sind aber
niemals unmittelbar aus Gefühlen abzuleiten. Noch weniger ist mit
der Herleitung aus der Phantasie gedient. Ein regelloses, dem Zufall
überlassenes Spiel der anschaulichen Vorstellung -- so und nicht anders
verstand man in diesem Zusammenhang die Phantasie -- ergibt nicht jene
Überzeugungen, die den Grundstock einer jeden Religion ausmachen.
Dagegen zeigt uns die Beobachtung des schlußfolgernden Denkens bei
Zusammenhangsrelationen den geraden und einfachen Weg, auf dem selbst
das primitivste Bewußtsein zu der Annahme überirdischer Mächte gelangen
kann. Die in der sichtbaren Welt immer wieder erlebte Verbindung
eines außergewöhnlichen, nicht mit erkennbarer Regelmäßigkeit
erfolgenden Geschehens mit einer willkürlich handelnden Ursache zwingt
geradezu zu dem Schluß von den außergewöhnlichen Ereignissen, wie
Gewitter, Erdbeben, auf einen (unsichtbaren) Urheber. Wenn nun die
Gesetzmäßigkeiten des Schließens auch schon für den Primitiven gelten
-- und es liegt kein Grund vor, weshalb sie nicht gelten sollen --,
dann muß dieser Unsichtbare die Züge des Menschen tragen. In der Tat
bestätigen die Gebete der niedrigst stehenden sowie der ältesten uns
bekannten Erdbewohner, daß sie den Gottheiten durchaus menschliche
Eigenschaften beilegen. Wenn nun auch dasselbe Denken, das den
Kulturmenschen leitet, den Primitiven zur Annahme göttlicher Mächte
geführt hat, so mag doch das Gefühl, namentlich Furcht und Schrecken
bei erschütternden Naturereignissen, ein gewaltiger Ansporn gewesen
sein, sich mit diesen Urhebern der außergewöhnlichen Vorkommnisse
eingehender zu befassen. Und bei der gedanklichen Ausstattung dieser
höheren Wesen mit Eigenschaften und Erscheinungsformen werden die des
öfteren als Phantasie bezeichneten Funktionen des Bewußtseins ihre
Dienste angeboten haben.
Ob jedoch die sich selbst überlassenen Urmenschen eher auf die
Annahme +eines+ Gottes oder einer Vielheit von Göttern gekommen
wären, läßt sich auf Grund unserer sonstigen psychologischen
Kenntnisse kaum entscheiden. Es könnten für beide Möglichkeiten
einleuchtende Gründe vorgebracht werden. Die Ethnologen entschieden
sich in früheren Jahren zumeist für einen anfänglichen Polytheismus,
der sich dann bei einigen erlesenen Rassen zum Monotheismus
emporgearbeitet habe. Man ging dabei von der Annahme aus, daß die
uns bekannten, schon seit Jahrtausenden auf derselben niederen
Kulturstufe verweilenden Primitiven uns auch ein Bild der Anfänge
der menschlichen Kultur überhaupt zu liefern imstande wären. Diese
schienen nun dem Götzendienst zu huldigen, wenn sie überhaupt von
Religion etwas erkennen ließen. Indes die späteren Forscher, denen
es gelang, das Vertrauen der Eingeborenen zu gewinnen, mußten
feststellen, daß sie niemals religionslos waren und daß bei den
meisten über dem Götterhimmel noch ein höchster Gott thronte, der
Urvater. Er gilt zumeist als der Urheber der Welt und als der Hüter
der sittlichen Ordnung. Sein Bild trägt die würdigsten Züge, die dem
Gottesbegriff der Kulturvölker sehr nahekommen. Darum ist heute die
Theorie des Urmonotheismus wieder zu Ehren gelangt. Einer allseitig
befriedigenden Lösung harrt jedoch noch das Problem, warum die
Urväter in dem offiziellen Kult der Primitiven eine verhältnismäßig
geringe Rolle spielen und weshalb sich der Wilde nur in den
Augenblicken höchster persönlicher Not in spontanem Gebet an sie
wendet.
2. Das Gebet
Aus demselben rationalen Ursprung, dem der Gottesglaube erwächst,
entspringt auch das Gebet. Überzeugt sein von der Existenz eines
überweltlichen höheren Wesens, in dessen Hand man mitsamt der Welt auf
Gnade und Ungnade gegeben ist, und sich bittweise an es wenden, das
sind zwei Dinge, die durchaus logisch zusammenhängen. Das Irrationale
kommt hier wie bei der Sitte erst dadurch hinein, daß die Gebetsweise
sich nicht in gleichem Schritt mit dem Gottesbegriff entwickelt,
sondern wie alles in anschauliche Formen Gekleidete und Fixierte jeder
Abänderung größeren Widerstand entgegensetzt. So glaubt man zwar
allmählich an die Allgegenwart des höchsten Wesens, vermeint aber
mit lautem Rufen wirkungsvoller zu beten. Auch die Zufälligkeiten
der Assoziationen bedingen hier wie beim Denken überhaupt manch
irrationales Moment: der fortgeschrittene Gottesbegriff enthält zwar
das Attribut der Unveränderlichkeit, dem naiven Beter ist es aber oft
so, als müsse er Gott von einem vorgefaßten Entschluß erst abbringen.
Vom Gebet zum +Opfer+ ist nur ein kleiner Schritt, zu dem auch ganz
ähnliche Überlegungen und Affekte vermögen. Hier setzt aber auch der
soziale Faktor ein. Das gemeinsame Anliegen einer Familie eines Stammes
führt zu gemeinsamem Gebet und gemeinsamem Opfer. Damit erhält auch
die gemeinsame Überzeugung einen Ausdruck und eine Festlegung: die
Volksreligion entsteht und wird, wie jede andere Gewohnheit und Sitte,
zur maßgeblichen, die Allgemeinheit bestimmenden und zwingenden Norm,
an der man nicht rühren kann, ohne sich zugleich an den heiligsten
Interessen der Gesamtheit zu vergreifen.
Eine ganz andere Form als dieses jedem Menschen natürliche Bittgebet
samt dem naturgemäß zu ihm gehörenden Lob- und Dankgebet entwickelt
sich aus dem lebendigen Glauben an Gottes Nähe und aus dem lebendigen
Bewußtsein von dem überragenden Werte Gottes: das beschauliche oder
mystische Gebet. Es will uns nicht einleuchten, daß, wie E. +Lehmann+
meint, der Wunsch, an Gottes Kraft teilzuhaben, die Quelle aller
Mystik sei. Eher möchten wir diesen Wunsch und was damit zusammenhängt
als einen minder wertvollen Auswuchs aus der beschaulichen Vereinigung
mit Gott ansehen. Vom rein psychologischen Standpunkt aus ist
die Beschauung das aufmerksame liebevolle Verweilen bei dem als
gegenwärtig geglaubten und oft auch als gegenwärtig erlebten Gott.
Das letztgenannte Phänomen läßt sich in seinen Anfängen mit dem von
+Jaspers+ als +leibhaftige Bewußtheit+ bezeichneten zusammenbringen:
man ist aus irgendwelchen Gründen von der Anwesenheit eines nicht
wahrnehmbaren Wesens überzeugt, vermag es zu lokalisieren und erlebt
dabei die mit jener Lokalisation verbundenen Spannungsempfindungen,
die als solche zumeist nicht erkannt, deren Realität aber häufig für
die Realität der Anwesenheit jener Person genommen wird. Das große
Problem der Beschauung, soweit es überhaupt psychologisch faßbar ist,
ist nun dies: Unter welchen Voraussetzungen vermag der Glaube an die
unmittelbare Gegenwart Gottes die Aufmerksamkeit in dem hohen Grade
zu fesseln, den wir auch bei nichtchristlichen Mystikern feststellen?
Und unter welchen Bedingungen kann das Durchdrungensein von Gottes
Gegenwart die außergewöhnlichen Glückszustände der Beschaulichen, die
oft mit den merkwürdigsten körperlichen Begleiterscheinungen verbunden
sind, hervorrufen? Eine befriedigende, durch Tatsachen begründete
Antwort läßt sich zurzeit noch nicht geben.
3. Religiöse Entwicklungen
An erster Stelle hat die religiöse Entwicklung des Jugendlichen
Beachtung gefunden. Im Zusammenhang mit der Pubertätsperiode setzt
nach den Ermittlungen +Starbucks+ teils ein regeres religiöses
Leben, teils eine Zeit der Zweifel ein. Der Tatbestand ist noch
nicht allseitig und verlässig genug herausgestellt, wenn er auch im
großen und ganzen nicht angezweifelt werden darf. Seine Erklärung
wird sich nicht aus einer einzigen psychologischen Bedingung gewinnen
lassen. Es sind gewiß sehr verwickelte Verhältnisse, bei denen das im
Reifeprozeß lebhafter ansprechende Gefühl eine Hauptrolle spielt.
Ist die Periode des Zweifels ohne Verlust der religiösen Stimmung
überwunden, dann vertieft sich in der Regel die Religiosität mit
zunehmendem Alter. Dabei gehen die Individuen nach verschiedenen
Richtungen auseinander. William +James+ hat zuerst versucht,
+religiöse Typen+ herauszustellen. Er unterscheidet namentlich den
optimistischen und den pessimistischen Typ. Daneben läuft eine andere
Einteilung, die sich durch die religiösen Berufe, namentlich durch
die verschiedenen Orden herausgebildet hat: die beschaulichen, mehr
dem Gebet und der Betrachtung zugewandten und die tätigen Frommen.
Für diese Entwicklung ist erstlich der individuelle Charakter, dann
aber besonders der durch die Umgebung ausgeübte Einfluß maßgebend.
Ein genaueres Studium verlangt noch die Entwicklung zur +Heiligkeit+.
Hier fragt es sich zunächst, welches sind die psychologischen
Vorbedingungen dafür, daß die religiösen Werte bei gewissen Menschen
eine so viel höhere Geltung gewinnen als beim Durchschnitt. Das kann
nicht am Lebensalter, nicht am Geschlecht, nicht am Stand, nicht an
der Umgebung usf. liegen. Es muß also im Heiligen oder, wie man mit
einer weiteren Fassung des Begriffes auch gerne sagt, im religiösen
Genie begründet sein. Auch hier gälte es wieder, nach den Typen
der Heiligkeit und nach ihrem Entwicklungsgang zu forschen. Es
fehlen hier noch die empirischen Untersuchungen, die sich nicht mit
Stichproben und geistreichen Auffassungen genügen lassen, sondern
in unverdrossenem Sammeleifer, hauptsächlich nach den Methoden der
Statistik und der Korrelationsrechnung, wohlbegründete Ergebnisse
anstreben.
Literatur
W. +James+, The varieties of religious experience. 13. Aufl. 1907.
A. +Rademacher+, Das Seelenleben der Heiligen. 1917.
F. +Heiler+, Das Gebet. 2. Aufl. 1920.
V. Buch
AUSNAHMEZUSTÄNDE DER SEELE
ERSTER ABSCHNITT
Der Schlaf
Der Schlaf ist zweifellos in erster Linie ein eigenartiger Zustand
unseres Organismus. Dennoch ist er, abgesehen von den unwesentlichen
sichtbaren Erscheinungen der veränderten Körperhaltung, Augenstellung,
Atmung, Blutverteilung, die wir hier nicht berücksichtigen, uns besser
nach der psychischen als nach der physiologischen Seite bekannt.
Psychologisch erscheint er uns als eine charakteristische Störung,
Herabsetzung und Unterbrechung der uns wohlbekannten Seelentätigkeit
im Wachzustand, und namentlich als eine weitgehende Ausschaltung
der Bewegungsfähigkeit. Der Schlaf wird herbeigeführt durch gewisse
Schlafreize, vorab durch Ermüdung, dann durch Ruhe, Dunkelheit
und gleichförmige Reize. Aber auch der Anblick des hergerichteten
Lagers und der Wille zu schlafen ruft ihn herbei, wie umgekehrt
lebhafte Vorstellungen und die Absicht, wach zu bleiben, den Schlaf
verscheuchen. Nach einer kurzen Spanne der Schläfrigkeit, die bei
manchen Individuen von lebhaften Schlummerbildern erfüllt ist --
traumartige Gebilde, die häufig durch äußere Reize ausgelöst werden
--, überfällt uns der eigentliche Schlaf, ohne daß wir den genauen
Zeitpunkt seines Eintrittes erhaschen könnten.
Man hat den Verlauf des Schlafes, insbesondere seine Tiefe, mittels
verschiedener Methoden bestimmt. So suchte man zunächst nach der
Weckschwelle: wie stark muß der Weckreiz sein, um den Schläfer nach
verschiedenen Schlafzeiten zu wecken? Zweitens fragte man: wie
schreitet die Erholung für verschiedene Arbeiten, wie Addieren,
Auswendiglernen, mit der Länge des Schlafes voran? Endlich prüfte
man verschiedene Funktionen: die Erschlaffung der Muskeln, die
Erregbarkeit für Reflexe. Das Verhalten des Schläfers ist in den
verschiedenen genannten Beziehungen nicht gleich. Hinsichtlich
der Weckschwelle fand man zwei Typen: der Morgenarbeiter versinkt
alsbald (nach etwa einer Stunde) in den tiefsten Schlaf, während
der Abendarbeiter erst nach zwei Stunden oder später die größte
Schlaftiefe erreicht. Die Erholung für leichte Arbeit wird sehr bald
(½ Stunde), für schwere Arbeit erst nach mehreren Stunden gewonnen.
Die Muskelerschlaffung steigt allmählich an und verbleibt in diesem
Zustand bis zum Erwachen. Die Reflexe sind zu Beginn und Ende des
Schlafes unvermindert, in der mittleren Periode hingegen am meisten
herabgesetzt.
Sehr umstritten ist die Frage, ob im Schlafe jemals das Bewußtsein
gänzlich aussetze, mit andern Worten, ob es einen völlig traumlosen
Schlaf gebe. Die meisten Traumforscher sind geneigt, dies
abzulehnen. Wann immer sie sich wecken ließen, vermochten sie
sich an ausführliche Träume zu erinnern; am wenigsten freilich im
Tiefschlaf. Wenn auch diese Beobachtungen größeres Gewicht haben als
z. B. die Aussagen +Lessings+, der von sich behauptete, er träume
nie, so sind sie doch nicht endgültig beweisend für die Frage, ob
niemals wenigstens ein Teil des Schlafes traumlos sei. Denn der
Weckreiz könnte sehr oft die Veranlassung eines Traumes sein, und die
Gewohnheit der systematischen Traumbeobachtung dürfte die Disposition
zum Träumen verstärken. Dagegen läßt die Tatsache, daß der Schlaf das
Bewußtsein um so mehr einschränkt, je tiefer er ist, die Möglichkeit
offen, daß er es in seiner tiefsten Periode ganz ausschaltet.
Eine befriedigende +Theorie des Schlafes+ kann heute noch nicht
entworfen werden. Sie hat namentlich folgende scheinbar sich
widersprechende Tatsachen zu berücksichtigen. Der Schlaf hängt von
psychischen Faktoren ab; denn der Wille zu schlafen ist von sehr großem
Einfluß. Ferner tritt auch ohne körperliche Ermüdung Schlaf ein,
wenn man bei Tieren alle Sinnesreize ausschließt -- etwas Ähnliches
begegnete einem an Anästhesie leidenden Kranken +Strümpells+: er
schlief ein, sobald man ihm seine einzigen Sinnespforten, die Augen,
zuhielt. Andererseits sind die physiologischen Faktoren nicht zu
unterschätzen; denn großhirnlose Tiere, also Tiere ohne Bewußtsein,
wachen und schlafen mit großer Regelmäßigkeit.
Die bisherigen Theorien widersprechen darum auch einander in vielen
Stücken. Manche betonen das Psychische auf Kosten des Physischen,
andere begehen den umgekehrten Fehler. Von den physiologischen
Theorien lassen die einen den Schlaf auf Hyperämie, die andern
auf Anämie, wieder andere auf einer Vergiftung des Gehirnes durch
die Ermüdungsstoffe, andere durch eine Lähmung der Zellen infolge
einer inneren Sekretion beruhen. Großen Anklang fand die Theorie
+Claparèdes+. Der Schlaf ist nach ihm eine positive Leistung
der Seele, und zwar eine Instinkthandlung, mit der sie sich vor
Erschöpfung schützt. Die mannigfachen Ähnlichkeiten, die zwischen dem
Schlaf und den Instinkthandlungen bestehen, sollen diese Auffassung
begründen. Wie der Instinkt, so ist der Schlaf zweckmäßig, ohne
daß wir ihn, zunächst wenigstens, seiner erkannten Zweckmäßigkeit
wegen aufsuchten. Er paßt sich ferner den Umständen an, läßt sich
verschieben, wenn andere lebenswichtige Interessen den Wachzustand
fordern. Allein der bestechende Gedanke hält einer genaueren Prüfung
nicht stand. Der Schlaf hat wohl hinsichtlich seiner Zweckmäßigkeit
mancherlei Ähnlichkeit mit den Instinkthandlungen, indes das trifft
auch auf viele vegetative Vorgänge zu: bei einer Verletzung der
Pflanze werden die Ernährungstätigkeiten zweckmäßig abgeändert, und
alle Teile des Lebewesens steuern zur Heilung des verletzten Gliedes
bei. Verständigerweise wird hier niemand von einem Pflanzeninstinkt
reden; denn es fehlt geradeso wie beim Schlaf das wichtigste Glied
des Vergleiches, die bewußte Tätigkeit. Instinkthandlungen sind
+bewußte Tätigkeiten+. Der Schlaf erscheint uns hingegen durchaus
als ein +Zustand+, nicht als bewußte Tätigkeit. Die Vorbereitungen
zum Schlafen sind allerdings bei vielen Tieren Instinkthandlungen.
Die Instinkttheorie empfiehlt sich auch darum nicht, weil sie jedem
tieferen Eindringen gar zu leicht im Wege steht. Sobald wir einen
Instinkt feststellen müssen, sind wir in der Regel bei einem letzten
Datum angelangt. Fassen wir nun den Schlaf als Instinkt, dann sind
wir nicht wenig geneigt, so eigenartige Tatsachen wie das Erwachen
des Müllers beim Stehenbleiben der Mühle, das Erwachen zu einer
vorausbestimmten Stunde schlechtweg als Leistungen des Instinktes zu
erklären.
Wir ziehen es darum vor, uns mit einer +Rahmentheorie des Schlafes+ zu
begnügen, deren Ausfüllung wir der zukünftigen Forschung überlassen.
Die erste und normale Bedingung für den Eintritt des Schlafes ist die
Ermüdung. Die Natur läßt es aber nicht zu einer völligen Vergiftung
des Gehirnes durch die Ermüdungsstoffe kommen, sondern sobald diese
ein gewisses Quantum erreicht haben, wirken sie als Reiz für einen
+Ausschaltungsmechanismus+, der vor allem den am meisten Energie
verbrauchenden Bewegungsapparat zur Ruhe bringen soll. Die Ausschaltung
entzieht aber überhaupt den höheren Zentren des Nervensystems die zur
normalen Betätigung erforderliche psychophysische Energie, und zwar
um so mehr, je mehr das Individuum gerade schlafbedürftig ist. Der
kleine Rest von psychophysischer Energie, der in den höheren Zentren
verbleibt, reicht aus für das Traumleben, ist aber in der Regel zu
gering, um von den Sinneszentren nach den motorischen überstrahlend
diese wirksam zu erregen.
Den Ausschaltungsmechanismus kann man sich als eine vasomotorische
Erregung denken, die entweder Hyper- oder Anämie herbeiführt; man
kann ihn aber auch in einer inneren Sekretion bestehen lassen.
Damit werden wir den physiologischen Erscheinungen gerecht. Der
Ausschaltungsmechanismus muß aber zweitens derart sein, daß sich
zwischen ihm und den Begleitumständen, in denen er für gewöhnlich
in Tätigkeit versetzt wird, eine Assoziation herausbilden kann.
Eine solche Assoziation entsteht z. B. zwischen dem Erröten und
den Begleitumständen, in denen es erlebt wird. Ebenso zwischen
mancherlei an sich rein physiologisch bedingten Absonderungs- und
Ausscheidungsprozessen und den bewußt gewordenen Begleitumständen.
Da nun der Ausschaltungsmechanismus in der Regel bei Dunkelheit,
in der Nähe der Lagerstätte usf. funktioniert, so bildet sich
zwischen diesen Wahrnehmungen und der genannten Funktion eine
assoziative Verknüpfung, und darum werden wir schläfrig, sobald
wir das aufgedeckte Bett vor uns sehen. In derselben Weise erklärt
sich das Einschlafen der Tiere, deren Sinneswahrnehmungen man
ausschließt. Das Erwachen beruht dann auf dem umgekehrten Prozeß.
Da der Energieverbrauch geringer ist als die Nahrungszufuhr, so
erholt sich das Gehirn; es sammelt psychophysische Energie. Ist sie
hinreichend groß geworden, so vermag die durch einen kleinen Reiz im
Sensorium hervorgerufene psychophysische Erregung die Ausschaltung
zu überwinden, indem sie auf die motorischen Zentren überstrahlt.
Ist das Gehirn jedoch noch wenig erholt, so reicht ein schwacher
Reiz dazu nicht hin, ein starker Reiz hingegen sammelt den trotz
der Ausschaltung im Gehirn verbliebenen Energierest und dringt
mit ihm bis zu den motorischen Zentren vor. Die Intensität eines
Reizes läßt sich nun durch seine Bedeutung oder richtiger durch die
aus der Bedeutung stammenden Dispositionen ersetzen. Hat uns eine
Sache viel beschäftigt, so gehört zu ihr ein Komplex wohlgebahnter
Dispositionen, die eine rasche Sammlung der psychophysischen Energie
und eine leichtere Überleitung in die zugehörigen motorischen Zentren
erlauben. Und darum dürfte die neben dem Kind schlafende Mutter so
schnell erwachen, wenn das Kind nur ein wenig unruhig wird, während
sie weit stärkere Geräusche unbeachtet läßt. -- Das Aufwachen
des Müllers, wenn die Mühle stehen bleibt, und das Erwachen zur
festgesetzten Stunde können wir jedoch erst erklären, wenn wir den
Traum besprochen haben.
Es bleibt noch der Einfluß des Willens auf das Einschlafen und
das Wachsein verständlich zu machen. Doch brauchen wir uns nur an
das zu erinnern, was gelegentlich des assoziativen Äquivalentes
und der äußeren Bewegungen gesagt wurde. Wie dort, so hat der
Wille auch hier keinen unmittelbaren Einfluß. Soll das „ich will
schlafen“ von Erfolg begleitet sein, so muß es sich solchen
Vorstellungen zuwenden, die wie die Begleitumstände des Einschlafens
die physiologische Assoziation zwischen diesen Vorstellungen und
dem Ausschaltmechanismus wirksam werden lassen. Und das „ich will
wachbleiben“ nützt nur dann, wenn es zu Bewußtseinsinhalten führt,
die sehr lebhaft sind und darum vermöge ihrer Ausstrahlung nach den
motorischen Zentren die Wirksamkeit des Ausschaltungsmechanismus
vereiteln.
Literatur
E. +Trömner+, Das Problem des Schlafes. 1912.
ZWEITER ABSCHNITT
Der Traum
Wenn etwas das psychologische Interesse der Menschen wecken konnte,
dann war es der Traum: allen bekannt, jeden dann und wann aufs tiefste
erschütternd und doch für alle ein Rätsel. Die günstigsten Bedingungen
für die Entstehung einer Wissenschaft -- wäre nur das Rätsel nicht
allzu dunkel! So stauten sich die Wogen des wissenschaftlichen
Interesses an diesem Wall, und da sie ihn weder zu übersteigen noch zu
durchbrechen vermochten, nahmen sie ihren Abfluß durch die Niederungen
des Aberglaubens und der Dichtung. Auch heute, wo wir im Begriffe sind,
die Traumrätsel zu lösen, hat sich in der +Freud+schen Traumdeutung
noch einmal die Phantastik ihrer bemächtigt. Doch sprechen wir
zunächst von den Eigentümlichkeiten des Traumes, um uns dann mit den
Erklärungsversuchen zu befassen.
Solange die Psychologen nur Gelegenheitsbeobachtungen über den Traum
sammelten, widersprachen die Angaben vielfach einander. Sobald man
jedoch begann, den Traum systematisch und experimentell zu untersuchen,
d. h. den Schlafenden häufig und zu den verschiedensten Zeiten der
Nacht zu wecken und ferner ihn während des Schlafes mannigfachen Reizen
auszusetzen, stimmten die Ergebnisse untereinander und auch mit den
älteren Gelegenheitsbeobachtungen überein. Der Traum zeigt nämlich in
der Tat die verschiedensten Seiten, je nach den obwaltenden Umständen,
und der Fehler der älteren Forscher hatte, wie so oft, darin bestanden,
daß sie ihre vereinzelten, nur unter bestimmten Bedingungen gültigen
Beobachtungen ohne weiteres verallgemeinerten.
Der Traum ist, im +allgemeinen+ besehen, zunächst das Urbild der
Regellosigkeit und des unvermittelten Wechsels. Die Szenerien
wechseln bisweilen ebenso schroff wie im Kino. Die Märchenforscher
haben nicht mit Unrecht auf die Verwandtschaft zwischen Traum und
Märchen in diesem Punkte hingewiesen. Die Leitung des Traumes durch
eine Aufgabe fehlt nach den Beobachtungen +Hackers+ ganz, kommt
jedoch nach denen +Köhlers+ bisweilen vor, ein Widerspruch, der sich
ausgleicht, wenn man beachtet, daß Hacker einen beträchtlich tieferen
Schlaf hatte als Köhler. Von manchen Träumen wird berichtet, daß sie
unglaublich schnell verlaufen sein müssen. So träumte +Weygandt+
von einem Spaziergang am Sonntag Morgen, einem Besuch auf dem
Friedhof an einer Kirche, dem sinnigen Betrachten dieser Kirche und
des Kirchturmes, dessen Glocke mit einemmal zu läuten beginnt. Der
Träumer erwacht und hört seinen Wecker läuten. Die näheren Umstände
machten es sehr wahrscheinlich, daß der ganze Traum von dem Läuten
des Weckers ausgelöst worden. Daneben, nicht dagegen, stehen andere
Beobachtungen, nach denen der Traum nicht schneller abläuft, als
unsere gewöhnlichen Vorstellungen. Im allgemeinen herrschen die
„dummen“ Träume vor, doch berichtet man auch von außerordentlichen
intellektuellen Leistungen des Traumes.
Etwas eingehender hat man sich mit den +Traumelementen+ befaßt.
Unter den Vorstellungen sind die optischen am häufigsten vertreten;
doch stehen nicht allen Träumern bunte Farbenvorstellungen zu
Gebote. Weit seltener als optische und akustische Vorstellungen
sind die kinästhetischen und taktilen, am seltensten die von Geruch
und Geschmack. Die Vorstellungen haben zumeist halluzinatorischen
Charakter. Die Forscher streiten aber darüber, ob sie die
Empfindungen des Wachzustandes an Intensität übertreffen. Die
Rolle der Gedanken im Traum ist in einer kurzen Formulierung nicht
anzugeben. Es kommen sämtliche Denkfunktionen im Traum vor, sogar
ein sorgfältiges und richtiges Überlegen. Mir kam inmitten eines
ganz andersartigen Traumes einmal die Sorge, ob ich am Vortag einer
gewissen Verpflichtung nachgekommen sei. Da erinnerte ich mich
während des Traumzustandes, daß ich an einem bestimmten Ort mit
einem bestimmten Bekannten zusammentraf, als ich mich anschickte,
jener Verpflichtung zu genügen; es fiel mir weiter ein, wie ich sie
dann wirklich zu Ende geführt hatte, und dabei beruhigte ich mich.
Anderseits ist der Traum oft unglaublich töricht. Der Träumer nimmt
mit der Urteilslosigkeit eines Geisteskranken die ungereimtesten
Dinge für bare Münze hin, ängstigt oder freut sich ihretwegen. Es
ist aber eine feine Beobachtung und ein Fingerzeig zur Lösung des
ganzen Problems, wenn ein Traumforscher bemerkt, wir seien nur für
den Traumanfang, nicht aber für das neu Hinzukommende kritiklos.
Das Regiment scheinen im Traumablauf nicht die Gedanken, sondern
die assoziativen Faktoren zu haben; denn man kann bisweilen die
Wendepunkte des Traumes herausheben und erhält dann eine Reihe
rein äußerlicher oder einfacher Klangassoziationen, ähnlich der
Gedankenkette eines Ideenflüchtigen. Hinwiederum sind aber auch
oft die Gedanken an dem Auftauchen der Traumvorstellungen schuld.
Mir träumte jüngst, ich blute im Bette liegend aus der Nase. Ich
spürte nur das Fließen, sah aber nichts, denn ich lag im Dunkeln.
Da regte sich der Zweifel, ob es denn wirklich Nasenbluten sei, und
alsbald sah ich auf dem weißen Kopfkissen eine gewaltige Blutlache
und stellte mit Bedauern die Tatsächlichkeit des Nasenblutens fest.
Sehr merkwürdig verhält sich das Bedeutungsbewußtsein: bald ist es
vorhanden, bald fehlt es. Man glaubt bisweilen zu lesen oder gar mit
einer andern Person in einer fremden Sprache geläufig zu sprechen,
oft mit sichtlicher Befriedigung, während man selbst jene Sprache
nur kümmerlich meistern, jene andere Person, deren Leistungen ja
gleichfalls auf unser Konto zu setzen sind, sie überhaupt nicht
verwenden kann. Hier hängt sich an irgendwelchen Wortsalat die
Bedeutung einer fremden Sprache.
Die +Gefühle+ sind im allgemeinen schwächer als in der Wirklichkeit.
Doch sind auch hier auffällige Ausnahmen zu melden. Arg trockene
Gesellen können im Traum in Tränen zerfließen und Zustände der
Rührseligkeit erleben, deren sie sich im Wachzustande nicht wenig
schämen würden. In derselben gegensätzlichen Weise zeigt sich der
Wille manchmal wie ohnmächtig und läßt Taten geschehen, die er im
Wachzustande niemals verantworten möchte, während er in andern Fällen
sich energisch gegen solche Dinge sträuben kann. Die Beweglichkeit
ist herabgesetzt. Die Träume im Tiefschlaf lassen uns überhaupt nicht
handelnd, sondern nur sehend auftreten. Im leichteren Schlaf glauben
wir fälschlich, unsere Glieder zu bewegen, und nur der eigenartige
als Somnambulismus bekannte Traumzustand erlaubt es dem Träumer,
gewisse Bewegungen auch wirklich auszuführen.
Sehr rätselhaft ist die Auswahl des +Traumgegenstandes+. Die
Ereignisse des Vortages scheinen bevorzugt zu sein. Doch nicht die
bedeutsamen: man träumt nicht von dem, wovon man gern träumen möchte.
Befindet sich der Schlafende an einem neuen Aufenthaltsort, so sollen
die Erlebnisse an jenem neuen Ort erst später im Traum auftauchen.
Außerdem liegt nach +Hacker+ der Trauminhalt um so weiter zurück,
je tiefer der Schlaf ist. Lange Zeit meinte man, alle Träume seien
durch einen zufälligen Reiz verursacht, dem der Schlafende gerade
unterliegt. In der Tat konnte man den Traum experimentell durch
solche Reize beeinflussen. Ist z. B. die Fußsohle unempfindlich
geworden, so meint der Träumende, er schwebe. Ebenso schließen
sich an gewisse Organempfindungen wie bei Atemnot, Herzbeklemmung
charakteristische Träume an. Dennoch sind nicht alle Träume
Reizträume. Sehr viele sind Erinnerungsträume, die sich durch die
zufälligen und einförmigen Reize nicht erklären lassen.
Wie soll man nun dieses vielgestaltige, widerspruchsvolle Erlebnis,
das wir Traum nennen, auffassen? Ähnlich wie +Claparède+ den Schlaf,
denkt sich +Freud+ den Traum als eine positive Leistung, und zwar des
Unterbewußten. Im Unterbewußten schlummern die Wünsche, denen der
Wachende zumeist aus sittlicher Scheu kein Gehör schenken durfte. Sie
verlangen nach Erfüllung. Darum schickt sie das Unterbewußte während
des Schlafes herauf ins Bewußtsein. Allein vor der Schwelle des
Bewußtseins da waltet die Zensur. Die würde diese Wünsche in ihrer
unverfälschten Natur die Schwelle des Bewußtseins nicht überschreiten
lassen; sie sind ja zumeist sexueller Art. Darum verkleidet das
Unterbewußtsein die Wünsche in symbolische Formen und täuscht so die
Zensur. Und darum ist jeder Traum symbolisch zu verstehen, und jeder
Traum ist eine Wunscherfüllung; in der Regel die Erfüllung eines
erotischen Wunsches aus der Kinderzeit. Diese Begriffsdichtung einer
ausschweifenden Phantasie hat in psychologisch ungeschulten Kreisen
eine ganz außergewöhnliche Verbreitung gefunden. Da sie frei ersonnen
ist, brauchen wir sie nicht besonders zu widerlegen. Doch mag sie uns
auf einige Umstände aufmerksam machen, denen auch unsere Traumtheorie
genügen muß.
Unsere +Traumtheorie+ läßt sich mit einem Satze aussprechen. Der
Traum ist Phantasietätigkeit in dem oben (S. 258) von uns dargelegten
Sinne, die sich jedoch unter den besonderen Bedingungen des Schlafens
abspielt, nämlich unter der Wirkung des Ausschaltungsmechanismus mit
seiner Absperrung des motorischen Apparates und seiner Verminderung
der psychophysischen Energie im Zentralnervensystem. Daraus lassen
sich alle festgestellten Erscheinungen mitsamt ihren scheinbaren
Widersprüchen ableiten.
Die Regellosigkeit und den unvermittelten Wechsel hat der Traum mit
der Phantasie gemein. Nur sind beide noch bedeutend erhöht, weil
das Versagen der psychophysischen Energie die längere Verfolgung
eines Motives unmöglich macht: ein äußerer Reiz mag das bißchen
Energie auf eine andere Bahn lenken, und das ganze Traumbild
ist zerstört. Im allgemeinen steht die Phantasietätigkeit nicht
unter der Leitung einer Aufgabe, streckenweise und vorübergehend
nimmt sie jedoch Aufgaben in ihren Spielplan auf. Darum finden
wir die Aufgaben gelegentlich im leichteren Schlaf, während sie
im tieferen, wo dem Zentralorgan nur ganz wenig Energie geblieben
ist, nicht aufkommen können. Die fabelhafte Schnelligkeit mancher
Träume gewinnt durch Berücksichtigung folgender zwei Umstände an
Wahrscheinlichkeit. Zunächst ziehen die Vorstellungen nicht immer im
Gänsemarsch durchs Bewußtsein, sondern es kann ein ganzer Komplex
mehr oder weniger gleichzeitig lebendig werden (S. 172 ff.). Sodann
sahen wir, daß Relationserfassungen erstehen können, noch bevor die
zugehörigen Fundamente klar ins Bewußtsein getreten sind. Wenn nun
etwa die Weckuhr ertönt, so kann zwischen diesem Reiz und einer in
Bereitschaft stehenden Vorstellung eine Beziehung hergestellt werden,
die für die Aktualisierung eines ganzen Komplexes richtunggebend
wird. Steht nun der Komplex mit seinen verschiedenen Einzelheiten
im Bewußtsein, so braucht nur die Aufmerksamkeit darüber zu gleiten
wie das Auge über ein Rundgemälde, und wir haben den komplizierten,
aber auffallend schnellen Traum. Daneben bleibt die normale
Traumgeschwindigkeit von dem Tempo unserer Phantasien ruhig bestehen.
Noch weniger Schwierigkeiten bereitet die Erklärung der im Traum
festgestellten +Elemente+. Die relative Häufigkeit der verschiedenen
Sinnesqualitäten dürfte mit deren Auftreten beim Phantasieren
übereinstimmen. Ihr halluzinatorischer Charakter ergibt sich aus
dem, was wir über das Verhältnis von Wahrnehmung und Vorstellung
ausgeführt haben (S. 102 ff.). Die Traumwelt ist eben die einzige,
die sich uns auftut. Wegen der geringen, dem Zentralorgan belassenen
Energie werden jene zahlreichen Begleitvorstellungen, auf die
sich der absolute Eindruck des Unwirklichen stützen könnte, nicht
lebendig. Aber diese Reproduktionsschwäche ist keine absolute;
sie ist bald größer, bald geringer. Darum regen sich bisweilen
doch Zweifel an der Echtheit des Wahrnehmungscharakters der
Traumerlebnisse. -- Die außergewöhnliche Empfindungsintensität, von
der hie und da berichtet wird, erlaubt verschiedene Erklärungen.
Manchmal, doch selten, mögen außergewöhnlich starke Erregungen
einzelner Teile des Nervensystems vorliegen. Sehr oft wird die
scheinbare Intensität ähnlich wie die Sehgröße (S. 110 ff.) und die
Schallstärke (S. 115 f.) auf die apperzipierenden Vorstellungen
zurückzuführen sein. Endlich kann der Bericht von abnormen
Intensitäten auf einer falschen Beurteilung beruhen, sei es, weil
die Vergleichsreize fehlten, sei es, weil man die Intensität des
Eindrucks nach dessen Wirkung oder dessen Begleiterscheinungen, dem
Erschrecken u. ä. bemaß.
Daß wir im Traum alle +Denkfunktionen+ betätigen, ergibt sich
nach unserer Theorie von selbst, ebenso wie die Behinderung
dieser Tätigkeiten durch den Ausfall und das Versagen der
zu ihnen erforderlichen Reproduktionen. Letztere erklären
auch die Urteilslosigkeit im Traum, die wir schon bei dem
Wirklichkeitscharakter des Traumbildes besprachen. Aus unserer
Auffassung folgt aber auch notwendig die oben angeführte Beobachtung,
daß wir zumeist nur gegenüber dem Traumanfang, nicht gegenüber
dem zum Traumbild Hinzukommenden kritiklos seien. Sodann ist es
nicht zu verwundern, daß der Traumablauf der Vorstellungsfolge bei
Ideenflüchtigen noch näher steht als die Phantasie im Wachzustand.
Die Assoziationen sind vielfach ausschlaggebend, was indes einer
streckenweisen Leitung durch Gedanken nicht im Wege steht: der
auftauchende Gedanke wird eine neue Szene herbeiführen, falls der
psychophysische Apparat ihn nicht im Stiche läßt. Die Leitung des
Vorstellungsverlaufes durch die Gedanken dürfte übrigens in sehr
vielen Fällen an dem unvermittelten Szenenwechsel schuld sein. Das
merkwürdige Verhalten des Bedeutungsbewußtseins darf nach der oben
(S. 181 f.) dargelegten Anschauung nicht befremden. Die Bedeutung
besteht in einem Wissen von Beziehungen, das assoziativ angeschlossen
ist einerseits an den Gegenstand, anderseits an dessen Bezeichnung.
Wie beim Verkennen eines Gegenstandes im wachen Zustande, so wird
auch im Traum das Bedeutungsbewußtsein lebendig, wenn nur ein Teil,
nur ein Zug des ihm zugehörigen Gegenstandes wahrgenommen wird: ein
auf dem Wege liegender gebogener Zweig wird aus der Ferne für eine
Schlange gehalten.
Wenn unsere Theorie der höheren +Gefühle+ richtig ist (S. 214 f.),
müssen sie im Traum wegen der allgemeinen Reproduktionsschwäche
sehr mäßig sein, bisweilen sogar gänzlich ausfallen. Insofern sie
aber auf einer gleichzeitigen Organempfindung beruhen, die, wie
Atembeschwerden, Herzbeklemmung u. ä. m., durch einen zufälligen
Reiz hervorgerufen werden und wegen des Schlafzustandes nicht
zu beseitigen sind, müssen sie das gewohnte Durchschnittsmaß
überschreiten. Der Wille endlich benimmt sich im Traum geradeso wie
in der Phantasietätigkeit. Er wendet sich dem ihm Angenehmen zu und
bedingt durch diese Zuwendung eine Entwicklung der Vorstellungen
in der betreffenden Richtung, wenn anders die zu Gebote stehende
psychophysische Energie es zuläßt. Er vermag sogar zwischen zwei
Möglichkeiten zu wählen. Aber von einer verantwortlichen Wahl kann
keine Rede sein, weil ihm wegen der beschränkten Reproduktion nur ein
Teil der Motive vorgeführt wird. Eine Willenslähmung braucht man hier
nicht anzunehmen. Der Wille funktioniert ganz intakt, nur gleicht er
einem Feldherrn mit unzulänglichen Truppenmassen und mangelhaftem
Meldedienst. So und nicht anders ist auch die Bewegungslosigkeit im
Schlaf und Traum zu verstehen. Der Wille tut das Seinige. Allein der
Zugang zum motorischen Apparat ist versperrt. Nur wenn ein partieller
Defekt in dem Ausschaltungsmechanismus vorhanden ist, gelingen
größere Bewegungen, und wir haben den Somnambulen vor uns.
Die +Auswahl des Traumgegenstandes+ bereitet in unserer Auffassung
auch keine besonderen Schwierigkeiten mehr. Nach dem, was wir über
die Assoziationen wissen, können die bedeutsamen Ereignisse des
Vortages für gewöhnlich nicht den Traumgegenstand abgeben. Läßt
man nämlich Vpn (Kinder) eindrucksvolle Erlebnisse durchmachen
und bietet ihnen am folgenden Tag im Assoziationsversuch unter
indifferenten auch auf diese Erlebnisse bezügliche Reizwörter, so
werden sie fast gar nicht mit Wörtern reagieren, die sich auf jene
Erlebnisse beziehen (H. +Saedler+). Die neuen Erlebnisse bilden eben
abgeschlossene Komplexe für sich, von denen noch keine gangbaren
Bahnen zu jenen Reizwörtern führen. Aus demselben Grunde werden die
bedeutsameren zu einem Komplex zusammengeschlossenen Ereignisse des
Vortages im Traum nicht reproduziert werden können, falls nicht
außergewöhnliche Perseverationserscheinungen auftreten. Da ferner
unter sonst gleichen Verhältnissen die älteren Assoziationen vor
den jüngeren begünstigt sind (S. 168), so werden im allgemeinen im
tieferen Schlaf die älteren Erlebnisse auftauchen.
Aus dem Gesagten erhellt auch, welche Grundgedanken der
Psychoanalytiker richtig sind: Der Traum läßt unter Umständen
körperliche Dispositionen, auch Krankheiten erkennen. Er verrät, welche
Vorstellungen ein gewisses Übergewicht in dem Bewußtsein haben und zu
welchen Dingen eine spontane Willensneigung besteht. Bisweilen greift
er auch in die Kindheit zurück; ist manchmal der Ausdruck eines gerade
herrschenden Wunsches; findet hie und da auf dem Wege der Assoziation
Vorstellungen, die dem augenblicklichen Zustand analog sind: so wenn
der an Herzbeschwerden Leidende träumt, in einer unangenehmen Lage
zu sein. Aber die ganze Phantastik der willkürlichen symbolischen
Ausdeutung des Trauminhaltes auf sexuelle oder andere Wünsche, die
Auffassung eines jeden Traumes als die Erfüllung eines Wunsches usw.
entbehrt jeder wissenschaftlichen Begründung.
Endlich können wir auch an das Problem des infolge des Stillstehens
der Mühle erwachenden Müllers und des Erwachens zur vorgenommenen
Stunde herantreten. Beides wird im Tiefschlaf wohl nicht vorkommen.
Im leichteren Schlaf aber wird, wie so manches andere, auch das
Aufhören des Mühlengeräusches samt den Übergangsempfindungen, die es
begleiten, wahrgenommen. Aber das Stehenbleiben einer Pendeluhr im
Schlafzimmer hat keine Bedeutung für den Müller; es schließt sich
darum auch kein Vorsatz an diese Wahrnehmung, und wenn er vielleicht
auftauchte, so fehlte ihm die Kraft, den Ausschaltungsmechanismus
zu überwinden. Anders der Vorsatz, nach dem Rechten zu schauen,
wenn das Mühlengeklapper verstummt. Die Bedeutung der Sache und die
Gewohnheit, in diesem Falle tätig einzugreifen, haben bevorzugte
Dispositionen geschaffen. Dem Traumwillen, hier etwas zu tun, stellt
sich darum die genügende Energiemenge zur Verfügung und strahlt
in die motorischen Zentren über: der Schlafende öffnet die Augen.
Ähnlich steht es mit dem Erwachen zur festgesetzten Stunde. Daß
dieser Vorsatz einen unruhigen Schlaf verursachen kann, in dem man
des öfteren nach der Uhr schaut, bedürfte keiner Erklärung. Wenn
man aber nach einem verhältnismäßig ruhigen Schlaf nur einmal und
gerade zur rechten Zeit erwacht, dann müssen Anhaltspunkte vorhanden
sein, die im Traum erkannt werden und zum Erwachen führen. Als
solche Anhaltspunkte könnte eine gewisse Helligkeit, ein Uhrschlag,
vielleicht sogar ein gewisses körperliches Befinden dienen.
Literatur
Fr. +Hacker+, Systematische Traumbeobachtungen. APs 21 (1911).
M. +Vold+, Über den Traum. 2 Bde. 1910-1912.
DRITTER ABSCHNITT
Die Hypnose
Den hypnotischen Zustand führte man früher durch mancherlei äußere
Manipulationen, durch Bestreichen mit Magneten u. ä. herbei. Später
ließ man glänzende Gegenstände längere Zeit fixieren, bis man endlich
erkannte, daß die Wirksamkeit all dieser Mittel nur daher stammte,
daß man dem Individuum die Überzeugung beibrachte, es werde dem
hypnotischen Schlaf verfallen. Deshalb bemüht man sich heute direkt,
diese Überzeugung in dem Patienten hervorzurufen und bedient sich
der äußerlichen Mittel nur, um die Entstehung dieser Überzeugung zu
begünstigen.
Der Hypnotisierte steht dann unter dem Banne des Hypnotiseurs.
Bringt dieser die Glieder der Vp in die verdrehtesten Stellungen
und erklärt, sie seien gelähmt, so kann sie der Hypnotisierte nicht
mehr in ihre natürliche Lage zurückbewegen. Man reicht ihm eine rohe
Kartoffel, bezeichnet sie als einen Apfel, und er verspeist die
Kartoffel mit sichtlichem Genuß. Gegen Schmerzen kann er unempfindlich
gemacht werden, die vor ihm stehenden Dinge kann man seinen Blicken
entziehen. Innerhalb der Hypnose erinnert er sich unter Umständen
leichter und getreuer an frühere Erlebnisse. An die Vorgänge in der
Hypnose selbst hat er jedoch nach dem Erwachen keine Erinnerung.
Die Verstandestätigkeit ist erhalten, aber ähnlich wie im Traum
beschränkt. Der Wille ist bis zu einem gewissen Grade in die Hand des
Hypnotiseurs gegeben. Man hat heftig über die Frage gestritten, ob
der Hypnotisierte auch zu Verbrechen benützt werden könnte, die er im
Wachzustande ganz und gar verabscheuen würde. Heute wird man mit +Moll+
sagen können: je mehr eine Handlung dem Charakter der Vp widerstrebt,
um so mehr wird diese sich gegen die Ausführung sträuben und unter
Umständen infolge dieses Sträubens aus der Hypnose erwachen. Die
verschiedenen Individuen verhalten sich hierin verschieden, und zwar
ist die Abhängigkeit vom Hypnotiseur um so größer, je häufiger jemand
hypnotisiert wurde. Französische Psychiater haben früher eine ganze
Reihe von Stufen der Hypnose unterschieden. Es waren das aber, wie sich
später herausstellte, nur Kunstprodukte, die sie, ohne es zu wollen,
durch ihre Suggestionen hervorgerufen hatten. A. +Forel+ nennt heute
drei Stufen: die Somnolenz, die durch Schlaffheit und angenehme Ruhe
gekennzeichnet wird, die Hypotaxie, bei der die Vp sich den Befehlen
des Hypnotisators fügt, und den Somnambulismus oder den tiefen Schlaf,
der mit Erinnerungslosigkeit verbunden ist. Sehr geheimnisvoll muten
die posthypnotischen Suggestionen oder Termineingebungen an: der Vp
wird in der Hypnose ein Auftrag erteilt, den sie nach dem Erwachen
auszuführen hat, bisweilen mit Angabe eines entfernten Termines, nach
so und so viel Stunden oder Tagen. Ist der Augenblick gekommen, dann
schickt sich die Vp an, den Auftrag zu erledigen, ohne sich an die
frühere Hypnose zu erinnern; sie glaubt vielmehr aus eigenem Antrieb zu
handeln.
Um ein wenig hinter die Geheimnisse der Hypnose zu kommen, muß man
die Einschläferung der Vp und die infolge dieser Einschläferung
entstehende Befehlsautomatie auseinanderhalten. Die Einschläferung
ist eine eigenartige Einwirkung auf die noch wachende Vp, sie ist
darum der +Wachsuggestion+ gleichzusetzen. Mit ihr haben wir uns
zunächst zu befassen. Die Verkennung des namhaften Unterschiedes
zwischen Denken und anschaulichem Vorstellen ließ keine rechte
Klarheit in dieser Frage aufkommen. Wenn ich jemandem suggeriere:
dort auf dem Boden liegt eine Münze, und der Betreffende daraufhin
eine Münze sieht und sie mir im einzelnen beschreibt, so liegen
da zwei ganz verschiedene Prozesse vor: die Überzeugung von dem
Vorhandensein der Münze und deren anschauliche Vorstellung. Beide
können unabhängig voneinander erzeugt werden. Ein Individuum
von scharfen Sinnen, aber schwacher Vorstellungsbegabung oder
abgelenkter Einstellung, wird vielleicht meinen Worten glauben,
weil es gar keinen Grund hat, an ihnen zu zweifeln, wird aber
antworten: ich kann sie nicht entdecken. Anderseits kann ich die
Vorstellungskonstellation einer Vp wenigstens grundsätzlich so
leiten, daß sie, wenn ich sie später auf einen Gegenstand hinweise
und sie ohne jede Suggestion befrage: was sehen Sie dort? antwortet:
eine Münze. Die Erzeugung einer nur subjektiv bedingten Vorstellung
ist also etwas anderes als die Suggestion. Erstere ist prinzipiell
auch bei einem Tiere möglich, letztere nicht. +Die Suggestion
setzt stets eine Einsicht voraus+: einmal, weil sie dem Subjekt
einen Sachverhalt beibringt, der, wie oben gezeigt wurde, nur
mittels des Denkens zu erfassen ist; zweitens, weil sie zu einer
nicht einfachhin unbegründeten Überzeugung führt. Die suggestiv
beeinflußte Person stützt sich zum wenigsten auf die Autorität des
Sprechenden. Die Suggestion wird darum begünstigt durch alles,
was die Autorität des Suggerierenden erhöht, sowie durch alles,
was eine kritische Haltung der Vp ausschließt. Darum sind Kinder,
Frauen und Ungebildete leichter suggestiv zu behandeln als an
kritisches Denken gewöhnte Erwachsene. Die bekannte Definition
der Suggestion als der Einführung einer kritiklos aufgenommenen
Vorstellung, die sich unbehindert auswirken kann, legt darum eine
irrige Anschauung nahe. Es handelt sich nicht um die Erzeugung von
Vorstellungen, sondern um die von Gedanken, von Überzeugungen,
allerdings unter Ausschaltung der Kritik. Der suggerierte Inhalt
lebt sich sodann nicht, einem eingeführten Bazillus vergleichbar,
automatisch aus, sondern das Individuum benimmt sich ganz rational
der erworbenen Überzeugung gemäß. Dabei unterstützen sich Überzeugung
und anschauliche Vorstellung gegenseitig. Die Überzeugung von dem
Vorhandensein einer Münze veranlaßt das illusionsartige Auftreten der
anschaulichen Vorstellung der Münze, und dies hinwiederum bekräftigt
die Überzeugung.
Anders ist wohl folgende Suggestionswirkung zu verstehen. Der Arzt
hebt den Arm eines Kranken hoch mit den Worten: Ihr Arm ist ja
gelähmt, und der Kranke vermag den Arm nicht mehr herabzulassen. Hier
wird auch eine Überzeugung in dem Patienten geweckt. Indes nach all
unserem Wissen hat eine Überzeugung keinen unmittelbaren Einfluß auf
das Können oder Nichtkönnen. Hier haben wir es wohl mit einer Störung
des assoziativen Ablaufes zu tun. Auch die best erlernte Reihe kann
durch eine gründliche Ablenkung gestört werden: Der Geistliche,
der sein Vaterunser schon tausendemal für sich und hundertemal
laut vor der Gemeinde gebetet hat, wird stecken bleiben, wenn ihm
während des Betens ernsthaft die Sorge kommt, ob er die Worte wohl
richtig aufsagen werde. Die intensive Ablenkung der Aufmerksamkeit,
namentlich wenn sie mit stärkeren Gefühlen verbunden ist, leitet
die psychophysische Energie, so müssen wir es uns im Einklang mit
allem Früheren denken, von den betreffenden Vorstellungsbahnen ab
und sammelt sie auf einen anderen Punkt. Der Glaube an die Worte des
Arztes, verbunden mit dem nicht geringen Schreck, läßt den Patienten
seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Mitteilung richten und entzieht
ihm die zur Armbewegung benötigte psychophysische Energie.
Die Einleitung der Hypnose bedient sich nun zunächst der eigentlichen
Suggestion: Sie werden müde werden und einschlafen. Dann sucht sie
aber auch die zum Schlafkomplex gehörigen anschaulichen Vorstellungen
zu wecken: die Vp muß sich bequem hinlegen; sie muß die hochgehaltenen
Finger des Hypnotiseurs fixieren und dadurch ihre Augenmuskeln ermüden;
sie folgt dann den unbemerkt sich senkenden Fingern mit den Augen,
wodurch ein Zufallen der Augenlider aus Schläfrigkeit vorgetäuscht und
andere zum Einschlafen gehörige Vorstellungen reproduziert werden.
Dies alles stärkt natürlich die Überzeugung von der suggestiven Macht
des Hypnotisators. Ganz ähnlich wie der Mittagsschlaf gelingt auch der
hypnotische nach mehreren Wiederholungen besser. Die Erscheinungen
im hypnotischen Schlaf werden nun im wesentlichen begreiflich,
wenn wir uns ihre Bedingungen vergegenwärtigen. +Die Hypnose ist
ein Schlafzustand.+ Es gilt also alles, was über Schlaf und Traum
gesagt wurde. Sie ist jedoch kein voller aus der Ermüdung stammender
Schlaf, sondern ein +assoziativ herbeigeführter+. Somit wird dem
Zentralorgan nur ein Teil seiner Energie entzogen, und die Ausschaltung
des motorischen Apparates ist keine vollständige. Weiterhin ist es
ein Schlaf, in welchem die Bewußtseinsinhalte einer +systematischen
Leitung von außen+ unterliegen. Und endlich ein Zustand, bei dem die
+Suggestion+ im eigentlichen Sinne wirksam bleibt. Vielleicht ist
es gerade aus dem letztgenannten Grunde so wichtig, daß die Hypnose
nicht durch irgendwelche Einschläferungsmittel, sondern durch die
Einsicht der Vp, daß sie einschlafen werde, eingeleitet wird. Aus den
aufgezählten Bedingungen wird man nun die verschiedenen Erscheinungen
der Hypnose ohne Schwierigkeit ableiten können. Nur auf einzelne Fragen
sei noch kurz eingegangen.
Es schien, als ob die Vpn auch gegen ihren Willen hypnotisierbar
seien; denn trotz ihres entschiedenen Widerwillens verfielen sie dem
hypnotischen Schlaf. Erinnern wir uns an die Ausführungen über das
assoziative Äquivalent, so wird uns weder diese Tatsache noch die
entgegengesetzte Behauptung wundernehmen. Das bloße „ich will nicht“
nützt eben nichts, wenn nicht auch die Verhaltungsweise bereit steht,
durch die es in die Tat umgesetzt wird. Wer nicht hypnotisiert sein
will, muß eben ein Verhalten annehmen, das der Einschläferung durch
einen fremden Willen widerstreitet: er darf nicht an die Versicherung
des Hypnotisators, er, der Patient, werde bald einschlafen, glauben
und darf jene seelische und körperliche Haltung nicht annehmen, die
man zum Zwecke des Einschlafens aufsucht. Daran lassen es solche
fehlen, die gegen ihren Willen hypnotisiert werden. Eine eigentliche
Willenslähmung in der Hypnose selbst brauchen wir ebensowenig
anzusetzen wie beim Traum. Nur sind ähnlich wie dort die zu einer
besonnenen Wahl erforderlichen Reproduktionen eingeengt. Auch die
posthypnotischen Suggestionen lassen die Willenskraft des Individuums
unangetastet. In der Hypnose wird nämlich der spätere Zeitpunkt
assoziativ mit der auszuführenden Handlung bzw. der ihr zugehörigen
Zielvorstellung verknüpft. Naht dann der Augenblick, so steigt in
der Vp jene Zielvorstellung wie ein Einfall auf, und sie verspürt
eine Neigung zu jener Handlung. Dieser Neigung gibt sie nach, falls
die Handlung ihr nicht gar zu sehr widerstrebt. Eine Behinderung der
persönlichen Freiheit und Verantwortlichkeit liegt darin nicht. Denn
der Hypnotisator hat ihr nur den Gedanken und eine gewisse Neigung zur
Ausführung beigebracht; nur kennt die Vp den Ursprung dieser Neigung
nicht. Die Ausführung hingegen liegt ganz bei ihr, gerade so, wie wenn
sie im Wachzustand von einem Dritten zu einer bestimmten Handlung
überredet werden soll. Übrigens gelingt die Termineingebung nicht bei
allen Individuen. Verlangt aber die posthypnotische Suggestion eine
sehr umständliche Handlung, so sollen manche Individuen von selbst in
den hypnotischen Zustand zurückfallen.
Literatur
A. +Forel+, Der Hypnotismus (1911).
NAMENVERZEICHNIS
Ach 141 ff., 187, 231 ff., 253
Alrutz 54
Aristoteles 3, 183
Baade 13, 25
Bain 3, 211 f.
Becher 58, 60, 151 ff., 175
Bell 64
Benussi 131
Berkeley 183, 257
Bethe 129
Betz 74
Boldt 172
Braille 98
Brentano 5, 138, 197, 200
Broca 161
Brühl 68
Brunswig 177
Bühler 66, 70, 84, 109, 110, 125, 179, 181 ff., 200, 237, 262, 265
Cathrein 271
Claparède 202, 284, 289
Comte 4
Czermak 113
Dalton 33
Descartes 3
Dessoir 6
Dor 84
Dürr 249, 253
Ebbinghaus 34, 58, 66, 70, 148, 163, 161 f., 249, 269
Edelmann 42
Ehrenfels 123
Ellis 42
Ephrussi 167
Ettlinger 67
Ewald 48
Exner 131, 133
Fechner 4, 69, 72, 76, 107, 272, 274, 276
Forel 295, 298
Fourrier 43
Franke 269
Freud 286, 289
Frey, M. v. 57, 65
Frings 173
Fröbes VI, 27, 31 f., 64, 96, 99, 115, 145
Fröhlich 29, 38
Gall 162
Galton 184
Goldscheider 64
Graßmann 26
Griesbach 97
Hacker 281 f., 289, 293
Haenel 112
Hartley 3
Heiler 281
Helmholtz 4, 19, 26, 28, 35, 41 f., 47, 76, 78, 84
Henning 49, 51 f., 109, 260
Herbart 81, 251
Hering 4, 21, 28, 38, 56, 84, 86, 92, 109
Heymans 206
Höffding 202
Horwicz 4
Hume 3, 209
Husserl 5
Jaensch 29, 104, 105
James 9, 139, 145, 220, 281
Janet 148
Jaspers 280
Jost 168
Karpinska 95
Katz 25, 109, 110
Klemm 6, 101, 116
Köhler 287
König 42
Koffka 130, 230
Kreidl 61, 63
Kries, v. 31, 34
Krötzsch 264
Kroh 105, 106
Kuenburg, M. v. 132
Külpe 4, 6, 122, 138, 140, 276
Lange 139, 220
Lasersohn 132, 136
Langfeld 25
Leibniz 78
Lehmann, A. 141, 141 f., 160, 202
Lehmann, E. 279
Lemaitre 107
Lenzberg 108
Leschke 145
Lessing 283
Lewin 235
Liepmann 230, 241
Lindworsky 5, 81 f., 90, 106, 122, 151, 157, 175, 178, 183, 187, 193,
196, 206, 238, 241, 255
Linke 132
Linné 51
Lipps 5, 78
Locke 3, 181 f.
Lotze 4, 81, 100, 130, 148
Mach 28, 116, 249
Mager 253
Marbe 197
Maudsley 4
Meißner 57
Messer 20, 197
Meumann 148, 168
Michotte 129, 141 ff., 178, 228
Mill 3
Moll 294
Mosso 225
Müller-Freienfels 260
Müller, G. E. 28, 34, 38, 72, 130, 154, 157, 163, 202, 232, 249
Müller, J. 67
Müller-Lyer 125
Münsterberg 148, 252
Nagel 46, 50, 59, 62
Nahlowsky 145
Newton 26
Oesterreich 211 f.
Offner 175
Parinaud 34
Pauli V, 14, 25, 74, 127
Pfänder 20, 148
Pilzecker 157
Poppelreuter 96, 156, 157
Preyer 264
Priestley 4
Prüm 151, 228
Rademacher 281
Ramon y Cajal 34
Révész 40
Ribot 148, 225, 249, 260
Rosenberg 207
Saedler 292
Schaefer 34
Schapp 186
Scheler 218
Schultze 34
Schumann 125, 131, 177
Schwarz 148
Schwiete 148, 185
Segal 106, 258
Seifert 122
Selz 171 f., 191 f., 235, 255
Sigmar 235
Spearman 101, 111 f., 116
Spencer 147
Starbuck 280
Stern, W. 14, 132, 208
Stern, W. u. C. 208, 266
Sterneck, v. 111
Störring 65, 146, 193, 225
Stratton 87
Straub 96
Strümpell 283
Stumpf 23, 40, 41 ff., 71 ff., 139, 145, 232
Thomas von Aquin 183
Thunberg 56, 59
Titchener 15 22, 75, 111 f.
Trömner 286
Vierkandt 269
Vold 293
Weber 4, 56, 64, 69, 99
Weinmann 68
Werner 131, 266
Wernicke 161
Wertheimer 125, 131 ff.
Westphal 178
Weygandt 288
Witasek 184
Wundt 4, 6, 62, 73, 79, 81, 100, 129, 142, 148, 197, 220, 248, 252,
266
Young 35
Ziehen 6, 138, 147
Zwaardemaker 42, 51
SACHREGISTER
Abstraktion 121 ff.
negative 122
positive 122
Achsenzylinder 159
Adaptation 34
Adaptationsfähigkeit 246
Aehnlichkeitsgesetz 155
Aequivalent, assoziatives 231 ff.
Aesthesiometer 96
Aesthetischer Eindruck 271
assoz. und direkter Faktor 274
Aetherwellen 23
Affekte 219,
sthenische, asthenische 220
-- Begleiterscheinungen 220
-- Theorie 220
Agraphie 162
Alexie 162
Allgemeinvorstellungen 183
Amnesie 211
Amplitude 24, 42
Analyse 14
Annahme 199
Anomalien des Selbstbewußtseins 211
Anosmie 51
Antizipierendes Schema 122, 173, 193, 230, 254 258, 307
Aphasie 162
Apperzeption 251
Assimilation, Dissimilation der Sehsubstanz 37
Assoziationen, überspringende 170
-- Nebenassoziationen 161 ff.
Assoziationsfasern 160
Assoziationsforschung, Methodik der 161 ff.
Assoziationsgesetze, besondere 161 ff.
-- -reaktionen 165
-- -täuschung 85
Assoziative Mischwirkung 172, 266
Aufgabe u. det. Tendenz 229
Aufmerksamkeit 169
-- Arten der 242
-- Bedingungen der 241 ff.
-- Begleiterscheinungen der 243
-- -bewegung 241 ff.
-- Eigenschaften 243
-- und Gefühl 248
-- Geschwindigkeit 246
-- Hilfsmittel 242
-- Konzentration 244
-- Schwankungen 245
-- Störungen 251 ff.
-- Theorie 241 ff.
-- Wirkungen 243, 247
-- Umfang 243
Auflösungsvermögen 84
Aufrechtsehen 81 ff.
Aufsageversuche 168
Augenmaß 84
Ausdrucksbewegung 261 f.
Aussage 201 ff.
Ausschaltmechanismus 284
Bahnungstheorie 249
Begriffe 181 ff.
-- Arten der 186
-- Bedeutung 185
-- mit anschaulichem Einschlag 186
Begründen 192
Behalten, unmittelbares 166
Bekanntheit, Kriterien der 203
-- von Sachverhalten 153
Bekanntheitsqualität 202, 204
Bericht 201 f.
Berührungsgesetz 155
Beschreibung der Erlebnisse 8
Bewegung 62
-- Arten der 237
-- aktive, passive 63
-- Scheinbewegungen 134
-- autokinetische 135
-- Bewegungsempfindung 131
-- -Nachbild, negatives 136
-- -Wahrnehmung 131 ff.
-- Feinheit der 133
-- Theorie der 131
Bewußtheit, leibhafte 280
Bewußtsein 10, 151 ff.
-- Form 251
-- Inhalt 251
Beziehen, aktives 111 ff.
Beziehungserfassung 117, 171 f.
-- und Urteil 191 ff.
Binnenkontrast 27
Blendung 35
Blinde 91 ff.
-- Zone der Rot-grün-Blindheit 32
Bogengänge 61
Brocasches Zentrum 161
Dämmerungsapparat 34
Dauer 125
Dauerschwelle 127
Deckpunkte 90
déjà vu 205
Dendriten 159
Denken 119
-- produktives 191 ff.
-- schlußfolgerndes 181 ff.
Depersonalisation 211
Determination, spezielle 231 ff.
Differenzton 44
Dingerfassung 171 ff.
Dissonanz 41, 71 ff.
Doppeltsehen 89
Drehschwindel 62
Druckempfindung 56
Druckgefälle 57
Dunkeladaptation 31, 32
Duplizitätstheorie 33
Dynamograph 144
Eidetiker 101 ff.
Einauge 81 ff., 87
-- Unvollkommenheiten des 81 ff.
Eindringlichkeit 23
Eindruck, absoluter 178, 181
-- aesthetischer 271 ff.
Eindrucksmethode 141, 144
Einfachsehen 81 f.
Einprägung, Wille zur 169
Elemente 16
Empfindung 16
-- Abklingen der 31
-- Ansteigen der 30
-- Analogien der 143
-- Akt 17
-- Ausdehnung 19
-- Dauer 19
-- Definition 18
-- Eigenschaften 18
-- höhere 20
-- niedere 48
-- Inadäquatheiten 84
-- Inhalt 17
-- isolierte 25
-- kinästhetische 63
-- Komplexe 71 ff.
-- Qualität 18
-- Schmerz- 57
-- statische 61 ff.
Empfindungskreise 99
Empirismus 81 ff., 95
Endbäumchen 159
Entdecken 191 f.
-- von Sachverhalten 119
Enthymem 191
Entschluß 233
Entwicklungen, religiöse 280
Erfinden 191 f.
Ergograph 144
Erinnerung 201 ff.
-- Fälschung der 205
-- Kriterien der 201 f.
Erinnerungsoptimismus 225
Erlernungsmethode 164
Erkennen von Sachverhalten 119
-- von wahrgenommenen Gegenständen 185
Erkenntnisleistungen, höhere 171 ff.
Ermüdung 97, 169
Ersparnisse, Methode der 164, 168
Ethik 270
Experiment 12
-- ausführendes 14
-- auslösendes 14
-- darstellendes 13
-- Forschungs- 13
-- gemischtes 14
-- halbwissentliches 14
-- wissentliches, unwissentliches 14
-- Kausal- 13
-- messendes 13
-- Prüfungs- 13
-- Schreibtisch- 14
-- vollkommenes 14
-- unvollkommenes 14
Farben 20
-- Auffassung der 28
-- bunte, neutrale 20
-- Farbenblindheit 32
-- periphere, totale 32
-- Erklärung der Farbenblindh. 36
-- Intensität der 22
-- Erscheinungsweisen der 101 ff.
-- Flächenfarben 25, 108
-- Gedächtnisfarben 109
-- Oberflächenfarben 25, 28, 108
-- -gleichung 26
-- Helligkeit der 21 ff.
-- komplimentäre 26
-- -konstanz 109
-- -kontrast 27, 29
-- -mischung 25
-- Mischfarben 26
-- -ton 24
-- -oktaeder 22
-- Theorien des Farbensehens 35, 109
-- -viereck 21
-- Sättigung der 24
-- Urfarben 21
Fausse Reconnaissance 201 f.
Fechnersches Gesetz 71 ff.
Fläche, optischer Eindruck der 81 ff.
Fleck, blinder 83, 132
Florkontrast 27
Folgesatz 220
Fovea 34
Frage 201 ff.
-- -bogen 14
-- Sachverhalts- 200
-- Schein- 200
-- Suggestivfragen 208
-- Überzeugungsfragen 200
Fremdfinden 205
Funktionslust 145
Ganglienzelle 159
Gebet 271 ff.
Gebräuche 261 ff.
Gedächtnis, psychisches 171 ff.
Gefühle 131 ff.
-- und Aufmerksamkeit 248
-- Arten der 211 ff.
-- Begleiterscheinungen der 144
-- Beziehungen zu andern Funktionen 221 ff.
-- und Denken 189
-- -dimensionen 131 ff.
-- Dreidimensionalität der 140
-- Eigenart der sinnlichen 131 ff.
-- Eigenart der höheren 211 ff.
-- und Empfindung 141
-- Einteilung der höheren 211 ff.
-- Erinnerung an 153
-- und Erinnerung 225
-- Ernst- 216, 218
-- Erscheinungsweisen der höheren 214
-- -gedächtnis 223
-- Gemein- 142
-- Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens 221 ff.
-- Gewinn-, Verlust- 217
-- höhere 211 ff.
-- Methode der Herstellung 141
-- Methoden der Gefühlsforschung 141
-- Kontrastgesetz 222
-- Lebens- 142
-- Lösung der 142
-- Phantasie- 216, 218
-- Gefühlsqualitäten 131 ff.
-- Reihenmethode 141
-- Reproduktionsmethode 144
-- Schein- 218
-- Theorie der sinnlichen 141 ff.
-- Theorie der höheren 211 ff.
-- Tiere, höhere G. der 219
-- -ton 138
-- Übertragung d. Gefühlstöne 142
-- Total- 142
-- Verbindung der 142, 211 ff.
-- Verschiebung, gegenständliche u. zeitliche 223
-- Unlustgefühle 169
-- Vorstellung und 146, 224
-- Wert-, Unwert- 217
-- und Willenshandlung 224
Gehirn 151 ff.
-- Methoden der G.forschung 160
-- Stellvertretung beschädigter Gehirnpartien 161
Gehörempfindung 38
-- Qualität der 40
-- Theorie der 45
Gelenkflächen 65
-- -kapseln 65
Gemeinschaft 261 ff.
Geradheitseindruck 84
Geräusche 38
Geräuschreiz 43
Geruchsempfindung 51
-- Reize der 52
-- Theorie der 52
-- Geruchskörper 52
-- Mischung der 52
-- Aufhebung der Teilgerüche 52
-- Wettstreit der Teilgerüche 52
Geschmacksempfindung 48
-- Mischung der Geschmäcke 49
-- Geschmacksknospen 50
-- Qualitäten des Geschmacks 48
-- Geschmacksreize 50
-- Umstimmung des Geschmacks 50
Gesichtsempfindung 20
Gesichtspunkte 122, 171 f.
Gestalt, rhythmische 130
-- -wahrnehmung 121 ff.
Gewißheit 181 ff.
Gewissen 270
Gewöhnung 229
Gottesglaube 271 ff.
Grenzmethode 70
Halluzination 182
Haschischgenuß 128
Hautempfindung 64
Heiligkeit 281
Helladaptation 31 f.
Hellapparat 34
Helligkeitsempfindlichkeit 32
-- -kontrast 27
-- Maximum der Helligkeit 24, 31
Hemmung, effektuelle, generative 171 f.
-- rückwirkende 172
Hemmungstheorie 248
Herstellung, Methode der 70
Hilfen (Konstellation) 171
Hilfen- Methode der (Assoziation) 164
Hitze 54
Horopter 90
Hypnose 291 ff.
Ichbewußtsein 201 ff.
-- Doppel- 212
-- gesellschaftliches, persönliches 208, reines 209
-- Spaltung des 212
-- Substantialität des 211
Ideenassoziation 158
Illusion 110, 182
Indifferenzpunkt der Haut 55
Innervationsempfindung 64
Instinktbewegung 237
Inspiration 260
Intensität 19
-- -änderung, reine 19
-- der Aufmerksamkeit 244
Irradiation 85, 223
Irrationalität 267
Jetzt 129
Jucken 56
Kälteempfindung, paradoxe 55
-- -punkt 55
Kardiograph 144
Kategorien 181 ff., 187
Kinematograph 135
Kitzel 56
Klangfarbe 41
Klangverwandtschaft 79
Körperbewegung 161
Kombinationstöne 44
Komplexbildung 171 ff.
-- -ergänzung 171 f., 179
Komplexe, Entstehung der 171 ff.
Komplikationsversuche 129, 248
Konsonanz 41, 43, 71 ff.
Konstanzmethode 71
Konstanz der Farben 109
Konstellation 171 ff.
Kontrastgesetz 222
-- sukzessiver Kontrast 29
Korrelation 254
Kraft (Motive) 229
Kraftempfindung 64
Kraftsinn 65
Kriterien 189
-- der Bekanntheit 204
Kultur, Konstanz der 261 f.
Kunst 271 ff.
-- Entstehung der 271 ff.
-- Entwicklung der 271 ff.
Lage 62
-- Körper- 60
-- der Körperglieder 63
-- -wahrnehmung 111 ff.
Leidenschaften 221
Lernen, sinnvolles 174
Lernstoff, Einfluß des 167
Lichtinduktion, gleichsinnige 30
Lokalisation, allgemeines Gesetz 114
-- der Schallreize 115
-- der Tastreize 112
Lokalzeichen 81
Luftperspektive 88
-- für Töne 115
Lüge des Bewußtseins 228
Mark, verlängertes 159
Maßformel 73
Meißnersche Tastkörperchen 57
Methoden 11 ff.
-- Lösungsmethode 251 f.
Mittel, arithmetisches 72
Monotheismus 278
-- Urmonotheismus 278
Motiv, Wesen 226
-- Arten 221 f.
-- Wirksamkeit von 221 f.
Muskelempfindung 279
Nachbild, negatives, positives 29
Naßeindruck 54
Nativismus 81 ff., 94
Naturwissenschaft 8
Nebeneindruck 177 (Vergleichung)
Nervensystem 151 ff.
nervus vestibularis 61
Netzhaut 34
-- Umstimmung der 29
-- örtliche Verschiedenheiten 31 f.
Neuronen 159
Nystagmus 136
Ohr 41 f.
Opfer 279
Organe 57
-- Empfindlichkeit der inneren 60
-- -empfindungen 59
Ortssinn 112
Ortswert 81 f.
Otolithen 61
Parakusie 40
Parallaxe 88
-- binokulare 93
Paramnesie, reduplizierende 205
Paraphantasie 185
Perimeter 32
Perseveration 151 ff.
Phänomenologie 5
Phantasie 256
-- im engeren Sinn 258
-- im weiteren Sinn 251 ff.
-- Eigenschaften der 257
-- Leistungen der 251 ff.
-- -lügen 205
-- Theorie 251 f.
Phobie 252
Polytheismus 278
Plethysmograph 141 f.
Pneumograph 144
Präsenzzeit, psychische 129
Projektionstheorie 86, 92
Pseudoempfindung 109
Punkte, identische 90
-- korrespondierende 90
Psychoanalyse 293
Psychologie, Aufgabe der 6, 9
-- Arten 15
-- Assoziations- 3, 6
-- Eigenart der experimentellen 6
-- Geschichte d. experimentellen 2
-- Methoden der 11 ff.
-- Quellen der 10
-- theoretische 5
Psychophysik 68
-- Aufgaben der 69
-- Methoden der 61 ff.
Purkinjesches Phänomen 25
Qualitätenreihe 20
Querdisparation 93
Raumlokalisation 115
Raumschwelle 96
-- Bestimmung der 96, 99
Raumsinn 97
-- der Haut 96
Randkontrast 27
Recht 261 ff.
Rechtshänder 161
Reize, äquivalente 70
Reiz, äußerer 23
Reizverhältnisse 70
Reizfindung, Methode der 70
Reflexbewegung 237
Reflexbogen 159
religiöse Entwicklungen 281 ff.
Reproduktion 151 ff.
-- Hauptgesetz der 156
-- -tendenz 154, 235
Resonatoren 41
Richtigkeit, logische 191
Rückenmark 159
Rückenmarksreflexe 159
Sachverhalt 117
-- Entdecken und Erkennen 119
-- Gedächtnis von 153, 171 f., 181
Schema, antizipierendes, 122, 173, 193, 230, 254, 258, 307
Schlaf 281 ff.
-- Tiefe des 282
-- Theorie des 281 ff.
-- traumloser 283
Schluß, naturgemäßer 181 ff.
Schmerzpunkte 58
Schmerzqualitäten 58
Schöne, das 272
Schwebungen 44, 78
Schwelle 69
Schwereempfindung 64
Seele, substantielle 8
Sehfelder, Wettstreit der 91
-- -größe 111 ff.
-- -purpur 34
-- -richtungen, Gesetz der identischen 92
-- -richtung des Doppelauges 91 ff.
-- -schärfe 84, 132
-- -substanz, Dissimilation der 37
Selbstbeobachtung 11
-- rückschauende 12
Silbenreihe, Länge einer 166
Sicherheit des Urteilens 199
Simultankontrast 27
-- -vergleich 176
Sinnesenergie, Gesetz der spezifischen 66
Sinusschwingung 42
Sitte 261 ff.
Sittlichkeit 261 ff.
Spannungsempfindung 64
Sphygmograph 144
Sprache, Änderung 165
-- Auslösung 261 ff.
-- Bedeutungswandel 266
-- Darstellung 262
-- Entstehung 261 ff.
-- Entwicklung 261 ff.
-- Kundgabe 262
-- Leistungen 261 f.
-- Theorie 262
-- -Verständnis 162
Sprechbewegungen 163
Stäbchen 34
Statistik 14
Stereoskop 93
Stimmungen 221
Stimulus-error 75
Streben, negatives 227
-- unwillkürliches 151, 251 f.
Stroboskop 135
Substanzbegriff 179
Substitution 154, 156
Suggestion 291 f.
-- posthypnotische 298
Summationston 45
Sukzessivvergleich 177
Syllogismus 189
Synästhesien 101 ff.
Täuschung (Gestaltwahrnehmung) 125
-- des Tastsinnes 113
-- aristotelische 113
Talbotsches Gesetz 31
Tastraum der Blinden 91 ff.
-- Theorie des 99
-- -zusammenziehung 99
Tastzirkel 96
Temperaturempfindung 53
-- Theorie der 55
Temporalzeichen 55, 130
Tendenz, determinierende 221 ff.
Termineingebung 297
Test 13
Tiefensehen des Einäugigen 87
-- des Doppelauges 92
Tiefensehschärfe 93
Tiefenwahrnehmung, Ursprung der binokularen 91 ff.
-- sekundäre Faktoren der 88
Tierauge 35
Tonempfindung, Reize der 42
-- Helligkeit der 40
-- Theorie der 45
Tonhöhe 39
-- Grenzen der 42
-- -formanten 40
-- -inseln 47
-- -lücken 47
-- Ober- 71, 78
-- -stärke 39
-- -verschmelzung 41, 43, 71 ff.
Traum 281 ff.
-- Denkfunktion im 291
-- Eigenschaften des 287
-- Empfindungen im 291
-- Gefühle im 289, 292
-- Gegenstand 292
-- Theorie 281 ff.
Treffermethode 164
Trieb (Aufmerksamkeit) 151, 251
Typenbilder Galtons 183
Typen, religiöse 281
Unterschiedsschwelle 70
Unterstützungstheorie (Aufmerksamkeit) 248
Ursächlichkeit 179
Urteil 191 ff.
-- Arten des 197
-- aktives Moment beim 198
-- -findung, Methode der 70
-- Theorien 191 ff.
-- Wollen beim 198
-- Vergangenheits- 181 f., 201, 201 f.
-- Urvater 278
Verant 89
Vergangenheitsmoment 201
Vergessen 161 ff.
Vergleich 14
Vergleichung 176
Verhör 207
Verlustgefühle 217
Vokalität der Töne 40
Voluntarismus 6
Vorstellung 180
-- absolute 101 ff., 181, 183
-- freisteigende 154, 157
-- -assoziation 158
-- Bewegungs- 231 ff.
-- -bewegung, freie 251 f., gebundene 251 f.
-- Eigenschaften der 103
-- -entfaltung 157
-- -erneuerung 151 ff.
-- und Gefühl 146, 224
-- Ober- 230
-- -reproduktion, diffuse 193
-- -typen 106, 109
-- und Wahrnehmung 181 ff.
Wachsuggestion 295
Wärmepunkte 55
Wahlakt 149
Wahrnehmung 181 ff.
-- Eigenschaften 105
-- der Veränderung 132
-- Wirklichkeitscharakter der 181 f.
Webersches Gesetz 71 ff.
Werturteil 224
Widerstandsempfindung, paradoxe 61 f.
Wiedererkennen 201 ff.
-- falsches 201 f.
-- -methode 164
Wiederholungen 161 ff.
Willensbeeinflussung 229
Willenshandlung, äußere 231 ff.
-- innere 241 ff.
-- zusammengesetzte 232
-- und Bedeutung 231
-- Bewegung, ideomotorische 236
-- und Gefühl 224
-- und Relation 179
Willkürhandlungen 238
Willenskraft, Messung der 231 ff.
Willensakt, Qualitäten des 150
-- -stärke 231 ff.
-- Theorien 141 ff.
-- -vorgang, einfacher 231
-- Wirkungen des Willensaktes 221 ff.
-- Untersuchung, experimentelle 141 ff.
Willenszug 151
Wollen 141 ff.
-- elementares 151
-- isoliertes 151
-- Intensität des 150
Wissen, latentes 178
Winkelverschiebung 88
Wortverständnis 183
Zapfen 34
Zeitgestalten 130
-- -schwelle 127
-- -sinn 125
-- -strecken, Vergleichung der 127
-- -theorie 130
-- -verschiebung 129
-- -wahrnehmung 121 ff.
Zentralwert 72
Zeugnis 207
Zyklopenauge 92
Zusammenfassung (Komplexe) 174
Zweifaktorentheorie 109
Ferner erschienen in der
PHILOSOPHISCHEN HANDBIBLIOTHEK
Band I
Einleitung in die Philosophie
von Professor Dr. Josef Anton Endres
8ᵒ Seiten 195 (G) geh. M. 4.50, in Halbleinen M. 6.30
„+Der Tag+“: Das Endressche Werk stellt sich als eine philosophische
Enzyklopädie dar, die nicht nur die Aufgabe der Philosophie, ihre
Begriffe und ihre Einteilung, ihre Richtungen, Schulen, Ziele und
Methoden schildert, sondern, was besonders wichtig, bei allen ihren
Darlegungen den Einblick in die geschichtliche Entwicklung der
einzelnen Fragestellungen, Begriffsbildungen, Ausdrücke, Disziplinen
und Methoden übersichtlich erschließt.
Band II
Geschichtsphilosophie
von Professor Dr. Franz Sawicki
8ᵒ 305 Seiten (G) geh. M. 7.20, in Halbleinen 9 M.
„+Hamburgische Korrespondent+“: Sawickis Geschichtsphilosophie gibt
nicht eine Konstruktion des Geschichtsverlaufs, wie etwa Hegel
oder Spengler. Sie untersucht vielmehr die Faktoren der Geschichte
(Mensch, Natur, kulturelles Milieu, übergeschöpfliche Faktoren), die
historischen Gesetze, den Sinn der Geschichte und die Prinzipien
des historischen Erkennens. Der Nachweis der Zielstrebigkeit der
Geschichte ist, dem aristotelischen Geist entsprechend, ein Grundzug
des Werks, das mit seiner Fülle klarer Gedankenführungen sehr anregend
wirkt, denn alle aktuellen Fragen, wie die nach der Bedeutung des
Wirtschaftslebens, nach dem Verhältnis von Individuum und Masse, nach
dem Wert der Arbeit, nach der Objektivität der historischen Erkenntnis
werden hier in sorgfältiger und gründlicher Weise berücksichtigt und
klargelegt.
Band III/IV
Philosophie der Natur
von Professor Dr. J. Schwertschlager
1. Teil: 8ᵒ 317 Seiten (G) geh. M. 7.20, in Halbleinen M. 8.80, in
Ganzleinen M. 9.60
2. Teil: 8ᵒ 276 Seiten (G) geh. M. 6.50, in Halbleinen M. 8.10, in
Ganzleinen M. 8.90
„+Archiv für Philosophie+“: Das Werk stellt gewissermaßen eine
systematische Enzyklopädie der gesamten Naturwissenschaften in
einheitlicher Behandlung des Inhalts und einheitlicher Durchführung
der von vornherein angelegten Gesichtspunkte dar. Angelegt und
durchgeführt im Sinne einer Naturphilosophie, die betreffs des rein
naturwissenschaftlichen Inhalts durchaus auf modernem Standpunkt
steht und den Stempel vorurteilsfreier Wissenschaftlichkeit an sich
trägt, stellt sich das Werk in seinem philosophischen Gehalt auf den
Standpunkt eines kritischen Realismus und behandelt in eingehender
geschichtlicher und systematischer Darstellung sowohl die allgemeinen
naturwissenschaftlichen Begriffe, Grundsätze und Anschauungen als im
einzelnen das Weltsystem und seine Entwicklung sowie insonderheit
den Bereich des Lebens mit all den vielen schwerwiegenden, tiefen
Problemen, die in ihm enthalten sind.
(G) = Grundzahl × Teuerungszahl = Verlagsmarkpreis
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
Ferner erschienen in der
PHILOSOPHISCHEN HANDBIBLIOTHEK
Band VI
Metaphysik
von Professor Dr. Ludwig Baur
8ᵒ, 502 Seiten, (G) geheftet M. 11.35, in Halbleinen 13 Mark
+Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung+: Dieses Werk bietet tatsächlich
einen Überblick über die wichtigsten Probleme der gesamten Philosophie.
Daß dieser Überblick in sehr übersichtlicher, klarer Gliederung
erfolgt, ist ein weiterer Vorzug des Werkes, das in vier Hauptteile
zerfällt, von denen der erste Teil die allgemeine Metaphysik
(Ontologie), der zweite metaphysische Fragen der Natur, der dritte
die metaphysischen Fragen der Psychologie und der vierte das absolut
Seiende (natürliche Gotteslehre) behandelt. Das Werk erscheint als
eine moderne Scholastik, modern insofern, als sie sich auch mit den
mannigfachen Fragen auseinandersetzt, die erst die neuere Philosophie
aufgeworfen hat.
+Münchner Neueste Nachrichten+: Ein tüchtiges klares Lehrbuch ist
Ludwig Baurs „Metaphysik“. Der Scholastik-Unkundige wird überrascht
sein, wie weiten Spielraum das thomistische System auch dem
empiristisch gebundenen Denken verstattet. Ein Beispiel ist etwa die
behutsame Erörterung über die räumliche Endlichkeit oder Unendlichkeit
der Schöpfung. Das übersichtlich gegliederte, an der dialektischen
Methode des Aquinaten geschulte Werk überholt nach Inhalt und Form die
früheren deutschen Lehrbücher über diesen Gegenstand.
Band VII
Ethik
von Professor Dr. Michael Wittmann
(G) geheftet M. 8.20, in Halbleinen 10 Mark
Der Verfasser stellte sich die Aufgabe, die Tatsache des sittlichen
Bewußtseins mit Hilfe eines analytisch-induktiven und zugleich eines
historisch-kritischen Verfahrens zu ergründen. Als Ausgangspunkt
dient demgemäß nur der Inbegriff der sittlichen Tatsachen selbst.
Das zergliedernde Denken will diese Tatsachen in ihre Bestandteile
auflösen und so auf ihre Voraussetzungen zurückführen. Dies geschieht
an Hand einer möglichst umfassenden geschichtlichen Orientierung. Als
methodische Forderung gilt zur Behandlung philosophischer Probleme
vor allem, die Bemühungen der Vergangenheit auf ihren Wert zu prüfen,
in jeder Frage wenigstens die bedeutsameren Lösungsversuche alter und
neuer Zeit zu würdigen, die notwendigen Gesichtspunkte also durch
eine historisch-kritische Auseinandesetzung zu gewinnen und über
die Vergangenheit hinauszustreben, soweit immer deren Bestimmungen
unzulänglich erscheinen. Das Endergebnis dieser Untersuchung zeigt,
daß die Sittlichkeit als Hintergrund eine bestimmte Weltanschauung
fordert, daß unsere sittliche Gedankenwelt nur aus einer theistischen
Weltbetrachtung verständlich zu machen ist; auf jedem anderen
Hintergrunde verlieren die sittlichen Begriffe ihren Sinn und ihren
Halt und treten in einen Prozeß der Auflösung ein.
(G) = Grundzahl × Teuerungszahl = Verlagsmarkpreis
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen
IM VERLAG JOHANN AMBROSIUS BARTH / LEIPZIG 265
erschien von
Dr. J. Lindworsky
DER WILLE
seine Erscheinung und seine Beherrschung
nach den Ergebnissen der experimentellen Forschung
VI, 282 Seiten / 3., erweiterte Auflage / 1923 / Gz. 7
Die dritte, stark erweiterte Auflage bringt an neuem Stoff u. a.
Berichte über schwer zugängliche Zeitschriften-Literatur, insbesondere
amerikanischen Ursprungs, sodann über Untersuchungen von O. Selz, K.
Lewin und dem Verfasser selbst. Diese neueren Arbeiten ermöglichen es,
nunmehr so zentrale Fragen wie die nach der Erlebnisweise der Motive,
dem Ursprung des Willensaktes, der Kraft des Entschlusses, sowie eine
Theorie der Willenshandlung vom empirischen Standpunkt aus anzugreifen.
Außerdem findet sich ein völlig neuer Abschnitt: „Die Willensdefekte
vom Standpunkte der Normalpsychologie“ und ein Anhang: „Grundsätzliches
zur Willensprüfung“, der namentlich das Interesse der Psychotechniker
berührt.
„+Deutsche Reichszeitung+“: Die Bedeutung dieser Arbeit liegt
darin, daß der Verfasser hier erstmalig die neuere experimentelle
Willensforschung aufarbeitet. Die Ergebnisse dieses knapp zwei
Jahrzehnte alten modernsten Zweiges der Psychologie werden gründlich
überprüft und in ihrem bleibenden Gehalt zusammengetragen,
Literaturhinweise geleiten sie sicher durch die Wege der Forschung.
Nächst dem Psychologen wird der Erzieher dem Verfasser danken,
daß er sorgsam die Gesichtspunkte entwickelt, unter denen die
Charaktererziehung als wichtigster Teil der Pädagogik auf die
Seelenforschung sich gründen und von ihr aus weiterkommen kann
und muß. Seelenerkenntnis und Seelenführung schließen einen engen
Arbeitsbund. -- Für die Kernaufgabe der Pädagogik, die Charakter-
und Willensbildung, ist hier ein Grundwerk gegeben; es gehört in die
Bibliothek auch des Erziehers, des Geistlichen, der Seminare usw.
„+Katholische Schulblätter+“: Darum darf eine solche tiefgründige
Studie von vornherein darauf rechnen, beachtet zu werden. Eine Arbeit,
die, wie Lindworskys, ein vollständiges Bild der experimentellen
Willensforschung bietet und so scharf ihr bisheriges Ergebnis
herausstellt, gab es bisher noch nicht. Dieses ist auch beachtenswert,
ja bedeutend genug, um hier mitgeteilt zu werden.
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Auslandpreis: Grundzahl 1 = Schweizer Franken 1.25
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*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK EXPERIMENTELLE PSYCHOLOGIE ***
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opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
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